Sean Beaufort
Entlang der
tödlichen Klippen
Thorfin Njals Spur bestand aus verbrannten Segeln und geschwärztem Hol...
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Sean Beaufort
Entlang der
tödlichen Klippen
Thorfin Njals Spur bestand aus verbrannten Segeln und geschwärztem Holz wenigstens bei dem harmlosen Handelssegler „Ragnhylt". Die Arwenacks hatten die
Spur wiederaufgenommen, als sie das Handelsschiff trafen und quer durch die
Bucht von Esbjerg pullten. Für einen langen Tag verwandelte sich die Crew in höchst
zahme Seewölfe, denn sie halfen den Dänen.
„Dieser Thorfin", sagte Philip Hasard Killigrew zu Ben Brighton, „der bereitet mir
Magenschmerzen! Wahrscheinlich hinterläßt er noch mehr brennende Schiffe
und geplünderte Stranddörfer."
„Ich weiß auch nicht, warum er derart übertreibt. Wahrscheinlich waren seine Opfer
frech zu ihm."
„Eigentlich sollten sie's besser wissen", meinte der Seewolf.
Was der nordische Schrat angerichtet hatte, war von i h n e n wieder auf Vordermann
gebracht worden. Die Arwenacks fühlten sich weder schuldbewußt noch besonders
edel. Aber sie wußten, daß sie den Wikinger bald eingeholt haben mußten. Sonst zog der
dänische König noch wegen eines einzelnen Schiffes seine Soldaten zusammen . . .
Die Hauptpersonen des Romans: Bonger Oluvsen - mit seinem kleinen dänischen Küstenfrachter erleidet er Schiff bruch und muß erkennen, daß ihn nichts mehr retten kann. Old O'Flynn - glaubt an Elfen und sieht sie sogar bei Nacht auf einem Küstenmoor tanzen. Mac Pellew - kauft mit dem Kutscher in Skagen Fisch ein und brät ihn für die Crew, aber die Kerle haben wieder Grund zum Motzen. Don Juan de Alcazar - findet es lausig kalt in den nördlichen Gewässern und wünscht sich in die Karibik zurück. Philip Hasard Killigrew - segelt mit seinen Arwenacks auf den Spuren des „behelmten Nordpolaffen" und weiß nicht, ob er lachen oder fluchen soll.
ihre Spuren zurückgelassen. Sand und Schlick breiteten sich unter dem Heute wehte der unzuverlässige Wasser der Nordsee aus, und unter Wind aus Südwest. Die Schebecke dem Kiel der Schebecke gab es, we kreuzte im Sund mit kurzen Schlägen nigstens auf diesem Teil der Reise, und kämpfte sich gegen die kurzen keine unergründliche und geheimnis Wellen nach Süd, hinaus, zurück auf volle Tiefe. An Jyllands westlicher Küste, hin den Weg der Küste entlang nach Nord. Schwerfällig stampfte weit ter Esbjerg in nördliche Richtung, achteraus die „Ragnhylt" mit neuen erstreckte sich eine Dünenlandschaft, Segeln und leerer Bordkasse. Der die bisher von nichts unterbrochen Seewolf, der in der dicken Schaffell wurde, das dem Auge hätte auffallen jacke des Dorfschulzen von Hoyer zu können. Flache und steilere Sanddü schwitzen anfing, hatte sich auf das nen, meist mit Ginster, Strandhafer oder Heidekraut bewachsen, lösten Schlimmste vorbereitet. Selbst an dieser leeren, von Sand, einander in derselben Eintönigkeit Dünen und Watt gebildeten Küste ab wie die Wellen, die aus Südwest gab es Gefahren für Schiff und Mann anrollten, und auf denen das Schiff schaft. Manchmal schien es, als wür dahinglitt. den sie die Seewölfe magisch anzie Im diesigen Süden tauchte Bla hen. vands Huk unter die Kimm. Der Seewolf drehte sich wieder her An Steuerbord erstreckten sich die eintönigen Strände von Jylland oder um, klemmte die Pinne zwischen Jütland, wie es die Deutschen nann Arm und Rippen und bewunderte für ten. Seit einer halben Stunde stand einen langen Augenblick den festen Hasard selber an der Pinne und ver Sandstrand, der bis zu den Flanken suchte, an Land besondere Merkmale der Dünen aufstieg. zu finden: etwa einen Berg, einen „Wenigstens hier kann Thorfin Turm oder einen vorspringenden Fel nicht viel anrichten, Sir." Ben Brigh sen. ton blickte ebenfalls hinüber zu der Das Land war bretteben. Ebbe und Dünenlandschaft. „Sand brennt Flut hatten in diesem Marschland nicht." 1.
5 „Auch das bringt der noch fertig", brummelte der Seewolf. „Oder glaubst du etwa, daß wir keine Spu ren seiner Untaten mehr entdecken?" Der Erste hob sein Spektiv ans Auge und nickte ergeben. „Ich suche schon danach. Aber ich bin froh, daß ich nichts finde." „Noch nichts", meinte Hasard. Die Sonne, die in eineinhalb Stun den ihren höchsten Stand erreichen würde, strahlte auf das Meer und die Dünenlandschaft. Die Farben beru higten das Auge: sie reichten vom hel len Grau, vom schattendurchzogenen Weiß bis über das satte Grün einzel ner Waldstücke bis zum dunklen Braun der morastigen Zonen. „Er wird den Skagerrak wohl schon hinter sich gebracht haben", sagte Ben nach einer Weile. „Oder auch nicht. So schnell ist der ,Eilige Drache' nun auch wieder nicht. Besonders bei diesen wechseln den Winden", antwortete der See wolf. „Der nächste Ort auf Dans Karte nennt sich Nymindegab", erklärte der Erste. „Liegt am südlichen Ende eines Fjords." „Ich weiß", erwiderte Hasard. „Ich habe mir die Karte angesehen." Am Rand des Fjords erstreckte sich angeblich ein Sumpf gebiet. Die See wölfe stellten sich vor, daß die Be wohner dieses abgeschiedenen Dörf chens aus Wattflächen und Sumpf auf ebenso langwierige und schweiß treibende Arbeit neues Land trocken legten und dann eindeichten, wie das nahezu überall an den Küsten vor sich ging. „Wir werden sehen, was es in Ny mindegab gibt", sagte der Seewolf. „Unser Ziel bleibt dasselbe: wir su chen Thorfin Njal." „Richtig."
Noch hielt der raume Wind an. Er fahrungsgemäß änderte sich die Windrichtung, wenn es dunkelte. Noch konnte nicht entschieden wer den, ob sie in der Nacht weitersegeln oder vor Anker gehen sollten. Die Freiwache schien ausnahmslos unter Deck zu schlafen. Für die wenigen Seewölfe an Deck gab es nicht viel zu tun. Sie konnten in aller Ruhe die Kü ste anschauen, an der das Schiff vor beizog. Seit dem frühesten Morgen hatten sie, ausgenommen die „Ragnhylt", kein anderes Schiff gesehen. Die Gründe schienen klar. Es lohnte sich nicht, entlang der Westküste Handel zu treiben, denn sie war eine weitge hend menschenleere Gegend. Die See wölfe wußten dies von der Mann schaft und dem Kapitän des Handels schiffes. Erst auf der Höhe von Skagen würde sich das ändern. Dort kamen und gingen die Schiffe, die zwischen Nordsee und dem Balti schen Meer segelten. Früher waren es sehr viele deutsche Schiffe gewesen, die Koggen der Nordischen Hanse. Jetzt aber würden die Seewölfe im mer häufiger die niederländischen Farben im Topp entdecken. Die Niederländer lösten sich nicht nur auf dem Land von der spanischen Herrschaft des Zweiten Philipp. Spa nische Karavellen oder Galeonen hier im Norden gab es sie nicht mehr, oder sie segelten unter anderer Flagge. Oder sie waren ein willkommenes Ziel für den nordischen Schrat. Der Seewolf grinste in sich hinein. Thorfin Njals Spuren würden schwer zu übersehen sein. An Land ebenso wenig wie auf See.
6 Drei Stunden nach Mittag kam wie der Seenebel auf. Die Sicht verschlechterte sich ra pide. Nur nach Ost, landwärts, er kannten die Seewölfe noch Wasser, Watt und Dünen. Die Ebbe setzte ein, und die Strömung trieb die Sche becke merklich nach West, außerdem nahm die Fahrt ab. Dann schralte der Wind, wechselte über nach West und drehte schließ lich in den nördlichen Quadranten. Inzwischen stand Nils Larsen am Ru der. Hasard beugte sich über die Schul ter Dan O'Flynns. Vor sich hatten sie, in Dans Kammer, die Karten. Mit der Spitze des Zirkels deutete Dan auf den Punkt, der den nächsten Ort an der Küste versinnbildlichte. „Es ist also nichts dagegen zu sa gen, wenn wir für die Nacht in Nymindegab anlegen?" wollte der See wolf wissen. „Nein. Jedes Fischerdorf hat einen Hafen. Wahrscheinlich fällt auch die Schebecke trocken, aber damit haben wir ja Erfahrung." Nur eine schmale Landbrücke, höchstwahrscheinlich Schlick und Sand, mehr oder weniger bewachsen, trennte nach den Angaben der See karte den Fjord vom offenen Meer. Die Landbrücke war fast schnurge rade eingezeichnet. Der Fjord dahin ter, wahrscheinlich flach und fisch reich, hatte die Form eines an den Rändern ausgefransten Halbmondes, in den von Nymindegab aus nach Norden eine Halbinsel hinaufragte. Auf der Karte war in dem natürli chen Damm keine Durchfahrt ver merkt. „Wir würden gerade in der Abenddämmerung in den Hafen ein laufen", sagte Dan. „Es ist angeneh mer, an den Pollern zu liegen, als in der Finsternis in unbekanntem und
ungewissem Wasser gegen den Wind anzusegeln." „Du sagst es", stimmte Hasard zu. „Und mit etwas Glück haben wir morgen wieder guten Wind und ge langen bis nach Lemvig." „Mag sein." Der Tag war völlig ereignislos ver laufen. Wind und See schienen heute die Schebecke zu verwöhnen. Mit der zurückgelegten Strecke durften sie zufrieden sein. Jetzt, als die Sonne am Ende dieses warmen Tages im Seenebel versank und sich rot färbte, steuerte die Schebecke zunächst hoch am Wind nach Nordwest, und als der noch unsichtbare Ort Nymindegab achterlicher als dwars lag, gab der Seewolf seine Befehle. Das Schiff ging in den Wind, und die Rahruten schwangen nach den schnellen Manövern herum. Die Schoten wurden auf den anderen Bug genommen und, nachdem die Sche becke den Bugspriet auf die Küste und die Stämme der Nadelbäume ge richtet hatte, belegt. Die Segel füllten sich. Die Sche becke nahm wieder Fahrt auf und rauschte auf das Ufer zu. Für die Gruppe, die vorn stand und das Ge lände recht voraus durch die Spek tive musterte, zeigten sich im blutro ten Licht des Sonnenunterganges die ersten Giebel der strohgedeckten Dä cher, die Ziegel des niedrigen Kirch turms und ein Fichtenwald dahinter. Noch von einer auslaufenden Sand düne verdeckt, ragten die Masten ei niger mittelgroßer Fischerboote in die neblige Luft. Erst jetzt sah man die Rauchfahnen aus den Kaminen. „Ist kein großer Unterschied zu ir gendeinem anderen Fischerhafen", sagte Ben Brighton. „Aber einen Al chimisten werden wir vergeblich su chen." „Er war auch keine wesentliche Be
7 reicherung für uns", brummte Edwin Carberry. „Ob sie uns freundlich empfangen?" „Warum nicht?" „Weil der Wikinger vor uns hier entlanggesegelt ist", sagte Hasard. „Er ist für mich so etwas wie ein Schreckgespenst." „Ganz so schlimm wird's wohl nicht werden", meinte Carberry. Die Einfahrt, die sich in der einset zenden Ebbe deutlich auch in den ver tieften Prielen zeigte, ließ deutlich den Fleiß der Siedler erkennen. Hänge, Dünen und künstliche Deiche waren, dicht bewachsen, in die Umge bung des Hafens einbezogen. Im Lauf der Jahre waren auch hier, wie nahezu überall an solchen Häfen, riesige Mengen von Schlick und Sand ausgehoben, in Körbe geladen und in Form von Deichen aufgetürmt wor den. Als die Schebecke mit killenden Segeln sich näherte, hob Hasard kurz die Hand. Die Fock und das Großsegel wur den aus dem Wind genommen, um die Fahrt zu verlangsamen. Der Ruder gänger hielt, den kurzen Signalen aus dem Bug gehorchend, die Schebecke genau in der Mitte des schmalen Fahrwassers. „Gut so. Leinen klar!" rief der See wolf. Sie passierten an Backbord und Steuerbord die halb künstlichen, halb natürlichen Deiche. Auf den al ten Teilen wurzelten windzerzauste Föhren und Fichten. Kaum waren sie ein paar Fuß tiefer im ruhigeren Wasser, verwandelte sich das bis eben ruhige Dörfchen in ein Tollhaus. Wimmernd und grell läutete eine Glocke im Kirchturm. Eine zweite schepperte klirrend. Über die Weide raste eine Herde gefleckter Schafe. Hunde umkreisten sie kläffend. Ein paar Jungen trieben
Rinder hinter den Häusern in den Wald. Türen schlugen zu und wurden wieder aufgerissen, und Männer sprangen aus den Häusern. „Sie beeilen sich, uns willkommen zu heißen", sagte Hasard und wußte noch nicht, ob er lachen oder fluchen sollte. „Sie verwechseln uns mit dem Wi kinger!" rief Dan. „Wo sind unsere Sprachkünstler?" Stenmark, Nils Larsen und Sven Nyberg eilten aufs Vorschiff. Nils hob die Hände an den Mund und brüllte einige Sätze in die Richtung der aufgeregten Männer. Sie schwan gen Äxte und Hämmer und hielten Mistgabeln und Säbel in den Händen. Einige schwangen Armbrüste über den Köpfen und riefen sich Warnun gen zu. Im rechteckigen Hafen lagen vier zehn unterschiedlich große Fischer boote. Netze waren auf Stangen aus gespannt. Es roch nach Fisch, und überall glänzten die Schuppen auf dem dürren Gras. „Sage ihnen", erklärte der Seewolf, als die Schebecke das Fahrwasser verließ und zwischen dem ersten Paar wuchtiger Poller hindurchdrif tete, „daß wir freundliche Absichten haben. Keine Plünderei oder Brand schatzung." „Habe ich ihnen gerade erklärt", er widerte Nils. „Sie glauben mir nicht." Mit Fischspeeren, langen Messern, Knüppeln und Keulen verschanzten sich etwa vierzig Männer jeden Al ters, meist blond und mit hellen Bär ten, in der Nähe der Boote, eines Stegs oder anderer Deckungen. Sie schienen wild entschlossen zu sein, das Anlegen zu verhindern. „Laßt eure Waffen in Ruhe!" brüllte der Seewolf nach achtern. „Aber duckt euch!" Noch immer bimmelten und dröhn
8 ten die Glocken. Das Geläute fuhr weit über das flache Land hin. Die Dänen schrien wild durcheinander und schüttelten drohend ihre simplen Waffen. Der Mann mit der Armbrust zielte auf den Seewolf. Nils Larson bewegte seine Arme und Hände in beschwichtigenden Ge sten. Etwas leiser erklärte er, was er den Fischern zurief. „Wir sind keine Räuber oder Pira ten. Wir wollen nur über Nacht blei ben. Wir zahlen auch für das Bier im Krug." Er übersetzte auch die Antworten. „Sie sind gewarnt worden. Reiter waren hier und haben vor einem schwarzen Segelschiff gewarnt." „Sage ihnen, daß wir das Schiff selbst verfolgen", erklärte Hasard. „Wir helfen ihnen sogar, wenn der Wikinger auftauchen sollte." „Sofort." Aus einigen kleinen Fenstern blick ten voller Furcht Kinder und Frauen. Wieder schloß sich von innen mit wuchtigem Krachen und klirrenden Riegeln ein Scheunentor. Die Sonne versank halb hinter der Kimm, und von allen Seiten schob sich die Nebel wand heran. Die Crew der Schebecke befand sich fast vollzählig an Deck und bemühte sich, einen friedfertigen Eindruck zu erwecken. „Der Dorfschulze und der Pfarrer sollen kommen", verlangte Nils Lar sen und hoffte, daß er überzeugend sprach oder besser: brüllte. „Der Ka pitän wird an Land, auf eurem Steg, mit euch verhandeln. Wir hätten euer Dorf schon längst in Trümmer legen können. Eure Sensen gegen unsere Geschütze? Los, seid friedlich!" Es ging noch eine Weile auf diese Art hin und her. Schließlich ent spannten sich die dänischen Fischer und Bauern. Der entscheidende Au genblick schien zu sein, als Edwin
Carberry und Smoky in aller Seelen ruhe die Laternen an Deck brachten, sie anzündeten und an den gewohn ten Stellen anbändselten oder ein hängten. Das Geläute riß ab, und vom Dach stuhl des Kirchturms ertönte ein ge fährliches Knarren. Hasard hörte, wie Nils seinen Na men nannte und einige längere Sätze in beschwörendem Ton hinzufügte. Ein Mann, nicht viel kleiner als der Seewolf, stand hinter einem Bretter stapel auf, hieb seine Axt ins Holz und hob den Arm. „Das ist Rukka Gröndal, der Dorf älteste", erklärte Nils. „Wir sollen dort vorn anlegen." In der sinkenden Dunkelheit stak ten die Seewölfe mit vier Riemen die Schebecke in eine Position, aus der sie bei genügend hohem Wasser das Schiff leicht wenden konnten. Jetzt schrammte der Kiel dreimal leicht über den schlickigen Grund, ehe die Wurfleinen und die Festmacher aus gebracht werden konnten. „Endlich breitet sich Einsicht aus", sagte Hasard und dachte, daß die Fi scher natürlich recht hatten, wenn sie sich und hier Hab und Gut verteidig ten. Sie schienen tatsächlich geglaubt zu haben, auf der Schebecke befän den sich die Männer des leicht erreg baren Wikingers. „Abwarten", warnte Dan O'Flynn. „Sie sehen nicht gerade schafsfromm aus." Auch der Pfarrer von Nymindegab war ein riesiger, breitschultriger Mann mit schulterlangem Haar und einem mächtigen Bart. Der Seewolf sprang auf den stabil aussehenden Steg. Er knöpfte die Felljacke auf und zeigte, daß er im Gurt weder eine Hiebwaffe noch eine Pistole trug. Hinter ihm schwang sich Nils auf die frisch gehobelten Planken.
9 „Also", erklärte der Seewolf, der immerhin einige Wörter Dänisch ver stand und von vielen anderen den Sinn richtig deuten konnte, „sage die sen beiden Gentlemen, daß wir kurz nach Sonnenaufgang oder nach ge stiegener Flut wieder ablegen wer den." Der Däne übersetzte, die beiden Männer überlegten und antworteten, und einige Fischer näherten sich mit blakenden Fackeln. Der Pfarrer be trachtete sein Gegenüber ebenso prü fend wie der Seewolf ihn und den Äl testen. „Es freut sie, das zu hören. Sie ha ben auch verstanden, daß wir der ,Ragnhylt' geholfen haben. Aber es gehen schlimme Gerüchte um." „Über uns etwa?" „Über ein Schiff, das an der Küste unangenehme Akte der Piraterie un ternommen hat." „Also nicht über uns. Sage ihnen bitte, daß wir drüben im Krug essen und trinken wollen. Nicht mehr. Und nichts anderes. Wir zahlen nötigen falls auch für den Liegeplatz." „Aber nicht viel!" rief Old Donegal von der Kuhl her. Nils übersetzte nach einem länge ren Wortwechsel: „Der Pfarrer, Hochwürden Marian Ladelund, hat eben folgendes erklärt, und zwar glaubwürdig: von seinem Amtsbru der in Giellerup weiß er, daß auf Be fehl von König Kristian Soldaten auf gebrochen sind. Sie sollen die Küsten dörfer bis hinauf nach Skagen schüt zen, wenn der schwarze Segler wieder anlegen sollte." „Sage Hochwürden Ladelund, daß wir gern mit den Soldaten sprechen und trinken werden. Vielleicht kön nen wir ihnen einen Rat geben, wo sie das Schiff finden." „Er fragt, ob wir den Wikinger ken nen."
Diese Frage war zu erwarten gewe sen. „Sage ihm mehr oder weniger die reine Wahrheit. Übertreibe nicht", er widerte Hasard und hoffte, daß we der der Pfarrer noch der Älteste viel Englisch verstanden. Mittlerweile war die Menge der Dörfler größer ge worden, die den Bug der Schebecke auf der Düne und dem Steg umstan den. Schließlich erklärte der Älteste: „Also ist's beschlossen. Bleibt hier und geht in den Krug. Aber alle, die auf dem Schiff sind, passen nicht hin ein, wenn noch ein paar von uns kom men." Der Seewolf hielt dem Ältesten die Hand hin, schüttelte die schwielige Pranke und meinte: „Wir rücken zu sammen, selbst wenn die Soldaten er scheinen. Und wahrscheinlich tut es euch leid, wenn wir morgen wieder weg sind." Er drehte sich um, winkte seinen Leuten zu und rief: „Vertäut das Schiff! Wir bleiben hier. Es gibt kei nen Ärger, wenn wir keinen Dänen provozieren." Aus den Reihen der Crew ertönten erleichterte und sarkastische Bemer kungen, aber sie alle hatten die däni schen Fischer und Schäfer gesehen. Fast jeder, auch die jungen Männer, war großgewachsen, breitschultrig und sah so aus, als könne er dänische Muster des Profoshammers austeilen - und in Dänisch hieß er auch „ham mer". Tatsächlich nickte der Pfarrer, legte seine Hände gegeneinander und versprach in verständlichem Eng lisch: „Ich glaube, es wird eine ru hige, wenn auch heitere Nacht, die keiner von uns bedauern wird." „Das kann ich versprechen", ant wortete der Seewolf und grinste breit und voller Vergnügen.
10 2. Nymindegab war wirklich nicht mehr als ein Dorf von Fischern und Bauern, die sich selbst versorgten und mit den umliegenden Gemeinden und denen, die weiter im östlichen und südlichen Teil der großen Halb insel lebten, Handel trieben. Zweimal im Jahr oder mitunter häufiger legte ein Kauffahrer hier an. Die Be wohner versuchten mit großem Fleiß, Land zu gewinnen und viel Fisch, Schaffleisch, Käse und Wolle zu ver kaufen. Im Krug gab es, mehr als eine Stunde später, etwa zwei Dutzend freie Plätze. Neben dem Eingang sa ßen Nils, der Seewolf, Hochwürden und Rukka Gröndal. Vor ihnen stan den die halb leergetrunkenen Hum pen. „Nun", erkundigte sich mit der Hilfe seines Nachbarn der Seewolf beim Ältesten, „noch immer das ge schliffene Beil unterm Tisch wegen uns, Rukka?" „Nein. Habe keine Sorge mehr", er widerte Rukka. „Nicht wahr, Mari an?" „Meine Amtsbrüder, mit denen ich mitunter Briefe wechsle", Marian wechselte ins bessere Englische über und hob seinen Humpen, „haben mir angelegentlich geschrieben, in Latein oder Englisch, daß es einen bemer kenswerten Kapitän geben soll. Er wird respektvoll ,der Seewolf' ge nannt, von Freund und Gegner. Habt ihr mit ihm etwas zu tun?" „Man nennt meine Männer und mich so", gab Hasard ruhig zu. „Und wir haben den schlechten Ruf zu Un recht. Wenn wir angegriffen werden, schlagen wir zurück. Zu deinen from men Schäfchen, die auch die andere Wange hinhalten, Hochwürden Lade lund, zählen wir also nicht."
Ladelund leerte seinen Becher und bemerkte: „Die Schafe, sagt man, werden in Trab gehalten, wenn zwi schen ihnen ein paar Wölfe auftau chen. Gibt bessere Wolle, sagt man." Er stand auf, nickte den Männern am Tisch zu und sagte nachdrücklich: „Sprecht dem Bier nicht zu sehr zu. Auch Seewölfe brauchen einen kla ren Kopf." „Den haben wir meistens. Mit oder ohne Bier." Hochwürden winkte den anderen Gästen zu, von denen die meisten den Scherzen der Seewölfe lauschten und zu verstehen versuchten, was sie sag ten. Die Tür ging auf, und Batuti schob sich in dem Augenblick hinein, in dem der Pfarrer an ihm vorbei wollte. „Heute nacht kein wildes Glocken geläut mehr", erklärte Batuti la chend. „Ich war auf der Düne. Groß artiger Ausblick, sage ich euch." Die Tür blieb offen, und der Nacht wind wirbelte den Kaminrauch hin aus, den Rauch aus der Pfeife eines Fischers, Staub und Wollreste. Hasard deutete den Gesichtsaus druck und die Worte des Gambia mannes richtig und fragte halblaut: „Was hat dir diese Aussicht einge bracht?" „Das Bild von Leuten, die hierher kommen. Auf der Straße von Skjern, wenn ich den Namen richtig verstan den habe. Fischer Thorsager war da bei. Er sagt, es seien Reiter." Hochwürden schlug Batuti auf die Schulter und versicherte: „Dann werde ich hinausgehen, die bösen Geister verscheuchen und Friede in die Seelen gießen." „Nimm's Bier mit!" rief ihm der Gambiamann nach. Er setzte sich ne ben Nils, und der Pfarrer drückte die geschnitzte und bunt bemalte Tür zu. Rukka kratzte sich im Genick, fuhr
11 unsicher mit den Fingern durch sei nen blonden Bart und brummte end lich: „Kaum seid ihr da, gibt's Krach. Aber die Reiter wären auch so er schienen. Sie konnten nicht wissen, daß ihr einlauft." „Es wird sich alles klären lassen", meinte der Seewolf und leerte den Humpen. „Ich gehe zum Schiff. Dort ist jetzt, denke ich, mein Platz." „Bin auch gleich dort", versprach Rukka. Hasard legte einige Geldstücke auf den Tisch und bückte sich unter dem niedrigen Türrahmen. Draußen at mete er tief ein und schaute sich um. In den Nischen vor einem halben Dut zend Hausmauern brannten Öllam pen. Über dem Meer hing dichter Ne bel, der langsam über die Dünen und Deiche kroch. Hasard junior stand am Ende des Steges und deutete in die Richtung der Fjord-Halbinsel. „Von dort oben ist etwas zu sehen, Dad!" rief er. Auf der Kuhl saßen etwa zwanzig Seewölfe und balancierten Schüsseln und Teller auf den Knien. Durch knir schenden Sand ging der Seewolf zur Anhöhe hinauf. Die Gewächse, die er nicht erkannte, rochen stark und aro matisch. Neben dem Pfarrer, der eine schwere Lampe trug, stand Ferris Tucker. Er winkte. Das Licht aus der Lampe war zu grell, Hasard schirmte es mit der Hand gegen seine Augen ab. „Sieben Fackeln habe ich gezählt", sagte der Pfarrer. „Also werden uns nicht mehr als zehn Reiter besuchen. Eine Nacht der Aufregung, Lupus maris." „Auf Latein kenne ich unseren Na men noch nicht", brummte Ferris Tucker. Der Seewolf lachte. Der Weg, auf dem sich die Reiter näherten, lief in unzähligen Windungen zwischen Hü
gelchen und Waldstücken hindurch. Die winzigen Lichter verschwanden oft und tauchten an unvermuteten Stellen wieder auf, zogen sich ausein ander und rückten wieder auf. Kurze Zeit später war durch den leise or gelnden Wind und das unablässige Rauschen des Wassers fernes Hufge trappel zu hören. „Ich glaube nicht, daß es Ärger gibt", sagte der Pfarrer. Der Seewolf widersprach. „Deine Bauern, Hochwürden, müssen die Pferde füttern und den Soldaten Quartier geben. Wenn sie eure Frauen belästigen, ruft uns. Wir neh men ihnen die Anstrengung ab." „Das ist eine außerordentliche Fest stellung", erwiderte Marian und lä chelte leise in sich hinein. „Man kann sie mehrfach deuten und mindestens auf zwei Arten verstehen." „Genauso habe ich es gemeint", sagte Hasard.
Als es dunkel zu werden begann und der klamme Nebel aus allen Richtungen der Windrose auf ihn ein drang, fing Bonger Oluvsen sich zu fürchten an. Er ahnte, daß es für ihn keine Rettung mehr gab, wenn nicht ein Wunder eintrat. Und seit König Kristian der Dritte vor zweiundsech zig Jahren den protestantischen Glauben eingeführt hatte, gab's keine Wunder mehr. Das jedenfalls hatten die katholi schen Klosterbrüder so und nicht an ders geschworen, mit tausend heili gen Eiden. Bonger steckte fest zwischen Son dervig und Thyborön, genau in der Landenge des Stora-Fjordes. Auf einer Seite das Brackwasser, auf der anderen die Nordsee. Unter dem abgebrochenen Kiel,
12 zwischen den geborstenen Planken und im Ballast gurgelte und schäumte das Wasser. Tollerud und Einar waren tot. Dem einen hatte die Ruderpinne mit mörderischer Gewalt das Kreuz gebrochen, der andere war über Bord gegangen und in der star ken Strömung ertrunken, weil er nicht schwimmen konnte. Bonger war allein auf seinem Wrack, und jede weitere Planke, die brach, bedeutete einen weiteren Schritt in den Untergang. Aber Bonger Oluvsen kämpfte. Der Kampf mit dem Wasser hatte erst vor sechs Stunden angefangen. Es war Bonger gelungen, die Lampe aufzufi schen, frisches öl einzufüllen und an zuzünden. Er hatte Licht, aber das war auch schon fast alles, was er noch besaß. „Nachdenken, Bonger. Nicht blind und ratlos etwas tun", beschwor er sich selbst. Noch war er am Leben. Wenn sich das Boot nicht stärker bewegte, konnte er warten, bis ihn jemand fand und ihm ein Seil zuwarf. Aber da sich einer der wenigen Felsen weit und breit an Steuerbord durch den Schiffsboden gebohrt und ihn auf sie ben Fuß Länge aufgerissen hatte, würden sich Planken und Spanten bald in Treibholz verwandelt haben. Die „Königin Thyra", ein gutes und wetterhartes Schifflein, war von der Woge hochgehoben worden, und als die Welle sich verlief, bohrte sich in voller Fahrt der Brocken durch die Planken. Auf der Stelle hatte die „Thyra" gestoppt. Mast und Segel gingen Augenblicke später nach dem reißenden Knallen des Tauwerks und dem Bersten der Holzteile über Bord. Und jetzt spülte und riß die Strö mung einen Ballen und Packen nach dem anderen aus dem Laderaum. Der Fluß, die Stora, die durch Hol
stebro floß und den Fjord füllte, führte gutes Wasser. Der Durchlaß zwischen zwei schmalen, sandigen Landzungen war nicht ungefährlich, für die „Königin Thyra" aber der schnellste Weg, um die Küstenfahrt antreten zu können. Sondervig, Hvide Sande, Nymindegab, dann Henne Strand und Fanö wären die Ziele ge wesen. Beide Landzungen waren unbe wohnt. Im Fjord fischten die Männer nur selten. Sondervig war fünfzehn Meilen weit entfernt. An beiden Seiten des Wracks betrug die Entfernung bis zu einer Stelle, an der man an Land ge hen konnte, etwa eine Kabellänge. Wieder bewies ein grausam lautes Krachen, daß Planken losgerissen wurden und das Leck sich vergrö ßerte. Leider führte die „Thyra" kein Bei boot mit. Bonger Oluvsen war groß und stark, ausgeruht und nicht einmal hungrig. Der größte Teil seiner Vor räte, auch die Wasserfäßchen, befand sich in den Kisten auf dem Achter deck, vier Fuß über dem Wasser und sicher. Noch! Lenzen war sinnlos. Das Salzwasser brannte auf den vielen Abschürfungen, der Schädel brummte vom Aufschlag auf die Planken, und die salzige Nässe der Kleider kniff und biß in den Körper falten und unter den Achseln. „Die Lampe", brummte er, dann schrie er sich selbst gegen die rau schende Brandung die Worte zu. „Darf nicht ausgehen. Nachts ist sie hell. Am Tag kann ich Lumpen anzün den und mit Rauch Signale geben." Er riß eine Kiste auf, bändelte die Ölkanne fest und schlug Knoten um den Haltering der Lampe und um die Pinne.
13 „Und wenn ich Planken heraus reiße und ein Floß baue? Über Span ten könnte ich es zusammennageln." Er sagte sich: „Zuerst nachsehen." Zwischen dem Heck und dem Bug, jeweils durch Schotten abgetrennt und beplankt, befand sich die offene Ducht. Das Leck war an Steuerbord, fünf Fuß hoch stand das Wasser im Schiff. Herrschte jetzt Flut? Ebbe? Die Zeit dazwischen? Wenn jetzt die Ebbe ablief, sank das Wasser ein wenig in dem Fjord. Nach Mitternacht kippte die Tide, dann war das Wasser ruhig gewor den. Und danach stieg es wieder. „Nägel?" Er hatte Werkzeug dabei. Ein gro ßes Paket Nägel war nicht in der Last, zusammen mit den anderen Wa ren, sondern in der Kiste verstaut. Er fand sie, einen mittelschweren Ham mer und eine Säge. Und schon fing er zu arbeiten an. Er sprang hinunter ins Wasser und fisch te die treibenden Holzteile heraus. Planken, die Teile der Laufplanke, andere Stücke: Lukendeckel und im merhin vier von den Paketen, die er heben konnte. Sie waren gut verpackt und schwammen in der schwarzen Salzbrühe. Mit dem Unterarm maß er die Länge der fehlenden Planken, die er gegennageln mußte. „Arbeit für ein paar Tage", sagte er laut, froh darüber, daß er etwas tun konnte. Einige Zeilen eines Wikinger liedes fielen ihm ein, und während er auf dem schwankenden Wrack die erste Planke in die richtige Länge brachte, sang er, mitten in der schwarzen Nacht, das wilde, trotzige Lied, mehr laut und stockend als rich tig. Als er unter Wasser die scharfen Kanten des Felsens ertastete, er schrak er. Das fünfundvierzig Fuß
lange Schiffchen - wie sollte er es vom Felsen lösen? Es hob und senkte unaufhörlich Bug und Heck und schwankte von Steuerbord nach Backbord und zurück. Mit wuchtigen Schlägen befestigte Bonger die erste Planke innenbords. Als er bis über die Knie im kalten, schwarzen Wasser stand und schwankte, wurde sein Gesang we sentlich leiser. Seine Furcht, alles zu verlieren, auch das Leben, steigerte sich.
Philip Hasard Killigrew zog tief die frische Luft in seinen breiten Brust korb. Sie roch nach Meer, nach dem frischen Grün ringsum, nach den feuchten Wäldern und dem trocknen den Sand auf dem kleinen Halbinsel chen. Die Fackeln waren inzwischen so nahe gerückt, daß die Wartenden tatsächlich neun Reiter zählen konn ten. Sie waren einheitlich gekleidet, trugen aber keine Uniform. „Es sind bestimmt Reiter im könig lichen Auftrag", erklärte Rukka und deutete hinunter zu seinem Fischer dörfchen. „Sie tragen viele Waffen." Im Fackellicht erkannten die War tenden blitzende Halbrüstungen, Hel lebarden und Musketen. Auf Hasard wirkten die Reiter nicht bedrohlich, trotzdem wandte er sich an Al Conroy und sagte halblaut: „Vielleicht sollten wir zumindest in der Lage sein, uns zu wehren. Sage den Arwenacks, daß sie aufpassen sollen." „Aye, Sir." Bedächtig setzte sich der Stückmei ster in Bewegung und stieg von der Düne über den Sandpfad, der in der Dunkelheit gut zu erkennen war, zu den Lichtern rund um den Hafen hin unter. Kurz darauf bewegten sich an
14 Bord der Schebecke die Gestalten der Seewölfe. Der erste Reiter, dessen Hellebarde einen Wimpel trug, zügelte unterhalb der Gruppe sein schweißnasses Pferd und rief: „Miliz von Herning! Wir la gern in Skjern. Habt ihr Ärger mit ei nem verrückten Wikingernachfah ren?" Der Älteste rief zurück: „Nein! Wir haben aber Gäste. Auch Seefahrer. Kommt ins Dorf, alles ist ruhig." Die Reiter rasselten heran, umrun deten die Düne und kletterten auf dem kleinen Platz zwischen Krug und Kirche aus den Sätteln. Die Pferde ließen die Köpfe hängen. Rukka eilte mit seinen Männern und den Seewölfen herbei, während die Milizreiter erstaunt das schlanke Schiff anstarrten. Ansgar Tipperud, der Anführer der Stadtmiliz, musterte mit sichtlichem Erstaunen den Seewolf und dessen Begleiter. „Um es euch zu erleichtern", sagte Nils, der einwandfrei übersetzte, was Hasard erklärte, „wir sind auf der Spur dieses Wikingers. Wir kennen ihn, und er ist nicht wirklich ein Ver rückter, nur leicht erregbar. Wahr scheinlich segelt sein schwarzes Schiff inzwischen oben an der norwe gischen Küste." „Ihr seid seine Feinde?" fragte Hauptmann Tipperud verblüfft. „Wollt ihr sein Schiff kapern?" „Sagen wir es anders", entgegnete Nils. „Zwischen ihm und uns ist noch eine Rechnung offen. Eine Rechnung, die wir bezahlen müssen, und wir wollen einen Nachlaß. Deswegen brauchen wir allerdings unsere Ge schütze nicht zu laden." „Ich verstehe. Eine alte, offene Rechnung unter Freunden." Die Reiter verhandelten mit den Dörflern und Fischern. Die Pferde
wurden abgesattelt und einzeln in verschiedene Ställe geführt. „So könnte man es nennen." Die Milizreiter umkreisten das Schiff und blieben mißtrauisch. Aber das überaus freundliche Grinsen der Seewölfe und das Geräusch aus Scherzen und klappernden Bierhum pen, das aus dem offenen Krug drang, waren friedlich. Die Fischer waren aus den Häusern getreten, eini ge Frauen und Mädchen standen vor den Häusern, und schließlich lehnte der Hauptmann seine lange Waffe ge gen die Wand der Kirche. „Kapitän Killigrew", sagte Ansgar nach kurzer Überlegung, „Ihr segelt dem sogenannten Wikinger hinter her?" „Genauso verhält es sich", ant wortete der Seewolf, packte Ansgar am Arm und zog ihn auf das helle Viereck der Tür zu. „Sollen wir ihn von Dänemarks Küsten vertreiben?" „Es wäre angenehm, wenn wir von ihm nichts mehr hören und sehen würden. Die Leute hier am Meer kön nen sich nicht gegen einen Piraten wehren, wenn der mit Kanonen in ihre Dörfer schießt." „Wenn wir ihn getroffen haben, gibt es keinen Übergriff mehr", ver sprach der Seewolf. „Würde uns helfen. Bis hinauf nach Skagen ist die Küste dünn besiedelt", sagte der Hauptmann. „Aber auch einzelne Schiffe wird er wieder an greifen. Wir wissen von der ,Ragn hylt', - habt etwa ihr dem Handels mann geholfen? Wart ihr das fremde Schiff?" „Ja." „Dann können wir also sicher sein. Ihr legt morgen früh ab?" fragte der Hauptmann. „Beim ersten Sonnenlicht, es sei denn, es gibt heute noch Weststurm." Ansgar Tipperud nickte, schlug
15 dem Seewolf auf die Schulter und versicherte: „Wir werden Boten in die einzelnen Orte schicken. Sie sol len den Leuten sagen, daß ihr mit eu rem Schiff mit den Dänen befreundet seid und den Wikinger jagt. Man wird euch überall gut empfangen." „Das ist ein vernünftiges Wort", pflichtete Nils Larsen seinem Lands mann bei. „Darauf trinken wir alle noch einen Humpen, und danach geht die Crew in ihre Kojen. Wir ziehen es vor, nüchtern zu segeln." „Löblich, ihr Seewölfe." Aber es dauerte doch noch eine Stunde, bis alle Arwenacks an Bord waren. Die Laternen wurden bis auf Bug- und Hecklicht gelöscht, die Wache zog auf. Als Hochwürden Ma rian Ladelund am Morgen vor die Tür seines Häuschens trat und die weißen Wolken im blaßblauen Him mel sah, vermißte er die Masten des Schiffes. Unbemerkt, wenigstens für ihn, hatte die Crew die Segel gesetzt und war aus dem Hafen Nymindegabs verschwunden. 3. Ben Brighton lehnte sich gegen das Schanzkleid, nickte Piet Straaten an der Pinne zu und bemerkte zu seiner Beruhigung, daß die Segel richtig ge trimmt waren. Die Schebecke lief, ge rade noch in Landsicht, auf genauem Nordkurs. „Wenn es nicht gerade brennt", sagte er laut, „kümmern wir uns nicht um Sondervig. Klar?" „Aye, Ben", erwiderte der Hollän der. „Warum sollte es brennen? Der Wikinger segelt nach Norden, nicht rückwärts." Der Erste Offizier grinste breit und verkündete: „Dem traue ich alles zu.
Im Ernst: wir sollten uns nicht lange aufhalten, hat der Kapitän lobens werterweise angeordnet. Schließlich wollen wir nicht bis in alle Ewigkeit hier herumkreuzen." „Verstanden. Begreiflich. Ist auch nicht viel los an der flachen Küste." „Das wird sich in Norwegen än dern, über dem Skagerrak", sagte Ben. Die Nordsee zeigte sich mäßig be wegt. Eine weite Dünung hob und senkte das Schiff. Die Wellen rollten aus Südwest und Westen an, der Wind wehte stetig aus dem südlichen Quadranten und trieb die Schebecke entlang der Küste in guter Fahrt vor wärts. Gelbweiß leuchtete die Sonne. Dicke weiße Wolken segelten über das fahle Blau des Himmels. Über dem Schiff schrien ein paar Möwen. Nur wenige kleine Segel von Fischer booten zeichneten sich vor den Dü nen und den stückweise bewachsenen Deichen ab. Ein dritter Rundblick durch das Spektiv zeigte dem Ersten, daß sich außer ihnen kein zweites Schiff in der Nähe befand, weder auf gleichem Kurs noch auf Gegenkurs. „Was liegt hinter Sondervig?" fragte Piet nach einer Weile. Sie hatten die Kragen hochgeschla gen und drehten sich nicht oft um. Achterlich war noch weniger los als voraus und dwars. „Ein Kaff, das sich Thyborön nennt", antwortete Brighton. Die Segelgasten holten die Groß schot dichter, als das Segel zu killen anfing. Die Schebecke legte sich ein wenig über und richtete sich sofort wieder auf. „Dort hinein oder vorbei?" erkun digte sich der Rudergänger. Ben hob die Schultern und erwi derte: „Weiß ich nicht. Es kann sein,
16 daß wir bei Anbruch der Dunkelheit Thyborön querab haben. Bis dahin wissen wir mehr. Das Wetter? Es ver spricht, so zu bleiben." „Aber gerade hier ändert es sich schnell." „Ich weiß", meinte der Erste. „Frage später den Seewolf." Es gab keinen auffälligen Unter schied zur Landschaft, die sich vor ei nem Tag an Steuerbord ausgebreitet hatte. Schlickiges braunes Watt, hel ler Sand und einige weiße Dünen, dann ein paar Deiche und dahinter Nadelwälder in frühlingsgrüner Farbe. Das war alles, und so blieb es Seemeile um Seemeile, die das Schiff nordwärts zurücklegte.
Die „Königin Thyra" hob, als die erste große Welle heranrauschte, den Bug. Im Heck rutschten Werkzeuge und Kästen krachend und klappernd zum Dollbord und prallten dagegen. Bonger Oluvsens Lied riß ab, er fluchte laut und drehte sich um. Mit ausgebreiteten Armen versuchte er, als sich das Heck hob, die Gegen stände aufzufangen. Mit bösartigem Knirschen brachen weitere Planken in Stücke. „Verdammte Nordsee!" stöhnte er auf. Seine Augen waren blutunterlau fen. Die Finger - geschwollen und rot vom eisigen Salzwasser - bluteten. Am ganzen Körper gab es Schnitte, Risse und blaue Flecken. Bonger war triefnaß, vom Haar bis hinunter in die Zehen der hochschäftigen Stiefel. Als er mit beiden Schienbeinen ge gen den Unterwasserfelsen geschmet tert wurde, fluchte er noch mehr und kletterte mühsam hinauf zur Ruder pinne. Er stemmte sich an ihr hoch, verbrannte sich die Finger an der
schaukelnden Lampe und merkte es nicht, weil die Haut vom Wasser klamm war. „Das hilft nichts. So komm ich nicht weiter", sagte er sich und zog mit schmerzenden Zähnen den Stop fen aus dem Metallkrug. Er nahm ei nen kräftigen Schluck des klaren Branntweins, der nach Wacholder schmeckte. Dann, als er die Wärme im Hals und im Bauch spürte, schüttelte er sich. Noch immer war es dunkel. Die Ebbe war längst abgelaufen und hatte das vollgeschlagene Boot tiefer auf den Felsen sacken lassen. Jetzt war auch der massige Kielbalken so schwer gebrochen, daß Bonger das Schlimmste fürchten mußte. Mit der einsetzenden Flut rollten aus der offenen See lange Dünungs wellen heran, lautlos und unsichtbar in der Schwärze der Nacht. Sie hoben unaufhörlich das Schiff, und wenn sie sich an den Sänden der Meeres enge brachen und in den Fjord hin einzischten, krachte die „Thyra" wie der schwer nach unten, ins Wellental und auf den Felsbrocken. Mit zitternden Fingern füllte Bon ger öl in die Lampe ein. Wieder nahm er einen Schluck Schnaps, aber seine Finger zitterten deswegen nicht weniger. „Und weit und breit nichts - nie mand, der mich sieht", murmelte er mit gefühllosen Lippen. Alle Bündel und Ballen, die er in der Ducht hatte auffangen und her ausfischen können, waren inzwischen zusammengebändselt und aneinan der festgelascht. Vielleicht schwam men sie wirklich lange Zeit. Er hatte noch zwei leere Fässer, von denen er sich einiges an Schwimmfähigkeit er hoffte. Und es wollte nicht hell wer den, nicht wärmer - aussichtslos,
17 hoffnungslos: die Lage wurde schlim mer und bedrohlicher. Wieder gab es ein furchtbares Kra chen und Knistern. Das Wrack sank mit einem Ruck schwer auf den Fel sen, der die „Thyra" noch immer nicht freigeben wollte. Mutlos saß Bonger neben der Pinne und über legte fieberhaft, was er tun konnte. „Ein Floß? Aus den Fässern und Planken?" Schmerzgepeinigt und vor Kälte schlotternd, dachte er nach. Er war nicht mehr in der Lage, klare Gedan ken zu fassen. Selbst wenn er über lebte, war er zu einem Leben in Ar mut und Ausweglosigkeit verdammt. Das Meer hatte ihn ernährt - bisher. Jetzt wollte es ihn vernichten. Irgendwo im Fjord trieben die Lei chen der beiden Schiffsgehilfen. Tüchtige, ehrliche Männer, dachte der hünenhafte Däne. Drei Jahre lang war er mit ihnen gesegelt. Tot. So wie er in der nächsten Nacht. Wenn es überhaupt noch so lange dauerte. Wieder trank er und schüttelte sich. Er fühlte seine Zehen nicht mehr.
Die flachgehende „Königin Thyra" war zwischen Skagen und Hojer so gut wie jedem Dänen gut bekannt. Von Holstebro aus nahm Bonger besonders teure und wichtige Waren auf, die einzelnen Frauen oder Män ner aus den Dörfern bestellt hatten. Meist war es schneller und sicherer, die Waren auf dem Wasserweg zu transportieren. Selbst im Winter war es, hielt man sich an die Regeln richti ger Seemannschaft, schneller und si cherer als über die eisigen und zuge schneiten Wege und Straßen. Oft zahlte Bonger aus seiner eige nen Börse und holte sich das Geld
von denen, die ihre Ware erst nach Monaten in den Händen hielten. Er war noch nie überfallen und beraubt worden. Es gab keinen Hafen, keinen Steg und kein Haus am Strand, das er nicht erreicht hätte. Bei Ebbe setzte die Thyra weich in den Schlick, schwamm bei Flut wieder auf. Es war ein ruhiges Leben, das drei Familien gut ernährte. Die Hälfte der Waren - abgetrie ben. „Die andere Hälfte wahrscheinlich verdorben", brummte er. Natürlich wußte er, was in den Ballen verpackt war. Sein einziger Besitz, vom Haus in Holstebro abgesehen, war das Boot. Ein gutes Boot, sieben Jahre alt und fest wie ein Wikingerschädel. Und jetzt hörte und sah er, wie es zu Klein holz zerhackt und zersplittert wurde. In zehn Jahren brachte er das Geld nicht zusammen, um sich ein zweites Boot dieser Art zu kaufen. Falls er überlebte. Er nahm den vorläufig letzten Schluck, und irgendwie gelang es ihm, den Krug wieder zuzustöpseln. Dann hackte er mit dem Beil nach dem vorbeitreibenden, drehenden Faß und zog es heran. Er fing an, ein Floß zu bauen, mit Nägeln, die ihm nicht gehörten.
Hvide Sande mit dem Durchlaß von Holmsland Klit, Sondervig und dann endlose Dünen und Salzwiesen zogen vorbei. Jan Ranse hatte den Rudergänger abgelöst, eine andere Crew trimmte die Segel. Achtern standen Dan O'Flynn und Hasard. „Der Wind bleibt, denke ich", meinte der Seewolf. „Wir sollten den
18 Limfjord und Thyborön vergessen und weitersegeln." Sie hatten die Karten studiert, und auch Dan gelangte zu dem Ergebnis: „Sollte in der Nacht schweres Wetter aufkommen, haben wir einen Hafen in der Nähe. Ich habe mit den Leuten von Nymindegab gesprochen. Die Ha feneinfahrt von Hanstholm soll von Zwei Feuern gekennzeichnet sein." „Hängt sicher mit den Ostseefah rern zusammen?" antwortete Hasard und dachte an die Schiffe, die Skagen rundeten und in Küstensicht zuerst nach Südwest, und dann, etwa auf der Höhe von Hanstholm, nach West steuerten. Er lachte kurz und fügte hinzu: „Jedenfalls waren wir bestimmt schneller als jeder reitende Bote. Un sertwegen werden die Dänen dort keinen Hafen befeuern." „Nein", brummte Dan. „Wegen uns bestimmt nicht." Die Schebecke war gut vorange kommen, aber nicht so schnell, wie sie es gehofft hatten. Der Wind hatte sie gezwungen, in einigen weiten Schlägen zu kreuzen. Jetzt befanden sie sich wieder auf Nordkurs und erwarteten, Thyborön spät in der Nacht oder erst am Morgen zu sehen. Auf der Kuhl, um den Großmast, hockten der „Admiral" Old Donegal, Ben Brighton und der Kutscher. Zwi schen ihnen lag Plymmie auf den Planken, hatte den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und blinzelte von einem zum anderen. Die Wolfs hündin schien angespannt dem Garn zuzuhören, das die Seefahrer span nen. Plötzlich lachte der Erste schallend und fragte zurück: „Wo hast du denn diesen Schwachsinn gelesen, Old Do negal? Wie soll man die Leute im alten Ägypten genannt haben?" Old Donegal schaute ihn an, als
habe er gesagt, daß der Regen von unten nach oben falle. „Das weiß doch jeder. Das sind die Mumien." Der Kutscher zog die Brauen hoch und erklärte mit einer belehrenden Handbewegung. „Die Mumien, sind sie nach deiner Meinung lebendig oder tot? Ich meine, daß irgendwann jeder den Geist aufgibt - falls er einen hat -, wenn man ihn mit Binden zusam menschnürt und er keine Luft mehr kriegt." Dan O'Flynns Vater hatte also wie der einmal in einem Buch gelesen. Er schaffte es mühelos, den Text und seine Bedeutung zu verdrehen oder zu verstümmeln. Immer dann, wenn sich der Alte mit dem Holzbein zu rückzog und mit dem Finger eine Zeile entlangfuhr, ahnten die Arwe nacks, daß er, von dem neuen Wissen überwältigt, herzerfrischende Erklä rungen von sich geben würde. Jetzt waren also wieder einmal die Mu mien dran. „Natürlich kriegt er dann keine Luft mehr und geht über den Hades", sagte Old Donegal. „Aber die alten Ägypter haben, bevor sie Mumien waren, gelebt. Oder sind sie nach deiner Meinung als Mumien auf die Welt gekom men?" bohrte der Kutscher weiter. Die Frage berührte den „Admiral" unangenehm. Er kratzte sich nach denklich hinter dem Ohr, fast so wie Plymmie. Dann maulte er: „Nein. Sind sie nicht." „Also waren sie lebendig, nicht wahr?" fragte Ben Brighton und zog das Spektiv aus der tiefen Tasche der gefütterten Segeltuchjacke. „Na klar." „Keine gewickelten Mumien also", stellte der Kutscher zufrieden fest. „Da haben wir wieder mal recht. Das
19 heißt, daß die Leute im alten Ägypten die Ägypter waren." „Nicht die Mumien?" fragte Old Donegal. Er war sichtlich verwirrt. Ben Brighton stand auf, schaute über die See und suchte dann die Wel len mit dem Spektiv ab. Nach einer Weile sagte er mit ernstem Gesicht: „Dort schwimmt ein alter Ägypter. Eine Mumie." „Du willst mich bloß auf den Arm nehmen", wetterte Old Donegal. „Ihr habt mir auch nicht geglaubt, daß es Kings Island gibt." „Ich weiß, was ich sehe", erwiderte der Erste. „Hier, nimm! Schau hinein mit deinem Triefauge. Und sage mir, was du erkennst." Auch Old Donegal stand auf. Ben gab ihm das Spektiv, zeigte über die See an Steuerbord, und dann rief er zum Heck: „Wahrschau, Sir! Fast dwars! Treibgut in ungewöhnlicher Form!" „Verstanden, Ben", ertönte es vom Grätingsdeck. Nach einer Weile, in der sich der treibende Gegenstand in den Wellen hob und hinter den Kämmen wieder verschwand, in der sich auch die Schebecke in die Höhe schwang und in die Dünungstäler hinunter rauschte, drehte sich Old Donegal um und sagte entgeistert: „Tatsächlich, eine Mumie. Genauso stand's im Buch." „Sollen wir sie rausholen?" fragte der Kutscher und blickte zum Heck. „Auffällig genug. Ziemlich groß", sagte Ben. „Mal warten, wie Hasard entscheidet." Der Gegenstand konnte durchaus ein Leichnam sein oder ein schwim mender Mensch, aber ebenso gut auch ein großer Fisch, der bauchoben schwamm. Auch viele andere Deu tungen waren möglich. Das Ding be wegte sich nicht, schlug nicht um sich
und winkte nicht. Wahrscheinlich war es irgendein Abfall, zu irgendei ner Zeit über Bord irgendeines Schif fes gekippt. Man konnte nie wissen. Sie hörten, wie der Seewolf seine Befehle gab, und dann sprangen sie, um die Segelstellung zu verändern. Die Schebecke nahm direkten Kurs auf das weiße, längliche Treibgut.
Gegen Mittag dachte Bonger Oluv sen zum erstenmal daran, alles aufzu geben und einzuschlafen. In diesem Fall gab er auch sich auf und warf bewußt sein Leben weg. „Warum hilft mir keiner?" rief er undeutlich. Er hatte aufgehört zu fluchen. Der nächste Blick zeigte ihm, wie es um sein Boot stand. Die Planken waren bis zum Doll bord aufgerissen. Das Wasser schwappte drei Handbreiten unter den Planken des Hecks, auf dem der Däne kauerte. Noch ein paar Stöße, und das Wrack zerlegte sich in Trüm mer. Aber Bonger hatte mit seinen ab nehmenden Kräften nicht hausgehal ten. Aus leeren und halb gefüllten Fässern bestand das Floß, das seinen Namen nicht verdiente, und aus allen Planken und Holzteilen, die er hatte packen können. Die Bündel und Ki sten standen darauf. Er wußte, wie leicht diese wüste Konstruktion kip pen konnte. Sie sollte ihn nur bis hin über zum Ende der Düne bringen. Er erinnerte sich, halb eingeschla fen, an seine Arbeit, die noch in der Nacht ihn selbst hatte retten sollen. Nicht die „Thyra", das Wrack mußte er aufgeben. Der Felsen hatte sie fast völlig zerschmettert. Immer wieder hob Bonger die Schultern und ließ sie, völlig mutlos geworden, sinken.
20 Er drehte sich schwankend um. Sein Magen knurrte. Es war weit nach Mittag, und der Däne spürte na genden Hunger. Die Kleidung war salzverkrustet, jeder Fingerbreit der Haut schien sich in rohes Fleisch ver wandelt zu haben. Die Möwen glaub ten schon, eine leichte Beute zu ha ben. Mit einer Spiere schlug er kraft los nach ihnen. Aber eins vergaß Bonger nicht: seine Bootslaterne brannte nach wie vor, und sie würde auch in dieser Nacht noch Licht und eine Spur Wärme abgeben. Alle Wärme war aus dem Körper gewichen. Die Branntweinkruke hatte er geleert, es gab nur noch Was ser aus dem Faß mitten in dem wir ren Holzgestell. Der Bug des Wracks hatte sich weit ins Wasser gesenkt und erschien nur noch, wenn die Wel len ihn freigaben. Langsam fing alles, was auf dem Heck lag, zu rutschen an. „Ausgerechnet heute", stammelte Bonger und versuchte, sich an der Ru derpinne abzustützen und aufzuste hen, „gibt es kein Schiff, keinen Fi scher . . . " Bongers Haar und Bart waren naß und salzverkrustet, die Lippen rissig und aufgesprungen. Er zitterte vor Kälte, der Wind, der von See wehte und über die Dünen strich, schnitt in seiner Haut. Sehnsüchtig blickte er hinüber zur nächsten Düne. Er war zu schwach, um das Floß zu kippen oder über die nassen Planken zu schieben. Bonger mußte warten, bis die arme „Thyra" restlos auseinanderbrach und mit ihr sein ganzes Vermögen unterging. Die Sonne näherte sich der westli chen Kimm. Der frische Wind trieb Wolken über den Himmel und an der winzi gen grellen Scheibe vorbei. Bonger blinzelte, hob unter Schwierigkeiten
die Hand an die Stirn und stierte, während seine Augen liefen und er zwinkern mußte, über die See. „Nichts", murmelte er. Seine Knie waren wie gelähmt. Er verlor den Halt und krachte auf die zusammengenagelten und verknote ten Holzstücke zurück. Wieder ruckte das Wrack, das Heck kippte, und das seltsame, wacklige Floß rutschte knarrend zu einem Drittel ins Was ser. Bonger verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf hart gegen die Ruderpinne. Ein letzter Rest von Wut und Kraft sammelte sich. Der Däne packte den Krug mit Lampenöl und schüttete die Hälfte über die feuchten Lappen, die ihm Heck lagen. Er hob die Haube von der Lampe und versuchte, einen Lappen in die Flamme zu halten. Schließlich, nachdem er sich Hand rücken und Finger verbrannt hatte, züngelte eine Flamme an dem Tuch aufwärts. Er schleuderte den Lappen auf den zusammengeknäuelten Hau fen - sofort brannte das Öl, und schwarzer, erstickender Rauch stieg auf. Nachdem Bonger die Haube wieder auf die Lampe gesetzt hatte, löste er den Knoten und hielt die Laterne in der Hand. „Was soll ich tun?" fragte er sich laut und merkte, daß die Bilder vor seinen Augen verschwammen. Der dicke schwarze Rauch drang in seine Nase. Er hustete lange und würgte. Die nächste Welle schüttelte das Wrack durch. Die letzten Hölzer bra chen, das Wrack riß sich vom Felsen los und versank unter dem Was serspiegel. Nur der letzte Teil des Hecks mit den qualmenden Lumpen hob sich, als das Floß klatschend ins aufschäumende Wasser rutschte und den fast bewußtlosen Bonger halb ins Wasser tauchte.
21 Hustend und schluckend rappelte er sich wieder hoch, zog sich in sit zende Stellung und hielt seine Hände schließlich über die Lampe. Sie brannten, als halte er sie in ein Feuer. Dann packte er die lange Planke, be nutzte sie als Riemen und versuchte, das Floß über die Entfernung von ei ner Kabellänge zu pullen. Als er binnen vier Atemzüge in drei verschiedene Himmelsrichtungen schaute und erkannte, was er sah, wußte Bonger Oluvsen: Die Ebbe sog Wasser aus dem Fjord. Auf seinem knirschenden Floß, die Beine halb im eisigen Wasser, wurde er hinaus in die Nordsee getrieben. Das war das Ende. In dieser Nacht würde er sterben. Noch immer brannten stinkend und qualmend die Lumpen.
Mit einem Bootshaken und einem Riemen fischten die Seewölfe das schwere Paket aus den Wellen, hiev ten es über das Schanzkleid und schnitten das Garn auf, mit dem es zusammengebändselt war. „Seemannsknoten", stellte Old Do negal knapp, aber zutreffend fest. „Über Bord gefallen." Zwei Handbreiten stand die Sonne, die sich gelbrot zu färben begann, über der Kimm. In den langen Schat ten kroch die Kälte wieder heran. Weit voraus flatterte ein Möwen schwarm gegen den Wind. Noch wäh rend der Riemen polternd verstaut wurde, schlugen Ben Brighton und der alte O'Flynn die Schaffelle aus einander. Längliche Gegenstände waren in gewachstes Segeltuch und darunter in viele Schichten weißes Leinen ein geschlagen. Das Leinen, aus dessen Ecken Spitzen hervorlugten, wirkte vergleichsweise kostbar.
Old Donegal stieß einen Pfiff aus, als er die vier schweren, silbernen Leuchter sah, die in viele einzelne, ge säumte Tücher eingewickelt waren. Die Stoffe fühlten sich trocken an, nur an den Kanten und Falten war Salzwasser durch die Schaffelle ein gedrungen. In zurückhaltendem Tonfall rief der Kutscher: „Es handelt sich ein wandfrei um Leuchter für dicke Ker zen! Kirchenleuchter, schätze ich." „Ganz bestimmt keine Armleuch ter", sagte Old Donegal und grinste. „Wer das wohl verloren hatte?" Hasard, Carberry und Matt Davies erschienen auf der Kuhl und betrach teten den Fund. Old Donegal und der Kutscher nahmen die Verpackung weiter auseinander. Aber sie entdeck ten nichts schriftliches, keine Gravur und auch sonst nichts, das auf einen Eigentümer schließen ließ. „Herrenloses Treibgut", sagte Car berry begeistert. „Gerade auf der Schebecke brau chen wir vier silberne Kirchenleuch ter", bemerkte der Seewolf grinsend. „Der richtige Platz. Sie sind wirklich schön. Und sehr wertvoll. Aber ei gentlich gehören sie in eine Kirche." Dan O'Flynn meldete, während die Seewölfe ihren Fund begutachteten und überlegten, was sie damit tun konnten, vom Achterdeck: „Steuer bord querab muß der Stora-Fjord lie gen. Wenn wir dort ankern wollen, sollten wir bald Kurs ändern." „Verstanden!" rief Hasard zurück. Er wandte sich an die Seewölfe, die noch immer etwas ratlos die Leuchter begutachteten. Die Kostbarkeiten, gleich gearbeitet und mit goldenen Verzierungen versehen, erreichten die Länge seines Unterarms. „Unter Deck damit, Old Donegal. Wir überlegen uns, was wir damit an
22 fangen. Schaut euch um! Vielleicht fi schen wir noch mehr auf." Er ging zurück zum Grätingsdeck und stellte sich neben Dan. Der Ru dergänger warf ihm einen fragenden Bick zu. „Der Sonnenuntergang", meinte Hasard und zog sein Spektiv heraus, „verspricht für morgen einen klaren Tag und guten Wind." „Das sage ich auch, Sir", bekräf tigte Pete Ballie. „Also segeln wir weiter. Morgen früh haben wir vielleicht schon Hanstholm querab." „Aye, Sir." Dan und Hasard beobachteten durch die Linsen den Verlauf der Kü ste. Sie suchten die Wellen nach ande rem Treibgut ab und fanden nichts. Wind und Strömung hatten die Sche becke sicher auf Kurs halten können. Schließlich sahen sie den schmalen Durchgang zum Fjord. Von Deck aus war nicht mehr als eine winzige Un terbrechung in der Linie niedriger Dünen und eines Sandrückens zu er kennen. Dan sagte plötzlich: „Da ist etwas! Rauch, denke ich." „Ein Feuer an Land?" Scharf spähten sie in die Richtung der Dünen. Tatsächlich sah Dan zu erst einen dünnen, schwarzen Rauchschleier, der aber nicht von ei nem Feuer an Land stammte, son dern direkt aus dem Meer aufzustei gen schien. Im Bereich der Passage war das Meer ein wenig ruhiger, der weiße Schaum der Brandungswellen fehlte fast völlig. „Und eine Art Blitzen. Das Sonnen licht, Sir. Vielleicht gibt jemand Zei chen." Hasard drehte sich um und wies Pete Ballie an, so nahe wie möglich abzufallen, ohne daß Manöver nötig wären.
„Da treibt etwas direkt vor der Pas sage", murmelte Dan O'Flynn und blinzelte. „Ich sehe es nicht genau. Aber wenn's gebrannt hat, werden es wohl Leute sein." „Vielleicht Fischer", meinte Ha sard. Eine Viertelstunde später konnten sie mehr und deutlichere Einzelhei ten unterscheiden. Das Feuer war of fensichtlich ausgegangen, und es gab daher auch keinen Rauch mehr. Die Sonnenstrahlen lagen jetzt fast waa gerecht über dem Wasser und ließen den Sand rötlich schimmern. Immer wieder sank jenes Etwas, das vor dem Durchlaß schwamm, in die Wellentä ler zurück. Schließlich erkannten sie es deutlich. „Ein Floß aus allem möglichen Zeug", sagte der Seewolf. Und Dan setzte hinzu: „Mit einem Mann drauf. Er hat, scheint mir, eine Laterne. Im Glas spiegelt sich die Sonne." „Also dann", sagte Hasard in ver söhnlichem Ton, „halten wir darauf zu, damit Old Donegal doch noch eine echte Mumie aus dem Teich fischen kann." Er rief einige Kommandos hinunter zur Kuhl. Die Mannen eilten an die Schoten. Die Schebecke luvte zum Land hin an, die Segel wurden neu ge trimmt, und kurz darauf zielte der Bugsprit genau auf die Passage, etwa eineinhalb Seemeilen entfernt. Die Seewolfe riefen sich Fragen und Antworten zu. „Was ist los?" „Ein Schiffbrüchiger." „Wo?" „Recht voraus." „Lebt er noch?" „Kann man nicht erkennen." „Vielleicht doch eine dänische Mu mie." Der Seewolf verließ das Achter
23 deck, schob sich zwischen seinen Männern hindurch und stellte sich aufs Vordeck. Je mehr sich die Sche becke mit Wind von Steuerbord dem Ufer näherte, desto deutlicher bestä tigte sich, daß Dans scharfe Augen wieder einmal im richtigen Moment in die einzig mögliche Richtung ge blickt hatten. Ben Brighton und Dan folgten aufs Vordeck und hielten sich am Stag fest. „Also", sagte der Erste unruhig, „wenn der Bursche dort noch am Le ben ist, hat er Glück gehabt. Ver dammt viel Glück." Dan lachte kurz und versuchte, auf dem bockenden Deck so ruhig zu ste hen, daß er das Spektiv einwandfrei ausrichten konnte. „Glück!" sagte er scharf. „Ausge rechnet hier, wo alle Jahre einmal ein Schiff vorbeisegelt? Soviel Glück kann ein einzelner Mensch gar nicht haben. Dieser winzige Rauchfet zen . . . " „Wir holen ihn raus, ist wohl klar", unterbrach ihn Hasard. „Das Manö ver wird nicht ganz einfach sein." Jetzt sahen sie, was er meinte. Eine Gestalt lag zusammengekrümmt auf Latten, Spieren und Planken, die Kreuz und quer an drei Fässern befe stigt waren. Auf diesem wild zusam mengebastelten Floß befanden sich viele Pakete, die ähnlich aussahen wie Old Donegals angebliche Mumie. An eine Leine waren vier oder fünf Kisten geknotet, die das Floß hinter sich herzog. „Das Floß ist in der Strömung", stellte Edwin Carberry fest. „Seht ihr? Aus dem Fjord drückt das Fluß wasser. Der Ebbstrom hat ihn hinaus gezogen. Ich sage, daß auch die Lich ter aus dem Fjord stammten, Sir." „Durchaus möglich. Ed und Ben bereitet die Übernahme vor. Vermut
lich ist der Bursche halb ertrunken und erfroren. Wir müssen es schaf fen, ohne den Anker ausbringen zu müssen, klar?" „Klar, Sir." Von der Freiwache erschienen eini ge Seewölfe an Deck und wurden auf geklärt, was unmittelbar anlag. Zwei Jakobsleitern wurden ausgebracht, Wurfleinen und Bootshaken aus den Laschings genommen. Der Kutscher verschwand unter Deck und bereitete eine Koje vor. Als Feldscher wußte er, wie der Mann - oder war es etwa eine Frau? - zu behandeln war. Mac Pellew hängte seinen kleinsten Kes sel über die Glut und schöpfte einen Rest der Brühe hinein. „Riemen klar?" dröhnte die Stimme Carberrys übers Deck. Aufmerksam beobachteten sie alle das näherdriftende Floß. Der Mann rührte sich nicht, aber um sein Hand gelenk war das Ende geknotet, an dem der Griff einer brennenden La terne angebändselt war. „Er hat gewußt, was wichtig ist", brummte Hasard. „Licht in der Nacht - an dieser leeren Küste fällt es auf." „Aber auch nur, wenn die Arwe nacks vorbeisegeln", antwortete Ben. „Der Mann bewegte sich eben. Aber er hat uns noch nicht gesehen." „Wer weiß, wie lange er schon auf diesem Gammelfloß treibt und die Füße in die Nordsee hängt", setzte Hasard hinzu. Das Schiff segelte auf das Floß zu. Pete Ballie steuerte nach Lee und ver ständigte sich mit Hasard durch Handbewegungen. Die Seewölfe be reiteten sich darauf vor, den Schiff brüchigen an Steuerbord aufzuneh men. Die Zwillinge saßen neben den Jakobsleitern auf dem Schanzkleid und schlugen Knoten in die Sorglei nen, mit denen sie sich selbst sicher
24 ten. Schlingen aus Tauwerk hingen übers Schanzkleid. „Achtung. Klar zur Wende!" rief Hasard. Pete legte das Ruder. Die Sche becke glitt in dreißig Fuß Entfernung am Floß vorbei, ging in den Wind und wurde vom eigenen Schwung in ei nem Halbkreis geschoben. Noch im mer, tief im Wasser liegend, düm pelte das Floß an Steuerbord, jetzt aber in Lee des Schiffes. Die Segel schlugen und killten ge räuschvoll. Die Zwillinge enterten ab, während zwei Leinen über das Floß hinwegflogen. Die Lederbeutel und Augen verhakten sich irgendwo. Langsam wurde das Sammelsurium herangezogen, und erst jetzt, nach dem ihn ein dickeres Ende traf, rich tete sich der Schiffbrüchige auf. „Vorsichtig an die Bordwand zie hen. Sichert ihn mit Leinen!" rief Ha sard und hielt sich bereit, nach vorn zu springen und mitzuhelfen. Seine Söhne zogen das Floß mit dem Bootshaken heran. Dann, als die Kisten an die Bordwand polterten und das Floß nicht mehr abtreiben konnte, turnte Jung Hasard hinunter und legte schnell zwei Schläge um die Brust und unter den Armen des Man aes hindurch, der ihn anstierte und unverständliche Worte lallte. „Fertig!" Carberry, Ferris Tucker und Big Old Shane packten das Tau und zo gen mit großer Vorsicht, während Ha sards Sohn auf dem Floß versuchte, den Mann aufzurichten. Das Floß schwankte und fing an, sich in Einzel teile aufzulösen. „Weiter so! Richtig! Hierauf!" Die Rufe gingen wild durcheinan der. Der schwere Körper drehte sich, gelangte mit dem Rücken an die Bordwand und rutschte dort Hand breit um Handbreit höher. Auch Jung
Philip packte an, hängte sich den lin ken Arm des Mannes über die Schul ter und zog sich an den Sprossen der Jakobsleiter hoch. Schließlich saß der Fremde auf der Brüstung des Schanzkleides und kippte langsam nach hinten. Ein halbes Dutzend Hände fingen ihn auf. Die Tauschlingen wurden ge löst. Aus den Kleidern des Mannes lief und tropfte Seewasser. „Zieht ihm das Zeug aus. Und dann runter zum Kutscher", sagte Hasard. Die Seewölfe legten den riesigen Fi scher oder Seemann auf zwei zusam mengefaltete Decken, schnitten die Segeltuchjacke auf, rissen die Ärmel ab und versuchten, die Stiefel von den Beinen zu zerren. Schließlich mußten sie das aufgequollene Leder mit Messern aufschneiden. „Lebt er überhaupt noch?" fragte Old Donegal. „Natürlich. Und nach Schnaps stinkt er auch", erwiderte Big Old Shane. Die Seewölfe sagten sich, daß die vie len Packen, Ballen und Kisten wohl der wichtigste Besitz des Mannes wa ren. Sonst hätte er sie nicht auf dem Floß gestapelt und befestigt, so gut es ging. Hasard junior schnitt die Tam pen durch und hob ein Bündel nach dem anderen hoch. Die leichteren Packen warf er einfach über das Schanzkleid. Die Lampe splitterte, als er mit dem Absatz dagegenstieß und rollte klappernd über die Plan ken. Mit leisem Zischen versank sie im Wasser. „Hier!" rief Jan Ranse. „Für die Seemannskisten!" Hasard junior legte jeweils ein paar Schläge um die treibenden Kisten und schlang einen Knoten. Die Tru hen wurden an Bord gezogen und auf den Planken abgesetzt. Selbst die Fässer wurden belegt, und schließlich
25 war auch der letzte Packen an Bord. Mit einem Schwung packte Hasard die Sprosse der Leiter und zog sich hoch. Die Schebecke hatte, sehr langsam durchs Wasser schiebend, wieder ihre Drehung beendet. Krachend und polternd wurden die Fässer an Bord gehievt, während die Zwillinge die Jakobsleiter wieder ein rollten. Das Heck des Schiffes schwang weit herum, während die Dreieckssegel knallten und sich dann wieder mit Wind füllten. „Auf Kurs, Sir!" rief der Rudergän ger nach wenigen Atemzügen. An Steuerbord leuchteten noch ein mal die Dünen auf, vom letzten Son nenlicht getroffen. „Verstanden. Wir gehen heute nach Thyborön, Pete." „Aye, aye, Sir." Die Schoten wurden dichtgeholt und neu belegt. Im spitzen Winkel strebte die Schebecke vom Ufer weg und fuhr zunächst präzise Nordkurs, später fiel das Schiff um einen Strich nach Osten ab, um die Küstenlinie nicht ganz zu verlassen. Noch herrschte Zwielicht, aber in einer hal ben Stunde würden Mond und Sterne die einzigen Lichter sein.
Die Zwillinge und der Kutscher kümmerten sich, so gut und schnell sie konnten, um den Halbertrunke nen. Mit erheblicher Mühe hatten sie die starre, nasse Kleidung aufgeschnit ten und dem Schiffbrüchigen vom Körper gezogen. Sie hatten Erfah rung, wie in solchen Fällen zu helfen war. Jetzt lag der flach atmende Mann, in mehrere Decken eingepackt, auf der Koje. Zuerst hatte er immer wie
der versucht, sich zusammenzurollen und die Arme über die Knie zu legen. Der Kutscher hatte den Kopf des Mannes angehoben und flößte ihm mit einem Löffel heiße Brühe ein. Es gab keine Schwierigkeiten, der Fremde schlürfte und würgte die dünne Suppe herunter, ohne die Au gen zu öffnen. „Mac. Hole noch eine Schale voll", sagte der Kutscher, ohne sich umzu drehen. Drei Laternen brannten in der klei nen Kammer und verbreiteten Hellig keit und Wärme. Hasard junior zog den linken Arm des Mannes unter den Decken hervor und tupfte die zer schundene, aufgerissene und bleiche Haut mit einem Lappen ab, den er in warmes Süßwasser getaucht hatte. Auf die ärgsten Schnitte, Risse und Abschürfungen strich er vorsichtig eine gelbe Salbe, die ihm der Kut scher gegeben hatte. Hasards Bruder wickelte breite Leinwandstreifen um den Arm und verknotete die Enden unter der Ach sel. Dann schoben sie den Arm wie der unter die warmen Decken. Hinter ihnen tauchte der Seewolf auf und fragte besorgt: „Kommt er durch? Alles in Ordnung?" „Er wird es überstehen", erwiderte der Kutscher. „Hunger ist das beste Zeichen. Er ißt für zwei. Daß er tod müde ist, kannst du sehen." „Ihr macht das schon ganz richtig", lobte der Seewolf. „Wenn er auf wacht, könnt ihr ihm sagen, daß wir ihn in Thyborön an Land setzen und auch seine Habseligkeiten geborgen haben. Klar?" „Alles klar, Sir." Während die Zwillinge den ande ren Arm versorgten und die übel zu gerichteten Finger besonders dick einschmierten, verfütterte der Kut scher auch die zweite große Schale
26 „He, Mann, du kannst aufwachen. voller dickerer Suppe mit Fleisch brocken. Zwischen den Schluckbewe Bist in Sicherheit." Nils schob sich näher heran und gungen atmete der Fremde jetzt tie fer und langsamer. Die Gesichtshaut wiederholte die Worte in dänischer Sprache. verlor etwas von ihrer Blässe. „Drukne - bevidstlös drikke „Morgen wird er sich die Suppe aus lallte der Fremde. dem Bart kämmen müssen", sagte v a n d . . . " Hasard junior sachlich. „Ich dachte „Thyra..." schon, Big Old Shanes Bart wäre der Nils übersetzte: „Er hat Angst, daß längste aller Bärte." er ertrinkt und ohnmächtig wird. „Morgen hat der Unbekannte an Sein Trinkwasser ist zu Ende. Und dere Sorgen. Ich denke, er wird erst Thyra war eine dänische Königin, die Frau von König Gorm, wenn ich rich einmal einen Tag lang schlafen." Auch der zweite Arm war verbun tig aufgepaßt habe, damals." „Königin Thyra, das war vielleicht den. Brust und Rücken des Mannes sahen aus, als habe sie die dicke Klei der Name des Schiffes", meinte der dung geschützt. Die Haut fing an, Kutscher. wärmer zu werden. Dennoch zitterte Plötzlich schrak der Fremde zu der Schiffbrüchige noch immer. sammen, riß die Augen auf und „Noch ein Napf heiße Suppe, Kut stierte die Männer an. scher, und unser Freund hier beginnt „Was - wo bin ich?" fragte er. zu dampfen", meinte Philip. „Jetzt Nils beruhigte ihn. „In Sicherheit. sein rechtes Bein, Brüderchen." Wir haben dich aufgefischt. Und Sie versorgten die eiskalten Zehen, deine Bündel und Kisten auch." massierten den Fuß, verbanden eini Kraftlos sank der Mann wieder zu ge unbedeutende Wunden und stri rück und flüsterte etwas. chen Öl auf die vielen entzündeten „Er sagt, er heißt Bonger Oluvsen. Stellen. Seine beiden Decksleute sind tot. Das Einige Zeit später erschien Nils Schiff, die ,Thyra' ist zerbrochen. Larsen und erkundigte sich: „Hat er Felsen." schon gesprochen? Ich war in der „Sage ihm, wo wir als nächstes an Kleiderlast und denke, die Sachen legen", bat Philip junior. „Und dann passen ihm." soll er ausschlafen." „Also, Nils", entgegnete der Kut Nils übersetzte und sprach ein scher, „zuerst wird er die Überlebens dringlich auf den Dänen ein. suppe essen, dann, vielleicht, sagt er Bonger öffnete mit viel Mühe die uns seinen Namen. Dann wird er Augen einen Spalt und antwortete: lange unter den warmen Decken „Thyborön - gut. Dank für alles. Ich schlafen. Und erst dann können wir bin - so m ü d e . . . " daran denken, ihn neu einzukleiden." Er drehte den Kopf zur dunklen „Immerhin ist er mein Lands Seite der Koje und schlief augen mann", sagte Nils. blicklich ein. Nils schob sich rück „Danke für die Kleider", sagte Ha wärts aus der Kammer. sard junior und rüttelte, nachdem der „Holt mich, wenn ihr mich wieder Fremde auch den letzten Löffel braucht", sagte er. Auch Nils war be Suppe heruntergeschluckt hatte, ruhigt. Sein Landsmann schien das ohne seine Retter überhaupt anzuse Unglück einigermaßen gut überstan hen, ihn sachte an der Schulter. den zu haben.
27 „Natürlich. Tun wir. Seht ihr zu, spuckte nach Lee und entgegnete: daß ihr nicht an dem Kaff mit dem „Du siehst, daß es hier kaum Welthä unaussprechlichen Namen vorbei fen gibt. Die Fischer sind nicht auf steuert", mahnte ihn der Kutscher Besuch in der Nacht wild." „Ich hab's schon gemerkt", und lehnte sich zurück. „Der erste nach langer Zeit, der sich nicht über brummte Philip Hasard Killigrew. „Trotzdem müssen wir den Ort fin das Essen beschwert hat." „Für lange Zeit der einzige", be den." kräftigten die Zwillinge. Sie wischten „Spätestens am Tag sehen wir, wo's sich die salbentriefenden Finger ab hineingeht", tröstete ihn der Ruder und ließen Bonger Oluvsen in Ruhe gänger. schlafen. Als sie an Deck standen, „Das habe ich eigentlich nicht vor." herrschte bereits tiefe Dunkelheit. Die Schebecke lief noch immer „Auf nach Thyborön", meinte Jung Nordkurs. Nach den niedrigen Dünen Philip. „Dort wird uns Bonger wohl vor dem kleinen Stora-Fjord sollten auch erzählen, was er mit seinem sich nach der Karte bis zum „Limfjor Boot angestellt hat." den" nichts anderes als flache Uferzo „Mir wäre schon recht, wenn Mac nen erstrecken, unbesiedelt und san uns sagen würde, ob es noch etwas zu dig, gelegentlich vor der Kulisse der essen gibt." Wälder, die sich dahinter ausbreite „Hast recht. Mir knurrt auch der ten. Magen." Der Nachthimmel war einigerma Das Schiff, durch drei helle Later ßen klar, es gab keinen Nebel. Im nen hinreichend gut sichtbar, lief vor Mondlicht sah Hasard hin und wieder raumem Wind nach Norden. In eini den weißen Sand einer Düne oder das gen Stunden sollten an Steuerbord kalkige Gestein einer niedrigen Klip Thyboröns Häuser auftauchen. Die penwand. Mehr nicht. Jütlands West Seewölfe wußten, daß Hanstholms küste blieb auch in dieser Höhe dünn Hafeneinfahrt von Feuern gekenn besiedelt und wenig aufregend. zeichnet war. Ob dies auch für den „Harboör Tange, so nennen sie die nächsten, viel kleineren Hafen zutraf, Landzunge. Soll flach sein", erklärte wußte niemand. der Seewolf und spähte wieder durch das Spektiv. „Und noch immer kein Licht." Er wartete nicht gerade auf riesige 4. Leuchttürme, aber zumindest im Ha Einige Stunden später tränten die fenbereich sollte es einige beleuch Augen des Seewolfes vor Anstren tete Fenster oder Wirtshausschilder gung. Er setzte das Spektiv ab, schob geben. Oder vielleicht Fischer, die im seine Mütze in den Nacken und kniff Fjord mit Licht fischten, um größere die Lider zusammen. Fische anzulocken. „Wenigstens ein winziges Licht „Wir sind ganz in der Nähe", könnten die Fischer ausbringen", be meinte Stenmark. „Kannst du wirk klagte er sich. „Stockduster. Nichts lich nichts erkennen, Sir?" zu sehen. Und da soll man noch Spaß „Ich habe nicht Dans Augen, und an einer guten Tat haben." der hat Freiwache", antwortete der Stenmark stand jetzt an der Pinne. Seewolf. „Aber wenn es etwas zu se Der Schwede hob die Schultern, hen gibt, werde ich es sehen."
28 Das Land war etwa eine Seemeile entfernt. Hasard beobachtete jeden Quadratfuß der Brandung, des San des und der Dünenhänge. Nach eini ger Zeit sah er im Hintergrund der abfallenden Sandstreifen das Ster nenlicht und das Mondlicht in winzi gen Reflexen. Schwach zeichneten sich hinter dem ruhigen Wasserspiegel ei ner gerundeten Fläche hellere Vier ecke ab. Es mußten Hausfronten sein. Schließlich konnte er Schatten erken nen und winzige Fenster, hinter de nen schwache Lichter brannten. „Das ist fast so spannend wie eine Weltentdeckung", sagte der Seewolf brummig und blickte auf den Kom paß. „Dieses Fischerdorf gibt es also wirklich. Wir gehen in einer halben Stunde auf Ostkurs, klar?" „Aye, aye, Sir", lautete die Ant wort. Das Schiff glitt weiter nordwärts, und die Seewölfe ließen sich von Ha sard darüber unterrichten, was er ge sehen hatte. War es wirklich der Ort, den sie suchten? Weit und breit gab es keine andere Siedlung. Also mußte es sich um Thyborön handeln. Zuerst wurde das Großsegel gestri chen und die Rahrute aufgetoppt. Dann schwang die Schebecke herum und näherte sich sehr viel langsamer der niedrigen Landzunge und dem winzigen Hafen. Unter Deck schlief Bonger Oluvsen noch immer, tief und fest. So tief, daß er nicht einmal schnarchte.
Ein Fischer, der betrunken den Krug verließ, sah das hell beleuchtete Schiff zuerst. Er blieb schwankend stehen, drehte sich dann um und torkelte auf den Krug zu. Er fing laut zu rufen an. „Ein fremdes Schiff! Es wendet im
Hafen! Kommt heraus, seht euch das an!" Die Seewölfe erkannten im Licht der eigenen Laternen die wenigen Möglichkeiten, die sie hatten. Mit dem Bug voran driftete die Sche becke an die ersten Poller heran. Drei Leinen wurden ausgebracht und blitzschnell belegt, als die Segel kill ten. Majestätisch langsam beschrieb das Heck um den Drehpunkt einen Drittelkreis und stieß sanft an die Poller im hinteren Teil des Hafens. Hasard und Ben Brighton standen achtern, schwenkten eine Laterne und ließen Nils Larsen übersetzen. „Wir bringen Bonger Oluvsen und das, was von seiner Ladung übrigge blieben ist. Er braucht ein Bett und einen Laderaum." Batuti, Big Old Shane und der Kut scher schleppten Bonger an Deck. Ge meinsam hatten sie ihm die gebrauch ten Kleidungsstücke angezogen. Er war immer noch nicht ganz wach. Am Strand liefen die Bewohner des Ortes zusammen. Er bestand wirklich nur aus einem Dutzend Häuser. Es stank durchdringend nach Fisch. „Helft uns!" rief Nils. „Es ist Bon ger Oluvsen. Seine ,Thyra' ist unter gegangen." Der Name „Thyra" weckte Oluvsen ganz plötzlich auf. Er blieb am knir schenden Steg stehen, drehte sich herum und schien zum erstenmal die Schebecke wirklich zu sehen. „Meine Männer", sagte er dumpf. „Sie sind beide tot. Genick gebro chen. Ertrunken. Der Felsen im Durchlaß..." Die Seewölfe stemmten die Ballen und Packen hoch. Verwirrt halfen ih nen die Fischer und stapelten das Zeug irgendwo am Rand des Hafens, vor den Häusern, unordentlich über einander. „Du hast dein Schiff verloren?
29 Weg? Untergegangen?" rief ein Fi scher. „Ich war nicht am Ruder", erklärte Oluvsen und ließ sich von Batuti langsam über den wackligen Steg führen. „Die da haben mich aufge fischt." „Bravo! Gute Leute!" schrie der be trunkene Fischer. „Aber keine Dä nen!" „Gebt ihnen Fisch. Und Schnaps." Der Seewolf schwang sich über das Schanzkleid und ging mit langen Schritten auf Oluvsen zu. Unter dem Arm trug er das dicke Bündel, das sie aus der See gefischt hatten - Old Do negals „Mumie". Oluvsen schüttelte immer wieder den Kopf, als könne er auf diese Weise seine Gedanken sammeln. Dann starrte er Nils Larsen an. „Du hast mir geholfen, nicht wahr? Mein Kopf. Ich habe vergessen. Du kannst dir denken, daß ich ruiniert bin." „Nicht ganz, Oluvsen", entgegnete Larsen. „Wir haben alles, was auf dem Floß war, gerettet. Dort drü ben." „Wie? Gerettet? Wirklich?" Oluv sen schrie beinahe. Dann zuckte er zu sammen und preßte die Fäuste gegen die Schläfen. „Ich erinnere mich. Das Vermögen ist weg. Ich habe etwas mitgenom men, für die Kirche von Ringköbing. So teuer - alles verloren." „Wir fanden deine Silberleuchter", sagte Hasard knapp. „Vier Leuchter?" erkundigte sich keuchend der Schiffer. Nils und der Seewolf nickten schweigend. „Ihr habt sie wirklich?" „Der Packen trieb im Wasser. Wir haben uns gewundert. An Bord haben wir wenig Verwendung dafür." Als Hasard dem Dänen das schwere
Paket gab, ließ Oluvsen es fast fallen. Er war verwirrt und stotterte. Der Seewolf grinste, in dieser Sprache klang das Stottern besonders ko misch. Schließlich wandte sich Nils an die Fischer und erklärte, deutlich und langsam redend: „Laßt ihn ausschla fen. Er ist noch lange nicht wieder ge sund. Wir haben ihn verbunden. Ach so, Sir. Bleiben wir eigentlich hier? Bis zum Morgen?" Der Seewolf winkte ab, drehte sich um und untersuchte, wie sicher die Schebecke lag. Der betrunkene Fi scher oder ein anderer, der ebenso viel getrunken hatte, beruhigte ihn. „Euer Schiff wird nicht weg schwimmen. Die Poller halten. Bleibt bei uns. Trinkt einen Schluck im Krug." „Von mir aus", sagte Hasard. Nils, Batuti und der Gerettete schwankten über die klappernden Bretter des Steges bis auf die sandige Dorfstraße. Ein breitschultriger Fi scher schob sich durch die Zuschauer und winkte Nils. „Er kann in mein Haus. Ich habe eine Kammer frei. Natürlich kennen wir ihn gut. Er kommt mit seinem Schiff vorbei und erledigt Geschäfte von Hafen zu Hafen. Ist ein guter, ehr licher Kerl. Jetzt weiß er nicht, was er sagt - zu lange im Wasser." Nils antwortete, ohne vorher über setzt zu haben. „Das wissen wir. Wir bleiben bis zum Morgengrauen im Hafen. Haben wir Schwierigkeiten mit der Ebbe?" „Nein. Das Wasser bleibt hoch ge nug. Habt ihr noch etwas von der ,Thyra' gesehen?" „Nichts mehr." Sie brachten Oluvsen weg, und als der Dorfälteste später in den Krug kam, fand er nur neun Seewölfe, die
30 beim Bier saßen. Alle anderen waren unter Deck oder gingen Wache.
Ganz plötzlich erwachte Bonger, schrak zusammen und sprang auf. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er brauchte lange, um sich zu erin nern und herauszufinden, wo er war. Das fremde Schiff! Seine Lebens retter. Er mußte unbedingt mit ihnen sprechen und ihnen danken. Er torkelte durch das halbe Zim mer, riß die Tür auf und lief in dicken Socken über die Dielen und hinaus auf die Straße. Es war hell, aber die Sonne zeigte sich noch nicht. Gerade verschwand das Schiff in einem dün nen Landnebel. Er sah noch das Ru der und das Grätingsdeck. Als er über den Steg rannte, schrie er aus vollen Lungen: „He! Danke euch, Freunde! Danke, Nils. Sage es dem Kapitän. Ich erinnere mich an al les. Gute Fahrt, ihr alle . . . " Die Antwort, die der Rudergänger durch den Nebel schrie, verstand er nicht. Als er seine Hände in die Jak kentaschen steckte - er merkte, daß es ihn fror, und er lief wieder auf die Haustür zu -, ertasteten seine ver schorften Finger etwas Rundes, Har tes. Er zog das Ding hervor und wog es in der Hand. „Eine Goldmünze", flüsterte er überwältigt. „Eine fremde Gold münze. So schwer . . . " Wie sie in die Jackentasche hinein gelangt war, wußte er nicht. Aber er war ganz sicher, daß er sie den Frem den nicht gestohlen hatte. Ein neues Boot erhielt er dafür nicht, aber viel leicht reichte es als Anzahlung für ein ausgemustertes Fischerboot, Obwohl er immer noch müde war und jeder Knochen schmerzte, jeder Muskel und jede Handbreit der Haut,
konnte er nicht mehr schlafen. Sein Begreifen war sehr gründlich und ging tief, und er brauchte lange dazu. Schließlich verstand er, daß er am Vortag dank der fremden Männer zum zweitenmal geboren worden war.
Eine Stunde nach Mittag sichteten sie nach langer Zeit wieder einmal ein Schiff. Noch während Ben Brighton ver suchte, die Nationalität und die Bau art zu erkennen, erschienen hinter der Kimm die Segel von zwei weite ren Schiffen. „Gleich drei und in Linie." Er wun derte sich und wich nach Backbord aus, um freies Sichtfeld zu haben. „Und nicht ganz auf Gegenkurs." Sie segelten seit drei Stunden einen anderen Kurs. Zuerst lag Nord an, jetzt waren sie einen Strich nach Osten abgefallen und erkannten, daß nach Hanstholm die Küstenlinie ebenfalls nach Osten zurückwich. Eine Einbuchtung schwang sich vier telmondförmig ins Land hinein und würde bei Hirtshals wieder auf die angelegte Kursgerade treffen. Der Rudergänger rief: „Wir nähern uns dem Skagerak! Bei Skagen run den die Schiffe das Kap. Sie kommen aus der Baltischen See." „Das hat Dan uns erklärt", ant wortete der Erste. „Sie sehen wie nie derländische Fleuten aus." Es dauerte längere Zeit, bis die See wölfe genauere Einzelheiten unter scheiden konnten. Die Bordwände der Schiffe, die etwa viermal so lang wie breit schie nen, liefen nach oben stark eingezo gen zu. Ein löffelartig rundes Heck schloß das Deck ab, das nach achtern steil anstieg. Die Fockmasten und die
31 Großmasten trugen jeweils drei Rah segel, und es gab ein Segel am Besan mast an der Schrägrah. Die Lein wand war trapezförmig geschnitten. Der Wind, der die Schebecke nach Norden schob, zwang die drei Frem den, gegenan zu kreuzen. Sie halsten fast gleichzeitig und richteten die Klüverbäume nach Süd ost. Jetzt liefen sie Kollisionskurs. „Bill!" rief der Erste. „Wecke den Seewolf auf. Und Al Conroy soll zu mir kommen." „Aye, Ben." Zuerst erschien der Stückmeister, schaute lange durch das Spektiv und erklärte selbstbewußt und nach drücklich: „Wir müssen damit rech nen, daß sie ohne Warnung angreifen. Sieh genau hin: sie machen ihre Cul verinen klar. Nur die unteren Stück pforten sind verrammelt. Das sind aber nur bewaffnete Kauffahrer," „Ich sehe es. Erkennst du schon die Flaggen?" „Noch nicht deutlich genug", erwi derte Conroy und fuhr mit der Hand über sein stacheliges Kinn. „Ich richte die Culverinen ein." „Zur Vorsicht." Diese Niederländer, dachte Philip Hasard Killigrew, als er den Nieder gang aufenterte. Auch hier waren ihre Schiffe zu finden. Er war sicher, daß es sich um Kauffahrer aus den niederländischen Nordprovinzen handelte, die auf die Schebecke zuse gelten und für Aufregung und Un ruhe sorgten. Er selbst dachte nicht im Traum daran, sich mit den Niederländischen anzulegen. Aber ihre schnelle Bereit schaft, die Kanonen zu benutzen, ließ ihn aufmerken. Der strohblonde Piet Straaten schwang sich aufs Grätingsdeck und musterte die drei dickbäuchigen Schiffe.
„Zwei Fleuten und ein Pinaßschiff, das mit dem eckigen Heck. Was su chen meine Landsleute vor Thybo rön?" Der Seewolf schüttelte den Kopf und hob das Spektiv. „Sie segeln wohl nach Amsterdam und London. Sie sind die uneinge schränkten Beherrscher der Meere, wenn es um den Handel geht." „Also haben sie Angst um ihre La dung", meinte Piet und strahlte den Seewolf aus seinen grünen Augen an. „Ich habe ihre Farben gesehen. Kein Zweifel. Niederländer", stellte der Seewolf fest. Al Conroy und seine Crew hatten die Persenning von jedem Geschütz entfernt und füllten Pulver in die Zündlöcher. Ben Brighton schüttelte verwirrt den Kopf und fragte: „Kann es sein, daß sie uns mit einem anderen ver wechseln?" „Natürlich!" Der Seewolf lachte dröhnend. „Mit Piraten!" „Aber wir könnten sie doch fragen, ob sie das schwarze Schiff gesehen haben", schlug Piet Straaten vor. „Das habe ich vor. Angesichts ihrer Geschütze fällt mir aber kein freund schaftliches Signal ein." Von der Kuhl her rief Al Conroy, seinen Arm hochreckend: „Klar schiff, Sir. Culverinen bereit." „Verstanden. Zuerst versuchen wir's auf gütliche Art." Noch waren die Niederländer nicht auf Schußentfernung heran. Piet Straaten wandte sich zu Ha sard um und fragte: „Ich will versu chen, mit ihnen zu reden. Ich kenne ihre Signale nicht, aber ich kenne die Niederländer." „Versuch's", forderte der Seewolf ihn auf. „Viel Zeit hast du nicht mehr." In unzähligen Schenken sprach
32 man davon, die Kapitäne vieler Schiffe in vielen Häfen redeten dar über, und in den Handelshöfen wußte man sehr genau, welche Handelswege die Niederländer sich und denen er öffnet hatten, die ihre Waren brauch ten und kauften. Die Flotte des Kö nigs von Spanien vermochte nicht, die niederländischen Häfen zu sper ren. Selbst im Mittelmeer segelten die Kauffahrer der niederländischen Nordprovinzen. „Soll ich den Kurs ändern?" fragte Gary Andrews, der Rudergänger. Hasard sah, wie Piet Straaten mit einem Spiegel und einem großen Stück weißem Tuch entlang des Schanzkleides lief und sich am Bug aufstellte, zusammen mit den Zwil lingen. „Nein. Auf keinen Fall. Wir müssen nicht kreuzen." Die drei Kauffahrer segelten in Kiellinie. Wenn sie im Lauf der näch sten Viertelstunde wieder einen Schlag aufs Meer hinaus fuhren, wür den alle Schiffe einander die Breitsei ten zeigen. Woher stammte diese Be reitschaft, angesichts eines einzelnen fremden Schiffes sofort die Ge schütze auszufahren? „Sie kommen von Skagen, nicht wahr?" fragte Gary Andrews. „Ganz sicher. Nachdem sie den en gen Sund zwischen Seeland und Schonen passiert haben, bei Hälsing borg. Dort muß jedes Schiff den We gezoll zahlen", erklärte Hasard. Leichthin meinte der Rudergänger, mehr im Scherz als im Ernst: „Viel leicht haben sie den Wikinger getrof fen. Und jetzt stoßen sie schon wieder auf einen fremden Schiffstyp. Das stimmt sie mißtrauisch. Aber viel leicht sind sie wirklich von Thorfin angegriffen worden?" „Das kann die Erklärung sein", murmelte der Seewolf.
Das Wetter hatte sich seit den ersten Morgenstunden kaum geän dert. Der Wind aus dem südwestli chen Quadranten wehte stetig, aber nicht zu stark. Die kleinen Kreuzseen wurden vom Bug der Schebecke durchschnitten, während sich das Schiff in der weiten, niedrigen Dü nung wiegte. Sie würden ein gutes Et mal zurücklegen, wenigstens an die sem Tag. Wenn sich nicht die Kauffahrer ih nen in den Weg stellten. Piet Straaten blinkte mit dem Spie gel aus Venedig zu seinen Landsleu ten hinüber. Dann stellte er sich gut sichtbar vor die Fock und schwenkte das weiße Tuch hin und her. Als er bemerkte, daß die Steuerleute und die Kapitäne der Schiffe ihn gesehen hatte, klemmte er das Tuch wieder unter die Achsel und blinkte weiter. Einige Atemzüge später sahen die Seewölfe, wie die Decksleute zu ar beiten anfingen. Noch hallte kein Laut über das Wasser. Die drei Fleu ten änderten den Kurs, führten das nächste Manöver durch, würden bald vor dem Bug der Schebecke kreuzen und in der besten Feuerposition sein. „Al! Keine voreiligen Grüße!" rief Hasard warnend. „Aye, aye, Sir. Bin aber bereit dazu." „Das glaube ich gern." Unentwegt blickten Hasard und Ben Brighton durch die Spektive. Die Männer trimmten die Segel, belegten die Schoten und stellten sich an die Geschütze. Rauch der glimmenden Lunten kräuselte sich an Deck. Ebenso unentwegt versuchte Piet, den Niederländern zu signalisieren, daß die Schebecke keinen Angriff be absichtige. „Seltsam", brummte Hasard. „Sie sind auch nicht ganz sicher, was sie tun sollen."
Hier haben wir einen „Aussteiger-Brief", den wir dennoch bringen, weil der Absen der Hefte tauschen will. Es handelt sich um G L , weg , 8625 Gestungs hausen. Er schreibt: An die Seewölfe-Redaktion und die Börse. Mein Name ist G L .Baujahr 49. Ich lese eigentlich mehr auf der anderen Sei te, nämlich Perry Rhodan. Zur Sache. Ich suche Band 10 der FOX-Serie und Band 21 und 24 der Killigrew-Serie. Aus Tausch kann ich anbieten Band 3,7 und 8 der FOXSerie und aus der Killigrew-Serie Band 12, 13,15-18, 25 und 28. Mir liegt daran, mög lichst zu tauschen, bei normalen Preisen kaufe ich auch. Außerdem bin ich sehr an der TB-Serie interessiert. Von Killigrew ha be ich noch viele Romane zwischen Band 200 bis ca. 500. Noch etwas zur Serie selbst. Ich bin mit Fox eingestiegen und war ganz begeistert. Das war mal was anderes. Killigrew war am Anfang auch spitze, aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer mit diesen ,,Schlagetots und Hasardeuren". Die TB-Serie war be deutend besser. Ich wunderte mich eigent lich immer wieder, daß dieselben Autoren solche unterschiedlichen Geschichten her ausbrachten. Schade, daß sie eingestellt wurde. Aber wie gesagt - alles Geschmacks sache. Ich lege ein Rückantwortkuvert da zu. Wenn es möglich ist, können Sie mir ja schreiben, wann ich mit einer Antwort auf meine Angebote rechnen kann, da ich Killi grew nicht mehr lese. Weiterhin wünsche ich Ihnen noch viel Erfolg, und jetzt bleibt mir nur die Hoffnung, daß der gute Howard Bonty wieder aus der Versenkung erscheint. Mit freundlichen Grüßen -G L Schade, daß Herr L den „Killigrew" nicht mehr liest, der am Anfang „spitze" war, aber mit der Zeit immer schlimmer wurde mit „diesen Schlagetots und Hasar deuren". Das, liebe Freunde, ist mal wieder so eine Kritik, mit der wir viel anfangen können - nämlich gar nichts. Und hier ist einmal anzumerken, daß es zwischen Hef
ten und Taschenbüchern ebenso große Un terschiede gibt wie zwischen Taschenbü chern und dicken Buchromanen. Heftro mane sind in diesem Sinne Kurzgeschich ten. Alles Geschmackssache - wie Herr L schreibt. Aber wir sind leider nicht in der Lage, sein Rückantwortkuvert zu benutzen, um ihm mitzuteilen, wann er „mit einer Antwort auf seine Angebote rechnen kann". Denn wir sind nicht Old O'Flynn, um hinter die Kimm zu spähen, wann eine solche Ant wort erfolgt. Also: wir waren so freundlich, sein Tauschangebot an dieser Stelle zu ver öffentlichen, mehr können wir aber leider nicht tun. Und unter „Kritik" möchten wir gern etwas Konstruktives verstehen. Daß die BontySerie etwas anderes darstellt als die Killi grew-Serie, das wissen wir. Und daß es in der FOX-Serie nur so von „Schlagetots" wimmelte und das Blut aus den Speigatten abfloß, das wissen wir auch, nur hat das Herr L offenbar übersehen. Man kann drei völlig unterschiedlich angelegte Se rien mit ihren Helden und Bösewichten nun wirklich nicht über einen Kamm sche ren. Und man kann aus einer Bonty-Serie keine Killigrew-Serie (oder umgekehrt) machen. Eine Roman-Fortsetzungsserie, die wö chentlich erscheint ist auch etwas völlig an deres als ein monatliches Taschenbuch. Die Killigrew-Serie spielt zur Zeit Elisa beths I., die Bonty-Serie begann zur Zeit Karls I. (1629), und die FOX-Serie spielte zur Nelson-Zeit. Schon aus dieser zeitli chen Konstellation ergeben sich gravieren de Unterschiede. Offenbar wird das von un seren „Kritikern" immer wieder übersehen - genauso wie die unterschiedliche Anlage der Hauptpersonen dieser drei erwähnten Serien. Die Vergleiche hinken! Das wollten wir hier einmal feststellen. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
In der letzten Seemannskiste - SW-Nr.615 - stellten wir unseren Lesern eine Brigg vor, nämlich einen Segelschiffstyp mit zwei vollgetakelten Masten, also mit Rahsegeln versehen. Auf den beiden vorigen Seiten dieser Seemannskiste zeigen wir nun eine Abwandlung der Brigg, näm lich die Schoner-Brigg, auch Brigg-Schoner oder Brigantine genannt. Die beiden ersten Bezeichnungen verraten bereits, um was für einen Typ es sich handelt: um eine Mischung zwischen Brigg und Schoner. Der Unterschied besteht in der Takelung. Die Schoner-Brigg führt am vorderen Mast, dem Fockmast, Rahsegel. Er ist also vollgetakelt. Am hinteren Mast hingegen, dem Großmast, werden Gaffelsegel gefahren. Vorn ist die Schoner-Brigg somit ein Rahsegler, achtern ein Schratseg ler, das heißt, hier sind die Segel in Längsrichtung des Schiffes gestellt. Schoner-Briggs oder Brigantinen segelten um die Jahrhundertwende auf europäischen und atlantischen Routen. Ihre Entstehung wird aller dings auf ein Jahrhundert früher datiert. Die Buchstaben bedeuten: A Außen-Klüverstampfstag, B Klüver stampfstag, C Stampfstockachterholer, D Wasserstag. Die Nummern bedeuten: 1 Außen-Klüverbaum, 2 Klüverbaum, 3 Bug spriet, 4 Stampfstock, 5 Fockmast, 6 Vor-Marsstenge, 7 Vor-Bramsten ge, 8 Vor-Royalstenge, 9 Fockrah, 10 Untermarsrah, 11 Obermarsrah, 12 Bramrah, 13 Royalrah, 14 Großmast, 15 Großstenge, 16 Groß-Bram stenge, 17 Großbaum, 18 Großgaffel, 19 Außenklüver, 20 Großer Klü ver, 21 Binnenklüver, 22 Vor-Stengestagsegel, 23 Fock, 24 Untermars segel, 25 Obermarssegel, 26 Bramsegel, 27 Royalsegel, 28 Groß-Stagse gel, 29 Mittel-Stagsegel, 30 Groß-Stengestagsegel, 31 Groß-Bramstag segel, 32 Großsegel, 33 Gaffeltoppsegel, 34 Vor-Royalstag, 35 VorBramstag, 36 Klüverstag, 37 Binnen-Klüverstag, 38 Vor-Stengestag, 39 Fockstag, 40 Fockwant, 41 Vor-Stengepardunen, 42 Vor-Bram- und Royal-Pardunen, 43 Großstag, 44 Mittel-Stagsegelleiter, 45 Groß-Sten gestag, 46 Groß-Bramstag, 47 Großwant, 48 Groß-Stengepardune, 49 Groß-Brampardune, 50 Fockbrassen, 51 Untermarsbrassen, 52 Ober marsbrassen, 53 Brambrassen, 54 Royalbrassen, 55 Piekfall und 56 Baumdirk.
37 Der Seewolf glaubte, zumindest „Was haben wir davon, wenn wir hier einen Kauffahrer voller Korn drei Worte richtig verstanden zu ha säcke entern oder versenken?" mel ben. Pirat. Nicht feuern. Dann waren die Schiffe aneinander dete sich Gary Andrews. Trotz des Winkens gerieten die Nie vorbei. Die Schebecke ging zwischen derländer im falschesten Augenblick dem Heck des ersten und dem Bug inhelle Aufregung. Sie zündeten ihre des zweiten Kauffahrers in Lee, der Geschütze in überraschend kurzen Abstand wuchs, und wieder bewegte Abständen. Stichflammen und der Rudergänger die Pinne. Sie liefen wieder mit achterlichem grauer Rauch fuhren aus den Mün dungen, und die Geschosse der vier Wind. Piet hastete zum Grätingsdeck Backbordstücke heulten über die und rief schon vor dem Niedergang: Schebecke weg oder schlugen harm „Ein Mißverständnis, Sir. Sie sind los ins Wasser. Sie waren mehr als vom Wikinger beschossen worden." schlecht gezielt. „Sie hielten uns für Piraten?" rief „Ruder hart Backbord!" schrie der Hasard und grinste. „Ja, natürlich. Aber sie waren nicht Seewolf. „Wir bekalmen sie. Dann sicher. Vor einigen Tagen hat sie kann Piet reden." In blitzartiger Geschwindigkeit Thorfin im Skagerrak überfallen. führten die Seewölfe die einzelnen Sie entkamen mit Mühe und Not." Piet steckte den Spiegel wieder ein Segelmanöver aus. Die Schebecke legte sich schwer über, fing sich wie und berichtete weiter: „Sie bringen der und segelte einen Kurs in Luv des Getreide und Felle nach London. Sie Niederländers. Mitten im verwehen kommen aus Narwa, weit im Osten.'' ,,Und warum haben sie geschos den Rauch aus den Mündungen rauschte das Schiff mit den Lateiner sen?" Die beiden anderen Kauffahrer be segeln heran und nahm dem Handels fahrer den Wind aus den Segeln. Auf fanden sich achterlicher als dwars Rufweite heran, begannen die See auf der Steuerbordseite. Sie zeigten wölfe zu winken. Sie zeigten, daß sie keine Anstalten, die Schebecke mit unbewaffnet waren, obwohl Al Con Fernschüssen einzudecken. Hasard roy mit rauchender Lunte hinter der hatte einigen Respekt vor den be Culverine stand. Ihre Mündung deu waffneten Kauffahrern, meist ver tete genau auf das Heckkastell der standen sie hervorragend, sich zu wehren, denn die Kapitäne waren oft Fleute. Piet Straaten begann zu brüllen. Er Besitzer der Schiffe oder der Ladung, unterbrach seine Schilderung mit und für sie ging es um riesige Sum drastischen niederländischen Flü men. chen. Begeistert hörten die Seewölfe „Sie wollten uns auf Abstand hal zu. Langsam rauschten beide Schiffe ten. Der Kapitän hat sich entschul aneinander vorbei. Die Seeleute des digt und wünscht gute Fahrt. Er hat Niederländers waren über die Menge einen Eisberg gesehen, sagt er." der Crewmitglieder des anderen „Das ist denkbar, aber sehr un Schiffes erschrocken, kaum mehr als wahrscheinlich", meinte Hasard und ein gutes Dutzend befand sich auf beobachtete die Fleuten durch das dem Kauffahrer. Spektiv. Die Niederländer waren un Der Kapitän der Fleute schrie ruhig, aber sie schienen nicht mehr zu ebenso laut wie Piet Straaten. glauben, daß das Schiff mit den Mit
38 telmeersegeln ihnen gefährlich wer den konnte. „Also sind wir auf dem richtigen Kurs. Wikinger voraus", sagte la chend Gary Andrews. „So ist es." Al Conroys Hand beschrieb eine Geste, die besagen sollte, daß alle seine Anstrengungen sinnlos gewe sen waren. Er kniff die Lunte ab und winkte seiner Crew. Bedächtig fingen sie an, auf der Backbordseite wieder die Schutzhüllen über die Culverinen zu ziehen, nachdem sie die trockenen Sandsäcke in die Mündungen ge steckt hatten. Etwas weniger laut erklärte Piet Straaten dem Kapitän: „Sie waren zu Tode erschrocken, schon wieder ein Schiff zu sehen, das nicht in diese Ge wässer paßt. Ihre Felle sind mächtig teuer, deswegen sind sie besonders wachsam. Pfeffersäcke also. Aber gute Seeleute, wenn sie so lange Rei sen riskieren." „Immerhin hat Cornelius Hout mann vor drei Jahren mit Hilfe portu giesischer Karten, die bisher geheim gehalten wurden, den Seeweg nach Indien für die Holländer gefunden. Die Spanier ärgern sich zu Tode über ihre einstigen Untertanen." „Außerdem hilft den Niederlän dern die englische Königin", meinte Piet. „Alles klar, Sir?" „Sieht so aus. Jedenfalls gibt's bei uns wenig Langeweile", antwortete der Seewolf und rief ein paar Kom mandos, Die Freiwache verzog sich bis auf wenige Ausnahmen unter Deck. Die Wache und der Rudergänger brach ten die Schebecke auf einen Kurs, der etliche Grade weiter nach Osten führte. Irgendwo voraus - Dan O'Flynn fing zu rechnen und zu peilen an - lag der nächste Hafen: Hirtshals, der
letzte Ort vor Skagen, in dem an die sen leeren Küsten Menschen wohn ten.
Die Handelsfahrer liefen alle Häfen des Baltischen Meeres an. Neun von zehn Schiffen waren in diesen Jahren Niederländer, denn die Hansekoggen wurden von Jahr zu Jahr seltener. Man sagte, daß der gesamte Handel zwischen Nord und Süd in diesen westlichen Ländern fast nur von Nie derländern abgewickelt würde. „Die Mutter der Kommerzien" nannten die Holländer den Handel in der Ostsee. Narwa und Reval, Riga und der Ha fen Königsberg, Danzig oder Stock holm - von dort kamen sie, dorthin segelten die dickbauchigen Schiffe mit kleiner Besatzung und geladenen Geschützen, Die Laderäume waren voller Holz oder Flachs. Eisenbarren und Kup ferbarren ersetzten die Steine, die sonst als Ballast gefahren wurden, Hanf und die kostbaren Felle seltener Tiere kamen aus Rußland nach Lon don und Amsterdam. Und viel Ge treide aus den fruchtbaren Äckern der Länder an den Küsten des „Balti cums". Der kürzeste Weg führte durch den gefährlichen Öresund, Helsingborg auf schwedischer und Helsingör auf dänischer Seite, zwei Städte, be wachten die enge Passage und strit ten sich um den Zoll, den die Handels kapitäne zu entrichten hatten. Gegenwärtig, hatte Philip Hasard Killigrew erfahren, gab es keinen Streit, denn beide Städte schienen fest in dänischer Hand zu sein, Ob es so war oder nicht, die Arwenacks blieben von diesen Streitereien unbe rührt. Sie würden weder für den ei
39 nen noch für den anderen Partei er greifen. Sie waren frei und legten ihre Kurse, wie es ihnen paßte - mit sehr wenigen Ausnahmen. Überdies befand sich die Sche becke an einer Küste, die mit alledem nichts zu tun hatte. Hier lebten nur Fischer und Bauern. Hinter Lökken und Hjörring sollte sich, glaubte Ha sard den Gesprächen und Schilderun gen aus den Wirtsstuben, ein riesiges Moor ausbreiten. Die Küste vor Hirts hals war ebenso langweilig und öde wie der Abschnitt zwischen diesem Hafen und Skagen, dem letzten Ort auf dieser Halbinsel im Norden. Würden sie etwa dort auf Thorfin Njal stoßen? Sicher nicht. Er war bestimmt wei tergesegelt und ärgerte die Norweger.
Don Juan de Alcazar fror trotz der dicken Segeltuchjacke. Seit er zuge hört hatte, wie der Niederländer den Eisberg erwähnt hatte, fröstelte es ihn jedesmal, wenn er das blau schwarze Seewasser sah, den fahl grauen Himmel, der sich noch immer nicht blau färben wollte, obwohl seit zwei Stunden die Sonne strahlen sollte, und wenn er an den Eisberg dachte, schüttelte es ihn förmlich. „Eisberge", murmelte er und beob achtete die seltsam aussehende Wolke, die sich im Westen über der Kimm zusammenballte. Eine solche Farbe und Form hatte er noch nie mals gesehen. Jedenfalls erinnerte er sich nicht daran. „Eisberge. Was ist das für eine Weltgegend, wo das Eis in Bergen daherschwimmt. Und wann haben wir endlich einen war men Wind?" Natürlich, sagte er sich, war zu die ser Jahreszeit keine Hitze wie in der Karibik zu erwarten. Aber in diesen
nördlichen Gewässern zog er es vor, möglichst oft und lange unter Deck zu bleiben und mit Dan O'Flynn die Karten zu sichten und einzutragen, was sie wußten oder was an Neuig keiten zu erfahren gewesen war. Während seiner Ruderwachen hatte es, zum Glück, nicht den gering sten Zwischenfall gegeben. Ruhige Stunden in den Nächten, in denen die Schebecke gut am Wind und ebenso gut auf Kurs lag. Er drehte sich her um und nickte Gary Andrews zu, der wieder an der Pinne stand. „Was hältst du von dieser herrli chen Naturerscheinung?" fragte der Spanier. „Ich kenne derlei nicht. Aber sie sieht für mich so aus, als würde sie eisige Kälte bringen." Daß die Nordsee für ihr schnell wechselndes Wetter bekannt und we gen ihrer haushohen, wütenden Wel len gefürchtet war, das wußte aus nahmslos jeder an Bord der Sche becke. Welche anderen Überraschungen sie bereithielt, das würde sich ver mutlich noch zeigen. Den ersten wü tenden Sturm hatten sie schon hinter sich. Aufmerksam studierte Gary An drews die Wolke, die sich ausdehnte und mit dem Wind näherrückte. „Sieht sonderbar aus", bemerkte er knapp. „Und wenn etwas sonderbar ist, das habe ich gelernt, dann wird's meist auch gefährlich." „Natürlich nicht für uns Seewölfe", versuchte Don Juan einen grimmigen Scherz. Die Männer der Wache kauerten, eingemummt in dickes Zeug, im Windschutz des Schanzkleides und unterhielten sich leise. Auch an die sem Morgen gab es außer der eintöni gen Küste nichts zu sehen. Der größte Teil des Firmaments war von dün nem Hochnebel bedeckt, und aus dem
40 Westen näherte sich jene seltsame, niedrige Wolke. „Auch für uns", schränkte Gary ein. „Langsam wird's mir mulmig. Ich denke, wir sollten den Kapitän wecken. Holst du ihn, Juan?" „Bin schon dabei", brummte der Spanier und warf, während er das Achterdeck verließ, einen sehnsüchti gen Blick zu dem kahlen Strand. Was immer sich dort in West zusam menballte, es war gut, das Land und die Häfen von Hirtshals und Skagen in der Nähe zu wissen. Ben Brighton, Dan O'Flynn und ei ner der Zwillinge kamen Don Juan entgegen, als er sich unter dem dik ken Stringer bückte. „Seht euch die Wolke an", sagte der Spanier in einem Ton, der sein größ tes Unbehagen ausdrückte. „Gary und ich wissen nicht, was wir davon halten sollen. Ich wecke Hasard." Aus der halben Dämmerung unter Deck ertönte Hasards Stimme: „Nicht mehr nötig. Ich komme schon." „Besser so." Die Gruppe betrachtete schwei gend und nachdenklich die sich nä hernde Wolke, die inzwischen in die Länge und Höhe gewachsen war und ihre Farbe verändert hatte. Aus ei nem nebligen Grau war ein kalkiges Weiß geworden. Jeder Seewolf, der das anrückende Unwetter anpeilte, spürte eisige Kälte zwischen den Schulterblättern und kräftige Gänse haut. Schließlich wechselten der Erste und Hasard einen langen Blick. Ihre Gesichter hatten einen Ausdruck, der nichts Gutes versprach. „Das ist eine Schneewolke", sagte der Seewolf mit Bestimmtheit. „Und sie ist in spätestens einein halb Stunden über uns", pflichtete ihm Ben Brighton bei.
„Mit einem soliden Weststurm ver bunden", schaltete sich Gary An drews ein. „Schaffen wir es vorher bis Hirtshals, Sir?" „Darauf würde ich nicht eine Kup fermünze verwetten", entgegnete Ha sard. „Jeder Tag bringt mindestens eine Ärgerlichkeit. Freunde, wir soll ten die Pfannen festbändseln und uns später auch." „Kurs genau Nordost, Sir?" fragte Gary. „Diesen Kurs halten." „Er bringt uns mit etwas Glück di rekt in den Hafen", meinte Ben. Er rief zur Kuhl hinunter: „Freunde! Das Schiff muß seefest gemacht wer den! Alles festzurren. Wir kriegen ei nen saftigen Sturm, wahrscheinlich Schnee. Unter Deck gilt das gleiche. Die Ruhe ist für heute vorbei." „Verstanden", tönte es von vorn. „Aye, aye, Sir." „Und dann zieht euch warm an." An Deck und unter den Planken breitete sich innerhalb kurzer Zeit starke Hektik aus. Der Schimpanse keifte und schnatterte, als ginge es ihm ans Leben. Plymmie kläffte und sprang den Seewölfen zwischen den Beinen herum. Vom Bug bis zum Heck wurde alles, was nicht verstaut, verzurrt oder belegt war, aufgeklart. Die Schlafenden wurden unsanft ge weckt. Jetzt traf ein erster, schwacher Sturmausläufer die Schebecke. Sie schüttelte sich nur, aber der eisige Hauch ließ die Männer zusam menzucken. Don Juans spanische Flüche verstand man ausgezeichnet, bis hinunter in die Bilge. Der Seewolf überlegte, ob sie Segel bergen sollen. Als der nächste Ausläu fer des eisigen Sturms heranrauschte, schüttelte er den Kopf. Das Schiff würde auch diesen Sturm aushalten, zumal er achterlichen Wind brachte.
41 „Wir können nur hoffen, daß der Sturm nicht bis in die Nacht hinein anhält", murmelte Hasard. „Aber we nigstens wird er uns ein gutes Stück weit nach Norden bringen." Einige Schneeflocken tanzten in der Luft. Vom Bug erschienen die Seewölfe und meldeten alles klar. Die weiße Riesenwolke füllte jetzt den gesamten Horizont aus, es wurde merklich kälter. In der Luft hing plötzlich ein leises, schrilles Heulen, das lauter wurde, je mehr der Sturm zunahm. Immer mehr weiße Flocken wirbelten über die Wellen. Die Sicht wurde schlechter. „Kurs halten", sagte der Seewolf und stellte sich neben den Rudergän ger. „Auch wenn es kalt wird." „Es wird kalt, Sir." Der Sturm walzte heran, fuhr heu lend in die Segel und brachte einen riesigen Schauer Schneeflocken mit. Vom achteren Grätingsdeck aus sa hen die Männer nicht einmal mehr den Bugsprit. Die Seewölfe zogen die Köpfe ein und kniffen die Augen zu sammen. Die Segel waren bei dem eisigen Wind bretthart wie gefrorenes, nas ses Tuch. Das Tauwerk vibrierte mit leisem Summen. Das Wasser zischte unter dem Bug und gurgelte am Heck, das Kielwasser schäumte weiß. Das Orgeln und Heulen des Sturmes begann alle anderen Geräusche zu übertönen, die Luft füllte sich mit weißen, umherwirbelnden Flocken. Binnen weniger Atemzüge schien sich ihre Menge zu vervielfachen. Sie bildeten dichte Schleier, breite Vor hänge und weiße Wirbel. Sie tanzten in waagrechten und senkrechten Spi ralen und schluckten das Licht. Die Schebecke preschte immer schneller durchs Wasser, hob und senkte sich und schüttelte immer wieder die ersten Schneesäume ab, die sich auf
die Segel, die Planken und das Schanzkleid abgelagert hatten. „Vielleicht treibt tatsächlich mitten in diesem weißen Gestöber ein Eis berg", keuchte der Rudergänger. Der eisige Wind riß ihm die Worte von den gefühllosen Lippen. Von al len Seiten drang die beißende Kälte auf die Männer ein, und an den Stel len, die ungeschützt dem Wind ausge setzt waren, begann sie besonders zu schmerzen. Auch die Richtung, aus der die Wel len anrollten, änderte sich. Mehr und mehr entsprach sie jener, aus der im mer gewaltigere Schneemassen da herjagten. Die unzähligen Wirbel überschlugen sich und vermischten sich miteinander. Die Schebecke schnitt hindurch, als wäre es Nebel. Die Helligkeit des Tages hielt an, während sich das Schiff durch die weiße Flut dahinbewegte. Niemand erkannte Richtung oder Wellenhöhe. Vom Grätingsdeck aus konnte man nicht einmal mehr die Kuhl erken nen. Die weiße Masse hüllte alles ein und verwandelte die Luft in eiskalten Dunst. Sie konnten nichts anderes tun: der Rudergänger hielt den Kurs, so gut er konnte, und alle anderen duckten sich unter den eiskalten Flocken, die wie Nadeln stachen. Die Schebecke jagte, wie es schien, über die Wellen dahin. Die Stöße, die den Rumpf erschütterten und die Ma sten schüttelten, waren hart und folg ten schnell aufeinander. Aus dem Rumpf des Schiffes erklangen dumpfe, dröhnende Schläge. Blind, frierend und in ständig stei gender Anspannung klammerten sich die Seewölfe fest und hofften, daß ihr Schiff nicht gegen ein Hindernis ra ste, gegen die Küste, die vielleicht schneller als geahnt und errechenbar
42 näher rückte, gegen eine der seltenen Kalksteinklippen oder, was ebenso unmöglich wie möglich schien, gegen einen niederländischen Kauffahrer. In Lee des Schanzkleides lagerte sich Schnee ab. Die Flocken klebten an dicken Tampen, an den Masten und anderen Holzteilen. Jedesmal, wenn sie an den senkrechten Teilen eine bestimmte Dicke erreicht hatten, fielen sie ab, wurden vom Sturm mit gerissen und wirbelten wieder zusam men mit den anderen in einem wilden Tanz davon. „Wie lange dauert so ein Schnee sturm vor Dänemark?" knurrte Ha sard in sich hinein und zog den Kopf zwischen die Schultern. Er konnte sich keine Antwort ge ben. In einer halben Stunde konnte al les vorbei sein, aber der Sturm tobte womöglich noch den Rest des Tages und die Nacht über. Wohin er die Schebecke dann trieb, wußte nicht einmal Dan O'Flynn. „Verdammte Seefahrt", stöhnte der Seewolf. Nach seiner Schätzung heulte und pfiff der Schneesturm mehr als ein einhalb Stunden in unverminderter Stärke. Und er hörte nicht auf. Er ra ste aus dem westlichen Quadranten heran, kreischte einmal aber mehr aus Südwest, dann wieder aus Nord west. Er hatte die Schebecke einge hüllt, umgab sie wie eine Wolke und riß sie mit sich, irgendwohin in nord östliche Richtung. Hasards Unruhe wuchs. Er versuchte, aus dem auf und ab schwellenden Heulen etwas herauszu hören. Das Geräusch beispielsweise, mit dem sich die Brandung am Strand oder an den Klippen brach. Oder an dere Laute, die auf die Nähe des Lan des hinwiesen. Es gelang ihm nicht. Auch die halbe Helligkeit hatte sich noch nicht geändert.
Es blieb Tag, irgendwo außerhalb der gewaltigen Schneewolke, in der das Schiff gefangen war. Plötzlich öffnete sich der Vorhang aus Flocken. Der erste Blick zeigte wieder die Schebecke vom Heck bis zum Bug. Dann erkannten die See wölfe das dunkle Wasser, die Wellen und Gischtstreifen. Das Wimmern und Jaulen des Windes wurde leiser. Die Wolke zog in östliche Richtung davon, und an ihrer Rückseite wirkte sie ebenso bedrohlich wie gegen Mit tag, als sie sich auf die Schebecke ge stürzt hatte. Der angehäufte Schnee fing zu schmelzen an. Breite Rinnsale liefen über die Planken. Hasard hob seinen Kopf zwischen dem Kragen, rückte die Mütze nach hinten und riskierte einen langsamen Rundblick. Er grin ste voller Erleichterung. „Das haben wir überstanden, Gary", sagte er. „Was werden wir se hen, wenn sich die Wolke aufgelöst hat?" „Einen anderen Teil der langweili gen Küste", antwortete der Ruder gänger. Nach und nach stolperten die See wölfe an Deck zurück. Der Schnee lö ste sich völlig auf, im Segeltuch zeich neten sich die nassen Flecken ab. Vom laufenden und stehenden Gut tropfte es dick auf die Planken. „Da!" sagte Gary und nickte, denn es hatte sich bestätigt, was er errech net hatte. „Das muß Hirtshals sein, Sir." Achterlich, rund eineinhalb See meilen entfernt, raste der Schnee sturm über die Küste dahin und gab, als er ins Landesinnere jagte, die Sicht auf die Küstenlinie frei. „Das ist Hirtshals", bestätigte Dan, der aufs Achterdeck enterte und sich schüttelte. „Wir sind ja förmlich ge flogen, nicht gesegelt, Sir."
43 „Der einzige Vorteil von diesem übernehmen. Wahrscheinlich hörten verrückten Sturm", sagte kopfschüt sie dort auch etwas vom Wikinger. telnd Don Juan und schaute den wei „So ist es geplant", antwortete der ßen Wolken nach. Im Westen schälte Seewolf. „Ich denke, es ist die beste sich langsam die Sonne aus den lang Zeit für ein ordentliches Essen. Das gestreckten Wolken, drei Handbrei Schiff liegt einigermaßen ruhig." ten über der Kimm. Die Kälte war „Der Kutscher ist schon dabei, Sir." ebenso vergangen wie der Schnee „Gut. Schneesturm macht hung und der Flockenwirbel. „Wir müssen rig." längst dort sein, wo die Eisberge trei Die Arwenacks hatten schon viele ben, nicht wahr?" Stürme abgeritten, und auch ein sol Hasard lachte gutgelaunt. Er cher Schneesturm konnte sie nicht zu klopfte dem Spanier auf den Rücken Tode erschrecken. Trotzdem blieb und erklärte: „Das Tagesziel ist hier eine solche Fahrt ohne jede Sicht ein mit geändert. Wir brauchen uns nicht gefährliches Unternehmen. Sie zeigte den wetterharten Arwenacks, daß nach Hirtshals zu verholen." Gary nickte und rieb sich, die Pinne jede Küste ihre eigenen Gefahren zwischen den Oberschenkeln, die kal hatte. ten Finger. „Also Kurs nach Skagen. Wir run den das Kap?" Drei Stunden vor Mitternacht „Bis dahin wird es allerdings fin sprang Don Juan auf das Achterdeck ster sein", sagte Dan O'Flynn und hinunter, lief zum Niedergang und zeigte zum Himmel. „Aber heute rief: „Kapitän an Deck! Da gibt es et nacht sehen wir vermutlich den einen was!" oder anderen Stern." Vier Mann waren Ruderwache ge „Und vielleicht eine Spur unseres gangen. Der Spanier, Jack Bowie, Freundes mit dem Kupferhelm." Ferris Tucker und Old Donegal. Sie Die Seewölfe suchten die Uferlinie hatten nichts anderes zu tun, als die mit den Spektiven ab und fanden ihre Küste anzustarren, durch die Spek ersten Eindrücke bestätigt. Der Ha tive oder mit dem bloßen Auge. Wäh fen des kleinen Fischerdorfes ver rend der letzten Stunden zeigte die schwand langsam hinter der Krüm Linie, die durch nichts anderes als mung der sandigen Bucht, dann scho schmale, weiße Brandungsstreifen zu ben sich ein paar Bäume vor die nied erkennen war, fast schnurgerade rigen Masten der Fischerboote. nach Nordosten. Vor dem Kap, hinter „Das mag durchaus so sein", dessen Dünenlandschaft der nörd brummte der Profos. „Und von Ska lichste Hafen Dänemarks lag, gen geht es dann in die Heimat Thor schwenkte die Düne nach Osten, fins, nicht wahr?" dann krümmte sie sich wie ein Haken Hasard nickte und freute sich, daß nach Südwesten zurück. die Kraft des Windes nicht abgenom „Was ist los?" Schläfrig tappte der men hatte. Die Schebecke würde gut Seewolf zum Niedergang. in Fahrt bleiben, und ein halber Tag Wortlos deutete Don Juan nach in Skagens Hafen konnte dazu be Steuerbord voraus. nutzt werden, Essen und ein paar Faß „Das ist tatsächlich ein bemerkens des guten norwegischen Bieres zu wert mächtiges Feuer", sagte Hasard,
44 ließ sich ein Spektiv geben und peilte hinüber. Im flackernden Licht der riesigen Flammen erkannte er trotz dem nichts anderes als Dünen, nackt und bewachsen, sowie die Spuren von Sturmfluten und riesigen Verwehun gen, die von Sandflächen gebildet wurden. Das Feuer loderte in einer winzigen Bucht. Die Flammen spiegelten sich im ruhigen Wasser zwischen den Dü nen. „Ich sehe ein Feuer. Und eine rie sige Menge von Holzstücken, halbe Baumstämme. Aber keine Leute", sagte der Seewolf nachdenklich und hob die Schultern. „Habt ihr eine Er klärung?" „Thorfin hat einen Bauernhof ange zündet", sagte Old Donegal sofort. „Er hat nach Schinken und frischen Eiern gesucht, und sie wollten ihm nicht geben, was er brauchte." „Das ist eine erstklassige Erklä rung", antwortete Don Juan. „Nach Skagen traut er sich nicht hinein", sagte lachend der Seewolf. „Um dich zu beruhigen, Old Donegal, da drüben brennt Holz. Kein Bauern hof. Es hat andere Gründe." „Rätselhaftes Dänemark", meinte Don Juan. „Wollen wir nicht nachse hen, ob dieses Feuer nicht für Schiffe angezündet wurde? Zum Beispiel für die niederländischen Händler?" „Schon möglich." „Wir haben hohe Flut", erklärte Old Donegal. „Elfen und die Leute vom Kleinen Volk tanzen um das Feuer. Sehen wir nach, Sir, Siehst du die große Düne?" Nach kurzem Zögern entschied Ha sard: „Wir gehen so nahe wie möglich an das Feuer heran. Das hat etwas zu bedeuten. Weit und breit gibt es keine Siedlung, aber plötzlich diese Flam men. Vergeßt nicht, Skagen ist kein kleines Dörfchen, sondern hat fast
zweihundert Jahre Stadtrecht. Und wir haben in Dänemark einen guten Ruf." „Ob der bis hierher gedrungen ist, wage ich zu bezweifeln", meinte Don Juan. „Ich bin auch dafür, daß wir nachsehen, was das Feuer zu bedeu ten hat. Ich sage dir, es hat etwas zu bedeuten." „Kurs auf das Feuer. Und nicht zu nahe an den Strand. Einer zum Bug, um die Tiefe zu loten!" rief der See wolf. „Aye, aye, Sir." Die Schebecke schwang herum und richtete den Bug auf die fernen Flam men. Hinter dem Feuer ragte eine riesige Düne auf. Das flackernde Licht ließ einen Teil der rund hundert Fuß ho hen Sandverwehung aus der Schwärze hervortreten. Am südli chen Ende der Düne schien sich ein Turm zu erheben. Das Schiff war auf dem direkten Weg zum Feuer, und die Neuigkeit hatte mittlerweile alle Seewölfe geweckt. Sie erschienen an Deck und peilten hinüber zum Feuer. „Merkwürdig", sagte Jack Bowie kurz. „Keine Kerle zu sehen." „Elfen und Gnome sind unsicht bar", erklärte Old Donegal begei stert. „Aber wenn wir sie packen kön nen, dann erfüllen sie uns jeden Wunsch." „Was willst du denn von ihnen?" fragte Ferris Tucker. „Gold? Oder ei nen Adelstitel?" „Weiß ich noch nicht", erwiderte der „Admiral". „Werde ich mit ihnen an Ort und Stelle klären," Das Schiff ging, eine Kabellänge vor der Brandung, in den Wind und drehte sich, „Fünfzig Fuß!" rief Matt Davies vom Bug. „Weiter." Langsam schoben und drückten die
46 Wellen die Schebecke auf den Sand Schaumstreifen und rückte ein wenig mehr auf die Schebecke zu. zu. „Wir warten noch!" rief der See „Vierundvierzig Fuß!" wolf. „Nehmt ein paar Fackeln und Das Feuer brannte noch immer. Eine riesige Menge Holz war kreuz Waffen mit, wenn wir an Land ge und quer übereinandergeworfen wor hen!" „Aye, Sir." den. Die riesigen Abschnitte von Baumstämmen rutschten langsam in Schweigend standen die Seewölfe die Flammen. Der Turm einer Kirche, achtern und am Schanzkleid und ein weißes Bauwerk mit stufenartig schauten in die Flammen, die nicht ansteigendem Doppelgiebel, schien kleiner wurden. Ob das Feuer von immer kleiner zu werden und ver Skagen aus zu sehen war, wußte nie schwand schließlich in einiger Ent mand. Wenn es so war, dann hielten fernung hinter den Dünen. sie es für sehr verwunderlich, daß die „Zwanzig Fuß!" tönte es vom Bug. Dänen noch nicht zusammengelaufen „Wollen wir an Land nachsehen?" waren. Auch in den nächsten Stunden rief Ferris Tucker. zeigte sich kein Mensch. „Ja", antwortete der Seewolf. Er Nach Mitternacht stapften die See hatte hinter dem Feuer, dem Rauch wölfe durch den nassen Schlamm und den Funken seltsame helle Steine und Sand des Watts auf den Fuß der gesehen. Sie ragten aus dem windge Dünen zu. An dieser Stelle gab es peitschten Gras. keine deutlichen Zeichen von Verwü „Fünfzehn Fuß!" stungen durch Sturmflut, aber der In zehn Fuß Wassertiefe würde der ständige Wind verwehte auch diese Kiel über den sandigen Schlick Spuren. schrammen. Wenn die Ebbe eintrat, Neben Hasard stolperte Jung konnten die Seewölfe an Land, ohne Philip aufs Land zu. Jeder Schritt er völlig durchnäßt zu werden. zeugte ein nasses Schmatzen. In den Die wenigen Laternen an Bord und Stiefelspuren sammelte sich das Was das Feuer genügten, um einen breiten ser. Der brennende Holzstoß war Abschnitt des Strandes so gut zu be etwa zwei Kabellängen entfernt. leuchten, daß die Arwenacks erkann „Das Feuer ist mit einiger Kunst ten, in welche Lage sie sich brachten. angelegt worden", sagte Philip. „Die Langsam schwang die Schebecke her dicken Stämme rollen in die Flam um, nachdem der Profos und Batuti men, wenn die anderen verbrannt mit den Riemen das Heck erreicht und verglüht sind." und im Schlick gestakt hatten. Ein großer Kreis aus Asche, Die Segel knatterten und knallten, schwarzen Brocken und dunkler Glut bis sie neu belegt wurden. bewies, daß das Feuer schon sehr „Neun Fuß", meldete Matt Davies lange brannte. Ungewöhnlich lange jetzt vom Bug. Er selbst war über sogar. rascht und warf das Lot noch einmal „Was schätzt du?" fragte Hasard aus. seinen Sohn. Die Flammen strömten Als er aussingen wollte, knirschte bis hierher ihre Hitze aus. der Bug und saß fest. Deutlich waren „Vielleicht sogar zwei Tage, Dad", am Strand die ineinandergeschichte meinte Philip. „Und es brennt noch ten Wälle aus Treibgut zu sehen. Jede lange weiter, bis das alles dort hinun Welle, die ablief, hinterließ einen tergerollt ist."
47 Steinsäulen erkannten die ausge „Wahrscheinlich hast du recht." Hintereinander wateten die See schwärmten Seewölfe die Wurzeln wölfe an den Strand und stampften und Stammteile abgeschlagener Bäu den Schlamm von den Stiefeln. Hin me. Überall lagen die herausgeschla ter Hasard folgte Ferris Tucker und genen Holzspäne im dürren Gras. Ha zog die Zimmermannsaxt aus dem sard ließ seine Finger über die Vor derseite des Steines gleiten. Tiefe Ril Gürtel. „Niemand zu sehen, wie?" brum len zeichneten sich ab, die ein böse melte er und kletterte bedächtig den starrendes Gesicht ergaben. Darun ersten flachen Dünenhang hinauf. An ter waren kantige Zeichen eingehäm einer Stelle landeinwärts, wo sich mert. Der Stein schien uralt zu sein, drei Sandhänge trafen, war das Feuer denn Sturm und die Reibung des San vorbereitet worden. Vom Strand des hatten die Umrisse geglättet. Nils Larsens Schatten fiel auf den führten breite Schleifspuren bis an diese Stelle. Zuerst waren also große Stein. „Das sind Runen. Uralte Schriftzei Mengen von Treibholz hierherge schleppt worden. Woher die Baum chen", erklärte er und fuhr die Linien stämme stammten, wußten die See nach. „Aus der Vergangenheit von Dänemark. Man sagt, daß die Wikin wölfe noch nicht. Hasard umrundete in achtungsvol ger diese Steine gemeißelt und aufge lem Abstand die Feuersäule und ging stellt haben. Du mußt wissen, daß es auf den ersten der vielen hellen große Burgen gegeben hat, damals, Steine zu, die er von Bord aus schon als sie aufbrachen mit ihren Drachen schiffen." erkannt hatte. Hasards Sohn hörte nicht weniger Sie umstanden in einem weiten Kreis das Feuer. Hasard zählte zwölf aufmerksam zu als sein Vater. „Schon König Godfred hat solche Steine von unterschiedlicher Höhe. Sie waren wie dicke Säulen geformt Steine aufgestellt, habe ich gelernt", oder kamen in der Natur in dieser sagte der Däne fast ehrfürchtig. „Ru Form vor, und irgend jemand hatte nensteine nennt man diese Brocken sie vor langer Zeit hierher ge hier. Es gibt sie in vielen Formen." schleppt. Einst waren sie wohl senk Die Männer gingen von einem Stein recht und gerade aufgestellt worden, zum anderen. Der letzte Sturm hatte jetzt schienen sie in alle Richtungen einen Teil von ihnen freigelegt. Eine gekippt zu sein. Licht und Schatten ernsthafte Überschwemmung würde ließen ihre Oberflächen auf seltsame sie in dem Sandmeer verschwinden Weise aufleben. lassen, das sich an die Nordsee an Hasard und sein Sohn gingen näher schloß und ebensolche Wellen bil an den ersten heran. Die Hitze dete. brannte in ihren Rücken. „Dann wissen wir ja auch, wer die „Das ist keine natürliche Aufstel ses Feuer angelegt und gezündet hat", lung", sagte der Seewolf. „Siehst du, mischte sich Ferris Tucker ein. daß der Abstand immer gleich groß „Der Wikinger! Thorfin Njal hat ist?" die Elfen und Gnome beschworen. „Ja. Wäre es ein voller Kreis, hätte Sie sollen ihm helfen", meinte Old er einen Durchmesser von vielleicht Donegal. „Hier, seht ihr ihre Spu einer Kabellänge." ren?" Hinter und zwischen den gekippten Carberry stieß ein gewaltiges Ge
48 lächter aus und schaute zu Boden. Dort, wo der Wind den Sand geglättet hatte, zeigten sich deutlich die Spu ren. Aber es waren Abdrücke von Ha sen oder ähnlichen Tieren. „Ich sehe sie. Du mußt versuchen, die Gnome im Spiegel zu sehen. Dann kannst du sie packen. Und wenn sie zappeln, dann müssen sie dir etwas versprechen. Einen Wunsch erfüllen. Ewige Jugend oder so etwas, klar?" Der Profos bemühte sich, sein Ge sicht nicht zu verziehen. Old Donegal hörte ihm aufmerksam zu und trug ei nen verzückten, durchaus gläubigen Ausdruck zur Schau. „Er hat recht, Granddad!" rief Philip junior. „Du mußt nur suchen." Old Donegal heftete seinen Blick auf die Hasenspuren und ging ihnen nach, vor Aufregung das Hinken ver gessend. Wie einer der Geister oder Gespenster, die er suchte, ver schwand er in der rot durchglühten Dunkelheit. „Ich kann mir wirklich vorstellen", sagte schließlich der Seewolf halb laut und eindringlich, „daß Thorfin dieses Feuer angezündet hat. Woher wußte er von den Runensteinen? Und wie fand er sie? Aber diese monumen talen Flammen - sie sind Ausdruck seiner Art. Wir werden ihn finden und fragen, denke ich." Das riesige Feuer war ein Zeichen, das niemand übersehen konnte. Die Flammen erhellten einen großen Teil der Umgebung. Selbst in den Schat ten, die von den Dünenkämmen und den Bäumen stammten, konnte man den Weg zurück ohne die geringsten Schwierigkeiten finden. Die anstei gende Flut ließ noch lange auf sich warten, es eilte nicht im geringsten. Die Seewölfe steckten ihre Waffen zurück und zerstreuten sich voller Neugierde in alle Richtungen. Hin und wieder leuchteten in der vagen
Dunkelheit gelb und groß die Augen paare von kleinen und größeren Tie ren auf. Carberry sagte sich, daß ein gut ge würzter Braten für Mac Pellews Kochkünste eine willkommene Ab wechslung sein würde und dachte darüber nach, was es hier zu schießen gäbe. Er winkte Batuti zu sich heran und redete leise auf ihn ein. Grinsend nickte der Gambiamann. Hasard und seine Zwillingssöhne stolperten durch den rankenartigen Bewuchs von einem der Runensteine zum anderen. Die uralten Gesichter von Kriegern oder Stammesfürsten schienen in den flackernden Flam men zu zwinkern und reden zu wol len. Ausnahmslos blickten sie alle grimmig oder bestenfalls noch wür devoll drein. Keines der Gesichter trug die Zeichen eines Lächelns oder einer größeren Bewegung des Ge müts. „Sehr weit vor uns kann der Wikin ger nicht sein", brummte Hasard und schaute Carberry und dem Gambia mann nach, die in einem weiten Bo gen die Dünen umrundeten. Wie eine Mauer ragte die riesige Düne auf. Sie sah aus, als würde sie alles unter sich begraben, wenn der Wind den Sand vor sich hin trieb. „Einige Tage. Aber heute nachmit tag haben wir aufgeholt", erklärte Dan ruhig. „Nur - der Sturm, der uns über das Meer jagte, verhalf auch ihm zu einer schnellen Reise." „Würde mich wundern", brummte Hasard, „wenn wir Thorfin in Skagen treffen sollten." „Die Skagener wären auch nicht be geistert davon." Die Seewölfe, die diese Bemerkung des Kapitäns gehört hatten, brachen in Lachen aus. Es brauchte nicht viel Phantasie, um sich das vorzustellen. Die umherstreifenden Arwenacks
49 scheuchten brütende Vögel auf. Mö hatte, das konnte sich keiner der Ar wen flatterten auf das Feuer zu und wenacks so recht vorstellen. Vielleicht am ehesten noch Old Do stießen ihre klagenden Schreie aus. Beim letzten Runenstein blieb der negal, der irgendwo auf den Spuren Seewolf wieder stehen und hob ein von Hasen, Rehen und Luchsen durch wenig ratlos die Schultern. das Unterholz stolperte und seine El „Wir haben alles gesehen. Im fen suchte. Die ersten Crewmitglieder tappten Grund nichts anderes als eine weitere Spur des Wikingers. Was denkst du zurück zum Schiff, kletterten über darüber, Dan?" die Jakobsleiter auf die Kuhl und wurden von Jack Finnegan und Bob „So ziemlich das gleiche, Sir." „Zurück aufs Schiff? Wir warten Grey abgefangen. Einige große Püt auf die neue Flut und verholen in den zen standen da, angefüllt mit Salz wasser, und feuchte Lappen lagen auf Hafen von Skagen." „Etwas anderes fällt mir auch nicht den Planken. „Kein Dreck ins Schiff!" rief Jack ein. Die meisten werden rechtschaf fen müde sein, Sir. Ich jedenfalls Finnegan. „Reinigt eure Hufe. Und wate jetzt zurück und haue mich aufs dann erst unter Deck." Ohr. Dann sind wir morgen wieder Unbarmherzig wachten sie dar klar, wenn wir über den Skagerrak über, daß nicht zuviel Schmutz und segeln." Sand ins Schiff getragen wurde. Der „Einverstanden", erwiderte der Kutscher blies in sein Feuer und Seewolf. sagte sich, daß in Kürze ein großes Rumpelnd und polternd rollten von Gebrüll nach Tee und Essen ertönen zwei Seiten wieder neue Baum würde. stämme in die Glut. Ein riesiger Fun Aus dem Dunkel des Waldes tauch kenschauer stieg in den Nachthimmel ten Batuti und Carberry auf. Mit und wurde von dem kalten Sturm da Pfeil und Bogen hatte der Gambia vongewirbelt. Das Knistern und mann zwei junge Rehe geschossen. Knacken übertönte für einige Atem Die Seewölfe schleppten die Beute in züge alle anderen Geräusche. Geblen die Nähe des Feuers. det schlossen die Arwenacks die Au Carberry rief: „Ich habe ein biß gen. Grell und drohend starrten die chen gelärmt, und schon sind sie ihm Runensteine mit ihren undeutbaren vor den Bogen gerannt. Stimmt's, Ba Gesichtern und unlesbaren Zeichen tuti?" die fremden Männer an. „Richtig so. Es gibt Rehbraten. Der nächste Windstoß, der über die Hilft mir jemand beim Aufbrechen?" ferne Brandung und das nasse Watt Sie hatten die Beutetiere über den fegte, zeigte den Seewölfen, wie diese Schultern getragen und warfen sie in Steine - und vieles andere - einst ver den Sand. Vom Feuer einwandfrei be schwunden waren, dann wieder auf leuchtet, brachen Mac Pellew und tauchten und irgendwann auch wie Batuti die Rehe auf und schlugen sie der ohne Spuren versinken und ver aus der Decke. schwinden würden. Wahrscheinlich Von Bord brachte der Kutscher schon in kurzer Zeit. Wie der Wikin zwei offene Fässer und verwickelte ger von ihnen erfahren hatte, wie er Mac Pellew in eine lange Unterhal sie fand und warum er dieses Helden tung darüber, ob das Wildfleisch in verehrungsriesenfeuer entfacht saure Milch oder in eine Tunke aus
50 saurem, gewürztem Wein eingelegt kann nicht weit sein mit seinem Holz bein", meinte Dan sachlich. werden solle. Bei Carberry blieb Hasard stehen „Wenn du die Kuh an Bord dazu und erklärte, was sie vorhatten. Der bringst, saure Milch zu geben, dann nimm Sauermilch", riet Dan O'Flynn. Profos fragte, ob er mitgehen solle. „Nein. Nicht nötig. Habt ihr irgend „Milch gibt es in Skagen." „Ihr braucht euch nicht zu beeilen. welche Zeichen von Menschen gese Wir sitzen noch ein paar Stunden auf hen?" „Einen Pfad, der ins Moor führt", Schlick." sagte Batuti und reinigte seine Finger „Schon gut." Mit großer Sorgfalt zerschnitten sie im Sand. „Wir haben nur alte Feuer die großen Fleischteile, lösten die stellen gesehen. Keine Leute." meisten Knochen aus und rührten „Gut. Wir suchen ihn." aus saurem Wein, versetzt mit Mac Der Seewolf und Dan umrundeten Pellews Londoner Gewürzen, eine das Feuer, sahen die erste Hasenspur Soße zusammen. Der Kutscher band und daneben die Eindrücke, die Old nasse Tücher über die offenen Fässer. Donegal hinterlassen hatte. Mit gro Am Ufer, auf einem Stück trocke ßen Schritten folgten die beiden der nen Sand neben dem ineinanderver Spur, die sich im Einschnitt zwischen filzten Wall aus Strandgut, wandte Dünen hinwand und zwischen Gras, sich der Seewolf an Dan O'Flynn. Vor dicht an den Boden geducktem Hei ihnen lag das Schiff, gespenstisch dekraut und kümmerlichen Nadel und dunkelrot von den Flammen an bäumchen halb verschwand. geleuchtet. Auf den Nadeln und Blättern zeich „Dein alter Geisterseher - sucht er nete sich ein feuchter Streifen ab, ein noch immer nach seinen Gnomen?" dunklerer Eindruck, dem die See Sie musterten die Seewölfe, die sie wölfe schnell folgten. Der weiße an Bord erkannten. Old Donegal war Kirchturm tauchte wieder in größe nicht darunter. Auch hier, zwischen rer Entfernung auf, und Hasard Feuer und Strand, war er nicht. Ha fragte sich, wie Old Donegal in die sard rief seine Frage zur Schebecke sem struppigen Untergrund über hinüber. haupt eine Spur gefunden hatte. Nach einer Weile folgte die Ant „Erfrorene oder nasse Füße wird er wort: „Nein. Unser ,Admiral' ist nicht sich holen", schimpfte Hasard. „Aber an Bord." keine ewige Jugend." „Dann werden wir ihn und sein „Vielleicht hebt er gerade einen kleines Volk suchen müssen, fürchte Schatz", meinte Dan grinsend. ich. Vielleicht hat er eine Elfe gefan Sie hasteten weiter. Über ihren gen", sagte Dan. Köpfen knisterte und leuchtete die Hasard nickte. Er nahm einem See Fackel. Hinter der riesigen Düne ver wolf eine unangezündete Fackel aus schwand das Feuer, als sie nach links der Hand, zündete sie vorsichtig und abbogen und auf ein ebenes Stück ge mit abgewandtem Gesicht an und zog langten, das einen Halbkreis bildete. sich zurück. Dahinter erstreckte sich der Wald „Gehen wir. Dort drüben, bei der rand. Im Zickzack führte Old Done Hasenspur, hat er mit dem Suchen gals Spur über die Sandfläche, die angefangen." Spuren einer Überschwemmung „Wir werden ihn bald haben. Er zeigte: Treibgut, herausgerissene
51 Pflanzen und Fischgräten, die unter den Schritten mit hellem Krachen zersplitterten. „Die Elfen sind lichtscheu." Dan lachte. „Sie tanzen nur weit vom Feuer weg." „Sie wissen schon, warum", entgeg nete Hasard. „Sonst würden sich die Arwenacks auf sie stürzen." Nach weiteren hundert Schritten, fast am Waldrand, blieben sie stehen, holten tief Luft und riefen nach Old Donegal. In den Büschen raschelte es, aber es flüchteten nur kleine Tiere. Vögel flatterten und kreischten wü tend. „Old Donegal! Ebbe! Wir legen ab!" schrie Hasard aus voller Kehle. Er schwenkte die Fackel, um die Flammen anzufachen, dann drangen sie in die Schonung aus windzerzau sten Pflanzen ein. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto mehr Birken mit hellen Stämmen gab es zwischen den Nadelgewächsen. Die Spur des Alten war unübersehbar, er mußte mit großer Hast über den weichen Waldboden gelaufen sein. „Wenn er hinter einem Geheimnis her ist", keuchte Dan, als sie sich auf einem Sandpfad zwischen unbekann ten Sumpfpflanzen befanden, „kennt er nichts anderes. Wahrscheinlich rennt er bis nach Skagen." „So weit wohl nicht. Aber allmäh lich gerate ich in Sorge. Vor uns liegt Sumpf gebiet", erwiderte der Seewolf und sagte sich, daß sie solange sicher waren, wie sie sich auf Sand befan den. Jetzt fing das Moor deutlich zu rie chen an. Als die Seewölfe hinter einer Gruppe aus Baumstämmen und abge storbenen Gewächsen auftauchten und freien Blick auf ein paar Moor tümpel hatten, blieb Hasard ruckar tig stehen und brummte: „Halt!" Dan prallte gegen Hasards Rücken.
In den Moortümpeln spiegelten sich schwach die Sterne. Und es spiegel ten sich auch seltsame andere Dinge im nachtschwarzen Wasser. „Da sind deine Elfen!" flüsterte Dan. Von dem Bild, das sich ihnen zeigte, konnten sie nur verblüfft sein. Old Donegal, der auf einem Baumstrunk saß, war hingerissen und völlig abwe send. Aus dem Morast, zwischen zwei länglichen Tümpeln, züngelten unter armlange, fahle Flammen. Sie sahen aus wie die Schatten von wirklichem Feuer. Zwischen den blätterlosen Pflanzen züngelten sie in die Höhe, erloschen an einer Stelle und entzün deten sich an der anderen. Mit einem Übermaß an Vorstellungskraft konnte man in den tanzenden Flämm chen sogar leichtgeschürzte Elfen er kennen, aber keine Gnome. „Na, wenigstens steckt er nicht bis zum Hals im Moor", brummte Ha sard. Er hätte ebensogut schreien kön nen, denn der Alte hatte seine Umge bung völlig vergessen. Er stützte sei nen Kopf in die Hände und starrte un entwegt das Dutzend „Elfen" an, die eine halbe Kabellänge vor ihm über dem morastigen Land ihren Schön heitstanz völlig lautlos ausführten. Hasard stieß Dan in die Rippen und murmelte: „Holen wir den Alten, wie?" „Ja. Sonst fällt er noch in den Mod der", antwortete Dan. Sie gingen auf den Alten zu, der sie nicht hörte und nicht einmal die Fak kel sah. Der Seewolf bückte sich, als sie dreißig Schritte von Old Donegal entfernt waren und fuhr mit der Flamme der Fackel über den Boden. Er hatte es nicht gewußt, aber eine solche Wirkung geahnt. Aus vielen unsichtbaren öffnun
52 gen schossen neue, grünlichgelbe Flammen in die Höhe. Eine entzün dete sich an der anderen, und es gab eine Reihe puffender Geräusche. Der Alte sprang auf und rief: „He! Warum hört ihr zu tanzen a u f . . . ? " Er drehte sich hin und her und sah zuerst die Fackel, dann die beiden Seewölfe. „Die Vorstellung ist zu Ende!" rief Hasard. „Zurück an Deck, Geister beschwörer!" „Aber..." „Deine Elfen sind müde, Dad. Es ist ihnen zu spät geworden", sagte Dan lachend. „Außerdem tanzen sie für je den, nicht nur für dich." Hasard schlug dem „Admiral" kräf tig zwischen die Schulterblätter und erklärte: „In jedem Moor gibt es solche Flammen. Du kannst dir bei den brennenden Elfen etwas wün schen, aber es geht nicht in Erfüllung, Old Donegal. Tut mir leid." „Das war so schön", mümmelte der Alte. „So schön getanzt. Lauter kleine, grüne Elflein." Dan mußte lachen und packte sei nen Dad am Arm. Er zog ihn mit sich über den Pfad und warf noch einen Blick auf die zuckenden, tanzenden und irrlichternden Flammen. „Sieht man auch nicht alle Nächte", meinte er knapp. „Aber mit Elfen und Gnomen hat das nichts zu tun. Ein ge spenstisches Bild, Sir." Für einige Atemzüge war auch Ha sard in das lautlose Hüpfen und Zuk ken der Flämmchen vertieft. Er riß sich los und folgte Dan und Old Done gal. Sie verließen den Rand des Moo res und marschierten auf den Wald zu. „Die Elfen sind genauso wirklich wie dein Kings Island, Dad", sagte Dan beschwichtigend. „Nur du siehst die Sachen. Sonst keiner." „Aber ihr habt sie doch gesehen",
beharrte Old Donegal mürrisch. Er sah ein, daß sein Elfentraum ausge träumt war. „Wir haben irgend etwas brennen sehen", ließ sich Hasard von hinten vernehmen. „Aber keine Elfen." „So was Schönes habe ich noch nie erlebt", stellte Old Donegal fest. „Das kannst du auch unter dem Kessel vom Kutscher sehen, wenn du fest hineinpustest, Dad", tröstete ihn Dan. „Quatsch. Unsinn!" Bis eben hatte sich Old Donegal noch gesträubt, aber jetzt ging er be reitwillig mit. Aber immer wieder drehte er sich um und versuchte, ei nen Blick auf seine tanzenden Nacht elfen zu erhaschen. „In Skagen kannst du wirkliche Leute tanzen sehen", sagte der See wolf und war froh, als er hinter der Flanke einer Düne wieder die obersten Enden der Flammen sehen konnte. Das Feuer des Wikingers lo derte unverändert hoch und mächtig. Spätestens jetzt wunderte es Philip Hasard Killigrew ernsthaft, daß noch nicht Reiter aus Skagen eingetroffen waren, um nach der Ursache des Brandes zu forschen. „Das war's, Old Donegal", sagte er und zeigte zum Heck der Schebecke. Zwei Männer standen noch auf dem trockenen Strand, über den die Krebse raschelten. „Welche Dämonen haben die Steine aufgestellt?" fragte der „Admiral" und hielt sich an einer der unregelmä ßigen Säulen fest. „Die Vorväter von Thorfin Njal", erklärte Hasard, ohne das Gesicht zu verziehen. „Bist du sicher?" „Ganz sicher", entgegnete Dan. „Al les klar, Ben?" Ben Brighton und Carberry warte ten auf die Nachzügler. An Deck der
54 Schebecke brannten noch immer drei Laternen. Im Licht der Hecklaterne und im roten Widerschein der Flam men sahen sie die ersten, zögernden Wellen heranrauschen, die mit der steigenden Flut kamen. „Alles an Bord?" fragte Hasard und zog den Alten mit sich. Sie tappten bis zur Jakobsleiter, und Old Donegal ließ sich übers Schanzkleid helfen. Die Crew hatte sich bis auf die Wache in ihre Kojen verholt. Nur Plymmie sprang begei stert auf Hasard los und weckte mit ihrem Gebell die Männer. „Ruhe!" sagte Hasard und säuberte seine Langschäfter. „Alles bereit zum Ablegen?" „Wir warten nur auf mehr Wasser unterm Kiel", lautete die Antwort des Rudergängers. Als der letzte an Bord war, wurde die Jakobsleiter eingenommen und verstaut. Hasard setzte sich mit ei nem großen Becher voll Wein auf das Grätingsdeck, wartete und blickte zu den mächtigen Flammen, bis ihm ir gendwann gegen Morgen die Augen zufielen. Er wachte erst wieder auf, als die Schebecke entlang der Küste nach Nordost segelte. Den grauschwarzen Rauch des Feuers sah er nur noch aus großer Entfernung unbedeutend und im aufgefrischten Wind zerfasert. 5. Noch bevor die Uferlinie wieder nach Osten auslief und sich krümmte, erkannten die Seewölfe den Leucht turm. Er war aus weißen Steinen ge mauert und bot einen unübersehbar guten Ruhepunkt für das Auge. „Das also ist Skagen", sagte Ben Brighton, der die ziemlich kurze
Fahrt hierher bei gutem Wind genos sen hatte. „Und diese niederländi schen Kauffahrer werden wohl nicht auf uns zielen." Sieben Schiffe waren es, in Kielli nie hintereinander, die um das Kap Skagen gegen den südwestlichen Wind zu kämpfen begannen. Skagen war eine Siedlung der Fischer, aus gespannte Netze, unzählige kleine und große Boote am Strand und an den wuchtig gezimmerten Stegen deuteten darauf hin. Die Schebecke lag auf Ostkurs und fiel jetzt in einem weiten Kreis nach Süden ab. „Wenn es brennt und bewaffnete Miliz durch die Straßen reitet, dann wartet der Wikinger auf uns", gab Pete Ballie in bester Laune zurück. „Denkt daran, daß Dänemark und Norwegen gemeinsam eine Union bil den. Also schimpft nicht über die Norweger." „Ich werde mich hüten", antwortete der Erste. „Hoffentlich nehmen sie uns gut auf." Pete Ballie zeigte zu den Niederlän dern und erklärte: „Sie sind auf Gä ste eingerichtet. Wie gesagt: eine Stadt, kein Fischerkaff." Obwohl riesige Wolken über den Himmel zogen und der Wind stark aufgefrischt hatte, sah es weder nach Schneesturm noch nach anderen bö sen Überraschungen aus. Die Crew hatte ein reichliches Frühstück hinter sich und bereitete sich Gedanken über den Ort, der sie erwartete. Ben setzte das Spektiv ab und sagte abschätzend: „Also, wenn die Städter reich geworden sein sollten, dann nicht wegen ihrer Obstgärten oder Weizenfelder." „Nur vom Fisch?" fragte Pete Bal lie. „Wird sich herausstellen. Vielleicht sind die Hafenzölle unanständig hoch", sagte der Erste und machte
55 sich, angesichts dessen, was er gese hen hatte und sah, seine Gedanken. Während ruhig die Kommandos für die Wache und die neuen Kursanga ben erfolgten, suchten Ben Brighton und ein wenig später auch Hasard die Küste nach Einzelheiten ab, die ihnen verrieten, wie es um Skagen stand. Unzählige Dünen erstreckten sich hinter der niedrigen Brandungslinie. Dazwischen waren wenige Felder zu erkennen, auf denen Vieh weidete. Die Taubenschwärme waren ebenso groß wie die Möwenschwärme am Strand. Ab und zu unterbrachen Waldstücke das eintönige Einerlei aus Sand und Strandhafer. Am Ufer war eine kleine Anlage ge baut, in der Salz gewonnen wurde, ein Unternehmen, das wegen der fehlen den Hitze schwerlich viel einbringen konnte. Aber viele Kirchen oder Häuser hatten steinerne Mauern und Dächer, die statt mit Schilf oder Stroh mit Ziegeln gedeckt waren. Der Hafen - wenigstens der Teil, den man vom Bug aus klar erkennen konnte - er weckte einen guten Eindruck. Der Turm, den sie in der Nacht von fern gesehen hatten, schien etwa zwei Seemeilen von der Stadtgrenze aus zu stehen. Es war unzweifelhaft derselbe Turm mit dem stufenförmigen Gie bel. „Klar zum Anlegen!" rief Hasard schließlich. „Aye, aye, Sir!" Nacheinander wurden die Segel los geschlagen, die Rahruten in die Senk rechte gebracht und die Leinwand mit vielen halben und ganzen Schlä gen belegt. Nur mit der kleinen Fock und dem Besansegel manövrierten die Arwenacks ohne Schwierigkeiten auf einen Steg zu, an dessen Seite ein Bauwerk stand, das genauso aussah, wie es einem bezahlten Hafenkom mandanten zustand.
„Ruder hart Steuerbord." „Ruder liegt hart Steuerbord!" An einem Platz, wo das Schiff nichts und niemanden behinderte und sehr geschützt lag, wurden die Leinen ausgebracht. Eine Gruppe bärtiger Fischer mit zerfurchten Ge sichtern, dick angekleidet, fing die Wurfleinen auf und half, die Sche becke längsseits zum Kai aus Holz und Bruchstein zu bringen. „Segel bergen!" Hasard, Nils Larsen, Stenmark und Dan O'Flynn sprangen übers Schanz kleid an Land. Der Däne sprach die Fischer an, während die Crew die Lei nen ausbrachte, Fender setzte und die Schebecke für einen Aufenthalt von einem Tag oder länger aufklarte. Aufmerksam hörten die anderen zu, was Nils übersetzte, und was sie selbst nicht ganz verstanden, denn je der kannte einige Brocken aus vielen Sprachen. „Wir sind auf dem Weg nach Nor den, nach Bergen zu." „Schön für euch", murmelte ein Fi scher. „Im Sommer ist die Nordsee milde und zerstört nur wenige Schiffe." „Müssen wir Gebühren zahlen, wenn wir nur einen Tag oder ein biß chen länger bleiben wollen?" „Natürlich. Geht zu Bo Soderholm, hier entlang." Der Fischer deutete zu der schreiend bunt bemalten Tür des nächstgelegenen Hauses. „Wir suchen einen Verrückten. War er hier?" Die Antwort ließ erkennen, daß die Männer offensichtlich viele Ver rückte gesehen und erlebt hatten. Sie waren nicht im geringsten über rascht, wußten aber noch nicht, wen Dan O'Flynn meinte. „Vor wenigen Tagen - war hier ein schwarzes Schiff mit einem Kapitän
56 darauf, der sich für einen echten und wirklichen Wikinger hielt?" „Nein. Aber es gibt Gerüchte." Es wurde schnell deutlich, daß hier viele Schiffe anlegten und einige Zeit blieben. Die Fischer verstanden nicht wenige fremde Sprachen und waren weder mürrisch noch wortkarg. Sie sahen nicht verwahrlost oder ärmlich aus, ihre Kleidung roch durchdrin gend nach Fisch, war aber sauber und bestand aus gutem Stoff. Nähte, Ta schen und Knöpfe ließen erkennen, daß sie nicht billig gewesen waren. „Gerüchte? Welcher Art?" „Wir haben von Niederländern ge hört, daß man ihre Schiffe bedroht habe. Jemand ist erschienen und hat gesagt, daß ein Wahnsinniger an der Westküste Bäume gefällt und ein Feuer angefacht habe, drüben, bei den verschwundenen Runensteinen." „Verschwundenen? Keineswegs. Wir haben sie gesehen", erklärte Nils. „Und das Feuer natürlich auch." Die Fischer wirkten völlig uninter essiert. Sie winkten ab, als die Rede auf die Hinterlassenschaft der echten Wikinger kam. Einer sagte gelangweilt: „Einmal soll es diese Steine geben, dann wie der nicht - niemand weiß es genau. Und: was sollen wir mit solchen Stei nen anfangen? Höchstens zu Trüm mern zerhacken und Häuser damit bauen. Aber dazu sind sie zu weit weg." „Diese große Düne - dort war es." „Ah! Rabjerg Mile nennen wir sie. Sie wandert und wird eines Tages das Moor ausfüllen. Aber das ist etwas für unsere Enkel." Hasard zog Nils mit sich und ging über die knarrenden Bohlen auf die Tür des Hafenkommandanten zu. „Bringen wir es hinter uns", sagte er. „Wir sind arme, unwissende See leute und können nicht viel zahlen.
Aber wir brauchen Proviant. Erkläre das diesem Mister Soderholm." „Geht klar, Sir." Hasard war einerseits froh dar über, daß sie nicht mit dem Wikinger ausgerechnet hier zusammenstießen, andererseits wollte er ihn so schnell wie möglich treffen. Die Tür schwang knarrend nach au ßen auf, und sie gelangten in eine niedrige Stube, angefüllt mit Möbeln, erdrückend heiß und völlig men schenleer. „Hallo! Hafenkommandant! Wir wollen uns anmelden!" rief Nils und schaute sich ebenso neugierig um wie der Seewolf. Sie befanden sich mitten in einer Ansammlung seltsamer Dinge, die im Lauf langer Zeit aufgefischt, ange trieben, geschenkt oder in Zahlung gegeben worden waren. Auf schmalen Wandbrettern stan den und lagen faustgroße und klei nere Figuren. Sie sahen aus, als wä ren sie aus Elfenbein geschnitzt. Ha sard wußte es besser. Sie bestanden aus Walroßzähnen oder Knochen von Walen. Dargestellt waren Fische und Fischer, Meeresungeheuer, einfache Schiffchen und Tiere, die in diesen Breiten lebten. Die Umrisse waren gerundet und glattpoliert wie das Ma terial, aus dem die Figuren bestan den. Sie glänzten in dem matten Licht, das durch einige winzige Fen ster hereinfiel. „Sehr hübsch", sagte Nils und strich mit den Fingern über einige Fi guren. „Und wahrscheinlich kein Kinderspielzeug." Am besten gefiel ihm ein pelzver mummter Mann, der eine Harpune schwang. Hasard betrachtete die gro ßen, ausgestopften Fische, die an höl zernen Wandhaken hingen und ihn aus hohlen Augen ausdruckslos an stierten. Zwischen den alten, scharti
57 Nils runzelte die Stirn und fragte gen Stichwaffen hingen Schiffsmo delle von der Decke, über deren Bal erstaunt: „Das heißt ,lange Brat ken - schwarz gebeiztes und verwit wurst', wenn ich nicht irre." Bo lachte dröhnend und freundlich. tertes Treibholz, sorgfältig geglättet und verfugt - sich das Dach aus dunk Er schlug auf seinen mächtigen lem Reet erstreckte. Die Steine des Bauch und erklärte: „Genauso heißt der Krug, wo es diese trefflichen Kamins schienen zu glühen. Nils duckte sich unter einer ausge Würste gibt. Morgen früh ist Fisch stopften Möwe mit hackbereitem gel markt, gleich hinter dem Hafen. Da bem Schnabel und rief ein zweites könnt ihr alles kaufen, was ihr braucht. Und das beste Bier gibt's im Mal nach dem Hafenmeister. „So eilig kann es gar nicht sein", er Kro." „Das Haus mit den zwei Kaminen?" widerte eine tiefe Stimme aus dem In neren des Gebäudes. Ein mittelgroßer fragte Nils. „Ja. Da trefft ihr mich abends Mann, breitschultrig und mit einem wuchtigen Bauch, der mit dem weit auch." vorspringenden Brustkasten wett Nils erkundigte sich, ob jemand aus eiferte, schob sich durch eine Tür. Skagen in der vergangenen Nacht das „Von Eile keine Spur", erwiderte riesige Feuer an der Rabjerg Mile Nils Larsen. „Wir sind arme Schiffer gesehen hätte. Nur der Leuchtturm und wollen bis zur nächsten Flut in wärter, erhielt er zur Antwort, und der habe sich gewundert, weil er eurem Hafen bleiben." „Nichts dagegen. Ihr seid von die dachte, dort verbrenne ein Schiff. Der Hafenkommandant fuhr fort: sem fremdartigen Schiff mit den drei „Wir haben von einem schwarzen eckigen Segeln?" „Man nennt es eine Schebecke", Schiff gehört und von einer Mann sagte Nils. „Sprichst du auch eng schaft wilder Burschen, von denen sich einige offenbar für Wikinger hal lisch?" „Ein paar Brocken. Wollt ihr han ten." Plötzlich wirkte Bo Soderholm gar deln? Bringt ihr Waren mit?" fragte nicht mehr gemütlich. In sein rundes, Bo Soderholm. Nils und Hasard schüttelten die bärtiges Gesicht trat ein Ausdruck überraschender Härte. Köpfe. „Wir wollen Wasser an Bord neh „Wir waren einige Tage lang in men und, wenn wir etwas finden, gu Waffen und warteten. Aber der tes Essen. Wir sind unterwegs nach schwarze Segler traute sich nicht in Norwegen", erwiderte Nils. den Hafen. Oder aber er zog es vor, „Keine Handelswaren? Dann Niederländer zu plündern. Wir hät braucht ihr nur ein paar Kronen zu ten die angeblichen Wikinger mit blu zahlen." tigen Köpfen über den Skagerrak ge Er nannte eine vertretbar geringe jagt, da könnt ihr sicher sein." Summe. Er versuchte sie auch nicht „Ich glaube es dir. Wie viele Be zu betrügen und rechnete die engli waffnete könnt ihr aufstellen?" schen Silbermünzen korrekt um, so „Einige hundert werden es sein. weit Hasard das kontrollieren konnte. Wir sind gutmütige Fischer, aber „Wo ißt man gut?" wollte Nils wis wenn man uns reizt, sind wir unge sen. nießbar. Es soll sogar Dänen geben", „Im ,Mädisterpolse' ", erklärte Bo. jetzt lachte Bo Soderholm wieder,.
58 „die sich als Piraten versuchen. Er zend größerer und kleinerer Häuser folgreich, wie mir berichtet wurde." um die Bucht. Die Gebäude, Straßen „Tatsächlich? Wir kennen die Dä und der kleine Marktplatz wirkten nen nur als gastfreundliche Fischer sauber und gepflegt. Die Straßen wa und Bauern", erklärte Hasard, und ren gepflastert. Je mehr man sich der Stadtgrenze näherte, nahm die An Nils übersetzte. „Aber nur, wenn man uns nicht är zahl und die Größe der Bauernhöfe zu. Der Rundgang war schnell been gert." Die Seewölfe hatten auf den vielen det, und die kleine Gruppe der See Seemeilen dieser Reise einige der Dä wölfe stand auf dem Kamm einer nen kennengelernt, von denen Bo Düne. Unter ihnen erstreckte sich ein fla sprach. Der Schiffbrüchige war einer davon gewesen: so groß wie Hasard, cher, weit vorgeschobener Strand. Er breitschultrig, mit dicken Muskeln lief in eine Spitze aus. Dan O'Flynn und riesigen Pranken. Sich mit sol deutete nach rechts und links und er chen Wikingererben anzulegen, klärte den Arwenacks, was er in der konnte selbst die Seewölfe in Schwie Stadt erfahren hatte. rigkeiten bringen. „Hier treffen sich Skagerrak und „Sollten wir auf solche wütende Dä Kattegat. An die Spitze von Grenen nen stoßen, oder sie auf uns", meinte wir stehen sozusagen darauf - prallt Hasard in guter Laune, „dann weiß die jeweilige Stromrichtung, in der ich, was ich zu tun habe. Gehst du mit Regel Ost- oder Weststrom. Dort vorn in den Krug, Bo? Einen Humpen Bier könnt ihr es sehen." können wir uns gerade noch leisten." „Auch Dänemark ist voller Wun „Geht voraus." Bo stand auf und der", brummte Carberry. vollführte Bewegungen, als wolle er Sie gingen ohne Eile zum Hafen zu Hühner verscheuchen. „Ich komme rück, kehrten im Krug ein und frag nach. Skagen wird euch gefallen. Wir ten Bo Soderholm nach allem, was sie fürchten keine Fremden, nur die wissen mußten, wenn sie sich wieder Sturmfluten." auf die Spuren des nordischen Hasard öffnete die Tür und emp Schrats hefteten. fand den frischen Luftzug als große Erleichterung. „Uns geht es nicht anders", versi cherte er in holpriger Sprache. „Se Kurz bevor im ersten Sonnenlicht hen wir uns um." die Fischer und Bauern ihre Stände Nils Larsen und er gingen zurück aufschlugen, die Bretter auf die zum Schiff, berichteten und schließ Schragen stellten und ihre Waren lich erklärte der Seewolf: „Geht an ausbreiteten, schleppte sich eine Land und schaut euch um, wenn ihr Fleute von Osten her in den Hafen. Lust habt. Eine Wache muß unter al Der Kutscher, Mac Pellew und Bill len Umständen an Bord bleiben. Ich verließen das Schiff und bewegten bin in ein paar Stunden wieder zu sich gähnend auf den Markt zu. Jeder rück." hielt eine große Lederpütz in der Hand. „Aye, Sir." Skagen am Kap Skagen, von schät „Du verstehst mehr von gutem zungsweise tausend Leuten bewohnt, Fisch, Mac", meinte der Kutscher. gruppierte sich mit etwa zwölf Dut „Laß dir ja keine Gräten andrehen."
59 „Ich brauche deinen Rat, Mann", brummte Mac. „Und du machst deine Augen auch auf, Bill, verstanden?" Im Krug hatten sie nicht viel ge trunken, aber es war sehr spät gewor den. Die Sonne, die gerade über die Kimm stieg, war zu grell. Die Mor genluft kämpfte gegen den Schlaf dunst der Seewölfe. Jeder Möwen schrei war aufdringlich laut wie ein Musketenschuß. Am Ende des Kais blieben sie wie auf ein unhörbares Kommando stehen und schauten nach links. „Niederländer", meinte Pellew. „Nicht mehr ganz seeklar, wie?" murmelte Bill und gähnte dreimal hintereinander. „Helfen wir ihm?" fragte der Kut scher. „Er will vor uns vertäuen." „Wir helfen. Kostet nichts." Die Takelage und das Deck der nie derländischen Fleute waren in Ord nung. Die Crew bewegte sich schnell und geschickt. Daß das Schiff so tief im Wasser lag, verwunderte die See wölfe trotz ihrer getrübten Köpfe nicht, denn es kam aus Osten und mußte schwer geladen haben. Die Seewölfe stellten ihre Pützen ab, fingen die Wurfleinen auf und zo gen die dickeren Festmacher hinter her. Als das Schiff festlag, rief der Kut scher: „Habt ihr Ärger, Schlickrut scher?" „Ein Leck!" „Trockenfäule? Oder hat euch ein Sägefisch ein Loch geschnitten?" Vom Achterdeck ertönte ein ver mutlich wüster Fluch und die Ant wort: „Wir haben oben im Norden ei nen schwarzen Piraten gesichtet, mit Hörnern am Kopf. Wir sahen zu, ihm unser Heck zu zeigen, und da hat uns ein Felsen tatsächlich gefunden." „Die Skagener helfen euch schon", sagte der Kutscher, schnappte sich
seine Pütz und ging weiter, dem Lärm, der Musik und dem Geschrei nach. Die Hafengasse stieg zwischen den Hausfronten steil an, statt der Steine gab es Sand und Lehm voller Löcher und Pfützen. Der Platz wei tete sich, und alle eßbaren Schätze von Skagen und Umgebung waren ausgebreitet. Würste, Schinken, aller lei Gemüse und Eier, Brot - und Fisch. Viel Fisch. Große und kleine Fische, Fische mit und ohne sichtbare Gräten, gesalzene Fische und solche, die nach Kräutern und nach altem Fisch rochen. Stockfisch, geräucher ter Fisch, jede Art von Fisch. Hunderte Einwohner gingen von ei nem Stand zum anderen, prüften hier und kauften dort, scherzten mit den Bauern und ließen die Flüche der Fi scher über sich ergehen, wenn sie nichts kauften. „Wie wollt ihr euren verdammten Fisch?" fragte Mac Pellew. „Gebraten. Und auf jeden Fall ohne Gräten", erwiderte Bill. „Ich kenne deine verdammte Kocherei. Immer muß man die Gräten zwischen den Zähnen rauspuhlen." Mac packte Bill am Arm und schob ihn auf einen Stand zu, an dem ein Fischerpaar wahrhaft riesige Stücke Fisch verkaufte. „Hier. Suche deinen verdammten stinkenden Fisch selbst aus. Und dann beklage dich nicht. Und du hilfst ihm, klar?" sagte er zum Kut scher. Er deutete über seine Schulter und knurrte: „Ich kaufe Würste, die sich ein paar Tage halten. Denkt daran. Wir sind mehr als fünf Leute. Sie wol len alle Fisch haben. Klar?" „Aye, Mister Pellew." Mac Pellews Gesichtsausdruck hatte vom Grämlichen ins Wütende gewechselt. Zusammen mit der Mü digkeit wirkte er wie der Schrecken.
60 aller Meere. Er ging von einem Tisch zum anderen und schaute sich an, was angeboten wurde. Hinter ihm feilschten die beiden Kameraden um große Stücke Fisch ohne Gräten. Die Fischer, die immerhin begriffen, was die Seewölfe wollten, schnitten und hackten an ihren halbierten Fischen herum und stapelten sie in die Püt zen. „Und was fangen wir mit dem Reh fleisch an?" brummte Mac und sagte sich schließlich, daß früher oder spä ter alles, was in der Nähe der Kom büse gebunkert wurde, verputzt wer den würde. Schon allein deshalb, weil es nichts anderes mehr gab. Und wenn das Zeug gammelte, ging es über Bord zu den Fischen. „Alles wird gekocht, gebraten und verschlungen", sagte er grämlich und beendete mit einem Sack voll Ge müse seine Einkäufe. Er blieb hinter seinen Kameraden stehen und sah verblüfft, wie viele Fischstücke sie gekauft hatten. „Wollt ihr bis Bergen noch etwas anderes essen als Fisch?" fragte er. „Das reicht gerade bis heute abend", widersprach Bill. „Fertig?" „Ich bin fertig." Sie schleppten ihre Einkäufe zur Schebecke zurück, und als sie mit den Vorbereitungen einigermaßen fertig waren, schlug die Glocke im Kirch turm. Es war Mittag, und die Nieder länder hatten längst angefangen, ihre Lasten zu entladen. Ein Stück Segel tuch war von außen über das Leck ge zogen worden. Mac Pellew schaute sich um, hob gottergeben die Schultern und sagte zum Kutscher: „Aye! Heute gibt's also Fisch. Reichlich Fisch. Mit dem grünen Zeug. Das ist gut, dann fallen die Zähne nicht aus." „Der Geruch wird sie alle überzeu gen."
Sie nahmen die größten Pfannen und schnitten große Brocken gelbe Butter hinein. Der Kutscher ver rührte Milch und Ei miteinander. Die Fischstücke wurden mit Salz einge rieben, mit geriebenem Pfeffer be streut und in die gelbglibbrige Soße getunkt. Dann wälzte der Kutscher sie im groben Mehl und legte sie in die erhitzte Butter. Es zischte und dampfte. Über das Deck drangen Schwaden aus Rauch, Dampf und Bratenduft. Sie wälzten sich über die Kuhl, wur den aufs Achterdeck und zum Bug ge trieben und verbreiteten sich über den Kai. Die Niederländer schauten mißtrauisch zur Schebecke hinüber. In den Pfannen brutzelte und schmorte es. „Backen und Banken! Einer nach dem anderen!" schrie Bill und roch an seinen Händen. Sie rochen stark nach Fisch. Um es genauer zu sagen: sie stanken nach Fisch. Ein paar von den Arwenacks halfen den Niederländern. Ferris Tucker hantierte mit seinem Werkzeug. „Wollen die etwa auch bei uns es sen?" erkundigte sich der Kutscher mit einer abwehrenden Geste. Mac schüttelte energisch den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich bin vielmehr ganz sicher, daß sie keinen Fisch mö gen. Nach einigen Atemzügen, in denen sich seine Lungen mit dem Geruch von dunkel gebräunter Butter und Fisch füllten, setzte er etwas leiser hinzu: „Ich weiß auch, warum sie kei nen wollen." Während die Arwenacks nachein ander an Deck der Schebecke erschie nen und ihre Portionen in Empfang nahmen - es gab dazu dünnes däni sches Bier -, brieten und brutzelten der Kutscher und Mac Pellew die gro ßen Fischstücke. Ab und zu fluchte ei
62 ner der Kameraden und zog dünne Gräten zwischen den Zähnen hervor. „Nie wieder Fisch", brummte Don Juan und schüttelte den Kopf. „Man kann sich innerlich aufspießen an die sen Harpunen aus Knochen." „Das ist das Wenigste", fauchte Ben Brighton. „Jahrelang wird die Sche becke innen und außen nach dem Zeug stinken." „Wer hat sich eigentlich Fisch ge wünscht?" regte sich Edwin Carberry auf. „Irgendein Affenarsch vom Vor schiff?" Hasard hob seinen Humpen, peilte den Profos über den Rand an und er klärte ruhig, aber unüberhörbar: „Ich." Carberry zuckte zusammen, schau te aufs Hafenwasser hinaus und zu den schuftenden Niederländern hin über, dann pfiff er leise durch die Zähne und erklärte: „Fisch soll ja be kanntlich enorm gesund sein. Man kriegt keinen dicken Hals, billig ist er, wenigstens in Skagen, und mit den dicksten Gräten", er zog ein fingerlan ges Ding zwischen den Backenzähnen hervor und stierte es an, „kann man sich die Fingernägel reinigen oder Lö cher bohren. Ist schon richtig, Sir." „Das will ich meinen", sagte Hasard mit feinem Lächeln und senkte den Kopf. Während sich der Geruch oder Ge stank, je nach Empfindlichkeit der Arwenacknasen, unterhalb der Plan ken bis in den letzten Winkel ausbrei tete, aßen die Seewölfe hungrig und teilweise begeistert die riesigen Por tionen. Als der Kutscher schließlich das schwarzgebrannte Fett aus der Pfanne im hohen Bogen ins Hafen wasser schüttete, stieg zischend eine Dampfwolke in die Höhe. „Nie wieder einen solchen Fisch", sagte Big Old Shane. „Aber unsere Köche haben ihr Bestes gegeben."
„In Zukunft könnt ihr Zwiebeln fressen", versprach schimpfend der Kutscher. „Die stinken noch mehr. Fisch ist nahrhaft und gesund." „Man riecht's!" schrie Batuti und ließ erkennen, daß er die goldbraune Kruste am meisten mochte. Sie beruhigten sich nur langsam. Die Kombüsencrew wurde auf ein stimmigen Beschluß hinüber an den nächsten Strand geschickt. Sie sollte mit Sand und reinigendem Seewasser ihre Pfannen und Töpfe säubern und schrubben und nicht eher zurückkeh ren, bis der Gestank aus dem Geschirr gewichen war. Als sie sich über die viele Arbeit be klagten, schickte der Seewolf seine Söhne und Blacky als Träger und Hilfskräfte mit. Die Schreieule Sir John war vor den Rauchschwaden in den Masttopp ge flüchtet, schlug dort mit den Flügeln und beschimpfte äußerst sprachge wandt die Arwenacks mit allen ge lernten Sprüchen, Flüchen und Hin weisen zur Schiffsführung. „Eins weiß ich genau", sagte Paddy Rogers zufrieden, strich über seinen Bauch und goß den Rest Bier in seine Kehle. „Ich werde Skagen nie verges sen. Der Kutscher und Mac Pellew wechselten in verzweifeltem Einver ständnis einen langen, schweigenden Blick. „Du weißt Bescheid?" fragte Mac. „Alle meine teuren Londoner Ge würze können daran nichts ändern." „Morgen oder übermorgen nehmen wir uns den Rehbraten vor", mur melte der Kutscher. „Ein undankba res Volk hier an Bord." Sie zuckten mit den Schultern. Es stank noch immer nach Fisch. „Wir müssen etwas tun." Der Kutscher zeigte auf das Fäß chen, das zwischen Spanten und
63 Stringern mit mehreren Schlägen ei nes Stropps belegt war. „Wir haben diesen dänischen Schnaps. Jedem einen großen Be cher?" „Einverstanden. Dann sind sie friedlicher." Als sie sich mit ihren Bechern und Tabletts an Deck wagten, waren sie mehr als überrascht. Es gab keine Re ste. Niemand hatte von dem leckeren goldbraunen Fisch etwas übriggelas sen, auch nicht von dem Grünzeug, das dazu gekocht worden war. „Guter Schnaps, das", sagte kehlig Bob Grey. „Lebenswasser", sagte der Kut scher bedächtig und hoffte, daß ihm nicht jemand eine Schale oder das Messer nachwerfen würde. „So heißt es hier." „Aqua vitae", dozierte Dan O'Flynn, der die Sorgen und Befürch tungen der Kombüsencrew längst er kannt hatte. „Der Genuß führt oft dazu, daß man beispielsweise Gno men und Elfen tanzen sieht, wo gar keine sind." Sofort goß ihm Mac Pellew den Be cher erneut voll. Sie zwinkerten sich wie Verschwörer zu. „Es war ein ausgezeichnetes Es sen!" rief Philip Hasard Killigrew, stand auf und stellte sein Eßgeschirr ab. „Es macht stark und kräftig. Und deswegen helfen wir jetzt den Nieder ländern und ziehen, zusammen mit den Fischern an ihrer Fleute." Die Niederländer konnten sich
selbst helfen, wenn es gelang, die schwere Fleute in der einsetzenden Ebbe so weit auf die Seite zu legen, daß das Leck frei wurde und die Plan ken repariert werden konnten. Am späten Abend erschien der Nie derländer an Bord der Schebecke, übergab dem Kapitän ein wohlgefüll tes Faß und bedankte sich. Es roch noch immer nach Fisch. Überall - an Deck und besonders un ter Deck. Als die Flut ihren höchsten Stand erreicht hatte, lösten sie die Leinen, schwangen die Schebecke herum und stakten sie mit den Riemen aus dem kleinen Hafen. Der frische Wind aus dem südli chen Quadranten packte die Lein wand, als sie gut von Land frei waren. Der Morgen würde sie weit draußen im Skagerrak und auf Nordwestkurs finden. Ohne Eile Wurde das Schiff aufge klart. Das Fäßchen des Niederlän ders war zur Hälfte geleert. Die ersten Nordseewellen hoben und senkten den Bug. Hasard schlief tief und fest in seiner Kammer. Dan O'Flynn stand achtern und flüsterte die Kommandos an die Wache. Als die Schebecke gut auf Kurs lag und die wenigen Lichter Skagens kleiner wurden und schließlich blinkend ver schwanden, lehnte sich Dan zurück und schnüffelte. „Ich wollte es nicht glauben", sagte
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er zu Al Conroy, der wieder einmal an der Pinne stand. „Aber der Geruch des gesunden Essens wird uns wohl bis hoch in den Norden begleiten." „Der Fisch war gut", bestätigte der Stückmeister. „Aber man sollte ihn wirklich nur an Land braten." Dan O'Flynn hob die Schultern, wischte sich den Gischt eines Seewas
serspritzers aus dem Gesicht und meinte: „Je länger wir segeln, je älter wir werden, desto mehr lernen wir. Und ganz besonders gilt das für Fisch." Al lehnte sich schwer auf die Pinne, peilte den Kompaß an und sagte mit Grabesstimme: „Und er stinkt doch."
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 617
Das Schiff aus dem Nebel
von Fred McMason Ganz schwach in dem nächtlichen Nebel wurde eine Jolle sichtbar. Dan O'Flynn hatte sie entdeckt. Die vier Schatten darin waren kaum wahrzunehmen. Mehr als daß sie etwas sahen, spürten die Arwenacks, daß die Jolle an der Bordwand anlegte und drei Kerle lautlos aufenterten, während der vierte im Boot blieb. Sie waren noch nicht richtig über dem Schanzkleid, als die Arwenacks blitzschnell in Aktion traten. Hasard riß den ersten Kerl mit einem wilden Ruck zu sich heran und versetzte ihm einen Fausthieb unter das Kinn. Den zweiten räumte der Pro fos mit einem Volltreffer ab, und den dritten nahm Big Old Shane eisenhart in Empfang. Hasard riß seinen Kerl wieder hoch - und erstarrte...
Januar 1988