Brigitte Lämmle Frank Haase
Erklär mir deine Welt Das Geheimnis der Gesprächsführung
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Brigitte Lämmle Frank Haase
Erklär mir deine Welt Das Geheimnis der Gesprächsführung
scanned 04/2008 corrected 05/2008
Jeden Samstagabend sitzt Brigitte Lämmle im Fernsehstudio. Der Anrufer wird zugeschaltet und erläutert sein Problem. Jetzt tritt das Lämmle-Phänomen ein: Die Psychologin schafft es meisterhaft, durch aufmerksames Zuhören und geschicktes Nachfragen binnen weniger Minuten zum Kern des Problems vorzustoßen. In unglaublich kurzer Zeit gelingt ihr, dem Ratsuchenden wirklich zu helfen – durch ihre Erkenntnis und die Anregungen, die sie ihm mit auf den Weg gibt. ISBN: 3-404-60541-1 Verlag: Bastei Lübbe Erscheinungsjahr: 2004 Umschlaggestaltung: Büro Hamburg/Stefanie Oberbeck
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autoren Brigitte Lämmle ist Diplompsychologin und Familientherapeutin. Sie hat eine eigene Praxis und ist in der Familientherapeutenausbildung tätig. Neben ihrer SWR-Erfolgssendung Lämmle live hat sie beim Bayerischen Rundfunk eine eigene Radiosendung. Frank Haase ist Medienwissenschaftler und Lehrbeauftragter an den Universitäten Stuttgart und Basel. Seit 1996 ist er Redaktionsleiter von Lämmle live.
Brigitte Lämmle Frank Haase
Erklär mir deine Welt Das Geheimnis der Gesprächsführung von Brigitte Lämmle
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 60541 1. Auflage: August 2004 Wir danken für die Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk Stuttgart/Baden-Baden
SWR» SÜDWESTRUNDFUNK
Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Copyright ©2002 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Lizenzausgabe: Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Titelbild: Andri Pol Umschlaggestaltung: Büro Hamburg/Stefanie Oberbeck Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Verarbeitung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-404-60541-1
Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Inhalt Vorwort .................................................................... 7 TEIL I GRUNDLAGEN ...................................... 18 Auf dem Weg zum konstruktiven Gespräch ....................... 19 Mit Sprachen seine Wirklichkeiten und Welten konstruieren ............................................................................................ 26 Vier Grundaxiome zwischenmenschlicher Kommunikation44 Sprache und Konflikt .......................................................... 60 Systemische Therapie und die Funktion des Gesprächs...... 67 »Wie ich höre«: Anmerkungen zur therapeutischen Haltung ............................................................................................ 80
TEIL II FALLBEISPIELE ................................ 102 Warum authentische Gespräche? ...................................... 103 AMBIVALENZ Gespräch mit Gerda .......................................................... 121 VERSTRICKUNG Gespräch mit Gabriele ...................................................... 152 MISSBRAUCH Gespräch mit Cordula ....................................................... 177 BEZIEHUNGSSUCHT Gespräch mit Martina........................................................ 203 ›ICH WILL/DU MUSST‹-Struktur Gespräch mit Wolfgang .................................................... 228
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Vorwort Für viele Fernsehmacher ist sie eine »Unsendung«, wie es liebevoll provozierend der Schweizer Fernsehjournalist Kurt Aeschbacher in seiner DRS-Late-Talksendung des Schweizer Fernsehens formulierte; für einige kritische Beobachter und Fachkollegen gelten die Gespräche, die jede Woche Samstagnacht (SWR, 23.20-0.50 Uhr) geführt werden, schlichtweg als »Untherapie« und werden als Provokation begriffen. Besser ließe sich der Solitär »Lämmle live« nicht kennzeichnen: eine untherapeutische Unsendung, die aus einer zweifachen Verneinung heraus Wertschätzung erfährt, weil sie sich gängigen TV-Formaten und institutionalisierten Räumen und Ritualen psychotherapeutischer Problemlösestrategien entzieht. Die Resonanz auf die Sendereihe ist beeindruckend; die ›Fan-Gemeinde‹ groß. Immerhin erreicht »Lämmle live« bundesweit ca. eine halbe Million Fernsehzuschauer, ohne dass in diesen GfK-Zuschauerzahlen die Schweiz und Österreich berücksichtigt sind. Das doppelte Un- weckt zudem bei Print- wie Fernsehjournalisten ein lebhaftes Interesse an der Person »Lämmle«, was sich seit Jahren in zahlreichen Anfragen widerspiegelt. Allen gemeinsam ist das Interesse, dem Phänomen »Lämmle« 7
auf die Spur zu kommen, das gerne wie folgt befragt wird: Wie schafft sie es, innerhalb kürzester Zeit zum Kern des Problems zu kommen? Wie gelingt es ihr, bei vielen Menschen einen Umschwung herbeizuführen? Vielfach meint man, des Rätsels Lösung gründe in einer fast schon magisch zu nennenden Intuition, in einem bewunderungswürdigen Einfühlungsvermögen oder sogar in einer wie auch immer gearteten Begabung, Probleme erkennen und lösen zu können. Bei all diesen Deutungs- und Erklärungsversuchen wird schlichtweg übersehen, dass nicht persönliche Eigenheiten, sondern die Gespräche selbst der Schlüssel sind, um zu jenem vordringen zu können, was Brigitte Lämmle als öffentliche Person darzustellen bereit ist. Jüngstes Beispiel findet sich im Artikel »Die Weichmacherin« (von Tanja Kokoska, Frankfurter Rundschau vom 19. 3. 2002), in dem der Leiter des Psychologischen Forums Offenbach, Werner Gross, mit folgenden Worten zitiert wird: »Diese Intuition von Brigitte Lämmle, die kann man nicht lernen«, sagt Werner Gross, Leiter des Psychologischen Forums Offenbach. »Das ist eine Begabung, so wie jemand eine Geige in die Hand nimmt und darauf spielt, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan«. Natürlich, ergänzt Gross, könne man sich fragen, ob die Welt eine solche Sendung »überhaupt braucht«. Aber: »Wenn man es schon macht, dann so« – trotz aller »narzisstischer Dimension«, die er »Lämmle live« durchaus zuspricht. Denn »zentrale Figur«, so Gross, sei nicht der Anrufer, sondern der Zuschauer, und das Ziel der Sendung eine möglichst deutliche Verallgemeinerung der 8
jeweiligen Problematik, damit auch der auf der eigenen Couch lümmelnde Pantoffelheld »was davon hat« – von der sexuellen Einöde, der Essstörung, der Depression von Kerstin oder Karsten, wie auch immer die Anrufer heißen. Brigitte Lämmle appelliert an die Fantasie, in der alles möglich ist – Aussöhnen, Verzeihen, Loslassen und zuweilen sogar ein neues Leben.« Es ist spaßig, wie Werner Gross intuitionistisch argumentiert und dabei seine eigene Intuition übersieht. Auch Geigen-Virtuosen, wie etwa Anne-Sophie Mutter oder Gidon Kremer, werden nicht im zarten Kindesalter ihre Geige in die Hand genommen und aus dem Stand Beethovens Violinkonzert gespielt haben. Der Wert von Bildern und Vergleichen setzt auch deren Verständnis voraus. Wie sagte der Komponist Robert Schumann so schön: »Das Talent arbeitet, aber das Genie schafft.« Das gilt auch für Psychologen und für professionelle Therapeuten im Besonderen, denen Begabung bei der therapeutischen Arbeit nahezu nichts hilft. Bemerkenswerterweise, weil kennzeichnend für die heutige Medienlandschaft wie auch mancherorts für die Fachwelt, geht das doppelte Un- aus dem konsequenten Übersehen des Wesentlichen hervor: den Gesprächen * . Statt Sachverhalte zu hinterfragen, werden stereotyp personifizierende Erklärungsmuster bemüht, die aus mangelnder Kenntnis der Materie an der Sache vorbeigehen müssen. Mit anderen Worten: Um Gespräche mit solcher *
Dass es tatsächlich auch Ausnahmen gibt, belegt das Beispiel eines WDR4-Hörfunk-Interviews, in welchem der Redakteur sich auf den Weg machte, den Eigenwert der Gespräche und die Funktion therapeutischen Sprechens anzudenken. 9
Professionalität führen zu können, bedarf es im Wesentlichen einer Fachausbildung und langjähriger Erfahrung sowie eines tiefen Verständnisses menschlicher Kommunikation, der Funktion von Sprache und der Wechselwirkung von Sprache und Psyche. Dass man dies übersieht, darf als Symptom gewertet werden für eine Gesellschaft und ihre Gesprächskultur, die sich in vielerlei Hinsicht als Un-Kultur präsentiert. Man braucht nur aufmerksam die heutige Medienlandschaft zu verfolgen, um feststellen zu können, dass Inhalte in erschreckendem Maße immer mehr Selbstzweck geworden sind, um schlichtweg Aufmerksamkeit zu wecken und Emotionalisierungen zu bewirken. ** Im Vordergrund stehen Ereignisse, Sensationen, Selbstdarstellungen, die schlichtweg ein »leeres Sprechen« (Jacques Lacan) *** zur Folge haben, das sich dem imaginären Glanz des Prominenten, Außergewöhnlichen, Exorbitanten verschrieben hat, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Nichts davon bei »Lämmle live«: Hier kommen keine Vertreter der Lack- und Lederfraktion zu Wort, keine Perversionen können angesprochen oder in Gänze aus**
Zur Logik und Semiotechnologie der Emotionalisierungsspirale in den Massenmedien Film und Fernsehen siehe Haase, Frank (1999): Am Ende der Emotionen? – oder: Emotionen ohne Ende? – Medientheoretische Anmerkungen zur Medienverantwortung. In: Roters/ Klingler/ Gerhards (Hrsg.): Mediensozialisation und Medienverantwortung. Baden-Baden: Nomos-Verlag, S. 87 – 98. *** Zu Jacques Lacans Unterscheidung zwischen einem »leeren« und einem »vollen Sprechen« siehe Jacques Lacan (1973): »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse« (1953) (in: Jacques Lacan Schriften I, Olten, Walter-Verlag: S. 71-170). 10
gemalt werden, keine ins Irreale verzerrten Lebensdramen finden eine Plattform zur Selbstinszenierung, und schließlich treten auch keine Prominente zu Promotionund Selbstdarstellungszwecken auf. Vielmehr sind es schlichtweg Gespräche, die von Problemen und Beziehungskonflikten erzählen und denen allesamt eine einzige Intention zugrunde liegt: »Wie kann ich mein Problem lösen?« Die Menschen, die in »Lämmle live« zu Wort kommen, haben kein Casting erlebt, ihr Aussehen oder Bekanntheitsgrad spielt so wenig eine Rolle wie ihre Vornamen – was zählt, ist allein ihr Fragen und das Bemühen, lösungsorientiert einen Weg anzudenken und auszusprechen, der für sie Ansätze zur Problembewältigung im Rückgriff auf eigene Stärken erlaubt. In diesem Zusammenhang ein Wort zum Stichwort Voyeurismus. Voyeurismus als Begriff hat sich in den letzten Jahren verselbstständigt: als »Gaffen« bei Unfällen abgewertet, als sich an den »Problemen anderer Leute« aufgeilend niedergeschrieben. Vor diesem Hintergrund scheint es um so wichtiger zu sein, sich mit der Psychodynamik des ›Zuschauers‹ zu beschäftigen. Kinder und Jugendliche nutzen ihr Zuschauen, um zu lernen. Sie beobachten, wie Mama und Papa streiten, StressSituationen bewältigen oder auch nicht. Sie selber tagträumen sich in Lebenssituationen hinein. 90 % der Jugendlichen beschäftigen sich zum Beispiel in ihren mitunter sehr emotionalen Wachträumen mit der Frage, wie es wäre, demnächst mit dem ersten Liebespartner … Und sie tun so ›als ob‹: »Wir tun so, als ob du jetzt die Mama wärst und ich das Kind«. Ein Kinderverhalten, das eng mit Gefühlen verzahnt ist und sozusagen den ›Ernstfall‹ 11
probt – als Zuschauer wie als Lernender, um vorbereitet zu sein für eine Situation, die noch nicht da ist, aber eintreten könnte. Wie bereiten wir uns als Erwachsene auf einen Ernstfall vor? Auch wir lernen durchs Zuschauen und Hineinfühlen. Heile Welt ist schön, da braucht es keine Verarbeitungsbilder. Sehr wohl aber für Stress oder für Notprogramme. Unterschätzen wir die Zuschauer nicht. Zum einen können sie medialen Schrott vom ›Lernen am Modell‹ unterscheiden. Sie erkennen Unterhaltung; sie können das Erzählen von Geschichten als solches einschätzen und wissen, wie sie die Informationen aufzunehmen haben, die sie für ein Weiterkommen brauchen. – Als Jugendliche leben wir mit der besten Freundin als ein ›alter ego‹. Wir schauen sie an als unser Spiegelbild. Wir lernen über uns, indem wir sie sehen und fühlen, um uns dann abzugrenzen. Eine Wechselbeziehung, die für beide bereichernd ist. Voraussetzung ist, dass jeder wieder in seine Haut schlüpft. So kann der Spiegel sehr wohl der Anrufer sein. Ein ›Freund‹, der wieder entlastet wird, weil das, was ich gesehen habe, nach ureigenen Kriterien in meiner Welt eingebaut wird. »Guter Rat ist teuer« – sagt der Volksmund. Diese ›Weisheit‹ gilt für »Lämmle live« nicht. In den Gesprächen mit Brigitte Lämmle werden keine Ratschläge gegeben und werden auch keine direktiven Handlungsanweisungen formuliert, die dem Anrufer die Eigenverantwortung abnehmen könnten. Was gerne als »Lebensberatung« apostrophiert wird, ist in Wirklichkeit eine Unternehmung, die die Anrufer zu sich selbst und ihrer Sprache, das heißt zu ihrer Sprach- und Handlungsmächtigkeit, zurückführen soll. 12
Mit dieser zentralen Zielsetzung gehen jene wesentlichen Fragen einher, die schon jede gute Supervision ins Zentrum ihrer Arbeit stellt: - Ist Brigitte der Welt der Anrufer gerecht geworden? - Wie ist die ›innere Welt‹ konstruiert, in welchem der Anrufer im positiven Sinne lebt und beheimatet ist? - Welche Störungen haben sich artikuliert? - Was ist in einem solchen Gespräch leistbar? - Hat Brigitte es geschafft, mit dem Anrufer Lösungsansätze zu entwickeln? - Ist der Umschwung geglückt? - War der Anspruch zu hoch, das heißt: Hat Brigitte die Sprache getroffen/gefunden, mit welcher sie den Anrufer ansprechen und erreichen konnte? Der Schlüssel für das Gelingen eines Gesprächs gründet nicht in klugen Ratschlägen und Hinweisen, sondern beruht darauf, jenen Code zu finden, der überhaupt ein Entree in die innere Welt des Anrufers erlaubt. Wer – metaphorisch gesprochen – diese Zugbrücke überwunden hat, wird erst die je individuelle wie persönlich motivierte Reichhaltigkeit erkennen und kennen lernen, die ansonsten an den Schutzvorrichtungen des sprechenden Ichs abprallen. Erst, wenn man an den inneren Reichtum des Anrufers herankommt, wird aus seinem leeren, zutiefst floskelhaftstereotypen Sprechen ein »volles Sprechen« (Jacques Lacan) erwachsen, das überhaupt Veränderung bewirken kann. »Lämmle live« ist keine Therapie, sondern im besten Sinne des Wortes psychotherapeutisches Gespräch, dessen Kunst sehr wohl auch darin bestehen kann, dass un13
mittelbar eine Problemlösung herbeigeführt wird. Dass dies nicht immer gelingt und auch nicht gelingen kann, steht außer Frage. Zweifellos findet sich unter den Anrufern eine Vielzahl von Menschen, die über eine mehr oder weniger längere Zeit schon therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen oder genommen haben. Das macht es manchmal für Brigitte Lämmle auch leichter, den Schlüsselcode zu ›knacken‹ und relativ zügig zum zentralen Komplex psychischer Instabilität vorstoßen zu können. Im Wissen um die Arbeit der Fachkollegen ist es Brigitte Lämmle ein Anliegen, all diesen Kolleginnen und Kollegen in Respekt vor deren Arbeit zu danken.
Worum geht es in diesem Buch? Die Idee zu einem solchen Text ist das Ergebnis einer langen wie inspirierenden Zusammenarbeit zweier Fakultäten, die im Medium Fernsehen die Positionen vor und hinter der Kamera einnehmen. Die Faszination der Gespräche weckte die Neugier des Philologen, der vor dem Hintergrund seines an strukturaler Psychoanalyse (Jacques Lacan), Diskursanalyse (Michel Foucault) und Systemtheorie (Niklas Luhmann) geschulten Blicks mit offenen Ohren jeden Samstag der »Lämmle« lauscht. In die Faszination mischte sich aber auch eine gewisse Ungläubigkeit, denn in der Praxis einer Fernsehsendung lässt Brigitte Lämmle in ihrem therapeutischen Sprechen Signifikantentheorie, Systemtheorie und Konstruktivismus lebendig und erfahrbar sein. Vor der Kamera steht Brigitte Lämmle. Was so leicht, lachend und voller Warmherzigkeit in den Gesprächen
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herrüberkommt, zeugt von einer hohen therapeutischen Schule. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man über Schrift-Texten sitzend diese in aller Ruhe analysieren kann oder ob man in ›Echtzeit‹ das Sprechen von Anrufern analytisch durchdringt und nahezu gleichzeitig seine Erkenntnisse für therapeutische Interventionen fruchtbar verwenden kann. Was Brigitte Lämmle mit jedem Gespräch leistet, erfordert bei professionellen Therapeuten immer eine supervisionäre Nachbereitung durch Fachkollegen; was Gespräche geleistet haben und warum sie so und nicht anders verlaufen konnten, weckt aber auch die philologische Neugier strukturalistischdiskursanalytischer Provenienz. Exakt an diesem Punkt haben sich seit Jahren unsere Gespräche zu einem interdisziplinären Dialog getroffen, der sich als sehr fruchtbar erwies. In diesen konstruktiven Gesprächen entstand auch die Überzeugung, dass folgende Grundlagen und Zusammenhänge einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden müssten. Drei wesentliche Punkte kristallisierten sich heraus, die uns wichtig sind: - die theoretischen Hintergründe von Brigitte Lämmles therapeutischem Sprechen aufzuzeigen, - über rekonstruierende Kommentierung von beispielhaften Gesprächen die komplexe Logik und Struktur ihrer Gesprächsführung transparent zu machen, - den Zusammenhang zwischen psychischer Instabilität und Sprech-/Gesprächsverhalten darzulegen.
An wen wendet sich dieses Buch? Zuerst an all jene, die Interesse am systemischen The-
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rapieansatz und dessen Grundlagen haben. Das heißt nach unserem Verständnis: - Interesse an einem tieferen Verständnis menschlichen Kommunikationsverhaltens, - Neugier gegenüber der Funktion von Sprache, - Offenheit gegenüber den Wirklichkeiten und Welten, die jeder von uns in seinem Sprechen, Denken und Handeln konstruiert sowie - Respekt vor der Kopplung von Sprache und Psyche. Im Besonderen wendet sich dieses Buch an Studenten psychosozialer und pädagogischer Fachrichtungen, aber auch an Kollegen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Schließlich mag das Buch auch erfahrenen Therapeuten ein willkommener Anlass sein, selbstkritisch die tägliche Arbeit zu reflektieren und das eigene Sprechen zu hinterfragen. In erster Linie ist aber dieses Buch für alle Zuschauer geschrieben, die seit Jahren die Sendereihe »Lämmle live« verfolgen und mit großer Konzentrationsbereitschaft den Gesprächen zuhören. Nach längerem Nachdenken haben wir uns dazu entschlossen, erstmals authentische Gespräche zu veröffentlichen. Unser Zögern hat einen berechtigten Grund: Der Schutz des Anrufers ist oberste Maxime; die Wahrung seiner Anonymität Pflicht. Diese Anonymität bleibt in mehrerlei Hinsicht gewahrt: Die Vornamen wurden verändert, das Sendedatum wird nicht genannt, individuelle Details getilgt, so dass keine Rückschlüsse auf die Identität der Anrufer möglich sind. Zudem haben wir Fälle gewählt, die mehrere Jahre zurückliegen. Die Fälle bedürfen keiner Aktualität, sondern sind allesamt exemplarisch 16
und deshalb pars pro toto zu verstehen. Schließlich sprechen wir im Folgenden nicht über die Anrufer, sondern über Gesprächs- und Konfliktkonstellationen, die nicht erfunden werden können. In diesem Sinne gilt unser Dank auch allen Anrufern. Zu guter Letzt ist aber dem Sender, dem SWR in Baden-Baden, und seiner Fernsehdirektion, namentlich Herrn Dr. Christof Schmid, zu danken. Dass eine öffentlich-rechtliche Anstalt über mehr als acht Jahre einem solchem Un-Format die Treue hält und ihm seine Existenzberechtigung anerkennt, ist ein hohes Gut und Ausdruck einer pluralistisch gestimmten Grundhaltung. Baden-Baden München im Frühjahr 2002 Brigitte Lämmle Frank Haase
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TEIL I GRUNDLAGEN
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Auf dem Weg zum konstruktiven Gespräch In seinem Buch »Sprache – Denken – Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie« schrieb Anfang der 1960er-Jahre der amerikanische Chemiker, Sprachphilosoph und Kulturanthropologe Benjamin Lee Whorf: »Es ist die Annahme, das Sprechen geschehe völlig frei und spontan, es ›drücke lediglich aus‹, was immer wir es gerade ausdrücken lassen wollen. Diese Illusion resultiert aus der folgenden Tatsache: Die zwingenden Formen in unserem scheinbar freien Redefluss herrschen so völlig autokratisch, dass Sprecher und Zuhörer von ihnen unbewusst gebunden sind wie von Naturgesetzen. Die Strukturphänomene der Sprache sind Hintergrundsphänomene, die man gar nicht oder bestenfalls sehr ungenau wahrnimmt – so wie die winzigen Stäubchen in der Luft des Raumes. Besser noch kann man sagen, alle Sprechenden unterliegen linguistischen Strukturen ungefähr so, wie alle Körper der Schwerkraft unterliegen. Die automatischen, unwillkürlichen Strukturschemata der Sprache sind nicht für alle Menschen die gleichen, sondern in
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jeder Sprache andere.« * Der ›Baukasten‹, dessen wir uns bedienen, wenn wir zwischenmenschliche Verbindungen knüpfen, aufrechterhalten oder lösen, besteht grundlegend aus Elementen der Sprache sowie deren Regeln und Gesetze. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher wir Sprache tagtäglich nutzen, lässt uns vergessen machen, welch zentrale Funktion sie für uns Menschen hat: - Sprache ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet; - Sprache ist es, die für die Schaffung und den Erhalt sozialer Kontakte grundlegend ist; - Sprache ist es, mit welcher wir uns im Großen wie im Kleinen Kulturen, Welten und Wirklichkeiten erschaffen. So fundamental Sprache auch ist, bleibt sie für unser Denken zumeist ein »Hintergrundsphänomen«, das nicht weiter beachtet wird. Weil jeder sprechen kann, genießt Sprache den Status von Selbstverständlichkeit. Das ist zunächst auch nicht überraschend, denn unsere Muttersprache lernen wir im Alter von zwei Jahren und an diese Zeit können wir keinerlei Erinnerung haben. Rasch verfügen wir neben einer korrekten Aussprache auch über die Kompetenz, korrekte Sätze zu formulieren und neue Sätze hervorzubringen. Sprache ist uns also von Kindesbeinen an ein Instrument, mittels dessen wir uns in unse*
Benjamin Lee Whorf ( 1984): Sprechen – Denken – Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Rowohlt Taschenbuch Verlag: Reinbek, S. 20. 20
rer unmittelbaren Umgebung einbringen können und zurechtfinden wollen. Doch es ist nicht nur allein Verbalsprache, die unsere Sprachfähigkeit auszeichnet. Wir sprechen nicht nur mit dem Mund und für die Ohren. Unsere nonverbalen Instrumentarien sind Mimik, Gestik und Körperhaltung, durch welche wir unserem Gegenüber bewusst wie unbewusst eine Vielzahl an Informationen wie zum Beispiel Trauer, Empörung, Schmerz oder Freude übermitteln. In diesem Sinne sind auch unsere Augen beredt, und selbst die Nase weiß zu sagen, ob sie jemanden riechen kann oder nicht. Auch die Stimme und das Sprechverhalten eines Menschen gibt uns Auskunft darüber, in welcher psychischen Verfassung und Haltung unser Gegenüber sich befindet. Das weite Feld der Körpersprache verstehen wir gleichsam instinktiv, und in vielen Fällen empfinden wir aufgrund dieser Informationen Sympathie oder Antipathie für unsere Mitmenschen oder erkennen in seinen Worten Aufrichtigkeit, Verschlagenheit oder Lüge. Trotz dieser Fähigkeiten, über alle Sinneskanäle Informationen aus unserer Umwelt zu erhalten, sind uns aber die »automatischen, unwillkürlichen Strukturschemata« (Whorf) von Sprache weitgehend unbekannt, wenngleich sie uns gleichsam im Griff haben und darüber entscheiden, was wir mit Sprache leisten und wie wir etwas mit Sprache tun können. Normalerweise kommen wir mit unserer Sprache zurecht und machen uns deshalb auch keine Gedanken über dieses Instrument. Erst wenn unser Gegenüber unsere Äußerungen nicht immer so versteht, wie wir sie gemeint haben, oder wenn wir bemerken, dass wir nicht das ausdrücken konnten, was wir eigentlich sagen wollten – dann erst bemerken wir, dass 21
dieses Instrument Sprache seine Tücken hat, deren Gründe uns aber rätselhaft bleiben. Problematischer wird es, wenn uns das Gefühl beschleicht, dass wir selbst mit unserem Sprechen nicht mehr verstanden werden, immer wieder ähnliche Gesprächssituationen und Gesprächsabläufe erleben, ohne dass sich etwas verändert – erst wenn wir Sprachlosigkeit und Resignation empfinden, dann erleben wir, wie diese Automatismen und unwillkürlichen Strukturschemata unserer zwischenmenschlichen Verbindungen ihr eigenes Spiel spielen. In solchen Augenblicken oder Lebensphasen wächst der Wunsch nach Hilfe, oftmals nach therapeutischer Hilfe, die einem einen Ausweg aus der Sackgasse oder den problembehafteten Verstrickungen weisen soll. Was hat es also mit dem Instrument Sprache auf sich? Wir haben gesehen, dass wir zwar sprechen können, aber nicht immer verstanden werden. Auch umgekehrt haben wir in Gesprächen, Diskussionen oder Auseinandersetzungen die Erfahrung gemacht, dass wir die Gefühle, Wahrnehmungen oder Meinungen anderer nicht immer nachvollziehen können. Obwohl wir eine gemeinsame Muttersprache sprechen und viele gleiche Wörter gebrauchen, erleben wir, dass Menschen dennoch unterschiedliche Welten und Wirklichkeiten artikulieren. Gerade bei Gefühlen oder Eindrücken zeigt es sich, dass Menschen Situationen nicht gleich empfinden, sondern jeder seine subjektive Wahrnehmung hat. Nur weil es Sprache gibt, können wir uns hierüber verständigen, dabei Gemeinsamkeiten feststellen oder Unterschiede benennen. Sprache ist das Instrument, mit dem wir unsere jeweiligen Welten erschließen – wir können auch sagen: unsere 22
Welten und Wirklichkeiten konstruieren. Jeder Mensch ist ein Konstrukteur seiner Welt und seiner Wirklichkeit. Der Bauplan, nach welchem dies geschieht, gründet in der jeweiligen kognitiven Struktur, mit welcher die Umwelt wahrgenommen wird. Seine Baumaterialien sind seine Sprachen, wodurch die innere Wahrnehmung im Verbalen wie Nonverbalen für die anderen zum Ausdruck gebracht wird. Bei jeder Welt- und Wirklichkeitskonstruktion müssen wir uns an die Gesetze und Regeln unseres Gehirns wie an die unserer Sprachen halten. Sie sind die Unveränderlichkeiten, die so genannten Invarianzen unseres Weltbezugs, während die jeweiligen Ausprägungen durch unsere Kultur, Familie, Erziehung und Bildung individuell sind. Die physiologischpsychologisch-linguistischen Invarianzen erlauben es uns, dass wir Menschen untereinander in Beziehung treten können; unsere Individualitäten hingegen erfordern, dass wir uns über unsere jeweiligen Wahrnehmungen von Welt und Wirklichkeit auseinandersetzen. Dies ist möglich, weil wir eine gemeinsame Sprache sprechen. Würde jeder nur seine eigene Privatsprache sprechen, könnte er in seiner Welt und in seiner Wirklichkeit nicht verstanden werden (das hat Peter Bichsel in seiner Erzählung Ein Tisch ist ein Tisch * sehr schön dargestellt). Wer verstanden werden will, muss sich einer gemeinsamen Sprache bedienen und über sie im Austausch mit anderen Gemeinsamkeiten und Unterschiede aushandeln. Wirklichkeit entsteht nur durch Gemeinschaft und ist das Ergebnis von Auseinandersetzung. Weil wir unsere Welten konstruieren, hat jeder von *
In: Peter Bichsel, Kindergeschichten. Luchterhand Literaturverlag: Hamburg. 23
uns seine ganz bestimmte Perspektive auf das, was wir gemeinhin Realität nennen. Die objektive Realität gibt es nicht. Was wir wahrnehmen, ist selbst Konstruktion auf Grundlage dessen, was unsere kognitiven Möglichkeiten zu beobachten erlauben. In der Art und Weise, wie wir jeweils unsere Wahrnehmungen machen, äußert sich die Perspektive, der wir unsere Wirklichkeit zusprechen. Dass wir es selbst sind, die diese Wahrnehmung konstruieren, ist der blinde Fleck unseres Welt- und Wirklichkeitsbezugs. Deshalb gibt es nicht DIE Wahrheit noch DIE Wirklichkeit, sondern Wahrheiten und Wirklichkeiten, über die wir uns untereinander austauschen müssen. Dies ist einer der zentralen Grundgedanken des Konstruktivismus, welcher der systemischen Therapie zugrunde liegt. Weil es keine Wahrheit gibt, gilt es, die jeweilige Wirklichkeit des anderen in ihrer prinzipiellen Eigenständigkeit wertzuschätzen. Sich darüber auszutauschen, was wahr oder falsch ist, führt in die Sackgasse oder wird zur Machtprobe. Vielmehr gilt es zu hinterfragen, was die Prämissen, Ziele und Wertigkeiten sind, die der jeweiligen Welt- und Wirklichkeits-Konstruktion zugrunde liegen, um herauszufinden, in welchem Zusammenhang im Bauplan der Konstruktion ein ›Rechenoder Konstruktionsfehler‹ vorliegt. Im zweiten Teil des Buches werden wir anhand von exemplarischen Fallbeispielen aufzeigen, wie wir Menschen in Sprache und unseren Konstruktionsprinzipien eingebunden sind und unsere Probleme durch Sprache laut werden. Der Ausweg aus der Verfangenheit im eigenen Sprechen und damit dessen ressourcenorientierte Lösung kann nur durch eine konstruktive Gesprächsführung therapeutischen Sprechens erreicht werden. 24
Zuvor werden wir aber zentrale sprachliche, kommunikationstheoretische und (psycho-strukturale Grundlagen unseres Sprechens vorstellen. Im Mittelpunkt werden wesentliche Grundlagen von Sprache und zwischenmenschlicher Kommunikation stehen, das heißt: grundlegende Elemente, Gesetze und Regeln von Sprache und zwischenmenschlicher Kommunikation (im weitesten Sinne), die zum Grundlagenwissen über ein jedes Gespräch gehören, das konstruktiv sein will.
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Mit Sprachen seine Wirklichkeiten und Welten konstruieren
Signale und sprachliche Zeichen Zu den Elementen des Baukastens Sprache gehören Signale und Zeichen, mit welchen wir uns zunächst beschäftigen wollen. Was versteht man darunter? Was leisten sie bzw. wo sind ihre Grenzen? Fahrbahnmarkierungen, Hinweisschilder, Ampeln, das tönende Martinshorn eines Einsatzwagens, die Fahrtrichtungsanzeiger von Autos, das Aufblenden des Fernlichts zur Warnung vor Gefahren oder Radarfallen – wer sich im heutigen Straßenverkehr zurechtfinden will, muss eine große Anzahl an Signalen, Piktogrammen und Zeichen kennen. Nicht anders ist es in allen weiteren Lebensbereichen. Schon morgens, wenn der Wecker läutet, ist dies ein Signal, das den Tag einläutet und unser Aufstehen mehr oder weniger befiehlt. Und selbst dann, wenn wir nachts das Licht zum Schlafen ausmachen, setzen wir ein Signal. Signale sind materielle Zustandsänderungen, denen man Bedeutung zuspricht. Der Pfiff des Schiedsrichters, das Ertönen des Martinshorns, das mehrfache Aufblinken 26
des Fernlichts – in allen drei Fällen erfolgen akustische oder optische Zustandsänderungen, mit denen Hinweise oder Bedeutungen verknüpft sind und werden. An sich besagt das Pfeifen, Ertönen und Blinken nur, dass sich etwas verändert, vergleichbar dem Flug von Schwalben. Nur wer die Regeln des Fußballspiels, die Regeln des Straßenverkehrs und die Sprache unter Autofahrern versteht, wird diesen Veränderungen eine Bedeutung zusprechen können. Der Pfiff bedeutet nichts anderes als eine Spielunterbrechung, das Ertönen des Martinshorns signalisiert den Einsatz eines Rettungswagens, und das Blinken des entgegenkommenden Fahrzeugs gibt einen Hinweis. Signale im Rahmen bestimmter Kontexte (Fußballspiel, Straßenverkehr) haben zwar eine festgelegte Bedeutung, doch diese sind nicht eineindeutig. Der Pfiff des Schiedsrichters besagt nur, dass das Spiel unterbrochen ist, und legt die Vermutung nahe, dass eine Regelverletzung angezeigt wird. Ob es sich um ein Foul handelt oder der Schiedsrichter aufgrund eines Hustenanfalls den Pfiff verursachte, bleibt offen. So auch beim Aufblinken des Fernlichts: Der Fahrer kann auf eine Radarfalle aufmerksam machen wollen, doch genauso ist es möglich, dass er versehentlich das Fernlicht bedient hat. Entscheidend ist, dass Signale aufgrund von Konventionen als Zeichen verstanden werden, die auf bestimmte Inhalte verweisen. Um welche Inhalte es sich tatsächlich handelt, ist bei Signalen nicht immer eineindeutig festgelegt. Signale haben den Wert von Anzeichen, die mit der Erwartung verknüpft sind, dass man um ihre Bedeutsamkeit weiß bzw. sein eigenes Handeln nach möglichen Bedeutungen ausrichtet. Beim Ertönen des Martinshorns 27
heißt dies, dass man sich auf das Herannahen eines Rettungswagen einstellt und gegebenenfalls nach rechts oder links ausweicht, um Platz zu machen. Carlo Manzoni hat die Mehrdeutigkeit von Signalen in seiner Kurzgeschichte »Der Hausschlüssel« auf amüsante Art und Weise verarbeitet: »Der Hausschlüssel
Herr Veneranda blieb vor einer Haustür stehen, betrachtete die dunklen geschlossenen Fensterläden und pfiff abermals, als wolle er jemanden rufen. An einem Fenster des dritten Stockes erschien ein Herr. ›Haben Sie keinen Schlüssel?‹, schrie der Herr, um sich verständlich zu machen. ›Nein, ich habe keinen Schlüssel!‹, schrie Herr Veneranda. ›lst die Haustür zugeschlossen?«, schrie der Herr am Fenster wieder. ›Ja, sie ist zu‹, antwortete Herr Veneranda. ›Dann werfe ich Ihnen den Schlüssel hinunter.‹ ›Wozu?‹, fragte Herr Veneranda. ›Um die Haustür aufzuschließen‹, erwiderte der Herr am Fenster. ›Also gut!‹, schrie Herr Veneranda. ›Wenn Sie wollen, dass ich die Haustür aufschließe, dann werfen Sie mir nur den Schlüssel herunter!« ›Aber müssen Sie denn nicht herein?« ›Ich? Nein. Wozu auch?« ›Wohnen Sie denn nicht hier?«, fragte der Herr am Fenster, der nicht mehr recht mitkam. ›Ich? Nein!«, schrie Herr Veneranda zurück. ›Und warum wollen Sie dann den Schlüssel?« ›Wenn Sie wollen, dass ich die Tür aufschließe, muss ich sie doch mit dem Schlüssel aufschließen. Glauben Sie 28
vielleicht, ich könnte es mit einer Pfeife?« ›Ich will gar nicht, dass die aufgemacht wird!«, rief der Herr am Fenster. ›Ich meinte, Sie wohnten hier; ich hörte Sie pfeifen.« ›Pfeifen denn alle, die hier im Haus wohnen?«, erkundigte sich Herr Veneranda mit voller Lautstärke. ›Nur wenn sie keinen Schlüssel haben«, antwortete der Herr oben. ›Ich habe keinen Schlüssel!‹, schrie Herr Veneranda. ›Dürfte ich vielleicht wissen, was diese Schreierei zu bedeuten hat? Man kann dabei kein Auge zutun!«, brüllte ein Herr, der sich an einem Fenster des ersten Stockes zeigte. ›Wir schreien, weil sich der Herr dort im dritten Stock befindet und ich auf der Straße stehe«, sagte Herr Veneranda. ›Wenn wir leise sprechen, können wir uns nicht verständigen.« ›Aber was wollen Sie denn?«, fragte der Herr, der im ersten Stock am Fenster stand. ›Da müssen Sie den Herrn im dritten Stock fragen«, sagte Herr Veneranda. ›Ich habe es noch nicht herausbekommen: Zuerst will er mir den Hausschlüssel herunterwerfen, damit ich die Haustür aufschließe, dann will er wieder nicht, dass ich die Haustür aufschließe, dann sagt er, dass ich, wenn ich pfeife, in diesem Haus wohnen müsse. Kurzum, ich habe es noch nicht herausbekommen. Pfeifen Sie übrigens?« ›Ich? Nein! Wieso sollte ich pfeifen?«, fragte der Herr am Fenster des ersten Stockes. ›Weil Sie in diesem Haus wohnen«, sagte Herr Veneranda. ›Der Herr im dritten Stock hat gesagt, dass die Leute, die in diesem Haus wohnen, pfeifen. Mir ist es jedenfalls einerlei: Meinetwegen können Sie ruhig pfeifen.« 29
Herr Veneranda verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung, ging seines Weges und murmelte vor sich hin, dass dies bestimmt eine Art Irrenanstalt sein müsse.« * Am Beispiel von Signalen zeigt sich, dass bei Zeichen zwei grundsätzliche Seiten zu betrachten sind. Auf der einen Seite ist die materielle Zustandsänderung, die sich auf bestimmte Art und Weise ausdrückt. Auf der anderen Seite aber wird diesem Ausdruck eine Bedeutung zugesprochen, der ihn erst bedeutsam macht. Der Pfiff als solcher besagt gar nichts. Erst im Kontext eines Fußballspiels oder im Kontext einer Abmachung/ Vereinbarung (zum Beispiel: Wenn du einen Pfiff hörst, steh ich auf der Straße und erwarte, dass du kommst, damit wir essen gehen können) erhält dieser Ausdruck seinen Wert. Er steht für etwas anderes: nämlich für die Bedeutung, die man ihm zugesprochen hat. Nicht anders ist es bei unserer Körpersprache: Hängende Mundwinkel können Ausdruck von Trauer, Skepsis, Ironie oder sogar Konzentration sein. Wie wir Mimik, Gestik und Körperhaltung interpretieren, d.h., welche Bedeutung wir ihnen zusprechen, ist immer mit Ungewissheit behaftet. Sie sind gleichsam Körpersignale, die wir im Kontext von anderen, zumeist verbalen Äußerungen einordnen können oder zu verstehen versuchen. Vor diesem Hintergrund ist die Artikulation von Sprache nichts anderes als die Artikulation von bestimmten Lauten und Lautkombinationen, die Bedeutung haben. Beim sprachlichen Zeichen unterscheidet man zwischen *
Carlo Manzoni (1966): 100 x Signor Veneranda. Langen-Müller Verlag: München und Wien. 30
Ausdrucks- und Inhaltsseite, zwischen Lautbild und Vorstellung (im engeren Sinne: Bedeutung), mit der man einen außersprachlichen Gegenstand oder Sachverhalt bezeichnet. Es war der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure, der Anfang des 20. Jahrhunderts in seinen Vorlesungen »Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft« die Unterscheidung Signifikant – Signifikat einführte, um den oben beschriebenen Sachverhalt grundsätzlich bestimmen zu können: »Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild. Dieses letztere ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen; es ist sensorisch, und wenn wir es etwa gelegentlich ›materiell‹ nennen, so ist damit eben das Sensorische gemeint im Gegensatz zu dem andern Glied der assoziativen Verbindung, der Vorstellung, die im allgemeinen mehr abstrakt ist. ( … ) Das sprachliche Zeichen ist also etwas im Geist tatsächlich Vorhandenes, das zwei Seiten hat ( … ) Ich schlage also vor, dass man das Wort Zeichen beibehält für das Ganze, und Vorstellung bzw. Lautbild durch Bezeichnetes und Bezeichnung (Bezeichnendes) ersetzt.« *
*
F. de Saussure (1967): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Walter de Gruyter: Berlin, S. 77-79. 31
(Bild vom
Signifikat
Baum)
(Vorstellung)
BAUM
Signifikant (Lautbild)
De Saussure beschrieb folgenden Sachverhalt: Um Gegenstände oder Sachverhalte sprachlich benennen zu können, ist man darauf angewiesen, ein Bezeichnendes zu wählen, welches das Bezeichnete vertritt oder gegenwärtig macht. Wenn man die Lautfolge »Baum« äußert, weiß der andere, der dies hört, dass es sich um ein Gebilde handelt, das durch vielerlei aber eindeutige Merkmale gekennzeichnet ist. Doch, wenn man »Baum« sagt, bezeichnet man niemals den je konkreten Baum, der einem selbst in Gedanken als Vorstellung gegenwärtig ist. Aus der Situation heraus, sich mithilfe von Signifikanten mitteilen zu müssen, folgt zugleich, dass sich das, womit man seine Vorstellung bezeichnet, nicht bis ins Detail mit dem deckt, was man bezeichnen will. Jeder von uns hat seine Vorstellung von einem »Baum«, auch wenn wir alle nur dies eine Wort zur Bezeichnung des Gegenstands benutzen. Mit anderen Worten: Trotz der eindeutigen Festlegung des Inhalts muss eine Differenz festgehalten werden, die sich aus der individuellen Auffassung/Vorstellung und der Allgemeinheit des Begriffs ergibt. Bei dem Begriff »Baum« mag dies noch scheinbar problemlos sein, doch je abstrakter die Begriffe, desto größer wird das Problem, welche Inhaltlichkeit man mit ihnen verbindet. Denken Sie nur an abstrakte Begriffe 32
wie »Liebe«, »Freiheit«, »Gleichheit«. Sprache ist bei aller Bestimmtheit ein offenes System, das seine Benutzer dazu zwingt, sich über die Bedeutung von Begriffen Klarheit zu verschaffen. Die ›offene Eindeutigkeit‹ von Signifikanten aber ist nur ein zentrales Problem sprachlicher Zeichen. Bislang gingen wir immer davon aus, dass Signifikaten Signifikanten zugeordnet werden. Doch die Frage, wie man denn dies leisten könne, ohne selbst schon über Sprache zu verfügen, blieb offen. Grundsätzlich gilt: Jeder, der diese Zuordnung leistet, d.h. einem Ausdruck Inhalt zuweist, muss immer schon über Sprache verfügen, um dies leisten zu können. Naiv ist die Vorstellung, als ob mit einem Male Sprache erfunden wäre und allen Gegenständen und Sachverhalten sprachliche Zeichen gegeben worden seien. Doch wie die Zuordnung von Signifikat und Signifikant erfolgte, bleibt logisch ungeklärt, denn um bezeichnen zu können, muss immer schon Sprache logisch vorgeordnet sein. Deshalb ist das Saussure’sche Schema von Signifikat – Signifikant dahingehend zu überdenken, dass Signifikanten Signifikate als ihre Effekte hervorbringen, so dass der Signifikant das logisch dem Signifikat übergeordnete und zeitlich vorgeordnete Moment ist. Um sich diesen Sachverhalt klar vor Augen zu führen, braucht man sich nur in die Situation eines Kleinkindes zu versetzen, das Sprechen lernt. Das Kleinkind erhält Sprache, die es erwerben muss, um das, was es wünscht, ausdrücken zu können. Doch diese Sprache erhält es von den Erwachsenen – eine Sprache, mit der sich nur das ausdrücken lässt, was Sprache an Zeichen zur Verfügung stellt. All die Unmittelbarkeiten kleinkindlicher Sensuali33
tät und Expressivität müssen den Weg von Sprache gehen, um sich ausdrücken zu können. Das vorsprachliche Schreien und Lallen von Kleinkindern geht mit dem Spracherwerb für immer verloren.
Zu den (psycho)-strukturalen Grundlagen unserer Sprachgewordenheit Dieses fundamentale Grundverhältnis, das durch Sprache gestiftet wird, gilt es in Hinblick auf die Psychologik der menschlichen Seele wie in seiner Bedeutung für die zwischenmenschliche Kommunikation genauer zu betrachten. Das Lebewesen ›Mensch‹ ist ein Mängelwesen (Arnold Gehlen) und erhält Sprache als Antwort auf seine Hilflosigkeit. Die einzige Sprache des Neugeborenen sind Artikulationen voller Unbestimmtheit und Offenheit: Schreien, Kreischen, Lallen, Quieken und Jauchzen – all dies gehört zum riesigen Repertoire kleinkindlicher Äußerungen. Die Frage, die deshalb alle Eltern bewegt, lautet: ›Was willst du?‹ Da das Baby nicht sprechen kann, sind sie auf ihre Interpretationen angewiesen. Ihre Körpersprache, ihre Mimiken und Gesten, ihr Sprechen und all die sorgendumsorgenden wie mahnend-verzweifelten Haltungen und Handlungen beherbergen zwar immer Unsicherheiten, doch gleichzeitig sind es Signale und Zeichen, die das Kleinkind von ihnen zur Antwort auf sein Schreien erhält. Die Sprache der Eltern ist bei alledem eine je individuelle Sprache, die sich aus der Vielfältigkeit ihrer Persönlichkeiten und ihrer Beziehungen zusammensetzt, das heißt: Es ist die je individuelle Sprache eines Paares, das zugleich auch Elternfunktion hat und mit dem Kind zusammen eine 34
Familie bildet, ganz zu schweigen von all den weiteren Beziehungen zu Verwandten, Freunden und Bekannten bis hin zu den ganz alltäglichen Außenkontakten im Beruf oder beim Einkauf. Aus dem Fundus solch ausdifferenzierter Sprachwelten der Eltern erhalten Kleinkinder die Antwort auf ihre sprachlose Befindlichkeit und werden über Sprache in die Familienbande eingebunden und mit ihnen verbunden. Es versteht sich von selbst, dass zwischen Bedarf des Kindes und Anspruch der Eltern ein unhintergehbarer Unterschied bestehen bleiben muss, der zur Folge hat, dass Eltern niemals den kindlichen Bedarf vollständig einlösen können. Das rätselhaft bleibende Artikulieren des Kleinkindes bleibt grundsätzlich immer unlösbar und nicht beantwortbar, und allen Eltern bleibt nur der Versuch, diesen Bedarf durch ihren An-Spruch im wahrsten Sinne des Wortes zu stillen. Aufgrund dieses Sachverhalts wird verständlich, dass jeder sprachliche Zugriff auf Welt immer mit dem Manko der Unvollständigkeit behaftet ist. Doch gleichzeitig markiert diese Lücke den Ort von Freiheit, den uns Sprache gibt. Solange sprachliche Zeichen nicht eineindeutig festgelegt sind, bleibt die Möglichkeit bestehen, mithilfe von Zeichen neue Sinnzusammenhänge zu stiften. Dieses Potenzial von Sprache ist Motor von Literatur im Besonderen und von Kunst im Allgemeinen. Die Besonderheit von Lyrik zum Beispiel ist es, durch kreative Sprachgestaltung neue Sinnbezüge zu stiften und Bedeutungsgehalte zu schaffen. Gerade der ungewöhnliche, gegen die Alltäglichkeit des Sprachgebrauchs gerichtete Umgang mit sprachlichen Zeichen erlaubt es, neue Denkräume und Denkzusammenhänge zu artikulieren. 35
Diese durch die Zeichennatur von Sprache bedingte irreduzible Differenz darf aber auch als Motor für den Spracherwerb des Kindes gewertet werden. Doch statt ins Paradies der Worte kommt es vom Regen in die Traufe. Mit dem Spracherwerb ist das Kleinkind gezwungen, seinen Bedarf als Bedürfnis mit der Sprache seiner Eltern, seiner Herkunft und damit seiner Kultur zu artikulieren. Das Drama des Mängelwesens ›Mensch‹ wiederholt sich erneut. Sehr bald wird das Kind die Erfahrung machen, dass Worte, Zeichen, Signale, Gestik und Mimik gleichwohl nicht hinreichen, alles zu bedeuten, was man empfindet, fühlt und denkt. Dieser Mangel ist grundlegend und kennzeichnend für das, was Menschsein ausmacht, weshalb Religionen Orte wie das Paradies erfunden haben, wo diese irreduzible Differenz als aufgehoben versprochen wird. Doch das Paradies ist der Ort des Todes und nicht von dieser Welt. Deshalb sind Menschen gezwungen, mit den Gegebenheiten des Irdischen zurechtzukommen. Das heißt zuallererst: Die Sprache, die sie als Kleinkinder ab dem Alter von zwei Jahren erlernen, ist die Sprache ihrer Eltern – und damit erlernen sie mit dieser Sprache zugleich auch deren Vorstellungen, Wünsche, Ängste, Glücksgefühle, Abhängigkeiten, Haltungen und Werte. Über Sprache wird das Kind zu einem sich mitteilenden, weil kommunizierenden Mitglied des Familiensystems, was auch heißt, dass es ›Nein‹ sagen kann. Ein ›Nein‹ ist aber etwas anderes, als Brei zu spucken oder unaufhörlich zu schreien. Vorsprachliche Artikulationen kennen nur ein ›Entweder – Oder‹; sprachlich Artikuliertes aber beinhaltet immer auch ein ›Sowohl – als auch‹. So kann das Kind sagen, dass es keinen Brei essen 36
möchte, doch zugleich mitteilen, dass es lieber Pudding wolle; sein Nein ist kein absolutes, sondern immer ein Angebot, dessen Durchsetzbarkeit erprobt werden kann. Mit anderen Worten: Mit Sprache ist das Feld eröffnet, auf dem man manipulieren kann. In jener frühkindlichen Entwicklungsphase vor und nach seinem Spracherwerb werden beim Kleinkind zugleich psychische Grundstrukturen herausgebildet, die für die Beziehung des Menschen zu sich selbst, d.h. seinem Selbstbild, wie aber auch gegenüber seinen Mitmenschen von fundamentaler Bedeutung sind. Es sind dies zwei Grundmodelle, die ein Leben lang jenes Spannungsfeld begründen, das unser Menschsein ausmacht und aus dem viele zwischenmenschliche Störungen und psychische Instabilitäten hervorgehen. Diese beiden Grundmodelle bestimmen unser Verhältnis zur Sprache und zum Gespräch, und gleichzeitig machen sie deutlich, über welche Mechanismen das Mängelwesen ›Mensch‹ sein Manko vergessen machen will oder anerkennen muss. Das erste Grundmodell, das in der vorsprachlichen Zeit strukturbildend greift, ist die Ordnung des Imaginären, deren Bedeutung und Funktion für die menschliche Psyche sich beispielhaft entlang des so genannten »Spiegelstadiums« * erläutern lässt: Im Alter zwischen dem 6. und 18. Monat begrüßt das Kleinkind sein Spiegelbild mit ausgelassener Freude. Im Spiegel nimmt es eine körperliche Ganzheit wahr, die *
Die Theorie des Spiegelstadiums wurde von dem französischen Arzt und Psychoanalytiker Jacques Lacan formuliert. Der Referenztext ist »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« (1949) (in: Jacques Lacan [1973], Schriften I, Walter-Verlag: Olten, S. 61-70). 37
seiner tatsächlichen senso-motorischen Inkoordination widerspricht. Es sieht einen ›ganzen‹ Menschen, das heißt: es sieht die Gestalt eines ganzen Menschen. Im Gegensatz zum Spiegelbild aber ist das Kleinkind ein von Mängel bestimmtes: es kann nicht selbstständig laufen, kann noch nicht sprechen und ist deshalb ganz von der Sorge und Fürsorge seiner Eltern abhängig. Was es als Ganzheit wahrnimmt, ist ein virtuelles Bild: das Spiegelbild. Seine Realität: eine imaginäre. Diese Struktur einer Verkennung bestimmt in vielfältiger Weise die Beziehung des Menschen zu seinem Selbstbild und zu den Personen seiner Umwelt. Wer hat es nicht schon erlebt, dass er in anderen Personen ein Vorbild sah, dem er gleich werden wollte. »Ich möchte ein solcher werden wie …« – so wert- und sinnvoll Vorbilder sein können, auf der Ebene von virtuellen Bildern gehorchen sie der Logik der Verkennung. Wenn Menschen mit dem Bild ihres Stars zum Friseur oder zum Schönheitschirurgen gehen, dann bewegen sie sich in ihrem Begehren auf der Ebene des Spiegelstadiums. Sie wollen sich diesen Spiegelbildern annähern, weil sie glauben, auf diesem Weg ihre eigene Unvollständigkeit kompensieren zu können. Fataler wird es, wenn junge Mädchen damit beginnen, ihren Pop-Ikonen und Laufsteg-Vorbildern dergestalt nachzueifern, dass sie sich zu Tode hungern, weil ihre Sucht aus der Verkennung des eigenen Körperbildes erwächst. Dass dieses Spiegelbild auf Bühnen und Laufstegen den Phantasien zumeist homosexueller Designer und Künstler entspringt, die sich in ihren Stars geschlechtslose androgyne Spiegelbilder ihrer eigenen Selbstwahrnehmung als Ideal-Ich basteln, wird zumeist übersehen. Mit anderen Worten: 38
die Vorbilder, denen die jungen Mädchen folgen, sind selbst in Fleisch gewordene Projektionen körpergestörter Devianzen. Da das Verhältnis von Körpergefühl und Spiegelbild immer von Defiziten bestimmt ist, besteht ein Spannungsfeld, das in seinen schlimmsten Ausprägungen tödlich ist. Defizite befördern das Suchtverhalten; Defizite können neben endloser Verehrung und Idolatrie aber auch in ihr Gegenteil umschlagen: in Hass, Aggressivität, Neid und Missgunst. Kurzum: Die Welt des Imaginären, die nach der Logik des Spiegelstadiums strukturiert ist, ist offen für all die Selbst- und Fremdverletzungen, die ein konstruktives Miteinander unmöglich sein lässt. In dieser Welt gibt es nämlich nur eine Form der Auseinandersetzung, die letztlich sprachlos oder selbstbezüglich ist. So ist es zum Beispiel problematisch, wenn Ehepaare sich spiegelbildlich zueinander verhalten und deshalb permanent damit beschäftigt sind, den anderen in die Position des Spiegelbildes zu justieren. Solche Beziehungen haben das Justieren selbst zum Inhalt ihrer Beziehung. Justieren aber besagt, dass der jeweilige Partner immer exakt das tun sollte, damit sich der andere in ihm spiegeln kann, und das heißt: dass er sein Ideal im anderen erkennen kann. Die Folge ist natürlich, dass die Eigenheit des Partners überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird, sondern dieser vielmehr nur noch Projektionsfläche der eigenen Mangelhaftigkeit ist, die er als Kritik zu hören bekommt. Störungen des Selbstbildes und des Körpergefühls sind strukturell auf einer vorsprachlichen Ebene verortet. Sie sind in den letzten Jahrzehnten dominant geworden, 39
weil die Bedeutung und Funktion von Sprache immer mehr in den Hintergrund getreten ist. Zweifellos ist es einfacher, sich in Spiegelbildern selbst zu bespiegeln, doch ist dies eine psychische Haltung ohne Boden, in deren Verlauf permanente Krisen, Beziehungsabbrüche, Suchtverhalten sowie Angst- und Panikattacken stehen. Vorbilder ganz anderer Art aber werden konstruktiv bestimmend, wenn sie sprachlich vermittelt sind und man versucht, durch Sprache diesen nachzueifern. Zum erfolgreichen Spracherwerb gehört deshalb nicht nur die Fähigkeit, in seiner Muttersprache zu sprechen, sondern gleichzeitig die Gesetze und Regeln von Sprache verinnerlicht zu haben, die unsere Beziehungen zu uns und zu anderen Menschen bestimmen. Das zweite Grundmodell, das im Zuge des Spracherwerbs zum Tragen kommt, ist die Ordnung des Symbolischen. In der Welt des Imaginären lässt es sich gut phantasieren: In der Einbildung ist man so schlank wie Britney Spears, so begehrenswert wie Richard Gere, so schlagfertig wie Thomas Gottschalk, so mächtig wie sein Chef – und am Stammtisch weiß jeder, wie man die Politik richtiger und besser machen muss, damit sie erfolgreich ist. In der Welt des Symbolischen ist das nicht mehr so einfach möglich: Keine Frau auf dieser Welt ist Britney Spears außer Britney Spears selbst. Dass dem so ist, belegen Taufurkunde, Genealogien oder Plattenverträge. Ein Angestellter ist nicht Chef- und wenn es hart auf hart kommt, wird der Vorgesetzte die Arbeitsverträge aus der Schublade ziehen, in welchen schriftlich und unterschriftlich bestätigt festgehalten ist, wer welche Funktion innerhalb der Firma einnimmt. Schließlich ist kein Stamm40
tischheld als Politiker gewählt noch wurde er als Funktionsträger vereidigt. Mit der Welt des Symbolischen begegnen wir der Welt von Schriftlichkeit, bindender Verbindlichkeiten wie Verträge, Examina, Eide, und von tatsächlicher Macht. Sich hierin zurechtzufinden heißt zuallererst in die symbolischen Ordnungen ›eingeschrieben‹ werden: Ein Kind, dessen Geburt nicht vom Standesamt registriert und bestätigt wurde, existiert nicht; ein Arzt, der praktizieren will, muss von der Ärztekammer seine Approbation erhalten haben; eine Ehe, auch wenn sie nur noch auf dem Papier bestehen sollte, ist eine rechtsgültige Verbindung zweier Menschen, über deren Form und Inhalt auch Gesetze bestehen. Sich in der Welt des Symbolischen zurechtzufinden heißt nicht nur, die von den jeweiligen symbolischen Ordnungen geforderten Voraussetzungen zu erfüllen (ohne Abitur kann man nicht studieren, ohne Wahl kommt man nicht ins Parlament u.a.), sondern sich zugleich auch den Gesetzen und Regeln dieser Ordnungen zu unterstellen. Wer die Prüfung nicht schafft, kann zwar in seiner imaginären Welt der Größte sein, für die symbolische Welt ist er aber durchgefallen, was mit entsprechenden Konsequenzen für den weiteren Lebensweg verbunden sein kann. Wer bei Gericht seinen Prozess verliert, mag über die Ungerechtigkeit enttäuscht sein, wird sich aber den Gegebenheiten fügen müssen (sollte er seine Strafe z. B. nicht bezahlen, verfügen symbolische Ordnungen auch über Exekutivorgane, die deren Erfüllung erwirken können). Symbolische Ordnungen schaffen Verbindlichkeiten, die bewirken. Wer sich in ihnen zurechtfinden will, muss ihre Gesetze und Regeln anerkennen. Wer sie umgehen 41
will, muss entweder hochstapeln oder betrügen bzw. versuchen, ihre Repräsentanten zu bestechen. Mit anderen Worten: Nur kriminelle Machenschaften taugen, die Ordnung des Symbolischen zu unterlaufen. Natürlich sind Menschen listig und haben sich moderatere Formen der Manipulation überlegt, wie zum Beispiel Parteiungen, Seilschaften, persönliche Beziehungen – aber letztlich sind dies nur Spielarten des Imaginären, mit denen man dem Symbolischen seine Härte nehmen möchte. Der Übergang vom Imaginären zum Symbolischen ist auch durch unser Sprechen markiert. Das Sprechen in der Welt des Imaginären ist ein leeres Sprechen. Es lebt von Floskeln, Stereotypen, Worthülsen und »Man sagt«Reden. Die Welt des Symbolischen hingegen ist ein volles Sprechen, weil dieses Sprechen bewirken muss und bewirken will: Nur ein solches Sprechen hat Veränderungen zur Folge und kann im wahrsten Sinne des Wortes ein konstruktives Sprechen genannt werden, weil es spürbare Konsequenzen hat, die verantwortet werden. Im vollen Sprechen wird der Mensch in seinen symbolischen Einschreibungen angesprochen, von denen er unbewusst weiß, dass sie sein Fühlen, Denken und Handeln bestimmen. Religionen kennzeichnen ein solch volles Sprechen in der Formel »Ich rufe Dich bei Deinem Namen!« Wie schwierig es sein kann, aus dem Imaginären ins Symbolische zu erwachsen, zeigt das Beispiel einer Anruferin, die Brigitte Lämmle mit dem Satz konfrontierte: »Meine Eltern erlauben mir nicht, erwachsen zu sein«. Ein solches Sprechen besagt das schiere Gegenteil. Wer so spricht, liest sich und seine Eltern aus der Perspektive eines Kindes, das nicht erwachsen sein will. ›Lesen‹ besagt: Alle Signale und Zeichen, welche die Eltern artiku42
lieren, werden aus einer kindlichen Perspektive verstanden, weil sie einerseits die eigene Mangelhaftigkeit kompensieren, doch andererseits diese Mangelhaftigkeit erst bewusst machen. Eine höchst ambivalente Situation, die sich an der Grenze zwischen imaginärer und symbolischer Welt vollzieht. Würde die Anruferin sich aufmachen, erwachsen zu werden, müsste sie sich ihrer eigenen Mangelhaftigkeit stellen und schauen, sich in symbolische Ordnungen des Berufes, der Ehe, der Eigenständigkeit usw. einzuschreiben. Solange sie sich aber des Vorwurfs gegenüber ihren Eltern bedient, braucht sie keine Veränderungen vorzunehmen, auch wenn diese Lesart zur Folge hat, dass es ihr immer schlechter geht. Natürlich verfügt sie über Ressourcen, die es ihr erlauben, erwachsen zu werden. Diese Ressource ist nämlich Sprache selbst, die aufgrund ihrer strukturellen Offenheit auch immer von Allgemeinheit ist.
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Vier Grundaxiome zwischenmenschlicher Kommunikation Der Mensch ist ein soziales Wesen und seine Soziabilität gründet in Sprache. Welche Gesetze zwischenmenschlicher Kommunikation lassen sich finden, die Auskunft über die Beziehungsstrukturen geben, die beim Sprechen gestiftet werden? Dieser Frage ging der österreichische Arzt und Psychotherapeut Paul Watzlawick in Zusammenarbeit mit seinen Kollegen Anfang 1970 in Palo Alto (USA) nach und entdeckte vier Grundaxiome zwischenmenschlicher Kommunikation, die im Folgenden in ihren Grundzügen vorgestellt werden. ›Das hab ich doch gar nicht so gemeint!‹, ›Du verstehst mich nicht!‹, ›Dass du immer das letzte Wort haben musst!‹, – solche Redewendungen sind keine Seltenheit, wenn Menschen bei Auseinandersetzungen ihre unterschiedlichen Ansichten und Meinungen darzulegen suchen. Solange sie miteinander konstruktiv reden, ist dies ein positiver Weg, sich und seinen Standpunkt auszudrücken und im Gespräch zu klären. Für Außenstehende, die dies beobachten, erscheint der Anlass oder der Gegenstand solcher Auseinandersetzungen oftmals lapidar und nichtssagend zu sein. Für die Betroffenen aber können sich hierbei Verletzungen, Enttäuschungen, 44
Hoffnungen und Sehnsüchte artikulieren. Worüber man spricht, ist nicht immer der Inhalt, denn vielfach wird der Inhalt (die roten Schuhe, die dem anderen nicht stehen; das schmutzige Waschbecken; die Haare im Kamm) nur dazu benutzt, ganz andere Informationen mitzuteilen – Informationen über die zwischenmenschliche Beziehung und über die Enttäuschung ihres Scheiterns. Dass zwischenmenschliche Kommunikation nicht so reibungslos funktioniert, wie es das Kommunikationsmodell nahe legt, wird spätestens dann jedem Gesprächsteilnehmer bewusst, wenn trotz einwandfreier Übertragung und gemeinsamer Codes ein Gespräch und eine Verständigung von beiden Seiten als nicht gelungen bezeichnet wird. Was bleibt, sind Missverständnisse, gegenseitiges Unverständnis, oftmals Kräche und schließlich Zerwürfnisse. Solch eine misslungene zwischenmenschliche Kommunikation mit dem Fehlen von Vernunft, Toleranz, Intellektualität oder Intelligenz der jeweiligen Gesprächsteilnehmer zu erklären war Jahrhunderte lang üblich. So ist es zu verstehen, dass zum Beispiel der Schriftsteller Heinrich von Kleist Ende des 18. Jahrhunderts seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge Lehrbriefe schrieb, in denen er ihr logisches Denken und sachgerechtes Argumentieren beibringen wollte. Dass solche pädagogischen Maßnahmen im Alltag von Ehen, Freundschaften und Beziehungen schlechthin nicht zum Erfolg führen müssen, hat seine Gründe nicht immer in der Unlogik der dargebrachten Argumente, sondern liegt wesentlich in der Struktur zwischenmenschlicher Kommunikation begründet, wie es Paul Watzlawick in seinem Buch »Menschliche Kommunikation« dargelegt hat. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Familien45
berater und Psychotherapeut hatte Watzlawick die Erfahrung gemacht, dass die Konfliktlösung bei zerstrittenen Partnern oder Familienangehörigen nicht dadurch zufriedenstellend erreicht werden konnte, wenn man an die Vernunft der Beteiligten appellierte oder immer wieder darauf zu sprechen kam, dass jeder den anderen in seinen Gefühlen zu akzeptieren habe. Solche Lippenbekenntnisse zeitigten keine grundlegenden Erfolge, sondern schoben die Probleme der Betroffenen nur auf. Deshalb begann Watzlawick das Wechselspiel zwischenmenschlicher Kommunikation unter kybernetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Er begriff die kommunikative Beziehung zwischen Menschen nach dem Modell des Regelkreises: »Zwischenmenschliche Systeme – also Gruppen, Ehepaare, Familien, psychotherapeutische oder selbst internationale Beziehungen usw. – müssen als Rückkopplungskreise angesehen werden, daß in ihnen das Verhalten jenes einzelnen Individuums das jeder anderen Person bedingt und seinerseits von den Verhalten aller anderen bedingt wird.« * Dieser theoretische Ansatz hatte grundlegende Konsequenzen: Watzlawick verzichtete darauf, die Geschichtlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen zum Gegenstand seiner Betrachtungen zu machen. Stattdessen ging er davon aus, dass jeder der Beteiligten durch sein Sprechen und Handeln Einstellungen veränderte, die das Gleichgewicht von Beziehungen empfindlich störten. Die *
Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson (81970): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Verlag Hans Huber: Bern/Stuttgart/Toronto, S. 32. 46
Geschichte von Partnerbeziehungen oder Familienzwistigkeiten blendete Watzlawick aus. Er untersuchte, wie die Menschen miteinander kommunizierten und warum die Äußerungen des einen oder anderen immer wieder zu Schwierigkeiten und Missverständnissen führten. So definierte er seinen Forschungsbereich als die Untersuchung der »verhaltensmäßigen Wirkungen von Kommunikation«. Ihn interessierten als Beobachter einer Kommunikationssituation nur die beobachtbaren Reaktionen und registrierbaren Äußerungen der Beteiligten, wobei er neben verbalen insbesondere auch den nonverbalen Äußerungen kommunikative Funktion zusprach. Die Seele des Menschen behandelte Watzlawick als »black box«, d.h., innerseelische Vorgänge und Abläufe klammerte er aufgrund deren Unbeobachtbarkeit aus, so dass nur die Inputoutput-Relationen als beobachtbare Aktivitäten von Menschen zur Beurteilung herangezogen wurden. Bewusste oder unbewusste Verhaltensäußerungen, die Vergangenheit des Einzelnen oder einer Gruppe, Ursache und Wirkung von Verhalten – all diese Betrachtungsweisen menschlichen Sprechens und Handelns lehnte Watzlawick ab. Stattdessen wollte er aus dem tatsächlich beobachteten und geäußerten Verhalten Strukturen von Interaktion ableiten, die zwischenmenschlicher Kommunikation zugrunde liegen. Solche Kommunikationsstrukturen formulierte Watzlawick in seinen vier Axiomen.
1. Axiom: Man kann nicht nicht kommunizieren Da menschliches Verhalten kein Gegenteil hat, besitzt es in Gegenwart eines Zweiten immer Mitteilungscharakter. Der Grund liegt auf der Hand. Weil zwischenmenschli47
che Kommunikation ein Rückkoppelungssystem ist und damit auf Reziprozität (Wechselseitigkeit) gründet, kann jeder verbalen und non-verbalen Äußerung kommunikative Funktion zugesprochen werden, auch wenn der Sprecher dies nicht intendiert. Ein Mann, der stumm in einem Wartesaal sitzend vor sich hin auf den Boden starrt, kann nicht nicht kommunizieren, weil all die anderen Menschen, die sich in dem Wartesaal befinden, sein Verhalten als Mitteilung deuten können. Nicht der Mann, seine Umwelt ist es, die je nach Einstellung auf dieses Verhalten interpretierend reagiert.
2. Axiom: Jede Kommunikation hat einen Inhalts‐ und Beziehungsaspekt, derart, dass Letzterer den Ersteren bestimmt und daher eine Metakommu‐ nikation ist Das zweite Axiom könnte man mit den Worten Paul Watzlawicks als eine »Anleitung zum Glücklichwerden« begreifen. Zahllose Missverständnisse ließen sich aus der Welt räumen, wenn man sich bewusst wäre, dass man beim Kommunizieren nicht nur Information pur übermittelt, sondern zugleich auch mitteilt, welche Beziehung man gegenüber seinem Gesprächspartner hat. In seinem Buch »Menschliche Kommunikation« führt Paul Watzlawick aus: »Wenn Frau A auf Frau B’s Halskette deutet und fragt: ›Sind das echte Perlen?‹, so ist der Inhalt ihrer Frage ein Ersuchen um Information über ein Objekt. Gleichzeitig aber definiert sie damit auch – und kann es nicht nicht tun – ihre Beziehung zu Frau B. Die Art, wie sie fragt (der Tonfall ihrer Stimme, ihr Gesichtsausdruck, der 48
Kontext usw.), wird entweder wohlwollende Freundlichkeit, Neid, Bewunderung oder irgendeine andere Einstellung zu Frau B ausdrücken. B kann ihrerseits nun diese Beziehungsdefinition akzeptieren, ablehnen oder eine andere Definition geben, aber sie kann unter keinen Umständen- nicht einmal durch Schweigen – nicht auf A’s Kommunikation antworten. Für unsere Überlegungen wichtig ist die Tatsache, dass dieser Aspekt der Interaktion zwischen den beiden nichts mit der Echtheit von Perlen zu tun hat (oder überhaupt mit Perlen), sondern mit den gegenseitigen Definitionen ihrer Beziehung, mögen sie sich auch weiter über Perlen unterhalten.« * Betrachten wir ein weiteres fiktives Beispiel: Es ist ein Uhr nachts, die siebzehnjährige Tochter kommt nach Hause und wird von ihrem Vater empfangen: Vater: Weißt du, wie spät es ist. Tochter: Moment! (schaut auf die Uhr) – 5 nach eins. Vater: Eben. Tochter: Wenn du’s weißt, warum fragst du dann?! Vater: So geht das nicht weiter. Tochter: Ich bin müde, lass uns morgen … Vater: Nichts da. Jetzt reden wir drüber. Tochter: Ich bitte dich! Vater: Ich bin dein Vater! Tochter: (schnippisch) Ach was. Vater: Werd nicht frech. Tochter: Ich hab doch gar nichts gesagt. *
Ebd., S. 54. 49
Vater: Eben! Wenigstens entschuldigen könntest du dich! Tochter: Für was soll ich mich entschuldigen. Schon aus der ersten Frage des Vaters und der Antwort der Tochter ist ersichtlich, dass der Beziehungsaspekt zwischen beiden problematisch und damit unklar ist. Statt seine Tochter direkt und offen wegen ihrer späten Heimkehr anzusprechen, versteckt der Vater seine Unsicherheit hinter einer Frage, die inhaltlich mehrere Möglichkeiten offen lässt. Wortwörtlich als Frage verstanden, ist die Antwort der Tochter korrekt. Doch auch sie weiß um den situativen Kontext, in der ihr Vater diese Frage stellt. Sie weiß, dass der Vater ihr vorwirft, trotz ihrer Minderjährigkeit und trotz (vorheriger) Absprachen so spät nach Hause zu kommen. Der Konflikt ist also ein Autoritätskonflikt, der auf der Beziehungsstruktur der VaterTochter-Beziehung gründet. Erst als der Vater im Laufe des Gesprächs bemerkt, dass die Tochter diese Beziehungsstruktur und die damit verbundenen Konsequenzen nicht (mehr) akzeptiert, macht er sie eigens zum Thema: »Ich bin dein Vater!«. Was er nicht sagt: »… und ich habe das Recht, dass du dich an unsere Abmachungen hältst, weil du minderjährig bist und ich für dich verantwortlich bin!«. In der Reduktion auf die Feststellung »Ich bin dein Vater!« gibt er der Tochter erneut die Möglichkeit, diese Aussage als Feststellung zu verstehen mit der Folge, dass sich das Spiel vom Anfang wiederholt. Der Vater verabsäumt es, direkt und offen unter deutlicher Darlegung der Beziehungsstruktur und der damit verbundenen Konsequenzen mit seiner Tochter zu sprechen. Dies deutet die 50
Tochter als seine Unsicherheit, worin sie sich in ihrem Anspruch auf Erwachsenheit bestärkt fühlt und das sie ihn durch das Wortwörtlichnehmen seiner Aussagen spüren lässt. Aber sie ist auch unsicher (immerhin weiß sie, dass sie erst siebzehn Jahre alt ist), weshalb sie es ebenfalls unterlässt, offen und direkt den Konflikt anzusprechen. So endet wohl dieses mitternächtliche Gespräch in harschen Worten und bitterlichem Weinen, wo es doch hätte gelingen können, wenn beide Seiten ihren Beziehungskonflikt ausgesprochen hätten.
3. Axiom: Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe sei‐ tens der Partner bedingt »Ein Wort gibt das andere« – Auseinandersetzungen entwickeln bekanntlich ihre Eigendynamik. Ehe man sich der Situation bewusst wird, sieht man sich von den Reaktionsweisen und Vorwürfen des anderen gezwungen, entsprechend zu reagieren. Doch dieses Wörtchen »entsprechend« hat es in sich. Was heißt schon »entsprechend«?! Wenn zwischenmenschliche Kommunikation auf Reziprozität gründet, liegt der Verdacht nahe, dass das eigene Sprech-Verhalten dem anderen Anlass genug war, eben entsprechend darauf zu reagieren. So sind beide Gefangene einer Entsprechung, die ihnen unbewusst ist. Wer über seinen eigenen Schatten nicht springen kann, ist Gefangener seiner selbst. So nehmen Auseinandersetzungen immer wieder den gleichen Verlauf und enden meist in Ratlosigkeit und Verzweiflung. Die Interpunktion von Ereignisfolgen beschreibt das unbewusste Schema, dem gefolgt wird. Der eine kritisiert, der andere ist 51
beleidigt und zieht sich zurück, worauf der andere kritisiert, dass er sich zurückzieht. Statt die Kritik Kritik sein zu lassen, statt Kritik nicht durch Rückzug zu beantworten, folgen beide dem Schema ihrer zwischenmenschlichen Kommunikation, wobei sie sich durch ihr jeweiliges Verhalten gegenseitig aufschaukeln. Interpunktionen begründen sich nicht allein nur aus der Individualität der beteiligten Personen, sondern bestimmen sich auch aus den Eigenheiten unterschiedlicher Kulturen. So kann es zu kuriosen Missverständnissen im Hinblick auf die Interpunktion von Ereignisfolgen kommen, wenn unterschiedliche Kulturkreise miteinander kommunizieren. Ein schönes Beispiel zeigt dies: »Unter den während des Krieges in England stationierten amerikanischen Soldaten war die Ansicht weit verbreitet, die englischen Mädchen seien sexuell überaus leicht zugänglich. Merkwürdigerweise behaupteten die Mädchen ihrerseits, die amerikanischen Soldaten seien übertrieben stürmisch. Eine Untersuchung, an der u.a. Margaret Mead teilnahm, führte zu einer interessanten Lösung dieses Widerspruchs. Es stellte sich heraus, daß das Paarungsverhalten (courtship pattern) – vom Kennenlernen der Partner bis zum Geschlechtsverkehr – in England wie in Amerika ungefähr dreißig verschiedene Verhaltensformen durchläuft, daß aber die Reihenfolge dieser Verhaltensformen in den beiden Kulturbereichen verschieden ist. Während z.B. das Küssen in Amerika relativ früh kommt, etwa auf Stufe 5, tritt es im typischen Paarungsverhalten der Engländer relativ spät auf, etwa auf Stufe 25. Praktisch bedeutet dies, daß eine Engländerin, die von ihrem Soldaten geküsst wurde, sich nicht nur um 52
einen Großteil des für sie intuitiv ›richtigen‹ Paarungsverhaltens (Stufe 5-24) betrogen fühlte, sondern zu entscheiden hatte, ob sie die Beziehung an diesem Punkt abbrechen oder sich dem Partner sexuell hingeben sollte. Entschied sie sich für die letzte Alternative, so fand sich der Amerikaner einem Verhalten gegenüber, das für ihn durchaus nicht in dieses Frühstadium der Beziehung passte und nur als schamlos zu bezeichnen war. Die Lösung eines solchen Beziehungskonflikts durch die beiden Partner selbst ist natürlich deswegen praktisch unmöglich, weil derartige kulturbedingte Verhaltensformen und -abläufe meist völlig außerbewusst sind. Ins Bewusstsein dringt nur das undeutliche Gefühl: der andere benimmt sich falsch.« * Jede Sprach- und Kulturgemeinschaft hat ihre eigenen Interpunktionen und Wertigkeiten von Verhalten und Verhaltensabläufen entwickelt. Deshalb versperrt Intoleranz den Blick auf die Eigenständigkeit anderer Kulturen, denn schließlich ist jede Kultur (auch die eigene) gegenüber anderen fremd. Erst wenn man sich darüber informiert hat und Bescheid weiß, welche Wertigkeiten und Verhaltensabläufe Kulturen entwickelt haben und das zwischenmenschliche Zusammenleben bestimmen, können Missverständnisse vermieden werden.
*
Ebd., S. 20. 53
4. Axiom: Zwischenmenschliche Kommunikati‐ onsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Un‐ gleichheit beruht »Ich bin dein Vater!« – was die Tochter nur zu gerne als Feststellung begreifen will, ist tatsächlich die vom Vater ausgesprochene Beziehungsdefinition. Beziehungsdefinitionen beinhalten konventionell festgelegte Regeln, die das Sprechen und Handeln von Menschen bestimmen. Eltern-Kind-Beziehungen beruhen dabei auf Ungleichheit der Partner. Der Vater kann der minderjährigen Tochter vorschreiben, wann sie nach Hause kommt. Ebenso kann der Chef seinem Angestellten anweisen, eine bestimmte Arbeit zu machen, auch wenn der Angestellte hierzu keine Lust hat. Komplementäre Beziehungen beruhen also auf Überordnung oder Unterordnung. Das Sprechverhalten der Beteiligten ist bestimmt von Rollenzuweisungen, die kulturell bedingt und definiert sind. Eine komplementäre Beziehungsstruktur herrscht auch zwischen Arzt und Patient. Der Mediziner ist aufgrund seiner Fachausbildung dem Patienten übergeordnet. Wer als Patient diese Rollenzuweisung übertritt, muss damit rechnen, dass der Arzt sich weigert, die Behandlung durchzuführen. Treffen sich Arzt und Patient auf dem Tennisplatz, ändert sich ihre Beziehungsdefinition. Als Clubkameraden sind sie gleich, ihre Beziehungsdefinition ist symmetrisch. Sie kann sich zu einer komplementären wandeln, wenn der Patient Tennislehrer ist und der Arzt sein Schüler. 54
Je nach gesellschaftlichen und sozialen Handlungsräumen ändert sich auch das Sprechverhalten. Die Regeln, wie wir uns in unterschiedlichen Handlungsräumen sprachlich zu verhalten haben, lernen wir mit unserer Erziehung und durch Erfahrung. Wer die Regeln verletzt, hat Unannehmlichkeiten und kann sogar bestraft werden: durch persönliche oder gesellschaftliche Missachtung. In hochritualisierten Handlungsräumen, wie etwa bei Gerichtsverhandlungen, können solche Regelverletzungen eingeklagt und durch Ordnungsgelder bestraft werden. Anhand der vier Axiome lassen sich grundlegende Gelingensbedingungen zwischenmenschlicher Kommunikation ableiten: Das 1. Axiom machte deutlich, dass sich niemand der Interpretation seines Verhaltens durch andere entziehen kann, so dass man unvoreingenommen die Deutung anderer als faktische Gegebenheit akzeptieren kann, ohne dadurch selbst dieser Deutung zustimmen zu müssen. Statt Verwunderung oder Leugnen ist es viel sinnvoller, die Deutung zu thematisieren und somit deren Interpretationscharakter offen zu legen. Das 2. Axiom zeigt, wie wichtig Transparenz, offene Aussprache und klärende Rückfragen sind, um Inhaltsund Beziehungsaspekt voneinander sauber trennen zu können. Hilfreich kann auch sein, dass man den situativen Kontext einzuschätzen weiß, innerhalb dessen eine Äußerung gemacht wird. Auch das eigene Vorwissen um den Kommunikationspartner kann helfen, eine Äußerung im Hinblick auf Inhalts- und Beziehungsaspekt unterscheiden zu können. Wie schon aus dem 1. Axiom ersichtlich wurde, kann 55
jedes eigene Sprechen und Verhalten kommunikative Funktion haben. Reaktionen, auch wenn man sie selbst nicht so empfindet, können konstitutive Teile der Interpunktion von Ereignisfolgen sein. Deshalb führt eine Überprüfung der Selbsteinschätzung und des eigenen Verhaltens schneller zum Gelingen zwischenmenschlicher Kommunikation als das sture Leugnen solcher Möglichkeiten. Zwischenmenschliche Kommunikation ist ein regelgeleitetes Verhalten. Wie bei den Regeln eines Spiels, muss man sie beherrschen, um mitspielen zu können. Solche Regeln bestimmen auch das Miteinander bei symmetrischen und komplementären Kommunikationsabläufen. Akzeptanz der Kommunikationsregeln schafft die Voraussetzung, dass man nicht immerfort über Inhalte Beziehungsaspekte bespricht, die man eigentlich meint. Solange Menschen über ihre zwischenmenschliche Kommunikation sprechen, d.h. Kommunikation über Kommunikation (Metakommunikation) führen, ist immer die Möglichkeit gegeben, dass Missverständnisse, Animositäten, Betroffenheiten angesprochen und ausgeräumt werden können. Da Kommunikation mehr als nur Informationsaustausch ist, sind misslungene zwischenmenschliche Kommunikationen möglich und notwendig. Erst wenn der Faden reißt, Betroffenheiten und Verletztheiten sich verselbstständigen und keiner der Beteiligten in der Lage ist, zu sich und seinem Sprechverhalten Distanz aufzubauen, dann sind sie in ihrem eigenen kommunikativen Verhalten gefangen. Gesprächs- und psychotherapeutische Hilfen haben unter anderem zum Ziel, dass die Betroffenen diese Fähigkeit wiedererlangen und von sich aus die Möglichkei56
ten haben, aktiv und konstruktiv zum Gelingen von Kommunikation beizutragen. Doch es gibt auch Störungen zwischenmenschlicher Kommunikation, wo man solche Hilfen nur noch schwer geben kann, weil die kommunikativen Grundstrukturen seit frühester Kindheit gestört sind. Ein Beispiel, wie es zu solchen tief greifenden Kommunikationsstörungen kommen kann, gibt der Schriftsteller Heinar Kipphardt in seinem Roman »Leben des schizophrenen Dichters Alexander M«: »(Aus dem Bericht des Psychiaters Dr. Kofler:) Alexander leidet an einer leichten Missbildung, einer Gaumenspalte, die im Laufe seines Lebens mehrfach operiert wird. Das Kind lernt schnell sprechen, aber seine Lautbildung ist nasal. Wenn Besuch kommt, darf das Kind nicht sprechen, weil sich der Vater geniert. ( … ) Eine vorgesetzte Person zu Besuch beim Vater. Die Mutter bringt den kleinen Alexander herein, der schon im Nachthemd ist. MUTTER: Der Herr Rat hat dir eine Schokolade mitgebracht. Bedank dich. Alexander geht zu dem großen Mann, nimmt die Schokolade, macht einen tiefen Diener, sieht unschlüssig auf den Vater. DER HERR RAT: Gehst du schon in die Schule? Alexander nickt. DER HERR RAT: Bist du fleißig? Alexander nickt. DER HERR RAT: Ich glaube, du bist stumm. VATER: Antwort. – Warum sagst du nichts? ALEXANDER: Was? DER HERR RAT: Stille Wasser sind tief. 57
ALEXANDER zu Dr. Kofler: Das war so eine Falle.« * Dieser Falle, von der Alexander gegenüber seinem Psychiater spricht, gaben Paul Watzlawick und seine Kollegen den Namen »double-bind« (Doppelbindung). Double-binds beschreiben eine Kommunikationsstruktur, die es den Betroffenen unmöglich machen, sinnvoll sprechen und handeln zu können. Im Fall »Alexander« ist die Ausgangssituation wie folgt: Das Gebot des Vaters lautet: Bei Anwesenheit von Gästen oder Fremden hat Alexander zu schweigen, denn der Vater geniert sich wegen dessen Sprachfehlers. Gleichzeitig aber bestehen gesellschaftliche Konventionen, die Alexander vorschreiben, sich für ein Geschenk zu bedanken. Sich bedanken und schweigen schließen sich aus. Alexander löst dieses Problem durch eine nonverbale, hochritualisierte Geste: dem »tiefen Diener«. Doch der Herr Rat nimmt dies zum Anlass, mit dem Jungen einen Small-talk zu führen. Alexander versucht das Beste aus der Situation zu machen. Nonverbal kommuniziert er mit dem Herrn Rat, bis dieser die Sache auf den Punkt bringt: »Ich glaube, du bist stumm.« Jetzt wird dem Vater die Situation peinlich. Doch seine Aufforderung an Alexander, dem Herrn Rat gefälligst Antwort zu geben, widerspricht dem Schweigegebot. Was soll Alexander machen? Spricht er, so verstößt er gegen das väterliche Gesetz. Spricht er nicht, unterläuft er die väterliche Aufforderung, dem Herrn Rat auf dessen Fragen zu antworten. Der Begriff »Double-bind« kenn*
Heinar Kipphardt (1976): Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.: Ein Film. Klaus Wagenbach Verlag: Berlin, S. 18 und 23. 58
zeichnet also eine Kommunikationssituation, in der zwei sich ausschließende Bedingungen auf Inhalts- und Beziehungsebene derart widersprechen, dass man sie als paradox bezeichnen kann. Paradoxe aber kennen keine Lösung. Auf der Ebene menschlichen Sprechens und Handelns führen sie zumeist zu verrückten Reaktionsweisen der Betroffenen wie Wegrennen, Brüllen, Schreien oder versteinerter Ratlosigkeit. In solchen paradoxen Kommunikationsstrukturen sahen Watzlawick und seine Kollegen die Ursache schizophrener Erkrankungen. Fassen wir zusammen: Auf den letzten Seiten haben wir einen Blick in den Baukasten zwischenmenschlicher Kommunikation geworfen und elementare Bausteine vorgestellt. Doch wir sind nicht bei den Materialien allein stehen geblieben, sondern haben auch Grundregeln kennen gelernt, nach denen zwischenmenschliche Kommunikationsbeziehungen funktionieren. All diese Sprach(bau)materialien erlauben es uns, wie Architekten unsere Welten und Wirklichkeiten zu konstruieren. In unseren zwischenmenschlichen Begegnungen und Bindungen bauen wir nicht nur Hütten, sondern auch Paläste; wir erzählen von Problemen und Glücksgefühlen, sprechen über Niederlagen und Triumphe, bauen gemeinsam an unseren Vorstellungen von Hütten und Palästen und werden bei alledem immer die Erfahrung machen, dass die inneren Bilder und Erwartungen nicht überstimmen, was der andere Architekt entworfen hat. Sprache ist zu allgemein und offen, als dass hundertprozentige Übereinstimmung entstehen könnte. Das ist gut so, denn aufgrund dieser Tatsache entsteht Lebendigkeit, die aus der notwendigen Auseinandersetzung um Verbindendes und Trennendes entsteht. 59
Sprache und Konflikt Das Beispiel »double-bind« und diese Sichtweise auf psychische Probleme machte Schule. In Fortschreibung dieser Theorie der Kommunikationsstörungen begann man, den Zusammenhang zwischen Sprechverhalten und psychischer Instabilität auch bei so genannten neurotischen Erkrankungen zu untersuchen. Tatsächlich zeigte sich bei eingehender Analyse von Gesprächen zwischen Klienten und Therapeuten, dass sich auch bei so genannten neurotischen Krankheitsbildern, wie Hysterie, Phobie oder Zwangsneurose, typische Double-Bind-Situationen aufzeigen ließen: »… für die Hysterie ( … ): ›Ergreife die Initiative, aber bedenke dabei, dass es verboten ist, die Initiative zu ergreifen‹, und entsprechend für die Phobie: ›Sei unabhängig, indem du von mir abhängst«, schließlich für die Zwangsneurose: ›Sei unabhängig, obwohl … , zwar … , aber … , schließlich, das ist klar, du dazu unfähig bist‹«. * Ob solche double-bind-bedingten Kommunikationsstö*
Sluzki, C. E./Verón, E. (1971): The Double Bind as a Universal Pathogenic Situation. Family Process 10 (1971), S. 297-410. Zit. nach Goeppert, Sebastian und Herma C. (1975): Redeverhalten und Neurose. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 17. 60
rungen ausschließlich für die Genese psychischer Instabilitäten verantwortlich sind, kann an dieser Stelle nicht ausreichend beantwortet werden. Dass sie aber grundlegend die Konstruktion psychisch instabiler Welten und Wirklichkeiten mitbestimmen, steht heute außer Zweifel. Deshalb ist es auch für Therapeuten, die nach dem systemischen Therapieansatz arbeiten, nicht von zentraler Bedeutung, unter Bezugnahme auf eine Neurosenlehre und deren Neurosentypologie dieselben zu diagnostizieren. Vielmehr steht bei ihnen im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit die Diagnose der jeweiligen Kommunikationsstörung und deren Entstörung. Deshalb werden wir bei unseren Fallbeispielen nicht von Neurotikern, sondern nur von typischen Strukturen psychischer Instabilität und von grundlegenden Beziehungs-Paradoxa sprechen, das heißt: von Ambivalenz, Verstrickung, Missbrauch, Beziehungssucht und »Ich will-/Du musst«Struktur. Wie dieser Perspektivwechsel begründet ist, erklärt sich aus dem Stellenwert, den Kommunikationsstörungen für die Konstruktion von Welt und Wirklichkeit haben. Double-bind geprägte Kommunikationsstörungen bedingen Strukturen psychischer Konflikte und bringen bestimmte Perspektiven in der Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit hervor. Schauen wir uns den Zusammenhang zwischen Sprache und Konflikt etwas genauer an. Begreifen wir Psyche im weitesten Sinne als unsere affektiv – emotionale wie kognitive Struktur, die wesentlich davon bestimmt ist, wie wir in und mit Sprache sozialisiert wurden, so ist damit auch gesagt, dass bei der Konstruktion von Welt und Wirklichkeit die psychische Struktur bestimmend ist. Solange diese Struktur keine 61
Paradoxa aufweist bzw. wir in der Lage sind, über auftretende Paradoxa zu sprechen (im Fachjargon: zu metakommunizieren), gibt es keine Konflikte, die unlösbar sind. Erst wenn die psychische Struktur in ihren Grundfesten von Double-Binds bestimmt ist, die ungewusst die Wahrnehmung dominieren, erzeugt sie immer wieder unlösbare Situationen. Diese kommen dann dergestalt zum Ausdruck, dass das Denken, Sprechen und Handeln versucht, in seiner Konstruktion von Welt und Wirklichkeit eine Lösung herbeizuführen. Ein sinnloses Unterfangen, weil die Konflikte an sich unlösbar sind und gleichzeitig diese Konflikte Effekt einer gestörten Weltsicht sind. Dies hat notgedrungen prägende Auswirkungen auf das jeweilige Sprechverhalten, das ja in ausgezeichneter Weise und im wahrsten Sinne des Wortes die ›innere Welt‹ zum Ausdruck bringt. Machen wir ein Beispiel: Wer einer ambivalenten Struktur gehorcht, die besagt: ›Ich will gehen, kann aber nicht gehen‹, wird auf der einen Seite ›ja‹ (ich will gehen) sagen, um sofort anschließend ein ›aber‹, ›vielleicht‹, ›ich weiß nicht‹ anzufügen. Aus seiner ambivalenten Perspektive heraus, kann er seine Umwelt nur dergestalt wahrnehmen und dergestalt seine Beziehungen einrichten wie leben. Weil der ambivalente Grundkonflikt seinen Konstruktionen zugrunde liegt, kann sein Sprechen auch nur ambivalent sein. Folglich ist am Sprechverhalten selbst ablesbar, welche konflikterzeugende Struktur den Welt- und Wirklichkeitsbezug bestimmt. Den Zusammenhang zwischen Sprache und Konflikt kennen wir alle aus unserem Alltag und aus eigener Erfahrung. Psychische Stimmungen beeinflussen nicht un62
erheblich unser Sprechen: Sind wir voller Freude und Ausgelassenheit, ist unsere Stimme laut, wir plaudern entspannt, oftmals garniert mit Wortwitz und mit lebendigen Assoziationen; bei Trauer und Niedergeschlagenheit belegt sich die Stimme, das Sprechen fällt schwer, wir fühlen uns müde und haben das Gefühl, dass das Gehirn irgendwie ›verklebt‹ ist. Auch wenn wir in vielen Fällen den eigentlichen Konflikt gar nicht benennen können, so äußert dieser sich doch, indem er unsere Stimmung bestimmt und auf merkwürdige Weise von unserem Sprechen, Denken und Handeln Besitz ergreift. Es ist aber nicht nur allein die Stimme, an welcher sich ablesen lässt, wie sehr ein psychischer Konflikt die Instabilität unserer Befindlichkeit bestimmt. Je stärker nämlich der Konflikt drängt, desto mehr verändert sich auch unser Sprechen. Es war zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Arzt und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud, der in seinem Buch »Zur Psychopathologie des Alltaglebens« (1901) erstmals auf den Zusammenhang von Sprache und Konflikt hinwies und ihn theoretisch zu begreifen suchte. Die berühmten Freudschen »Fehlleistungen« machen darauf aufmerksam, dass zum Beispiel in unserem Versprechen ein unbewusster (oder auch vorbewusster) Konflikt sich Gehör verschafft, indem er unser Sprechen gleichsam überrumpelt. In Weiterentwicklung dieses grundlegenden Zusammenhangs hat man die Funktion von Sprache in Hinblick auf die Artikulation von psychischen Konflikten auf das gesamte Sprechen erweitert und dieses als Repräsentation psychischer Konflikte schlechthin untersucht. Erst mit dieser Erweiterung konnte gesehen werden, dass bei psychischen Instabilitäten Perspek63
tivverengungen sprachlich zum Ausdruck kommen, womit sich zeigen ließ, dass sich bei psychischen Instabilitäten die Wahrnehmung auf die Grundkonfiguration des Unlösbaren reduziert hat. Wie die Gedanken immer wieder um ein und dieselbe Problematik kreisen, so fokussiert sich auch das Sprechen auf wenige Stereotype: ›Ich habe doch alles gemacht‹; ›Aber ich kann doch nicht gehen‹; »Immer …‹; ›Was soll ich noch …‹ Es sind stereotype Redewendungen und Satzteile, die allesamt formelhaft sind und ausschließlich indizierende Funktion haben, aber somit das Gedankenkarussell repräsentieren, das sich um die Unlösbarkeit des Konflikts dreht. Sprache und Konflikt stehen zueinander wie Software zu Hardware: Der Konflikt gründet im Betriebssystem, so dass der Software ›Sprache‹ nur das zu sagen erlaubt ist, was das Betriebssystem zulässt. In Sprache artikuliert sich nicht nur unsere Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit, sondern auch die Logik unseres Bezugs. In Sprache verkörpern sich demnach auch all die Ratlosigkeiten und Fragwürdigkeiten, die wir in unserer Wahrnehmung und aufgrund unserer individuellen Perspektive haben: ›Immer gerate ich an die falschen Männer‹; ›Ich will, aber sie macht es nicht‹; ›Er (der Freund) ist für mich ein Schoßhund«. In dem Augenblick, da wir sprechen, öffnen sich gleichsam das Buch und das Lexikon unseres Welt- und Wirklichkeitsbezugs. An Sprache lässt sich in syntaktischer, semantischer und pragmatischer Hinsicht ablesen, wie die ›innere Welt‹ in seiner Struktur beschaffen ist, aber auch erkennen, welcher Logik es folgt. Ein Beispiel macht diesen Zusammenhang deutlich: Brigitte hatte eine Anruferin, die sich die Frage stellte, 64
ob sie sich von ihrem langjährigen Freund trennen sollte. Es zeigte sich, dass die Frau mit ihm im Bett sehr zufrieden und glücklich war, während er sie im Alltag nervte, weil er sich gegenüber ihr und ihren Kindern auch durchsetzen (»die Ellenbogen breit machen«) konnte. In ihrem Gesamturteil aber war der Freund für sie »ein Schoßhund«. Dieses Bild ist äußert beredt, weil es in sich die beiden oben genannten Aspekte in ihrer Unlösbarkeit verdichtet zum Ausdruck bringt: Ein Schoßhund ist ein Tier, das zahm und friedlich ist, gerne gestreichelt wird und genügsam ist. Buchstäblich, das heißt in Hinblick auf die Funktion des Freundes für die Sexualität der Frau, ist der Schoßhund eine Figur, die im Schoß hündisch ist – mit anderen Worten: ein Stoß-Hund. Was im Bett goutiert wird, stört im alltäglichen Leben: ›Stoßen‹ bzw. »die Ellenbogen breit machen« stört die gewünschten Beziehungsdefinitionen der Frau. Hier wünscht sie sich einen zahmen und friedlichen Freund, einen Schoßhund eben. Wir sehen, wie sich im Sprachbild ›Schoßhund‹ die ambivalente Grundstruktur der Frau und der daraus resultierende Konflikt mit dem Freund verkörpert. Die Anruferin kann aufgrund ihrer ambivalenten Struktur den Freund (seine Sexualität und sein familiales Verhalten) nur in diesem entwertenden Sprachbild wahrnehmen, in dem zugleich auf verdeckte Art und Weise ihre Ambivalenz gegenüber seiner Männlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Überflüssig zu erwähnen, dass die Anruferin für sich mit dieser Kennzeichnung des Freundes keine Probleme hatte, sprich: sich nicht darüber im Klaren war, was sie damit über ihre Wahrnehmung des Freundes und über ihren Begriff von Paarbeziehung aussagte. Uns sind nicht nur die Konstruktionsprinzipien unse65
res Welt- und Wirklichkeitsbezugs ein blinder Fleck, sondern auch unser Sprechen, dessen Struktur wir selbst nicht reflektieren können. Dies ist für uns auch kein Problem, solange wir in unseren vielfältigen wie unterschiedlichen zwischenmenschlichen Beziehungen zurechtkommen. Erst wenn unser Sprechen nicht mehr taugt, Konflikte zu lösen, ist es angebracht, dieses in Hinblick auf Kommunikationsstörungen zu hinterfragen. Dies kann aber nur ein geschulter Therapeut.
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Systemische Therapie und die Funktion des Gesprächs Ein problemloses Zusammenleben gibt es nicht. Dies ist eine scheinbar banale Lebensweisheit, deren Perspektive aber eine kraftvolle ist. Sie besagt nämlich, dass jeder von uns in der Lage ist, schwierige Situationen und Lebenslagen zu meistern, und dass jeder von uns zugleich über Ressourcen verfügt, dieses zu tun. Aus der Distanz betrachtet, werden Tag für Tag größere oder kleinere Probleme von uns gelöst, und weil es uns ›einfach‹ gelingt, haben wir auch kein Bewusstsein darüber, wie wir es ›schaffen‹. In aller Selbstverständlichkeit verfügen wir über ein Reservoir an Problemlösestrategien, die wir im Elternhaus erworben und im Laufe unseres Lebens angewendet und verfeinert haben. Wir verfügen natürlich auch über Erfahrungen, dass wir gescheitert sind und ›es‹ trotzdem weiterging. Bei alledem haben uns Kräfte geleitet, wie Neugierde, Sehnsucht, Träume, Mut, Kreativität, Humor, Kraft und Vitalität. Erst in jenen Situationen, in denen sich Ratlosigkeit, scheinbare Ausweglosigkeit oder Resignation einstellen, fühlen wir uns, als wären wir in einer Sackgasse gelandet. Unsere Problemlösestrategien funktionieren scheinbar nicht mehr, und wir kommen aus unserem Gedan67
kenkarussell der eingeengten Betrachtungsweisen und Handlungsmuster nicht mehr heraus. Wir erleben uns als gescheitert und erinnern uns in diesem Jammertal an andere, frühere Situationen, in welchen wir Hilflosigkeit oder Angst empfunden haben. Ganz schlicht gesagt: Wir geraten extrem unter Stress, vergleichbar der Schockreaktion nach einem Unfall. Was machen wir? Wir verkriechen uns wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Da wir aber keinen Panzer haben, beginnen wir stattdessen, uns eine Art »psychischer Überschutz« zu bauen und in diesem zu leben. Und? Wie die Schildkröte nicht weglaufen kann, so bleiben auch wir fortan unbeweglich in unserem Überschutz. Mini‐Exkurs I: Ein Wort hier zu Brigitte Lämmles Lachen: Mit der ›gebrochenen‹ therapeutischen Haltung tiefen Mit‐ fühlens und überbordenden Lachens (ist ein Mensch nicht auch ›komisch‹ in seinem Panzer, wenn Frau ihm bereits wieder im Fließwasser seines Lebensflusses sieht?!) ist der Umschwung in Richtung Lösung eingeleitet.
Der ›Überschutz‹ ist eine Überlebensstrategie (wie schön sind Schildkrötenpanzer, man erinnere die SchildpattProduktionen), die uns als Kind in Stresssituationen zwar sehr geholfen hat, bei Erwachsenen jedoch nicht ausreicht. Als Kind war bei dem einen der Überschutz Harmonie zum Beispiel lebenswichtig. Harmonie erlaubte, sich zu kontrollieren, um die Situation kontrollieren zu können. Beim Heranwachsenden wird dieser Schutz zum Selbstläufer; er wird immer häufiger angewendet, um eskalierende Angstausbrüche durch noch mehr Kontrolle 68
(über Essen zum Beispiel) in Schach zu halten – im Psychodeutsch heißt das dann: »mehr desselben«. Die Lösung wird zum Problem. Mini‐Exkurs II: Bei solch Problemlöse‐Karrieren bekommt die Zeitperspektive des Lebensflusses besonders große Wichtigkeit, weil ausgelotet werden muss, an welchem Punkt der Klient abgeholt werden will. ›Soll Mama dich noch ein wenig pampern? Braucht Anruferin noch ein Nachbemuttern?‹ – dies sind dann typische Fragehaltun‐ gen, die die Arbeit mit dem Klienten bestimmen, weil mit ihnen ganz bestimmte Perspektiven des Gestern, Vorge‐ stern, Früher, Heute und Demnächst verbunden sind.
Grundsätzlich geht die systemische Therapie mit ihrem lösungs- und ressourcenorientierten Ansatz davon aus, dass die Lösungsmodelle und -muster dazu taugen, aktuelle Problemkonstellationen zu lösen. Dass der Betroffene es von sich selbst aus nicht kann, gründet in einer Perspektivverengung, die mit seiner Problemfokussierung einhergeht. Eine solche Perspektivverengung aber lässt uns all das vergessen machen, womit wir für unseren Lebensweg gut ausgerüstet sind: Der Mensch ist bestimmt von seiner kulturellen Herkunft, ausgestattet mit individuellen Kraft- und Energiequellen und verfügt über eigene Dynamiken. Mit diesem Rüstzeug ausgestattet, hat jeder von uns auf je eigene Weise vielfältige Auseinandersetzungen geführt, so dass er im Laufe seines Lebens über ein Reservoir an bereits gelebten Lösungen wie auch ungelösten Konflikten verfügt, die es ihm ermöglichen, sich gegenüber sich und seiner Umwelt zurechtzufinden. 69
Erst in solchen Situationen wird das, was bislang an wertvollen Erfahrungen und Erkenntnissen gewonnen wurde, fraglich und hinsichtlich seines Lösungspotenzials verkannt. Ausnahmesituationen dieser Art führen immer zu einer Versteinerung im Sinne der Perspektivverengung. Die Konsequenz liegt auf der Hand: All das, was jeder ›Lebensfluss‹ an Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt bzw. an Ressourcen zu einer lebendigen, beweglichen Gestaltung neuer Lösungswege hat, wird ausgeblendet und kann nicht mehr wahrgenommen werden. In solch einer scheinbar auswegslosen Situation sucht der Klient einen Therapeuten auf. Was er in seiner problemfokussierenden Haltung dem Therapeuten anbietet, ist ein Bündel Probleme; was er im Moment nicht anbieten kann, ist sein Reichtum an Ressourcen und Lösungen. Würde sich ein Therapeut einzig an das halten, was ihm sein Klient offen anbietet, könnte er ihm nur einen Rat oder direktive Handlungsanweisungen geben. Dies wäre eine fatale Konsequenz therapeutischen Handelns, denn es hätte zur Folge, dass sich nichts bewegen und damit auch nichts verändern würde. Das Dargebotene ist gleichsam in verdichteter Form die zur Sackgasse gewordene Problemkonstellation, deren Unlösbarkeit in der Unmöglichkeit des Klienten gründet, die einzelnen Elemente anderen Problemlösestrategien zu unterstellen. Wer dieses Knäuel mit einem Rat zu entwirren glaubt, ermächtigt den Klienten nicht, aus eigener Kraft und mittels eigener Energiequellen neue Wege zu finden. Ein Ratschlag ist gleichsam wie ein Schlag, der den Klienten kurzzeitig aufmerken lässt, nicht mehr. Nicht anders verhält es sich mit direktiven Handlungsanweisungen, die mehr auf den Gehorsam als auf die Eigenkräfte des 70
Klienten spekulieren. So ist es klüger, das momentane Problem in seiner ihm dargebotenen Eindimensionalität zu erfassen (etwa: ›Also, seit 13 Jahren lebt ihr schon in einer Dreiecksbeziehung, und du kannst dich immer noch nicht entscheiden …‹), um es zugleich aber in seiner Mehrdimensionalität, d.h. in Hinblick auf seine Rückbezüge und Einbindungen in den Lebensfluss des Klienten lokalisieren und nutzen zu können. Mini‐Exkurs III: Das ist natürlich auch der Grund, weshalb Brigitte Lämmle bei den meisten »Lämmle live«‐ Gesprächen laut Zuschauer »ganz woanders rauskommt, als der Anrufer wollte«. Dem Zuschauer und Zuhörer sei Dank, dass er/sie sich dem Mäandern so anvertraut. Natür‐ lich ist nur eine Perspektiverweiterung, ein wirkliches Ent‐ wirren des Knäuels hilfreich (etwa: ›Was hat es denn für Vorteile, sich nicht zu entscheiden?‹).
Diese Schritte gelingen nur, wenn dem Therapeuten der Einstieg in die ›inneren Welten‹ des Klienten erlaubt wird. Dazu braucht er einen Schlüssel. Und der ist ihm in der Art und Weise gegeben, mit welcher der Klient seine inneren Welten repräsentiert. Wir alle leben in einer von uns konstruierten Welt, die so individuell wie unser Fingerabdruck ist. Wir glauben, den anderen zu verstehen, dabei redet er einen fremdländischen Dialekt – und ist auch aus einem anderen Land. In der Repräsentation der ›inneren Welten‹ finden sich folgende Antworten artikuliert: Die Identität des Klienten, seine Herkunft, die Dimensionen seiner sinnlichen Wahrnehmungen sowie all die Brüche, Ungereimtheiten 71
und offenen Fragen seines Sprechhandelns, die man mit Missverständnissen zusammenfassen kann. Kultur, Genealogie sowie die jeweilige Individualität affektivemotionaler wie kognitiver Wahrnehmung und Sprache. Diese vier Eckpunkte bestimmen die konstruierte Welt eines jeden Menschen und begrenzen zugleich das Feld, innerhalb dessen wir unseren Selbst- und Weltbezug artikulieren. Ohne ein profundes Verständnis eines solches Repräsentationssystems ist sinnvolles therapeutisches Arbeiten nicht möglich, denn jeder Mensch ist zunächst einmal eine so fremde wie unbekannte Welt. Man stelle sich vor: Ein Ethnologe entdeckt einen neuen Stamm, dessen Kultur, dessen Genealogie, deren Sprache und sinnliche Wahrnehmungen er nicht kennt. Was wird er machen? Zuallererst beobachten, im zweiten Schritt versuchen, Kontakt aufzunehmen, und schließlich bemüht sein, sich diese Welt zu erschließen. Das heißt: die Sitten und Gebräuche erlernen, aber zugleich auch die Sprache sowie die Zeichen und Symbole des Stammes verstehen lernen. Je tiefer er in das Repräsentationssystem dieses Stammes eindringt, desto mehr wird sich ihm eine Welt erschließen, die mit seinem eigenen Repräsentationssystem nur wenige Gemeinsamkeiten hat. So ähnlich ergeht es jedem Therapeuten. Sein Klient ist ein eigenes Repräsentationssystem, mit welchem er sich aufgrund der gemeinsamen Muttersprache scheinbar rasch verständigen, aber ihn noch lange nicht verstehen kann. Deshalb muss der Therapeut am Anfang bemüht sein, sich so einzupassen, dass er in der Lage ist, gleichsam in den »Schuhen des anderen mitlaufen« zu können. Dieses mimetische Verhalten ist unabdingbar, um in die 72
inneren Welten einsteigen zu können. Seine Bedeutung ist eine doppelte: Der Therapeut würdigt und wertschätzt die Welt des Klienten, doch gleichzeitig gilt es herauszufinden, wie der Klient sich seine Welt präsentiert – und zwar in Farben, Gerüchen, Interessen, Meinungen und Haltungen. Mitlaufen heißt noch lange nicht therapieren. Aus dem Mitlaufen muss im Zuge der Rekonstruktion der konstruierten Welt sehr rasch ein Vorauseilen werden. Wer als Therapeut zu lange in der Problemhaltung des Klienten verweilt, wird im weiteren therapeutischen Prozess immense Schwierigkeiten haben, diese Problemhaltung aufzulösen. Je länger ein solches Mitlaufen erfolgt, desto mehr verfestigt sich die Problemhaltung. Deshalb darf der Therapeut nur eine Besucherhaltung einnehmen, die ausschließlich zur Imagination des Lebensflusses genutzt werden darf. Imagination heißt in diesem Zusammenhang: Über Assoziationen, verdeckte Anspielungen, über die Sprache und Kultur des Klienten einen profunden Einblick zu bekommen. Bei diesem Mitgehen wird das Sprechen des Klienten durch den Therapeuten gespiegelt. Gespiegelt werden: Wortbilder, mit denen der Klient sich und seine Umwelt begreift, sprachliche Stereotype, Anschauungen und Missverständnisse, aber auch Inhaltsund Beziehungsaspekte seines Sprechens. Was erbringt ein vierzehnminütiges Gespräch? Findet Therapie statt? Was ist Therapie? Zum Stichwort »Therapieerfolg« heißt es in Dorschs Psychologisches Wörterbuch: »Erreichen eines Zielzustandes mit therapeutischer Unterstützung. Die Frage von EYSENCK (1960), ob die 73
Psychotherapie die Spontanremissionsrate übertrifft, hat die Forschung zu Operationalisierungen des Therapieerfolgs angeregt ( … ) Es bleibt noch das Problem des Zielzustandes (z.B. Glück, Wohlbefinden, Freiheit von Beschwerden, mit Problemen leben können) ungenügend bearbeitet.« Wer formuliert den »Zielzustand«? Ist es die Diagnose des Psychotherapeuten? Natürlich kann Diagnose wichtig sein, wenn sie es leistet, den Klienten zu entlasten. So kann etwa ein psychoedukativer Ansatz hilfreich sein, einen depressiven Klienten in seiner Paarbeziehung zu entlasten, indem der Therapeut auf die extremen Schwankungen der Libido hinweist, so dass die Partnerin es zum Beispiel nicht mehr gegen sich gerichtet fühlt, weil der ›Alte‹ ›keinen Bock‹ zur Zeit auf sie hat. Doch mit jeder Diagnose geht immer auch die Gefahr einher, als Therapeut Zielvorstellungen zu entwickeln, die dann selbst zum Maßstab des therapeutischen Erfolges werden. Das eigentliche Problem ist ja, dass Diagnosen letztlich den Wert von Arbeitshypothesen haben, die auch voreilig gefällt sein können oder sich als unzutreffend erweisen. Ist der therapeutische Prozess aber einzig auf die Arbeitshypothese fixiert, gibt es keinen Spielraum mehr, welcher für den Therapeuten zur selbstkritischen Überarbeitung oder Absage notwendig ist. Die Mailänder Schule zum Beispiel hat noch mit vielen Arbeitshypothesen gearbeitet. Allerdings immer mit der Bereitschaft, sehr flexibel diese zu verifizieren oder zu falsifizieren. Lösungsorientiertes Arbeiten bedeutet in zunehmend größerem Maße, auf Arbeitshypothesen zu verzichten. ›Du musst ein Stück weit deine Vaterbeziehung aufarbei74
ten!‹ – Wohl wahr, das müssen wir alle – oder auch nicht? Oder? Solche typischen und vielfach persiflierten Therapeuten-Floskeln hat die systemische Therapie verabschiedet. Viel spannender ist es, erst mit dem Gesprächspartner oder der Gesprächspartnerin Ziele zu erarbeiten. Deshalb kann ein »Lämmle live«-Gespräch so mäandern, dass Brigitte ab und an gefragt wird: ›Aber die Anruferin hat doch was ganz anderes gefragt?!‹. Schauen wir uns dieses Mäandern im Sinne der Zielerarbeitung genauer an: Stellen wir uns eine junge Frau vor, die fragt: ›Ich habe immer Pech mit Männern, treffe immer die Falschen, was kann ich tun?‹ An einem konkreten (abgefragten) ›date‹ ließ sich erarbeiten, dass sie sich in eine Dornröschen-Hecke eingewickelt hatte. Und Prinzen sind rar (natürlich fallen Brigitte hierzu genügend Arbeitshypothesen ein). Stattdessen hat es Brigitte Frühling werden lassen: Junge Rosentriebe biegen sich zur noch zarten Sonne, sind flexibel, gesund und witterungsunabhängig. Und die Frage an die Anruferin zielte darauf ab, ob sie das auch kenne. Bejaht und angedockt an konkreten positiven Erfahrungen hieße die Zielfrage: Stell dir vor, du begegnest demnächst deinem Prinzen (und du hast das Gefühl und die Sicherheit deiner positiven Erfahrungen noch?). Wie sähe dann das ›Es ist geschafft!‹ aus? Mini‐Exkurs IV: Je zarter – um im Bild zu bleiben – die neuen gesunden Triebe sind, desto wichtiger ist es, im therapeuti‐ schen Prozess zu bleiben (deswegen in »Lämmle live« das Angebot von Therapeuten, deswegen aber auch zuneh‐ mend mehr die Bitte, das »Lämmle live«‐Gespräch per Vi‐ deo mit in die nächste Sitzung zu nehmen). 75
Im Sinne von ›angespürtem‹ Zielzustand ist »Lämmle live« ein therapeutisches Gespräch. Ziel heißt hier: Es ist geschafft, das heißt: eine vielleicht erst einmal vage Ahnung um die eigenen Ressourcen, den Dornröschenschlaf beenden zu können. Dieses Vertrauen sowie diese Sicherheit in die Ressourcen der Anruferin, ihr Ziel anvisieren zu können, heißt oft auch, dass sie sich von ›Diagnosen‹ erholen kann. Diagnosen können etwas von Stempel, von ›abgestempelt‹ haben mit allen Vor- und Nachteilen. Eingerichtet im ›Mir kann keiner helfen‹ und ›Wenn nicht du Lämmle, wer dann?‹ Gegenfrage: ›Was können wir in maximal eineinhalb Stunden schaffen, ohne dass uns die Zuschauer wegknacken?‹ Und wenn dann nach kurzer Zeit eine freche, lebendige, gesunde Stimme sich behauptet, ist die Vorahnung eines Zielzustandes da. Ziele sind aufs Engste verzahnt mit dem Lebenslauf des Anrufers. Eine militant feministische Journalistin warf Brigitte einmal vor, warum eine Anruferin ihren ›Typ‹ nicht »beknackt« finden dürfe. In der Tat war die Enttäuschung der Anruferin über ihren Partner riesengroß, und dennoch; in ihrem Lebensfluss ist er ihr begegnet, sie haben miteinander geträumt und auch jetzt noch dreht sich (als Negativ-Karussell) alles um ihn. – Lämmles Frage ›Wie lange wollen wir ihn beschimpfen?‹ zielt schon in Richtung Zukunft, in Richtung Prozess, in Richtung vage formuliertes Ziel. Der Lebenslauf gibt einen dynamischen Verlauf vor. Das Bild des ›Lebensflusses‹ beschreibt besser die individuelle Dynamik eines Lebens: mit Höhen, Tiefen, ruhigem Fließen oder auch Aufstauen, scheinbares Zurückfließen – doch immer bleibt es ein 76
Strom, der sich weiterbewegt. Lebensfluss ist ein Bild für eine Zeitreise. Vor allem verdeutlicht es einen Prozess, der sich bei allem scheinbaren Stillstand doch bewegt. Diese Beweglichkeit kann der Therapeut im Gespräch in der Arbeit nur durch innere Bewegung (»Ich bin bewegt«) anstoßen. Es ist keine kognitive Ebene, denn diese wäre ungefähr so erfolgreich wie wenn man eine Lese-Rechtschreibe-Schwäche mit Handauflegen ›behandelte‹ bzw. Nashornpulver bei Potenzstörungen oder Stanniolkügelchen bei Krebs helfen sollte. Schlicht Scharlatanerie ist dies – oder: Es gibt eine Menge geschriebenen Plunders, wie »Glaube an Deinen Erfolg« usw. usw. Jeder, der zum Beispiel depressive Verstimmungen kennt, weiß, wie kontraproduktiv – bestenfalls sinnentleert – es ist, ›sich kluge Sätze‹ (so wohlgemeint sie auch sein mögen) anhören zu müssen. »Schau, heute scheint die Sonne so schön! Geh doch raus, dann wird’s schon! Da kann es einem doch gar nicht schlecht gehen.« Der letzte Satz beinhaltet dann gleich noch eine Abwertung in Richtung ›Du spinnst‹. Arbeit am Lebensfluss heißt, den emotional-affektiven Prozess des Klienten/Anrufers zu würdigen – detailgenau angepasst an seine inneren Welten. Wir brauchen uns zum Beispiel nur vorzustellen: Wie und wann war das, als wir von unserem Partner das letzte Mal ein ›Ja‹ gespürt haben? Wie war das konkret? War’s nur ein Lippenbekenntnis? Dann suche weiter. Bis das Ja eindeutiger wird. Welcher Art? Was habt ihr gemacht? War noch jemand dabei? (Wichtig! Wirst du als Vater/Mutter der gemeinsamen Kinder bejaht, oder gilt es dir als Partner?) Welche Sinne waren beteiligt? Was hast du gespürt, ge77
schmeckt, gerochen, gehört? – Spätestens jetzt müssten wir anfangen zu strahlen. Wir alle haben Symbole in unserer Wohnung: Steine, Muscheln, Mitbringsel von einem Ort, an dem wir glücklich waren. Ein Blick auf die Muschel kann genügen, und assoziativ ›rattern‹ die weiteren Bilder und (auch körperlichen) Empfindungen ab und sind jetzt und heute zu spüren. So wir uns all dies holen konnten, ist dies ein Katzenschnurr-Glück (professionell genannt: Stärke), das es in der Therapie zu nutzen gilt. Dieser Blick zurück, dieses tiefe Wissen – zurückgewendet, um auf morgen gerichtet zu werden. Zum einen präzisiert sich das anfangs vage Bild von ›Es wäre geschafft, ich/wir hätten unser Problem gelöst‹, doch gleichzeitig geht der Klient/Anrufer stark und gestärkt mit seinen eigenen Kraftquellen in eine Haltung, in der Lösungen erarbeitet werden können. Als Bettelmann ist man nur mehr in der Vorwärts-Verteidigungs-Haltung: ›Das letzte bisschen verteidige ich auf Teufel komm raus. Veränderungen misstraue ich, lieber schaffe ich mir noch einen Wachhund an, der alle – auch die, die mir helfen wollen – verbeißt. Lieber sterbe ich, als dass ich diese meine Schutzmaßnahmen durchbreche.‹ – das Problem sind nicht die Schutzmaßnahmen, sondern der Bettelmann in uns. Umgekehrt ist eine Haltung, die erinnerbar sagt ›Du hast viel geschafft‹, offen. Die Schutzmaßnahmen sind dann flexibel. Konstruktive Hilfe wird als solche erkannt. Wachstum ist möglich. In einer Gruppe klagte eine Frau, sie könne sich schlecht behaupten, weder in Gruppen noch in Einzelkontakten. Bei einer Arbeit erinnert sie sich an ein Kin78
dergartenerlebnis: Eher sonst zart und still hat sie ihrem Kindergartenkumpel eine gescheuert, weil er sich ihre Brotzeit aneignen wollte. Und tatsächlich erblühte sie – an diesen Zeitpunkt im Lebensfluss gestellt, angedockt an ihrer inneren Bewegung zusehends. Und sie nahm diese Kraftquelle auch mit in die Zukunft: ›Es ist geschafft!‹. Und wir haben ihren Enkel in der Imagination dazu eingeladen: »Was würde der zur Oma sagen, er würde sie so sehen?« – »Mensch Oma, du bist klasse!« Anrufer verharren oft im ›Aufgestauten‹. »Lämmle Live«-Gespräche bewegen sich hier ›um die Ecke‹, zu jener Stelle also, wo der Strom wieder fließt. Und er bewegt sich doch! Er ist die Kraft, die Energie eines Flusses. Es ist spannend, sich den persönlichen Lebensfluss anzuschauen. Aus der Perspektive ›geschafft‹. Unsere Anruferin musste ihren Typen nicht gut oder doof oder oder … finden. Sie brauchte den Weg raus aus dem Karussell-›Singsang‹: ›Er, er, er‹ in Richtung ›Ich kann mich wieder bewegen‹ – bewegen, um ihn zu verabschieden, aber auch bewegen, um auf ihn zuzugehen. Es gibt nicht den Lösungsweg schlechthin. Jedes therapeutische Gespräch ist bestimmt von der Individualität des Klienten und seinem einzigartigen Lebensfluss. Auch wenn es therapeutische Techniken des Mitgehens, Spiegelns oder der paradoxen Verschreibung gibt, so ist doch entscheidend, welche Funktionen sie innerhalb des Lösungsweges einnehmen. Dies kann aber nur im Zuge des therapeutischen Gesprächs und vor dem Hintergrund der psychohygienischen Verhältnisse des Klienten bestimmt und eingesetzt werden. Wie solche Lösungswege systemischer Therapie im konkreten Gespräch aussehen, davon gibt der Teil II Fallbeispiele beredt Einblick und Auskunft. 79
»Wie ich höre«: Anmerkungen zur therapeutischen Haltung Ein Sprechen ist nicht ein Sprechen. Seine Partitur ist komplex, weshalb geschulte Ohren anders und anderes hören können. So gibt es vielerlei Indikatoren, Auslöser und bestimmte Kombinationen im Sprechen und im Gesprochenen selbst, die ein ›Erkennen‹ ermöglichen. Aber Erkennen heißt nicht, allein nur diagnostizieren im Sinne eines Wiedererkennens, sondern mündet vielmehr in einer therapeutischen Haltung gegenüber den Menschen, mit ihnen Lösungen zu erarbeiten. Es sind mehrere Ebenen, die in einer profunden therapeutischen Haltung zusammenwirken. Für Brigitte Lämmle lassen sie sich wie folgt beschreiben:
Gesundheit fördern Es ist ein großer Unterschied, ob es das Ziel ist, Krankheit zu beseitigen oder Gesundheit zu fördern. Konkret heißt dies für mich als Therapeutin: Mache ich mich zum Parteigänger des Symptoms? Bei Magersucht zum Beispiel kann es in einer bestimmten Phase der Therapie sinnvoll sein, symptomorientiert zu arbeiten, d.h. das Gewicht der Magersüchtigen zu kontrollieren und ihr bestimmte Regeln aufzustellen. Aber – so merkwürdig es 80
auch klingen mag – solche Interventionen fördern nur auf den ersten Blick Gesundheit. Wesentlich wichtiger ist es, die Frage zu erarbeiten, für was es sich lohnen könnte, die Magersucht aufzugeben. Die Richtung, in welche der therapeutische Prozess gehen muss, entscheidet sich an der Erfahrung, sagen zu können: »Ich lebe gesund!« Nichts anderes besagt in diesem Zusammenhang, mit der Magersüchtigen am Wachstum zu arbeiten. »Lämmle live«-Gespräche verlaufen fast ausschließlich in Richtung Wachstum. Aber auch in der Praxis verzichte ich zunehmend auf die Haltung, die ein Krankheitsbild impliziert. Warum? Arbeite ich als Therapeutin symptomorientiert, stelle Regeln auf (z.B. 150 g Gewichtszunahme pro Woche), dann gibt es unter anderem automatisch ein Gewinner-Verlierer-Spiel und damit auch einen Machtkampf. Doch: Verloren haben Klienten schon oft genug, und eine befähigte Autorität kann ich auch anders leben. Das soll nicht heißen, dass ich gegen Regeln bin. Bei vielen Kollegen, die in Institutionen arbeiten, sind Regeln unabdingbar. Nur dort haben diese weitgehend soziale Funktion und sind einer ›Hausordnung‹ vergleichbar. Familientherapeutisches Handeln braucht hingegen mehr Handlungsspielraum. Frei nach Virginia Satir: Das ausschließliche Arbeiten mit der Pathologie (zu verstehen als herausgefundenes, diagnostiziertes Problem) ist vergleichbar mit dem Schlagen eines toten Pferdes.
Humanistischer Gedanke Kurz und knapp: Jeder von uns kennt älter werdende Familienmitglieder und weiß, wie wichtig es ihnen ist, selbstständig und eigenverantwortlich alt zu werden. 81
Oder – und: die unbändige Kraft von kleinen und vorpubertierenden Kindern in ihren Verselbstständigungsphasen. Der Kleine, der von einem Tag auf den anderen beschließt, den Kinderwagen selber zu schieben, statt geschoben zu werden: »Selber machen«. – Und in der Tat: Je mehr wir eigenverantwortlich uns selbst versorgend handeln, desto größer ist die psychische und physische Gesundheit. Ein Beispiel: Eine Klientin kam allein, bitter enttäuscht und sich zugleich machtlos fühlend gegenüber Ehemann und den im Haus wohnenden Schwiegereltern. Von »Psychos« halte der Ehemann nicht viel, gehörten alle in die »Klappse«, wie sie auch – er aber habe keine Probleme. Erster Schritt: Wie sie es schaffen könnte, ihn in die Therapiestunde mitzubringen. Zweiter Schritt: Wie sie es geschafft hat, ihn nicht mitzubringen. Dritter Schritt: Sie würde es wohl nicht schaffen. Als der Ehemann mitkam, war die halbe Miete schon drin. Fürs Jammern um die eigene Ohnmacht habe ich viel Verständnis. Auch Klagen bringt Spaß. Aber irgendwann muss Schluss sein – im eigenen Interesse und spätestens im Gespräch bei »Lämmle live«. Das Spiel zwischen den Partnern, wer ist größer kleiner, oben unten, stärker schwächer, ist vermutlich in der Sexualität lustvoll. Im Beziehungskontext sollten solche Zuweisungen beweglich bleiben, besser noch gleichberechtigt nebeneinander und fürsorglich füreinander. Das geht am besten im Augenkontakt auf einer Ebene. Es ist ein Irrtum zu glauben: Wer oben steht, dem geht es besser. Da weht ein verdammt einsamer Wind, ein ohnmächtiger.
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Meta‐Ebene Ein Glücksmoment in der Haltung des Therapeuten: Er/Sie kann in die Sitzung die Familienmitglieder live einladen. In den »Lämmle live«-Gesprächen werden sie dazu imaginiert. Ein geschilderter Paarkonflikt sieht plötzlich ganz anders aus, wenn eine Frau zum Beispiel sich diesen aus der Perspektive der Tochter anschaut: »Stell dir vor, deine Tochter bewirbt sich in 12 Jahren bei einem Institut, um sich zur Therapeutin ausbilden zu lassen. Sie würde unter vielem anderen gefragt werden, wie war die PaarBeziehung deiner Eltern?« Frau, die eindimensional ihren Brass auf den Partner schiebt, sieht sich plötzlich in einem mehrdimensionalen, sozialen 3D-Raum. »Stell dir vor, du gehst als unbeteiligter Zuschauer an eurem Haus vorbei, schaust in euer Wohnzimmer, was siehst du?« – Oder wie es einer zauberhaften Anruferin bei meiner BRHörfunksendung rausrutschte: »Das ist ja so, als ob ich uns vom anderen Bürgersteig zuschauen würde!« ›3D-Raum‹ kann auch heißen, »Kraut-und-Rüben«Gedanken des Anrufers zurückmelden. Wo der gesunde Menschenverstand Rebellion anmeldet. – »Ich gerate immer an die falschen Männer«, sagt eine Anruferin. Ich kenne keine falschen Männer. Sehr wohl eine verengte innere Wahrnehmung. Ein Kindheitsmuster, das sich generalisierend über alle Wahrnehmungen lagert. – Rückmeldung heißt nicht: ›Du bist falsch!‹, heißt vielmehr, Wirres klarer zu machen. ›Wie schaffst du es, dir unter Millionen Männern die rauszupicken, bei denen du scheitern kannst?‹ – Diese Frage mag respektlos klingen – sie ist lediglich noch ein wenig wirrer als die Aussage. Und hat immer zur Folge, dass die Anrufer klarer werden. Sie 83
werden erstens in ihrem Muster abgeholt und haben zweitens die Chance, durch die extreme Frage (›rechts außen‹ vorbei, also noch enger) weiter zu werden. Sie fühlen sich verstanden und können sich in Bewegung setzen in die richtige Richtung. ›3D-Raum‹ heißt auch, die Kommunikationsmuster wahrnehmen. Der erhobene, belehrende Zeigefinger ist sozial zu hören: »Immer wieder sage ich meinem (erwachsenen) Sohn, er mache dies und jenes nicht zu genüge, kümmere sich nicht um mich, könne nicht mit dem Geld umgehen und habe auch noch die falsche Frau …‹. In dieser geballten Wahrnehmung kippt die ursprünglich selbstverständliche Sorge einer Mutter in eine anklagende Haltung. Auch ein durchgängig praktizierter Kniefall, also sich klein machen, ist zu hören (in der Praxis auch zu sehen). Manch Anrufer fängt oft an, die »Lämmle« einzuseifen und zu beschwichtigen, wie »toll, toll, toll« sie doch sei – und kann dabei folgende Stimme haben: ›Ich bin unschuldig, ich kann nichts dafür – alles habe ich ausprobiert‹ – und plötzlich kann man auch noch die geballte Faust im Rücken hören: ›Du kriegst mich nicht!‹ Wohlgemerkt: Wir kennen alle diese Muster wie Anklagen, Sich-Kleinmachen, Jammern usw. Je nach Lebenssituation sind diese angebracht und flexibel gelebt hilfreich. In geballter Form, d.h. also einseitig gelebt, können Beziehungen zu einem starren System verkommen. Eine Dreiecksbeziehung über Jahre hinweg oder Kontaktabbrüche sind ein Indiz dafür. Es hat sich ein stabiles, aber unbewegliches Gleichgewicht ausgebildet. – Und hören wir noch die Ambivalenz. Ich sage etwas und meine was ganz anderes. Der gefühlte Teil stimmt 84
mit der Aussage nicht überein. Mit der Anruferin, allein erziehend, imaginiere ich ein Familienbild. Sie sagt: »Ich liebe meinen Freund« Und jedes Date findet entweder nur statt mit Kind, oder wenn das Kind beim Vater ist. Und wenn sie zu dritt spazieren gehen, ist das Kind an ihrer Seite, der Partner leicht zurückgefallen. – Oder: Das Gesprochene, der Inhalt ist kraftvoll, die Stimme sehr, sehr zart. Die gefühlte Botschaft ist die wichtigere.
Lehr mich deine Welt Präzise nennt die amerikanische Familientherapeutin Virginia Satir einen ihrer Aufsätze »Die psychotherapeutische Reise hinter das Sichtbare«. Hieraus eine ›Satir live‹-Geschichte: »In den letzten 10 Jahren habe ich viel mit den SiouxIndianern gearbeitet. Eine der ersten Personen, die ich sah, war ein alter Indianerhäuptling, ungefähr 80 Jahre alt, mit knorrigen Händen, ohne Zähne, der in einem Zelt lebte. Er brachte 8 Kinder mit, von denen 2 als schizophren bezeichnet wurden. Ich hatte zuvor noch nie mit einem Indianer gearbeitet. Ich wusste, ich konnte mit ihm reden, obwohl ich nicht wusste, ob er mich oder ich ihn verstehen würde. Ich sagte ihm: ›Ich habe noch nie zuvor mit einem Indianer gearbeitet, und ich möchte, dass Sie mir beibringen, was ich brauche, um Sie verstehen zu können, und ich werde das Gleiche mit Ihnen tun‹«. *
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Virginia M. Satir: Die psychotherapeutische Reise hinter das Sichtbare. In: Jeffrey K. Zeig (Hrsg.) (1991), Psychotherapie – Entwicklungslinien und Geschichte. Tübingen: dgvt-Verlag, S. 140. 85
Ihre Bilanz: »Ich bringe ihnen (gemeint sind: meinen Studenten) bei, wie sie verstehen können: Nicht, indem sie sich im Voraus Gedanken machen, wie sie verstehen können, sondern indem sie die Menschen fragen, wie sie sie verstehen können.«
Wertschätzend Ich habe einmal die Arbeit mit einer Familie supervidiert. Eine Familie, die von 19 (!) professionellen Helfern von Jugend- und Sozialamt, Therapeuten bis hin zu Einzelbetreuung begleitet wurde. Jeder hat an seinem Platz sicher gute Arbeit gemacht. – Die Frau wollte sterben, d.h. verhungern und verdursten. Sie konnte diese geballte Ladung an professionellen Hilfsangeboten nicht nur nicht annehmen, sondern sie erlebte sie nunmehr als permanenten Spiegel ihres eigenen Scheiterns. Ihre Bettelfrau in ihr ließ ihr verdammt wenig. Eigentlich nur mehr ihre Träume und Sehnsüchte (nach Ruhe, nach dem Tod). Diese Welt erklärte sie mir. Ich habe sie verstanden, und ich habe ihr meine erklärt: ›Dass ich diese ihre Träume erst akzeptieren könne, wenn sie stärker wäre, stark genug, um Entscheidungen zu treffen. Und ich habe sie gewertschätzt für ihre Qualität als Tagträumerin – eine Qualität, die ihr bislang beim Überleben geholfen hätte, kurz: eine »Traum«Frau. Und ich habe mit ihr eine Reise an ihrem Lebensfluss angetreten: »Und du hast deinen ersten Mann kennen gelernt, die Sehnsucht gespürt nach Leben, den Traum geträumt ›Jetzt wird’s gut!‹. Leben ist entstanden (ihr erstes Kind), und du bist gescheitert mit Pauken und Trompeten. Hast deinen zweiten Partner kennen gelernt … usw. « Am Ende der Stunde war der Überlebenswille 86
oder der Traum vom Überleben so stark, dass sie sich bereit erklärte, sich in der Klinik wieder aufpäppeln zu lassen. Noch heute sehe ich, wie dieser zusammengesunkenen Frau eine Haltung ›zuwuchs‹, in der sie aufstehen konnte und fragte, ob sie mich umarmen dürfe (sie meinte damit nicht Lämmle live, sondern die Person, die sie in ihrer Welt verstanden hatte). Mir fällt es leicht, diesen Weg zu gehen. Eine in Fleisch und Blut übergegangene Haltung »Du hast bis heute viel geschafft!« macht den Blick weit für ein umfassendes Verstehen. Der problemfokussierte Blick ist viel eingeschränkter und beinhaltet die Gefahr, den Anrufern/Klienten mein Verstehen aufs Auge zu drücken. Jeder Beziehungskrach lässt sich aufdröseln in empörtes gegenseitiges Abwerten: »Ich doch nicht – Du!! Pah ich? – Du bist es!!« Probieren Sie’s aus. Auf dies lässt sich alles Inhaltliche reduzieren. Ob jetzt noch die Schwiegermutter oder die nicht aufgehängte Wäsche dazukommt oder scheinbar ›höheres Niveau‹ à la ›In einer Beziehung muss der Kontext des gegenseitigen Verstehens auf einer Basis des Blablablas …‹ All diese Inhaltlichkeiten lassen sich – wie gesagt – auf das gegenseitige Abwerten reduzieren (darum auch in »Lämmle live«Gesprächen das ›unhöfliche‹ Unterbrechen bei ausufernd Inhaltlichem). Versuchen Sie beim nächsten Krach (und nur, wenn Sie es auch so meinen): »Ich kann dich verstehen! Ja, ich glaube wirklich – und trotzdem bist du ’ne blöde Kuh oder ein blöder Hirsch!« – Spüren Sie, ob dies anders ankommt, bevor sie gleich in den Schlagabtausch gehen. Mit diesem ›geweiteten‹ Blick ist jedes Gespräch, jeder Anrufer/Klient einzigartig. Es gilt: Probleme eher zu 87
reduzieren auf Gleichförmiges. Alle Anrufer sind gleichermaßen begabt und Vollprofis ihrer Welten. Dass sie sie mir erklären (und übrigens dann sprach- und wortgewaltig!!), macht jedes Gespräch spannend. Spannender als alle anderen nur vom Inhalt getragenen Gespräche.
Neugierig‐offen Eine Kollegin hat mal gesagt, sie habe ihren Beruf nur ergriffen, weil sie so neugierig sei. Ich kann das voll unterstützen. Allerdings nicht neugierig auf Leid – Leid bestenfalls als einen Zustand, der in einen Prozess Richtung Heilung übergeht. Und ich stelle mir Leben wie eine Drehbühne vor. Wir alle sind Schauspieler, Statisten, Zuschauer und Regisseur in einem. Es wird geweint, gelacht, eine Tragödie aufgeführt, und die Bühne dreht sich. Wir leben neue Rollen, neue Platzzuweisungen. Wir springen von unserem Zuschauersessel auf, greifen in die Regie ein. Und die Drehbühne geht zum nächsten Szenenbild über. Wieder wechseln wir unsere Rollen und die Dialoge – dieses Mal vielleicht etwas Komödiantisches mit Happy-End sogar. Und am nächsten Tag wachen wir auf, und das Theater geht weiter. Auf diese Bilder bin ich neugierig. Es gilt, die verschiedenen Ebenen der Realität zu erkennen. Ein Beispiel: Als ein Sportprofi medienmäßig seine Trennung abfackelte, sollte ich als die Fernsehpsychologin (nur in dieser ›Realität‹) meinen Senf dazuabgeben. Zigfach drum gebeten von jenen, die am hartnäckigsten die am meisten ›Realitäten‹ verbreiten (mit Aussagen etwa wie ›arme kleine Frau, betrogen, die Kinder, o Gott usw. usw.‹) Auf meine Antwort, dass ich ihn nicht kennen würde, kam prompt ein »Ja, haben Sie denn nicht gelesen 88
…« So sollte ich also erschriebene ›Realitäten‹ kommentieren. Interessanterweise ging die Journaille bei mir von einer ›Realität‹ aus, die besagt: Psychologen sonderten ziellos Kommentare ab und wären darüber hinaus für kostenlose Reklame dankbar. – Zufällig sah ich den Sportprofi in einer Ein-Mann-Talkshow, wo er über seine ›Realitäten‹ redete. Alles in allem, auf eine Drehbühne hätten diese vielen Bilder von ›Realitäten‹ keinen Platz mehr gefunden.
Beweglich Unbeweglichkeit beinhaltet die Gefahr, dass der Therapeut sich einbinden lässt beispielsweise in ein ›Ich hab Recht – nein, ich hab Recht!‹ – oder noch schlimmer in ein ›Du bist falsch – nein, du bist falsch!‹ Es gibt die Haltung, bereits mehrfach zitiert: ›Ich weiß, was für dich gut ist!‹ Diese Haltungen können ein Indiz dafür sein, dass der Therapeut in dem System gefangen ist. Dass er ebenfalls versucht, systemimmanent Lösungen weiter fortzuführen. Zwangsläufig wird er scheitern, so wie die Familie bei 19 (!) Profis bereits scheiterte. Ein weiteres Beispiel: Ein Paar, das seit sieben Jahren praktizierte ›Wir lieben uns – wir lieben uns nicht‹ und damit ausdrückte: ›Wir können uns nicht entscheiden.‹ Systemimmanentes Vorgehen seitens des Therapeuten hieße zum Beispiel: ›Ich entscheide für euch, trennt euch!‹ – Hingegen der bewegliche Auftakt zu einer Lösung wären die Fragen: ›Angenommen, ihr hättet euch entschieden. Wir tun so als ob. Ihr kennt das ja. Ihr habt in eurem Leben schon viele Entscheidungen getroffen. Wie sähe das aus?‹ Auf diese Art und Weise eröffnet sich dem Therapeuten ein ungeheuerer Spielraum, in dem die 89
Anrufer/Klienten ihre eigenen Lösungen erarbeiten können. In einem seiner Bücher erzählte Jay Haley eine Geschichte von Milton Erickson * : Ein Paar, das sich so verschieden fühlte, dass der Leidensdruck trotz jeweiliger jahrelanger Einzeltherapie immer stärker wurde. Nach der ersten Sitzung schickte Erickson den Mann in den Botanischen Garten, die Frau auf den »Squaw Peak«. Er kam begeistert zur nächsten Sitzung: »Natur, Ruhe, diese Geometrie!«; sie hingegen aufgebracht: »Heiß, staubig, unerträglich, nach 500 Metern abgebrochen«. Nach der zweiten Sitzung schickte Erickson die Frau in den Garten, ihn auf den Berg. Ähnliche Reaktion – er: »Großartig, Perspektive, Landschaft«, sie: »unerträglich, langweilig, heiß«. Und die Frau ging aus eigenem Impuls auf den Berg, um ihre Gefühle zu überprüfen, kam aber mit dem gleichen Ergebnis (s.o.) zurück. Nach der dritten Sitzung schickte Erickson das Paar nach Hause: »Die Psychotherapie ist beendet!«. Wenig später trennte sich das Paar, und jeder beendete seine Einzeltherapie.
Bergführer Ein Bergführer, mit welchem wir beispielsweise eine Trekkingreise machen wollen, ist perfekt ausgerüstet und befähigt, eine Gruppe anzuleiten. Und dennoch steht und fällt die Tour mit der Kompetenz des Kunden. Jedes Reisebüro stellt bei anspruchsvollen Reisen Bedingungen: *
Erickson, Milton H.: Eine vollständige Bibliographie seiner Schriften. In: Haley, Jay (Hrsg.) (1967), Advanced techniques of hypnosis and therapy: The Selected Papers of Milton H. Erickson. MD New York: Grune & Stratton. 90
von der Ausstattung über Ausdauertraining bis hin zu Erfahrungen und Belastbarkeit. Kurzum: Nur als Team kann die Reise gelingen. Der Kunde trägt sein Gepäck, isst im Hocken, schläft unter freiem Himmel und steigt bergaufwärts mit hundertprozentiger Eigenleistung. Der Bergführer lotet den Weg aus, weiß von den Gefahren, um die Ängste und um die Schwächen. Bei einem Schwindelgefühl des Kunden stellt er sich kurzfristig bergabwärts unter den Kunden. Ein guter ›Trick‹, damit der Kunde eigenverantwortlich weiterlaufen kann. Aber er hat noch mehr professionelle Manöver. Er kann provozieren – hart (ein Skilehrer zum Beispiel sagt: »Go back to the Kindergarten – go back to the Bäh, Bäh, Bäh!«) oder liebevoll (»Mal gucken, wer schneller aufgibt!«). Er ahnt, riecht die Angst sowie den damit verbundenen Widerstand und versucht, so schnell wie möglich das (alte) Muster zu durchbrechen – am Widerstand vorbei. Hilfreich dabei ist für ihn auch ein Zwischentraining, bei welchem man aber sein Gesicht nicht verliert. Das richtige Tempo zu üben, um Kurzatmigkeit zu vermeiden. Die ganze Gruppe macht mit, keiner weiß, für wen das Training angesetzt wurde. Er kennt zudem das Spiel, welches die Kunden mit ihm machen. Scheinbar hilfloses »Kannst du Gepäck tragen?« und Zähne zusammengebissenes »Ich brauche keine Hilfe!« (wo er dann tatsächlich kurzfristig das Gepäck trägt). Er kennt auch das Augenflirten seiner Kunden, und weiß deren überdickes Lob einzuschätzen, sprich: er weiß damit umzugehen und es in eine gute Beziehungsenergie umzuleiten. Er weiß die Stummen zu nehmen und die ›Graf Koks‹ zu schützen. Jeder Kunde ist ausbalanciert in seinem Gleichgewicht, 91
fit für den Gipfel. Bei Stimmungseinbruch hat er ein paar gute Witze auf Lager. Er kann sich zurückziehen, weiß, dass die Zeit der Bergleitung begrenzt ist. Die Freude ist wechselseitig: »Und nun kannst du alleine weitergehen!«. Die Perspektive des Kunden oben auf dem Gipfel ist atemberaubend. Er hat es geschafft. Er spürt sich, seinen Körper, seinen Atem, alles ist im ›Fluss‹. Und von oben sieht sowieso alles ganz anders aus. Das, was unten noch riesengroß war – ein Justizgebäude zum Beispiel, das sinnbildlich für seine Angst; eine Kirche, die für verinnerlichte strenge Elternregeln; eine Schule, die für SichKlein-Fühlen stand – sie sind allesamt nur mehr Miniaturausgaben, klein genug für ein Puppenhaus. Aber groß genug, um die Perspektive vollkommen zu machen. Wenn er keinen Bezugspunkt auf seinem Aussichtspunkt hätte, würde ihm schwindelig. Er wüsste nicht, wo oben und unten wäre – er würde fallen. So hat er einen Bezugspunkt und damit eine veränderte, erweiterte Perspektive, die er sich selbst erarbeitet hat – und fühlt sich stark.
Was höre ich? Es gibt Indikatoren, Auslöser, bestimmte Kombinationen, die ein »Erkennen« leichter machen. Sozial kompetente, sprachlich sehr potente Ehemänner können beim Fußball auf eine Zweieinhalbjährigen-3-Worte-Sprache regredieren: »Hau ihn rein!« Erfahrene Ehefrauen, so sie nicht mitregredieren, ziehen sich zurück, mit unterschiedlichen Gefühlen. Wie geht man nach zwanzig Ehejahren mit einem Endvierziger um, der in der Regression steckt? Das Gesicht ist gerötet, er wird zum (Bier)Flaschentrinker, die Kontaktfähigkeit schrumpft gegen Null – außer einem gelegentlichen Hilferuf nach dem 92
nächsten Bier. Nach dem Spiel vollzieht sich jedes Mal ein Wunder. Frau erkennt ihren Mann wieder. – So, wie sich in unserer Gesellschaft ein Netzwerk von Systemen gebildet hat, so hat sich den Systemen gemäß ein ganz individuelles Sprechen entwickelt – untrennbar verknüpft mit Handlungen und Emotionen! Die Dazugehörigkeit zu einem System, einer Gruppe definiert die Kriterien der Gesprächsführung. Stefan und Erkan zum Beispiel, das türkisch-deutsche Duo, haben mit ihrem Pidgin-Deutsch eine ureigene Sprache weiterentwickelt. – Da wir nicht nur einem einzigen System zugeordnet sind, sondern einem überschaubaren Netzwerk, kennen wir unterschiedliches Sprechen, Handeln und Fühlen. Veränderung setzt sowohl bei der Sprache wie beim Handeln als auch beim Fühlen an. Egal, ob es Kampfgesänge und Schlachtrufe beim sportlichen Wettkampf sind oder kluges Sprechen in der Wissenschaft. Ein Beispiel aus Watzlawick/Krieg »Das Auge des Betrachters«. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Aufsatz von Humberto R. Maturana: »Wissenschaft als kognitiver Bereich ist ein Bereich von Handlungen, und als solche ist sie ein Netzwerk von Gesprächen, die Behauptungen und Erklärungen zur Folge haben, welche dem Kriterium der Validierung wissenschaftlicher Erklärungen aufgrund der Leidenschaft für das Erklären für gültig erklärt werden.« * – So ist wohl derjenige klug beraten, der in dem Netzwerk flexibel bleibt. – Übertragen wir es auf uns. Wie reden Sie, wenn Sie gut drauf sind? Welcher Sprachschatz steht Ihnen zur *
Maturana, Humberto R.: Wissenschaft und Alltag. Die Ontologie wissenschaftlicher Erklärungen. In: Watzlawick, Paul / Krieg, Peter (Hrsg.) (1991), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. München: Piper-Verlag, S. 175 93
Verfügung? Welche Wortbilder? Und wie drücken Sie diese Ihre Befindlichkeit aus? Und umgekehrt: Wie ist es, Sie sind schlecht drauf? Leidvolles Vor-sichHinplätschern, so dass beim geneigten Zuhörer das Bild eines Urinals entsteht? Schwere Sprachbilder, wie »Alles Sch … , Deine Emma« – verbunden mit einer labilen Stimmlage? Hier ist es einfach schon hilfreich, in ein anderes Sprechen zu gehen. Die Tonart zu verändern, den Sprachinhalt. – Wir kommunizieren auch in unterschiedlichen Problembereichen spezifisch. Um einen Minikonflikt zu lösen, bat ich kürzlich einen Redakteur um eine Klärung. Antwort (ohne Begrüßung): »Ich habe mir den Vorgang geben lassen. Ich sehe keinen Fehler auf unserer Seite. Bestenfalls am Anfang ein Missverständnis, aber zu einem Missverständnis gehören immer zwei – wie Sie ja wissen müssten. Und wir können ja auch nichts dafür, wenn Sie eine unerfahrene, junge Redaktionsassistentin … usw.« Am Ende rutschte er dann endgültig in seine Realität (apropos: unser Redaktionsmitglied steht nach 30-jähriger Berufserfahrung kurz vor der Pensionierung). In dieser Form der Kommunikation wird von Anfang an kein Kontakt zum anderen aufgenommen: Bunkermentalität. Stattdessen werden dem Gegenüber (innere) Monologe übergestülpt. Sie reichen (wie hier) von aggressiver Vorwärtsverteidigung bis hin zu einem immensen Mitteilungsbedürfnis. Letzteres sind in Einsamkeit gelebte, immer wieder sich im Kreis drehende Gedanken. Mit anderen Worten: von ›zurechtgelegten‹ Lebensphilosophien bis hin zu versteinerten Welten. Kurzfristig wird das Gegenüber angehört, aber im Kreisen der eigenen Gedanken nicht adaptiert: »Ja, aber …« 94
»Die Geschichte von der Pips
Eine Frau las alles, was in den Zeitungen über Krankheiten stand, und dann bekam sie selbst diese Krankheiten. Jedenfalls bildete sie sich das ein. Und wenn sie hörte, dass jemand Zahnschmerzen hatte, sagte sie gleich: ›Ich auch!‹, und als der Briefträger sich den Fuß verstauchte, fing auch die Frau an zu hinken. Sie hatte schon fast alle Krankheiten ausprobiert, da hörte sie von einer, die man ›die Pips‹ nennt. Sofort ging sie zum Arzt. Der sagte: ›Nur Hühner bekommen die Pips. Sie stecken sich gegenseitig an, wenn sie im feuchten Dreck scharren oder wenn der Stall nicht gut gelüftet ist. Man erkennt die Pips am Kopfschlenkern.‹ Die Frau war beleidigt. ›Ich scharre nicht in feuchtem Dreck!‹, sagte sie. ›Und meine Wohnung ist kein Stall!‹ Dann ging sie nach Hause und schlenkerte schon unterwegs mit dem Kopf. Sie wollte unbedingt die Pips haben, weil in den Zeitungen gerade nichts Neues über Krankheiten stand. Aber niemand glaubte ihr, niemand bedauerte sie. Da fing sie nach drei Tagen an zu gackern und zu scharren.« * Dem Sprechen liegt ein einengendes Richtig-FalschFühlen zugrunde: »Ich bin richtig, du bist falsch!« Es ist diese tiefe Angst, ich könnte falsch sein. Sich auf die Richtig-Falsch-Achse einzulassen bedeutet, die Angst und damit den Schutzwall immer größer zu machen. Beide Seiten können dabei nur verlieren. Damit aus dem Sprechen ein Gespräch, ein Austausch, eine Kontaktauf*
Wölfel, Ursula / Anrich-Wölfel, Bettina (1974): Neunundzwanzig verrückte Geschichten. Stuttgart: Thienemann. 95
nahme, eine Bewegung entsteht, braucht es erst einmal die Auflösung der Extrempositionen. Eine Klientin wünschte sich von mir eine Schiedsrichterfunktion. In dieser Sitzung solle der Partner alle ehelichen Verfehlungen zugeben, sozusagen bekunden und notariell beglaubigen lassen: der Therapeut in Gesetzesfunktion inklusive Rechtssprechung. Ich gab ihr zu bedenken, die Sicherheit über seine Verfehlungen wäre allenfalls bis zu dem Zeitpunkt gegeben, wo er sich wieder auf den Weg machen würde (zur Arbeit, ins Fitness usw.) – und man wisse dann ja nicht … So gesehen, solle sie sich im Deutschen Museum die RitterrüstungAusstellung ansehen. Da gäbe es interessante Anregungen für einen männlichen Keuschheitsgürtel. – Die scheinbare Schnodderigkeit ist eine genau gezielte Provokation, um der extremen Position der Klientin eine noch extremere daneben zu stellen. Mehr oder weniger berührt – der Therapeut als ›Agent/Provokateur‹, als Lachnummer, als Schocker, als Spinner –, kann der Klient seine Position verändern, d.h. ›aufweichen‹ und damit seine Welten verflüssigen. In dieser Welt eröffnet sich ihm zum eindimensionalen Richtig-Falsch eine zweite Dimension: sowohl – als auch. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, neue Bewertungen vorzunehmen, neue Handlungsspielräume zu gewinnen. So war der »Ritterrüstungs«-Mann tatsächlich ein chronischer Fremdgänger. Aber aus einem starren Kontrollmechanismus wurde ein bewegliches System, in dem sich beide die Frage stellen konnten: Haben wir bzw. nutzen wir die Chance miteinander – oder trennen wir uns?! Was sagen wir, was verschweigen wir? In welchem ›Gewand‹ kommt das Problem daher? Probleme haben 96
eine Sprache, die einerseits Mimikry in Reinkultur ist. Andererseits gleicht allen Beschreibungen, dass sie bereits eine Idee beinhalten, wie das Problem gelöst werden könnte. Wie schaffen wir es, unser Problem aufrechtzuerhalten? Das impliziert ebenfalls das Wissen, wie wir das Muster stören können. Und – einmal gestört, bringt das alte Spiel nicht mehr so viel Spaß. Neues kann wachsen. Ein Enddreißiger beschreibt sehr bewegt die Liebe zu einer verheirateten Frau. Als zusätzliche Belastung erlebte er, dass sich seine Angebetete noch einen zweiten Geliebten genommen hatte. Obwohl bei ihm beziehungstechnisch die Post abzugehen schien, war genau das Gegenteil der Fall. Die Party fand ohne ihn statt. Er war ein knapp gehaltener Besucher – sozusagen er mit einem Glas Mineralwasser in der Hand, während die anderen ›völlerten‹. Und so träumte er, er wäre beim Völlern dabei. – Wie kann man Träume, so sie – wie hier – die Realität verhindern, stören? Ich entschied mich für die »geträumte Realität« und schwadronierte über die Philosophie einer Vierecksbeziehung einerseits und über ›feuchte‹ Pubertätsphantasien andererseits. In der Sicherheit, dass eine minimale Veränderung des Musters eine Lawine von Veränderungen lostreten kann. Insofern kann in »Lämmle live«-Gesprächen die ›Bombe‹ ein klitzekleiner Nebensatz sein und alles Nachfolgende Scheingefechte. Zum Beispiel: Ich hab Recht – Nein, ich hab Recht! Ablenkungsmanöver, damit das ›Neue‹ nicht gleich erst durch ›kluge‹ Gedanken beschädigt werden kann. Wenn sich, wie bei Essstörungen zum Beispiel, in der inneren Welt Bilder vom Essen zu 90 Prozent eingenistet 97
haben, drückt sich das auch in der Sprache aus. Es kann in sehr direkter Form sein. Überproportional vertretene Statements wie: »Ich kann essen wie ein Scheunendrescher«; »Wehe, mich stört einer beim Essen«; aber auch Scherze wie: »Ich komme aus einer Großfamilie, bei mir herrscht Futterneid!« usw. Es kann aber auch in einer sehr indirekten Form sein. Inhalt und Form haben scheinbar nichts mit der Essstörung zu tun. Häufig wird ein hochkontrollierter Beziehungskontext beschrieben. So schilderte eine junge Frau jede ihrer Beziehungen als ein Auslaufmodell: Nach einem jeweils kurzen, heftigen, gar leidenschaftlichen Intermezzo – dann Ende! Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie einen fast rigiden Stundenplan (Tages-, Wochen-, Jahresablauf) hatte; auch ihren Urlaub nach Maß plante. Ihre Messlatte: ihr Lauftraining, Fitness-Stunden (bis zu 3,5 Stunden), ihr Krafttraining. Alles andere wird drumherum geplant. Beziehung als kurzfristige Explosion möglich, sonst greift wieder der Stundenplan. Ein junger Mann, der sich nur mehr mit FitnessDrinks ernährte, sorgte sich, weil er sich nach einer festen Nahrung übergab. Eine Freundin hatte er nicht – noch nie. In der Phantasie ließen wir einen Film laufen, einen von einem ›Date‹ – seinem ersten ›date‹. Pizzeria, Kerzenlicht, Musik, zwei Verliebte. Sie ein Glas Rotwein vor sich, Spaghetti, rollt die Nudeln auf, Stimmung ist auf Verführung eingestellt, Sinne berauscht usw. …. – ein wunderbarer Auftakt, den alle Verliebte kennen. Nur in unserem Film sehr einseitig: Denn er hat seinen FitnessDrink vor sich, zieht am Strohhalm … Derart (sanft) konfrontiert mit seinen Defiziten, konnte er zumindest Sehnsucht spüren. – Ein ebenfalls kontaktarmes (freudloses) 98
Lebensbild entsteht (und damit das Wissen um einen Ersatzfreund, die Flasche), wenn der Klient einerseits das Schicksal verantwortlich macht, die anderen (Mächte) es unmöglich machen, dass Veränderung passiert. Kann er diese Strategie nicht aufrechterhalten, kann es von Selbstmitleid in Selbstanklagen kippen (»Ja, ich weiß, es liegt an mir. Ich müsste etwas ändern, es tut mir so Leid …«) – Ein tief verletztes ›inneres Kind‹ hat den Rückzug angetreten. Jede Kontaktaufnahme wird so gestaltet, dass sie den ›Status quo‹ nicht stört. »Mich trifft keiner mehr« – so oder so nicht (also auch auf der Herzensseite nicht mehr). Soziale Gefühle werden sozusagen verstofflicht; es entsteht das Bild eines ›religionslosen Raumes‹. – Sprechen – Handeln – Fühlen. Vor kurzem arbeitete ich mit einem Mann mittleren Alters. Seine Körperhaltung, seine Sprache vermittelte das Bild von der Schwere einer Last, die zu tragen er zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen. Und dennoch war diese Last ihm so unselbstverständlich wie präsent. Nahezu fünfzig Minuten brauchte er, seinen Lebensfluss zu legen, wobei er in liebevoller Detailversessenheit all jene Stationen seiner Vergangenheit ausgestaltete, an deren Anfang ein traumatisches Erlebnis stand. Er hatte sich seit Jahren vielfältig und intensiv mit diesem Trauma beschäftigt und für sich die Beobachtung wie Erfahrung gemacht, wie sehr die alten Zeiten und Verletzungen seinen Lebensweg immer wieder einholten. All die Wiederholungen schienen ihm seine Problemfokussierung zu rechtfertigen, ohne selbst zu wissen, wie sehr ihm diese Vergangenheiten zum ständigen Begleiter geworden waren. Bei der Betrachtung und Besprechung des Lebensflusses zeigte sich, wie sehr ihm die einzelnen Stationen zu 99
symbolträchtigen Sakrilegien seines Leids geworden waren. Minuziös beschrieb er das Gelb des Familienhauses, die Farben des Teppichs im elterlichen Wohnzimmer als Symbole seines »Fluchs«, denen er in seinem weiteren Leben immer wieder auszuweichen suchte. Seiner Perspektive lag eine Vermeidungsstrategie zugrunde, die aber zur Folge hatte, dass er umso genauer und aufmerksamer auf diese Symbole des Traumas starrte. Doch es waren nicht nur diese Eigenschaften und Merkmale, die seine Wirklichkeitskonstruktionen bestimmten, sondern auch bestimmte Handlungssequenzen, in denen er die Wiederkehr seiner traumabestimmten Störung erkannte. So waren es Unfälle oder gescheiterte Beziehungen, die als Stationen in seinem Lebensfluss ihm seinen Wiederholungszwang belegten. Der Mann war seit Jahren in psychoanalytischer Behandlung, und die Arbeit mit dem Analytiker schien seine interpretatorischen Fähigkeiten zur symbolhaften Ausdeutung von Welt zu verstärken, statt das traumatische Erlebnis als Vergangenheit zu verarbeiten. Mit anderen Worten: Der Wiederholungszwang – so sachlich er gegeben sein mochte – erlebte im Zuge der Analyse seine eigene Symbolisierung dergestalt, dass er zur Methode von Wirklichkeitskonstruktion wurde. Der Effekt war, dass das Erkennen möglicher Wiederholungen und die Einordnung von Vorfällen unter das WiederholungsModell zur dominanten Blickrichtung auf Zukunft wurde. Mit anderen Worten: Zukunft konnte nur aus der permanenten Abgrenzung zur Vergangenheit gelebt werden, was zur Folge hatte, dass er zukünftige Vergangenheiten inszenierte. Nur so war es nämlich möglich, das Trauma am Leben zu erhalten. 100
Und noch ein Letztes: Neben den Modeschlagwörtern bzw. Kurzformeln, wie »total cool«, »echt cool« oder Ähnlichem schleichen sich in unsere Sprechwelten Dauerbrenner ein. Frau ›lieb‹, verwendet ihr Lieblingswort im Gespräch bis zu den lieben Grüßen an den lieben Mann. Frau ›Kind‹ zwitschert mit gepresster Kehlkopfstimme ihr Bravsein. »Bin ich zu früh? Ich kann noch warten. Sag mir ruhig, ob ich störe …« Herr ›Widerstand‹ eröffnet bereits das Gespräch mit »Sonst kommen ja nur Frauen dran …« – Wie gut, dass wir alle Teile kennen. Mal steht der eine Teil im Vordergrund, mal der andere. Ein reiches Sprechen beinhaltet die Vielfalt.
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TEIL II FALLBEISPIELE
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Warum authentische Gespräche? Ein psychotherapeutisches Gespräch live vor laufender Kamera in einem Massenmedium gilt für viele kritische Beobachter als ein Unding. Stein des Anstoßes ist die Frage nach dem Verhältnis von öffentlich und privat. Sollen Menschen in aller Öffentlichkeit über ihre sehr persönlichen Probleme sprechen dürfen? Müssen solche Themen nicht unter vier Augen und hinter verschlossenen Türen ausgesprochen und besprochen werden? Ist es legitim, dass via TV der Schutzraum aufgekündigt wird, den üblicherweise ein Therapeut seinem Klienten bietet? Werden mit solch einer Sendung nicht Grenzen verletzt, deren Sinn und Zweck es doch ist, Menschen davor zu schützen, sich exhibitionistisch auszustellen, während gleichzeitig der Zuschauer seine voyeuristische Neugier befriedigen kann? Nun könnte man diesen Kritikern entgegenhalten, dass die Anonymität der Anrufer gewahrt bleibe; dass die geschulte Therapeutin sehr wohl wisse, wie sie den Anrufer in seinem Sprechen schützen kann; dass die Auswahl der Fälle nach strengen Kriterien erfolge, die exhibitionistische Motive und voyeuristische Begehrlichkeiten ins Leere laufen ließen – all diese Gegenargumente, so inhaltlich korrekt sie auch sind, akzeptieren jedoch unaus103
gesprochen jene Voraussetzung, die aller Kritik zugrunde liegt. Diese unausgesprochene Voraussetzung ist die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Sprechen, die selbst unhinterfragt bleibt. Die Selbstverständlichkeit dieser Unterscheidung gilt es genauer zu betrachten, bevor man vorschnell urteilt. Es hat sich gezeigt, dass »Lämmle live« Grenzverletzungen zum Vorwurf gemacht werden. Wodurch werden diese Grenzen verletzt, die das Öffentliche vom Privaten trennen und unterscheidbar machen? Es ist das Massenmedium Fernsehen selbst, das in den letzten Jahrzehnten mit seinen neuen Programmen immer mehr die traditionelle Grenzlinie zwischen Öffentlich und Privat veränderte. Während das öffentlich-rechtliche Fernsehen anfangs mit größerer Zurückhaltung und unter der Kontrolle seiner Aufsichtsgremien den neuen Programmtrends folgte, war es das Privatfernsehen, das mit seinen neuen Talk-Formaten Themenfelder besetzte, die gemeinhin dem Privatbereich zugeordnet werden. Das Themenspektrum, mit welchem die Privatsender Aufmerksamkeit und Einschaltquoten erzielen wollen, sind sattsam bekannt: Sex und Crime kann man verkürzend sagen – und spätestens seit dem Nacht-Talker »Domian« auf West 3 sind diese schlüpfrigen Aufputschmittel auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hoffähig geworden. Im Zuge einer solchen Programmentwicklung könnte es – wie es unisono die Medienwissenschaften tun – auf der Hand liegen zu sagen, dass mit »Lämmle live« eine weitere Enttabuisierung erfolgt ist, die somit auch den psychotherapeutischen Bereich erfasst hat. Während Meiser, Nicole, Fliege & Co. ihre Themenfelder gefunden haben, hat Lämmle sich auf die Fahnen geschrieben, die Welt der Neu104
rosen und Beziehungsprobleme zu betalken. Kurzum: Auch »Lämmle live« kommt in den Topf aller Talk-Formate, wie es zum Beispiel Gary Bentes und Bettina Fromms Studien über Affektfernsehen* gemacht hatten. So nahe liegend eine solche Argumentationslinie auf den ersten Blick auch zu sein scheint, so ist sie nur vor dem Hintergrund der gängigen Unterscheidung von öffentlich und privat stimmig. Was übersehen wird, ist die Frage nach dem: »Wer spricht«? In Talksendungen sind es Moderatoren oder aufklärungsgeile Tabubrecher, die allesamt über kein geschultes Sprechen verfügen, außer dass sie vielleicht eine journalistische Ausbildung oder einen Rhetorikkurs besucht haben. In »Lämmle live« sind es aber therapeutisch geschulte Gespräche. Dieser signifikante Unterschied wird schlicht übersehen. Wird man diesen aber gewahr, dann ist der Skandal noch größer, denn »Lämmle live« erlaubt sich nicht nur eine mediale, sondern vielmehr auch eine institutionelle Grenzverletzung. Unter medialen Gesichtspunkten lässt sich in Hinblick auf öffentliches und privates Sprechen zunächst einmal nur inhaltlich argumentieren nach dem Motto: Darüber spricht man nicht, das sagt man nicht, das gehört nicht in die Öffentlichkeit. Unter dem institutionellen Gesichtspunkt aber wird erstmals öffentlich, was durch einen Berufsstand jeglicher Öffentlichkeit entzogen wird. Das ist es, was »Lämmle live« grundlegend von allen Talk-Formaten unterscheidet. »Lämmle live« ist in seinem Konzept durch eine doppelte Grenzverletzung definiert: durch das Medium Fernseher und durch Aufhebung einer institutionalisierten *
Bente, Gary; Fromm, Bettina (1997): Affektfernsehen: Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen: Leske und Budrich. 105
Vereinbarung des Berufsstandes der Psychologen. Grenzen kann man nur verletzen, wenn solche vorhanden und das heißt vormals errichtet worden sind. Umgekehrt kann man deshalb auch fragen: Wer hat die Grenzen errichtet, die durch ein technisches Medium verletzt werden können? Woher kommt unsere Gewissheit, sagen zu können, was öffentlich oder privat sein darf? Einen Fingerzeig, in welche Richtung die Antwort gesucht werden kann, ist durch die Grenzverletzung selbst schon gewiesen. Wenn ein Medium eine Grenze aufheben kann, dann ist zu fragen, ob nicht ein anderes Medium diese Grenze errichtet hat. Mit anderen Worten: Welches Medium liegt der gängigen Unterscheidung von öffentlich und privat zugrunde? Machen wir ein Beispiel, das unsere Fragerichtung veranschaulichen soll: Wer Liebesbriefe mit Schreibstift auf Papier schreibt und als Brief verschickt, zahlt das übliche Porto für Briefe, gleich ob er die berühmten drei Worte oder drei Seiten schreibt. Das Übertragungsmedium Post und die Speichertechnologie Briefschreiben erlauben, dass man das, was man sagen möchte, in einer Ausführlichkeit macht, die in Abhängigkeit von den postalischen Gegebenheiten steht. Anders gestaltet sich die Situation, wenn es um Telegramme geht. Wer das, was er in seinem Brief auf drei Seiten festgehalten hat, telegraphieren wollte, müsste tief in die Tasche greifen, um es bezahlen zu können. Beim Telegraphieren nämlich stehen Worte und Geld, Zeichen und Ökonomie in unmittelbarem und untrennbarem Zusammenhang. Während das Briefporto eine Unmenge an Zeichen zulässt, begrenzt die Telegrammgebühr die Zeichenproduktion aus ökonomischen Gründen. 106
Folglich werden bei Telegrammen nur die berühmten drei Worte übermittelt werden. Doch schon bei der Nachrichtenübermittlung selbst stellen sich neue Gegebenheiten ein: Der postalische Liebesbrief wird vom Absender in einen Briefumschlag gesteckt. Niemand kann den Brief lesen, Privatsphäre und Intimität zwischen Absender und Adressat bleiben gewahrt. Wer aber seine Liebeserklärung telegraphieren will, wird eine böse Überraschung erleben. Am Telegraphenschalter liest der Postbeamte das Telegramm laut vor, um sich gegenüber dem Absender zu vergewissern, dass der Telegrammtext so in Ordnung ist. Telegramme kennen nämlich keine Privatheit, was schon dadurch deutlich wird, dass das Telegramm nur verschickt werden kann, wenn es öffentlich durch einen Telegraphenbeamten angenommen und übermittelt wird. Dieses Beispiel macht aber auch deutlich, dass die Medialität des jeweiligen Übertragungsmediums Verhältnisse stiftet, die apriorisch das menschliche Sprechen, Denken und Handeln bestimmen und Wirklichkeiten schaffen, die in bestimmten Sprach- und Handlungsräumen zum Ausdruck kommen. * Das Medium Post und das Medium Telegraphie bestimmen über das, was öffentlich oder privat sein kann bzw. wo die Grenzen liegen, die es jedem erlauben, öffentlich oder privat zu sein. *
Grundlegend siehe hierzu Haase, Frank (1996): Die Revolution der Telekommunikation – die Theorie des telekommunikativen Aprioris (= Schriftenreihe des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest Band 2). Baden-Baden: Nomos-Verlag, und Haase, Frank (1999): Medien – Codes – Menschmaschinen. Medientheoretische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Opladen: Westdeutscher Verlag. 107
Das Medium definiert die Diskurs- und Handlungsräume und begründet die Unterscheidung dessen, was öffentliches oder privates Sprechen heißt. Während sich die Kritiker von »Lämmle live« in ihrem Begriff von Öffentlichkeit – Privatheit auf traditionelle Medien wie Stimme und Schrift berufen, unterliegt die Sendung selbst den Gesetzen des technischen Mediums Fernsehen, das andere Verhältnisse und Wertigkeiten stiftet. Welche Verhältnisse und Wertigkeiten werden durch traditionelle Medien gestiftet? Mit dem Medium Stimme werden Nähe, Unmittelbarkeit, Vertrautheit, Authentizität, Originalität und Ursprünglichkeit verknüpft. Diese Qualitäten von Mündlichkeit werden aber aus ihrem Gegensatz zum Medium Schrift bestimmt. Mit Schrift sind Distanz, Mittelbarkeit, Substitution und Supplementarität verbunden. * Und was macht das Medium Fernsehen? Heutige Talkshows simulieren diese diskursive Zuweisung von Nähe und Distanz, indem sie vorgeben, so nah und unmittelbar wie live das Authentische zur Sprache zu bringen. Tatsächlich wird dabei an Fernsehproduktionen überlesen, welcher inszenatorische Kraftaufwand notwendig ist, um solch eine Vorspiegelung des Authentischen schaffen zu können. Gerade weil aber Talkshows diese diskursive Zuweisung simulieren, sind sie für die bestehende Kritik offen und anfällig zugleich. Das, was in den Talk-Gesprächen sich ereignet, ist *
Siehe hierzu Haase, Frank (1998): Blinder Fleck Medien. In: Haase, F./Doelker, Chr., Texte über Medien – Medien über Medien (= Schriftenreihe des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest Band 4). Baden-Baden: Nomos-Verlag, S. 123 – 150. 108
Ausdruck höchster Distanz. Bei »Lämmle live« hingegen gibt es keine Simulationsebene, denn die Gespräche sind das, was sie sind: professionelle therapeutische Gespräche, wie sie in Therapeutenpraxen stattfinden können. Das Authentische ist die Faktizität des professionell geführten Gesprächs, womit ein Diskurs- und Handlungsraum öffentlich wird, der ansonsten strengen Schutzbestimmungen unterliegt. Das Merkwürdige: Statt simulierter Nähe entsteht in dieser Sendung tatsächliche Nähe, statt inszenierter Nähe ist es eine lebendige Nähe, die bewirkt. Worin liegt also die Grenzverletzung? Doch letztlich in der Tatsache, dass ein wohl definierter Diskurs- und Handlungsraum Öffentlichkeit erfährt. Wer ist von dieser Grenzverletzung betroffen? Ausschließlich die Berufsgruppe der Psychologen. Wie ist dieser Diskurs- und Handlungsraum definiert? Das Vier-Augen-Gespräch zwischen Therapeut und Klient ist ein persönliches Gespräch, bei welchem sich der Klient anvertraut. Die Struktur solcher vertrauensvollen Gespräche haben ihr Vorbild in ähnlichen Kommunikationsräumen wie zum Beispiel Arzt – Patient oder Rechtsanwalt – Klient. Was gerne übersehen wird, ist der Umstand, dass Arzt, Rechtsanwalt oder Therapeut allesamt Privatunternehmer sind. Aus diesem Grund hat man Rituale und Institutionen erfunden, um die Verantwortung dieser Berufsgruppen moralisch und juristisch einklagbar zu machen. Der Arzt leistet den Hippokratischen Eid und erhält durch die Ärztekammern seine Approbation; der Rechtsanwalt erhält eine Zulassung und ist der Rechtsanwaltskammer als Ständevertretung verantwortlich; die Psychologen hingegen organisieren sich je nach 109
therapeutischer Ausrichtung in Vereinigungen, sind aber letztendlich unabhängig und ungebunden. Es ist vielmehr eine Frage von beruflichem Selbstverständnis und Freiwilligkeit, ob sie sich einer wie auch immer gearteten Aufsicht (Vereinigung, Supervision) unterstellen. Das persönliche Gespräch beruht bei allen drei Berufsgruppen auf der Voraussetzung von Treu und Glauben, ganz zu schweigen von Kriterien wie Seriosität, Standesehre, Verantwortung und Respekt, die über die Qualität der Geschäftsbeziehung entscheiden. Ein Weiteres: Die Schmerzen, die der Patient hat, muss der Arzt zunächst einmal ernst nehmen, kann diese aber durch Untersuchungsmethoden verobjektivieren; das Unrecht, was ein Klient seinem Rechtsanwalt vorträgt, kann dieser über Beweise und auf Grundlage von Dokumenten nachprüfen und dann beurteilen, ob ein Rechtsstreit Aussicht auf Erfolg hat. Therapeuten hingegen können über solche Möglichkeiten der Objektivität nur schwerlich verfügen. Ihre Problemlösestrategien verfügen unmittelbar nicht über eine dritte Instanz, die als Gesetz (Blutdruckwerte, Laborergebnisse, Gesetzestext) Orientierung gibt. Die dritte Instanz gründet bei ihnen in ihrem Begriff der menschlichen Psyche und in der Verantwortung gegenüber dem Klienten, der sich ihnen – wie auch immer und in welcher Form – anvertraut. Dass es überall »menschelt«, versteht sich von selbst. Bei aller Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ist niemand vor den Verführungen der eigenen Schwäche gefeit. Und Fehler macht jeder: auch der Arzt, der Rechtsanwalt wie der Therapeut. Während aber bei den ersten beiden Berufsgruppen die Möglichkeit der Nachprüfbarkeit besteht, ist es bei Therapeuten hierum schlecht bestellt. 110
Dass diese Verhältnisse für selbstverständlich genommen werden, gründet in der Tradition, in welcher die Beziehung Therapeut – Klient steht. Plakativ gesprochen: Im 18. Jahrhundert war es der Pfarrer, im 19. Jahrhundert der Arzt, im 20. Jahrhundert der Therapeut, der die Funktion erhielt, Agent der Seele zu sein. Das heißt: Das Sprechen über Leid, Schmerz oder Schuld ist seit Jahrhunderten bestimmten Instanzen vorbehalten, die in Diskurs- und Handlungsräumen unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit erfolgen. Diese Form privat-intimer Selbstaussprache kannte und kennt nur Mündlichkeit und als Medium die Stimme. Dass im Zuge der Alphabetisierung Mitteleuropas Schriftlichkeit in Form von Briefen, Tagebüchern und Gedichten hinzukam, belegt, dass für die Öffentlichkeit von Privatheit deren Literarisierung/Ästhetisierung notwendig war und nur als ästhetisches Produkt legitim war. Was aber passiert, wenn technische Medien in den vom traditionellen Medium Stimme/Schrift definierten Diskurs- und Handlungsraum ›Psychotherapie‹ eindringen? Im Jahre 1968 veröffentlichte die französische Zeitschrift »Temps Modernes« ein Tonbandprotokoll mit dem Titel »Psychoanalytischer Dialog«. Bei diesem Text handelt es sich um die Transkription der »Tonbandaufzeichnung von A.«, in welchem die Intervention dieses Klienten wiedergegeben wird, der nach jahrzehntelanger Psychoanalyse seine Skepsis gegenüber dem Sprechen seines Analytikers durch eine Tonbandaufzeichnung verobjektivieren wollte:
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»Psychoanalytischer Dialog (Die Tonbandaufzeichnung von A.) A.:
Dr. X.: A.: Dr. X.: A.: Dr. X.: A.:
Dr. X.: A.:
Dr. X.: A.: Dr. X.: A.:
Ich will, daß endlich einmal irgend etwas klar wird. Bis jetzt habe ich Ihre Regeln befolgt, nun müssen Sie einmal versuchen Wir können ja aufhören, aber das ist für Sie sehr schade. Haben Sie vor diesem Tonband Angst? Ich will das nicht, ich mache da nicht mit. Aber warum? Erklären Sie mir das wenigstens. Warum haben Sie Angst vor dem Tonband? Ich breche die Behandlung ab. Ich schneide Ihnen das Wort ab. Sie schneiden ab. Das ist ja interessant. Schon wieder reden Sie vom Abschneiden. Eben haben Sie mir vom Abschneiden des Penis gesprochen. Hören Sie, jetzt ist Schluß mit dem Tonband. Ich glaube, Sie haben Angst. Aber das brauchen Sie nicht, denn das, was ich tue, liegt in Ihrem Interesse. Ich tue es für Sie und für viele andere: Ich will dieser Sache auf den Grund gehen … Gut, dann gehe ich eben Sie bleiben, Doktor! Sie bleiben und rühren diesen Apparat nicht an. Wir können die Behandlung später fortsetzen, wenn Sie jetzt den Raum verlassen Ich verlasse diesen Raum nicht … Sie werden sehen … , es wird nicht weh tun … Also beruhigen Sie sich, setzen Sie sich … Es geht also um das Abschneiden des Penis, nicht wahr? Mein Vater wollte mir … 112
Dr. X.: Im Augenblick sind Sie nicht in der Lage, mit mir zu diskutieren. A.: Oh, ja, Sie wollen nicht diskutieren Dr. X.: Ich habe Sie gebeten, diesen Apparat zu entfernen. A.: Aber ich tue Ihnen ja nichts damit … Da ist etwas, was Sie mir seit Jahren einreden wollen. Ich möchte aber, daß Sie sich nicht um das Eigentliche herumdrücken, nämlich um Ihre Verantwortung. Dr. X.: Es ist Ihre Verantwortung! A.: Ich bin verantwortlich! Ich leiste jede wissenschaftliche Arbeit! Sie wissen, daß es viel besser ist, wissenschaftliche Arbeiten auf Tonband aufzunehmen. Wir sind dann freier und müssen keine Notizen machen. Wir werden weiterkommen. Dr. X.: Hier geht es nicht um wissenschaftliche Arbeit! A.: Doch! Ich habe geglaubt, bei einem Wissenschaftler zu sein. Jedenfalls habe ich mich einem Wissenschaftler anvertraut, und ich möchte wissen, um welche Wissenschaft es sich da handelt Dr. X.: Ich habe das Recht, nicht zu sprechen, wenn das Tonband läuft. (…) Dr. X.: Sie sind gefährlich. A.: Sie sind kindisch. Dr. X.: Sie sind gefährlich. Ich habe Ihnen nichts zu sagen. A.: Sie haben mir nichts zu sagen? Aber Sie sind mir Rechenschaft schuldig. 113
Dr. X.: Ich habe Sie aufgefordert, den Raum zu verlassen. A.: Sie sind mir Rechenschaft schuldig. Dr. X.: Sie sehen, daß Sie gefährlich sind. A.: Ich bin nicht gefährlich; ich rede nur laut, und das ertragen Sie nicht. Wenn man schreit, dann haben Sie Angst. Sie hören einen brüllenden Vater. Aber ich meine es nicht ernst, mein Sohn. Siehst du, jetzt hast du keine Angst mehr, jetzt geht es schon viel besser, du gewöhnst dich daran, großartig. Es ist wirklich nicht so arg: Ich bin nicht dein Vater. Ich könnte noch weiterschreien, aber ich höre jetzt auf. Dr. X.: Machen Sie jetzt Ihren Vater nach? A.: Aber nein, Ihren Vater. Ich wollte Sie nur von Ihren Ängsten befreien. Sie haben ja in die Hose gemacht. Haben Sie wirklich geglaubt, daß ich Sie schlagen will? Dazu ist dein Vati viel zu lieb. Wenn ich gefährlich bin, dann doch nicht für meinen kleinen Burschi, gefährlich bin ich für den Arzt, für den sadistischen Arzt, nicht für den kleinen Burschi. Der hat selbst schon genug durchgemacht, warum soll ich ihn auch noch schlagen? Aber der Arzt, der Psychiater, der den Platz des Vaters eingenommen hat, der verdient einen Tritt in den Hintern. Also werde ich Sie einmal analysieren. Dr. X.: Sie können ruhig weiterreden. Ich werde nichts reden A.: Gut, ich werde reden. Wir nehmen es auf. Ich lasse auch Ihnen eine Kopie machen, wenn Sie wollen. Das müßte Sie eigentlich interessieren 114
… Ich hoffe es für Sie. Gut … also darauf kann man niemanden heilen (zeigt auf die Couch), das ist unmöglich. Und Sie selbst sind nicht geheilt, weil Sie zu viele Jahre darauf verbracht haben. Sie wagen nicht, den Leuten ins Gesicht zu schauen. Sie haben vorhin davon gesprochen, daß ich ›meinen Phantasien‹ ins Gesicht schauen muß. Aber Sie selbst haben mich gezwungen, Ihnen den Rücken zuzuwenden. So kann man die Leute nicht heilen. Das ist unmöglich. Mit anderen leben, heißt Ihnen ins Gesicht schauen. Was soll ich daraus lernen? Sie haben mir im Gegenteil die Freude vertrieben, ein Leben mit den anderen zu versuchen, einer Sache direkt gegenüberzutreten. Das ist Ihr Problem. Sie bringen die Leute in diese Lage, weil Sie ihnen nicht ins Gesicht schauen können, Sie können sie nicht heilen, Sie können ihnen nur Ihre Vaterprobleme immer wieder vorkäuen, weil Sie davon nicht loskommen. Von Sitzung zu Sitzung traktieren Sie Ihre Opfer mit Ihrem Vaterproblem. Verstehen Sie ein bißchen, was ich sagen will? Ich habe große Mühe gehabt, das zu verstehen, davon loszukommen, mich davon abzuwenden. Sie haben mir ein bißchen geistige Gymnastik beigebracht, aber geben Sie zu, daß das Ganze ein wenig teuer war, wenn das alles war. Durch Sie habe ich verlernt, jemandem ins Gesicht zu schauen, ich habe Ihren Versprechungen vertraut, und da ich Sie nicht sehen konnte, konnte ich mir nicht vorstellen, wann Sie mir endlich das geben würden, was ich bei 115
Dr. X.: A.:
Dr. X.: A.:
Dr. X.: A.: Dr. X.:
Ihnen suchte. Ich wartete auf die Erlaubnis. Ja, das war es. Sie wären ja dumm gewesen, wenn Sie sie mir gegeben hätten, wenn Sie mich freigegeben hätten, da ich Sie ja ernährte. Sie lebten auf meine Kosten, Sie haben mein Geld genommen. Ich war der Kranke, Sie waren der Arzt. Sie hatten endlich Ihr Kindheitsproblem gelöst. Sie waren der Vater, ich war das Kind. Ich rufe jetzt die Polizei an, daß man Sie wegbringt. Die Polizei? Den Vater! Ihr Vater ist der Polizist! Sie telephonieren Ihrem Vater, daß er mich abführt. Das müssen wir jetzt analysieren. Aber nein, Sie hören sich dann alles auf Ihrem Tonband an. Wollen Sie mir nicht wenigstens sagen, warum Sie das so ärgert? Ich sage es Ihnen: Weil auf einmal ich das Steuer in die Hand nahm. Bis jetzt waren Sie gewohnt, die Situation völlig zu kontrollieren, und nun bricht plötzlich das Unheimliche bei Ihnen ein. Ich bin physische Gewalt nicht gewohnt. Wieso physische Gewalt? Es ist Gewalt, plötzlich diesen Apparat herauszuziehen.
(…) A.: Ich möchte nur, daß Sie ernsthaft mit mir reden. Dr. X.: Also gut, ich spreche ernsthaft mit Ihnen: es ist Zeit, daß Sie gehen. A.: Es ist Zeit zur Rechenschaft. Jetzt ist Ihre Stunde da! 116
Dr. X.: Es tut mir sehr leid. A.: Was tut Ihnen sehr leid? Erlauben Sie, mir tut es sehr leid, Sie haben mich jahrelang verrückt gemacht.! Durch Jahre! Und Sie wollen, daß es dabei bleibt! Dr. X.: Hilfe! Hilfe! Zu Hilfe, Mörder, zu Hilfe, zu Hilfe, zu Hilfe! A.: Ruhig, setzen Sie sich! Dr. X.: Hilfe! Zu Hilfe! Hiiiiiiilfe! (Langes Heulen) A.: Armes Schwein! Setzen Sie sich doch! Dr. X.: Zu Hilfe! (Gemurmel) A.: Wovor haben Sie Angst? Dr. X.: Zu Hiiiiiiilfe! (Neuerliches Heulen.) A.: Haben Sie Angst, daß ich Ihnen Ihren Dingsda abschneide? Dr. X.: Zu Hiiiiiiilfe! (Dieser Schrei ist der längste und schönste.) A.: Was für eine komische Aufzeichnung! Dr. X.: Zu Hilfe! Zu Hilfe! Zu Hilfe! (Pause) A.: Sie sind ja ein Kind! Sie haben ja den Streit begonnen. Setzen Sie sich. Du willst ein Wissenschaftler sein! Eine schöne Wissenschaft! Freud wäre entzückt davon! Niemals ist er in eine solche verrückte Situation geraten. Dr. X.: Wenn Sie wollen, hören wir jetzt auf. Die Leute draußen haben mich gehört, es ist vielleicht besser, wenn Sie gehen. Sie riskieren, festgenommen zu werden, aber das wird nicht meine Schuld sein. A.: Wunderbar, ich warte auf diese Festnahme. Wir sind im Begriff, ein wichtiges Kapitel der Psychoanalyse zu schreiben. Setzen wir uns und 117
warten auf die Polizei. Warten wir, bis Ihr Vater kommt. Beruhigen Sie sich, Sie sind ja schrecklich aufgeregt. Dr. X.: Heute werde ich nicht mehr sprechen. Ich will natürlich noch mit Ihnen sprechen, aber nur in Anwesenheit von Personen, die Ihre Gewalttaten bremsen können. A.: Sehr gut. Dr. X.: Aber ich bin bereit, mich mit Ihnen ohne Tonband auszusprechen, in Anwesenheit von Personen, die Sie zurückhalten können. A.: Sehr gut! Haben Sie nichts mehr zu sagen? Hören wir auf. (Die Polizei kommt.)«* Die Angst des Psychoanalytikers vor dem »Apparat« ist die Angst vor der Verobjektivierung seines therapeutischen Sprechens, das grundsätzlich gegen Gegenübertragungen von Seiten des Therapeuten nicht gefeit ist. Die Energie, mit welcher Dr. X. sich gegen die Aufzeichnung seines Sprechens und einer möglichen wissenschaftlichen Auswertung stemmt, mag symptomatisch sein für asymmetrische Kommunikationen, die im psychologischpsychiatrischen Bereich besonderer Anfälligkeiten unterworfen sind. Die mitunter umfangreichen Schwarzen Listen, die alle psychotherapeutischen Vereinigungen führen, mögen ein beredtes Indiz für die zahlreichen Übergriffe sein, die in Therapeut-Klient-Beziehungen vorkommen. Auch wenn man mit allen Mitteln versucht, solche Missbräuche zu verhindern und zu unterbinden, so *
Anonym, Psychoanalytischer Dialog (Die Tonbandaufzeichnung von A.). In: Kursbuch 29, Das Elend mit der Psyche II Psychoanalyse. Berlin: Kursbuch Verlag/Wagenbach, 1972, S. 27-34. 118
darf nicht vergessen werden, dass die Konstitution und Konstruktion psychotherapeutischer Diskurs- und Handlungsräume per se aufgrund ihrer medialen Apriorität solchen Gefährdungen ausgesetzt sind. Leider wird hierüber in einschlägigen Fachkreisen nur selten gesprochen resp. überlegt, wie man solchen ›Konstruktionsfehlern‹ wirksam begegnen könnte. Dieser Hintergrund macht deutlich, worin der Skandal von »Lämmle live« gründet: Brigitte Lämmles so genannte Grenzverletzung macht nichts anderes als das Öffentlichmachen des therapeutischen Diskurses. Das Aufbrechen dieses ambivalenten Schutzraumes wird als Provokation empfunden, weniger der Umstand, dass Menschen angemessen und verantwortlich über ihre Probleme sprechen. Hinter der Forderung nach Schutz der Anrufer vor Exhibitionismus und Voyeurismus steckt vielmehr die Forderung nach Anonymisierung therapeutischen Sprechens. Auf Grundlage der psychotherapeutischen Gespräche, die Brigitte Lämmle jeden Samstag führt, ist erstmals ein solches Sprechen nach- und überprüfbar geworden. Auch hier gilt es, einen Blick in die Fachliteratur zu werfen. In nahezu allen Fachbüchern und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen dominiert ein narrativer Stil, mit welchem Fachleute ihre Gespräche und ihre therapeutischen Erfolge nacherzählen. Zu keinem Zeitpunkt ist dem Leser je die Möglichkeit gegeben, den eigentlichen therapeutischen Prozess selbst nachvollziehen bzw. überprüfen zu können. Wie ein blinder Fleck durchzieht diese Auslassung die psychologische Literatur. Weil Brigitte Lämmle ihr therapeutisches Sprechen öffentlich macht, hat sie zugleich auch durch ihre Gespräche Qualitätsstandards formuliert, die als Maßstab 119
dienen: nicht nur in Hinblick auf das, was ein psychotherapeutisches Gespräch zu leisten vermag, sondern auch unter der Maßgabe, eine breite Öffentlichkeit auf ein psychotherapeutisches Anforderungsprofil hin kompetent zu machen. Im Sinne dieser Zielsetzungen ist auch der Entschluss gefasst worden, authentische Gespräche zu veröffentlichen. Durch deren rekonstruierende Kommentierung werden zugleich aber auch Prinzipien und Methodik psychotherapeutischen Sprechens der systemischen Familientherapie transparent gemacht.
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AMBIVALENZ Gespräch mit Gerda
Ambivalenz Ambivalenzen sind normal. Sie gehören zu jedem Entscheidungsprozess dazu und natürlich auch innerhalb des Erwachsenwerdens und betreffen die Ablösung schlechthin. Erlebt haben wir es alle. Da ist auf der einen Seite die Vorfreude aufs eigene Leben, auf Selbstständigkeit und Eigenbestimmung, auf der anderen Seite aber erleben wir die Schmerzen, die mit jedem Abschied einhergehen. In einer Ursprungsfamilie, in der eine erweiterte Welt lebt, wird die Ablösung und die Notwendigkeit dieses von Ambivalenzen bestimmten Prozesses konstruktiv gelöst. Kinder und Jugendliche werden in ihren Entscheidungsprozessen gestützt und in ihrer Verselbstständigung unterstützt, indem sie die Erfahrungen machen, dass sie Schritt für Schritt ins eigene Leben gehen können. Neben dem Abschiedsschmerz erfahren sie nämlich die Gewissheit, dass sie gleichzeitig ihren Eltern etwas Gutes tun. Auf diese Weise lernen sie, auf der Klaviatur des Sowohl – Als auch zu spielen und werden in ihrem Ablösungsprozess nicht von einem Entweder – Oder zerrissen. 121
Ursprungsfamilien, in welchen das Entweder-Oder dominiert, sind versteinerte Welten: ›Entweder du lebst dein eigenes Leben ohne deine Eltern und mit deren Enttäuschung oder du bleibst bei deinen Eltern ohne Eigenständigkeit und mit tiefer Unzufriedenheit.‹ Eine andere Variante ist: ›Es ist richtig, dass du dein eigenes Leben führst, aber du kannst es nicht tun, weil deine Eltern leiden. Diese wünschen sich aber gleichzeitig: Werde endlich selbstständig und erwachsen‹. Wie auch immer dieser Double-bind formuliert ist: Es gibt nur eine Entscheidungsachse – und jede Entscheidung ist falsch! Solche Doppelbotschaften sind typisch für versteinerte Welten und scheinbar nicht auflösbare Ambivalenzen. Wer diese Doppelbotschaften aushalten muss, wird permanent zwischen zwei Kräften hin- und hergerissen, die an ihm ziehen. So ist es letztendlich gleichgültig, was man macht. Es ist und wird immer falsch sein, weil jegliche Entscheidung immer zugleich richtig wie auch falsch ist. Versteinerte Welten sind – so merkwürdig es klingen mag – niemals eindeutig und klar strukturiert. Das Nichtentscheiden-Können, welches das Verhalten ambivalenter Persönlichkeitsstrukturen bestimmt, steht im Vordergrund. Die Furcht vor den Folgen konsequenten Verhaltens lässt Entscheidungen immer nach beiden Seiten hin offen sein dergestalt, dass jede Entscheidung an sich problematisch ist. Diese Kultur der Doppelbödigkeit findet sich in Familiensystemen, in welchen nur schwer Grenzsetzungen praktiziert werden und wo es zugleich unter den Familienmitgliedern nur schwach ausgeprägte Hierarchien gibt. Dies hat zur Folge, dass zwischen Vater, Mutter und 122
Kind(ern) rigide Koalitionen möglich werden, in welchen das Entweder – Oder auf der Beziehungsebene eingeübt wird. Alle Faktoren zusammen ergeben Versteinerungen innerhalb des Familiensystems, das aus normalen Ambivalenzen Double-binds werden lässt, die die Betroffenen in die Zerrissenheit des Unauflösbaren bringt. Auf der Handlungsebene führt dies zu einer Erstarrung, wodurch das versteinerte System bestätigt und gestützt wird. Erstarrungen zementieren gleichsam die Versteinertheit solcher Systeme, aus welchen es aus eigenen Kräften keinen Ausweg gibt. Um der Zerrissenheit Herr zu werden, suchen die Betroffenen, ein Gleichgewicht zu schaffen. Da dies in einer Entweder-Oder-Struktur nicht möglich ist, werden Hilfskonstrukte eingeführt, die den Zustand erträglich scheinen lassen: Zu solchen Hilfskonstrukten gehören Magersucht, Stress, Suchtmittel oder die ›Flucht‹ in die Schizophrenie in Form von Hebephrenic (Jugend-Irresein). Das folgende Beispiel einer ambivalenten Persönlichkeitsstruktur macht deutlich, von welchen Konflikten deren Lebensfluss bestimmt war und wie über die therapeutische Intervention der Ambivalenz-Verschreibung ein Weg aus der Unlösbarkeit des Entweder-Oder beschrieben werden kann.
Gespräch mit Gerda (Brigitte Lämmle: B. L, Gerda: G.) B. L:
Herzlich willkommen und guten Abend Gerda. Du bist die Erste heute Abend. Hallo.
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G.: B. L: G.:
B. L: G.:
Ja. Hallo Cordula. Ach, Cordula – ach, so astrein. Haben wir alles gestrichen. Ich grüße dich und du erzählst. Hallo Brigitte. Ja. Äh. Ja. Ich bin 39, bin seit 20 Jahren verheiratet, hab 3 Kinder im Alter von 9, 7 und 4 Jahren. Äh, hab mächtig viel Therapieerfahrung. Bin also vor … ja, bin von 1984 bis ’91 in Therapien gewesen. Ich war erst magersüchtig, dann bulimisch und hab in der Zeit eigentlich alle Therapien durchlaufen, die man nur durchlaufen kann. Ambulant, stationär und … Na ja, und dann, äh, mh, hab ich so, als ich 30 war, hab ich dann meine erste Tochter bekommen und hab seitdem also keine Therapie mehr gemacht, weil ich’s auch irgendwo leid war. Und, ja, so vor zirka 6 Wochen hab ich so einen absoluten Zusammenbruch gehabt, also so körperlich, nervlich völlig am Ende, dass ich auch ärztliche Hilfe benötigt habe. Und jetzt, ja … jetzt ist meine Frage irgendwo, ob es Sinn macht, jetzt noch mal irgendwo eine Therapie anzufangen oder … ja … Mh, mh, mh. Das heißt jetzt, das ist nahe gelegt worden, noch mal eine Therapie zu machen? Ja. Ja. Also ich hab, nachdem ich die ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hab, ist mir dann gesagt worden, ich sollte zu einem, ja, zu einem Ps … Psychiater. Und der hat mich darauf … der hat mich auch krankgeschrieben in der Zeit. Und, äh, mh ja, und er meinte, es wäre sinnvoll mit ’ner Gruppentherapie: Und dann hab ich 124
B. L: G.: B. L: G.:
B. L: G.: B. L: G.:
B. L:
G.: B. L:
G.: B. L:
noch mit jemandem andern gesprochen und der sagte, es wäre ganz nett eine Einzeltherapie. Ja. Und jetzt bin ich eigentlich Therapie leid und weiß jetzt nicht, äh, ja … Sag mal, krankgeschrieben bedeutet, dass du berufstätig bist. Ja. Auch noch. Mh. Drei Kinder Berufstätig und ich bin, ja, vor drei Wochen fertig geworden, ich hab noch eine Zusatzausbildung über ein Jahr gemacht. Bin noch zur Schule gegangen abends. Also, wie viel Stunden berufstätig? Mm, dreimal vormittags in der Woche. Und wie lange mit der, mit der Ausbildung pro Tag beschäftigt? Ja, das war, äh, einmal in der Woche, vier Stunden, ein bisschen Vorbereitungszeit und öfter an den Wochenenden. Also, so das Naheliegende wär ja so, wenn ich so meine richtig mütterliche Art rausholen würde, wär das Naheliegende ja zu sagen, ähm: »Bist du auch gut ausgeschlafen, hast du deinen Orangensaft getrunken und bist du mittags eine Stunde an die frische Luft gegangen?« Ja mit Sicherheit nicht. Also diese mütterlich besorgten Fragen, wo du im Februar vielleicht auch noch eine warme wollene Unterhose … All diese besorgten mütterlichen Fragen beantwortest du mit nein. Mh. Wie kommt es, dass ich trotzdem den Verdacht 125
G.: B. L: G.: B. L:
G.: B. L: G.:
B. L:
G.: B. L:
hab, dass mit Entspannung dir alleine nicht gedient ist? Könnte es sein, dass du doch ein bisschen Stress auch brauchst? Ja, also ohne Stress kann ich nicht. Bitte. Also, ich, ich sag mal, den gesunden Stress, den brauch ich. Könnte es sein, dass du auch … also allen meinen mütterlichen Impulsen zum Trotz, äh, also am liebsten drei Jobs am Tag haben müsstest? Einer, wo du rausgehst, einer wo dein Kopf beschäftigt wird, und einer, der dich so ganzheitlich, kopf-körpermäßig fordert, zum Beispiel als Mama? Ja, ich denke, die, die … Ich hab nicht nur drei, ich hab auch wohl fünf Jobs am Tag. Was hast’ denn noch für Jobs? Drei sind mir eingefallen, wa … Nein, ich, äh, äh … Ich meine, es sind ja nicht nur die Kinder und die … der Mann und die Familie. Denn ist es einmal der Job, dann ist es einmal die Ausbildung, die jetzt zu Ende ist, wo ich mir dann aber jetzt auch schon wieder, weil ich eben fertig bin, ganz viele Dinge vorgenommen habe und auch mache in der Zeit, die dann eben noch so frei ist. Und, äh … Welcher dieser Jobs, das Stichwort war für mich so ganzheitlich, ganzkörperlich. Kopf und Herz, Kopf und Gefühle. Äh, welcher Job ist das? Welcher fordert dich ganz? Meine Familie. Und die steht auch ganz oben. Was, ähm, was bedeutet oder was bewirkt bei 126
G.: B. L:
G.: B. L: G.: B. L.: G.: B. L.: G.: B. L:
G.: B. L: G.:
dir dieser, dieser, dieser ganze Job? Also, der ist Nummer eins. Das spür ich, und das sagst du auch sehr deutlich, aber was bedeutet der für deine ganze Kraft? Ja, der nimmt schon, denk ich mal, so, ja, 90 Prozent in Anspruch. Mh. Das heißt, die andern wären sozusagen Erholung. Insofern wär’s ein ganz krasser Fehler zu sagen, Mädel kapp bei den andern ab, weil die brauchst du ja offensichtlich schon fast zur Erholung. Mh. Zur Strukturierung. Mh. Richtig? Ja. Kommt sehr klar, das Ja. Mh. Das hieße, wenn denn so etwas Mütterliches wie »Zieh warme Wollunterhose an und geh mittags eine Stunde spazieren«, würde das diese 90 Prozent betreffen. Mh. Ja. Wie kannst du dich da entlasten? Ja, das habe ich mich auch schon gefragt. Es ist, ähm, ja, ich, ich, ich hab im Moment, also innerhalb der Familie das Gefühl, ich werd also immer nur, nur … ja … Alle wollen was von mir, ne. Und ich geb ja auch. Und ich geb ja auch gerne. Und ich mach wirklich … mh, ja, ich bin also rund um die Uhr für meine Familie da und mach und tu und … ja, vergess mich da 127
B. L: G.: B. L:
G.: B. L: G.:
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B. L: G.: B. L:
G.: B. L:
so ein bisschen bei. Wie kannst du dich entlasten? Wie kann ich mich entlasten? Wie viel Prozent von diesen 90 Prozent kann dein Mann dir abnehmen? Wie kann die Erholung mit deinem Mann gemeinsam ausschauen? Ähm, wer bringt die Kinder ins Bett? Wie könn … wie kannst du dich entlasten? Ja, also die Kinder ins Bett bringen wir beide. Also, die beiden Ältesten, die gehen alleine … Super. … und der Kleine … der Kleine wird also immer abwechselnd, wenn der eine gerade mal abends weg will, dann macht der andere das. Also das ist so okay. Und mein Mann, der entlastet mich ja auch in den … in den ganzen Zeiten, wenn ich irgendwie beruflich am Wochenende raus bin oder so, dass er dann auf die Kinder aufpasst. Mh. Also so innerhalb, äh, der Familie ist das schon so, wenn der eine nicht da ist, hilft der eine dem andern. Noch mal: Die Arbeit ist eher etwas, wo du dich erholen kannst, wo du rauskommst? Ja. Wo der Stress, den du hast, eher in eine Form transportiert wird, wo es für dich wieder leichter macht, gangbarer macht. Ja. Also es ist mehr Stress zu Hause als, äh, die beiden Jobs, die ich dann noch habe. Jetzt hast du mich ganz konkret gefragt: 128
G.: B. L:
G.: B. L.: G.:
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»Brauch ich noch mal eine Therapie?« Mh. Was war die Diagnose für einen psychiatrischen Besuch? Was meinte der Arzt? Nervenzusammenbruch … Ja. … das heißt … Ja. Ja. Also, ja, es war, ja, es war ein Nervenzusammenbruch und es war ein körperlicher … das war … also es ging gar nichts mehr. Und daraufhin hat, äh, äh, äh, mein Hausarzt dann gesagt, also, äh, ich sollte also zum Psychiater gehen und sollte mich zumindest, äh, medikamen … medikamentös einstellen lassen. Und, äh … Mit welcher Diagnose? Mh. Völlig, ja, völlig überarbeitet oder, oder … Also sie hat, sie hat keine Diagnose gesagt. Also … Erschöpfungsdepression und anschl … oder so was in die Richtung? Ja, so was in der Richtung. Also sehr vage. Mh. Ja, und dann bin ich zu diesem Psychiater hin und der hat eigentlich gesagt … dem hab ich das auch so erzählt und der hat gesagt, also Mädchen weißt du was, eigentlich hast du einen klaren Kopf und wenn du deinen Terminkalender so ein bisschen durchforstest und einiges so wegpackst und so, da brauchst keine Tabletten und … und geh mal nach Hause und, äh, in vier Wochen bist du wieder fit. So ungefähr. 129
B. L: G.: B. L:
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B. L:
Mh. Und deine Frage ist: Soll ich eine Therapie machen? Mh. Meine Frage an dich zurück ist: Wie groß schätzt du deine Möglichkeiten ein, dich in diesem ganzheitlichen Anspruch vom Kopf, Herz und Seele, was du mit 90 Prozent, mit deiner Familie angibst, um wie viel kannst du dich da entlasten? Und wenn, wie? Ich hab das Gefühl, dass du das von der Organisation her ganz gut im Griff hast. Ja, das ist kein … Die Großen gehen alleine ins Bett, bei dem Kleinen teile ich das mit meinem Mann. Jetzt möchte ich ganz gerne wissen … nee, dat hast du gut im Griff. Ja, also organisieren … Das hast du verdammt gut im Griff. Organisieren ist kein Problem, also das ist, äh … Nee, du bist saumäßig gut drauf. Ja. Also muss ich doch noch mal … das bist du wirklich … muss ich doch noch mal zu meinem mütterlichen Impuls von einer Stunde spazieren gehen und einer Vitaminpille und einer warmen Unterhose zurück. Wie entspannst du dich mit deinem Mann? Indem wir zusammen in den Garten gehen. Wir gehen gerne in den Garten, also es ist keine Arbeit, es ist also eher wirklich Erholung. Wunderbar. Buddeln und Narzissen … 130
G.: B. L: G.: B. L:
G.:
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An der frischen Luft, genau. Sehr schön. Wie erholst du dich noch mit deinem Mann? Mh. Was würde passieren … Ich, ich möchte dich nicht jetzt so in eine platte Entspannungsrichtung bringen. Ich hab das Gefühl, das bringt nichts. An … Nur mal angenommen, da möchte ich gerne einsteigen, angenommen, ihr würdet ein Lotto-Gewinn machen und das … der LottoGewinn hieße, eure Kinder werden von einer guten Fee betreut und ihr kriegt drei Wochen, äh, Inselleben im frühlingshaften, warmen Wetter. Und du und dein Mann, ihr würdet alleine hinfliegen. Ja wunderbar, wenn ich weiß, dass meine Kinder gut aufgehoben sind, ist das auch kein Problem. Wann hast du das das letzte Mal mit deinem Mann zusammen erlebt? Gar nicht. Wir haben … Also … … wir haben also heut noch drüber gesprochen. Wir haben ja jetzt bald unsern 20. Hochzeitstag, und da haben wir uns eigentlich vorgenommen mal von Samstag auf Sonntag ein … eine Übernachtung ohne Kinder. Wie kannst du wissen, dass dir das gut tut, wenn du’s noch gar nicht ausprobiert hast? Ja, das … Ich hab nämlich eher fast die Sorge, dass es dir nicht gut tut. 131
G.: B. L:
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Nee, es kann … es, es, es … ich, ich kann auch nicht ohne meine Kinder. Und jetzt haben wir’s vielleicht. Also wieder. Und da rennst du wie so ein Hamsterrad, in so einem Hamster … in so einem Rad rum, sozusagen. Ich brauch einerseits diese drei Wochen Kreta … Mh. … und ich stell mir das herrlich vor. Und andererseits tu ich aber alles, damit diese drei Wochen Kreta nicht zustande kommen. Ja, ich hab’s immer auf das, auf das Alter der Kinder gestellt. Naaa.!.. Also, wieso kannst du mir sagen, es täte mir gut, wenn du gleichzeitig alles dafür tust, dass diese drei Wochen nicht zustande kommen. Und jetzt denken wir noch einen Schritt weiter. Angenommen, die gute Fee würde dir auch noch deine Ängste nehmen können und sagen: »Du kannst fahren.« Fahr mit deinem Mann nach Kreta, und du imaginierst die Vorstellung, du wärst mit deinem Mann alleine da. Rutscht dir da immer noch so sehr dieses Wort »schön« raus? Das wär, ähm … find ich langweilig. Aha! Das heißt, in der Imagination mit meinem Mann zusammen, ohne drei Kinder, ohne Gartenarbeit, ohne Ausbildung, ohne Job, das wäre langweilig? Mh ja, doch. Was machen zwei Menschen, die all das zu Hause lassen können, auf dieser Insel Kreta? Sie 132
G.: B. L:
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müssten Nähe zulassen. Wie bitte, ich hab dich jetzt nicht verstanden. Sie müssten Nähe zulassen. Sie müssten sich auf einander einlassen können. Sie müssten sich komplett öffnen können und so komplett wieder zumachen können. Wann hast du das das letzte Mal mit deinem Mann gemacht? Es ginge darum, ob Sexualität geliebt werden kann. Es ginge darum, ob werben und verführen überhaupt noch stattfinden kann. Ich will dir keine Ehekrise an den Hals hängen. Das möchte ich … Du bist ja ein Schläuerchen, ich muss da ein bissel vorsichtig sein. Nee, kannst du auch nicht. Ich möchte nur diesen Punkt aufgreifen. Wozu brauchst du den ganzen Stress? Angenommen, wir würden es wirklich schaffen, den Teil des Stresses wegzunehmen, damit du dir die Zeit für das nimmst, was eigentlich anstehen würde. Mh. Nee, das kann ich nicht aushalten. Richtig! Du würdest dich immer wieder dafür entscheiden, zu dem Stress zurückzukommen. Richtig. Wenn ich mit ihm alleine irgendwo wär, dann würde ich mit Sicherheit, was weiß ich nicht, ein Surfkursus, ein Tauchkursus und was weiß ich nicht alles machen. Um nicht mit ihm ins Bett zu gehen? Auch vielleicht, ja. Eben. Aber das, äh … ja, da kann ich ja nicht vor weglaufen. Nee, aber es erzwungenermaßen hinzunehmen 133
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wär auch langweilig. Äh, naja. Und so weiter. Meine liebe Gerda, deine Frage war, soll ich noch mal in eine Therapie? Mh. Du hast dich verdammt gut eingerichtet. Und es steht mir überhaupt nicht zu, da irgendetwas besser zu wissen. Ich glaube, dass du dir ein Gleichgewicht geschaffen hast, wovor ich hohen Respekt hab. Und gleichzeitig bin ich felsenfest davon überzeugt, dass du einen Schritt weitergekommen bist. Du bist nicht zurückgefallen, sondern du hast einen Riesenberg erklommen, du hast dich ungeheuer stabilisiert. Das möchte ich gerne, dass du das ganz fest in beiden Händen hälst. Du hast dich ungeheuer stabilisiert. Und für mich wäre jetzt dran, ein Schritt weiterzugehen. Du bist nicht austherapiert oder du hast deine Probleme, aber du bist reif geworden, du bist erwachsen geworden. Du hast dich ungeheuer in die Hand genommen. Du bist stabil geworden. Und gerade deswegen traue ich mich, dir einen Vorschlag zu machen, in dieser Stabilität einen Schritt weiterzumachen. Hinzuschauen, was passiert mir, wenn ich einen Schritt näher auf meinen Mann zukomme? Was passiert mit meiner Sexualität, mit meiner Nähe? Insofern könnte ich mir vorstellen, vielleicht auch nur als Schnupperprobe, drei, vier, fünf Sitzungen als Paar, nicht mehr als identifizierte Patientin oder ausgemachte Patientin, sondern als reife Frau, die sagt, und ich 134
G.: B. L:
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B. L:
guck mir jetzt noch mal ein bisschen meine Partnerschaft von außen an, im Sinne von noch reifer werden, nicht auf der Suche nach Problemen. Ja, aber ich glaub, da zieht mein Mann nicht mit. Glaub ich. So, jetzt schluck du erst mal, schluck du erst mal. Deinen Mann wollen wir jetzt gar nicht erst reinholen. Wie geht’s dir mit der Idee? Denn dein Mann würde mitgehen, je bestimmter du das vorträgst. Jetzt kneifst du grad, meine Süße, und das weißt du. Erwischt. Erwischt. Ich … ich hab ja schon zwei Termine bei der … bei, bei, bei einer ganz lieben Frau, wo ich denn dann auch hingehen sollte. Nein, nein, nein, wir bleiben jetzt ganz dicht bei mir. Du haust jetzt nicht in eine Einzeltherapie ab. Du bist ganz reif geworden, weise geworden, und jetzt ist der nächste Schritt dran. Und der ist zu zweit dran. Und du weißt ganz genau, dass dein Mann mitgehen würde, wenn du ganz entschlossen sagen würdest, ich möchte mir jetzt anschauen, wir wir’s … wie wir’s uns einrichten können, tatsächlich drei Wochen Kreta miteinander zu spielen, oder vielleicht anderthalb Tage. Man soll ja nicht gleich beim Gröbsten anfangen. Und damit bitte ich dich dranzubleiben. Wie du dich entscheidest, es ist lediglich ein Angebot, wird bei dir, äh … werde ich bei dir lassen. Aber zusammen zu schauen nach 135
G.: B. L: G.: B. L: G.: B. L:
G.: B. L: G.: B. L: G.: B. L: G.: B. L:
einer systemischen Paar- und Familientherapie, nach einer Adresse? Ja. Ja. Ja. Ja. Du hast es geschafft. Ich würde dich, äh … würdest du das zulassen, du wärst hier und ich würde dich ganz fest drücken? Ja. Dann tu ich das. Danke. Ganz fest. Und du bleibst bitte dran. Ja, mach ich. Alles Gute. Ja. Tschüss Brigitte, danke. Tschüss.
Gesprächsanalyse (Brigitte Lämmle:
B. L, Gerda:
G.)
Was für ein Gesprächsauftakt! Gerda, die erste Anruferin des Abends, begrüßt nicht Brigitte, sondern eine Cordula: B. L:
Herzlich willkommen und guten Abend Gerda. Du bist die Erste heute Abend. Hallo. G.: Ja. Hallo Cordula. Ach, Cordula – ach, so astrein. Ist es die Aufregung, die Gerda vergessen lässt, dass sie mit Brigitte spricht? Eher unwahrscheinlich! Da die meisten Anrufer ein Pseudonym wählen, ist es viel nahe 136
liegender, dass »Gerda« in Wirklichkeit »Cordula« heißt. Das heißt aber: Gerda begrüßt sich selbst. Warum aber gleich zu Anfang dieser Versprecher? Warum begrüßt Gerda sich selbst als Cordula? In welcher Beziehung steht Gerda zu Cordula und umgekehrt? Die Anruferin scheint »zwei Seelen in einer Brust« zu haben. Da ist zum einen Cordula: eine Frau, die auf diesen Eigen-Namen getauft wurde, von ihren Verwandten und Bekannten so angesprochen wird und als Cordula im Leben steht und ihren Alltag meistert. Man sagt zu Eigennamen auch Ruf-Namen, d.h. jener Name, mit welchem sie angesprochen wird und durch welchen man sie ruft (etwa: »zur Hilfe rufen«, »zur Ordnung rufen«, »aufrufen«, »beim Namen rufen« im religiösen Sinne von »erkennen« etc.). Neben Cordula aber gibt es noch eine andere »Seele«: Gerda. Sie ist die inoffizielle, unbekannte Seite von Cordula, die unhörbar für andere in Cordula lebt und mit welcher sie ihre inneren Monologe führt. Gerda ist das Pseudonym der anderen Cordula. Im Versprecher wird offensichtlich, dass Gerda und Cordula nicht identisch sind. Gerda möchte über ihr Problem sprechen und ruft Cordula an: »Hallo Cordula!« Das heißt: Ein anderer, fremder Name ruft den EigenNamen. Gerda ist es, die ein Problem artikuliert und Cordula zur Rede stellt. So wird es seit Jahren sein, und beide haben eine lange Gesprächserfahrung. Mit dem Entschluss, bei »Lämmle live« anzurufen, hat sich Cordula dazu entschlossen, dieses geschlossene System zu öffnen und den Gerda-Teil öffentlich zu machen. Dieser Schritt ist verbunden mit der Hoffnung, dass Brigitte in der Position von Cordula das Gespräch mit Gerda aufnimmt und zugleich die Verantwortung übernimmt. 137
Ein ungeheuerer Entschluss, in welchem eine ungemeine Ressource- und Lösungsfähigkeit zum Ausdruck kommt, deren Möglichkeiten im Gespräch herausgearbeitet werden müssen. Zugleich aber auch ein Indiz, dass Cordula/Gerda bereit sind, sich auf das Gespräch einzulassen und ihre monologisierende Problemlösehaltung aufzubrechen. ›Einlassen‹ heißt in diesem Kontext: Cordula ist bereit, das ihr Fremde und damit ihr Problem aus der eigenen Höhle zu entlassen und ihm eine Stimme zu geben bzw. zu verobjektivieren. Ein erster Satz allein hat in äußerster Verdichtung zum Ausdruck gebracht, wie sich die Anruferin definiert und wie sie sich zugleich von dieser Definition bestimmt fühlt. Bevor überhaupt das Problem von ihr auf Inhaltsseite ausgesprochen wurde, haben sich im Versprechen die Grundbezüge ihrer Befindlichkeit gegenüber sich und ihrer Umwelt dargelegt. »Ach, Cordula – ach, so astrein« – die Selbstkommentierung des Versprechers öffnet auch den Blick auf die moralische Dimension des Konflikts, den Cordula mit sich austrägt. Auch hier findet wiederum eine Ersetzung statt, aus welcher deutlich wird, dass die »Cordula« mit »so astrein« assoziiert wird. »Astrein« heißt umgangssprachlich: moralisch einwandfrei, ohne Fehl; mit dem Adverb »so« bekommt dieses »ohne Fehl« eine selbstironisch-resignative Brechung und Färbung, die wiederum auf die im Dialog stehenden »zwei Seelen« und auf das Auseinanderklaffen zwischen eigener und fremder Personalität verweisen. Allein schon aus dieser Gesprächseröffnung ist Brigitte deutlich geworden, dass Cordula eine ambivalente Persönlichkeitsstruktur hat, die immer auf eine versteinerte 138
Welt verweist. Ohne dass Gerda/Cordula über ihr Problem gesprochen hat, weiß Brigitte, dass sie im Folgenden verstärkt auf Ambivalenzen zu hören hat, aus deren Spannungsfeld Cordulas Probleme erwachsen. Mit der Feststellung »Haben wir alles gestrichen« sucht Brigitte erst einmal zu entlasten und eine neue Gesprächseröffnung zu initiieren. Gerda ist jetzt in der Lage, ihr Problem darzulegen: G.:
Hallo Brigitte. Ja. Äh. Ja. Ich bin 39, bin seit 20 Jahren verheiratet, hab 3 Kinder im Alter von 9, 7 und 4 Jahren. Äh, hab mächtig viel Therapieerfahrung. Bin also vor … ja, bin von 1984 bis ’91 in Therapien gewesen. Ich war erst magersüchtig, dann bulemisch und hab in der Zeit eigentlich alle Therapien durchlaufen, die man nur durchlaufen kann. Ambulant, stationär und … Na ja, und dann, äh, mh, hab ich so, als ich 30 war, hab ich dann meine erste Tochter bekommen und hab seitdem also keine Therapie mehr gemacht, weil ich’s auch irgendwo leid war. Und, ja, so vor zirka 6 Wochen hab ich so einen absoluten Zusammenbruch gehabt, also so körperlich, nervlich völlig am Ende, dass ich auch ärztliche Hilfe benötigt habe. Und jetzt, ja … jetzt ist meine Frage irgendwo, ob es Sinn macht, jetzt noch mal irgendwo eine Therapie anzufangen oder … ja …
Gerda hat eine professionelle Sucht-Karriere hinter sich. Weite Strecken ihres Lebensflusses sind von einem Suchtseil begleitet. Mit ihrer Essstörung hatte sie ihre 139
Ambivalenz beantwortet, die sich auf folgendes Grundmuster bringen lässt: ›Ich will gehen, kann aber nicht gehen‹ resp. ›Ich will gesund werden, kann aber nicht gesund werden‹. Mithilfe der Sucht gelang es Gerda, ihre versteinerte Welt handhabbar zu machen, d. h. immer wieder ein Gleichgewicht zwischen den Ambivalenzen herzustellen, so dass die Sucht-Welt folgende Gestalt annahm: ›Ich kann mich nicht entscheiden!‹ und: ›Die Kontrolle tut mir gut!‹ bzw. ›Es ist mir alles zu viel!‹ und: ›Strukturierung tut mir gut!‹. An die Stelle des Suchtmittels Nahrung war nach mehreren Therapien das neue Suchtmittel Stress getreten. Gerdas Sprechen und die Art und Weise, wie sie ihr Problem darstellt und in ein Orientierungsgerüst stellt, konkretisieren die Kontroll- und Strukturierungsmechanismen ihrer Sucht-Welt. Ordnungsgerüst:
Der inneren Zerrissenheit, wie sie im Versprecher zum Ausdruck kam, setzt Gerda ein Ordnungsgerüst aus Zahlen und Daten entgegen: »… 39, … 20 … , 3 …. 9, 7 und 4 … 1984 bis 91 … 30 … zirka 6 … Verknüpfungen:
Der rote Faden, durch welchen Gerda ihrem Leben einen Zusammenhang und Zusammenhalt geben kann, ist ein additiver und äußerlicher, der durch die Konjunktion »und« erfolgt. Ihren Lebensfluss empfindet sie als ein Nacheinander ohne innere Bezüge, der nur durch die Therapien einen Sinn aufweist: »… und dann … und … 140
und … und …« Auslassungen:
Je detailfreudiger und gewissenhafter Gerda die Eckdaten und Ereignisse ihres Lebens aufzählt, desto deutlicher treten die Auslassungen hervor, die sie vornimmt. Mit keinem Wort kommt Er vor, ihr Mann und Vater ihrer Kinder. Auch dass Cordula berufstätig ist, wird nicht angesprochen, sondern kann nur aus ihrem Hinweis auf ihre Krankschreibung erschlossen werden. Nur indirekt ist dieser Er anwesend: in den Schilderungen ihrer Erkrankungen. Schließlich ist auffällig, dass Gerda große Schwierigkeiten hat, »Ich« zu sagen. Ihre IchAuslassungen lesen sich wie folgt: »… Ich bin … bin … hab … hab … bin … bin … hab ich … hab ich … hab …« Aus Gerdas Schilderung ihres Problems lässt sich abermals ablesen, dass sie sich fortwährend von zwei »Seelen« in Anspruch genommen fühlt, die sich gegenseitig ausschließen. Diese zwei Seiten ihrer Ambivalenz lassen sich als Gegensätze bestimmen: Fremd – eigen, innen – außen, (inneres) Sprechen – (äußeres) Sagen, Gerda – Cordula. Die zentralen Gegensatzpaare dieser Grundkonstellation, die das Fühlen, Denken und Handeln von Gerda bestimmen, sind: Annehmen – ablehnen, aktiv – passiv, Magersucht – Bulimie, ärztliche Hilfe – körperlich, nervlicher Zusammenbruch, gesund – krank, Distanz – Nähe. Letzteres Gegensatzpaar nimmt Brigitte auf, weil es durch die Problemlage von Gerda und durch ihre momentane Situation angesprochen ist. Schließlich gründet hierin ja auch die zur Konkretion gewordene Frage an Brigit141
te, mit der Gerda das Gespräch gesucht hat: B. L.:
Mh, mh, mh. Das heißt jetzt, das ist nahe gelegt worden, noch mal eine Therapie zu machen?
Therapie und Distanz auf der einen Seite – Nähe durch Familie, Kinder, Ehemann und Beruf auf der anderen Seite. Gleichzeitig aber ist Therapie und Distanz von Nähe zu sich selbst bestimmt, während die Nähe der Gerda von ihrer Distanz (Auslassung) zu ihrem Ehemann gekennzeichnet ist. Die ambivalente Konfusion von Eigen und Fremd, wie sie im ersten Versprecher zum Ausdruck kam, wiederholt sich auf der Ebene von Nähe und Distanz, wobei keine Trennschärfe noch Selbstdefinition erkennbar ist. Doch gleichzeitig hat sich gezeigt, dass Gerda sehr wohl über ein Rüstzeug verfügt, um Ordnung in ihr Chaos zu bringen: Stress. Doch genau diese Kontroll- und Strukturierungsmechanismen sind das eigentliche Problem, an welchem Brigitte ansetzt. Gerdas momentaner Zusammenbruch ist kein Rückfall in die Essstörung, sondern ein Vorfall aufgrund stressbedingter körperlicher Erschöpfung. Gerdas Angst vor einer erneuten Therapie ist die Angst vor dem Eingeständnis, wieder süchtig geworden zu sein. Dass sie sich an ihren Kontrollmechanismen als neuem Suchtmittel erschöpft hat, kann Gerda nicht sehen. Brigitte will sie in dieser Angst entlasten. In ihrer therapeutischen Haltung begreift sie die EssstörungsKarriere für abgeschlossen, möchte stattdessen Gerda im Hier und Jetzt abholen und Veränderung in Hinblick auf die ambivalente Grundstruktur erreichen. Eine solche therapeutische Zielsetzung möchte zum Ende des Ge142
sprächs ein so genanntes Ja-Set erreichen, an welcher der Therapeut rückgemeldet bekommt, dass der Klient aus der Ambivalenz herausgekommen ist. Der Weg dorthin aber kann nur heißen: Ambivalenzverschreibung. Was heißt das? Wie es sich am Beispiel von Nähe und Distanz gezeigt hat, gibt es bei ambivalenten Persönlichkeiten keine klar definierten Räume. Nähe ist zugleich auch von Distanz bestimmt, und Distanz ist von Nähe durchwachsen. Sehr deutlich kommt dies in folgender Gesprächssequenz zum Ausdruck: B. L:
G.: B. L: G.:
B. L:
Könnte es sein, dass du auch … also allen meinen mütterlichen Impulsen zum Trotz, äh, also am liebsten drei Jobs am Tag haben müsstest? Einer, wo du rausgehst, einer wo dein Kopf beschäftigt wird und einer, der dich so ganzheitlich, kopf-körpermäßig fordert, zum Beispiel als Mama? Ja, ich denke, die, die … Ich hab nicht nur drei, ich hab auch wohl fünf Jobs am Tag. Was hast’ denn noch für Jobs? Drei sind mir eingefallen, wa … Nein, ich, äh, äh … Ich meine, es sind ja nicht nur die Kinder und die … der Mann und die Familie. Denn ist es einmal der Job, dann ist es einmal die Ausbildung, die jetzt zu Ende ist, wo ich mir dann aber jetzt auch schon wieder, weil ich eben fertig bin, ganz viele Dinge vorgenommen habe und auch mache in der Zeit, die dann eben noch so frei ist. Und, äh … Welcher dieser Jobs, das Stichwort war für mich so ganzheitlich, ganzkörperlich. Kopf und Herz, 143
G.: B. L:
G.: B. L:
G.: B. L: G.: B. L: G.: B. L.: G.: B. L:
G.: B. L: G.:
Kopf und Gefühle. Äh, welcher Job ist das? Welcher fordert dich ganz? Meine Familie. Und die steht auch ganz oben. Was, ähm, was bedeutet oder was bewirkt bei dir dieser, dieser, dieser ganze Job? Also, der ist Nummer eins. Das spür ich, und das sagst du auch sehr deutlich, aber was bedeutet der für deine ganze Kraft? Ja, der nimmt schon, denk ich mal, so, ja, 90 Prozent in Anspruch. Mh. Das heißt, die andern wären sozusagen Erholung. Insofern wär’s ein ganz krasser Fehler zu sagen, Mädel kapp bei den andern ab, weil die brauchst du ja offensichtlich schon fast zur Erholung. Mh. Zur Strukturierung. Mh. Richtig? Ja. Kommt sehr klar, das Ja. Mh. Das hieße, wenn denn so etwas Mütterliches wie »zieh warme Wollunterhose an und geh mittags eine Stunde spazieren«, würde das diese 90 Prozent betreffen. Mh. Ja. Wie kannst du dich da entlasten? Ja, das habe ich mich auch schon gefragt. Es ist, ähm, ja, ich, ich, ich hab im Moment, also innerhalb der Familie das Gefühl, ich werd also immer nur, nur … ja … Alle wollen was von 144
B. L: G.: (…) B. L: G.: B. L:
G.: (…) B. L:
G.: B. L:
G.: B. L:
mir, ne. Und ich geb ja auch. Und ich geb ja auch gerne. Und ich mach wirklich … mh, ja, ich bin also rund um die Uhr für meine Familie da und mach und tu und … ja, vergess mich da so ein bisschen bei. Wie kannst du dich entlasten? Wie kann ich mich entlasten? Noch mal: Die Arbeit ist eher etwas, wo du dich erholen kannst, wo du rauskommst? Ja. Wo der Stress, den du hast, eher in eine Form transportiert wird, wo es für dich wieder leichter macht, gangbarer macht. Ja. Also es ist mehr Stress zu Hause als, äh, die beiden Jobs, die ich dann noch habe. Meine Frage an dich zurück ist: Wie groß schätzt du deine Möglichkeiten ein, dich in diesem ganzheitlichen Anspruch vom Kopf, Herz und Seele, was du mit 90 Prozent, mit deiner Familie angibst, um wie viel kannst du dich da entlasten? Und wenn, wie? Ich hab das Gefühl, dass du das von der Organisation her ganz gut im Griff hast. Ja, das ist kein … Die Großen gehen alleine ins Bett, bei dem Kleinen teile ich das mit meinem Mann. Jetzt möchte ich ganz gerne wissen … nee, das hast du gut im Griff. Ja, also organisieren … Das hast du verdammt gut im Griff. 145
G.:
Organisieren ist kein Problem, also das ist, äh …
In dieser (gekürzten) Gesprächssequenz wird die ganze Widersprüchlichkeit offensichtlich, die durch Gerdas Ambivalenz hervorgebracht wird: Einerseits »steht (meine Familie) auch ganz oben«, doch andererseits nehmen Ausbildung und Beruf »90 Prozent in Anspruch«. Obwohl das »Organisieren kein Problem« darstellt, ist auch dieser Bereich der Selbststrukturierung mit diesen Widersprüchen durchsetzt. Was Gerda anscheinend »verdammt gut im Griff« hat, ist selbst Suchtmittel und deshalb Mittel zum Zweck, um die Ambivalenzen mehr oder minder kontrollieren zu können. Eine solche Struktur erlaubt es, permanent aus jeglicher Eindeutigkeit zu flüchten. Um also jemanden aus seiner Ambivalenz führen zu können, müssen ihm gleichsam die Fluchtwege abgeschnitten werden. Dies ist möglich, indem man sie vorab benennt und zur Aufgabe macht. In diesem Sinne führt Brigitte das weitere Gespräch. In einem ersten Schritt bespricht Brigitte mit Gerda die Kontroll- und Strukturierungsmechanismen ihrer Sucht-Welt, um im zweiten Schritt die Ambivalenzen mit ihr erarbeiten zu können. »Mh. 3 Kinder«; »Also, wie viel Stunden berufstätig?«, »Und wie lange mit der, mit der Ausbildung pro Tag beschäftigt?«. Gezielt spricht Brigitte Gerda in jener Sprache an, in welcher sich diese sicher fühlt: Organisation und klare Rasterung des Alltags sind jene Felder, auf welchen sich Gerda verbal wie emotional auf sicherem Terrain fühlt (O-Ton Gerda: »Organisieren ist kein Prob146
lem«). Immerhin ist es ja auch eine organisatorische Höchstleistung, wenn eine berufstätige Frau mit 3 Kindern ihre Aufgaben derart meistert. Mutterpflichten, Berufstätigkeit und Ausbildung sind Bereiche, in welchen Gerda eine gesunde Mischung von Nähe und Distanz zu leben in der Lage ist. Auf dieser Grundlage ist es nun möglich, eine erste Dimension von Nähe anzusprechen, über deren Ressource Gerda verfügt: die mütterliche Nähe als Metonymie von Versorgung und Schutz. Mit anderen Worten: Brigitte beginnt nun auszumessen, wie das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den »zwei Seelen« bestimmt ist in Hinblick auf Selbstschutz und Selbstversorgung. Schnell zeigt sich, dass Gerda für ihre Stabilität »gesunden Stress« braucht, um ›krank machende Nähe‹ aufschieben zu können. Das »Naheliegende«, d.i. die Selbstversorgung, ist als Entspannung eher krank machend als förderlich: B. L:
Wie kommt es, dass ich trotzdem den Verdacht hab, dass mit Entspannung dir alleine nicht gedient ist? Könnte es sein, dass du doch ein bisschen Stress auch brauchst?
Die Kontrolle von Distanz und Nähe durch Stress ist Gerdas Antwort auf ihre Ambivalenzen; und dieser Stress erlaubt es ihr, diese in ihren Wirkungen zu organisieren: Dass aber die ›krank machende Nähe‹ auch etwas mit den Auslassungen zu tun haben muss, die ihr Sprechen bestimmen, liegt auf der Hand. Doch noch ist es zu früh, mit Gerda über diese bedeutungsvolle Leerstelle in ihrem System zu sprechen. 147
Deshalb klopft Brigitte zunächst alle Bereiche von Gerdas Lebenswelt ab, um sicher zu gehen, dass die oben beschriebene Grundstruktur sich auf allen Ebenen artikuliert. So ergibt sich folgendes Schema, nach welchem Gerda ihre Wirklichkeit konstruiert und ihre Umgebung wahrnimmt: Gesunder Stress Beruf, Ausbildung, Kinder Distanz Organisation Kopf
vs. vs. vs. vs. vs.
krank machende Nähe Ehemann Nähe Chaos Bauch
Diese Gegensatzpaare bedingen eine Eigendynamik, die über Stress immer zu Gerdas Zusammenbrüchen führen. Je mehr sie die Gefahr krank machender Nähe glaubt zu verspüren, desto mehr lädt sie sich mit distanzgebender Arbeit auf. Das Übermaß an Belastung, das zwar dem Gefühlsbauch scheinbar Entlastung bringt und über den Kopf gesteuert wird, hat den körperlichen Zusammenbruch (»Nervenzusammenbruch«) zur Folge, der dann unter dem Aspekt »vergess mich da so ein bisschen bei« wahrgenommen wird. Dass in diesem Vergessen auf buchstäbliche Weise die Essproblematik wieder gegenwärtig ist (›vergessen‹), verdeutlicht nochmals, wie sehr in und mit Gerda ihre Sprache spricht. Fazit zum Ende des ersten Teils des Gesprächs ist: Gerda artikuliert eine ambivalente Beziehung zwischen Nähe und Distanz, Eigenem und Fremden, die gleichsam notwendig ist, um das Kernproblem umgehen zu können. Das Kernproblem ist aber bislang nur über Auslassung angesprochen und durch Ausgrenzung bestimmt: Gerdas ambivalente Beziehung zum (Ehe-)Mann. 148
Mit der Frage »Wie kannst du dich entlasten?«, welche Gerda unmittelbar spiegelt, ist die Phase der Anamnese abgeschlossen. Brigitte kann jetzt auf dieser Grundlage mit Gerda eine Lösung erarbeiten, d.h. sie behutsam an die Auslassung heranführen. Über die Frage nach der Entlastung, die Gerda selbst nicht bewältigen kann, führt Brigitte den Ehemann ins Gespräch ein: B. L:
Wie viel Prozent von diesen 90 Prozent kann dein Mann dir abnehmen? Wie kann die Erholung mit deinem Mann gemeinsam ausschauen? Ähm, wer bringt die Kinder ins Bett? Wie könn … wie kannst du dich entlasten?
»Wie könn …« – Brigitte stockt noch, um noch nicht zu offensiv Gerdas Beziehung zu ihrem Mann unter den Aspekten Nähe und Distanz zu thematisieren. Vielmehr lässt sie zunächst Gerda erkennen, nach welcher Ordnung oder Struktur sie Nähe und Distanz organisiert, um auf diesem gesicherten Fundament schließlich die Kernfrage zu stellen: »Wie entspannst du dich mit deinem Mann?« Ausgehend von der Frage »Soll ich nochmals eine Therapie anfangen« hat Brigitte sich dem Kernproblem genähert. Rasch zeigt sich, dass Gerdas AmbivalenzProblem die Definition von körperlich-sexueller Nähe gegenüber ihrem Mann ist, das sich anscheinend nicht mehr mit den gängigen Mechanismen kontrollieren und organisieren lässt. Das Gedankenspiel »Kreta-Urlaub« erlaubt Gerda zu erspüren, wie sehr sie sich hiervor fürchtet und ihre ganze organisatorische Kopfarbeit darauf abzielt, eine solche Nähe unter Eheleuten/zwischen Frau und Mann zu verhindern: 149
B. L:
G.:
Was machen zwei Menschen, die all das zu Hause lassen können, auf dieser Insel Kreta? Sie müssten Nähe zulassen. Wie bitte, ich hab dich jetzt nicht verstanden.
Wie dicht Brigitte in diesem Gespräch an das eigentliche Kernproblem von Gerda gekommen ist, wird in deren Nichtverstehenkönnen nochmals sehr deutlich. Um ihre Fluchtwege abzuschneiden, beginnt Brigitte damit, Ambivalenzverschreibungen ins Gespräch einzuführen: B. L:
G.: B. L:
G.: B. L:
Naaa.!.. Also, wieso kannst du mir sagen, es täte mir gut, wenn du gleichzeitig alles dafür tust, dass diese drei Wochen nicht zustande kommen. Und jetzt denken wir noch einen Schritt weiter. Angenommen, die gute Fee würde dir auch noch deine Ängste nehmen können und sagen: »Du kannst fahren.« Fahr mit deinem Mann nach Kreta, und du imaginierst die Vorstellung, du wärst mit deinem Mann alleine da. Rutscht dir da immer noch so sehr dieses Wort »schön« raus? Das wär, ähm … find ich langweilig. Aha! Das heißt, in der Imagination mit meinem Mann zusammen, ohne drei Kinder, ohne Gartenarbeit, ohne Ausbildung, ohne Job, das wäre langweilig? Mh ja, doch. Was machen zwei Menschen, die all das zu Hause lassen können, auf dieser Insel Kreta? Sie müssten Nähe zulassen. 150
G.: B. L:
Wie bitte, ich hab dich jetzt nicht verstanden. Sie müssten Nähe zulassen. Sie müssten sich aufeinander einlassen können. Sie müssten sich komplett öffnen können und so komplett wieder zumachen können. Wann hast du das das letzte Mal mit deinem Mann gemacht? Es ginge darum, ob Sexualität geliebt werden kann. Es ginge darum, ob werben und verführen überhaupt noch stattfinden kann. Ich will dir keine Ehekrise an den Hals hängen. Das möchte ich … Du bist ja ein Schläuerchen, ich muss da ein bissel vorsichtig sein.
Brigittes Einengung hat für Gerda entlastende Funktion, weil auf diese Weise das Spiel ›Ich kann mich nicht entscheiden‹ abgebogen wird. Zugleich werden alle »ja, aber«, »auch vielleicht, ja«, »na ja« immer weniger, so dass nur noch »Jas« bleiben. Brigitte ist es gelungen, Gerda aus der Ambivalenz zu führen: »Erwischt!!« und »Du hast es geschafft!« sind Schlüsselsätze, mit welchen Gerda offen eingestehen kann, dass sie ihr ambivalentes Denken und Fühlen verlassen hat. Erst auf dieser Grundlage kann sie auch den Blick nach vorne und in die Zukunft leisten. Das Angebot einer systemischen Paar- und Familientherapie findet deshalb auch Zustimmung.
151
VERSTRICKUNG Gespräch mit Gabriele
Verstrickung Jede Mutter-Kind-Beziehung hat in den ersten Lebensjahren ausgeprägt symbiotische Grundzüge. Die Abhängigkeit des Mängelwesens ›Mensch‹ macht Symbiose als Schutz- und Pflegehaltung notwendig. Doch nicht nur die Beziehung zur Mutter, sondern auch die zur ganzen Familie wird viele Jahre lang von Kindern als symbiotischer Raum erlebt und gelebt, was in seiner Wir-Identität gegenüber dem Familienverband zum Ausdruck kommt. Ablösung ist der erste Schritt aus dieser anfänglich lebensnotwendigen Angewiesenheit des Kleinkindes und zugleich der Anbeginn eines langen Weges, auf welchem die Wir-Identität in eine Ich-Identität aufgelöst und im wahrsten Sinne des Wortes abgelöst wird. Ablösung heißt aber immer auch Grenzsetzung und Abgrenzung. Symbiotische Beziehungen suchen dieses zu verhindern, denn sie täuschen vor, dass das Kind ohne den elterlichen Anderen nicht lebensfähig ist bzw. nicht leben kann. Eine solche Beziehungsstruktur wird spätestens in der Pubertät des Heranwachsenden zum unlösbaren Konflikt gegenüber den elterlichen Bezugspersonen. 152
Mit der Geschlechtsreife gehen eigene Interessen, Aktivitäten und Freundschaften einher, die gelebt und erlebt werden wollen, ohne dass Eltern symbiotisch daran teilnehmen sollen. Die Andersheit, die Jugendliche an sich selbst entdecken, widerspricht aber jeglicher Symbiose, was zur Folge hat, dass der Pubertierende zwar an sich seine Eigenheiten wahrnimmt, doch dieselben zugleich gegenüber seiner symbiotischen Bezugsperson zu verleugnen gezwungen ist. Der Konflikt, der in einer solchen Lebensphase an den Jugendlichen herangetragen wird, lässt sich in einem typischen Kernsatz zusammenfassen: »Ich weiß, was du brauchst!« Vor diesem Hintergrund bleiben die Eigenheiten der Gefühle, der Empfindungen und der Gedanken unartikuliert und können aus der Ohnmacht heraus nur in Phantasien ausgelebt werden. Zu groß sind die Schuldgefühle, die man gegenüber den elterlichen Bezugspersonen hat, als dass die eigene Andersheit ausgesprochen und gelebt werden könnte. Eine fatale Situation, denn zugleich wird damit das Nichtvorhandensein des Symbiotischen geleugnet und nicht manifest. Es findet im wahrsten Sinne des Wortes schlichtweg keine Auseinandersetzung statt, weil eine solche jede symbiotische Beziehungsstruktur gefährden würde. Um aus dieser Beziehungsfalle einen Ausweg zu finden, verlieren sich solche Menschen immer mehr in ihren Phantasien. Dort können sie das ausleben, was ihnen im wirklichen Leben versagt und untersagt ist. Doch damit nicht genug. Weil symbiotische Systeme durch große Unbeweglichkeit gekennzeichnet sind und die Herausbildung einer Ich-Identität nicht zulassen, bleibt solchen Menschen nur eine Gratwanderung zwischen Wirklich153
keit und Phantasie. Mit anderen Worten: Symbiotisch verstrickte Menschen sehen sich unbewusst gezwungen, jenen schmalen Grat mit Leben zu erfüllen, der es ihnen erlaubt, ihre Phantasien mit Wirklichkeitselementen zu verbinden, ohne dass sie das symbiotische System aufgeben müssen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn es ihnen gelingt, Wirklichkeitselemente mit der Phantasiewelt so zu verbinden, dass über lange Zeit die Entscheidung offen bleibt, was Schein oder Sein ist. Erst wenn eine Klärung droht, bleibt meist nur die Flucht nach vorne. Bei solchen Menschen sind daher Kontaktabbrüche keine Seltenheit, weil dies die einzige Möglichkeit ist, nicht an der und in der Entlarvung der eigenen Phantasiewelten zugrunde zu gehen. Gleichwohl aber können Verstricker nur dann überleben, wenn sie mit anderen selbst wiederum eine WirIdentität bzw. symbiotisch strukturierte Verbindungen aufbauen, weil sie sich nur in solchen Beziehungsstrukturen wahrgenommen und verortet fühlen. Nur wenn sie selbst wieder verstricken, leben sie – ansonsten fühlen sie sich aufgrund ihrer äußerst schwach ausgebildeten IchIdentität als Verlorene. Symbiotisch verstrickte Systeme und die Welt der Verstricker bewegen sich immer an der Grenze zum Psychotischen. Ihre Phantasiewelt trägt immer Spuren von Wirklichkeitszeichen, weshalb es so schwer fällt, sich gegenüber den Verstrickungsstrategien klar abgrenzen zu können. Gleichzeitig aber sind Verstricker faszinierende Menschen, deren phantasievolle Lebendigkeit ungemein einnehmend und ansteckend sein kann. Doch all ihren Bemühungen liegt die Angst vor der Einsamkeit, der 154
Verlorenheit und der Enttäuschung zugrunde, die den Mangel ihrer Ich-Identität zum Ausdruck bringen.
Gespräch mit Gabriele (Brigitte Lämmle: B. L, Gabriele: G.) B. L: G.: B. L: G.: B. L: G.:
B. L: G.: B. L: G.:
B. L: G.: B. L: G.: B. L: G.:
Gabriele, ich begrüße dich. Guten Tag, Brigitte. Hallo. Hallo. Du erzählst mir. Okay. Ähm, ich mache seit sechs Monaten eine Therapie, ich habe schon vor gut zweiundzwanzig Jahren eine gemacht. Es war damals eine analytische Therapie in Hamburg. Wie lange? Fünf Jahre. Ja. Und irgendwann, nach fünf Jahren, hat der Therapeut gesagt: »Es ist an der Zeit, dass Sie gehen«, und dann bin ich gegangen. Und dann habe ich immer darauf gewartet, dass irgendetwas passiert, es ist aber nichts passiert. Was sollte denn passieren? Ja, ich dachte irgendein Bumm. Hahaha. Wie so ein Feuerwerkskörper, bummmm! Und was dann? Ja. Kam nichts. Ja, was wäre denn passiert, es hätte bumm gemacht? Ähm, ich dachte, dass mein Problem gelöst
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B. L: G.: B. L: G.:
B. L: G.:
B. L:
G.: B. L: G.:
werden würde. Du, auf den Bumm warte ich auch immer. Ja. Aber es war nicht so. Okay. Also habe ich vor einem halben Jahr gesagt, okay, ich mache noch mal eine Therapie. Und, ähm, wollte eigentlich unbedingt eine Frau haben, unbedingt. Und es war aber dann leider keine Frau, sage ich heute, sondern es war ein Mann. Ja, und … Wie kommt das, von der Krankenkasse zugewiesen? Nein. Ich rief also eine Therapeutin an und die wurde mir empfohlen; dann wurde mir gesagt, von ihr, sie ist also voll besetzt, aber ihr Mann hätte aber noch freie Kapazitäten. »Okay«, sagte sie, »gucken Sie sich es einfach mal an!« – und ich habe gesagt: »Mache ich!« Und er war mir sympathisch und offenbar ich ihm auch und, ja, dann haben wir das gemacht. Das war vor einem halben Jahr. Ich möchte das gerne noch mal ganz klar verstanden wissen. Du rufst bei einer Kollegin an und die sagt: ›Es ist bei mir leider zu, aber mein Mann oder und mein Mann arbeitet in der gleichen Branche und da ist noch eine Stelle frei‹. Ja. Ja. Ja. Ah ja. Also, ich bin da hin, habe mit ihm geredet, irgend, ja, ich dachte, ja, ist okay, geht. Und dann haben wir uns beide entschlossen, dass wir das zusammen machen. Er kannte meine Vorge156
B. L.: G.: B. L.: G.:
B. L: G.: B. L: G.:
schichte, er wusste, dass ich schon erfahren bin. Ähm, ich war verheiratet mit einem Psychologen, der Familientherapeut ist und Kindertherapeut. Ich selbst habe Ausbildungen gehabt, in dieser Richtung, ich bin Lehrer von der Ausbildung. Gut, also haben wir das gemacht. Und ich hätte nie gedacht, nie im Leben, dass ich irgendwann mal, an irgendeinem Zeitpunkt, ähm, ja, so ein, so ein anderes Gefühl für ihn entwickle. Und das ist jetzt passiert? Genau. Du bist in ihn verliebt? Ja. Und er weiß das. Und er hat mir auch eigentlich so, ja, eindeutig zurückgegeben, dass es ihm ähnlich geht. Aha. Ja. Und? Und am letzten Mittwoch, äh, ich hatte ihm vorher so erzählt was, nein, das ist Quatsch, was ich sage, am letzten Mittwoch bin ich hin und habe ihm gesagt: »Ich habe mir gestern überlegt, ähm, eigentlich möchte ich zwei Kerzen mitbringen, die dahinstellen, das Bild meines Sohnes, der mir unendlich wichtig ist« – mein Sohn ist Soldat, der seit vierzehn Tagen nicht mehr in Deutschland ist, er ist mein einzigstes Kind, das ist auch nicht sehr einfach, aber ich werde gut betreut, wunderbar betreut, von der Bundeswehr, aber ich wollte das Bild mitbringen, er sollte dabei sein. Und da habe ich ihm 157
B. L:
G.:
B. L: G.: B. L: G.: B. L: G.: B. L.: G.: B. L.:
gesagt: »Ich wünsche mir, dass ich ihn …« – ich habe mir vorgestellt, dass ich ihn an beide Hände nehme, meinen Therapeuten, und ihm sage, was ich fühle, im Beisein des Fotos. Und als ich das sagte, hatte er, ich weiß es nicht, er hatte einfach schon, da war schon eine Kerze, er hat die Kerze angemacht, er hat das Licht abgedunkelt und er ist mit seinem Sessel mir entgegengekommen. Das langt mir, ich glaube ich brauche da nicht nähere Information. Ähm, Gabriele, was ist deine Frage an mich? Ja, meine Frage ist Folgendes: Wenn ein Mensch, und ich sehe das jetzt nicht, dass er als Therapeut gehandelt hat, er kennt mich seit einem halben Jahr, ich habe mich ihm, als Mann, das fiel mir wirklich am Anfang sehr sehr schwer, unheimlich geöffnet, absolut. Ich hätte gerne noch mal deine Frage … Ich verstehe dich ganz schlecht. Ich hätte gerne die Frage, die du an mich hast … Okay. Ganz präzise. Wie meint er das? Ich … ich stehe, ich bin jetzt hier wirklich Du brauchst mich als Kaffeesatzleserin? Nein. Was dann? Was brauchst du konkret von mir? Mir scheint, in diesem ungeheuren Kuddelmuddel, ich kann kaum noch meinen Zorn bändigen, weder gehört sich’s, dass eine Therapeutin, das weißt du, ihren Mann empfiehlt, noch 158
G.: B. L: G.: B. L:
G.: B. L:
G.: B. L: G.: B. L:
gehört sich so etwas wie Annährung, ohne dass eine Supervision, äh, fachlicher Art dazugehört. Es ist ein ganz ganz großes Kuddelmuddel, und ich hätte ganz gerne aus diesem Kuddelmuddel heraus wenigstens eine konkrete Frage von dir. Was soll ich jetzt machen? Das ist die Frage an mich? Ja. Ah ja. Ich hätte die gerne noch mal ganz konkret, weil ich will in diesem ganzen Kuddelmuddel gar nicht erst absaufen. Die konkrete Frage von dir an mich lautet: Was soll ich machen? Ja. Ich habe ihm so viel Vertrauen geschenkt. Ich hätte die Frage aber noch gerne konkreter: Was soll ich machen, um aus dieser unseligen Allianz rauszukommen, oder: Was soll ich machen, um in seinem Bett zu landen? Ich hätte es von dir ganz präzise. Ja. Wenn ich ehrlich bin … wolltest du von mir wissen, wie du in einem Bett landen kannst. Eigentlich ja. Ja. Das heißt, ich mache in dem Kuddelmuddel auch noch mit. Nee, nee, nee, nee, nee, das will ich nicht. Insofern lass’ uns zwei beiden noch mal genau anschauen, was ich dir geben kann und was du von mir verlangen kannst. Noch mal, womit ging es dir in diesem Gespräch, wenn wir es denn beendet haben, besser? Gut, weiß ich jetzt nicht, aber was würde dir helfen in Richtung: Es geht mir besser? 159
G.: B. L: G.: B. L:
G.:
B. L:
G.: B. L: G.: B. L: G.: B. L:
G.:
Äh, eigentlich aufgrund der Situation, dass ich nicht abgrenzen kann, eigentlich schon das. Hat sich das jetzt im Laufe des Gespräches für dich entwickelt? Nein, eigentlich vorher schon. Also, du bist gekennzeichnet durch eine Ambivalenz: Ich möchte mit ihm ins Bett springen und ich möchte mich gerne abgrenzen. Ich möchte eigentlich eine Beziehung mit ihm, aber ich möchte mich auch abgrenzen, weil ich denke, dass er selbst da sehr ambivalent sich verhält mir gegenüber. Und ich denke nicht, dass er als Therapeut, äh, und ich meine, dass ich dafür doch schon noch eine Zeit brauche, um für mich persönlich da so mein Endziel zu erreichen … Was können wir zu zweit in diesem Gespräch soweit klären? Ich höre wieder raus: Ich will mich abgrenzen und ich will mit ihm schlafen, ist das richtig? Ja, irgendwo ist das schon so, genau. Oder heißt das: Ich will mit ihm schlafen und ich möchte mich abgrenzen? Eigentlich möchte ich mich ja gar nicht abgrenzen. Also das heißt: Eigentlich will ich dich haben, im Bett und für mich. Ja. Ja. Hm. Ist das eine hilfreiche Erkenntnis für dich jetzt? Geht das Gespräch zwischen dir und mir in die richtige Richtung? Ja. 160
B. L: G.: B. L.:
G.: B. L:
G.: B. L:
G.: B. L: G.: B. L: G.:
B. L:
Ah ja. Ah ja. Diese Klarheit ist für dich was Entlastendes? Eigentlich schon, ja. Ah ja, gut. Das gefällt mir. Das gefällt mir ausgesprochen. Und mit dieser Klarheit wirst du in die nächste Stunde gehen und sagen: Ich will dich für mich haben und ich will mit dir schlafen? Also ich habe das akustisch jetzt ganz schlecht verstanden. Und mit dieser Klarheit, wie sie jetzt in diesem Gespräch entstanden ist, gehst du zu ihm in die nächste Stunde und sagst: »Ich will dich haben, ich will dich ganz haben und ich will mit dir ins Bett springen«. Ähm, ich glaube, das könnte ich schon machen, ja, es ihm sagen, er weiß es ja auch. Na, jetzt wird es wieder weich, das Klare war für mich eben, noch mal: Also für dich ist in diesem Gespräch sehr klar geworden, dass es gar nicht mehr eine Ambivalenz gibt, sondern eine sehr klare Haltung. Ja. Das heißt: Ich will dich ganz und ich will mit dir ins Bett. Genau. Ja. Und mit dieser Klarheit kannst du in die nächste Stunde gehen? Ja, aber die liegt in vier Wochen erst. Und ich habe eigentlich von ihm erwartet, dass er sich meldet, nach der letzten Stunde. Ich will mit diesem Verwirrspiel nichts mehr am 161
G.: B. L: G.: B. L: G.:
B. L: G.: B. L: G.: B. L:
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Hut haben, das ist mir alles zu verstrickt. Ich möchte gerne bei deiner Klarheit bleiben. Und deine nächste Klarheit ist: Ich will ihn ganz haben und ich halte es gar nicht mehr aus, vier Wochen von ihm getrennt zu sein. Ja, genau. Exakt. Okay. Was wäre dann der nächste folgerichtige Schritt für dich? Das weiß ich nicht, denn … Ich weiß es nicht. Das ist ja das Problem. Dann frag ich dich wieder, was ist dein Auftrag in diesem Gespräch an mich? Eigentlich, dass ich … eigentlich wollte ich dich fragen, ob es so etwas gibt, dass man, dass es so etwas gibt, zwischen Therapeut und Patient oder wie auch immer mich nennen mag … Hat sich diese Frage für dich beantwortet? Ähm, ich denke, dass es das gibt. Aber auf der anderen Seite … Hat sich für dich diese Frage beantwortet? Nein. Nein. Ah ja. Also auf der einen Seite sagst du: Ich spüre die Klarheit, ich will mit ihm ins Bett, ich will ihn haben; und auf der anderen Seite sagst du: Aber das kann es ja gar nicht geben, oder? Ja, eigentlich schon, ja. Also haben wir jetzt eine sehr reale Frau, die sagt: Ich will mit ihm pennen und so eine Über-Ich-Frau, die sagt: Das gibt es doch wohl gar nicht. Ja, aber das resultiert aus seinem Verhalten. Das 162
B. L: G.: B. L: G.: B. L:
G.: B. L: G.: B. L.: G.:
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G.: B. L:
G.: B. L:
ist ambivalent, sein Verhalten. Moment. Moment, ich gehe jetzt … ich will in dieses Kuddelmuddel nicht rein, ich will zu dir. Ja. Erlebst du dich dann als fremdgesteuert, wenn du sagst: Das kann ja nicht ich sein, die …? Ja. Ja. Und du würdest es als Entlastung erleben, wenn ich als Lämmle sage: Diese Fremdsteuerung ist in Ordnung? Nee. Eben. Ich will ich sein. Und was sage ich zu dieser Beziehung, zu diesem Mann? Ja, das ist es ja, auf der einen Seite sage ich: Ich möchte das, und auf der anderen Seite sage ich: Eigentlich traue ich ihm noch nicht, ich traue mir, ja. Ah ja. Ich vertraue ihm nicht, er ist ein Mann. Ah ja. Hm. Hm. Gabriele, was machen wir mit deiner Klarheit? Eins ist ja schon mal völlig klar! Oder? Dass die Therapie ab jetzt beendet ist. Eigentlich ja. Diese Klarheit haben wir ja wohl nun eindeutig erarbeitet. Du kannst nicht gleichzeitig dich auf die Couch legen und ihn bespringen wollen, dieses scheint mir etwas Unmögliches zu sein. Ja. Insofern entsteht für mich in diesem Gespräch, 163
G.: B. L:
G.: B. L:
G.:
B. L:
dass die Therapie sofort beendet wird, abgebrochen, gekündigt. Es ist, ich sehe, überhaupt gar kein Land mehr. Eben. Ich denke mir: O Gott, wenn ich wieder hingehen … … und darüber hinaus, glaube ich, dass du auch noch eine Begleitung brauchst, ähm, weil, es sollte ja immer noch bumm machen, stattdessen macht es jetzt bums, um es jetzt ganz ordinär auszudrücken. Ja. Dass ich, ähm, dich unbedingt bitten möchte, dass du dir, äh, von außen Hilfe holst, der sich wirklich oder die sich wirklich diese Situation anschaut, in die du mit verstrickt bist, reingestrickt worden bist, dich reingestrickt hast. Es ist eine extrem verstrickte Situation. Das denke ich auch. Aber was mache ich mit ihm, abgesehen davon, dass ich natürlich weitermachen möchte mit einer Therapie? Klären wir das noch mal. Also du bleibst auf jeden Fall erst mal dran, um dir von uns bitte eine Adresse geben zu lassen. Das ist das, was, äh, wieder an Konkretem nachbleibt. Ähm, was bleibt noch an Konkretem nach, in unserem Gespräch? Tja, ich bin ein bisschen verunsichert jetzt. Die Frage: Soll ich es machen, also sprich … Ich habe dich gefragt: Was bleibt noch an Konkretem nach, für dich? Und wenn du sagst eine Verunsicherung, ist sie konkret. Und auch eine Enttäuschung. Auch das ist konkret. Es bleibt eine Enttäuschung da, es bleibt eine Unsi164
G.: B. L: G.:
cherheit da und es bleibt der konkrete Ratschlag da: Bitte wende dich nach außen. Aber was, was sagst du nun dazu, was soll ich mit ihm machen? Ich muss doch mit ihm reden. Ich kann doch nicht einfach wegbleiben. Bleiben wir wieder bei dem, was konkret da ist. Es ist die Enttäuschung da, es ist die Unsicherheit da und der Ausblick, es mit einer anderen Hilfe, ähm, anderen therapeutischen Hilfe weiterzuarbeiten. Das heißt aber, dass ich mit ihm, damit willst du mir sagen, dass ich mit ihm, ähm, dass es da nichts geben kann, im Prinzip, denke ich, wenn ich dich richtig verstehe. Hähähä. Hähähä. Hähähä. Hexe. Ich bin verunsichert. Hahaha, jawohl! Hexe. Gabriele, du bleibst dran, und wir gucken nach einer Adresse? Ja, und, du hast mir aber nichts gesagt jetzt, zu ihm. Nein? Nein. Ich bin auch ’ne Hexe. Blöd gelaufen. Bitte? Blöd gelaufen. Hexe gerät an Hexe. Auch das ist ’ne Sicherheit. Du bleibst bitte dran, und ihr guckt nach einer Adresse, okay? Okay. Ja. Danke. Alles Gute. Tschüss. Tschüss.
Gesprächsanalyse (Brigitte Lämmle: B.L., Gabriele: G.) In einem Schlager von Klaus Lage heißt es im Refrain: »Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert! Es geschah in Tausendundeiner Nacht, und es hat Zoom
165
gemacht.« Gabriele scheint diesen Schlagertext verinnerlicht und zu ihrem Sprechen gemacht zu haben, weil er geradewegs all das zur Sprache bringt, was in ihr nur als Gefühlsbrei aus Sehnsüchten und Träumen lebt. »Irgendein Bumm« wünscht sich Gabriele, »irgendwann« soll es passieren und dabei »irgendetwas« sein. Dieses »Bumm« soll aber mit einem Schlag ihre Probleme lösen, mit denen sie sich seit über 20 Jahren beschäftigt. Die grenzenlose Unbestimmtheit von Irgendein, Irgendwann, Irgendetwas in Gabrieles Sprechen und zugleich ihre äußerst passive Haltung, als ob alles mit ihr geschehen würde, machen Brigitte stutzig und legen von Anfang an nahe, äußerst präzise auf Gabrieles Problemschilderung zu hören und zu reagieren: G.:
B. L: G.:
Also habe ich vor einem halben Jahr gesagt, okay, ich mache noch mal eine Therapie. Und, ähm, wollte eigentlich unbedingt eine Frau haben, unbedingt. Und es war aber dann leider keine Frau, sage ich heute, sondern es war ein Mann. Ja, und … Wie kommt das, von der Krankenkasse zugewiesen? Nein. Ich rief also eine Therapeutin an und die wurde mir empfohlen; dann wurde mir gesagt, von ihr, sie ist also voll besetzt, aber ihr Mann hätte aber noch freie Kapazitäten. »Okay«, sagte sie, »gucken Sie sich es einfach mal an!« – und ich habe gesagt: »Mache ich!« Und er war mir sympathisch und offenbar ich ihm auch und, ja, dann haben wir das gemacht. Das war vor einem halben Jahr. 166
B. L:
Ich möchte das gerne noch mal ganz klar verstanden wissen. Du rufst bei einer Kollegin an und die sagt: »Es ist bei mir leider zu, aber mein Mann oder und mein Mann arbeitet in der gleichen Branche, und da ist noch eine Stelle frei.«
Eine kuriose Geschichte, die Gabriele Brigitte zu erzählen weiß, denn deren Ingredienzien sind voll märchenhafter Elemente: Da gibt es eine Therapeutin, die keine Patienten mehr annehmen kann, und deshalb Gabriele an ihren Mann, der ebenfalls Therapeut ist, verweist. Merkwürdig, denn es gehört zu den Grundregeln und -haltungen eines therapeutisch ausgebildeten Psychologen, dass er genau diese Form von Verstrickung nicht tun darf. Gabriele sagt: Die Therapeutin habe gesagt, sie sei »voll besetzt«. Es drängt sich unweigerlich die Frage auf: wovon »voll besetzt«. Brigitte erinnert sich, dass Gabriele fünf Jahre Psychoanalyse gemacht hatte. Der Begriff »Besetzung« ist ein klassischer Begriff aus Sigmund Freuds psychoanalytischer Theorie. Der erste Verdachtsmoment, dass die passive Gabriele gar nicht so passiv ist, scheint sich langsam zu bestätigen. Bei Gabriele ist die Funktion der Therapeutin und Frau »voll besetzt«, weshalb sie sich wahrscheinlich sehr gezielt deren Mann gesucht hat. Und es braucht keine zwei weiteren Sätze, bis Gabriele die Katze aus dem Sack lässt: »… dann haben wir das gemacht«. In ihren Augen hat sie den Mann zur Untreue gegenüber seiner Frau und für sich gewonnen. An Gabrieles kurioser Geschichte fällt auf, dass um sie herum alle Beziehungs- und Funktionsdefinitionen aufgelöst scheinen. Doch die Art und Weise, wie Gabrie167
le dies in ihrer Schilderung wiedergibt, legt den Verdacht nahe, dass sich in diesem grenzenlosen BeziehungsKuddelmuddel Gabrieles Tendenz zur Auflösung der eigenen Grenzen widerspiegelt. Das Beziehungs-Drama, in welchem sich Gabriele befindet, ist in Wirklichkeit vielmehr Spiegelbild der selbstauflösenden Grenzen ihrer »Ich«-Beziehungsdefinitionen gegenüber anderen. Gabriele ist eine Verstrickerin, und Therapeuten sind anscheinend jene Adressatengruppe, die sie für ihre Märchen als ideal ausgemacht hat. In diesem Sinne ist auch Brigitte eine perfekte Adressatin und die Sendung »Lämmle live« die Gelegenheit, vor einem größeren Publikum das Verstrick-Spiel unbewusst zu inszenieren. Schon aus der ersten Gesprächssequenz wird deutlich, dass Gabriele auch Brigitte verstricken will: »Du brauchst mich als Kaffeesatzleserin!«, kommentiert Brigitte schon in der ersten Phase des Gesprächs die ihr zugewiesene Funktion, die sie aber von Anfang an durch klare Grenzziehungen unterläuft. Gegen Gabrieles Grenzenlosigkeit setzt Brigittes therapeutische Haltung Klarheit und Präzision: »Ich möchte das gerne noch mal ganz klar verstanden wissen«, »ganz präzise«, »konkret« – in jeder Gesprächssequenz fordert Brigitte von Gabriele eine klare »Ich«-Beziehungsdefinition« ein, um deren »Verwirrspiel« und ihren »Verstrickungen« deutliche Grenzen geben zu können. Brigitte verfolgt hierbei eine Doppelstrategie: In einem ersten Schritt lässt sie sich auf Gabrieles Märchentextur insoweit ein, dass sie in diese Welt durch die Forderung nach klaren Beziehungsdefinitionen Realität einführen kann. Zugleich kann sie über diese Strategie Gabriele an jenen Punkt heranführen, der es ihr möglich sein lässt, den Lö168
sungssatz ihres eigentlichen Problems zu formulieren: »Äh, eigentlich aufgrund der Situation, dass ich nicht abgrenzen kann …« Brigittes klare und präzise Haltung hat deshalb auch Modellfunktion für Gabriele, weil sie im Gespräch eine Haltung kennen lernt, wie man sich schützen und das heißt abgrenzen kann. Ziel des Gesprächs kann es ja nur sein, dass Gabriele an den Punkt geführt wird, von welchem aus sie in der Lage ist, über die Bestimmung ihrer »Ich«-Beziehungsdefinition Grenzen in Richtung Identitätsfindung aufbauen zu können. Was ist aber die Funktion von Gabrieles Verstrickungs-Inszenierungen und wie sind sie motiviert? Gabriele ist eine moderne Scheherezade, ähnlich jener Erzählerin aus Tausendundeiner Nacht, die mit ihren Erzählungen erreichen möchte, dass man ihr das Leben schenkt. Zur Erinnerung: Tausendundeine Nacht ist eine »arabische Sammlung von Märchen, Romanen, Novellen, Liebes-, Schelmen-, Seefahrergeschichten, Sagen und Legenden, lehrhaften Erzählungen, Humoresken und Anekdoten verschiedensten Ursprungs«, wie das dtvLexikon ausführt. Die Rahmenhandlung der Erzählsammlung besagt: »Ein König von Samarkand, von seiner Gemahlin mit einem schwarzen Sklaven betrogen, verliert den Glauben an die Treue der Frauen. Darum heiratet er jeden Abend eine neue Frau und lässt jede am Morgen nach der Hochzeitsnacht töten. Die kluge Scheherezade, Tochter des königlichen Wesirs, fesselt den König durch ihre Erzählungen, die sie von Nacht zu Nacht fortspinnt, durch 169
1001 Nächte und erreicht, dass er ihr das Leben schenkt.« Wer um sein Leben erzählt, muss über große Verführungs-, Spannungs- und Fesselungskünste verfügen. Wer um sein Leben erzählt, muss aber gleichsam auch Todesängste haben. Gabriele ist eine Verstrickerin, die Therapeuten zu Zuhörern ihrer Märchen auserkoren hat. Aber welche Funktion haben Sexualität und Sprechen? Nach Tausendundeiner Nacht bedeutet gelebte Sexualität (als Symbol erfüllter Lebendigkeit und Lebensfreude) am nächsten Morgen den sicheren Tod; das erzählende Sprechen tritt an die Stelle gelebter Sexualität und erlaubt zugleich ein Überleben um den Preis des Verzichts auf den Geschlechtsakt. Diese paradoxe Grundsituation ist geboren aus einem tief verletzten Vertrauen um Treue, und Gabriele wird im Verlauf ihres Gesprächs spiegelbildlich zu sagen wissen. »Ich vertraue ihm nicht, er ist ein Mann.« Auf welcher Ebene ihrer psychischen Entwicklung dieses Ur-Vertrauen erschüttert wurde, kann das Gespräch nicht ergründen. Der einzige Ansatzpunkt ist der konkrete Anlass des Anrufs und jene Situation, die unmittelbar diese tiefen Verletzungen artikuliert. Dass Gabriele dieses Trauma zwanghaft inszeniert und wiederholt, ist nahe liegend. Seine Bearbeitung aber kann nur eine Therapie leisten, weshalb zum Ende des Gesprächs Gabriele von Brigitte auch eine Adresse erhalten wird. Die Erzähltechnik der modernen Scheherezade und Verstrickerin Gabriele beruht auf einem sexualisierten Sprechen, das gekonnt mit Doppeldeutigkeiten fesseln will. »… und dann haben wir das gemacht«. In einem ersten Schritt lässt sich Brigitte auf diese Welt der Doppeldeutigkeiten ein und geht mit. Deshalb imitiert Brigit170
te diese Ausdrucksweise, um so Gabrieles Beziehungswelt spiegeln und klären zu können: B. L:
Du rufst bei einer Kollegin an und die sagt: »Es ist bei mir leider zu, aber mein Mann oder und mein Mann arbeitet in der gleichen Branche, und da ist noch eine Stelle frei.«
Man muss diese Formulierung in ihrer Doppeldeutigkeit lesen, um ermessen zu können, wie mit einem Schlag Brigitte den Grundakkord um Sexualität und Geschlecht anschlägt. Statt »voll besetzt« sagt Brigitte »zu«, statt »freie Kapazität« spricht sie von »Stelle frei«, statt »Therapie« sagt sie »Branche«. In anzüglich eindeutige Worte übersetzt heißt dies: Das Geschlecht der Frau ist »zu«, aber das Gewerbe hat seine eigenen Gesetze, d.h., gehe zum nächsten (männlichen) Geschlecht, dessen (Geschlechts-) Stelle frei-liegt. Brigittes Rückfrage an Gabriele gilt also der Klärung, ob sie die verschlüsselten Botschaften richtig verstanden hat. Diese sind: Ich, Gabriele, bin mir meiner geschlechtlichen Zuneigung nicht eindeutig bewusst; ich bin seit Jahren »zu«, habe also keinen Geschlechtsverkehr und habe mit diesem meine Probleme; ich habe meine Sexualität derart entkörperlicht, dass ich meine Sexualität im Sprechen, d.h. im Erzählen von Geschichten auslebe. Die besten Zuhörer meiner Geschichten sind Therapeuten, die ich dafür bezahle wie Prostituierte. Kurzum: Ich, Gabriele, möchte in diesem Gespräch mit Brigitte schlafen. Gabriele versteht Brigittes doppeldeutige Klarstellung und antwortet exakt in der oben beschriebenen Weise:
171
G.:
Also, ich bin da hin, habe mit ihm geredet, irgend, ja, ich dachte, ja, ist okay, geht. Und dann haben wir uns beide entschlossen, dass wir das zusammen machen. Er kannte meine Vorgeschichte, er wusste, dass ich schon erfahren bin. Ähm, ich war verheiratet mit einem Psychologen, der Familientherapeut ist und Kindertherapeut. Ich selbst habe Ausbildungen gehabt, in dieser Richtung, ich bin Lehrer von der Ausbildung. Gut, also haben wir das gemacht. Und ich hätte nie gedacht, nie im Leben, dass ich irgendwann mal, an irgendeinem Zeitpunkt, ähm, ja, so ein, so ein anderes Gefühl für ihn entwickle.
Auch aus dieser Antwort müssen die versteckten Botschaften gelesen werden, mit welchen Gabriele Brigitte zu umgarnen versucht: »dass ich schon erfahren bin« … »verheiratet mit« … »Psychologe« … »gut« … »haben wir das gemacht« … »ein anderes Gefühl« … »entwickle«. Das heißt: Ich, Gabriele, bin schon erfahren, fühle mich mit Psychologen und Familientherapeuten gleichsam verheiratet. Gut haben wir das gemacht (und jetzt habe ich auch zu dir, Brigitte) ein anderes Gefühl entwickelt. Dass Gabriele sich selbst als »Lehrer« bezeichnet, das heißt sich vermännlicht, belegt zudem, in welcher Position sie Brigitte begegnen möchte. Gabriele ist Weltmeisterin im »Eigentlich«-Sprechen, um auf diese Art und Weise eindeutig zweideutig sein zu können. Je mehr sie sich diesem Sprechen hingibt, desto mehr fühlt sie sich »unheimlich geöffnet, absolut«. Mit ihren anderen Worten: »( … ) ich stehe, ich bin jetzt hier 172
wirklich …« Mit diesem Eingeständnis kann Brigitte das EindeutigZweideutig-Spiel von und mit Gabriele beenden. Die Lösung von Gabrieles »Kuddelmuddel« kann im Rahmen der Sendung nur heißen, dieses Sprechen am Beispiel ihrer Frage an Brigitte zu entsexualisieren und der tiefen Ambivalenz einen Namen zu geben. Im Rahmen dieses Erstgesprächs ist keine therapeutisch fundierte Lösung dieser ambivalenten Struktur möglich, aber ein Lösungsweg aufzeigbar, der Gabriele zu einem erfahrbaren Spüren ihres doppeldeutig-sexualisierten Sprechens führt, das in dem Augenblick aber auch verschwindet, wenn sie zu einer klaren und präzisen »Ich«-Beziehungsdefintion geführt wird. Die zweite Hälfte des Gesprächs ist einzig von dieser Strategie bestimmt. Brigitte sucht, mit Gabriele eine Klarheit zu erarbeiten, die es ihr erlaubt, ihre Ambivalenz als Sicherheit in der Unsicherheit wahrnehmen zu können. Schritt für Schritt entwirrt Brigitte das »Kuddelmuddel«, indem sie mit Gabriele klare Beziehungsdefinitionen erarbeitet. In der folgenden Gesprächssequenz kann man sehr schön ersehen, wie sehr sich Gabriele vor dieser Klarheit scheut und immer wieder versucht, der Präzisierung ihrer Beziehungsdefinition zu entkommen: B. L:
G.: B. L.:
Ah ja. Hm. Hm. Gabriele, was machen wir mit deiner Klarheit? Eins ist ja schon mal völlig klar oder? Dass die Therapie ab jetzt beendet ist. Eigentlich ja. Diese Klarheit haben wir ja wohl nun eindeutig erarbeitet. Du kannst nicht gleichzeitig dich auf die Couch legen und ihn bespringen wollen, 173
G.: B. L.:
G.: B. L:
G.: B. L:
G.:
B. L:
G.: B. L:
dieses scheint mir etwas Unmögliches zu sein. Ja. Insofern entsteht für mich, in diesem Gespräch, dass die Therapie sofort beendet wird, abgebrochen, gekündigt. Es ist, ich sehe überhaupt gar kein Land mehr. Eben. Ich denke mir: Oh Gott, wenn ich wieder hingehen … … und darüber hinaus, glaube ich, dass du auch noch eine Begleitung brauchst, ähm, weil, es sollte ja immer noch bumm machen, stattdessen macht es jetzt bums, um es jetzt ganz ordinär auszudrücken. Ja. Dass ich, ähm, dich unbedingt bitten möchte, dass du dir, äh, von außen Hilfe holst, der sich wirklich oder die sich wirklich diese Situation anschaut, in die du mit verstrickt bist, reingestrickt worden bist, dich reingestrickt hast. Es ist eine extrem verstrickte Situation. Das denke ich auch. Aber was mache ich mit ihm, abgesehen davon, dass ich natürlich weitermachen möchte mit einer Therapie? Klären wir das noch mal. Also du bleibst auf jeden Fall erst mal dran, um dir von uns bitte eine Adresse geben zu lassen. Das ist das, was, äh, wieder an Konkretem nachbleibt. Ähm, was bleibt noch an Konkretem nach, in unserem Gespräch? Tja, ich bin ein bisschen verunsichert jetzt. Die Frage: soll ich es machen, also sprich … Ich habe dich gefragt: Was bleibt noch an Kon174
G.: B. L:
G.:
B. L:
kretem nach, für dich? Und wenn du sagst eine Verunsicherung, ist sie konkret. Und auch eine Enttäuschung. Auch das ist konkret. Es bleibt eine Enttäuschung da, es bleibt eine Unsicherheit da und es bleibt der konkrete Ratschlag da: Bitte wende dich nach außen. Aber was, was sagst du nun dazu, was soll ich mit ihm machen? Ich muss doch mit ihm reden. Ich kann doch nicht einfach wegbleiben. Bleiben wir wieder bei dem, was konkret da ist. Es ist die Enttäuschung da, es ist die Unsicherheit da, und der Ausblick, es mit einer anderen Hilfe, ähm, anderen therapeutischen Hilfe weiterzuarbeiten.
Je dichter Brigitte sich dem Ziel klarer und eindeutiger Beziehungs- und Funktionsdefinitionen nähert, desto mehr sucht Gabriele Widerstand zu leisten: »Also, ich habe das akustisch jetzt schlecht verstanden« – ist eine typische Widerstands-Floskel, die zugleich aber deutlich macht, dass Brigitte dem Problemkern sehr nahe gekommen ist. Schließlich aber kann Brigitte das Gespräch exakt an jenem Punkt beenden, da Gabriele die Erkenntnis formulieren kann: »Das heißt aber, dass ich mit ihm, damit willst du mir sagen, dass ich mit ihm, ähm, dass es da nichts geben kann, im Prinzip, denke ich, wenn ich dich richtig verstehe.« Dieser Schlüsselsatz markiert das Ende des Gesprächs, denn Gabriele hat zweierlei erkannt: Auf Grundlage eigener Abgrenzung und das heißt einer klaren 175
»Ich«-Beziehungsdefinition zerplatzt das Gebilde aus Phantasie und Wirklichkeitselementen, weil Gabriele nunmehr erstmals in der Lage ist, den anderen wahrzunehmen. In diesem Augenblick aber wird sie gewahr, dass es dort nichts gibt resp. dass es dort nichts zu sehen gibt. Wenn Gabriele klar und präzise denkt und die Modellfunktion von Brigittes Abgrenzungs-Haltung versteht, dann kann sie sehen, dass es nichts zu sehen gibt – was besagt, dass ihr bisheriges Sehen reine Projektion war, womit zugleich auch ihr sexualisiertes Sprechen verstummt. Weil Gabriele dies verstanden hat, kann Brigitte ihr zum Ende des Gesprächs auch rückmelden, dass sie es selbst ist, die all diese Verstrickungen inszeniert: »Hexe!« Bewusst wählt Brigitte einen Märchenbegriff, der sinnbildlich Gabriele deutlich machen soll, dass sie es ist, die am brodelnden Hexenkessel ihren »Kaffeesatz« braut und bei alledem die Zutaten ihrer Verstrickungen selbst zusammenmixt. Brigittes Ziel, bei Gabriele Grenzen in Richtung Identitätsfindung aufzubauen, ist in einem erster Schritt erreicht. Dass Gabriele schnurstracks wieder in ihre Verstrickungsrolle zurückfällt, ist keineswegs überraschend. Erst in einem längeren therapeutischen Prozess wird Gabriele lernen können, »Ich«-Beziehungsdefinitionen für sich abklären, bestimmen und leben zu können. Ihr Ziel aber wird es sein, dass sie sich selbst ihr Leben schenken kann, indem sie andere wahrnehmen und sich zugleich gegen andere abgrenzen kann – mit anderen Worten: wenn sie ihre symbiotische Beziehungsstruktur verabschiedet hat.
176
MISSBRAUCH Gespräch mit Cordula
MISSBRAUCH Kein Begriff ist in den letzten Jahren so strapaziert worden, wie der des Missbrauchs. Was als Tabuthema in den Journaillen Karriere machte, eroberte auch die psychologisch-psychiatrische Diagnostik. Sicherlich hatte man über viele Generationen hinweg den sexuellen wie auch andere Formen des Missbrauchs oftmals unter den Teppich gekehrt, mancherorts bagatellisiert oder nur hinter vorgehaltener Hand benannt, doch eine saubere Anamnese und Fallbeurteilung darf sich nicht von Trends und journalistischen Agenda-setting-Strategien infizieren lassen. So schlimm das Vergehen selbst ist, so problematisch ist aber auch seine Fehldiagnose im Rahmen einer therapeutischen Behandlung. Unter Missbrauch sind schwerste Grenzverletzungen zu verstehen, die von Erwachsenen gegenüber Schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen begangen werden. Doch es ist nicht nur allein der sexuelle Missbrauch, der hier infrage steht. Von Missbrauch kann auch gesprochen werden, wenn Eltern im Umgang mit ihren Kindern 177
durch symbiotische Beziehungsstrukturen oder durch permanente Gewalt verbale und nonverbale Grenzverletzungen verüben. Missbrauchte Kinder und Jugendliche können in der Regel nicht über solche Grenzverletzungen sprechen, weil sie diese meist verdrängt oder als Missbrauch gar nicht benennen können. So ist es eine Frage therapeutischer Sorgfalt, im Zuge einer Therapie einen Missbrauch aufdecken und mit dem Klienten bearbeiten zu können. Was sich im therapeutischen Prozess entdeckt, ist deshalb immer nur der halbe Weg, der erst dann ganz gegangen ist, wenn der Missbrauch im Rahmen einer Zukunft selbst als Station des Lebensflusses begriffen wurde. Wer therapeutisch bei der Entdeckung eines Missbrauchs stehen bleibt und dem Klienten mit solch einer Arbeitshypothese ein Etikett für seine Probleme an die Hand gibt, erreicht, dass fortan die Diagnose ›Missbrauch‹ selbst missbraucht wird. Im therapeutischen Prozess dürfen solche Ein- und Zuordnungen immer nur als Arbeitshypothesen genutzt werden, die so lange angeschaut gehören, wie sie eine Barriere oder Hürde auf dem Weg in die Zukunft darstellen. Jegliche Etikettierung in Form von Arbeitshypothesen stört den therapeutischen Prozess und versteinert. Lösungs- und ressourcenorientiertes Arbeiten fokussiert eine Haltung wie auch ein Ziel, in der/mit welchem Ohnmacht abgelöst wird durch Eigenmächtigkeit. Im folgenden Fallbeispiel ist und bleibt es offen, ob tatsächlich ein sexueller Missbrauch vorliegt oder nicht. Viel entscheidender ist die Haltung der Anruferin, bei welcher sich die Diagnose ›Missbrauch‹ derart verselbstständigt hat, dass sie sich und ihre Umwelt nur noch un178
ter dieser Perspektive liest sowie ihr Fühlen, Denken und Handeln danach ausrichtet.
Gespräch mit Cordula (Brigitte Lämmle: B.L., Cordula: C.) B. L:
So, Cordula, jetzt versuchen wir es noch mal, ich grüße dich. C: Ja, hallo, Brigitte. B. L: Hallo. C: Hallo. Es freut mich unheimlich, dass ich jetzt bei dir drangekommen bin, beziehungsweise reden kann, und ich habe es mir heute so sehr gewünscht, und deswegen freut es mich doppelt. Und zwar Folgendes, meine ganz konkrete Frage: ähm, ja, ich weiß seit 1992, dass ich als Neunjährige von meinem Vater missbraucht wurde und habe jetzt, äh, diese langen, endlos langen Jahre Therapie, ja, mehr oder weniger fortlaufend. Und konkrete Frage lautet: Wie schaff ich das für mich, dass ich damit leben kann beziehungsweise damit umgehen kann, wenn ich bei Familienfesten meinem Vater begegnen muss, beziehungsweise diese Stunden mehr oder weniger gut, ähm, ja, vorüberbringen muss? Ja. B. L: Wie viel Jahre Therapie, 1992 habe ich gehört, ist das in der Therapie aufgedeckt worden? C: Ja. B. L: Das heißt, davor fing schon eine Therapie an. C: Bitte?
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B. L: C: B. L: C: B. L: C:
B. L: C: B. L: C: B. L.: C: B. L.: C: B. L.: C: B. L: C:
Davor hast du dann schon eine Therapie angefangen? Nein, vor 1992 war nichts. Aber das ist innerhalb, also einer Therapie sozusagen, aufgedeckt worden? Ja. Was war der Anlass, in die Therapie zu gehen? Ähm, mein körperliches Befinden war dermaßen, ja, dass ich mehr oder weniger schon mehr bei den Toten war als bei den Lebenden. Du hast dich weggehungert? Nein. Ähm, Rückenschmerzen und so weiter, primär Rückenschmerzen. Also ganz, ganz viel Schmerzen. Ja. Das war sozusagen der Anlass, in eine Therapie zu gehen? Ja. Was ist heute mit den Rückenschmerzen? Heute sind es andere. Hahaha. Hahaha. Klasse. Super. Die Schmerzen sind mehr oder weniger geblieben … Aha! … und ich kann mehr oder weniger einigermaßen damit umgehen, na ja, es ist mehr so gegenseitiges Geben und Nehmen, ich weiß nicht. Also, ich denke jetzt, äh, irgendwo muss es einen Sinn gehabt haben, das Ganze, und einfach, ich wünsche mir jetzt einfach nur was Konkretes von dir, ähm, wobei ich mir gut vorstellen kann, dass es einfach auf geistiger Ebene ablaufen 180
B. L:
C: B. L:
C: B. L:
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C:
muss. Alles andere … Ach, du, lass mich mal bei dem weiterbuddeln, wo ich gerade angefangen habe zu graben, wenn ich da, hahaha, ich weiß zwar, dass du elegant ablenken möchtest, haha, hast du auch ganz geschickt geschafft. Ähm, lass uns das doch mal auf der Zunge zergehen: sieben Jahre eine Diagnose, sieben Jahre mal mehr mal weniger Therapie. Und die Diagnose besteht noch? Ja. Es ist lediglich eine Arbeitshypothese, dass der Missbrauch die Rückschmerzen verursacht, denn den Missbrauch schaut ihr euch seit ’92 an, und die Schmerzen bleiben. Ja. Jetzt lass uns das einfach mal … es ist eine Arbeitshypothese. Und es ist seit sechs, sieben Jahren dran gearbeitet und die Schmerzen bleiben. Wobei??? Und wo haben wir sie heute? Ähm, schwierig. Also heute ist, ähm, heute ist, jetzt im Moment ganz schlimm so, so für mich so, so Ängste mit Nähe und so weiter, ganz, äh, ganz schlimm. Das verursacht Schmerzen? Ja, für mich schon. Körperliche Schmerzen? Auch. Sind die Schmerzen jeweils so, jemals so weit in den Griff gekommen, dass du Kontakt zulassen konntest? Ja, kann ich schon, ja. 181
B. L: C: B. L: C: B. L:
C: B. L: C: B. L: C: B. L: C: B. L: C: B. L: C: B. L: C:
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Du lebst in einer Partnerschaft? Nein. Du hast mal in einer Partnerschaft gelebt? Ja. So richtig zusammen mit Frühstücksei, Klo und Schlafzimmer in einer Dreizimmerwohnung und so? Ja, ich war verheiratet. Du bist verheiratet gewesen? War. Wie lange? Zehn Jahre. Wann geschieden? Vor drei Jahren. Hm, hm, hm. Den Weg, den du jetzt einschlagen willst, den kenne ich. Na ja, Cordula, welchen Weg will ich … Das ist es nicht Brigitte, das ist es nicht. Welchen Weg will ich denn einschlagen? Ich möchte gerne wirklich jetzt auf meine konkrete Frage, vielleicht nur ein Stichwort oder ich, ich muss … Sag mir, welchen Weg ich einschlagen will. Ja, das weiß ich, weil ich das schon erlebt habe. Komm, komm. Sag mir, welchen Weg ich einschlagen möchte. Ähm, kann sein, dass das mit meinem Exmann so der Weg ist, so quasi Vater-Mann-Beziehung und so weiter. Jetzt eiere mal nicht so rum. Welchen Weg wollte ich einschlagen? Du fragst ja vorsichtig. 182
C:
B. L: C: B. L.:
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Welchen Weg will ich einschlagen? Ja, jedenfalls ist das Thema für mich abgehakt, also quasi, äh, ich, um eine konkrete Antwort: Ja, ich habe meinen eigenen Vater geheiratet mit meinem Mann, mit meinem Exmann. Das ist aber, Gott sei Dank, inzwischen so weit für mich klar. Ja. Wir haben noch eine Arbeitshypothese. Ja? Wo hast du die denn her? »Ich habe meinen eigenen Vater geheiratet«. Also, ich habe meinen Mann geheiratet und, ähm, woher haben wir denn diese Arbeitshypothese? Ich denke, ähm, diese für mich langen Ehejahren waren, waren im Bewusstsein, ähm, der Spiegel von meinem Vater. Also, jetzt wird es ganz schwierig … Nee, äh, wird nicht schwierig Cordula, ich möchte dir nur zurückmelden, das hat vielleicht jetzt auch noch gar nicht mal ursächlich ganz direkt was mit dir zu tun. Ich glaube, dass diese sechs, sieben Jahre Therapie dich auch zu einem Profi gemacht haben, einem Profi an Wissen über Probleme. Und ich habe ganz bewusst deswegen das Wort Arbeitshypothese in den Mund genommen. Und manchmal werden wir von diesen Arbeitshypothesen erschlagen und sind gar nicht mehr so imstande, uns auf unsere innere Sicherheit zu verlassen, weil es kann ja nicht sein, es gibt ja Arbeitshypothesen. Und für mein Gefühl ist diese Frage, ob Vater treffen oder nicht, ausschließlich zu beantworten mit 183
C: B. L: C: B. L: C: B. L:
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meiner eigenen Sicherheit. Und ich glaube, dass du neben diesen vielen Arbeitshypothesen: »ich habe meinen Vater geheiratet«, »in der Therapie kam der Missbrauch raus«, »die Schmerzen können mit dem Missbrauch« … und so weiter, ich vermute, dass du noch mehr Arbeitshypothesen auf Lager hast. Jetzt lassen wir die mal alle weg, ja? Ja. Alle. Alle. Und wenn du mich länger kennst, von den Sendungen her, tust du? Ja. Wie viel Arbeitshypothesen verwende ich in meinen Gesprächen? Hm. Keine. Je länger ich arbeite, umso weniger habe ich. So. Und jetzt nehmen wir das mal, du bis ja mindestens genauso ein Profi wie ich. Komm, wir zwei Profis, wir schmeißen mal sämtliche Arbeitshypothesen raus. Nähe macht Schmerzen, das war die nächste, also wir haben ja schon einige gehabt, aber die tun wir alle raus. Ja? Ja. Also wirklich alle. Dann möchte ich gerne auf das Standbein, was du sicherlich auch in diesen Therapien, neben viel Schläue und Ablenkungsmanövern oder was immer da ist, auch eine Spur von Sicherheit erarbeitet hast. Richtig? Gibt es die? Ähm, was meinst du mit Sicherheit, Selbstvertrauen, Selbstsicherheit? 184
B. L: C: B. L.:
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Ich bin mir meiner sicher. Ich bin mir mit dem, was ich fühle – mit dem, was ich spüre, sicher. Ja. Ich darf Ekel haben, ich darf Freude haben, ich darf Schmerzen haben, ich darf auch mal keine Schmerzen haben. Ja. Das meine ich. Gar nicht mal so Selbstvertrauen, das sind auch wieder so Arbeitshypothesen. Ich weiß gar nicht, wenn man sich selber vertraut, ob man da irgendwie ein Brief schicken muss oder so. Ich meine, so sicher seiner Gefühle. Ja. Das gibt es, dieses Standbein? Gibt’s, ja. Ist das ein Hinkebein, ist das ein Babybein, ist das ein Geflügelbein oder ist das ein ganz großes Bein? Also jetzt in der konkreten Situation ist es ganz weg, dann ist es wieder, dann ist wirklich, äh, die Situation damals. Ganz schlimm für mich. Nein. Das kann auch eine Sicherheit sein: Es ist schlimm für mich. Auch das kann eine Sicherheit sein. Es kann eine absolute Sicherheit sein: Es ist schlimm für mich. Ja, wo jetzt 25 Jahre dazwischen liegen. Das ist mir völlig wurscht. Lass uns – wir haben doch gerade gesagt, die ganzen Arbeitshypothesen schmeißen wir jetzt mal weg, die haben wir jetzt alle vor die Haustüre getan, ja? Auch dieses Standbein: Es ist furchtbar; ist ein sicheres 185
C: B. L.:
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Bein, oder? Hm. Ja. Ich will aber dieses sichere Bein noch gar nicht benamsen, ich möchte gern einfach nur mal hier, in dem Raum, den wir uns hier geschaffen haben, wissen, ob du ein, äh, ob dieses, wie das Standbein aussieht, hat das die Größe vom Hühnerbein oder hat es die Größe von deinem Bein? Einfach das, was du im Laufe der Jahre für dich gelernt hast. Hm. Also ich denke, es schwankt situationsbedingt. Richtig. Ganz ehrlich, jetzt. Richtig. Aber auch das ist eine Sicherheit, oder? Ja. Sicher zu sein, dass ich je nach Bedingungen mehr oder weniger sicher bin. Ja. Wenn ich meinetwegen vor einem, vor, vor einer Gruppe mit 60 Leuten reden muss, fühle ich mich sicher, dass ich unsicher bin. Bin ich alleine zu Hause und kraul meine Katze, bin ich mir sicher, dass ich sicher bin. Ja. Also, nehmen wir jetzt einfach mal in unser Gespräch mit auf: Ich bin mir sicher in meiner Unsicherheit, ich bin mir sicher in meiner Sicherheit, ich spüre mich, da wo ich bin, und da hole ich mich ab. Ja. Das haben wir festgeklopft? 186
C: B. L.: C: B. L.: C: B. L: C: B. L.: O: Ja. B. L: C: B. L: C: B. L:
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Ja, das sitzt. Ist es das rechte oder das linke Bein? Oh. Oder sind es sogar beide? Sicherheit? Ja. Ähm, momentan im Bauch. Wunderbar, dann lassen wir das doch da. So, und den hältst du jetzt fest, ja? Hast du die Sicherheit so richtig auch noch in beiden Händen? Ja. Und jetzt imaginierst du das nächste Familienfest. Boah! Hähähä. Du kannst dir auch sicher sein, dass du unsicher bist, das ist völlig wurscht, es sitzt hier im Bauch? Hm. ??? Ja? Ja. Sonst müssen wir wieder von vorne anfangen. Ja!!! Ja, ja, ja, ich habe meine Sicherheit, ob ich unsicher bin oder sicher, fest im Bauch und in der Hand. Ja? Ja. Jetzt imaginieren wir, du stehst auch so oder du sitzt so? Ja, ich sitze. Jetzt imaginieren wir das nächste Familienfest. Vielleicht ist das so wie vor 60 Leuten einen 187
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Vortrag halten, vielleicht ist das so wie eine Prüfung machen. Auch das ist eine Sicherheit, dass ich Angst habe oder in dem Fall Lampenfieber oder wie auch immer, das hat nichts mit der Sicherheit zu tun, die haben wir fest im Bauch. Ja? Ja. Und jetzt nimmst du diese Familienfeier mit rein, dein Vater – er wird da sein vermutlich. Das ist das Problem. Das habe ich verstanden, er, ich, äh, bitte antworte nur: und er wird bei dem Familienfest dabei sein, ja? Ja. Okay. So, jetzt haben wir dich hier sitzend, mit der Sicherheit im Bauch, und auf dem Bauch sind noch beide Hände. Nee. Wie sind sie denn? Am Kopf. Genau. Ganz genau, mein Schatz. Am Kopf. Und was tun sie da? Meinen Kopf festhalten. Den Kopf festhalten. Und was haben wir da oben in dem Kopf drin? Kopfweh. Genau. Dann stehen wir mal auf. Ja? Ja. Und jetzt schnaufst du so lange wieder, weiß ich nicht, hältst gerade einen Vortrag vor 60 Leuten, hast du, kennst du eine Prüfungssituation? Ja, das habe ich erst gehabt, das ist aber nicht so 188
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schlimm Das weiß ich. Ich sage nicht: sei sicher, sondern ich sage dir: Sei sicher in deiner Unsicherheit und sicher in deiner Sicherheit, wie groß die Unsicherheit auch ist. Verstehst du den Unterschied? Wie groß die Unsicherheit auch ist, es ist eine Sicherheit. Zu schwierig? Ah, jetzt, äh, also der Kopf blockiert. Das spüre ich. Und da haben wir wieder diese ganzen, ganzen Gedanken drin. Ja. Und da haben wir diese ganzen überlagerten Arbeitshypothesen und alles drin und demnächst wirst du eine Spalt-Tablette oder so was brauchen, gell? Nee, mein Bett. Dein Bett. Hahaha. Auch nicht schlecht. Auch nicht schlecht. Auch nicht schlecht. Und was machen wir zwei beiden? Tja. Das wird die Frage sein, gell? Wie beenden wir das Gespräch? Lass uns noch mal genau die Schritte bis jetzt verfolgen. Was war hilfreich, was war überhaupt nicht hilfreich? Also, ich habe ja einige dieser Situationen schon durchgestanden, mehr oder weniger. Ja. Und habe mir es bildlich vorgestellt. Ja. Und in dem Moment eben, höre ich ihn wieder schmatzen. Also ist das für mich irgendwo nicht abgehakt. Es ist immer noch relevant. 189
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Und was heißt das für dich in der Konsequenz? Tja. Ich hätte nicht, ähm … Davonlaufen. Richtig. Und ich hätte nicht übel Lust und ich habe das Gefühl, dass das nicht geht, dass das den Rahmen dieser Sendung sprengt. Es stände jetzt irgendwie an standzuhalten und in einer Form standzuhalten, dass du’s ertragen kannst, weil irgendwann muss ja mal Schluss sein, oder? Wie lange willst du denn noch über diese elende Plempe nachdenken? Wie lange willst du denn noch diese elende Plempe in deinem Hirn haben? Wie lange willst du denn noch die Abspaltung haben zwischen Bauch und Kopf? Das ist die Frage. Meine Frage. Und dann habe ich eine Gegenfrage: Wie lange willst du diesen Missbrauch, für dich noch so lange missbrauchen, dass du am Leben nicht teilnehmen kannst? Und umgekehrt wieder die positive Frage: Wie kannst du dir den Schutz lernen, nach hinten zu schauen und nach vorne zu gehen? Nee. Und für mich ist die Frage jetzt nicht so sehr, ob ich dir noch eine Beratung stelle, irgendwann, denke ich, ist auch Schluss. Es ist wirklich Schluss. Es ist auch mit den Therapien Schluss. Für mich ist die Frage, und wir haben hier in diesem Gespräch eine wunderbare Sequenz gehabt, dich, ich weiß nicht, hast du einen molligen Bauch, äh, oder wie ein Kollege sagte, eine 190
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Prinzenrolle oder hast du einen flachen Bauch, ich kann mir überhaupt nichts vorstellen? Wie ist dein Bäuchlein? Das du dir eben gehalten hast? Momentan verkrampft. Hahaha. Ist es denn wenigstens in ein weiches Polster eingebettet? Ja. Haha. Okay. Für mich war die wichtigste Sequenz, dich in dieser Haltung zu sehen. Und in dieser Haltung, die ja auch schützt, wenn du dich so anschaust … Ja. … ich spüre mich und ich schütze mich. Das wird die Haltung der Zukunft sein. Und für mich wird wichtig sein, wenn ich, wenn ich die Möglichkeit habe, dir diesen Vorschlag überhaupt zu machen, dass du die nächsten Tage und Wochen immer mal wieder schaust, ob du diese Haltung einnehmen kannst. Das ist die Haltung der Zukunft. Und beobachte für dich ganz einfach, wie witzig und wie wichtig und wie lachend, so wie wir ja miteinander gelacht haben auch, für dich die Zukunft ist. Lust dazu? Auf die Zukunft? Auf das, was ich gesagt habe, nicht auf die gedachte Zukunft, sondern auf das hier. Du alte Kopfmeisterin. Hahaha. Uah, du alte Kopfmeisterin! Hier, die Zukunft meinte ich. Lust auf die? Genau. Ja, muss ich ja wohl. Ja. Ich drängle, gell? 191
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Ja. Ja. Muss ich ja wohl. Wenn das die erste Erlaubnis ist, die du dir gibst, soll es mir recht sein. Wenn die zweite Erlaubnis folgt: Ich hab Sehnsucht danach, ich wünsche mir jeden Schritt demnächst in dieser Haltung, mir das einfach mal anzuschauen, zu beobachten, in den Alltag zu gehen. Muss ich ja wohl. Wer sagt das? Also ich sage das, es lohnt sich, ich finde der Blick nach vorne lohnt sich immer. Wie siehst du’s? Tja, also ganz ehrlich würde ich mir Meister Proper wünschen, den ich in meinen Kopf reinschütten kann und dann, na ja, dann funktionieren. Richtig. Alles andere wäre jetzt wirklich, ähm, am Leben vorbei, an meinem Leben. Richtig. Heute habe ich schwarz an, wie sieht denn der Meister Proper aus? Weiß und hell und leuchtend? Habe ich irgendwas vom Meister Proper? Ja. Wie viel Prozent habe ich vom Meister Proper? 85? Für mich schon. Ja. Ja, ich nicke mit dem Kopf. Dann hast du offensichtlich das Richtige getan. Du hast den Meister Proper eingeladen, zu 85 Prozent. Ja. Ja. Machen wir die Flasche jetzt zu oder was machen wir denn mit dem Meister Proper? Den hole ich mir, wenn’s möglich ist, jede Wo192
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che. Hahaha. Hahaha. Okay. Und das ist meine Antwort, was du demnächst mit Familienfeiern machen sollst, konkreter werde ich nicht. Schade. Vielleicht auch nicht. Schau mal, ob nicht Meister Proper dabei gewesen ist. Ich wünsche dir alles Gute. Okay. Apropos, was machen deine Kopfschmerzen? Ähm, also noch nicht ganz weg, aber besser, ganz ehrlich. Aha. Ja. Du musst nicht gleich ins Bett? Dann war ja Meister Proper doch am Werke. Ja. Tschüss. Danke, Brigitte. Tschau. Tschüss.
Gesprächsanalyse (Brigitte Lämmle: B.L., Cordula: C.) Cordulas Problemschilderung macht Brigitte stutzig. »Endlos lange Jahre Therapie« bei Missbrauch ist ungewöhnlich. Die Sicherheit, mit welcher Cordula um die väterlichen Grenzverletzungen weiß, hätte nach so langer Zeit für konstruktive Zukunftsentwürfe fruchtbar gemacht werden müssen. Dass Cordula aber über dieses
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Wissen nicht hinausgekommen ist, lässt ihren therapeutischen Prozess mehr als bedenkenswert erscheinen. Des Weiteren fällt auf, dass Cordula zum Therapeuten ging, weil sie Rückenschmerzen hatte. Da wohl von ärztlicher Seite keine medizinischen Ursachen festgestellt werden konnten, ging man wohl davon aus, dass es sich um eine psychosomatische Erkrankung handelt. Das heißt aber: Cordula machte – aus welchen Gründen auch immer – ihren Körper zum Symptomträger eines unbewussten Konflikts, was zur Folge hat, dass sie eine besondere Beziehung zu ihrem Körper pflegt und Schmerzen als Gradmesser ihrer Befindlichkeit liest. Im Zuge ihrer Therapie ist dann der Missbrauch des Vaters als Ursache der Körperschmerzen diagnostiziert worden, so dass folgende Gleichung formuliert wurde: Die Schmerzen sind Ausdruck der väterlichen Grenzverletzung und Ursache zugleich. Dass eine solche Arbeitshypothese zutreffen kann, ist unbestritten, doch muss bezweifelt werden, dass eine solche Arbeitshypothese im therapeutischen Prozess taugt, wenn nach sechs/sieben Jahren die psychosomatischen Schmerzen fortbestehen. Was ist in den letzten Jahren im Rahmen der Therapie passiert? Brigitte vermutet, dass die Arbeitshypothese väterlicher Missbrauch sich verselbstständigt hat. Die Bearbeitung des Symptoms körperliche Schmerzen ist bei der Etikettierung stehen geblieben und hat sich losgelöst. Mit dieser Loslösung ging eine Perspektivverengung einher, die fortan auf alle seelischen und körperlichen Probleme die Gleichung Schmerz = väterlicher Missbrauch anwandte. So rasant dieser Vorgang psychologisch auch ist, hatte er für Cordula die Konsequenz zur Folge gehabt, dass 194
sich grundsätzlich nichts veränderte und verändern konnte. Im Gegenteil: Das Mehr oder Weniger ihrer tiefen Ambivalenz, das sich ursprünglich als körperliches Symptom artikulierte, hatte eine Geschichte, einen Namen und einen Täter erhalten. Auf diese Weise wurde ihrer Ambivalenz ein Familien-Roman zur Seite gestellt, was ihre Grundstruktur legitimierte und zugleich verdeckte. Die Folge: Unter dem Gesetz des väterlichen Missbrauchs war Cordula gezwungen, all ihre emotionalen wie kognitiven Wirklichkeitswahrnehmungen auf diese Ordnung hin auszudifferenzieren. Mit anderen Worten: Ihre Ambivalenz wurde Gesetz im Namen der ›Tat‹ des Vaters, was bei ihr in der unbewussten Erkenntnis mündet: »Ich weiß nicht. Also ich denke«: C:
… und ich kann mehr oder weniger einigermaßen damit umgehen, na ja, es ist mehr so gegenseitiges Geben und Nehmen, ich weiß nicht. Also ich denke jetzt, äh, irgendwo muss es einen Sinn gehabt haben, das Ganze, und einfach, ich wünsche mir jetzt einfach nur was Konkretes von dir, ähm, wobei ich mir gut vorstellen kann, dass es einfach auf geistiger Ebene ablaufen muss. Alles andere …
Cordulas Nichtwissen hatte durch die so genannte Aufdeckung des väterlichen Missbrauchs einen Namen erhalten und zugleich ihr Denken einer neuen, doppelten Unheimlichkeit ausgeliefert. Deshalb kreist ihr Denken permanent um die Achse des Mehr oder Weniger, was Brigitte im Zuge der Anamnese Punkt für Punkt herausarbeitet: 195
Mehr oder Weniger Geben und Nehmen Mehr bei den Toten als bei den Lebenden Geistig und/oder körperlich Weinen und Lachen Therapie und Rücken Kontakt und Schmerzen Nähe und Distanz Solche formelhaften Erklärungsmodelle sind für Klient und Therapeut gleichermaßen ein Teufelskreis: Der Klient kommt zum Therapeuten und sagt: ›Ich habe Schmerzen, weil ich missbraucht‹ wurde, oder: ›Ich habe Beziehungsprobleme, weil ich missbraucht wurde‹; und der Therapeut sagt: ›Dann schauen wir uns den Missbrauch an, weil dies ja die von mir autorisierte Erklärung für die Schmerzen ist‹. Ein solch geschlossenes System ist selbstreferenziell und kann in alle Ewigkeit fortlaufen, ohne dass der Klient irgendeine Besserung erfährt. Letztlich wird die Arbeitshypothese väterlicher Missbrauch selbst missbraucht, weil sie sich verselbstständigt hat (schärfer formuliert: an die Stelle des väterlichen Missbrauchs ist der therapeutische Missbrauch getreten). Ob tatsächlich bei Cordula ein Missbrauch vorlag, kann Brigitte im Rahmen von »Lämmle live« nicht entscheiden. Das ist auch nicht ihre Blickrichtung in diesem Gespräch, das ja von einer konkreten Frage bestimmt ist: C:
»Und konkrete Frage lautet: Wie schaff ich das für mich, dass ich damit leben kann beziehungsweise damit umgehen kann, wenn ich bei Familienfesten meinem Vater begegnen muss, beziehungsweise diese Stunden mehr oder weniger gut, ähm, ja, vorüberbringen muss? Ja«.
In ihrer therapeutischen Haltung kann Brigitte nicht nicht 196
sagen, dass ein Missbrauch stattgefunden hat. Brigitte wird aber Cordulas Haltung, sich selbst über ihre Körperschmerzen schützen zu wollen, würdigen, weil ihre irreale Körperwahrnehmung Indiz für schmerzliche Grenzverletzungen gleich welcher Art ist. Doch dies heißt zugleich, dass Brigitte keineswegs in die Falle läuft, das Symptom überzubewerten. Vielmehr gilt ihr Blick der Losgelöstheit, mit welcher Cordula bislang ihr Problem löste. Die Frage ist doch, wie kann sich Cordula wieder von ihrer Losgelöstheit lösen; wie kann die Arbeitshypothese väterlicher Missbrauch wieder zu einer Arbeitshypothese werden, die nur so lange interessiert, als sie auf dem Weg in die Zukunft angeschaut gehört. In diesem Sinne zielen Brigittes therapeutische Interventionen darauf ab, die abgelöste Kopf-KörperInteraktion (hier: die geistige Verarbeitung des väterlichen Missbrauchs, dort: der schmerzende Körper) wieder so anzudocken, dass Kopf und Körper die Arbeitshypothese hinter sich lassen können unter der Fragestellung »Wie geht es zukünftig weiter?« Im ersten Teil des Gesprächs gibt Brigitte dem Verselbstständigungsprozess genügend Raum, damit Cordula ihre Schutzmaßnahmen artikulieren kann. Zugleich aber zeigt sich in dieser Gesprächssequenz, wie sehr die Gleichung körperliche Schmerzen = väterlicher Missbrauch die Wahrnehmung von Cordula dominiert und zur Folge hat, dass Cordula nur jene Perspektiven zulassen will, die in diese Gleichung passen: B. L: C: B. L:
Wann geschieden? Vor drei Jahren. Hm, hm, hm. 197
C: B. L: C: B. L.: C:
B. L: C: B. L: C:
B. L:
C:
B. L: C: B. L:
C:
Den Weg, den du jetzt einschlagen willst, den kenne ich. Na ja, Cordula, welchen Weg will ich … Das ist es nicht Brigitte, das ist es nicht. Welchen Weg will ich denn einschlagen? Ich möchte gerne wirklich jetzt auf meine konkrete Frage, vielleicht nur ein Stichwort oder ich, ich muss … Sag mir, welchen Weg ich einschlagen will. Ja, das weiß ich, weil ich das schon erlebt habe. Komm, komm. Sag mir, welchen Weg ich einschlagen möchte. Ähm, kann sein, dass das mit meinem Exmann so der Weg ist, so quasi Vater-Mann-Beziehung und so weiter. Jetzt eiere mal nicht so rum. Welchen Weg wollte ich einschlagen? Du fragst ja vorsichtig. Welchen Weg will ich einschlagen? Ja, jedenfalls ist das Thema für mich abgehakt, also quasi, äh, ich, um eine konkrete Antwort. Ja, ich habe meinen eigenen Vater geheiratet mit meinem Mann, mit meinem Exmann. Das ist aber, Gott sei Dank, inzwischen soweit für mich klar. Ja. Wir haben noch eine Arbeitshypothese. Ja? Wo hast du die denn her? »Ich habe meinen eigenen Vater geheiratet«. Also, ich habe meinen Mann geheiratet und, ähm, woher haben wir denn diese Arbeitshypothese? Ich denke, ähm, diese für mich langen Ehejahren waren, waren im Bewusstsein, ähm, der 198
B. L:
Spiegel von meinem Vater. Also, jetzt wird es ganz schwierig … Nee, äh, wird nicht schwierig Cordula, ich möchte dir nur zurückmelden, das hat vielleicht jetzt auch noch gar nicht mal ursächlich ganz direkt was mit dir zu tun. Ich glaube, dass diese sechs, sieben Jahre Therapie dich auch zu einem Profi gemacht haben, einem Profi an Wissen über Probleme. Und ich habe ganz bewusst deswegen das Wort Arbeitshypothese in den Mund genommen. Und manchmal werden wir von diesen Arbeitshypothesen erschlagen und sind gar nicht mehr so im Stande, uns auf unsere innere Sicherheit zu verlassen, weil es kann ja nicht sein, es gibt ja Arbeitshypothesen. Und für mein Gefühl ist diese Frage, ob Vater treffen oder nicht, ausschließlich zu beantworten mit meiner eigenen Sicherheit. Und ich glaube, dass du neben diesen vielen Arbeitshypothesen: »ich habe meinen Vater geheiratet«, »in der Therapie kam der Missbrauch raus«, »die Schmerzen können mit dem Missbrauch« … und so weiter, ich vermute, dass du noch mehr Arbeitshypothesen auf Lager hast. Jetzt lassen wir die mal alle weg, ja?
»Also, jetzt wird es ganz schwierig …« – offen gibt Cordula zu erkennen, dass das Erklärungsmodell, mit welchem sie ihre Beziehungen deutet, für sie selbst eher verwirrend als klärend ist. Aus dieser Gesprächssequenz wird sehr schön deutlich, dass Cordula sich ein Sprechen angeeignet hat, das in ihrem Kopf eher Konfusion be199
wirkt statt Erklärung zu sein. Brigitte konzentriert sich deshalb unter Hintanstellung aller Arbeitshypothesen zunächst auf Cordulas Körperwahrnehmung, um diese zu erden. Was nimmt Cordula an Körpergefühlen wahr? Inwieweit kann sie Schmerzen (im weitesten Sinne) als Schmerzen wahrnehmen, ohne dass sogleich der Kopf mit der Arbeitshypothese dazwischen kommt? Wie sehr steht Cordula mit ihren Beinen auf der Erde? Dass Unsicherheitsgefühle zugleich auch Sicherheiten sein können, ist für Cordula überraschend. Statt Körperempfindungen als Symptome zu lesen, lernt Cordula die Perspektive kennen, diese als solche wahrzunehmen und für sich anzuerkennen. Wie schwierig dies für sie ist, zeigt sich, als Brigitte auf Cordulas Eingangsfrage zu sprechen kommt. In der Imagination des Familienfestes äußern sich Körperempfindungen, die Cordula verstören. Weil es aber keine Arbeitshypothese mehr gibt, lösen sie im Kopf Blockaden aus, das heißt: die Arbeitshypothese väterlicher Missbrauch wurde bislang immer als Lösungs-Mittel benutzt, ohne dass aber tatsächlich eine solche erfolgte. Deshalb kann Brigitte nun die Fragwürdigkeit der Arbeitshypothese selbst stellen, nachdem Cordula ihre Ohnmacht vor den verstörenden Körpergefühlen mit »Davonlaufen« beantwortet hat: C: B. L:
Davonlaufen. Richtig. Und ich hätte nicht übel Lust und ich habe das Gefühl, dass das nicht geht, dass das den Rahmen dieser Sendung sprengt. Es stände jetzt irgendwie an standzuhalten und in einer Form standzuhalten, dass du’s ertragen kannst, 200
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C: B. L.:
weil irgendwann muss ja mal Schluss sein, oder? Wie lange willst du denn noch über diese elende Plempe nachdenken? Wie lange willst du denn noch diese elende Plempe in deinem Hirn haben? Wie lange willst du denn noch die Abspaltung haben zwischen Bauch und Kopf? Das ist die Frage. Meine Frage. Und dann habe ich eine Gegenfrage: Wie lange willst du diesen Missbrauch für dich noch so lange missbrauchen, dass du am Leben nicht teilnehmen kannst? Und umgekehrt wieder die positive Frage: Wie kannst du dir den Schutz lernen, nach hinten zu schauen und nach vorne zu gehen? Nee. Und für mich ist die Frage jetzt nicht so sehr, ob ich dir noch eine Beratung stelle, irgendwann, denke ich, ist auch Schluss. Es ist wirklich Schluss. Es ist auch mit den Therapien Schluss.
Im Schlussteil des Gesprächs erarbeitet Brigitte mit Cordula ein neues Lösungsmittel. Um sie aus ihrer Fixierung auf die Arbeitshypothese zu lösen, geht Brigitte der Frage nach, was denn Cordula selbst als wünschenswerte Lösung imaginiert. »Meister Proper« ist Cordulas Antwort und zugleich ein anderer Name, mit welchem sie ihre Lösung benamen kann. Statt einer Erklärung der Körperschmerzen im Namen des Vaters bietet Cordula selbst einen anderen Namen und einen anderen LösungsWunsch an. »Du hast dir den Meister Proper eingeladen, zu 85 Prozent« – das ist Cordulas Lösungssatz, mit welchem sie sich für ein anderes Lösungs-Mittel entschieden 201
hat. Dass die Kopf-Schmerzen und die Kopf-Blockade sich gebessert hat, ist für Brigitte ein sicheres Indiz für ein gelungenes Gespräch. Cordula hat nicht nur für sich eine Antwort gefunden, mit welchem sie sich selbst in Zukunft Lösung geben kann; sie hat zugleich auch die Ablösung zwischen Kopf und Körper überwunden, denn mit »Meister Proper« als geistiggedanklichem Lösungsmittel sind auch die Kopfschmerzen besser geworden. Die Losgelöstheit hat sich gelöst und hat ihr Eigenleben verloren.
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BEZIEHUNGSSUCHT Gespräch mit Martina
Beziehungssucht Sucht ist keine Krankheit, sondern ein Verhalten. So kann seine Ursache in Familienkonstellationen begründet sein, in denen Kinder innerhalb des familialen Dreiecks die Funktion erhalten bzw. übernommen haben, den elterlichen Diskurs aufrechtzuerhalten. Solche Kinder vermitteln zwischen Vater und Mutter und werden in dieser Funktion erschöpft. Da die Eltern untereinander nicht mehr als Paar sprechen können, kommunizieren sie im doppelten Wortsinne über das Kind: Das Kind ist das einzige Gesprächsthema, das die Paargemeinschaft noch zusammenhält; gleichzeitig aber können sie nur – im Sinne von ›mit seiner Hilfe‹ – über das Kind miteinander sprechen. Diese doppelte Inanspruchnahme hat zur Folge, dass solche Kinder für sich keine Selbstwahrnehmung und kein Körpergefühl entwickeln können, denn sie sind ja innerhalb der Familie in der Position eines Boten, der neutral zu sein hat. Jegliche Versuche, sich aus der elterlichen Umklammerung befreien zu wollen, sind zum Scheitern verurteilt, weil dies zugleich die Gefährdung 203
der Paarbeziehung bedeuten würde. Süchtige sind als Kinder einerseits selbstverleugnend und andererseits identifizieren sie sich stark mit dem Ziel, die Eltern (Mama oder Papa) zu retten. Ihr Selbstbild ist unterentwickelt, weil ihre systemische Position nur Fremdbestimmung erlaubt. Suchtmittel sind dann spätestens mit der Pubertät jene Zuflucht, mit welcher die ungeheueren Konflikte zwischen Selbstbestimmungswünschen und Selbstverleugnungszwängen kompensiert werden können. Die Einnahme von Suchtmitteln wird zu einem (scheinbar) legitimen Verhalten, das entlastende Funktion hat. Die Sucht übernimmt Schutzfunktion – und dies wieder nach zwei Seiten hin: Durch die Sucht wird der Bestand des Familiensystems geschützt und zugleich schützt sich der Süchtige in seiner Triangulation durch das familiale Dreieck. Suchtverhalten lässt sich sehr schön in Form einer Sinuskurve darstellen, denn sie veranschaulicht, wie der Süchtige permanent zwischen Suchtexzess und Absturz hin- und herschwingt und zugleich in diesem Teufelskreis der Ausweglosigkeit gefangen ist. Stoffsüchte (Alkohol, Rauschgift, Essen u.a.) sind aber nur eine Form von Suchtverhalten. Zu den so genannten Sozialsüchten zählt die Beziehungssucht. Deren Sinuskurve ist durch ein Flimmern gekennzeichnet, das heißt, die Notwendigkeit von Suchtmitteln hat eine große Frequenz, doch wegen der kleinen Amplitude genügen geringe Dosen. Süchtig nach Beziehung heißt: Aufgrund der defizitären Selbstwahrnehmung und des verkümmerten Körpergefühls suchen Beziehungssüchtige soziale Kontakte, die es ihnen erlauben, sich zu spüren. Während der Stoffsüchtige sein Körpergefühl betäubt, sucht der 204
Beziehungssüchte durch Extremsituationen seinen Körper zu spüren. Diese Umkehr wird verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass Beziehungssüchte zumeist aus Familien stammen, in denen körperliche Gewalt zur Funktionssicherung der kindlichen Position innerhalb des familialen Dreiecks an der Tagesordnung war. Gewalt selbst wird gleichsam zum Suchtmittel und das in Beziehungskonstellationen, die Enttäuschungen, Verletzungen, Schmerzen, Schläge garantieren. So suchen Beziehungssüchte sich gerne verheiratete Partner, mit welchen sie Dreiecksverhältnisse pflegen können, oder gewaltbereite Menschen, die den Thrill versprechen, unter welchen Bedingungen und wann man im Laufe der Beziehung verprügelt wird. Beziehungssüchtige können nur auf solche Art und Weise Lebendigkeit erfahren. Dass diese Suchtform wie auch andere Süchte keineswegs gesund sind, macht auch deutlich, wie sehr Süchtige nicht in der Lage sind, ein gesundes Selbstbewusstsein zu leben. Der folgende Fall verdeutlicht auf exemplarische Weise die ›Gefangenschaft‹, in welcher sich Beziehungssüchtige befinden. Er macht aber auch einsichtig, wie therapeutisch mit kleinen Schritten der Weg in die Freiheit begonnen und schließlich auch gegangen werden kann.
Gespräch mit Martina (Brigitte Lämmle: B. L, Martina: M.) B. L: M.:
Besonders herzlich begrüße ich Martina. Du bist die Erste heute Abend, hallo. Hallo Brigitte. Ich freue mich sehr, und ich
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wollte dir sagen, dass ich dich sehr bewundere. Ich hätte gerne so ein bisschen von dir mit. Was hättest du denn gerne? Ja, deine, deine, deine Art, dieses Vernünftige und dieses Selbstbewusstein und all das und … Okay. Naja, und, ähm, ich bin sehr aufgeregt, mein Herz klopft bis zum Hals, ich kann kaum reden. Entschuldigung! Das macht überhaupt nichts, Martina. Ich habe hier was ganz Merkwürdiges stehen: Bei deinem Alter steht 43, aber anhören tust du dich viel jünger. Stimmt das mit 43? Ja, das stimmt, ja. Okay. Ich kann dich allerdings sehr leise nur verstehen. Das werden die Chefs ganz bestimmt hier regeln. Martina, soll ich dich fragen? Ah, ja, ich habe ein riesiges, komplexes Gebiet, also ich habe ja einen Freund, der ist verheiratet, und seine Frau weiß nichts davon, und das schon seit 13 Jahren ungefähr. Und, na ja, das ist alles so ein Problem, ich, … er ist auch so unheimlich eifersüchtig, er will nie, dass ich weggehe. Und er beschimpft mich dann, er tobt und schreit und springt übers Tor und klingelt stundenlang an der Tür, wenn ich sage: Es ist aus. Und, und er beschimpft mich: »Du Drecksack« und »Ich mach’ dich kaputt« und ihm ist auch schon mehrmals die Hand ausgerutscht und er bedroht mich und dann gebe ich wieder 206
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klein bei, und dann entschuldigt er sich auch hinterher und sagt, das täte ihm so Leid, aber … Und dann kommt das jetzt so weit, dass ich also fast wirklich gar nicht mehr weggehen möchte, irgendwohin. Meine Freundin, die wissen alle nichts, dies habe ich immer verheimlicht und … und dann sage ich immer: Ich bin ledig und habe keinen Freund und niemanden … und dann muss ich immer lügen, wenn die sagen, kommst du mal mit oder treffen wir uns mal? Seit 13 Jahren? Ja. So wie im Gefängnis? Ja, so ungefähr. Also eine ziemliche Isolation und … Ist es ein goldenes Gefängnis? Ja, das ist das Problem, also ich denke, ich bin selber so verstrickt in meinen Emotionen, und ich habe viele Bücher gelesen, auch über emotionale Erpressung und, und auch über Streitverhältnisse, dass man sich das selber ausgesucht hat und dafür eine Veranlagung hat … und … aber irgendwie … Dann kann ich dir die klassischen Fragen ja gar nicht stellen. Die kennst du schon alle. Naja, ich … Willst du raus, willst du raus aus dem Gefängnis? Ja, ich, … sagen wir mal so, ich kann, glaube ich, eine normale Beziehung nicht führen. Ich hatte vorher schon ein, zwei Freunde und zwei Beziehungen, die sind dann auch kaputt gegan207
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gen, weil ich irgendwie immer ausgebrochen bin oder weg wollte. Ich bin nicht fähig dazu, eine richtige, echte Beziehung zu führen und Also das heißt, du willst gar nicht aus diesem Gefängnis raus? Äh, ich möchte es schon … ich möchte zumindest diese Eifersucht und diese Beschimpfungen, diese Szenen nicht mehr ertragen müssen und Also, du möchtest das Gefängnis verändern? Du möchtest sozusagen mit dem Gefängniswächter verhandeln, äh, sozusagen einen Deal machen, Zigaretten gegen bessere Behandlung oder so? Ja, ich glaube so, ja. Ah ja, das heißt, du möchtest in dem Gefängnis bleiben und möchtest aber einen Deal machen. Ja. Bessere Behandlung. Ja. Okay. Jetzt bin ich der Gefängniswächter, ich tu mal so, gell, und sage: ähm, Zigaretten genügen nicht, ich will mehr, was bietest du denn noch? Ja, ich möchte gerne mehr Verständnis und Toleranz und Zärtlichkeit und Liebe, also … das möchte ich alles noch dazu. Das möchtest du. Ja, was bietest du denn dafür, dass du das von mir kriegst? Hm. Das weiß ich nicht, was ich biete. 208
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Hast ganz schön schlechte Karten, Frau, he? Ja. Hast verdammt schlechte Karten. Richtig? Ja. Also das heißt: auf diesen, diesen gibt’s ja gar keinen Deal, es gibt ja gar keine Absprachen, also werde ich auch nichts verändern. Jetzt gehen wir zu dem Anfang unseres Gespräches zurück, ist das okay? Du hättest so ein ganz klein bisschen was von meinem, habe ich das richtig verstanden, Selbstbewusstsein? Ja. Ja, Unabhängigkeit oder wie nennt man das? Mitten im Leben stehen oder tatkräftig sein oder …? Ähm, jetzt nimmst du so ein bisschen, oder wir gehen, äh, nein, wir machen das so, wir tun so, als ob dir dieses Selbstbewusstsein zur Verfügung stehen würde, ja? Ja. Was immer das ist, ist ja ein schwammiger Begriff. Mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, zum Beispiel, ja? Füße auf dem Fußboden spüren. Ja. Jetzt tun wir so, als ob dir das zur Verfügung stehen würde. Ja? Ja. Du hast es wirklich drauf! Was könntest du dann deinem verheirateten Freund sagen? Ja, dass ich mich trennen werde, wenn er so weitermacht, oder dass ich das nicht ertrage. 209
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Dass ich mich trennen werde. So, meine Gute, wie wirst du ihm das so antragen, dass er es dir nicht glauben wird? Dass er es mir nicht glauben wird? Ja. Wie schaffst du das, dass er es dir nicht glauben wird, dass er dir wieder über den Zaun springt, dass er die Türen eintritt, dass er dich beschimpft? Wie wirst du das schaffen? Das weiß ich eben nicht, sonst hätte ich das vielleicht schon gekonnt. Ach was, das machst du doch seit 13 Jahren. Ich habe dich gefragt: Wie schaffst du das, dass er es dir nicht glauben wird? Ja, indem ich ihn anschreie und sage: Es ist aus, ich will dich nicht mehr Wiedersehen, oder? Was hast du denn noch drauf? Seit 13 Jahren schaffst du es, dass er es dir nicht glaubt mit dem Selbstbewusstsein, mit dem: Ich trenne mich; mit dem: Ich sorge gut für mich. Wie schafft du das? Das weiß ich nicht. Ah, ah, ah, da bist du doch Weltmeisterin. Wo bin ich Weltmeisterin? Zu sagen: ich werde wieder rückfällig. Ach so, ja. Ja, weil er sich entschuldigt, und dann sagt er, er liebe mich so sehr und es täte ihm so Leid. Okay. Wie schaffst du das – ich weiß, dass es eine verrückte Frage ist – wie schaffst du das, dass du immer wieder rückfällig wirst? Wie 210
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schaffst du das, dein: ›Ich trenne mich‹ so zu übertragen, dass er dir nicht glauben wird? Ja, ich liebe ihn wohl oder ich bin emotional sehr an ihn gebunden und traue mich nicht, also wirklich mich zu trennen. Genau. Das heißt in diesem ›Ich trenne mich‹ ist gleichzeitig schon so etwas Verzagtes, dass er nur mal: Wuff! machen muss – und was passiert? Ich verzeihe ihm das und habe Verständnis für ihn und … Ganz genau. Was machen wir jetzt, wir zwei beiden? Gibt es da eine Lösung oder kann man da was verändern? Haha. Noch mal angeschaut: Was willst du lösen? Möchtest du den Deal im Gefängnis machen: Ich will es nur ein bisschen besser haben; oder möchtest du aus dem Gefängnis raus? Ja, ich bin so ambivalent. Es gibt Zeiten, da möchte ich raus, weil ich bin auch schon sehr depressiv hier zu Hause gewesen und habe den ganzen Tag im Bett gelegen und denke, ich bin so handlungsunfähig und weiß selber nicht: möchte ich oder möchte ich nicht und … Und dann? … und was ist, was passiert dann mit ihm, wie reagiert er dann, wenn ich, wenn ich ihm das sage, ich … Und alleine die Vorstellung, was er sagen könnte, haut dich aus dem Bett raus, oder? Ja, die ist sehr erschreckend für mich. 211
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Die ist erschreckend für dich, und dann kriegst du den Adrenalinschub und du springst aus dem Bett und die Depression ist weg. Richtig? Nee, eigentlich macht sie mich nur ängstlich, ja noch, dass ich mich gar nicht traue. Und wo ist die Depression? Hm, na ich denke so viel nach und denke, ich möchte das alles nicht mehr so, ich möchte gerne raus. Frage ich dich noch mal: Willst du die Bedingung im Gefängnis verändern oder willst du raus? Und davor möchte, also davor möchte ich dir ganz gerne, bevor du diese Entscheidung triffst, möchte ich dir ganz gerne was erzählen: aus dem Gefängnis rauszugehen, heißt auf etwas verzichten, was … ja, vielleicht hast du eine Ahnung, ehe ich dir erzähle, was es sein könnte. Auf was wirst du verzichten müssen, wenn du aus dem Gefängnis rausgehst? Ja, dass ich alleine erst mal und habe keinen Freund und … Okay. Und was wäre mit deiner Depression? Ich glaube, die wäre dann weg, dann könnte ich frei sein und könnte hingehen, wohin ich möchte und … Aber dann tätest du’s. Ich frage – ich noch mal, auch wenn es wieder paradox ist: Auf was würdest du verzichten, du würdest aus dem Gefängnis rausgehen? Hm, verzichten ist halt nicht???, ich stelle mir nur so??? was vor, aus dem Gefängnis raus zu sein, also die goldene Freiheit hätte ich … 212
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Die goldene Freiheit? Ja. So, dann nehmen wir die, die goldene Freiheit, ja? Ja. Und jetzt drehst du dich ganz langsam noch mal zu diesem Gefängnis zurück. Machst du diese Bewegung mit? Ja. Und von was verabschiedest du dich dann, wenn du dieses Gefängnis siehst? Hm, vielleicht von emotionaler Nähe oder von Liebe oder? Ich sage dir von was: Du liegst nicht mehr am Tropf. Der Tropf, den du seit 13, hier bei dir, äh, eintröpfeln lässt, das legst du sozusagen richtig an so einen permanenten Tropf, ist, ähm, äh, Anspannung, Entspannung, Warnung, Entwarnung, Power, Kraftlosigkeit, ein permanent pulsierendes Leben, was dir da in diesen Tropf reingeträufelt wird. Ja. Ach ja, das könnte sein, dass es mich bei Depressionen auch wieder be … Und jetzt drehen wir uns noch mal um. Magst du dich davon verabschieden und magst wirklich in die goldene Freiheit hinschauen und sagen: und ich kann mich alleine versorgen? Nee, das würde ich wahrscheinlich doch nicht, ich wäre nicht imstande zu. Genau. Da wird die Stimme wieder ganz piepsig und ganz zart. Ja, aber … was mache ich denn da, was bleibt 213
B. L:
M.: B. L:
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mir denn jetzt, muss ich jetzt in dem Gefängnis bleiben, mit diesen Bedingungen? Schau dir die Bedingung an, ich habe von Anfang an von einem Deal gesprochen. Jährlich, Jahr für Jahr, äh, wird der Gesichtsverlust größer, du wirst geschlagen, du wirst beschimpft, die Erniedrigungen werden immer größer. Ähm, um diesen Thrill zu haben, diesen permanenten Tropf zu haben, wirst du Jahr für Jahr schwächer, erniedrigter. Ja, das merke ich, das stimmt, ja. Das ist spürbar. Und deswegen rufst du mich heute an, weil du eine vage Ahnung davon hast, dass du jährlich, dass deine Adern dünner werden, wo der Tropf reinkommt. Ja, das stimmt. Dass es brüchiger wird. Dass du schwächelst. Und deswegen rufst du heute an. Dass du in einer, du bist in einer Ausgangsposition, wo die Waage noch sehr unruhig kippelt: Was soll ich machen? Und natürlich eröffne ich dir die Perspektive, dass die Adern immer brüchiger werden, dass die Beschimpfung, dass die, dieser Gesichtsverlust wöchentlich schwer wiegender wird. Ja, das stimmt. Ich bin eigentlich kaum noch da. Das ist spürbar. Als ob du dich, wie mit deiner Stimme, auflöst und immer zarter wirst. Als ob die Adern an deinem Arm, wie bei jemandem, der spritzt, immer dünner werden. Und insofern kann ich, die ja für Leben steht, du möchtest gerne bei mir anzapfen, äh, die für kräftige 214
M.:
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Adern sorgt, die für Durchblutung sorgt, ich stehe fürs Leben hier. Ich kann dir nur eine Empfehlung geben. Die heißt: schau nach vorne. Und gleichzeitig weiß ich, dass du’s, dass du jemanden brauchst, der dich an die – therapeutisch gesehen – an die Hand nimmt und mit dir die ersten Schritte gemeinsam macht. Ja. Das glaube ich auch. Also, ich wollte noch sagen, ich hatte, wir haben also fast jeden, jede Woche Theater, weil ich mal weggehe, weil Geburtstage sind oder so, und dann meinte er, gestern war ich auch weg und dann meinte er: »Für mich bist du gestorben.« Und heute hat er sich den ganzen Tag nicht gemeldet. Und letzte Woche da war auch was und vor zwei Wochen, da meinte ich, ich mache Schluss mit ihm, weil ich so nicht mehr leben möchte, ich bin ein freiheitsliebender Mensch und ich möchte kommen und gehen, wann ich möchte, und ich mache Schluss. Und dann meinte er dann so zu mir: »Ach, was du mir da aufs Band gesprochen hast, auf die Mailbox, das nehme ich nicht für ernst, das ist alles Larifari, das habe ich sofort wieder vergessen und gelöscht.« Also er nimmt mich, er, er versteht mich auch gar nicht und … Nimmst du dich ernst? Bitte? Nimmst du dich ernst? Hm, ja, aber nicht ernst genug, dass ich … Du fängst sofort wieder an von ihm zu babbeln. Ja. Du nimmst dir sofort wieder deine Infusion. 215
M.: B. L:
M.: B. L: M.: B. L: M.: B. L: M.: B. L:
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Ja. Verstehst du, ich stehe gerade vor dem Gefängnis und sage: Meine Gute, rechne das hoch, was du mit dir machst … Ja, aber ich habe … … deine Adern werden dünner, brüchiger. Die Haut sieht wie jemand aus, der gespritzt hat … Ja, aber er lässt … … und du gehst sofort wieder zu ihm. Natürlich lässt er dich nicht. Er lässt mich ja nicht. Das habe ich verstanden. Er wehrt sich ja dagegen, mich gehen zu lassen. Und noch mal, Martina, in dem Augenblick, wo ich dich ganz kurz vor die Gefängnistür gebeten habe, du kannst dich noch erinnern? Ja. Dir war nämlich schon ganz schön gruselig in der Vorstellung: Ich kriege immer mehr Gesichtsverlust, ich werde immer mehr beschimpft. Kannst du dich noch an das Gruseln erinnern? Ja. In dem Augenblick hatte ich dich ein ganz kleines bisschen vor die Gefängnistür gelockt, als ob du die Tür gerade so ein bisschen aufgemacht hast. Und ich habe gerade gesagt, da sitzt vielleicht auch der Therapeut oder die Therapeutin, die dich begleitet. Schwupps, bist du zurückgegangen. Du hast gar nicht mehr hingeschaut, sondern du bist ganz schnell gerannt und hast: »Er, er, er, er«, geredet. 216
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Ja. Insofern kann in unserem Gespräch nur diese Perspektiveöffnung sein: Wie sieht es jenseits des Tores aus? Ja, aber … Und in diesem Gespräch, auch noch mal gespiegelt, wie schnell du rückfällig wirst, wie von einem … Ja, weil seine Reaktion ist ja dann da, wenn ich gehen möchte, dann wird er Szenen machen wahrscheinlich oder … Klar. … oder hat auf der Stelle eine andere parat, das kann auch sein. Klar. Der hat schon noch ’ne Menge … Hat er schon … Der hat schon noch ’ne Menge Pulver. Das ist wie beim Heroin, und der Stoff ist da und der Stoff ist da. Ja, und da weiß ich nicht … Und da weiß ich nicht, wie ich mich dagegen wehren kann … Jetzt sind wir wieder im Gefängnis. … ohne Szene. Jetzt sind wir wieder im Gefängnis. Ich kann mit dir nur den Unterschied oder daran arbeiten, den Unterschied zu spüren, wie viel Leben im Gefängnis ist, und dass dieses Rauskommen nicht golden genug ist, dass du wirklich rausgehen magst. Deswegen noch mal der Hinweis: Das Leben findet draußen statt. Das ist ein Drogenleben im Gefängnis. Ja. 217
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M.: B. L.: M.:
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Das ist ein Leben mit zunehmendem Gesichtsverlust, das ist ein süchtiges Leben. Ja. Ich stehe für das Leben draußen. Ja, kannst du mir denn eine Adresse geben oder …? Das klingt schon besser. Das klingt schon besser. Ich hatte gehofft, das käme ohne, aber das schaffe ich wohl nicht. Das klingt schon besser. Und jetzt möchte ich von dir noch mal hören, wo stehst du in dem Augenblick, wo du zu mir sagst: Kannst du mir eine Adresse geben? Ja, auf der Tür nach draußen, also in der Tür, nehme ich mal an. Genau. Und jetzt habe ich eine Frage: Von meiner Seite ist eine sehr intensive Beziehung aufgebaut, von dir noch mal die Antwort: Kannst du ungefähr den Unterschied spüren zwischen Gefängnis hier und in der Tür stehen da? Ja. Oder fühlt sich das gleich für dich an? Nein, es ist schon, äh, ein befreienderes, also dass ich mich selbst wieder mehr spüren kann, also mehr Kraft haben könnte und mein Leben leben könnte. Und mit dieser Imagination, ähm, mag ich mich im Moment zufrieden geben. Ja. Weil, ähm, ich, äh, für deinen Mut, nein, ich möchte mich für was ganz anderes … Natürlich 218
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kriegst du die Adresse, du bleibst dran und du bekommst sie gleich. Ich möchte dir nur noch was rückmelden: Ich möchte dir rückmelden, dass dieses Gespür für dich, in dem Augenblick, als du zum Telefonhörer gegriffen hast, in die richtige Richtung gegangen ist. Ja. Ich spüre bei dir einen Schutzmechanismus, ich spüre bei dir eine Kraft. Mach’ weiter so. Danke schön, Brigitte. Bleib’ dran. Danke. Tschau.
Gesprächsanalyse (Brigitte Lämmle: B. L, Martina: M.) Martinas Gesprächseröffnung ist gleichsam das offene Buch ihrer Beziehungsstruktur: Offen spricht sie ihre Bewunderung für Brigitte aus, um gleichzeitig zu bedeuten, wie sehr sie sich selbst ablehnt. In Brigitte phantasiert sie ein Ideal, das sie doch so gerne selbst verkörpern würde. Die Löcher im Selbstbild von Martina sind ihrer Selbsteinschätzung nach: ihr Charakter, ihre Vernunft und ihr Selbstbewusstsein. Weil Martina dies so unmittelbar Brigitte als Begrüßungsgeschenk anbietet, liegt der Verdacht nahe, dass es für Martina jene Wunden sind, die sie in jeder Beziehung schmerzen, weshalb sie Brigitte indirekt um Rücksichtnahme und Schonung bittet. Wie Anrufer Brigitte begegnen, so verhalten sie sich auch ihrer Umwelt gegenüber. Martinas Offenheit ist die
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einer verletzten Person, die in Beziehungen ihre Wunden vor sich herträgt, um gleichzeitig ihr Gegenüber zu bewundern und aufs Podest zu stellen. Was sie aber nicht zu erkennen gibt, sind die Motive und unbewussten Beweggründe, die in dieser Beziehungshaltung zum Ausdruck kommen. Was sich so offen und unmittelbar benennen lässt, spricht bei Martina körperlich eine andere Sprache: Ihre Aufgeregtheit und ihr Herzklopfen, das bis zum Hals schlägt, sind so überwältigend, dass ihr das Sprechen fast unmöglich ist. Die Körpersprache ist ein volles Sprechen, während ihre Idolatrie von Brigitte und die Gabe ihrer Wunden ein leeres ist. Zwischen physiologisch-vegetativer Körpersprache und Verbalsprache ist auch Martinas Stimme angesiedelt: eine sehr junge, mädchenhafte, also unausgereifte Stimme. Eine solche Stimme legt die Vermutung nahe, dass Martina es nie gelernt hat, sich selbst erwachsen artikulieren zu können. Die Stimme als Grenze und Mittlerin zwischen Innen und Außen, Körpersprache und Verbalsprache, Physiologie und Psychologie, Monolog und Dialog ist dieser Aufgabe nicht gewachsen und keineswegs aus einem kindlich-jugendlichem Stadium erwachsen. Wie stark die Innenwelt dominiert, wird auch daran deutlich, dass Martina Brigitte »allerdings sehr leise nur verstehen« kann. Zu dominant sind die depressive Grundstimmung und die Mächtigkeit des physiologischen Empfindungssturms, als dass Martina auf das Außen hören und dialogisieren könnte. Zur Entlastung bietet Brigitte ihr an, sie zu befragen, was Martina ermächtigt, ihre Antworten sagen zu können. Martinas Problem lässt sich auf die Kurzformel 220
bringen: »ich … er«. Was sich in ihrer Begrüßung von Brigitte schon angedeutet hatte, wiederholt sich strukturell in ihrem Beziehungskonflikt. Auf der einen Seite ist das psychomotorische Körperbündel Martina (genannt: ich), auf der anderen Seite eine Körperganzheit (genannt: er), für dessen Perfektion Martina ihn bewundert bzw. dessen Perfektion von Martina an ihm imaginiert wird. Eine schräge Liebesbeziehung, weil die Imagination seiner perfekten Körperganzheit von Martina verlangt, dass sie ihn bewundert, und sie zugleich zu dieser Bewunderungshaltung verdammt, damit er ja nicht verschwindet. Was aber passiert, wenn Martina »weggeht«: Aus der bewunderten und angehimmelten Statue wird ein unheimlich eifersüchtiger, tobender, schreiender, springender lebendiger Körper, der in Szene setzt, was sich im Innern von Martina nicht nur als Empfindungssturm, sondern auch in inneren Monologen artikuliert. Die Beschimpfungen nämlich, die nach Darstellung von Martina ihr Freund macht, formuliert sie nämlich in Form eines inneren Monologs, welcher der ihrige ist: »Du Drecksack« und »Ich mach’ dich kaputt«. Die Spiegelmetapher ist ein hilfreiches Bild, um Martinas Beziehung zu ihrem Freund strukturell auf den Punkt bringen zu können. Schon aus dem Anfang des Gesprächs und den Schilderungen von Martina wird deutlich, dass ihre Beziehung zu ihrem Freund eine Beziehung ist, an deren Aufrechterhaltung sie maßgeblich, d.h. seit 13 Jahren, beteiligt ist. Da der Freund nicht Gesprächsteilnehmer ist, müssen Martinas Aussagen in ihrer Perspektivität respektiert und relativiert werden. Letztlich ist dies aber nicht so entscheidend. Viel entscheidender 221
ist, dass es bei solchen Gegebenheiten nahe liegt, von einer Beziehungssucht zu sprechen. Diese Einschätzung wird durch Martinas Gesprächseröffnung und Problemschilderung gestützt: Auf der einen Seite artikulierte sie ihre Selbstbestimmungswünsche am Spiegelbild Brigitte und gleichzeitig lebt sie in ihrer Beziehung zum Beziehungs-Idol verheirateter Mann seit über einem Jahrzehnt ihren Selbstverleugnungszwang. Menschen, die in ihren Beziehungsdefinitionen Süchtige sind und diese nach dem Strukturmodell der Spiegelbeziehung konstruieren und gestalten, zeichnen sich dadurch aus, dass sie starre, unbewegliche Verhältnisse etabliert haben. Der Grund liegt auf der Hand: Der unlösbare kindliche Konflikt zwischen Selbstbestimmungswünschen und Selbstverleugnungszwängen, der in vielen Familien durch Gewalt diszipliniert wird, hat sich verselbstständigt und findet in der Sucht nach paradoxen Beziehungsstrukturen seine entlastende Funktion. Der innere Konflikt ist in äußere Beziehungskonflikte projiziert worden. Die innere Auseinandersetzung ist vom Kampf um unlösbare Beziehungskonstellationen ersetzt worden, der zum einen vor der zerstörerischen Auseinandersetzung mit sich selbst schützt und gleichzeitig sich spüren lässt. Das permanente Ringen um eine Beziehung entlässt den inneren Konflikt und sorgt zugleich für den notwendigen Lebensthrill, um sich körperlich wahrnehmen zu können. Tatsächlich aber ist der erwählte Partner nur das Spiegelbild der eigenen Selbstbestimmungswünsche und zugleich in der Rolle desjenigen, der die Selbstverleugnungszwänge zu verantworten hat. In der Beziehungssucht herrscht also eine doppelte Verkennung vor: Der Beziehungssüchtige verkennt, dass sein so genannter 222
Partner nicht anderes als das Außen seines inneren Konflikts verkörpern soll, und gleichzeitig verkennt er, dass es Sucht ist, die ihn an den Menschen bindet. Doch kehren wir zurück zu Brigittes Gespräch mit Martina und betrachten wir die Interpunktion der Ereignisfolge einer solchen Beziehung. Martinas Verhältnis zu ihrem erwählten Spiegelbild ist bestimmt von Extremen an affektiven Bindungen, die sich in unserem Kulturkreis in Sexualität und Aggressivität äußern. Solange das Spiegelbild in jener Position verharrt, die ja die eigene Mangelhaftigkeit vergessen machen soll, wird es bewundert, verehrt, aufs Podest gehoben und angebetet. Absolute Unterwürfigkeit und Willenlosigkeit sind Artikulationsformen dieser Abhängigkeit. In dem Augenblick aber, da das Spiegelbild sich aus dieser Position entfernt, schlägt diese Form von Liebe in Hass und (Selbst-)Zerstörung um. Warum? Weil mit der Zerstörung der Spiegelbeziehung die Wahrnehmung der eigenen Mangelhaftigkeit einhergeht. In solchen Momenten beginnt die Physiologie zu sprechen. Die Körpersprache artikuliert das Gefühl von Ohmacht und absoluter Hilflosigkeit, als ob man »kaputtgemacht« oder »geschlagen« werden würde. Mit dem Gefühl der eigenen Hinfälligkeit gehen meist auch Selbstbeschimpfungen einher, wie zum Beispiel »Du Drecksack«. Aus Angst vor dem Entzug des Spiegelbildes konstellieren solche Menschen gerne Situationen, durch welche das Spiegelbild selbst jene Selbstentwertungen ausspricht. Mit anderen Worten: Die Lebens- und Überlebensstrategien zielen allesamt darauf ab, die eigene Ohnmacht und das Gefühl von Zerstückelung zu verhindern, indem man sie ins Außen projiziert. 223
Menschen mit einer solchen psychischen Disposition, die für Beziehungs-Süchtige kennzeichnend ist, empfinden ihr Leben als Gefangenschaft. Sie träumen von Freiheit, können aber diese erträumte Freiheit nur idealistisch und realitätsfern phantasieren. Die Folge ist, dass sie an der von ihnen konstruierten Wirklichkeit immer scheitern müssen, wenn sie ihre erträumte Freiheit im Alltag einlösen wollen, was von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerbricht am Imaginären des Erträumten und dem Symbolischen von Wirklichkeit. Selbstentlarvend wird Martina zum Ende des Gesprächs auch von »goldener Freiheit« im Gegensatz zum »goldenen Käfig« ihrer eigenen Gefangenschaft sprechen. Doch, um dorthin zu gelangen, muss Brigitte zunächst einmal die »Isolation« und »Gefangenschaft« von Martina thematisieren und in ihren Ausprägungen und Körpergefühlen zur Sprache bringen. Martina will gar nicht aus ihrem Gefängnis. Ihre Problemlösung glaubt sie darin zu finden, dass sie durch Brigitte Mittel und Wege an die Hand bekommt, um das Spiegelbild (»er«) in jener Position »einmauern« zu können, die ihr »Verständnis«, »Toleranz«, »Zärtlichkeit« und »Liebe« entgegenbringt. Statt ›entgegenbringen‹ kann man auch ›reflektieren‹ sagen. Deshalb lädt Brigitte Martina dazu ein, die Blickrichtung zu wechseln: Was sieht das Spiegelbild in Martina – oder anders gewendet: Ist Martina genauso makellos, wie sie es sich von ihrem Spiegelbild wünscht. Über den Perspektivwechsel gelingt es Brigitte, Martina mit dem Gedanken ihrer eigenen Mangelhaftigkeit (»das weiß ich nicht, was ich biete«) vertraut zu machen. 224
Jetzt kann Brigitte den Begriff »Selbstbewusstsein« aufnehmen, mit welchem Martina ihr eigenes Manko bezeichnet hat. Um aber zu verhindern, dass Martina in ein Lamentieren und Selbstbemitleiden verfällt, stellt Brigitte ihr eine paradoxe Frage: »Wie wirst du ihm das so antragen, dass er es dir nicht glauben wird?« Anders gewendet: Wie verhält sich die Martina zu sich selbst, damit sie den bestehenden Zustand aufrechterhalten kann? Mit der paradoxen Frage thematisiert Brigitte zugleich das vorhandene ›Selbstbewusstsein‹ dessen Kraft ja in der Lage ist, die bestehende Spiegelbeziehung seit 13 Jahren aufrechtzuerhalten. In Fällen, wie der von Martina, darf man nicht übersehen, dass aus der Angst vor Zerstückelung auf Grundlage eines gewaltigen Inszenierungspotenzials eine ungeheuere Kraft aufgewendet wird, um die Umwelt immer wieder in jene Position zu bringen, welche die eigenen Mängel und Körperängste kompensiert. Dass dieser Kraftaufwand dem eines Drogensüchtigen nicht unähnlich ist, der sich Tag für Tag seinen Stoff besorgen muss, liegt auf der Hand. Es gilt ja, das zerstörerische Körpergefühl zum Schweigen zu bringen – ein Körpergefühl, das dem Entzug von Drogen gleicht. Brigittes »verrückte« Frage ist Dialog mit einem verrückten System. Sukzessive gelingt es ihr, Martina auf die Dimension ihrer Abhängigkeit hinzuweisen, in dem diese die Ohnmacht ihrer Sprachlosigkeit erkennt: B. L: M.:
Und von was verabschiedest du dich dann, wenn du dieses Gefängnis siehst? Hm, vielleicht von emotionaler Nähe oder von Liebe, oder? 225
Brigitte ist es gelungen, in das ›Gefängnis‹ von Martinas Innenwelt zu gelangen. Deshalb kann sie Martina auch zu der Gedankenreise animieren, dieses Gefängnis von außen zu betrachten. Je mehr sich aber Martina von ihm entfernt, desto mehr verändert sich erwartungsgemäß ihre Stimme: »Da wird die Stimme wieder ganz piepsig und ganz zart«. Was Martina verlassen hat, ist die Zelle ihres verqueren Selbstbewusstseins, das an der Grenze zum Außen immer verunsicherter wird. In diesem Zusammenhang muss an die Funktion von Stimme und Sprache bei der Vermittlung zwischen Innen und Außen, Anspruch und Wirklichkeit, Wunsch und Erfüllung erinnert werden. Der Mensch ist ein sprechendes Wesen – und einzig durch Sprache ist es ihm möglich, sich mitzuteilen, Verbindlichkeiten zu schaffen und Wirklichkeiten dialogisch gestalten zu können. Wer keine Stimme hat oder wem die Stimme versagt, bleibt ungehört. Martina erschrickt vor dieser Selbsterfahrung: »Ja, aber … was mache ich denn da, was bleibt mir denn jetzt, muss ich jetzt in dem Gefängnis bleiben, mit diesen Bedingungen?« Martina ist auf einem guten Weg. Ihr Erschrecken kann sie artikulieren, das heißt sprachlich und mit Stimme ausdrücken. Sie ist in der Lage, mit Brigitte in einen Dialog hierüber zu treten und gleichzeitig die Physiologie des Erschreckens von sich ablösen (›in Sprache und als sprachlicher Ausdruck verobjektivieren‹). Erst mit diesem wesentlichen Schritt kann Brigitte die Körperdimension ansprechen und somit zum Thema machen. Martina kann über ihren Körper und ihre Körpergefühle sprechen, ohne dass es ihr die Stimme versagt. Sie kann ihren Körper und ihr Körpergefühl als Objekt anse226
hen und annehmen, dass sein Spiegelbild permanent zerbrochen wird. Mit anderen Worten: Brigitte ist es gelungen, das Projektionsverhältnis derart aufzulösen, dass Martina an die Stelle des Geliebten ihr Ideal-Ich setzen und betrachten kann. Vom Anfang des Gesprächs ist ja bekannt, dass das Ich-Ideal Martina schon in ihrer Bewunderung für Brigitte formuliert hatte. Das Ideal-Ich, das heißt die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Sprache sind von Martina bislang verdrängt worden und durch die »Er«-Beziehung ersetzt worden. Martinas Problem »Ich … er« ist also vielmehr das Problem »Ich-Ideal … Ideal-Ich«. Sehr schön kommt diese Substitution nochmals zum Ausdruck, als Martina vor den Konsequenzen dieser Selbstbezüglichkeit flüchten möchte: B. L:
In dem Augenblick hatte ich dich ein ganz kleines bisschen vor die Gefängnistür gelockt, als ob du die Tür gerade so ein bisschen aufgemacht hast. Und ich habe gerade gesagt, da sitzt vielleicht auch der Therapeut oder die Therapeutin, die dich begleitet. Schwupps, bist du zurückgegangen. Du hast gar nicht mehr hingeschaut, sondern du bist ganz schnell gerannt und hast: »Er, er, er, er«, geredet.
Erst als Martina von sich aus bereit ist, nach einer Adresse zu fragen, hat das Gespräch sein Ziel erreicht: Martina hat von sich aus erkannt, dass die vorhandene Spiegelei aufgebrochen und nur durch die Einführung einer dritten Instanz aufgearbeitet werden kann.
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›ICH WILL/DU MUSST‹-Struktur Gespräch mit Wolfgang
›Ich will/Du musst‹-Struktur Jede Paarbeziehung bildet zugleich auch eine mehr oder weniger enge Koalition. Nicht selten funktionieren solche Zweisamkeiten so lange problemlos, bis nicht Verwandte, Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen als Dritte dazukommen. In solchen Situationen kann es nämlich passieren, dass die enge Verbundenheit aufgelöst und der Partner bei bestimmten Themen die Koalition öffnet und schlichtweg anderer Meinung ist. Je länger Paare eine enge Koalition pflegen und diese nach außen hin schützen, desto größer sind ihre Schwierigkeiten, ihre Zweisamkeit gegenüber Dritten zu öffnen und flexibel zu handhaben. Ein solcher Dritter kann auch ein gemeinsames Kind sein. Mit seiner Geburt ist aber keineswegs die Grundstruktur der Paarkoalition gelöst, was zur Folge hat, dass in verstärktem Maße die Eltern bemüht sind, ihr Gleichgewicht auszuhandeln. Paare, die jahrelang versuchen, ein gemeinsames Kind zu bekommen und keine Kosten und Mühen scheuen, dieses Ziel auch mit ärztlicher Hilfe zu erreichen, sind in 228
vielen Fällen einer solchen Paarstruktur verpflichtet. Der unerfüllte Kinderwunsch, der mit aller Militanz verfolgt wird, ist Symptomträger und Projektionsfläche unerfüllter Sehnsüchte. Der Grund liegt auf der Hand. Enge Koalitionen verhalten sich spiegelbildlich zueinander. Jeder der Partner zentriert sich nur auf den anderen, um so den unbewussten Wunsch nach ungeteilter Aufmerksamkeit erfüllt zu sehen. Enge Koalitionen haben dabei die »Ich will/ Du musst«-Struktur, durch welchen es beiden Partnern gelingt, den jeweils anderen auf sich zu zentrieren. Die Ursache für ein solches Beziehungsverhalten ist ein Erleben, in der Kindheit nicht satt geworden zu sein. In ihrem Selbstbild und in ihrer Selbstwahrnehmung lebt ein Mangel, der nicht in die Persönlichkeitsstruktur integriert ist, sondern als ›Fass ohne Boden‹ gelebt wird. Vor diesem Hintergrund sind Paare, die der »Ich will/ Du musst«-Struktur gehorchen, selbst noch Kinder, die permanent versuchen, ihren ›Hunger‹ zu stillen, was niemals gelingen kann. Der Kinderwunsch solcher Paare hat deshalb eine zweifache Bedeutung: Es ist der Wunsch von Kindern und zugleich der Wunsch nach einem Kind. Letzterer aber projiziert nur den Wunsch nach Aufmerksamkeit von sich auf das Kind, was zur Folge hat, dass man von der Zeugung über die Geburt bis hinein in den Alltag seine Aufmerksamkeit auf das Kind umlenkt. Wer ein solches System nicht erkennt, läuft in die Falle und wird von solchen Paaren in ihrem Wunsch nach ungeteilter Aufmerksamkeit funktionalisiert. Ärzte zum Beispiel, die nicht hinschauen, wofür der unbedingte Kinderwunsch eines solchen Paares steht, bedienen mit ihren – oftmals – jahrelangen Bemühungen just jenen 229
Aufmerksamkeitswunsch und verkennen, dass auch der Kinderwunsch nur Selbstzweck ist. Gleichwohl müssen Beratungen und Ratschläge scheitern, weil ein solches System Aufmerksamkeit als Selbstzweck sucht und in der Zuwendung Beachtung findet, ohne dass sich diese versteinerte Welt mit ihrer engen Koalition auflösen ließe. Therapeutisches Ziel kann es deshalb nur sein, über Interventionen diese Struktur aufzuweichen und zu verflüssigen, um somit die Voraussetzung zu schaffen, dass der Stresssatz ›Wir bekommen nicht, was wir wollen‹ unbeschwerter betrachtet und bearbeitet werden kann, so dass ein neues Gleichgewicht ausgehandelt werden kann.
Gespräch mit Wolfgang (Brigitte Lämmle: B. L, Wolfgang: W.) B. L:
W.: B. L: W.: B. L: W.:
B. L:
Ich begrüße ganz besonders herzlich wie immer unseren ersten Anrufer, den Wolfgang. Wolfgang hallo. Hallo Brigitte. Du erzählst mir? Ja. Okay. Ja, es ist also so, dass, äh, ich seit, äh, vielen Jahren schon verheiratet bin, sage ich mal, und, äh, wir haben drei Kinder. Äh, und seit, äh, der Geburt des erstens Kindes, mh, wie sag ich mal, da ist es nicht mehr so wie früher im, im Bett, sage ich mal. Mh.
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W.:
B. L:
W.:
B. L: W.:
B. L: W.: B. L:
Und auch die, die Beziehung an sich hat sich natürlich geändert, da das … natürlich das Kind da war, das erste. Und, äh, ja wir haben also immer mehr Probleme miteinander, weil ich also schon mal andere Wünsche und Vorstellungen habe, die meine Frau, sage ich mal, etwas anders sieht, was gerade die Sache im Bett angeht. Es gibt natürlich dann auch Probleme in der Kindererziehung, weil dann sind diese, diese … sage ich mal, Probleme sich auch darauf auswirken, dass man unterschiedlicher Meinung ist. Und ich bin also immer gereizter und gereizter dadurch, dass ich nicht das bekomme, was ich will, und, äh, so spielt das natürlich immer hoch und schaukelt sich hoch. Ja, und irgendwann eskaliert das natürlich dann, ne. Das ist natürlich ein Problem. Dass ich nicht mehr das bekomme, was ich will. Äh, mal so im Gegenzug gefragt, bekommt deine Frau das, was sie will? Ja, das ist eine schwierige Frage, klar. Sie sagt zu mir, äh, sie … sage ich mal, hat nicht unbedingt das Bedürfnis nach Sex zu haben. Trotzdem frage ich dich noch mal: Bekommt sie das, was sie will? Ich denke nicht. Äh, sie möchte in Ruhe gelassen werden, sage ich mal, was das angeht, denke ich. Also, so habe ich das zumindest verstanden. Mh. Ähm, du hast gesagt, viele Jahre verheiratet. Wie viele Jahre? Äh, wir sind jetzt schon 15 Jahre. 15 Jahre. Und das erste Kind ist wie alt? 231
W.: B. L: W.: B. L: W.:
B. L:
W.: B. L: W.: B. L:
W.:
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W.: B. L:
Äh, 7 Jahre, also nicht ganz, 6 drei Viertel. Das heißt, ihr ward ’ne lange lange Zeit verheiratet, bevor das erste Kind sich angemeldet hat. Korrekt. Wie kam das? Erst, sage ich mal, äh, haben wir versucht, finanziell alles auf eine vernünftige Basis zu stellen, und dann, sage ich mal, klappte das nicht sofort mit dem Kind. Habt ihr, äh, mehrere Anläufe über Ärzte nehmen müssen oder hat das dann von alleine doch noch geklappt? Nee, von alleine nicht. Es waren Ärzte, die da mit im Spiel waren. Bei dem ersten Kind oder bei allen Kindern? Nur bei dem ersten mit den Ärzten. Bei dem ersten Kind. Ähm, und was hab … äh, wie hat es dann geklappt? Was habt ihr da vorgenommen? Meine Frau hat mehrere, äh, äh, … Untersuchungen erst gehabt, und dann ist … ist da irgendwas mit der Eileiter, die waren wohl verklebt oder was und dann ist da wohl irgendwas gemacht worden, dass die frei wurden. Mh. Aber ihr habt nicht nach Eieruhr sozusagen, äh, miteinander geschlafen oder Auflagen bekommen oder Fieber gemessen, und du bist dann aus dem Büro schnell nach Hause, weil gerade der geeignete Zeitpunkt oder so … das war nicht? Das, das war vorher schon. Das war vorher. Wie lange war der Zeitraum 232
W.: B. L: W.: B. L: W.: B. L: W.:
B. L: W.:
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W.:
ungefähr … dass ihr euch wirklich dieses Kind erarbeitet habt? Äh, das habe ich akustisch nicht verstanden. Wie lange war der Zeitraum, wo ihr euch dieses Kind sozusagen erarbeitet habt? Zwei, drei Jahre. Zwei, drei Jahre? Würde ich sagen, ja. Wie war das für deine Frau? Ich denke mal, äh, sie ist schon unter sehr starkem nervlichen Druck … Also sie hat sich auch sehr ein Kind gewünscht, von daher war es für meine Frau sicher sehr stressig, die nervliche Situation, meine ich. Du denkst es dir oder besprecht ihr das auch? Wir hatten das besprochen. Also, dass wir das Gespräch … die, sage ich mal die Gespräche innerhalb des Freundeskreises, beim Frauenturnen und so weiter die gingen … drehten sich meist immer um Kinder und wir hatten keine. Meine Frau konnte dann, sage ich mal, nicht mitreden und fühlte sich natürlich immer so ein bisschen hintendran. Und, ähm, hast du mit ihr jemals darüber gesprochen, ähm, ob sie … Also wenn ich mir vorstelle, dass ich zwei oder drei Jahre lang meinen Körper bezweifle oder anzweifle, schaffst du das wirklich, ein Kind zu produzieren? Äh, hast du jemals mit ihr darüber gesprochen, ob sie dieses Vertrauen zu ihrem Körper wieder gewonnen hat? Nee, so direkt nicht. Wir haben, äh, sagen wir 233
B. L:
mal, über das Problem schon gesprochen, aber es war, sage ich mal, sehr stressig, das kann ich noch sagen, das weiß ich also noch sehr gut. Na ja, ich versuche ja jetzt, so wie wir das jetzt auch, äh, zusammen, äh, tun, jetzt nicht auf diesen Nenner zu bringen: Ich will Sex, ich kriege ihn nicht und ich krieg nicht das, was ich brauche. Damit ist jedes Gespräch letztendlich am Ende, weil, äh … das hat den Charme von einer Wasserschnecke, aber nicht den Charme von einer Stimmung, wo Sexualität stattfinden kann. Und das, was ich jetzt so rausspüre, ist, was habt ihr auf dem Weg verloren, was euch ja mal gehört hat? Spaß im Bett, das hat ja mal zu euch dazugehört, und jetzt ist es verloren gegangen. Und mein Weg im Fragen ist, das beobachte ich bei sehr vielen Frauen, die über so eine lange Zeit versucht ha … äh, haben, schwanger zu werden – übrigens nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Paaren –, auch bei dir bin ich mir nicht so ganz sicher, ob sich was verändert hat. Deswegen habe ich es eben so persiflierend gesagt. Stelle dir mal vor … Ach komm, ich … wir versuchen es mit einer Geschichte. Da ist ein junges Paar. Ähm, das schläft gerne miteinander, das hat Spaß miteinander, das hat Spaß am Körper und dann klappt es mit dem Kind nicht, und dann schläft man nach Fieberthermometer miteinander. Wie gesagt, sinnbildlich, der Mann muss aus dem Büro kommen, damit man miteinander ins Bett springt, und dann verselbstständigt sich irgendetwas in Richtung Kinder234
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kriegen. Und auf dem Weg ist letztendlich vielleicht geblieben: Unsere Körper wussten doch mal, was Spaß bringt. Und mein Wunsch ist deswegen in diesem Gespräch mit dir einen Weg, äh, zu beschreiten, sozusagen eine Rolle … Rolle rückwärts, aber um dann wieder nach vorne zu purzeln. Was war früher anders? Was war sozusagen vor dem Arbeitsgang Sexualität, wo es ein Vergnügen war? Ja, da war es unbeschwert locker. Ja!!! Und was kannst du tun, dass aus diesem Arbeitsgang Sexualität … drei Jahre wurden Eierstöcke durchpustet, Eierstöcke befragt, wurden Samenstränge infrage gestellt, wurden Samen besprochen. Drei Jahre war das selbst … also war das … ist das … hat sich das verselbstständigt in Richtung, wir müssen ein Kind bekommen. Und vorher war es unbeschwert. Was kannst du tun, dass deine Frau … verstehst du, und jetzt kommt auch noch … jetzt wird dieses, dieses, äh … diese drei Jahre Arbeit wird aus der Sicht deiner Frau noch mehr Arbeit, weil jetzt heißt auch der Satz noch: Wir müssen doch irgendwann wieder miteinander schlafen. Also das heißt, wir müssen wieder an die Arbeit. Und deswegen noch mal diese Rolle rückwärts zusammen in dieses Leichte, Unbeschwerte. Und wie könntest du sie so einladen, dass sie dir, Wolfgang, wieder vertrauen kann, jetzt ist die Arbeit zu Ende, jetzt fängt wieder das Leichte, Unbeschwerte an? Ja, wenn das so einfach wäre, das zurückzuholen. 235
B. L.: W.:
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Wie war das damals? Ja da, sage ich mal, hatte man Zeit für sich selber, da konnte man die Freizeit, sage ich mal, locker gestalten, das war kein Problem. Mit den Kindern sieht das etwas anders aus. Mh, das kommt auch noch dazu. Aber ich vermute, dass ihr das vielleicht ganz gut in den Griff kriegen würdet, weiß ich jetzt aber nicht. Also das … wenn ich dich richtig verstanden habe, Wolfgang, habt ihr zwei beiden Zeit für euch gebraucht, um die Leichtigkeit in der Sexualität, ähm, zu würdigen. Ja, kann man so sagen. Wie kann man es noch sagen? Ja, ich sage mal, das mit der Leichtigkeit, das kam automatisch, wenn – wenn man im … man vorher, ich sage mal, was Tolles gemacht hatte zusammen, dann war das automatisch, dann brauchte man nicht lange überlegen, dann waren die Gefühle auf beiden Seiten da und dann passte das. Und was war … Was habt ihr zum Beispiel Tolles gemacht? Ja, zum Beispiel wenn man im Kino war oder gut essen gewesen ist, ich denke mal dann, äh … Okay. … ergab sich das so. Ähm, rein vom, von der Zeiteinteilung her, wäre das heute möglich, ins Kino zu gehen mit deiner Frau, essen zu gehen mit deiner Frau? Wenn sie dazu bereit wäre mit Sicherheit. Aber 236
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ich denke mal … und da haben wir auch schon darüber gesprochen, nein, sie müsste dann die Kinder alleine lassen, das wollte sie nicht und … also da wehrt sie schon ab. Okay. Und jetzt möchte ich, ähm, das zusammenfassen, was ich gesagt habe, es waren drei Jahre harte Arbeit, Arbeitsgang zum Entstehen des Kindes. Wie könntest du sozusagen zu dem, wo es bei euch … sich Leichtigkeit eingestellt hat – das war zum Beispiel Urlaub oder Kino – aber auch noch diesen Arbeitsgang, diese drei Jahre Stress, also drei Jahre wirklich … pffff … ohhh … Tortour oder Anstrengung oder weiß der Kuckuck was. Wie könntest du oder wie könntet ihr das schaffen, da auch eine Entspannung einzuläuten? Also vor dem, was früher leicht war, gehört für mich auch noch so etwas wie … na, entschulden ist der falsche Begriff, aber von etwas wie verabschieden, von ausbügeln, von etwas stehen lassen, Dankbarkeit oder keine Ahnung, wie … zu, zumindest diesen, diese drei Phas … drei Jahre Stressphase zu verabschieden. Was könntet ihr da machen? Keine Ahnung. Keine Ahnung? Ja, die Situation, sage ich mal ist, ist, äh … Verschärft bis zum Anschlag. Ja, kann man so sagen. Aha. Also das heißt, der Stress, die … der Arbeitskampf hat sich sozusagen weiter fortgesetzt in Richtung »du musst«. Deine Frau hat sozusagen die Position eingenommen, »du musst 237
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Rücksicht nehmen auf mich und die Kinder« und du, äh, hast auch so was von »du musst doch auch meine Bedürfnisse …«. Siehe, es steht sozusagen »du musst« und »du musst« gegenüber? Ja, so sind die Fronten. Klar, eingeläutet von drei Jahren Fruchtbarkeit … Fruchtbarkeitswerdung. Hast du eine Idee, wie du aus dieser »Du musst«-Haltung rauskommst, so diesen Zeigefinger »du musst«? Idee ja, klar. Man könnte … Wie? Man könnte sich eine Freundin nehmen, sage ich jetzt mal ganz provokativ. Würde die Ehe unglaublich entlasten, das stimmt. Ja, wahrscheinlich. Hättest du eine Ahnung, wie dieser Zeigefinger »du musst«, übergeordnet, jetzt noch nicht mal so sehr auf die Sexualität in Be … also wenn du mit deiner Frau gegenüber in diesem, in diesem harten Arbeitskampf gegenüber stehst, wie du diesen Zeigefinger weicher bekommst? Ja, ich sage ja nicht, du musst. Ich sage, äh, ich sage … Ich meine nicht nur die Sexualität, sondern ich meine den Arbeitskampf … Ja, nee, ja gut, mh. Wo ihr beide bei … wo beide Fronten so dastehen. Wie könntest du diesen Arbeitskampf, diesen Zeigefinger »Du musst« weicher kriegen? Dass ich ihr das nicht so, so zeige und auch 238
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nicht so sage. Vielleicht, dass ich mich zurücknehme, weiß ich nicht. Hast du noch eine Idee, wie du … die du … Ich weiß nicht, du, hast du eine langjährige Lebenserfahrung auch, wie du dieses »du musst« Versuch … Also die … vielleicht … Nein, ich gebe sicher auch noch Tipps. Wie du dieses »du musst« aufweichen kannst, und ich meine den übergeordneten Arbeitskampf. Ja, ja ist klar. Wir müssen schwanger werden! Du musst mich fruchtbar machen! Du musst fruchtbar sein! Ich muss fruchtbar werden! Diesen Arbeitskampf meinte ich. Und wie kann der umschwingen in etwas Weicheres, Fließerendes? Ja, vielleicht, dass ich ihre Gefühle wieder erwecke auf dem Gebiet. Ganz genau. Dass ich … Was sind für weiche Gefühle, für fließende Gefühle bei dir noch da? Mh. Ja, zärtliche Berührungen, im Alltag vielleicht einfach mal nur so ein Kuss geben oder so. Dann die Kinder … natürlich da ist man immer zärtlich damit, das ist klar. Aber, dass man die Zärtlichkeit vielleicht überträgt, ich weiß es nicht. Mir hat deine Stimme jetzt gut gefallen, weil sie hat jetzt ganz allmählich angefangen zu fließen. Mir hat bei deiner Stimme gut gefallen, dass sie was Zärtliches entwickelt hat, sie hatte sogar etwas von Lächelndem drin. All das meine ich 239
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mit Fließendem. Von diesem Arbeitskampf, von »Du musst«, in Richtung Weichheit und Fließen. Du sagst immer noch, vielleicht. Wann hast du das letzte Mal Zärtlichkeit zu deiner Frau rüberfließen lassen? Ja, ich versuche es jeden Tag. Wie? Ja, indem ich, äh, versuche auf sie zuzugehen und mit ihr von, äh … zu sprechen und, äh, … Oh! Das wirst du mir erklären müssen! Wie erzählt man Zärtlichkeit? Wie spricht man Zärtlichkeit? Ja, dass, dass … dass man sagt, äh, äh … wenn es, sage ich mal mit den Kindern und so, dass man … dass man so das mit einbindet immer, das ist die Problematik. Nee, jetzt wirst du wieder … jetzt sag … jetzt kommt wieder so dein … du hast in deiner Sprache eine ganz hohe und ein ganz hi … hohen rhetorischen Anteil von »sage ich mal«, dann gehst du wieder in den Kopf. Vorher war das Weiche. Stellen wir uns noch mal vor: Du stehst vor deiner Frau – die hört uns zu? Mhm (verneint). Du gehst demnächst zu ihr, stellen, stellen wir uns das mal vor. Und wir haben jetzt nicht mehr diesen Arbeitskampf von »du musst«, der sich ja fortgesetzt hat mit der Zeugung des ersten Kindes, sondern der wo der … wo sozusagen die, die Hände weicher werden. Also nicht mehr mhhh!, sondern weicher werden. Und stellen wir uns mal vor, du würdest mit diesen weichen 240
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Händen vor deiner Frau stehen. Da kommt vielleicht dieses Wort »sagen wir mal« gar nicht mehr vor, sondern was würde passieren? Du würdest mit diesen weichen Händen, nicht mit diesen »du musst«-Händen vor deiner Frau stehen. Bei mir oder meiner Frau? Weiß ich nicht. Vielleicht auch mal bei dir. Vielleicht würde sich bei mir auch die Erwartungshaltung ändern. Dass ich … dass ich nicht, sage ich mal, mit dem Kopf durch die Wand will. Genau, ganz genau. Und bei ihr vielleicht die Einsicht, dass ich, äh … dass ich, äh, ihr zeige, dass sie nicht unbedingt … dieser Druck wieder: muss, muss, muss. Richtig. Ah. Jetzt passiert mit der Stimme das gleiche Wunder. Wolfgang ich möchte dich mit diesem Bild umarmen und möchte dich dennoch nicht alleine lassen. Ähm, ich würde dir vorschlagen, aber ich möchte es in deiner Entscheidung belassen, ob ihr euch das zu zweit noch mal in einer paarberatenden Situation, nicht paartherapeutischen, sondern paarberatenden Situation anschaut, so wie wir es jetzt … Also wir haben ja eine Zeitreise gemacht, wir haben eure Beziehung angeschaut, die Beziehung der Leichtigkeit, dann haben wir den beginnenden Arbeitskampf im Bett uns angeschaut. Die Fortsetzung des Arbeitskampfes und so eine winzige Ahnung entwickelt von »wie könnte es anders 241
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sein«. Willst du den Weg erst mal alleine weitergehen oder sollen wir dir eine Adresse mitgeben? Na, eine Adresse, denke ich, wäre vielleicht nicht schlecht. Okay. Dann möchte ich mir bei dir bedanken für den Mut, darüber zu reden, für die Fairness, die du deiner Frau hast angedeihen lassen, und vor allen Dingen auch für dieses fließende Bild, was ich hier entdecken durfte. Danke Brigitte. Alles Gute. Tschüss. Tschüss.
Gesprächsanalyse In den langen Jahren, da Wolfgang mit seiner Frau Zweisamkeit leben konnte, erfuhr er all die Aufmerksamkeit, die er für sich einforderte. Heute ist er Ehemann und Familienvater dreier Kinder. Seine »Wünsche und Vorstellungen« musste er Schritt für Schritt den familialen Gegebenheiten anpassen. Sein Wunsch nach ungeteilter Aufmerksamkeit blieb zwar ungebrochen, wurde aber von Jahr zu Jahr immer weniger erfüllt, weil seine Frau diesem Anspruch nicht mehr entsprechen konnte. So blieb für Wolfgangs Anspruch nur noch das gemeinsame Ehebett als Ort, an welchem er zu seinem Recht kommen wollte. Wolfgangs »Ich will/Du musst«-Struktur hat sich im Laufe der Jahre auf die Sexualität mit seiner Frau fokussiert. Natürlich weiß sein Kopf, dass Kindererziehung,
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Haus und Haushalt seine Frau fordern; Wolfgang weiß auch, was von ihm als Ehemann und Vater gefordert ist. Aber all dieses Wissen beantwortet nicht sein Bauchgefühl, das ihm seinen Hunger nach Aufmerksamkeit meldet: »Ich bekomme nicht, was ich will«. So haben sich in seiner Beziehung zu seiner Frau die Positionen immer mehr verfestigt: Wolfgang will, und seine Frau gibt nicht. Mit Argusaugen registriert er seinen Hunger und die Zurückhaltung seiner Frau. Auseinandersetzungen sind die Folgen, bei welchen jeder der Beteiligten auf seine Position beharrt, so dass es nahe liegend ist, »irgendwann eskalieren« zu müssen. Wolfgang ist in einer Stresshaltung: »Ich bekomme nicht, was ich will!« Der Druck, der auf ihm lastet, kommt in seiner Stimme und in seinem Sprechverhalten zum Ausdruck. Es fällt ihm schwer, über die Situation zu sprechen. Die vielen »Ähs« und die Floskel »sag ich mal« machen offensichtlich, wie sehr Wolfgang im doppelten Wortsinne verkrampft ist. Brigittes therapeutische Haltung ist von Anfang an darauf ausgerichtet, Wolfgangs Erstarrung zu lockern und Beweglichkeit in seine versteinerte Welt zu bringen. Wolfgang braucht konstruktive Aufmerksamkeit, durch welche er als gleichberechtigter Gesprächspartner angenommen und seine eigene Welt gewürdigt wird. Das heißt aber, dass Brigitte erst ein Stück mit Wolfgang und seinen Bildern mitgehen muss, bevor sie damit beginnen kann, seine Versteinerungen zu lockern. Im therapeutischen Prozess darf man nicht sogleich führen, sondern zunächst gilt es, den Gesprächspartner in seiner Welt abzuholen. In einem zweiten Schritt kann man dann ihm seine Welt (seine Bilder und sein Sprechverhalten) spie243
geln, damit er in die Lage kommt, auf sich und seine Sichtweisen schauen zu können. Erst in einem dritten Schritt beginnt die therapeutische Intervention des Verflüssigens. Versteinerte Welten lassen sich durch Imaginationen und durch SehnsuchtsBilder auflockern, weil über diese Interventionen die Wünsche körperlich gemacht werden können. In Wolfgangs Welt zum Beispiel hat der Kopf sich vom Bauch ›getrennt‹; Wolfgang will mit logischem Denken und Argumenten die Rechtmäßigkeit seines »Ich will« begründen, wobei er übersieht, dass sein Wollen vom Bauch und dem Wunsch nach ungeteilter Aufmerksamkeit gesteuert ist. Wolfgang will vom anderen Aufmerksamkeit und durch den anderen seinen Hunger stillen. Diese Fixierung auf das »Du musst« macht es ihm unmöglich, innehalten zu können, auf sich und seine Bilder zu hören, um schließlich zu erfahren, dass er zunächst einmal lernen muss, an sich selbst satt zu werden. Brigittes Ziel ist es deshalb, mit Wolfgang eine Lockerheit zu erarbeiten, die es wieder möglich sein lässt, dass er für sich Bilder entwickeln kann, die dazu taugen, konstruktiv mit seiner Frau ein gemeinsames Sexualleben führen zu können, das von der Zwanghaftigkeit seiner Forderungen entlastet ist. Mitgehen, spiegeln, Geschichten erzählen: Dies ist der Dreischritt, der Brigittes Gespräch mit Wolfgang zugrunde liegt. Auffällig ist, dass Brigitte bei ihrer SehnsuchtsIntervention sehr ausführlich erzählt und Wolfgang gleichsam mit Bildern füttert, die in ihm als Ressource vorhanden sind: »Ja, da war es unbeschwert locker« und »Ja, wenn das so einfach wäre, das zurückzuholen« – Wolfgangs Stimme wird weicher und zärtlicher. Brigittes 244
Imaginationen haben den Kopfarbeiter Wolfgang zu seinem Bauch geführt und Gefühle abgerufen, die in der Lage sind, seine Verhärtung aufzuweichen. Mit der Erkenntnis »Vielleicht würde sich bei mir auch die Erwartungshaltung ändern. Dass ich … dass ich nicht, sage ich mal, mit dem Kopf durch die Wand will« hat Wolfgang einen Ansatzpunkt gefunden, durch welchen er seine Stresshaltung aufbrechen kann. Seine Bereitschaft zu einer Paartherapie signalisiert zudem, dass er die Zwei-Fronten-Stellung verlassen möchte und bereit ist, seine »Ich will«-Haltung neu anzuschauen.
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