Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 07
Entscheidung auf Extosch von Wim Vandemaan
Auf den von Menschen besiedelten...
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Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 07
Entscheidung auf Extosch von Wim Vandemaan
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft in der Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Er fliegt zur Intrawelt, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kann er den Großteil der lebensgefährlichen Substanz loswerden. Anschließend findet das scheinbar zufällige Treffen mit den Cappins statt. Der Arkonide wird per Pedopeiler nach Schimayn befördert, einem der Galaxis Gruelfin vorgelagerten Kugelsternhaufen. Dort gerät er sofort in die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Ganjasen, Takerern und Juclas. Um Letztere vor den Lordrichtern zu warnen, reist er zur Thein-Versammlung, die von den Zaqoor blutig niedergeschlagen wird. Im Zuge der Flucht entdecken Atlan und seine Begleiter einen vergrabenen Sammler, das gigantische Robotschiff MITYQINN. Der Kampf gegen die Juclas ist für die Lordrichter jedoch zweitrangig. Auf der Suche nach wertvollen Daten greifen sie die mythische Infothek kompromisslos an, es kommt zur ENTSCHEIDUNG AUF EXTOSCH …
Entscheidung auf Extosch
3
Die Hautpersonen des Romans: Schankonar - Der Ganjo von Extosch ist machtlos. Mintra - Die Tochter des Ganjos befindet sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Symbilasch - Die Oberste Mythokarin kämpft um ihre Schätze. Aswrayn Komkosch - Der Kommandant der Drenktosch-Takerer zeigt späte Skrupel. Gymro Gabthran - Für Informationen geht der Zaqoor-Marquis über Leichen. Der Elektrische Ulrich - Der pädagogische Roboter überrascht durch Vielseitigkeit.
Prolog Das Licht war schrill in dieser Welt, hetzte und blendete. Jedes Photon stach, jede Welle machte schwindeln. Ein unaufhörlicher Brand, selbst die Sterne brannten nieder. Die Zeit riss und zerrte; Schmerz war das Grundgesetz dieser Welt. ErEsSie litt, wand sich, bäumte sich auf, aber erfuhr keine Erleichterung. Selbst das hiesige Leben war entstellt, eine chaotische Fratze, sauer, rissig und heiß. Was war das Leben hier? Ein Gewebe aus Leid. Nirgendwo Schonung, eine verfluchte Wirklichkeit. ErEsSie suchte einen Ausweg, so lange schon. ErEsSie. Er. Es. Sie. Das Schwert der Ordnung.
* Die Legende der Seelenfestung Was – du kennst die Legende der Seelenfestung nicht? Du hast nie von Esmes gehört, der Tochter des Schariten Pretan? Von den Tunnelbeißern weißt du nichts, die ihren Tunnel durch alles und jedes fressen, durch Granit, durch das Ewige Gewitter, sogar durch die Zeit? Du weißt nichts vom Kybernetischen Leviathan und dem Drugun-Katapult? Nicht einmal von dem Eisernen Ei weißt du, das die Totenkröte legt? Nun. Das alles ist eine merkwürdige Geschichte, mit einigen merkwürdigen Gestalten,
aber das Merkwürdigste an ihr ist: Sie hat sich tatsächlich zugetragen – jedenfalls auf gewisse Weise. Ob sie traurig, lustig oder spannend ist? Vielleicht von allem ein wenig, wie alle guten Geschichten. Lehn dich also zurück. Und mach es dir bequem. Dann werde ich sie dir erzählen.
* AM MORGEN: VORFREUDE Der Ganjo erwachte in aller Frühe aus unruhigen Träumen. Im Liegen blickte er aus der Glaswand seines Zimmers auf Schayno, die weiße Stadt. Noch hatte der Weckgong nicht geklungen, die Sonne Absamoyn stand erst fahl und schwach am Morgenhimmel über Extosch. Der Mond Gasch tauchte gerade in den Horizont. In diesem einen Moment schienen Sonne und Mond gleich groß, gleich hell, und hielten sich die Waage – was ein gutes Zeichen war, denn die Waage verhieß Ausgleich. Der Ganjo seufzte erleichtert, stand auf und fuhr mit den Füßen in die vorgeheizten Morgenschuhe. Dann massierte er sich den Schädel mit der Stoppelfrisur und tippte auf den Haus-Kom. Er wollte nicht allein frühstücken. »Bist du schon wach, Mintra?« Ein unwilliges Murmeln ertönte, dann antwortete seine Tochter: »Jetzt ja.« Sie schaltete den Kom nicht aus, und Schankonar hörte, wie sie etwas summte, was wie eine Zeile aus einem Lied klang. Einem neuerdings populären Liebeslied. Der Ganjo lächelte. Er versuchte, die Erinnerung an den Traum zu verscheuchen. In diesem verworrenen Traum hatte er ei-
4 ne Unterhaltungssendung hören wollen, Musik oder ein politisches Kabarett, aber auf allen Sendern wurde von einer schleppenden Stimme eine Legende vorgetragen. Die Stimme hatte einen fremden Akzent, aber nicht deswegen verstand er den Sinn der Legende nicht. Dabei war ihr Sinn, wie er wusste, doch offenbar. Alle verstanden den Sinn, nur er nicht. Endlich hatte er mit der Hand auf den Lautsprecher geschlagen und geschrien: Ich kann dich nicht verstehen, und ich bin doch der Ganjo. Da hatte die Stimme aus dem Gerät gesagt: Aber nein, du bist kein Ganjo mehr. Unwillig schüttelte Schankonar den Kopf und gähnte herzhaft. Träume! Noch vor dem Frühstück suchte er das Dauch auf, sein Hausorakel. Im Dauch kroch der Orakelwurm über die Speisepalette. Er schien Hunger zu haben. Mit allen drei Magenrüsseln schaufelte er sich Bittek zu. Es hieß: Wenn der Wurm goldenen Bittek äst, schimmert der Tag golden. Neugierig wartete der Ganjo ab. Der Orakelwurm hatte sich satt gegessen und kroch nun in die Kotsenke. Das reinliche Tier, eine Handspanne lang, entleerte sich niemals auf seiner Nahrungspalette. Er ringelte sich in der Kuhle zusammen. Nach Erledigung des Geschäfts begab sich der Wurm in die Ruheschaukel des Dauchs. Ungläubig riss der Ganjo die Augen auf. Sein Herz, tief unter der Lunge, schlug laut. Der Kot des Wurms war golden! Ein Doppelgoldtag, so etwas hatte der Ganjo in seinem Leben nur zweimal erlebt. Das eine Mal war er zum Ganjo von Extosch gewählt worden, knapp, aber immerhin. Das andere Mal hatte ihm die Pachtmutter Mintra geboren, seine Tochter. Paz war mit ihrer tief dunklen Haut und den violetten Augen eine ausgesprochen anziehende Frau. Er hatte, Mintra noch nass und blutig im Arm, überlegt, ob er ihr einen Ehevertrag anbieten sollte. Aber Paz hatte nur einen geschäftsmäßigen Blick auf den Säugling geworfen, der in seinem Arm strampelte und mit schwacher Stimme schrie. Der Ganjo
Wim Vandemaan wollte keine Geschäftsbeziehung mehr in seiner Intimsphäre. Schankonar trank eine Tasse Obshan. Mintra schlurfte herein. Er lächelte sie an und grüßte formell: »Sei dein Leben eine schöne Sage!« »Deines auch«, erwiderte sie und setzte sich. Sie trank und aß schweigend. Schankonar beobachtete sie dabei. Mintra lebte jetzt irgendwo auf der Schwelle zwischen Kind und Erwachsensein. »Dein Tagesplan?«, fragte er. »Wir sind heute im Mythoseum.« »Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte dafür gesorgt, dass Symbilasch selbst euch empfängt.« »Mach mir nicht den Ganjo!«, schimpfte seine Tochter lachend. Sie verachtete Protektion. »Wer führt euch dann?«, fragte er, um zu zeigen, dass er nicht auf seinem Angebot bestand. »Der Elektrische Utrich.« »Der Elektrische Utrich?« Mintra biss in den gebackenen Dangosch und nahm den Mund so voll, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Vielleicht auch, weil sie nicht mit ihm über den Elektrischen Utrich diskutieren wollte. Der Elektrische Utrich. Schankonar strich sich über das kurz geschorene Haar. Trotz aller Untersuchungen, zu denen sich Utrich nach wie vor bereitwillig zur Verfügung stellte, wussten die cappinschen Exoanalytiker immer noch nicht, worum es sich bei ihm handelte: einen Roboter, ein Kunstwesen oder ein organisches Geschöpf, das in einer Rüstung oder einer Ganzkörperprothese steckte. Der Elektrische Utrich stimmte grundsätzlich, ja diensteifrig jeder Theorie zu, die man ihm gerade vortrug. Fragten ihn die Exoanalytiker, ob er ein Roboter sei, pendelte sein Kopf einen Moment hin und her, und dann hörte man aus dem Sprachgitter des silbernen Gesichts: »Ja, selbstverständlich. Es spricht alles dafür!« Hielt man ihn für ein Lebewesen, pendelte er und verkündete denselben Satz: Ja, selbstverständ-
Entscheidung auf Extosch lich, immer sprach alles dafür. Der Elektrische Utrich vermochte einfach nicht zu widersprechen. Schankonar erinnerte sich an ein Gespräch: »Lieben Sie mich, Utrich?« – »Wie könnte ich Sie nicht lieben, Ganjo?« – »Verachten Sie mich?« – »Nun, um ehrlich zu sein: Ja – wenigstens bemühe ich mich eifrig darum!« Das Stadtregiment hatte den Elektrischen Utrich als Pädagogen angestellt. Und, wie es der Zufall wollte, in dem Erziehungszentrum eingesetzt, wo Mintra lernte. Vielen Erwachsenen war der Utrich nicht geheuer, aber die Kinder und Jugendlichen liebten ihn. »Ich muss los«, erklärte Mintra und schob sich einen halben Dangosch in die Rocktasche. »Ich treffe mich noch mit Iopan.« Nicht, dass der Ganjo darüber begeistert war, aber immerhin war Iopan ein Extoscher und kein – Konstrukt. Andererseits gab der Elektrische Utrich wenig Anlass, mit seiner Tochter demnächst über Verhütungsmittel zu sprechen. Iopan schon. Der Ganjo seufzte. Schaffe dir Nachwuchs an, und alle Langeweile ist vorbei. Mintra zögerte einen Moment, schon in der Tür, blickte sich um und lächelte ihn an. »Hast du einen schweren Tag heute?« Er schaute ihr versonnen ins Gesicht. Sie hatte, die violetten Augen ihrer Pachtmutter. Leider war das linke Auge blind, irreparabel. Die Medi-Robots hatten erklärt, dass eine Reparatur unweigerlich Areale des Gehirns in Mitleidenschaft ziehen würde, die bewusstseinsbildend waren. Ein Eingriff würde die Persönlichkeitsstruktur seiner Tochter verändern. Das wollte Schankonar nicht, denn er liebte sie so, wie sie war, und er liebte sie sehr. Er lächelte sie an. Sein Herz in der Mitte seines Leibes pochte. »Das Dauch sagt, es wird ein goldener Tag.«
* Aswrayn Komkosch war der Oberste Kommandant des drenktosch-takerischen
5 Flottenverbandes, der die beiden extoschischen Schiffe aufgebracht hatte. Komkosch war mit Okòrr und einigen takerischen Elitesoldaten von seinem Flaggschiff, der GINKORASCH, auf die KÖNIG DAWIDOSCH übergewechselt. Er residierte vergnügt in deren Zentrale. Der Zaqoor-Marquis Gymro Gabthran hatte sich hinter ihm aufgebaut und stand reglos wie ein Monument. Auf dem Panoramaschirm sah man ein fernanalytisches Bild des Absamoyn-Systems mit seinem Planeten Extosch und dessen Mond Gasch. Rot blinkende Punkte bedeuteten Verteidigungsanlagen – viele waren es nicht; violette Punkte markierten die Position von Raumschiffen; ockerfarbene Punkte gaben Lage und Kurs der mobilen Siedlungen an, von denen es auf Extosch eine erstaunliche Menge gab: Die Dakkarortung hatte über zwanzig stadtgroße Habitate ausgemacht. Sie bewegten sich in mehreren Kilometern Höhe die Küstenlinien entlang oder über die Kontinente. Daneben existierte eine Unzahl von kleineren Schwebesiedlungen. Nach den Energieechos zu urteilen, siedelten die Extoscher auch auf dem Meeresgrund. Extosch quoll von Ganjasen über wie eine nährstoffreiche Petrischale von Bakterien – die Dakkarortung zählte über 6,6 Milliarden Bioechos. Der Kapitän der KÖNIG DAWIDOSCH stand aufrecht vor dem Panoramaschirm. Die Rückenstange aus Flexostahl hinderte ihn am Sitzen. Seine Hände waren ins Joch gespannt, so dass er die Arme weit zu den Seiten ausgestreckt halten musste. In der Mitte des Jochs steckte der Halsring, am Halsring saß die Rückenstange, die sich in Höhe der Knie in zwei Stränge gabelte. Die beiden Enden liefen in die Fußschellen aus. Gjyschpratan stand wie gekreuzigt. Aswrayn Komkosch saß in dem Kommandosessel des Extoschers. Die GINKORASCH hatte er seinem Vize Schendrascholk überlassen. Komkosch trank Birm, bittersüß und heiß. Der Kommandosessel befand sich auf einem Podest, so dass Komkosch an dem ins Kreuzjoch gezwungenen Kapitän vorbei auf
6 den Schirm schauen konnte. Die Positronik löschte die strategischen Daten vom Panoramaschirm; jetzt war nur noch der Planet selbst zu sehen. »Wie schön, wieder daheim zu sein, Kapitän Gjyschpratan, nicht wahr?« Gjyschpratan antwortete nicht. Einige Kameradrohnen umkreisten ihn in engeren und weiteren Umlaufbahnen. Komkosch ließ alles aufzeichnen, das könnte ihm später viel Mühe sparen. Zu Komkoschs Füßen hockte Okòrr, groß und schlank und mit tiefschwarzem Haar. Okòrr spielte mit der Fernbedienung des Jochs. Die Rückenstange des Jochs bog sich ruckartig nach hinten. Gjyschpratan schrie vor Schmerzen auf, als seine Wirbelsäule dadurch gestaucht wurde. Er verlor den Halt und stürzte rücklings zu Boden. »Wie ungeschickt von dir«, sagte Aswrayn Komkosch und blickte Okòrr tadelnd an. Er nahm noch einen Schluck Birm und wandte sich dann wieder dem Kapitän zu, der auf dem Boden der Zentrale lag. »Verzeih ihm. Er ist immer so verspielt, dieser Tollpatsch. Nun, ich habe deine Antwort nicht ganz verstanden, Kapitän.« Gjyschpratan lag unbeweglich und schwieg. Okòrr steuerte das Joch so, dass der Leib des Kapitäns nach hinten zusammengebogen wurde, bis die Füße beinahe seinen Kopf berührten. Die Halsschlagadern traten hervor, Gjyschpratan röchelte. Dann bog sich die Stange schnell in Gegenrichtung. Man hörte ein Bein des Kapitäns brechen. Komkosch lächelte Okòrr an und sagte: »Meine Güte, Okòrr, nicht so ungestüm! Will niemand dem Kapitän aufhelfen?«, fragte Komkosch in die Runde der Zentrale. Die takerischen Soldaten in der Zentrale entsicherten mit einem kaum hörbaren Klick ihre Strahlenwaffen. Die extoschischen Raumfahrer spannten ihre Muskeln, hielten aber angesichts der Übermacht still. Okòrr sagte: »Dann melde ich mich freiwillig.« Er bediente die Stange so, dass der Kapitän unter Verrenkungen aufstand. Als
Wim Vandemaan Gjyschpratan versuchte, das gebrochene Bein zu entlasten, verbog Okòrr die Stange so, dass das gesamte Körpergewicht auf der verletzten Seite lastete. Der Kapitän schrie auf. »Ja, mein Lieber, ich verstehe deine Begeisterung«, sagte Aswrayn fröhlich. »Eine geradezu märchenhafte Welt, wie man hört.« Gjyschpratan atmete schwer und versuchte, weitere Schmerzensäußerungen zu unterdrücken. »Her zu mir!«, befahl Komkosch. Okòrr steuerte den Kapitän mit dem Joch wie eine Marionette zum Kommandosessel. Gjyschpratan stand leicht nach hinten gebogen. Aswrayn Komkosch lächelte. »Ein bisschen mehr Respekt würde mich freuen«, flüsterte er. Okòrr beugte den Kapitän mit der Stange weit nach vorn, nicht aber so weit, dass er wieder stürzte. Die Augen der beiden waren jetzt auf einer Höhe. »Was du für schöne Augen hast«, schmeichelte Aswrayn dem Kapitän. »Die hübschen Extoscherinnen liegen dir gewiss zu Füßen. Oder anderen Körperteilen. Warum schaust du so böse? Sind es vielleicht eher die Extoscher? Oder gefallen wir beiden Sorten? Warum auch nicht. Das Leben ist kurz, da muss man genießen. Jedenfalls ist es für manche kurz, überraschend kurz. Okòrr, jetzt schaut er so wild, er wird mich noch anspucken. Willst du mich anspucken?«, wollte Komkosch vom Kapitän wissen. »Ich respektiere jeden Cappin«, erwiderte Gjyschpratan. »Wie schön. Ihr Extoscher seid ein feines, zivilisiertes Volk. Dann kann ich ja beruhigt sein. Mein Anzug wird unbespeichelt bleiben. Eine gute Nachricht. Der Stoff war teuer.« Er strich über das goldmetallisch schimmernde, seidige Tuch, aus dem die Uniform gefertigt war. Aswrayn Komkosch und der Kapitän blickten einander forschend an. »Wissen Sie«, erklärte Komkosch dem
Entscheidung auf Extosch Kapitän, »es wäre natürlich ehrenwerter, gegen die Juclas zu ziehen. Krieger gegen Krieger. Und nicht: Krieger gegen Märchenonkel und Lügenfürsten, wenn du verstehst, was ich meine. Aber glaube mir, ich habe meine Gründe. Ja, ich denke, ich werde die Schlacht gegen euch genießen und alles andere danach auch. Es wird doch eine Schlacht geben, nicht wahr?« Der Ganjase schwieg. »Den Juclas …«, überlegte Komkosch laut, »den Juclas steckt Verrat im Blut. Es ist so heiß, weil es ungeheuer schnell fließen muss. Denn in dreißig Jährchen ist so ein Jucla-Leben vorbeigehuscht. Alles muss schnell geschehen wie in einem Zeitraffer. Sie paaren sich mit sechs oder sieben Jahren. Sie werfen ihre Jungen. Sie koalieren, schmieden Allianzen, üben Verrat, alles in einer tierischen Geschwindigkeit. Dann vergreisen sie mit zwanzig, fünfundzwanzig. Und weißt du, was sie sagen, warum sie alles so schnell erledigen?« Gjyschpratan fragte: »Was sagen sie denn?« »Sie sagen: Niemand hat Zeit.« Aswrayn Komkosch lachte laut auf wie über einen gelungenen Scherz. Gjyschpratan reagierte nicht. Aswrayn Komkosch lächelte ihn über die Tasse Birm an und flüsterte: »Und du, lieber Kapitän, sollst dich an diesen Gedanken gewöhnen, keine Zeit mehr zu haben.« »Ich verstehe«, sagte der Kapitän. Er wirbelte herum und traf Aswrayn Komkosch mit dem rechten Balken des Jochs am Kopf, obwohl der Takerer noch den Ellenbogen zur Abwehr hochgerissen hatte. Die Tasse fiel ihm aus der Hand. Bevor Gjyschpratan einen weiteren Angriff versuchen konnte, bogen sich die Stange und das Joch irrsinnig schnell in alle möglichen Richtungen und verrenkte ihn. Es schien, als tanzte der Kapitän, und sein Leib bewegte sich noch eine Weile mechanisch, nachdem Genick und Rückgrat gebrochen waren. Die Hose des toten Kapitäns dunkelte ein wenig, und es roch nach Urin.
7 Aswrayn Komkosch wischte sich das Birm vom Hemd und sah Okòrr an. »So eine Sudelei«, sagte er tadelnd. »Ist alles aufgezeichnet?« Okòrr bejahte. »Dann wollen wir mal ein Wörtchen mit eurem Ganjo wechseln«, verkündete Aswrayn Komkosch der extoschischen Besatzung.
* Mintra startete den Autoschlitten. Sie glitt lautlos über die frisch verschneiten Straßen von Schayno. Junge Wollschnecken bellten leise in den Frostbäumen. Die Wollschnecken nährten sich vom Eis. Einige Immerschläfer rollten in ihren Borkenkugeln an Mintra vorbei, ihr Körperduft stieg ihr in die Nase. Sie bog in die Allee der Zuckerbüsche ein. Sie hielt den Schlitten kurz an und knickte einige der weißen, klebrigen Scheiben ab. In dieser Zeit des Winters hatten die Zuckerblätter einen leicht sauren Nachgeschmack und wirkten besonders erfrischend. Mintra steckte sich die Scheiben in den Mund und fuhr weiter. Vor ihr lag das Ovaron-Institut für Pediaklasten in einer Mulde. Da es noch früh war, nahm sich Mintra die Zeit, zum Standbild des Ewigen Ganjos hinunterzufahren. Die Skulptur besaß keine Füße; die Unterschenkel endeten im Sockel. Der Ewige Ganjo summte vor sich hin, nickte den Extoschern zu, die vorübergingen, und blickte denen, die anhielten, freundlich in die Augen. Was er allerdings ein wenig von oben herab tat, weil Ovaron in seiner Lebensgröße von 1,93 dargestellt war und damit weit größer als die meisten Extoscher. Mintra hatte gehört, dass eine der sagenhaften Pedopositroniken das Standbild mit ihrem Pseudobewusstsein steuern sollte. Extosch, Heimat aller Mythen und Legenden – man tat gut daran, nicht alles zu glauben. Wie auch immer: Die Skulptur lächelte lebensecht und hatte für jeden Besucher ein paar
8 aufmunternde Worte. Mintra verlangsamte ihre Schlittenfahrt und grüßte das Standbild: »Sei dein Leben eine schöne Sage, Ganjo!« »Das ist es schon, Mintra!«, scherzte das Standbild und lächelte Mintra an. »Wohin fährst du?« »Zum Mythenhort!« »Wie wunderbar! Sei dein Leben eine schöne Sage, Mintra!« Der künstliche Ganjo schaute gütig und strich seine langen schwarzen Haare zurück. Mintra blickte nachdenklich hoch in seine braunen Augen. Es ging die Sage, dass nur der Leib des Ewigen Ganjos gestorben war, sein Geist aber als Sternenwanderer die Galaxis Gruelfin durchstreifte. Manchmal sollte er einzelne Ganjasen kontaktieren und ihnen guten Rat erteilen. Wahrscheinlich benutzten einige cappinsche Gruppen diese Legende, um ihrer egoistischen politischen Position mehr Gewicht zu verleihen. »Der Ewige Ganjo hat uns aus seinem Jenseits folgende Botschaft übermittelt …« Mintra beschleunigte den Schlitten wieder und kaute die Zuckerscheiben. Sie liebte Schayno, obwohl sie erst hier lebte, seitdem ihr Vater zum Ganjo gewählt worden war. Sie liebte die grazilen, hoch aufragenden Gebäude der Stadt. Manche von ihnen waren ganjasischen Körperteilen nachgebildet. Weit links neben ihr erhob sich die Gebäudegruppe »Unsere Arme nach Kaylan«. Die fünf Hochhäuser der Gruppe waren wie Arme geformt, die sich nach den Sternen streckten. Weiter vorne ragte ein Bogen aus Stahl auf, von dessen Scheitelpunkt ein völlig durchsichtiges Gebäude mit weit über einhundert Stockwerken in Form eines Eiszapfens herabhing – der Rat der Ganjatoren, das Parlament von Extosch. Die Hüllen und Fassaden vieler Häuser bestanden tatsächlich aus Eis, das von eingeflochtenen Klimagittern im Dauerfrost gehalten wurde. Eis war ein guter Isolator. Die Prallfelder rings um die Stadt hielten die Höhenwinde fern, ließen aber die dunkel-
Wim Vandemaan grauen Schneewolken passieren. Wenn es schneite, und es schneite oft hier oben, ließ der Schnee es so still werden, dass Mintra ihr tiefes Herz schlagen hörte. Besonders, wenn sie an Iopan dachte. Schayno war eine wunderbare Stadt, eine Stadt wie aus dem Wintermärchen. Und das, fand Mintra, passte gut, schließlich beherbergte sie den Mythenhort, die bei weitem größte Märchensammlung ganz Gruelfins. Der Anblick des Mythenhorts erstaunte Mintra immer wieder neu. Obwohl der Stamm des Gebäudes fast eintausendachthundert Meter in den Himmel über Extosch ragte, machte das Bauwerk einen grazilen, organischen Eindruck. Der Mythenhort erschien wie ein Baum mit einer Krone aus fünf Ästen. Fünfhundert Meter lang war jeder Ast, und er hatte eine gewaltige Last zu tragen, wobei ihn natürlich eingebaute Antigravgeneratoren unterstützten. Allerdings trugen die fünf Äste nur ein einziges Blatt an ihrer Spitze, aber dieses Blatt war riesengroß, scheibenförmig, und es rotierte. Jede dieser Scheiben durchmaß über siebenhundert Meter; in ihnen fanden zwanzig lichte Stockwerke Platz. Diese fünf Scheiben waren die Auslage des Mythoseums. Der Mythenhort bestand nämlich aus zwei Einrichtungen: dem öffentlich zugänglichen Mythoseum und der Mythischen Infothek, einer Lehr- und Forschungsstätte mit einem geheimen Staats- und Forchungsarchiv, der Schatzkammer. Die ganze Infothek war unterirdisch angelegt. Sie bildete gewissermaßen das Wurzelwerk dieses Baumes. Dort unten war Mintra noch nie gewesen. Im Dunkeln, wenn die Fenster der Scheiben leuchteten und man die Rotation deutlicher erkannte, glaubte man, einen Jongleur zu sehen, der auf fünf Stangen Teller balancierte. Jetzt, im Licht des frühen Tags, musste man die Aufbauten betrachten, um die Bewegung wahrzunehmen. Auf der einen Scheibe befand sich die Menagerie. In ihrem Dachpark tummelten sich die beliebtesten Ungeheuer der cappinschen Sagen: Heroen und Heroinen, Druden,
Entscheidung auf Extosch Dämonen und Kobolde; Tiere und Untiere; Eisdrachen, Flüstergeister, Hohlwandler, Phasentote – das gesamte Kinderschreckpersonal. Die Nachbildungen waren von bedeutenden Gen-Künstlern erschaffen, natürlich kleiner als ihre Vorbilder und überwiegend handzahm. Mintra mochte die künstlichen Monster nicht; sie hielt sich lieber in der Scheibe mit dem Arsenal der Kybernetischen Märchen auf. Hier konnte man den Erzählrobotern lauschen, die die Märchen der Cappins ständig neu entwarfen, umbauten, endlos variierten. Meist kam ziemlich verrücktes Zeugs dabei heraus, manchmal überraschende Aussprüche. Ihre Lieblingserzähler hießen Trurl und Klapauzius, ein kybernetisches Konstrukt, das nicht der Cappin-Technologie entsprungen, sondern dem Mythoseum angeblich nach dem Tod ihres Erfinders zugelaufen war – auch das wohl nur ein Märchen. Eine weitere Scheibe trug den Großen Dakkarkom von Extosch, der Tag und Nacht den ganzen Sternenarm mit Sendungen belieferte: mit animierten Mythen, Features über diverse Sagen und Legenden, mit den neuesten Forschungsergebnissen der Mythischen Infothek und Podiumsdiskussionen darüber. In der vierten Scheibe konnten sich verschiedene aktuelle oder historische Kulte darstellen. Wenn neuerdings auch die Religion der Trigonometrischen Gottheit von sich reden machte, dominierten insgesamt doch die Klassiker: der Lupicran-Kult und der Kult des Orakels von Kresnaah. Die fünfte Scheibe war den halblegendären Stoffen und der Realgeschichte Gruelfins gewidmet; auf der Plattform stand die MOLAKESCH, ein historisches Moritatoren-Raumschiff. Einst hatten diese Moritatoren als vagabundierende Erzähler von Sagen und Legenden die Galaxis durchflogen. Ihr Ziel war es gewesen, das Andenken des Ewigen Ganjos Ovaron zu bewahren, der damals in der Vergangenheit verschollen war. Längst hatten die Extoscher die Aufgabe übernommen, das Sagengut der Cappins zu sammeln und zu
9 sichten. Die Zeit der reisenden Sternentroubadoure war vorbei; die Epoche der SagenWissenschaftler hatte begonnen. Und Ovaron war tot. Die MOLAKESCH ragte als stählerne Pyramide einhundertfünfzig Meter in die Höhe. Auf der riesigen Plattform sah sie fast zierlich aus. Mintra freute sich auf die MOLAKESCH; sie wollte sie zusammen mit Iopan besuchen. Denn das archaische Raumschiff hatte, was sonst im Mythenhort fehlte: Kabinen für die Besatzung, kleine Räume mit Tischen. Und mit Stühlen. Und mit einem Bett …
* Ganjo Schankonar betrat seinen Palast. Der Regierungssitz war in Form einer Spirale gebaut, die sich nach oben verjüngte. Die fünf Umläufe der Spirale aus transparentem Metallplast führten in eine Höhe von annähernd dreihundert Metern. Die Spirale lief in eine stilisierte Cappin-Hand aus; die Hand öffnete sich zum Himmel über Schayno. Obwohl sich Extosch in einem Seitenarm von Gruelfin befand, kamen die Sterne der Riesengalaxis am Abend wie eine Lichtflut über den Himmel. Schankonar sog die kalte Luft ein. Seine Stadt war hoch im Desolar-Gebirge des Kontinentes Cerba erbaut. Ein goldener Tag also, dachte der Ganjo. Dann rief er sich seine Tagestermine ins Gedächtnis. Wie die meisten Cappins pflegte er seine Orakelgläubigkeit. Irgendwie waren ja alle Cappins auf der Suche nach Höheren Mächten, nach einem Ordnungsprinzip jenseits ihres Alltags, nach einem Sinn, der die verworrenen Zeiten überstand. Andererseits beschränkte er sein theologisches Hobby auf das rein Private. Im Amt agierte er pragmatisch, erfolgsorientiert und mit Übersicht. Extosch brauchte einen klaren Verstand, denn Extosch war eine ganz besondere Welt, und Schankonar befriedigte es, hier als Ganjo zu regieren. Die Extoscher hatten keine Feinde – ein seltenes Phänomen in Gruelfin,
10 der Galaxis, die seit Jahrhunderttausenden von Bruderkriegen heimgesucht wurde. Es hatte wenige, viel zu wenige friedliche Phasen in der Geschichte dieser Sterneninsel gegeben: die wenigen Jahre der Herrschaft des Ewigen Ganjos Ovaron; die verplombten Jahre, in denen die Ovaron-Plomben die Raumfahrt eingeschränkt, sogar zum Erliegen gebracht hatten; die Dekaden des Aufbaus nach dem Einhundertjährigen Krieg, der die Cappin-Zivilisation in Trümmer gelegt hatte; die Ära der Cappin-Allianz, die gegründet worden war, um den Angriff des Ewigen Kriegers Gun Nliko abzuwehren. Seit langem schon waren die Kämpfe in Gruelfin wieder aufgeflammt. Extosch dagegen hielt sich seit fast zweitausend CappinJahren als einsame Insel des Friedens, und die Extoscher hatten sich in einer Nische der cappinschen Kriegskultur eingerichtet: Sie waren Friedenshändler und Botschafter einer anderen, besseren Epoche, die kommen würde, kommen musste, sollte Gruelfin nicht untergehen. Wer nach Extosch reiste, suchte den Beistand der extoschischen Unterhändler, bat um Vermittlung und Schlichtung und zahlte dafür. Oder er suchte etwas ganz anderes: das Gedächtnis von Gruelfin. In den Archiven von Extosch ruhte alles, was je von Cappins erzählt, erdichtet, gesungen und geglaubt worden war, sämtliche Märchen, Sagen, Heldenlieder und Legenden. Wenn es stimmte, dass durch jede Legende ein Hauch von Wahrheit wehte, dann war Extosch ein stürmischer Planet. Auf Extosch verwahrte, speicherte und pflegte man die Friedenssagen der Lofsooger, die Veränderlichen Märchen von Erysgan, die Kriegs-Kantaten der Olkonoren, die Tanztraditionen der Juclas, die Metaphysische Korrespondenz der ersten Meister des Lupicran-Kultes, sogar die rätselhaften Gesänge der Pedopositroniken – was zu den kostbarsten Besitztümern des Mythenhortes zählte, denn außer ihren Gesängen war von den Pedopositroniken der Wesakenos nichts
Wim Vandemaan geblieben. Alten Berichten nach sollten diese Wunder der Technik befähigt gewesen sein, mit ihrem Pseudobewusstsein andere Positroniken zu übernehmen wie Pedotransferierer das Bewusstsein ihrer Opfer. Bis vor kurzem war im Mythoseum sogar die angebliche Audiobiographie des Orakels von Kresnaah zu hören gewesen. Dann hatte ein Forschungsteam um Symbilasch den hypnotischen Sprechgesang als Fälschung entlarvt. Aber das fiel nicht ins Gewicht: Auf Extosch hütete man unvorstellbar viele von Cappins aller Nationen heilig gehaltene Schätze, die wertvollsten und am seltensten dokumentierten von ihnen lagerten in der Mythischen Infothek und ihrer Schatzkammer tief unterhalb des Mythoseums. Hier, am Rand des Sternenarms Kaylan, schlug das geheime Herz der cappinschen Kultur. Vielleicht sogar mehr als bloß der cappinschen Welt: Symbilasch, die Oberste Mythokarin des Mythenhortes von Schayno, hatte vor einigen Jahren Spuren unvorstellbar alter Datenfragmente entdeckt, die von Wuthanas Kommen in Gruelfin künden sollten – Nachrichten in entstellter Form, die, wenn man sie entschlüsselt hatte, möglicherweise Auskunft über den Ursprung und die Herkunft der Cappins geben würden. Diese Informationen könnten das Geschichtsbild aller Cappins ändern, könnten ihre Kultur auf ein neues, gemeinsames Fundament stellen, aber auch ins Wanken bringen. Deswegen war es wichtig, die Daten sorgsam zu behandeln, zu sichern, exakt zu entziffern und behutsam zu interpretieren. Keinesfalls durften sie in falsche Hände geraten, denn dann bestand die Gefahr, dass sie manipuliert und einseitig zu Gunsten der einen oder anderen Cappin-Nation eingesetzt und missbraucht würden. Das Kommen Wuthanas ging alle Cappins an; seine Geschichte war ihr gemeinsames Erbe. Und deswegen gehörte sie in die Hände des Mythenhortes und seiner wissenschaftlichen Abteilung. Die Mythische Infothek war eine Art Gold-
Entscheidung auf Extosch waschanlage: Symbilasch und ihre Mythologen siebten die alten Geschichten auf das Goldkörnchen Wahrheit durch. Heute sollte der Mythenhort wieder bereichert werden: Der Ganjo erwartete die Rückkehr der zwei Handelsforschungsraumer KÖNIG DAWIDOSCH und ADMIRAL FARRO. Über Dakkarkom hatte die Kapitänin der ADMIRAL FARRO, Yperte, vor einigen Tagen nach Extosch gemeldet, dass es ihrer Expedition tatsächlich gelungen war, einige lange verschollen geglaubte Unterlagen aus dem Kreis der Jenseitigen Bastionen zu bergen. Symbilasch glaubte, in diesen Legenden die Spuren eine außer-, vielleicht sogar präcappinschen Kultur zu erkennen. Schankonar ließ sich von der Portierspositronik identifizieren und betrat dann sein Residenzbüro. Etwas aus den Jenseitigen Bastionen also. Eine Sensation. Wie sein Dauch verkündet hatte: ein goldener Tag.
11 Garde suchen siebzehn Tage lang. Doch es fand sich keine Spur. Da zog Pretan das Eshtramhatam zu Rate, und das Eshtramhatam riet: sie dort zu suchen, wo das Suchen fast sinnlos sei, an dem totesten aller Orte, der Seelenfestung selbst. Und es wies dem Schariten den unmöglichen Weg. Da übergab der Scharit die Stadt und ihre Geschäfte seinem Wesir, und er machte sich auf den unmöglichen Weg. (Ob die Intensität der Liebe auf die Behinderung der Tochter zurückging? Ich vermute es fast. Denn es heißt ja nicht »Doch der Scharit«, sondern »Und der Scharit«, als wäre klar, dass ihr Schaden das Mehr an Liebe hervorrief. Muss man Liebe überhaupt begründen? Der Ausdruck »totester aller Orte« ist natürlich eine stilistisch unglückliche Bezeichnung, aber der Superlativ steht nun mal da; was soll man machen?)
* * Die Legende der Seelenfestung, ihr erstes Kapitel Auf der Ebene Trvbor lag die gewölbte Stadt Ansch, Samen der Länder, Lehrerin aller Gehirne, Rastplatz der Sternenkarawanen. Alle siebzehn Tage einmal zog das Schwarze Auge über den Himmel, alle siebzehn Tage war es um einen Klick näher gerückt, und ihres Endes gewiss, lebten die Anschin ihr Leben leicht und in Liebe. Der Schultheiß der Stadt Ansch, ihr siebzehnter Scharit, war der starke Mann Pretan, der sein Leben in Liebe führte. Der Scharit besaß eine Tochter, die hieß Esmes. Esmes fehlte ein Arm seit Anbeginn, und ihr Geist griff nicht so weit wie der Geist anderer Töchter. Aber der Scharit hatte in seinem Leben nichts so sehr geliebt wie diese Tochter. Eines Tages aber verschwand Esmes aus dem Schultheißhaus der Stadt Ansch, und der Scharit suchte sie und ließ die Lineare
Väveidre, die Stellvertreterin des Ganjos, hatte Alarm gegeben. Schankonar eilte in die Strategische Zentrale des Spiralpalastes, das Nervenzentrum ihres kleinen Reiches. Die Fernortung von Extosch erfasste die Kennung der beiden Raumschiffe. Aber ihre Identifizierungssignale gingen förmlich unter in einem Wust anderer Ortungsechos. Die KÖNIG DAWIDOSCH und die ADMIRAL FARRO näherten sich eingebettet in einem ganzen Verband von Raumschiffen. »Wir bekommen Besuch«, erkannte Väveidre. Ihr schwarzes Gesicht, in dem die rubinroten Augen loderten, schimmerte von winzigen Schweißperlen. »Identifizierung?«, erkundigte sich Schankonar. Die Positronik antwortete: »Zweihundertvierzehn Raumschiffe, davon einhundertneunzig mit großer Wahrscheinlichkeit takerisch. Vierundzwanzig Raumschiffe sind nicht in den Baudatenbanken der Cappin-Technosphäre verzeichnet.«
12 »Zeig sie mir!«, forderte der Ganjo. Der ganze Verband näherte sich fast gemächlich, mit knapp einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit. Sie stießen von außerhalb der Ekliptik, von oben, auf Extosch herab. In etwas über zwei Standardstunden würden sie im Orbit über Extosch stehen. Auf dem Holoschirm erschien nun eines der beiden fremdartigen Schiffe. Anders als die eiförmigen Raumfahrzeuge cappinscher Bauart wies dieses Schiff Kugelform auf. Allerdings waren in regelmäßigen Abständen runde Vertiefungen in der Kugelschale zu sehen, Mulden. Die Mulden waren bis zu fünfundzwanzig Meter tief; die Kuhlen des Äquatorrings reichten um einiges tiefer ins Schiff. Der Abtastung der Dakkarortung zufolge bestand die Hülle des Schiffes aus einem metall-keramischen Verbundstoff von außerordentlicher Härte. »Was könnte das sein?«, fragte Väveidre. »Es sind vierundzwanzig dieser Schiffe, nicht wahr? Zwölf Paare. Vielleicht die Pole neuartige Pedopeiler?« »Ich glaube nicht«, antwortete der Ganjo. »Ich habe von derartigen Schiffen gehört, gesehen habe ich sie noch nie. Sie sollen auf der Seite der Takerer in die Auseinandersetzungen hier in Gruelfin intervenieren.« »Söldner?«, fragte Väveidre. »Vielleicht«, meinte der Ganjo, »wer weiß?« Er gab der Positronik ein Zeichen, dass er mit dem takerischen Verband zu sprechen wünschte. Er erhielt jedoch keine Antwort. Schankonar beorderte seine Wachflotte auf einen Abfangkurs, untersagte aber vorläufig jede weitere militärische Maßnahme. Insgesamt besaßen sie fünfundfünfzig Raumschiffe. Davon waren siebzehn auf Missionen in Gruelfin unterwegs; zehn standen auf den Raumhäfen. Die restlichen Schiffe kreisten im Orbit oder patrouillierten durch das System. Und über Kriegsschiffe im engeren Sinn, wie sie auf Extosch zuhielten, verfügten sie nicht. »Was wollen die hier?«, fragte Väveidre. Sie leckte sich die trockenen, weiß ge-
Wim Vandemaan schminkten Lippen. »Sie werden uns schon informieren. Bleiben wir gelassen«, sagte Schankonar. Es sollte beruhigend klingen. Dabei klopfte sein Herz tief unter den Lungen sehr heftig. »Gedulden wir uns …« Geduld … wo war Mintra jetzt? Auch der Wachflotte von Extosch gelang es nicht, einen Kontakt herzustellen. Die Takerer ignorierten alle Anrufe und die Schiffe selbst. Zwei Stunden später traf die Flotte über Extosch ein. Der extoschische Verband war ihnen ausgewichen. Nun standen die Schiffe teils zwischen den Takerern und dem Planeten, der größere Teil war in weitem Kreis um die Takerer-Flotte verteilt. Dann meldete sich der takerische Kommandant. Auf dem Holoschirm des Saales erschien ein mittelgroßer, drahtiger Mann auf einem Sessel; der Takerer konnte nicht viel älter als einhundert Jahre sein. Er trug sein langes schwarzes Haar zu einem Zopf geflochten, den er einmal um den Hals gewunden hatte. Sein goldenes Hemd schimmerte. Schankonar vermutete, dass er es mit dem Kommandanten des Verbandes zu tun hatte. Er wandte sein Augenmerk einer Figur im Hintergrund der Zentrale zu. Zwischen zwei weiteren Takerern hatte sich ein fremdartiger Hüne aufgebaut, humanoid, aber um die Hälfte größer als jeder normale Cappin. Besonders auf die Bewohner von Extosch wirkte der Fremde gewaltig; schließlich hatten sich die Ganjasen, die auf dieser Welt siedelten, im Lauf der Generationen an die höhere Schwerkraft von 1,2 Gravos angepasst und waren kleiner, gedrungener, kompakter als ein Großteil des ganjasischen Teilvolkes der Cappins. Der Fremde steckte in einem metallischen Panzer; an der Seite seiner Rüstung sah man eine archaische Hiebwaffe, ein Schwert – und das trug er vielleicht nicht nur zur Dekoration, überlegte Schankonar. Von der Rückseite seines Harnisches standen zwei silberne Flächen ab, die die Schultern über-
Entscheidung auf Extosch ragten und wie Stummelflügel aussahen. Die Positronik hatte den Fremden identifiziert und blendete ihre Daten in den Holoschirm ein: »Mit hoher Wahrscheinlichkeit Zaqoor. Geschlecht nicht identifizierbar. Wahrscheinlich höherer Rang; exaktere Einordnung auf Grund von Informationsmangel nicht möglich.« Der Takerer lächelte und beugte sich auf seinem Sessel vor. »Ich habe viel von eurem märchenhaften Planeten gehört und freue mich sehr, eure Welt einmal mit eigenen Augen zu sehen«, begrüßte er den Ganjo. »Ich bin hier, um euch ein Angebot zu machen.« »Da du über zweihundert Kriegsschiffe aufbietest, um dein Angebot vorzutragen, gehört dir meine volle Aufmerksamkeit.« Aswrayn Komkosch verneigte sich ein wenig und sagte: »Fein, dass du es bemerkt hast.« »Übrigens«, fuhr der Ganjo fort, »genießt du auch die volle Aufmerksamkeit von ganz Gruelfin. Ich habe mir erlaubt, die Ereignisse über Extosch per Dakkarkom live in die benachbarten Systeme zu übertragen.« »Dann werden wir beide, du und ich, ja bald sehr populär.« Komkosch tat geschmeichelt. »Und dein kleiner Planet gewinnt eine Menge zusätzlicher Publicity.« »Dank dir.« »Zur Sache«, sagte Komkosch. In diesem Moment trat ein weiterer Cappin ins Bild, den Schankonar aber keinem Volk zuordnen konnte. Er strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn und starrte den Ganjo an. Für einen Moment hatte der Ganjo das sonderbare Gefühl, dieser Cappin würde aus dem Hologramm heraustreten, und er wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Das ist Okòrr«, stellte der Kommandant ihn vor. Der Ganjo spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Ruhig bleiben, mahnte er sich. Es ist noch nichts passiert. »Wir sind hier«, fuhr Komkosch fort, »weil wir unseren Alliierten, den Zaqoor, einen Gefallen tun wollen.« Er wies mit der Hand in den Hintergrund der Zentrale.
13 »Offenbar haben Marquis Gabthran und seine Truppen eine Schwäche für die Lügenmärchen, die ihr hier auf eurem Planeten sammelt. All diese Fabeln, Phantasien – verzeih mir, ich bin nicht sehr poetisch. Aber der Marquis lechzt geradezu nach solchem Zeug. Er lechzt so sehr danach, dass er sie alle haben möchte, lieber Ganjo: jede Datei, jeden Speicherkristall, jedes Dossier, sogar jedes verdammte und mit der Hand eines längst Verfaulten geschriebene Schriftstück aus euren Archiven. Kannst du dir das vorstellen, Ganjo? Der Marquis ist ein echter Fan deiner Kultur.« Der Takerer genoss ohne jeden Zweifel seinen Vortrag und die Spannung, die er bei seinen Zuhörern erzeugte. »Ein Sadist«, flüsterte Väveidre Schankonar zu. Der Ganjo nickte unmerklich. »Nun gehen uns die Truppen des Marquis, die Zaqoor, seit einiger Zeit ein wenig in – nennen wir es mal – militärischen Dingen zur Hand. Vielleicht hast du davon gehört. Sie tun es gerne, denn sie sind Krieger mit Seele, Leib und allen Innereien ihrer starken Körper. Sie kennen keine Angst. Nicht einmal der Gedanke an den Tod schreckt sie, denn sie glauben, dass sie letztendlich gar nicht sterben. Wenn sie in dieser Welt getötet werden, gehen sie ohne Zwischenaufenthalt in eine andere, höhere Welt über, ins Ewige Leben in der Großen Horde, wo sich alle Helden der Garbyor versammeln. Weswegen sich durch ihren Tod in der Schlacht gewissermaßen nur ihre Lebensumstände verbessern. Und weil unsere todeslustigen Bundesgenossen so gerne einen Blick in eure Archive werfen möchten, Ganjo, bitten wir dich im Namen unserer Freunde: Rück sämtliche Unterlagen eures Mythenhortes heraus!« »Du scherzt«, sagte der Ganjo. Aswrayn Komkosch machte ein verblüfftes Gesicht. »Ganjo«, fragte er, »habe ich mir bunte Ohren aufgesteckt? Trage ich ein närrisches Kostüm? Schneidet der Marquis hinter meinem Rücken Fratzen, oder was veranlasst dich zu glauben, dass ich scher-
14 ze?« Schankonar schüttelte den Kopf. »Kommandant, wir können diese Unterlagen nicht ausliefern. Sie gehören nicht uns allein, sondern dem ganzen Volk der Cappins. Wir sind die unparteiischen Sachwalter. Wir können uns aber vorstellen, dass wir euch Einblick in die meisten Unterlagen gewähren. Was aber unsere Geheimarchive angeht – ich vermute, auch die Drenktosch werden ihre Staatsgeheimnisse bewahren wollen.« »Ganjo Schankonar!« Komkosch breitete seine Arme zu einer allumfassenden Geste aus, »wir sind doch alle Kinder desselben Universums; wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben!« »Bitte ihn um den Zugangskode zu seinen Farrusch-Kanonen«, raunte Väveidre dem Ganjo zu. Komkosch lachte auf. »Sag deiner hübschen Spaßmacherin, ich habe alles gehört.« »Die Oberste Mythokarin wird euch gerne für Auskünfte zur Verfügung stehen. Selbstverständlich, wenn du es wünschst, auch dem Zaqoor-Marquis«, erklärte Schankonar. »Du bietest uns eine Museumsführung an? Ich fürchte, lieber unparteiischer Ganjase, mit einer Führung, einem Vortrag und einem Blick in öffentlich zugängliche Dateien wird sich mein Marquis nicht zufrieden geben. Aber bevor du mir etwas zeigst, sollte ich vielleicht dir etwas zeigen. Vielleicht kann ich dich ja so zu etwas mehr Entgegenkommen ermuntern«, kündigte Komkosch an. Er gab einen Wink mit der Hand. Die vorbereitete Sendung wurde ausgestrahlt; die Unterwanderprogramme der Schiffspositronik implantierten die gesendete Datenstrecke in jedes laufende Programm von Extosch. Wer immer vor einem Bildschirm eines Massenkommunikationsmittels saß, sah nun die letzten Minuten im Leben von Kapitän Gjyschpratan, die Folter und anschließend seine Exekution. Die Aufzeichnung wurde stumm ausgestrahlt. »Warum hast du das getan?«, fragte der
Wim Vandemaan Ganjo so ruhig wie möglich. »Vielleicht, weil ich nicht für einen Humoristen gehalten werden will. Du solltest mich ernst nehmen, Ganjo Schankonar. Gib uns, was wir wollen.« Nein, niemals, dachte Schankonar; aber laut sagte er: »Du hast von einem Angebot gesprochen, Kommandant Komkosch. Was bietest du uns an?« »Ganjo«, tadelte der Kommandant und lachte amüsiert, »ich dachte, das hättest du längst unserer kleinen Vorführung entnommen, dein Leben!« »Ja, natürlich«, sagte der Ganjo. »Wir haben Bedenkzeit?« »Drei Stunden eurer Standardzeit, Ganjo Schankonar von Extosch. Dann steht die Sonne genau über deiner Residenz – hoher Mittag, Ganjo, spielt der Mittag nicht in vielen Legenden eine große Rolle? Du siehst, wir nehmen Rücksicht auf eure Gepflogenheiten. Schließlich sind wir ja keine Unholde.« Unwillkürlich fiel Schankonars Blick auf Okòrr. »Sicher nicht.« Der Takerer unterbrach die Verbindung.
* Im Ganjokabinett tagte der Regierungsrat. Journalisten waren zugelassen. Faures, der Vorsitzende der Ganjatoren, empörte sich: »Das ist doch nur eine Provokation. Sie werden es niemals wagen, Extosch anzugreifen, ohne dass wir ihnen einen Vorwand geliefert hätten. Sie wollen uns zu einer unüberlegten Aktion, zu einem Angriff provozieren!« »Wir haben gesehen, was mit Gjyschpratan geschehen ist«, wandte Väveidre ein. Die junge Ganjasin zog ihren Poncho aus Silbertuch enger um die Schultern. Ihr Gesicht war schwarz wie der geheimnisvolle Raum zwischen den Sterneninseln und von einer geradezu demütigenden Schönheit. Auf Extosch kursierten Gerüchte, dass diese Schönheit eine gewisse Rolle gespielt hatte bei ihrer Berufung zur Stellvertreterin des Ganjos.
Entscheidung auf Extosch Schankonar lächelte. Die Gerüchte stimmten. Aber die dunkle Väveidre war nicht nur schön. Sie dachte klar und kalt wie Eis. Und sie hatte ihre wissenschaftliche Ausbildung zur Genetikerin in der Freihandelszone Susch erfahren. »Ja, wir haben es gesehen. Aber was haben wir gesehen? Es könnte eine Animation gewesen sein!«, gab Faures zu bedenken. »Sollen wir um seine Leiche bitten, um einen Echtheitstest durchzuführen?«, schlug Väveidre bitter vor. Schankonar winkte ab: »Wir werden bald an Leichen keinen Mangel haben, fürchte ich.« »Ganjo«, mahnte Faures, »wir können keinen Krieg führen. Wir sind neutral; wir sind Extoscher, wir sind die Nachfolger der Moritatoren. Niemand hat je Moritatoren angegriffen!« Väveidre lachte wütend. »Das sehen unseren Archiven zufolge manche Zeitzeugen anders.« Faures und seine Fraktion rieten von jedem Widerstand ab. Er hoffte, dass die Takerer blufften. Sie würden sich, argumentierte Faures, vor den Augen der ganzen Galaxis nicht zu einer gewaltsamen Aktion hinreißen lassen. Väveidre plädierte für geeignete Verteidigungsmaßnahmen. Wenigstens sollte signalisiert werden, dass Extosch dem Raub nicht widerstandslos zusehen würde. So wollte sie das Risiko für die Takerer erhöhen und die vielleicht doch vorhandene Hemmschwelle vor einem Übergriff. Der Streit wogte noch eine Weile hin und her. Dann entschied der Ganjo: »Wir werden zunächst um eine Verlängerung des Ultimatums bitten. Gleichzeitig ergreifen wir sämtliche Vorsichtsmaßnahmen. Schayno wird in Sicherheitszustand versetzt. Die Trabantenstädte von Schayno landen. Ebenso ergeht an alle anderen mobilen Habitate und Siedlungsensembles der Befehl, sich in stabile Bodenpositionen zu begeben. Die Schiffe, die noch auf den Raumhäfen stehen, starten und gliedern sich in die Verteidigungsflotte ein.«
15 »Wachflotte, Ganjo, wir haben nur eine Wachflotte«, protestierte Faures. Der Ganjo fuhr fort: »Die Mitarbeiter der Presse ermächtige ich, sich der staatlichen Dakkarkome zu bedienen und ihre Sondersendungen über unser Sonnensystem hinaus auszustrahlen. Jeder Cappin soll erfahren, was auf Extosch geschieht. Und wir rufen sämtliche Systeme in der näheren Umgebung des Absamoyn-Systems um Hilfe an, um militärischen Beistand.« Faures hob beschwörend die Hände. Der Ganjo lächelte. »Doch, Faures; wir ziehen in den Krieg.« »Den wir nur verlieren können«, murmelte der alte Ganjator. Die anderen Extoscher verließen den Raum. Schankonar und Väveidre blieben allein zurück. Schankonar sah Väveidre an. »Du hast doch noch das Dauch, das ich dir geschenkt habe, nicht wahr? Hast du es heute Morgen befragt?« »Ausnahmsweise.« »Und? Was hat es vorausgesagt?« »Einen goldenen Tag«, antwortete Väveidre und lächelte bitter. Seinem Zorn und seiner großen Sorge zum Trotz musste auch der Ganjo grinsen. »Wenn man auf Würmer hört …«
* Über eine Stunde verstrich. Der Marquis war auf sein Schiff, die GARB YSCHGOR, zurückgekehrt. Kurz darauf hatte er Aswrayn Komkosch einer abschließenden Lagebesprechung wegen zu sich gerufen. Komkosch wollte jedoch nicht allein gehen. Er hatte das Gefühl, dass es dem Zaqoor in Gegenwart Okòrrs nicht wohl war – eine bloße Intuition, denn er konnte das Gesicht des Marquis und seine fremdartige Mimik nicht gut lesen. Aber die geringste Aussicht, diesem riesenhaften Humanoiden in seiner Kriegsmontur gegenüber eine Art Druck auszuüben, genügte Komkosch. Er stand vor Okòrrs Kabine und betätigte den Meldesensor. Ein Krächzen erklang. Er
16 war nicht sicher, ob es Herein bedeutete. Aber dann glitt das Schott zur Seite. Komkosch trat ein. Okòrrs Kabine war blendend hell ausgeleuchtet und fast unmöbliert. Nur in der Mitte des Raumes stand ein Tisch. Okòrr hing unter dem Tisch, mit den Händen und Füßen von unten an die Platte gekrallt. Wie eine Echse, dachte Komkosch. An der jenseitigen Kabinenwand stapelten sich Kisten und Koffer, teilweise mit primitiven Bändern verschnürt. Ein merkwürdiger Geruch ging von diesen Behältnissen aus, süß und dumpf. Er wollte nicht wissen, was Okòrr darin verwahrte. Okòrr hatte sich noch nicht unter dem Tisch hervorbewegt. Aswrayn Komkosch sagte: »Der Marquis wünscht mich zu sprechen. Begleitest du mich?« Okòrr stimmte zu. »Ich habe mich entschlossen. Wenn wir auf Extosch landen, führe ich selbst unsere Truppen an«, fuhr Komkosch fort. »Das sollte unsere gemeinsame Linie sein, wenn wir mit dem Marquis sprechen.« »Dein Einsatz ist überflüssig«, meinte Okòrr. »Unsere Landetruppen sind zuverlässig. Außerdem werden zweifellos Zaqoor an der Aktion teilnehmen.« »Ja, die Zaqoor …«, sagte Komkosch gedehnt. »Ein interessantes Volk. Sie machen sich breit in Gruelfin. Wir sollten sie näher studieren.« »Deine Beteiligung an der Landeoperation dient also dem Studium?« Komkosch lachte. Okòrr kroch unter dem Tisch hervor. Er stand auf, reckte sich und machte einige Dehnübungen. Komkosch musterte sein Gesicht. Okòrrs Haar war tiefschwarz und sehr dicht, einige Strähnen hingen ihm über die Augen. Diese Augen standen unglaublich weit auseinander, fast unter den Schläfen. Komkosch fühlte sich merkwürdig erregt in Okòrrs Gegenwart. Okòrr stieß ihn ab, zog ihn aber zugleich an. Vielleicht, überlegte Komkosch, hätte ich ihn damals nicht aus dem brennenden Glei-
Wim Vandemaan ter befreien sollen. Er saß da, mitten im Feuer, eingeklemmt. Schrie nicht, sagte kein Wort. Obwohl seine Hände schon brannten. Kein einziges Wort … Okòrr strich die Haare aus den Augen und fixierte Komkosch, dann verkündete er: »Ich komme auch mit.« Komkosch wollte etwas entgegnen, wandte dann aber den Blick ab. »Das ist in Ordnung«, sagte er widerwillig. Eine Raumfähre brachte sie auf die GARB YSCHGOR. Die Fähre wirkte zerbrechlich, kaum mehr als ein offenes Floß, über das eine Glaskuppel gestülpt war. Aber Komkosch liebte das Gefühl, den Sternen ausgesetzt zu sein. Nichts war von der alten Astrophobie aus der Zeit geblieben, als der ganjasische Herrscher Ovaron die Sternentriebwerke verplombt hatte – kastriert wäre die treffendere Bezeichnung. Das war vorbei. Aswrayn Komkosch war – bei allem, was die Ganjasen ihm angetan hatten – wie jeder Takerer ein freier Mann. Ein Leitstrahl des Zaqoor-Schiffes übernahm die Steuerung. Die Fähre flog auf eine der großen Äquatorkuhlen zu, die sich weißlich beige vom Umfeld der Schiffshülle abhob. Das Iris-Tor der Mulde öffnete sich, und die Fähre flog sanft in den riesigen Hangartubus ein, der sich fast 400 Meter tief in den Leib des Schiffes erstreckte. Vier Beiboote von 75 Metern Durchmesser standen hier; die Fähre von Komkosch wurde zwischen zweien dieser Raumschiffe geparkt. Als Komkosch und Okòrr ausstiegen, ging der Takerer ein wenig in die Knie. Dann regulierte er die Schwerkraft mit dem Mikrogravitator neu. Die Zaqoor waren an eine Schwerkraft von 2,2 Gravos gewöhnt. Kein Zaqoor war zu ihrem Empfang erschienen. Vor der Fähre hatten sich zwei gedrungene und auf vier Beinen laufende Echsenabkömmlinge aufgebaut. Die Reptiloiden trugen geschlossene, dunkelgraue Schutzanzüge. Sie waren demnach keine Sauerstoffatmer. Ihre Echsenschädel bewegten sich in gläsernen Helmen. Es waren Gorsaan, er-
Entscheidung auf Extosch kannte Komkosch, ein weiteres Hilfsvolk in den lordrichterlichen Truppen, zu denen die Zaqoor sich zählten. »Folgen!«, knarrte einer der Gorsaan und drehte sich um. Die Gänge wirkten geradezu einschüchternd groß – sie waren auf die Körpermaße der Zaqoor angelegt. Auch das Quartier des Marquis war riesig. Die Gorsaan hatten die Gäste gemeldet und sich dann entfernt. Komkosch und Okòrr traten in Marquis Gymro Gabthrans Gemach. Der Marquis saß an einem Tisch, dessen Platte sich in Augenhöhe der Takerer befand. Der Tisch war aus einem bleichen Material gefertigt, wie aus Knochen, dachte Komkosch angewidert. Neben dem Tisch lag ein unbekleideter Zaqoor, offenbar bewusstlos. Ein dünner Faden Blut oder Sekret rann ihm aus dem Mundwinkel das Kinn hinab. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit einem Brei aus Fleisch und zermahlenen, oft nur kleingebrochenen Knochen. Das musste das berühmte Haggariss sein, die Leibspeise der Krieger. »Sieht gut aus«, bemerkte Aswrayn Komkosch. Der Marquis betrachtete den Takerer aus schmalen braunen Augen. »Es ist frisch.« Komkosch überlegte, welche Tiere – oder Lebewesen – die Zaqoor an Bord hielten, um jederzeit frisches Fleisch zu haben. Der bewusstlose Zaqoor stöhnte leise. »Das ist Penmek«, stellte der Marquis vor, »wir lieben uns.« »Das ist kaum zu übersehen«, erwiderte Komkosch. Es war ihm bislang nicht gelungen herauszufinden, ob der Zaqoor Sinn für Ironie besaß. Falls ja, verstand er es meisterhaft, das zu verbergen. »Was können wir für dich tun, Marquis?« »Ich möchte sicherstellen, dass unser gemeinsamer Einsatz ein Erfolg wird.« »Natürlich wird er das, Marquis. Hast du Zweifel an uns oder an deinen Truppen?« »Wir sind unbesiegbar«, stellte der Marquis fest. »Wir sind die Leibgarde der Lordrichter.«
17 »Wir sind Takerer«, erklärte Komkosch, »Drenktosch.« »Wir müssen die Daten vollständig und unversehrt bergen. Ich habe noch einmal über unsere Strategie nachgedacht. Die Extoscher ziehen ihren Nachwuchs nicht abgetrennt von ihren kollektiven Wohngebieten auf, nicht wahr?« »Das ist richtig.« »Wir werden einige Junge greifen und ihnen die Augen ausstechen. Sie würden schreien. Ihre Schreie hätten für die Erwachsenen eine gewisse Priorität. Sie würden sich mehr um ihre Brut als um uns kümmern. Die Bergung verliefe ungestörter.« Komkosch dachte nach: Wozu dieser Übergriff auf Kinder? Er fragte den Marquis: »Fürchtest du den Widerstand von Märchenerzählern?« »Ich fürchte gar nichts«, gab der Marquis zurück. »Es sollte der Bequemlichkeit deiner Truppen dienen, Kommandant Komkosch, und damit dir selbst.« »Du sorgst für mich wie ein Vater«, spöttelte Komkosch. »Bleiben wir aber lieber bei unserer vereinbarten Strategie. Die Ziele sind erfasst; die ersten Landungsboote werden bereits besetzt.« »Ich bin einverstanden«, befand Gabthran nach einem kurzen Zögern. Er beförderte mit seinem Essspachtel noch etwas Fleischbrei in den Mund, kaute, stand auf und beugte sich über den oder die Zaqoor am Boden. »Ihr geht jetzt«, forderte er die beiden Takerer auf. Komkosch blieb stehen. »Darf ich dich etwas fragen, Marquis Gabthran? Was versprichst du dir von den Lügenmärchen der Extoscher? Warum gibst du dich mit diesen Bagatellen ab?« »Ich gebe mich nie mit Bagatellen ab«, sagte der Marquis erstaunt. »Der Einsatz auf Extosch ist entscheidend.«
* Iopan lachte ein wunderschönes Lachen und nahm Mintra zur Begrüßung in den Arm. »Du bist warm«, hauchte sie.
18 »Ich glühe«, bestätigte ihr Freund. »Mintra!« Sie hörte die sonore Stimme des Elektrischen Utrichs. »Da bist du endlich. Wir haben nur noch auf dich gewartet.« »Ich habe noch mit dem Ewigen Ganjo gesprochen«, verteidigte sie sich. »Das ist gut. Wie geht es ihm?« Mintra lachte. »Er ist tot, wie immer.« »So? Ist er das? Wie schön«, sagte der Utrich. Ist er das? Mintra überlegte, ob diese Frage schon Teil seines Unterrichts war. Sie betrachtete ihn. Der Elektrische Utrich stand und ging auf einem einzigen Bein, seinem Sprungbein. Das Bein war ein gelenkloser, kräftiger Muskelstrang; es endete in einem nackten, tellerförmigen Fuß, der sich, wie Mitra hin und wieder gesehen hatte, an glatten Flächen festsaugen konnte. Der Leib Utrichs war tonnenförmig; es war nicht klar, ob er aus Metall bestand oder in einer Art Rüstung steckte. Über dem Leib trug er in der Regel einen extoschischen Poncho aus Bittergarn. Er besaß nur einen rechten Arm; aus der linken Seite, dort, wo man den zweiten Arm erwartet hätte, kamen zwei Spangen aus Kupfer hervor, denen er seinen Beinamen verdankte: Hin und wieder kroch eine zitternde elektrische Entladung zwischen diesen Elektroden hoch, entlud sich, und man roch einen Hauch von Ozon. Mintra fand den Utrich schön, und zwar wegen seines Gesichts. Sein Kopf war braun, rund, von länglichen Falten durchfurcht. Sein Gesicht wirkte wie aufgesetzt: eine Maske aus Silber. Aber das Silbergesicht war schmiegsam, wohlwollend, warm und konnte auf gewisse Weise sogar lächeln, obwohl es an Stelle eines Mundes nur ein kreisrundes Sprachgitter besaß. In ganz Gruelfin kannte man kein zweites Wesen wie ihn; und auch aus den anderen Galaxien, die die Cappins bereist hatten, war nichts Ähnliches bekannt. Utrich umgab eine Aura der Einsamkeit. Die Gruppe bestand aus insgesamt fünfzehn jungen Extoschern. Sie betraten den Mythenhort über den Haupteingang am
Wim Vandemaan Stamm des Gebäudebaumes. Die große Halle war überwältigend wie immer. Aber Mintras Interesse galt heute nicht der großen Halle. Iopan flüsterte Mintra von hinten zu: »Denkst du an den Komfort im Moritatorenwrack?« Sie lächelte und gab ebenso leise zurück: »Ich denke an nichts anderes.« Sie wollten mit dem zentralen Antigravschacht den Stamm des Mythenhorts in Richtung Moritatorenplattform hochfahren, warteten aber noch auf eine pädagogische Mitarbeiterin des Mythoseums. Inzwischen hielt es der Elektrische Utrich für an der Zeit, den Unterricht zu beginnen; er fragte: »Warum sammeln wir Mythen, Sagen und Legenden?« »Weil sie schön sind«, rief Oschnaton. »Sehr richtig«, lobte Utrich. »Weil sie lehrreich sind«, meinte Zazaylla. »Wie könnten sie nicht sehr lehrreich sein?«, fragte Utrich. Iopan grinste Mintra verschwörerisch zu, während er mit der Hand ihren Nacken kitzelte; er flüsterte: »Jetzt pass mal auf! Wir wollen mal sehen, welchem Unsinn er noch zustimmt.« Dann sagte er: »Weil sie eine Leiter bilden zwischen dem Glas, den Nieren, dem Dakkarraum, einer Tasse Birm und dem Ganjo Ovaron.« Der Elektrische Utrich zögerte einen Moment. Sein Sprungbein bog sich nach links, nach rechts. Schließlich wandte er sein silbernes Gesicht Iopan zu und sagte: »Sehr richtig. Ich weiß zwar noch nicht, inwiefern, aber zweifellos hast du Recht.« Iopan verdrehte die Augen, die anderen lachten. Mintra schaute Utrich mitleidig an und fragte: »Was meinst du denn, Utrich, warum wir all das Zeug sammeln?« »Weil sie das Unwahrscheinliche lehren und vorwegnehmen.« »Das verstehe ich nicht.« »Sehr richtig verstehst du das nicht«, sag-
Entscheidung auf Extosch te der Elektrische Utrich, »ich will es also erklären: Alles Wahrscheinliche lässt sich berechnen. Die Positroniken kennen die wahrscheinliche Welt. Aber sie werden niemals die wirkliche erraten: denn die wirkliche Welt ist das Imperium der Unwahrscheinlichkeiten.« »Also erzählen die Mythen von der wirklichen Welt?«, wollte Mintra wissen. »Ja, du irrst«, sagte der Elektrische Utrich. Mintra horchte auf und blickte verwundert in das silberne Gesicht. Utrich widersprach? »Die Geschichten des Mythenhorts erzählen nicht von der wirklichen Welt, sie sind die wirkliche Welt.« »Das verstehe ich nicht«, rief Iopan. »Wie schade«, sagte der Elektrische Utrich. Endlich erschien die Mitarbeiterin des Mythoseums, eine Extoscherin. Sie stellte sich als Esteirele vor und führte den Elektrischen Utrich mit seiner Gruppe in den Antigravschacht. Sie schwebten aufwärts. Es war taghell hier. Der Stamm des Mythenhortes war mit einer Wechselglaskuppel überdacht; am Mittag würde die Sonne Absamoyn exakt über der Kuppel stehen und das Innere vollständig mit Licht fluten. Dann konnte das Wechselglas sein Farbenspiel beginnen und das grelle Licht dämpfen – jedes Mal ein Spektakel. Im letzten Drittel des Stammes zweigten Antigravschächte ab, die zu den einzelnen Scheiben hochführten. Esteirele glitt in die vierte dieser Abzweigungen. Der Schacht endete direkt auf der Scheibe. Sie stiegen aus. Vor ihnen erhob sich das alte Moritatorenraumschiff, die MOLAKESCH. Die Laderampe war ausgefahren. Man konnte die wuchtigen Lastentraktoren im Hangar sehen, die in alter Zeit die zusammensetzbaren Sitztribünen aus dem Schiff geschleppt und mit ihren Spezialgreifern aufgebaut hatten. Dann war die Leinwand ausgerollt worden, und die Moritatoren hatten ihrem Publikum die uralten Filme vorgeführt und die Geschichten erzählt von dem verschollenen Ganjo.
19 Vor der Rampe begrüßte sie Sparengasch, der Kustos des Schiffes. Mintra, Iopan und die anderen spazierten über die Rampe, die unter ihren Schritten leise vibrierte, in den Hangar und von dort in den schiffseigenen Antigravschacht. Sie flogen aufwärts. Sie passierten die Decks mit den Hangars, den Maschinenräumen und dem Überlichttriebwerk. Esteirele, der Kustos und der Elektrische Utrich schwebten vorweg. Ein halbes Geschoss unterhalb des pompösen inneren Vorführraumes der MOLAKESCH ließen sich Iopan und Mintra etwas zurückfallen und nutzten dann die Gelegenheit, sich abzusetzen. Die Wohnzellen befanden sich zwar oberhalb des Vorführraumes, aber strategisch wäre es kein guter Zug gewesen, für alle sichtbar weiter hinaufzuschweben. Stattdessen hatten sie dem Utrich zugerufen, dass sie sich kurz im Ausstellungsraum umsehen und später nachkommen wollten. Was sie natürlich nicht tun würden. Sie würden sich ein wenig in eine der Kabinen verirren. Vorläufig schlenderten die beiden an den Ausstellungsstücken vorüber, ohne wirklich auf sie zu achten. Es war allerlei Krimskrams zu sehen, unter anderem eine der alten Plomben, die zur Zeit Ovarons die Reichweite der Interstellartriebwerke eingeschränkt hatten. Iopan kitzelte sie schon wieder im Nacken. »Lass das«, sagte Mintra in einem Ton, dass Iopan begriff, sie meinte das Gegenteil. Wohlig rollte und drehte sie den Kopf. Dabei fiel ihr Blick zufällig auf ein Standbild im Hintergrund des Saales. Zwei Männer standen auf einem kleinen Podest, über ihnen rotierte sehr langsam das Modell einer kleineren Spiralgalaxis. Mintra riss sich von Iopan los und lief zu den Statuen. Die beiden männlichen Figuren wirkten trotz ihrer großen Blässe genauso lebensecht und detailliert wie der künstliche Ovaron vor dem Pediaklasten-Institut: Sie schienen zu atmen, und sie blinzelten sogar
20 hin und wieder. Der eine Mann war groß und schlank; er trug sein Haar kurz geschnitten. Seine Kleidung war von halb militärischem, halb zivilem Schnitt. Der andere war muskulöser, sein auffälligstes Merkmal war das lange weiße Haar. Seine Augen schimmerten in einem matten Rot. Der Größere steckte in einem massiv wirkenden Raumanzug. Er hielt den linken Arm in die Hüfte gestützt, unter dem rechten trug er einen Helm. Der Blick der beiden war in unbestimmte Fernen gerichtet. Mintra umrundete die beiden Figuren und taxierte mit einem Blick ihre Hintern, dann nickte sie anerkennend. Iopan zischte wie eine wütende Eidechse. Mintra legte ihren Finger auf die Lippen und schlich weiter um das Monument herum. Die beiden sahen auf den ersten Blick wie Cappins aus, aber irgendetwas stimmte nicht. Mintra brauchte eine Weile, um das merkwürdige Detail zu entdecken: Das Oberteil der Figur mit dem kurzen Haar lag so eng an, dass man ihr Herz schlagen sah. Aber das Herz schlug an der falschen Stelle: hoch oben in der Brust und nach links versetzt. »Wer seid ihr denn?«, fragte Mintra. Iopan hielt ihr von hinten die Augen zu. »Und wer bin ich?« »Ihre Namen sind Perry Rhodan und Atlan«, sagte der Elektrische Utrich, der unbemerkt hinter sie getreten war. Mintra erschrak ein wenig, fasste sich aber gleich wieder. Die Namen klangen ihr nicht ganz fremd. »Sie waren den Ganjasen vor langer Zeit behilflich, die Verhältnisse in Gruelfin im Sinne des Ewigen Ganjos zu ordnen«, fuhr Utrich fort. »Vasallen des Ganjos?« »Keine Vasallen. In ihrer Heimat gehörten sie selbst zu den regierenden Kreisen. Rhodan trug den Titel eines Großadministrators des Solaren Imperiums; Atlan war der Lordverwalter des Neuen Imperiums der Menschheit. Also zwei Regenten, wie ihr seht.«
Wim Vandemaan »Imperien kommen und gehen«, winkte Iopan ab. »Sie sind natürlich längst tot?« Der Elektrische Utrich antwortete: »Wir wissen es nicht. Der Legende nach trugen sie dieselben Geräte, die Ovaron unsterblich machen sollten. So genannte Zellaktivatoren.« »Aber das funktionierte doch nicht. Ovaron ist gestorben. Und dann sind sie es vielleicht auch.« »Vielleicht«, gab Utrich zu. »Jedenfalls sind beide unendlich weit weg. Sie hatten großen Einfluss, und vielleicht sähe es in Gruelfin besser aus, wenn sie hier wären.« »Wie sollten zwei Männer eine ganze Galaxis beeinflussen, besonders, wenn sie aus einer Zwerggalaxis wie dieser stammen?«, amüsierte sich Iopan, der das Info-Holo zu der Sterneninsel gelesen hatte, die über den beiden Figuren kreiste. »Ganz recht«, stimmte der Elektrische Utrich zu, und eine Entladung kroch die Armgabel hinauf. »Wie sollten sie? – Wollen wir jetzt in den Vorführraum?« »Dürfen wir nicht noch ein bisschen bleiben? Wir wollen noch … wir werden …«, stammelte Mintra. Der Elektrische Utrich blickte sie mit seinem warmen lebendigen Silbergesicht an. »Kommt nach, wenn ihr gewollt habt und geworden seid«, sagte er dann. »Aber wollt nicht zu viel und werdet nicht zu schnell. Ihr habt noch so viel Zeit.« Mintra spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Iopan rief: »Die Juclas sagen: Niemand hat Zeit!« »Was wissen die Juclas«, schnaufte der Utrich. In diesem Moment erklang ein lang anhaltendes Klirren, als würden Millionen von Gläsern in Scherben geschlagen – Alarm! Dann verkündete eine Stimme: »Der Ganjo hat die Landung der Trabantenstädte von Schayno angeordnet. Der öffentliche und private Verkehr in Schayno wird kurzfristig eingestellt. Bitte sucht den nächstgelegenen Sicherheitsraum auf. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Es handelt sich um eine
Entscheidung auf Extosch bloße Vorsichtsmaßnahme.«
* Die Legende der Seelenfestung, ihr zweites Kapitel Von der Seelenfestung hieß es, dass sie am Rand von allem läge, am Rand der bestirnten Welt, am Rand der Realität, ja selbst am Rand der bloßen Möglichkeit. In der Seelenfestung hauste die Totenkröte, die kein Leben zeugen konnte. Die Eier der Totenkröte waren aus leblosem Eisen, und die Kröte stahl Seelen und fügte sie den Eiern als Dotter ein. Siebzehn Tage nachdem der Scharit sein Reich verlassen hatte, geriet er an die Schweren Berge. Jeder Schritt fiel ihm schwer, und jeder nächste Schritt fiel schwerer als der vorige. Die Knochen in seinem Leibe beugten sich, das goldene Blut stockte, seine Augen blickten matt, und bald kroch er, die vier Arme wie ein eben Geborenes als Beine brauchend. Da entdeckte der Scharit den Eingang des Tunnels und besorgte mit letzter Kraft, dass er ihn erreichte. Die Tunnelbeißer hingen wie schwache Laternen in den Wänden, und der Scharit fragte nach dem Preis für eine Passage. Die Tunnelbeißer sprachen: »Wir verlangen den größeren Teil deiner Seele, so viel, dass dir nur ein Siebzehntel bleibt.« Und der Scharit zahlte. (Die Schweren Berge scheinen mir eine Zone besonderer, extremer Schwerkraft zu sein. Leider sagt die Legende weder an dieser noch an den folgenden Stellen etwas darüber aus, wie die vereinbarte Zahlung erfolgte.)
* AM MITTAG: FEUER Der erste Schuss der Desintegratorkanone traf den Mythenhort in den Ast aus Stahlkeramik, der den Großen Dakkarkom von Extosch trug. Die Kanone projizierte ihr fünf-
21 dimensionales Zielfeld auf den Träger, neutralisierte dort die elektrostatischen Kernanziehungskräfte und durchtrennte so die Verbindung zwischen Träger und Scheibe. Sie kippte haltlos zur Seite und stürzte über eintausendachthundert Meter in die Tiefe. Ihr Rand bohrte sich donnernd in den Boden. Wellen durchliefen ihr stählernes Dach. Sie platzte auf. Obwohl die zuständige Positronik noch im Augenblick des Absturzes sämtliche Energieflüsse lahm gelegt hatte, brachen mehrere Feuer aus. Exakt siebzig Sekunden nach dem ersten Schuss traf der zweite Strahl die Plattform der Kulte und zersägte sie. Die eine Hälfte brach ab; die andere senkte sich, verrenkte sich mit einem unerträglichen Kreischen an ihrem Träger und blieb an dünnen Stahllappen hängen. Wieder gab es eine Pause von genau siebzig Sekunden. Es war, als wollten die Angreifer der Panik Zeit geben, sich voll zu entfalten. Anschließend traf es den Ort der Kybernetischen Märchen. Mit einer unglaublichen, nur positronisch realisierbaren Präzision arbeitete sich das Desintegrationsfeld von oben durch ihr Zentrum und fräste ein Dutzende Meter durchmessendes Loch, bis es auf die Verbindung zum Träger traf. Dann klaffte eine Lücke in der Scheibenmitte, und der losgelöste Riesendiskus begann, an ihrem Stahlast herunterzurutschen. Metall rieb an Metall; es klang, als würden sämtliche Erzählmaschinen aufschreien. Und vielleicht taten sie genau das. Endlich schlug die Scheibe an den Stamm des Mythenhorts und brachte ihn zum Erbeben. Sie schwankte hin und her, dann dellte sich der Teil, der am Stahlast hing, unter dem eigenen Gewicht ein. Schließlich brach die letzte Aufhängung, und der Torso fuhr krachend nieder. Noch während das metallische Geschrei in den Vorführraum des Moritatorenschiffes drang, reagierte der Elektrische Utrich. Er sagte: »Die Angriffe werden im Siebzigsekundentakt vorgetragen. Unseren Teil trifft es also in spätestens einhundertvierzig Sekunden. Das ist zu kurz, um uns über die
22 Antigravschächte in Sicherheit zu begeben. Sparengasch, ist der Transmitter der MOLAKESCH betriebsfähig?« »Nein, nein, das Gerät ist nur eine Attrappe! Es funktioniert nicht.« »Und die MOLAKESCH selbst? Ist sie einsatzbereit?« Der Schiffskustos wusste es nicht mit Sicherheit. »Ich bin Historiker, kein Techniker!« »Die Zeit wird knapp. Ich gehe in die Zentrale«, verkündete Utrich. Mit meterweiten Sätzen sprang er über die Sitzreihen des Vorführraumes in Richtung Antigravschacht. Noch einhundertzwanzig Sekunden. Auf dem großen Bildschirm sagte das flimmernde Ovaron-Hologramm gerade seinen populärsten Satz: »Seht, die Sterne! Sie rufen euch! Lasst sie nicht vergebens warten! Lebt wohl, Freunde!« Der Elektrische Utrich trieb die vierzig Meter bis zur Zentrale hoch. Als er an der Etage der Mannschaftsquartiere vorbeikam, sah er Mintra und Iopan da stehen; beide nestelten an ihrer Kleidung. »Kommt mit!«, rief er ihnen zu. Noch einhundert Sekunden. Utrich sprang in die Zentrale und rief: »Positronik! Mach das Schiff startbereit!« Nichts. Er begab sich an das Hauptsteuerpult. Der antike Zentralrechner des Schiffes schlief; Utrich musste ihn erst hochfahren. Fünfundachtzig Sekunden. Die Positronik meldete sich. Utrich wiederholte seinen Befehl. »Utrich, was machst du? Was passiert?«, rief Mintra. »In die Sessel mit euch, schnallt euch an!« »Es ist keine Autorisierung erfolgt. Der Befehl wird nicht ausgeführt«, erklärte die Positronik. Fünfundsiebzig Sekunden. Utrich schnellte mit einem Sprung an die Verkleidung der Positronik und riss das Metallstück ab, als wäre es bloß eine Papierfolie. Mintra und Iopan schnallten sich an.
Wim Vandemaan Siebzig Sekunden. Wenn die Angreifer jetzt die Plattform mit dem Moritatorenschiff anvisierten – nichts geschah. Also würde in diesen Augenblicken die Menagerie sterben mit einem Großteil ihrer Bewohner und Gäste. Der Elektrische Utrich fuhr die beiden Spangen aus, die er anstelle eines zweiten Armes besaß. Mintra sah, wie die Spangen sich gabelten und weiter verzweigten; sie wuchsen förmlich in die Positronik hinein. Vierzig Sekunden. Der Panoramaschirm der Zentrale hellte sich auf. Entsetzt sah Mintra das Bild der in Flammen stehenden Menagerie. Das Metall warf Blasen. Etliche Besucher sprangen über den Rand der Scheibe in die Tiefe. »Volle Autorität anerkannt, Admiral«, erklärte die Positronik. »Schön, nach all der Zeit wieder von Ihnen zu hören. Sie haben Ihr Äußeres ein wenig verändert, wie ich sehe?« »Das ist eine lange Geschichte. Starte die Antischwerkraft- und Impulstriebwerke!«, befahl Utrich. Aus dem Leib des Schiffes erklang ein tiefes Brummen und Dröhnen. Das seit vielen Jahrhunderten reglose Schiff erwachte zum Leben. Jedenfalls halbwegs … »Antischwerkrafttriebwerk außer Funktion. Der volle Einsatz der Impulstriebwerke würde das ganjasische Leben gefährden, das ich in dem Bauwerk unter uns wahrnehme.« Mintra starrte den Utrich mit kalkweißem Gesicht an. »Keine Angst«, flüsterte er, dann befahl er der Positronik: »Einwand registriert. Starten!« Rüttelnd und schüttelnd wie der müde Riese aus dem Märchen von der Vergrabenen Zeit erhob sich die MOLAKESCH. Die Plattform wurde zugleich von den Strahlen ihrer beiden Hauptstrahltriebwerke und dem Desintegratorfeld der Angreifer aus dem Orbit getroffen. Die Wechselwirkung ließ die Scheibe detonieren. Einige Trümmer bohrten sich in die Austrittsdüsen der Triebwerke. Zwei dumpfe Explosionen folgten. »Wir brennen, Admiral«, meldete die Po-
Entscheidung auf Extosch sitronik. »Und wir stürzen ab.« »Setz die Steuerimpulstriebwerke ein!«, befahl der Elektrische Utrich. Diese Triebwerke befanden sich im Aggregat der Landeteller; das Schiff musste über vier dieser Hilfstriebwerke verfügen. »Steuerimpulstriebwerke I, III und IV – außer Betrieb.« »Voller Schub auf die II.« »Geschieht schon, Admiral.« Das Schiff kippte langsam. An der Schwerkraft war es nicht zu spüren, die Positronik hatte offenbar auf Schiffsgravitation geschaltet. Aber der Panoramaschirm zeigte, wie sich der Stamm des Mythenhorts näherte. Schon wurde das Schiff vom Impulsstrahl gegen den Stamm gedrückt. Dann begann es abzurutschen; der Sturz begann. »Sind die Andruckabsorber in Ordnung?«, fragte Utrich. »Ich kann sie nicht für das ganze Schiff betreiben«, gab die Positronik zu. »Konzentriere die Wirkung auf die Zonen des Schiffes, in denen du ganjasische Lebenszeichen ausmachst.« »Ganjasische Lebenszeichen ausschließlich in der Zentrale, Admiral.« Dann schlug das Schiff heftig und mit einem überirdischen Getöse auf den Boden. Explosionen erschütterten den Rumpf. Mintra und Iopan schrien kurz auf. Der Schirm erlosch, kurz darauf die künstliche Gravitation. Die Seitenwand wurde zum Boden. Mintra und Iopan, die bewusstlos in den Sesseln hingen, kippten mit dem Oberkörper zur Seite. Aus Iopans Mund rann Blut. Das Schiff erbebte immer wieder. Utrich hatte dennoch keine Probleme, sich mit seinem Fuß festzuhalten. Ächzend war das Schiff vorläufig zur Ruhe gekommen. Da die Positronik keine akute Gefahr für die nächste Stunde anzeigte und das Wrack also noch eine Weile überstehen würde, kümmerte der Utrich sich um die beiden jungen Extoscher. Beide waren nicht transportfähig. Utrichs tonnenförmiger Leib öffnete sich, und vier feingliedrige Instrumentenarme fuhren heraus. An den Enden
23 der Arme machten sich Hände an die Arbeit, die aussahen wie Miniaturausgaben von Cappin-Händen. Der Elektrische Utrich sang leise vor sich hin. Die Ärmchen zogen Iopans Gewand hoch, öffneten seinen Bauchnabel und fuhren ein. Es brauchte seine Zeit, um die innere Blutung des jungen Extoschers zu stillen und seinen Leberriss zu verschließen. Mintras Verletzungen waren weniger gravierend: Blutergüsse an den Armen, einige gebrochene Rippen und eine Fraktur ihres Beckens. Der Elektrische Utrich arbeitete still, konzentriert und sorgsam. Auch bei ihr fand er über den Nabel in den Leib, fand die Schäden an den Knochen und behob sie. Mintra würde, wenn sie erwachte, kaum Schmerzen spüren. Nach den Operationen verlangte er einen aktuellen Lagebericht von der Schiffspositronik. »Weite Teile des Schiffes brennen; Triebwerkssektionen radioaktiv verstrahlt; ich musste sie versiegeln. Die Energiespeicherbänke geraten allmählich außer Kontrolle. Ihre Sicherheit kann über die nächsten zwei Stunden hinaus nicht garantiert werden, Admiral«, mahnte die Positronik. »Wo ist der nächste Ausgang?« »Der Antigravschacht zur Hauptschleuse ist unterbrochen und unpassierbar, Admiral. Ein Deck unterhalb der Zentrale befindet sich eine kleine Mannschaftsschleuse auf der Seite des Geisterbildspürgerätes. Ich kann sie jedoch nicht öffnen. Das Schiff liegt leider auf der Seite der Schleuse.« »Schade«, sagte der Utrich. »Dann sind wir wohl gefangen.« Eine Entladung kletterte die Elektroden hoch; es roch nach Ozon. »Es existiert noch ein Transmitter an Bord, der möglicherweise funktioniert«, meldete sich die Positronik. »Ich dachte, das wäre eine Attrappe.« »Das ist korrekt. Aber es gibt ein weiteres, ein besonderes Gerät. Würde mich nicht wundern, wenn du es in Gang bekämst, Admiral.« »Wo ist es?«
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Wim Vandemaan
»Ein Deck unter uns. In der wissenschaftlichen Abteilung, in einer Krypta neben dem Observatorium.« »In einer Krypta? Wieso wusste der Kustos nichts davon? Warum hast du nichts davon gesagt?« »Es hat mich niemand gefragt. Er ist Geisteswissenschaftler, technische Details interessieren ihn nicht. Ich bin eine schlichte Positronik, Admiral, ich antworte, wenn ich gefragt werde.« »Dann danke, dass du es mir anvertraut hast!« »Freue mich immer, wenn ich helfen kann, Admiral.«
* Die Legende der Seelenfestung, ihr drittes Kapitel Nach siebzehn Tagen stand Pretan, der Scharit, am Plasmameer. Und das Meer strahlte, als wäre es aus schierem, wogendem Licht. Was ins Meer ging, blieb im Meer, und noch niemals hatte das Meer etwas wieder hergegeben. Am Gestade ruhte der Kybernetische Leviathan, eine glänzende Walze, groß wie die Stadt Ansch. Er rotierte eine Armlänge über dem Boden. Da er durchsichtig war, erleuchtete das lichterlohe Meer seinen Leib, und der Scharit sah inmitten seines Leibes einen winzigen Körper, der dunkel und zerbrochen wirkte und der in der Schwebe hing. »Wer ist das?«, fragte der Scharit den Kybernetischen Leviathan. »Das ist mein Navigator. Er ist tot. Und solange er tot ist, kann ich nicht fort von hier.« »Was braucht dein Navigator, um ins Leben zurückzukehren?«, fragte der Scharit. »Eine Seele.« Da gab Pretan ein Siebzehntel seiner siebzehntel Seele hin. Der Navigator erwachte zum Leben. Dankbar nahm der Kybernetische Leviathan den Schariten auf. Er brachte ihn heil durch das Plasmameer. Er spie ihn aus am fernen Ufer. Dann erhob er sich
und flog fort für immer. (Das Ende dieses Abschnittes verwirrt mich ein wenig: Musste der Kybernetische Leviathan nicht abtauchen, statt hochzufliegen? Vielleicht haben wir hier den Kern einer zweiten, ganz anderen Geschichte: der Geschichte eines havarierten, außerweltlichen Leviathan, der nur zufällig an die Ufer des Plasmameeres geraten war und dem ein Mann – oder eine Frau – aus dem Volk der Anschiten zum Rückweg in seine Heimat verhalf: eine Heimat weit jenseits des Plasmameeres.)
* Der Angriff begann etwa vierzig Minuten vor Ablauf des Ultimatums, während Komkosch sich auf dem Rückflug zu seinem Schiff befand. Er sah die Schutzschirme der Extosch-Raumschiffe aufleuchten, die sich zwischen dem Planeten und der takerischen Flotte befanden. Komkosch brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, was geschah: Die Zaqoor nahmen die Ganjasen unter Feuer. Der Kommandant rief Schendrascholk an Bord seines Flaggschiffes. »Was geht da vor?« »Es sind Zaqoor. Sie greifen Extosch an!« »Extosch? Wieso Extosch?« »Sie schießen auf den Mythenhort!« »Sie machen – was?«, schrie Komkosch. »Ich überspiele dir die taktische Analyse, Kommandant«, kündigte Schendrascholk an. Mittlerweile blitzte es auch in takerischen Schirmen auf. Die Ganjasen erwiderten den Beschuss. Sie waren mitten in einer Raumschlacht. Komkosch wies den Piloten der Fähre an, sie so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen; allerdings schoben sich im selben Moment zwei Schiffe der KYNOVARON-Klasse vor das kleine Raumfahrzeug und gaben ihm ausreichend Deckung. Der eiförmige Riesenleib der GINKORASCH wuchs vor ihnen auf. Das Schiff wirkte wie ein Tier, das schläfrig ein gelbes
Entscheidung auf Extosch Auge öffnete – die Schleuse. Kaum war die Fähre verankert und der Hangar mit Atmosphäre geflutet, stürzte Komkosch in Richtung Zentrale. Schendrascholk räumte ihm den Kommandosessel. Komkosch sah, dass das Bild auf dem Panoramaschirm mehrfach geteilt war. Alle fünf Scheiben, die das Bauwerk auf seinen stählernen Auslegern getragen hatten, waren abgeschossen worden; das Umfeld des Mythenhortes war eine brennende Trümmerwüste. Es war so still in der Zentrale wie bei einem Gottesdienst der Stummen Propheten. Die takerische Mannschaft erledigte ihre Arbeit schweigend und konzentriert. Schendrascholk fasste das Ergebnis der weiteren Analyse kurz zusammen: »Die Zaqoor haben zwei Schiffe in Schussposition über den Mythenhort gebracht. Der Angriff hat damit begonnen, dass die Zaqoor alle Schiffe der Wachflotte unter Feuer nahmen, die diesen beiden Schiffen gefährlich werden konnten. Dann wurde der Mythenhort beschossen.« »Gib mir den Marquis«, ordnete Komkosch an. Gymro Gabthran ließ sich ein wenig Zeit, bis er auf dem Bildschirm erschien. »Laufen an Bord deiner Schiffe die Uhren anders, oder warum halten wir uns nicht an das Ultimatum?«, fragte Komkosch. »Eine Sache, die es wert ist zu besitzen, ist es auch wert zu betrügen«, erläuterte der Zaqoor. »Das Psychogramm deiner Rasse hat ergeben, dass uns ein vorzeitiger Angriff einen nicht unerheblichen strategischen Vorteil verschaffen würde.« »Wem gegenüber? Uns?« »Kommandant Komkosch«, erwiderte der Marquis, »da der Vorteil auf unserer Seite ist, ist er auch auf deiner Seite. Wir haben eine Allianz.« »Interessante Theorie«, gab Komkosch zur Antwort und ließ offen, ob er den zaqoorschen Angriffsplan oder die Aussage zur Allianz meinte. »Ich bin ein Mann der Praxis«, gab der
25 Zaqoor zurück. »Wir beginnen daher so bald wie möglich mit der Ausschiffung der ersten Landungsboote.« »Vielen Dank für die Einladung«, sagte Komkosch, »wir werden dabei sein.« Das Gesicht des Marquis verblasste, und auf dem Schirm erschien eine dreidimensionale Skizze der Schlacht. Farbige Symbole markierten die Einheiten; für beide Seiten des Bildschirms wurden Verlustlisten geführt. Die Verlustliste der Extosch-Seite verlängerte sich regelmäßig. Zweifellos lag das auch an der Zusammensetzung des feindlichen Haufens: Die Extoscher setzten alles ein, was sie hatten – sogar private Raumjachten griffen mit ihren lächerlichen Bordwaffen an. Gegen dieses Zeug mussten die Takerer nicht einmal ihre Hochleistungsschutzschirme aufbauen. Sie werden noch ihre Wettersatelliten auf uns hetzen, dachte Komkosch ärgerlich. Auf der eigenen Seite waren bislang ganze zwei Einheiten zerstört worden, operierende Beiboote. Kein Zaqoor-Raumer war bislang verloren gemeldet. Die Positronik präsentierte ausgewählte Details der Schlacht. Die Zaqoor-Schiffe feuerten aus ihren Kuhlen. Die Mulden dieser Raumer waren wie kunstvolle Mosaike in unüberschaubar viele Einzelmodule unterteilt; diese ließen sich zu multifunktionellen Projektoren zusammenschalten, die gezielt Hyperstrahlung fast des gesamten Spektrums und höchster Intensität aussenden konnten. Im Augenblick feuerten sie auf die Extosch-Einheiten. In der positronischen Darstellung zogen die an sich unsichtbaren Hyperenergiebündel eine Leuchtspur. Wenn sie ins Ziel trafen, wurden sie für einen Moment auch in der Realität sichtbar. Dann sah es so aus, als schlügen ultrablaue Kometen aus purem Licht in die Schutzschirme der Extoscher ein. Das Vernichtungspotential der zaqoorschen Waffen war ungeheuerlich: Die freigesetzte Energie entsprach bis zu tausend Gigatonnen TNT. Die Flotte von Extosch wehrte sich. Die
26 meisten ihrer schwereren Einheiten konzentrierten das Feuer auf die Zaqoor-Schiffe über ihrem Planeten, aber deren Schutzschirme arbeiteten auf Paratronniveau. Strukturrisse leuchteten über den Schirmen auf und führten die auftreffende Energie in den Hyperraum ab. Okòrr hatte sich neben den Kommandosessel gehockt. Plötzlich blinkte auf dem Panoramaschirm das Zeichen für eine Prioritätenmeldung. Aswrayn Komkosch winkte mit der Hand und akzeptierte. Das runde, fleischige Gesicht eines Drenktosch-Takerers erschien; in der Fußleiste des Bildschirms waren der Name des Anrufers und einige persönliche Daten eingeblendet. Der Takerer hieß Pymposch und war Stellvertretender Kommandant der VASCALO XXIII, eines Schiffes der ABENASCH-Klasse. Pymposch sah entgeistert aus; er sagte: »Wir werden angegriffen!« »Ah«, staunte Aswrayn Komkosch, »ihr auch? Nun, das ist in einer Schlacht nicht ganz unüblich.« »Von den Extoschern!« Komkosch stützte das Kinn in die Hand und tat nachdenklich; tatsächlich musste er ein Lachen unterdrücken. Sollte er Pymposch raten, sich schriftlich beim Ganjo über diese Frechheit seiner Verteidigungsflotte zu beschweren? »Pymposch«, sagte der Kommandant vertraulich, »dann verteidige dich doch. Fahr die leistungsfähigsten Schutzschirme hoch und …« »Es geht nicht, es geht nicht!«, unterbrach ihn Pymposch; dann brach die Verbindung zusammen. »Analyse!«, befahl Komkosch kalt. »VASCALO XXIII ohne Schutzschirm von Initialstrahlern zerstört«, trug die Bordpositronik vor. Komkosch betrachtete die Aufzeichnung der Zerstörung der VASCALO: Man sah das über achthundert Meter lange Riesenei. Die Außenhülle aus einer metall-keramischen Verbundlegierung mit dem Hauptbestandteil
Wim Vandemaan Molakanatstahl schimmerte grau wie ein polierter Neutronenstern. Plötzlich legten sich zwei, dann drei blassblaue Hochenergie-Hyperfelder über das Schiff und drangen ein wie Gespenster – Treffer der Initialstrahler. Scheinbar im selben Moment platzte die VASCALO XXIII wie eine Seifenblase aus Licht, lautlos und schön. Die Hyperfelder hatten sämtliche Maschinen und Waffen, die auf Kernfusionsbasis arbeiteten, zur Explosion gebracht. »Analyse!«, bellte Komkosch. »Es wurden von Seiten der VASCALO XXIII keine geeigneten Verteidigungsmaßnahmen ergriffen.« Komkosch brauchte eine Schrecksekunde, um zu verstehen: Das musste Sabotage sein. Und er zog den nahe liegenden Schluss: »Die Extoscher sind an Bord. Sie pedotransferieren!«, rief er, »Pediaklasten, Sicherheitstrupps, Achtung!« Es würde Pedogefechte geben, die Pediaklasten würden die Schlacht in der Seelenlandschaft führen. Die Auseinandersetzung erreichte eine höhere Dimension. Auf dem Schirm war eine neuerliche Explosion zu sehen, und wieder eine: »DUSA; KYNOVARON-Klasse, 46 Takerer Besatzung; FLAR REÖRSCH, KELTATRON-Klasse, 79 Takerer Besatzung«, informierte die Positronik über den Panoramaschirm. »Macht dem ein Ende!«, schrie Aswrayn Komkosch und schlug mit beiden Armen auf die Lehnen des Kommandosessels. »Macht dem sofort ein Ende!«
* Ökvüe sah Blenschek blinzeln. Sie mochte weder Blenschek noch sein Blinzeln, aber leider beruhte diese Abneigung nicht auf Gegenseitigkeit. Im Gegenteil behauptete der Pedotunnelfeldingenieur, sein Blinzeln werde durch Ökvües Brüste hervorgerufen und andere Leuchtfeuer ihrer Anatomie. Ökvüe ignorierte Blenschek und wandte sich wieder der Kontrollanzeige zu. Sie dachte an Teborabon, der auf der TRO
Entscheidung auf Extosch ZABANARA Dienst tat. Sollte sie sich auf sein Schiff versetzen lassen? Dann würde er natürlich mehr fordern als gelegentliche Treffs auf den Flottenbasen. Nun, sollte er fordern. Es war nicht unbedingt unangenehm, seinen Forderungen nachzukommen, denn er tat mit ihren Brüsten etwas anderes, als sie anzustieren. Teborabon … Ökvüe lachte leise, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Monitoren. Die Hyperraumenergie floss stetig durch das Pedotunnelfeld in die Speicherbänke. Ökvüe hatte Speicherquintett Nummer IV zu beaufsichtigen. Diese Speicherbank bestand aus fünf Kugelspeichern, von denen jeder etwa fünfzehn Meter durchmaß. Blenschek pfiff kurz, aber Ökvüe sah nicht auf. Pfeif du nur!, dachte sie und behielt lieber die Energieflussanzeiger im Auge. In der Energieweiche schien es zu einer kleinen Irritation zu kommen. Kugel C wurde stärker gespeist als die anderen vier Speicherelemente. Und ihr Pegel stieg rasant. »Ungleichfluss in den Kugelspeichern«, meldete Ökvüe und legte den Finger auf die Regulationssensortaste. »Das ist schon in Ordnung, warte einen Moment«, gab Blenschek zurück. Ökvüe zögerte, zwar nur für einen Augenblick, aber sie zögerte. Was sollte hier in Ordnung sein? Sie starrte in Richtung Blenschek, der lächelte ihr zu und nickte freundlich. »Segment C kritisch überspeist, empfehle Zuflussstopp jetzt«, sagte die sonore Stimme der Überwachungspositronik. Warum sagte sie das, warum hatte sie nicht längst automatisch reguliert? Ökvüe schlug auf die Sensortaste, um den Zufluss ganz zu unterbinden, aber die Energie brach sich ungebremst Bahn durch das Pedotunnelfeld. »Stoppen!«, schrie Ökvüe die Überwachungspositronik an, »Blenschek!« »Ökvües Befehl von ranghöherer Weisung außer Kraft gesetzt«, meldete das Gerät. Was, bei den Sieben Bitterdämonen, hatte Blenschek da angeordnet?
27 Wenn der Zufluss nicht auf der Stelle gedrosselt und angehalten wurde, würde die Speicherkugel platzen, das komplette Aggregat zerstören – und die Schirmfeldprojektoren lahm legen, die es mit Energie versorgte. Ihr Schiff, die EWIGE HEIMAT GREYTONOR, wäre schutzlos. Ökvüe sprang auf und trat zwei, drei Schritte auf Blenschek zu. Blenschek drehte sich mit seinem Stuhl ihr zu und sah sie interessiert an, aber sein Gesichtsausdruck war anders als sonst. Er wirkte neugierig und merkwürdigerweise ein wenig melancholisch. Als wäre er ein anderer. »Du bist eine hübsche Frau, Takererin«, sagte er und fügte leise an: »Es tut mir Leid.« Er ist übernommen worden!, erkannte sie endlich. Blenschek ist ein Pedoopfer! Reglos vor Überraschung stand sie da. Blenscheks Gesicht erlosch förmlich, aber nur für einen Herzschlag, dann tauchte sein eigenes Bewusstsein wieder in seinen Augen auf. »Was ist …?« In diesem Moment detonierten die Kugel und die Speicherbank. Ökvüe sah das Licht des Hyperraums; das Geräusch aber hörte sie schon nicht mehr. Wenige Augenblicke später empfing die EWIGE HEIMAT GREYTONOR Wirkungstreffer von Initialstrahlern. Das von allen Schutzschirmen entblößte Schiff der KELTATRON-Klasse verging.
* Venkatesch jubelte innerlich. Sein Äußeres, das neue Gesicht, das er noch nicht gesehen hatte, versuchte er ausdruckslos zu halten. Er durfte sich nicht verraten. Sein Pedoopfer war weiblich – ein Glückstreffer: Tereme, Offizierin an Bord eines Raumschiffes der ABENASCH-Klasse, Kommandantin der TAIRULIO, eines Beiboots der SILARIA-Klasse, hinreichende Kampfausrüstung, nicht nur Thermo- und Impulskanonen, sondern eine Abschussbatterie für Anti-
28 materie-Torpedos. Hinreichend jedenfalls für Venkateschs Zwecke – das Mutterschiff würde den Einsatz der Waffen im Hangar kaum überstehen. Tereme hielt sich zu allem Überfluss auch noch in der Zentrale der TAIRULIO auf; neben ihr waren nur zwei Takerer hier, die beide mit der Einschleusung und Verteilung von Bodenlandetruppen beschäftigt waren. Und als Kommandantin war Tereme bewaffnet. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Venkatesch zog in aller Ruhe den Impulsstrahler und nahm ihn in beide Hände, um mit ausgestreckten Armen zu zielen. Als er die Ellenbogen des Frauenkörpers eng zueinander führte, spürte er ihren – das hieß im Augenblick: seinen – Busen. Er würde das Schiff zerstören; die Besatzung würde sterben. Also spielte es keine Rolle mehr: Venkatesch schoss dem ersten Takerer in den Kopf. Die vom Strahl erhitzte Luft breitete sich in der Zentrale aus und schlug Venkatesch ins weibliche Gesicht. Wie empfindlich ihre Haut ist!, dachte Venkatesch. »Achtung, Abschuss einer Impulswaffe in der Zentrale!«, meldete die Bordpositronik überflüssigerweise. Der zweite Takerer fuhr in seinem Sessel herum. »Kommandantin, was …« Venkatesch tötete auch ihn. Die Bordpositronik hatte mittlerweile ihre Schlüsse gezogen und sich mit der zentralen Positronik des Mutterraumschiffes verständigt. Venkatesch musste sich beeilen. Zweifellos waren Kampfroboter und takerische Einheiten schon auf dem Weg zur Zentrale. Venkatesch schloss alle Zugänge und verriegelte sie. Natürlich versuchte die Positronik der TAIRULIO, den Zugriff auf die Waffensysteme zu unterbinden. Aber mit Teremes Fachwissen und ihren Tricks gelang es Venkatesch, die Torpedobatterie frei zu bekommen. Er richtete sie auf das Schiffsinnere aus. Die Positronik meldete, dass das Beiboot, das neben der TAIRULIO im Hangar stand,
Wim Vandemaan Teremes Schiff zielerfasst hatte. Venkatesch baute den Schutzschirm auf und begann mit der Ablösung seines Bewusstseins. Das andere Beiboot konnte hier im Hangar nur die leichten Waffen einsetzen; der Schirm kassierte die Treffer mühelos. Von irgendwoher aus Teremes Bewusstsein stieg der Gedanke an die Oberfläche, dass das Mutterschiff BORABOR hieß. Mutterschiff … BORABOR – wie der mechanische Drache aus einem alten takerischen Robotermärchen. Teremes Bewusstsein regte sich bereits unruhig. Mutterschiff, was ist denn … Venkatesch initiierte die Startsequenz für die Antimaterie-Torpedos. Er gab sich drei Sekunden Zeit für die Rückkehr in seinen eigenen Leib in der Stadt Schayno. Im letzten Moment erreichte Venkatesch noch ein verwirrter Gedanke Teremes, die langsam wieder zu sich kam: Was ist denn? Mutter …? Er hielt inne, als er ihre kreatürliche Angst spürte. Er unterbrach die Ablösung, senkte sich behutsam wieder über ihren Geist, ohne ihn aber zu unterdrücken, und flüsterte ihr zu: »Es ist nichts, mein Mädchen, schlaf weiter, alles ist gut …« Dann war die Zeit abgelaufen. Die Torpedos hatten es nicht weit bis zum Einschlag. Die BORABOR verging mit allem, was in ihr war: mit der TAIRULIO, mit Tereme und ihrer traurigen Mutter.
* Geua war die Pediaklastin an Bord der MIMASBESCH. Die Angriffe der extoschischen Pedotransferer und deren Abwehr hatten sie erschöpft. Die Attacken zeigten kein System; sie wurden völlig ungeordnet und wild vorgetragen, angetrieben von Wut und Zorn. Das sah nicht nach einer militärischen Offensive aus, sondern nach einem Volksaufstand. Es war Geua gelungen, Dutzende von Pedoattacken zurückzuweisen. Geua war wie alle Pediaklasten ein Instinktiver Pedoautokrat. Diese Eigenschaft befähigte sie, ihren Geist aufzusplittern. Wo immer Geua einen
Entscheidung auf Extosch Pedoaggressor ortete, verfolgte sie seine Pedospur zurück, bis sie auf den formlosen Leib des Gegners traf. Dort drang sie in sein Restbewusstsein ein, den stillen Sumpf, das Reservoir. Der Leib, den ein Pedotransferer zurückließ, deformierte sich zu einer gallertartigen, blasenwerfenden Masse. Geuas Bewusstseinssplitter ließ ihn wieder Gestalt annehmen. Dann musste sie den Leib aufrichten und in eine Lage bringen, die lebensbedrohlich war oder wenigstens so wirkte: Die Geua-Fragmente suchten nach Vibratormessern, Stahlscheren, nach allem, was als Hieb- oder Stichwaffe dienen konnte. Geua stach sich in den Leib. Sie öffnete Fenster und stürzte sich hinaus; sie desaktivierte Antigravschächte und warf sich hinein. Wenn nichts anderes sich anbot, senkte sie den Kopf und rannte gegen eine Wand. Und sie tat all dies in über einem Dutzend Leibern zugleich. Meist rief das Gefühl des Bedrohtseins das Originalbewusstsein in den Körper zurück; spätestens der Schmerz tat es. Geua musste nur dafür sorgen, dass die Verletzung ihres kurzfristigen Wirtskörpers schwer genug war, um eine längere medizinische Behandlung zu erfordern. So schaltete sie auch etliche der Pedotransferer aus. In Friedenszeiten trainierte die Pediaklastin die Pedotransferer an Bord. Sie übte nicht nur die einzelnen Phasen des Transfers ein, sondern diente den Männern und Frauen auch als Psychotherapeutin oder Beichtmutter. Annähernd ein Drittel der Besatzung war faktisch oder latent zum Pedotransfer fähig. Aber der Körperwechsel war nicht jedermanns Sache. Viele Pedotransferierer empfanden sich nach der Rückkehr als rituell beschmutzt; manchen gelang es nie mehr, die volle Identität mit dem eigenen Leib wiederherzustellen. Im Abwehrkampf kam Geua und ihren Kollegen auf den anderen Schiffen eine zentrale Bedeutung zu. Die Truppen von Kommandant Komkosch hatten schon einige Male Pedokriege geführt, aber meist waren die-
29 se Kämpfe Auseinandersetzungen zwischen Spezialtruppen gewesen, häufig in den Spätphasen einer Raumschlacht, wenn selbst die Hochenergie-Hybridschirme nach Dauerbeschuss überlastet zusammenbrachen oder perforiert waren. Kein Pedotransferer konnte solche durchdringen, die auf Paratron-Basis oder mit Sextadim- oder DakkarKomponenten arbeiteten. Diesmal hatte der Feind zu überraschend zugeschlagen – und nicht nur der Feind, sondern auch die zaqoorschen Freunde. Bevor die Schlachtschiffe der Drenktosch ihre Schirme hochgefahren hatten, waren Dutzende, wenn nicht Hunderte von Extoschern an Bord pedotransferiert und hatten sich in den Raumfahrern eingenistet. Geua war sich sicher, dass sie nicht sämtliche Angriffe hatte abwehren können. Ihren Pediaklasten-Kollegen auf den anderen Einheiten würde es kaum besser ergehen. Geua war auch von der Vehemenz der Angriffe ausgelaugt. Die Extoscher waren von brennendem Hass, von grenzenlosem Zorn angetrieben – eine derartige Durchschlagskraft auf Pedobasis hatte Geua noch nie erlebt. Aber es heißt ja, dachte sie, dass die Fähigkeit zum Pedotransfer mit dem Aggressionstrieb von uns Cappins verknüpft ist. Vielleicht ist diese Fähigkeit, in die Psyche eines anderen einzudringen und seine ÜBSEFKonstante zu unterdrücken, nichts als die Folge einer ungeheuren, genetisch begründeten Angriffslust, eines unstillbaren Verlangens, den anderen zu unterdrücken … ÜBSEF stand für »Überlagernde Sextabezugs-Frequenz«; andere nannten es schlicht Seele. Wir Seelenbesetzer. Wir Seelenvergewaltiger. Geua raffte sich auf und orientierte sich auf Pedoebene. Sie ortete zwei Fremdbewusstseine in der Kantine der MIMASBESCH. Geua lächelte. Bei aller Zerstörungswut der beiden extoschischen Invasoren: Mehr Untaten als Bosküsch, der Chefkoch des Schiffes, würden auch sie nicht anrichten können.
30 Geua spürte, wie sich der Hybridschirm aufbaute und das Schiff gegen weitere Pedoattacken absicherte. Alle Extoscher, deren Bewusstseine nicht rechtzeitig in den eigenen Leib zurückkehrten, waren nun an Bord gefangen. Geua erhob sich von ihrem Bett, von wo aus sie die Attacken abgewehrt hatte. Sie kleidete sich an, zog eine Chamäleonjacke über und schloss die Magnetverschlüsse. »Patorschan?«, rief sie über den Kom am Handgelenk. Der Sicherheitsoffizier erstattete Meldung: »Wir haben die Pedoorter aktiviert und durchkämmen das Schiff.« »Wäre schön, wenn wir ein paar von ihnen lebend fangen könnten«, bat die Pediaklastin. »Kommandant Komkosch hat darauf gedrungen, dem Spuk rasch ein Ende zu bereiten.« »Hm«, machte Geua. Das hieß, sie würden die Pedoopfer unter den Takerern nicht aufspüren, isolieren und den Gast im Geist im Verlauf aufwendiger Sitzungen herauslösen, sondern ihnen die Waffe vorhalten und … … und was? Schießen? Dabei würden die eigenen, übernommenen Besatzungsmitglieder getötet werden. Geua entdeckte mit ihrem hyperdimensionalen Sinn einen weiteren Übernommenen im Bereich der Waffenkammern. Das konnte prekär werden. Sie gab Patorschan den Aufenthaltsort des Eindringlings durch. »Wir sind gleich da«, kündigte der Sicherheitsoffizier an. »Ich auch«, erwiderte Geua. Tatsächlich traf Geua früher ein. Das Schott zur Waffenkammer war von innen verriegelt; sie überbrückte die Sperre mit ihrem Kommandokode. Das Schott zischte zur Seite. Geua trat ein. An den Wänden der Kammer standen hohe Regale voller Schusswaffen; außerdem lagerten hier Hunderte hochgeladener Magazine. Inmitten des Raumes saß ein unglaublich fetter Takerer in einer Individualschirm-
Wim Vandemaan blase. Er schwitzte. In den Händen hielt er ein schweres Impulsgewehr. Er zielte sofort auf Geua. Zwei weitere Takerer lagen flach auf dem Boden der Kammer und hielten die Arme im Rücken und die Unterschenkel gekreuzt. Das Schott schloss sich wieder. Geua spürte, wie das Pedobewusstsein in dem beleibten Takerer nach möglichen anderen Pedoopfern außerhalb der Waffenkammer suchte. Die Pediaklastin unterband die Suchbewegung mit ihren Geisteskräften. Wer immer im Kopf dieses Takerers steckte, er war kein erfahrener Pedokämpfer. »Sie haben Ihr Ziel gut gewählt, Kompliment«, gab sie zu. »Ich habe nicht danach gesucht. Purer Zufall«, erwiderte der Extoscher – oder die Extoscherin? »Ich bin Geua«, stellte sich die Pediaklastin vor. »Wie heißt du?« »Ich weiß, wer du bist. Ich habe Zugriff auf diese Daten«, erwiderte der Takerer beziehungsweise der Ganjase hinter der Stirn des Takerers. Er stützte den Lauf der Waffe auf sein Knie, um eine Hand frei zu bekommen; dann wischte er sich mit dem Ärmel über die nasse Stirn. Auf dem Identitätsschild las Geua den Namen Binor Toschanan. »Ich bin Heschkonar«, stellte sich der Extoscher vor. »Der Hybridschirm des Schiffes steht, er ist für dich unpassierbar, Heschkonar. Und wenn du das Impulsgewehr hier drin abfeuerst, überlebst du es selbst auch nicht. Wollen wir also vernünftig sein.« Der Extoscher lachte aus Toschanans Mund: »Ich habe vorhin einen Akt deiner Vernunft miterlebt, Takererin, unten in Schayno.« »Ich bin nicht für die militärischen Entscheidungen der zaqoorschen Flottenleitung verantwortlich.« »Natürlich nicht. Die Fremden mit den Beulenschiffen haben geschossen. Sie sind rein zufällig im Absamoyn-System. Als Touristen.« Sein Lachen klang wütend. Er hob das
Entscheidung auf Extosch Impulsgewehr und zielte auf Geuas Kopf. Ein Schweißfaden rann von seiner Stirn herab und an seiner Nasenwurzel entlang. Geua sagte: »Gewalt ist eine Hexe; sie macht aus Opfern Täter und aus Tätern Opfer.« Wieder lachte der Extoscher. In diesem Moment glitt das Tor zur Seite, und Patorschan stürmte mit seinen Leuten in den Raum. Die Sicherheitsgruppe richtete ihre Strahlenpistolen auf Heschkonar. Heschkonar hielt das schwere Impulsgewehr im Anschlag. Wenn er mit dem Impulsstrahl in die Magazine traf, würden den Sicherheitsleuten selbst ihre Individualschirme nichts mehr nützen. Patt. »Schaltet mir eine Strukturlücke in den Schirm, dann verlasse ich das Schiff«, bot Heschkonar an. »Indiskutabel«, rief Patorschan unnötig laut. »Wir befinden uns mitten in einer Schlacht; wir können keine Sektion des Schirms aussetzen.« »Leg die Waffe ab, ergib dich, und ich sorge dafür, dass du nach der Schlacht in deinen Leib zurücktransferieren kannst«, bot Geua an. »Bis dahin bleibst du in Sicherheitsverwahrung.« »Ich habe die Lebensdauer takerischer Versprechen am Mythenhort erfahren«, höhnte Heschkonar. »Es ist immer schön, mit moralisch so unfehlbaren Wesen wie den Ganjasen zu plaudern«, sagte Geua lächelnd. »Du redest von Moral? Da habe ich es ja mit einer echten Autorität zu tun!«, entfuhr es Heschkonar. »Zweihunderttausend Jahre habt ihr uns gejagt, zweihunderttausend Jahre …« »Hass ist gut, wenn er brennt«, unterbrach Geua ihn leise, »denn solange er brennt, kann man ihn löschen. Aber wenn er zur Gewohnheit geworden ist, sind wir ihm ausgeliefert – wer könnte gegen seine Gewohnheiten an?« Der Extoscher im Leib von Binor Toschanan schwieg eine Weile. Schließlich murmelte er: »Du garantierst mir persönlich die
31 Rückkehr, Pediaklastin?« »Ja«, antwortete Geua. »Nun gut.« Der Schweiß lief Heschkonar in den Hemdkragen, als er das Impulsgewehr behutsam auf dem Boden ablegte. Dann richtete er sich auf, schaltete den Individualschirm ab und legte die Hände in den Nacken. Im selben Moment schoss Patorschan; die Wucht des Energiebündels hob Toschanans Körper auf und wirbelte ihn einige Meter weit durch die Luft. »Gut gemacht«, lobte Patorschan und nickte Geua anerkennend zu. »Sind weitere Extoscher an Bord?« Geua sondierte auf Pedoebene. Da waren die beiden Extoscher in den Leibern der Kantinenbediensteten, ihrer Ausweglosigkeit bewusst, der Panik nah. »Es besteht keine Gefahr mehr«, erklärte sie. »Das Schiff ist sauber.« Patorschan blickte in den Monitor am Ende des röhrenförmigen Pedopolorters, den er in der Hand trug. Das Gerät, dessen sich die Drenktosch bedienten, maß die leichte Unschärfe der ÜBSEF-Konstante eines Pedoopfers. Allerdings brauchte es dazu eine Mindestnähe zum gemessenen Objekt. Über Heschkonars/Toschanans Leichnam zeigte der Pedopolorter natürlich nichts mehr an. »Das Schiff ist sauber«, meldete der Sicherheitsoffizier schließlich an die Zentrale; er verließ mit seinen Leuten die Waffenkammer. Geua ging zu der Leiche, kniete sich hin und betrachtete sie – eine Leiche, aber zwei Tote. Nichts als ein winziger Stein im Mosaik des Krieges … Innerhalb der nächsten halben Stunde wurden dem großen Mosaik noch etwas über vierhundert solcher Facetten beigefügt – über vierhundert Leichen, über achthundert Tote. Dann meldeten nach und nach alle Sicherheitsabteilungen ihrem Kommandanten, dass die Schiffe wieder frei waren von extoschischen Pedopartisanen.
*
32 Im Residenzbüro beobachtete der Ganjo fassungslos, wie sich die Ereignisse überschlugen. Lange Minuten vor dem Ablauf des Ultimatums griffen die Takerer und Zaqoor an; und ihr primäres Ziel war das einzige Gebäude des Planeten, das Schankonar für tabu gehalten hatte – tabu für beide Seiten: der Mythenhort. Über Extosch tobte eine Raumschlacht. Die eigenen Einheiten wurden beschossen und erwiderten kurz darauf das Feuer. Der Ganjo hatte keinerlei Befehl dazu gegeben; er hatte nicht einmal einen Flottenkommandanten ernannt. Also handelten die Schiffsführer auf eigene Verantwortung – streng genommen sogar befehlswidrig. Das hätte den Ganjo empören müssen, aber ihn beherrschte längst eine ganz andere Empörung. »Wie können sie es wagen – ihnen ist nichts heilig. Sind das überhaupt Cappins, Väveidre?« »Geht das an mich als Genetikerin?«, fragte seine Stellvertreterin zurück. »Oder an mich als moralische Instanz? Ich bin keine moralische Instanz. Als Genetikerin kann ich dir sagen: Ja, es sind Cappins. Nicht viel anders als du und ich.« Während Schankonar, Väveidre und einige andere Mitglieder der Regierung noch auf den Panoramaschirm starrten, erreichte sie eine Meldung aus dem Institut der Pediaklasten: Romonon, der Generalsekretär des Institutes, meldete, dass sich etliche seiner Leute an Bord der Takerer-Schiffe begeben hätten; außerdem hätte es auch aus der Bevölkerung Pedotransferierungen gegeben – und zwar Ronomons Schätzung nach Hunderte, wenn nicht Tausende. Der Ganjo schaute seine Stellvertreterin mit einem bitteren Lächeln an. »Wir können dem Gegner nur zu seiner Strategie gratulieren. Ein paar Minuten, und schon haben wir jede Kontrolle verloren.« »Was jetzt?«, fragte Väveidre. »Taktische Prognose?«, erkundigte sich – Schankonar bei der Positronik. Aber sie bestätigte nur, was er intuitiv längst wusste: Der Kampf war vehement, und die Angriffs-
Wim Vandemaan wut der Extoscher würde nicht ohne Erfolge bleiben. Aber letztendlich aussichtslos. Schankonar gab über Dakkarkom den Befehl an die Wachflotte, sich zurückzuziehen. Der Befehl wurde nicht befolgt. Er lachte aus Verzweiflung auf. »Das war also unser erster Krieg. Wir haben ihn rasch verloren.« »Mir scheint, das haben wir noch nicht ganz begriffen«, murmelte Väveidre und wies mit dem Finger auf den Panoramaschirm, wo die lautlose Explosion eines Takerer-Raumschiffes zu sehen war. »Es ist alles chaotisch. Auf diese Weise haben wir keine Chance – das ist ein verlorener Kampf.« Der Ganjo ließ den Befehl zur Feuereinstellung wiederholen, auch diesmal wirkungslos. Es war nichts mehr zu tun. Er setzte sich, nicht zuletzt, um den Tumult in seinem Inneren zu beruhigen. »Von Kapitulation scheinen deine Extoscher nichts zu halten?«, meinte Väveidre. Der Ganjo überlegte. Er betrachtete die Analyse der bisher angerichteten Zerstörung und forderte Details des Mythenhortes an. Der Hort lag in Trümmern; der Stamm erhob sich kahl über einem brennenden Vorplatz, der von Bruchstücken der Scheiben übersät war. Über dem Platz kreisten Dutzende leichte und schwere Gleiter der Feuerwehr, der Ambulanz und der Polizei der Stadt. Wenn sie dem Schlachtfeld zu nahe kamen, wurden sie aus dem Orbit unter Beschuss genommen und zerstört. »Sie haben auf die Krone gezielt; wenn sie in der Lage sind, so genau zu treffen, hätten sie auch den Stamm vernichtet, wenn sie gewollt hätten. Sie haben den Stamm verschont«, überlegte Schankonar. »Und alles, was unter dem Stamm ist«, ergänzte Väveidre. »Die Schatzkammer«, erkannte der Ganjo. »Es geht ihnen nur um die Schatzkammer.« »Du denkst an die Rekonstruktion der Wuthana-Dateien?«
Entscheidung auf Extosch »Ja«, sagte Schankonar, »was sonst? Vielleicht hoffen sie, dort etwas zu finden, was ihren Sturmlauf rechtfertigt. Und wenn sie es nicht finden, werden sie einen entsprechenden Passus implantieren – und wer soll ihnen dann beweisen, dass sie die Geschichte zu ihren Gunsten umgeschrieben haben?« »Also werden wir die historische Wahrheit mit unserem Leben verteidigen, Ganjo?« »Nein. Jedenfalls nicht, soweit ich es als Ganjo zu bestimmen habe. Das hier geht weit über einen Akt der Piraterie hinaus, mit dem wir noch umgehen könnten. Alle Cappins sind gemeinsam für ihre Geschichte verantwortlich. Ich bin es nur für Extosch. Also: Übermittle den Takerern die Kapitulation der Regierung. Wir haben von hier aus sowieso keine Kontrolle mehr.« Schankonar stand auf und begab sich in Richtung Ausgang. »Wohin jetzt?«, rief Väveidre ihm nach. »Du willst doch nicht den Spiralpalast verlassen?« »Ich fliege zum Mythenhort, privat.« Väveidre starrte ihn an. »Mintra ist dort«, erklärte der Ganjo.
* Die Schlacht war vorbei; sie hatte keine zwei Stunden gedauert. Die Einheiten der Extoscher waren vernichtet oder trieben außer Gefecht gesetzt im Raum. Manche glühten im atomaren Schwelbrand. Zwei oder drei ihrer Schiffe waren von den takerischen Waffen buchstäblich halbiert worden; zertrümmertes Material, Leichen und Extoscher in Raumanzügen regneten langsam daraus hervor. Überall blinkten Positionslichter von Rettungskapseln. Die Zaqoor hatten offenbar kein einziges Schiff verloren. Entweder hatten sich die Pedotransferer von Extosch nicht auf die Fremden eingepeilt, oder – was Komkosch für wahrscheinlicher hielt – der Marquis hatte noch vor dem eigenen Angriff auf den My-
33 thenhort für seinen kleinen Verband Befehl gegeben, sich in höherdimensionale Schutzschirme zu hüllen. Wenn das der Fall war: Warum hatten seine Leute nicht darauf reagiert? Komkosch würde dieser Frage später nachgehen müssen. Vom Mond Gasch aus war eine Sanitätskorvette gestartet. Ihr Kommandant bat um Erlaubnis, die Rettungskapseln zu bergen. Komkosch erteilte sie ihm. Das Angebot des Extoschers, die Überlebenden der elf zerstörten Schiffe der Drenktosch an Bord zu nehmen, lehnte Komkosch jedoch ab; ein eigenes Schiff würde sich darum kümmern. Er erhob sich und übergab das Kommando an Schendrascholk. Zusammen mit Okòrr verließ er die Zentrale und begab sich in den Hangar zu einem der Landungsboote. Komkosch und Okòrr waren die Letzten, die an Bord gingen. Das Boot hob ab und schloss sich der Landungsflotte an.
* Die Legende der Seelenfestung, ihr viertes Kapitel Wiederum nach siebzehn Tagen blickt der Pretan in die Kluft, wo nichts war, kein Ding, kein Teilchen, nicht einmal der Quantenschaum war in diese Kluft geflossen, ohne Anwesenheit war sie, leer und grundlos, und die Zeit – wenn etwas wie Zeit war in der Kluft – stand still. Und da nicht einmal ein Oben und Unten war, kein Links und kein Rechts, reichte die Kluft durch alle Himmel, ja, schloss die Seelenfestung ab von allem, was war. So war kein Abstieg möglich und also auch kein Aufstieg an der anderen Seite, dort, wo die Seelenfestung stand. Schließlich entdeckte Pretan das Drugun-Katapult. Der Arm des Katapultes war ein Regenbogen; die Schale lag an den Boden gebunden, aber sie war unvorstellbar klein. Pretan trat heran und bat, über die Kluft geschleudert zu werden, und er fragte
34
Wim Vandemaan
nach dem Preis. »Was bietest du an?« »Ich habe nur den Rest meiner Seele.« Die Katapultisten näherten sich ihm, fuhren knisternd die elektrischen Nasen aus, schnupperten an ihm und befanden: »Klein ist deine Seele geworden, Scharit.« Leise sprachen sie, aber sie sprachen alle zugleich und alle dieselben Worte. Waren sie nur ein Geist, verteilt auf die vielen Rüstungen? Ihre Rüstungen waren Flickwerk aus den Fragmenten von Gerätschaften und Maschinen, ihre Tentakel hoben und senkten sich zischend. Wenn ihre Laufketten rollten, dann quietschten sie, und Öl troff heraus. »Ein Siebzehntel eines Siebzehntels ist mir geblieben«, bekannte der Scharit. Da hielten die Katapultisten inne, und ihm war, als würden sie sich lautlos beraten. Dann gingen sie hin, nahmen und ließen ihm ein Siebzehntel des Siebzehntels des Siebzehntels, legten den winzigen Rest in die winzige Schleuderschale und schleuderten ihn über die Kluft. (Einer anderen Überlieferung zufolge sollen die Katapultisten übrigens keine pneumatisch-hydraulisch arbeitenden Konstrukte gewesen sein, sondern rein geistige Entitäten, sozusagen Gespenster. Ich halte das für unwahrscheinlich. Erstens: Wie sollten Gespenster Katapulte bedienen? Und zweitens: Seit wann verdienen Spukgestalten ihren Lebensunterhalt mit Frachtgeschäften?)
* Der Elektrische Utrich hatte mit Iopan und Mintra das Observatorium erreicht. In der Wand war zwar keine Fuge sichtbar gewesen, aber der Utrich hatte die Geheimtür mühelos entdeckt. Da das Schiff auf der Seite lag und sie sich also auf den Wänden bewegten, sah es aus, als glitte das Schott in die Decke hoch. Die Krypta war würfelförmig und überraschend geräumig; die Kantenlänge betrug
mindestens zehn Meter. Dennoch fühlten sich Mintra und Iopan sofort bedrückt: Über ihnen hing eine mächtige Kugel im Raum, die einen Durchmesser von fünf Metern oder mehr haben musste. Das Gebilde leuchtete blass in allen Farben des Spektrums; Schlieren in Rosa, Türkis, Orange zogen wie lebende Wesen über ihre Oberfläche. Eine eigentümliche Kälte ging davon aus. Obwohl die künstliche Schwerkraft an Bord der MOLAKESCH längst ausgefallen war, rotierte die Kugel gewichtslos und langsam im Raum. Die Gravitation des Planeten hatte, wie man sah, keinen Einfluss auf sie. »Was ist das?«, fragte Iopan leise, fast ehrfürchtig. Mintra bemerkte, dass die Kugel eigentümlich transparent wirkte, durchsichtig, aber nicht auf die Wand hinter ihr, sondern auf etwas ganz anderes, Entferntes, Unwirkliches – wie ein magisches Teleskop, das man auf eine fremde Welt gerichtet hielt. »Tja, das ist, wenn ich es recht sehe«, raunte der Elektrische Utrich, »etwas, das ich selbst noch nie gesehen habe. Positronik – woher stammt es?« »Dazu liegen mir keine Informationen vor«, gab die Positronik zurück. »Seit wann hast du es an Bord?« »Habe dazu leider nichts in meinen Datenbänken, tut mir Leid.« »Was heißt das? Du weißt es nicht?« »Ich kann sein Erscheinen hier auf keine meiner Zeitachsen anordnen. Ich könnte sagen: Es war immer schon hier. Oder: Es ist eben erst gekommen. Oder: Es ist mir entgegengekommen. Wäre das eine Hilfe?« »Ja, das wäre keine große Hilfe«, stimmte der Utrich auf seine vertrackte Art nicht zu. »Und was ist es jetzt?«, wiederholte Iopan seine Frage. »Es ist ein wahres Wunderwerk, denke ich. Ein Dakkartransmitter«, antwortete Utrich. »Dieses Kugelelement da über uns besteht aus schierer übergeordneter Energie. Irgendwo muss das Steuerelement sein.« Utrich entdeckte es hoch an der rechten
Entscheidung auf Extosch Wand: eine kobaltblaue, dreiseitige Pyramide, die Seiten eine Handspanne lang. »Ich erinnere mich an Gerüchte, dass Wissenschaftler der Wesakenos ihn vor ewigen Zeiten gebaut haben sollen. Das Prinzip ist wohl während des Großen Krieges verloren gegangen. Möglicherweise ist das hier das letzte Gerät seiner Art in ganz Gruelfin.« Ein Dakkartransmitter? Mintra wusste aus dem Unterricht, dass der Dakkarraum die Zone zwischen der fünften und der sechsten Dimension war, ein so genannter Halbraum, in dem der Sage nach ihr Entdecker, der cappinsche Dimensionenphysiker Ascina Dakkar, eines Tages im Zuge eines Experimentes verschwunden war. (»Ein Halbraum ist natürlich kein halbhoher Raum oder die Hälfte eines Raumes, sondern etwas, das nicht wirklich Raum ist und nicht wirklich nichts. Wer im Halbraum ist, ist nur zur Hälfte wirklich, verstehst du?« – »Halbwegs«, hatte sie gewitzelt.) »Warum öffnet man den Dakkartransmitter nicht und baut ihn nach, wenn er so eine tolle Sache ist?«, fragte Iopan. »Erstens, weil wahrscheinlich niemand wusste, dass sich in dem alten Schiff so ein Gerät befindet; zweitens, selbst wenn man es gewusst hätte: Die Wesakenos haben ihre High-Tech-Maschinen in der Regel verplombt.« Irgendwann sollte man ganz Gruelfin verplomben, dachte Mintra. Dann hat das Universum endlich Ruhe vor uns. Aus der Seite des Schiffes, das vor dem Absturz der untere Teil gewesen war, klangen drei, vier dumpfe Schläge. Der Rumpf schüttelte sich. »Wir sollten uns beeilen«, drängte Mintra. Der Elektrische Utrich kroch mit seinem Fuß langsam die Wand – den ehemaligen Boden – hoch und tat etwas mit dem Steuerelement, was Iopan und Mintra nicht sehen konnten. Es dauerte. Mintra hatte Mühe, ihre Angst zu kontrollieren. Von außen rollte der Donner weiterer Explosionen; ein Jaulen und Heulen und Krachen. Die Dämonen sind los, dachte Mintra.
35 Endlich begann die irisierende Kugel zu pulsieren. »Geht es los?«, rief Mintra hinauf. »Ich finde keine Gegenstation«, antwortete der Utrich von oben. »Das Gerät versucht, sich in ein anderes System einzufädeln.« »Kann es das?«, wollte Iopan wissen. »Es tut sein Bestes!« »Admiral«, meldete sich die Positronik, »ich will Sie nicht drängen, aber falls Sie mein Schiff noch in einem biologisch intakten Zustand zu verlassen wünschen, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt!« Plötzlich ließ sich der Utrich fallen. Er überschlug sich einmal in der Luft und kam federnd auf dem Boden zu stehen. »Und jetzt?« Eine ohrenbetäubende Detonation ließ das Schiff erbeben. Mintra spannte sich an. In diesem Moment fuhren aus der Kugel drei lichte Strahlen; sie erfassten Mintra, Iopan und Utrich. Die drei verschwanden. Eine letzte Explosionswelle rollte durch das Schiff und zerriss es. Die Positronik nahm noch wahr, wie das Steuerelement platzte, wie die große Kugel kristallisierte, in Myriaden Scherben ging und wie jede einzelne dieser Scherben in den Hyperraum tauchte; dann erreichte die Bugwelle der Vernichtung auch die Zentrale des Museumsschiffes und hob die Existenz der alten Positronik auf.
* Die Oberste Mythokarin Symbilasch trieb ihre Mitarbeiter zur Eile an. Medo-Robots glitten lautlos durch die Räume, trugen die Verletzten auf Antigravfeldern in Sicherheit oder stellten, wenn die Verletzungen schwerwiegend waren, ihre Transportfähigkeit her. Manche wurden in Stasisfelder gehüllt und so in ein künstliches Koma versetzt. Überall die blauen Tücher … Symbilasch nieste. Nicht nur, dass die Welt untergeht, ich muss auch noch erkältet sein. Die große Eingangshalle des Mythenhortes hatte sich in eine chaotische Mischung
36 aus Andenkenladen, Lazarett, Zufluchtsbunker und Leichenhalle verwandelt. Überall lag das Glas geborstener Vitrinen; die Scherben knirschten unter jedem Schritt. Feuerlöschdrohnen schwirrten durch den Raum und fassten kleinere Brandherde in Vakuumblasen. Trotzdem schlug die Hitze immer wieder durch. Extoscher, die sich von draußen hereinretteten, brachten Schneematsch an den Schuhen mit. Einige setzten sich zu kleinen Gruppen zusammen und legten einander die Arme um die Schultern. Über die Leichen breiteten die Roboter die blauen Totenfahnen aus. Es schien Symbilasch, als sei das Totenblau die vorherrschende Farbe in der Eingangshalle des Mythenhortes. Sie war froh, dass die Maschinen selbstständig arbeiteten. Sie brauchte noch eine gewisse Zeit, um sich zu sammeln. Sie musste wieder niesen. Symbilasch, die Oberste Mythokarin, bekleidete laut Staatsprotokoll das zweithöchste Amt auf Extosch; anders als der Ganjo war sie lediglich vom Wissenschaftsrat des Absamoyn-Systems gewählt worden. Und zwar vor sehr langer Zeit. Schankonar war der fünfte Ganjo, dessen Regierung sie in ihrem Amt erlebte. Im Lauf der Jahrzehnte war Symbilasch selbst zu etwas wie einer legendären Figur geworden: eine hochgewachsene, hagere Frau mit tiefbrauner, runzliger Haut, die man nie ohne ihren Turban sah. Symbilasch verfügte über die seltene Gabe, auch in den kleinsten Fragmenten alter Überlieferungen noch den verborgenen Sinn zu entdecken; sie entschlüsselte und kombinierte wie keine Zweite auf Extosch die Rudimente von Dateien, die Sprachfetzen, die Überbleibsel von Palimpsesten. Allerdings ging das Gerücht, dass sie sich ab und an von obskuren Personen beraten ließ: von Glücksspielern, von psychisch unheilbar Kranken, ja sogar Gen-Kreaturen aus der Menagerie. Symbilasch strich über ihr eng geschnittenes Kleid aus einer Folie Schmiegemetall und rief über ihren Handkom nach Tribo
Wim Vandemaan Kohal und Persenpo Zasca, zweien ihrer fünf Stellvertreter im Mythenhort. Überall Feuer. Das Schmiegemetall wies immerhin die Hitze ab, die sich in der Eingangshalle ausbreitete. Zasca sprang in seiner flammend roten Kutte über einige Trümmerstücke, die eine der Explosionen in die Halle geschleudert hatte. »Wo ist Kohal?«, fragte die Oberste Mythokarin. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Zasca. Zasca trug das rote Habit, seit er zum Kult der Trigonometrischen Gottheit konvertiert war. Der Kult versuchte, die Existenz Gottes durch komplizierte, hypermathematische Gleichungen zu vermessen. Seit Symbilasch ihn kannte, war Zasca auf der Suche nach der einzig wahren Religion; mittlerweile hatte er sie zehn- oder fünfzehnmal gefunden. Diesmal hatte er sich das Dakkardreieck auf den kahl rasierten Schädel tätowieren lassen. Symbilasch verfolgte Zascas religiöse Anstrengungen mit milder Ironie; als Datenrekonstrukteur war er eine unbestrittene Koryphäe. Symbilaschs Blick fiel auf eine groteske Karawane: Etliche kleingewachsene Kreaturen stapften durch den Schnee auf den Eingang der Halle zu. Die meisten von ihnen sahen entfernt cappinähnlich aus; einige aber wunderlich, geradezu unwirklich. Die Gestalten waren winzig, bestenfalls kniehoch; andere nicht einmal das. Sie krochen über Trümmerstücke oder unter ihnen hindurch in Richtung Eingangshalle. Viele waren sichtlich verwundet und humpelten; manchmal stützte eine Figur die andere. Es waren gentechnisch erzeugte Nachbildungen sagenhafter Figuren aus der Menagerie, erkannte Symbilasch. Wie haben sie den Absturz der Scheibe überlebt? Vorneweg schleppte sich ein Hohlwandler, eine Gestalt aus dem Sagenkranz um die Zeitversehrten. Der Hohlwandler roch nach verbranntem Holz; in der Mitte seines Leibes sah man ein großes, ringförmiges Loch.
Entscheidung auf Extosch »Oh, verdammter Mist, diese Takerer!«, fluchte der Hohlwandler. Er entdeckte Symbilasch und streckte seine Hände nach ihr aus. »Siehst du das?«, schrie er sie an, den Kopf im Nacken. »Sieh dir das an! Meine Fingernägel – völlig ruiniert!« Ein Gleiter stieß heulend wie ein Höllenvogel herab, von einem der Schiffe hoch über der Stadt abgeschossen. Das Fahrzeug trudelte und schlug mit der Oberseite in die Trümmerlandschaft. Das Metallplast zerknitterte und kreischte dabei auf; die Glaskuppel barst, ihre Scherben wirbelten wie Dolche durch die Luft, einige von ihnen flogen bis in die Halle. Der Hohlwandler und die meisten anderen Kreaturen hatten sich geduckt, nur eine Eibenfrau war neugierig auf einen umgestürzten Sessel geklettert, um zu sehen, was da so heulte. Eine Scherbe trennte ihren Kopf vom Rumpf. »So eine Unverschämtheit – wir sind Kunstschätze!«, schrie der Hohlwandler und drohte mit der kleinen Faust nach draußen. Symbilasch kam nicht mehr dazu, etwas für die Kreaturen zu tun. Ihr Kom meldete sich und zeigte höchste Priorität. Endlich, dachte sie. Der Ganjo meldet sich.
* »Symbilasch«, begrüßte Schankonar die Mythokarin. Die Mythokarin nieste. »Geht es dir nicht gut?«, fragte der Ganjo. »Mir geht es glänzend«, erwiderte sie mit ätzendem Spott. »Haben wir Aussichten, dieses Massaker zu überleben?«, erkundigte sie sich kühl. »Ich weiß es nicht«, gestand der Ganjo. »Was weißt du, das ich noch nicht weiß?« Zum ersten Mal sah die Mythokarin den Ganjo ratlos. Sie hatte ihn nicht gewählt; sie wählte nie; Ganjos kamen und gingen. Aber sie mochte den jungen Mann; er war vertrauenswürdig und machte eine gute Figur als Regierungschef der friedlichen Welt Extosch. Aber nun war Extosch keine friedliche
37 Welt mehr. Und der Ganjo wirkte nicht nur ratlos, sondern verstört, geradezu gehetzt. Was ist los mit ihm?, wunderte sie sich. »Ich weiß gar nichts. Die Takerer haben mich leider nicht in ihre Pläne eingeweiht. Sie haben gefordert, sämtliche Unterlagen des Mythenhortes auszuliefern – sämtliche Unterlagen, allein die Übernahme des Materials würde Tage dauern!« »Sie haben die Menge an übergabefähigem Material ja nun stark reduziert«, sagte Symbilasch gallig. »Ich denke, es geht ihnen nur um Gegenstände aus der Schatzkammer, Symbilasch. Der Rest ist wertlos für sie.« »Offenbar«, antwortete Symbilasch mit einem Blick nach draußen. Warum flogen immer noch und immer mehr Gleiter zum Platz des Mythenhortes? Nur, um dort abgeschossen zu werden? »Weißt du auch, um welche Objekte es sich handeln könnte?« »Du kennst die Daten und Objekte der Schatzkammer besser als ich. Ich hatte gehofft, du hättest eine Idee. Unter Umständen das Material über Wuthanas Kommen in Gruelfin?« »Ich habe keine Idee«, verneinte die Mythokarin. »Natürlich ist das Wuthana-Dossier von einem unschätzbaren Wert – aber die Takerer werden es kaum verkaufen wollen, oder?« Der Ganjo lachte. »Wer sollte es kaufen? Wer könnte es bezahlen? Väveidre und ich denken, sie könnten die Akten zu politischen Manipulationen einsetzen.« »Ja, das haben sie schon einmal versucht, ich weiß.« Vor langen Jahrhunderten, noch vor der Wiederkehr des Ewigen Ganjos, hatten die Takerer die historischen Daten gefälscht, die in den Händen der Moritatoren lagen. Zweck ihres Plans war damals, einem falschen Ganjo an die Macht zu verhelfen, einem Ganjo, der dem Taschkar hörig war. So plump können selbst die Takerer nicht sein, dachte Symbilasch, dass sie es mit einem längst gescheiterten Plan versuchen. Schankonar sagte: »Der Kommandant der
38 Drenktosch hat behauptet, die Zaqoor verlangten dieses Material.« Symbilasch nieste. »Vielleicht sind sie leidenschaftliche Mythensammler. Was tut man nicht alles aus Leidenschaft.« »Nach allem, was wir über die Zaqoor in Erfahrung gebracht haben, ist ihr schöngeistiges Interesse eher beschränkt.« Symbilasch strich gedankenverloren über das Schmiegemetall. »Also sind die Zaqoor nur vorgeschoben, ein Ablenkungsmanöver«, urteilte sie. »Möglicherweise steckt in den Wuthana-Akten etwas, das wir bislang übersehen haben – etwas, das für die Takerer existenziell wichtig ist oder von größerer strategischer Bedeutung, als wir bislang ahnen.« »Hast du etwas herausgefunden?«, fragte der Ganjo ungeduldig. Die Mythokarin verneinte. Sie fragte: »Wenn ich deine Ansprache an die Takerer und die Medien recht verstanden habe, war es auch ein Hilferuf an die benachbarten ganjasischen Systeme. Wann können wir mit dieser Hilfe rechnen?« »Symbilasch – ich weiß es nicht. Wir hatten bis eben, als ich den Spiralpalast verließ, keine offizielle Beistandserklärung aus den anderen Systemen. Man wird dort die Lage bei uns analysieren; man wird eine Eingreifflotte zusammenstellen müssen; man wird sogar das Risiko kalkulieren müssen – Symbilasch, hier stehen über zweihundert Kriegsschiffe im System, darunter Einheiten der Zaqoor! Da wirft niemand kurzerhand fünfzig, sechzig Schiffe in den Kampf!« »Du sagtest gerade, du hättest den Spiralpalast verlassen? Wo bist du?« »Gleich bei dir, Symbilasch!« »Ganjo«, sagte die Mythokarin, nieste und rückte ihren Turban zurecht, »hier kannst du nicht helfen. Ich werde mich mit meinen Leuten in die Schatzkammer zurückziehen und sie versiegeln. Wir kappen die Transmitterverbindung. Da unten können wir einige Stunden, vielleicht Tage aushalten. Die Takerer werden uns nicht bombardieren, wenn es ihnen wirklich um Objekte
Wim Vandemaan aus der Schatzkammer geht. Bleib, wo du bist. Flieg zurück, organisier Hilfe.« »Väveidre ist in der Residenz. Sie managt das – viel mehr, als den Hilferuf zu wiederholen, kann sie nicht tun. Die Dinge sind hier außer Kontrolle. Und meine Tochter ist im Mythenhort. Irgendwo, Symbilasch. Ich hoffe, nicht unter einer blauen Fahne.«
* Das Beiboot der GINKORASCH schwenkte in eine Landeparabel ein. Okòrr hockte sich neben Aswrayn Komkosch. Komkosch überlegte nicht zum ersten Mal, warum Okòrr sich niemals setzte. Immer wieder nahm er Haltungen ein, die für einen Cappin untypisch waren, um nicht zu sagen unbequem, ja unerträglich. Manchmal hatte der Takerer den Eindruck, als ob es das, was er Okòrr nannte, nur in einen Cappin-Leib verschlagen hätte, Okòrr in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes war. Der Landeanflug verlief ruhig. Die Takerer und die Zaqoor hatten nach den feindlichen Schiffen auch die wenigen Forts über Extosch aus dem Weg geräumt und die minimalen Verteidigungsanlagen auf der Planetenoberfläche ausgeschaltet. Man hätte sich wahrscheinlich sogar den Schutzschirm sparen können. Es war ein Spazierflug. Ein Servorobot brachte dem Takerer Birm in einer Keramiktasse. »Ich erzähle dir eine Geschichte«, sagte Aswrayn Komkosch und nippte am heißen Getränk. »Ich mag keine Geschichten«, erwiderte Okòrr. »Mein Guter, du bist ein schlechter Gesellschafter«, tadelte Komkosch. »Ich werde sie dir dennoch erzählen. Du kannst dir ja die Ohren zuhalten. Meine Eltern und Großeltern waren keine Militärs. Sie waren Händler. Sie besaßen ein kleines Raumschiff, die DURUDUN, sie hatten sich auf Genhandel spezialisiert, du weißt schon, winzige Frachten, aber zu anfällig, zu kostbar, um sie über die Pedopeiler
Entscheidung auf Extosch zu schicken. Und manchmal, jaja, war auch etwas Genmaterial dabei, das man nicht frei handeln durfte. Ein paarmal lieferten wir Tryzome, du weißt schon, diese modifizierten Moleküle, die ihren Träger dazu befähigen, zweigleisig zu denken – oder zu pedotransferieren. Und wir verkauften sie in die delegalisierten Zonen, an außercappinsche Völker – Schmuggelware für die Dap'Dapur und andere aufstrebende, zahlungskräftige Außenseiter unserer schönen Galaxis. Eines Tages geriet die DURUDUN beim Landeanflug auf Trotoi in ein Scharmützel zwischen Takerer- und Ganjasen-Verbänden. Keine große Sache. Auch der Treffer war keine große Sache, ein TakererKampfschiff mit Hybridschirmen hätte ihn mühelos geschluckt. Aber die DURUDUN hatte nur Prallschirme und nichts, was sie gegen die FarruschKanone des ganjasischen Schiffes hätte schützen können. Die DURUDUN – sie war einfach fort, weißt du, sie hatte sich aufgelöst, sie war ein glühendes Nichts. Niemand überlebte. Meine Eltern nicht, auch nicht meine Frau und auch Ginkorasch nicht. Er war gerade drei Jahre alt. Viel gesehen hat er nicht von Gruelfin. Viel weniger jedenfalls, als ich ihm gerne gezeigt hätte.« »Ja, Gruelfin ist groß«, bemerkte Okòrr. Aswrayn Komkosch blickte ihn nachdenklich an. »Sehr groß, mein guter Okòrr, sehr groß. Übrigens haben sich die Ganjasen entschuldigt, nachdem sie, vermittelt von einem Extosch-Mediator, Frieden mit den TrotoiTakerern geschlossen hatten. Der Abschuss der DURUDUN sei ein bedauerlicher Irrtum gewesen. Nett von den Ganjasen, nicht wahr?« Okòrr blickte aus der Hocke hoch. »Du bist sehr zutraulich zu mir heute, Kommandant Komkosch. Warum warst du selbst nicht an Bord?« »Ich wartete auf Trotoi, ich war nach dem letzten Handel dort geblieben, in einer anderen Angelegenheit«, sagte Aswrayn Kom-
39 kosch. »Alles, was meine Familie besessen hatte, war mit der DURUDUN geplatzt. Meine Familie ist dabei umgekommen. Da bin ich zur Flotte gegangen. So hat jeder seine Geschichte. Du hast mir nie deine erzählt, Okòrr.« Er dachte an den lautlosen Okòrr im brennenden Gleiter. »Ich habe keine«, erwiderte Okòrr. Aswrayn Komkosch sah ihn an und fröstelte. Was war nur mit der Klimaanlage los?
* Die Legende der Seelenfestung, ihr fünftes Kapitel Groß war der Scharit, ein starker Mann, die obere wie die untere Schulter war wie der Sturz einer Tores. Doch von seiner Seele war nur ein kleiner Rest in ihm, das Siebzehntel eines Siebzehntels eines Siebzehntels. Doch weil seine Seele nur noch so mikrokosmisch klein war, übersahen ihn die Seelengrenzer am Eingang der Festung, die doch nach Seelen gierten für ihre Herrin, und er glitt zwischen ihnen hindurch wie ein Windhauch. Hundertsiebzig Eier legt die Seelenkröte in jedem Jahr. Hundertsiebzig Seelenspender braucht sie jedes Jahr. Scharen von Seelenspendern lagen in den Laichhallen, einem jeden von ihnen ist das Ei in den Schoß gelegt. Achtundsechzig Tage braucht das Junge zum Schlupf. Dann ist das Seelendotter verbraucht. Der Scharit wandelte durch die Laichhallen. Er sah den Schlafenden ins Gesicht. Er spürte, dass seine Trauer nicht ausreichte für dieses Übermaß Leid. Esmes aber sah er nicht. (Seelenspender ist natürlich eine ziemliche Schönfärberei – als würde hier irgendetwas gespendet! Aber alle Varianten der Legende führen diese Bezeichnung auf, darum behalte auch ich sie bei. Ich bitte, das nicht als Zynismus misszuverstehen.)
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Wim Vandemaan
* AM NACHMITTAG: ENTSCHEIDUNG AUF EXTOSCH Die Oberste Mythokarin rief ihre engsten Mitarbeiter zu sich und teilte ihre Entscheidung mit. Das Leitungsteam des Mythenhortes würde sich in die Schatzkammer der unterirdischen Abteilungen begeben und sich dort vom Rest des Hortes abkapseln. Technisch war das kein Problem, die Mythothek reichte etwa dreihundert Meter tief in die Erde; auf achtzig Etagen wurde dort archiviert, sortiert, restauriert und geforscht. Weitere dreihundert Meter darunter befand sich die Schatzkammer in einer Kaverne. Diese Kaverne hatte keinerlei direkte Verbindung zum Rest der Mythothek. Die Extoscher hatten vor Jahrhunderten beim Bau des Hortes mit Desintegratoren einen Schacht in den Felsen des Gebirges getrieben und die Kaverne angelegt, einen vierhundert Meter durchmessenden, gewölbten Hohlraum. Die Kaverne war mit Molakanatstahl ausgekleidet worden. Das war praktisch, hatte aber auch eine symbolische Dimension: Die Kaverne war eine Art Schiff, das in die Vergangenheit der Cappins tauchte – und nach Möglichkeit in noch tiefere Abgründe der Zeit. Nach der Fertigstellung der Schatzkammer waren wieder Hunderte Meter massiver Felsen über dem Raum aufgeschichtet worden. Die Schatzkammer war danach ausschließlich über einen Transmitter zu erreichen. Der Plan der Mythokarin war einfach: Sie würde sich in die Kaverne flüchten und den Transmitter desaktivieren, wenn nötig zerstören. Falls die Takerer unter diesen Bedingungen zur Schatzkammer vordringen wollten, würden sie den Stamm des Hortes beiseite schaffen und sich durch die Obere Mythothek und den Felsen vorarbeiten müssen. Und das würde viele Stunden, möglicherweise Tage kosten, wenn der Widerstand oben anhielt. Symbilasch hoffte, dass in die-
ser Zeit Hilfe aus den Nachbarsystemen eingetroffen war. Die andere Möglichkeit war, dass die Takerer vor diesen Schwierigkeiten kapitulierten. Und den Mythenhort samt Schatzkammer vernichteten. Aber diese Alternative hielt Symbilasch nicht für sehr wahrscheinlich. Man treibt nicht einen derartigen Aufwand, sich in Besitz einer Sache zu bringen, wenn man diese Sache ohne Weiteres zu zerstören bereit ist. Irgendwie hatten es einige Polizeitruppen und kleine Gruppen einer paramilitärischen Einheit geschafft, sich zum Mythenhort und in die Eingangshalle des Stammes durchzuschlagen. Ein gewisser Ottosch übernahm das Kommando, ein kleingewachsener Extoscher mit weißem Bart, der eine Art stille Heiterkeit ausstrahlte. Symbilasch war für einen Moment irritiert. Sie erläuterte Ottosch ihr Vorhaben. Er versprach, ihr und ihrem Team den Rücken so lange wie möglich freizuhalten. Dann eilte die Mythokarin mit einigen ihrer engsten Mitarbeiter zum Antigravschacht, der sie in die Tiefen der Mythothek hinabführte. Der Transmitter zur Schatzkammer befand sich in einem mehrfach gesicherten Raum. Symbilasch gab Befehl, das Gerät nach ihrer Abstrahlung in die Kaverne auszustellen und ortungssicher zu verschließen. Der Transmittertechniker schickte die Mythokarin mit ihrer Gruppe durch den Felsen in die Kaverne. Dann schaltete er das Gerät ab und stoppte alle Formen der energetischen Kommunikation. Der Transmitter war nur noch ein Stück Metall.
* »Atmosphärenflug nähert sich dem Ende«, verkündete der Pilot des takerischen Kleinschiffes dem Kommandanten, »Landung in zwei Minuten.« Aus dem Panzerflexfenster des Beiboots sah Komkosch, wie einige Landungsgeräte der Zaqoor sie überholten. Sie hatten es ei-
Entscheidung auf Extosch lig, nach Trodar zu gelangen. Komkosch dachte daran, wie fremd ihm die Zaqoor waren. Bei allem Hass, den die Cappin-Völker untereinander hegten, und wie sehr sie auch von ihrer Feindseligkeit gegen den anderen getrieben waren, handelten sie doch letztlich aus freien Stücken, waren sie die Herren der Sterneninsel. Die Zaqoor aber waren nicht frei; sie dienten. Komkosch hatte ein einziges Mal den Befehlshaber – den Herrn – der Zaqoor gesehen oder vielmehr gespürt. Der Lordrichter Saryla war verhüllt erschienen, umgeben von einer grauweiß glitzernden Nebelwolke. Die Wolke bestand aus zahllosen dünnen Fäden, die den Lordrichter wie ein emsiger Kokon umgaben. Schemenhaft bildete sich hinter diesem Eishaarfeld eine Silhouette ab, deren Kontur sich immerzu wandelte. Von der Erscheinung ging eine niederdrückende Aura der Macht aus, die Komkosch förmlich in die Knie zu zwingen versuchte. Komkosch hatte dem widerstanden, aber nur mit äußerster Anstrengung. Der Lordrichter hatte dem Marquis befohlen: »Die Takerer sind in ihrem Bemühen zu unterstützen, die ihnen zukommende Stellung in Gruelfin zurückzuerobern. Die Ganjasen und ihre Abkömmlinge sind zu degradieren und in ihrer militärischen Kapazität grundlegend zu schwächen. Ihre vollständige Entwaffnung und Unterwerfung unter eine takerische Oberhoheit ist wünschenswert. Die Sternenvagabunden der Jungen Clans sind zu jagen, zu stellen, zu vernichten; wo sie sich ergeben, sind sie zwangssesshaft zu machen.« Dann, an Komkosch gerichtet: »Gruelfin wird deiner Kontrolle unterstellt, Oberkommandierender Komkosch. Die lordrichterlichen Garbyor-Truppen werden dir bei der Ausübung deiner Herrschaft behilflich sein. Ist das …«, Komkosch spürte, wie ihm ein eisiger Hauch entgegenschlug; er fröstelte und zog die Schultern hoch, »… ist das, Oberkommandierender Komkosch, in dei-
41 nem Sinne?« »Es ist im Sinne der Drenktosch und aller Takerer«, hatte er geantwortet. »Das höre ich gern. Unser Beistand ist wertvoll, deswegen wird er nicht kostenlos gewährt. Du wirst uns einen Dienst als Gegenleistung erbringen. Dieser Dienst wird deine Mittel nicht übersteigen. Du darfst ihn als symbolisch betrachten. Du wirst uns bei der Beschaffung einer gewissen Information behilflich sein.« »Du brauchst uns als Spione?« Eine maßlose Kälte schlug Aswrayn Komkosch entgegen. »Wir brauchen dich gar nicht. Es ginge auch ohne euch. Die ganze Galaxis würde auch ohne euch funktionieren. Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass sich die von uns begehrte Information auf einem Planeten namens Extosch befindet. Sagt dir der Name Extosch etwas?« »Es ist eine ganjasische Welt. Die Ganjasen haben dort eine Art Archiv; aber was sie in ihrem Archiv sammeln, sind Kindergeschichten, Schnurren, Lügen …« »Darüber befinden allein wir. Wirst du unserer Bitte nachkommen?« Komkosch spürte, wie die Kälte ihm durch den Schutzanzug, durch die Haut und in die Eingeweiden kroch; es fühlte sich an, als würde sein Herz vereisen. »Ja«, hatte er endlich geantwortet, um entlassen zu werden. Noch jetzt glaubte er, eine Nachwirkung dieses Frostes zu spüren. Er trank vom heißen Birm. Okòrr riss ihn aus den Gedanken. »Wir sind gelandet, Kommandant.« Komkosch stellte die Tasse ab. »Auf nach Trodar«, murmelte er.
* Symbilasch trat aus dem Transmitter. Sie atmete durch. Hier unten war sie zu Haus. Obwohl sie in einem fliegenden Habitat über dem Kontinent Labesi geboren worden und dort aufgewachsen war, fühlte sie sich nirgends so heimisch wie in diesem Raum, ih-
42 rer unterirdischen Festung der Legenden. Die Schatzkammer tief unter der Mythothek war als eine Halbkugel angelegt. Das Gewölbe erreichte in seinem Scheitelpunkt eine Höhe von über zweihundert Metern. Der Boden der Schatzkammer war nicht ganz eben, sondern von niedrigen Hügeln und einigen Senken durchsetzt; die Anlage wirkte eher organisch als künstlich. Hier und da erhoben sich Forschungspavillons und Datenkioske; das Zentrum für die Prähistorie und die Isolierten Äonen der Kleingalaxis Morschaztas überragte als zwanzigstöckiger Turm alle anderen Bauwerke der Schatzkammer. Die Wände der Kuppel waren Dutzende von Metern hoch mit Gemälden und Textilien ausgekleidet, mit stillen, plastischen und mit sprechenden Gemälden, mit langsam wachsenden Kristallteppichen und Gedächtnistapeten. Die Gemälde zeigten Szenen aus der Geschichte Gruelfins und der Cappins – durchaus nicht nur Bilder der Urzeit, sondern auch der näheren Vergangenheit. Am häufigsten war der Ewige Ganjo porträtiert; auf einem Bild stand er neben einer schönen Frau mit ockergelben Augen und hüftlangem, kupferfarbenem Haar. Die Unterschrift lautetet: »Merceile; Biotransferkorrektorin«. Symbilasch hatte sich lange schon vorgenommen, das Verhältnis Ovarons zu dieser jungen Wissenschaftlerin zu klären. Auf einem anderen Bild war der Ewige Ganjo inmitten einer Gruppe aus Sagengestalten zu sehen: Ein Wesen sah sonderbar aus, halb Vorian, vierhufiges Reittier, halb Cappin, ein sogenannter Zentaur mit hellblauem Bart; das andere ein gewaltiger, über zwei Meter großer Zweifüßer mit einem dichten, dunklen Haarkleid. Ovaron wirkte klein neben diesem Primitiven. Hier hieß die Unterschrift schlicht: »Freunde«. Daneben hing ein 3D-Bild, das nicht nur denselben Titel trug, sondern ähnlich aufgebaut war: der Ewige Ganjo zwischen zwei Freunden. Es waren zwei Männer, den Cappins sehr ähnlich. Der eine, schlank und groß, hatte
Wim Vandemaan sehr kurz geschnittenes Haar, der andere trug sein weißes Haar lang und offen. Symbilasch kannte die beiden; Statuen von ihnen hatten auf dem Präsentationsdeck des zerstörten Moritatorenraumschiffs gestanden. Auf einem anderen sprechenden Bild sah man einen sterbenskranken Ovaron, der seinem Nachfolger Keltatron die legendären Worte zurief: »Seht, die Sterne! Sie rufen euch! Lasst sie nicht vergebens warten! Lebt wohl, Freunde!« Freunde – wo immer Ovaron war, gab es Freunde. Leider waren all diese Freunde seit Jahrhunderten tot. Aber wer weiß – auch Ovaron selbst war damals aus der fernsten Vergangenheit wieder emporgestiegen. Erst oberhalb des Galeriebereiches der Wände zeigte sich der Molakanatstahl, aus dem die Hülle der Schatzkammer gebaut war. Die Baumeister hatten ihn dunkelblau getönt, so dass er dem Firmament über Extosch an einem frühen Abend ähnelte. Im Zenit des Gewölbes kreiste langsam ein Modell der Heimatgalaxis und erleuchtete die Schatzkammer mit seinem milden Licht. Direkt unter dem Modell erhob sich das rätselhafteste Artefakt der gesamten Schatzkammer, ihr Prunkstück: das WuthanaDatenkonvolut. Das Konvolut wurde in einem Hochenergietresor verwahrt. Der Tresor wirkte aus der Entfernung wie ein Block aus blauweißem Eis. Die Daten lagen darin auf einige Dutzend Speicherkristalle verteilt. Allerdings waren die Daten hochkomplex chiffriert; außerdem konnte ein einziges Segment, manchmal ein einzelner Satz auf bis zu elf Kristalle verteilt sein. Leider waren etliche Kristalle hochgradig beschädigt, einige von ihnen sogar ganz oder teilweise zerstoßen. Die Entschlüsselung des gesamten Konvolutes würde eine Aufgabe für mehrere Forschergenerationen sein. Zunächst aber war es ihre, Symbilaschs, Aufgabe. Niemand war mit dem WuthanaKonvolut so vertraut wie die Oberste Mythokarin. Symbilasch seufzte. Sie musste das
Entscheidung auf Extosch Gefühl der Vertrautheit und der Sicherheit niederkämpfen, das sie in der Schatzkammer immer überkam. Sie fühlte sich zwar in Sicherheit, war es aber keineswegs, wenigstens nicht, solange die Transmitterverbindung in die Außenwelt stand. Immer noch kamen Mitarbeiter aus der Empfangsstation. »Beeilt euch«, flüsterte sie. Mimeil Chatosch erschien. »Ich bin die Letzte«, rief sie Symbilasch zu. »Dann schaltet das Gerät ab!«, befahl die Oberste Mythokarin dem Transmittertechniker. Sie starrte gebannt auf das Empfangsfeld. Das dunkle Energiefeld waberte, flackerte, erlosch aber nicht. »Abschalten«, rief Symbilasch wieder, »sofort!« Sie sah die Hände des Technikers über die Sensortasten hasten. »Es lässt sich nicht abschalten«, rief der Techniker mit kaum unterdrückter Panik zurück. »Irgendetwas hat sich eingehakt – irgendetwas intermittiert sich in die Verbindung und blockiert die Abschaltung.« In diesem Moment traten drei Gestalten aus dem Empfangsfeld: zwei junge Extoscher und ein groteskes Gebilde auf einem einzigen Bein.
* »Utrich! Macht, dass ihr aus dem Transmitter kommt, schnell!«, schrie eine Stimme. Der Elektrische Utrich versuchte die Kinder aus dem Empfangsteil des Gerätes zu drängen. Iopan stolperte, fiel, und Utrich half ihm auf. »Die Kontrollen reagieren wieder. Ich schalte jetzt ab!«, hörte Mintra einen Extoscher rufen, der an der Transmitterbedienung stand. Es klang erleichtert. »Wartet!«, kommandierte die Stimme, die eben aufgeschrien hatte. Sie klang schrill. »Wo sind wir?«, fragte Mintra, als sie aus dem Transmitterbereich heraus war. Sie blickte zurück. Es war ein gewöhnliches Gerät, in das der Dakkartransmitter sich einge-
43 fädelt hatte. »Wir sind in der Schatzkammer der Mythischen Infothek«, erklärte ihr der Utrich. Mintra schaute sich um. Sie hatte intuitiv einen stillen Ort erwartet, eine schweigende Welt, eine Dimension wie unter Wasser. Tatsächlich aber tönte der Saal von Wispern und Geraune. Mintra sah, warum: Neben Vitrinen mit uralten Datenkristallen, Speicherbändern, sogar Lochkarten und handbeschriebenen Folien standen flackernde Holostandbilder auf ihren Projektionspodesten und flüsterten ihre immergleichen Sätze. Von einer nahen Wand hörte man akustische Gemälde und Gedächtnistapeten murmeln – manche in einem altgruelfinschen Idiom, manche in bislang unübersetzbaren Sprachen. Winzige Restauratordrohnen umschwebten Formenergie-Skulpturen, die vor sich hin brabbelten. In einem Fesselenergiefeld schwärmten goldene Insekten, von denen jedes mit seinen Hinterbeinen eine einzelne Silbe produzierte; manchmal ergaben sich Wörter oder Satzfetzen daraus. »Es ist schwierig, sie in die richtige Reihenfolge zu lotsen«, erklärte der Utrich fachmännisch. Dann winkte er einer Gestalt, die in der Nähe der Transmitterkontrollen stand. »Sei dein Leben eine schöne Sage!«, begrüßte er Symbilasch. Doch Symbilasch erwiderte den Gruß nicht. Mintra war in Hochstimmung. Der Ort hatte etwas Magisches; und sie und Iopan hatten überlebt! Sie würden leben. »Soll ich endlich abschalten?«, meldete sich der Transmittertechniker erneut. Die anwesenden Extoscher starrten auf Symbilasch. Die Mythokarin stand da und sah ein wenig desorientiert aus. Sie antwortete nicht. Dann öffnete sie ihren Mund, schloss die Augen – und nieste. »Mythokarin Symbilasch«, rief der Transmittertechniker erneut, »soll ich nun die Verbindung unterbrechen?« Symbilasch schaute den Utrich an, aber sie schien ihn nicht wirklich wahrzunehmen. Ihre Augen wirkten glasig. »Symbilasch, wir
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sind die Letzten, die aus dem Schiff entkommen sind«, erklärte der Utrich ihr. »Wir müssen leider auf niemanden mehr warten.« Symbilasch nieste wieder. Aus der Nase floss Schleim; sie hob keine Hand, um ihn abzuwischen. Sie zitterte fast unmerklich. Warum wischt sie den Schleim nicht ab? Warum … Plötzlich verdunkelte sich Utrichs Silbermaske. Mit einer Lautstärke, die etwas Übernatürliches hatte, donnerte er: »Abschalten! Den Transmitter sofort abschalten!« »Mythokarin Symbilasch …«, rief der Transmittertechniker. Die Verwirrung war ihm anzusehen. Der Elektrische Utrich hüpfte mit einem Satz auf das Transmitterkontrollpult zu. Nahezu zeitgleich sprang Symbilasch.
* Der Platz versank in Tumult. Komkosch hatte erwartet, eine lautlose Todeszone rund um die Reste des Mythenhortes vorzufinden, die von allen Lebewesen gemieden wurde. Allenfalls einige militärische oder polizeiliche Einheiten am Rand der Zerstörung, in Deckung oder auf den Dächern der umliegenden Gebäude. Es war ganz anders. Zigtausend Extoscher strömten aus allen Richtungen auf die Ruine zu, die sich kahl und beschädigt in den Himmel reckte, fast trotzig. Der Platz rund um das Gebäude war mit Trümmern übersät; Komkosch wusste, dass die Zaqoor auf alle Gleiter geschossen hatten, die sich dem Ort nähern wollten. Trotzdem schwärmte es geradezu von Schwebefahrzeugen. Es mussten mehrere hundert sein, und Tausende weitere verhielten hoch in den Straßen oder zogen weite Warteschleifen. Für jeden Gleiter, der aus dem Orbit abgeschossen wurde, stießen zwei oder drei neue in die Wolke aus Flugkörpern vor. Ein Volk von Selbstmördern, dachte der Kommandant verächtlich.
In diesem Augenblick stellten die ZaqoorSchiffe den Beschuss aus dem All ein. Die eigenen Landungsboote drangen in den Luftraum direkt über dem Mythenhort vor. Die Drenktosch-Einheiten folgten. Es kam zu Kollisionen; einige Gleiter rammten Landungsboote und detonierten. Gegen deren Schutzschirme hatten sie natürlich keine Chance. Für einige Augenblicke erwartete Komkosch, dass sich die skurrile Privat-Luftflotte insgesamt in die Luft sprengen würde, um die eingedrungenen Landungsboote der Takerer und Zaqoor zu vernichten – ein kollektiver Opfergang. Diese Fanatiker!, fluchte er. Aber es geschah nicht. Das Boot landete. Als sich die Schotten öffneten und Komkosch kurz hinter seiner Leibgarde ausstieg, glaubte er, einem Volksfest beizuwohnen. Nur dass sich die Feiernden bewaffnet hatten: mit Strahlern, Projektilwaffen, mit archaischen Schwertern, mit Eisenstangen und Messern. Sie sind tollwütig, diagnostizierte er. Zwei, drei Energieschüsse trafen seinen Individualschirm. Ein Stein flog auf ihn zu und prallte mit einem hellen Klong! vom Schirm ab. Tollwütig, wahnsinnig – wir werden über Leichen gehen. Wir werden durch Blut waten. Komkosch schüttelte sich unwillig. Okòrr begann zu schießen. Mit seinem Desintegratorgewehr streifte er die Körper nur; es reichte, um ganze Zentimeter Haut und Fleisch von den Knochen zu schälen. Die Menge vor ihm brüllte auf wie ein einziges verwundetes Tier. Auch aus den Zaqoor-Booten wurde gefeuert. Und mit anschwellendem, immer ohrenbetäubenderem Getöse senkte sich nun ein Zaqoor-Kriegsschiff tiefer und tiefer herab, auf das zu, was vom Mythenhort übrig war. Komkosch manipulierte seinen Individualschirm so, das er weder Gerüche noch Geräusche passieren ließ, nur noch elektromagnetische Wellen. Und auch das hätte er am liebsten unterbunden. Taub, blind hätte er sein wollen,
Entscheidung auf Extosch nicht mehr hier sein, anderswo. Aber dann erinnerte er sich an Ginkorasch. Auch sein Sohn hatte im letzten Moment seines Lebens, als die DURUDUN unterging, sicher anderswo sein wollen. Und es war nicht möglich gewesen. Er hatte bleiben müssen bis in den Tod. Komkosch begann in die Menge zu feuern. »Kommandant Komkosch? Es ist eine unsinnige Arbeit, die wir tun«, hörte er. Er erkannte, dass die Stimme aus seinem Helmlautsprecher zu ihm redete. Es war die Stimme des Marquis. Komkosch sah, dass Okòrr nun mit zwei Waffen zugleich feuerte: einem Desintegratorgewehr und einer schweren ImpulsHandfeuerwaffe. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Was schlägst du vor?«, fragte der Kommandant über Funk. »Mein Schiff hat den Funkverkehr innerhalb des Mythenhortes abgehört und ist auf eine wichtige Information gestoßen: Die Kommandantin des Mythenhortes will sich in der Schatzkammer isolieren und die Transmitterverbindung kappen. Verhindere das! Halte den Zugang offen! Ich werde inzwischen dafür sorgen, dass uns aus meinem Schiff in Kürze eine Transmittergondel zur Verfügung gestellt wird.« »Ich soll es verhindern?«, fragte Komkosch verblüfft. »Willst du unser gemeinsames Projekt scheitern lassen? Benutze deine Gespensterkraft«, wies der Zaqoor ihn an, »pedotransferiere in die Oberste Mythokarin!« Es war der Klang der Stimme, der Komkosch etwas erkennen ließ; und diese Erkenntnis erschütterte den Kommandanten: Die Garbyor sind nicht unsere Alliierten. Wir werden nicht mehr frei sein. Wir werden auch nicht bloß Sklaven sein. Wir werden die Sklaven von Sklaven sein. Diener der Zaqoor. »Wer kommandiert meine Truppen, wenn ich pedotransferiere?« »Okòrr bleibt hier; ein interessantes We-
45 sen!«, bat – oder befahl – der Marquis. »Ein Takerer mit Geschmack für den Tod.« Es war wohl als Lob gedacht. Aswrayn Komkosch stimmte schließlich allem zu. Bevor der Zaqoor die Verbindung wieder unterbrechen konnte, fragte er: »Sag mir, Marquis, glaubst du tatsächlich an ein Leben nach dem Tod?« Der Zaqoor lachte; dann fragte er zurück: »Glaubst du tatsächlich nur an den Tod?« Komkosch wies Okòrr an, sich zu dem Marquis zu begeben. Dann wandte er sich von dem Schlachthof ab, zu dem der Platz des Mythenhortes geworden war. Er ging an Bord seines Landungsbootes, befahl dem Piloten, zu starten und das Boot an den Rand des Platzes zu manövrieren. Komkosch brauchte Ruhe. Er war kein geübter Pedotransferer. Abgesehen von einigen Fortbildungen mit dem Pediaklasten der GINKORASCH und zwei oder drei Pedotransfers in Realeinsätzen hatte der Takerer diese Fähigkeit nie eingesetzt. Er ekelte sich vor diesem intimen Kontakt.
* Während hier ganze Städte unter Feuer genommen wurden, dort takerische und zaqoorsche Kampfgleiter die Jagd auf fliegende Habitate eröffneten, bombardierten die Angreifer anderswo unbebautes Land, Wälder, Wüsten, Gebirge. Natürlich waren auch diese Gelände nicht leer von Extoschern; sie verbrachten hier ihre Freizeit, gingen ihrem Sport nach, lebten für eine gewisse Zeit in klösterlicher Zurückgezogenheit. Auf dem Schirm verfolgte Väveidre, wie ein weiteres Zaqoor-Schlachtschiff nach der Einheit über dem Mythenhort in die Atmosphäre tauchte. Der Flug des weißlich beigen Kolosses wirkte gemächlich, beinahe majestätisch, tatsächlich aber flog es – wie man den Angaben der Positronik entnehmen konnte – mit Überschallgeschwindigkeit. Es trieb die
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Luftmassen vor sich her und entfachte einen apokalyptischen Sturm. In niedriger Flughöhe schwenkte es über den Diadonischen Ozean ein, schlug haushohe Wellen, verharrte dann über einer Stelle, stieg wieder auf mehrere tausend Meter und feuerte aus seinen Multifunktionsmulden drei Schüsse in die See. Das Wasser kochte auf, verdampfte schlagartig. Die Positronik blendete in den Bildschirm die Information ein: »Submarines Habitat Omot getroffen, Kuppel beschädigt, Wassereinbruch übersteigt kritische Masse …« Feuer auf Städte, auf Felsen, auf kleinste Siedlungen, auf Kommunikations- und Wetterkontrollsatelliten, auf Landschaftskunstwerke – Väveidre bemühte sich, ein Muster in den Angriffen zu erkennen; aber selbst die positronische Analyse brachte nur ein unbefriedigendes Ergebnis: »Wahrscheinlich versuchen die Aggressoren, unsere Kräfte zu dezentralisieren, an möglichst viele Orte zu binden und so zu schwächen.« Was gibt es da noch zu schwächen?, fragte sich Väveidre bitter. Viel wahrscheinlicher scheint mir, dass wir deswegen kein Muster erkennen, weil keines da ist. Die Takerer und die Fremden verfolgen keinen bestimmten Zweck mit ihren Angriffen. Sie toben sich nur aus.
* Aswrayn Komkosch bat den Piloten, die Kanzel des Landungsbootes zu verlassen. Nur zwei Soldaten seiner Leibgarde blieben bei ihm. Die Soldaten entfalteten eine Pedotrage und aktivierten sie. Die Trage wurde stabil und formte sich zu einer langen, ovalen Schale. Komkosch legte sich in die Schale und schloss die Augen. Er wusste, dass die meisten Pedotransferer ohne solche Vorsorge ihren Leib verließen. Der Körper deformierte sich in Abwesenheit des Bewusstseinsinhaltes. Die gestaltlose Masse, die auf dem nackten Boden zurückblieb, erschien ihm als die denkbar
größte Demütigung. Vielleicht, überlegte er, war dies eine Art Strafe der Natur: Wir zahlen für unsere Pedomobilität mit der restlosen Erniedrigung unseres Körpers. Er wischte diesen Gedanken beiseite und peilte. Es war für Komkosch eine Sache, einen Cappin bei Sichtkontakt zu übernehmen, eine andere aber, das Pedoopfer – oder seine ÜBSEF-Konstante – auf Pedoebene zu suchen. Vielleicht erlebte jeder Pedotransferer diesen Vorgang anders; für Komkosch war es, als ob er in einem völlig lichtlosen Raum schwebte, einem unmöglichen Raum allerdings: Er war von einer Weite, die sich jeder Vorstellungskraft entzog, aber zugleich so unendlich niedrig, dass seine Seele sich geduckt fortbewegte, wie ein flaches, ganz flaches Insekt zwischen zwei aufeinander liegenden Glasplatten. Dann kam der Moment der Meldung: Von irgendwo winkte, tuschelte, hauchte es Komkosch zu, und Komkosch schwamm zu dieser, zu jener Seite. Er musste einen Moment abpassen, in dem das, was da tuschelte, sich selbst dachte, seinen Namen nannte. Die Zeit in diesem Raum hatte wenig Verbindung zur Realzeit; aber Komkosch wusste aus Erfahrung, dass er die Suchphase immer gedehnt erlebte. Was ihm Ewigkeiten zu sein schienen, beanspruchte in Wirklichkeit nur wenige Minuten. Endlich vernahm er, wonach er gesucht hatte: mentale Puzzlestücke, die auf die Schatzkammer hinwiesen: Transmitter … Wuthana-Konvolut … Niesreiz … jetzt abschalten … was ist denn … wenn er mir/ Symbilasch … wenn … Komkosch bewegte sich auf diese ÜBSEF-Konstante zu. Plötzlich kippte der Raum vor ihm ab; er glitt über die Kante und stürzte. Dann war Symbilasch unter ihm. Er nahm etwas wie die Rückseite ihres Selbst wahr. Er schlug in sie ein, krallte sich mit allen Fasern seines Geistes in ihr fest, fiel über sie her wie ein Jäger über das Beutetier.
Entscheidung auf Extosch Symbilasch wehrte sich. Schon dass sie sich wehrte, überraschte ihn; noch beängstigender war die Vehemenz, mit der sie ihn zurückzustoßen versuchte. Sie ist eine Pediaklastin!, dachte er für einen Augenblick voller Schrecken. Aber das war sie nicht. Sie war nur eine alte, lebenserfahrene Ganjasin, zäh und stolz. Er rang mit ihr, übernahm kleinere Sektionen ihres Geistes zuerst, wo der Widerstand gering war. Er setzte sich als Herrscher über ihr vegetatives System ein, über Herzschlag und Atmung, über die Muskeln ihres Gesichtes, ihrer Zunge. Denn sie durfte nicht schreien. Er sah mit ihren Augen, und er hörte bereits etwas: Die Kontrollen reagieren wieder. Ich schalte jetzt ab! Genau das sollte er aber verhindern. Komkosch nahm alle Kraft zusammen und benutzte Symbilaschs Mund: »Wartet!« Die Stimme klang falsch, hoch und schrill. Aber sie erfüllte ihren Zweck. »Mythokarin Symbilasch«, hörte Komkosch, »soll ich nun die Verbindung unterbrechen?« Der Blick des Kommandanten klärte sich, wurde aber nicht scharf genug. Ihre Augen sind alt, sie ist fehlsichtig, erkannte Komkosch. Vor dem Transmitter stand eine verwegene Figur, eine Art einbeiniger Roboter, der die Maske eines Cappins trug. Das Ding sprach ihn/sie an: »Symbilasch, wir sind die Letzten, die aus dem Schiff entkommen sind. Wir müssen leider auf niemanden mehr warten.« Plötzlich musste Symbilasch niesen, und da endlich brach ihr letzter Widerstand zusammen. Komkosch übernahm sie ganz. Er atmete ruhig. Er spürte, wie das maskierte Ding ihn fixierte. Und dann brüllte es los: »Abschalten! Den Transmitter sofort abschalten!« Der Transmittertechniker rief Symbilasch/Komkosch etwas zu, was Komkosch nicht verstand. Plötzlich sprang das Ding wie von einer Feder geschleudert auf das
47 Transmitterpult zu. Komkosch spannte die Muskeln des alten Frauenkörpers und warf ihn dem Monstrum in den Weg. Er bekam die einzige untere Extremität des Dinges zu fassen und riss ihn daran zu Boden, dann schlug er auf die Maske ein, ohne auf die Verletzungen zu achten, die er den Frauenhänden dabei zufügte. Plötzlich versetzte das Ding ihm einen elektrischen Schlag. »Du Dreckstück! Du ekliges Ding!« »Schließt den Transmitter!«, rief der Roboter. »Schließt doch endlich den Transmitter!« Komkosch entnahm Symbilaschs Gedächtnis, dass es sich dabei um den Elektrischen Utrich handelte – sehr passend. Er hielt ihn immer noch umklammert und rief: »Die Takerer haben den Utrich reprogrammiert! Er wird uns alle töten. Fangt ihn! Werft ihn durch den Transmitter zurück! Und danach abschalten!« Das maskierte Ding schrie: »Symbilasch ist übernommen worden, sie ist ein Pedoopfer!« Die extoschischen Wissenschaftler blickten einander ratlos an. In diesem Moment zeigte ein akustisches Signal an, dass der Transmitter eine Sendung empfing. Und dann traten nebeneinander Okòrr und der Marquis aus dem schwarzen, wabernden Feld.
* Mintra trug, übrigens ohne es zu wissen, einen mikroskopisch kleinen Standortanzeiger, eine Kinderboje, in den Hüftknochen implantiert. Schankonar hatte hin und wieder davon Gebrauch gemacht, immer dann, wenn Mintra mit Freunden die Stadt verließ, andere Habitate auf Extosch besuchte, einmal auch den Mond Gasch. In ein anderes Sonnensystem war sie noch nicht gereist. Aus solchen Entfernungen hätte sich die Boje auch nicht melden können. Der Ganjo landete seinen Gleiter in der
48 Nähe des Mythenhortes. Diese zahllose Menge Extoscher auf den Straßen – es war wie eine Revolution. Die Boje arbeitete mit sehr wenig Energie, sie war ein schlichtes Gerät. Unter den jetzigen Bedingungen, diesem Energiegestöber aus Schüssen, Detonationen, Schirmfeldprojektoren, bekam Schankonar kein klares Signal. Die grobe Richtung aber war eindeutig: Mintra befand sich in nächster Nähe zum Mythenhort – im Zentrum des Chaos. Es hatte keinen Wert, hier auszuharren, bis sich der Kampf gelegt hätte. Schankonar machte sich auf den Weg. Er hatte sich eine Kapuze übergeworfen, er wollte nicht erkannt werden. Manchmal ging es nur meterweise voran; manchmal musste er vor abstürzenden Gleitern in Deckung gehen. Schließlich ragte vor ihm die Ruine des Arsenals der Kybernetischen Märchen auf; das war immer Mintras Lieblingsort im Mythoseum gewesen. Auch hier war der Aufruhr unbeschreiblich. Schankonar aktivierte seinen Individualschirm. Er schaltete ihn auf unpassierbar für Düfte und schämte sich zugleich dafür, als wäre es ein Akt der Solidarität, den Geruch verbrannter Extoscher einzuatmen. Endlich erhielt er ein Signal, wusste es aber nicht sofort zu deuten. Mintra war in der Nähe, aber nicht etwa in Bodennähe und damit auf einer Ebene mit den zerstörten Scheiben des Mythoseums. Sie befand sich auch nicht irgendwo hoch im Stamm. Sie war unter ihm. Sie ist in der Schatzkammer, begriff er. Wenn sie es unverletzt bis in die Schatzkammer geschafft hatte, stand sie unter dem Schutz von Symbilasch – gesetzt immer, die Oberste Mythokarin hatte diese Sektion der Mythothek bereits isoliert, sich, ihren Stab und die Daten in Sicherheit gebracht – und Mintra auch. Allerdings hieß das auch, seine Tochter wäre für ihn im Augenblick unerreichbar. Er würde warten müssen bis zum Ende der Kampfhandlungen.
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* Der Marquis orientierte sich. Er entdeckte das Pult mit der Steuereinrichtung für den Transmitter. Der Extoscher dort griff nach den Sensortasten, Gabthran schoss ihn nieder und war mit einem einigen Satz am Pult. Er muss seinen Schwerkraftregulator ausgeschaltet haben, erkannte Komkosch. Die für den Zaqoor vergleichsweise niedrige Gravitation machte ihn den Cappins körperlich weit überlegen. Der Marquis sicherte den Zugang. Weitere Zaqoor traten aus dem Feld. Die anwesenden Wissenschaftler standen wie erstarrt. Der Erste, der seine Fassung zurückgewann, war der Elektrische Utrich. Er versuchte, an Komkosch vorbei das Bedienungspult des Materietransmitters zu erreichen, Komkosch hielt ihn wieder fest. Als der Utrich seine Elektrodenspange ausfuhr, schrie der Takerer ihn an: »Noch einen Stromstoß, und dieser Leib stirbt!« Der Utrich wich zurück. Nun strömten drenktosch-takerische Soldaten durch den Transmitter in den Raum. Zwei von ihnen trugen die Pedotrage mit dem formlosen Leib des Kommandanten. Aswrayn Komkosch brauchte nur wenige Augenblicke, um hinüberzuwechseln und Gestalt anzunehmen. Als er von der Trage aufstand und sich umblickte, war bereits alles unter Kontrolle. Die Wissenschaftler waren offenbar unbewaffnet. Komkosch sah keinen einzigen Kampfroboter. Die Drohnen gingen in aller Ruhe weiter ihrer Arbeit nach. »Wie schön«, entfuhr es Komkosch, »vielleicht können wir die Oberste Mythokarin zu einer Privatführung überreden?« Symbilasch lag noch am Boden, erschöpft von der Anstrengung, die Komkosch ihrem alten Leib abverlangt hatte. »Kommen Sie, machen Sie dem Marquis die Freude, er ist noch neu in Gruelfin.« »Es gibt keine Freude, außer in Trodar«, versetzte der Zaqoor.
Entscheidung auf Extosch »Sag das nicht«, warf Komkosch ein. »Heute wirst du dich mit der Freude begnügen müssen, die die Lektüre historischer Schriften bietet. Die Wissenschaftler hier sind kaum in der Lage, dich standesgemäß nach Trodar zu schicken.« »Nein, das sind sie nicht«, stimmte der Marquis zu. Okòrr zog eine schwere Strahlenpistole aus seinem Holster und feuerte in ein hohes Rundregal voller Folianten. Das Regal ging in Flammen auf. Einige der Wissenschaftler schrien. Okòrr legte auf eine der Formenergie-Skulpturen an und schoss. Die Figur explodierte mit einem Donnerschlag, die flammenden Bruchstücke wirbelten durch die Luft. Getroffene Wissenschaftler gingen zu Boden. »Okòrr«, rief Komkosch, »stell sofort das Feuer ein!« Okòrr gehorchte nicht, sondern legte wieder auf einen der Wissenschaftler an. Es war Zasca, der Mann in der roten Kutte. Zasca stolperte rückwärts auf den Transmitter zu, stürzte, raffte sich wieder auf. »Beschädigt nichts in dieser Sektion!«, übertönte die Stimme des Marquis den allgemeinen Lärm. Der Zaqoor wies in Richtung des Wuthana-Konvoluts. In diesem Augenblick sprang Iopan von hinten an den Marquis heran und riss dessen Schwert aus der Scheide. Der Zaqoor war zu überrascht, um sofort zu reagieren, dann wirbelte er herum, aber die Kraft, die er unter den Bedingungen dieser schwachen Schwerkraft entfaltete, ließ ihn förmlich an dem jungen Extoscher vorbeifliegen. Iopan schleifte das bleischwere Schwert hinter sich her und lief auf Okòrr zu; dabei schrie er: »Du Verräter!« Verwundert blickte Okòrr sich um und wandte sich dem Jungen zu. »Was habe ich verraten?«, fragte Okòrr verständnislos. »Komm zurück!« rief der Elektrische Utrich Iopan zu. Mintra sprintete los und rief: »Iopan, nein, nein!«
49 Der Utrich sprang ihr nach. »Uns hast du verraten. Alle Cappins. Alle!«, antwortete Iopan und wuchtete unter Mühe das Schwert hoch über den Kopf. Okòrr schoss, und Mintra warf sich dazwischen. Der Einschlag des Treffers riss sie von den Beinen und schleuderte sie in einem mörderischen Salto über Iopan. »Das nicht!«, donnerte der Utrich. Iopan, von Mintras Überschlag aus dem Gleichgewicht gebracht, ließ das Schwert fallen und stürzte nach hinten. Der Elektrische Utrich war mit einem Satz bei Mintra, umfasste sie mit seinem einzigen Arm und sprang mit ihr hoch durch die Luft davon. Okòrr legte sehr bedächtig auf Iopan an, der noch auf dem Boden lag. Komkosch dachte: Das ist ein Kind. Ein unbewaffnetes Kind. Wir werden nicht tun, was die Ganjasen getan haben. Die Geschichte wird sich nicht wiederholen, und er zog seine Strahlenpistole und zielte auf Okòrr. »Nimm die Waffe herunter, Okòrr!« Dann war der Marquis bei Komkosch, schlug dem Kommandanten wie beiläufig und mit großer Wucht die Pistole aus der Hand und trat sie weg. »Das will ich sehen«, sagte er. Die Hitze umspülte Aswrayn wie eine Welle. Mit einem Mal fühlte er sich schläfrig. Er erkannte, dass die Waffe außer Reichweite lag. Okòrr und der Junge waren fünf oder sechs Meter entfernt, viel zu weit. Komkosch hatte nur noch eine Wahl, wenn er ins Geschehen eingreifen wollte. Also peilte er die ÜBSEF-Konstante von Okòrr an. Okòrrs Hypersexta-Modulparstrahlung war auffällig dünn, aber leicht zu orten, denn sie stand fest. Was eigentlich merkwürdig war. Normalerweise schwankte diese Strahlung nämlich jederzeit leicht, sie vibrierte geradezu in engen Grenzen und war abhängig von der Geistesgegenwart, dem Wachheitsgrad, sogar der körperlichen Tagesform ihres Trägers. Aber Komkosch blieb wenig Zeit, sich zu wundern. Er hatte die ÜBSEF-Konstante seines Pedoopfers erfasst, und er pedotrans-
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ferierte. Aswrayn Komkoschs Körper verwandelte sich in eine formlose, blasige Masse. Der Pedogehalt von Komkosch zog ein in den viel zu flachen Raum, fand sich zurecht und war schon bei Okòrr. Die vorherigen Male hatte Komkosch die Übernahme des Pedoopfers wie einen körperlichen Akt empfunden, eine Vergewaltigung. Das Pedoopfer lag auf undefinierbare Art unten; Komkosch sah den Geist seines Opfers gewissermaßen von hinten. Komkosch hing über dem Geist Okòrrs und stieß hinab. Er erlebte das schiere Entsetzen: Die ÜBSEF-Konstante Okòrrs war nicht natürlich, sie war eine Fälschung, eine bloße Projektion. Sie bot seinem Pedogehalt, seinem körperlosen Bewusstsein, keine Zugriffsfläche, keinen Anhaltspunkt, keinerlei Boden. Komkosch stürzte durch das Trugbild einer Seele wie durch eine Luftspiegelung, und haltlos verlor er sich in einer namenlosen Tiefe.
* Es war dann der Elektrische Utrich, der so schnell, wie es keinem Cappin möglich gewesen wäre, beim Schwert war, es in die Höhe riss und Okòrr damit den Kopf abschlug. Der Marquis schoss sofort danach auf den Utrich. Der Treffer riss ihn in Stücke. Metallische Bruchstücke klirrten auf den Boden. Die Feuerschutzdrohnen löschten die Flammen. Die Takerer trieben die Wissenschaftler zusammen und hielten sie mit ihren Waffen in Schach. Die Zaqoor, an ihrer Spitze der Marquis, machten sich auf die Suche. Symbilasch sah, wie die Gruppe auf den eisblauen Hochenergietresor mit dem Wuthana-Dossier zuhielt. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Und dann sah sie mit unendlichem Erstaunen, wie die Gruppe achtlos an dem Tresor vorüberging und auf einen kleinen, abgelegenen Datenkiosk zuhielt. Drin wurden uralte Fundstücke verwahrt, mit denen sich selbst Symbilasch
nur einmal und bloß ansatzweise befasst hatte. Was, um alles in der Welt, wollen die Fremden mit diesen Dateien?, fragte sie sich. Einige ihrer Wissenschaftler brachen unter Führung von Zasca aus dem takerischen Kordon aus und stürzten auf den Transmitter zu. Die Takerer nahmen sie unter Feuer und trafen die meisten der Flüchtlinge, nur Zasca selbst gelang es, in das Transmitterfeld zu springen, allerdings ohne es vorher ausgerichtet zu haben. Nun trieben die Takerer alle Wissenschaftler der Schatzkammer in einem Pavillon zusammen und schmolzen die Ausgänge zu. Kurz darauf begann die finale Phase der Eroberung. Nachdem man den Speicher des gesuchten Dossiers identifiziert hatte, wurden die Vorbereitungen zum Angriff getroffen. Diese letzte Schlacht fand in den virtuellen Dimensionen der Programme statt. Gymro Gabthran überwachte selbst den Fortschritt dieser Aktionen. Hier war nur eine Tugend des Jägers gefragt, die Geduld. Aber auch darüber verfügte der Marquis. Seine Positroniken starteten die Angriffe auf die Schutzwälle, die von den extoschischen Wissenschaftlern um das fragliche Dossier gelegt worden waren. Die Schutzwälle hielten eine Weile stand, ritten sogar einige wenige Ausfälle gegen die zaqoorschen Wühlprogramme. Die zaqoorschen Fachleute erkannten, dass die Verteidigung von einer zentralen Instanz, einer Sicherheitspositronik, gesteuert wurde. Sie fanden die Positronik und zerstörten sie mit einem Desintegrator. Danach griffen dezentrale Einheiten der extoschischen Sicherheitsprogramme in die positronische Schlacht ein. Sie wurden von Großrechnern geschickt, die in anderen Städten von Extosch arbeiteten. Sogar vom Mond aus eilten Programme über Dakkarfunk zu Hilfe. Das Defensivsystem der Schatzkammer war smarter, als der Zaqoor erwartet hatte.
Entscheidung auf Extosch Er grummelte anerkennend. Als die Überwachungspositroniken der Zaqoor den Standort des Dakkarsenders auf Gasch ausgemacht hatten, griffen einige der Kuhlenraumer an. Die überlichtschnell abgestrahlten Energiebündel wurden im Ziel für einen Augenblick als ultrablaue Lichtkometen sichtbar und detonierten in den Schirmen der Mondstation. Schließlich brach der Schirm unter den Einschlägen zusammen. Maschine um Maschine wurde so aufgespürt und vernichtet. Nach nicht einmal zwei Stunden war das positronische Verteidigungssystem des Dossiers restlos auf sich allein gestellt. Das war nun kein Problem mehr. Diese letzte Defensivlinie war nicht für einen militärischen Datenangriff ausgelegt. Die virtuellen Sprengkörper der zaqoorschen Programme zertrümmerten den Verteidigungswall. Endlich lag das Dossier offen vor ihnen – nackt und ungeschützt, eine pure Datenmenge. Die Positronik des Zaqoor-Schiffes lud das komplette Dossier hoch und speicherte es ab. An der Hardware hatte der Marquis kein Interesse. Lordrichter Saryla verlangte nach Informationen, nicht nach Souvenirs. Komkoschs Vize Schendrascholk rief von der GINKORASCH an, um sich nach dem Verlauf der Operation zu erkundigen. Gabthran betrachtete nachdenklich den verhärteten, gestaltlosen Klumpen, der von Komkosch übrig geblieben war. Dann teilte er Schendrascholk mit: »Dein Kommandant und sein Assistent Okòrr sind die Einzigen, die aus der Schatzkammer des Mythenhortes ihren Weg nach Trodar gefunden haben. Also darf ich dich als neuen Kommandanten der Flotte ansprechen. Ich gratuliere und gehe davon aus, dass unsere Abmachungen bestehen bleiben.« Schendrascholk verneigte sich grimmig und sagte: »Das Ziel des takerischen Volkes ist größer als das Ziel jedes Einzelnen.« Marquis Gabthran verließ die Schatzkammer des Mythenhortes als Letzter über den
51 neu justierten Transmitter. Er rematerialisierte nicht in der Transmittergondel der Landungstruppen, sondern direkt in seinem Flaggschiff, das schwerelos wenige hundert Meter über der Spitze des zerstörten Mythenhortes hing. Seine Truppen und die seiner takerischen Knechte hatten das Feld längst geräumt. Der Marquis gab den Startbefehl.
* AM ABEND: EIN GOLDENER TAG GEHT ZU ENDE Langsam legte sich der Sturm, den das Impulstriebwerk des Zaqoor-Schiffes entfacht hatte. Schnee fiel, sanft und lautlos, und mit dem Schnee kam eine große Stille über die Stadt. Es hatte ein wenig gedauert, die Kontrolle über die Transmitterstation in der Schatzkammer zurückzugewinnen. Der Ganjo war unter den Ersten gewesen, die sich in die Tiefe hatten abstrahlen lassen. Der Chef der paramilitärischen Einheit hatte ihm zwar abgeraten, aber er konnte dem Ganjo keine Befehle erteilen. Dann war Schankonar der Erste gewesen, der an die Oberfläche von Extosch zurückgekommen war. Er war nicht der Einzige. Schankonar sah die zahllosen Lichter, die sich am Himmel bewegten und größer wurden, sich näherten: Positionslichter von kleinen und größeren Gleitern; die grünen, pulsierenden Balken der Medo-Einheiten. Hoch über ihm schob sich lautlos ein gigantischer, kreisrunder Schatten über den dämmerigen Himmel. Das muss Chrimma sein, erkannte der Ganjo, eine ganze Stadt kommt uns zu Hilfe. Zu spät. Noch weiter oben am Himmel wuchsen einige Sterne. Schankonar vermutete, dass es ganjasische Raumschiffe aus den benachbarten Sonnensystemen waren, vielleicht sogar Takerer, die mit dem Vorgehen der Drenktosch-Flotte nicht einverstanden waren. Vielleicht Wesakenos. Vielleicht ein Jucla-Verband. Es war ihm gleichgültig.
52 Zahllose Autokameras kreisten über der Ruine, die bis vor einigen Stunden noch der große Mythenhort von Extosch gewesen war, Autokameras der Regierung, des Militärs, privater Neuigkeitenhändler. Schankonar schaute in das Gesicht seiner Tochter. Dann rief ihn Väveidre über den Kom: »Ganjo?« »Ich bin hier«, meldete er sich. »Wo ist hier?« Offenbar hatten die Kameras ihn noch nicht erfasst. Wie auch? Er saß unter einem überhängenden Trümmerstück, dem Fragment einer der Scheiben des Mythoseums. »Sie sind fort. Haben sie bekommen, was sie wollten?«, fragte Väveidre. »Ich weiß nicht, was sie wirklich wollten. Das Wuthana-Konvolut war es offenbar nicht. Vielleicht wollten sie nur unsere Demütigung.« Väveidre schwieg. Schankonar stellte sich vor, wie sie den Schaden sichtete, den die Kameras ihr vorführten; wie sie schluckte, wenn sie all die blauen Tücher entdeckte und all die Leichen, die noch unbekleidet von der Fahne dalagen. Mit einem Mal war es so still, dass der Ganjo aus der Ferne das leise Bellen der Wollschnecken hörte. Eine Drohne schwebte herbei und bot eine blaue Fahne an; er winkte ab. Die Drohne ließ sich nicht sofort verscheuchen, sie pendelte ein wenig vor und zurück, endlich nahm sie Fahrt auf und surrte davon. Schankonar beugte sich über seine Tochter und schirmte ihren zerbrochenen Leib mit seinem Körper ab. Niemand sollte sie sehen. Keine Fahne sollte sie bedecken. Sie war alles, was er noch hatte. »Wir werden«, hörte er Väveidre wie aus einer anderen Welt sagen, »alles wieder aufbauen. Wir alle. Extoscher. Ganjasen. Auch alle Takerer, die guten Willens sind. Wir werden den Mythenhort wieder aufbauen, Scheibe um Scheibe. Wir werden Schayno wieder aufbauen, Haus um Haus. Wir werden alles wieder aufbauen. Wir werden alles wieder aufbauen.«
Wim Vandemaan Sie wiederholte den Satz noch einige Male, bis ihre Stimme brach. »Ja«, sagte der Ganjo, küsste seiner toten Tochter das Gesicht und schloss ihre Augen, »es wird alles … anders.«
* Die Legende der Seelenfestung, ihr Schluss In der siebzehnten Halle fand er Esmes. Sie rührte sich nicht, in ihrem Schoß lag schwer das Ei der Totenkröte. Die eiserne Schale war schwarz, nur hier und da sprenkelte roter Rost die Schale. In dem Ei fraß das Junge der Kröte den Dotter, der nichts anderes war als die Seele Esmes'. Denn die Totenkröte selbst vermag keine Seele zu zeugen. Nur eine Puppe ist ihr Junges im Ei, ein geistloser Schemen. Dass es zum Dasein erwacht, dazu braucht es die Seele. Das Ei in Esmes' Schoß zog schon Risse, und ein schwarzes und böses Licht funkelte daraus hervor. Kam er zu spät? Pretan hob seiner Tochter das Ei aus dem Schoß, schwer war es, er brauchte alle vier Arme, und er hob es und schleuderte es auf den Boden. Gleich rollte es fort, und es jaulte. Esmes aber öffnete den Mund und schöpfte Atem. Sie öffnete ihre Augen eines nach dem anderen und blickte ihren Vater an. Sie stand auf, bebend, aber gehalten von seinen vier starken Händen. So kehrten sie heim. Der Scharit hielt Esmes im Arm siebzehn Tage und siebzehn Nächte, und ihre Seelen ergänzten einander, heilten aus, genasen. Pretan blieb Scharit, und die Stadt Ansch gedieh, und die Anschin lebten ihr Leben leicht und in Liebe. So. Das war's. Das war die »Legende der Seelenfestung«. Ich gebe zu: Manches an dieser Legende
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klingt merkwürdig, ich habe es dir ja gleich gesagt. Und manches bleibt auch mir selbst unklar. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie der Scharit und seine Tochter dem Zorn der Totenkröte entkamen, die angeblich ein jedes ihrer Eier im Nüster behält. Hatte das schreiende Ei sie nicht gewarnt und aufgescheucht? Ich weiß auch nicht, wie die beiden an den Seelengrenzern vorbeigelangten, wie sie die Kluft überwanden, das Plasmameer – wenn der Kybernetische Leviathan doch fort war – und die Schweren Berge. Ihre Seelen waren doch geschwächt: Wie sollten sie zahlen? Ja, um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht einmal, ob all dies überhaupt gelang. Denn wahrscheinlich ist es ja nicht. Aber ich habe es dir mit diesem Ende erzählt, weil es mir so gefällt; weil es mir gefällt, wie sich alles zum Guten wendet. Denn irgendwer muss eine Geschichte erzählen, in der sich alles zum Guten wendet. Irgendeine Geschichte. Irgendwer.
Zwischen Schmerz und Schmerz tut sich ein schmaler Abgrund auf, eine Spalte der Einkehr, ein Eiskristall Zuversicht. So hatte es endlich gelohnt, mit den Horden in der Glut Gruelfins zu stochern. Auch Jenes Eine ist vor Ort, das einen Namen braucht, der Schließer und Schlüssel, der Handhaber der Wahrscheinlichkeit: Atlan. Der Schatten schimmert; man muss ihn bohren. Auf Geheiß wird der Oberste Lordrichter gehen. Er, er allein weiß die Spur zu vertiefen. Die übrigen Lordrichter sind Späne, Partikel, leicht aufzubiegen und gutzumachen. ErEsSie krümmt sich wieder, fasert sich auf, badet in Elend. Aber das brennende Bad kühlt aus. Nicht mehr lange. Und dann: Linderung. Er. Es. Sie. Das Schwert der Ordnung. ENDE
Epilog Er. Es. Sie. Endlich eine Spur gefunden, ein wenig Grund gefasst, eine Scholle. ENDE
Der Zorn der Lordrichter von H. G. Ewers Das traurige Kapitel eines skrupellosen Überfalls ist zu Ende. Aber welche Bedeutung haben die dabei erbeuteten Dokumente? Auch Atlan sucht dringend Antworten auf die gleiche Frage – worauf die Lordrichter in Gruelfin eigentlich hinauswollen. Zu diesem Zweck besucht er mit dem Sammler MITYQINN und einigen Jucla-Schiffen die Freihandelszone Susch. Dort findet eine überraschende Begegnung statt. Mehr darüber verrät H. G. Ewers, langjähriger PERRY RHODAN-Autor im Ruhestand. Dass er sich dieses Themas annimmt, ist gar nicht so erstaunlich. Einige der wichtigsten Cappin-Romane nach dem 400er-Zyklus stammen nämlich aus seiner Feder, z. B. »Botschaft für Ovaron« (PR 722) oder »Nachricht aus Gruelfin« (PR 1277).