Al Capone Nr. 15
Erdrosselt! von AL CANN
Er hatte sich vorgenommen, zu töten. Noch heute würde er ein Menschenleben a...
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Al Capone Nr. 15
Erdrosselt! von AL CANN
Er hatte sich vorgenommen, zu töten. Noch heute würde er ein Menschenleben auslöschen. Nichts auf der Welt sollte ihn davon abhalten. Joe McBain blickte durch das schmale Bürofenster in den parkartigen Garten hinunter, wo eben über den weißen Kies leichtfüßig eine junge Frau kam, die Anfang der Zwanzig sein mochte. McBains Augen waren schmal geworden, und um seine Lippen hatte sich ein harter Zug gekerbt. Mit seiner feinnervigen Rechten strich er sich durch sein schon etwas schütter gewordenes Haar, wandte sich dann um, ging zum Schreibtisch, zog den Stuhl zurück und ließ sich nieder. Seit einer Reihe von Jahren arbeitete McBain im Privatbüro von Daniel Gennan. Die Villa der Gennans stand draußen in dem Chicagovorort Itasca und grenzte an den Irving Park. Es war eine mäßig besoldete Anstellung, die McBain angenommen hatte, als er sich in der Malitor Company mit dem Chef überworfen hatte. Er war damals froh gewesen, so rasch eine neue Stellung zu finden; schließlich fehlte es in der Stadt nicht gerade an Buchhaltern.
Da hörte er, wie unten die schwere Haustür ins Schloß fiel. Jetzt war sie ins Haus gekommen. McBain rückte seine braunrot gestreifte, sehr dezente Krawatte zurecht, schnippte ein unsichtbares Stäubchen von seinem linken Rockärmel und beugte sich dann wieder über seine Arbeit. Seit dreizehn Jahren hatte er nun unten im Stadtteil North Lake in der Lyndale Avenue eine Wohnung. Und genauso lange war er auch mit Gloria verheiratet. Sie war heute fünfunddreißig, vier Jahre jünger als er, und hatte sich in den dreizehn Jahren, die ihre Ehe dauerte, sehr zu ihrem Nachteil verändert. Das einst federleichte, zierliche Ding war füllig geworden und hatte von ihren guten Eigenschaften nichts mit hinüber in die Zeit gerettet, die einer Ehe ihren Wertbestand geben sollte. Sie aß zuviel, hatte eine Vorliebe für Naschereien, und in der Liebe konnte sie offensichtlich niemals satt werden. Vor einem halben Jahrzehnt hatte McBain schon einmal den Gedanken erwogen, sich von ihr zu trennen. Aber dann hatte er doch wieder davon abgesehen. Die Gewohnheiten einer langen Ehe hielten einen Menschen doch bei seinem Heim. Aber Gloria McBain gab ihm nichts mehr – nun schon seit langer Zeit. Doch er wußte genau, daß sie noch keineswegs jenseits von Gut und Böse war, denn seit einiger Zeit unterhielt sie ein Verhältnis mit seinem eigenen Freund: Henry Ferguson wohnte im gleichen Haus, eine Etage tiefer als die McBains. Anfangs hatte es ihn furchtbar getroffen, und er hatte ihr und auch Henry bittere Rache geschworen, aber
dann hatte er sich auch daran gewöhnt. Er kümmerte sich nicht darum, tat, als wenn er nichts bemerkte, und wiegte seine Frau damit in immer größerer Sicherheit. Schließlich ging das schon so weit, daß sie sich überhaupt nicht mehr vorsah. Somit waren die Verhältnisse in der Ehe der Familie McBain katastrophal geworden. Der Gedanke, seine Frau umzubringen, war bald von ihm gewichen und hatte einer allgemeinen Trägheit, einer grenzenlosen Gleichgültigkeit Platz gemacht. Und was nicht ausbleiben konnte, geschah: McBain interessierte sich für andere Frauen. Nach dreizehn Jahren hatte er nun wieder Augen für das weibliche Geschlecht. Unseligerweise hatte er sein Augenmerk auf die Tochter seines Chefs, auf Sheila Gennan, gerichtet. Aber die vierundzwanzigjährige Tochter des Großindustriellen interessierte sich nicht für den fast vierzigjährigen Mann, der einer ihrer zahllosen Angestellten war. Zwar hatten sie hier im Privathaus außer dem Chauffeur und dem Gärtner, dem Hausmädchen und der Köchin weiter keine Leute beschäftigt, aber in der Fabrik der Gennans gab es über tausend Angestellte. Und Sheila Gennan rechnete den Buchhalter, der hier im Haus in einem kleinen Zimmer saß, zu den Fabrikangestellten, obgleich er mit denen absolut nichts zu tun hatte. Es war McBains Unglück, daß er sein Augenmerk auf die falsche Frau gerichtet hatte, denn Sheila Gennan war hochmütig, abweisend und eingebildet. Sie war zwar
ganz hübsch mit ihren brünetten Haaren und graublauen Augen, war mittelgroß, hatte eine wohlgeformte Figur und leidliche Beine. Eine Schönheit war sie nicht, aber immerhin doch weiblich und schön genug, um einen Mann, der Pech gehabt hatte wie eben Joe McBain, zu reizen. Und wie sie ihn reizte! Seit der Stunde, von der an sie wußte, daß er sich für sie interessierte, ließ sie keinen Tag vergehen, ohne ihn zu demütigen. Erst vor wenigen Wochen, als Gennan ein Sommerfest gab, zu dem auch die Angestellten teilweise eingeladen wurden, hatte sie dafür gesorgt, daß er keine Einladung bekam. Als er sich daraufhin ein Herz gefaßt und sie gefragt hatte, ob er auch kommen dürfte, war sie vor ihn hingetreten, hatte die linke Hand auf die Hüfte gestützt, ihn verächtlich angesehen, und nur den Kopf geschüttelt. Flammende Zornesröte hatte sein Gesicht bedeckt, aber er hatte kein Wort hervorgebracht. Noch war das, was in ihm gärte, nicht reif. Dann war jener Abend gekommen, an dem er hier eine Menge Überstunden gemacht hatte, weil es durch die Schuld Sheilas selbst allerhand aufzuarbeiten gab. Er hatte bis halb elf Uhr abends in seinem Büro gesessen und regelrecht geschuftet. Als er dann sein Zimmer verlassen wollte, stand sie plötzlich vor ihm, schob die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Wahre Raubtieraugen schien sie zu haben – durchdringend und hinreißend schön. Jedenfalls schien es ihm so. Er schluckte schwer. Da kroch ein mokantes Lächeln um die Lippen der Frau.
»Na, Sie haben sich ja heute ziemlich viel Zeit gelassen, McBain.« Er haßte es, wenn sie ihn so nannte. Darum nahm er sich ein Herz und sagte: »Weshalb nennen Sie mich immer ›McBain‹, Miß Gennan?« »Na gut, dann eben Mr. McBain. Sehen Sie zu, daß Sie nach Hause kommen«, sagte sie, während sie sich von der Tür abstieß, das Büro durchquerte und mit dem Fuß die Pendeltür zum Büro ihres Vaters aufstieß. Als die Pendeltür hinter ihr ausschwang, machte der Buchhalter zwei hastige Schritte vorwärts, hatte die verkrallten Hände vorgestreckt, blieb dann aber stehen, und die Hände fielen ihm schlaff herunter. Mit gesenktem Kopf verließ er das Zimmer. Den Ausschlag hatte der gestrige Abend gegeben. Wieder hatte er für die Gennans in einer heißen Sommernacht gesessen und Dinge aufgearbeitet, die längst hätten erledigt sein können, wenn der Hausherr sie nicht verschlampt hätte. Sie hätten schon viel früher in die private Buchhaltung gegeben werden müssen. Da der Termin drängte, hatte sich McBain darübergemacht und war erst wenige Minuten vor zehn Uhr fertig geworden. Als er das Haus verlassen wollte, sah er Sheila die breite marmorne Freitreppe heraufkommen. Er blieb stehen, hielt ihr die Tür auf und zog den Hut. »Guten Abend, Miß Gennan.« »McBain?« Das Mädchen blieb stehen und blickte ihn aus schmalen Augen an. Es war eben erst dunkel
geworden, und er konnte ihr Gesicht nur undeutlich sehen. Sie blieb mitten in der Tür vor ihm stehen und blickte ihn mit gerunzelten Brauen an. »Was machen Sie denn noch hier im Haus?« »Ich habe noch an der Akte Forbes arbeiten müssen. Sie wissen doch, Ihr Vater gab sie mir erst heute vormittag, und sie muß morgen früh fertig sein.« »Daß Sie sich aber auch immer so lange an der Arbeit festhalten. Sie sollten rascher arbeiten, McBain.« Am liebsten hätte er die Tür gepackt und sie gegen sie geschleudert. Aber er hielt sie weiter offen und sah zu, wie sie grußlos an ihm vorbeiging und hinten in der Halle verschwand. Als er sich abwandte und die Treppe hinunterging, war sein Blut wie vereist. Er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Wie eine Eisschicht lag es auch über seinem Gehirn. Aber dann hatte er eine lange Nacht daheim Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Seine Frau, die keifend am Herd gestanden hatte, als er nach Hause kam, überschüttete ihn mit einer Flut von Schimpfworten, weil er so spät kam. Er aß eine Kleinigkeit, und machte dann einen langen Spaziergang, und als er zurückkam, schlief sie schon. Stundenlang lag er wach und dachte über Sheila Gennan nach, über die Frau, die ihn derartig erregte, daß sie ihn nur anzusehen brauchte, um sein Blut in Wallung zu bringen. Dennoch wußte er genau, daß er sie haßte – haßte bis auf den Tod. Und da hatte er sich zu dem Entschluß
durchgerungen, daß er sich von dieser unglücklichen Liebe nur durch den Tod befreien könnte. Durch ihren Tod! Die Tür wurde aufgestoßen, und ohne daß er sich umdrehte, wußte er, daß sie in ihrem Rahmen stand. Er wußte ja, was sie anhatte, denn er hatte sie tagsüber mehrmals unten im Garten gesehen. Sie trug einen weißen Rock mit braunen Karos und eine lichtblaue Bluse. Ihr aschblondes Haar war kurzgeschnitten und unterstrich ihren herben, sportlichen Typ. »Na, McBain, schon Feierabend?« fragte sie. Er erhob sich, schlug die beiden Akten, die vor ihm lagen, zu, schob sie zur Seite, legte den Federhalter in den metallenen Kasten und nickte. »Ja, Feierabend.« »So gut möchte ich es auch mal haben«, spöttelte sie da. Er dachte daran, daß sie auch diesen Satz schon oft zu ihm gesagt hatte. Zum ersten Male damals, als dieser Benny de Soleni, dieser Italiener, sie vernascht hatte. Er hatte die beiden genau beobachtet, als sie sich hinter der Laube getroffen hatten und erst nach anderthalb Stunden zurückkamen. Es war eine warme Sommernacht gewesen vor zwei Jahren. Und dann war dieser Dr. Sevilas gekommen, ein Mann in den Fünfzigern mit grauen Schläfen, nicht eben schlecht aussehend, aber ein Mann, der leicht ihr Vater hätte sein können. Auch er hatte sie besessen. McBain konnte einen Eid darauf leisten. Eines Tages war dann Sir Donald Leicester gekommen,
angeblich ein echter englischer Graf – in Wirklichkeit ein Schnösel, der höchstwahrscheinlich noch jünger war als sie selbst. Sie hatte sich nicht geschämt, unten in der großen Garage im Fond eines der beiden Daimler-Wagen stundenlang mit ihm herumzuknutschen. Auch das wußte McBain ganz genau. Er hatte sich niedergelassen, zog die Schreibtischschublade auf und legte den metallenen Behälter, in dem die Stifte und Federhalter lagen, hinein. Wenn er sie nur nicht hätte ansehen müssen! Jetzt mußte sie hinter ihm stehen. Er spürte es förmlich. Als er unter seinem linken Arm hindurchsah, konnte er ihre Beine sehen. Die dreiundzwanzigjährige Industriellentochter verbreitete für den neununddreißigjährigen Mann einen ungeheuren Sex. Ihre Nähe war so erregend für ihn, daß seine Hände zitterten, als er sich jetzt erhob, um seinen Sommerhut mit dem breiten Sinatraband vom Haken zu nehmen. Das Blut des Mannes, der sich zum Mord entschlossen hatte, hämmerte wild in seinen Schläfen. Jetzt, jetzt mußte sie den Brief sehen! Wenn sie ihn nun nicht sah? Wenn sie nun entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit rasch am Schreibtisch vorbeiging, um im großen, elegant eingerichteten Büro ihres Vaters zu verschwinden? Aber nein, sie mußte den Brief ja finden. Zu offensichtlich lag er in dem roten Briefkorb, und sein
großes Siegel konnte man einfach nicht übersehen, wenn man so neugierig war wie Sheila Gennan. »Oh«, flötete sie da plötzlich, »Mr. von Rotheberg hat geschrieben?« »Ja, er kommt heute«, sagte er, während er sich den Hut aufsetzte. »Heute?« fragte sie, während sie den Umschlag schon an sich nahm und das Schreiben herausholte. Sie faltete es rasch auseinander und überflog es. »Um Himmels willen! Er kommt ja schon um sieben!« »Ja«, sagte er nur, deutete dann eine Verbeugung an und verabschiedete sich. Sie beachtete ihn überhaupt nicht mehr. Sheila Gennan dachte nur daran, daß heute Herr von Rotheberg kommen wollte. Sie wußte gar nicht genau, in welcher Beziehung ihr Vater mit diesem von Rotheberg stand, aber als sie vor einigen Tagen hier bei McBain den Namen zum erstenmal vernommen hatte, war sie plötzlich wie elektrisiert: von Rotheberg. Es war das »von«, auf das sie anbiß. Und wenn es der letzte Gartenzwerg ist, dachte McBain, aber sie wird sich auf jeden Fall zunächst einmal für ihn interessieren. Prompt hatte sie ihn auch, als er den Namen kürzlich erstmals erwähnte, gefragt, ob es ein alter Mann wäre. »Wie soll ich das wissen?« »Aber Sie werden doch mit ihm telefoniert haben?« »Mit der Firma schon, aber mit dem Juniorchef nicht.« »Ah, er ist der Juniorchef?« »Ja.«
Dann konnte er ja auch nicht alt sein! Jedenfalls nicht umwerfend alt. Der Buchhalter stand noch an der Tür und blickte zu ihr hinüber. »Was sehen Sie mich denn so an, McBain? Los, gehen Sie!« Er nickte, verbeugte sich noch einmal und ging. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, beschleunigte er seinen Schritt. Er hatte noch eine Menge zu tun! Sie weidete sich daran, ihn zu reizen, und das sollte ihr Unglück werden. Nachdem McBain das Haus verlassen hatte, bestieg er an der Crocant Avenue den Bus, der ihn zu den Tuboc Plains brachte. Die Tuboc Plains lagen in der Nähe des Mohawk Country Clubs. Mit raschen Schritten ging er an dem grüngestrichenen Drahtzaun entlang, blieb dann zwischen zwei Büschen stehen, blickte sich um, und als er festgestellt hatte, daß der Weg hier leer war, schwang er sich über den Draht. Mit raschen Schritten näherte er sich dem Klubhaus, stieg hinten durch eines der Toilettenfenster und stellte seine Tasche in der Garderobe ab. Es war ein schwüler Tag, der immer noch nicht zu Ende gehen wollte. Auch hier in den niedrigen Räumen des ebenerdigen Hauses herrschte eine drückende Hitze. Alles, was jetzt geschah, hatte der Buchhalter Joseph McBain mit mathematischer Genauigkeit berechnet. Es würde ihm kein Fehler unterlaufen.
Es sollte der perfekte Mord werden. Er setzte sich an einen der Tische in der Damengarderobe, öffnete seine Aktentasche und nahm einen kleinen Flakon heraus, in dem sich ein dunkler Puder befand, den er vorsichtig auf sein Gesicht brachte. Dann nahm er das schwarzhaarige Toupet heraus, prüfte die Klebestellen und setzte es auf. Die vorderste Klebestelle saß genau vor seinem Haaransatz, und die hintere paßte akkurat in die Kahlstelle, die er immer so verzweifelt mit seinem spärlichen Haar zu bedecken suchte. Als er das Haarteil zurechtgekämmt hatte, stellte er fest, daß die Veränderung frappant war. Er war nicht mehr wiederzuerkennen. Es hätte fast der schwarzen Hornbrille mit den starken Bügeln nicht mehr bedurft. Dann nahm er den leichten englischen Blazer heraus, den er sehr sorgfältig zusammengelegt hatte, und blickte auf das gestickte Stoffwappen, das er selbst aufgenäht hatte. Das neue Hemd, die weinrote Strickkrawatte, sie hatten insgesamt ein halbes Monatsgehalt verschlungen, denn sie waren von erstklassiger Qualität. Er packte seine Jacke, das alte Hemd, die Krawatte und die Schuhe in die Tasche zurück, schloß sie ab und schob den Schlüssel in die Tasche. Nachdem er die Spuren seines Aufenthaltes hier sorgfältig verwischt hatte, verließ er das Klubgebäude, kam auch ungesehen vom Gelände herunter und fuhr nach Maywood zum Bahnhof, wo angeblich jener Geschäftsfreund ankommen sollte.
Er hatte alles genau durchkalkuliert. Es wäre niemals möglich gewesen, wenn Mr. Gennan nicht verreist gewesen wäre. Aber da er genau wußte, daß Gennan nicht zurückerwartet werden konnte, da er sich in Paris, also drüben in Europa, aufhielt, konnte er diesen Punkt in seinen Plan einbauen. Der Brief war in San Franzisko abgestempelt. Mit kurzen Worten hatte er darin erwähnt, daß er, also Mr. von Rotheberg, am 13. August eintreffen würde und sich gern am Vormittag des 14. mit Mr. Gennan oder dessen Vertreter treffen würde. Es genügte, daß McBain wenige Tage zuvor ein paar Bemerkungen hatte fallen lassen, die die große europäische Firma von Rotheberg betrafen. Sheila, die sich nie näher für die geschäftlichen Dinge der Firma ihres Vaters interessierte, war, wie er vorausgesehen hatte, nur auf den vornehmen Namen angesprungen. Als der Expreß in die Bahnhofshalle einlief, stand hinter dem zweiten Zeitungskiosk ein Mann von mittlerem Wuchs mit schwarzem dichtem Haar, dunkler Haut und einer schwarzen Hornbrille. Er trug ein rosefarbenes Hemd, eine weinrote Strickkrawatte, einen dunkelblauen englischen Blazer mit einem kunstvollen Wappen und eine Hose in gedecktem Grau, passend zum Blazer. Die schwarzen Schuhe waren erstklassige englische Arbeit. Reisegepäck schien er nicht bei sich zu haben, wenn man von einer großen schwarzen Aktentasche absah. Er hatte den News Chronicle unterm Arm und die Times in der rechten Jackentasche.
Mr. von Rotheberg, alias Joseph McBain, lugte über den Bahnsteig und war plötzlich sehr unruhig, da er die Erwartete nicht entdecken konnte. Wie nun, wenn sie nicht kam? Mit diesem Gedanken hatte er sich noch gar nicht beschäftigt. Er war so felsenfest davon überzeugt, daß in seiner Rechnung kein Fehler entstehen könnte, daß er jetzt plötzlich völlig verdattert war. Er hatte sich eingebildet, ihren Charakter so hundertprozentig zu kennen, daß er fest darauf gebaut hatte, sie würde zum Bahnhof kommen, um den Geschäftsfreund des Vaters in Empfang zu nehmen. Die Waggons spien die Reisenden förmlich auf den Perron, wo sie sich mit den dort Wartenden vermischten. Der Mann, der hinter dem zweiten Kiosk stand, spürte, wie sich unter dem Toupet Schweißperlen bildeten, die drohten, sein raffiniertes Make up zu zerstören. Sie war nirgends zu sehen! Also hatte er sich doch verkalkuliert. Und das war keineswegs unwichtig, denn es gab ja keinen Geschäftspartner der Gennan, der den Namen von Rotheberg trug. Nicht nur, daß er, McBain, heute seinen Plan nicht zur Ausführung bringen konnte – es gab jetzt kein Weiter mehr. Er hatte felsenfest mit einem Abschluß gerechnet. Mit dem Ende. Denn nach dem, was heute seinem Plan zufolge hätte geschehen sollen, wäre auch für ihn alles vorüber gewesen. Jedenfalls, was Sheila Gennan betraf. Er wäre
natürlich wieder ins Büro gegangen, aber er hätte sich bald von der Firma getrennt. Ein Mann, der die Tochter seines Chefs ermordete, konnte schwerlich mit kaltem Blut noch länger in dieser Firma verbleiben. Allerdings hätte er eine gemessene Anstandszeit gewartet, vor allem, um niemandem aufzufallen, aber dann wäre er auf jeden Fall gegangen. Was dann weiter geschehen würde, darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Alles drehte sich bei ihm jetzt einzig um seinen Plan. Um die Tat! Joseph McBain hatte beschlossen, Sheila Gennan zu ermorden. Und jetzt war sie nicht gekommen. Langsam verdünnte sich der Menschenstrom auf dem schmalen Perron. Vielleicht stand sie weiter unten hinter dem nächsten Kiosk? Langsam ging er an den Menschengruppen vorbei, die einander begrüßten, sich umarmten. Er hatte jetzt noch etwa zwanzig Schritte bis zur Sperre, als er sie plötzlich entdeckte. Sie stand nur wenige Yards von der Sperre entfernt, und er mußte zugeben, daß es der einzig richtige Platz war, den Ankommenden nicht zu verpassen. Der angebliche Mr. Rotheberg hatte in seinem Brief kurz erwähnt, daß er sein Reisegepäck schon vorausgeschickt hätte. Als McBain das Mädchen jetzt da vor der Sperre stehen sah, wurde ihm plötzlich bewußt, wie hoch er eigentlich gesetzt hatte. Wie konnte er denn annehmen,
daß Sheila Gennan so sicher auf seinen Plan hereinfallen würde? Wie konnte eine Frau, die nichts, aber auch gar nichts von einem Menschen wußte, der unter Hunderten und einem Bahnperron am Maywood-Bahnhof ankommen würde, wie konnte eine Frau diesen Menschen erkennen? McBain hatte sich darauf verlassen, daß die Neugier der jungen Frau groß genug sein würde, um ihre Intelligenz anzustacheln. Er war davon überzeugt, daß sie aus der Tatsache, daß ein Reisender sein Gepäck vorausschicken würde, schließen konnte, daß er ohne Gepäck, also höchstens mit einer Aktentasche, ankommen würde. Wer aber kam aus einem Fernzug, der seit Des Moines nicht mehr angehalten hatte, nur mit einer Aktentasche? Das konnten kaum allzu viele Leute sein; und um sich noch etwas näher an sie heranzubringen, an ihre Vorstellung von einem Grandseigneur, von einem eleganten Mann, den sie sich unter einem Adligen ja vorzustellen hatte, war er auf den Gedanken mit dem eleganten englischen Blazer und dem selbst aufgenähten Stickwappen verfallen. Und seine Rechnung ging auf. Sheila Gennan hatte ihren Blick auf ihn geheftet. Das war der kritischste Punkt im ganzen Plan. Der Erfinder dieses Plans, der Mörder-Anwärter Joseph McBain, hatte plötzlich das Gefühl, daß sein Plan doch auf nicht ganz so festen Füßen stand. Denn es war ja eigentlich unmöglich, daß Sheila ihn nicht sofort wiedererkennen würde.
Tag für Tag traf sie ihn und mußte doch genau wissen, wie er aussah. Zwar hatte er sich darauf verlassen, daß sie das eben nicht genug wußte, da sie meistens durch ihn hindurchsah, wenn sie ihn mit ihren spöttischen, oft kränkenden Reden bedachte, – aber jetzt, da sie nur wenige Schritte von ihm entfernt stand und ihn mit wachen Augen musterte, verspürte er doch ein höllisch mulmiges Gefühl in der Magengrube. Er durfte sie natürlich nicht ansehen und ging weiter. Fünf Schritte Abstand waren es noch, da setzte sie sich plötzlich in Bewegung, trat auf ihn zu und sagte: »Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht, Mr. von Rotheberg?« Nein! Der kritische Augenblick war noch nicht vorüber. Jetzt, jetzt war er erst da, jetzt, in dieser Sekunde! Jetzt, wo sie vor ihm stand und ihn aufmerksam anblickte. Ja, sie blickte ihn aufmerksam an. Ihre Augen tasteten sein Gesicht ab und glitten an seiner Gestalt hinunter bis zu seinen blanken englischen Schuhen, kamen wieder hinauf und blieben einen Moment an dem Phantasiewappen auf seiner linken Brustseite haften, um dann zu seinem Gesicht zurückzukehren. »Ja«, sagte er und nahm die Aktentasche aus der rechten Hand in die linke. »Ich bin Sheila Gennan«, sagte sie und lächelte. Es war ein bezauberndes Lächeln, das einem durch und durch gehen konnte. Der Teufel soll sie holen, daß sie für einen dreckigen Kerl, der sich eine Perücke aufgesetzt und eine
Brille aufgeschoben hatte, der sein Gesicht getönt und seine tägliche graue Arbeitsmontur gegen den Habitus eines Snobs eingetauscht hatte, daß sie für solch einen Kerl ihr bezauberndstes Lächeln hingab. »Oh«, sagte er nach dem genau einstudierten, erstaunten schwachen Lächeln, »welch eine Überraschung!« »Ja, ich erfuhr zufällig von Ihrer Ankunft, und da mein Vater leider verreist ist, dachte ich, daß es vielleicht richtig wäre, wenn ich Sie abhole.« »Ja – das finde ich ganz reizend von Ihnen«, sagte er mit einem Englisch, das einen ganz kleinen Akzent hatte. Jenen Akzent, den er von den Deutschen gehört hatte, die bei der ersten Firma beschäftigt waren, bei der McBain damals arbeitete. Es war die Gulliam Company gewesen, bei der er als Buchhaltergehilfe sieben Jahre tätig war. In der Firma gab es etliche Deutsche, und er hatte häufig mit ihnen zu tun gehabt. Sheila reichte ihm ihre mit einem weißen Netzhandschuh bedeckte Hand, und er beugte sich charmant darüber, ohne jedoch so unklug zu sein, sie etwa hier in aller Öffentlichkeit mit einem Handkuß zu bedenken. Alles ging nach Plan! Sheila ging an seiner Seite durch die Sperre, wo er geschickt seine Bahnsteigkarte aus der geschlossenen linken Hand durch den Schlitz fallen ließ. In der Bahnhofshalle blieben sie stehen. Sheila sah ihn von der Seite an und meinte:
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist, Mr. von Rotheberg, aber ich möchte Ihnen im Namen meines Vaters«, was fiel ihr ein, eine solche Lüge einem Geschäftspartner ihres Vaters aufzutischen, »anbieten, in unserer Villa Quartier zu nehmen. Wenn Sie allerdings schon ein festes Quartier in der Stadt haben –?« Genau diese Worte hatte er erwartet. Und das einstudierte Lächeln war die Antwort auf ihre Worte. »Aber nein, es ist wirklich sehr nett von Ihnen. Nur – ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann.« »Aber ich bitte Sie! Viele Geschäftspartner meines Vaters wohnen bei uns. Es ist also durchaus üblich.« »Vielen Dank«, versetzte er, denn die Worte, die sie ihm jetzt gesagt hatte, kannte er, hatte er sie doch schon oft genug aus ihrem Mund gehört, allerdings waren sie dann immer zu anderen Leuten gesprochen worden. Wie er vermutet hatte, führte Sheila ihn durch den Haupteingang auf das breite Trottoir, an dessen Rand der große schwarze Bentley stand, das Schmuckstück unter den fünf Wagen der Gennans. Auch der Chauffeur fehlte, was ebenfalls mit seinen Berechnungen übereinstimmte. Sheila ging auf den Wagen zu, deutete dann auf die Tür des Beifahrersitzes, ohne sie zu öffnen, und sagte: »Wenn Sie bitte einsteigen möchten.« »Aber gern«, sagte er, während er den Schlag öffnete, sich in die schwelgenden Polster des englischen Wagens setzte und zusah, wie sie drüben auf den Fahrersitz stieg.
Noch niemals in seinem Leben hatte er in einem dieser englischen Mammutfahrzeuge gesessen. Er mußte sich eingestehen, daß er enttäuscht war. Sheila brachte den Wagen in Gang und steuerte ihn geschickt durch die Straßenschluchten der Millionenstadt an den Westrand Chicagos, nach Itasca, hinaus. Während der Fahrt redete sie ununterbrochen in der ihr eigenen Manier, wobei sie ganz sicher war, einen nachhaltigen Eindruck auf den Gast zu machen. Als sie durch das offene Parktor auf das Anwesen der Gennans fuhren, bekam der maskierte Buchhalter plötzlich einen Schrecken. Vorm Portal stand ein großer deutscher Schäferhund, der mit aufgerichteten Ohren zu dem Fahrzeug hinüberwitterte. Damned! Arrow! Diese Bestie, die ihn nicht ausstehen konnte! Wie kam sie ausgerechnet jetzt hierher. Mehrmals schon hatte er Ärger mit dem Hund gehabt. Jedesmal hatte das Tier ihn wütend angefletscht, wenn er in seine Nähe gekommen war. Seit dem Januartag aber, an dem der Hund ihn plötzlich in einem der Korridore regelrecht angefallen hatte, ließ der Industrielle dafür sorgen, daß der Hund nicht mehr frei herumlief. Und jetzt stand er oben vorm Portal. Vor dem Hauseingang, durch den sie beide hindurch mußten. »Oh«, sagte er, »welch ein hübsches Tier.« »Kommen Sie. Wenn Sie Hunde gern haben, dann können wir…« Der angebliche Mr. von Rotheberg schüttelte rasch den Kopf.
»Nein, ich habe Hunde nicht gern. Ich bewundere zwar gern ein besonderes reinrassiges Tier. Aber ich habe direkt eine Allergie gegen Hunde. Sie würden mir einen Gefallen tun, Miß Gennan, wenn Sie den Hund wegbringen ließen.« Sie sah ihn einen Moment erstaunt an, nickte dann aber lächelnd: »Natürlich. Auf keinen Fall sollen Sie sich über Arrow ärgern. Sie haben recht, er ist tatsächlich etwas eigenartig. Neulich hat er einen unserer Angestellten angefallen. Einen älteren Mann, der für uns Buchaltungsarbeiten erledigt. Ach, wissen Sie, ich glaube, es lag aber an dem Mann selbst. Er hat so ein hilfloses, dummes Benehmen.« Flammender Zorn stieg in McBain auf. Fr krallte beide Hände um die Aktentasche, und als er sie jetzt davon löste, waren feuchte Stellen auf dem schwarzen Leder zu sehen. Sheila, die es bemerkt hatte, deutete es falsch. »Sie sind sicher erschöpft von der Reise und möchten gern ein Bad nehmen.« »Ja, dagegen hätte ich nichts einzuwenden, Miß Gennan.« »Warten Sie bitte einen kleinen Augenblick. Ich werde Arrow wegbringen«, erklärte sie und verließ den Wagen. Er sah ihr nach, wie sie mit ihrem federnden Schritt auf das Haus zuging. Es fiel ihm auf, daß sie jetzt noch stärker mit den Hüften schaukelte, als sie es sonst tat. Das Weib war in ihr erwacht. Sie betonte den
Hüftausschlag ganz besonders, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen. Mit allen Mitteln. Wie lange würde sie noch leben? Hatte ihre letzte Stunde schon begonnen? Bei dieser Gelegenheit lernte er also auch einmal das Badezimmer der Gennans kennen. Er wußte nicht, daß sie drei davon im Hause hatten. Sheila hatte ihn zu dem großen Raum geführt, der mit rosa Kacheln ausgestattet war, hatte eigenhändig das Wasser einlaufen lassen und ihm die Handtücher zurechtgelegt. McBain verzichtete auf das Bad. Er nutzte die Gelegenheit nur, sein Äußeres noch einmal gründlich zu überprüfen. Er ließ eine angemessene Zeit verstreichen, ließ das Wasser dann ablaufen, befeuchtete die Handtücher etwas, zerknüllte sie und hing sie dann wieder auf. Als er in den Korridor trat, sah er Sheila in der halboffenen Tür des Salons stehen. Gedämpfte Musik drang in den Korridor hinaus. Sie trug ein silbernes Abendkleid mit einer lilafarbenen Blume. Ein gewinnendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und sie deutete mit einer freundlichen Geste in den großen Raum. Auch den großen Salon der Gennans hatte der Buchhalter, der das Haus immer nur durch den Lieferanteneingang zu betreten hatte, noch niemals zu Gesicht bekommen.
Der Himmel hatte sich verdüstert, und durch die offene Tür, die zum Park führte, drang schwüle Luft herein. »Es wird Regen geben«, sagte sie. »Das kann nichts schaden nach einem so warmen Tag.« Er nickte nur und nahm dann Platz. Dabei richtete er es so ein, daß er mit dem Rücken zum Licht saß. Sheila setzte sich ihm gegenüber. Es war wenige Minuten nach acht Uhr. Die Frau blickte ihn aus strahlenden Augen an. Wie hübsch sie sich zurechtgemacht hatte! Er, der ihr Gesicht genau kannte, sah es wohl. Sie war eine widerliche, aufdringliche Person, die sich kein Abenteuer entgehen ließ. Aber natürlich mußte es ein besonderer Mann sein, dem sie ihre Gunst zuwandte. Er war gar nicht so sehr davon überzeugt gewesen, daß er bei ihr »ankommen« würde; aber daß sie sich für den Herrn »von Rotheberg« interessieren würde, davon war er felsenfest überzeugt gewesen. Und er hatte sich nicht getäuscht. Daß sie ihn allerdings nicht nur zum Abendessen einladen, sondern ihn sogar in der Villa Gennan Quartier anbieten würde, das hatte er nicht so ohne weiteres für möglich gehalten. Aber es änderte ohnehin nichts an seinem Plan. Denn er war fest entschlossen, sie jetzt zu töten. Da ging sie zu einer kleinen Mahagonitür, die in halber Höhe lag, öffnete sie und McBain sah einen Speiseaufzug dahinter, aus dem sie eine fertige Platte nahm, die sie zum Tisch brachte.
Sieh einer an! Dieses raffinierte Luder! Hatte sie also schon eine richtige Platte für zwei Personen fertigmachen lassen. Appetitliche Schnitten mit Lachs, Eiern, Roastbeef, Hummer und dergleichen. Dazu gab es Weißwein aus Deutschland. In einer kleinen Miniatureisbox standen frische Erdbeeren unter Eiswürfeln. So lebte man also, wenn man die Gunst der schönen Sheila Gennan genoß. McBain hätte noch vor Stunden bei dem Gedanken an das, was er vorhatte, keinen Bissen durch die Kehle gebracht. Schon seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr gegessen. Aber als sie ihn jetzt aufforderte, zuzugreifen, da ließ er sich nicht lange nötigen. Sie saßen fast eine Dreiviertelstunde beim Essen und unterhielten sich dabei. Da er das Gespräch natürlich auf die geschäftlichen Dinge brachte, konnte er zum ersten Male feststellen, wie wenig sie eigentlich von den Geschäften ihres Vaters wußte, und vor allem, wie wenig sie davon verstand. Sie schweifte immer wieder ab auf private Dinge, auf ihre Hobbies, wie ihre beiden Sportwagen, wie Tennis und Reiten. Alles Dinge, die fernab von der Welt des Joseph McBain lagen. Er hatte nur ein Glas Wein getrunken und mußte sich jetzt ein zweites aufnötigen lassen. Sheila hatte bereits das dritte Glas geleert, und es schien ihr absolut nichts auszumachen. Nun ja, wenn man öfter Wein trank, dann schien es einen wenig zu beeinflussen. McBain hingegen spürte schon das erste
Glas. Vorsichtig nippte er jetzt wieder und setzte es dann ab. Jetzt mußte es geschehen. Die große Uhr überm Kamin zeigte neun Minuten vor neun. Wie wollte er es anfangen? Nächtelang hatte er wach in einem Bett neben der ungeliebten Frau gelegen, die ihn betrog, und darüber nachgegrübelt, wie es anzufangen sei. Aber die vielen Klippen, die vor diesem Anfang standen, bedrängten ihn so sehr, daß er sich über das Wie der Tat keine präziseren Gedanken mehr gemacht hatte. Denn eigentlich war er doch gar nicht so davon überzeugt gewesen, daß alles so klappen könnte, wie es tatsächlich geklappt hatte. Aber die Stufen waren genommen. Jetzt stand er vor dem Wie. Er konnte doch nicht einfach aufstehen, um den Tisch herumgehen, sich über sie beugen, um ihr die Kehle zuzudrücken. Weshalb eigentlich nicht? Das war es doch, was zu geschehen hatte. Ob es nun auf der Couch geschah, in ihrem Schlafzimmer oder in einem verborgenen Winkel des Gartens, zum Beispiel hinten in dem chinesischen Häuschen, oder hier im Salon an der Tafel. War das nicht einerlei? Er schluckte, krampfte die Hände um die geschnitzten Lehnen des Stuhls und beugte sich nach vorn. Er wollte sich erheben.
Da stand sie auf, ging bis in die Mitte des Raumes und blieb genau auf dem Stern in der Mitte des großen Perserteppichs stehen. »Wollen wir nach nebenan ins Rauchzimmer gehen? Da ist’s gemütlicher.« »Selbstverständlich, wie Sie wünschen«, sagte er, erhob sich, deutete eine Verbeugung an, wie es einem deutschen Adligen ja wohl zukam, folgte ihr dann auf die Portiere in einen Raum, der rechts und links mit Bücherwänden besetzt war. Dann öffnete sie eine große Mahagonitür, die zum Rauchzimmer führte. Auch diesen Raum hatte der kleine Buchhalter McBain noch nie betreten. Wer hätte sich träumen lassen, daß es in diesem Haus solche prunkvollen Gemächer gab. Dieser Rauchsalon war einfach traumhaft ausgestattet. Indirektes Licht beleuchtete eine mit einer irrsinnigen Stuckarbeit versehene Decke. Die Wände waren mit Tapeten aus dunkelroter Atlasseide bedeckt und wurden von antiken Gemälden geschmückt, die aus einem Museum hätten stammen können. Um einen niedrigen Rauchtisch, dessen Platte aus schwarzem Glas war, standen mehrere überdimensionale schwarze Ledersessel. An der einen Seite stand eine große schwarzlederne Couch. Der dicke purpurrote Afghan schluckte offenbar jedes Geräusch. Sheila nahm auf der Couch Platz und griff nach der Zigarettendose, drückte dann auf einen Knopf, worauf sich die Tischplatte drehte und eine Bar zum Vorschein kam. Dieser blendende Luxus irritierte ihn etwas.
Die Frau bot ihm einen Whisky an. Er nickte und nippte nur an dem Getränk, während sie es mit einem Schluck leerte. Sie saß weit zurückgelehnt auf der Couch, rauchte, hatte die wohlgeformten Beine übereinandergeschlagen und spürte förmlich, daß er sie mit den Augen verschlang. Wie oft hatte er sich nach ihr gesehnt – nach einer Stunde wie dieser. Er hätte sich schon damit zufriedengegeben, hier sitzen zu dürfen und sie anzusehen. Das wäre ihm schon Glück genug gewesen. Mußte ein Mensch denn nicht dankbar sein, ein Mann in seinen Jahren, eine solche Frau allein bei sich zu haben, sie anschauen zu dürfen? Und sie hatte ihn mit kaltem Spott bedacht, hatte sich immer nur an seiner Verwirrtheit geweidet. Dafür würde sie jetzt büßen müssen. Jetzt, hier in dieser Stunde und in diesem Raum. Aber es sollte auch nicht dieser Raum sein, in dem Sheila Gennan starb. McBain war fest entschlossen, die Tat jetzt auszuführen. Er beugte sich etwas vor, nippte noch einmal an seinem Whisky und hatte Mühe, den Blick von der Frau loszureißen. Da sagte sie zu seinem eisigen Entsetzen: »Wissen Sie, daß Sie mich an irgend jemanden erinnern?«
Er zog die Schultern hoch, schüttelte dann den Kopf und entgegnete, während er mit einer unsicheren Geste nach seiner Brille griff: »Das hat man häufig. Ich habe ja gerade auf der Fahrt von San Franzisko hierher kurz vor Des Moines eine Dame gesehen, von der ich felsenfest überzeugt war, daß ich sie kannte. Vor allem ihre Stimme schien mir bekannt zu sein, ihr Äußeres natürlich auch; aber als ich sie dann ansprach, lächelte sie bedauernd, und sie war tatsächlich auch nicht jene Bekannte, mit der ich sie verwechselt hatte.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß nicht, an wen, aber Sie erinnern mich an jemanden. Ich könnte seinen Namen nicht nennen, aber irgend etwas an Ihnen erinnert mich an einen Menschen, den ich kennen muß.« Es brannte dem zum Mord Entschlossenen unter den Nägeln. Er durfte jetzt keine Zeit mehr verstreichen lassen. Da goß die Frau noch einen Drink ein und hielt ihm auch die Flasche hin. Er aber schüttelte den Kopf. Ich bin ja verrückt, dachte er sich da, weshalb soll ich mir nicht auch noch einen Drink genehmigen? Ich brauche ihn, um die Nerven zu beruhigen. – Aber andererseits hatte er sich fest vorgenommen, nichts zu trinken, denn der Alkohol erhöht jegliches Wollen und vermindert jegliches Können; vor allen Dingen raubt er einem die klare Kontrolle über die Handlungen, die man vornimmt. Und
ein Mann, der die Kontrolle über sich verliert, ist selbst schon halb verloren. Während er ihr das Gesicht jetzt voll zuwandte und in ihre Augen blickte, dachte er: Was würdest du wohl sagen, wenn du wüßtest, daß es dein letzter Tag ist? Deine letzte Stunde? Sheila sprach ununterbrochen. Der Alkohol hatte ihr die Zunge gelöst. War sie vorhin noch eine Spur gehemmt, so war das jetzt alles von ihr abgefallen. Sie redete wie ein Wasserfall, und er mußte sich eingestehen, daß sie ihm plötzlich gar nicht mehr so gut gefiel wie bisher, wo sie ihn nur mit ihrem Spott bedacht, sich an seiner Unbeholfenheit geweidet hatte. Zum Teufel! Er vermochte ihren Blick nicht auszuhalten. Er wandte den Kopf zur Seite und entdeckte einen großen Schwarzschimmernden Flügel, der drüben vorm Fenster stand. Er erhob sich, ging darauf zu und hob den Deckel von der Tastatur. Seine Finger glitten spielerisch über die Tasten. »Oh, Sie spielen Klavier? Wie wundervoll! Ich kann es leider nicht.« »Wirklich nicht?« fragte er und blickte über die Schulter zu ihr zurück. »Nein, ich hätte es lernen sollen. Meine Mutter hatte sogar ein paarmal einen Klavierlehrer hier, aber ich hatte keine Lust dazu. Wissen Sie, ich war mehr wie ein kleiner Junge. Pa sagt überhaupt immer, ich wäre sein Sohn. An mir ist ein richtiger Junge verlorengegangen. – Ach, bitte, spielen Sie doch etwas.«
Er blieb vor dem Instrument stehen und schlug ein paar Akkorde an. Dann schloß er den Deckel wieder. Das Geräusch war etwas zu hart gewesen und stand wie ein Hammerschlag im Raum. Es war still. McBain wagte nicht, sich umzudrehen. Hatte das Zuklappen des Deckels sie erschreckt? Jedenfalls sagte sie nichts. Es war wie ein Auftakt gewesen zu dem, was er jetzt vorhatte. Langsam ging er zum Tisch zurück, hielt auf die Couch zu, blieb dann aber doch vor seinem Sessel stehen. »Setzen Sie sich ruhig hierher. Von hier ist der Blick schöner in den Park«, sagte sie und deutete auf die Couch. Langsam machte er drei Schritte vorwärts und ließ sich dann ganz vorn auf der Kante des hartgepolsterten Möbels nieder. Sein Blick ruhte auf dem großen rauchdunklen Aschbecher, in dem ihre Zigarette verglimmte. Dann sah er, ohne den Blick nach links zu nehmen, ihre Hand, die auf dem stumpfen schwarzen Leder der Couch lag. Ihre wohlgeformte, feinziselierte Hand mit den langen, schmalen Fingern und den überlangen gepflegten Nägeln. Das schwere goldene Armband war ihr übers Gelenk gerutscht und warf einen matten Goldschimmer auf die elfenbeinfarbene Haut. Wie oft hatte er sich danach gesehnt, diese Hand anfassen zu dürfen, nur einmal anfassen zu dürfen. Geschweige denn, von ihr angefaßt zu werden…
Da hob sich die Hand und lag plötzlich auf der seinen, die er links neben seinem Knie aufgestützt hatte. Da blieb sie nicht, sondern glitt auf seinen Oberschenkel, auf die mausgraue leichte Flanellhose. Ein Feuerstrahl zuckte durch seinen Körper. Glut schien ihre Hand auszuströmen. Ruhig blieb sie da liegen, bewegte sich jetzt etwas vorwärts und hielt dann wieder inne. »Weshalb sagen Sie nichts, Mr. von Rotheberg?« Er schluckte. Ein Kloß saß in seiner Kehle. Zum Teufel, weshalb fiel ihm denn nichts ein? Er mußte irgend etwas sagen. Aber weshalb denn? War er denn hergekommen, um etwas zu sagen? War er nicht gekommen, um sie zu erwürgen? Um dieses wertlose Leben auszulöschen, um Rache zu nehmen für die vielen qualvollen Stunden, die sie ihm bereitet hatte? Für die schlaflosen Nächte, die er ihretwegen durchgemacht hatte! Sie war näher gerutscht, und er spürte ihr rechtes Knie neben seinem Oberschenkel. Wieder durchzuckte ihn der Feuerstrahl, und auch die Hand lag noch auf seinem Oberschenkel. »Ich glaube, ich sollte uns etwas Musik machen«, sagte sie und erhob sich. Aber sie ging nicht weg, sondern blieb neben ihm stehen. Ihre Taille und ihre wohlgeformte Brüste, die in dem raffiniert geschnittenen Argentakleid eine frappierende Wirkung hatte, war in sein Gesichtsfeld geraten.
Ja, Musik, das war das, was er noch brauchte. Die Musik mußte ihr Schreien übertönen. Erst nach Sekunden setzte sie sich in Bewegung, ging an seinem Sessel vorbei auf die Musiktruhe zu. Eine leise melancholische Weise erfüllte den Raum. Singende Geigen, die zu weinen schienen, und im Hintergrund dunkle Baßtöne, die den Raum zum Vibrieren zu bringen schienen. Sheila war nicht zurückgekommen. Als er den Blick zur Seite nahm, sah er, daß sie in einer Tapetentür stand. »Kommen Sie mit? Ich zeige Ihnen mein Zimmer.« Dafür hätte er sie schlagen mögen – mit der offenen Hand ins Gesicht – mitten hinein – einmal, fünfmal, hundertmal! Sie war eine Hure! Wie von magnetischer Kraft gezogen, erhob er sich und folgte ihr. Sie war in der Tapetentür stehengeblieben, und als er vorbei wollte, spürte er ihre Brust an seinem Arm. Wie ein elektrischer Schlag war das. Rasch ging er weiter, stand in einem mit aufdringlichem Blumenmuster tapezierten Vorraum und sah dann ein Zimmer vor sich, das mit einem Pomp ausgestattet war, der einen hätte ersticken können. Ein großes französisches Bett mit einer lila Steppdecke, die es vollkommen bedeckte, darüber; nur an der Rückwand gehalten: ein Baldachin, ebenfalls lilafarben. Die Tapeten waren in einem matten Teegelb gehalten. Plüsch, Plüsch und noch einmal Plüsch, wohin man blickte. Tatsächlich,
die Tapeten waren aus Seide, wie er jetzt feststellen konnte. Da war Sheila hinter ihn getreten, sah, daß er am Fenster stand und versuchte, durch die lilafarbenen Gardinen in den Park hinauszublicken. »Es regnet schon«, sagte er mit einer Stimme, die ihm selbst so fremd vorkam wie die eines Menschen, den er nicht kannte. Da spürte er ihre Hände auf seinen Schultern. Sie sagte etwas Albernes von einem schönen Rücken, der auch entzücken kann – oder etwas Ähnliches. Er hörte es kaum, denn in seinen Ohren war ein Rauschen und Brausen. Da zog sie ihn zu sich herum. Erst jetzt stellte er fest, daß sie fast so groß war wie er selbst. Er sah in ihre Augen, und der Rausch, der in ihm aufgestiegen war, schwand sofort, als sie ihren Kopf etwas zurücknahm und die feingeschwungenen Brauen zusammenzog, so daß eine winzige, aber sehr scharfe Falte entstand, die sich bis in ihre Stirnmitte zog. Sie hat mich erkannt! zuckte es durch sein Hirn. Da griff er zu, legte die Linke hinter ihren Kopf, die Rechte um ihre Hüfte, und zog sie rasch an sich. Es war der glühendste Kuß, den Joseph McBain jemals gekostet hatte, und er schien nicht enden zu wollen. Als sich Sheila endlich von ihm freigemacht hatte, taumelte sie ein paar Schritte zurück – in Richtung auf das große französische Bett zu, sank auf dessen Ende nieder – stürzte sich rückwärts mit den Ellbogen auf.
Es war mehr als eine Herausforderung, wie sie jetzt dasaß! Das Lächeln, das sie auf ihr erhitztes Gesicht zauberte, jagte ihm erneut einen Feuerstrom durch die Brust. Mit schwerfälligen Schritten kam er auf sie zu, blieb vor ihr stehen, blickte auf sie nieder. »Komm«, sagte sie, »weshalb so schüchtern? Ich habe gehört, daß die deutschen Barone gar nicht so schüchtern sein sollen.« Da beugte er sich über sie – und wieder war diese scharfe Falte zwischen ihren Brauen! Wieder erstickte er ihr Erinnerungsvermögen mit einem glühenden Kuß. Und mit diesem Kuß schien er ein Inferno entzündet zu haben. Die Frau riß ihn zu sich nieder und verschmolz im Kuß mit ihm. Plötzlich hatte sie seine Hände an der Kehle, nervige Männerhände, deren Daumen sich vorn an ihre Gurgel drückten. Sie bemerkte es nicht einmal gleich, so sehr hatte sie sich in ihrer Leidenschaft vergessen. Dann aber, als sie es spürte und aufschreien wollte, da war es schon zu spät. Der Mann hatte sich aufgerichtet, preßte das rechte Knie über ihre Oberschenkel und die Ellbogen auf ihre Arme. Sie hatte nicht die mindeste Chance. Und in ihren Augen stand plötzlich flammender Schreck. Sofort ließ er los und wich zurück.
Da richtete sie sich auf, die scharfe Falte zwischen ihren Brauen verschwand, und keuchend stieß sie hervor: »Sie sind aber leidenschaftlich!« Jetzt kommt ihr Spott! blitzte es durch sein Hirn. Und schon kräuselte der Hohn ihre Lippen. »Na, das Strohfeuer ist wohl schon verpufft, was?« »Sie erinnern mich an Lady Vanderbilt«, sagte er mit belegter Stimme. »An Lady Vanderbilt –?« Sie legte den Kopf etwas auf die Seite und blickte ihn fragend an. »Ich war mit ihr in St. Moritz, das heißt, ich habe sie da kennengelernt. Sie war eine phantastische Frau.« Das war ein Satz aus seinem Plan. Er hatte ihn eigentlich sehr viel früher anbringen wollen, schon beim Essen oder kurz danach. Er paßte jetzt überhaupt nicht mehr hierher. »Was ist eigentlich mit Ihnen los? Sie sind so merkwürdig, und ich möchte schwören, daß Sie mich an irgend jemanden erinnern. Wenn ich bloß wüßte, an wen. Warten Sie –« Da beugte er sich mit einem Ruck über sie, bedeckte ihren Mund mit einem Kuß, und wieder waren seine Hände an ihrer Kehle. Ihre Augen waren schreckgeweitet. Da nahm er den Kopf etwas höher und hechelte: »Bei euch ist doch ein Mann namens McBain beschäftigt, nicht wahr?« Sie nickte und griff nach seinen Handgelenken.
»Was ist das für ein Mann?« »McBain – wie kommen Sie denn jetzt auf den? Das ist ein ganz gewöhnlicher Kerl. Woher kennen Sie ihn?« »Aus der Korrespondenz natürlich. Mir schien, daß es ein tüchtiger Mann ist.« »McBaine –«, und dann gellte es wie ein Schrei von ihren Lippen: »McBain!!« Aber es war zu spät. Wie ein Schraubstock spannten sich die Hände des Mannes um ihre Kehle – und diesmal gaben sie nicht mehr nach. Erst als ihr Kopf zur Seite fiel, riß er die Hände zurück, stand auf, starrte auf sie nieder und machte ein paar hastige Schritte zurück zur Tür. Seine Lippen kräuselten sich, und dann kamen die Worte hervor, die wieder von einem fremden Menschen gesprochen zu sein schienen: »Ein ganz gewöhnlicher Kerl!« Ungesehen gelang es ihm aus dem Haus zu kommen. Er blieb auf der Irving-Park-Street und ging bis zum Itasca Country Club, wo er sich in den Anlagen, genau an der Stelle, die er vorher dazu ausgesucht hatte, hinter einer Bedürfnisanstalt in fliegender Hast umkleidete. Er nahm die beiden schweren Steine, die er da bereitliegen hatte, und wickelte Blazer, die Hose, das Hemd wie auch die Krawatte darum, stopfte das Toupet hinein, zog die bereitgehaltene Schürze heraus und nahm dann das handliche Bündel, um es am Salt Creek, der etwa fünfhundert Yards entfernt lag, zu versenken. Auch die Stelle, wo er das Kleiderbündel versenkte, hatte er genau ausgesucht.
Der Regen kam ihm zustatten; war er doch auf dem ganzen Weg bis hierher nicht einem einzigen Menschen begegnet. Auch ein Punkt, den er in seinem großen Plan nicht genug bedacht hatte, wie ihm jetzt erst mit Schrecken zu Bewußtsein kam. Nur ein einziger Mensch hätte ihn zu sehen brauchen, und alles wäre in Frage gestellt gewesen. Man würde sich an den Mann im dunklen Blazer erinnern können, der gegen Viertel vor zehn die Irving-Park-Street hinuntergekommen war. Aber das brauchte er ja nun nicht zu befürchten. Als McBain in der Lyndale Avenue ankam, und vor dem grauen Mietshaus stand, in dessen vierter Etage er seit dreizehn Jahren wohnte, überkam ihn plötzlich das Grauen. Er starrte auf den düsteren Eingang, flüsterte einen Fluch vor sich hin und schrak dann zusammen, da ihm aus dem Dunkel des Korridors ein Geräusch entgegengekommen war. Ein Paar stand da engumschlungen, und der Mann mühte sich, seinen Kopf so vor den des Mädchens zu bringen, daß man beide nicht erkennen konnte. Diese verdammte Haustürknutscherei! Wie er das haßte! Aber es war eigentlich kein Hassen, sondern immer mehr ein Beneiden gewesen. Daß sie sich ausgerechnet dazu hier diesen Hauseingang suchten, wo es in Chicago doch einige Hunderttausend, ja, vielleicht eine Million Hauseingänge gab! Oft hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn er mit Sheila hier stünde, um sich von ihr zu verabschieden, wenn sie ihn bis hierher begleitet hätte. Sheila…!
Sie lag jetzt drüben in Itasca in ihrem lilafarbenen Schlafzimmer mit den teegelben Tapeten auf ihrem französischen Bett. Erdrosselt! Langsam stieg er die Treppe hinauf, öffnete die Wohnungstür, die altbekannte und ebenso gehaßte Geruchsmischung von schalem Kaffee, Kochdunst, Bohnerwachs und Mottenpulver schlug ihm in einer Wolke entgegen. Er atmete schwer, ging auf die Küchentür zu, stellte die leere Aktentasche auf einen Stuhl und blickte uninteressiert auf den Zettel, den seine Frau ihm da hingelegt hatte. Er fand in letzter Zeit öfter diese Zettel, die ihm sagen sollten, daß sie im Kino wäre, bei ihrer Freundin Rosalie oder sonst irgendwo. Seit einiger Zeit schob sie sogar ihre alte Tante unten in Bloomfield vor, eine neunzigjährige Frau, die sie seit sechs Jahren nicht mehr besucht hatte. Er wußte genau, wo sie war. Mit finsterem Gesicht stand er an dem schmalen Küchenfenster und blickte in den düsteren Hof. Der Regen war stärker geworden, und der Himmel hatte sich bleigrau bezogen. Normalerweise wäre es jetzt erst allmählich dunkel geworden, aber die Regenwolken hatten den Himmel schon seit einer Stunde überzogen. McBain legte die linke Hand um den Fenstergriff, zog es hoch und kletterte hinaus auf die Feuerleiter. Langsam Stufe für Stufe nehmend, stieg er hinunter. Er mußte sich dabei bemühen, möglichst jedes Geräusch
zu vermeiden, denn die metallene Leiter trug das Geräusch an der ganzen Hauswand entlang. Als er bis in die Höhe des Oberlichtes der unter ihm liegenden Wohnung kam, hielt er inne. Die dünnen Vorhänge waren zugezogen, und dennoch konnte er in den Küchenraum sehen, den er genau kannte. Jeden Gegenstand kannte er da. Henry Ferguson war seit zehn Jahren eng mit ihm befreundet. Seine Frau, Mad, eine hübsche Blondine, hatte ein Nervenleiden und hielt sich nun schon eine ganze Weile in Colorado bei ihren Eltern auf. Ferguson, ein Uhrmacher, der drüben in der Western Avenue in einer Fabrik beschäftigt war, war ein Mann von dreiundvierzig Jahren, mittelgroß, mit kahlem Schädel, vitalem Gesicht und großen dunkelblauen Augen. Er war ein prächtiger Bursche, mit dem man Pferde stehlen konnte. Daß er einem aber jetzt die Frau stahl, ging doch zu weit. Wie gesagt: McBain kannte jeden Gegenstand in der Küche der Fergusons. Was aber schlimmer war, war die Tatsache, daß er jetzt jeden Gegenstand deutlich durch die dünnen Vorhänge erkennen konnte. Vor allem das Menschenpaar auf der Couch neben dem Tisch, auf dem noch das Abendgeschirr stand. Er brauchte gar nicht zweimal hinzusehen, um Gloria und Henry zu erkennen, die da in heftigster Umarmung lagen. Eine Flasche Bier stand auf dem Tisch. Reste von Konservenfisch, Brot, Margarine und eine Kaffeetasse.
Daß die Weintrauben noch in der Tüte auf dem Tisch lagen, war auch typisch für sie. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Mann auf die Szene, dann wandte er sich angewidert ab. Lautlos hatte er seinen Weg zurück in die Wohnung genommen, war durchs Küchenfenster gestiegen und schloß es hinter sich. Er stand eine ganze Weile schweigend in der Toilette und starrte in den Spiegel, aus dem ihm ein Gesicht entgegenstarrte, das ihm fremd war. Auch wurde es durch die Puderreste, die er nicht ganz entfernt hatte, noch entstellt. Er wischte sie mit Toilettenpapier weg, spülte hinunter und ging dann hinüber ins Schlafzimmer. Ohne sich die Mühe zu machen, sich völlig auszukleiden, legte er sich hin und zog die Decke über sich. Er lag noch keine zehn Minuten, als er die Wohnungstür gehen hörte. Nanu, hatte sie sich so schnell von ihm lösen können? Und dann fiel es ihm ein: sie hatte die Toilette rauschen hören. Und da sie jedes Geräusch im Haus kannte, hatte sie daraus schließen können, daß ihr Mann nach Hause gekommen war. In Windeseile entkleidete sie sich im Korridor, nahm die Kleidungsstücke auf den linken Arm und kam ins Schlafzimmer. »Na, bist du schon da? Welch ein Wunder, daß du einmal früh kommst.« Sie warf ihre Sachen auf einen abgeschabten Sessel, öffnete das Fenster etwas und seufzte, während sie sich ihrer Unterwäsche entledigte:
»Ich war bei Rosali. Sie wird auch immer langweiliger. Ich glaube, ich sollte mir eine andere Freundin zulegen.« Als er schweigend verharrte, sagte sie: »Du könntest einem gern auch hin und wieder eine Antwort geben.« »Was soll ich denn sagen?« »Vielleicht mal: Guten Abend!« »Das könntest du auch sagen.« »Na, erlaube mal, wie komme ich denn dazu? Was fällt dir überhaupt ein?« Keine Frage, ob er gegessen hatte, ob der Tag schwer gewesen war, ob er wieder sehr unter der Hitze gelitten hätte – all dies interessierte sie nicht mehr. Sie war gleichgültig geworden. Sie lebte ihr Leben, in dem Henry Ferguson auch nur die Rolle des Mannes spielte, der eine ihrer Lüste befriedigte. Nichts weiter. Er hatte damit lediglich eine Funktion eingenommen, die sie ihrem Mann abgesprochen hatte. McBain ertappte sich bei dem Gedanken, daß er Henry dafür dankbar sein müßte, denn sie ekelte ihn schon seit langem an. Wahrscheinlich betrog sie ihn jetzt auch nicht zum ersten Male. Denn die unverschämte Selbstsicherheit, mit der sie diesen Betrug fortsetzte, deutete darauf hin, daß es ihr absolut nichts Neues war. In Gedanken ging er die vergangen Jahre durch, und da tauchten eine ganze Reihe Männer auf, die eine Rolle im Leben seiner Frau gespielt haben konnten. Zum Beispiel Jacob Erly, diesen Elektriker, den sie auf einer
Silvesterfeier in Hammond kennengelernt hatten. Oder Gil Skeney, dieser hagere Mann unten aus der Drogerie den sie ein paarmal eingeladen hatte. Wahrscheinlich war es dann nicht mehr glattgegangen, weil möglicherweise seine Frau dahintergekommen war. Und dann dieser kaum erwachsene, aufdringliche Bursche, der das Wohnzimmer neu tapeziert hatte. Mochte der Teufel wissen, wo sie ihn aufgetan hatte; eines Tages brachte sie ihn mit nach Hause und sagte: »Der Mann macht es uns fürs halbe Geld. Das Tapezieren ist heute so furchtbar teuer.« Und er war ahnungslos gewesen, all die Zeit über. Wahrscheinlich hatte sie ihn auch drüben in Sulphur betrogen, in dem kleinen Bergnest Colorados, wo sie vor drei Jahren einmal zur Erholung gewesen waren. Für fünf Wochen. Er hatte sich das Geld dafür bitter zusammensparen müssen. Nach den langen Spaziermärschen, die er tagsüber gemacht hatte und wobei sie ihn nur selten begleitete, fiel er abends meist wie tot ins Bett. Sie kam dann immer erst sehr spät und erzählte ihm, daß es unten im Gesellschaftsraum »sehr nett« gewesen sei. Wenn er jetzt genauer über diese Zeit nachdachte, tauchte vor ihm das braungebrannte Gesicht eines korpulenten Fünfzigers auf, der ebenfalls aus Chicago stammte und hier eine Schlachterei hatte. Jäh wurden diese Gedanken von einem Hustenanfall Glorias unterbrochen. Sie saß auf der Bettkante, und der Husten schüttelte ihren Körper. McBain wandte den Kopf zu ihr, richtete sich dann auf den rechten Ellbogen auf und fragte:
»Was hast du denn?« »Was soll ich denn schon haben? Das siehst du doch. Ich komme in diesem elenden Loch noch um. Es ist hier richtig feucht. Ferguson sagt es auch.« »Wann sagte er es?« »Als er hier war.« »Wann war er hier?« »Na, neulich, du weißt doch.« »Ich weiß es nicht. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann er zum letzten Mal hier war.« »Na, vor zwei Wochen.« »Das ist schon ziemlich lange her.« »Na ja, jedenfalls sagte er es.« »Wie geht’s ihm?« »Das weiß ich doch nicht.« »Hast du ihn inzwischen nicht wieder gesehen?« »Natürlich nicht.« »Aha.« Er legte sich zurück und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er den matten, wandernden Strahl eines Autoscheinwerfers, der an der vergilbten Decke entlangzog. Gloria hatte ihr quäkendes Radiogerät eingeschaltet, dessen Skala ihr Gesicht matt beleuchtete. McBain, der auf der rechten Seite lag, sah ihr Gesicht und dachte, daß es im Profil immer noch recht hübsch aussah, wenn sie auch ein Doppelkinn bekommen hatte und ihr Hals nicht mehr ganz die hübsche Linie wie früher hatte. Schwer lag ihre Brust in ihrem zu engen
Nachthemd. Sie spitzte jetzt die Lippen und versuchte sehr unbegabt und wenig melodiös den Schlager mitzupfeifen, der da eben mit viel Aufwand musiziert wurde. Wie er diese nächtliche Radiomusik haßte! Aber Gloria hatte sich nie etwas daraus gemacht, obgleich sie wußte, daß er dann nicht einschlafen konnte. Sie legte sich zurück und trällerte den Schlager weiter. Und plötzlich spürte er, wie Alkoholdunst von ihr zu ihm hinüberwehte. Sie hatte also getrunken. Tatsächlich, es roch nach Bier und Schnaps. Da wandte sie sich auf einmal nach links, stützte sich auf den Ellbogen auf und blickte ihn an: »He, du – was ist mit dir?« Er schwieg. Das half meistens. Er mußte nur beharrlich genug schweigen. »Weshalb sagst du nichts?« »Ich schlafe.« »Red doch keinen Unsinn! Du solltest dich lieber mit mir beschäftigen.« »Ach, auf einmal?« »Na klar«, sagte sie und rutschte zu ihm hinüber. Als er ihren schwammigen Körper neben sich spürte, widerte sie ihn mehr denn je an. Da kam sie von einem anderen Mann, mit dem sie ihn betrogen hatte, und suchte hier an seiner Seite Zärtlichkeiten. Das war der Gipfel!
Vielleicht hatte er sie mit der Wasserspülung der Toilette zu früh gestört. Möglicherweise war sie nicht ganz auf ihre Kosten gekommen und suchte den Rest jetzt hier bei ihm. Mit einem Ruck erhob er sich und ging hinaus. Wieder stand er drüben in der Toilette und starrte in den Spiegel. Plötzlich fiel all das, was er da im Schlafzimmer hinter sich gelassen hatte, von ihm ab. Seine Gedanken flogen hinüber über die Straßenschluchten bis zu jenem Villenvorort am Westrand der Stadt, wo unten in einem lilagelben Schlafgemach auf einem französischen Bett eine erdrosselte Frau lag. »Ich bin ein Mörder.« Das Gesicht, das ihm aus dem schmierigen Spiegel entgegenstarrte, war verzerrt und hohlwangig. »Ich habe eine Frau ermordet…« Er ging zurück ins Schlafzimmer und sah, daß Gloria sich in ihr Bett gelegt hatte und tatsächlich schon schnarchte. Stundenlang lag er wach auf seinem Lager und starrte an die Decke, zählte die Autoscheinwerfer, die dort entlanghuschten – wie die Sonne, die am Morgen aufging, den Tag über strahlte, um am Abend wieder zu versinken. War so nicht das ganze Leben, das heraufkam, hoffnungsvoll aufzog, in den Zenit stieg und allzu rasch verlosch? Doch, so war das Leben, genauso! Das Leben, zu dem Gloria gehörte – und Sheila Gennan. Jene Frau, die nicht mehr atmete… *
Am folgenden Morgen stand er genau um die gleiche Zeit auf wie sonst auch, ging hinüber ins Bad, rasierte sich sorgfältig, duschte sich, zog frische Unterwäsche an, ein malvenfarbenes Hemd und eine jener blau-weiß-rot gestreiften Krawatten, die jetzt modern waren. Als er die Küchentür öffnete, da sah er Gloria am Gasherd stehen. Sie trug ihren alten, verschlissenen Morgenrock, und ihr Haar war ungekämmt – wie jeden Morgen, sie hatte ein blasses Gesicht, und die Mundwinkel waren nach unten gezogen. »Guten Morgen«, sagte er. Sie erwiderte den Gruß nur mürrisch, nahm den Kaffee vom Herd und goß seine Tasse so voll, daß sie überlief – wie jeden Morgen. Er trank nur ein paar Schluck, aß ein Brötchen und stand dann auf. »Also – ich gehe dann.« Sie nickte nur. Als er in der Haustür war, blieb er noch einmal stehen. Ob Ferguson jetzt hinaufkam, wenn er das Haus verließ? Er war schon unten an der nächsten Straßenecke auf dem Weg zur Busstation, als er plötzlich kehrtmachte und zurückkam. Als er die Wohnungstür aufschloß, sah er sie am Küchentisch sitzen. Sie hatte ihren Kopf in beide Hände gestützt und starrte ihn verblüfft an. Vor ihr stand die Kaffeetasse und ein angebissenes Brötchen. »Hast du was vergessen?« »Ja«, sagte er, wandte sich dann um und ging hinaus.
Als er in der Irving-Park Street den Bus verließ und sich dem Anwesen der Gennans näherte, wurde sein Schritt langsamer und langsamer. Damned! Ich darf nicht noch langsamer gehen, sonst komme ich zu spät, und das fällt auf, denn ich bin noch niemals zu spät gekommen. Er beschleunigte also seinen Schritt wieder und kam pünktlich wie jeden Morgen am Tor an. Betätigte die Klingel, und automatisch sprang das Tor wie jeden Morgen auf. Niemand kam ihm am Lieferanteneingang händeringend entgegen, um ihm die Neuigkeit zu berichten. Weder die geschwätzige Köchin, noch das redselige Dienstmädchen, noch der Butler, der für die beiden Gennans eigens engagiert war. Er ging durch den unteren Korridor auf die schmale Treppe zu, die ins erste Geschoß führte, und blieb einen Moment vor der Tür seines Büros stehen. Umständlich nahm er den Hut ab, öffnete seine graue Jacke und blickte sich in dem schmalen Korridor um. Niemand zu sehen. Der Schreck mußte sie förmlich gelähmt haben. Langsam ging er zu seinem Schreibtisch, ließ sich daran nieder. Zog die Manschetten aus den Ärmeln heraus, wie er es immer tat, hakte die Knöpfe hinter die Jacke, damit die Manschetten nicht so rasch zurückrutschten. Nahm dann sein Schreibzeug aus dem Schrank, öffnete eine der Akten und machte sich an die Arbeit.
Aber es klappte heute nicht so wie sonst, denn seine Gedanken waren nicht bei der Arbeit. Sie waren bei der Frau, die man heute in der Morgenstunde drüben in ihrem überladenen Schlafgemach erdrosselt auf ihrem Bett gefunden hatte. Der Brief, den Mr. von Rotheberg geschickt hatte, verschwand in McBains Tasche. Wenige Minuten später hatte er ihn auf der Bedienstetentoilette verbrannt und hinabgespült. Als er in sein Büro zurückkam, glaubte er, der Schlag müsse ihn treffen. Drüben am Fenster stand Sheila Gennan. Ein Zweifel war gar nicht möglich. Es war ihre Gestalt und auch ihre Haltung. Mit eingeknicktem rechtem Bein, herausgeschobener linker Hüfte, mit dem aufreizenden gelben Pullover und dem schwarzen engen Rock. »Na, Spaziergang gemacht?« sagte sie. »Guten Morgen, Miß Gennan«, sagte er mit seiner trockenen Stimme und ließ sich an seinem Schreibtisch nieder. Da wandte sie sich um. Ihr Blick ruhte stechend auf seinem Gesicht. »Stehen Sie auf, McBain!« Der Buchhalter zog die Brauen zusammen, erhob sich, stützte sich aber mit beiden Händen auf den Schreibtisch und blickte in das Gesicht der Frau. Er hatte seinen fürchterlichen Schrecken immer noch nicht überwunden. Wie ein lähmender Alp lastete er auf
ihm, hielt seine Nerven wie in Klammern und ermöglichte ihm kaum, Luft zu holen. Es mußte ein Spuk sein! Ein gemeiner Spuk, den ihm seine überreizte Phantasie da vorgaukelte. Sheila Gennan war doch tot. Er hatte sie erwürgt. Mit eigenen Händen hatte er sie auf ihrem Bett erdrosselt, nachdem er sie fast mit Küssen erstickt und ihre Bluse aufgerissen hatte. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß sie jetzt da vor ihm stand, knapp fünf Schritt entfernt, mit dem Rücken zum Fenster, so daß sie ihn diesmal gut sehen konnte. Sie stand wirklich da. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er sich dessen bewußt wurde. »Wünschen Sie etwas, Miß Gennan?« stieß er heiser hervor. Das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Er wurde fast verrückt vor Angst und vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. »McBain!« Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Miß Gennan?« »Sie werden von der Polizei gesucht, McBain.« »Ich?« Da stieß sie einen spitzen Schrei aus. Im nächsten Moment wurde die Pendeltür zum Nebenraum geöffnet, und zwei baumlange Männer traten ein, denen man die Polizei auch auf größere Entfernung angesehen hätte.
»Kriminalpolizei«, sagte der eine und blieb vor dem Schreibtisch stehen. »Sie sind Joseph McBain?« »Ja«, stammelte der Buchhalter. »Sie sind festgenommen, McBain. Kommen Sie mit.« * Alles, was er denken konnte, war nur: Es war also doch nicht nach Plan gegangen. Als sie ihn aus dem Polizeigefährt herausbugsierten und ins Revier brachten, hatte er das Gefühl, zum elektrischen Stuhl geführt zu werden. Es ist aus! Alles aus. Sheila Gennan lebte! Sie hatte den Würgegriff überstanden. Es war ihm zwar ein Rätsel, wie das möglich war, aber das Wunder war geschehen: Sie lebte noch! Zu seinem Unglück! Sie würde ihn in die Hölle stürzen. Eine Frau, die so genußsüchtig war und so viel Spot für einen armseligen Buchhalter gehabt hatte, nichts als Verachtung für diesen »ganz gewöhnlichen Kerl«, würde so etwas nicht von ihm hinnehmen. Wenn er aber geglaubt hatte, daß man sich jetzt in wildem Verhör zu zweit, zu dritt oder zu viert vielleicht auf ihn stürzen würde, so sah er sich getäuscht. Er wurde in eine Zelle gebracht, in der ein verlauster Bursche auf einer Pritsche hockte und ihn aus verlebten Zügen anstarrte. »Na, hast du was zu schmauchen mitgebracht, Fan?«
McBain schüttelte den Kopf. »Ich rauche nicht.« »Das ist aber ein Fehler. Dann spuck mal einen Dollar aus.« Mechanisch griff McBain in die Tasche, nahm einen halben Dollar heraus und warf ihn ihm zu. »Einen Dollar, habe ich gesagt«, giftete der andere. »Was ist denn mit Ihnen? Sind Sie verrückt geworden?« knurrte er den Mann an. Der stand sofort auf, trat auf ihn zu und schlug ihm die flache Hand mehrmals blitzschnell ins Gesicht. McBain torkelte zurück, und plötzlich überkam ihn eine rasende Wut. Er stürzte sich nach vorn, riß die rechte Faust im Schwinger hoch – und verspürte einen stechenden Schmerz in den Handknöcheln. Vor ihm am Boden lag ein Mensch wie ein Häufchen Elend. McBain starrte entgeistert auf ihn nieder. In diesem Augenblick wurde draußen der Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet. Ein bulliger Wachmann in der Uniform der Polizei blickte verblüfft herein. »Was ist denn hier los?« »Er hat mich geschlagen.« »Was denn, Fip? Das glaube ich nicht.« »Doch, er forderte mich auf, ihm einen Dollar zu geben. Um ihn loszuwerden und Ruhe zu bekommen, habe ich ihm einen halben Dollar gegeben. Da sprang er auf mich los und schlug mir ins Gesicht.«
»Und davon liegt er jetzt an der Erde? Mann, wem wollen Sie das erzählen? Er ist doch tot.« »Ach, er kann nicht tot sein. Ich habe ihm ebenfalls eins versetzt.« »Na, das werden wir gleich haben«, meinte der Wärter, kam näher, beugte sich über ihn – und in diesem Moment sah McBain seine Chance. Er ging zur Tür, zog sie einfach hinter sich zu, schob draußen den Riegel vor und stand im Korridor. Wo war die Tür zur Straße? Es gab hier keine Tür zur Straße. Für alle Fälle. Er mußte also durchs Büro. Und vielleicht war das nicht das Schlechteste. Er öffnete die Tür zu den vorderen Büroräumen und blickte in die erstaunten Augen eines schnauzbärtigen Sergeanten. »He, was soll denn das?« »Ich möchte den Revierchef sprechen.« »Was fällt Ihnen denn ein, Mensch!« »Was fällt Ihnen ein?« schnarrte McBain. »Ich bin festgenommen worden und werde da in eine Zelle zu einem Idioten gesteckt, der auf mich einschlägt und Geld von mir erpreßt. Sofort will ich den Revierchef sprechen.« Die Tür zum Nebenraum wurde geöffnet, und ein Mann in Uniform eines Polizeileutnants stand in ihrem Rahmen. Ein untersetzter, vierschrötiger Mensch mit einem mächtigen Brustkasten und einem Kopf, der zur Hauptsache aus einem gewaltigen Kinn bestand.
Ein Energiemensch zweifellos. »Was ist los hier?« fragte er mit einer groben, tiefen Baßstimme. »Mein Name ist McBain«, erklärte der Buchhalter sofort, »ich bin Angestellter der Firma Gennan und wurde heute morgen in meinem Büro verhaftet, ohne daß mir jemand die Gründe dafür erklärt hätte« »Gennan? Etwa draußen von Itasca?« »Ja.« »Sie müssen sich schon gedulden – wie kommen Sie überhaupt hierher? Ich denke, Sie sitzen auf Sicher?« »Ja, das habe ich auch, nämlich bei einem Geistesgestörten, der Geld von mir erpreßte, und als ich es ihm nicht geben wollte, schlug er mir ins Gesicht. Da habe ich ihm eines versetzt, daß er am Boden lag. Als der Wärter kam, behauptete der, er wäre tot.« »Und wo ist der Wärter jetzt?« »Ich bin aus der Zelle herausgegangen –« »Was sind Sie?« »Ich bin aus der Zelle herausgegangen und hab’ den Riegel eben vorgeschoben.« »Sind Sie verrückt, Mensch?« »Noch nicht, Leutnant, noch nicht. Aber es wird kaum lange dauern, wenn ich noch eine Weile hier bin.« Der Leutnant ließ sich den Wärter kommen und hörte sich seinen erregt vorgetragenen Bericht an. »Mir scheint eher, daß Sie geistesgestört sind, McBain«, herrschte er den Buchhalter an.
»Wie ich schon sagte, ist das noch nicht der Fall, aber es kann leicht geschehen. Dürfte ich jetzt erfahren, was mir vorgeworfen wird?« »Ja, das dürfen Sie. – Los, bringt ihn rüber in mein Zimmer.« Als er dann vor dem breiten Schreibtisch des Revierchefs stand, sagte der: »Sie sind des Betruges und des Überfalls mit schwerer körperlicher Tätlichkeit angeklagt, McBain.« »Würden Sie bitte darauf achten, daß ich weder vorbestraft bin, noch daß ich zu diesem Zeitpunkt meine Unglaubwürdigkeit erwiesen ist. Ich lege also Wert darauf, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte zu verbleiben.« »Was soll das Gefasel?« schnarrte der bärtige Sergeant, der hinter ihm stand. »Ich möchte mit ›Mister‹ angeredet werden.« »Na gut«, meinte der Leutnant, »reden wir ihn also mit ›Mister‹ an. Wollen Sie einen Anwalt zuziehen?« »Nein. Ich möchte nur wissen, was mir vorgeworfen wird.« »Das haben Sie doch eben gehört. Sie sind des Betruges und schwerer körperlicher Tätlichkeiten angeklagt.« »Von wem?« »Von Miß Sheila Gennan.« »Das ist doch nicht wahr!« »Es ist wahr.«
Und jetzt wurde ihm erklärt, weshalb man ihn verhaftet hatte. Sheila Gennan hatte all das gegen ihn ausgesagt, was es vorzubringen gab. Und das reichte. Als er gefragt wurde, ob er es zugäbe, verneinte er. »Augenblick, Leutnant. Ich möchte –« »Abführen«, beschied der Leutnant. »Sie haben nichts zu verlangen. Los, weg mit dem Mann!« Sie hatten andere Arbeit hier auf dem Revier. Allzulange würde er ohnehin hier nicht bleiben. Und tatsächlich, schon nach einer knappen Dreiviertelstunde holte man ihn aus der Zelle heraus und brachte ihn nach Old Flaggart, dem Untersuchungsgefängnis im 7. Bezirk. Hier wurde er schon nach einer weiteren Stunde dem Untersuchungsrichter vorgeführt, wo er sich noch einmal das gleiche anhören mußte. Der grauhaarige Mann, der hinter einem breiten grünen Tisch in dem großen Raum saß, stellte die Fragen nur sehr viel ruhiger als der Polizeichef – und eindringlicher. Aber das Ergebnis blieb das gleiche: Es kam einfach nichts dabei heraus. Da wurde er abgeführt: mit dem Bemerken, sich zur nächsten Vernehmung anders zu besinnen. Er saß mit einem alten Mann in einer schmalen Zelle, die sehr hoch war und oben eine trübe Birne hatte, die auch tagsüber brannte, da durch das winzige vergitterte Fenster nur sehr wenig Licht fiel.
Es war ein düsterer Tag, der Himmel war wolkenverhangen, und immer noch regnete es Bindfäden. Der große Plan war also schiefgegangen. Und der Fehler war nicht einmal in seinen Kalkulationen zu suchen, sondern in deren Folgen. Er hatte ganz einfach nicht kräftig genug zugedrückt. Sie mußte sich erholt haben und war wieder zu sich gekommen. Offensichtlich hatte ihr das Ganze nicht einmal geschadet, sonst wäre sie kaum in der Lage gewesen, so herumzulaufen und so laut zu reden. Der Plan war schiefgegangen… Nur das beherrschte ihn voll und ganz. Vierundzwanzig Stunden waren vergangen, als man ihn wieder freiließ. So schrieb es das Gesetz vor. Niemand durfte länger als vierundzwanzig Stunden inhaftiert bleiben, wenn der Untersuchungsrichter keine Handhabe wegen Verdunkelungsgefahr gegen ihn fand. So schwer die Beschuldigungen Sheila Gennans auch waren – sie ließen sich nicht beweisen. Selbst ihre durch ihren Anwalt vorgebrachte Erklärung, daß er möglicherweise Mr. von Rotheberg ermordet und verschwinden lassen hatte, konnte nicht bewiesen werden. Er wurde entlassen. Allerdings spürte er förmlich, daß er beschattet wurde. Was jetzt? Da der Fehlschlag nicht in seinem Plan gestanden hatte, so auch nicht dessen Folgen. Zur Arbeit gehen? Wieder in dieses Haus? Unmöglich. Er ging nach Hause.
Seine Frau stand fix und fertig angezogen in der Küche – und neben ihr Henry Ferguson. »Da bist du ja«, sagte sie, »das ist ja unerhört. Was fällt dir ein? Ich bin schon auf der Polizei gewesen. Eben wollte ich mit Henry – mit Mr. Ferguson nach – « »Ich weiß«, sagte McBain und sah sie aus ausdruckslosen Augen an, »du wolltest mit ihm Schlafengehen.« Gloria vermochte einen Aufschrei nicht zu unterdrücken. Ferguson griff sich unbehaglich mit den Fingern seiner plumpen rechten Hand in den Kragen. »Ist es nicht so?« Ferguson setzte sich in Bewegung und wollte sich an McBain vorbeischieben. Der stieß ihn zurück. »Du bleibst hier.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß ich über euch beide Bescheid weiß.« »Moment mal, Joe, das will ich dir erklären…« McBain machte eine wegwischende scharfe Handbewegung. »Spar dir die Erklärungen, sie sind überflüssig. Ich habe euch seit langem beobachtet.« »Aber du spinnst!« rief seine Frau geifernd. »Sei still, sonst schlage ich dir ins Gesicht, Gloria.« »Das solltest du wagen! Henry, du wirst nicht zulassen –«
Henry Ferguson hatte den Raum verlassen. Er durchquerte den kurzen Korridor, und dann fiel die Haustür ins Schloß. »Dieser Feigling!« McBain stand vorm Tisch und blickte in die Augen seiner Frau. Das also war das Wesen, nach dem er vor dreizehn Jahren völlig verrückt gewesen war. Die damals dreiundzwanzigjährige Gloria Swippert hatte ihn völlig in ihren Bann geschlagen, so daß er sie innerhalb von drei Wochen geheiratet hatte. Was war von ihr geblieben? – Nichts! – Vielleicht nur die Augen und die Bewegungen des Mundes. Alles andere hatte sie verloren, zu einem regelrechten widerlichen Schwamm. Er haßte sie aus tiefster Seele. Und plötzlich verspürte er ein ganz eigenartiges Gefühl in sich. Es stieg in seine Arme, drang bis in seine Fingerspitzen. Ich sollte sie erwürgen! Dann wandte er sich mit einem Ruck um, ging hinaus in die Wohnstube, nahm Whisky aus dem Schrank, setzte die Flasche gleich an den Hals, um ein paar kräftige Schlucke zu nehmen. Was sollte jetzt werden? Sein Leben war verpfuscht. Sheila Gennan würde keine Ruhe geben, bis sie ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Dafür kannte er sie zu genau. Plötzlich sprang ein Lächeln in sein verkrampftes Gesicht. Ich habe sie geküßt? Ich habe sie geküßt und umarmt und gedrückt und ihre Bluse aufgerissen und
meine Hände an ihrer Kehle gehabt. Ich glaube, ich hätte sie erwürgt, so habe ich zugedrückt… * Eine regnerische Nacht hatte sich über die Millionenstadt gesenkt. Joseph McBain hatte seine Wohnung verlassen und war in den Bus gestiegen, der nach Itasca hinausfuhr. Er ging um das Anwesen herum, stieg über die niedrige Pforte, die zu Sheilas Privattennisplatz führte, und näherte sich leise dem Haus. Er mußte besonders vorsichtig sein, da zu befürchten stand, daß sie abends den Hund freiließ. Aber er kam ungeschoren bis zum Haus, sah, daß unten in der Küche Licht brannte, und konnte den Kopf der Köchin durch das niedrige Fenster erkennen. Im Salon brannte die kleine grüne Lampe, die er gestern gesehen hatte. Zwei Räume daneben lag Sheilas Schlafzimmer, dessen Fenster hochgeschoben war. Er schlich sich heran und hatte große Mühe, sich im Klimmzug zum Sims hinaufzuziehen. Nur für einen Augenblick hockte er keuchend oben auf dem Fensterbrett und ließ sich dann in den Raum gleiten. Der dicke weiße Schafsteppich verschluckte das dumpfe Geräusch, das er dabei verursacht hatte. Da hörte er nebenan Wasser rauschen. Aha, sie war also in ihrem Waschraum, oder hatte sie da gar noch ein eigenes Bad?
Auf Zehenspitzen näherte er sich der nur angelehnten Tür, schob sie weiter auf – und verhielt den Schritt. Da stand sie vor der Badewanne, völlig nackt. Das Haar hatte sie mit einem rosafarbenen Kopftuch hochgebunden. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt. Plötzlich drehte sie sich um. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und der Schreck schnürte ihr die Kehle zu. Mit zwei Sprüngen war er bei ihr, stieß sie zurück gegen die gekachelte Wand und preßte seine Hände um ihre Kehle. Als sie ein Bein hochreißen wollte, um ihn empfindlich zu treffen, drückte er den rechten Oberschenkel und die Hüfte so gegen sie, daß sie sich nicht wehren konnte. Mit den Ellbogen hielt er ihre Arme zurück. Dennoch aber gelang es ihr plötzlich, sich etwas Luft zu machen. Sie bekam den linken Arm frei und krallte ihre Finger in sein schütteres Haar. Da ließ er von ihr ab, und sofort schrie sie gellend los. Aber das starke Rauschen des Wassers, das immer noch in die Wanne strömte, verschluckte die Laute, und das Fenster zum Park war geschlossen. Eine rasende Wut hatte den Mann gepackt. Er schlug ihr jetzt mit beiden Händen hart ins Gesicht. Ihr Kopf flog hin und her, und immer wieder klatschte die Hand des Mannes hinein. Sie war schon stumpf und taub geworden von den Schlägen. Flammendrot war das Gesicht der Frau. Sie schrie und stöhnte, und plötzlich sackte sie in die Knie.
Sheila Gennan war wie von einem Starrkrampf befallen, lag nur da, stierte ihn aus entsetzten Augen an und vermochte kein Glied mehr zu rühren. »Jetzt wirst du für all deine Gemeinheiten bezahlt, mein Engel!« Wieder preßte er seine Hände um ihre Kehle. Ein letztes Mal gelang es der Frau, aus der Umklammerung zu kommen. Sie hatte beide Beine angezogen und konnte den Mann etwas zurückstoßen. Der Griff wurde gelockert, und ein gellender Schrei drang über ihre Lippen, der aber sofort wieder unter dem harten Würgegriff erstarb. »Bitte«, keuchte sie, »alles, alles sollen Sie haben –« »Ich verzichte«, keuchte der Mann mit verzerrtem Gesicht, und diesmal drückte er so lange zu, bis ihr Gesicht blau anlief. Schwer und angeschwollen drang die Zunge aus dem Mund. Wie von Sinnen war der Mann über ihr. Erst nach Minuten ließ er von ihr ab. Ganz steif waren seine Hände. Er richtete sich auf, starrte auf sie nieder, bückte sich dann wieder, zerrte sie vom Boden hoch und ließ sie in das glühendheiße Badewasser fallen. Wie es ihm dann gelungen war, aus dem Haus zu kommen, hätte er später niemandem mehr sagen können. Jedenfalls war er auch diesmal von niemandem gesehen worden. *
Sheila Gennan war den Tod gestorben, dem sie vierundzwanzig Stunden vorher entgangen war. Sie war erdrosselt worden. McBain war nach Hause gefahren. Still hatte der unauffällige Mann unter den anderen Passagieren in dem Linienbus gestanden, war mit ihnen ausgestiegen, hatte sich von der Menge gelöst und war in die Lyndale Avenue gegangen. Vor Fergusons Wohnung blieb er stehen. Auf sein Läuten wurde sofort geöffnet. Henry Ferguson blickte ihn verstört an. »Du bist es?« McBain ging an ihm vorbei und sah durch die offene Tür des Wohnzimmers seine Frau am Tisch sitzen. Sie hatte eine Zigarette in der Hand, die sie ausdrückte. »Henry! Bist du verrückt? Wie kannst du ihn hereinlassen?« Jäh unterbrach sie sich und sprang auf, als ihr Mann ins Zimmer kam. McBain blieb am Fenster stehen, starrte in den Hof hinunter und spürte, wie die beiden auf seinen schmalen Rücken sahen. »Ihr wißt, was vor vierundzwanzig Stunden geschehen ist«, sagte er. »Aber das ist doch alles Unsinn, Joe«, meinte Henry in versöhnlichem Ton erklären zu müssen. »Wir wissen doch, daß das alles ein Hirngespinst von diesem Weib ist. Sie war wahrscheinlich scharf auf dich, und du hast sie mal abgelehnt. Da hat sie das ganze Theater inszeniert.«
»Scharf war ich auf sie«, sagte McBain da in die Stille hinein, die den Worten Fergusons gefolgt war, »und sie hat mich verlacht. Sie hat dafür bezahlt. Sie ist tot.« »Was soll das heißen?« fragte Ferguson, während er sich unbehaglich an die Kehle griff. »Ich war eben draußen in Itasca und habe sie erdrosselt.« »Das ist nicht wahr!« schrie Gloria los und bekam dann einen hysterischen Weinkrampf. »Sieh zu, daß sie still wird«, forderte McBain seinen ehemaligen Freund auf. Als Gloria endlich schwieg, wandte McBain sich um und blickte die beiden an. »Jetzt hört zu, was ich euch zu sagen habe. Ich habe Beweise für euren Ehebruch, Beweise, die Mad völlig genügen würden, Henry, wie du verstehen wirst.« »Aber das ist ja eine ganz ungeheuerliche Lü-«, er unterbrach den hysterischen Ausruf seiner Frau mit einer schroffen Handbewegung. »Du schweigst jetzt. Wir haben ja seit langem nichts mehr miteinander zu tun, so daß ich persönlich nicht böse über das sein will, was geschehen ist. Aber ich werde euch die Gegenrechnung aufmachen. Ihr beide werdet bezeugen und notfalls beschwören, daß ich, seit ich aus dem Untersuchungsgefängnis kam, das Haus nicht mehr verlassen habe.« »Aber –« »Sei still, Henry. Du hast gehört, was ich gesagt habe. Entweder ihr erfüllt euren Teil, oder Mad wird
informiert. Und du kannst dich darauf verlassen, Henry, daß ich dafür gesorgt habe, daß Mad auf jeden Fall informiert wird. Ich habe Beweise – verstehst du mich – Fotos und andere Dinge. Da gibt es nicht den geringsten Zweifel, und du weißt ja, daß Mad sowieso argwöhnisch war, seit sie dich letzten Silvester mit Gloria unten im Keller überraschte, als ihr die Weinflasche holtet. Wo es angeblich hieß, daß du betrunken gewesen wärst und nur mal so nach ihr gegriffen hättest.« Henry Ferguson stand wie vom Donner gerührt da. Er wußte genau, daß das, was sein ehemaliger Freund vorgebracht hatte, zutraf. Und das Schlimmste war, daß er Angst hatte. Angst, Mad zu verlieren. Gloria? Ach, das war doch nur eine »Drüsenangelegenheit«, wie er es in unschöner Weise bei sich nannte. Eine Frau, die sich ihm an den Hals geworfen hatte. Und weshalb sollte man die Früchte nicht pflücken, die einem das Leben bot? Jedenfalls hatte er so bisher immer gedacht. Aber es waren wenig Früchte, die sich ihm geboten hatten. Gloria war eigentlich die erste, die neben seinem Ehegleis wucherte. Und er hatte sofort nach ihr gegriffen. Und so bitter sollte er das jetzt bezahlen müssen? Erst nach einer Weile fragte er: »Ist es wirklich wahr?« »Was?« »Das, was du da eben gesagt hast.« »Natürlich ist das wahr.« »Aber, das kann doch nicht stimmen, Joe.« »Es stimmt!«
Ferguson schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben.« »Deine Sache. Jedenfalls weißt du, was du zu tun hast. Wenn ihr gefragt werdet, wißt ihr, was ihr zu sagen habt: Ich bin nicht aus dem Haus gegangen. Ihr seid oben gewesen in der Küche, und ich war im Schlafzimmer. Ist das klar?« Gloria McBain nickte. Aber Henry Ferguson konnte sich noch nicht damit abfinden. Wenn es wirklich so war, daß Joe die Frau ermordet hatte, dann konnte er doch unmöglich von ihm eine Aussage erpressen. Notfalls waren er und Gloria ja gezwungen, einen Meineid zu schwören! Er war ein Ungeheuer, dieser Joseph McBain. Wer hätte ihm das angesehen? Dieser stille, friedliche, einfache, anspruchslose Mann entpuppte sich plötzlich zu einem gemeinen, brutalen, rücksichtslosen Verbrecher. Aber er war weder ein Raubtier noch ein rücksichtsloser Verbrecher. Er war ganz einfach ein Mensch, der das, was ihm das Leben aufgebürdet hatte, nicht mehr zu tragen vermocht hatte. Mit größerer Raffinesse, als es ihm jemals jemand zugetraut hätte, hatte er seinen Plan gemacht, der nun letztlich doch geglückt war. Und Joseph McBain hatte seinen Plan noch weiter aufgestockt: Als nämlich Gloria anderthalb Stunden später oben in ihrem Schlafzimmer im Bett eingeschlafen
war, zog McBain sich an, verließ die Wohnung und klingelte Ferguson heraus. Der kam im Schlafanzug an die Tür und blickte ihn aus rotgeränderten Augen an. »Du?« flüsterte er. »Was gibt’s denn?« McBain trat in den Korridor, zog die Tür hinter sich zu und sagte, während er sich eine Zigarette anzündete: »Glaubst du etwa, daß jetzt alles in Ordnung wäre?« »Was soll das heißen?« »Du mußt etwas tun.« »Ich verstehe nicht. Hast du nicht schon genug von uns verlangt? Ist es nicht schon entsetzlich, daß wir einen Meineid für dich schwören müssen?« Da schüttelte McBain den Kopf. »Du irrst dich, Henry.« »Was soll das heißen?« »Du rechnest nur mit falschen Nennern.« »Ich verstehe dich nicht. Red endlich deutlicher!« zischte Ferguson. »Gut, dann werde ich deutlicher: Du hast es bei Gloria mit einer labilen Frau zu tun.« »Was willst du damit sagen?« »Ich will damit sagen, daß Gloria dir in den Rücken fallen wird.« »Ich verstehe dich nicht.« »Ja, glaubst du denn wirklich, daß du sie so leicht los wirst?« Wer hatte ihm überhaupt gesagt, daß Henry sie loswerden wollte?
Aber Ferguson nickte sofort. »Du hast recht. Es ist klar, daß ich sie nicht behalten wollte.« »Aber du irrst, wie ich schon sagte. Wie kannst du dir nur einbilden, daß du eine Frau wie Gloria so rasch loswirst? Sie hängt jetzt an dir, vielleicht sogar sexuell.« »Ach, das ist doch alles Unsinn. Die paarmal, die wir miteinander – zu tun gehabt haben, davon wird doch eine Frau –« McBain mußte schlucken. Das, was da ausgesprochen wurde, traf ihn doch tiefer, als er zugeben wollte. Mir rauher Stimme erklärte er, wobei er jedes Wort beißend wie Nadelstiche in die Haut des ehemaligen Freundes setzte: »Du mußt sie töten.« Ferguson schluckte schwer. »Du bist verrückt!« stieß er erregt hervor. McBain zog die Schultern hoch, sog an seiner Zigarette und tat, als wollte er gehen. »Moment – warte noch!« Ferguson ergriff ihn am Arm und zog ihn weiter in den Flur hinein, öffnete die Wohnzimmertür und holte Whisky. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, füllte er auch ein zweites Glas zu einem Drittel. Aber der unheimliche Gast wehrte mit der gespreizten Linken ab. »Nein, danke, ich trinke nicht.« Es war einen Augenblick still. Dann hechelte Ferguson:
»Das kann doch nicht dein Ernst gewesen sein – das vorhin.« »Doch, es war mein Ernst.« »Aber wie soll ich denn das verstehen? Du bildest dir doch nicht allen Ernstes ein, daß ich ein Mörder werden könnte.« »Ach, laß doch dieses verrückte Wort. Wenn die Zeit kommt und an den Mann herantritt, dann muß er handeln. Sie ist an mich herangetreten, und auch ich habe gehandelt. Es ist beim ersten Mal fehlgeschlagen –« »So ist es also tatsächlich wahr, was die Frau gegen dich vorgebracht hat? Das war kein Auswuchs ihrer Phantasie, dessentwegen du sie nun aus Wut wirklich umgebracht hast –?« »Nein, es war genauso wie sie gesagt hat. Nur hat sie verschwiegen, daß sie mich jahrelang gereizt hat bis aufs Blut – gepeinigt hat sie mich, diese Hexe.« Und mit ruhigerer Stimme fügte er dann hinzu: »Wenn die Stunde gekommen ist, dann muß ein Mann handeln können. Ich habe gehandelt, ich habe sie ausgelöscht. Sie kann nicht mehr reden. Sie hätte eine Menge zu reden gehabt. Und jetzt bist du dran!« »Ich?!« »Ja, du.« »Das kann nicht dein Ernst sein, Joe.« »Mein völliger Ernst. Du mußt sie auslöschen.« »Wie stellst du dir das denn vor?« Ferguson war vollkommen aufgelöst. Schweißbedeckt war sein Gesicht wie eine Ornamentglasschicht. Seine Augen hatten
plötzlich einen starren Ausdruck bekommen, das Weiß um die Iris herum war gelblichgrün geworden und die Pupillen unnatürlich geweitet. Seine Hände zitterten, und die Nackenhaare sträubten sich. »Aber, Joe, das kannst du doch nicht wirklich verlangen. Sag, daß du dir einen üblen Scherz mit mir erlaubst.« Er hatte ihn nicht falsch eintaxiert, diesen Henry Ferguson. Er war ein lappiger, papierener Kerl, der auseinanderfiel, wenn man ihn nur richtig anstieß. Und Joseph McBain war gewillt, ihm den Todesstoß zu versetzen. Das würde seine Rache sein für den Betrug, den er nicht verwinden konnte, auch wenn er so tat, als ob ihn der Ehebruch seiner Frau überhaupt nicht berührte. »Doch, du wirst es tun«, schnarrte er weiter in monotonem Ton, wobei er den ehemaligen Freund starr anblickte. Der stand da wie ein hypnotisiertes Kaninchen und vermochte sich nicht zu rühren. Mit offenem Mund und trockener Kehle. »Du mußt dich ihrer entledigen, Henry, wenn du dein Leben weiterführen willst – ich meine vor allem, dein Leben mit Mad. Auch mußt du dich der Mitwisserin entledigen, wenn du den Eid für mich schwören sollst.« Es war ungeheuerlich, was er dem anderen da zumutete. Aber er redete zehn Minuten, und dann hatte er es geschafft.
Er hatte das Unwahrscheinliche fertiggebracht, aus einem Menschen, der nicht im Traum auf einen solchen Gedanken gekommen wäre, einen Mann zu machen, der bereit zum Mord war. »Also, du weißt Bescheid. Du gehst jetzt mit mir hinauf, gehst ins Schlafzimmer, an ihr Bett – und dann tust du’s. Ich habe dir gesagt, wie du es machst, vor allem, wie lange…« Zwanzig Minuten später hatte die lebenshungrige Gloria McBain ihr Leben unter den Händen ihres eigenen Liebhabers in ihrem Ehebett verröchelt. Im Korridor stand ihr eigener Mann und hatte das Furchtbare mit angehört. Er hatte das Gesicht verzerrt, die Fäuste ineinandergekrallt, um es zu verhindern. Aber dann hatte er es doch durchgestanden. Als die Tür aufgestoßen wurde, kam ein geschlagener Mann heraus, mit hängendem Kopf, schweißnaß, die Hände von sich gestreckt, so stand er da und stierte vor sich hin. »Sie ist tot.« »Na also, dann ist ja alles in Ordnung. Jetzt bleibst du hier und rührst dich nicht von der Stelle.« Der andere nickte. Dann aber fragte er plötzlich, als er sah, wie McBain zur Tür wollte: »Weshalb soll ich hierbleiben?« »Weil du ja mein Zeuge bist. Rühr dich nicht von der Stelle. Ich habe noch etwas zu erledigen, ich bin bald zurück.« *
Der Dämon aus der Lyndale Avenue hatte seinen neuen Plan noch nicht ganz beendet. Er machte sich eben auf den Weg, sein letztes Kapitel zu erledigen. Und das, was sich der verschmähte Verehrer der Sheila Gennan ausgedacht hatte, um den Hals selbst aus der Schlinge zu ziehen, war tatsächlich der Gipfel. Er stieg in den Bus und fuhr nach Downtown hinüber, wo er sich auf einer Revierwache nach dem Geschäftsgebäude des FBI erkundigte. Der diensttuende Sergeant, ein drahtiger blonder, blaßgesichtiger Mensch, erklärte ihm, daß er in die 71. Straße fahren müßte. Eine halbe Stunde später betrat der Mörder und Mordanstifter Joseph McBain das Gebäude des Federal Bureau of Investigation am Oakwood Cemetery in der 71. Straße. Der Nachtportier wies ihn an, unten im Besucherraum zu warten. Dann wurde die Tür nach wenigen Augenblicken geöffnet, und ein hochgewachsener, schlanker Mann mit schwarzem Haar trat ein. »Inspektor O’Connor«, stellte er sich vor. Es war einer der Stellvertreter aus dem Stab des Chef-Inspektors Eliot Ness. »Mein Name ist McBain«, erklärte der Mann aus North Lake, »könnte ich Mr. Ness sprechen?« »Der Chef-Inspektor ist nicht mehr im Haus.«
»Es ist aber sehr wichtig. Könnte ich vielleicht seine Telefonnummer haben?« »Das würde Ihnen nichts nützen, Mr. McBain. Eliot Ness ist auf einem Recherchengang.« »Und Mr. Cassedy?« forschte McBain, womit er bewies, daß ihn die Besetzung des Hauses hier sehr wohl interessiert hatte. Sonst könnte er unmöglich wissen, daß der Vertreter des Chef-Inspektors den Namen Cassedy trug. Allerdings war das nichts Besonderes, denn häufig genug war auch Pinkas Cassedy in den Zeitungsberichten, die sich mit Eliot Ness befaßten, erwähnt worden. Seit einem Jahr und acht Monaten war der hochgewachsene, drahtige Sohn norwegischer Eltern, Eliot Ness, hier in Chicago als Leiter der FBI-Station und hatte in dieser Zeit mehr Gangster zur Strecke gebracht als sonst irgend jemand vor ihm. Man hatte sich drüben in Washington offensichtlich nicht den falschen Mann ausgesucht, obgleich es sehr viele Stimmen gab, die gegen den »allzu jungen« Mann waren. Nicht zuletzt war der bekannte Zeitungsmann Rufus Matherley, der die große Chicago News als Chefredakteur leitete, gegen die Nominierung Eliot Ness’ gewesen; Matherley gehörte zu den verbissensten Gegnern des Norwegers und ist zeitlebens auf diesem Part geblieben. Wie ein Kanonenschlag war Eliot Ness in der Gangstermetropole eingeschlagen. Innerhalb kürzester Zeit hatte er eine ganze Reihe berüchtigter Verbrecher zur Strecke gebracht. Unter anderen den Gangsterboß
Drenkhan, sowie den Nebelmörder, der wochenlang die Stadt in Atem gehalten hatte; einen Mann, den Chicago den Aufschlitzer nannte, und erst vor wenigen Wochen den irrsinnigen Arzt, der glaubte, sich unbequemer Mitmenschen durch ein geheimnisvolles Gift entledigen zu können. Vor allem aber hatte der Norweger, den die Unterwelt praktischerweise MR. CHICAGO nannte, eine tiefe Bresche in das Chicagoer Gangster-Unwesen geschlagen. Sein größter Gegner war der infame Verbrecher-King Alfonso Capone. Der Italo-Amerikaner, der innerhalb von acht Jahren einen starken Trust in der Millionenstadt am Lake Michigan aufgebaut hatte, fühlte sich mehr und mehr durch den »Emporkömmling« vom Oakwood Cemetery bedrängt und hatte beschlossen, ernsthafte Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen. Aber nicht allein Al Capone hatte sich zum Kampf gegen ihn gerüstet, sondern auch ein junger Gangsterboß, der erst seit einiger Zeit aus einer Vorstadtstraße von St. Louis hier nach Chicago heraufgekommen war: Sein Name war Richard Dillinger. Er und eine unbekannte Zahl seiner Verwandten, also die Dillingers, trieben in der Stadt ihr Unwesen und waren die erklärten Feinde des Greifers vom Oakwood Cemetery. Obgleich Eliot Ness zu diesem Zeitpunkt schon eine beachtliche Erfolgsreihe aufweisen konnte, hatte das junge Amerika seine wahren Qualitäten noch nicht erkannt. Es hatte noch nicht begriffen, daß es mit ihm seinen bedeutendsten Polizeioffizier überhaupt haben sollte. Und hätte man in die Zukunft sehen können
und somit gewußt, daß sein kometenhafter Aufstieg seinen frühen Tod zur Folge haben sollte, so würden ihm gewiß zu seinen Lebzeiten größere Würdigungen zuteil geworden sein, als dies tatsächlich geschah. Joseph McBain, der Würger aus North Lake, hatte den Weg zum Oakwood Cemetery gesucht. Er besaß den Nerv, sich an Eliot Ness zu wenden. Inspektor O’ Connor zuckte bedauernd die Achseln. »Ich kann Ihnen leider da nicht dienen. Aber ich will gern Ihr Anliegen aufnehmen.« Unruhig sah sich der Mörder um. Seine nervigen Hände lagen auf seinem Schoß, und seine Augen huschten hin und her. »Gut. Also, Inspektor, dann hören Sie zu.« Und jetzt berichtete der Mörder der Sheila Gennan, wie er nach Hause gekommen wäre und seine Frau ermordet im Bett vorfand. Und weiter berichtete er, daß er auch ihren Mörder gefunden hätte. Mit wachsendem Interesse hatte Daniel O’ Connor zugehört. Als der Buchhalter geendet hatte, erhob er sich ruhig und erklärte, daß man sich sofort um die Sache kümmern würde. * Henry Ferguson hatte wie unter einem Zwang gestanden, sowohl während der Tat als auch nachher. Denn wie sonst hätte man es sich erklären können, daß er tatsächlich in der Wohnung geblieben war und auf
seinen angeblichen Freund gewartet hatte? Er mußte den Ehebruch teuer bezahlen. Daniel O’ Connor und zwei weitere Beamte des FBI nahmen ihn unter Mordverdacht fest. Der unselige Mann war einfältig genug, bei seinem Verhör zu erklären, daß er McBains Freund wäre, und daß diese Sheila Gennan eine Hexe gewesen sei. »Eine Hexe, wie seine eigene Frau auch eine Hexe war…« Er wurde beider Morde verdächtigt, das war das Endresultat. Die Beerdigung Gloria McBains fand drei Tage später statt. Es war an einem trüben Vormittag. Regen nieselte aus grauen Wolken. Auf dem Memorial Estate Cemetery stand nur ein einzelner Mann vor dem offenen Grab. Es war Joseph McBain. Er trug einen dunklen Anzug, hielt den Hut in den Händen und hatte nicht einmal daran gedacht, das Sinatraband abzunehmen. So wenig berührte ihn der Tod des Menschen, der da in die Erde gesenkt wurde. Der Priester, der mitgekommen war, hatte sein Gebet gesprochen, reichte dem Hinterbliebenen die Hand und sprach noch ein paar Worte über das erschütternde Ereignis, das einen jedoch nicht aus der Bahn werfen dürfe, sondern eher dazu beitragen sollte, den Charakter zu festigen und den Weg zu Gott finden zu lassen. Als der Priester gegangen war, wartete McBain noch eine Weile, wandte sich dann um – und blickte in die eisblauen Augen eines hochgewachsenen Mannes, der
etwa zehn Schritt hinter ihm gestanden hatte. Es war ein Mann um die Dreißig, mit einem markant-männlich geschnittenen Gesicht; es wurde von einem ernsten Ausdruck geprägt und von dem schon erwähnten eisblauen, sehr intensiv dreinblickenden Augenpaar beherrscht. Wer einmal in diese Augen gesehen hatte, der vergaß sie sicherlich so leicht nicht wieder. Dennoch war es ein Gesicht, das nicht auffiel. Nur so war es zu erklären, daß sein Besitzer immer wieder in den Kreisen der Unterwelt auftauchen konnte, ohne gleich erkannt zu werden. Es war das Gesicht des Eliot Ness. Der Chef der FBISpezialabteilung vom Oakwood Cemetery hatte sich zur Beerdigung der Gloria McBain eingefunden. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und seinen Staubmantel; den grauen, dreimal scharf geknifften Hut hielt er in den zusammengelegten Händen. McBain zog die Brauen zusammen, musterte ihn kurz, und als er in ihm keinen Bekannten erkannte, ging er links hinüber an der Kapelle vorbei, dem Ausgang des Friedhofes zu. Den ganzen Weg vom Friedhof über die breite Wolf Road, bis zur Lyndale Avenue wurde er den Blick dieser tiefblauen Augen nicht los. Wo hatte er dieses Gesicht schon gesehen? Daß er es gesehen hatte, darauf hätte er einen Eid leisten mögen! Aber wo? Ein Gefühl allergrößten Unbehagens beschlich ihn, als er in das Haus trat und langsam die Treppe hinaufstieg.
Unwillkürlich blieb er einen Moment vor Fergusons Wohnung stehen. So wie früher, wenn er versucht hatte, hineinzulauschen, ob er nicht das girrende Lachen Glorias hören konnte. Totenstille herrschte jetzt hier. Bald würde eine Frau aus den Bergen nach Hause kommen und ihren Mann im Zuchthaus finden. Ihren Mann, der sich zum Mörder hatte machen lassen. Ein ganz klein wenig verspürte er Mitleid mit der armen, kranken Mad, die jetzt bei ihren Eltern weilte und Erholung suchte. Es würde schwer für sie sein. Aber sie war eine recht hübsche Frau und würde wohl Trost finden. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er sich über Henrys Schicksal bisher noch keine Gedanken gemacht hatte. Aber was half es, sich Gedanken darüber zu machen. Es war ganz klar: Henry kam auf den elektrischen Stuhl. Ein Mann, der in diesem Land ein Menschenleben auslöschte – aus welchem Grund auch immer – und der klaren Verstandes war, der hatte keine Chance, dem Stuhl zu entkommen. McBain war weitergegangen, die Treppe hinauf. Schloß oben seine Wohnungstür auf und blieb mitten ihr Korridor stehen. Er machte die Augen zu und lauschte. War da nicht irgendwo der huschende Schritt Glorias zu hören und ihr ungestümes leises Sprechen? Ja, sie hatte trotz ihrer verhältnismäßig jungen Jahre schon die Angewohnheit gehabt, zu sich selbst zu sprechen.
Mit hastigen Schritten ging er auf die Küchentür zu und riß sie auf. Sie war natürlich nicht da. Auch nicht im Bad, nicht im Wohnzimmer und nicht im Schlafzimmer. Er ging zurück in den Wohnraum, blieb neben dem kleinen Schreibtisch stehen, den er sich vor Jahren einmal in der Absicht gekauft hatte, hin und wieder abends daran zu sitzen. Entweder, um ein Buch zu lesen, oder auch einmal ein paar Briefe zu schreiben. Ja, es hatte Stunden gegeben, in denen er tatsächlich geglaubt hatte, daß er sich vielleicht einmal hinsetzen würde, um einen Artikel zu schreiben, den er vielleicht der Zeitung anbieten konnte. Schon als junger Mann hatte er das vorgehabt. Damals, als er mit Ted Groves befreundet war, einem jungen Journalisten, der von den Artikeln, die er für Zeitungen schrieb, recht gut leben konnte. Aber es war nur ein Traum geblieben – wie so vieles in seinem Dasein. Ein Traum, den er unter den Trümmern und der Schlacke seines verpfuschten Lebens begraben hatte. Er öffnete die linke Tür, zog die Fächer heraus und kramte in den Zeitungen herum, die er da liegen hatte. Im vorletzten Fach lagen die erregenden Berichte über die großen Morde, die im vergangenen Jahr die Stadt in Atem gehalten hatten. Plötzlich stockte seine Hand. Sein Auge ruhte auf dem Porträt eines Mannes, das hart und scharf gezeichnet war und von einem intensiv dreinblickenden Augenpaar beherrscht wurde.
Darunter stand: Und wieder einmal war es der neue FBI-Chef vom Oakwood Cemetery, der den Mörder zur Strecke brachte! Eliot Ness! Der Mörder hielt das Zeitungsblatt in den zitternden Händen. Erhob sich, ging in den Korridor hinaus, trat in die Toilette und blieb vor dem Spiegel stehen. Winzige Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. »Eliot Ness.« Seine Lippen hatten den Namen fast lautlos geformt. Und doch stand er im Raum wie ein doppelter Fanfarenstoß. Eliot Ness war auf dem Friedhof gewesen. Was hatte er dort gewollt? Weshalb hatte er so schweigend dagestanden und ihn von hinten angesehen? Angesehen? Nein, er hatte ihn beobachtet! Unheimlich, dieser Mensch. McBain wußte plötzlich, daß er sich schon immer für diesen Mann interessiert hatte, daß ihn seine Karriere in der Stadt sogar brennend interessiert hatte. Was war das für ein Mensch, der da vor etwas mehr als anderthalb Jahren aus den Bergen Colorados, wo er in der Stadt Denver eine Abteilung der FBI-Schule geleitet hatte, ausgerechnet für diesen wichtigen Job in Chicago ausersehen wurde? Joseph McBain war gewiß nicht der einzige, der sich die Frage gestellt hatte, was den Direktor des Bundeskriminalamtes wohl bewogen hatte, einen so jungen und noch völlig unbekannten Mann für den Posten hier in Chicago auszuwählen. Hier hatte man
doch einen Mann erwartet, der einen Ruf hatte; wie Frank Wallace unten aus Dallas in Texas, oder Frederic Castner vom FBI in New York, oder auch James Woodson aus San Franzisko. Das waren Leute, die einen Namen hatten, die man überall in den Staaten kannte. Statt dessen hatte der Direktor des FBI den völlig unbekannten Eliot Ness hierhergeschickt. Aber bis auf den Zeitungsmann Matherley gab es heute niemanden mehr in der Stadt, der das überragende kriminalistische Talent des Norwegers nicht bewundern gelernt hätte. Die gesamte Unterwelt fürchtete niemanden mehr als diesen drahtigen, hochgewachsenen Mann, der ein so großer Schweiger war und die Nase eines deutschen Wolfshundes zu haben schien. Irgendwie war auch etwas Indianisches an ihm, wie die Zeitungen immer wieder erwähnt hatten; nämlich seine Ausdauer und Zähigkeit im Beobachten von Verdächtigen. Es konnte keinen Zweifel darüber geben, daß er ein ganz spezifisches, ausgeprägtes und einmaliges Talent für den Job hatte, den er hier bekleidete. Das Schicksal hatte ihn im richtigen Augenblick in diese wildeste aller Banditenstädte der USA geschickt. Und er, Joseph McBain, der kleine Buchhalter des Industriellen Daniel Gennan, war irrsinnig genug gewesen, freiwillig den Weg zu ihm anzutreten. Weil er es für einen Trick gehalten hatte, der unübertrefflich war. Doch dann hatte er plötzlich hinter ihm gestanden, mit seinen unheimlichen Augen, seiner statuenhaften Bewegungslosigkeit.
Joe rannte in den Flur, griff seinen Hut von der Garderobe, riß die Wohnungstür auf und blieb wie angenagelt stehen. Draußen im Treppenhaus, nur etwa drei Schritt von ihm entfernt, stand er. Groß, ernst und schweigend. McBain hatte das Gefühl, daß ihm das Herz stillstehen müßte. Aber dann brach noch einmal der seltsame Zug seines Charakters hervor, der ihn schon zweimal Dinge hatte tun lassen, die ihm sicherlich niemand zugetraut hätte. Mit einer Bauernschläue ohnegleichen bellte er plötzlich los: »Sie, geben Sie sich keine Mühe! Ich weiß, daß Sie vorhin schon auf dem Friedhof gewesen sind. Wenn Sie vielleicht glauben sollten, mich erschrecken zu können, dann haben Sie sich geirrt. Ich habe die Polizei schon alarmiert. Jawohl, ich bin beim FBI gewesen. Sie brauchen sich nicht einzubilden, daß Sie mich irgendwie erpressen könnten. Ganz egal, ob Sie nun zu Capone oder zu den Dillingers gehören oder zu sonstwem. Bei mir ist nichts zu holen. Ich bin ein armseliger Buchhalter, der von einer geistesverwirrten Millionärstochter beschuldigt wurde, und dem der eigene Freund die Frau ermordet hat. Wenn Ihnen das noch nicht genügen sollte, können Sie sich ja in meiner Wohnung umsehen. Bitte!« Er ließ die Wohnungstür offenstehen, drängte sich an dem Polizeioffizier vorbei und rannte, wie von Furien gejagt, die Treppe hinunter. Schweigend blickte der Norweger ihm nach.
McBain war in die Palmer Avenue gelaufen und rannte auf die Wolf Road zurück. Als er die Anlagen des Westward Golf Klubs erreicht hätte, blieb er stehen und wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. Das Hemd klebte ihm am Leib. Keuchend ging sein Atem. Er sah sich um und versuchte, durch den mittäglichen starken Verkehr die Ecke der Lyndale Avenue zu erkennen. Aber das war unmöglich. Jedenfalls war der Mann, der plötzlich vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, nirgends zu sehen. War der Bluff geglückt? Hatte sich der FBI-Agent von ihm irreführen lassen? Der Einfall war gar nicht so schlecht gewesen, dem Gman den Erschrockenen, den Verwirrten, den Verängstigten vorzuspielen. Die Tatsache, daß Eliot Ness dazu geschwiegen hatte, gab McBain die Hoffnung, daß er es richtig gemacht hatte. Sollte er ruhig glauben, einen völlig verstörten Mann vorgefunden zu haben, der in einer Art von Panik gehandelt hatte, als er kopflos davongerannt war. War es richtig gewesen, die Haustür offenzulassen? Ja, doch, das war richtig gewesen, sagte er sich, denn das vollendete noch das Bild der Kopflosigkeit, das er dem FBI-man geboten hatte. Wenn er aber geglaubt hatte, daß man einen Eliot Ness so leicht entkam, dann sah er sich getäuscht. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Tödlich erschreckt fuhr er herum und blickte in das kernige Gesicht eines bulligen, etwas dicklichen Mannes, der zwar nicht so
groß war wie Inspektor Ness, aber immerhin auch eine ganz beachtliche Figur hatte. Er tippte an seinen braunen Hut und meinte: »Bitte, erschrecken Sie nicht, Mr. McBain. Mein Name ist Cassedy. Inspektor Cassedy vom FBI.« Sengender Schmerz durchzuckte die Nervenbahnen des Mörders. Sie waren ihm also gefolgt! Hatten ihn umstellt! Das Spiel war zu Ende. Der große Ness hatte ihm seine Häscher schon auf die Fährte gesetzt. Wie hatte er sich auch nur einbilden können, einem solchen Mann zu entkommen. Aber als das Lächeln auf dem rundlichen Gesicht Cassedys blieb, kehrte die Zuversicht McBains zurück. Was hatten sie denn gegen ihn in der Hand? Well, Sheila Gennan war ermordet worden. Und zwar vierundzwanzig Stunden, nachdem sie ihn, McBain, der Mordabsicht beschuldigt hatte. Aber wer wollte denn behaupten, daß er der Mörder war? Er hatte den Leuten beim FBI und vorher auch schon bei der Stadtpolizei erklärt, daß er es außerordentlich bedaure, erklären zu müssen, daß ihm Sheila Gennan schon lange einen recht verwirrten Eindruck gemacht habe – um es vorsichtig auszudrücken. Damit war natürlich nichts anderes gesagt, als daß er sie für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Sie hatte ihn beschuldigt, daß er sie ermorden wollte, und kurz darauf war sie ermordet worden. Aber Ferguson hatte sich bereit erklärt, einen Eid zu schwören, daß er, McBain, das Haus nicht verlassen hatte. Das war
immerhin ein Kronzeuge. Daß der Kronzeuge sich dann selbst als ein Mörder entpuppte, stand auf einem anderen Blatt. Nein, beweisen konnte ihm Eliot Ness nichts. Gar nichts. So leicht sollte es ihm nicht werden. »Ich würde Ihnen vorschlagen, Mister«, hörte er da Cassedys bärbeißige Stimme, »vielleicht einmal einen Arzt aufzusuchen?« »Einen Arzt?« keuchte McBain. »Weshalb einen Arzt? Ich bin nicht irrsinnig, ich nicht –« »Natürlich nicht, Mr. McBain«, meinte der dicke FBIMann gutmütig. »Ich denke ja auch nur, daß der Arzt Ihnen ein Beruhigungsmittel geben sollte. Sehen Sie, gleich da drüben sehe ich ein Arztschild an der Tür. Kommen Sie, ich werde Sie hinüberbegleiten.« Mit sanfter Gewalt führte er den Erregten über den Fahrdamm und geleitete ihn noch bis ins erste Geschoß vor die Tür des Arztes. McBain stand im Korridor und lauschte dem schweren Schritt des G-man nach. Unten im Korridor verstummte er. Er wartete also unten. Da läutete McBain an der Tür des Arztes und sah sich einer blondhaarigen Frau im weißen Kittel gegenüber, die ihn aus kalkigem Gesicht anblickte. »Sie wollen zu Dr. Faney?« »Ja, wenn es möglich wäre.« »Es ist zwar jetzt Mittagszeit, aber wenn es sich um eine eilige Sache handelt –?«
»Meine Frau ist ermordet worden«, stieß McBain hastig hervor, »ich bin völlig am Ende. Am Ende, verstehen Sie? Der Doktor muß mir helfen. Unten im Hausflur steht ein Polizeioffizier, ein Mann vom FBI, Inspektor Cassedy. Er hat mich hergebracht. Er hat –« Im Hintergrund des Flurs tauchte der weißbekittelte Arzt auf. Ein Mann in den Vierzigern mit strengem Gesicht und dunklen Augen. Als McBain ihm den gleichen Vortrag noch einmal halten wollte, legte ihm der Arzt beruhigend die Hand auf die Schulter, griff dann nach seinem Puls und meinte: »Ich habe schon alles gehört. Ja, es ist gut. Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas geben.« Nachdem er ein paar Tabletten bekommen hatte und der Arzt ihm sein tiefes Bedauern über das schreckliche Geschehnis ausgedrückt hatte, trat McBain wieder auf die Straße. Von dem G-man war nichts zu sehen. Aber er war davon überzeugt, daß er doch irgendwo in der Nähe sei. Er oder die anderen. Jedenfalls ließ Eliot Ness ihn nicht aus den Augen. Er ging durch die McLean Avenue hinüber nach River Grove, schlenderte rastlos durch den Park und hielt schließlich auf die Addison Street zu, wo er erschöpft in einen Schnellimbiß einkehrte. Aber er aß nur wenig von dem Tellergericht, das er sich bestellt hatte, zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und setzte seine rastlose Wanderung dann fort. Er hielt jetzt auf den 56. Bezirk zu, blieb in der Lawrence Avenue vor einem Café
stehen und blickte auf die Reihe der buntgedeckten Tische. Wie eine Marionette ließ er sich auf einem der in Pariser Manier gearbeiteten zierlichen weißen Eisenstühle nieder. Bei der Bedienung bestellte er einen Tee. Als er einen Schluck von dem Getränk genommen hatte, legte er ein Geldstück auf den Tisch und nahm seine Wanderung wieder auf. Den ganzen Tag lief er durch die Stadt. Als es Abend wurde, war er irgendwo südlich von dem großen Friedhof von Niles und machte wieder in einem Schnellimbiß Rast. In der Oakton Street löste er eine Kinokarte, trat rasch in das Kino ein, fand den Seitenausgang noch offen und verschwand dort wieder; kam in eine schmale Gasse und war nach wenigen Augenblicken in der Ozanamn Street, die er hastig hinunterlief, um im nächsten Torweg zu verschwinden. Er blieb sofort stehen, trat an die Ecke des Torweges zurück und blickte die Straße hinunter. Richtig, da drüben tauchte ein Mann im Regenmantel auf, lief quer über die Straße und kam dann auf die Toreinfahrt zu. McBain machte ein paar hastige Schritte vorwärts, bis er die Haustür erreicht hatte, fand sie offen und blieb im dunklen Treppenhaus unten vor der Kellertür stehen. Nach einer halben Stunde riskierte er es, sein Versteck zu verlassen.
Er überquerte die Straße, kam in die Oakton Street zurück und verschwand in den Anlagen des Park Ridge Country Clubs, um endlich auf die Touhy Avenue zu kommen, wo er einen Bus bestieg, der ihn nach Elmwood Park hinunter brachte. In der Dickens Avenue stieg er aus und schlenderte durch den Oak Park hinüber in die Fullerton Avenue. Es war ein Irrsinnsweg, den er hinter sich hatte, als er auf einer kleinen Parkbank Rast machte. Seine Füße brannten ihm wie Feuer. Der Buchhalter war es nicht gewohnt, so viele Stunden herumzulaufen. Als er sich nach einer Viertelstunde wieder erhob, hatte er das Gefühl, auf tausend Nadelspitzen zu stehen. Langsam ging er weiter bis zur nächsten Busstation. Er fuhr bis zum Knick des Irving Park Boulevard, wo er an der Ecke der Willow Street ausstieg. Langsam bewegte er sich an dem Park vorbei, bis er das Anwesen der Gennans erreicht hatte. Das Haus mit seinem weißen verschnörkelten Giebel lag hinten im Dunkel des großen Gartens lichtlos da. McBain wußte, daß Gennan noch nicht zurückgekehrt sein konnte. Da er es liebte, auf seinen Reisen durch den Süden der Staaten, die nicht reine Geschäftsreisen waren, keine festen Orte anzusteuern, war es auch nicht möglich gewesen, ihn von dem, was sich hier ereignet hatte, zu benachrichtigen. McBain ging auf die kleine Pforte an der Westseite des Parks zu, überlegte sich dann, daß man da vielleicht seine Spuren im regenweichen Boden gefunden haben
könnte, die er kürzlich hinterlassen hatte, daß man außerdem vielleicht die Pforte bewachte. Ging weiter, bis er an den Nordrand des Parks kam und blieb an der Stelle stehen, die er ursprünglich benutzen wollte, um zum Haus zu kommen. Es war ein Platz hinter einem Strauch, wo der Draht den Boden nicht mehr erreichte und wahrscheinlich von Kaninchen und anderem Kleingetier unterwühlt worden war. Der Gärtner, ein alter Mann, hatte im Sommer genug mit der Instandhaltung des übrigen Gartens zu tun, so daß er auf diese Stelle hier noch nicht aufmerksam geworden war. McBain schob sich hindurch, richtete sich vorsichtig auf und lauschte in den Park. Alles war still. Sicher hatte die Polizei hier nirgends Wachen ausgestellt, denn wer würde mit dem Mörder rechnen, der zum Tatort zurückkam? Von dieser alten Story machte man zwar Filme, aber daß sie sich in Wirklichkeit einmal ereignen könnte, damit rechnete niemand. Das FBI hatte in der Tat auch nicht den mindesten Anlaß, den Park bewachen zu lassen. Nachdem die Tochter des Industriellen ermordet worden war und wahrscheinlich hier oben auf dem Waldfriedhof ebenfalls heute beigesetzt wurde, stand das Haus still da. Das wenige Personal wagte es nicht, sich zu rühren. Verständlich genug; immerhin war das, was geschehen war, dazu angetan, sie alle in ihren Räumen zu halten. Der Eindringling schritt auf leisen Sohlen über den Rasenrand auf die Rückfront des Hauses zu. Er vermied
es, den knirschenden Kies zu betreten, der seine Annäherung weithin verraten hätte. Seine Hauptsorge galt Arrow, dem Hund. Er wußte zwar, daß das Tier vom Gärtner drüben im Gartenhaus im großen Zwinger gehalten wurde, also auf der anderen Seite des Hauses, und auch da noch zweihundert Schritte entfernt, aber wer wußte denn, ob der Gärtner das Tier jetzt nicht frei herumlaufen ließ. Das wäre für McBain das schlimmste gewesen. Aber unbehelligt gelangte er bis in die Nähe der Rückfront des Hauses, schlich an den Fliederbüschen und an dem aufdringlich duftenden Jasmin vorbei, bis er unter dem Fenster stand, durch das er schon einmal eingestiegen war. Was wollte er eigentlich hier? Ohne sich recht darüber klargeworden zu sein, hatte er den Weg wieder hierher gesucht. Nicht etwa als der Mörder, den es zum Tatort zurückzog, der, von der Reue und dem schlechten Gewissen getrieben, noch einmal die gleiche Stelle aufsuchen mußte – McBain war gekommen, um zu rauben! Er hatte so gut wie kein Geld mehr. Seine Frau, die immer sehr verschwenderisch gewesen war, hatte das wenige Ersparte, das sie auf der Bank gehabt hatten, in den letzten beiden Monaten völlig verbraucht. Höchstwahrscheinlich hatte sie es für ihre Festivitäten mit ihrem neuen Liebhaber benötigt. Von seinem letzten Gehalt war mehr als die Hälfte für die Gegenstände draufgegangen, die er für seine Kostümierung benötigt
hatte. Immer noch schien es ihm unfaßlich, daß es ihm so mühelos geglückt war, Sheila zu täuschen. Es war ihr Fehler gewesen, daß sie sich auf ihren Spott ihm gegenüber beschränkt und niemals wirklich einen Blick in sein Gesicht geworfen hatte. Er war jetzt wieder unter dem Fenster, blickte zum Sims hinauf und reckte sich dann hoch, schwang sich hinauf – und stellte zu seinem Schrecken fest, daß das Fenster geschlossen war. Er hatte sich auf den Boden zurückgelassen, blieb an der Hauswand stehen. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß ihn der Mut, der ihn hierhergeführt hatte, verlassen wollte. Nur jetzt nicht schlappmachen! Er brauchte Geld, mindestens aber Schmuck und Wertgegenstände, die er zu Geld machen konnte, denn er war so gut wie blank. Und ein Mann, der Eliot Ness auf seinen Spuren wußte, der brauchte vor allen Dingen Geld. Die Beweglichkeit, die McBain jetzt auf einmal zu entwickeln verstand, war ihm sein ganzes bisheriges Leben über fremd gewesen. Er hatte sich in einen völlig anderen Menschen verwandelt. Wie sonst wäre er wohl auf den Gedanken gekommen, noch einmal hierherzukommen, um die Frau, die er schon getötet hatte, auch noch zu bestehlen. Es war da eine Schatulle in ihrem Schlafgemach, die es ihm neulich schon angetan hatte. Nur hatte er, nachdem er sie umgebracht hatte, nicht mehr den Nerv aufbringen können, danach zu greifen. Sie stand auf einer Kommode
unweit von ihrem Nachttisch, war aus grünem Leder gefertigt und mit schwarzsilbernen Metallbeschlägen besetzt. Der Schlüssel hatte im Schloß gesteckt. Wenn er selbst auch noch niemals eine solche Truhe gesehen, geschweige denn eine besessen hatte, so wußte er doch genau, was wohlhabende Leute darin aufzubewahren pflegten. Höchstwahrscheinlich Schmuck. Und eine Frau wie Sheila Gennan besaß eine ganze Menge davon; jedenfalls Armbänder und Ringe, Halsketten und anderes Zeugs, das sich zu Geld machen lassen würde. Und er brauchte jetzt ein paar tausend Dollar; daran führte kein Weg vorbei. Er war weiter an der Fassade des Hauses entlanggeschlichen und hatte die große Balkontür erreicht, die er von seinem vorletzten Besuch her kannte. Aber auch sie war geschlossen. Sein Mut sank weiter. Er überlegte, ob er zurückgehen sollte, als er plötzlich glasklar mit kristallener Deutlichkeit seine nächste Zukunft vor sich sah – und wenn es auch nur die nächsten Stunden und Tage waren. Er war ein Mann ohne Geld. Er hatte vielleicht noch zwanzig oder dreißig Dollar in der Tasche. Das reichte ganz sicher nicht, um dem großen Wolf vom Oakwood Cemetery zu entkommen. Ein Mann, der auf der Flucht war, brauchte Geld! McBain bewegte sich weiter dicht an der Mauer vorwärts, und plötzlich sah er dicht über sich ein kleines Fenster, das halb hochgeschoben war. Er hätte einen Jubelschrei ausstoßen mögen, schwang sich aufs Sims,
zog sich mit fast jugendlicher Elastizität hinüber – und stand in einer schmalen gekachelten Kammer, in der er zu seiner Verblüffung eine Toilette erkannte. Als er im großen Korridor stand, der zum Wohnraum führte, lauschte er ins Haus. Nichts rührte sich. Eine beängstigende Stille erfüllte die große Villa. Auf leisen Sohlen bewegte er sich weiter bis zu der Tür, in der Sheila gestanden hatte, als sie ihn zum Essen bat. Leise öffnete er sie, hob sie an, um ein Knarren und Quietschen der Angeln zu verhindern, und stand dann im Speiseraum. Drüben war die große Tür zum Park, da stand der Tisch, an dem er mit ihr gegessen hatte, und drüben führte der schmale Gang zum Rauchzimmer. Als er auf dem dicken dunkelroten Teppich stand, schimmerte gegenüber am Kamin die große chinesische Vase, die er neulich gesehen hatte. Und da standen die schweren schwarzen Sessel und die Couch. Die Couch, auf der er neben ihr gesessen hatte. Leise bewegte er sich weiter vorwärts auf die Garderobe zu, den mit den bunten Blumen austapezierten Umkleideraum, der vor ihrem Zimmer lag. Es war hier so dunkel, daß er die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Er mußte sich an den Wänden entlangtasten und wäre beinahe gegen die schwere Mahagonitür gestoßen, die zu Sheilas Zimmer führte. Behutsam umspannte seine Rechte den ziselierten Messinggriff, drehte ihn nach rechts und öffnete die Tür. Er brauchte sie nicht anzuheben. Alles ging hier offensichtlich gut geölt und lautlos vor sich.
Die Finsternis, die in ihrem Schlafgemach herrschte, erschreckte ihn. Vor allem aber der schwere Blumenduft, der ihm schon an der Tür entgegenschlug. Zum Teufel! Weshalb hatten sie die Vorhänge zugezogen? Er konnte es auf keinen Fall wagen, Licht zu machen. Sekundenlang stand er in der halboffenen Tür, lauschte ins Haus, schob die Tür dann hinter sich zu und tastete sich vorwärts. Bis zu ihrem Bett waren es gewiß mehr als zwanzig Schritte. Der Raum war riesengroß. Aber hier vorn rechts war ihre Frisiertoilette, und da mußte ein kleiner gestreifter Sessel stehen, den er nicht einmal erkennen konnte, so dunkel war es. Ah, da hatte er die Lehne unter den Fingern seiner rechten Hand, tastete über den glänzenden englischen Stoff, und das schleifende Geräusch drang ihm in die Nerven. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß und hielt jetzt auf ihr Bett zu. Plötzlich stieß er mit dem rechten Knie gegen einen hölzernen Gegenstand. Tastend schob er seine rechte Hand vor und führte sie über diesen glatten Gegenstand, den er nicht kannte. Er griff etwas fester zu und stellte fest, daß er schwer war und sich nicht verrücken ließ. Ein Tisch? Mit so schrägen Linien? Und was war das? Eine Verschnörkelung, und dann ein schwerer Ring, der leise in seinem Gefüge ächzte, als er ihn bewegte. McBain stand mit geschlossenen Augen, weit geöffnetem Mund und angehaltenem Atem da. Was war denn das, was ihm da den Weg versperrte?
Er hob die Hand etwas an, senkte sie wieder – und fast wäre ihm ein Angstschrei von den Lippen geflogen. Seine Rechte hatte ein kühles menschliches Gesicht berührt. Sheila! blitzte es durch sein Hirn. Sie lag hier aufgebahrt in ihrem Sarg. Sein ganzer Körper wurde von einer Gänsehaut bedeckt, und ein Schauer rann über seinen Rücken. Wie gelähmt verharrte er in unmittelbarer Nähe des Sarges, brauchte fast eine volle Minute, bis er die Kontrolle über seine Nerven wiedergefunden hatte. Er ging in die Knie und versuchte, gegen den schwachen Schimmer, den er erst jetzt vom Fenster her bemerkte, die Konturen des vor ihm stehenden Gegenstandes zu erkennen. Tatsächlich! Da lag ein Mensch in einem Sarkophag! Aufgebahrt, reglos in der Stille des Todes. Mehrere Sekunden verrannen. Dann griff der Eindringling in die Hosentasche, nahm Zündhölzer heraus und riß eines an. Aber nur für den Bruchteil eines Augenblicks, dann ließ er es schon wieder verlöschen, denn der fahlgelbe Lichtschein hatte seine Vermutung bestätigt. Mit kalkigem Gesicht, das von der Totenblässe und der Leichenstarre gezeichnet war, lag Sheila Gennan in einem lilafarbenen ausgeschlagenen Sarg, der mit aneinandergereihten Rosen geschmückt war. Hinter dem Sarg standen gewaltige Blumensträuße in großen Kübeln. Die Stille des Todes hatte etwas Unabwendbares an sich, das den Mörder erschauern ließ.
Er wich zurück, griff sich an die Kehle, blieb dann wieder stehen und vermochte immer noch keinen klaren Gedanken zu fassen. Flucht! Das war das einzige, das im Vordergrund seines Hirns stand. Aber dann dachte er wieder an den Zweck seines Kommens. Er hatte schließlich nicht umsonst all die Mühen durchgestanden, um hierherzukommen. Ein Mann, der jahraus, jahrein in einem muffigen Raum saß, um Buchhaltungsarbeiten für reiche Leute zu machen, der war weder gewohnt, einen vollen Tag durch die Straßenschluchten der Stadt zu laufen, noch akrobatische Leistungen zu vollbringen, um in fremde Häuser einzusteigen. Aber all dies hatte er getan. Er hatte es getan, um einmal die Schergen des FBI abzuschütteln, und zum anderen hierher zu gelangen, weil es hier etwas zu holen gab. Er bückte sich jetzt tief an den Boden und schlich auf allen vieren vorwärts, und zwar so, daß er sicher sein konnte, weit genug von dem Sarg entfernt zu sein. Dennoch prallte er mit dem Kopf gegen das weiche Polster des Betts. Er tastete sich an dem glatten Stoff entlang auf die andere Seite und ging jetzt nur Inch für Inch vorwärts, bis seine rechte Hand gegen die Kommode stieß, auf der er die Schmuckkassette gesehen hatte. Zitternd tasteten seine Fingerspitzen über die Truhenoberfläche. Sie war leer – bis auf eine gewaltige Vase, die er fast umgestoßen hätte und die gefüllt war.
Die Kassette war weg! Hätte er es sich nicht denken können? War es nicht ganz klar, daß man so etwas nicht hier herumstehen ließ, in einem Zimmer, in dem Totenbesuche gemacht wurden? Schließlich war die Bekanntschaft Sheilas groß genug. Hier war heute sicher die reinste Prozession, die an ihrer Bahre entlangführte. Er war wieder in die Hocke gegangen, wandte den Kopf zurück zum Sarg und konnte jetzt tatsächlich das fahle Gesicht der Toten in dem schimmernden Seidenstoff erkennen. Seine Rechte tastete an der Intarsienarbeit der antiken Kommode entlang, hatte jetzt den Schlüssel erfaßt, drehte ihn um, und die Tür sprang auf. Seine Hand griff in die Kommode hinein und hatte die Finger auf einem kühlen, glatten Gegenstand. Leder! Es war die Kassette! Er tastete nach dem Schlüsselchen – aber vergebens. Kurz entschlossen nahm er die ganze Schatulle heraus, schob den Schrank wieder zu und ging zurück, diesmal mit dem Rücken zum Fenster. Durch das diffuse Licht des jetzt durchbrechenden Mondes sah er den offenen Sarg jetzt fast deutlich trotz der zugezogenen Vorhänge vor sich. Sekundenlang blieb er noch stehen und warf einen Blick auf die Schweigsame, die da in ihrer letzten Wohnstätte lag. Damit würde sie die endlose Reise in die Ewigkeit antreten. Ihr Wandeln auf dieser Erde war vorüber. Er, Joseph McBain, hatte es beendet. Hier, mit seinen Händen, die jetzt ihre lederne grüne
Schmuckschatulle umspannten, hatte er ihr Leben ausgelöscht. Weil sie seine heimliche Leidenschaft, die er für sie empfand, nur mit Spott und Hohn bedacht hatte. Weil sie ihn verachtete, und weil sie ihn ihre Verachtung hatte fühlen lassen. Der maskierte Dandy, den sie für einen deutschen Baron hielt, der war ihr nicht zu schlecht für das üble Spiel, das sie hier in diesem Raum mit ihm zu treiben gewillt war. Dafür hatte sie den Tod aus seinen Händen empfangen. Er ging jetzt rascher vorwärts auf die Tür zu und schrak jäh zusammen! Was hatte sich da links von ihm bewegt? Ein Mensch! Deutlich konnte er den hellen Kragen erkennen und auch die Hemdbrust. Wieder drohte ihm der Pulsschlag zu stocken, das Haar sträubte sich ihm im Genick und seine Hände, die die geraubte Kassette umspannten, zitterten. Dann hob er plötzlich die Linke an – und sah, daß auch der Mann drüben seinen Arm bewegt hatte. Seine helle Manschette schimmerte deutlich zu ihm herüber. Jetzt hatte er begriffen. Es war sein Spiegelbild, das ihn da narrte. Er zerquetschte einen leisen Fluch zwischen den Zähnen, griff nach der Tür, zog sie auf und gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein. Hastig eilte er durch den Rauchsalon, passierte das Speisezimmer, und als er im Korridor stand, mußte er überlegen, von welcher Seite er gekommen war. Ach ja, da von links. Er mußte die Tür zu diesem kleinen Toilettenraum finden,
Es war die fünfte Tür. Als er sie erreicht hatte, hielt er inne. Plötzlich hatte ihn ein unheimliches Gefühl beschlichen. Wie nun, wenn inzwischen jemand die Toilette aufgesucht hatte? Vielleicht war es die Toilette des Personals. Er kannte das Haus hier unten in seinem privaten Teil so gut wie überhaupt nicht, hatte keine Ahnung, wohin das Hauspersonal sich mit seinen Bedürfnissen zu wenden hatte. Er selbst pflegte die kleine Toilette oben im Obergeschoß zu benutzen. Eine halbe Minute verharrte er neben der Tür im Dunkel vor einer Portiere und wartete. Ach was, wenn jemand da drin wäre, müßte man doch ein Geräusch hören, zumindest das Atmen eines Menschen. Aber da war alles still. Er erhob sich, griff nach der Tür, zog sie auf, und ein gellender Schreckensschrei brandete ihm entgegen. Ein Schrei aus einer Frauenkehle! Obgleich McBain selbst von einem tödlichen Schrecken erfaßt worden war, besaß er doch Geistesgegenwart genug, ein »Pardon« zu murmeln. Er wandte sich um und ging mit raschen Schritten den Gang zurück bis zum Speisezimmer, öffnete die Tür, schloß sie wieder hinter sich und mußte sich mit der Linken den Schweiß von der Stirn wischen. Jetzt galt es, auf dem schnellsten Weg zu verschwinden. Selbst, wenn das Hausmädchen ihn für den Diener oder vielleicht auch für den Gärtner gehalten hatte, war es gefährlich für ihn, noch länger im Haus zu bleiben. Er durchquerte den
Speiseraum, stieß gegen ein Fußbank, stolperte, und die Kassette fiel zu Boden. Er fand sie unter einem Sessel erst nach längerem Herumtasten, nahm sie unter den rechten Arm und ging auf die Balkontür zu. Es dauerte eine ganze Weile, bis es ihm gelungen war, den Mechanismus zu entdecken, der die Tür anhob und dann erst öffnen ließ. Er stand einen Moment davor, lauschte in den Park und entfernte sich dann von der Rückfront des Hauses. Immer wie vorhin dicht neben dem Kies auf dem Rasen gehend, hielt er auf die Zaunstelle zu, durch die er Einschlupf gefunden hatte. Als er fünf Minuten später den Irving Park Boulevard hinunterschritt und die Bushaltestelle erreicht hatte, war er schweißnaß; mußte sich an eine Mauer lehnen, da ihm die Knie den Dienst zu versagen drohten. * Natürlich hatte er keinen Bus von Itasca zur Stadt nehmen können, da er ja gesehen werden könnte und es immer wieder Leute gab, die sich an einen erinnerten. Fast an der gleichen Stelle, an der er vor zwei Tagen seine elegante Montur hatte versenken müssen, nämlich an einer breiten Stelle des Salt Creek, hatte er haltgemacht und in der Dunkelheit die Schatulle erbrochen. Zu seiner grenzenlosen Verwunderung fand er außer einem breiten Goldarmband keinerlei Schmuck darin, sondern nur ein dickes Geldbündel. Beim Schein eines
rasch angerissenen Zündholzes stellte er dann zu seinem größten Jubel fest, daß es Hundertdollarnoten waren. Lauter Hundertdollarnoten! Er stopfte das dicke Bündel verteilt in seine Taschen, nahm dann einen schweren Stein vom Ufer, packte ihn in die Kassette, band eine Schnur darum und ließ sie im Wasser versinken. Hundertdollarnoten! Waren es tatsächlich nur Hundertdollarnoten? Allmächtiger, das mußte ja ein Vermögen sein, das er da bei sich trug! Seine Brusttaschen waren prall gefüllt, seine Jackentaschen und auch noch seine Hosentaschen. Was tat die Frau mit so viel Geld im Haus? Vielleicht hatte sie sich das Geld von der Bank geholt, um wieder einen neuen Wagen zu kaufen. Sie kaufte sich alle halbe Jahre neue Autos, sehr zum Leidwesen ihres Vaters. Der private Buchhalter der Familie Gennan wußte das besser als jeder andere, und er hatte mehrmals erregte Streitgespräche zwischen Sheila und ihrem Vater deswegen gehört. Und ihm war das jetzt zugute gekommen! Das waren ja mindestens fünfzehntausend Dollar, die er da bei sich führte, wenn nicht noch mehr! Unter der ersten Straßenlaterne konnte er es sich nicht verkneifen, die Summe nachzuzählen. Das Ergebnis war so überwältigend, daß ihm förmlich schwindelig wurde. Es waren einunddreißigtausend Dollar, die er in seinen Anzugstaschen hatte!
»Einunddreißigtausend Dollar!« Seine Lippen hatten die beiden Worte geformt, als müßten sie sie in Platin fassen. Er war in der School Street in Wood Dale in den Bus gestiegen und hinüber in die City gefahren. Mit einunddreißigtausend Dollar in der Tasche sah alles plötzlich ganz anders aus. Merkwürdig, welch ein Selbstbewußtsein einem das Geld doch zu geben vermochte. Fast konnte er jetzt die tote Sheila ein wenig begreifen, nachdem sie doch das Hundertfache von dem besaß, was er ihr jetzt gestohlen hatte. Mit so viel Geld mußte ein Mensch ja hochnäsig und spöttisch werden. Er konnte ja kein Gefühl für die übrige Menschheit haben, die für lumpige fünfundfünfzig Dollar in der Woche schuftete. Der Mann, der einen Mord mit seinen Händen begangen hatte, tauchte in den dunklen Straßenschluchten von Cicero unter. * Es war tatsächlich so, wie McBain vermutet hatte; Eliot Ness hatte ihm seine Leute auf die Spur geschickt, und es war McBain gelungen, die G-men abzuschütteln. Die Suche nach ihm lief in der Nacht auf vollen Touren. Aber vergebens. Eliot Ness war leider nicht in der Lage, eine offene Fahndung nach dem Mann zu starten, denn dazu
bedurfte es einer richterlichen Befugnis, da er keinen Schuldbeweis gegen den Mann in Händen hatte. Diesem Umstand verdankte McBain sein Entkommen. Vor allem aber dem Geld, das ihn jetzt in die Lage versetzte, überall offene Türen zu finden. Ein Mann, der mit Hundertdollarscheinen um sich werfen konnte, der fand überall Hände, die gierig danach griffen, und Menschen, die bereit waren, dafür zu schweigen. Als Eliot Ness und sein Vertreter Cassedy am Oakwood Cemetery zurück waren, war es fast elf Uhr abends. Inzwischen hatte der Mörder drüben dem Haus seines Opfers den Besuch abgestattet und seinen Raub ausgeführt. Der dicke Cassedy hatte das Extrablatt der Chicago News aus seiner Manteltasche genommen und warf es ärgerlich auf den Schreibtisch, als er sagte: »Er ist uns durch die Lappen gegangen. Ein Jammer, daß uns die beiden Gangster dazwischenkamen. Wir hätten ihn sicher nicht verloren.« Es waren ihnen zwei Banditen vor einem Warenhaus in die Quere gekommen, die beim Anblick des ChefInspektors Reißaus genommen hatten. Da in solchen Fällen grundsätzlich den sichtbaren und flüchtenden Banditen zuerst gefolgt wurde, hatten die G-men deren Verfolgung aufgenommen. Es war eine halsbrecherische Sache geworden, die einem der Gangster einen Beinbruch eingebracht hatte. Es waren Capone-Leute, wie Eliot Ness vermutete, die jedoch an der Parole des
allmächtigen Italo-Amerikaners festhielten: Wer sitzt, schweigt, wer redet, stirbt. Kein Wort kam über die Lippen, als sie im Untersuchungsgefängnis des FBI abgeliefert worden waren und in den Verhören steckten. Auch die raffinierteste Methode half nichts, kein Laut war ihnen zu entlocken. Eliot Ness kannte das und hatte sich deswegen nicht allzulange mit ihnen aufgehalten. Er war noch zweimal in North Lake gewesen und hatte in der Lyndale Avenue die beiden Wohnungen durchsuchen lassen, war dann am späten Nachmittag noch einmal drüben in Itasca gewesen, hatte mit dem Butler gesprochen, mit dem Gärtner, mit der Köchin und mit dem Dienstmädchen. Aber es war alles ergebnislos verlaufen. Die Recherchen hatten nichts eingebracht, und die sogenannte Auswertung von Beobachtungen, von denen so gern und oft die Rede ist, konnte auch nichts erbringen, da niemand den Buchhalter McBain näher kannte, wie sich herausstellte. Niemand wußte Genaueres von ihm, ja, man wußte nicht einmal, wo er wohnte. So wenig hatten die Leute in der Villa Gennan miteinander zu tun. Auch, wo der Hausherr sich im Moment aufhielt, konnte niemand sagen. Man vermutete, daß es außer der Ermordeten und vielleicht dem Buchhalter niemand wußte. In Wirklichkeit wußten es nicht einmal die beiden. Plötzlich nahm Eliot Ness das Zeitungsblatt an sich, und Cassedy sah, daß er die Brauen runzelte.
»Was gibt’s denn? Hat unser Freund Matherley wieder eine Ente losgelassen?« »Ich weiß nicht, ob es eine Ente ist«, entgegnete der Norweger und überflog den Artikel kurz. Dann reichte er das Blatt Cassedy. Der hatte den Bericht ebenfalls kaum gelesen, als er einen Fluch ausstieß. In dem Artikel stand nicht mehr und nicht weniger, als daß sich ein Mann beim Chicago News eingefunden hatte, der dem Chefredakteur von einem gewissen Rotheberg erzählte, der überall mit seinem gelungenen Coup herumprahlte. Matherley hatte dieser Feststellung die Überlegung beigefügt, daß es sich da möglicherweise um jenen mysteriösen Rotheberg handelte, der in die Affäre Gennan verstrickt sei. So spät es war – Eliot Ness und Pinkas Cassedy machten sich sofort auf den Weg zu dem Wolkenkratzer der Chicago News. Im 23. Stock saß hinter einer Menge verschlossener Türen der gewaltige Fleischturm, der dieses Riesenblatt dirigierte. Er war auch um diese späte Nachtstunde noch in seinem Büro. Als er hörte, wer sich bei ihm angemeldet hatte, knurrte er: »Ness! Was will der denn?« Da trat der Inspektor schon an der Sekretärin vorbei in den Raum und ging auf den Schreibtisch des Zeitungsmannes zu.
»Was wollen Sie denn, Ness? Ich habe jetzt keine Zeit, das sollten Sie wissen. Wir bereiten die Frühausgabe vor und –« »Wer war der Mann, der Ihnen den Tip gebracht hat?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Hören Sie, Matherley, wir haben eine ganze Weile miteinander Murmeln gespielt, und ich denke, daß ich dabei drei Augen zugedrückt habe.« »Sie? Drei Augen zugedrückt? Was fällt Ihnen denn ein, Mensch! Wie kommen Sie sich denn vor! Sie spielen sich ja schon auf, als wären Sie hier der Stadtdirektor. Nein, nein, mein Lieber, der sind Sie nicht, und auf dem Stuhl, auf dem Sie da sitzen, sitzen Sie gar nicht so fest, wie Sie glauben. Das kann jeden Tag zu Ende sein. Ich habe da meine Beziehungen.« »Ja, daß Sie Beziehungen haben, das weiß ich, Matherley. Und eben, weil Sie die haben, werden Sie jetzt daran denken, daß Sie gegen das Gesetz handeln, wenn Sie mir nicht augenblicklich den Namen des Mannes sagen, der Ihnen diesen sonderbaren Tip gegeben hat.« »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.« »Das wissen Sie sehr genau.« Es war einen Augenblick still. Die beiden standen einander mit blitzenden Augen gegenüber. Der riesige Fleischturm war fast ebenso groß wie der FBI-man. Seine Augen lagen hinter einer dickglasigen Brille und schienen winzig klein wie Mausaugen. Er war ein unerhört tüchtiger und begabter Mann, dieser Rufus Matherley. Schade nur, daß er ein so verbissener Gegner war.
Eliot wußte, daß er ihn nur im Rush überrennen konnte – wenn überhaupt. Doch es gelang nicht. Matherley erwies sich als zäher. »Ich gebe Ihnen jetzt genau drei Sekunden Zeit zu verschwinden, Ness. Wenn Sie den Laden dann nicht geräumt haben, rufe ich meinen Anwalt an. Sie wissen genau, daß Sie nicht das geringste Recht haben, mich hier bei meiner Arbeit zu stören.« »Sie haben einen Bericht gebracht, der mit dem Mordfall Gennan in Zusammenhang steht. Sie wissen genau, daß der Fall vom FBI bearbeitet wird. Und was Sie da erwähnt haben, ist unter Umständen ein wichtiger Hinweis, der zu dem Mörder führen kann.« »Möglich«, entgegnete Matherley, während er sich mit einem Ruck auf seinen Sessel zurückfallen ließ, daß das Gestühl in seinem Gefüge ächzte. Dann griff er nach seiner Kaffeetasse, nahm schlürfend ein paar Schlucke und schüttelte dann sein mächtiges, von dichtem grauem Haar umkränztes Haupt. »Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Sehen Sie zu, was Sie machen können. Schließlich ist es Ihr Job, Banditen zu jagen, und nicht der meine. Gute Nacht, Mr. Ness!« Es hatte keinen Zweck. Eliot mußte das Feld räumen. Es hatte sekundenlang so ausgesehen, als würde sein Sturmlauf etwas einbringen, aber er hätte eigentlich gar nicht auf Erfolg gehofft. Als er den Vorraum betrat, saß der dicke Cassedy bei der hübschen Sekretärin auf dem Tisch und feixte.
Eliot grüßte das Mädchen kurz und verließ die Räume der Chefredaktion. Als sie im Elevator nach unten sausten, meinte Cassedy: »Na, nichts?« »Nein.« »Dafür weiß ich alles«, entgegnete Cassedy. »Während Sie sich mit dem Walroß da drinnen boxten, habe ich meine Beziehungen etwas spielen lassen.« »Monica Leclerc?« forschte er ahnungsvoll. »Ja. Ihre kleine Verehrerin –« »Wie kommen Sie darauf, daß das meine Verehrerin ist?« »Ich habe es Ihnen doch schon ein paarmal gesagt. Sie ist ganz verrückt nach Ihnen. Wenn Sie durch den Raum bei ihr da kommen, wird sie immer puterrot. Ich glaube, wir sollten sie eines Tages doch ins Polizeicorps aufnehmen. Wir brauchen drüben bei uns so wache Geschöpfe.« »Sie wissen, daß ich gegen Abwerbung bin, Pink«, entgegnete der Chef-Inspektor, zwinkerte dem Dicken zu und forderte ihn dann auf: »Also? Schießen Sie los!« »Er heißt Royad, Boris Royad. Fünfzig Dollar hat er sich den Tip kosten lassen.« Mit einem Ruck kam der Aufzug zum Stehen. Die beiden verließen ihn, durchquerten die pompöse Halle des Zeitungshauses, und als sie auf der Straße standen, erklärte Cassedy: »Leider ist die Adresse ein Windei. Ich habe es schon überprüft.«
»Dann dürfte es wohl das beste sein, wenn wir zunächst mal mit ›Brille‹ sprechen.« Der alte, schon etwas klapperig gewordene zweisitzige Ford des Norwegers fuhr durch die immer noch verkehrserfüllten Straßen der Weltstadt nordwestwärts, dem verrufensten Stadtteil Chicagos entgegen. Im alten Cicero befanden sich fast sämtliche Gangsterquartiere, und auch die kleinen Verbrecher nisteten hier. Vor einer kleinen Kellerbar in der dreiundzwanzigsten Straße verlangsamte der Inspektor die Fahrt, ließ den Wagen dann ausrollen und zog die Bremse an. Die beiden stiegen aus und gingen auf die Kellerschenke zu. Es bedurfte keines weiteren Wortes zwischen ihnen, denn die Aufteilung war ganz klar und fast immer die gleiche. Während Eliot Ness die Schenke von vorn betrat, hatte Cassedy ihren rückwärtigen Ausgang zu besetzen. Da dies zuweilen sehr schwierig war, weil die Häuser oft sehr eng aneinanderklebten, so daß gar kein Schacht zwischen ihnen klaffte, mußte Cassedy versuchen, durch ein Nebenhaus in den Hof der Schenke zu kommen. Aber auch das sollte ihm hier schwer werden, denn die beiden Nebenhäuser waren verschlossen. Offensichtlich hatten die Leute hier schon schlechte Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht. Der Norweger hatte die Schenke kaum betreten, als sich ein untersetzter Mann mit einer unglaublich
dickglasigen Brille vom Thekenende löste und versuchte, durch die Hintertür in den Gang zum Hof zu kommen. Eliot wußte, daß er da nicht allzuweit kommen würde, trat deshalb noch vor der Theke in den Korridor und sagte mit halblauter Stimme: »Bleiben Sie stehen, Brille!« »Ach, Sie sind’s! Welch eine Überraschung!« tat der untersetzte, schmalschultrige und hühnerbrüstige Mann in der blauen Schifferkappe und mit dem abgetragenen grauen Anzug. »Was führt Sie denn wieder mal zu mir?« »Wer sagt Ihnen, daß ich zu Ihnen wollte?« »Ich nehme es doch an. Sie werden doch sonst hier kaum Freunde haben.« »Schade, man kann nie genug Freunde haben, Brille.« »Zum Teufel, nennen Sie mich nicht immer ›Brille‹, Mr. CHICAGO.« Der Inspektor hatte den kleinen Mann jetzt erreicht und stand in der Enge des Flures vor ihm. Er überragte ihn sicherlich um drei Köpfe. »Also, was gibt’s?« schnarrte der Mann, während er ängstlich zur Schankhaustür hinüberlinste. »Ich suche Royad.« »Royad? Kenne ich nicht.« »Denken Sie nach. Es ist ein untersetzter Mann mit schmalem Kopf und hartem, verwüstetem Gesicht. Die Augen sind von dichten schwarzen Wimpern besetzt, braun mit Tränensäcken darunter. Er hat schwarzes Haar, an den Schläfen grau. Wahrscheinlich ein Balte.«
»Tut mir leid.« »Denken Sie nach, Brille. Es handelt sich um Mord.« Der kleine Spitzel schluckte, griff sich dann unwillkürlich an seinen spitzen Adamsapfel, zog die Papierkrawatte am Gummiband zurecht und ließ den kleinen Finger der linken Hand im Ohr hin und her tanzen. »Wenn ich nachdenke, fällt mir nichts ein.« »Lassen Sie sich etwas einfallen, Brille. Und zwar schnell!« Der Spitzel sah hinten an der Hoftür die massige Gestalt Cassedys auftauchen und feixte: »Na ja. Wenn ich wirklich sehr scharf nachdenke, könnte mir ein Bulgare einfallen, ein Bursche, der sich Boyadirev nennt, Alexander Boyadirev.« »Und wo wohnt er?« »Hier in Cicero.« »Das habe ich angenommen. Lassen Sie sich nicht jedes Wort wie mit der Leimrute rausziehen, Brille. Wo finde ich ihn?« »Drei Häuser weiter. Es ist das Eckhaus hier.« »Und wo wohnt er da?« »Parterre rechts. Aber ich bin sicher, daß Sie nie etwas von mir erfahren haben?« »Natürlich nicht.« Da streckte ihm der kleine schmierige Mann seine kurzfingerige Hand entgegen. Eliot drückte ein Geldstück hinein. Da spie der kleine Ganove aus.
»Sie werden auch immer geiziger, Boß.« »Halt deinen Rand, Brille, sonst drücke ich dir die Nase ein«, kam es da rauh von der Hoftür her. Cassedy war im nächsten Augenblick verschwunden. Eliot Ness durchquerte die kurze Ecke der Schenke und war gleich darauf auf der Straße. Sie standen in dem bezeichneten Hausflur unten vor der Tür, auf der tatsächlich die Aufschrift »Boyadirev« zu lesen war. Es war ein kleines Messingschild, in das die Buchstaben kunstvoll eingraviert waren. »Er wird sich kaum freuen um diese Zeit«, meinte Cassedy, während er den Finger auf die Klingel setzte. Aber es wurde gleich geöffnet. Der Mann sah genauso aus, wie die kleine scharfäugige Monica Leclerc ihn beschrieben hatte. Aus erstaunten Augen blickte er die beiden Männer an. »Was wollen Sie denn jetzt noch? Um diese Zeit empfange ich keine Besuche mehr. Handelt es sich um Uhren oder –« »FBI«, sagte Eliot Ness und zog den Ausweis, den er dem anderen hinhielt. Der hatte nur einen kurzen Blick darauf geworfen, verzog nicht im mindesten das Gesicht, nahm die Schultern hoch, ließ sie wieder fallen und meinte: »Na ja, dann kommen Sie eben rein. Was wollen Sie denn?« »Können Sie sich das nicht denken?« »Na ja. Es ist also mit Matherley auch nichts mehr los.« »Keine Sorge, er hat Sie nicht verraten.«
»Aber wie wollen Sie es sonst herausgebracht haben?« forschte der Bulgare verschlagen. Er war ganz der widerliche Typ, als den ihn das Mädchen geschildert hatte. »Unsere Sache. Sie werden schließlich annehmen, daß auch das FBI seine Augen offen hat.« Der Mann war überaus pompös eingerichtet und gab sich ganz mit der Frechheit, die den zugewanderten primitiven Menschen seines Schlages eigen war. Nichts von der sonstigen Vornehmheit wirklich feiner Bulgaren war an ihm zu spüren. Er war der gewöhnliche Strolch, der Parvenü, der durch gesetzwidrige Geschäfte unter dem Pegel der Chicagoer Unterwelt hochgekommen war. Ein Zigeuner, der einfältigere, weniger verschlagene Banditen auszunutzen wußte und sich damit einen gewissen Wohlstand geschaffen hatte. Ein Mensch jedoch, der, wie alle, früher oder später untergehen würde. »Kann ich einen Blick in Ihre Wohnung werfen, Mr. Boyadirev?« forderte Eliot den Ganoven auf. »Natürlich, bitte, kommen Sie mit.« Während Cassedy vorn im Vorraum blieb, folgte Eliot Ness dem Bulgaren durch sage und schreibe sieben Räume, die alle mit größtem Pomp eingerichtet waren. Der Chef-Inspektor hatte gar nicht vermutet, hier etwa irgendwo den verborgenen Rotheberg entdecken zu können. Den Gang hatte er rein gewohnheitsmäßig gemacht – und dabei sogar etwas entdeckt, das nicht wertlos für ihn war. In einer Ecke des vorletzten
Zimmers hing neben einer Ikone eine große Fotografie, auf der etwa ein Dutzend Männer abgebildet waren. Gewohnheitsmäßig hatte der Inspektor einen Blick darauf geworfen – und dabei ein Gesicht entdeckt, das äußerst interessant für ihn war. Es war das Gesicht des Gangsters Rudi Stock, eines Bruders des Bandenführers Friedrich Stock. »Würden Sie mir wohl sagen, wo diese Aufnahme gemacht worden ist, Mr. Boyadirev?« »Ach, ich weiß schon: Es geht um Stock. Ja, damals war er noch ein harmloser Bursche. Wir hatten zusammen einen Ausflug zu den Fischgewässern drüben am Potomac gemacht. Es ist schon sieben Jahre her.« »Und wissen Sie, wo er jetzt ist?« »Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß er gesucht wird, genau wie sein Bruder.« »Sie werden gestatten, daß ich von diesem Bild einen Abzug machen lasse.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das gestatten kann.« »Tut mir leid, ich muß darauf bestehen.« Eliot, der noch vor dem Bild stand, entdeckte jetzt neben Boyadirev selbst einen jungen Mann, der finster dreinblickte, einen gewaltigen Schnauzbart hatte, und dem das schwarze Haar tief in die Stirn wuchs. »Wer ist denn das?« »Das ist –«, der andere unterbrach sich, fügte dann aber rasch hinzu: »An den kann ich mich nicht mehr
erinnern. Ich weiß nicht, wer das ist. Ich glaube, er hieß Johnny oder so.« Eliot Ness ahnte nicht, daß er in diesem Augenblick zum erstenmal in eine entfernte Berührung mit dem nach Capone größten Gangster aller Zeiten gekommen war, nämlich mit John Dillinger. »Kommen wir also zur Sache«, sagte Eliot als sie wieder im Vorraum waren. »Wo wohnt er?« »Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.« »Mach’s kurz, Junge, sonst gibt’s Ärger«, knurrte ihn Cassedy von der Seite an. »Inspektor, bitte, sagen Sie diesem widerlichen Menschen –« »Vorsicht, Mann! Es könnte Ihnen sonst passieren, daß ich mich für ein Ausweisungsverfahren interessiere«, fauchte Cassedy. Das waren Dinge, die Leute wie dieser Boyadirev nicht gern hörten. Er schwieg also und meinte: »Na ja, ich weiß. Es ist wegen Rotheberg. Ich habe mir da ein paar Bucks verdient bei der Zeitung. Weshalb auch nicht?« »Wo wohnt er?« »In Niles.« »Wo da?« »In der Monroe Street.« »Nummer? Mann, lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.« »Elf.«
»Gut. Ich hoffe, daß damit die Sache für Sie erledigt ist, Boyadirev.« »Das hoffe ich auch, Inspektor.« Als die beiden FBI-men draußen waren und zu ihrem Wagen gingen, meinte Cassedy: »Jetzt muß man natürlich damit rechnen, daß er den anderen anruft.« »Damit müssen wir ja immer rechnen, Pink. Wahrscheinlich kommen wir wieder zu spät und finden nur ein leeres Nest.« »Diesmal wohl kaum. Er kann nämlich nicht anrufen.« »Und weshalb nicht?« Pinkas Cassedy zog den Inhalt der Telefonmuschel aus der Tasche. »Ich habe mir erlaubt, sein Telefon während Ihrer beider Abwesenheit etwas zu erleichtern.« »Sie, das ist Diebstahl.« Eliot schüttelte den Kopf und stieg in den Wagen. »Sie bleiben also hier?« »Ja, natürlich.« Weiter gab es nichts zu besprechen. Es war ganz klar, was Cassedy jetzt zu tun hatte. Er würde im Hausgang warten, bis Boyadirev das Haus verließ, und ihm dann folgen; da zu vermuten stand, daß der Bulgare irgendwo anders versuchen würde zu telefonieren, nachdem er die Feststellung gemacht hatte, daß mit seinem Apparat etwas nicht in Ordnung war. Als Eliot Ness in der Monroe Street in Niles ankam, war er nicht mehr sicher, ob es dem Bulgaren nicht doch
gelungen war, irgendwo zu telefonieren und seinen Mann zu warnen. Unten im Haus war eine Schenke. Da es offensichtlich keinen speziellen Hauseingang gab, was eigentlich seit 1926 in Amerika verboten war, mußte auch er durch die Schenke eintreten. Er ging auf die Theke zu, die nur noch von etwa sieben oder acht Leuten umlagert war, und erkundigte sich bei dem schwerbäuchigen, kahlköpfigen Wirt nach der Wohnung von Mr. Rotheberg. David Schaluppe, der seit siebenunddreißig Jahren hier seine Kneipe in der Monroe Street hatte, blickte den Fremden mit schräggelegtem Kopf mißtrauisch an. »Ein Freund von Ihnen?« »Ich denke, daß das meine Sache ist, Mister«, entgegnete Eliot ausweichend. »Natürlich. Er wohnt auf der letzten Etage links. Sein Name steht an der Tür.« Als der FBI-man die Tür zum Korridor hinter sich zugezogen hatte, preßte er sofort das Ohr auf ihr dünnes Füllungsholz. Deutlich hörte er, wie der Telefonapparat abgenommen wurde, und dann drang die schnarrende Stimme des Wirtes unterdrückt an sein Ohr. »Du, da ist einer, der zu dir will. – Keine Ahnung, vielleicht ein D-Mann. – Nein, nein. Ein riesiger Kerl. – Nein, nicht alt, ziemlich jung. Vielleicht dreißig oder höchstens fünfunddreißig. – Nein. Ich habe ihn nie gesehen. Weiß ich nicht.«
Als die Tür unten aufgerissen wurde, war niemand im Korridor zu sehen. Blitzschnell hatte Eliot Ness sich in das Dunkel unter der Treppe verzogen. Als der Wirt die Tür wieder schloß, stieg Eliot die Treppe hinauf. Es waren sieben Etagen bis zu der abgeschabten Wohnungstür, auf der eine Visitenkarte mit einer Heftzwecke befestigt war, die den Namen Rotheberg trug. Auf sein Klingeln kam erst nach einer ganzen Weile ein junger, kränklich aussehender Mensch mit einem Backenbart und eingefallenen Wangen. Seine Augen hatten einen grünen trüben Schimmer, und die Pupillen waren unnatürlich geweitet wie bei einem Morphinisten. »Kann ich hereinkommen?« Der Mann zog die Schultern hoch. »Natürlich«, sagte er und ging voran. Eliot schloß die Wohnungstür hinter sich, durchquerte den Korridor, und als er dem Mann in den erleuchteten nächsten Raum folgen wollte, entdeckte er an der Decke im Halbdämmer einen netzartigen Gegenstand. Aber zu spät sprang er zurück, denn der hammerartige Gegenstand, der direkt über der Tür gehangen hatte, streifte seinen zur Seite gerissenen Kopf noch so hart, daß er benommen zurück in den Flur fiel. Der Blaßgesichtige sprang sofort auf ihn zu, warf sich auf ihn – und Eliot, der in diesem Moment zu sich gekommen war, zog beide Beine an und schleuderte den anderen mit einem gewaltigen Stoß so weit von sich, daß
er in den Raum zurückflog und einen Tisch nebst einem Stuhl mit sich zu Boden riß. Eliot war sofort auf den Beinen und hatte seinen Colt Automatic in der linken Faust. »Hände hoch!« Er hatte es leise gesagt, aber die beiden Worte waren von einem so drohenden Unterton begleitet, daß der andere unwillkürlich die Hände in Schulterhöhe nahm. Eliot sah drüben an der Wand einen länglichen Arbeitstisch, über dem tief zwei scharfe Lampen brannten. Mehrere Dutzend Uhren lagen da, Ringteile und Armbänder. Der Mann war nicht etwa ein Juwelier, denn das primitive Werkzeug, das er da liegen hatte, wurde von ihm ausschließlich dazu benutzt, Edelsteine aus den Gegenständen zu brechen, die da vor ihm lagen. Für den geschulten Kriminalisten war es sofort klar, daß er sich hier in der »Werkstatt« eines Breachers befand. Dieser Mann beschäftigte sich damit, aus gestohlenen Uhren und Schmuckgegenständen die Edelsteine herauszubrechen, die dann von Mittelsmännern oder Aufkäufern im ganzen »verschrottet« wurden. Dieses Handwerk blühte seit eh und je in Chicagos Unterwelt, und Leute wie dieser schlaksige hohlwangige Bursche da wurden sehr gesucht, wenn auch schlecht bezahlt. Eliot trat an den »Arbeitstisch« heran, zog eine der winzigen Schubladen auf und fand eine ganze Handvoll
buntester Steine, die da in einer Streichholzschachtel lagen. »Ganz schöne Ausbeute das. Von einem Monat? Oder von einer Woche« »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Ich bin Uhrmacher.« »Ja, ja. Ich sehe es. Dann kann ich das Zeug ja hier aus dem Fenster werfen.« Eliot nahm die Streichholzschachtel und öffnete das Fenster. »Nein!« schrie Rotheberg und warf sich ihm entgegen. Eliot schleuderte ihn mit einem Faustschlag zurück. Der schlaksige Bursche knickte in die Knie ein und lag betäubt am Boden. Der Inspektor durchsuchte inzwischen das winzige Zimmer, schob die primitive Lagerstätte von der Wand weg, tastete die Wände ab, und dann fand er hinter einem Bild einen primitiv angelegten Tresor, den er mit dem ersten Nachschlüssel öffnen konnte, den er gezogen hatte. Da aber lagen nur ein paar Armbänder, aus denen die Steine noch nicht herausgebrochen waren – ziemlich wertloses Zeug – und zwei billige Ringe. Dann ein Papier, das auf den Namen Georg Rotheberg ausgestellt war. Eliot Ness vermochte später nicht mehr zu verstehen, wie er plötzlich sein sonst so waches Mißtrauen dem Manne gegenüber hatte fallenlassen können, wo er doch
das Netz an der Decke gesehen und fast von dem Schlagbolzen an der Tür getroffen worden wäre. In diesem Augenblick nämlich hatte Rotheberg mit dem linken Fuß neben dem Tischstempel einen Knopf erreicht, den er durch leichten Druck betätigte. Die drei Dielen, auf denen der Inspektor stand, gaben plötzlich nach, und der Sprung, den Eliot rückwärts machte, rettete ihn nur noch auf den Rand des Loches, von dem der andere, der ihm entgegengehechtet war, ihn hinunterstieß. Aber er war gar nicht etwa sehr tief gefallen, denn die Decken zwischen den Stockwerken waren selbst bei den ältesten Bauten kaum einen halben Meter dick. Die zehn Inches aber, die er gestürzt war, genügten, um ihn zurückzuwerfen. Noch aber hatte er die Colt Automatic in der Hand. Da wurde die Tür aufgestoßen und Schaluppe, gefolgt von zwei Muskelmännern, drang herein. Die beiden warfen sich sofort auf den Mann in der Fallgrube, zerrten ihn hoch und einer von ihnen, der ihn mit einem Fautschlag bedenken wollte, wurde von einem schweren Punch in die Magengrube getroffen, daß er durch die ganze Stube bis gegen das Fenster flog. Da ging er in die Knie. Eliot hatte sich an dem anderen hochgezerrt, warf den Mann über sich, und da schlug ihm Schaluppe mit einem schweren Gegenstand auf den Schädel, was ihn durch den Raum schwanken und gegen den gestürzten Tisch
fallen ließ. Er sank daran nieder und spürte, daß er einen Tritt in den Rücken bekam, der ihn vornüberfallen ließ. »Na also«, hörte er die tranige Stimme Schaluppes, »dann ist ja alles in Ordnung. Ach, sieh an, unser Uhrmacher ist ohnmächtig. Na ja. Gut, Jungs, eure Arbeit ist erledigt. Komm, Pete, hab’ dich nicht so. Der kleine Stecher in den Magen wird deine Verdauung nur fördern. Los, ihr könnt gehen.« Als die beiden Muskelmänner das Zimmer verlassen hatten, watschelte Schaluppe auf den Arbeitstisch zu, zerrte die kleine Schublade heraus und stieß einen Fluch aus, als er das Schächtelchen mit den Steinen nicht mehr vorfand. »Verdammt, wo ist es bloß?« Er zerrte alles aus den Schubladen heraus und schleuderte den Inhalt auf den Boden. Dann fegte er mit der Rechten die Uhren, Ringe und anderen Gegenstände von der Arbeitsbank und zerrte die Lampe, die an einer langen Schnur hing, weiter in den Raum, um den Boden abzuleuchten. In diesem Augenblick kam Rotheberg zu sich. Er richtete sich auf die Knie und hatte plötzlich einen Derringer in seiner zitternden Rechten. Der Schuß fauchte los. Schaluppe preßte beide Hände auf seinen schweren Leib, stierte den Burschen aus weit aufgerissenen Augen an und stieß dann einen grunzenden Laut aus. Er fiel zwei Schritte zurück, prallte gegen den Arbeitstisch und rutschte wie eine Marionette daran nieder.
»Du Schwein«, röchelte er, »du dreckiges Schwein hattest also eine Kanone bei dir.« »Du wirst verrecken, Schaluppe«, keuchte Rotheberg, während er sich aufrichtete, »verrecken wie der da.« Das Gesicht des Wirtes verzerrte sich mehr und mehr. Eliot hörte, wie der Bursche hinter ihm über einen Stuhl stolperte, sich keuchend aufrichtete und dann neben ihn trat. »So, und jetzt zu dir, Junge. Mach das Maul auf«, keuchte er, während er Eliot einen Fußtritt in die Flanke versetzte. »Du kommst von den D-Leuten, stimmt’s?« Eliot nickte. »Und was wolltet ihr? Etwa Steine?« »Wir wollten dich aufnehmen«, entgegnete Eliot, da er unbedingt wissen mußte, was es mit diesen »D-Leuten« auf sich hatte. Da schnarrte der Wirt, der immer noch beide Hände auf seinen Leib gepreßt hielt: »Er ist nicht von den Dillingers. Deshalb bin ich doch hier, du Idiot. Er muß zu Capone gehören. Ich wollte dir sagen, daß du – verschwinden – ah – ah –!« Er erbrach sich und fiel dann schwer zur Seite. Sein Mörder hatte den Derringer noch in der Hand, und plötzlich gewahrte er, daß der vermeintliche Capone-Mann eine stumpfläufige Colt Automatic in seiner linken Faust hielt, deren Mündung genau auf seine Stirn zielte. Rotheberg keuchte.
»Verdammt – das ist – ich – well, ich will Ihnen geben, was ich habe. Aber –« Eliot erhob sich. Er hatte immer noch einen dumpfen, schmerzenden Schädel und blickte auf den schlaksigen Burschen hinunter. »Lassen Sie den Derringer fallen!« Als die Waffe am Boden lag, bückte sich Eliot, nahm ihn in sein Taschentuch und schob ihn in die Manteltasche. Der »Breacher« hatte diesen Vorgang mit weit aufgerissenen Augen beobachtet. »He – Sie sind doch nicht etwa – von der Polizei?« »FBI«, entgegnete Eliot kühl. Dann warf er einen Blick auf den Toten. »Ich denke, die Geschichte ist klar. Und was war mit Sheila Gennan?« »Sheila Gennan, was soll der Quatsch? Alex hat mich deshalb schon angerufen. Was habe ich damit zu tun?« »Das wird sich ja herausstellen. Kommen Sie mit!« Es war zwei Uhr, als sie im Oakwood Cemetery ankamen. Der junge Verbrecher, der in einer Minute der Panik zum Mörder an seinem Haushälter geworden war, hockte völlig zusammengesunken in einem Stuhl und stierte vor sich hin. Er konnte kein Wort über die Lippen bringen, selbst, wenn er gewollt hätte. Er war halb ohnmächtig, es schwindelte ihm, und immer wieder rülpste er.
»Abführen«, befahl Eliot Ness, nachdem er verzweifelt versucht hatte, dem Mann etwas über den Fall Gennan zu entlocken. * Als sie das Dienstgebäude verließen, war es kurz vor drei Uhr. Cassedy stieg in den Bus, der ihn nach Hause bringen sollte. Eliot Ness hatte beschlossen, ein Stück des Weges nach Westchester hinüber zu Fuß zu machen. Die frische Nachtluft würde ihm guttun. Als Cassedys Bus kam, hörte der Dicke seinen Chef plötzlich sagen: »Ich hab’ das Gefühl, daß wir da wieder auf einem Seitengleis fahren.« »Kann schon sein«, meinte der Dicke, »aber dann war es bestimmt wieder einmal nicht vergebens, daß wir es befahren haben.« Eliot bestieg seinen Wagen und fuhr noch einmal zu dem Zeitungshaus der Chicago News. Wieder brachte ihn der Elevator in das 23. Geschoß, und die puppige Monica Leclerc blickte ihn mit großen Kinderaugen an, als er plötzlich eintrat. »Mr. Ness?« »Na, Sie halten aber lange aus. Ist Ihr Chef noch da?« »Ja, aber –« »Keine Sorge, ich habe nur eine Anzeige aufzugeben.« Das Mädchen blickte ihm aus geweiteten Augen nach, als er auf die Tür des Chefredakteurs zuging, kurz anklopfte und dann öffnete.
»Entschuldigen Sie, daß ich noch einmal komme, Rufus. Aber Sie wissen, daß eine Zeitung mit jedem Geld rechnen muß.« »Ness, sind Sie verrückt! Was fällt Ihnen ein, hier zu so später Stunde hereinzukommen?« »Entschuldigen Sie, es geht schon auf vier Uhr. Ich denke, daß ein vernünftiger Mensch da zu arbeiten beginnen sollte.« »Ich bin noch dabei!« wütete der schwere Mann. »Um so besser. Dann setzen Sie mal gleich folgenden Artikel auf.« Unwillkürlich drückte Matherley den Knopf seines Tonbandgerätes, das jedes weitere Wort, das gesprochen wurde, mitschnitt. »In den frühen Morgenstunden hat das FBI den bisher des Mordes verdächtigen Henry Ferguson aus der Haft entlassen. Es haben sich Umstände ergeben, die die Schuld des Inhaftierten so sehr in Frage stellen, daß er auf freien Fuß gesetzt werden mußte.« Matherley ließ den Knopf los, zog seine buschigen Brauen zusammen und knurrte: »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Eliot.« »Doch, es ist mein Ernst.« Da sprang der riesige Mensch auf, ließ seine gewaltige Faust auf die Tischplatte fallen und brüllte: »Aber der Mann ist ein Mörder! Er hat es selbst zugegeben. Sämtliche Spuren, die genommen werden konnten, deuteten auf seine Täterschaft hin. Es kann doch nicht der geringste Zweifel daran bestehen.«
»Besteht auch nicht.« »Und dann wollen Sie ihn laufenlassen?« »Will ich doch gar nicht.« »Aber –?« Ein gerissenes Lächeln huschte über das Gesicht des Zeitungsmannes. »Kapiere. Sie wollen den Fuchs aus der Höhle locken. Aber ich möchte Ihnen sagen, daß das nicht gutgeht. Unsere Zeitung gibt sich für solche Geschichten nicht her, Ness. Dafür müssen Sie sich jemand anders suchen.« »Ach, aber Ihre saubere Zeitung gibt sich dafür her, die Schauergeschichten eines Bulgaren loszulassen, der einen gewöhnlichen Breacher des Mordes verdächtigt?« »Augenblick – was war das?« Eliot zog die Schultern hoch. »Ach, wissen Sie, ich denke, Ihre Zeitung wird sich für solche Dinge nicht interessieren.« »Augenblick!« meinte Matherley, während er um den Schreibtisch herumrannte und dem Davongehenden folgte. »Wo wollen Sie denn hin?« »Ich bin auf dem Weg zum Chicago Chronicle.« »Das wollen Sie doch nicht wirklich? Sie werden doch nicht so gemein sein, dem Konkurrenzblatt eine Neuigkeit zu bringen, die Sie mir vorenthalten.« »Konkurrenzblatt? Meine Konkurrenz ist der Chronicle nicht.« »Aber meine!« »Ihre Sache. Leben Sie wohl!«
Als Eliot im Vorzimmer war, brüllte ihm der wütende Riese nach: »Das werden Sie noch teuer genug bezahlen! Fairerweise hätten Sie mir wenigstens einen Tip geben können.« »Habe ich doch, Sie wissen doch jetzt Bescheid. Ich habe Ihnen gesagt, daß der Mann ein Breacher war; mit der übrigen Geschichte hat er nichts zu tun. Für die anderen Recherchen müssen Sie schon selbst sorgen. Oder glauben Sie, ich bin hier Reporter für Sie?« Die Tür zum Vorzimmer fiel hinter ihm zu. Monica Leclerc stand in dem getäfelten Raum vor ihrem Schreibtisch und blickte ihn aus geweiteten Augen an. Eliot, der schon auf dem Weg zur Flurtür war, blieb plötzlich stehen, kam zurück bis an die Barriere, nahm den Hut ab und sagte, während er seine Rechte ausstreckte: »Vielen Dank auch, Miß Leclerc.« Sie kam sofort heran, legte ihre kleine, heiß glühende Hand in die große, kernige Rechte des Mannes und verspürte ein heißes Schauern, das ihren ganzen Körper durchrieselte. Es war die glücklichste Minute im Leben der kleinen Monica Leclerc. Seit sie diesen Mann zum erstenmal gesehen hatte, war sie unsterblich in ihn verliebt. Und nichts würde ihr diese Liebe nehmen können. Als Matherley die Tür zu ihrem Zimmer aufriß, war Eliot Ness längst verschwunden.
»Ist er weg?« »Natürlich. Oder glauben Sie, ich hätte ihn hier irgendwo unterm Tisch versteckt?« entgegnete das Mädchen, sofort in seinen schnippischen Ton verfallend, den es sich im Umgang mit diesem schwierigen Mann nach langer Zeit endlich angewöhnt hatte. * Der Tag war vergangen. Ein Tag, der das FBI keinen Schritt in der Sache Gennan weitergebracht hatte. Daniel Gennan, der Großindustrielle, hatte in Flagstaff, drüben in Arizona, von einem Geschäftsfreund von den Dingen gehört, die sich in Chicago zugetragen haben sollten. Er glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können, als ihn die Nachricht vom Tod seiner Tochter traf. Mit schwankenden Knien hatte er eine Maschine gechartert und war sofort nach Chicago geflogen. Vorm Sarg seiner Tochter war er zusammengebrochen. Immer wieder hatte er versucht, nach ihren Händen zu greifen, und mußte gewaltsam von dem Butler, dem Arzt und dem Gärtner zurückgehalten werden. Seine Trauer war echt. Aber in dieser Stunde wehte den Mann der Wind seines Schicksals scharf an und ließ ihn etwas von dem Versäumten spüren, dessen er seiner Tochter gegenüber schuldig geworden war. Er hatte sich zu wenig um sie gekümmert, hatte ihr zu viel ihren Willen gelassen, zu sehr nachgegeben, schon von Jugend an. Seit seine Frau bei dem Unfall vor neunzehn Jahren
ums Leben gekommen war, hatte Sheila wie eine Herrin in diesem Hause geherrscht. Wie seine Frau, ja, noch tyrannischer. Sogar den Vater hatte sie tyrannisiert. Zusammengesunken hockte er in einem Lehnstuhl vor ihrem Sarg und starrte immer wieder unverwandt in ihr Gesicht. Die Beerdigung, die für den Nachmittag angesetzt war, mußte ohne ihn stattfinden. Er war von seinem Hausarzt in eine Klinik überführt worden. Der Nervenschock, der ihn schüttelte, sollte ihn tagelang wie im Krampf festhalten. Drüben am Oakwood Cemetery hatten die Männer vom FBI inzwischen nicht etwa geschlafen. Eliot Ness, der schon wieder sehr früh auf den Beinen gewesen war, hatte in der Morgenfrühe einem Alarmruf nach Cicero Folge leisten müssen, wo bei den Recherchen der Mordkommission in dem Wohnraum des ermordeten Salooners Schaluppe Aufzeichnungen gefunden worden waren, die den Gangster Frederic Stock und auch den Bandenführer Borgast schwer belasteten. Da waren unterschriebene Todesurteile in Borgasts Handschrift, und ein Befehl des Gangsters Stock, einen gewissen Rued Schawitz zu liquidieren, einen Verkehrspolizisten, der an der 16. Straße Dienst tat. Tatsächlich war dieser Mann vor einem halben Jahr von unbekannten Tätern erschossen worden; man hatte ihn im Morgengrauen an einem Parkrand gefunden. Die Schwester Schaluppes hatte Strafanzeige gegen einen gewissen Richard Dillinger gestellt, da Leute, die in der Schenke gewesen waren, behauptet hatten, der Mann, der in der Nacht
gekommen sei, wäre von der Dillinger-Bande gewesen. Zwei Männer wollten es sogar beschwören. Als sie Eliot Ness dann gegenübergestellt wurden und hörten, mit wem sie es zu tun hatten, bereuten sie ihre Voreiligkeit sehr. Einer von ihnen, ein Fahrer einer Großwäscherei, beging eine Stunde später auf der Toilette des Untersuchungsgefängnisses Selbstmord. Die Gründe dafür wurden noch untersucht. Im Nachbarhaus von Schaluppe, im ersten Stock, hatte sich in den Morgenstunden eine junge Frau erschossen. Wie sich nach langen Untersuchungen herausstellte, war sie die Geliebte des Schankwirtes. Als seine Frau davon hörte, wollte sie sich ebenfalls das Leben nehmen, konnte aber von ihrer Schwester daran gehindert werden. Der Strich ins Nebengleis, wie Cassedy die Irrwege nannte, die jeder Fall fast mit sich brachte, hatte einen wahren Bombenhagel ausgelöst. Er schien die ganze Unterwelt in Vibration gebracht zu haben. Den ganzen Tag über stand das Telefon am Oakwood Cemetery nicht still. Unter den zahlreichen Anrufen waren vielerlei Hinweise, die insgesamt dem FBI einen erheblichen Nutzen in der Bekämpfung der einzelnen Banden brachten. Offensichtlich gab es überall Leute, die sich durch die Ereignisse in der Schaluppe-Bar bedroht fühlten, die ihre Sicherheit in Gefahr sahen, und, wie sie glaubten, durch Verrat anderer sich selbst aus der Schlinge ziehen zu können. Das wertvollste Ergebnis der Verfolgung des falschen Rotheberg jedoch war die Spur, die zu Frederic Stock führte. Zu jenem Gangster, der seit
einiger Zeit neben Capone und Dillinger aufgestiegen war und vor allem der Bevölkerung im Stadtteil Cicero schwer zu schaffen machte. Dieser rücksichtslose Gangster kassierte brutal in den Schenken, in den Billardhäusern und Nacht-Bars, ja, er scheute sich nicht, sogar in den Bordells den »Beitrag« mit dem Revolver einziehen zu lassen. Alle arbeiteten für ihn, selbst die Dirnen auf der Straße. Eliot Ness hatte sich schon längst geschworen, diesem Banditen auf die Fährte zu kommen. Der Weg zu Boyadirev und in die Schaluppe-Bar hatte ihn ja ein ganzes Stück weitergebracht. Es liefen immer ein Dutzend Fälle durch die Maschinerie am Oakwood Cemetery. Fälle, die alle nebeneinander bearbeitet werden mußten, und wozu die Zahl der zur Verfügung stehenden Beamten nicht im mindesten ausreichte. Seit zehn Uhr saß Eliot Ness wieder in seinem großen, dumpfen Raum mit dem hohen, schmalen Fenster, das den Blick über die grauen Gräberreihen des Oakwood Cemetery freigab, über ganzen Bergen von Akten, die er gezwungen war, durchzuackern, um auf dem laufenden zu bleiben, um über das Notwendigste Bescheid zu wissen. Da wurde kurz an die Tür geklopft, und Pinkas Cassedy trat ein. Er war der einzige, der es sich erlauben konnte, ohne Anmeldung in das Zimmer des ChefInspektors zu kommen. Er warf sich in der für ihn typischen Manier in den schweren, abgewetzten Ledersessel vor dem Schreibtisch des Norwegers und
nahm ein Zeitungsblatt aus der Tasche, das er auseinanderfaltete und hochhielt, so daß Eliot Ness es nicht übersehen konnte, selbst wenn er die Nase in die Akte hineingesteckt hätte. Auf großen roten Balken schrie es ihm da mit schwarzen Lettern entgegen: Eliot Ness hat den Fall Gennan aufgegeben! Untertitel: Ist der Chef der Spezialabteilung des Bundskriminalamtes am Oakwood Cemetery schon überfordert? Cassedy knüllte die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb. »Ich könnte dieses dicke Mastferkel erwürgen, aber ich habe Ihnen ja geschworen, Boß, daß ich ihm eines Tages die Nase mit dieser meiner Hand ins Gesicht drücken werde.« »Regen Sie sich doch nicht auf, Pink. Es muß auch solche Figuren geben. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie langweilig es ohne sie wäre.« Pinkas Cassedy, der zwölf Jahre lang in New York eine verantwortungsvolle Stelle beim Bundeskriminalamt innegehabt hatte, war ebenfalls einer der auserwählten Beamten des Direktors des FBI in Washington gewesen, denn er hatte ihn nicht umsonst hierher nach Chicago als Stellvertreter des jungen Eliot Ness geschickt. Als Vertreter und Unterstützer gewissermaßen. Denn Cassedy besaß ein großes Maß an Erfahrung, das für Eliot Ness zweifellos auch seine Nützlichkeit erwiesen hatte. Cassedy selbst hatte sich
anfangs über den Entscheid des Direktors des Bundeskriminalamtes gewundert, der einen so »jungen Mann« hierhergeschickt hatte. Aber dann war er zum größten Bewunderer des großen Talentes geworden, das diesen Eliot Ness auszeichnet. In den dreizehn schweren Mordfällen, die Eliot Ness bis jetzt löste, hatte es oft Augenblicke gegeben, in denen Cassedy hätte verzagen mögen. Aber er hatte es gelernt, durchzuhalten und an diesen Mann zu glauben. Wie ruhig er jetzt an seinem Schreibtisch saß, als gäbe es nicht das geringste auf der Welt, das ihn irgendwie in Wallung bringen könnte. »Wie geht’s eigentlich der kleinen Marion?« fragte der Dicke mit belegter Stimme. Eliot blickte auf. Ein Lächeln stand in seinen Augenwinkeln. »Vielen Dank. Wie kommen Sie übrigens jetzt darauf?« »Oh, ich dachte nur, daß Sie mir schon seit Jahren versprochen haben, einmal mit mir und meiner lieben Braut hinauszufahren – « »Na, seit Jahren habe ich es Ihnen wohl nicht versprochen. Wir kennen uns ja erst ein paar Monate, Pink.« »Na, anderthalb Jahre sind schon drüber vergangen, und ich konnte Ihnen bisher nicht mal meine Braut vorstellen.« »Aber wer hindert Sie denn daran? Bringen Sie sie doch mal mit.«
»Ah, daß Sie nicht aus Schottland stammen, ist alles«, knurrte der Dicke, während er sich erhob, um den breiten Schreibtisch seines Chefs herumgjng und aus dem Fenster auf den Friedhof starrte. Jedesmal schnippte er dann wütend mit den Fingern, spie einen Fluch aus und wandte sich um. »Daß einem dieser Anblick da nicht erspart bleibt! Also, ich an Ihrer Stelle hätte schon sämtliche Haare verloren. Wenn ich jeden Tag da raussehen müßte, würde ich schwarz und blau vor Ärger. Ich glaube, wir sollten ein schönes großes Fenster aus Glas anfertigen lassen, wissen Sie, so in mittelalterlicher Arbeit mit Bleiverschmelzung; und man könnte dann vielleicht irgendwas Schönes daraufzaubern lassen. Zum Beispiel Lugano, Sorrent oder San Remo…« Eliot Ness hatte die Akte zugeschlagen und erhob sich, als der grüne Telefonapparat auf der linken Seite des Schreibtisches surrte. Er warf Cassedy einen Blick zu, und der griff nach dem Hörer. »Ja?« Cassedy hielt die Muschel zu. »Es ist Lock. Er sitzt draußen am Greene Tyche. Immer noch keine Spur von McBain.« »Fragen Sie ihn, ob er etwas von O’Keefe gehört hat.« »Wie sieht’s mit O’Keefe aus?« Der Stellvertreter Cassedys, Inspektor Lock, erstattete Bericht von einem Außenbezirk der Stadt, wo eine Verwandte der Gloria McBain wohnte. Und zwar ihre Schwester Linda, eine erst siebenundzwanzigjährige
junge Frau, die unverheiratet war und von der die Verwandten behauptet hatten, daß sie für Gloria immer geschwärmt hätte. Eliot hatte eine ganz schwache Hoffnung gehabt, daß McBain, der von dieser Schwärmerei sehr wohl gewußt haben mußte, vielleicht den Weg zu ihr suchen würde. Aber er hatte den Weg nicht zu ihr gesucht. »Sagen Sie ihm, daß er dableiben soll – und die anderen auch.« »Moment, Boß«, meinte Cassedy, während er die Muschel wieder zuhielt, »die Jungs stehen jetzt seit gestern abend da.« »Sie werden in einer Stunde abgelöst.« »Von wem denn?« Der Inspektor hatte seinen Hut und seinen Staubmantel aus dem Schrank geholt und meinte, während er schon zur Tür ging: »Von uns beiden natürlich.« * Der Tag war vergangen. Fünf Stunden Büroarbeit, vier Stunden Recherchen, mehrere Stunden der vergangenen Nacht durchwacht. Wieder war es halb zehn am Abend, und immer noch stand der Norweger draußen auf seinem Posten unweit von einer Telefonzelle, von wo aus er Cassedy anrufen konnte, der sechs Meilen von ihm entfernt am Nordrand der Stadt in einer Vorstadtstraße ebenfalls in der Nähe einer Telefonzelle stand, die er
nach dreimaligem Läuten immer aufsuchen konnte. Cassedy hatte einen Vetter McBains im Auge zu behalten, der hier ein kleines Siedlungshaus besaß. Einen Mann, der in einer Konservenfabrik arbeitete, in der Hühner verarbeitet wurden, der drei Kinder hatte und ein zurückgezogenes einfaches Leben führte. Seine Frau war seit einiger Zeit bettlägerig, und eines der Kinder schielte, hatte vor einem halben Jahr eine Spezialbrille bekommen; der Junge war der beste Schüler in seiner Klasse. All dies und eine Menge mehr hatte das FBI inzwischen herausgebracht, vor allem über die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie, die nicht allzugut waren. Aber es waren brave, einfache Leute, die sich niemals etwas hatten zuschulden kommen lassen. Und bis jetzt hatte sich der Mann, der wie eine Stecknadel in diesem gewaltigen Heuhaufen Chicago gesucht wurde, nirgends in der Nähe blicken lassen. Wohin hatte sich Joseph McBain gewandt! Noch hatte man in der Villa Gennan den Diebstahl der Kassette nicht entdeckt, noch wußte man bei der Polizei nicht, welch eine Geldsumme der Gesuchte mit sich führte. Wenige Minuten nach halb zehn betrat der ChefInspektor die Telefonzelle und rief Cassedy an. Der war sofort am Apparat und meldete sich. »Immer noch hier. Wenn’s Winter wär’, würde ich sagen, daß ich kalte Füße bekommen habe. Aber die Sterne sind aufgegangen. Es hat aufgehört zu regnen. Das ist auch schon was wert. Und wenn ich wüßte, daß
Sie am Sonntag mit hinaus zu den Fischteichen kämen, wo ich uns einen saftigen Barsch angeln könnte, dann…« »Setzen Sie sich in Ihre Karre und fahren Sie sofort nach North Lake.« »In die Lyndale?« »Yeah.« »Aha. Und? Soll ich gegenüber warten?« »Schräg gegenüber im Eingang des Zigarrengeschäfts. Wenn das nicht geht, im Eingang nebenan.« »All right. So long.« Der Dicke hatte eingehängt. Eliot ging ebenfalls zu seinem Wagen und steuerte ihn quer durch das Straßengewirr nach North Lake hinaus. Als er die Lyndale Avenue erreicht hatte, war Cassedy noch nicht da; er hätte auch schwerlich schon da sein können, da er ganz vom Northland der Stadt kam. Den Wagen fuhr der Norweger durch eine Toreinfahrt und ließ ihn in einem dunklen Hof stehen, wo mehrere Wagen abgestellt waren. Als er auf die Straße zurückkam, war es zwei Minuten vor zehn. Da bremste drüben vor dem Tabakgeschäft auch schon der Wagen Cassedys. Eliot ging zu ihm hinüber, blieb im Eingang neben dem Tabakgeschäft bei ihm stehen und beobachtete das gegenüberliegende neungeschossige Haus. »Was versprechen Sie sich davon, Mister? Glauben Sie wirklich, daß unser Freund, der Buchhalter, hierher zurückfinden wird?«
»Ich hoffe es zumindest.« »Wie lange wollen Sie hoffen?« meinte der Dicke, der sich gegen die Wand lehnte. »Sie haben noch nicht zu Abend gegessen, nicht wahr?« »Nein, aber da Sie auch noch nicht gegessen haben und auch nicht größer werden wollen, werde ich es wohl durchstehen.« Es war einen Augenblick still, dann meinte der Dicke murmelnd: »Markklößchensuppe mit Eierstich und Grüneinlage. Rumpsteak mit Champignons und Pommes frites. Anschließend rote Grütze oder meinetwegen auch Waldmeisterpudding mit Sahne.« Da hatte der Norweger den Hauseingang verlassen. Langsam gingen sie die Straße hinunter. Drei Minuten nach halb elf war es, als unten an der anderen Ecke der Lyndale Avenue ein Mann auftauchte. Er war mittelgroß, trug einen hellgrauen, eleganten Staubmantel, einen dunklen Hut, und hatte die Hände tief in die Manteltaschen vergraben. Sein Blick glitt über die grauschwarze Fassade der gegenüberliegenden Häuserfronten. Joseph McBain war zurückgekommen. Er stand hier an der Straßenecke, weit abseits vom Schein der noch altmodischen Gaslaternen, und beobachtete das Haus, in dem er dreizehn Jahre gewohnt hatte. Aber sein Auge haftete nicht auf den düsteren Fenstern seiner Wohnung, sondern auf der Fensterreihe
darunter, von denen zwei einen schwachen Lichtschimmer zeigten. Es war das Licht, das er genau kannte! Es kam aus dem Wohnzimmer Henry Fergusons. Er hatte eine Stehlampe, die neben seinem Sessel stand und dieses schwache gelbliche Licht auf die zugezogenen Vorhänge warf. Sie hatten ihn also tatsächlich entlassen. Das konnte nur bedeuten, daß sie auf die richtige Spur gekommen waren. Aber immerhin, er hatte ja doch Gloria erwürgt! Wahrscheinlich vermutete man, daß er es doch nicht gewesen war. Er hatte wohl seine Liebschaft mit ihr gestanden, und sollte man Fingerabdrücke an ihrem Hals oder sonstwo gefunden haben, so konnte er sich damit herausreden, daß er ja öfter bei ihr in der Wohnung gewesen war. Aber als Mörder hatte er seinem ehemaligen Freund, nämlich ihn, McBain, angegeben. Der Mörder hatte einen Tag hinter sich, wie er ihn sich niemals hätte träumen lassen. Die Nacht hatte er in einem eleganten Hotel in Westend verbracht, und zwar unter dem Namen eines Dr. Ridge; war dann früh in die Stadt gefahren und hatte sich bei einem bekannten Herrenausstatter in eine elegante Kluft stecken lassen; war dann in einem Frühstückslokal gewesen, wo er ein ausgezeichnetes Frühstück zu sich genommen hatte: zwei Spiegeleier mit Schinken, Hummermayonnaise, Tomatensaft, ein Stück Seelachs, Butter, Toast und Schweizer Brötchen mit Kümmel. Anschließend gab es ein Glas Sekt. Ein so opulentes Frühstück hatte sich der
einstige Buchhalter noch niemals leisten können. Danach hatte er die Matinee-Veranstaltung eines Kinos aufgesucht, war noch vor dem Mittagessen auf dem Lombard House, wo er jedoch nur Regenwolken und einen trübe daliegenden Lake Michigan sehen konnte, denn das Häusermeer Chicagos unter dem höchsten Wolkenkratzer war so düster und schwer erkennbar, daß sich der Weg da hinauf kaum gelohnt hatte. Mittag hatte er im Lyons Club gegessen, und zwar das erste Gericht von der Karte. Am liebsten hätte er noch eines dazu verzehrt, denn es war herzlich wenig, was es für die siebzehn Dollar gab. Anschließend war er in einem Wiener Café auf der Western Avenue und ließ sich dann mit der Taxe von einer Ecke der Stadt in die andere fahren. Nun, es war gar nicht so einfach, einunddreißigtausend Dollar an den Mann zu bringen. Jedenfalls machte es Spaß. Bis er dann genau siebzehn Minuten vor vier Uhr in dem Warenhaus von Cordopp an einem Zeitungsstand auf der Chicago News die riesige Schlagzeile las, daß Eliot Ness aufgegeben hatte. Als er die Zeitung gekauft und hastig den Artikel überflogen hatte, glaubte er, als er die letzten Sätze las, nicht richtig gesehen zu haben: Das FBI hatte Henry Ferguson aus der Haft entlassen. Von diesem Augenblick an hatte der unstete Mann keine Ruhe, bis die Dunkelheit hereingebrochen war. Schon gegen acht war er einmal in der Nähe der Lyndale Avenue gewesen, hatte sich dann aber wieder entfernt;
war mit der Taxe ein Stück nach Niles hinausgefahren und dann zurückgegangen; hatte sich am Homer Park eine Weile in der Nähe eines Autokinos aufgehalten, das da seit einiger Zeit installiert war; suchte noch eine Autohandlung auf, in der ausländische Wagen verkauft wurden. Er hatte sich einen Mercedes-Wagen angeguckt, dabei aber doch festgestellt, daß zum Erwerb eines solchen Automobils noch ganz andere Summen gehörten, als er es sich jemals vorgestellt hatte. All dies war aber nur geschehen, um die Zeit totzuschlagen. Erst gegen halb elf hatte er sich dann in die Lyndale Avenue getraut. Und als er jetzt das Licht oben hinter den Fenstern sah, blieb ihm das Herz tatsächlich einen Augenblick stehen. Er war also tatsächlich da! Sie hatten ihn freigelassen, diesen verfluchten Ehebrecher, der ihm die Frau genommen hatte. Daß Henry Ferguson nur etwas genommen hatte, das er, McBain, ja längst weggeworfen, jedenfalls aber fallengelassen hatte, das kam ihm nicht zum Bewußtsein. Für ihn war der Mann da oben ein Subjekt, das vernichtet werden mußte. Nachdem sie ihn nicht auf den elektrischen Stuhl bringen wollten, gab es nur einen einzigen Weg: Er selbst mußte auch hier den Richter spielen! Er ließ sich Zeit, ins Haus zu kommen, denn Hast war verräterisch. Die Tür unten war unverschlossen. Langsam stieg er die Stufen hinauf, bis er vor Fergusons Wohnung stand.
Dann nahm er den Schlüssel heraus, den er Henry weggenommen hatte, und öffnete lautlos die Tür. Richtig! Aus der nur angelehnten Wohnstubentür drang der stinkige Geruch der Strünke, die Ferguson rauchte, es waren kurze Stumpen, die irgendwo aus Texas stammten und von Cowboys bevorzugt wurden. Früher hatte man sich wegen dieser Dinge freundschaftlich geneckt. Ferguson hatte ihm immer die billigen Krawatten vorgeworfen, die er sich bei Macy in der Flaherty Street für einen Vierteldollar kaufte. Gleich drei Stück in einem Papierband. Als er die Tür zum Wohnzimmer leise aufschob, sah er neben dem großväterlichen Sessel rechts ein Bein, dessen Fuß in dem Lacklederpantoffel steckte, den er genau kannte. Mit drei, vier raschen Schritten war er hinter dem Sessel, warf den harten Strick, den er in beiden Händen bereitgehalten hatte, nach vorn und wollte den Kopf des Überrumpelten an die Sessellehne pressen. Statt dessen bekam der ganze Sessel einen Stoß, und er selbst stürzte zu Boden. Von der Erde her blickte er zu dem Mann auf, der im Sessel gesessen hatte und auf ihn herabsah. Es war Eliot Ness. Eisige Furcht überfiel lähmend den Mörder. Er vermochte sich nicht zu bewegen; verkrampft und mit verdrehten Beinen lag er an der Erde; sah zu, wie Eliot Ness den Lacklederpantoffel auszog und den Fuß in seinen eigenen Schuh setzte, der dicht neben dem Sessel
gestanden hatte. Hinten am Fenster in dem Sessel, in dem Gloria manchmal gesessen hatte, um die Straße zu beobachten, saß Cassedy, der einen der qualmenden Strünke Fergusons rauchte und ihn jetzt in einem großen, kitschigen Aschbecher ausstieß. »Guten Abend, Mr. McBain.« Wie Glasscherben klirrten die Worte von den Lippen des FBI-Agenten auf McBain nieder. »Es ist gut, daß Sie gekommen sind. Sie ersparen mir dadurch einige Mühe.« Er war so niedergeschlagen, daß er alles gestand. Alles. Den Mord an Sheila Gennan, den Diebstahl der Kassette, und auch, daß er Henry Ferguson zum Mord an seiner eigenen Frau angestiftet hatte. Dafür erkannte der Richter ihm den elektrischen Stuhl zu – und seinem Freund Ferguson zwölf Jahre Zuchthaus. –ENDE–
In 14 Tagen erscheint
Glut im Blut Roman von Al Cann Es war mitten im glühenden Hochsommer, als der Fall Rynnian die Millionenstadt Chicago, die von Fieberängsten vor großen Gangsterbanden geschüttelt wurde, den Atem anhalten ließ. Es war ein Fall, der ein halbes Dutzend Menschen in den Strudel eines wahren Infernos riß, das beispiellos war – auch für die in dieser Hinsicht abgestumpfte Bevölkerung der Riesenstadt. Sie zitterte in erster Linie vor den immer weiter wachsenden Gangs und Verbrechersyndikaten. Sumpf und Morast der Stadt hatten eine Ursache und einen Namen: Alfonso Capone. Er war der Drahtzieher für fast alles Üble, was geschah. Seine Macht kannte keine Grenzen, die Stadtpolizei hatte längst resigniert. Und auf seine Weise hatte Al Capone auch
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