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l Der Traum kehrte immer wieder. Ferdinand Linke umarmte die fremde Frau. Sie war weich, zärtlich und roch gut. Er spürte ihren Atem. Ihre lachenden Augen kamen näher. Er drang in sie ein. Ihre Schreie gingen über in einen zweiten Traum. Ferdinand Linke schwebte empor in seinem Fluggerät. Die Felder und Bauernhäuser unter ihm wurden kleiner. Er näherte sich der gesicherten Grenze. Noch wenigehundert Meter, und er würde in die Freiheit fliegen. Da passierte es. Die Grenzsoldaten hatten ihn entdeckt und eröffneten das Feuer. Linke wachte schweißgebadet auf.
2 In der Bleibtreustraße in Berlin-Charlottenburg startete ein Wagen mit Zwei-Takt-Motor. Das tuckernde Geräusch des Trabant weckte Ferdinand Linke aus seinem Liebestraum. »Schade«, dachte er, »ich hätte gerne weitergemacht.« Den anderen Traum vom Flug über die Grenze nach Frankreich hatte er vergessen. Der Trabant entfernte sich langsam. Sie waren wieder da. Die Späher, die verhaßten Spitzel. Es war gegen halbzwei Uhr morgens. Es war die Zeit der grauen Männer des Ministeriums für Staatssicherheit. Linke stand unter Beobachtung. Selbst seine Orgasmen wurden offenbar operativ-konspirativ erfaßt. Linke schlug die Bettdecke zurück und ging an das hohe Altbaufenster. Es war nur angelehnt, um die frische Novemberluft hereinzulassen. Vor zehn Jahren war die Mauer gefallen. Vor zehn Jahren war die am besten gesicherte Grenze der Welt, mit Elektrozaun, Selbstschußanlagen und Todesstreifen, von Einheiten der Nationalen Volksarmee abgebaut worden. Westdeutschland hatte aufgehört zu existieren. 7
Die Bleibtreustraße lag ausgestorben vor ihm. Von der vergangenen Lichterpracht einer nächtlich belebten Straße mit Kneipen, Kinos und Krawall war nichts geblieben. Die Bleibtreustraße hatte sich in eine ruhige Wohnstraße zurückverwandelt. Anfangs wachte Linke von der ungewohnten Stille mitten in der Nacht erschrocken auf. Nach der Machtübernahme des Ostens waren die Läden mit japanischen Designerstoffen, afrikanischer Maskenkunst oder indischen Currys verschwunden. Der Betrieb von Einzelhandelsgeschäften war vom Ministerium für Handel und Versorgung mit drastischen Abgaben belegt worden. Noch höher als die spekulativ explodierten Mieten Ende der achtziger Jahre. Der ganze Stadtteil hatte sich unter dem neuen Regime dramatisch verändert. Wenn Linke abends noch etwas trinken wollte, mußte er bis zum Savignyplatz gehen. Dort war eine der wenigen privaten Kneipen zu finden, die überlebt hatten. Auf dem Glas der Eingangstür war noch ein eingeschliffener, goldener Schriftzug Petit Bistro zu lesen. Die bunte Neonreklame zur Straße mußte abmontiert werden. »Sicherheitsgründe«, hatte die Bezirksleitung lapidar mitgeteilt. Im Petit Bistro war fast alles beim alten geblieben. Zwar kamen nicht mehr der trockene französische Rotwein oder der leichte Italiener oder der kalifornische Tischwein zum Ausschank, da die Importe unbezahlbar geworden waren. Aber es gab ein ordentliches Radeberger Pilsener und einen dieser trockenen Weine aus den neuerdings befreundeten sozialistischen Bruderländern. Wo früher mit Kennerschaft zwischen Chardonnay und Chablis ausgewählt wurde, ging es jetzt schlicht um »rot« oder »weiß«. Ferdinand Linke gewöhnte sich rasch daran. Der Wirt hatte einen französischen Paß. Und für Stammgäste lagerten im Keller einige heimlich in die neue Zeit hinübergerettete Raritäten, wie ein 88er Bordeaux. 8
Manchmal verschloß der Franzose mit der Sperrstunde um 2.3 Uhr die Eingangstür. Hinter den heruntergezogenen Rollos pokerte dann eine Runde von Nachtschwärmern bis in die Morgenstunden. Sie wußten nie, ob nicht jemand von der Firma mit am Tisch saß. Dieser Ausdruck für den allgegenwärtigen deutschen Geheimdienst war sofort im Westen übernommen worden. Die Firma hatte viele Filialen. Die ganze Gesellschaft war von Denunzianten, Spitzeln und Zuträgern durchdrungen. Ihre Betriebskleidung war die Windjacke und die grauweißen Kunstlederschuhe mit den leisen Sohlen. Tausende Augen beobachteten sich gegenseitig in den dunklen Straßen der Provinzdörfer, in den aufgemöbelten Prachtstraßen der Hauptstadt oder im gleißenden Licht internationaler Kongresse. Die Firma hatte einen 2.4-Stunden-Service. Keiner der Zuträger, vom Ministeriums-Chef bis zum Straßen-Spitzel, hatte ein schlechtes Gewissen. Sie alle glaubten, einer guten Sache zu dienen. Die Firma, die nicht Pleite machen konnte, zahlte auch nicht nur gut in Ost-Mark, vielmehr ermöglichte sie in den entscheidenden Lebenssituationen, in der Mangelwirtschaft zu überleben. Ob Arbeitsplatz, Wohnung, Kinderausbildung, Kaderreise, Urlaubsziele oder Zeugnisse - die Firma war am Drücker. Eine negative Beurteilung genügte häufig für die existentielle Ausgrenzung. Gefoltert, geschlagen, gemordet wurde nicht. Aber die Demütigungen der grauen Männer konnten genauso schmerzhaft sein. Sie sollten den innersten Stolz der Opfer brechen. Arbeitskollegen, Ehepartner oder Liebende erstellten Berichte über die Menschen, denen sie jeden Tag erneut in die Augen schauten. Die Firma ging über seelische Leichen. Die Hauptamtlichen lebten dabei ganz gut. »Was ist denn in diesem französischen Weinladen los?« fragte bald nach dem Umsturz einer der Staatsschützer in Berlin. 9
»Petit Bistro?« »Ja, da bahnt sich etwas an.« »Sollen wir den Laden dichtmachen?« »Wichtiger wäre, jemanden drin zu haben. Da verkehren offenbar operativ wichtige Personen.« »Haben wir eine Liste?« »Wird erstellt. Bislang gab es noch keinen Grund zu direkten Maßnahmen.« »Den können wir aber schaffen«, sagte ein neuer Mitarbeiter der Staatsschutzabteilung eilfertig, der von den westdeutschen Diensten übernommen worden war. »Und wie?« »Denen schieben wir etwas unter, staatsfeindliches Heizmaterial, Drogen, Waffen.« Die Firma war nie verlegen, phantasievoll neue Produkte der Einschüchterung zu entwickeln. Die Kälte des Verrats legte sich über das gesamte Land. Auch die Besucher des französischen Weinlokals am Savignyplatz würden sich bald warm anziehen müssen. Sie waren im Visier der grauen Männer. Es war eine bunte Gesellschaft von einem halben Dutzend Berlinern, die an diesem Abend im Petit Bistro zusammensaß. In ihren verschiedenen Lebenswegen gab es eine Gemeinsamkeit: Sie paßten mit ihrer Ausbildung und ihren Berufskenntnissen nicht mehr in das neue System. Beispielsweise der immer rundlicher werdende Ernst Schlüter, ein arbeitsloser Betriebswirt und Marketingfachmann. Er hatte zuletzt für einen US-deutschen Konzern an neuen Strategien zum Verkauf von Einwegverpackungen gearbeitet. SoftDrinks in biologisch abbaubaren Plastikverpackungen sollten den Markt für sogenannte grüne Produkte öffnen. Da der multinationale Konzern unter den neuen Bedingungen in der Produktion von klobigen, gläsernen Pfandflaschen keine Zukunft sah, verlor auch Marketingfachmann Ernst seinen gut dotierten Job. 10
Neben ihm saß Marianne. Sie hatte zuletzt für ein großes Verlagshaus gearbeitet. Als sogenannte Food-Stylistin dekorierte sie neue Kreationen der italienischen, französischen oder sonst irgendeiner internationalen Küche. Die perfekt photographierten Arrangements fanden damals einen reißenden Absatz bei den großen Zeitschriften. Jetzt hatte sich der Markt drastisch verändert. Von dreitausend verschiedenen Titeln waren eine Handvoll übriggeblieben, die anderen hatten aus weltanschaulich-politischen Gründen ihre Lizenz verloren. Und beim Food gab es nicht mehr viel zu stylen, seitdem fettreiche Schnitzel mit Sättigungsbeilage oder Goldbroiler die Karten der staatlichen Restaurants bestimmten. Den hochgewachsenen Hugo Hesse hatte es ganz böse erwischt. Er hatte ein abgebrochenes Philosophiestudium, Taxifahrerjahre und Maschinenbau-Maloche hinter sich, bevor er bei einem Nachrichtenmagazin als Nachwuchsjournalist anfing. Zunächst in der Dokumentationsabteilung, dann in der Redaktion. Hesse war ein talentierter Rechercheur und ein guter Schreiber. Nach einigen Jahren leitete er das Außenbüro in Frankfurt, später in Ost-Berlin, schließlich holte ihn die Chefredaktion als Ressortleiter Politik nach Hamburg. Unter seiner Verantwortung deckte das Blatt handfeste Skandale in den westdeutschen Parteien, Gewerkschaften und der Industrie auf. In einer Serie wurden die Menschenrechtsverletzungen in der DDR angeprangert. Hugos Zeitschrift hatte das System der kommerziellen Häftlingsfreikäufe mit Hilfe eines westdeutschen Busunternehmers, der die Transporte abwickelte, offengelegt. Sogar die drehbaren Kennzeichen der Wunderbusse mit einer Westund einer Ostversion hatte die Zeitschrift dokumentiert. Auch über die Zwangsadoptionen von Kindern regimekritischer Eltern hatte Hugo berichtet. Damit gehörte Hugo nach dem Umsturz in die Kategorie »RG1« - Regierungsgegner der höchsten Stufe. Er verschwand für einige Jahre in einem sowjetischen Lager. Hugo spielte ausgezeichnet Poker. 11
Schließlich saß an diesem Novemberabend, als Ferdinand Linke an einem bulgarischen Weißwein nippte, noch ein junges Mädchen am Tisch. Die blonde Mittzwanzigerin hatte den Fall der Mauer ganz direkt erlebt. Kirstin, genannt Kick, wohnte in einer Punker-Kommune in Kreuzberg, direkt neben der Betonwand. Jeden Tag blickte sie auf den grauen Stein mit den knallbunten Graffitis und ihrem Lieblingsspruch »Macht kaputt, was Euch kaputtmacht«. Jetzt war die Mauer kaputt. Aber auch ihr freies Leben in einem selbstverwalteten Abbruchhaus. Nachdem ein Inspektor der Kommunalen Wohnungsverwaltung einen Besichtigungstermin mit einer halben Hundertschaft Volkspolizisten durchgesetzt hatte, kam wenig später die Verfügung: »Amtlich versiegelt, auf Anordnung des Bezirks.« Damals war Kick verzweifelt.Es war das erste Mal, daß sie sich nach den guten alten West Berliner Cops sehnte. Sie wollte nicht so leben wie diese Spießer. Sie haßte Spießer. Ost-Spießer, West-Spießer - die ganze Internationale der Spießer. Es wurde auch an diesem Abend spät. Draußen fuhr ein Jeep vorbei mit ein paar sowjetischen Soldaten, die auf der Suche nach etwas Spaß waren. Die Uniformierten waren nicht besonders beliebt bei den Berlinern, sie waren das Symbol der Besatzungsmacht. Eigentlich lebten die sowjetischen Soldaten zurückgezogen in den Kasernen im Grunewald, die sie von den Amerikanern übernommen hatten. Nach den Konflikten an der Südgrenze der USA und der asiatischen Einwanderung an der Westküste waren die Vereinigten Staaten von Amerika auseinandergefallen. Die daraufhin gegründete Gemeinschaft Unabhängiger amerikanischer Staaten (GUaS) lag im Dauerstreit über die Verteilung der Rohstoffvorkommen. Schon wurde in einzelnen Staaten wieder die Einführung einer zentralen Regierung gefordert. Washington war inzwischen zu einem Provinznest am Potomac-River verkommen, das Weiße Haus führte eine Moskauer Hotelkette. »Schlafen Sie eine Nacht wie Theodore Roosevelt«, lautete 12
die Werbung für den schlecht geführten Laden. Von der internationalen Bühne hatten sich die GUaS-Staaten völlig zurückgezogen. Damit war auch Westdeutschland ohne Schutzmacht gegen potente, östliche Invasoren. Nachdem in Moskau ein streng-nationalistischer Präsident in den Kreml eingezogen war, der die Großmachtansprüche des alten Zarenreiches zum Leitfaden seiner Politik erkor, wuchs die Unruhe in Bonn. Zu Recht, denn es blieb nicht nur bei Drohungen. Die Geheimdienste meldeten bald einen gewaltigen Truppenaufmarsch in Ostdeutschland. Unter dem Vorwand eines Großmanövers der Warschauer-Pakt-Staaten stellten die Sowjets eine schlagkräftige Invasionsarmee in Ostdeutschland zusammen. Ferdinand Linke erinnerte sich an diese Tage der Ungewißheit, als Berlin nach dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte einem Pulverfaß glich. Gerüchte schwirrten, Flugtickets gab es nur noch auf dem Schwarzmarkt, Bankkonten wurden geplündert. Viele packten damals schon die Koffer, um dem drohenden Einmarsch der östlichen Macht zuvorzukommen. Andere blieben in der Hoffnung auf die abschreckende Wirkung französischer Atomraketen zur Verteidigung des freien Europas. Doch als die ersten Einheiten der sowjetischen Streitkräfte an diesem Novembertag den früheren Checkpoint Charlie ohne Widerstand überquerten, schwand die Hoffnung, den eigenen Staat verteidigen zu können. Und die sowjetische Armee rollte gleich weiter auf westdeutsches Gebiet, nutzte die Lähmung der Westalliierten, besetzte handstreichartig alle logistisch wichtigen Punkte der Republik, einschließlich der Fernsehstationen und Militärkasernen. Und Paris, das wenige Jahre zuvor noch zum Testen neuartiger Atomwaffen ein ganzes Südsee-Atoll in die Luft gejagt hatte, verhielt sich still. Solange die Sowjets nicht den Rhein überschritten, wollte man sich mit den neuen 13
Nachbarn arrangieren. Nur die deutsche Bevölkerung hätte sich nie im Traum ein solches Wechselbad der Systeme vorstellen können. »Wir sind doch nicht die Versuchskaninchen für die Züchtung besserer Menschen in diesem beschissenen realsozialistischen Kommunismus«, lamentierte Linke. Das wirtschaftliche und menschliche Unheil, das vierzig Jahre sozialistische Nomenklatura im anderen Teil Deutschlands bereits angerichtet hatten, waren ihm eigentlich ausreichend, um die Überlegenheit einer moderaten Marktwirtschaft nachzuweisen. Zu spät. Jetzt bestimmten andere Machthaber darüber, nach welchen Spielregeln Deutschland regiert wurde. Es sah ganz so aus, daß die Linkes jetzt schon zu den Verlierern gehören sollten. Und an diesem Wochenende würden die Sowjets in Berlin wieder einmal ihre Stärke demonstrieren. Der »Tag der Deutschen Einheit« jährte sich zum zehnten Mal. Vor dem Brandenburger Tor würde morgen eine Armada modernster Atomraketen mit dem roten Stern zur Parade auffahren. Ferdinand Linke grauste vor dem nächsten Tag. Er würde sich krankmelden.
3 Seit über zehn Jahren lebte Ferdinand Linke mit seiner Frauin der Bleibtreustraße. An der Seite von Ulrike hatte er die goldenen achtziger Jahre des Westens verbracht. Die goldenen Jahre dauerten fast fünf Jahrzehnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich Deutschland aus einer flächendeckenden Ruine emporgearbeitet. Es war zwar geteilt, und es herrschte Kalter Krieg zwischen den beiden Systemen Ost und West. Aber es wuchs in beiden Deutschlands der Wohlstand, das Einkommen, die Lebenserwartung. Für die zweite 14
Generation nach dem großen Krieg schien es der Beginn eines ewig goldenen Zeitalters. Den heulenden Alarmton von anfliegenden Bombern und den Knall der Detonationen von Fliegerbomben, die zerstörende Hitze von Phosphorkanistern kannten sie nur aus Ausstellungen. Ferdinand Linke und Ulrike hatten sich bei einem Kongreß für Städteplaner in Stuttgart kennengelernt. Linke war als hoffnungvoller Abteilungsleiter Städtebau des RheinRuhr-Großraumverbandes mit einem Referat über »Verdichtete Wohnbebauung« entsandt worden. Ulrike begleitete als »persönliche Referentin« den Minister, wie sie bei der Vorstellung im Konferenzraum betonte. Ferdinand Linke hatte sich gleich in die Persönliche verliebt. Ulrike hatte eine ungemein selbstbewußte Art aufzutreten und ihre Position zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. »Ich und der Minister«, sagte sie, »sind der Meinung.« Später sollte diese Formulierung im Hause Linke häufiger fallen. Verbunden über ihr gemeinsames Interesse an Architektur, Städtebau und internationalem Design kamen sich die beiden Kongreßteilnehmer näher. Schon am ersten Abend endete ein gemeinsames Maultaschenessen in dem kleinen Restaurant des Hotels Graf Zeppelin drei Etagen höher im Bett. Ferdinand Linke war ein passabler Liebhaber, und Ulrike weckte seine Fähigkeiten. »Wegen der Verdichtung«, sagte Ulrike, als sie weit nach Mitternacht sein Zimmer verließ. Sie wußten beide nicht, ob aus der Affäre irgend etwas Ernsthaftes werden könnte. Es wurde. Einige Wochen später trafen sie sich in Düsseldorf. Die Persönliche kam ganz privat. Zum Abendessen. Ulrike und Ferdinand schmiedeten nach einem leichten Sushi-Essen beim Japaner Pläne für die Zukunft. Der Reiswein zirkulierte wohlig warm in der Blutbahn. Linke bestellte eine weitere blau-weiße Porzellankaraffe Reiswein, die Abalone-Leber auf giftgrünen Algen hatte einen exotischen Geschmack von Fisch, Gelbem Meer und Seetang in seinem 15
Mund hinterlassen. >Das Zeug fördert sicher die Potenz<, dachte er beim Blick auf Ulrikes enganliegendes Oberteil. »Was willst Du denn im Leben erreichen?« fragte sie in seine Überlegungen hinein. Linke schaute sie überrascht an. »Wie meinst Du das?« »Welche Positionen, welche Aufgaben, welche Projekte. Irgendwelche Ziele?« sagte sie kühl. »Du meinst Karriere?« »Nenne es Karriere, ja«, sagte Ulrike, »Du willst doch hier irgendwann den Absprung machen? Oder ist die Stadtplanung im Ruhrgebiet die Endstation. BAT-Gehalt, Rentenbescheid. Ein schöner Titel als Baurat zur Frühvergreisung.« Linke kam ins Grübeln. Er hatte sich mit seinem derzeitigen Job eigentlich ganz gut eingerichtet. Er kam mit den Kollegen zurecht, hatte den nötigen Spielraum für eigene Projekte, wurde zu Vorträgen eingeladen. »Ich bin beruflich eigentlich ganz zufrieden.« Ulrike schaute ihn schweigend an. »Du solltest mit mir nach Berlin gehen. Ich habe ein interessantes Angebot aus der Senatskanzlei.« »Als Persönliche?« »Grundsatzabteilung. Und mit der Option, später die Abteilung zu übernehmen.« »Klingt nicht schlecht«, sagte Linke, »Du bist ein richtiges Karriereweib.« Ulrike lachte. Sie schenkte sich und Ferdinand Linke Reiswein nach. »Stimmt«, sagte sie. »Prost. Auf unsere Zukunft. In Berlin.« Nach dem Essen gingen sie hinaus in die frische Abendluft. »Das tut gut«, sagte Ulrike. Sie nahmen kein Taxi für den kurzen Weg nach Hause. Linke wollte sie vorher noch in seine Lieblingsbar ausführen. Zwischen den schmucklosen Geschäftshäusern mit den glitzernden Repräsentanzen und Niederlassungen vorwiegend japanischer Firmen war wenig los. Vorbei an den Schaufenstern der Japan Airlines, in denen 16
großformatige Abbildungen und Videoclips zu Reisen an den Fudschijama einluden, gelangten sie in eine Nebenstraße. Dort war über eine unscheinbare Eisentür, an der ein roter Ballon hing, die Bar Jokohama zu erreichen. Drinnen war es noch dunkler als auf der nächtlichen Straße. Lediglich das vielfältige Sortiment der Getränke in der spiegelnden Thekenwand war erleuchtet. Davor mixte ein junger Japaner mit Bürstenhaarschnitt gerade einen Manhattan. Linke und Ulrike fanden einen Platz an der Theke, deren Oberfläche vom unermüdlichen Polieren glänzte. »Guten Abend«,sagte der Barkeeper freundlich zu Linke, »einen Singapore Sling?« Linke nickte. »Du auch?« fragte er Ulrike. Sie nickte. »Zweimal.« Der Barkeeper lächelte weiter. »Du scheinst hier Stammgast zu sein«, sagte Ulrike. »Schau Dich um, das ist der kürzeste Weg nach Tokio.« In den dunklen Sitzecken saßen tatsächlich nahezu ausschließlich japanische Geschäftsleute. Einige hatten ihre Jacketts abgelegt. Fast alle trugen entweder einen grauen oder dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Das schien, ähnlich dem Mao-Look in der Volksrepublik China der siebziger Jahre, die Standardkleidung der erfolgsorientierten Botschafter des asiatischen Kapitalismus zu sein. Einige Gesichter waren schon von den großen Mengen Chivas Regal gerötet, der in numerierten, bauchigen Flaschen auf den Tischen stand. Ulrike war fast die einzige Frau in der Bar Jokohama. Außer den hübschen Bedienungen gab es nur noch ein anderes deutsches Pärchen. Im Hintergrund piepste ein Handy los. Mit einen lauten »Hai« meldete sich einer der fröhlichen Japaner. Der Singapore Sling kam in alter Qualität. Ulrike schmeckte die Mischung aus Gin, Lemone und geheimnisumwitterten Zutaten. Nach dem zweiten Glas merkte sie beim Gang zur Toilette, daß es die Mischung in sich hatte. Sie kam im Zick-Zack-Kurs mit lächelndem, leicht starrem Blick zurück an die Bar. »Laß uns gehen, Du machst mich hier voll17
kommen betrunken.« Linke zahlte, wie immer mit Kreditkarte. Der Barkeeper lachte immer noch, als sie das Jokohoma verließen. In Linkes Wohnung fielen sie sich in die Arme. Auf dem Weg in sein großzügiges Schlafzimmer fielen schon die Hüllen. »Mist«, sagte Ulrike, »ich muß morgen den Termin schaffen.« Sie beugte sich über die Bettdecke, um Linkes Wecker in Betrieb zu setzen. Dabei verrutschte ihre geöffnete Seidenbluse und gab ihre Brüste frei, die Ferdinand sehr gefielen. Linke beobachtete sie in dem schwachen Licht, das durch die Lamellen am Fenster fiel. »Wie stellt man das Ding«, fragte Ulrike. Linke nahm ihr den elektronischen Wecker aus der Hand, während er sie küßte. Er stellte nie seinen Wecker, da er dank einer inneren Uhr meist zur geplanten Zeit wach wurde. Nur bei ganz frühen Sonderterminen, wie morgendliche Abfahrten um vier Uhr zum Flughafen oder zum Bahnhof, ließ er sich durch den piepsenden Surrton wecken. Über die Schulter von Ulrike hinweg fummelte er an dem Drehrad des Weckers. »Um wieviel Uhr«, fragte er. »Leider schon um acht.« Sie würden nicht sehr viel schlafen in dieser Nacht. Wieder war Linke ein passabler Liebhaber. Das aber war nicht das Wichtigste. Als sie beide erschöpft um ein Uhr morgens albernd nebeneinander saßen und feststellten, daß sie »gar nicht müde« seien, passierte es. Ulrike verliebte sich in Linke. Und Linke verliebte sich noch einmal in Ulrike. Der Wecker trennte sie unerbittlich. Ulrike schlich sich auf Strümpfen aus der Wohnung. Die Tür fiel sanft ins Schloß. Sie wußte, daß sie Linke in Berlin wiedersehen würde. So kam es. Nach einem dreiviertel Jahr unzähliger Eisenbahnfahrten und Flugreisen zwischen Düsseldorf und der geteilten Stadt hatte es Linke satt. Er selbst wollte nicht mehr. Die gemeinsamen Wochenenden, die jedesmal am Sonntag Nachmittag endeten, machten ihm den Unsinn eines getrenn18
ten Lebens deutlich. Linke war bereit für eine Veränderung.Er bewarb sich auf eine ausgeschriebene Stelle als Planungsleiter beim Bauamt. Ulrike hatte ihn rechtzeitig mit den nötigen internen Informationen versorgt. Als leitende Angestellte in der Grundsatzabteilung konnte sie schon an den Fäden der personalpolitischen Filzwirtschaft ziehen. Linke bekam die Stelle. Da Ulrike inwischen eine große Wohnung in der Bleibtreustraße angemietet hatte, zog Linke dort ein. Für beide begann ein hoffnungsvoller Lebensabschnitt. Doppelverdiener, Staatsdienst, Karriereausssichten, sichere Rente. Ulrike und Ferdinand Linke heirateten. Jeder behielt seinen Namen. Beide haßten Doppelnamen. Sie kauften eine Wohnung, bekamen jedes Quartal von der Hypothekenbank eine saftige Zahlungsabbuchung und vom Finanzminister einen Freibetrag für die Steuererklärung. Deshalb reichte es locker zu einem hubraumstarken Automodell, opulenten Restaurantbesuchen und Fernreisen zum Tauchen und Schnorcheln in tropischen Gewässern. Ferdinand Linke und Ulrike verschwendeten keinen Gedanken daran, daß ihr Lebensstandard befristet sein könnte. Weder ein neuer Krieg noch eine Gehaltskürzung oder eine Naturkatastrophe zeichneten sich ab. Das Morgen schien sich aus dem Heute ganz selbstverständlich zu ergeben. »Weiter so«, hieß damals der Wahlslogan einer christlich-sozialen Partei. Ulrike und Ferdinand wählten zwar anders, aber im Grunde lebten sie nach dieser Parole. Mit dem 9. November war alles vorbei. Der Staat war weg, weg das Gehalt, die Rente, die Möglichkeit zu reisen. Was blieb, waren die italienischen Designermöbel. Und Karriere schien plötzlich ein Wort aus einer anderen Welt. Was den beiden an diesem Tag blieb, das waren sie selbst. Und ihnen blieb noch etwas, das in diesen stürmischen Tagen in Ulrikes Bauch behütet heranwuchs. Sie erwarteten ein Kind. 19
4 Das erste Verhör von Marketingfachmann Ernst Schlüter fand wenige Tage nach dem Umsturz statt. Er hatte eine schriftliche Aufforderung bekommen, sich am 22.. Novemberin dem Gebäude des Ministeriums für Staatssicherheit einzufinden. »Gemäß Paragraph 17 a des Gesetzes zur Sicherung der nationalen Wirtschaftsinteressen« sei gegen ihn ein Verfahren eingeleitet worden. Das Schreiben bestand nur aus vier Zeilen. Persönliches Erscheinen war für neun Uhr in der Normannenstraße, Aufgang B, Zimmer 509 angeordnet. Ihm war freigestellt, einen Rechtsbeistand mitzubringen. Marketingfachmann Schlüter hatte keinen Rechtsbeistand mehr. Der amerikanische Konzern, für den er bislang Softdrink-Verpackungen entwickelte, hatte bereits seine Europazentrale von Berlin nach Paris verlegt. Die dortige Rechtsabteilung fühlte sich für ihre deutschen Mitarbeiter in dem völkerrechtlich okkupierten Staat nicht zuständig. Diese Auskunft bekam Schlüter über sein Mobiltelephon, mit dem als einzigem Kommunikationsmittel noch Gespräche ins Ausland möglich waren. Schon war in der Aktuellen Kamera eine Meldung verlesen worden, daß alle mobilen Telephone bei den örtlichen Bezirksverwaltungen eingezogen wurden. Nur wenn man Glück hatte, funktionierten die Dinger noch, denn auch die Sendestationen der einst flächendeckenden Netze waren schon an Einheiten der Nationalen Volksarmee übergeben worden. Und in West-Berlin wußte keiner der befragten Anwälte mit dem eingeleiteten Ermittlungsverfahren etwas anzufangen. »Die wollen wohl nur wissen«, sagte Schlüter ein juristisch bewanderter Kollege, »ob Du in Deiner US-Firma dem neuen Staat geschadet hast.« Schlüter hatte schon so etwas geahnt. Am Wochenende versuchte er in seinem Büro, in einem Glashochhaus an der Budapester Straße, einige Materialien herauszuholen. Geschäftspost, Korrespondenz, Hausmitteilungen, Entwick20
lungspläne, Disketten, Briefe. Doch er kam zu spät. Die Eingangstür war bereits von einem Uniformierten versperrt. Schlüter hatte eine schlaflose Nacht. Er wußte natürlich, daß von fast sämtlichen Vorgängen in seinem Konzern irgendwo Kopien auf der Festplatte seines PC oder in der EDV zu finden waren. Und er wußte um die kritischen Dokumente, die ihn möglicherweise belasten konnten. Als Marketingmann in einem Westunternehmen war der frühere Ostblock für ihn nichts anderes als ein strategisches Absatzfeld gewesen. Und auch dort wurde mit harten Bandagen gekämpft. Er erinnerte sich an Gespräche mit östlichen Regierungsvertretern, deren Protokolle und Analysen aus US-Sicht einen tiefen Einblick in die tatsächliche Lage der sozialistischen Mangelwirtschaft geben mußten. Marketingfachmann Schlüter wollte diesen Leuten nicht unbedingt noch einmal begegnen. Jetzt aber bestimmten sie über sein Leben. »Nehmen Sie Platz«, sagte der Offizier in einer graublauen Uniform mit zwei goldenen Streifen auf der Schulter. Schlüter setzte sich auf den unbequemen Holzstuhl vor dem kastenförmigen Schreibtisch. Der Raum 509 war völlig schmucklos eingerichtet. Ein Verhörraum mit zugezogenen, geblümten Gardinen vor dem Fenster. Eine überdimensionierte Neonleuchte an der Decke verbreitete ein kaltes, bläuliches Licht. »Ihren Ausweis und die Vorladung«, sagte der Uniformierte. Vor sich hatte er auf der blanken Schreibtischplatte einen gelb-braunen Schnellhefter liegen. Auf dem Deckblatt stand in einer sauberen Handschrift »WiZ Schlüter, Ernst«, daneben ein Aktenzeichen. WiZ stand für Wirtschaftszerrüttung, wie er erst später erfahren sollte. »Sie heißen Schlüter, Vorname Ernst, weiterer Vorname Johann, geboren 22.4.1962«, begann der Uniformierte das Verhör. »Richtig«, sagte Schlüter. »Sie wissen, warum Sie hier sind.« 21
»Nein.« »Ich möchte mit Ihnen ehrlich sein«, sagte der Uniformierte ölig, »wir wollen Ihnen helfen.« »Worum geht es?« »Es ist schwerwiegend. Nach unseren Informationen haben Sie aktiv an der Zerrüttung der Wirtschaftsinteressen unseres Staates mitgearbeitet. Der Staatsanwalt hat ein Ermittlungsverfahren gegen Sie eingeleitet. Wollen Sie sich in der Sache äußern?« »Welche Sache?« fragte Schlüter. »Sie haben beispielsweise«, sagte der Uniformierte, während er in den Seiten vor sich blätterte, »am 3.9.1987 an einer Besprechung der Osthandelsgesellschaft im Internationalen Handelszentrum Berlin teilgenommen. Danach berichteten Sie Ihrem Hauptabteilungsleiter über den Stand unserer Lebensmittelkombinate. Sie äußerten sich abfällig und schädigend über die Erfüllung unserer Plansollzahlen. Ich lese Ihnen gerne ein Zitat aus dem uns vorliegenden Protokoll vor.« »Bitte.« »Völlig veraltete Techniken in der Lebensmittelverpakkung führen zu gewaltigen Verlusten durch Verrottung und Beschädigung des Füllguts. Die DDR-Seite zeigte sich völlig uneinsichtig gegenüber den Bedürfnissen der Konsumenten nach hygienischer, sicherer und bedienungsfreundlicher Verpackung. Insgesamt scheinen ideologische Vorbehalte unserem Prinzip der Conven...« »Convenience«, ergänzte Schlüter. »... entgegenzustehen. Der wahre Hintergrund liegt offenbar in einer unzureichenden Ausstattung der zuständigen Betriebe, die kaum über den Standard von Entwicklungsländern herausgekommen ist.« Ernst Schlüter nickte. »Wollen Sie dem widersprechen?« fragte er den Uniformierten. Der Vernehmer lief rot an. Mit der flachen Hand schlug er auf die Platte. 22
»Die Fragen stellen wir. Noch so eine Unverschämtheit und ich lasse Sie... « Ernst Schlüter schwieg. Natürlich kannte er das berüchtigte Gefängnis für Staatsfeinde in der sächsischen Kleinstadt. Dort gab es wenig Convenience. Dort hätte er Elektroschaltkästen oder Kamerateile für die von ihm so wenig geschätzten Kombinate und für den Export ins feindliche Ausland zusammenmontieren dürfen. »Haben Sie das geschrieben, oder nicht«, wiederholte stoisch der Uniformierte. Ernst Schlüter schoß der Rat seines Anwaltsfreundes durch den Kopf: Sag, daß du nichts sagen kannst. »Ich weiß es nicht mehr. Es kann sein, daß ich das geschrieben habe, aber ich kann mich nicht erinnern.« »Und wieso steht dann Ihr Name darüber?« fragte der Ermittler. »Aber nicht darunter«, sagte Schlüter, »oder gibt es eine Unterschrift? Vielleicht wollte sich einer in meiner Abteilung besonders hervortun. In unserem Unternehmen wurden laufend solche Einschätzungen erstellt. Viele waren vorläufig oder nur als Denkhilfen gedacht.« »Denkhilfen?« sagte der Stasimann, »das sind eindeutige Beweise, unserer Wirtschaft und Gesellschaft schaden zu wollen.« »Wir haben im Rahmen der innerdeutschen Handelsgeschäfte wesentliche Vereinbarungen mit ihren Staatsbetrieben getroffen. Ich wüßte nicht, wem dabei geschadet worden wäre. Das hat Ihr Wirtschaftssekretär im Zentralkomitee doch alles abgesegnet.« Der Vernehmer schaute Ernst Schlüter kalt an. »Versuchen Sie nicht, die Wahrheit zu verdrehen. Sie und ihre Firma, das ergibt sich eindeutig aus den Unterlagen, wollten den Ostmarkt erobern.« »Aber wir haben doch niemandem geschadet. Oder ist es falsch, eine Limonade in praktische Faltkartons abzufüllen?« 23
Der Staatsdiener verfärbte sich wieder. Er machte sich mit einem Kugelschreiber, der den Aufdruck »Plaste und Elaste aus Schkopau« trug, einige Notizen auf einem Blatt. Dann lehnte er sich in seinem speckigen, schmutzig -grün gepolsterten Bürostuhl zurück und fixierte Ernst Schlüter. »Sie bestrei ten also, für das kapitalistische Ausland auf unserem Terri torium Interessen wahrgenommen zu haben?« Schlüter nickte. »Sie bestreiten das also?« »Ich habe niemandem geschadet«, sagte Schlüter gebetsmühlenhaft. »Das sagen sie alle. Ich habe nicht das Ergebnis Ihrer kapitalistischen Operationen auf unserem Territorium zu beurteilen«, sagte der Vernehmer, »das überlassen wir den Gerichten. Schließlich sind wir ein Rechtsstaat. Aber wir wis sen, daß Sie umfangreiche Kontakte zu anderen Unternehmen hatten, die unserer Volkswirtschaft schweren Schaden zugefügt haben. In welcher Beziehung stehen Sie zur Firma Coca-Cola?« Ernst Schlüter wollte eigentlich lachen. Aber er besann sich seiner Situation. Das mit Bautzen, da s wußte er, war kein Witz. »Coca-Cola?« sagte er, »das war im Westen ein sehr guter Kunde von uns. Wir hatten schon früh eine biolo gisch abbaubare Fünf-Liter-Flasche für den Konzern entwickelt. Damit standen wir kurz vor der Markteinführung.« »Abbaubar?« fragte der Uniformierte, der sich eine Notiz machte, »hatte das etwas mit Braunkohle zu tun?« »Im Gegenteil. Wir hatten den neuen Stoff aus natürlich gewonnener Stärke, der die synthetischen Ölprodukte ersetzte. Coca-Cola war sehr an diesen Entwicklungen interessiert, nur wies die abgefüllte Flüssigkeit einen hohen Aggressions grad auf. Das wirkte sich bei Langzeitlagerungen zerstörend auf die Außenhülle aus. Und der Konzern war nicht bereit, uns die vollständige Rezeptur offenzulegen.« »Geheim-Klassifizierung?« fragte der Beamte etwas er24
leichtert, da er in dem kleinen Fachvortrag etwas Vertrautes gefunden hatte. »Sie haben also zu diesem konspirativ arbei tenden Subjekt Beziehungen unterhalten.« »Was heißt Beziehungen? Wir waren an innovativen, neuen Geschäftsfeldern aus kommerziellen Gründen interessiert. Schotter machen«, sagte Schlüter. »Und das zu Lasten unserer Industrie. Wir haben einen Vermerk, daß Sie am 18. August 1986 dem westeuropäischen Vertreter von Coca-Cola berichteten. Ebenfalls schlugen Sie eine Zusammenarbeit mit dem Imbißbetreiber McDonald's vor, der kurz vor der Einführung von eßbaren Boulettenverpackungen stand. Getarnt als wissenschaftlicher Kongreß über Lebensmitteltechnologien, wollten Sie eine konspirativoperative Verteilungsaktion auf dem Alex veranstalten.« Ernst Schlüter nickte. Er erinnerte sich an diese Schnaps idee. Mit offizieller Billigung des zuständigen Ministeriums wollten sie eine eigene Kongreßverpflegung durchsetzen. In der Lobby zum Palast-Hotel sollten dann auch Ost-Berliner die Produkte kennenlernen. Die Marketingabteilung versprach sich entsprechende Berichte in den Lokalzeitungen. »McDonald's bei Marx« oder so ähnlich. Der Plan scheiter te allerdings, da die Hotelleitung nicht auf Deviseneinnahmen aus dem Verkauf ihrer Soljanka und eher zähen Bröt chen verzichten wollte. Ernst Schlüter erinnerte sich gerne an das Palast-Hotel, das ein gut geführtes Schwimmbad mit Sauna unterhielt. Dort konnte man absolut abhörsicher Gespräche führen. Glaubte er. Ein kleines Fenster gab sogar den Blick auf die Schwimmhalle frei, in der ein hölzernes Denkmalungetüm im realsozialistischen Stil stand. Nach den mühsamen Gesprächen mit Funktionären erholte sich Ernst gerne in den orangerot gehaltenen Räumen. Und die Blonde an der Handtuchausgabe hatte immer ein freundliches Wort für ihre Gäste, ganz im Gegensatz zur sonst üblichen Praxis. Der Vernehmer hatte sich erhoben. Er nahm den Hörer des pastellgrünen Kunststofftelephons ab. »Wache zu 509«, 25
sagte er militärisch knapp. Er nahm die Akte vom Tisch und stellte sich an die Ausgangstür. Ernst Schlüter erhob sich ebenfalls. Es schien, daß er Bautzen doch noch an diesem Tag kennenlernen würde. Als der uniformierte Wachhabende ohne zu klopfen eintrat, schaute er den Stasi-Offizier an. »Bringen Sie meinen Besucher nach unten zum Ausgang.« Ernst Schlüter atmete hörbar aus. »Sie halten sich zur Verfügung. Wir haben noch Fragen an Sie. Während des laufenden Verfahrens ist Ihnen jede Kontaktaufnahme mit dem kapitalistischen Ausland untersagt. Es ergeht Ihnen ein schriftlicher Bescheid zur geeigneten Zeit.« Ernst Schlüter verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Als er aus dem Gebäude trat, spürte er seine trockene Kehle. Eine Cola wäre jetzt nicht schlecht.
5 »Na, wie ist es bei Dir gelaufen?« fragte Ulrike, als Ferdinand Linke in den Flur der Altbauwohnung trat. Seinem Gesicht sah sie es schon an. Ferdinand kam von der Anhörung für frühere Senatsbeamte in der neuen Kaderabteilung der Einheitspartei. Ferdinand war endgültig raus. »Antrag auf Übernahme abgelehnt«, sagte er, während er sich aus seinem alten Trenchcoat quälte. Seine modische Lederjacke mit dem teuren Seidenfutter, die ihm Ulrike einst zu Weihnachten geschenkt hatte, hatte er nicht anzuziehen gewagt. Die Jacke hatte sie schon damals eine Stange Geld gekostet. Heute war sie, bei den herabgesetzten Einheitslöhnen, ein Vermögen wert. »Sie haben mich abgewickelt«, sagte Ferdinand deprimiert. Ulrike nahm ihn wortlos in den Arm. Sie hielt ihn fest. Er spürte ihren warmen Körper. Ihm war zum Heulen zumute. Sie standen jetzt beide existentiell vor dem Nichts. 26
Zwar gab es für ein Jahr noch ein sogenanntes Eingliederungsgehalt, genannt »Kurzarbeit-Doppelnull«. Aber ein Zurück in ihre ursprünglichen Berufe im Bereich von Politik und Städteplanung würde es danach unter dem neuen Regime nicht mehr geben. Sie galten als vorbelastet. »Setz Dich erstmal hin«, sagte Ulrike. »Schläft unsere Maus?« fragte Ferdinand. Er öffnete vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer. Als er sich über das völlig entspannte Gesicht seiner eineinhalbjährigen Tochter beugte, kam ihm der vertraute Duft von Schlaf, Unschuld und Baby entgegen. Er zog vorsichtig die verrutschte Bettdecke über den kleinen Körper. Leise verschloß er die Tür. Ulrike hatte inzwischen eine der letzten Flaschen Cöte du Rhone aus der Vorratskammer geholt. Die eisernen Bestände aus der Westzeit wurden nur bei ganz besonderen Anlässen angegriffen. Heute war ein solcher Anlaß. Ferdinand Linke ließ sich in den schwarzen Ledersessel mit dem Chromgestell fallen. Er öffnete behutsam die Flasche. Erst nachdem sie vom allzeit verfügbaren Nachschub vieler internationaler Konsumgüter abgeschnitten waren, hatten die Dinge einen ganz neuen Wert gewonnen. Früher hatte sich Linke noch über den Konsumterror der bunten Warenwelt aufgeregt. Wenige Monate nach dem Umsturz vermißte er die ersten Annehmlichkeiten des Alltags. Vom Deo-Roller nach dem Duschen, dem hautfreundlichen Toilettenpapier, der Reinigungsflüssigkeit für die Kontaktlinsen bis zur wohlschmeckenden Zahnpasta. Beim Frühstück fehlte das gewohnte Müsli, der sahnige Quark, die leichte Margarine, der schokoladige Fertigkakao oder die knackigen Croissants. Trauben vom Kap, Kiwis aus Neuseeland oder Mangos aus Malaysia wurden wieder zu exotischen Früchten. Italienischer Vorspeisenteller, griechischer Bauernsalat, Weizenmehl-Bandnudeln, Trüffel oder Tiramisu-Dessert verschwanden von den Speisekarten ebenso wie die rund achtzig verschiedenen Mineralwassersorten, die 27
aus allen möglichen europäischen und selbst überseeischen Quellen geliefert worden waren. Bei den scheinbaren Kleinigkeiten des neuen Alltags merkte Fahrradfahrer Linke, wie das östliche Warenangebot sein Leben erschwerte. Statt des praktischen Reparatursets »tip top« in einer grün-weißen Dose gab es nur noch ein Reifenflickzeug mit der »Gummilösung Rhenania« und klobigen Gummiflicken. Linke hatte jetzt ständig Ärger mit platten Reifen. Es war der Ver lust von bedienungsfreundlichen Haushaltsgeräten, energiesparenden Glühbirnen, funktionierenden Werkzeugen oder formschönen Taschenrechnern, der die schleichende Veränderung in den früheren Fachgeschäften zeigte. Mit einer unüberschaubaren Anzahl von Artikeln verschwand aus den Regalen der allseits verfügbare Nachschub für den westlichen Wohlstand. Linke hatte jetzt auch immer eine Tragetasche dabei, um sich bei über raschenden Lieferungen begehrter Konsumartikel in die Schlangen vor dem HO-Laden einreihen zu können. Er schenkte sich und Ulrike vorsichtig jeweils ein halbes Glas Rotwein ein. »Prost, meine Persönliche, der Minister hat gesagt, das Spiel ist aus.« Ulrike lächelte. »Aber noch nicht ganz.« Sie tranken beide einen kleinen Schluck. »Wie meinst Du das?« »Wir hauen ab«, sagte Ulrike Linke flüsternd. Ferdinand nahm noch einen Schluck. Er hatte schon so viele abenteuer liche Geschichten über Leute gehört, die das versucht hatten. Sie waren alle abgefangen worden und in einer der zahlreichen Haftanstalten gelandet. »Republikflucht«, flüsterte Ferdinand, »vergiß es, die schnappen jeden.« Die Grenzen zu den westlichen Nachbarländern waren inzwischen hermetisch gesichert. Aufwendige Grenzanlagen versperrten jedes Fluchtloch zu Österreich, der Schweiz, 28
Frankreich, Belgien, den Niederlanden sowie Dänemark. Doppelte Metallzäune, infrarot-überwachte Sicherungsstreifen, elektronische Bewegungsmelder, Wachtürme - Deutschland war dicht. So dicht, wie sich das in der ausgehenden parlamentarischen Ära die konservative Regierung für Asylbewerber und Flüchtlinge aus der Dritten Welt gewünscht hatte. »Hier muß mäh schon mit dem Fallschirm abspringen, um hereinzukommen«, hatte ein Abgeordneter damals analysiert. Jetzt war es soweit. Und seitdem der neue Staat mit einem Milliardenprogramm die Festung Deutschland ausgebaut hatte, erlebten auch die deutschen Schäferhundvereine einen Aufschwung. »Züchtungsziel Freies Europa« hieß das Programm zur Bereitstellung von zehntausenden geschulten Grenzhunden. Die Züchter in Westdeutschland waren begeistert von der neuen Aufgabe, ihre beißwütigen Hunde für den Dienst am Frieden vorzubereiten. Pro übernommenen Hund gab es zudem eine Sonderprämie von eintausend Mark. Auf die Schäferhundvereine würde niemand mehr verächtlich herabschauen. Hasso hatte jetzt Staatsaufgaben zu erfüllen. »Und wie stellst Du Dir das vor?« fragte Ferdinand, während er das Rotweinglas vorsichtig absetzte. Ulrike legte ihren linken Zeigefinger auf die Lippen. Ferdinand konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, daß seine eigenen vier Wände möglicherweise voller Wanzen steckten. Immer wieder vergaß er, daß die Firma allgegenwärtig war. Er nickte zustimmend. Mit einem Griff angelte er sich den sorgsam gehüteten Laptop vom Schreibtisch, den er illegal, ohne Genehmigung, aus der alten Zeit betrieb. Denn auch für Laptops galten die strengen Regeln der Zensurbehörden für elektronische Kommunikationsmittel. Sie gab es nur für linientreue Kader. Er schaltete das handliche Gerät ein und holte sich ein leeres Dokument auf den Schirm. Mit seiner Zweifinger-Methode tippte er ein: »So hört uns niemand. Also, welchen Plan hast Du.« 29
Ulrike drehte ihren Stuhl an die Seite von Ferdinand und übernahm die Tastatur. »Du erinnerst Dich an unseren Freund im Schwarzwald, Urlaub 1988?« Ferdinand tippte weiter. »Johannes, der mit der Flugmeise.« »Genau«, ergänzte Ulrike, »er baut Gleitflieger, und damit könnten wir einen kleinen Ausflug machen, Operation Fliege. Wird Zeit, daß wir unsere französischen Rotweinbestände aufstocken.« Ferdinand Linke lachte. »Du hast wohl vergessen, daß wir zu dritt sind. Gibt es unseren Freund überhaupt noch? Oder muß er jetzt bei den Luftstreitkräften Dienst schieben?« Ulrike zog sich den Laptop heran. »Er soll nach Berlin kommen. Wir machen dann einen langen Spaziergang. Einverstanden?« »Einverstanden«, erwiderte Ferdinand, »ich liebe Dich.« »Moi aussi«, tippte Ulrike. Sie schaute ihn fragend an. »Willst Du noch lange arbeiten?« fragte sie mit betont lauter Stimme. »Nee, nee,« sagte Ferdinand, »ich mach jetzt auch Schluß.« Er drückte die Taste zum Löschen des gerade geschriebenen Textes: »Wollen Sie wirklich die vorhandenen Informationen löschen?« Ja, das wollten die beiden Republikflüchtlinge in spe. Nur keinen Fehler machen, von Anfang an. Festplatten sind wahre Fundgruben für Geheimdienste des ausgehenden 2.0. Jahrhunderts. Der Text löste sich sekundenschnell in unfaßbare Nicht-Bits auf. »Komm, wir gehen ins Bett«, sagte Ulrike.
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6 Hugo Hesse war nach fünf Jahren aus sowjetischer Lagerhaft entlassen worden. Im Grenzgebiet zu China hatte er in einer Straßenbaubrigade gearbeitet. Ein knochenharter Job. Im Hochgebirge waren die steinigen Wege für die Militärlaster in Ordnung zu halten. Hugo Hesse nahm innerhalb der ersten Wochen gut zehn Pfund ab, was seiner Figur sehr gut tat. Die großartige, völlig unbesiedelte Lan dschaft des sogenannten Himmelsgebirges und die sporadischen Begegnungen mit den freundlichen Hirten, die mit den Strafgefangenen immer wieder ihre gegorene Stutenmilch teilten, waren die wenigen Freuden seines Zehn-Stunden-Tages. Mit ihm arbei teten weitere RGi, Regierungsgegner i. Klasse, aus dem ehe maligen Westdeutschland. Rechtsanwälte, Regierungsbeam te, Ingenieure, Offiziere, Manager und ein Fernsehsprecher. Alles Leute, die sich früher nach körperlicher Arbeit gesehnt hatten, im Bastelkeller, Garten oder auf dem Golfplatz. Jetzt hatten sie genug davon. Sie alle verband in dem Lager K 077 der Sowjetrepublik Kirgisien zweierlei: eine dicke Hornhaut auf den Innenflächen der Hände und der Traum von der Rückkehr nach Deutschland. Hugo bekam seine Überstellungspapiere unverhofft an einem frühen Montagmorgen. Der Lagerkommandant bestellte ihn in sein karges Büro. »Man hat Ihre Rückführung angefordert. Mit dem nächsten Transport ist Ihre Verlegung angeordnet«, sagte der Kommandant. Die Rückführung war eine Tagesreise in einem geländegängigen Transporter durch die Schluchten und Pässe zu einem Militärflugplatz am Rande des riesigen Issykul -Sees. Mit einer Transportmaschine kam Hesse am übernächsten Tag auf dem Militärflug hafen Frankfurt an. Aus dem ehemals größten US-Flugplatz Europas, Gateway to Europe, war der Otto-GrotewohlFlughafen geworden, benannt nach dem ersten Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik nach 31
ihrer Staatsgründung 1949. Von den US-Militärs hatten die neuen Machthaber einige Großraumflugzeuge des Typs Galaxy übernommen, an deren Heckleitwerk jetzt Hammer und Sichel aufgemalt waren. Gegenüber verkehrten am Abfertigungsgebäude für den Passagierverkehr die Flugzeuge der einzigen nationalen Linie Interflug. Das moderne Fluggerät von Airbus und Boeing von der inzwischen liquidierten Deutschen Lufthansa war einverleibt und in rot-weißen Farben umgestrichen worden. »Willkommen in der deutschen Republik«, sagte der Militär, als Hesse völlig übermüdet mit seinem Seesack an den Sonderschalter trat. »Bitte was?« sagte Hesse. »In der Deutschen Demokratischen Republik«, wiederholte der Militär, der seine Papiere prüfte. »Gehen Sie bitte zur Einweisung in die zweite Kabine.« Hesse folgte gehorsam der Aufforderung. »Hesse, Hugo, 27^.64, RGi, überstelltvon K 077«, leierte der Offizier seine Papiere herunter. Hesse nahm Haltung an: »Meldung bestätigt.« »Sie sind hier nicht mehr im Lager. Ich wollte mich mit Ihnen über Ihre Zukunft unterhalten. Nehmen Sie doch Platz.« Hugo Hesse stellte mechanisch seinen Seesack ab und setzte sich. Seine knochigen, rauhen Hände faltete er abwartend auf seiner groben Arbeitshose. »Sie haben vor der Befreiung als Redakteur gearbeitet«, fragte der Offizier. »Die letzten Jahre war ich nicht in meinem Beruf tätig«, antwortete Hesse. »Das ist uns bekannt. Unsere sowjetischen Freunde haben sie bestimmt gut behandelt. Wie stehen Sie heute zu unserem Staat?« Die Frage kam für Hugo Hesse überraschend. Er war damals bei den Verhören bis zur letzten Faser ausgequetscht worden, welche Verbindungen er zu den alten Machthabern, Geheimdiensten oder Nachrichtenhändlern in den Medien 32
hatte. Um seinen Kopf zu retten, das wußte er, mußte er einiges erzählen. Informationsbeschaffung, Quellen, Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen. Er hatte sich weitgehend an die Realität gehalten, da seine Gesprächspartner fast alle Informationen überprüfen konnten. Tatsächlich wurde das Archiv seines Verlages später zusammen mit den Akten der aufgelösten Landesämter für Verfassungsschutz zu einer Auskunftsbehörde umgewandelt. Das Archiv des Nachrichtenmagazins Der Spiegel überraschte selbst die Daten-Experten im Innenministerium, als sie den Schatz von 18 Millionen erschienenen Dokumenten durchforsteten. Insbesondere die gespeicherten Personalien über westliche Politiker wurden als erstes auf Datenträger kopiert. Aber auch die detaillierten Dossiers der eigenen Führungsleute bekamen eine Klassifizierung: »Vertraulich« oder »Amtlich geheim gehalten«. Über einen Antrag bei den Sicherheitsbehörden konnten auch einzelne Bürger Einsicht in Dossiers bekommen, die ihre Person betrafen. Das Amt zur Aufklärung antisozialistischer Informationen wurde anfangs stark genutzt. Insbesondere Ost-Schriftsteller versuchten nachzuweisen, daß ihre früheren Kollegen in der Bundesrepublik sich dem Staate nützlich gemacht hatten. Besonders beliebt war das Ausgraben der Dankesreden von der Verleihung renommierter Schriftstellerpreise in Darmstadt, Frankfurt oder Klagenfurt. Zur eigenen Entlastung kramten die Intellektuellen in ihrer studentischen Vergangenheit herum. Einige der belasteten kapitalistischen Autoren verwiesen ausgiebig auf Geheimberichte der Verfassungsschutzämter, die sie als linksradikale Subjekte auf studentischen Versammlungen ausgemacht hatten. Wie zum Beweis, wie stark schon früh die Opposition gegen das kapitalistisch-imperialistische System gewesen sei. Die Berichte waren jedoch meistens an die dreißig Jahre alt und genauso vergilbt wie die Betroffenen ergraut. 33
Ein jüngerer Schriftsteller führte zum Beweis seines »immer schon korrekten Klassenstandpunkts« die Mitarbeit im Trierer Karl-Marx-Haus auf. Tatsächlich hatte er Mitte der achtziger Jahre einmal ein paar Tage in der Bibliothek der MarxForschungsstätte Material gesichtet, um den »Einfluß der Frauen auf das Werk von Karl Marx« in einem polemischen Aufsatz für eine Hamburger Zeitschrift aufzuzeigen. Dem Personal der in einem bürgerlichen Barockhaus untergebrachten Gedenkstätte, war der Schriftsteller allerdings vorwiegend durch rüpelige Bemerkungen über »Charly und seine Weiber« aufgefallen. Insbesondere wenn er am späten Nachmittag in der benachbarten Bar einige Wodka zum halben Preis in der happy hour getrunken hatte. Nach der Wende erlebte die solide geführte Gedenkausstellung mit vielen Originalstücken aus der Zeit des bärtigen Gründervaterseinen gewaltigen Aufschwung. Die Besucherzahlen verdreifachten sich. Ins Gästebuch trug ein Koreaner ein: »Eure Wiedervereinigung ist uns ein Vorbild.« Ex-Redakteur Hugo Hesse hatte nichts dergleichen vorzuweisen. Mit der Teilnahme an marxistischen PhilosophieArbeitsgruppen der Roten Zellen oder Anti-VietnamDemonstrationen konnte er sich nicht brüsten. Zudem war die maoistische Denkschule dieser Gruppen den heutigen Machthabern suspekt. Man mußte höllisch aufpassen, nicht die verschiedenen Marx-Schulen durcheinander zu bringen. Er hatte als Journalist schon immer versucht, beide Seiten zu verstehen und zu dokumentieren. »Wie ich zum Staate stehe?« fragte Hesse den Offizier. »Schauen Sie auf meine Pranken, dann kennen Sie meinen Beitrag zur Friedenssicherung an unseren südlichen Grenzen.« »Was haben Sie jetzt vor?« fragte ihn der Militärmann, ohne aufzuschauen. Hesse schluckte. Sollte das heißen, daß er frei war? Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte sich innerlich auf eine weitere Inhaftierung in einer der zahlrei34
chen Gefängnisse des Landes eingestellt. »Ich habe Sie etwas gefragt.« Hesse schaltete schnell. »Ich werde erst einmal zu meinen Eltern nach Heidelberg fahren und mich um eine Arbeit kümmern«, sagte er. »Heidelberg«, schrieb der Offizier in die Akte. »Genaue Adresse?« Hesse gab ihm die Angaben. Er hoffte, daß sie noch stimmten, denn der letzte Brief, den er im kirgisischen Straflager erhalten hatte, war ein Dreivierteljahr alt. »Sie unterliegen der wöchentlichen Meldepflicht bei der zuständigen Volkspolizeibehörde. Zuwiderhandlungen führen zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens«, sagte der Offizier. Er gab Hugo Hesse seine Entlassungspapiere und den Paß. Darauf prangte das Staatswappen der DDR in hüb scher Tiefdruck-Prägung. Hesse hätte heulen können. Doch er schulterte seinen Seesack und verließ mit immer schneller werdenden Schritten die Dienststelle. Trotz seiner Müdigkeit fühlte er sich wie neugeboren.
7 Kick hatte sich abgesetzt. Nachdem das heruntergekommene Mietshaus in Kreuzberg behördlich geräumt und versiegelt worden war, gab es keinen Grund zu bleiben. An eine Hausbesetzung war unter dem neuen Regime nicht zu denken. Die Eingänge und Fensterhöhlen wurden vermauert. Ganze Straßenzüge im Osten der Stadt waren schon seit Kriegsende von solchen Hausleichen geprägt. Früher hatte sich Kick für die abgewirtschafteten Quartiere begeistert. Die morbiden Mauern waren für Kick Symbole des Protestes gegen die bürgerliche Konsumgesellschaft mit ihren lackierten Fassaden. Nachdem das ganze Land unaufhaltsam anfing, wie ein ver35
lassenes Trümmergrundstück auszusehen, wandelte sich ihre Einstellung. Sie nervte dieser Zerfall, die Zäune, die Verbotsschilder, die grauen Fassaden und die Uniformität. In Dresden fand Kick Unterschlupf in einem Backsteinhaus in der Neustadt. Als erstes stellte sie bunte Papierblumen in das Fenster. Ihre Mitbewohner gehörten ebenfalls zu den neuen Heimatlosen. Schüler, Studenten, Arbeiter oder Arbeitslose, die sich weder im alten noch im neuen System nahtlos eingliedern wollten. Sie bauten an ihrem Backsteinhaus herum, als handele es sich um eine Art Arche Noah, mit der sie bald zu menschenfreundlicheren Gestaden ablegen wollten. Kick war wochenlang damit beschäftigt, die alten Holztüren mit den Kassetteneinlagen abzubeizen. Schicht für Schicht der hartnäckigen Ölfarben holte sie mit einem Heißluftfön, den ein Student aus München mitgebracht hatte, sorgfältig herunter. In dem Gestank der schmelzenden Chemie riskierte sie jedesmal eine Vergiftung. Aber Kick wollte ihre Türen unbedingt in dem dunkelbraun schimmernden Holzton haben. Das fand sie schick. »Mensch«, sagte ihr hochaufgeschossener Mitbewohner Thomas, »mach doch mal eine Pause. Komm, wir gehen einen Tee trinken.« Kick schaute ihn freundlich an, ein bißchen interessierte sie sich schon für Thomas. »Noch diese Tür zu Ende«, sagte sie, »dann komm ich runter.« »O.K., ich geh schon mal vor. Schwarz oder Früchtetee?« »Schwarz«, sagte Kick gegen den Lärm des pustenden Föns. Im Erdgeschoß hatten sich die Hausbewohner ein Gemeinschaftszimmer eingerichtet. Ein etwas abgeschabtes Sofa, mehrere Stühle, ein dunkelbraunes Vertiko. Der Couchtisch war mit weißer Farbe gestrichen, unter der an einigen angestoßenen Stellen das Schwarz der Vorbesitzer zum Vorschein kam. An einer Pinnwand hingen neben privaten Photos, einer Haus- und Spülordnung die Mitteilungen der 36
Parteileitung und der FDJ-Jugendorganisation von DresdenNeustadt. Dazwischen die Kopie einer in der DDR nur unter Risiko aufzuhängenden Karl-Marx-Karikatur mit der Unterzeile: »Tut mir leid, war halt nur so eine Idee von mir.« Daneben das Pendant aus dem früheren Westen, ein fröhlicher Onkel Dagobert aus Micky Mouse vor seinem Geldspeicher,umringt von den Panzerknackern in den Uniformen der Volkspolizei: »Endlich, mein Geld ist sicher.« Wenige Minuten später war ein schwarzer, dampfender Tee fertig. »Hast Du schon gehört, was morgen abgeht«, fragte Thomas. »Keine Ahnung«, sagte Kick, die versuchte, eingetrocknete Lackreste von ihren Fingern zu entfernen. »Die Aktion an der Semperoper. Um neun treffen wir uns an der Brücke. Die Transparente kommen mit einem Barkas von der Bühnenrequisite.« Kick nickte. Sie hatte sich letzte Woche an der Bemalung der ausgedienten Bettücher beteiligt. Die Parolen waren durchweg gegen das repressive Regime in ganz Deutschland gerichtet. Freie Ausreise, freie Berufswahl und freie Meinungsäußerung standen im Vordergrund der Protestaktion. Die Parole »Erich weg - Zaun weg« war in mehreren Varianten aufgemalt worden. Schon dafür riskierten die jugendlichen Demonstranten saftige Strafen, Berufsverbote und tagelange Verhöre in den Zellen der Dresdner Stasizentrale. Erich, so war des Volkes Kurzname für den langjährigen Staatsratsvorsitzenden, der sich mit großformatigen Photos auf Jubelmärschen verehren ließ. Seine Brille, ein sogenanntes Kassengestell, war zum Markenzeichen einer uniformierten, real-verspießerten Gesellschaft geworden. Erich hatte mit seinen 87 Jahren keine offizielle Funktion in Partei und Staat mehr. Aber der Ehrenvorsitzende galt immer noch als der mächtigste Mann im Zentralkomitee, Patriarchen brauchen keine Titel, um die ganze Macht zu behalten. Zwar hatte er schon vor mehreren Jahren seinen Rücktritt erklärt, aber keinen seiner Konkurrenten hatte der alte Mann so 37
wichtig werden lassen, daß er selbst ersetzbar schien. In der Dresdner Semperoper wollte sich Erich am morgigen Tag vor der internationalen Presse feiern lassen. Zu seinem Geburts tag hatten sich Staatschefs oder Außenminister aus 105 Staa ten angemeldet. Ein Großereignis der sozialistischen Staaten gemeinschaft, zu dem auch die Vertreter des kapitalistischen Auslands ihre Abgesandten schickten, die dem Alten heuch lerisch die besten Wünsche für ein langes Leben überbringen würden. Deutschland war ein guter Geschäftspartner, auch unter der Anleitung von Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin. Erich lebt. » Laß uns nochmal durchgehen, wie wir die Transparente durch die Absperrungen bringen«, sagte Kick. Sie nahm einen Schluck heißen Tee. »Requisite, der Transportwagen gehört zu Oper, oder er sieht jedenfalls so aus«, sag te Thomas. »Genau um halb acht fahren die Bonzen beim Haupteingang vor. Die Fernsehteams stehen rechts auf der großen Außentreppe. Und dann kommen wir mitten rein in die Feierlichkeiten. Vor der inter nationalen Presse kann die Volkspolizei nicht so einfach losprügeln. Öffentlichkeit ist unser bester Schutz.« Kick hatte dieses Argument schon oft gehört. Auch damals in Kreuzberg, als sie ein seit Jahren leerstehendes Haus besetzt hatten. Über die Gewinne der Spekulanten mit dem Wohnraum hatte die Presse se inerzeit jedoch weniger berichtet als über die Herstellung von Ordnung und die Durchset zung des Rechts am Eigentum. Und in dem neuen System erfuhren viele Aufmüpfige erst in den abgeschlossenen Verhörzellen der Stasi, wie wenig ihnen die Öffentlichkeit nutzen kann. Kick hatte Angst, aber sie wollte es gegenüber dem Stu denten nicht zugeben. »Wer kommt denn alles mit?« fragte sie Thomas. »Das ganze Haus und alle von der Gruppe Neustadt. Nur Antje bleibt hier, falls die Vopos noch während der Aktion anrücken. Die könnten hier sonst alles auseinandernehmen.« 38
Kick dachte an ihre frisch renovierte Altbautür. Statt morgen vor der Oper ihren Kopf zu riskieren, würde sie lieber die Tür zu Ende bringen. Da konnte sie wenigstens ein Ergebnis ihrer Arbeit sehen. Gegen Erich, so dachte Kick insgeheim, kommen wir sowieso nicht an. »Was denkst Du,«, fragte Thomas in die Stille. »Ach, nichts«, sagte Kick, »ich bin morgen mit dabei.« Thomas lächelte. »Heute abend ist die letzte Besprechung in der alten Klavierfabrik«, sagte Thomas, »da können wir ja zusammen rübergehen.« »Um wieviel Uhr?« »Halb sechs beginnt der Musikkreis Pianoforte. Bring ein paar Noten mit, falls die Bullen Dich kontrollieren.« Die alte Klavierfabrik war ein verdeckter Treffpunkt für die Aufmüpfigen aus der Neustadt. Im hinteren Teil des lang gestreckten Gebäudes an der Kamenzer Straße lagen die Räu me der Pianofabrik Thierbach. Der riesige Saal mit einer rundum verlaufenden Balustrade im ersten Stock hatte früher als Tanzsaal gedient. Von den eisernen Säulen im Gründer zeitstil blätterte der goldfarbene Lack einer untergegangenen Epoche. Die gut situierten Familien der Handwerker, Händler und Hoflieferanten Dresdens hatten dort früher ihre Feste gefeiert. Auch die Pianofabrik Thierbach gehörte zu den traditionsreichen Betrieben, die das sächsische Königshaus mit handgearbeiteten Instrumenten der Meisterklasse versorgte. Nach dem Krieg war das Überleben der Klavierbauer durch die Verstaatlichung des produzierenden Gewerbes ebenso bedroht wie die Existenz zehntausender mittelständischer Betriebe. Doch die Thierbach-Erben, ein Neffe und ein Großvetter des Gründers, überlebten, da die staatlichen Musik instrumenten-Betriebe nicht über ausreichend Fachkräfte für die Reparatur der hochwertigen Instrumente verfügten. Die Instrumentenbauer, einer der wenigen Privatbetriebe, waren über vierzig Jahre schikaniert worden. Sie unterstützten auf diese Weise den Widerstand gegen den sozialistis chen Staat. 39
Der ehemalige Tanzsaal in der Dresdner Neustadt füllte sich mit ganz unterschiedlichen Klavieren und Flügeln, die wieder instandgesetzt werden sollten. Zwischen den aufgeklappten und teilweise leeren Holzkästen, senkrecht stehenden Tastaturen und filzbelegten Hämmern war eine Ecke im hinteren Teil des Saales freigeräumt. Es roch nach Kaltleim und einer geheimnisvollen Schellack-Mischung für die mehrschichtige Politur glänzender Oberflächen. Hier trafen sich die Regimekritiker des Musikkreis Pianoforte, unterstützt von den Erben der Klavierfabrik. Es konnte nur besser werden, dach ten die beiden Handwerker in den abgewetzten, blauen Arbeitsschürzen. Zwar hatte sich das Geschäft mit der Erwei terung der alten DDR nach Westen deutlich belebt. Aus allen Teilen der elf neuen Bezirke kamen jetzt Anfragen von Klavierbesitzern, die ihre Instrumente fachgerecht aufgearbeitet haben wollten. Aber es mangelte dazu nicht nur an Material, sondern ebenso an Personal in der verstaubten Dresdner Klavierfabrik. Die beiden Erben wollten keinen Dritten im Betrieb aufnehmen, Instrumentenbauer hatten immer ihre Geheimnisse. Der seltsamste Auftrag war vergangenen Monat aus einer baden-württembergischen Stadt gekommen. Ein Berliner Flügelbesitzer hatte angefragt, ob sein Instrument kurzfristig in ein grenznahes Städtchen am Elsaß transportiert werden könnte. Zuvor sollten jedoch der gußeiserne Rahmen und die Mechanik komplett herausgenom men werden. Der leere Flügel würde auf dem Spezialan-hänger der Dresdner noch unterzubringen sein für einen bevorstehenden Transport nach Süddeutschland. Aber wieso wird ein leerer Flügel durch die Gegend gefahren? »Wenn er gut zahlt«, sagte der Neffe der Thierbachs in seinem sächsischen Singsang, »dann machen wir auch das.« Der Auftrag kam von einem gewissen Dr. Ferdinand Linke aus der Bleibtreustraße.
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8 Ferdinand Linke kam spät abends in Freiburg an. Er hatte eine telephonische Reservierung für ein kleines Hotel in einem nahegelegenen Dorf. Das Haus verfügte über eine exzellente Küche. Mit einer Freundin, die damals an der Uni versität studierte, war er oft dorthin zum Essen gefahren. Es gab immer badische Spezialitäten, wie Weinbergschnecken oder Schlachterplatte. Linke liebte es deftig vor der Liebe. Das Restaurant war geschlossen. An der gläsernen Eingangs tür baumelte an einem Bindfaden ein Schild. Darauf stand in sauberer Handschrift geschrieben: »Wegen Rekonstruktion vorübergehend geschlossen«. Die Rekonstruktion dauerte wegen Materialknappheit jetzt schon mehrere Jahre. Aus dem privaten Hotel mit gepflegter Gastronomie war ein staatliches Übernachtungsheim geworden. Linke wurde in der Rezeption entsprechend empfangen. »Haben Sie eine Anmeldung durch Ihre Organisation«, fragte der Hotelangestellte barsch, »wir sind nämlich vollständig belegt.« Er wies mit einer knappen Kopfbewegung auf die schwarze Tafel am Eingang, auf der mit schmuddelig -weißen Buchstaben »Jahrestagung der Internationalen Sozialistischen Wirtschaftsver einigungen (ISW)« zu lesen war. Das ISW hatte sich als eine Art Wirtschaftszone in Mitteleuropa gegründet. Auch kapi talistische Länder wie Frankreich, England, Spanien oder die Schweiz entsandten Vertreter zu dem sozialistischen Verbandstreffen. Das war günstig f ür das Geschäft, denn auch das kommunistische Deutschland bot profitable Absatzmög lichkeiten. Die Mangelwirtschaft eröffnete neue Geschäftsfelder für findige Unternehmen durch Kompensationsdeals mit den Volkseigenen Betrieben. So wurden für Spezialstähle aus Skandinavien für die Grenzanlagen wertvolle Goldreserven bei der Zentralbank aufgelöst. Und für den Export von Militärgerät in arabische Länder gab es unter anderem auch Südfrüchte. 41
»Ich hatte ein Zimmer bestellt«, sagte Linke ungeduldig an der Rezeption. Der Portier blätterte aufreizend ruhig in einer handgeschriebenen Kladde. »Linke, Linke«, murmelteer dabei, »wir haben keine Reservierung auf diesen Namen.« In diesem Augenblick trat ein sportlich gekleideter Mann, der in den etwas schäbig wirkenden Sitzpolstern gewartet hatte, an den Empfangstresen. »Herr Linke«, sagte er fragend. »Ja«, sagte Linke, der sich überrascht herumdrehte. »Ich soll Sie abholen«, sagte der Unbekannte, »wir haben Sie anderswo untergebracht. Gehen wir?« Der Mann nahm mit einem festen Griff Linkes Handtasche hoch. Draußen wartete ein gelber Wartburg. Der Fahrer schloß die Hecktür auf und verstaute Linkes Gepäck. Dann öffnete er die Tür zum Beifahrersitz, und Linke stieg ein. Er erwartete, ins Büro der örtlichen Staatssicherheit gebracht zu werden. Wieder die verhaßten Spitzel, wieder das sattsam bekannte Procedere. Linke schaute während der Fahrt schweigend aus dem Fenster. Nachdem sie ein kleines Winzerdorf erreicht hatten, schwenkte der Wagen in der engen Hauptstraße in ein weiträumiges Grundstück ein. Das hohe Eisentor schloß sich automatisch hinter dem Wagen. An der sandsteinfarbenen Mauer war kein Schild, kein Hinweis, kein Name. Als Linke aus dem Wagen kletterte, öffnete sich die Tür des langgestreckten Wohnhauses. Heraus kam Hugo Hesse, der Redakteur mit Hafterfahrungen. »Willkommen in der Fluchtburg«, sagte er freundlich und zog seine breitgerippte Cordhose über seinem flachen Bauch hoch. Er drückte mit seiner in langer Lagerhaft trainierten Hand kräftig zu. Ein Händedruck, der Linke Vertrauen einflößte, sich an die richtige Fluchthilfeorganisation gewandtzu haben. »Danke«, sagte Linke, » ist die Lieferung denn schon da?« Hesse nickte kurz mit dem Kopf zu den angrenzenden Werkstattgebäuden. »Ihr Flügel ist gestern eingetroffen, 42
macht zwar nicht viele Töne, hat aber ein interessantes Innenleben.« Hesse lächelte. »Wir haben fast alle Ersatzteile für ihr Instrument bekommen. Sie können darauf bald Stücke für vier Hände spielen.« Linke lachte. Er hatte verstanden. Der Gleitflieger mit Motorantrieb würde groß genug für ihn, Ulrike und das Kind sein. Er wußte um die Schwierigkeiten, das entsprechende technische Spezialmaterial wie leichte Aluminiumprofile und Glasfieberteile zu bekommen. Seit eineinhalb Jahren war unter striktester Geheimhaltung die Beschaffung gelaufen. Nicht einmal Ulrike kannte die Details der geplanten Flucht in einem Kleinflugzeug über die deutsch-französische Grenze. Jetzt rückte der Termin näher. Offiziell als »Instrumentenbau« deklariert, liefen bei Hesse die Fäden für die verdeckte Beschaffung zusammen. Ein ehemaliger Flugzeugbauingenieur eines süddeutschen Raumfahrtkonzerns, der unter dem neuen Regime wegen politischer Unzuverlässigkeit seine Arbeit verloren hatte, war für die technische Planung verantwortlich. Er selbst wollte die DDR wegen seiner kranken Frau nicht verlassen. Einem halben Dutzend Menschen hatte er aber schon zum Flug in die Freiheit verhelfen. Die Behörden hatten ihm bislang nichts nachweisen können. Auch die Hotelreservierung Linkes in dem badischen Dorf diente der Irreführung der Staatssicherheit. Vertraulichkeit und Konspiration gehörten für die Fluchthelfer ebenso wie für die Staatssicherheit zu den Grundregeln des Geschäfts. Darin waren sie sich sehr verwandt. Der kleinste Hinweis, der in falsche Hände geriet, konnte das Ende des ganzen Unternehmens bedeuten. Und die Fluchthelfer riskierten eine Anklage wegen Beihilfe zur Republikflucht und lange Haftstrafen. Hugo Hesse drohte zudem die Todesstrafe wegen staatszersetzender Tätigkeit. Hesse kannte das extreme Risiko, als er sich bei alten Freunden in Heidelberg anheuern ließ. Trotzdem war er sofort bereit, seine antrainierten Fähigkeiten, 43
seine Phantasie sowie Durchsetzungkraft für den subversiven Zweck zu nutzen. Auch er wollte raus. Zunächst sollte die Operation Fliege ein einmaliger Fall sein. Es ging darum, einem Stuttgarter Ingenieur, dessen Frau von einem Auslandsaufenthalt nicht zurückgekehrt war, über die Grenze zu helfen. Die Nacht- und Nebelaktion mit einem Schlauchboot an der deutsch-dänischen Küste klappte reibungslos und ermunterte Hesse weiterzumachen. Beim zweiten Mal entdeckten die Küstenwächter das Boot. Zwei Männer und eine Frau wurden erschossen. Hesse gelang es, unbemerkt an Land zu kommen. »Die Stasi wird nachforschen, warum ich nicht in dem angegebenen Hotel abgestiegen bin«, sagte Linke. »Sie sind in dem Hotel.« »Wie das?« »Wir haben da jemanden sitzen.« »Gut«, sagte Linke, »ich hatte gleich ein gutes Gefühl, als ich Ihre Organisation kennenlernte.« »Freuen Sie sich nicht zu früh. Es kann immer noch alles schiefgehen, was schiefgehen kann.« »Ich weiß«, sagte Linke. »Haben Sie von der Operation Tunnel gehört?« »Das Ding in den österreichischen Bergen?« »Genau. Unsere Leute hatten wirklich alles perfekt vorbereitet. Der ehemalige Bergschacht war in fast halbjähriger Arbeit unter der Grenze bei Traunstein vorangetrieben worden. Sie hätten mit der Eisenbahn durchfahren können, so groß war der Durchmesser der Röhre. Da hätten sie Hunderte durchschleusen können. Und dann passierte es, ausgerechnet bei einer der letzten Grabungen.« Linke schaute ihn fragend an. »Ein Teil des Schachtes brach ein. Auf freiem Feld gab es einen halbmetertiefen Trichter. Natürlich unter dem Land einer Viehgenossenschaft. Die hatten nichts Besseres zu tun, als den Schaden sofort der Bezirksleitung zu melden. Zwei 44
Tage später rückte die Bergbauakademie an. Die Grenztruppen haben sofort weiträumig abgesperrt. Und die grauen Männer ahnten sofort, was gespielt wurde. Sie stiegen in den Schacht, hinterließen aber keine Spuren. Dann zogen sie ab. Als der erste Konvoi sich ahnungslos auf den Weg machte, schlugen sie zu. Fünf unserer Leute wurden verhaftet. Der Tunnel war verloren. Ein halbes Jahr Arbeit umsonst.« »Da ist Fliegen sicherer«, sagte Linke. »Ja, wenn Du oben bleibst... Eigentlich können wir uns auch duzen.« »Ferdinand«, sagte Linke. »Hugo - ... wenn Du oben bleibst und heil wieder runterkommst.« »Kann ich unseren Flieger noch sehen?« fragte Linke. »Zu spät heute abend«, sagte Hesse. »Die Werkstatt hat regelmäßige Arbeitszeiten, und die Nachbarn haben tausend Augen. Wir müssen strikt auf Sicherheit achten, da ist Regelmäßigkeit am besten.« »O.K.« »Ich bringe Sie, 'tschuldigung, bringe Dich zu Deinem Zimmer. Wir haben ein kleines Abendessen vorbereitet. Ein schönes Bier ist für uns auch schon kaltgestellt.« Linke nahm seine Umhängetasche und folgte Hesse in das Haus. Es roch gut nach Sauerkraut und hausgemachten Würsten. Linke würde es doch noch deftig bekommen. Auf dem soliden Holztisch in der Küche unter der niedrigen Balkendecke hatte die Winzerin Fleischwurst, Schwartemagen, Sülze und Brezeln vorbereitet. Linke lief das Wasser im Munde zusammen. »Ich bin gleich da«, rief er auf dem Weg zum Händewaschen.
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9 Auf den Verpackungsfachmann Ernst Schlüter konnten Deutschlands neue Herren nicht ganz verzichten. Die Vielzahl der Materialien, die unterschiedlichen Packformen, die Spezialformen der Verbünde waren nur mit Expertenhilfe für die sozialistische Warenwelt brauchbar zu machen. Wer von den alten Papierkadern oder Plaste- und Elastespezis kannte sich schon aus mit flip-flop-Aufreißlaschen, mit zweifach alu-bedampften Faltschachteln oder den abbaubaren Polymeren für Lebensmittel. So bekam Ernst unverhofft einen merkwürdigen Anruf in seinem Schöneberger Appartement. Einen Anruf, der seinem Leben wieder einen Sinn gab. »Ist dort Herr Schlüter?« »Am Apparat.« »Hier ist das Packmittelkombinat PaKo, früher FastPacking.« Schlüter schwieg. Er witterte hinter dem Anrufer eine Aktion seiner Ermittler. Seit einem Vierteljahr war er jetzt arbeitslos und hatte sich immer noch nicht an den Rhythmus ohne Terminzwang, Büroklatsch und Betriebsintrigen gewöhnt. »Hallo«, sagte der unbekannte Anrufer, »sind Sie noch da?« Die Telephonleitungen hatten seit der Wende merkwürdige, knackende Nebengeräusche, die allerdings für Experten darauf hindeuteten, daß nicht abgehört wurde. »Ja, ich bin noch dran. Mit wem spreche ich denn«, sagte Schlüter. »Hintze von der Betriebsleitung PaKo. Herr Schlüter, wir würden gerne ein Gespräch mit Ihnen führen.« »Ich habe der Abteilung KoKo doch schon alles erzählt, was ich weiß«, sagte Schlüter, »wenden Sie sich bitte dahin.« »Nein, Sie verstehen mich falsch. Es geht nicht um die Vergangenheit. Wir brauchen Sie, Herr Schlüter, wegen Ihrer Marktkenntnisse.« 46
Schlüter war zwar geschmeichelt, aber immer noch mißtrauisch. »Haben Sie das mit KoKo abgestimmt?« fragte er. »Hab'n wir. Können Sie morgen bei uns vorbeikommen, zehn Uhr?« Blöde Frage, dachte Schlüter, er hatte seit dem Umsturz jeden Tag Zeit für Termine, die sich früher in seinem faltbaren Kalender mit schwarzem Ledereinband nur so gedrängt hatten. Gewohnheitsgemäß nahm er seinen Terminplaner zur Hand und blätterte die entsprechende, blanke weiße Seite auf. »Ja, ich glaube morgen um zehn Uhr geht es.« »Ausgezeichnet«, sagte Hintze etwas überzogen, »Sie wissen, wo Sie uns finden?« »Ich nehme an, im alten Gebäude.« »Melden Sie sich unten beim Empfang.« In seiner alten Firma hatte sich kaum etwas geändert. Immer noch saß der freundliche Pförtner mit dem gezwirbelten Schnauzbart hinter dem halbrunden Empfangstresen. Die Pförtner, erste Visitenkarte der Firma, waren damals deshalb auch Empfangsherren genannt worden. »Guten Morgen, Herr Schlüter«, sagte er mit lauter Stimme, »auch wieder da?« Die Frage wäre früher als indiskret empfunden worden. In der neuen Zeit war sie angebracht, denn neben dem Pförtner saß jetzt ein Uniformierter, der lustlos in einem Stapel Papiere blätterte. »Sie müssen sich hier eintragen.« Schlüter verwies auf seinen Termin mit Herrn Hintze. »Ach so, von der Leitung«, sagte der Uniformierte devot, »dann geben Sie mal her.« Schlüter schob seinen alten westdeutschen Personalausweis über die gut erhaltene Marmorplatte. Der Uniformierte drehte den Ausweis wie einen alten Bierdeckel in den Händen. Seinen neuen DDR-Ausweis hatte Schlüter wegen zahlreicher Überprüfungen noch nicht ausgestellt bekommen. Der Uniformierte überreichte Schlüter eine handgeschriebene Quittung und ein kleines Besucherschild mit einer Sicherheitsnadel. Schlüter befestigte das Plastik47
schild, mit dem schon japanische, amerikanische oder sowje tische Besuchergruppen vor der Wende durch die Produktionsanlagen der Fast-Packing geschleust worden waren, an seinem Revers. Sein Ausweis verschwand in einer schmudde ligen Holzkiste für Karteikarten bei dem Uniformierten. »Oberstes Stockwerk«, sagte der Pförtner freundlich, »der Herr Schlüter kennt sich ja aus von früher.« Ernst Schlüter drückte im Fahrstuhl den elften Stock. Die spiegelnde Wand und die verchromten Haltestangen waren ihm vertraut. Mit einem sanften Ruck beschleunigte der Fahrstuhl bis zum Kitzeln in der Bauchgegend. »Von der Geschäftsleitung auf Tempo eingestellt«, spotteten früher die Angestellten des Verpackungskonzerns. Der Fahrstuhl erreichte sein Ziel, aber noch nicht die Vorstandsetage. Denn wie in vielen Hochhäusern konnte aus technischen Gründen das Dachgeschoß nur über eine Treppe erreicht werden. Selbst in der bundesrepublikanischen Zeit galt es als beson ders prestigeträchtig, die Besucher und Angestellten erstmal ein paar Stufen laufen zu lassen, bevor sie zum A llerheiligsten vordrangen. Auch die Vorstände waren so immer gut zu Fuß. Als die Türen mit einem hellen Gong aufschwangen, glaubte Schlüter seinen Augen nicht zu trauen. Aus der ein stigen kühlen Pracht der Empfangsetage war eine real -sozialistische Rumpelkammer geworden. Entfernt waren die qua dratischen Corbusier-Sessel in schwarzem Leder ebenso wie die großformatigen Modernen an den Wänden, die der Vorstand so gerne bei Vernissagen auf Firmenkosten direkt von den Künstlern eingekauft hatte. Die wertvol len Einrichtungsgegenstände hatte ein ehemaliger Manager in den chaoti schen Übergangszeiten in seine Privatwohnung transportieren lassen. Stattdessen verdeckte eine hölzerne Abtrennwand mit pastellgrünem Stoffbezug den Aufgang zur Treppe. Darauf waren akkurat einige Photos von der Öffnung der Berliner Mauer angebracht. Darunter einige Informationen mit Schaubildern und Tabellen zur Neuordnung des PaKo48
Kombinats sowie die allgegenwärtigen Parteilosungen zur »Befreiung Westdeutschlands.« Im Wettbewerb mit dem Ausland, so versprach eine Parole in handgroßen Buchstaben, werden auch die »Arbeiter und Arbeiterinnen der Packmittelwirtschaft einen gebührenden Beitrag leisten«. Gebührend, was immer das heißt, dachte sich Schlüter, als er hinter der Wandzeitung nach oben verschwand. Die Sekretärin der Betriebsleitung war im mittleren Alter. Schlüter hatte sie noch nie gesehen. Sie war gerade dabei, über Kopfhörer ein Tonbandprotokoll abzuschreiben und hörte nicht, wie Schlüter den Raum betrat. »Guten Tag«, sagte Schlüter in das nahezu lautlose Geklappere der Tasta tur. Keine Reaktion. »Guten Tag«, wiederholte er, deutlich lauter. Wieder keine Reaktion. Die Sekretärin war angestrengt dabei, das Fachchinesisch vom Band aufzunehmen. Schlüter trat unschlüssig an den vollgepackten Schreibtisch heran. Er konnte mit einem Blick erkennen, daß darauf früher als vertraulich behandelte Verkaufslisten gestapelt waren. Daneben lag das Schreiben eines französischen Kun den, der sämtliche Bestellungen storniert hatte. »... sehen wir uns bei den 2, -V-Tüten aus Gründen des Qualitätsverlustes zu diesem Schritt gezwungen«, konnte Schlüter lesen. Er konn te sich schon denken, daß wieder einmal die Reißfestigkeit bemängelt wurde. Die Konsumenten hatten sich früher beschwert, daß die » Scheißdinger« um Erdnüsse oder Gummibären, die sie mit Zähnen und Klauen traktieren mußten, nicht öffnen ließen. Der Handel beschwerte sich dagegen, daß leichter aufzureißende Verpackungen beim Transport Schaden nehmen. Von der Sekretärin ging eine aufdringlich duftende Wolke eines nicht zu teuren Parfüms, Typ bulgarische Rosenessenz, aus. Der Duft paßte gut zu dem neuen Mobiliar des Vorstandsbüros. Als Schlüter nochmals »Guten Morgen« in eine Tippause sagte, fuhr die Vorzimmerdame auf ihrem Drehstuhl herum. 49
»Wo kommen Sie denn her, müssen Sie mich so erschrecken.« Schlüter lächelte. »Ich wollte Sie nicht bei der Arbeit stören.« »Haben Sie aber.« »Würden Sie mich bitte bei Herrn Hintze melden. Ich habe einen Termin.« »Weiß ich, gehen Sie rein, er erwartet Sie.« »Und mein Mantel?« »Können Sie drin ablegen.« Vielen Dank für den außerordentlich freundlichen Empfang, wollte Schlüter sagen, verkniff es sich aber. Ironie wird nicht immer verstanden. »Sehr freundlich«, sagte er stattdes sen kühl. Der Vorzimmerdrachen machte sich wieder über das Ton band her. Schlüter betrat nach kurzem Klopfen an die Maha gonitür das Zimmer. Drinnen sah es ebenfalls etwas ru mpelig aus. Kombinatsleiter Hintze verschwand nahezu hinter seinem mit Papieren und Warenmustern vollgepackten Schreibtisch mit einer Sprelacartplatte. Im Stil der neuen Zeit war ein langgestreckter Beratungstisch direkt an die Längs seite seines Schreibtisches herangerückt. Diese T-Form bestimmte inzwischen auch die Anordnung in den meisten ehemaligen West-Büros. »Morgen, Schlüter«, kam es hinter dem T-Möbel-Ungetüm hervor, »Hintze mein Name.« »Freut mich«, sagte Schlüter, der etwas unschlüssig seinen Mantel über dem Arm hielt. Hintze ging zu einem der neuen Einbauschränke mit Holzfolienbeschichtung und öffnete einen kleinen Garderobenschrank. »Geben Sie her, ich befreie Sie davon«, sagte er, während er den Mantel auf einem hölzernen Bügel verstaute. »Nehmen Sie Platz. Einen Kaffee?« fragte Hintze, während er schon wieder um seinen ausladenden Schreibtisch kurvte. Schlüter nickte. Der Leiter drückte die Sprechtaste 50
zum Vorzimmer. Nichts rührte sich, auch nach mehrmaligem Drücken. »Frau Seiler«, rief er laut durch die Tür. »Ich glaube, sie sitzt unter einem Kopfhörer«, sagte Schlü ter. Hintze stand auf und ging hinaus ins Sekretariat. Schlü ter hörte einen kurzen, aber lauten Wortwechsel. »Entschuldigen Sie, aber unsere Mitarbeiter sind nicht daran gew öhnt, daß Besucher Vorrang haben.« »Und die Kunden?«, sagte Schlüter. »Da sind wir genau beim Thema. Sie kennen den Laden von früher und wissen, daß die Fast -Packing einen großen Teil des Umsatzes mit ausländischen Abnehmern gemacht hat. Die sind zu fast a chtzig Prozent weggebrochen. Qualitätsmängel, Lieferverzögerungen, politische Gründe. PaKo, ich sage Ihnen das ganz ehrlich, wäre nach marktwirtschaft lichen Maßstäben schon pleite. Dank des staatlichen Geld transfers innerhalb unseres neuen Fünf-Jahres-Plans können wir weiter produzieren. Aber viele unserer Produkte finden selbst im befreundeten sozialistischen Ausland keine Abneh mer, weil sie zu aufwendig und zu teuer sind. Und die Kosten bleiben. Wir können keine Entlassungen, sondern nur Um besetzungen vornehmen. Wir haben ganze Abteilungen aus der gesamten Packbranche dazubekommen, die wir gar nicht gebrauchen können. 25.000 Leute. Was das kostet, können Sie sich ausmalen. Und dann der ganze verordnete Sozialklimbim - Essenzuschuß, Urlaubsplatzvergabe durch den Gewerkschaftsbund, Altersversorgung und die sonstigen Zuschüsse.« Schlüter schaute erstaunt. Er hatte nicht erwartet, daß der Leiter eines immerhin mittelgroßen Staatsbetriebes so vom Leder zog. Er hörte seinen ehemaligen Chef reden. »Alleine die Einrichtung des Kindergartens. Ich hab ja nichts gegen Kinder. Aber schaffen Sie mal für gut 700 Gören komplette Kindergartenplätze, Waschräume, Spielzimmer, Essensraum, Kantine, Schlafstuben. Und das ganze Personal dazu für den Drei-Schicht-Betrieb. Und dann noch Krippenplätze für die 51
ganz Kleinen. Wissen Sie, was uns alleine die Beschaffung der kindgerechten Kloschüsseln gekostet hat?« In diesem Augenblick wurde von der Sekretärin ein Tablett mit zwei Kaffeetassen, einer Thermoskanne sowie Zuckerdose und einem Kännchen Milch in den Raum hineinbalanciert. Alles war auf einem weißen Plastikdeckchen in Spitzen-Imitation abgestellt. Sie verteilte die Tassen, wäh rend die beiden Männer schwiegen. »Wir nehmen uns schon selbst«, sagte Hintze. Beleidigt zog der Drachen ab. Schlüter lehnte sich in dem ungemütlichen Besprechungsstuhl am lan gen T-Tisch zurück. »Ich hab Sie aber nicht hergebeten, um Ihnen die Ohren vollzujammern«, sagte Hintze beim Umrühren. »Ich brauche jemanden, der sich auf dem französischen und amerikani schen Markt auskennt. Sie sprechen doch die Sprachen?« »Ja«, sagte Schlüter. »Sehr gut«, sagte Hintze, »wir haben mehr Russisch ge lernt. Sie kennen im kapitalistischen Ausland die Kunden, deren Eigenarten und deren Bedürfnisse.« »Wenn die Qualität des Produktes nicht stimmt, nützt das alles wenig.« »Das ist es ja. Schauen Sie, hier haben wir von einem fran zösischen Kunden eine Anforderung. Er sucht eine strapazierfähige Folie, doppelwandig, gasgeschäumt, für Großverpackungen im Konsumbereich. Vor allem stoßempfindliche Instrumente will er damit transportsicher verpacken.« Schlüter nickte. »Und wo liegt das Problem?« »Unsere Leute sagen: Geht nicht. Haben wir noch nie gemacht.« »Dann vergessen Sie's.« »Nein, ich will, daß Sie diesen Auftrag für uns ausarbei ten. Die Franzosen haben übrigens in Dresden einen Partner, mit dem sie zusammenarbeiten.« Hintze wühlte zielstrebig auf seinem Schreibtisch ein in graue Pappdeckel eingelegtes Schriftstück hervor. »Hier ist es. Ein Instrumentenbauer 52
namens Thierbach. Nie gehört. Können Sie das für uns über nehmen?« Schlüter war nicht wohl bei der Sache. Gestern noch Staatsfeind, heute Kollaborateur. »Wenn Sie das mit Koko und der Staatsanwaltschaft klären könnten.« > »Hab ich schon. Die haben einen Wink von £anz oben.« »Und die Staatssicherheit?« »Das schaukeln wir schon. Auslandsreisen kriege ich erst mal nicht durch. Aber gucken Sie sich doch mal den Laden in Dresden an.« »O.K.«, sagte Schlüter, bis ihm einfiel, daß das jetzt wohl »in Ordnung« hieß. Angeblich ging das Kürzel O.K. auf einen der frühen amerikanischen Präsidenten zurück, der »all clear« damit verknappte. »Und dann haben wir noch ein Problem«, ergänzte Hintze. Und das ist ein richtiges Problem, es kommt direkt vom Zentralkomitee. Wenn wir das nicht hinkriegen, bin ich weg vom Fenster. Folie für den Reichstag.« »Bitte was?« »Das ist absolut vertraulich«, sagte der Kombinatsleiter, »wir haben einen rechtsgültigen Vertrag mit einem amerika nischen Künstler zur Verpackung des Reichstages übernom men.« »Christo.« »Genau, wir kommen da nur bei Erfüllung heraus, sonst müssen Devisen gezahlt werden.« »Ich dachte, das Projekt sei tot.« »Mitnichten. Unser Kulturminister will sich an die Spitze der Bewegung setzen und die Verhüllung als Symbol für den Sieg des Sozialismus feiern. Der Reichstag als versiegeltes Mahnmal des Faschismus und einer über vierzig Jahre irre geleiteten West-Demokratie. Das Gebäude soll dann, und das weiß der Künstler natürlich nicht, unter der Hülle ver rotten und zur Ruine werden. Spart uns die Abriß- oder Unterhaltskosten.« 53
»Ist nicht Ihr Ernst«, sagte Schl üter. »Doch«, sagte Hintze, »uns fehlt nur das Folienmaterial in ausreichender Quantität und Qualität. Vielleicht läßt sich da was aus den Sero-Stoffen der Haushaltssammlungen machen. Können Sie sich darum kümmern?« »Ein bißchen viel auf einmal«, sagte Sch lüter. »Mensch Schlüter, Sie sind doch der einzige hier mit West erfahrung, das wuppen Sie doch.« »Dazu brauche ich aber Mitarbeiter.« »Kriegen Sie.« Der Leiter nahm die Mäntel aus dem Schrank und ging mit seinem Besucher hinaus ins Vorzimmer. Die Sekretä rin schaute interessiert auf. »Wir sind unten in der Entwicklungsabteilung. Rufen Sie Parsenki an, daß wir kommen.« »In Ordnung, um eins haben Sie aber einen Termin mit der sowjetischen Delegation.« »Bis dahin sind wir zurück.« Auf der Treppe sagte der Le iter stöhnend: »Mußten Sie früher auch soviel Wodka trin ken?«
10 Die Aktion vor der Semperoper lief wie geplant. Kick und ihre Freunde hatten begonnen, ihre Plakate auszurollen. Die zivil gekleideten Kräfte der Staatssicherheit griffen jedoch schnell und effizient zu. In wenigen Sekunden hatten sie die jungen Leute aus der Neustadt eingekreist und von den Pres severtretern abgedrängt. Die Kameraleute hatten kaum eine Möglichkeit, die Demonstranten richtig ins Bild zu bekom men. Nur einige verwackelte Bilder über die Rücken der Sicherheitsleute hinweg waren zu bekommen. »Einsatzleiter«, quakte es aus einem der Mobilfunkgeräte, »Meldung?« 54
»Einsatz beendet. Lage konspirativ-operativ aufgeklärt. Elemente unter Kontrolle. Überführung wie angeordnet in das Hauptgebäude gemäß Weisung OB Zwo.« OB Zwo, operative Beobachtung, das war die republikweit operierende Sondereinheit des Staatsschutzes, die in der Regel rechtzeitig über staatsfeindliche Aktivitäten Bescheid wußte. Natürlich hatte die OB Zwo für ihre op erativen Berichte auch einen Spitzel im Studentenhaus der Neustadt. Natürlich war auch schon Kicks kurzer Lebensweg, von dem Kreuzberger Abrißhaus bis zur Dresdner Kommune, in einer Akte erfaßt. Akten waren das Schmiermittel, das die beiden deutschen Staaten schon vor der Wiedervereinigung am Laufen hielt. Auch die Ermittlungsakten der West -Berliner Polizei waren von den Nachfolgern ausgewertet worden. Die regelmäßigen Treffen des Musikkreis Pianoforte hatten den OB Zwo-Auswertern anfangs einiges Kopfzerbrechen bereitet. Mit Musikkreisen lagen nicht so viele Erfahrungen vor. Zusammen mit den Meldungen aus Berlin, Düsseldorf und Freiburg über die versuchte Beschaffung von Spezialmaterialien hatte sich allerdings bald ein Puzzle zusammensetzen lassen. In der alten Klavierfabrik schienen Helfer für die Herstellung von nichtgenehmigten Fluggeräten zu sitzen. »Fluggeräte«, sagte der OB-Ermittler, »was soll denn das heißen?« »Wissen wir noch nicht genau«, sagte der Kollege, »aber die Planungen gehen in diese Richtung.« »Terroristischer Anschlag mit Fluggeräten?« »Oder Vorbereitungen zur Republikflucht«, ergänzte der Ermittler. Beide Delikte konnten nach dem für Gesamtdeutschland gel tenden Strafgesetzbuch mit dem Tode bestraft werden. Seit dem Umsturz waren etwa ein Dutzend Menschen mit einem gezielten Kopfschuß in der Mannheimer Überstellungsanstalt hingerichtet worden. Zuletzt ein 3 5Jähriger Mitarbeiter 55
der Außenhandelsabteilung. Ihm konnte nach Ansicht der Großen Strafkammer in Düsseldorf nachgewiesen werden, daß er vor der Annexion Westdeutschlands für den Bundesnachrichtendienst auf östlichem Territorium tätig war. Gleichzeitig hatte er seine Kenntnisse an d en amerikanischen Dienst verkauft. Für Doppelagenten gab es nach Auffassung des Düsseldorfer Richters keine Gnade. Auch das Argument der Verteidigung, daß der Angeklagte nicht für Spionagetätigkeit in einem untergegangenen Staat belangt werden könne, ließ den Vorsitzenden kalt. »Im Namen des Volkes« verlas der hagere Jurist mit dem ausweichenden Blick das Todesurteil. Die Kandidaten für die Ewigkeit wurden über den Termin ihrer Hinrichtung im unklaren gelassen. Auch die Eingaben der verzweifelten jungen Ehefrau nutzten nichts. »Abgelehnt«, kritzelte der Staatsratsvorsitzende in seiner steilen Altmännerschrift auf das Gnadengesuch. Die Verlegung in die Mannheimer Anstalt weckte bei einigen Gefangenen die Hoffnung auf eine Wende in ihrem Verfahren. Als der A gent in den gekachelten Raum im Untergeschoß geführt wurde, glaubte er, auf dem Weg zu einer medizinischen Untersu chung zu sein. Kein Abschieds wort, keine letzte Nachricht, kein Geistlicher, kein Henkersmahl. Der eigens geschulte Vollzugsbeamte trat laut los aus einer verdeckten Tür von hinten an den Delinquenten heran. Der 38er Revolver, westliches Fabrikat, in seiner von der NVANahkampfausbildung geschulten Hand war geladen und gespannt. Der begleitende Gefängniswärter trat zur Seite. Der Henker setzte die Waffe mit einem leichten Winkel auf den Nackenwirbel. Das Letzte, was der vermeintliche Agent von seiner Welt mitnahm, war die Berührung des kalten Eisens. Dann durchtrennte das Geschoß schon die lebens wichtigen Nervenbahnen. Er war sofort tot. Der Gefängnisarzt füllte den Totenschein aus. Der Henker machte einen handschriftlichen Vermerk in einem Buch mit der Aufschrift 56
»Vollstreckungen«. Die Leiche wurde abtransportiert. Auf dem Boden war ein kleiner Abfluß. Mit einem Wasserschlauch an der Wand wu rde der Raum sofort für die nächste Hinrichtung gesäubert. Im Namen des Volkes. Die Mitglieder der Gruppe Neustadt wurden von der Semperoper sofort in die Verhörräume der OB Zwo transportiert. Die Ermittler interessierten sich allerdings nicht so sehr für die fehlgeschlagene Protestaktion gegen die Staatsspitze. »Das haben wir alles im Griff«, sagte der OB Zwo -Chef in breitem Sächsisch. Nein, unklar waren den Staatsschützern die noch undurchschaubaren Aktivitäten in der Klavierfabrik. Die Beschaffung von Spezial-Verpackungsmaterialien paßten nicht in das Bild des Handwerksbetriebs. »Da ist was faul«, urteilte der Ermittler, »nehmt den Laden mal ausein ander. Ich will morgen früh einen Bericht.« Wenig später fuhren fünf Einsatzwagen in der Kamenzer Straße vor. Die Nachbarn in den gegenüberliegenden Altbauten schlössen die Fenster und lugten hinter den Gardinen neu gierig auf die Straße. Das geheimnisvolle Treiben in der alten Fabrik gab schon früher Anlaß zu wilden Spekulationen Sonderaufträge für die Bonzen, Sexparties von Studenten oder ein Spielcasino ohne Lizenz. Die beiden KlavierfabrikErben hatten bei Anfragen durchblicken lassen, daß man für die Parteileitung Aufträge erfüllte. Das genügte, um Denun zianten fernzuhalten. Jetzt hatten die Nachbarn neue Nahrung, nachdem die Sicherheitskräfte im Großaufgebot vorgefahren waren. Man habe es schon immer gewußt, sagten die Nachbarn, daß in der Klavierfabrik irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuginge. »Ihre Personalien«, sagte ein Sicherheitsmann zu einem der plötzlich redseligen Nachbarn. »Ich kann ja nichts Genaues melden«, sagte der Denun ziant eingeschüchtert, »ich will ja keinen Ärger bekommen.« Nur nicht hinauslehnen. 57
Die OB Zwo-Leute durchsuchten professionell das Büro und die Werkstätten. Am meisten waren sie an der Kundenkartei und den Abrechnungen in den altmodischen Ordnern interessiert. Die Firmenerben zeigten sich kooperativ, da die wirk lich heißen Sachen im doppelten Boden eines Schimmel-Pianos ruhten. Und um da heranzukommen, müßte der zentner schwere Rahmen bewegt werden. Das war nichts für die Stasi-Leute. »Und wie dokumentieren Sie die Transporte?« fragte einer der Ermittler. »Nun ja, wir fahren auf Bestellung zu den Kunden. In alle Teile Deutschlands - Norddeutschland, Süddeutschland, Rheinland, überall«, sagte der Klavierbauer. »Darüber führen wir kein eigenes Buch.« »Die Kosten werden doch erstattet?« »Selbstverständlich«, sagte der Klavierbauer, »die Belege heften wir hier ab.« »Mitnehmen«, befahl der Ermittler. Aus den Benzinabrechnungen für den klapprigen Lieferwagen rekonstruierten die OB Zwo-Rechercheure später die Fracht nach Freiburg. Nach der Einvernahme des Fahrers bekamen sie den entscheidenden Hinweis auf den Winzerhof in der badischen Ortschaft. Der Ring um die Republikflüchtlinge der Opera tion Fliege schloß sich immer enger. Der OB Zwo-Chef war zufrieden mit den Ermittlungsergebnissen seiner Leute. Er wollte allerdings nicht zu früh zugreifen. »Laßt sie denken, daß wir nichts wissen«, sagte er, »wir lassen den Köder drin, bis die großen Fische anbeißen.« Die Staatsschützer vermu teten bislang unbekannte Hintermänner der Fluchtorganisation - und an die wollten s ie herankommen.
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11 Die Staatsschutz-Abteilung bereitete in diesen Tagen zudem ein besonderes Ereignis vor. Für einen japanischen Staatsbe such in Berlin und Düsseldorf hatte der große Vorsitzende seine Teilnahme angekündigt. Alle Kräfte wurden dafür in der rheinischen Metropole gebündelt. Das sollte sich später als verhängnisvoller Fehler herausstellen, denn in dem weit gehend verlassenen Geschäftszentrum der einstigen japanischen Hochburg war inzwischen Marianne, die abgewickelte Food-Stylistin, eingetroffen. Die ehemalige Expertin für Essen und Trinken der gehobenen Ansprüche hatte dort einen fachlichen Kontakt aktiviert. Es sollte eine ganz besonders raffinierte Falle für die Spitze der Staatssicherheit werden. Marianne war eher zufällig auf das noch bestehende Spezialitäten-Restaurant hinter dem ehemaligen Nippon-Hotel gestoßen. Nach der Machtübernahme durch den Osten war die japanische Gemeinde aus Geschäftsleuten und Dienstlei stungsbetrieben nahezu vollständig abgewandert. Es gab unter den neuen Bedingungen kaum noch Möglichkeiten, mit Anlagenbau, Autos, Computern oder Unterhaltungselektronik in Deutschland Geld zu verdienen. Die Handelsabteilung der Japanischen Botschaft in Berlin hatte die Wahrneh mung der wirtschaftlichen Interessen übernommen. Den japanischen Investoren ging es vor allem darum, für ihre teuer erworbenen Immobilien, Schlösser und Grundstücke in Deutschland von der neuen Regierung Ausgleichszahlungen zu bekommen. Das meiste war durch das Rückübereignungs Gesetz von der Volkskammer beschlagnahmt worden. Für die futuristischen Glaspaläste, Großraumbüros und marmor verkleideten Bankgebäude gab es keine Verwendung mehr. Der Großteil des Geldes schien verloren, da Tokio kaum ein Druckmittel gegen das neu konstituierte Deutschland hatt e. Auch eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag schien wenig aussichtsreich. 59
Der Tag der deutschen Wiedervereinigung hatte nicht nur an den fernöstlichen Börsen ein wahres Beben ausgelöst. Aber besonders japanische Gesellschaften, die zur Errichtung von Altenheimen, Freizeiteinrichtungen und Ferienparks große Kapitalien in Westdeutschland angelegt hatten, wurden von der Okkupation überrascht. Auf den Golfplätzen der japanischen Investoren weideten jetzt volkseigene Kühe der LPGs, die sich an den Greens sattfraßen. Marianne kannte diese Geschichten und wollte für einen amerikanischen Verlag eine Reportage über die enteigneten Japaner in Westeuropa erarbeiten. Diese Form von sogenanntem Japanese-Bushing fand großes Interesse jenseits des Atlantiks. Schließlich waren die Japaner auch für das Auseinanderfallen Amerikas verantwortlich gemacht worden. Ihre Manuskripte hatte die Journalistin bisher erfolgreich über einen befreundeten Diplomaten via elektronischer Post außer Landes gebracht. Die amerikanischen Zeitungen in den verschiedenen Staaten waren dankbar für Geschichten, die zeigten, daß die historische Wende der Nachkriegszeit andere Nationen noch härter getroffen hatte. Auf den Spuren der vertriebenen Japaner traf Marianne auch den Koch und Restaurantinhaber Sukaya. Der drahtige Mann hatte vor der Wiedervereinigung in einem der teuersten Restaurants Düsseldorfs gearbeitet. Nach einer speziellen Zusatzprüfung hatte er das erste und einzige autorisierte Kugelfisch-Restaurant mit einem deutschen Partner eröffnet. Das »Fish and Risk« entwickelte sich schnell zu einem beliebten Treffpunkt der deutschen und japanischen Jungmanager, die der Kitzel reizte, einen der giftigsten Fische der Welt fachmännisch zubereitet zu bekommen. Ein falscher Schnitt mit dem rasiermesserscharfen Messer, ein paar Millimeter der toxischen Innereien, wie Galle oder Leber, und die Kugelfischmahlzeit endete im Sarg. Marianne wollte dieses Abenteuer am Abendtisch für ihre Reportage beschreiben. 60
Zur Kultur des Essens gehörte im neuen Deutschland auch die streng-mahnende Aufforderung des Personals »Sie werden plaziert«. Kein Restaurant verzichtete inzwischen auf diese praktische Einweisung der Gäste, die den sozialistischen Staat mit der früheren USA verband. Die Gäste hatten sich genauso schnell daran gewöhnt wie an die wenig originelle Umbenennung von Restaurantketten wie Nordsee in das wesentlich poetischere Gastmahl des Meeres. Marianne gab vor, für das Magazin Unser Land die Eßkulturen fremder Völker portraitieren zu wollen. Tatsächlich bekam sie von einem ehemaligen Mitarbeiter des Ressorts »Modernes Leben« ihrer Zeitschrift, der jetzt für das Ressort »Unterwegs daheim« von Unser Land arbeitete, regelmäßig kleinere Aufträge. »Und Sie haben noch Kugelfisch auf der Karte?« fragte sie den Koch Sukaya. »Nicht auf der Karte. Aber wir können es arrangieren. Es ist sehr schwer geworden, gute Fische nach Deutschland zu bekommen. Zuletzt hatten wir sogar einen Fisch aus dem Aquarium eines großen deutschen Zoos. Und der Preis muß auch stimmen.« »Und wer gehört zu ihrer Kundschaft?« fragte Marianne. »Kommen Sie doch mal zum Essen«, sagte der Restaurantbesitzer und schaute sich mißtrauisch in seinem kleinen Büro um. Marianne verstand. Wanzen überall, aber keine echten. Er schleuste sie in den Gastraum, der aus einer langen Theke und mehreren Separees mit teilweise japanischen Tischen in Bodennähe bestand. Die Fächer in der Kühltheke für den rohen Fisch waren leer und blitzsauber gewienert. Die Tische trennten transparente Stellwände mit maritimen Motiven. An den Wänden hingen präparierte Krabben, Hummer, Schildkröten und Schwertfische. Sukaya startete einen CD-Spieler mit scheußlicher Musik. Jetzt konnte er ungestörter reden. 61
»Schauen Sie selbst«, sagte Sukaya, »die einzigen Tiere, die wir heute haben, sind ausgestopft. Trinken Sie einen Tee?« Er brühte mit dem kleinen Wasserkocher einen grünen Tee auf. Er kannte die Journalistin von ihren früheren Arbeiten in den Hochglanzmagazinen und schätzte ihre Arbeit als kompetente Fachfrau. »Ich habe sogar Schwierigkeiten, frischen Ingwer zu bekommen«, sagte der Sukaya,»machen Sie mal unter diesen Umständen eine interessante Küche. Zum Verzweifeln.« »Verstehe«, sagte Marianne. »Selbst beim Reiswein haben wir nicht immer die nötigen Vorräte.« Marianne nahm ihre Zigaretten und den kleinen Spiralblock. »Danke für Ihre Hilfe«, sagte sie und erhob sich. »Kommen Sie doch mal zu uns zum Essen«, sagte Sukaya, »es würde uns freuen, Ihr Urteil zu hören.« »Gerne, wann?« »Nächsten Mittwoch haben wir Kugelfisch. Das ist zwar eine geschlossene Gesellschaft. Aber wir können Sie als Mitarbeiterin ausgeben.« »Um welche Uhrzeit?« fragte Marianne. »Wir erwarten Sie um sechs.«
12 »Jetzt komm doch endlich, oder willst Du hierbleiben«, rief Ulrike Linke in den hinteren Teil der Wohnung. Eigentlich wollte sie heute pünktlich um Viertel nach acht Uhr ihre Altbauwohnung in der Bleibtreustraße verlassen. Wie immer trödelte ihre zweieinhalbjährige Tochter beim Anziehen und versteckte sich hinter den Türen. >Mit Kindern darf man es nie eilig haben<, dachte Ulrike, die mit dem buntgemusterten Anorak in der Hand im Flur lauerte. Schließlich schleppte das Kind 62
die Straßenschuhe an und setzte sich vor ihr auf die PitchpineBohlen. »Spieba«, sagte die Kleine. »Nein, es geht nicht zum Spielplatz, sondern in den Kindergarten«, erklärte Ulrike. Sie hatte für ihre Tochter sofort einen Platz im neuen Kindergarten am Bahnhof Zoo erhalten. Früher hätte sie darauf Jahre warten müssen. Damals wurden die Kinder in der angeblichen Wohlstandsgesellschaft schon vor der Zeugung auf lange Wartelisten für einen der begehrten Kindergartenplätze gesetzt. »Wie heißt denn das Kind«, wurden häufig die zukünftigen Eltern gefragt, die darauf keine Antwort wußten, da der endgültige Name des ungeborenen Kindes noch nicht fest stand. Die neuen »Großbetreuungsstätten«, wie sie im amtlichen Anmeldeformular des Bezirks bezeichnet wurden, boten dagegen Platz für alle Kinder der Republik. Ulrike hatte für ihre Tochter einen Platz in der nahegelegenen Betreuungsstelle am Zoo gefunden, die im zweistöckigen Pavillion des ehemaligen Amerikahauses eingerichtet worden war. In der Bibliothek, die früher ein umfangreiches Angebot an Magazinen, Tageszeitungen und Fachbüchern zur Kritik der kommunistischen Gesellschaftssysteme umfaßte, war jetzt der große Spielraum, ausgestattet mit bunten Kissen, kleinen Tischen zum Basteln, einer Rutsche und quadratischen Sitzwürfeln. Ein halbes Dutzend geschulter Kindergärtnerinnen betreute ganztags fünf gemischte Gruppen mit jeweils zehn Kindern. Eßräume, Schlafkabinen und eine Sanitätsstation waren vorhanden. Traumbedingungen für werktätige Mütter und Väter, die ihren Nachwuchs zeitlich flexibel zur Betreuung abgeben konnten. In jedem Bezirk der Vier-MillionenMetropole waren solche Kinderzentren entstanden. Hinter dem ehemaligen Amerika-Haus war auf dem Parkplatz eines inzwischen geschlossenen Supermarktes ein Freigelände mit Wippen, Karussellen und kleinen hölzernen Unterstellhäusern aufgebaut worden. Zwei feste Kräfte sorgten auch hier für eine stundenweise Beaufsichtigung der Kleinen. Gummistiefel und Wechselhosen inbegriffen. 63
>Wenigstens etwas, das sich verbessert hat in diesem Scheißstaats dachte Ulrike, als sie ihr Kind mit dem Fahrrad zum Zoo-Garten fuhr. Zwar war der Ton in der sozialistischen Kindertagesstätte etwas schärfer, als sie es für gut befand. Aber ihre Tochter freute sich auf die Spielgruppe bei der Betreuerin mit der blonden Dauerwelle. Ulrike Linke hatte so die Möglichkeit, wenigstens halbtags aus ihrer politisch bedingten Arbeitslosigkeit herauszukommen. Die ehemalige stellvertretende Leiterin der Senats-Grundsatzabteilung jobbte jetzt als Küchenhilfe und Serviererin in dem kleinen Cafe des Bauhaus-Museums. Der weiß gestrichene Bau am Landwehrkanal beherbergte jetzt ein Austeilungszentrum für sozialistische Plakatkunst. Das Wort Design war durch Gestaltung ersetzt worden. Im Auftrag der Wirtschaftsabteilung des Zentralkomitees mußten auch in der Planwirtschaft Werbekampagnen zum Absatz der volkseigen erzeugten Produkte durchgeführt werden. So entstanden Slogans wie »Nimm ein Ei mehr« oder »Schwein hält gesund« für die landwirtschaftlichen Genossenschaften. Die unzähligen Losungen zum Aufbau des Sozialismus oder der Planerfüllung in allen sogenannten gesellschaftlichen Bereichen schlugen sich in Spruchbändern und Propagandatafeln für die Betriebe nieder. Einige davon hingen jetzt in dem Bauhaus-Museum, dessen früheren und jetzigen Direktor Ulrike gut kannte. Er nannte sich jetzt Leiter. So bekam sie die Stelle in der Küche. Da sie häufig als Bedienung einspringen mußte, hatte Ulrike auch direkten Kontakt zu den Ausstellungsbesuchern, die sich bei einer warmen, hausgemachten Schokolade, einem Tee, einer Limo oder einem Margon-Selterwasser von der Einheitskunst erholten. Die Getränke gab es zu Niedrig-Einheitspreisen, die eine Vielzahl von Künstlern, Graphikern oder Musikern in das kleine Museumscafe lockten. Unter dem Ladentisch wurde sogar ein Exemplar des Nachrichtenmagazins Die Nation gehandelt, das in einer Exilausgabe in Zürich erschien. Darin fanden 64
sich Artikel mit ungeschminkten Fakten über den tatsächlichen Zustand Deutschlands. Ein Teil der Redaktion der Berliner Nation, für die Hugo Hesse tätig gewesen war, hatte nach der Machtübernahme die Flucht in die Schweiz geschafft. Allerdings stellten die schweizerischen Behörden jeweils nur auf ein Jahr befristete Visen für die Journalisten aus. Opposition war in der Schweiz noch nie geschätzt. Ulrike blätterte in einer Pause in dem indexierten Magazin und entdeckte einen Artikel über die Hinterlassenschaften des ehemals an der Berliner Mauer beheimateten Museums Checkpoint Charlie. Unter den tausenden von Exponaten aus der Zeit der deutschen Teilung befanden sich auch phantasievolle Fluggeräte, Gleitsegler, Klein-U-Boote und Kraftwagen mit doppelten Böden. Es waren die Fluchtmaschinen von Republikgegnern, die es geschafft hatten, Mauer und Grenzanlagen zu überwinden. Die Gerätschaften der anderen Republikflüchtlinge, die weniger Glück hatten und abgefangen wurden, waren allerdings ebenfalls sorgfältig archiviert worden - von der Stasi. Zum 5ojährigen Bestehen des Staatssicherheitsdienstes im Jahre 1999 präsentierte die Abteilung Dokumentation im holzgetäfelten Saal eines sogenannten Kabinetts in einer Berliner Außenstelle des Ministeriums für Staatssicherheit die Fluchtmaschinen. Der Chef war begeistert. Die unter höchster Geheimhaltung konstruierten Fluchtmaschinen drückten die ganze Verzweiflung von vielen Millionen Deutschen aus. Kein Risiko schien den Fluchtwilligen zu groß, um die Grenzen zu überwinden - auch unter dem Risiko, das eigene Leben in den wackeligen Fluggeräten, BaiIons oder Vehikeln zu verlieren. »Interessanter Artikel?« fragte plötzlich eine tiefe männliche Stimme hinter Ulrike. Sie zuckte zusammen und zog reflexartig das Magazin an sich. »Ja, ganz interessant«, sagte sie etwas zu locker, »kann ich etwas für Sie tun?« Der Fremde mit dem glatt rasierten 65
Gesicht hatte sich offenbar auf dem Weg zur Toilette in die Küche verirrt. Ulrike Linke klappte die Ausgabe der Nation zusammen und stand von dem Stuhl an der Anrichte auf. »Zum Gastraum geht es da hinaus«, sagte sie. In den Augen des Fremden konnte sie dabei schon lesen, daß es wohl um etwas anderes ging. Ärger, Anhörungen. >Um sechs muß ich die Tochter abholen<, ging es ihr durch den Kopf. »Sind Sie Ulrike Linke?« fragte der Besucher, der eine anthrazitfarbene Windjacke trug. »Ja, und?« »Kann ich Sie einen Moment sprechen?« >Also doch die Firma<, dachte Ulrike. »Nicht hier, lassen Sie uns nach draußen gehen.« Der Glattrasierte steuerte an einen der Zweier-Tische am Fenster. »Sie brauchen keine Befürchtungen zu haben wegen der Nation«, sagte der Fremde, als hätte er Ulrikes Gedanken gelesen. »Ich bin wegen einer ganz anderen Sache hier.« Er schaute sich dabei unauffällig auffällig in dem Cafe um. Er rückte seinen Stuhl noch etwas näher an Ulrike heran. »Ich komme von einem Freund Ihres Mannes.« Ulrike schaute in mißtrauisch an. »Wie heißt der?« »Spielt keine Rolle, aber Sie kennen ihn. Er ist heute bei den Luftstreitkräften in einer Hubschrauberstaffel als Pilot verpflichtet.« »Stephan«, entfuhr es Ulrike. Stephan mit der Flugmeise. »Genau, er läßt Sie schön grüßen, wir sind in der gleichen Einheit.« »Warum meldet er sich nicht selbst?« »Das wäre aus bestimmten Gründen nicht ratsam. Stephan will nicht mit Ihrem Mann oder Ihnen direkten Kontakt aufnehmen. Sie wissen ja, wie das ist bei den Militärs.« »Und woher wissen Sie, daß ich hier arbeite?« »Aus den Akten.« »Akten, welche Akten?« »Das ist genau der Punkt, über den ich mit Ihnen und 66
Ihrem Mann sprechen wollte. Im Auftrag von Stephan.« Ulrike schaute den Glattrasierten immer noch mißtrauisch an. Der Fremde hielt ihrem bohrenden Blick stand. »Wollen Sie etwas trinken«, fragte sie unvermittelt, »Kaffee, Tee, Wasser?« »Wasser bitte«, sagte der Besucher. Ulrike erhob sich. »Ich gehe jetzt die Getränke holen, und dann sagen Sie mir, für wen Sie arbeiten. Und Ihren Ausweis möchte ich auch sehen.« Der Fremde lächelte. Er hatte sich nicht in Ulrike getäuscht. Als Ulrike mit den Getränken zurückkam, lag der Ausweis auf dem Tisch. Es war ein Dienstausweis des 12. Grenzsicherungsbataillons, Luftraumüberwachung. Der Dienstgrad war Offizier. Auf dem Photo sah der Glattrasierte noch etwas militärischer aus, in seiner akkuraten Uniformjacke mit Lametta auf den Schultern. Ulrike Linke stellte das Mineralwasser vor den Offizier und schob einen grünen Tee an ihren Platz. Sie nahm den Ausweis und betrachtete die Rückseite mit dem Staatswappen, den Hammer mit einem Zirkel in einem Ährenkranz. Wortlos gab sie das Dokument zurück. »In Ordnung. Und wie geht es eigentlich Stephan?«, fragte sie. »Nicht so gut. Sie haben ihn zwar als Piloten für die Westmaschinen übernommen. Aber privat steckt er momentan in einer Krise. Seine Frau hat sich von ihm getrennt, die Kinder hat sie mitgenommen.« »Warum?« »Das Leben in den Kasernen ist nicht jedermanns Sache. Schon gar nicht unter den neuen Bedingungen.« »Kommen Sie auch aus dem Westen?« »Klar, ich war bei der Luftsicherung im Flughafen FranzJosef-Strauß beschäftigt. Mit der Machtübernahme hat man uns als Experten auch übernommen, um die moderne Elektronik in der Luftwaffe aufzubauen. AusFranz-Josef-Strauß 67
wurde Juri-Gagarin, die größte Luftwaffenbasis außerhalb der Sowjetunion. Die Freunde aus dem Osten haben sich bis heute nicht an den ganzen Glitzerkram und die Chromgeländer in der Abfertigungshalle gewöhnt. Wir sagen immer, das sei die westlichste Station der Moskauer Metro.« »Das heißt, Sie sind ein Militär?« »Sehen Sie ja an meinem Ausweis. Ich habe die üblichen Schulungen durchlaufen und war bei der Bodensicherung tätig. Dazu kamen Spezialbereiche wie Radarlaser, Fernüberwachung, Satellitenbildauswertung. Davon hatten wir in Bayern, pardon im Bezirk München, ja genug Firmen mit Weltniveau sitzen. Die haben alle gut überlebt.« »Sie sprachen von Akten«, sagte Ulrike Linke und nahm einen Schluck Tee. »Ja. Es gab vor etwa zehn Tagen eine erste Information mit einem vertraulichen Protokoll. Der Vorgang hat den Decknamen »Winzer«. Die Stasi hat bei uns um Amtshilfe nachgefragt. Der Auftrag ist Sicherstellung und Unterbindung geplanter Fluchtaktivitäten.« »Klingt etwas allgemein.« »Nein, nein. Da sind die Details schon drin. Es ist bitterer Ernst, Frau Linke. Was ich Ihnen hier erzähle, kann mich selbst den Kopf kosten. Ich tue es trotzdem, Stephan zuliebe. Also die Aktion Ihres Mannes und seiner Kollaborateure ist bei der Stasi bereits im vollen Umfang bekannt.« Ulrike erbleichte unter dem am Morgen flüchtig aufgetragenen Rouge. Ihre Hand an der Teetasse zitterte für einen geschulten Beobachter leicht erkennbar. Ihr Herzschlag hatte sich erhöht. »Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen«, sagte sie forsch. Etwas zu forsch. Sie stellte die Tasse Tee ohne zu trinken wieder zurück. »Frau Linke«, sagte der Glattrasierte mit abfallender Betonung. »Der Gleitflieger hat eine Spannweite von siebeneinhalb Metern, die Rahmenkonstruktion ist aus Aluminium, die Bespannung eine Pe-Folie mit Vakuum-Aufschäu68
mung, Sitzplatzkapazität drei Personen oder 240 Kilogramm, Reichweite bei normalen thermischen Bedingungen am westlichen Schwarzwaldrand: rund zz Kilometer - genug für einen Flug über die Staatsgrenze. Ein Probelauf hat vor fünf Wochen, getarnt als Pestizid-Einsatz für landwirtschaftliche Flächen, stattgefunden. Die Steuerung ist offenbar noch zu justieren, um eine punktgenaue Ziellandung sicherzustellen.« Ulrike schwieg. Sie starrte den Besucher mit erkalteten Augen an. »Das wissen Sie alles aus der Akte?« »Da steht noch wesentlich mehr drin. Sie wissen, wie genau die Brüder arbeiten.« Die gesamte Logistik der Materialbeschaffung über eine Tarnadresse in Dresden; die umgeleiteten Folienlieferungen für den Reichstag in die Klavierfabrik; die konspirativ-operativen Tätigkeiten des Hugo Hesse und sogar die Entscheidung der Linkes, das Kind mit auf den Fluchtflug zu nehmen - alles hatten die Späher erfaßt. Mit einem halbvollen Kartoffelsack hatte Linke die zusätzliche Gewichtsaufnahme durch sein Kind simuliert. Er wäre niemals ohne seine Tochter herausgeflogen, auch wenn das Risiko noch so groß war. »Was wollen Sie von uns, was will Stephan?« fragte Ulrike Linke. »Frau Linke, was ich Ihnen jetzt sage, vergessen Sie besser gleich wieder. Unsere Staffel hat den klaren Auftrag, jede Flugbewegung an der westlichen Grenze zu unterbinden. Auch mit Waffengewalt. Die Ermittlungsgruppe OB Zwo will zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Durchsuchungen oder Verhaftungen vornehmen.« »Was schlagen Sie vor, wie sollen wir uns verhalten?« »Deshalb bin ich ja hier. Stephan hat ihnen einen Vorschlag zu machen. Er möchte Ihnen helfen.« »Wie das?« »Er würde sich damit auch selbst helfen.« »Bitte?« 69
»Er will selbst raus. Endgültig. Zusammen mit Ihrer Gruppe.« »Republikflucht?« »Psst«, sagte der Glattrasierte, »nicht so laut«. Er schaute sich in dem Museumscafe um. Es waren keine neuen Gäste gekommen. »Stephan hat sich entschieden, alles hinter sich zu lassen. Nichts hält ihn mehr. Nachdem noch ein Altei gentümer aus dem Osten das große Familiengrundstück in Stuttgart zugesprochen bekommen hat und seine Frau getrennte Wege geht, will er sich im westlichen -Ausland etwas Neues aufbauen. In Kanada werden qualifizierte Hub schrauberpiloten gut bezahlt.« »Und Sie?« »Ich bleibe hier. Meine Eltern sind Pflegefälle. Ich will sie nicht alleine lassen. Bei der Bodensicherung haben wir ein gutes Auskommen, und die Rente ist s icher. Und überarbeiten tun wir uns auch nicht.« »Und wie soll das alles funktionieren?« fragte Ulrike Linke. Der Glattrasierte zog eine 3,5 Zoll Diskette aus der Innen tasche seiner Jacke. In der sauberen Handschrift, die der Osten dem Westen gebracht ha tte, war auf der Außenseite die Beschriftung »Operation Winzer« angebracht. »Hier ist alles drin. Ablaufplanung, Treffpunkt, Frequenzen, Personenzahl, Koordinaten. Es gibt nur diese eine Diskette. Kopie ren Sie die Informationen auf keinen Fall und meiden Sie eine Festplatte zur Datenspeicherung. Damit hat die Firma schon schöne Erfolge in der Aufklärung verbucht.« Bevor der Glatt rasierte die Diskette übergab, wischte er mit einem Taschen tuch über die glänzende Oberfläche des Diskettenschutzes. Auf dem geriffelten Kunststoff würden keine Fingerabdrücke zurückbleiben. Er übergab Ulrike die quadratische Scheibe. »Hier ist die Bedienungsanleitung für den Flug in die Freiheit. Wenn das rauskommt, fliege ich auch, direkt ins Jenseits. Halten Sie sich strikt an die Anweisungen Stephans. Es ist der 70
einzige Weg, die ganze Gruppe herauszubekommen. Und Sie wollen doch heraus?« Ulrike schaute ihren Besucher an. »Sicher.«
13 Am nächsten Morgen besichtigten Ferdinand Linke und Hugo Hesse die Flugmaschinen. In der haushohen Scheune stand das Gerät zwischen Obstkisten, Paletten und Zaun pfählen wie ein gelandetes Insekt. Die technische Ausführung des Motorseglers war nahezu perfekt. »Profiarbeit«, merkte Hesse anerkennend an, als er die zweite gesicherte Zugangstür passiert hatte. Die Aluminiumteile waren sorgfältig ge falzt, die Bespannung in Messingösen vertäut. Und in dem engen Cockpit waren sogar die drei hintereinander angeordneten Sitzbänke ordentlich gepolstert. »Bißchen viel Luxus für so einen kurzen Flug«, sagte Linke, dessen Hand über die glatte Bespannung glitt. »Du kannst damit später einem fran zösischen Segelclub beitreten. In den Ardennen soll es schö ne Aufwinde geben«, erwiderte Hesse lakonisch. Die beiden Männer überprüften noch einmal alle Verbindungen und Gelenke des Gleitfliegers. Zum Transport ließen sich die Flü gel und Lenkkappen mit Hilfe von ausgeklügelten Steckverbindungen abnehmen. Angetrieben wurde der Dreisitzer von einem umgebauten Trabi-Motor an der Rumpfspitze. Der leichtgewichtige Zweitakter war ideal für Rasenmäher, Flug maschinen oder Kleinboote. Allerdings lag hierin auch das größte Risiko für das Gelingen des Transports, denn bei vor zeitigem Ausfall des Motors gäbe es nicht ausreichend Schubkraft, um das Fluggerät über die gesicherten Grenzan lagen zu befördern. Und wie Trabantmotoren hinsichtlich der Zuverlässigkeit einzuschätzen waren, das wußten inzwi schen auch die westdeutschen Autofahrer, die sich mit dem 71
Gebrauch von Schraubenschlüsseln und Kerzenreinigern vertraut machen mußten. Die schrittweise Umrüstung des west deutschen Fahrzeugparks in kleinere, national gefertigte Modelle zeigte bald auch positive Auswirkungen. Es gab wie der Parkplätze in den Städten. Nur die hohen Schulden zur Finanzierung der Privatwagen blieben in den Familien gleich, gemessen an der Kaufkraft. Da die Reisefreiheit stark einge schränkt war, benötigten die Konsumenten auch keine Großraumlimousinen oder T-Klassen mehr für ihre Ausflüge, wie einst nach Lappland oder an die Riviera. Ans Mittel meer fuhr jetzt nur noch die Nomenklatura mit dem Volvo. Auch der Wagenpark des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung waren nahtlos zur Beförderung des SEDRegimes übernommen worden. Die Fahrer hatten sich schnell an das jetzt für Gesamtdeutschland geltende Tempo limit von 100 Stundenkilometern gewöhnt. Und fuhr einer der sozialistischen Würdenträger tatsächlich schneller, wur den die Verfahren bei der Volkspolizei meist wegen »dienstlichem Auftrag« niedergeschlagen. So wie in der alten Zeit, als das noch die Polizei erledigte. »Mit einem Daimler-Motor könntest Du bis nach Spanien fliegen«, sagte Hugo Hesse, der Ferdinand bei der Inspektion des Fluggerätes zuschaute. Linke klopfte auf den Kühler. »Uns langt Frankreich, da haben sie besseren Rotwein.« »Apropos Rotwein«, sagte Linke, »in Berlin gibt es einen Laden, wo du den noch bekommst. Spät am Abend unter der Hand.« »Paris Bar}«, fragte Hesse. »Das ist passe. Weißt Du nicht, was aus dem Laden geworden ist?« »Nee.« »Kfz-Zubehörhandel. Das mit der Schickeria und dem Küßchen rechts und links ist vorbei. Statt zeitgenössischer Kunst an der Wand oder zwölf Imperial-Austern auf dem Teller kriegst Du dort heute alles für Deinen Trabant oder 72
Wartburg. Das Sachsenring-Werk verkauft in dem Laden Felgen, Schonbezüge oder Kofferraumklappen.« »Mach keine Witze.« »Ist kein Witz. Die Bilder im Restaurant wurden üb rigens vom Kulturkomitee als bürgerlich dekadent eingezpgen.« »Zu recht«, sagte Hesse trocken, »die konnte ich auch nie leiden. Wer malt schon Leute, die ständig auf dem Kopf stehen müssen? Trotzdem kein Grund, die Sachen einzukas sieren. Man muß sich ja nur ansehen, was sie aus dem Frank furter Palmengarten gemacht haben. Grauenhaft diese postsozialistischen Standbilder. Dann doch lieber die Kopfsteher.« »Also einen guten trockenen Roten«, ergänzte Linke, »kriegst du auf jeden Fall im Petit Bistro, gleich nebenan, beim Savignyplatz. Am besten, Du läßt mich wissen, wann Du in Berlin bist, dann rufe ich den Wirt an und kündige Dich an. Da ist sicher niemand von der Firma dabei.« »Wer weiß, vielleicht bin ich ja bei dem Verein«, sagte Hesse. »Sehr witzig, Du solltest solche Spaße lassen, wirklich.« Linke beugte sich in den Rumpf des Fluggerätes. An der lin ken Leiste des Pilotensitzes war ein graues Metallschild mit schwarzer Aufschrift angebracht: »Bitte nicht hinauslehnen, Ne pas se pencher au deh ors, Non sporgerse, Do not lean out.« »Was soll das denn«, fragte er. »Nur ein Spaß, das Schild habe ich in einer Gondelbahn in den Dolomiten gefunden, als wir dort noch in den Skilurlaub fahren konnten. Hier schien es mir ganz gut angebracht. Wer sich zu weit herauslehnt, der fällt leicht auf die Schnauze.« »Das ist es ja. Deshalb gilt auch beim Fliegen, daß Du nicht zuviel von dem sehen sollst, was Du sowieso für immer zurücklassen willst.« »Ich werde an Deine Worte denken«, sagte Ferdinand Linke. »Wie lange brauchen eigentlich die Militärs, bis sie in der Gegend sind?« 73
»Das geht blitzschnell. Die nächste Luftwaffenbasis ist in Mühlheim, total gesperrter Grenzbezirk. Mit den Hubschraubern sind sie nach dem ersten Alarm, sofern die Ortsangaben korrekt übermittelt werden, in sieben bis acht Minuten hier. »Das heißt, in dieser Zeit müssen wir, gerechnet ab Start, über dem Rhein sein.« »Wäre empfehlenswert«, sagte Hesse. »Aber Militärs sind Behörden, lahmarschig bis zum Gegenschlag. Als US-Oberbefehlshaber wüßte ich schon, wie ich die Sowjets geknackt hätte. Samstagnacht vor irgendeinem der zahlreichen Feiertage, wenn sie alle mit Wodka abgefüllt sind: zuschlagen, einmarschieren, Luftlandetruppen. Wir müssen auf der Hut sein. Wenn die Meldung über Grenzverletzer erst einmal bei den Zuständigen angekommen ist, dann geht es seinen bürokratischen Gang. Und dann können die Abfangjäger schnell in der Luft sein. Dann habt ihr keine Chance. Oder die Jungs sind mit ihrem Hubschrauber gerade auf Routineflug entlang der Grenze. Doch nach Einbruch der Dunkelheit, das wissen wir, steuern die den Hangar an.« »Und was ist mit Dir, wenn wir drüben sind?« »Mach Dir mal keine Gedanken. Ich bin sicher. Und die Straflager kenne ich schon. Es war keine schlechte Zeit in Kirgisien, im Himmelsgebirge. Ich würde gerne mal mit einer zärtlichen Frau dorthin fahren. Es muß wunderbar sein, unter dem aufgehenden Mond auf der Hochebene in einem Nomaden-Zelt sich hinzugeben. Die Vereinigung von Himmel und Körper zu erfahren, die Verwandtschaft der Seelen von Mensch und Sternen und die Endlichkeit unseres unendlichen Verlangens und Begehrens ohne Grenzen zu erfahren.« »Hugo, wie romantisch. Phantastisch.« »Keine Phantasien, es ist Wirklichkeit, es wird Wirklichkeit.« »Sehnsucht nach dem Straflager? Hast Du nicht mal für ein Nachrichtenmagazin gearbeitet?« fragte Linke spöttisch. 74
»Eben deshalb.« »Verstehe ich nicht?« »Ach laß es, die Zeit mit einer Frau ist kein Stoff für Nachrichten.« »Und die Familie?« fragte Linke. »Meine Eltern wollen auf jeden Fall hierbleiben«, sagte Hesse. »Sie sind hier geboren, hier haben sie gelebt, hier wollen sie sterben. Die haben genug mitgemacht, Krieg, Aufbau, Machtübernahme, Enteignung. Das Häuschen in Heidelberg am Philosophenweg konnten sie behalten, und mit ihrer Pension kommen sie zurecht. Jetzt machen sie Kuren im Harz in den Ferienheimen der Volkseigenen Betriebe, ein etwas anderes Niveau als früher in den eugenischen Hügeln von Norditalien. Aber beides dient gleichermaßen der Gesundheit. Letztes Jahr nahmen sie auch an einer Kreuzfahrt auf der MS Revolution teil. Ostsee und Baltikum. Das Schiff hatte einen Hammer und eine Sichel auf dem riesigen Schornstein, wie meine Mutter mit Abscheu bemerkte. Aber auch das haben sie überlebt, und die Mitreisenden und der Service sollen sogar ganz nett gewesen sein.« »Und hast Du eine Frau, Kinder?« »Eine Lebensgefährtin. Die Beziehung zu meiner früheren Frau hat die lange Haftzeit nicht ausgehalten. Sie lernte einen anderen kennen, auch ein Journalist, der heute in Zürich in der Exilredaktion arbeitet. Ich habe es akzeptieren können, später, mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen, daß sie gegangen ist. Es tat weh. Wir sind heute Freunde.« »Und, blieb es dabei?« »Wiederentdeckt habe ich die Lust bei einer anderen Frau, die ich neulich bei einem Vortrag kennengelernt habe. Ihre Schönheit und Wärme entdeckte ich erst später. Eine Studentin, die für ihr jugendliches Alter schon ganz schön reif ist. Sie studiert Mathematik und kommt immer genervt von den obligatorischen Seminaren in den Gesellschaftswissenschaften zurück. Den Marx und die Kritik der bürgerlichen 75
Ökonomie in kompliziert erscheinenden Formeln über den tendenziellen Fall der Profitrate im Kapitalismus, so sagt sie, könne sie besser als der Dozent darstellen. Sie diskutiert leidenschaftlich gerne über die Modelle für eine gerechtere Gesellschaft. Sie wohnt mit einer Kommilitonin im Studentenwohnheim hinter den medizinischen Instituten, und wir müssen es schon ein wenig einrichten, uns zu schönen Stunden am Nachmittag dort zu treffen. Neulich sind wir oberhalb der Stadt in die alte germanische Thingstätte gefahren, an einem späten Nachmittag. Es roch nach Farnen und Gräsern, und es war heiß. Wir haben die halbe Nacht Liebe gemacht zwischen den germanischen Ahnen. Und von dort oben geht der Blick bis hinüber nach Frankreich.« Ferdinand Linke nickte mit dem Kopf Richtung Ausgang. Die beiden Männer verließen mit ruhigem Schritt die Scheune. Hesse verriegelte sorgfältig die große Tür zum Hof. Er schaute sich unauffällig um. Nichts regte sich, keine unwillkommenen Beobachter waren auszumachen. Das badische Winzerdorf lag friedlich am Hang. Nur aus den Weinbergen kam der heulende Klang des Spritzwagens, der einen Nebel von Pflanzenschutzmittel über die grün-treibenden Stöcke warf. Auch das seit Jahren verbotene Insektengift DDT war zur Freude der Bauern von dem neuen Regime wieder zugelassen worden. Allerdings wußten sie auch, wie die Schadstoffkonzentrationen in den hofeigenen Trinkwasserbrunnen davon anstiegen. Aber in den lokalen Parteizeitungen fanden sich nur Erfolgsberichte über die gesteigerten Ernteerträge und nicht über die gesteigerten Giftdosen im Boden und in den Trauben. Die Bauern hatten es auch satt, ständig als die Giftmischer der Nation verdächtigt zu werden. Nur bei den teuren Weinen für den Export war penibel auf Rückstandskontrollen zu achten, denn die westlichen Abnehmer reagierten empfindlich, wenn sich solche Stoffe in den badischen Sorten fanden. Früher war das kein Problem, weil die einzigen erzeugten Eibtal-Weine auf dem heimischen Markt blieben. 76
Linke und Hesse betraten die Küche des alten Winzerhofes. Auf dem dunkelbraunen Holztisch lag ein weißer Notizzettel. Ferdinand Linke hatte schon ein böse Vorahnung. »Für Dich«, sagte Hesse und reichte ihm den Zettel. »Bitte dringend Ihre Frau in Berlin anrufen.«
14 Die Produktionsabteilung trieb Ernst Schlüter noch in den Wahnsinn. Mehrmals hatte er mit dem Vorarbeiter ein Computerprogramm getestet, um die Herstellung der extra reißfesten Folien zu beschleunigen. Es nutzte nichts. Die Männer ließen in den staubfreien Hallen die letzten Rollen einlaufen, sobald die entsprechende Zielvorgabe erreicht war. »Ihr müßt die Maschinen durchlaufen lassen«, sagte Schlüter, »um den Ausstoß zu steigern.« »Warum denn«, war die Antwort, »die Überstunden zahlt uns niemand. Um halb drei ist hier Schluß. Die Kollegen haben auch gar kein Material mehr rübergeschickt.« Schlüter war verzweifelt. Er hätte solche Gespräche gerne einmal unter den Bedingungen seiner alten Westfirma geführt. Die Vorlieferanten der sortenreinen Kunststoffgranulate arbeiteten ebenfalls nur nach Plan. Und andere Anbieter gab es einfach nicht mehr. So ging planmäßig alles im Bummeltempo voran. Auch Schlüter bemerkte, wie er schleichend von der neuen Arbeitsgeschwindigkeit erfaßt wurde. Der frühere Ehrgeiz nach Umsatz, Effizienz und Leistung wurde umgeleitet auf den Ausbau der eigenen Wohnung, der Datschen oder der Erledigung anderer privater Heimarbeiten. Schlüter hatte inzwischen viel Zeit, schon am Nachmittag an seiner Jolle an einem der Berliner Seen herumzubasteln. Die Holzlasur war tiptop in Ordnung und der Unterwasseranstrich perfekt. Irgendwie hatte er dabei immer ein flaues Gefühl, sich mitten 77
in der Woche am frühen Nachmittag frei zu nehmen, um an den See zu fahren. Früher kam er höchstens mal am Wochenende dazu. Und das auch nicht jedes Wochenende. Schlüter begriff, wie eine Nischengesellschaft funktionierte, auch wenn er sein schlechtes Gewissen wegen mangelnder Pflichterfüllung nie ganz los wurde. Erst als Schlüter über den Betriebsleiter Hintze eine Beschwerde einreichte, verbesserte sich das Produktionstempo. Es ging schließlich bei dem Projekt Reichstag um einen Staatsauftrag von höchster Priorität, und die Verhüllung war durch die Internationalen Kunstwochen in Berlin terminlich klar vorgegeben. Verzögerungen konnte sich das Kombinat PaKo nicht leisten. War der Reichstag erst einmal eingepackt, flössen auch die prozentualen Einnahmen aus dem internationalen Lizenzgeschäft. Auf Aschenbechern, Grußpostkarten, Kugelschreibern oder in Schüttelgläsern mit künstlichem Schnee würde sich das Motiv wiederfinden. Die Deviseneinnahmen konnte das Regime gut gebrauchen. Auf die sicher zu erwartenden Ansprüche der Agentur sollte dem Künstler mitgeteilt werden, daß er auch die spätere Enthüllung finanziell mitzutragen habe. Dieser Punkt war in dem damaligen Vertragswerk nicht geregelt worden. Der Künstler würde sich natürlich weigern, so das Kalkül der Kulturjuristen. Als Ergebnis würde der gut verpackte Reichstag dann als Kunstruine eine sozialistische Ewigkeit vor sich hingammeln. Damit wäre die elegante Entsorgung eines ungeliebten demokratischen Symbols auf Kosten der Kapitalisten erreicht. Dagegen wurde der hell erleuchtete Palast der Republik, genannt Erichs Lampenladen, weiter verschönert, ausgebaut und von schwedischem Asbest gereinigt. Auch die aufwendigen Tagungszentren und Kongreßpaläste in den Weststädten bedeuteten keine Konkurrenz. Es gab nur einen Palast der Republik. Und der Lampenladen strahlte heller als je zuvor. Die klar gegliederte Fassade mit den senkrechten Stahl78
trägem galt nach gut einem Vierteljahrhundert auch in internationalen Architektenkreisen wieder als besonders vorbildlich. In dem Kasten vergnügte sich die Jugend des neu erstandenen Staates, zum Flirten und zum Knutschen bot das Gebäude genügend Gänge und Winkel. Die Mokka-Bar im Zwischengeschoß war ein beliebter Treffpunkt für alle, die die Nacht nicht alleine verbringen wollten. Der Reichstag schlummerte hingegen wie eine waidwunde Ruine als Relikt einer verlorenen Schlacht der Systeme auf dem öden Gelände. Vor dem Gebäude, das noch die Einschußnarben der einstigen alliierten Eroberer trug, veranstaltete die Freie Deutsche Jugend regelmäßig einen Flohmarkt. Auf Klapptischen wurde der Nippes des untergegangenen Westdeutschland verramscht. Besonders beliebt waren die schwarz-rot-goldenen Fähnchen ohne Staatswappen, Originalteile des schwarz lackierten, hölzernen Bundesadlers aus dem geschlossenen Bundestag, Bundesverdienstkreuze am Band, Orden, Spangen, Urkunden des abgesetzten Bundespräsidenten oder Original-Uniformteile der aufgelösten Bundeswehr. Gut verkaufen ließen sich auch Mützen, Jacken, Hosen oder Gürtel der alliierten Streitkräfte, die einst Berlin gemeinsam verwalteten. Eine golden bestickte Baseballjacke des US-Berlin Squadron mit der Aufschrift »Better You are leaving my sector« wurde immerhin für 50 Ostmark verkauft, viel Geld nach dem Umtausch von zwei Westmark in eine eine Ostmark. Auch die wertlos gewordene Westwährung, einst die härteste Devise der Welt, fand Liebhaber. Ein gut erhaltener, vernickelter Fünfziger aus dem Gründungsjahr 1949 mit dem Abbild einer gebückten Frau, die eine Eiche pflanzt oder aus dem letzten Jahr der Ausgabe, 1989, brachte gut das Zehnfache seines Nominalwertes. Der braune Fünfzigmarkschein mit dem Lübecker Holstentor oder der ebenfalls braune Tausender mit dem Kon79
terfei der Gebrüder Grimm waren beliebte Geschenke an ehemalige Westbewohner bei den Erinnerungstreffen. Die Deutsche Notenbank hatte nach der Währungsunion eigentlich alle eingesammelten Bestände der wertlos gewordenen DMark vernichten wollen. Doch es stellte sich bald heraus, daß der Papierberg, mit Silberfäden und giftigen Farben durchsetzt, als Sondermüll zu entsorgen gewesen wäre. Dem Politbüro war diese Lösung zu teuer. • Das monetäre Volks vermögen mit einem Gewicht von dreizehn Güterwaggons wurde auf Weisung von oben in einem Schacht der thüringischen Kalisalzbergwerke eingelagert. Seitdem die Nationalsozialisten wertvolle Kunstwerke und ihre Superwaffen dort untergebracht hatten, galten die Bergwerke als besonders sicher. Ein Fehlurteil, wie sich allerdings erst später herausstellen sollte. Auch auf die Westwährung waltete eine Zweitverwertung. Ein Bericht über die »Einlagerung Westwährung« ging in vertraulicher Ausfertigung an das Politbüro. Damit war das Herzstück der westdeutschen Erfolgsstory, die D-Mark, für alle Zeit begraben. Der Stollen wurde zugemauert, und die Lage des Geldschachtes im Kohlerevier, wie es die Einheimischen bald nannten, galt fortan als höchstes Staatsgeheimnis. Ernst Schlüter schlenderte an den Klapptischen vor dem Reichstag vorbei. Er nahm einen aufwendigen Bildband des ehemaligen Presseamtes in die Hand. Titel: Unser Deutschland, Auf dem Umschlag war ein Portrait des lächelnden, letzten westdeutschen Bundeskanzlers abgebildet. Ein »Kanzler der harten D-Mark« lautete eine Kapitelüberschrift. Beim Umblättern der ersten Seite sah Schlüter, daß eine Originalwidmung des Autors in blauer Tinte eingetragen war. Der Band könnte wertvoll werden, wenn auch die letzten Auktionen von Hinterlassenschaften der Bonner Ära eher enttäuschend waren. Schlüter sah den jugendlichen Verkäufer an. »Was soll das kosten?« »Wer ist das denn?« 80
»Unser letzter Kanzler.« »Einer von Euch?« »Ja einer von uns, wenn Du so willst.« »Den können Sie billig haben.« »Wieviel?« »Fünfzehn Mark«, sagte der Jungpionier, »oder ist das zuviel?« »Na ja. Zehn tun's auch.« »Auch gut.« Schlüter packte den Kanzlerband in seine Tasche und legte das Geld auf den Klapptisch. »Kommen Sie wieder, morgen habe ich mehr davon«, sagte der Verkäufer. An einem benachbarten Stand hatte vor einigen Wochen eine österreichische Rundfunkjournalistin das gleiche Buch erworben. Sie zitierte daraus für eine Sendung zum Staatsjubiläum der deutschen Einheit den Originaltext. In dem Kapitel »Warum wir die deutsche Teilung überwinden müssen« begründete der Kanzler ausführlich die Verpflichtung zu »menschlichen und humanitären Bindungen«, um die »Mauer einzureißen«. Es käme darauf an, »mitten in Europa« die Selbstbestimmung der Völker durchzusetzen und die »Einigung der widernatürlich getrennten Familien« zu erreichen. Jetzt klang es wie ein Hohn. In Wien führte der Beitrag zu einer massiven Beschwerde der deutschen Exilgruppen bei der Intendanz des staatlichen Senders. Der letzte westdeutsche Kanzler der deutschen Uneinheit hatte in der Etage eines geräumigen Stadtpalais im ersten Bezirk Asyl gefunden. Dort schrieb er unter hohen Stuckdecken ebenso wie in einem hölzernen Ferienhaus am Wolfgangsee im Salzkammergut an einem seinem Körperumfang entsprechenden Memoirenwerk. Für das auf gut 600 Seiten angelegte Opus hatte er den Titel »Rückgewinnung der Freiheit« herausgesucht. Verleger und Lektor hatten gestöhnt. Andere Regierungsmitglieder hatten nicht mehr rechtzeitig mit Hilfe des französischen Geheimdienstes DST die 81
Flucht aus dem zwangsvereinten Deutschland geschafft. Ein ehemaliger christdemokratischer Arbeitsminister mußte sich wegen »Rentenbetrugs« strafrechtlich verantworten. Die Juristen konstruierten eine gewagte »Veruntreuung des Volks Vermögens«. Ein Wirtschaftsminister der Liberalen wurde wegen »Schädigung der Volkswirtschaft« angeklagt. Und der Gesundheitsminister wegen »Körperverletzung« vor Gericht gestellt. Ein langjähriger Außenminister, der gerne kanariengelbe Pullunder mit V-Ausschnitt trug, wurde wegen »Störung des internationalen Friedens« belangt. Alle Verfahren waren unter den Staatsjuristen hoch umstritten, dennoch hagelte es langjährige Haftstrafen, die von den inzwischen älteren Herren aus Gesundheitsgründen nicht mehr angetreten werden konnten. Nur ein jüngerer Verkehrsminister wurde wegen »Kapitalvergeudung« für neue Autobahnbauten und Hochgeschwindigkeitstraßen für 2.5 Jahre hinter Gitter geschickt. Die Menschenrechtsorganisati-on amnesty international kritisierte das hohe Urteil und setzte eine Beobachtungsgruppe ein. Die internationale Schelte ließ die DDR-Justiz kalt. Auch der ehemalige Chef der westdeutschen Spionageabwehr, ein biederer sozialdemokratischer Beamter, wurde wegen »landesverrätischer Tätigkeit« angeklagt. Mit scharfer Ironie wollte der Hamburger Strafverteidiger des angeklagten ExPräsidenten des Bundesnachrichtendienstes wissen, auf welches Land sich denn der Vorwurf beziehe. Er machte geltend, sein Mandant könne nicht für Handlungen belangt werden, die in seiner aktiven Amtszeit qua Verfassung von ihm zum Schutz des eigenen Staates abgefordert worden seien. Der Vorsitzende der Düsseldorfer Strafkammer verkündete, unerbittlich, sechs Jahre ohne Bewährung. Sämtliche Revisionsinstanzen scheiterten. Ein Bild des obersten Abwehrchefs mit einer dicken Hornbrille, das er bei einem Wahlkampf seiner Partei für tausende 82
Buttons anfertigen ließ, kam auch auf dem Trödelmarkt vor dem Reichstag zum Verkauf. Bei den Jugendlichen war es jetzt schick, einen ehemaligen Spionagechef auf der stonewashed Jeansjacke zu tragen. Ernst Schlüter hatte diesmal keinen Blick für den deutschen Nostalgietrödel, als er den weiträumigen Platz vor dem Reichstag überquerte. Vorbei an den Ständen steuerte er zum südlichen Eingang. Hier war das Planungsbüro des PaKo untergebracht, das sich um die technischen Fragen der bevorstehenden Umhüllung kümmern sollte. Statik, Befestigung, Lichteinfall, Windbelastung waren durchzurechnen, damit das Kunstwerk nicht vorzeitig auseinanderflog. »Wie machen wir es mit den Schornsteinen und den Lüftungsschächten?« wollte der Bauleiter wissen. »Einpacken«, war die knappe Antwort von Schlüter, »das Gebäude wird nicht mehr geheizt, der Reichstag bleibt kalt.« Der Arbeiter konnte sich keinen Reim auf diese Anordnung machen. Aber Auftrag ist Auftrag. »Wie sieht es denn mit dem Material aus?« fragte Schlüter, als sie durch das Lager der überlangen Folienrollen gingen. Das Materiallager für gut sechzig Tonnen war im ehemaligen Plenarsaal untergebracht. »Wir haben zwei Drittel zusammen«, sagte der Bauleiter. »Aber wir haben doch schon wesentlich mehr geliefert?« »In letzter Zeit fehlen immer wieder kleinere Chargen.« »Irgendeinen Verdacht?« »Sie wissen ja, wie das bei uns ist. Die Leute können alles mögliche für ihre Hobbies gebrauchen. Für die Datsche, im Sportclub oder zu Hause. Sie kriegen ja nix mehr im Baumarkt, die Vorräte der guten Sachen sind aufgebraucht und was noch da ist unerschwinglich.« Der Gebrauch des Wortes Baumarkt verriet Schlüter, daß der Vorarbeiter aus dem Westen kam. Dort waren vor der Wende Bohrmaschinen, Stichsägen oder elektronische Schraubenzieher so preiswert geworden, daß ihr Wert dem 83
Stundenlohn eines Automechanikers entsprach. Jetzt war wieder ein halber Jahreslohn, wie in den sechziger Jahren der Nachkriegsrepublik, dafür auf den Ladentisch zu legen. Sofern es überhaupt die gesuchten Werkzeuge oder die dazugehörigen Ersatzteile gab. Denn die westlichen Anbieter waren unzureichend auf die neuerdings geforderte Reparaturfähigkeit ihrer Artikel eingestellt. Wegwerfprodukte waren nicht mehr gefragt. Es zählte nicht mehr Ex-und Hopp, sondern Improvisation und Langlebigkeit. Seit seinem Besuch in Dresden ahnte Schlüter, was mit den angeforderten Folienverpackungen improvisiert wurde. Er hatte die Lieferungen an diesen Klavierbauer befürwortet, um das dringend notwendige Auslandsgeschäft für Deviseneinnahmen zu fördern. Hintze war damals begeistert, daß Schlüter seiner Aufgabe so engagiert nachkam, ganz ungewohnt für das Kombinat. »Ersatz für die weggebrochenen West-Märkte schaffen«, lautete die Geschäftsphilosophie. Das miese Geschäft im Westen mußte für fast jeden Mißstand in der heimischen Wirtschaft herhalten. Schon gab es an den Stammtischen die verbreitete Meinung, daß »die da im Westen« viel zu viel Geld kosten. Und die Wiedervereinigung wirtschaftlich möglicherweise ein Fehler war. Die meisten Ost-Experten für Planwirtschaft hatten nach einigen Jahren Aufbauarbeit im Westen schon längst wieder den Rückzug in die heimische Nische angetreten. Die unsichtbare Mauer war schon gar nicht durch staatliche Propagandakampagnen wie »Vereinigt Euch« oder »Vom Osten lernen, heißt lachen lernen« zu überwinden. Der Vorschlag, einen sogenannten PR-Auftrag an eine Londoner Agentur zu vergeben, scheiterte knapp im Politbüro. Der aktive Kontakt mit den Werbeexperten galt unter Sozialisten, das hatte die einzige nationale Satirezeitschrift enthüllt, als »konterrevolutionär«. Auch die zeitweise praktizierten Rationierungen für Südfrüchte oder Kaffee wurden dem versagenden Westen 84
angelastet. »Schlüter, wir brauchen Sie und ihre Kontakte«, sagte Hintze, da wieder einmal nur die Zahlen seiner Arbeitsgruppe über Plan lagen. Der hochgelobte Schlüter wußte allerdings nicht, daß in seiner Abteilung ein Spitzel des Staatssicherheitsdienstes saß. Auch Hintze wußte das nicht. Kontrolle ist gut, Vertrauen noch schlechter. So gelangten auch die Aktennotizen über Schlüters Besuch in Dresden zur OB Zwo. Und damit schloß sich der Ring um die »Operation Fliege«. Alleine die Beschaffung des illegal abgezweigten Verpackungsmaterials zur Vorbereitung der Republikflucht langte, für die Beteiligten ein paar hundert Jahre Gefängnis zu fordern. Haarklein konnten die Ermittler sich jetzt ein Bild von der Fluchtorganisation machen. Kick und ihre Freunde wurde nach der Aktion an der Semperoper zwar wieder auf freien Fuß gelassen. Aber auf einen Studienplatz brauchten sie in diesem Leben nicht mehr zu hoffen.
15 »Und Du meinst, er wird wirklich kommen«, fragte Ulrike ihren Mann. Ferdinand Linke starrte in die Dämmerung über dem Schwarzwald. Die Spitzen der Tannen und Fichten ragten wie die Umzäunung eines römischen Heerlagers in den Abendhimmel. »Natürlich wird er kommen«, sagte Kick, die ihre bunt gemusterte Wollweste enger um den schlanken Körper zog. Sie lehnte ihren Kopf an Thomas' Schulter. Sie war so froh, daß er schließlich doch mitgekommen war zu dieser Reise ohne Wiederkehr. »Ich bete für Euch, daß er kommt«, sagte Ernst Schlüter, der seinen Geschäftsanzug gegen eine rot-schwarz karierte 85
Trapperjacke, die über dem Bauch etwas spannte, vertauscht hatte. »Und ich bete für mich«, fügte er leise hinzu, während er sich eine Zigarette aus der Tasche angelte. »Bist Du verrückt«, sagte Hugo Hesse, »das Feuer aus, oder setz doch gleich Positionslichter.« »Papi, ich habe Hunger«, sagte die Tochter von Ferdinand und Ulrike in die Stille hinein. »Ich habe hier was ganz Leckeres für Dich«, sagte Marianne und zog aus ihrem soliden schwarzen Leder-Rucksack mit den weißen Bärentatzen, den sie einmal als Werbegeschenk der später verbotenen tageszeitung bekommen hatte, einen süßen Riegel. Dabei hatte die tageszeitung den behördlichen Staatsschützern in beiden deutschen Staaten als wichtigste Quelle für ihre aufgeplusterten Berichte gedient, ohne dafür je eine müde Mark für Nachdruckrechte gezahlt zu haben. Die Zeitung erschien seit der Wende in Paris unter dem Dach von Le Monde, und immer wieder gelang es über die eigentlich scharf kontrollierten digitalen Netze komplette elektronische Samisdat-Ausgaben bis in das Politbüro der orthodoxen Kommunisten zu schicken. »Hm«, sagte die Tochter. Sie griff mit ihrer kleinen Hand schnell nach dem braun eingepackten Schokoladenriegel und hielt ihn fest wie einen Schraubstock, während die andere Hand an der Verpackung zerrte. »Komm, ich helfe Dir«, sagte die Freundin von Hugo Hesse, die behutsam den Riegel aufriß. Die Gruppe der Republikflüchtlinge saß an der Nordseite eines alten Heuschuppens. Hinter dem Gebäude erhob sich der Wald, davor lag eine ausgedehnte Wiese. Es war Herbst, und die Maisfelder im Tal waren schon abgeerntet. Weiter oben waren die Weiden noch saftig. Es roch an dem kälter werdenden Abend würzig nach Runkelrüben und Nebel. Ein guter Abend, um alles hinter sich zu lassen. Und die Wiese war groß genug, um einen Hubschrauber sicher landen zu lassen. Wenn er überhaupt kommen würde. 86
»Vergiß die Sache mit dem Gleitflieger«, hatte Stephan von den Luftstreitkräften Ferdinand bei einem konspirativen Treffen in der Mokka-Bar des Palastes der Republik klargemacht. »Da habt ihr keine Chance. Wir holen Euch runter wie die Tontauben.« »Und was schlägst Du vor?« »Ich nehme Euch Huckepack. Wie groß ist die Gruppe eigentlich?« »Viereinhalb bis sechs Personen.« »Kein Problem. In meine Kiste passen gut ein Dutzend.« »Und Du?« »Und ich? Ich mach auch die Fliege. So eine Chance kommt so bald nicht wieder.«
16 Die Chance war der Staatsbesuch der japanischen Regierung bei dem großen Vorsitzenden. Der komplette Spielzug der Nationalen Streitkräfte hatte schon am Vormittag penibel die Aufstellung und Darbietung der Nationalhymnen geprobt. Vor dem Rat des Bezirks am rechten Rheinufer in Düsseldorf hallte die fernöstliche Harmonieabfolge über den Fluß. Die Halbtonschritte bereiteten selbst den dicken Tubas keine Probleme. Nur der Piccolo-Flötist beklagte sich über die japanisch hohe Lage. Mit geschlossenen Augen spielten die Elite-Musiker dagegen die übernommene DDR-Nationalhymne »Auferstanden aus Ruinen«. Jedesmal, wenn die Zwei-Viertel-Takte der e-moll-Klänge sich in einem getragenen Adagio verdichteten, bekamen Millionen Tränen in die Augen. Ein stilles Lachen hatte nur ein Musikverleger in der südlichen Bezirkshauptstadt München, der schon vor dem Umsturz die Rechte an der Internationalen erworben hatte. Und auch mit der Abspielung von »Wacht auf, Ver87
dämmte dieser Erde« ging ein gesetzlich vereinbarter Tantiemensatz auf sein österreichisches Konto. Die Abspieltantiemen an der »Einigkeit und Recht und Freiheit« - Hymne waren dagegen stark rückläufig. Das Deutschland-Lied war aus dem Repertoire der Auswärtigen Ministerien in aller Welt fast vollständig verschwunden. Zur Verstärkung hatte das Zentralkomitee zum Staatsbesuch die halbe Staffel nach Düsseldorf beordert. Die Herren wollten einen Ausflug entlang des Rheins machen. Umrundung des deutschen Ecks am Zusammenfluß von Rhein und Mosel. Und dann zurück nach Düsseldorf zum Staatsbankett. Linkes Freund bei den Luftstreitkräften sollte auf der Basis bleiben. Bereitschaftsdienst. Er wurde von keinem der Kameraden beneidet, die sich schon auf einen trinkfreudigen Abend in der Düsseldorfer Altstadt freuten. Altbier satt. Ab acht war Ausgang angesagt. Doch es sollte alles ganz anders kommen. Der greise Vorsitzende, sonst ein Überlebenskünstler, machte einen entscheidenden Fehler. Er überschätzte die Kräfte seines zwar immer noch drahtigen, aber doch über achtzigjährigen Körpers. Und seine Bewacher hatten keine Möglichkeit, die Tragödie zu verhindern. Leichtfüßig kletterte der Alte mit seinem Gast noch in den Hubschrauber zum offiziellen Rundflug. Der Staatsgast bekam den rechten Fensterplatz, der Gastgeber den linken. Beide schnallten sich an. Als die Maschine mit einem beruhigenden, gleichförmigen Rotorengeräusch Höhe gewonnen hatte, drehte sie in einer weiten Linkskurve auf das Rheintal zu. Nach einer halben Stunde Flug lag das großartige Panorama des Siebengebirges vor ihnen. Mit lauter Stimme erklärte der Staatschef seinem Besucher die ausgedehnte Anlage auf dem Petersberg, die als Gästehaus der Regierung zur Verfügung stand. Sie war noch von den Kapitalisten ausgebaut worden. Nur vom Feinsten, Marmor in der Halle und Merantiholz an den großen Fenstertüren. In 88
den Rohbau hatte die Stasi noch vor dem Umsturz, gut versteckt, eine Reihe modernster elektronischer Wanzen plaziert. Die standen auch unter den neuen Bedingungen zur Verfügung. Kontrolle war immer gut. Nach wenigen Minuten erreichte der Hubschrauber die Moselmündung. Der Japaner war beeindruckt und beugte sich vor. Er betrachtete interessiert das regelmäßige Muster der Weinberge, die von Rebenreihen akkurat durchzogen wurden. An den Bewegungen des Mundes war zu erkennen, daß er eine Frage stellte, die im Lärm der Rotoren unterging. Um besonders zuvorkommend zu sein, beugte sich auch der Staatschef hinüber. Er verstand immer noch nicht. Der Alte löste schließlich seinen Sicherheitsgurt, um auf die andere Seite zu rutschen. Dabei passierte es. Er verlor durch eine schaukelnde Bewegung in einem Windloch das Gleichgewicht, und die Spitze seines auf Hochglanz polierten braunen Lederschuhs löste die Not-Entriegelung der Außentür. Mit einem explosionsartigen Geräusch wurde die Aluminiumtür weggesprengt. Der Luftsog bei gut 250 Kilometer Reisegeschwindigkeit erfaßte den hageren Körper des Staatsratsvorsitzenden. Verzweifelt klammerte er sich an die gepolsterte Bank. Seine Hände rutschten über den Plastebelag. Mit einen lauten Schrei segelte sein Körper, mit den Füßen vorweg, durch die Luke. Das letzte, was der Staatschef bewußt wahrnahm, war ein viereckiges Schild an der Oberkante: »Bitte nicht hinauslehnen.« Der Japaner lächelte nicht mehr. In seinem Gesicht stand unsagbare Angst. Er hielt die Gurte umklammert. Aus gut dreitausend Metern Höhe stürzte der Staatsratsvorsitzende der Erde entgegen. Sein dunkelblauer Anzug blähte sich wie ein trudelnder Fesselballon im Fallwind. Er hatte schon das Bewußtsein verloren, als er nach genau vierundzwanzig Sekunden, drei Zehntel und fünf Hundertstel Sekunden aufschlug. Nicht auf die Erde, sondern fast in der Flußmitte des Rheins, der sich für aufprallende Gegenstände aus dieser Höhe in eine 89
Betonplatte verwandelt. Der Politiker war sofort tot. Da er einige Zentimeter weiter westlich von der Flußmitte landete, war formal die Volkspolizei des Bezirks Mainz, früher Rheinland-Pfalz, für den Todesfall zuständig. Mit einem leichten Schmatzen trug das Wasser wenig später den ehemaligen Staatschef in sanft schaukelnden Bewegungen gemächlich in Richtung deutsch-holländische Grenze. Dort hatte er gute Chancen, an einem der quer im Flußbett gespannten Fangnetze hängenzubleiben, die sonst Republikflüchtlinge zurückhalten sollten. Der Japaner schnappte kreidebleich nach Luft, als der Hubschrauberpilot auf extremen Sinkflug ging. Zu spät. Der Staatsratsvorsitzende war in diesem Fall schneller. Die Meldung des Piloten erreichte verschlüsselt die Einsatzzentrale. Es wurde sofort eine Nachrichtensperre verhängt. Der Oberkommandierende der Landstreitkräfte versetzte die Truppen in Alarmstufe Rot. Der stellvertretende Zentralkomitee-Vorsitzende, gerade auf Besuch in Vietnam, bekam in seiner Hotelsuite in Ho-Chi-Minh-Stadt einen Weckruf mitten in der Nacht. »So eine Scheiße«, sagte er zu dem verdutzt schauenden Nachtportier, als er in die Lobby des in sozialistischer Farbigkeit gehaltenen Hotels stürzte. Im gleichen Moment dachte er an seine eigene Zukunft. Er beorderte seinen Sprecher, die Version eines heimtückischen Terroranschlages auf einen der weltweit geachtetsten Staatsführerin Umlauf zu setzen. Er mußte sofort zurück nach Deutschland, jetzt war seine Stunde gekommen. Das Erbe wartete auf ihn, er würde die große DDR jetzt in das nächste Jahrtausend führen. Lange genug hatte er mit seinem Dauergrienen die Paraden der Freien Deutschen Jugend abgenommen.
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17 Zur gleichen Zeit, einem frühen Abend in Mitteleuropa, saß eine ausgelassene Runde ahnungsloser Stasi-Spitzen in einem Düsseldorfer Restaurant zusammen. Nur mit Mühe hatten die teilweise beleibten Staatsdiener auf den Matten am dem niedrigen Tisch Platz genommen. »Muß das sein«, raunzte der Dresdner Einsatzleiter der OB Zwo. »Genösse, wollen Sie den Kugelfisch jetzt original genießen, oder nicht?« gab sein Berliner Kollege zurück. »Laß mal«, sagte der Stasimann aus dem Südwest-Bezirk, »solange wir hinterher die Geishas nicht mit Stäbchen vernaschen müssen.« Das brüllende Gelächter der Herrenrunde in den grauen, etwas zu kurz geratenen Uniformjacken, stand sehr im Gegensatz zu der zurückhaltenden Art der Bedienung, die schon die dritte Runde Bier gebracht hatte. Dazu wurden süß-sauer eingelegte Rettiche und verschiedene marinierte Köstlichkeiten serviert. Die Staatsdiener erzählten sich die neuesten Witze über das eigene Regime. »Kennst Du schon den?« Sie hatten viel Spaß dabei. »Wir können jetzt anfangen mit dem Fisch«, sagte schließ lich der Berliner bestimmend, »damit wir mal was auf die Rippen kriegen.« »Aber vergiftet uns nicht«, sagte der Hamburger Stasioberst, »sonst sind die Geishas traurig.« Der Restaurantinhaber rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Sehr wohl.« In der Küche nutzte Marianne die kurze Abwesenheit des Küchenchefs. Sie nahm die runde Porzellanschale mit den Überresten aus der kunstvollen Zubereitung des Kugelfisches. Mit Herzklopfen ging sie hinüber zu dem großen viereckigen Herd in der Mitte des Raumes. Ohne zu zögern, gab sie die glitschigen Innereien in den brodelnden Stahltopf. 91
In diesem Moment kam der Chefkoch zurück. »Interessant, wie der Sud sich verändert«, sagte Marianne. Nur ein aufmerksamer Beobachter hätte das leichte Tremelo in ihrer Stimme gemerkt. Die Porzellanschale ließ sie unbemerkt unter dem Herd verschwinden. »Stimmt was nicht?«, sagte der Koch. »Nee, alles in Ordnung. Sieht sehr appetitlich aus.« »Probieren Sie«, sagte der Koch, während er eine kleine Kelle vom Haken nahm. Er hob den Deckel und senkte den Probierlöffel in die Fischsuppe, die zur Vorspeise gereicht wurde. In diesem Moment schallte es aus dem Gastraum. »Wo ist der Chef?« Das rettete Marianne und dem Restaurant-Inhaber das Leben. Er legte die Kelle zur Seite. »Wir essen später, wenn diese Barbaren weg sind«, murmelte er beim Hinauseilen. »Gerne«, sagte Marianne. Eine Stunde später waren die Posten von sechs Bezirksleitern der Staatssicherheit neu zu besetzen. Die Suppe des Kugelfisches hatte eingeschlagen wie eine Bombe. Mit heftigen Krämpfen, rot anlaufenden Köpfen und finalen, graublauen Verfärbungen der Haut starben die Besucher des Restaurants, noch bevor der grüne Tee serviert wurde. »Das ist der Reiswein«, versuchte, ganz weltgewandt, Stasi-Hannover die aufkommenden Hitzewallungen zu erklären. Doch als das Röcheln in ein stilles Würgen überging, war es zu spät. Vergebens zog der Berliner als ranghöchster Staatsschützer seine Dienstwaffe, bevor er nach hinten umkippte und dabei den flachen Tisch aushebelte. »Wir müssen hier raus«, sagte sein Kollege von der OB Zwo und versuchte vergebens, die richtige Code-Nummer in sein Handy zu tippen. Es verschwamm, wie bei einer saftigen Bindehautentzündung, alles vor seinen Augen. Und dann verschwamm auch die Welt um ihn. OB Zwo war K.O. 92
Marianne nutzte die eintretende Konfusion und setzte sich ab. Durch das abendliche Düsseldorf hastete sie zum Bahnhof. Sie mußte den Schnellzug in den Süden noch erreichen.
18 In dieser Nacht war es soweit. Jetzt saß die Gruppe zusammen auf dieser Wiese im Schwarzwald, dem Sprungbrett in die Freiheit. Der Motorflieger stand ebenfalls startbereit auf dem geräumigen Platz. Sollten sie doch nachforschen, was für ein Spiel hier getrieben wurde. Durch den nächtlichen Himmel drang plötzlich das tiefe Wummern eines Hubschraubers. Entweder war die Gruppe entdeckt oder Stephan hielt Wort. Angstvoll blickten sie hinauf, vorbei an den wettergegerbten Dachschindeln des Schuppens. Das Geräusch kam näher, und plötzlich brach es wie ein Tutti in einer Bruckner-Symphonie über den Hang. Der schwarze Schatten der Maschine huschte über die Baumwipfel, weit unterhalb der Radarerkennung. Die Lichter waren gelöscht. Ferdinand Linke stand auf und gab mit einer Taschenlampe das verabredete Zeichen. Nach wenigen angstvollen Sekunden, in denen die Maschine abzudrehen schien, setzte sie im richtigen Winkel zur Landung an. Der Rotorenwind schien fast den Heustadel umzublasen. In der gläsernen Pilotenkanzel ging das Licht an. Stephan lächelte unter einem mächtigen Kopfhörer. Er war allein. Die Rotoren liefen langsam weiter, während die schmale Aluminiumtreppe ausklappte. Stephan winkte. Im Laufschritt und in gebückter Haltung kletterte einer nach dem anderen in den bauchigen Rumpf. Ferdinand trug seine Tochter. Und ganz Gentleman, ließ Ernst Schlüter der frierenden Kick den Vortritt. »Nach Dir«, schrie er in den infernalischen Lärm. Ferdinand kam noch einmal zurück. Er deutete mit der 93
Hand hinüber zu dem Gleitflieger, während Stephan ungeduldig auf seine Armbanduhr deutete. Ferdinand rannte hinüber zu dem Fluggerät. Die Folie schimmerte unter dem Kegel seiner Taschenlampe. Er beugte sich über den Einstieg der Kanzel und legte den Starterknopf um. Der Motor sprang sofort an. Die Instrumente waren auf Automatik eingestellt. Wenn alles klappte, mußte die Maschine nach einem sanften Start an dem Abhang im horizontalen Flug nach Süden steuern. In der Mitte saß der Kartoffelsack, mit dem das Gewicht von Ferdinands Tochter simuliert worden war. Die Abfangjäger würden das seltsame Fluggefährt mit dem ersten Raketentreffer zweifellos in Kartoffelpüree verwandeln. »Eigentlich schade, mein Fliegerchen«, sagte Ferdinand, »wir hätten noch viel Spaß gehabt.« Er löste die Handbremse und sprang zurück. Fasziniert beobachtete er, wie das dreirädrige Gefährt Fahrt aufnahm. Auch die Gruppe im Hubschrauber verfolgte das Schauspiel im Nachthimmel, als der Flieger tatsächlich abhob statt im Wald zu zerschellen. Sie klatschten begeistert Beifall. Zufrieden kletterte Ferdinand in den wartenden Hubschrauber und umarmte Hugo. »Geschafft, es fliegt.« Stephan schloß die Klappe und kletterte auf seinen engen Pilotensitz. Er setzte wieder seinen Kopfhörer auf. In diesem Moment erreichte ihn ein Funkspruch. »Unbekanntes Fluggerät in Koordinaten 2.4/1.« »Idiot«, murmelte Stephan. Dann drückte er die Sprechtaste. »Habe Kontakt. Nehme Verfolgung auf.« »Mögliche Grenzverletzer in Zusammenhang mit Attentat auf Staatsratsvorsitzenden«, kam die Stimme aus der Einsatzzentrale. »Verstanden, Plan Zero.« Plan Zero hieß auf Null bringen. Anwendung von Waffengewalt beim ersten Kontakt. Stephan entsicherte die direkt unter der Kanzel angebrachte Batterie von hochmodernen Abwehrraketen. Ein Druck auf den roten Knopf an seinem keilförmigen Kommandohebel 94
brachte jetzt schallgeschwinde Vernichtung. Er steuerte den Hubschrauber geschickt über den sanft abfallenden Schwarzwald in Richtung Westen. Die Grenzanlagen näherten sich. »Nehme Verfolgung auf. Erlaubnis zur Grenzüberschreitung angefordert. Abfangjäger auf 41/2. erbeten.« Damit waren die schnellen Mig's meilenweit daneben. Jetzt erreichten die Republikflüchtlinge die Grenze. Unter ihnen lagen schon die ersten französischen Bauernhäuser. Stephan blieb auf Reisehöhe. Im hinteren Teil schaute Ferdinand aus dem runden Fenster der amerikanischen Maschine. Ulrike saß mit dem Kind auf dem Schoß neben ihm. Er spür te ihre Wärme. Eine große innere Ruhe breitete sich in ihm aus. Er sah plötzlich ganz gelassen, mitten in der aufregendsten Stunde seines Lebens, daß es anders kommen sollte. Sie waren entdeckt. Lichterspuren zeigten die Bahnen der Geschosse. Der Hubschrauber war getroffen. Er trudelte hilflos umher. Stephan verließ die Kanzel und schrie: »Alle raus hier!«
19 Ferdinand war wie gelähmt. Er konnte sich nicht bewegen. Seine Glieder waren schwer wie Stein. Er sah die Erde auf sich zufliegen. Er spürte die warme, weiche Frau, die so gut roch. Er hätte gerne weitergemacht. Aber da war der Aufprall. Er wachte schweißgebadet auf. In der Bleibtreustraße startete ein Mercedes. Kalte Luft kam von außen herein. Ferdinand atmete durch. Neben ihm schlief friedlich Ulrike. Und auch im Kinderzimmer war alles ruhig. Morgen war der Empfang beim Senat zum »Tag der Deutschen Einheit«. Ferdinand Linke versuchte, schnell wieder einzuschlafen. Traumlos. 95
EPILOG:1999 Staatssekretär Ferdinand Linke
Der schwarze Zeiger auf dem weißen Zifferblatt rückte unbarmherzig weiter. Sonntagmorgen, 3. Oktober, ein noch nebliger Herbsttag in Berlin. Heute war Tag der Deutschen Einheit, und der Staatssekretär beim Bausenat erwachte end gültig aus seinen Träumen. Neben ihm hörte er das regel mäßige Atmen seiner Frau Ulrike. Noch einen Moment starr te Ferdinand Linke an die weiße Decke des Schlafzimmers in der Bleibtreustraße, während ihm die letzten wirren Fetzen eines langen Alptraums durch den Kopf gingen. Umsturz, Verhöre, Flucht, Hubschrauber, Absturz. Mit offenen Augen versuchte er die Bruchstücke der nächtlichen Verfolgungsjagd zu sortieren. Er konnte die Mosaiksteine dieser unglaublichen Geschichte nicht mehr zusammenfügen, aber es kam ihm vor, als hätte er ein ganz neues Leben gewonnen. Linke, der erfolgreiche Staatssekretär, wurde an diesem Tag um elf Uhr zum Empfang des Senats erwartet, gut gekleidet, ordentlich gekämmt und frisch duftend. Und jetzt war es schon nach zehn, und Ferdinand Linke war noch das Gegenteil von allem. »Verdammt«, sagte er, »ich muß los, sonst schaffe ich das nicht.« Ferdinand Linke suchte auf seinem Schreibtisch die auf wertvollem Büttenpapier mit gewelltem Rand gedruckte Einladung. Ein Dreiviertelstunde später hastete er die weit geschwungene Treppe im Gebäudes des ehemaligen Staatsrates empor. Nur dank des nationalen Feiertages hatte er den Verkehrsengpaß Potsdamer Platz zügig passieren können, wo die Auflösung der ost-westlichen Staus sonst manchmal länger dau erte als die umständlichen Grenzkontrollen des alten Regi-
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mes. Die ständig wechselnden Bauzäune und Fundamentgruben waren oft schwieriger zu umfahren als die alten Fluchtsperren aus gegossenen Betonquadern. Und die Aufforderungen an Einreisende in den Ostsektor, zum Vergleich mit den Paßbildern in den Dokumenten das »Ohr frei« zu machen, waren den lärmenden Werbesprüche des Berliner Privatradios gewichen: »Was auf die Ohren? Musik für den ganzen Tag!« Es war kurz nach elf Uhr. Linke wollte sich möglichst unauffällig zwischen den Festgästen zu seinem reservierten Platz begeben. Oben setzte gerade ein Kammermusikensemble ein und spielte die ersten Takte des für solche Gelegenheiten immer gern genommenen Forellenquintetts von Schubert, als ein Lichtstrahl durch die verhangene Wolkendecke auf die Fensterfront fiel. Die leuchtenden roten, grünen und blauen Farben des Bleiglasfensters, die einen sozialistischen Arbeiterbauern darstellten, erstrahlten als standhafte Boten einer untergegangenen Republik. Die in schwarzen Buchstaben eingearbeitete Parole Karl Liebknechts: »Trotz alledem« paßte zwar nicht so ganz zu dem Festakt in dem großzügigen Foyer des ersten Stocks. Aber der neue Hausherr des ehemaligen Ministeratsgebäudes hatte schon aus Kostengründen abgelehnt, die zahlreichen baulichen Zeugen der Vergangenheit auszumerzen. Ferdinand Linke steuerte etwas geduckt seinen Platz in der zweiten Reihe der Klappbestuhlung an, während er einen strafenden Blick des Protokollchefs kassierte. Gut, daß die Rede, die er für den Senator entworfen hatte, schon zur Wochenmitte in Reinschrift vorlag. Die erste Geigerin in einem adretten schwarzen Kostüm und weißen Kragen, der ihre mandelförmigen Augen noch hübscher erscheinen ließ, setzte den Bogen mit dem letzten ausklingenden Ton ab. >In Korea oder Japan muß es vorzügliche Musiklehrer geben<, dachte Linke, während er versuchte, auf dem harten Klappstuhl eine etwas bequemere Position einzunehmen. 98
Der Senator erhob sich und ging langsamen Schrittes, der Bedeutung des Tages irgendwie angemessen, zu dem hinter einem herbstlich-pastellfarbenen Blumenstrauß aufgebauten Pult. Aus der Innentasche seines schwarzen Sakkos zog er die in DIN A5 gefalteten Manuskriptblätter mit der Großdruckschrift hervor. Nach der üblichen, protokollarisch gestaffelten Begrüßung der Präsidenten, Minister, Senatoren, Exzellenzen sowie den Damen und Herren begann er mit der Festrede. »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«, zitierte der Senator den berühmten Ausspruch eines ehemaligen Kanzlers zum Auftakt der Wiedervereinigung, »und wir sind heute hier, um die Früchte aus diesem wunderbaren Garten anzuschauen.« Linke schämte sich etwas für das kitschige Bild, aber er hatte den Auftrag, »etwas Salbungsvolles« aufzuschreiben, und sein Senator zeigte sich zufrieden. Das Zusammenwachsen erinnerte Linke eher an den langwierigen Heilungsprozeß einer tiefen Schußverletzung mit ausgefransten Hauträndern oder abgerissenen Gliedmaßen, die sich nur mühsam wieder zusammenfügen lassen, schmerzhaftes Fädenziehen erforderten und letztlich häßliche Narben hinterließen. Die Wiedervereinigung war keine Bagatellverletzung in Heftpflasterqualität, es war ein Fall für die Intensivstation geworden. Ferdinand Linke kannte den Rest der Rede und beobachtete unauffällig das Publikum. Er hatte wohl den richtigen Ton getroffen, alle hörten geduldig zu, selbst die erste Geigerin folgte mit dem auf ihrem Schoß hochgestellten Instrument und gerade durchgedrücktem Rücken aufmerksam dem Redner. Wenn sie aus dem noch nicht wiedervereinten Korea kam, hatte sie auch allen Grund dazu. Linke konzentrierte sich auf das Interieur des Treppenhausfoyers, das ihm wie eine Zeitreise in die Adenauerära vorkam. An der Decke hingen Kronleuchter mit tütenförmigen Glaszylindern in Messingfassungen aus den fünfziger Jahren. 99
Sie warfen ein warmes Licht auf die raumhoch mit Holzfurnier getäfelten Wände, deren Oberfläche nach der jahrzehntelangen Politur und Pflege einen samtenen Spiegelglanz angenommen hatte. Auch die hohen Türen zu den angrenzenden Arbeitszimmern machten eher den Eindruck einer sorgsam gehegten häuslichen Bücherwand statt der alltäglich stark strapazierten, ehemaligen Schaltzentrale des zehntgrößten Industriestaates. Wieviel realsozialistische Lakaien hatten schon die elegantgeformten Türklingen bei ihrem Weg zum Staatsratsvorsitzenden gedrückt und sie ebenso geräuschlos nach der Audienz wieder geschlossen. Von seinem ebenfalls als hölzernes Gesamtkunstwerk aus Voll- und Furnierholz gestalteten Arbeitszimmer ging der Blick hinaus auf die Rückwand des skelettartigen Palastes der Republik, dessen endgültiges Schicksal nach der Asbestsanierung immer noch nicht beschlossen war. Der neue Kanzler hatte sich in einem Brief an die Palastangestellten gegen das »Plattmachen« ausgesprochen. Auch wenn ein neuer Kulturbeauftragter sich vehement für den Abriß und die Errichtung des alten Schlosses an gleicher Stelle aussprach, stritt man um die Traditionsbauten wie um das milliardenteure Schnellzugprojekt Transrapid in die Hauptstadt i.G. nach der Devise: Ohne Moos nix los. Die Baukastenmodelle des neuen alten Schlosses, die im Erdgeschoß des Gebäudes der Einheitsfeier aufgebaut waren, konnten jedenfalls keine schlüssige Antwort auf die simple Investorenfrage geben: Rechnet sich das eigentlich? Denn im Jahre zehn der deutschen Einheit waren die einst üppig gefüllten Subventions-Füllhörner vollständig geleert, und viele Investoren begriffen, daß sie jetzt den Preis für unüberlegt hochgezogene Prestigebauten zahlen mußten. Marktwirtschaftlich war ein neues Schloß der pure Unfug, denn so viele Designerjeans, Doppelburger oder Dreifach-CDs konnten in 100
den geplanten Ladenpassagen gar nicht verkauft werden, um die Baukosten wieder hereinzuholen. Hinter der untersten Schublade im Schreibtischs des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden hatten Handwerker eine alte Photographie gefunden, die offenbar beim Ausräumen vergessen worden war. Sie zeigte den jungen Erich zusammen mit einem hübschen Mädchen vor dem kriegsbeschädigten Hauptportal des alten Schlosses. Er hatte seinen rechten Arm über ihre Schulter gelegt, beide trugen die typischen blauen Hemden der Jugendorganisation mit den großen Brusttaschen und das knappe Halstuch. Auf der Rückseite stand in ordentlicher Handschrift: »Für Lotte, 1949«. DasSchloß war weg, Erich war weg und sein Staat war auch weg. Wo war Lotte? Ferdinand Linke klatschte zusammen mit den anderen automatisch Beifall, als sein Senator die »großen Aufbauleistungen« im Osten lobte und in seinen Dank »auch die Menschen auf den Baustellen« einschloß. Damit meinte er vor allem die polnischen, kroatischen, usbekischen oder vietnamesischen Arbeiter, die das neue Rom an der Spree hochzogen. Sie waren die eigentlichen Helden der Wiedervereinigung, die zu Dumpinglöhnen die Knochenarbeit an den Eisenarmierungen leisteten, Fundamente in historischen Baugrund trieben oder den Staub aus den asbestummantelten Stahlträgern ertrugen, die sie unter dem Feuerschweif einer heulenden Flex in Stücke zerlegten. »Und gedenken wir am heutigen Tag auch derer, die nie an der Wiederherstellung der Einheit gezweifelt und uns den Mut und die ...« Linke hörte weg. Er war in Gedanken schon bei dem anschließenden Sektempfang, an dem auch der Bundesminister für Wirtschaft teilnahm. Es war ein alter Studienfreund von Linke, der ihm nach dem kürzlichen Regierungswechsel das 101
attraktive Angebot gemacht hatte, in die Bundespolitik zu wechseln. Das Schöne daran war, daß nach dem endgültigen Umzug der Regierung in die Bundeshauptstadt ein Ortswechsel für ihn nicht nötig war und auch die Tochter im gleichen Kindergarten hinter dem Theater des Westens bleiben konnte. Bei einem Glas des trockenen Rotkäppchen-Sekts, der als >Extra Brut< die Wiedervereinigung überlebt hatte, würde Linke dem Minister seine Zusage geben. Seinem Senator wollte er heute nicht den Tag mit der für ihn schlechten Nachricht versauen. Linke begrüßte noch einige wichtige Gäste und verabschiedete sich dann mit dem Hinweis auf wichtige Termine. Der wichtige Termin war ein Kindertheater im Untergeschoß des Pavillons am Alexanderplatz. Um 16 Uhr war er dort mit Ulrike und seiner Tochter verabredet. Auf dem Spielplan stand eine zeitgenössische, schräge Version von »Schneewittchen« einer Hamburger Theatergruppe. Darin war das schöne Schneewittchen nach langem Schlaf endlich erwacht und fand sich bei den sieben Zwergen wieder, deren schmutzige Unterhosen sie waschen mußte. Irgendwann kam dann auch der gut aussehende Prinz aus dem Westen vorbei um sie zu erlösen. Linkes Tochter hatte Spaß an dem Stück, obwohl sie erst zehn Jahre alt war. So alt wie das neue Deutschland. Wenigstens etwas Faßbares zum Tag der Deutschen Einheit.
Reporter Hugo Hesse
Der Journalist wachte an diesem Sonntag zeitig auf. Durch die kleinen, quadratischen Fenster seiner Brandenburger Bauernkate fiel die Sonne schräg in den gemütlichen Raum mit den tiefgezogenen Holzdecken. Draußen tropfte der 102
Morgentau von den Spitzen des Strohdachs und die Spinnen hatten über Nacht ihre statischen Meisterwerke gezogen. Die Golden Gate Brücke in San Francisco war gegen die feingesponnenen Verstrebungen an Hesses Haus ein schlichter Entwurf. Hesse spürte bei den ersten Bewegungen seines Körpers einen gesunden Muskelkater, als er sich Richtung Bad bewegte. Er hatte gestern gut fünf Stunden an einer robusten Saftpresse aus schwerem Gußeisen und hartem Eichenholz gearbeitet, um die reiche Ernte aus seinem Apfelgarten in Most zu verwandeln. Die saftigen Früchte der Sorte >Jakob Lebel< galten eigentlich in der europäischen Landwirtschaft seit mehreren Jahrzehnten als unprofitabel. Im Garten von Hesse reiften sie jedes Jahr zu großkalibrigen Äpfeln heran, die zwar von schneller Fäulnis bedroht waren, sich aber zum richtigen Zeitpunkt geerntet und gepreßt - in einen ergiebigen Apfelsaft verwandelten. Abgefüllt in großen Glasballons vergärte die naturtrübe Brühe ganz ohne Zucker, Hefe oder Schwefel zu einen herben Cidre, der erst nach dem zweiten Schluck seinen Charakter preisgab. Für Hesse war das kleine Bauernhaus, das er sich nach der Wiedervereinigung gekauft hatte, eine Art Tankstelle für Lebenslust. Denn hier trainierte er seinen Körper mit dem Spaten oder der Schubkarre in der Hand bei - wie er fand - sinnvollen Tätigkeiten, wie etwa der Herstellung schwachalkoholischer Getränke. Und er war das ganze Wochenende an der frischen Luft. Hier lud er seine Batterien auf, um im metropolitanen Leben die nötigen Reserven für Spesenessen, Stehempfänge oder Spätschichten zu haben. Hesse war als Reporter eines der größten Nachrichtenmagazine der >Berliner Republik< gut eingespannt. Auch heute, am Tag der Deutschen Einheit, wartete noch ein offizieller Termin auf ihn. Bis dahin mußteer seine vom Apfelmost schwarzgeränderten Fingernägel gereinigt haben.
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Im ehemaligen Gästehaus Hubertusstock der DDR-Regierung hatte eine Delegation der früheren sowjetischen Republik Kirgisien zu einem Abendessen geladen. Eigentlich kein Termin, der zwingend auf das Programm eines Berliner Journalisten gehörte, aber Hesse war einer interessanten Geschichte auf der Spur, die in das zentralasiatische Gebirgsland führte. Es ging um den Schmuggel von waffenfähigem Plutonium aus der Nachbarrepublik Kasachstan. Direkte Lufttransporte von den USA zu den Abbaustätten der neu erschlossenen Uranlager auf kirgisischem Territorium dienten offenbar gleichzeitig dazu, das Teufelszeug der ehemaligen sowjetischen Atomrüstung außer Landes zu schaffen. Die Manager in dem kirgisisch-amerikanischen Gemeinschaftsunternehmen waren darüber im Unklaren gelassen worden, was die vierstrahligen Transportmaschinen noch alles an Bord hatten. Bis zu jenem Absturz in diesem Sommer, als eine vollgeladene Boeing 747 nach einem Cockpitbrand über chinesischem Gebiet runterging. In den Trümmern fanden die Bergungsmannschaften drei komplette Atomsprengköpfe aus dem sowjetischen Raketenprogramm. Peking forderte von der UN eine Sondersitzung wegen des »unverantwortlichen Angriffs« auf den Weltfrieden. Die wenigen Grenzstationen zum Nachbarland Kirgisien wurden geschlossen, Truppen zogen auf. In dieser Situation war dem bettelarmen Bergstaat daran gelegen, sich im Westen mit anderen Themen in Erinnerung zu bringen, zum Beispiel Umweltschutz. Denn immerhin hatte die ehemalige Sowjetrepublik die Absicht, mit Unterstützung eines ostdeutschen Biologen große Teile des Himmelsgebirges als Biosphärenre-servat anzulegen. Hesse hatte sich bei einer Delegationsreise das Großprojekt angeschaut. Mit Geländejeeps, die von erfahrenen Armeefahrern gesteuert wurden, auf Pferden, die von den Nomaden im Hochland gezüchtet wurden, oder in robusten Hubschraubern, die von korrupten Sowjetpiloten gesteuert wurden, hatten die Journalisten und Naturschutz104
experten das zweithöchste Gebirge der Welt besichtigt. Um die Zukunft dieser Schatzkammer voller wertvoller Rohstoffe wie Gold, Wolfram, Uran oder Platin ging es auch bei dem Abendessen im Gästehaus. Und am meisten freute sich Hesse auf seine Kollegin mit dem Pagenschnitt, die ebenfalls auf der Tour dabei gewesen war. Sie hatten sich am zweiten Abend von der Gruppe abgesetzt und entdeckten eine schummrige Getränkebar in einem der seelenlosen Plattenbauten des sogenannten Ferienlagers am Issykul-See. Dort tranken sie zwei bis drei, eher drei, Wodka, bevor sie sich gemeinsam zu einem Bad in der Dunkelheit aufmachten. Das samtweiche Wasser des Binnensees öffnete ihre Sinne. Und die erprobten sie dann eine lange Nacht in den wenig komfortabeln Betten des Ferienwohnheims für verdiente Genossen. Hesse wollte den Platz neben seinem Engel aus dem Himmelsgebirge einnehmen; es gab viel zu erzählen. »Kommst Du auch?«, hatte sie bei dem letzten Telephongespräch gefragt. »Blöde Frage, natürlich. Ich sitze beim Gala-Essen neben Dir.« »Wie nett.« »Du kennst doch die kirgisische Gastfreundschaft.« »Hast Du schon einen Toast vorbereitet?« »Zwölf Strophen in Hexametern.« »Und zwei Wodka.« »Nein, drei.« »Gibt es denn in der Umgebung einen See?« »Noch nie was von der Mecklenburgischen Seenplattegehört? Hier gibt es mehr Seen als Land.« »Oh je, klingt nach langer Nacht.« »Das ist ja das Schöne.« Von Hesses Bauernhaus am Stechlin-See waren es nur gut fünfundvierzig Kilometer bis nach Hubertusstock. Aber die hatten es in sich, denn das Aufbauprogramm-Ost nach dem
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sogenannten Bundesverkehrswegeplan hatte zwar die nordsüdlichen Verbindungen in Rennbahnen für den Berliner Ausflugsverkehr verwandelt. In west-östlicher Richtung war die mobile Freiheit dagegen weniger gewährleistet. Von den alten Transitstrecken nach Berlin einmal abgesehen, die mit West-Mark als betoniertes Devisengeschäft realisiert wurden - das weltweit einzige Autobahnbauprogramm eines kapitalistischen Landes auf dem Boden des Sozialismus. Doch abseits dieser Betonpisten herrschten noch die kopfsteingepflasterten, notdürftig geflickten Landstraßen vor. Hier waren keine Verkehrsberuhigung oder ein Tempolimit notwendig, da beides im Straßenbelag - bei Strafe Achsenbruch - schon eingebaut war. Die geschwungene Landstraße führte durch Dörfer, die auf den alten schwarzgelben DDR-Ortsschildern so schöne Bezeichnungen wie »Neuglobsow«, »Bredereiche«, »Kurtschlag« oder »Gr. Dölft« führten. Hugo Hesse steuerte seinen Diesel-Kombi gemächlich durch die sonntäglich verlassenen Weiler voller Satellitenschüsseln, in denen vom Tag der Deutschen Einheit wenig zu spüren war. Hier galt seit den Tagen des Moorkolonisators Friedrich dem Großen immer noch das Motto: Berlin ist weit weg. In den geschlossenen Mischwäldern am Werbelliner See fand Hesse schließlich die Einfahrt zu dem ehemaligen Gästehaus. Unvermittelt war ein Stück Straße, mitten im Wald, zweispurig und limousinentauglich ausgebaut. Eine Reihe von acht hohen Lichtmasten in der Form einer Peitsche wies den Weg zur Hauptpforte. Daneben stand ein weiträumiges Wachhaus mit einer großfenstrigen Pforte. Das weit geschwungene schmiedeeiserne Tor stand offen, die Unterkünfte für die Elitesoldaten des Wachregiments der DDR-Regierung waren geräumt. Nur eine kleine Messingtafel erinnerte noch an die glorreichen Zeiten, als die Staatspräsidenten der sozialistischen Länder wie auch westliche Spitzenpolitiker in Hubertusstock nächtigten. Die Bezeichnung >Jagdschloß< für das 106
Haupthaus war etwas irreführend, denn das dreistöckige Gebäude mit den hölzernen Balkons und den Dachbalken erinnerte Hesse eher an ein wenig geschmackssicher ausgestattetes Schwarzwaldhaus. Statt hoher, dunkler Tannen wuchsen hier jedoch bis zu achthundert Jahre alte Eichen, in deren verkrüppeltem Astwerk wie in einem Märchenwald Geister zu hausen schienen. Von allen guten Geistern verlassen mußte dagegen Kaiser Friedrich Wilhelm der Vierte gewesen sein, als er 1847 die Kopie eines süddeutschen Berghofs hier errichten ließ. Das Jagdhaus paßte ebensogut in die norddeutsche Tiefebene wie eine ostfriesische Räucherkate in die Sahara. Die ehemaligen Staatsratsvorsitzenden und begeisterten Jägern Walter und Erich ließen das Jagdschloß Anfang der siebziger Jahre auf Weltniveau bringen - einschließlich einer »rustikalen« Stube mit Kamin und Geweihen im Untergeschoß des Gebäudes, in dem die Staatsgäste zu später Stunde diverse Toasts auf ihren Gastgeber oder die Überlegenheit des Sozialismus ausbringen konnten. Hesse erkundigte sich an der Rezeption, ob die kirgisische Delegation schon eingetroffen sei. Nein, die Damen und Herren verspäteten sich etwas, da sie bei den Einheitsfeiern in Berlin festgehalten worden waren. Hesse ahnte schon, was die Kirgisen festgehalten hatte. Es war ein Volk der ausladendsten Trinksprüche und poetischsten Danksagungen bei Tisch. Das Essen im holzgetäfelten Restaurant von Hubertusstock werde aber gegen acht Uhr pünktlich beginnen. »Cremesuppe von Curry und Ingwer, Souffliertes Zanderfilet auf roter Portweinsahne, Korianderlauch und Pilzrisotto, Limonen-Joghurtmousse mit Pralinensauce« war für die Delegation vorgesehen, wie der Rezeptionist langsam und fehlerfrei vorlas. Auf der umfangreichen Speisekarte standen noch andere Köstlichkeiten. Hesse lief das Wasser im Munde 107
zusammen, er hatte jetzt schon einen Sauhunger, die Pralinensauce würde er sich schenken. »Außerdem habe ich noch eine Nachricht für Sie«, sagte der Hotelangestellte. Er übergab Hesse eine handgeschriebene Notiz: »Bin in Bungalow Drei. Lust auf einen Spaziergang? Der Pagenkopf.« Hesse freute sich, Pagenkopf hatte Wort gehalten. »Wo ist bei Ihnen Bungalow Drei?«, fragte er den neutral lächelnden Rezeptionisten, dessen Diskretion ihn als erfahrenen Hotelangestellten auswies. »Nun, gleich neben dem Haupthaus geht der Weg am Schwimmbad vorbei. Dann gegenüber das erste Gebäude, die Dame hat das Appartement im ersten Stock.« »Danke«, sagte Hesse, »übrigens, ist das Schwimmbad oder Ihre Sauna jetzt offen?« »Bedaure, aber die Anlage ist wegen Rekonstruktionsarbeiten zur Zeit geschlossen.« »Schade«, sagte Hesse. In diesem Moment wurde ihm wieder einmal klar, daß die alte DDR doch noch nicht ganz untergegangen war. Rekonstruktionen - eine Republik als Dauerbaustelle. In die zum Gästehaus gehörenden, denkmalgeschützen Waldbungalows im quadratischen Baustil der siebziger Jahre war mit der Wiedervereinigung das Design des 21. Jahrhunderts eingezogen. Schon im Treppenhaus empfingen den Besucher matt leuchtende Paravents mit stilisierten Tierdarstellungen wie etwa einem Hasenpaar auf der Flucht. Die Inneneinrichtung bestand aus karg gestalteten Möbeln in schlichten, aber wertvollen Materialien. Der Kleiderschrank stand auf zwei rot lackierten Rollen mitten im Raum. Die Türgriffe bestanden aus stilisierten Kieselsteinen. Das groß dimensionierte Bett hatte einen rot-weiß gestreiften Markisenstoff als Himmelszelt. Im Badezimmer beherschte eine aus blau-grün-glitzernden Mosaiksteinen gemauerte Badewanne den Raum, die in ihrer funktionalen Kargheit ein wenig an 108
den Sanitärbereich einer sowjetischen Psychiatrie erinnerte. Das Waschbecken war aus gegossenem beigen Steinmaterial mit seitlich klappbaren Ablegetellern und einer matt-silbernen Leuchte, die über druckempfindliche Sensorschalter reguliert wurde. Die gesamte Einrichtung der Gästeappartements in der Schorfheide hätte gut in ein New Yorker Designhotelgepaßt. Nach der Wende waren die Nußbaummöbel, die dem alten, biederen Nomenklaturageschmack im Louis-XlV.-Stil entsprachen, eingelagert worden. Die ehemaligen Staatsgäste träfe wohl der Schlag, wenn sie jemals wieder das Gästehaus buchen sollten, zu dem jetzt auch die arbeitende Klasse Zugang hatte - gegen ausreichend Cash pro Nacht. Pagenkopf fühlte sich hier wohl. Sie öffnete die Tür und umarmte Hesse. »Laß Dich drücken, schön, daß Du hier bist.« »Schön, daß Du hier bist«, sagte Hesse und gab ihr einen unbeholfenen Kuß. Er wußte, daß Pagenkopf in festen Händen war, einen bezaubernden Sohn geboren hatte, und die Ereignisse im Himmelsgebirge lagen inzwischen weit zurück. Sie führte Linke auf die umlaufende Terrasse. »Diese Luft, herrlich. Willst Du was trinken?« »Wollen wir nicht erst in den Wald?« »Und dann einen heißen Tee?« »Genau!« Pagenkopf zog sich die warme, wattierte Jacke über und schloß das Appartement. In dem ehemaligen Sicherheitszaun des Grundstücks, der durch einen vorgeblendeten überdimensionierten, hölzernen Jägerzaun kaschiert war, fanden sie einen Durchgang. Ihre Schritte auf dem weichen Waldboden waren lautlos, die Dämmerung legte sich über die gewaltigen Eichen und Buchen. Die weiße Rinde einer Birkenpflanzung schimmerte in der Entfernung wie ein See. Nur das laute Gekrächze aufgescheuchter Raben und das ferne Klopfen eines Spechtes drangen durch die einbrechende Dämmerung. »Sag mal, kommt eigentlich auch unser Freund Eugen heute
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abend?«, fragte Hesse auf dem Rückweg. »Eugen aus dem Auswärtigen Amt?« »Ja, der Experte für unmögliche Aufträge wie: nicht vorhandene Einreisevisa nach der Paßkontrolle auszustellen.« »Das letzte, was ich gehört habe«, sagte Pagenkopf, »ist, daß er in der Botschaft in Berlin arbeitet. Das müßtest Du aber besser wissen.« »Er hatte letztes Jahr eine Weihnachtskarte geschickt, aber bei den Diplomaten geht der Wechsel ja häufig schnell, wenn der Präsident geht.« »Lassen wir uns überraschen, aber was willst Du denn von ihm?« Hesse erläuterte kurz, warum der heutige Abend - außer natürlich ihretwegen - für ihn so wichtig war. Eugen hatte exzellente Kontakte zu den Diensten seines kleines Landes. Er würde ein Menge wissen über Arbeitslager oder Atomwaffen. Ob er darüber sprechen wollte oder konnte, war eine ganz andere Frage. Eugen war ein äußerst gut informierter und kultivierter Vertreter seines Landes, manchmal genügte ein kurzes, stummes Kopfnicken, um Hesse eine Information zu bestätigen. Eugen war kein Verräter, sondern ein stolzer Kirgise. Hesse würde ihm bei dem Treffen in Hubertusstock einige delikate Fragen stellen müssen, die sich mit den Gerüchten über die illegalen Transporte spaltbaren Materials beschäftigten. »Versau' uns aber nicht den schönen Abend«, sagte Pagenkopf, »ich bin zum Vergnügen hier.« »Das werden wir haben«, sagte Hugo Hesse fröstelnd und steuerte auf Bungalow Drei zu. »Eine Sauna wäre jetzt klas-se.« »Komm, unser Tee wartet, da wird Dir schon warm.«Es war weit nach Mittternacht, als Hugo Hesse und der Pagenkopf die ausgelassene Festgesellschaft verließen. DerWodka zirkulierte in ihrer Blutbahn, sämtliche Trinksprüche waren ausgebracht, die kalte Luft war eine Wohltat. Eugen
hatte eine Menge erzählt. Und der Biologieprofessor tanzte zu fortgerückter Stunde mit seinem Kollegen von der Partneruniversität nach den Klängen einer kirgisischen dreiseitigen Laute und eines mehrstimmigen Männerchors aus hochqualifizierten Akademiewissenschaftlern. Über Hubertusstock funkelte ein glasklarer Sternenhimmel. Fast so klar wie im Himmelsgebirge. Hesse und seine Begleiterin hatten sich die spitz zulaufende Filzhüte der kirgisischen Nationaltracht aufgesetzt, die sie als Gastgeschenk überreicht bekommen hatten. »Du siehst aus wie ein Hirte im Hochland«, sagte Pagenkopf kichernd. »Und Du siehst aus wie der Goldene Helm von Rembrandt auf Reisen.« Vor Bungalow Drei verabschiedete sich Hesse von seiner Begleiterin. »Und wo schläfst Du?«, fragte Pagenkopf. »Im Haupthaus, in Erichs Bett.« »Da kann ich nicht mithalten«, sagte Pagenkopf und schloß die Tür auf. »Kommst Du?«, fragte sie dann. Der Tag der Deutschen Einheit war noch nicht ganz vorbei.
Designstudentin Kick
Kick war längst keine Punkerin mehr, wie der Farbwechsel von pechschwarz zu naturbraun in ihrem kurz geschnittenen Haar signalisierte. Aus der Sache mit Thomas, mit dem sie die Wohnung in der Dresdner Neustadt renoviert hatte, war eine feste Beziehung geworden. Kick absolvierte an der Kunstakademie eine Ausbildung im neu gegründeten Fach Grafikdesign. Thomas hatte gerade sein praktisches Jahr als Jungmediziner in der städtischen Klinik am linken Eibufer begonnen. Da er heute, am Tag der Deutschen Einheit, zum Frühdienst eingeteilt war, würden sie sich erst am Abend sehen. Kick drehte sich nochmals in dem bodennahen, auf
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Backsteinen gelagerten, selbstgebauten Bett herum und schloß die Augen. Sie freute sich auf den Abend mit Thomas und sie freute sich auf den Nachmittag mit ihrer Freundin aus Berlin, die zu Besuch war. Die schlief noch tief und fest nebenan im Zimmer eines Mitbewohners der Altbauwohnung, der zu seinen Eltern in den immer noch so genannten Westen gefahren war. Der Abend zuvor in der Dresdner Neustadt war spät, beziehungsweise ziemlich früh geworden. Noch um halb drei Uhr in der Nacht hatten sie in der Hinterhofkneipe »Planwirtschaft« kurze, fettige, aber wohlschmeckende Brühwürste zum Bier genossen. Ihre Freundin kannte sie aus den wilden Tagen in dem besetzten Haus in Berlin-Kreuzberg, als die Bullen in einer frühmorgendlichen Räumaktion dem gemeinsamen Leben ein unsanftes Ende bereiteten. Sie hatten sich viel zu erzählen, vor allem über das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, die Zweifel und die Zweierbeziehungen. Aber erstmal noch eine Runde Schlafen, dafür war der Tag der Deutschen Einheit immer gut. In dem großen Saal der Klavierbaufirma Thierbach an der benachbarten Kamenzerstraße herrschte dagegen trotz des Feiertages schon rege Betriebsamkeit. Die Firma mußte aus den tradtionsreichen Räumen umziehen. Über 50 Jahre konnten die Klavierbauer die moderate Miete für den ehemaligen Tanzsaal aufbringen und mit den bescheidenen Erlösen aus der Reperatur von Flügeln oder Klavieren ihren Lebensunterhalt als Selbständige im Sozialismus bestreiten. Das wurde anders mit dem Verkauf der Altstadtimmobilie an einen westdeutschen Investor. Klaviere bringen keine Rendite, ließ er ausrechnen. Der Saal wurde in eine Erlebnisrestaurant mit Spielhalle umgebaut, in dem der Musikkreis Piano-forte fortan keinen Platz mehr fand. Die beiden Firmenerben waren darüber nicht ganz unglücklich, da der neue Eigentümer bereit war, eine ordentliche Abfindung zu zahlen und den Umzug in ein kleineres Werkstattgebäude in unmittelba112
rer Nachbarschaft zu übernehmen. Und bei über hundert mehr oder wenige kompletten Klavieren, die seit Jahren in dem verstaubten Saal auf eine Reparatur warteten, beliefen sich allein die Speditionskosten auf eine beträchtliche Summe. Nur einige ausgesuchte Instrumente, darunter drei schwarze Flügel, fanden Platz in der neuen Werkstatt. Der Rest wanderte zum Schrotthandel. >So ein Jammers dachte sich der Thierbach-Erbe, als der große Container vor dem Haus mit den glänzenden Schellack-Instrumenten beladen wurden. Heute, am Tag der deutschen Einheit, waren nur noch einige Kleinigkeiten aus der Werkstatt umzuräumen, dann würde sich die schwere Holztür an der Toreinfahrt zu letztenmal hinter den Thierbach-Erben schließen. Das verwitterte gold-braune Namensschild »Thierbach Piano« rund um den Briefkastenschlitz ließen sie hängen. Kick lud ihre Freundin zu einem ausgiebigen Kaffeeklatsch in das renovierte Gasthaus »Villa Marie« an der Elbe ein. Es lag direkt unterhalb der eisernen Hängebrücke flußaufwärts, die seit ihrer Konstruktion vor mehr als hundert Jahren den Namen »Blaues Wunder« trug. Weniger wegen der zahlreichen Gäste, die selbiges beim Verlassen der traditionsreichen Schänke erlebt hatten, sondern wegen dem blau-grün-schimmernden Anstrich des elegant geschwungenen Bauwerks mit einer Spannweite von über 141 Metern. Sächsische Ingenieurkunst und wagemutiges Unternehmertum hatten die Stadt an der Elbe im vergangenen Jahrhundert an die Spitze des industriellen Zeitalters befördert. Und es bestand kein Zweifel, daß auch in den neuen Zeiten der schon von Johann Wolfgang Goethe gerühmte »Balkon Europas« höchst ausbaufähig war. »Was nimmst Du?«, fragte Kick, als sie sich einen Fensterplatz zum Fluß gesichert hatte, »der Käsekuchen ist Spitze.« »Du weißt doch, die Linie«, sagte ihre Begleiterin. »Vergiß es, Du kannst es Dir leisten.« 113
»Wenn Du meinst.« Kick bestellte zweimal Käsekuchen, zweimal schwarzen Tee und vorweg zweimal Prosecco. Das perlende Getränk hatte inzwischen erfolgreich seinen Einzug in das Florenz des Nordens gehalten. Die beiden jungen Frauen besprachen als erstes einige Grundfragen zum Thema Kleidung und warum die neue Mode der eng geschnittenen Bodies das Allerletzte wäre. Sie waren beide keine Typen für hochstöckiges Schuhwerk, obwohl sie eine kleine modische Andeutung schon akzeptieren konnten. Seitdem es auch in Dresden einige neu eröffnete Klamottenläden für verbilligte Designermode direkt ab Lager gab, hatte sich auch Kick mit diversen zuvor verpönten Marken eingedeckt. Ein Kostüm aus gut verarbeiteter Viskose im schlichten Stil der ausgehenden neunziger Jahre war zu ihrem Lieblings-Kleidungsstück geworden. Da paßte selbst ihre geliebte Lederjacke drüber. Beide Frauen waren sich schnell einig. Man sah es ihrem einheitlichen Outfit an: Alles war tragbar, Hauptsache, es war schwarz. Das zweite Thema war weniger lustig, denn die Berliner Freundin hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt, oder umgekehrt, oder auch noch nicht endgültig. Ein Thema, das sie bis zum Sonnenuntergang über vier weitere Prosecco beschäftigte. Männer waren eben ziemliche Schweine, jedenfalls manchmal. Kick hörte vorwiegend schweigend zu, mehr brauchte eine gute Freundin in bestimmten Beziehungsphasen gar nicht zu tun. Über ihr Zusammenleben mit Thomas gab es auch derzeit gar nichts Krisenhaftes zu berichten. Die Ereignisse an der Semperoper hatte sie damals zusammengeschweißt. Thomas hatte Kicks Mut imponiert, mit dem sie das Risiko einging, eine sogenannte unangemeldete Demonstration zu organisieren. Und Kick hatte gefallen, daß Thomas sie zu den illegalen Treffen des Musikkreises Piano-forte eingeladen hatte; daß er ein Mann war, der immer eine praktische Lösung für ein Problem wußte - und es dann auch anging. Da konnte Kick auch damit leben, daß ihr Freund 114
weniger fähig war, wenn es darum ging, über emotionale Dinge zu sprechen. Aber dafür hatte sie ja ihre Freundinnen. Es wurde spät im Gasthaus am Fluß. In der Dunkelheit fuhren Kick und ihre Freundin am rechten Flußufer nach Dresden-Neustadt zurück. Im Japanischen Palais gastierte heute abend ein interessantes KammermusikEnsemble aus Kanada. Sie spielten Klassiker in einer zeitgenössischen Bearbeitung zwischen Swing und Rap. Thomas wartete schon am Eingang und wedelte mit den Eintrittskarten. Die Szene zwischen den hereinströmenden Konzertgästen, die sich an der Garderobe drängten, erinnerte ihn an die legendäre Protestaktion gegen Erich vor der Semperoper. Einige der damaligen Gäste der Regierung waren heute in anderen Funktionen wieder mit dabei. Nur der Ring der Sicherheitskräfte und das massive Aufgebot der damaligen Volkspolizei fehlte; lediglich ein einsamer Verkehrspolizist versuchte, des Staus der parkplatzsuchenden Autos vor dem Palais Herr zu werden. »Ihr kommt aber spät«, sagte Thomas und begrüßte Kick mit einem Kuß und ihre Freundin mit einer flüchtigen Umarmung. »Die Plätze sind nicht reserviert.« »Wir haben uns gut unterhalten«, sagte Kick fröhlich, und umhüllte ihren Freund mit einer schwebenden Prosecco-Wolke. »Das rieche ich, jetzt aber los.« »Ich dachte, Du als HofSanitäter hast VIP-Karten.« An einigen Abenden verdiente sich Thomas etwas Geld im Sanitätsdienst während der Konzerte. Heute jedoch war er ganz privat hier. »Hab ich nicht, mein Tag war lange genug.« Die drei fanden noch passable Plätze in dem großen Ballsaal. Dann ging auch schon das Licht aus, und eine Baßtuba intonierte die ersten Takte der »Kunst der Fuge« von Bach. Thomas, Kick und die Freundin lehnten sich auf den klapprigen Holzstühlen zurück. Der Abend versprach schön zu werden und nicht in einer Verhörzelle zu enden. Die alte Musik paßte 115
gut zur neuen Zeit und den jungen Leuten, die sich schon früher mit der berühmten Komposition des Leipziger Thomaskantors beschäftigt hatten und ein geschul tes Ohr für die Feinheiten der Interpretation mitbrachten.
Verpackungsmanager Ernst Schlüter
Schlüter hatte am Vorabend seinen Flug gerade noch erreicht. Mit der neuen Direktverbindung der Varig-Airlines startete er am frühen Abend vom Flughafen Berlin-Schönefeld nach Säo Paulo. Dort ging es am nächsten Morgen gleich weiter nach Santiago de Chile. Auf dem lateinamerikani schen Kontinent feierte niemand, fast niemand, den Tag der Deutschen Einheit. Schlüter war dienstlich zu wichtigen Ver tragsverhandlungen unterwegs, da seine Firma die Mehrheit an einem chilenischen Kartonagenhersteller erwerben wollte. Südamerika galt als stark wachsender Markt, und mit dem Wohlstand der Mittelschichten weitete sich auch das Ge schäft mit modernen Einwegverpackungen für Lebensmittel und Getränke aus. Selbst landeseigene Klassiker wie Caipi rifihas oder Batida de Coco gab es schon in Aufreiß -packungen, zum Entsetzen der Liebhaber solcher Cocktails. Das große Geld war aber mit der Standardware des täglichen Bedarfs, vom Avocadomus bis zum Zitronensaft, zu verdienen, und Hesses Konzern Fast-Packing wollte gegen die star ke Konkurrenz der Amerikaner mit dabei sein. In seiner Aktentasche, die er sorgfältig in der Ablage über seinem Business-Class-Sessel verstaut hatte, war der Vorvertrag sowie ein Letter of Intent über eine Unternehmensbeteiligung und eine Bankbürgschaft über 45 Millionen Euro. »Sefior, nehmen Sie noch ein Glas Champagner?«, fragte die Stewardeß mit den streng nach hinten gekämmten schwarzen Haaren und den kräftigen Hüften. Sie war eine brasilianische Schönheit, auch wenn sie die Vierzig schon deutlich über116
schritten hatte. Dafür hatte sie die Grazie und Selbstsicherheit einer modernen Tempelhüterin der Lüfte, die schon Zehntausende von Fluggästen sicher d urch die eiskalten Höhenwinde des pechschwarzen Atlantiks geleitet hatte. Selbst eine Notlan dung auf dem Flughafen von Rio hatte sie schon hinter sich, wo sie mit Ruhe und Umsicht über zweihundert am Rande der Panik stehende Passagiere auf die Rutschen in s Freie führte, während ein Triebwerk lichterloh brannte. Die wenigsten Pas sagiere dachten auf dieser Flug-reisehöhe darüber nach, daß nur einige Zentimeter Aluminium und Dichtungsmaterial den auf neun Grad mundgerecht gekühlten Champagner von sech zig Grad minus Außentemperatur, achthundertfünfzig Stundenkilometern Fahrtwind und einem tödlichen Unterdruck trennten. So gesehen, erschien das häufige Gemeckere in der First-Class über zu wenig Beinfreiheit, wackelnde Kopfhörer oder zu kleine Kaviarportionen eher unangemessen. »Gerne nehme ich noch ein Glas, wenn es so charmant ange boten wird.« Die Brasilianerin strahlte und zeigte ihre makel los-weißen Zähne. Ernst Schlüter lächelte ebenfalls und hielt der Stewardeß sein zierliches Glas entgegen. Da die Masc hine nicht voll besetzt war, konnte sie sich etwas intensiver um ihre Passagiere kümmern. So erfuhr sie von Schlüter, nachdem sie stolz von ihrer Heimatstadt Säo Paulo erzählt hatte, daß er noch weiter nach Santiago de Chile fliegen werde. Sie lächelte ihn wieder an. »Eine wunderbare Stadt, machen Sie dort Geschäfte?« »Ja, ich hoffe.« »Sie werden sich dort wohl fühlen, wenn Sie Pünktlichkeit und Ordnung schätzen.« »Das klingt ja nach Deutschland.« »Jedenfalls nicht Brasilien. Ich habe eine sehr gute Freundin in Santiago, die ich übrigens diese Woche besuchen werde. Sie kennt viele deutsche Einwanderer, vielleicht habe ich auch nur deshalb einen falschen Eindruck.« »Bestimmt nicht. Sind Sie häufiger dort?«
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»So oft ich es einrichten kann, aber da ich auf Fernstrecke bin, ist das nicht immer möglich.« »Und wo geht man in der Stadt gut essen?« »Oh, da gibt es viele Möglichkeiten. Sie sind, glaube ich, kein Typ, der gerne im Hotelrestaurant ißt, sondern das richtige Leben sucht.« Sie lächelte wieder. Ernst Schlüter lächelte auch. »Genau!« »Da gibt es natürlich wunderbare Möglichkeiten. Wie lange bleiben Sie denn in Santiago?« »Fünf, sechs Tage schätze ich, je nach dem Verlauf der Verhandlungen.« »Viel zu kurz. Planen Sie doch etwas mehr Zeit ein, es wird sich lohnen.« »Inwiefern?« In diesem Moment erklang das Rufzeichen von einem anderen Flugzeugsitz. Die Brasilianerin sagte: »Entschuldigung, ich komme später wieder zu Ihnen, der Dienst.« Sie entschwebte mit einem leichten Hüftschwung in den vorderen Teil der Kabine und hinterließ eine dezente Duftwolke eines teuren Parfüms. Ernst Schlüter schloß die Augen, während er sich in seinen komfortablen Sitz zurücklehnte. Blind griff er nach seinem Champagnerglas, nahm einen kräftigen Schluck und dachte mit jener angenehmen Unruhe und freudigen Erwartung, die sich vor dem Erreichen fremder Ziele einstellt, an das überraschende Abenteuer, das sich in der unbekannten Fremde ergeben könnte oder das möglicherweise in diesem Moment schon begonnen hatte. Er hielt die Augen weiter geschlossen, während der erste Schluck des kühlen, perlenden Getränks in seinem Körper ein wohliges Schauern auslöste. Ernst Schlüter erinnerte sich an seinen üblen Traum von dem Verhör in der Stasi-Zentrale und von der Drohung, ihn als kapitalistischen Manager nach Bautzen ins Gefängnis zu stecken. Er erinnerte sich an die Verzweiflung, plötzlich in einem Staat leben zu müssen, dessen Grenzen wie Gefängnis118
mauern waren. Und er erinnerte sich an den neuen PaKoDirektor, der ihm einen Spezialauftrag anvertraute, für den er sein Leben riskieren sollte. Jetzt saß er wohlbehütet in dem Flugzeug nach Chile, um wieder Geschäfte mit dem Klassenfeind zu machen. »Kommt alles in die Akte«, schmunzelte Schlüter. »Entschuldigung, Sir«, hörte er die kehlige Stimme der Brasilianerin. Er öffnete die Augen und schaute in das lächelnde Gesicht der Stewardeß. »Nehmen Sie ein Dinner?« »Ja, gerne.« »Welches darf es denn sein?« Die Brasilianerin nahm die Bestellung auf. Schlüter entschied sich für den leichten Fisch, eine Brasse mit Sommersalat. Zu seiner Überraschung reichte ihm die Stewardeß einen kleinen Notizzettel der Varig-Airline. »Sie wissen, daß wir mit Pas sagieren keinen persönlichen Kontakt aufnehmen dürfen. Nehmen Sie das als dienstliche Hilfestellung, ich habe Ihnen einige sehr gute und interessante Restaurants in Santiago aufgeschrieben. Darunter ist die Telephonnummer meiner Freundin Charlotta notiert. Vielleicht haben Sie Gelegenheit anzurufen, wir würden uns freuen, Ihnen ein wenig die Stadt zeigen zu können.« »Das ist wahnsinnig freundlich, ich werde bestimmt anrufen«, sagte Schlüter, während er unauffällig versuchte, das kleine Namensschild in Brusthöhe am türkisgrünen Jackett der Brasilianerin zu entziffern. Sie folgte seinem Blick und sagte: »Darf ich Ihnen helfen? Mein Name ist Maria de La Fönte.« »Maria, ich freue mich auf unseren Abend.« »Jetzt muß ich mich aber um die anderen Gäste kümmern.« Der brasilianische Traum verschwand zwischen den Sitzreihen. Die Verhandlungen verliefen überaus erfolgreich. Der chilenische Verhandlungspartner schätzte besonders den Aus119
druck »Partnerschaft«, den Schlüter im Zusammenhang des Firmenkaufs fortwährend gebrauchte. Wenn die Tinte auf den Notarverträgen erst trocken war, hatte die Fast-Packing mit der neu erworbenen Mehrheitsbeteiligung zwar das Sagen in dem Konzern. Aber Schlüter konnten seinen Vertragspartnern das Gefühl geben, daß sie weiterhin gebraucht würden und es sich nicht um ein unfreundliche Übernahme handelte. Tatsächlich war Schlüters Konzern daran interessiert, die mit den südamerikanischen Verhältnissen vertrauten Manager für das gemeinsame Unternehmen zu gewinnen. Das wichtigste dabei war, den nationalen Stolz der Chilenen zu wahren. Mit unzähligen Gläsern des Nationalgetränks Pisco Sour, einem Tresterschnaps mit Limonensaft nach dem festlichen Essen zum Vertragsabschluß, festigte Schlüter diese Bande. Er kam an diesem Abend ziemlich betrunken in sein Hotel, doch nicht betrunken genug, um nicht noch ein Fax an seine Zentrale abzusetzen: »Vertrag perfekt. Weiteres folgt.« Schlüter rief am nächsten Tag bei Charlotta an. Sie wußte gleich, wer er war, da die Brasilianerin ihren besonderen Passagier angekündigt hatte. Für den nächsten Tag hatte sie sich selbst angesagt, da sie Charlotta auf eine Party bei Freunden begleiten wollte. »Warum kommen Sie nicht einfach mit?«, fragte Charlotta, »oder haben Sie morgen schon etwas vor?« Er hatte zwar dem Wirtschaftsattache aus der Botschaft zugesagt, an einem Ausflug in dessen Ferienhaus am Pazifik teilzunehmen, aber gegen Abend würde er wieder in der Stadt sein. Morgen konnte er auch keinen Menschen in seiner Berliner Firmenzentrale erreichen, denn morgen war Tag der Deutschen Einheit, einer dieser arbeitsfreien Feiertage, die weltgeschichtliche Veränderungen mit sich brachten. »Wenn es nicht zu früh ist.« »No, no, Senor, in diesem Land beginnen die Feste etwas 120
später, auch wenn die Gastgeber aus Deutschland kommen.« »Aus Deutschland?«, fragte Schlüter etwas enttäuscht, da er sich auf eine typische Fiesta mit chilenischen Menschen, Musik und Marias gefreut hatte. »Lassen Sie sich überraschen, bei uns ist alles etwas gemischt. Und eine besondere Überraschung gibt es auch.« »Soll ich raten?« »Si, Senor.« »Sauerkraut?« »No!« »Leberkäse?« »No!« »Brezeln?« »No, Sie denken zuviel ans Essen.« »Ich weiß«, sagte Schlüter, der immer mit seinen Pfunden kämpfte. »Nichts zu naschen, die Überraschung kommt aus Sao Paulo.« »Maria«, sagte Schlüter freudig. »Genau, es wird bestimmt ein lustiger Abend.« Charlotta und Ernst Schlüter vereinbarten ein Treffen um halb neun in der großzügigen Halle seines Hotels. Zusammen würden sie dann zum Haus der Deutschen hinaus fahren. »Hasta luego«, probierte Schlüter sein mageres Spanisch. »Bien, und viel Spaß bei dem Ausflug morgen. Hasta manana.« Ohne die strenge Uniform und mit offenen Haaren sah Maria völlig verändert aus, wirkte sie weicher und weiblicher. Schlüter schluckte und zog unwillkürlich seinen Bauch etwas ein. Maria trug ein eng geschnittenes schwarzes Cocktailkleid, ihre dichten schwarzen Haare waren nicht mehr durch einen Knoten gebändigt. Nur ihr Lachen war dasselbe wie im Flugzeug. Zur Begrüßung hielt sie Schlüter beide Wangen entgegen, und wieder umhüllte ihn der feine Duft ihres Par-
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füms. »Schön, Sie wiederzusehen, sind Sie bereit für den Abflug?«, fragte die Brasilianierin den verdutzen Schlüter. »Bin schon angeschnallt.« »Solche Passagiere habe ich gerne. Aber heute dürfen Sie mich verwöhnen.« In Ernst Schlüter stieg ein heißer Schauer auf, diese Frau schien zu wissen, was sie wollte. Er wußte zwar noch nicht genau, wie sie das meinte. Aber der Abend hatte ja gerade erst begonnen. Charlotta steuerte den Kleinwagen gekonnt durch den abendlichen Verkehr, wechselte häufig die Spur und beschimpfte einige Landsleute am Steuer als verfluchte Lahmärsche. Sie fuhr wie ein Mann. Die Straße stieg leicht gegen das Gebirge der Cordilleren an, nachdem sie die Stadtautobahn verlassen hatten. Es war ein warmer Frühlingsabend und in dem Stadtteil flanierten die Bewohner vor den hellerleuchteten Kneipen und m I bißbuden. Die Häuser hinter den Mauern und Zäunen waren keinen protzigen neureichen Paläste, sondern zeugten eher voneinem bescheidenen Mittelstand. Charlotta steuerte den Wagen durch das Straßenlabyrinth des lebendigen Stadtteils mit seinen noch offenen Läden und mit Musik vor den Straßenrestaurants; keines der Reichengettos mit ihren Überwachungskameras und Stacheldrahtverhauen an den Einfahrten. Es versprach eine lustige Party zu werden. Vor einem flachen Haus mit einer grauen Mauer in der Galle de La Reina Isabella, Nummer 36, stoppte Charlotta den Wagen. Die Parkplätze am Straßenrand unter den durch die Stoßstangen temperamentvoller Fahrer in Kniehöhe angeschrammten Eukalyptusbäumen waren schon fast vollständig durch die bereits eingetroffenen Gäste belegt. Aus dem Haus mit einer großen Veranda war südamerikanische Guitarrenmusik zu hören. Im Garten beleuchteten Fackeln und an einer Kabelschnur aufgehängte bunte Glühbirnen die Szenerie. Die Party war schon in vollem Gange. 122
Von einem lodernden, offenen Grill zog der würzige Geruch scharf angebratenen Fleisches herüber. Charlotta wurde am Eingang von einem schnauzbärtigen Chilenen begrüßt, der sie herzlich umarmte. Die beiden kannten sich schon aus der Zeit der Opposition gegen das alte Regime, als sie beide an der Universität in der Sprachenfakultät studierten. Sie hatten sich damals in einer linken Menschenrechtsgruppe engagiert und galten den Sicherheitsbehörden als Kommunisten, die das Land in die Arme eines totalitären Stalinismus führen wollten. Charlotta plädierte damals für einen Dritten Weg, während ihr Kommilitone sich zunehmend auch für radikale Maßnahmen gegen die Repressionen der Militärs engagierte. Die politischen Unterschiede auf ihrem Weg in eine - wie sie überzeugt waren - gerechtere Gesellschaft konnte sie persönlich nicht trennen. Die beiden Studenten blieben in intensivem Kontakt, auch nachdem der Schnauzbart im europäischen Ausland Unterschlupf gefunden hatte. Heute gehörten sie zu der Generation, die dabei war, die Geschicke des eigenen Landes mit zu bestimmen. Charlotta als Lehrerin, ihr Freund als Beamter im Innenministerium. »Kommt herein«, sagte der Schnauzbart freundlich. Er begrüßte auch die ihm bekannte Maria herzlich und schaute dann Schlüter fragend an. »Entschuldigung, das ist Ernst, ein Besucher aus Deutschland, den wir gleich mitgebracht haben, wenn Du nichts dagegen hast«, sagte Charlotta. Schnauzbart nickte jovial. »Im Gegenteil, wir freuen uns über Ihren Besuch, gerade an dem heutigen Tag, an dem wir alle etwas zu gedenken haben.« »Was wird denn gefeiert«, wollte Schlüter wissen, »das Erntedankfest?« »So eine Art Erntedankfest, aber kommen Sie doch erst einmal herein.« Ernst Schlüter wurde neugierig, was meinte der Schnauzbart mit seiner dunklen Andeutung? War er in einer der berühm123
ten Voodoo-Messen gelandet, bei denen Puppen aus Stoff und Stroh stellvertretend für ihre lebendigen Pendants spitze Nägel durchs Herz gerammt wurden? Aber er war doch in Santiago und nicht im abergläubischen Salvador de Bahia. »Lassen wir uns überraschen«, sagte Schlüter zu Maria, die ebenfalls fragend die hübschen, getönten Augenbrauen hochzog. In der Eingangshalle zu dem großzügig geschnittenen Wohnhaus war links ein e Garderobe mit einem kleinen Ablagetisch im klassizistischen Stil angebracht. Darauf stand eine Meissner-Porzellanschale, wie Schlüter sogleich erkannte. Seltsamerweise trug sie in der Mitte das Staatswappen aus Hammer und Zirkel der ehemaligen DDR. Darüber hing ein Silberrahmen mit der Photographie einer resolut dreinblickenden Frau mit Dauerwelle, die Schlüter irgendwo her kannte. Erst jetzt fiel ihm auf, daß das Haus etwas altmodisch eingerichtet war, so bieder wie die geschwungenen, vergoldeten Wandlampen mit den Kerzenglühbirnen und aufgesteckten Lampenschirmen. Hier schienen alte Leute zu leben. Auch im Wohnzimmer stand eine klobige Sitzgarnitur mit weinrotem Samtbezug vor einem Couchtisch aus poliertem Nußbaum. Charlotta begrüßte einige Gäste und stellte Ernst Schlüter erneut als guten Freund aus Deutschland vor. Einige hatten schon in Deutschland gelebt, in »Ost-Deutschland«, wie sie betonten. Schlüter begann zu verstehen. Diese Chilenen lebten einst im Exil im »anderen' Deutschland. Für sie war dieses Deutschland, das sie als Gäste in schwierigen Zeiten aufgenommen hatte, noch nicht untergegangen. Ernst Schlüter bekam von Charlotta einen Begrüßungsdrink in die Hand gedrückt, natürlich einen Pisco Sour, der üppig eingeschenkt war. »Prost«, sagte sie fröhlich lachend, »ich hoffe, Sie fühlen sich wohl. Ich darf Sie mal alleine lassen?« »Klar, ich komme schon zurecht. Maria ist ja bei mir.«
Schlüter schlenderte zwischen den laut und vergnügt spanisch redenden Gästen zu einer Kommode an der Stirnwand. Darauf war eine ganze Sammlung von Photographien aufgestellt. Enkelkinder, Kinder, Patenkinder. Dazwischen stand das Porträt eines älteren Paars, offenbar die Großeltern. Schlüter mochte seinen Augen nicht trauen: Das waren Erich und seine Frau. Besser noch: Das Foto war jüngeren Datums, denn es war genau vor der Eingangstür des Hauses in der Galle de La Reina, Nummer 36, aufgenommen, in der sich jetzt Manager Schlüter befand. Und es hatte eine Widmung: »Weihnachten 1998, Eure Kinder.« Der ehemalige Staatschef hatte seine obligate Kassengestellbrille auf und machte, obwohl er sich auf einen Stock stützte, einen durchaus munteren Eindruck. Schlüter drehte unwillkürlich den Bilderrahmen auf die Rückseite, aber da war nur der Aufkleber eines chilenischen Photostudios angebracht. Schlüter stellte das Dokument wieder auf die Kommode, während er versuchte, seine Gedanken zu sortierten. War Erich nicht bei einem tragischen Unfall während eines Staatsbesuchs aus einem Hubschrauber gestürzt? War Erich nach seiner Inhaftierung nicht in ein Berliner Gefängniskrankenhaus eingeliefert worden? War er nicht »aus Gründen der Menschlichkeit« freigelassen und noch am selben Tag zu seiner Familie nach Chile ausgeflogen worden? War er dort nicht fünf Jahre nach dem Mauerfall friedlich eines natürlichen Todes gestorben? »Haben Sie keinen Hunger? Draußen wartet der Grill«, sagte plötzlich eine freundliche, aber bestimmte Stimme. Ernst Schlüter drehte sich um. Vor ihm stand die Frau aus dem Sil berrahmen, Erichs Frau. »Und Sie müssen die Gastgeberin sein«, sagte Schlüter mit übertriebener Freundlichkeit. »Herzlich willkommen in unserem bescheidenem Haus«, sagte die alte Dame. >In Wandlitz war es auch nicht pompösen, dachte Schlüter und stellte sich mit einer artigen Ver-
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Beugung vor. »Schön haben Sie es hier, wohnen Sie schon länger hier?«, versuchte er eine unverfängliche Konversation. »Zehn Jahre sind es jetzt schon. Wir haben uns eingelebt, aber unsere Kinder haben es uns auch einfach gemacht.« »Uns?« »Ja, uns, mir und meinem Mann. Haben Sie ihn schon begrüßt?« »Nein«, stotterte Schlüter. »Kommen Sie, ich stelle Sie ihm vor. Er wird sich über Besuch aus Deutschland freuen. Er spricht gerne über die alten Zei ten, auch wenn sich so viel geändert hat.« Die alte Dame zeigte Schlüter resolut den Weg in den Garten. Einige Gäste hatten schon angefangen, zu den wiegenden Salsa-Melodien zu tanzen. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung in dem von hohen Büschen umgebenen Gartengrundstück. Im hinteren Teil hatten sich die Senioren etwas von dem Trubel der Party zurückgezogen. Vorsichtig balancierten sie die Teller mit kleinen Fleischstücken und frischen Salaten auf dem Schoß. Sie aßen wenig, immer darauf bedacht, nicht die weißen Hemden und gepflegten Anzughosen zu bekleckern. Auch Erich kämpfte mit einem kroß gebratenen Stück Rippchen. Er saß allein, etwas abseits von den anderen, vor einem großen Oleanderbusch. Da er etwas schwerhörig war, nahm er seine Umwelt nur noch gefiltert zur Kenntnis. Ernst Schlüter näherte sich dem ehemaligen Staatschef voller Neugierde. Es war wie im Traum, aber kein Zweifel, das war Erich - >Erich lebt<, dachte Schlüter. In diesem Augenblick entdeckte der Alte den Besucher. Er wandte ihm seinen schütteren Greisenschädel zu und blickte ihn erstaunt an. »Kommen Sie, junger Mann«, sagte Erich mit fester Stimme, »jetzt erzähle ich Ihnen mal die wahre Geschichte.« Sebastian Knauer, geb. 1949, seit 1988 politischer Redakteur beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL Buchpublikationen: »Kein schöner Land«, 1979,- »Lieben wir die USA?«, 1987; »Bitte nicht stören«, 1994,- »Die Recherche«, 1999.
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