Band 3
In dieser Reihe bereits erschienen: Band 1 Band 2
Pat Murphy Charles L. Fontenay
Die Geisterseherin Die Jahr...
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Band 3
In dieser Reihe bereits erschienen: Band 1 Band 2
Pat Murphy Charles L. Fontenay
Die Geisterseherin Die Jahrtausendflut
Peter Schmidt
ENDZEIT
© 2004 by BLITZ-Verlag GmbH Redaktion: Jörg Kaegelmann Cover Artwork: Mark Freier Illustration: Harry Messerschmidt Lektorat: TTT, Mallorca Satz: M. Freier, München 1 Druck und Bindung: Drogowiec, Polen All rights reserved www.BLITZ-Verlag.de
Prolog D
er Wind hatte aufgefrischt und eine Bö wirbelte ihre Notizblätter über die Dachterrasse … Karen ließ die Zeitung sinken und sah blinzelnd zur dunklen Wolkendecke hinauf. Eben war der Himmel noch wolkenlos gewesen, fast schon ein wenig zu blau für diese Breiten, aber jetzt wanderten lange Schatten übers Haus. Der untere Teil der Wolkenfetzen trieb nach Norden, der andere bewegte sich in entgegengesetzter Richtung. Es sah aus, als berührten seine Ausläufer die Hochhaustürme. Zwischen den beiden Wolkendecken schien gleißend helles Sonnenlicht. Karen stand auf und sammelte ihre Notizen für die Klausur ein. Sie legte alles in den chinesischen Kalender, den Vater ihr zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Als sie sich auf die Sonnenliege zurücksinken ließ, war plötzlich ein merkwürdiger Fleck zwischen den beiden Wolkendecken zu sehen – lang gestreckt und dunkel. Nur ganz vage erkennbar, wie durch eine Milchglasscheibe. Er bewegte sich völlig lautlos und war sofort wieder zwischen den treibenden Wolkenfetzen verschwunden. Ein Segelflugzeug? Ein großer Vogel? Karen strich sich verwirrt über die Augen, als habe sie schlecht geträumt. In den letzten Tagen vor der Abschluss7
prüfung schlief sie manchmal bei der Arbeit ein. Anschließend wusste sie nicht genau zu sagen, ob sie wirklich geschlafen oder es sich nur eingebildet hatte. Es war wie der Sekundenschlaf auf der Autobahn, wenn man sich plötzlich auf der anderen Fahrbahn wiederfand. Schuld waren ihre unsäglichen Prüfungsaufgaben. Welcher Mensch konnte schon ernsthaft etwas über die »ontologische Differenz von Sein und Wesen in der Philosophie des Thomas von Aquin« sagen, ohne aufgeblasen und lächerlich zu wirken? Karen richtete sich überrascht auf. Da war es wieder … irgendetwas wie ein riesiger, dunkler Flügel tauchte aus den Wolken auf … aber gab es denn überhaupt so große Vögel? Sie packte eilig ihre Sachen zusammen und lief zur Wendeltreppe. Der Wind hatte weiter aufgefrischt und zerrte an den großen Topfpflanzen. Die Kronen der jungen Bäume neigten sich so stark über das Geländer der Terrasse, als drohten sie jeden Augenblick in die Tiefe zu stürzen. Karen liebte diese Wohnung über dem ehemaligen Naturkundemuseum, weil sie einen großen Dachgarten besaß. Schon halb auf der Treppe stehend musterte sie noch einmal argwöhnisch die Wolkendecke. Dann eilte sie quer durch die Wohnung bis zur Eisentür, die erst vor kurzem als provisorischer Durchbruch zum benachbarten Gebäude eingebaut worden war, und beugte sich in den dahinter liegenden Raum. »Paps? – Da draußen ist irgendetwas Merkwürdiges am Himmel!« Durch eine Glaswand am Ende des lang gestreckten 8
Raumes sah man Wissenschaftler, deren Kunststoffanzüge und Helme an plumpe Raumanzüge erinnerten. An den Arbeitstischen arbeiteten Wissenschaftler in makellos weißen Kitteln. Born trug als einziger normale Kleidung. Er wandte sich auf seinem Drehstuhl nach Karen um, als er ihre Stimme hörte. »Kommst du gut mit der Arbeit voran?« »Es geht nicht ums Studium. Ich war gerade auf der Dachterrasse. Erst gab es eine fürchterliche Sturmbö – und dann tauchte dieser Schatten auf …« »Ein Schatten – wovon?« »Ich weiß nicht …« Born kam zu ihr herüber und legte lächelnd seinen Arm um Karens Schulter. »Du bist wieder mal eingeschlafen, hab’ ich Recht? Weil du zu viel arbeitest.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Himmel, ich bin spät dran. Diese senilen alten Millionäre im Klub nehmen es ganz genau mit der Pünktlichkeit.« »Glaubst du, du wirst das Geld für deine Forschungen von ihnen bekommen?« »Keine Ahnung«, sagte er achselzuckend. »Vielleicht imponiert es ihnen ja, dass ihr Antragsteller für den diesjährigen Nobelpreis nominiert ist …« »Du bekommst es, Paps – genauso wie den Preis, das spüre ich!« Karen küsste ihn auf die Wange.
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Erstes Kapitel 1 Doktor Born hatte den Nachmittag im Gordon-Klub verbracht – einer Vereinigung seniler Millionäre, die sich Röntgenaufnahmen ihrer künstlichen Hüftgelenke zeigten und einander mit klappernden Zahnprothesen vorschwärmten, wie sie ihre ersten illegalen Millionen eingefahren hatten. Denn darüber waren sich alle einig – dass man mit ehrlicher Arbeit selten reich wurde. Das Gebäude lag in einem verfallenen Park hinter hohen Backsteinmauern. Seine Fassade glich eher einem verarmten Kinderheim als einem vornehmen Klub. Aus den Ritzen der Portaltreppe wuchs Unkraut. Die blinden Fensterscheiben gaben nur widerwillig den Blick auf schäbige nikotingelbe Gardinen frei, und an der Tür empfing einen das Faktotum der Gesellschaft, die perfekte Personalunion von unterwürfigem Hausdiener, emsigem Hausmeister und grauer Eminenz. Ansinnen von außerhalb des Klubs, die den Rahmen üblicher Plaudereien sprengten, wurden auf einem vervielfältigten Formular herumgereicht. Landete das schlecht leserliche Blatt nach einem flüchtigen Blick – der magisch von der mit rotem Filzstift eingekreisten Geldsumme angezo10
gen wurde – im herumgereichten Korb, dann bedeutete es das unwiderrufliche Aus für den Besucher. Das gleiche Ergebnis bewirkte auch ein unmerkliches Kopfschütteln. Doch jedes Kopf schütteln in der Runde orientierte sich an den wackelnden Köpfen der anderen. Um Himmels willen, dachte Doktor Born resignierend, wie hielten sie überhaupt ihr seniles Zittern und ihr ablehnendes Kopfschütteln auseinander? Er hatte gehofft, er würde hier jemanden finden, der seine Genversuche finanzierte. Aber diese sabbernden alten Männer lebten nur noch in der Vergangenheit. Der Name des Klubs war von der bekannten englischen Gin-Marke abgeleitet. Das sagte eigentlich schon alles über die wahren Interessen seiner Mitglieder. Er würde niemals Geld für private Studien von ihnen bekommen, gleichgültig, ob es dem Wohle der Menschheit diente oder – wie man argwöhnte – nur seiner beruflichen Karriere. Man hatte ihm geraten, nichts von seiner Nominierung für den diesjährigen Nobelpreis in Biologie zu erwähnen. Das hätte als Angeberei aufgefasst werden können, wenn nicht sogar als eine Form von finanzieller Nötigung. Und auf gar keinen Fall zu viele wissenschaftliche Einzelheiten! Einfache Gegenüberstellung von Aufwand und Nutzen. Ruhm und Verdienste in nicht zu blendenden Farben gemalt! Doch wie so oft hatte sich auch hier wieder gezeigt, dass noch so clevere Regeln unter Menschen nicht dasselbe waren wie die Gesetzmäßigkeiten in den Naturwissenschaften. Er trank eine Tasse grünen Tee ohne Zucker, während die Versammlung entschied. Wohlweislich keinen Alkohol – 11
obwohl er in zahlreichen Flaschen und Variationen bereitstand –, weil einen das in den Augen von Alkoholikern leicht als Alkoholiker diskreditierte. Nach diesem Fehlschlag hatte er drei Straßenzüge weiter im Old Barber zu Abend gegessen. Etwas zu fett, etwas zu viel, etwas zu schlecht. Es gab in diesem Moloch von Stadt einfach kein gutes englisches Restaurant, wie er es während seines Studiums auf der Insel schätzen gelernt hatte. Obwohl der Barber direkt aus Oxford auf den Kontinent herüber gekommen war, schienen die Zutaten mit der Überquerung des Ärmelkanals ihre chemische Beschaffenheit geändert zu haben. Als er im Lokal an der U-Bahn-Station ein letztes Glas Bier trank, um sein Völlegefühl loszuwerden, sprach ihn ein alter Bekannter an – zumindest glaubte Born, dass der andere sich noch gut genug an ihn erinnerte. Er hatte Wladimir auf einer Fachtagung kennen gelernt. Wladimir Karow gehörte zur russischen Delegation, Abteilung Genreproduktion. Die Russen waren vor allem daran interessiert, mit Biogenetik Geschäfte zu machen. Die Forschung selbst interessierte sie herzlich wenig. Der Mann in seiner Begleitung hatte ein südländisches Gesicht. »Sind Sie nicht Karl?«, erkundigte sich Wladimir. »Sind Sie nicht der verrückte Biologie-Professor, der gar kein richtiger Professor ist?« Obwohl Born den Kopf schüttelte, fuhr er ungerührt fort: »Ist es wahr, dass Sie Ihren Professorentitel wegen einer Frauengeschichte verloren haben?« »Ich hab’ ihn nicht verloren, weil ich ihn gar nicht erst bekommen habe.« 12
»Sie hatte solche Titten«, schwärmte Wladimir und legte seine gewölbten Handflächen vor die Brust. »Sie war die schärfste Vorzimmersekretärin, die man je an irgendeiner Universität gesehen hat. Sie konnte kaum aufrecht sitzen, weil sie wegen ihres Vorbaus immer auf die Schreibmaschine zu kippen drohte. Man muss sich das mal vorstellen«, sagte Wladimir. »Die Kleine streckt ihre Hände aus, um die Tasten anzuschlagen – und dann kippt ihr Körper wie in Zeitlupe nach vorn … Karl steht auf so was.« »Sie haben Ihren Doktortitel wegen ihrer Titten verloren?«, fragte Wladimirs Begleiter. »Alle Achtung.« »Sie hatte noch andere Vorzüge …« »Okay, okay, Themawechsel«, schlug Wladimir vor. »Haben Sie schon von den Gerüchten gehört?« »Welche Gerüchte? Nein.« »Es war doch in allen Zeitungen. Das Fernsehen soll sogar eine Sondersendung darüber planen.« »Ach, Sie spielen auf diese dubiosen Erscheinungen am Himmel an?« »Riesenvögel, die nachts auf die Jagd gehen.« »Sie meinen, wie bei Alfred Hitchcock?« »Nein, das waren harmlose Raben oder Krähen. Viel größer und gefährlicher.« »Um was für eine Spezies soll es sich dabei handeln?« »Einige Experten bei uns in Russland glauben, dass die CIA dahinter steckt. Irgendeine genetische Manipulation, um Tiere zu Spionagezwecken zu missbrauchen.« »Ehrlich gesagt, halte ich das alles für ausgemachten Blödsinn«, sagte Doktor Born. Er trank sein Bier aus und 13
legte ein paar Münzen auf die Theke. Der Kellner wischte sie in sein Portemonnaie, ohne hinzusehen. Danach fuhr er mit grummelndem Bauch und leise vor sich hinrülpsend zur U-Bahn-Station am Naturkundemuseum. Sein Völlegefühl hatte keinen Deut nachgelassen. Er sehnte sich nach einem kalten Schluck Bier und einem lauwarmen Bad. Vielleicht würde er diese Nacht wieder auf der Dachterrasse schlafen. Zwei Jungen im Abteil sprangen plötzlich von ihren Sitzen auf und starrten wie gebannt durchs Fenster. Ihre Augen waren weit aufgerissen, aber er konnte nicht erkennen, was sie dort draußen in der Dunkelheit faszinierte. Durch die Scheiben des Waggons sah der Himmel in der Dämmerung aus wie flüssiges Wachs. Doktor Born lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es blieb alles beim Alten – für außerplanmäßige Forschungen keine Mittel. Den folgenden Tag verbrachte er damit, noch einmal sein Material zu sichten. Zum Mittagessen nahm er die Unterlagen mit in sein Lieblingsrestaurant zwei Straßen vom Institut entfernt, weil er dort das Gefühl hatte, genügend Abstand zu haben und die Situation gewissermaßen »von außen« betrachten zu können. Die Vorstandssitzung der Chrysler-Bondt-Stiftung bewilligte nur außerordentliche Mittel, wenn der wissenschaftliche Nutzen gesichert war. Aber wann wusste man das schon vorher? Ihr Vorsitzender Herbert Kahn wurde von allen im Institut wegen seiner Unnachgiebigkeit ge14
fürchtet. Aber vielleicht ließ sich dieser scheinbare Nachteil ja in einen Vorteil verwandeln? Born stand jetzt an einem Punkt seiner Untersuchungen, der es ihm erlauben würde, fehlerhafte Erbinformationen innerhalb einer DNS-Kette zu überbrücken. Die Israelis waren möglicherweise genauso weit. Und auch in seinem eigenen Institut gab es Konkurrenz. Als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, stand er abrupt auf und winkte der Kellnerin wegen der Rechnung. Er würde den Vorsitzenden der Stiftung einfach persönlich ansprechen! Das hatte vor ihm noch niemand gewagt … Auf dem Weg versuchte er sich die besten Formulierungen und Argumente einzuprägen. Es war bereits dunkel. Er verzichtete darauf, mit der U-Bahn zu fahren, weil die frische Luft ihm gut tat. Er saß zu viel im Labor, ein wenig Bewegung konnte nicht schaden. Vor der Universität sah er eine alte Frau in einem Geschäftseingang kauern. Sie schien völlig verängstigt zu sein. Als er sich über sie beugte, hörte er sie schluchzen. »Was ist passiert?«, fragte er und berührte vorsichtig mit der Hand ihre Schulter. Die Frau zuckte erschreckt zusammen. »Da war etwas in der Luft«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ein großer Schatten hat sich auf mich gestürzt.« »Unsinn, das bilden Sie sich nur ein – wegen der Horrorgeschichten in den Zeitungen!« »Es hat mich am Kopf erwischt … hier.« Doktor Born betastete ihren Hinterkopf. »Eine Beule. Sie sind gestürzt.« 15
»Nein, es war das Tier!« »Hm …« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann sollten wir die Polizei verständigen, oder?« Born blickte sich suchend um. »Bleiben Sie hier und rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ich werde vom Lokal drüben anrufen.« Aber als er gerade die Fahrbahn überqueren wollte, kam ein Polizeiwagen mit abgeblendeten Scheinwerfern die Straße hinunter. Born hob die Hand, und der Wagen stoppte neben ihm am Straßenrand. Der Beifahrer kurbelte die Scheibe hinunter. »Was kann ich für Sie tun?« »Drüben im Hauseingang sitzt eine Frau, die von einem großen Tier aus der Luft angegriffen wurde.« »Aus der Luft angegriffen … ist sie verletzt?« »Nur eine leichte Beule.« Der Beamte warf seinem Kollegen einen wissenden Blick zu. »Wieder dieser verdammte Wetterballon …« »Was denn, ein Wetterballon?«, fragte Born. »Das würde allerdings einiges erklären. Aber wie kann man einen Ballon mit einem großen Vogel verwechseln?« »Oh, manche dieser Konstruktionen der Wetterfritzen sehen ziemlich abenteuerlich aus.« »Verstehe. Vielen Dank.« Er ging zu der alten Frau im Hauseingang hinüber. »Sie können jetzt beruhigt nach Hause gehen«, sagte er. »Die Sache ist aufgeklärt. Es war nur ein Wetterballon.«
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2 Herbert Kahn war ein kleiner Mann mit hoher Mathematikerstirn und kühlem Blick. Wenn er redete, hatte man schon nach wenigen Sätzen den Eindruck, dass es vor allem darum ging, ihm nicht zu widersprechen. Der Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer war die spartanische Variante eines flandrischen Eichentischs, ohne Schubladen und ohne jede Verzierung. Herbert Kahn trug einen dünnen grauen Morgenmantel aus Satin, obwohl es bereits Abend war. Seine Villa wirkte genauso kahl und kalt auf Born wie der Vorsitzende selbst. Es gab keine Teppiche und kaum Bilder, nur riesige Räume mit wenigen alten Möbeln, in denen man leicht die Orientierung verlieren konnte, weil alles gleich aussah. »Sehr ungewöhnlich, dass sich ein Mitarbeiter des Instituts direkt an mich wendet«, sagte Kahn und reichte ihm ein Glas trockenen Sherry. »Wegen des besonderen Anlasses. Die Zukunft der Genforschung liegt möglicherweise in einer Eiweißverbindung, in der sich ein raffinierter – fast sollte man sagen genialer – Reparaturmechanismus verbirgt. Die Natur vollbringt auf diese Weise jeden Tag das Wunder, defekte Erbinformationen wiederherzustellen. Und wir sind dicht davor, diesen Mechanismus zu rekonstruieren! Aber die Bondt-AG kann dafür gegenwärtig keine weiteren Mittel aufbringen. Bitte 17
verstehen Sie mich richtig, Doktor Kahn. Wir forschen auf anderen Gebieten, während der Fortschritt gerade dabei ist, uns offenen Auges zu überholen. Wir dürfen keinen Tag länger warten. Die Situation ist kritisch.« »Ich werde mir die Unterlagen kommen lassen …« »Oh, wenn Sie wollen, ich habe einige Papiere mitgebracht?« »Inwiefern unterscheiden sich diese Arbeiten von Ihren bisherigen Forschungen?« »Sie meinen, was meine Nominierung für den Nobelpreis anbelangt?« »Könnte es die Nominierung beeinflussen?« »Es ist eine Fortsetzung meiner bisherigen Arbeiten. Ihr krönender Abschluss, würde ich sagen.« »Aber das Komitee wird Ihnen den Preis für Ihre bisherigen Entdeckungen verleihen, verstehe ich das richtig?« »Ich bin im Gespräch. Niemand weiß ganz sicher, wie sie entscheiden werden.« Kahn trank mit spitzen Lippen etwas von seinem Sherry und musterte ihn entnervt. »Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, Doktor Born: Könnten neue Ergebnisse Ihre Nominierung positiv oder negativ beeinflussen?« »Möglicherweise, ja.« »Wäre es dann nicht klüger, in der fast schon sicheren Position eines künftigen Preisträgers für Molekularbiologie abzuwarten? Ich meine, auch im Sinne des Instituts, das sich von diesem Preis natürlich erhebliches internationales Renommee verspricht?« »Ja, vielleicht. Ich befürchte nur, dass wir kostbare Zeit 18
vergeuden. Schon einhundertfünfzigtausend Euro könnten den entscheidenden wissenschaftlichen Durchbruch bringen.« »Es geht uns immer darum, Kosten und Nutzen abzuwägen. Genmanipulation ist und bleibt ein sensibles Thema.« »Das Gebiet der genetischen Reparaturmechanismen bietet ungeheure wissenschaftliche Aussichten.« »Wir werden in der nächsten Vorstandssitzung der Chrysler-Bondt-Stiftung darüber entscheiden«, sagte Kahn. »Es wäre den anderen Mitgliedern gegenüber nicht fair, hinter ihrem Rücken Vereinbarungen zu treffen.« »Nein, natürlich. Das habe ich auch nicht erwartet.« Der Platz vor der U-Bahn-Station war menschenleer, nur eine junge Frau strebte eilig zwischen den weit auseinander liegenden Laternen auf die Kreuzung zu, als sei jeder Lichtkegel so etwas wie eine rettende Insel in der Dunkelheit. Doktor Born hatte gerade seinen Zigarettenstummel in den Rinnstein geworfen, als ein riesenhafter schwarzer Schatten über den Dächern auftauchte. Das merkwürdige Etwas schwebte fast lautlos zwischen den Hochhaustürmen heran. Seine Flügelspannweite betrug mindestens achtzehn Meter. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Einen Augenblick schien es über seinem ahnungslosen Opfer stillzustehen. Die Frau bemerkte das Tier erst, als sie von seinem langen Schnabel mit den verschränkten Zähnen beim Genick gepackt wurde. Ihr kurzer Schrei erstarb im Schlagen der Flügel. 19
Das Tier hob ihren hilflos zappelnden Körper mühelos in die Lüfte. Seine lederartigen Flughäute mit den dreifingrigen Armen, die an einen Flugdrachen oder eine überdimensionale Fledermaus erinnerten, bewegten sich ohne Eile auf und ab. Vor der verspiegelten Fassade des Versicherungsgebäudes beschleunigte es kraftvoll seinen Flügelschlag und zog steil nach oben, um über dem Flachdach im Gleitflug nach Südwesten abzudrehen. Dann war es auch schon hinter den Baumwipfeln jenseits der Straßenkreuzung verschwunden. »Was, um Himmels willen, war denn das?«, murmelte Doktor Born. Er stand vorgebeugt auf der Straße, als habe ihn eine Geistererscheinung heimgesucht. Sein Blick wanderte prüfend über die Häuserfronten. Keines der Fenster war beleuchtet. Anscheinend hatte niemand außer ihm den Vorfall bemerkt. Irgendwo auf der anderen Straßenseite musste der Frau ihre Handtasche entglitten sein. Doch obwohl er eine Weile danach suchte, konnte er sie nirgends finden. Vielleicht war sie in einen der Gullys gefallen? Oder in die Vorgärten? Er musterte kopfschüttelnd die mannshohen Sträucher. In der Dunkelheit war es so gut wie aussichtslos, eine kleine schwarze Handtasche zu finden. Auf dem Weg zum Polizeirevier sah er argwöhnisch zum Himmel. Die Wolkendecke hing jetzt ungewöhnlich tief. Zwischen den aufgerissenen Wolkenfetzen trieb eine zweite, höhere Wolkenschicht in entgegengesetzter Richtung. Unangenehmer Gedanke, das Tier könne zwischen den beiden Wolkendecken schweben, auf der Lauer nach 20
dem nächsten Opfer. Es war immer noch irgendwo da draußen. Aber wo war es hergekommen? Und wo fand es Unterschlupf? Vielleicht in den großen Wäldern jenseits der nördlichen Stadtgebiete? Das Polizeirevier war um diese Zeit nur noch mit zwei Beamten besetzt. Der eine saß am Bildschirm; sein Kollege reparierte einen zerlegten Wasserkocher. Er hatte ein freundliches, junges Gesicht und zog beflissen seine Uniformjacke an, als Born hereinkam. »Was kann ich für Sie tun?« »Bitte halten Sie mich nicht für übergeschnappt«, sagte Born. »Aber was ich eben beobachtet habe, ist ziemlich ungewöhnlich.« »Oh, wir sind hier einiges gewohnt! Wir hatten heute schon einen Koch, der sich nur knapp vor der Feuerwalze aus seiner brennenden Fritteuse retten konnte. Ein Buchhalter bekam einen elektrischen Schlag, als er die Druckpatrone seines Faxgeräts wechselte. Eine Rentnerin wurde von ihrem Kanarienvogel angegriffen …« »Sie wollen sich über mich lustig machen?« »Nein, das ist alles in unseren Tagesberichten protokolliert«, sagte der Beamte und zeigte auf seine Kladde. »Ich habe vor wenigen Minuten beobachtet, wie zwei Straßenzüge weiter ein riesiges, schwarzes Etwas – ein reptilienartiger Vogel oder ein Flugsaurier – fragen Sie mich nicht, was genau es war – eine junge Passantin packte und mit ihr über die Häuserdächer wegflog.« »Ein … Flugsaurier, sagen Sie?« »So etwas Ähnliches.« Der junge Polizist forschte in seinem Gesicht. Seine 21
Miene blieb völlig unbewegt dabei. Er war nicht viel jünger als Born. Schwer zu sagen, ob er ihn für verrückt hielt. Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, schob die Einzelteile des Wasserkochers an den Rand der Tischplatte, nahm ein Formular aus der Schublade und wandte sich nach hinten. »Paul? Hier ist jemand, der einen Flugsaurier gesehen hat.« »Ich weiß nicht, ob es ein Flugsaurier war«, verbesserte Born. »Ich kenne mich mit diesen Viechern auch nicht aus. Ich weiß nur, dass die letzten großen Exemplare vor etwa 60 Millionen Jahren ausgestorben sind.« »Was könnte es sonst gewesen sein?« »Keine Ahnung. Vielleicht ein neuer Typ von Polizeihubschrauber.« Paul war ein Beamter alten Schlages. Sein Gesicht strahlte unerschütterliche Ruhe, ja eine gewisse Heiterkeit aus, als er sich von seinem Bildschirm erhob; vermutlich, weil es durch all die Verrückten und Exzentriker geläutert war, die nachts die Polizeidienststellen heimsuchten. »Wieder dieser verdammte Wetterballon«, stellte er mit wissendem Grinsen fest. »Wir hatten schon ein paar Meldungen deswegen. Die Leute halten das Ding im Dunkeln für einen Vogel – wegen der Presseberichte«, fügte er hinzu. »Nein, es war kein Ballon, sondern ein Tier.« »Sie meinen, es war doch ein Flugsaurier? »Irgendetwas, das aussah wie ein Flugsaurier.« »Wie groß?« »Fünfzehn bis zwanzig Meter Flügelspannweite. So groß, dass er mühelos eine Passantin im Fluge mit sich reißen konnte.« »Als Beute, meinen Sie?« 22
»Er wird kaum mit ihr Halma spielen.« »Ist Ihnen das … Opfer persönlich bekannt?« »Nein, aber die junge Frau verlor ihre Handtasche, als es passierte. Leider konnte ich sie in der Dunkelheit nicht finden. Vielleicht befinden sich darin Ausweispapiere.« »Ja, vielleicht. Nehmen Sie Drogen? Sind Sie in psychiatrischer Behandlung?« »Nein.« »Bitte füllen Sie dieses Formular aus. Name, Anschrift, Beruf. Zeit und Ort des Vorfalls. Alter, Aussehen, Bekleidung des Opfers. Unverwechselbare Kennzeichen. Genaue Beschreibung des unbekannten Flugobjekts.« Keine Polizeistreife hatte in dieser Nacht etwas Auffälliges bemerkt. Es war das erste Mal, dass jemand die verdächtigen Flugobjekte der vergangenen Tage als »fliegende Saurier« bezeichnete, und entsprechend verständnisvoll gingen die Beamten mit Doktor Born um. Sie waren darin ausgebildet, Verrückten möglichst nicht zu widersprechen. Das überließ man besser den Leuten von der Psychiatrie. Sie durchsuchten mit ihren Stablampen die Sträucher, leuchteten die beiden Gullys in der Umgebung ab und befragten ein paar Anwohner. Niemand hatte etwas Verdächtiges bemerkt. »Ihre Handtasche muss doch hier irgendwo sein«, sagte Born und blickte sich ratlos um. »Vielleicht hat sie inzwischen jemand aufgehoben«, erwiderte der eine der beiden Polizisten und tippte sich unauffällig an die Stirn, während er seinem Kollegen ein Zeichen gab, zum Streifenwagen zurückzukehren. 23
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3 Doktor Born bewohnte mit seiner Tochter die oberste Etage im geschlossenen Naturkundemuseum, in der früher der Hausmeister gelebt hatte, weil das praktisch für seine Arbeit war und das Gebäude seit der Verlegung der Sammlung Mitteleuropäische Kristalle nicht mehr genutzt wurde. Karens Freunde und Kommilitonen fanden den Ort »schauerlich«. Da es momentan nur den Treppenzugang durch das Museum gab, passierte man bei jedem Besuch Glaskästen voller Knochenfunde und Reihen ausgestopfter Tiere, die einem mit ihren toten Augen nachblickten. Für Born war die Wohnung einfach nur zweckmäßig. Sie besaß einen Durchbruch zum benachbarten Institut für Genforschung, das sich den Museumsbau einverleiben würde, und wurde wie sein Arbeitgeber, die Bondt-AG, von der Chrysler-Bondt-Stiftung finanziert. Er hatte bei der Stiftung bis zum Abschluss der Umbauarbeiten eine provisorische Außentreppe zum Hinterhof beantragt. Für Karen war es der gefragteste Partystützpunkt. Sie liebte den riesigen Dachgarten, weil man dort im Sommer unbeobachtet sonnenbaden konnte. Der vorübergehende Zugang durch das Museum schreckte niemanden wirklich ab. Seitdem ihr Vater für den Nobelpreis vorgeschlagen war, hatten selbst längst vergessene alte Freunde ihre Sympathie 25
für die Familie wieder entdeckt. Oder besser gesagt: Sie schätzten es, sich im Glänze des nächsten Preisträgers für Molekularbiologie zu sonnen. Keine Woche verging, ohne dass jemand mit einer aufgeschlagenen Zeitung bei ihnen auftauchte, um sich nach seiner Nominierung zu erkundigen. »Was ist los?«, fragte Karen. »Du siehst aus, als hättest du schlecht geschlafen?« »Sagen wir mal: Ich wünschte mir, ich hätte nur schlecht geschlafen.« Born trug seinen zerfransten grünen Pullover mit Ärmelschonern aus braunem Wildleder, den Karen nicht ausstehen konnte, und braun melierte Hausschuhe aus den fünfziger Jahren, obwohl er gerade mal vierzig war. Er sah ziemlich gut aus für einen Wissenschaftler, der sich nächtelang in seine Arbeit vergrub. Aber er verstand nichts daraus zu machen. Angeblich war das Kapitel Frauen für ihn beendet. »Doch keine Gelder für Forschungen, Paps?« »Nein, die Zukunft der Molekularbiologie ist weiter auf Gedeih und Verderb den Geldgebern der Chrysler-BondtStiftung ausgeliefert.« Born schlug einen schweren Folianten auf und begann sorgfältig die Abbildungen zu vergleichen. Es waren Rekonstruktionen aus archäologischen Knochenfunden und Abdrücken in Stein, die meisten vermutlich mit einem ordentlichen Schuss Fantasie ihrer Zeichner angereichert. »Was ist das für ein Bildband?« »Vögel – urzeitliche Vögel.« »Seit wann beschäftigst du dich denn mit Paläontologie? Ein neues Forschungsprogramm?« 26
»Nein.« Karen nahm achselzuckend ihre Studienhefte aus der Mappe und ging zum Kühlschrank. Sie stellte eine Flasche Mineralwasser und eine Karaffe Weißwein auf den Tisch. Born blickte besorgt über den Rand seiner Lesebrille. »Du gehst noch aufs Dach?« »Es ist so heiß hier unten.« »Mir wär’s lieber, du würdest heute Abend nicht auf den Dachgarten gehen.« »Aber wieso denn? Ich muss für die Klausur in Philosophie pauken. Wenn ich durchfalle, wird nie eine anständige Lehrerin aus mir.« »Bitte tu mir den Gefallen – nur heute Abend, ja?« »Darf ich wissen, was so schlimm daran sein soll, sich an einem warmen Sommerabend auf den Dachgarten zu setzen?« »Ich sag’s dir, sobald ich mit Bertram in der Redaktion gesprochen habe.« »Ist wieder irgendein Spanner unterwegs? Der würde mich doch gar nicht sehen können …« Anscheinend hatte Karen den merkwürdigen Schatten zwischen den Wolkendecken vergessen. Die nächsten Hochhäuser waren gut zweihundert Meter entfernt. Selbst mit einem Fernglas hätte ein neugieriger Verehrer wegen der Pflanzen nur schlechte Sicht auf den Dachgarten gehabt. »Ich werde noch mal eine Runde mit dem Landrover drehen. Mach einfach etwas Durchzug, wenn dir zu heiß wird.« Seine Arbeit im Institut hatte ihn den ganzen Tag über in 27
Atem gehalten, aber die Sache am Vorabend war ihm keinen Moment aus dem Sinn gegangen. Er nahm das Jagdgewehr aus dem Wandschrank. Im Handschuhfach des Wagens lag ein Feldstecher, mit dem er im Urlaub Vögel beobachtete. Die großen Wälder außerhalb der nördlichen Stadtgebiete waren nur etwa sechs Kilometer Luftlinie entfernt. Doktor Born fuhr die schmale Straße zum Schiffshebewerk hinunter, und dann trotz der Einbahnstraße in verkehrter Richtung über die Brücke, um den Weg abzukürzen. Die Wolkendecke hing noch genauso tief wie gestern Abend, und zwischen den aufgerissenen Wolkenfetzen war wieder eine zweite, höhere Wolkenschicht zu erkennen. Ihre Ränder hatten eine helle Färbung angenommen, als würden sie vom Mondlicht angestrahlt. Vielleicht ist es jetzt irgendwo da oben, dachte er, während er argwöhnisch beobachtete, wie sich die beiden Wolkenschichten übereinander schoben. In Gedanken nannte er es meist »es« – das »Tier«, das »Ungeheuer« –, obwohl er aus unerfindlichen Gründen glaubte, dass es männlichen Geschlechts sei. Auf dem Hügel oberhalb des Kanals angekommen, richtete Born prüfend sein Fernglas zum Naturkundemuseum. Wie er erwartet hatte, war jetzt Licht auf der Dachterrasse. Karens zierliche Gestalt kam gerade mit einem Tablett die Wendeltreppe hinauf; sie stellte es am Vordach ab und verschwand für einen Augenblick hinter den hohen Zierpflanzen, bevor sie in den Liegestuhl plumpste. Ein paar Kilometer jenseits der Hügelspitze gab es außer 28
einigen Lichtungen mit frischen Tannen- und Fichtensetzlingen nur hohen alten Laubwald. Der Landrover rumpelte über die Bodenwellen. Born schaltete das Fernlicht ein. Auf diese Weise konnte er bis tief in den Waldhang hineinblicken – weiter als mit jeder Taschenlampe. Er hielt an und suchte sorgfältig mit dem Feldstecher das Gelände ab. Dann fuhr er den Wagen ein Stück nach rechts, um den übrigen Wald abzuleuchten. Er war es gewohnt, systematisch zu arbeiten. Auf der anderen Seite, nach Osten hin, stand zerrissener Dunst zwischen den Stämmen. Manchmal sah das Unterholz so aus, als habe es die Form eines großen Tieres – und er zuckte unwillkürlich zusammen – obwohl er erleichtert gewesen wäre, das verdammte Ding endlich zu entdecken! Er zweifelte keinen Augenblick an seiner Geistesverfassung. Und doch war die Szene gestern Abend zu fantastisch gewesen, als dass er sich nicht immer wieder fragte, was er wirklich gesehen habe. Er schätzte, dass das Tier bei einer Flügelspannweite von achtzehn Metern im Sitzen ungefähr zwölf Meter hoch war. Es hatte einen lang gestreckten Hals und einen überdimensionalen Schnabel. Sein Körper war schwarzgrau und glänzend. Er tippte eher auf ein kurzes, dichtes Fell, als auf das Federkleid eines großen Vogels. Dann handelte es sich wohl tatsächlich um einen Flugsaurier – aber diese Rasse war bekanntlich seit Millionen Jahren ausgestorben. Born steuerte den Landrover tiefer in den Wald hinein. Weiter unten gab es ein paar Hügel, hinter denen es zum nächsten Kanal hinunterging; deshalb achtete er darauf, 29
dass der Weg nicht zu schmal wurde, um immer noch problemlos wenden zu können. Inzwischen war die Wolkendecke aufgerissen, und die Mondsichel stand scharf umrissen über den Baumwipfeln. Er nahm das Gewehr vom Beifahrersitz und stieg aus. Weiter hinten, in den äußersten Industrievororten, flimmerten nur noch wenige Lichter. Ein paar Kamine trugen wegen des Flugverkehrs Lampen, die im regelmäßigen Rhythmus rote Signale gaben. Wenn er sich irgendwo versteckt hält, dann hier im Wald, dachte Born. In den Städten und auf dem flachen Land würde man ihn zu schnell entdecken. Er lehnte das Jagdgewehr an einen Baum und zündete sich eine Zigarette an. »Mit dem Rauchen aufzuhören ist ganz einfach«, zitierte er halblaut Mark Twain. »Ich selbst habe es schon hundertmal getan.« Eigentlich hatte er schon vor Monaten mit dem Rauchen aufgehört – nach jenem unsäglichen Prozess, mit dem ihm Doktor Haderer den Born-Repro-Effekt, seine Entdeckung der Erbgutmultiplikation ohne Wirtszellen, streitig machte, für die er jetzt vielleicht den Nobelpreis bekam. Während der Verhandlung hatte er begonnen, vier bis fünf Päckchen am Tag zu rauchen. Es stand viel auf dem Spiel. Es war so etwas wie sein Lebenswerk, wenn man das in seinem Alter sagen durfte. Die Frucht von fünfzehn Jahren harter Arbeit. Dabei hatte er Raucher immer als haltlos verachtet. Nichts gegen maßvolle Pfeifen- oder Zigarrenraucher! Aber er hatte mit einer starken Zigarettenraucherin zusammengelebt. Gloria war Kettenraucherin gewesen. Sie 30
wusste, dass Zigaretten für das Aussehen einer Schauspielerin Gift waren. Aber sie hatte es nicht lassen können. Sie hatte dieses Leben bis an den Rand ihrer Möglichkeiten gelebt, mit allem, was es hergab – bis sie ihr eigenes Bild nicht mehr im Spiegel ertragen konnte. Bis sie auch ihn und ihre Tochter nicht mehr ertragen konnte. Denn man sieht den anderen leicht durch die Brille seiner eigenen Probleme. Born warf ärgerlich seine Zigarette weg und trat näher an die Felswand; Nikotingeruch erinnerte ihn zu sehr an jene letzten Wochen mit Gloria, an diese unsägliche Mischung aus Schweiß, Parfüm und Alkohol. Er sah mit dem Fernglas auf die Ebene mit den in der Dunkelheit wie ein kleines Manhattan beleuchteten Anlagen der Petrochemie hinaus. Aber dort regte sich nichts. Nicht einmal Vögel waren um diese späten Stunden auszumachen. Sein Blick wanderte über die Baumkuppen auf der anderen Seite. Nein, wenn überhaupt, dann musste das Tier sich hier im Wald verstecken. Müdigkeit überkam ihn, und er setzte sich an einen Baumstamm und legte das Fernglas neben sich auf den Boden. In der Eiche gegenüber hockte ein Turmfalke. Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Er sah gähnend auf seine Armbanduhr – zweieinhalb Stunden. Er hatte wahrhaftig zweieinhalb Stunden geschlafen. Plötzlich hörte er ein rhythmisches Rauschen in der Luft – wie das Schlagen großer Flügel. War er davon geweckt worden? Born blickte sich irritiert um. Am Himmel jenseits der grauen Hügel war nichts zu erkennen. Auch nicht über den 31
Baumwipfeln. Und doch war das Geräusch so deutlich, als befinde es sich fast neben ihm. Dann verstummte es, und in der Luft war nur noch ein unmerkliches Sirren. Born griff nach seinem Gewehr. Er hatte noch nie einen Schuss damit abgefeuert; es war ein Geschenk seines verstorbenen Bruders. Er kletterte eilig den fußbreiten Pfad an der Hügelkuppe entlang, um das Plateau zu erreichen, von dem aus man ins Tal blicken konnte. Als er auf der Felsplattform stand, schwebte der riesenhafte schwarze Schatten über ihm. Noch ehe er das Jagdgewehr hochziehen konnte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Schulter und wurde nach oben gerissen. Das Gewehr fiel in die Tiefe … und gleich darauf gewahrte er unter sich den Abgrund, weil der Saurier mit ihm vom Felsplateau wegflog. Dann drehte er im Gleitflug wieder auf den Waldhügel zu, und Born spürte, dass sein Schnabel ihn mit seinen langen spitzen Zähnen beim Pullover gepackt hielt. Offenbar hatte das Tier seinen Nacken verpasst. Borns Fäuste stießen mit aller Kraft gegen den harten schwarzen Schnabel über sich. Er hörte, wie die Nähte seines Pullovers rissen und das morsche Gewebe nachgab … Gleich darauf fiel er wie ein Stein in die Tiefe, mitten in das Geäst eines großen Laubbaums. Ein Ast traf seine rechte Hüfte. Dann streiften Zweige wie glühendes Metall sein Gesicht, und er stürzte hart ins Unterholz. Er tastete nach dem Blut in seinem Nacken. Offenbar hatten die Zähne des Untiers keine tiefen Wunden gerissen. 32
Auch seine Beine fühlten sich nicht so an, als sei etwas gebrochen. Glück gehabt … ausgerechnet der uralte grüne Pullover, den Karen so verabscheute, hatte ihm das Leben gerettet. Hier unten war es fast vollständig finster. Vom Himmel konnte er durch das Blätterdach nur noch Ausschnitte sehen. Einen Augenblick später hörte er wieder das Sirren in der Luft. Und durch den Ausschnitt im Blätterdach sah er das riesige Tier zum ersten Male aus der Nähe. Es schwebte mit aufmerksamem Blick über dem Wald. Born hielt den Atem an. Er hatte keine Ahnung, wie gut es in der Dunkelheit sah. Doch selbst, wenn es ihn entdeckte, würde es nicht so einfach sein, ihn aus dem Unterholz zu ziehen. An der Vorderseite seiner gewaltigen Flügel befanden sich zwar lange, dünne Greifarme, und die drei kurzen Finger trugen scharfe Krallen. Aber anscheinend jagte es seine Beute lieber mit dem Schnabel. Dann war es mit einem krachenden Geräusch auf dem einzigen dicken Ast über ihm gelandet, der sein Gewicht trug. Born beugte sich erschreckt ins Dunkel der Blätter zurück. Der Schnabel des Tieres war jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Seine Augen musterten aufmerksam die Umgebung. Gleich darauf stieß es einen markerschütternden Schrei aus, der an einen riesigen Raben erinnerte, und schwang sich mit einer einzigen gewaltigen Flügelbewegung in die Luft. Blätter und kleine Zweige rieselten auf ihn herab. Großer Gott! Das war knapp gewesen!
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Born wartete noch eine Weile ab, ehe er zu seinem Landrover zurück stolperte. Er bewegte sich immer dicht an den Stämmen der hohen Laubbäume entlang, weil er hoffte, auf diese Weise weniger leicht entdeckt zu werden. Um das Gewehr im Tal würde er sich später kümmern. Die Redaktion des Reporter war auch nachts besetzt. Er hätte sich jetzt unmöglich ins Bett legen können … Wenn die Polizei ihm nicht glaubte, würde er eben die Presse einschalten müssen.
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4 Linda Meyer war der Typ von hungriger Starreporterin, den Peter Bertram vergötterte, weil nur Mitarbeiter dieses Kalibers ihm garantierten, dass er beruflich die nächste Woche überlebte. Sein Posten als Chefredakteur galt als Schleudersitz. Der Verleger des Reporter hatte in den letzten Jahren drei leitende Redakteure verschlissen. Der Grund lag nicht etwa in Unfähigkeit oder persönlichen Aversionen, sondern in jener neuen Mentalität der »Gewinnmaximierung«, die aus den USA herübergekommen war und jetzt auch in Europa gesellschaftsfähig wurde. Als Lindas Handy jenen nervigen Ton von sich gab, der jede Party und den lautesten Straßenverkehr übertönte, befand sie sich gerade auf einem Dauerlauf im ersten Morgengrauen durch die City. Ihr Körper war schweißnass. Ihr lilafarbenes Stirnband umschloss dunkelbraunes, halblanges Haar, das nie einen Friseur sah. Sie hatte dieses Haar von ihrer Großmutter geerbt. Es war so kräftig und unverwüstlich, dass man daraus die besten Bürsten der Welt hätte herstellen können. Die Kerle an den Marktständen kommentierten ihren Auftritt immer mit Gejohle. Dann knallten sie die eisernen Gestelle noch ein wenig lauter zusammen. »Hallo Darling«, flüsterte Bertrams Stimme ins Telefon. 35
»Du studierst doch Paläontologie? Oder liege ich da falsch?« »Hab’s ein Semester vor der Abschlussprüfung auf Eis gelegt. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, warum?« »Hilf mir bitte auf die Sprünge?« »Weil in eurer Nervenheilanstalt kein Platz für ernsthafte Studentinnen mit Nebenjobs ist. Ihr braucht Redakteure, die vierunddreißig Stunden am Tag verfügbar sind.« »Vierundzwanzig, Linda, wir wollen doch nicht unverschämt sein. Bist du nun Expertin oder nicht?« »Expertin wofür?« »Ich glaube, ich hab’ da was nach deinem Geschmack – Flugsaurier!« Bertram betonte mit gespieltem Ekel das »i« in Saurier, als fasse er einen schmuddeligen Küchenlappen an. »Du meinst neue Funde? Doch nicht bei uns?« Linda dachte an ihre letzte Vorlesung. Den jüngsten Flugsaurier – genauer gesagt, seine versteinerten Überreste – hatten Berliner Forscher kürzlich in einem Steinbruch nahe der südspanischen Stadt Valdepenas entdeckt. Eine unbekannte Spezies, mit einer Flügelspannweite von zwölf Metern größer als ein Lear-Jet. Man hatte ihn den »Drachen von Solana« getauft, nach dem spanischen Fundort La Solana. Bisher galt der Quetzalcoatlus mit einer Spannweite von zehn Metern als größter fliegender Saurier. »Nein, ein lebender Flugsaurier. Ich rede von den Gerüchten, die seit einiger Zeit durch die Presse geistern.« »Du willst mich auf den Arm nehmen?« »Sagt dir der Name Doktor Alexander Born etwas?« »Anwärter für den nächsten Nobelpreis in Biologie.« 36
»Mein lieber Freund Alex sitzt hier neben mir in der Redaktion. Und wenn man ihm glauben darf, hatte er eben ein Erlebnis der besonderen Art. Er wirkt ziemlich fertig. Ich weiß, dass du heute erst mittags antreten musst. Aber wenn du ausnahmsweise …?« »Danke, dass du dabei sofort an mich gedacht hast.« Es gab in der Redaktion noch drei junge Reporterinnen, die Linda insgeheim den »Klub der Dünnen« nannte, zwei davon freie Mitarbeiterinnen: zerbrechliche Geschöpfe mit Kreislaufstörungen und psychosomatischen Beschwerden. Trotzdem durfte man keine Frau als Konkurrentin unterschätzen. Ihre Spezies hatte in der Evolution vor allem deswegen überlebt, weil Frauen diplomatischer waren als Männer. Als sie vor den Stufen des Reporter anlangte, warf sie einen Blick an der altehrwürdigen Fassade hinauf. Im steinernen Kranz über dem Portal saß eine Eule, das Symbol der Weisheit. Dieses Gebäude hatte seit seiner Grundsteinlegung schon drei Zeitungen erlebt – und irgendwann, davon war sie fest überzeugt, würde sie an der Spitze der Redaktion stehen. Welchen Preis auch immer sie dafür zahlen musste … Alexander Borns Gesicht wirkte auf Linda viel weniger introvertiert, als sie es bei einem Wissenschaftler seines Kalibers erwartet hatte, vielleicht, weil man darin nichts von den Ausschweifungen der Männer seines Alters entdecken konnte – einmal abgesehen davon, dass er momentan ziemlich ramponiert aussah. Er saß neben Bertrams Bildschirm und kühlte sich die 37
Beulen am Hinterkopf mit einem Eisbeutel. Auf seinem Nacken klebten zwei große Heftpflaster. »Lass mir noch was übrig von Alex«, mahnte Bertram. Er war unrasiert, und unter seinem verschwitzten Unterhemd zeichnete sich ein rundlicher kleiner Bauch ab. Was seine Attraktivität anging, war ihr Chefredakteur das genaue Gegenteil seines Besuchers. Born streckte mit jungenhaftem Lächeln die Hand aus. »Meine Freunde nennen mich Alex. Sie sind also die Expertin?« »Kommt drauf an, wofür?« »Es handelt sich um ein fliegendes Tier mit etwa achtzehn Metern Flügelspannweite.« »Ein Vogel?« »Kein Vogel, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« »Ein unbekanntes Flugobjekt also«, sagte Linda und kräuselte spöttisch die Nase. »So hat man es auch auf dem Revier genannt – und den Fall zu den Akten gelegt.« »Sie waren bei der Polizei?« »Dort scheint man mich für verrückt zu halten.« »Schon irgendwas darüber in den Medien zu finden?«, fragte Linda an Bertram gewandt. »Nein.« »Und? Was war es?« »Keine Ahnung«, sagte Born. »So ähnlich stelle ich mir einen urzeitlichen Flugsaurier vor. Aber das ist nicht mein Fachgebiet. Er hat ein dunkles, kurzhaariges Fell und einen spitzen Schnabel.« »Könnten Sie das Tier skizzieren?« 38
»Ich bin kein guter Zeichner.« Linda schob ihm ein Blatt Papier und ein paar farbige Filzstifte hin. »Probieren Sie’s einfach.« Born zeichnete eine Weile und setzte eine menschliche Figur zum Vergleich daneben. Aufgerichtet war das Tier nach seiner Schätzung etwa fünf- bis sechsmal so groß wie ein Mensch. Er hob das Blatt in die Höhe und betrachtete es kopfschüttelnd. Beim zweiten Versuch sah es so aus, als bekomme die Figur langsam Konturen. Aber er war immer noch nicht zufrieden und arbeitete am Schnabel des Tieres. »Der Kopf ist das Schwierigste«, sagte er. »Er sieht nicht aus wie ein Vogelkopf. Eher wie ein Reptil. Und die Beine sind ungewöhnlich kurz. An der Vorderseite der Flügel befinden sich lange, dünne Arme, die in kleinen Greifhänden mit drei Fingerkrallen münden.« Linda betrachtete die Skizze. »Das ist eindeutig ein Flugsaurier«, stellte sie fest. »Und seine Flügelspannweite beträgt über achtzehn Meter? Dann wäre es der größte Saurier, den man je entdeckt hat.« »Ich glaube, im Vergleich zum Menschen ist er noch ein Stück größer, als ich ihn gezeichnet habe.« »Peter, was halten Sie davon?« »Was wir jetzt brauchen, sind beweiskräftige Fotos«, sagte Bertram. »Das bringt den Reporter in die Schlagzeilen der Weltpresse.« »Und dem Verleger ein Umsatzplus von hundert Prozent …« »Der Mann muss schließlich auch leben.« »Dann sollten wir sehr vorsichtig mit der Weitergabe von Informationen sein«, überlegte Linda. 39
»Wer weiß sonst noch davon?« »Außer der Polizei und ein paar Zeugen, denen anscheinend keiner glaubt, wohl niemand. Aber ein Tier dieser Größe kann nicht lange unentdeckt bleiben. Es scheint vor allem in der Nacht aktiv zu sein, vielleicht aus Vorsicht und Selbsterhaltungsinstinkt.« »Ich möchte, dass wir es exklusiv vermarkten, Alex«, sagte Bertram. »Ehe es ein anderer tut, schießen wir den Vogel lieber ab und schaffen ihn irgendwo hin. Da bleibt er so lange unter Verschluss, bis wir alle Rechte mit internationalen Verträgen abgeklärt haben.« »Sie wollen ihn doch nicht etwa umbringen?«, fragte Linda. »Es handelt sich um ein Raubtier. Es tötet Menschen.« »Wir sollten herausfinden, wo es herkommt und ob es noch mehr von seiner Art gibt«, sagte Born. »Vielleicht hat es ja sogar einen Schöpfer? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich als Spezies Millionen Jahre lang vor uns auf der Erde verbergen konnte.« »Einen Schöpfer?« »Genmanipulation.« »Das ist Ihr Fach. Davon verstehen Sie mehr als wir«, sagte Linda. »Halten Sie das denn für machbar?« »Momentan noch nicht. Aber es gibt vielversprechende Ansätze, tiefgefrorenes Genmaterial wieder zu aktivieren. Ich arbeite selbst an solchen Versuchen.« »Dann werden Sie hiermit zu meinem Mitarbeiter ernannt«, sagte Linda und reichte ihm lächelnd die Hand. »Könnte es vielleicht aus dem Innern der Erde kommen?«, fragte Bertram. »Durch ein Erdbeben oder einen Erdrutsch freigesetzt?« 40
»Nein, ausgeschlossen.« Linda schüttelte den Kopf. »Es lebt davon, aus der Luft zu jagen, wenn ich richtig verstehe.« Sie frühstückten im DachCafé hinter Borns Institut, weil die Kantine noch nicht geöffnet hatte. Born schwor darauf, dass es dort den besten Milchkaffee gab. Später würde er Linda seinen Arbeitsplatz zeigen. Sie glaubte, dass der künftige Nobelpreisträger in ihrer Story als »Entdecker« des Flugsauriers präsentiert werden müsse. Danach wollten sie in die Wälder jenseits der nördlichen Stadtgebiete fahren, um nach Borns Gewehr zu suchen. Linda war fest davon überzeugt, dass der »Drache« sein Opfer nicht mit Haut und Haaren verschlungen hatte. Also mussten irgendwo Knochenreste und Kleidungsstücke von ihr zu finden sein. Die Sonne schob sich gerade über die verspiegelte Fassade der ALBENGA-Versicherung, als sie auf der Terrasse Platz nahmen. »Da hab’ ich ihn zum ersten Mal gesehen«, sagte Born und streckte seine Hand aus. »Schauerlicher Gedanke, er könnte am helllichten Tag hier auftauchen …« »Ja, das gäbe ein hübsches Chaos.« »Weiß die Paläontologie etwas darüber, wovon sie sich ernährten?« »Manche urzeitlichen Flugsaurier lebten von Reptilien, die sie aus der Luft jagten, und von Aas. Andere fingen Insekten und Fische, vor allem die kleineren Arten, die nur etwa drosselgroß wurden. Einige fischten sogar Plankton. Ehe man den Drachen von Solana entdeckte, galt der Quet41
zalcoatlus als größter Flugsaurier. Aufgerichtet war er etwa sechs Meter groß. Er hatte ein Gewicht um die sechzig bis siebzig Kilo.« »Damit wäre er wohl kaum im Stande, einen Menschen in die Luft zu heben?« »Nein, Ihr Drache muss erheblich größer und schwerer sein, Doktor.« »Alex …« »Oh, ja, Verzeihung. Sind Sie eigentlich verheiratet, Alex?« »Ich habe eine erwachsene Tochter. Karens Mutter, Gloria, starb bei der Geburt ihres zweiten Kindes.« »Das hört sich nicht so an, als sei es Ihr Kind gewesen?« »Nein.« »Verstehe …« Born setzte seine Tasse ab und erwiderte ohne jede Befangenheit ihren Blick. »Das würde nicht in Ihren Artikel gehören, Linda. Mein Privatleben geht niemanden etwas an.« »Nein, natürlich nicht.« »Ehrenwort?« Sie nickte. »Ich zeige Ihnen das Institut. Sie können über meine Arbeit bei der Bondt-AG und die Stiftung schreiben, was immer Sie wollen. Wahrscheinlich hat es wenig mit Ihrer Titelstory zu tun. Für einen Außenstehenden sind es nicht viel mehr als endlose Reihen von Versuchen in kleinen Glaszylindern und grauen Plastikbehältern. Aber ersparen Sie mir bitte Ausflüge in meine Vergangenheit.« »Einverstanden.« 42
»Und sollten Sie irgendwann auf einen Prozess stoßen, bei dem es um das Urheberrecht am Born-Repro-Effekt geht – davon möchte ich ebenfalls nichts in der Zeitung lesen.«
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5 Linda bemerkte, dass die meisten Angestellten im Institut Doktor Born mit Respekt, ja sogar mit einer gewissen Scheu begegneten. Offenbar schien er in ihren Augen eine viel bemerkenswertere Persönlichkeit zu sein, als der Öffentlichkeit bekannt war. Der kleine Saal, in dem er arbeitete, war voll gestopft mit Geräten und Instrumenten, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. An seinem Arbeitsplatz – zwei etwa fünf Meter langen Holztischen – konnte sie keinen einzigen persönlichen Gegenstand entdecken. Die großen Farbtafeln an den Wänden zeigten Genstrukturen und ihre Beziehungen zu Organen verschiedener Lebewesen. Das Bondt-Institut und die Chrysler-BondtStiftung arbeiteten für verschiedene Institutionen in der Welt, darunter für die Weltgesundheitsorganisation. Ihr wichtigstes Forschungsprojekt schien die Reaktivierung von Genstrukturen aus dem ewigen Eis zu sein. Die blauen Bildschirme auf den Tischen übten einen eigenartigen Reiz auf Linda aus. Es war, als betrete man Gottes eigenes Versuchslabor und sehe ihm bei der Erschaffung der Welt über die Schulter. »Bisher brauchte man bestimmte Wirtstiere, um ein überlebensfähiges Genduplikat auszutragen«, erklärte Born 44
seine Versuchsanordnungen. »Dies hier ist ein neuer Ansatz. Ich habe ihn zusammen mit Doktor Haderer entwickelt. Die Eigenschaften des Wirtstieres stellen einen viel geringeren Störfaktor bei der Duplikation dar.« »Wer ist Doktor Haderer?«, erkundigte sich Linda. »Ein ehemaliger Kollege. Er wurde wegen unerlaubter Genversuche entlassen.« »Oh, Sie haben also auch schwarze Schafe im Institut?« »Die Chrysler-Bondt-Stiftung arbeitet nach sehr strengen Regeln. Sie hat wenig mit den skrupellosen kleinen Gen-Klitschen gemein, an die der Laie sofort denkt, wenn er von Biotechnik hört.« Professor Bensheim, der Leiter des Instituts, war ein schalkhaft dreinblickender Mann, der Linda mit seinem langen Rauschebart an Wilhelm Busch erinnerte. Er trug eine braune Cordjacke mit Fliege und schien ständig zu Witzen aufgelegt zu sein. Es waren Witze der harmlosen Sorte, die Frauen nicht in Verlegenheit brachten. »Wissen Sie, was die Gene der Frauen von denen der Männer unterscheidet?« »Nein.« »YXC-549. Ausschließlich Männer verfügen über dieses Gen, ebenso, wie nur Männer das Gen für Farbblindheit besitzen. Oder haben Sie schon mal eine farbenblinde Frau gesehen?« »Nein, aber ich verstehe Ihren Witz nicht, Professor?« »Das einzige Säugetier auf Erden, das sonst noch über Gen YXC-549 verfügt, ist der männliche Esel.« Danach wandte er sich mit schallendem Gelächter wieder seiner Arbeit zu. 45
Offenbar wusste er nichts von Borns Entdeckung, sondern glaubte, Linda sei wegen seiner Nominierung im Institut. Er brachte ihr eine Hochglanzmappe, in der alle für den Nobelpreis wichtigen Arbeiten mit Farbdiagrammen erläutert wurden. Born war der Entdecker des nach ihm benannten Born-Repro-Effekts, mit dem man Erbgut reparieren und auf leichtere Weise multiplizieren konnte. »Mit Multiplizieren ist Klonen gemeint?« »Wir verwenden das Wort Klon nur ungern«, sagte Born. »Es ist zu stark belastet.« »Wäre es mit Ihrer Methode auch möglich, Menschen zu klonen?« »Das Verfahren ist nicht an eine bestimmte Spezies gebunden.« »Und Flugsaurier?« »1993 entsprang das Klonen, wie es in Jurassic Park beschrieben wurde, noch mehr der Fantasie der Drehbuchschreiber.« »Sie wollen sagen, es sei Unsinn?« »Lange Zeit stritt sich die Fachwelt darüber, ob Klonen aus toten Zellen überhaupt möglich ist. Dann reproduzierten texanische Wissenschaftler einen Ochsen aus der Haut eines anderen Ochsen, der ein Jahr zuvor verendet war.« »Was ist mit tiefgefrorenem Material, sagen wir aus Sibirien oder Grönland?« »Die Chancen, dass die DNS vollständig erhalten geblieben ist, sind äußerst gering. Selbst wenn man einen ganzen Flugsaurier finden würde, wäre es unwahrscheinlich, eine komplette DNS-Kette zu isolieren. DNS übersteht auch in gefrorenem Zustand nicht mehrere tausend 46
Jahre ohne Zerfallsprozesse. Temperaturen von minus 23 Grad, in denen ein Saurier viele Millionen Jahre gelegen hat, können den Zerstörungsprozess wohl verzögern, reichen aber nicht aus, um ihn aufzuhalten. Außerdem führt schon das Fehlen geringster Bruchstücke der DNS zu tief greifenden Veränderungen. Um ein komplettes Lebewesen zu klonen, wird die gesamte Erbinformation benötigt. Es ist aber praktisch ausgeschlossen, dass alle DNS-Teile erhalten sind.« »Heißt es in Ihrer Infomappe nicht, mit dem BornRepro-Effekt sei es nun endlich gelungen, Erbgut zu reparieren?« »In gewissen Grenzen, ja.« »Und wenn es doch komplett gelänge?« »Beim Klonen würde das Erbmaterial des Sauriers in das Ei eines Wirtstieres eingepflanzt, das ihm genetisch nahe steht, und dem zuvor alle eigenen Gene entfernt wurden. Das bedeutet, dass der Klon dann ein reinblütiger Saurier wäre und kein Mischling.« »Ein Flugsaurier?« »Am besten geeignet ist dafür Blut. Das findet man nur sehr selten.« »Sie weichen meiner Frage aus, Alex …« »Seit meiner ersten Begegnung mit dem fliegenden Ungeheuer denke ich über nichts Anderes nach.« »Was käme als Wirtstier in Frage? Eine große Art von Vögeln vielleicht?« »Wenn ich mich recht erinnere, sind Sie die Expertin?« »Auch wenn Paläontologie nicht Ihr Fachgebiet ist, Doktor – nach Ihrer ersten Begegnung mit dem Flugsaurier 47
dürften Sie doch sofort in die Bibliothek gegangen sein, um sich alle verfügbaren Informationen zu beschaffen?« »Manche Experten glaubten, Vögel seien Nachfahren der Dinosaurier. Es gab geradezu euphorische Kommentare in der Presse, wonach mit neuen Dinosaurierfunden der Übergang vom Saurier zum Vogel bewiesen sei. Da jedoch Sinosauropteryx, und vielleicht alle Dinosaurier, in der Anatomie der Atemorgane hochgradige Übereinstimmungen mit den Krokodilen zeigen, ist es undenkbar, dass sich Vögel aus Dinosauriern entwickelt haben. Die Vogellunge ist nämlich völlig anders konstruiert.« »Vögel wären also als Wirtstiere ungeeignet?« »Inzwischen kann man wohl davon ausgehen, dass das beste momentan auf der Erde lebende Wirtstier für Flugsaurier das Krokodil wäre, nicht nur wegen ihrer gemeinsamen Herkunft vom Eosuchier, sondern auch wegen anderer genetischer Ähnlichkeiten.« »Na, das ist doch mal eine klare Antwort …« »Ich möchte keine Spekulationen in die Welt setzen, Linda. Das kann ich mir schon wegen meines wissenschaftlichen Rufs nicht erlauben.« »Krokodile also«, sagte sie nachdenklich.
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6 Am späten Nachmittag fuhren sie mit Borns Landrover in die Wälder jenseits der nördlichen Stadtgebiete. Der Ort, wo er das Gewehr verloren hatte, lag einen knappen Kilometer hinter der Straßenbrücke. Die Straße folgte in Kehren dem Flusslauf und bog dann über eine schmale Steinbrücke zum Wald ab. »Da oben an der Felswand hat er mich erwischt«, sagte Born und streckte seinen Arm aus. Von hier unten wirkte die Felswand viel niedriger als vom Plateau aus. »Wir sind einen weiten Bogen geflogen, etwa bis zur Mitte des Tals. Ich glaube, das Gewehr ist mir gleich zu Anfang aus der Hand gefallen.« »Das wäre dann dort unten«, sagte Linda. Sie zeigte auf eine Sandbank. Auf dem hellen Ufersand lag angeschwemmtes Holz. Wegen des dichten Unterholzes war das Gelände schwer zugänglich. Born steuerte den Landrover ins Bachbett. Einmal rutschten die Hinterräder durch und Wasser spritzte an den Scheiben hoch. Aber weil der Wagen Allradantrieb besaß, kamen sie sofort wieder frei. »Wissen Sie, was der Unterschied zwischen einem seriösen Wissenschaftler und einem Scharlatan ist, Linda?« »Nein – Sie werden es mir gleich sagen, oder?« 49
»Es gibt keinen. Sie pfuschen beide in Gottes Schöpfung herum und gaukeln uns vor, es gäbe echten Erkenntnisfortschritt.« »Sie glauben nicht an wissenschaftliche Fortschritte, Alex?« »Rein materiell, sachlich gesehen schon. Aber haben Sie sich mal gefragt, was uns all diese angeblichen Fortschritte einbringen?« »Damit meinen Sie, was die Zivilisation für unser Glück bedeutet?« »Sie bedeutet sehr wenig für unser Glück. Glück hat mit Gefühlen zu tun. Aber fragen Sie mal einen Psychologen oder Philosophen, was er unter Gefühlen versteht!« »Sind Sie Buddhist, Alex?« »Nein.« »Hört sich aber so an …« Hinter der Sandbank wurden die Wiesen feucht, und diesmal versackte der Landrover fast bis zur Hinterachse im Morast. »Großer Gott … glauben Sie, wir kommen hier wieder raus?«, fragte Linda. Born stellte den Motor ab. Er öffnete die Heckklappe und zog zwei Siebe aus Maschendraht aus dem Kofferraum. »Die haben mir Freunde für meine Expeditionen in Norwegen geschenkt.« Mit den Drahtnetzen unter den Hinterrädern war es ein Kinderspiel, aus dem Morast zu kommen. Die Sträucher waren von gelben Schlammspritzern bedeckt, als sie wieder auf der Böschung standen. Born steuerte den Landrover jetzt immer am Ufer entlang. 50
Linda musterte aufmerksam die Hügelkämme. Noch hatte die Dämmerung nicht eingesetzt. Wegen der tief stehenden Sonne waren die Konturen der Bäume ungewöhnlich scharf umrissen. Sie nahm ihre Fototasche vom Rücksitz und setzte ein lichtstarkes Zweihunderter-Tele ein. Sie blickte prüfend durch den Sucher. Gleich darauf entdeckte sie das Gewehr auf der Böschung. »Da liegt es!« Sein Lauf ragte vor ihnen aus dem Farn. Es sah aus, als sei es dort vergessen worden. Während sie ausstiegen, war plötzlich wieder dasselbe Sirren in der Luft wie damals über der Felswand. »Schnell zum Wagen«, rief Born. »Schließen Sie die Tür.« Er lief zur Böschung, um sein Gewehr zu holen. Linda hatte ihre Kamera am Fenster in Position gebracht. Jetzt war kein Laut mehr zu hören. Der Wald schien zu schweigen, als ahnten seine Bewohner, dass Gefahr drohte. »Hören Sie das auch?«, fragte Linda. »Es ist plötzlich totenstill. Wo sind die Vögel?« Sie warteten einige Minuten ab – Born mit dem Jagdgewehr im Anschlag. Aber der Himmel über der Schlucht blieb leer. »Glauben Sie, er wird unseren Wagen attackieren?« »Schwer zu sagen.« Born hob das Gewehr. »Es dürfte ihm schlecht bekommen.« »Wir sollten weiterfahren, bevor es dunkel wird.« Sie überquerten den Bachlauf auf einem uralten Steg. Die Bohlen knarrten unter dem Gewicht des Landrovers. Das Wiesengelände war von einzeln stehenden Weiden51
sträuchern durchsetzt. Born musterte voller Unbehagen die steilen Felswände des Talkessels. »Ein idealer Platz, um …« Er schwieg und starrte vorgebeugt durch die Windschutzscheibe. Sie entdeckten den Leichnam fast gleichzeitig inmitten der sumpfigen Wiese. Er lag mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken. Born erkannte die Frau sofort an ihrem hellen Kleid. Der Stoff war zerrissen. Im Brust- und Bauchraum klaffte ein tiefes Loch, das mit geronnenem Blut gefüllt war. »Großer Gott, er hat sie regelrecht … ausgeweidet!«, rief Linda entsetzt. Im Gras lagen Teile ihrer inneren Organe – die Leber und ein Rest der Luftröhre. Die abgerissenen, ausgefaserten Stücke der Trachea mit ihren starken Knorpelspangen deuteten darauf hin, dass das Tier ungewöhnliche Kräfte besaß. »Sehen Sie besser nicht hin, wenn Sie schwache Nerven haben«, warnte Born. Er stieg aus, das Gewehr in Hüfthöhe, und warf einen prüfenden Blick zu den Hügeln hinüber. »Ich muss meine Fotos schießen.« »Überlassen Sie das lieber der Polizei.« »Peter Bertram steinigt mich, wenn ich diese Gelegenheit verpasse.« »Solche Fotos kann man ohnehin nirgendwo veröffentlichen.« »Aber es könnten wichtige Hinweise sein.« Linda kletterte mit ihrer Kameraausrüstung aus dem Wagen. 52
Sie begann sorgfältig jedes Detail zu fotografieren. Manuelle Scharfeinstellung – kleine Blende – große Blende – als lägen die Zeiten automatischer Kameraeinstellungen noch in ferner Zukunft. Die Lage des Körpers, die Öffnung im Bauchraum, Nacken und Schultern, an denen der Flugsaurier zugepackt hatte. Am Nacken lagen die Sehnen und Muskeln frei. Die Haut darunter war dunkelblau angelaufen. »Sie wollen doch, dass man Ihnen glaubt, Alex? Wir könnten auf dem Revier die Fotos vorlegen.« »Leihen Sie mir Ihr Handy, wenn Sie fertig sind?« Born streckte seine Hand aus. »Wozu?« »Um die Polizei zu rufen.« »Wenn Sie die jetzt verständigen, haben wir bald eine ganze Meute Journalisten hier. Das wäre das Ende der exklusiven Berichterstattung für den Reporter.« »Wir können die Leiche nicht gut sich selbst überlassen.« »Zwanzig Meter weiter links, und wir hätten sie glatt übersehen.« »Ich würde Ihnen gern jeden Gefallen der Welt tun, Linda, wenn es Ihrer Karriere nützt …« »Im Ernst, Alex? Wie soll ich das verstehen?« »Genauso, wie ich’s sage.« Linda legte ihre Kamera auf den Beifahrersitz und wandte sich langsam nach ihm um, ein unmerkliches Lächeln auf dem Gesicht. »Wir müssen ihnen doch nicht sagen, dass es ein Flugsaurier war, oder? Wo sie sich so schwer tun, dir zu glauben? Hat das nicht noch etwas Zeit?« 53
Born ließ sich nicht anmerken, wie sehr es ihm gefiel, dass sie ihn plötzlich duzte. Er genoss es, wenn Linda in seiner Nähe war. Obwohl er das Kapitel Frauen eigentlich als abgeschlossen betrachtete. Er war jetzt einundvierzig. Er hatte seinen Entschluss gefasst, nachdem Karens Mutter weggegangen war. Aber womöglich war das wie mit den Zigaretten? Die Frauen aufzugeben, ist ganz einfach … wiederholte er in Gedanken. »Ja, vielleicht.« Linda reichte ihm wortlos ihr Telefon. Born wählte eine Nummer und ließ sich mit dem leitenden Polizeibeamten verbinden. Er beschrieb ihm, wo sie die Leiche gefunden hatten und schlug vor, wegen des unwegsamen Geländes einen Hubschrauber zu benutzen. »Hinter uns ist eine alte Holzbrücke. Mehr ein Steg als eine Brücke«, verbesserte er sich. »Kaum oder gar nicht passierbar für schwere Fahrzeuge.« »Mit welchem Fahrzeug sind Sie dort?« »Roter Landrover. Wollen Sie die Nummer?« »Nein, das reicht. Bleiben Sie auf jeden Fall am Tatort, bis wir eingetroffen sind«, sagte der Beamte. Es dauerte kaum mehr als eine halbe Stunde. Der erste Wagen, ein Zivilfahrzeug, kam aus entgegengesetzter Richtung den Hang herunter. Offenbar gab es noch einen schnelleren Weg ins Tal. Dann tauchte ein Hubschrauber über der Schlucht auf, zog lärmend in niedriger Höhe einen weiten Kreis und landete in etwa dreißig Metern Entfernung am Bach. Der nächste Wagen war ein offizielles Fahrzeug der Stadtpolizei mit fünf Beamten. 54
»Die machen keine halben Sachen«, sagte Linda verächtlich. Man sah ihr an, dass sie nicht sehr glücklich über das Aufgebot war. Ein dünner Mann in grauem Anzug stieg aus dem Zivilfahrzeug. Er war braun gebrannt, mit hageren, scharfen Gesichtszügen und wachsamem Blick. Er trug trotz der Wärme einen dunklen Hut. Er hätte jedem Herrenmagazin entstiegen sein können, wäre er nicht einen ganzen Kopf zu klein dafür gewesen. Mit seinem federnden Gang wirkte er drahtig wie ein Foxterrier – und genauso bissig. »Das ist Inspektor Mahler – einer von der schwierigen Sorte«, warnte Linda. »Hat mich schon mindestens drei gute Storys gekostet. Lass dich nicht von ihm einwickeln, Alex.« Born hatte vorsorglich sein Gewehr im Kofferraum verstaut, weil man ihm deswegen vielleicht unangenehme Fragen stellen würde. Er versenkte abwartend seine Hände in den Jackentaschen. »Frank Mahler, Mordkommission …« »Alexander Born. Meine Freundin Linda Meyer.« »Unser künftiger Nobelpreisträger, nicht wahr? Der Stolz der ganzen Region. Und Linda ist Ihre Freundin?« Mahler warf Linda einen spöttischen Blick zu. »Es gibt immer noch Menschen auf der Welt, die sich mögen, Frank. Nicht nur Kerle, die sich selbst im Wege stehen und anderen das Leben schwer machen.« »So was soll vorkommen«, bestätigte Mahler ungerührt. »Darf ich wissen, was Sie in diese abgelegene Gegend verschlagen hat? Das hier ist Naturschutzgebiet. Zufahrt mit dem Wagen verboten. Haben Sie die Schilder am Eingang des Tals nicht gesehen?«, fragte er an Born gewandt. 55
»Ehrlich gesagt, nein.« »Der Wagen ist auf Ihren Namen zugelassen?« Born nickte und reichte ihm die Schlüssel. »Danke, nicht nötig. Haben Sie irgendetwas angerührt?« »Nein.« »Verdächtige Beobachtungen?« »Nur ein eigentümliches Sirren in der Luft, als wir ausstiegen.« »Ein Sirren?« »Ziemlich laut – und schwer einzuordnen.« Born bewegte unbestimmt die Hand. »Von einer Schusswaffe?« »Nein, eher wie das Schlagen großer Flügel.« Inspektor Mahlers Gesicht war nicht anzusehen, ob er schon von Borns Meldung auf der Polizeiwache gehört hatte. »Großer Flügel … aha.« Der Hubschrauber der Gerichtsmedizin landete auf der Wiese am Bach. Zwei Männer mit Metallkoffern stiegen aus und liefen unter den drehenden Rotorblättern auf den Platz zu, wo die Leiche lag. »Lassen Sie von meinen Kollegen Ihre Personalien aufnehmen und halten Sie sich für weitere Vernehmungen bereit«, sagte Mahler.
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7 »Danke«, sagte Linda, als sie wieder im Landrover saßen. »Danke wofür?« »Dass du’s ihnen nicht gleich auf die Nase gebunden hast …« »Ich glaube, das war eher Selbstschutz. Die halten mich doch für verrückt, wenn ich ihnen noch mal dieselbe Geschichte auftische.« »Nicht mehr lange. Gerichtsmediziner können sehr gut einschätzen, wie Wunden entstanden sind. Sie werden schnell herausfinden, dass es kein gewöhnlicher Mord war.« Born nickte und beugte sich suchend vor, um in der einbrechenden Dunkelheit die Fahrtrinne zu finden. Der Weg schnitt tief in den Hügel ein und war von hohen Tannen gesäumt. Man sah kaum noch die Hand vor Augen, weil die Scheinwerfer durch Spritzwasser verschmutzt waren. »Was hältst du davon, meine Tochter kennen zu lernen?« »Du meinst, jetzt gleich?« »Wir könnten auf dem Dachgarten zu Abend essen. Karen ist eine ausgezeichnete Köchin.« »Hm, gute Idee.« »Da oben«, sagte er und streckte die Hand aus. »Wir wohnen in der Dachwohnung über dem Naturkundemuseum.« 57
Vor dem Gebäude gab es sonst immer freie Parkplätze, aber heute war im Cabaret Filou gegenüber Premiere. Ein gleißender Laserstrahl projizierte die Namen der Stars in den Nachthimmel. Da hatte vor nicht allzu langer Zeit auch Glorias Name gestanden, dachte er wehmütig. Gloria hatte konsequent zwei Wege verfolgt. Sie fand, dass sich Film und Kabarett ergänzten. Wenn man mit dem einen nicht erfolgreich war, stellte das andere immer noch so etwas wie ein Sicherheitsnetz dar. Sie wollte von niemandem abhängig sein. Born öffnete mit der Fernbedienung das Garagentor und nahm sein Gewehr aus dem Kofferraum. »Durchs Museum … und wundere dich nicht über unsere Mitbewohner!« Er zeigte auf die präparierten Tiere in der Halle. »Das Gebäude wird ans Institut angegliedert, deshalb gibt es momentan nur diesen provisorischen Treppenaufgang.« Linda trippelte eilig hinter ihm her. Sie hängte sich vorsichtshalber bei ihm ein. Am Ende der halb dunklen Halle stand ein ausgestopfter Karpatenbär. »Hab’ die Luft angehalten, als du Mahler den Wagenschlüssel geben wolltest.« »Wegen des Gewehrs? Ja, das hätte uns in ziemliche Erklärungsnot gebracht.« Karen hatte es sich mit einer Zeitschrift auf der großen Couch im Salon bequem gemacht. Sie stand überrascht auf, als sie Linda sah. »Hallo, Kleines, hier bringe ich dir deine Ersatzmutter. Kein Umtauschrecht«, fügte Born lächelnd hinzu. »Oh, wir kennen uns schon aus dem Kindergarten, nicht 58
wahr? Sind Sie nicht die Mutter von Jens?« Karen jobbte dort neben dem Studium. »Jens ist der Sohn meiner älteren Schwester.« Linda gab ihr die Hand. »Wir waren zusammen auf dieser verrückten Kifferparty, erinnern Sie sich? Wo die Mädchen gleich reihenweise durchdrehten?« »Weil uns jemand was in die Kekse gemischt hatte.« »Na, das ist ja eine Überraschung … ich meine, eine so junge Stiefmutter zu bekommen!« Anscheinend gefiel Karen der Gedanke. Linda war höchstens fünf Jahre älter als sie. Sie hätten auf jeder Party als Freundinnen durchgehen können. Born deutete auf die eiserne Wendeltreppe. »Hier hinauf.« Sie trugen den großen Esszimmertisch aus dem überdachten Vorraum auf die Dachterrasse. »Fantastische Aussicht«, sagte Linda und musterte hingerissen das Häusermeer. Weit hinten am Kanal war der beleuchtete Gasometer zu erkennen. Nur wenige Hochhäuser in diesem Bezirk überragten das Naturkundemuseum. Sie folgte dem weißen Laserstrahl des Kabaretts Filou über den Himmel. Er malte die Initialen »G.V« an die Wolkendecke. G.V stand für Georg Vann, einen jungen Sänger, der unlängst an der Metropolitan Opera in New York Karriere gemacht hatte und jetzt in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Karen hatte Lammrücken mit Rosinen und Mandeln zum Abendessen vorbereitet. Genug, um damit noch zwei weitere Gäste zu beköstigen. 59
»Wie läuft’s mit Thomas von Aquin?«, erkundigte sich Born. Karen schüttelte bekümmert den Kopf. »Wenn ich Aquin lese, weiß ich, dass nie eine gute Lehrerin aus mir wird … Ein Dreifaches ist dem Menschen notwendig zum Heile«, zitierte sie halblaut: »zu wissen, was er glauben, zu wissen, wonach er verlangen, und zu wissen, was er tun soll. Ich glaube, ich weiß nichts von alledem.« »Das ist ganz natürlich«, sagte Linda lachend. »Mir ging’s genauso, als ich mit dem Studium anfing.« »Vielleicht sollte ich doch lieber von den Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften überwechseln? Da bewegt man sich in sicherem Fahrwasser.« »Weil man die Dinge anfassen kann?«, fragte Born. »Niemand hat jemals die DNS angefasst. Vitamine, Atome, Quanten könnten prinzipiell genauso gut Mythen sein wie die Theoreme der Philosophie.« »Ja, Ihr Vater ist ein großer Skeptiker, was den wissenschaftlichen Fortschritt anbelangt«, lachte Linda. »Ich glaube, er sympathisiert heimlich mit dem Buddhismus.« »Alex und Buddhist? Nein, dann schon eher Epikureer, nicht wahr, Paps?« »Kommt drauf an, was darunter zu verstehen ist.« »Jemand, der nach einem bequemen und genussreichen Leben strebt …« »Dann wäre ich wohl kaum Wissenschaftler geworden. In die Geheimnisse der DNS einzudringen, ist ein eher mühseliges Geschäft.« Als Karen den Nachtisch vorbereitet hatte und mit dem Tablett die Wendeltreppe zur Dachterrasse heraufkam, war 60
ein eigentümlicher, lang gezogener Laut zu hören – wie der Schrei eines großen Raben. Born setzte sein Weinglas ab und blickte besorgt zu den Bergen hinüber. »Du meine Güte, was war das denn?«, fragte Karen. Born stand auf und trat ans Geländer. Der Laserstrahl des Kabaretts hatte für einen Augenblick ausgesetzt. Am Horizont bewegten sich wie in Zeitlupe die Lichter eines großen Verkehrsflugzeugs. »Sollten wir deiner Tochter nicht besser sagen, was passiert ist, Alex?«, fragte Linda. »Ja, vielleicht. Wir waren heute draußen in den Wäldern, Karen. Dort sind wir auf die Leiche einer Frau gestoßen. Ich möchte, dass du weißt, in welcher Gefahr wir uns befinden.« »In Gefahr? Ist irgendein verrückter Killer unterwegs?« »Du erinnerst dich an den Schatten, den du zwischen den Wolkendecken gesehen hast?« »Irgendwo da draußen im Wald ist ein riesiges Tier – ein Flugsaurier«, sagte Linda. »Alex’ Beschreibung trifft bis ins Detail auf die Bilder zu, die Wissenschaftler aus Knochenfunden rekonstruiert haben.« »Du hast ihn mit eigenen Augen gesehen, Paps?« »Beim zweiten Mal bin ich ihm nur wegen meines morschen grünen Pullovers entkommen.« »Alex …!« Linda streckte die Hand aus. Das dunkle Etwas kam fast lautlos über die Dächer herangeschwebt. Mit seiner gewaltigen Flügelspannweite erinnerte es unter dem klaren Sternenhimmel an ein überdimensionales Segelflugzeug. Nur viel unwirklicher und ge61
fährlicher – aus einem Albtraum oder wie ein Schreckensbild, das sich ein verwirrter Geist ausgedacht hatte. Einen Augenblick lang schien es über ihnen in der Luft stillzustehen. Seine wachsamen dunklen Augen musterten die Umgebung, als halte es nach Opfern Ausschau. Dann setzte der Laserstrahl der Lichtkanone auf dem Dach des Kabaretts ein und tauchte das Tier in gleißend helles Licht. Diesmal wanderte die Lichtsäule nicht wie üblich über den Himmel, sondern verharrte senkrecht in der Luft. »Himmel – und ich hab’ meine Kamera in der Wohnung vergessen!«, sagte Linda. Born betrachtete fasziniert im Laserlicht die lederartige, dunkelbraune Struktur der Flügel. Wäre da nicht sein merkwürdig geformter Kopf gewesen, der an ein Krokodil erinnerte, man hätte ihm durchaus eine Art majestätischer Schönheit bescheinigen können. Plötzlich stieß das Tier einen markerschütternden Schrei aus. Er klang noch um einiges lauter als beim ersten Mal. Dann stürzte es in halsbrecherischem Flug auf die Lichtanlage des Kabaretts hinab. »Mein Gott, was hat er vor?«, rief Karen. »Er attackiert den Laserstrahl«, sagte Born. »Anscheinend macht das Licht ihn aggressiv.« Der harte Schnabel des Flugsauriers zerschmetterte mit einem einzigen Schlag die Scheibe der Laserkanone … und das Licht erlosch. Es gab einen Knall und eine weiße Wolke stieg auf, als das Kühlmittel aus dem Aggregat entwich. Auf der Straße hatten sich Passanten versammelt, die 62
ungläubig das Schauspiel über ihren Köpfen beobachteten. Der Saurier saß auf der Dachkante und beäugte die Menschen unter sich. Einen Augenblick später stieß er sich ab, beschleunigte mit kraftvollem Flügelschlag und zog steil nach oben. Wieder verharrte er fast regungslos über ihnen in der Luft – als warte er ab, ob sein »Licht schleudernder Gegner« tatsächlich vernichtet sei. Dann wandte er den Kopf in Richtung Dachterrasse und stieß einen krächzenden Laut aus – viel leiser als die vorausgegangenen Schreie. »Schnell in Deckung«, warnte Born. »Jetzt sind wir an der Reihe.« Sie liefen in den Schutz des Vorraums zurück. Einen Augenblick später landete das Untier krachend auf dem Esstisch. Porzellan splitterte unter seinen krallenbewehrten Füßen. Sein schnaubendes Lungengeräusch erinnerte an einen Drachen. Der Flugsaurier war zwar ein eleganter Flieger, aber sein Atem roch nach verfaultem Aas. Die schwarzen Augen forschten ärgerlich in der Dunkelheit des Vorraums. Born war froh, dass er wegen der abendlichen »Romantik« kein Licht eingeschaltet hatte. »Nicht bewegen«, flüsterte er. »Es hat uns im Visier.« Gleich darauf schoss der schnabelartig verlängerte Schädel des Flugsauriers mit einer blitzschnellen Bewegung unter das Dach des Vorraums … und sie wichen entsetzt zur Treppe zurück. Seine scharfen, verschränkten Zähne waren nur noch einen knappen Meter von ihnen entfernt. 63
Diesmal zerriss sein wütender Schrei ihnen fast das Trommelfell. »Nach unten …!«, rief Born. Karen und Linda liefen die eiserne Wendeltreppe zum Salon hinunter. Während er die Polizei anrief, schoss Linda vom Fenster aus so viele Fotos wie sie konnte. Das Tier glitt suchend durch die Straßenschlucht. Am Ende der Straße wendete es noch einmal in weitem Bogen, beschleunigte mit wenigen Flügelschlägen über dem Telefonmast der Hauptpost und glitt langsam an ihrem Fenster vorüber. Seine stechenden kleinen Augen im bräunlich-grauen Fell waren in ein rotes Vorfeld eingebettet. Der Motor von Lindas Spiegelreflexkamera surrte. Wahrscheinlich würden die meisten Aufnahmen zu dunkel sein. Aber dann erwischte sie den Flugsaurier doch noch genau in dem Moment, als er auf die hell strahlende Leuchtreklame des Filou zuflog …
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Zweites Kapitel 1 Diesmal brachten Rundfunk und Fernsehen die Nachricht in Sondersendungen. Polizeifahrzeuge mit Blaulicht patrouillierten durch die Straßen. Die Behörden rieten allen Passanten, in dieser Nacht unnötige Wege zu vermeiden. Der Polizeipräsident wandte sich mit einer kurzen Stellungnahme an die Bevölkerung. Er war bestrebt, panische Reaktionen zu vermeiden. Es bestehe keine oder nur geringe Gefahr. Experten vom hiesigen Zoo würden das Tier mit einem gezielten Betäubungsschuss außer Gefecht setzen. Derzeit werde ein großes Gehege vorbereitet. Kurz nach Mitternacht wurde ein Fachmann von der Universität ins Studio gebeten. Er bestätigte, dass Berliner Forscher in einem Steinbruch nahe der südspanischen Stadt Valdepenas eine bislang unbekannte Art von Flugsaurier entdeckt hatten. Nach seinem Fundort hatte man ihn »Drache von Solana« getauft. Dieser Fund schien zwar nichts mit den gegenwärtigen Ereignissen zu tun zu haben, aber er unterstrich schon wegen der ungewöhnlichen Größe des Tieres, dass man immer wieder auf Überraschungen gefasst sein musste. »Glauben Sie, unser Flugsaurier könnte sich bis heute im 65
Inneren der Erde verborgen gehalten haben?«, erkundigte sich der Moderator. »Nein, ausgeschlossen.« »Wie erklären Sie sich dann seine Existenz?« »Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Erklärung dafür.« »Halten Sie eine Rekonstruktion aus Genen für möglich?« »Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft kaum. Dazu verwendet man am besten tiefgefrorenes Blut mit einer vollständigen DNS-Kette. Weniger geeignet und schwieriger zu handhaben ist getrocknetes Material. Wenn nur wenige Bruchstücke der Erbinformation fehlen, würde der Versuch zum Scheitern verurteilt sein.« »Einer unserer möglichen künftigen Nobelpreisträger – Doktor Alexander Born von der Chrysler-Bondt-Stiftung – soll am weitesten auf diesem Forschungsgebiet fortgeschritten sein?« »Er hat das Verfahren mit Kollegen vom Max-PlanckInstitut entwickelt. Allerdings nur in der Theorie. Es gibt noch keine praktischen Erfahrungen.« Borns Bild wurde eingeblendet. Es war eines der wenigen Bilder, das ihn mit Jackett und Krawatte zeigte. »Du siehst himmlisch aus, Paps«, sagte Karen. »Du solltest öfter Krawatte tragen.« »Vergiss nicht, dass mir mein alter grüner Pullover das Leben gerettet hat.« Wenn er sich recht erinnerte, hatte man die Kleidungsstücke damals für das Interview aus der Requisitenkammer des Senders geholt.
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Sobald er wieder hinter den hermetisch abgeschotteten Mauern des Instituts saß, war es, als existiere die Bedrohung gar nicht. Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen. Durch die Scheiben der Labors sah man Wissenschaftler in ihren silberfarbenen Kunststoffanzügen. Manche von ihnen trugen Helme, andere arbeiteten in Kitteln an Elektronenmikroskopen. Boten brachten Laborproben aus anderen Instituten, Reagenzgläser wanderten von Raum zu Raum. Auf den Bildschirmen flimmerten Sequenzen von Genanalysen. Seit Glorias Tod war Doktor Borns Verhältnis zu Professor Bensheim auf einem Tiefpunkt angelangt. Er hatte keine Ahnung, woran das lag. Es war, als gebe er ihm die Schuld an ihrer Fehlgeburt. Sie gingen sich aus dem Wege, wo immer sie konnten. Dagegen gehörte die Arbeit mit seinen Kollegen zu den erfreulicheren Dingen im Leben. Für einige jüngere Mitarbeiter war er so etwas wie ein Tutor. Er versuchte ihre Arbeit zu fördern. Besonders angetan hatte es ihm ein junger Bursche, der nach dem abgebrochenen Biologiestudium als Bote im Institut angefangen hatte. Doktor Born hatte ihn nie gefragt, was der Grund dafür gewesen war, mit dem Studium aufzuhören. Aber er spürte, dass Martins Interesse an der Genetik ungebrochen war. Manchmal stand er wie versunken vor den großen Farbtafeln mit den Genstrukturen oder beobachtete gespannt, was sich auf den Bildschirmen tat. Wenn Born ihm seine Arbeit zu erklären versuchte, nickte er meist wissend. »Es geht mich ja nichts an«, sagte Born, »aber manchmal frage ich mich, warum du dich hier im Institut mit Botengängen zufrieden gibst?« 67
Martin zuckte verlegen die Achseln. »Du hast das Zeug zum Wissenschaftler.« »Ich musste … mein Studium abbrechen.« »Ja, ich weiß. Weil du es nicht finanzieren konntest?« »Nein …« »Du möchtest nicht darüber reden?« »Meine Eltern sind strenggläubige Zeugen Jehovas. Sie glauben, dass solche Eingriffe in die Schöpfung Sünden darstellen und eines Tages auf uns zurückfallen werden.« »Sieht ganz so aus, als sei das schon der Fall«, sagte Born. »Kaum hat jemand Gott ins Handwerk gepfuscht, schon sind wir nicht mehr sicher auf den Straßen. Aber du liebst deine Wissenschaft immer noch? Sonst wärst du kein Bote bei uns?« »Ich lerne einfach dadurch weiter, dass ich zusehe.« »Weil du Zweifel an deiner Religion hast?« »Es hängt ganz allein von uns ab, was wir aus den wissenschaftlichen Entdeckungen machen. Nicht die Bluttransfusion ist böse, wie die Zeugen Jehovas glauben, oder die Genmanipulation, sondern der menschliche Geist.« »Oder das, was wir für den menschlichen Geist halten? Wenn wir intelligent genug wären, um unsere wahren Interessen zu erkennen, käme niemand auf die Idee, so scheußliche Monster zu rekonstruieren. Vielleicht ist das ja schon die apokalyptische Schlacht von Harmagedon, das Ende der alten Zeit, die eure Kirche predigt.« »Glauben Sie, dass die Technik zur Genreproduktion aus unserem Labor stammt?«, erkundigte sich Martin. »Nein, wie kommst du darauf?« »War nur eine Frage …« 68
Linda arbeitete bis zum Morgengrauen an ihrem Artikel. Der Reporter hatte die Druckmaschine für die Titelseite angehalten und präsentierte seine Ausgabe mit zweistündiger Verspätung. »Ausgezeichnet«, sagte Peter Bertram. »Diese Nachricht bringt den Reporter in die Weltpresse …« Das Titelfoto zeigte den Flugsaurier in vollem Fluge. Man sah deutlich, dass es sich um keine Computersimulation handelte, sondern um ein lebendes Tier. Das Labor hatte aus dem Licht der Leuchtreklame herausgeholt, was möglich war. »Nächste Station: Gefangennahme«, sagte Bertram lapidar. »Du bekommst jede denkbare Unterstützung.« Frank R. Mahler – er pflegte das R. herauszustellen, weil sich das auf dem Messingschild des künftigen Polizeichefs besser ausnehmen würde – war mit der Bildung einer Einsatztruppe beauftragt worden. Die Regierung hatte sich am Mittag besorgt erkundigt, ob nicht allmählich der Einsatz von Eliteeinheiten erwogen werden solle, und Mahler hatte das verneint. Mit Eliteeinheiten war zweifellos das Militär gemeint. Er wollte keine Soldaten in seinem Bereich. Darin war er ausnahmsweise einer Meinung mit dem Polizeichef. »Er wird durch einen einzigen Schuss aus dem Betäubungsgewehr erledigt«, lautete seine Standardantwort. Mahler hatte zwei Experten hinzugezogen, den Leiter des nationalen Naturkundemuseums und einen Arzt aus dem nächstgelegenen Zoo. Der Arzt würde den Fangschuss 69
übernehmen und war für die Dosierung des Betäubungsmittels verantwortlich. Das Körpergewicht des Tieres ließ sich nur schätzen. Ein Flugsaurier dieser Größenordnung, der einen ausgewachsenen Menschen in die Luft hob, war vielleicht mit einem schweren Elefantenbullen vergleichbar. Robert Bach vom Zoo vertrat die Meinung, das sei eine Dosis, die den Saurier töten könnte. »Ich möchte vermeiden, dass es Komplikationen gibt«, widersprach Mahler. »Wenn das Tier entkommt, haben wir negative Schlagzeilen während der kommenden Messezeit. Das könnte uns leicht hunderttausend Besucher kosten.« »Und wenn wir ihn lebend in ein Gehege des Zoos schaffen, sichert uns das eine Million Besucher pro Jahr.« »Professor, wie denken Sie darüber?« »Natürlich sind beide Argumente richtig«, erklärte Breuer diplomatisch lächelnd. »Und in ausgestopftem Zustand wäre er eine Sehenswürdigkeit für den Neubau des Naturkundemuseums.« Das Gebäude war erst kürzlich zur nationalen Institution erhoben worden und stand jetzt – anders als das geschlossene städtische Museum, in dem Born wohnte –, unter der Schirmherrschaft des Landes und der Universität. Mahlers Einsatztruppe sollte aus drei Jeeps bestehen. Im ersten würden er selbst und drei Polizeibeamte sitzen, zwei davon mit Betäubungsgewehren. Der zweite und der dritte Wagen sollten von Professor Breuer und Robert Bach geleitet werden. Mit den sechs Spezialgewehren des Zoos verfügten sie über insgesamt dreißig Schuss Betäubungsmunition, jeder in einer Stahl70
ampulle, die sich erst im Körper des Tieres durch Druckluft öffnete. Professor Breuer leitete auch das Paläontologische Institut der Universität und war so etwas wie eine wissenschaftliche Visitenkarte für Mahler. Er konnte sich jetzt keine Fehler erlauben. Und falls doch, ließen sie sich leichter dem Negativkonto von Bach und Breuer gutschreiben, wenn man vorher jede Einzelheit abgesprochen hatte. Inspektor Mahler gönnte sich eine Rasur in seiner winzigen Dachkammerwohnung, weil er am Morgen wegen des Alarms keine Zeit mehr dafür gefunden hatte. Trotz seiner geringen Körpergröße musste er unter der schrägen Decke des Badezimmers den Kopf beugen. Dafür war die Wohnung spottbillig. Gewöhnlich hielt er sich hier nur zum Schlafen auf. Er legte Wert auf gepflegte Kleidung, aß im Polizeiklub und verbrachte auch seine Abende dort. Im Übrigen gab er einen großen Teil seines Verdienstes dafür aus, Leute zum Essen einzuladen, die seiner Karriere förderlich waren. Es läutete, und Mahler ging hinüber zur Korridortür und nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab. »Ja?« »Wir sind soweit«, sagte Robert Bach. »Okay, bin in zwei Minuten unten …« Als er in voller Ausrüstung für den Kampfeinsatz die Wohnung verließ, wurde eine der gegenüberliegenden Türen im Korridor geöffnet. Das Gebäude hatte früher als Hotel gedient. In der Etage gab es acht ebenso winzige Apartments, die überwiegend von allein stehenden Frauen bewohnt wurden. Fast alle be71
saßen einen ganzen Zoo von Haustieren: Kanarienvögel, Wellensittiche, Goldhamster, Katzen, Hunde. Im Klub nannte er das Haus immer spöttisch »mein Tierheim«. Mahler nahm kaum mehr als einen Schatten aus den Augenwinkeln wahr, als der Hund auf sein Fußgelenk zuschoss. Er verspürte einen schmerzhaften Biss durch das Leder seiner Fallschirmspringerstiefel. »Ah … verdammt!« »Chouchou, bei Fuß!«, sagte eine Frauenstimme. »Bitte entschuldigen Sie. Ich konnte ja nicht ahnen, dass jemand im Flur ist. Sind Sie verletzt?« »Ich hoffe, nicht«, sagte Mahler und massierte mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Fußgelenk. »Sie sollten der Bestie einen Maulkorb anlegen …« Die Frau war um die Siebzig. Vielleicht trug sie deshalb trotz der Wärme einen Pelzmantel. Der Hund stand kläffend vor ihm und scherte sich nicht um seine Herrin. Er war kaum größer als ein Zwergpinscher. Ein Maulkorb üblicher Größe hätte ihn zur Karikatur werden lassen. Mahler musterte verblüfft das Tier. Er hatte in seiner Jugend selbst Hunde gezüchtet. Dies war keine Rasse, die er kannte. »Nanu«, sagte er und beugte sich zu dem immer noch bellenden Knäuel mit dem Gold schimmernden Fell hinunter. »Du bist mir ja ein ganz seltenes Exemplar … Darf ich fragen, um welche Rasse es sich dabei handelt?« »Oh, es ist eine … Auftragsarbeit«, erklärte die alte Frau. »Eine Auftragsarbeit?« »Ein Troijon, eine Rasse, die seit Ludwig dem Vierzehnten ausgestorben war.« 72
»Ausgestorben? Ich verstehe nicht?« »Mein Hundezüchter verfügt da über gewisse Verbindungen«, sagte sie und machte eine vieldeutige Handbewegung. Inspektor Mahler wäre kein guter Polizist gewesen, wenn er nicht sofort Verdacht geschöpft hätte. Manchmal bestand die Kunst in seinem Beruf gerade darin, scheinbar weit auseinander liegende Fakten zusammenzubringen. Das bedeutete natürlich nicht auch schon automatisch, man wisse selbst von vornherein genau, in welche Richtung einen die Intuition lenken würde … »Sagen Sie, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihren Hund Professor Breuer von der naturkundlichen Abteilung der Universität zeige? Er wartet unten mit ein paar Beamten im Wagen auf mich.« »Nein, warum sollte ich?«, meinte sie geschmeichelt. Das erste, was Inspektor Mahler zwischen den drei wartenden Militärjeeps vor seiner Haustür gewahrte, war Linda Meyer. Ihre Anwesenheit überraschte ihn kaum weniger als der Hund. Sie stand inmitten seiner Beamten und gab die neuesten Blondinenwitze zum Besten. »Wer hat Sie denn eingeladen?«, fragte er missmutig. »Dies ist ein reiner Regierungsauftrag.« »Dreimal dürfen Sie raten, Frank. Ihr oberster Chef, der Polizeipräsident höchstpersönlich. Mein Chefredakteur Peter Bertram hat noch was gut bei ihm. Seien Sie froh, dass ich Ihnen damit die Leute von World-News vom Hals halte. Die wären mindestens doppelt so lästig wie ich.« Mahler warf einen Blick in die Runde, als habe Linda sich mit dieser Antwort in Luft aufgelöst. Er registrierte 73
zufrieden, dass seine Beamten vollständig versammelt waren und auf sein Kommando warteten. »Was glauben Sie, Professor, um welche Rasse handelt es sich bei diesem Hund?«, fragte er und nahm das Tier auf den Arm, wobei er vorsichtshalber mit festem Griff seinen Nacken gepackt hielt. »Es ist ein Troijon, ausgestorben seit den seligen Zeiten Ludwigs des Vierzehnten.« Breuer ließ sich den Hund geben und betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten. »In der Tat, sehr ungewöhnlich …« »Denken Sie auch, was ich denke?« »Sie spielen auf eine genetische Reproduktion an?« »Unser Flugsaurier ist schließlich nicht vom Himmel gefallen.« »Und woher stammt das Genmaterial?« »Ich war früher selbst mal Hundezüchter. Soviel ich weiß, gibt es von manchen ausgestorbenen Rassen noch ausgestopfte Exemplare in den Museen.« »Das dürfte kaum für ein Genduplikat ausreichen.« »Inzwischen ist man schon einen Schritt weiter. Kürzlich soll es texanischen Wissenschaftlern gelungen sein, einen Ochsen aus der Haut eines anderen Ochsen zu klonen, der ein Jahr zuvor verendet war.« »Befragen wir doch einfach Doktor Born dazu«, schlug Breuer vor. »Wir haben schließlich einen Experten von internationalem Rang in der Nähe.« »Linda, würden Sie das übernehmen?«, erkundigte sich Mahler. »Wäre doch mal eine nützliche Aufgabe für Sie.« Linda nickte bereitwillig, als bemerke sie seinen ironischen Unterton nicht. 74
»Hat Ihnen der Züchter gesagt, woher das Tier stammt?«, fragte Breuer die Frau. »Nein, wozu?« »Sie haben sich nicht danach erkundigt, wer solche Prachtexemplare züchtet?« »Er legte mir einen Katalog mit ausgestorbenen Rassen vor, alte Zeichnungen. Es sei das Ergebnis eines wissenschaftlichen Experiments.« »Ein Züchter aus der Gegend?« Die Frau schüttelte den Kopf und griff nach der Hundeleine in Breuers Hand. »Sieht ganz so aus, als sei das alles ein großes Geheimnis?«, erkundigte sich Breuer. »Ich bekam den Hund nur gegen das Versprechen, den Namen des Züchters geheim zu halten.« »Verstehe …« »Das ist doch nicht verboten?« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte er und gab ihr das Tier zurück. Die Frau nahm den Hund auf den Arm, weil Linda begonnen hatte, ein paar Fotos von ihm zu schießen. »Bitte keine Fotos!«
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2 Linda war in den Jeep des Arztes gestiegen. Sie hatte schon bei ihrer ersten Begegnung Vertrauen zu Robert Bach vom Zoo gefasst. Außerdem war es das letzte Fahrzeug in der Kolonne; von dort aus würde sie die besten Fotos schießen. Bach machte keinen Hehl daraus, dass er es ablehnte, den Flugsaurier zu töten. »Wir müssen unter allen Umständen sein Leben retten«, flüsterte er Linda zu. »Ich habe die Dosis der Ampullen reduziert.« »Sie haben …?« Er öffnete mit verschwörerischem Grinsen die Klappe des Handschuhfachs und zeigte auf die beiden ausgetauschten Patronen der Betäubungsmunition. »Ist das nicht zu riskant?« Bach deutete auf die riesigen Ledergeschirre hinter sich im Wagen. »Damit fixieren wir im Zoo unsere Elefanten, wenn sie behandelt werden müssen.« Er hatte seine Erfahrungen in afrikanischen Wildparks gesammelt, ehe er hier sesshaft geworden war. Große Tiere wie Elefanten, Nashörner oder Flusspferde wussten genau, dass sie den Menschen an Kraft überlegen waren. Trotzdem begegneten sie ihnen mit Vorsicht und Respekt, als ahnten sie, dass sie diesen seltsamen kleinen Wesen auf zwei Beinen an Verschlagenheit und Bösartigkeit nicht gewachsen seien. 76
Linda öffnete ihre Umhängetasche und zeigte ihm die Fotos vom Abend auf der Dachterrasse. »Donnerwetter … ich hab’s schon in der Zeitung nicht für möglich gehalten, aber diese Bilder übertreffen alles, was ich je gesehen habe!« »Ich finde, der Flugsaurier ist ein Albtraum. Wenn Sie ihn wie ich aus der Nähe erlebt haben, werden Sie die nächsten Wochen nicht mehr ruhig schlafen.« »Gute Nachricht – wir haben Hubschrauberunterstützung«, schnarrte Inspektor Mahlers Stimme aus dem Funkgerät des Jeeps. »Wir arbeiten uns systematisch durch die Wälder im Norden vor. Abstand höchstens hundertfünfzig bis zweihundert Meter. Sichtkontakt halten …« »Ich kann diesen nachgemachten Napoleon einfach nicht ausstehen«, seufzte Linda. Robert Bach warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. Er breitete seine Karte auf den Knien aus. »Wenn wir parallele Wege benutzen, könnte es gehen«, sagte er. »Aber was, wenn wir uns quer durch den Wald zu Hilfe kommen wollen? Das Gelände ist viel zu unwegsam dafür.« Sie durchsuchten den ganzen Nachmittag über die Wälder nördlich der großen Stadtgebiete. Die Ausfallstraßen waren gesperrt, um Journalisten und Neugierige abzuhalten. Mahler hielt sein Gewehr mit den Betäubungspatronen auf dem Schoß; zusätzlich hatte er sich eine Maschinenpistole umgehängt. In seinem grünen Militäranzug mit den Springerstiefeln sah er aus wie ein verhinderter Großwildjäger. Wahrscheinlich trug er auch noch ein paar Handgranaten am Gürtel. Inspektor Mahler nicht zu 77
mögen, sei die leichteste Sache der Welt, dachte Linda amüsiert. Sie hatten sich auf einem Empfang der Polizei kennen gelernt, dem Tag der offenen Tür für Journalisten. Mahler hatte sich sofort auf sie gestürzt und sie die ganze Zeit über nicht mehr aus den Augen gelassen. Er wollte wissen, wie sie ihre Abende und Wochenenden verbrachte. Welche Musikveranstaltungen? Theater? Schallplatten? Bücher? Offenbar rechnete er sich tatsächlich Chancen bei ihr aus. Er hatte erst Ruhe gegeben, als sie ihm vorlog, sie müsse ein behindertes Kind versorgen. »Ihr eigenes Kind, Linda?« »Aus meiner dritten Ehe. Dann gibt’s da noch einen behinderten Papagei und zwei behinderte Goldfische …« »Verstehe …« Er lächelte säuerlich, als sei er es gewohnt, bei Frauen abzublitzen. Von diesem Tage an war ihr Mahler aus dem Wege gegangen. Gegen Abend wandten sie sich der anderen Seite des Waldes zu. Sie hatten noch gut dreieinhalb oder vier Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit. Der Hubschrauber gab laufend Meldungen und Positionsbeschreibungen durch. Manchmal war das Blätterdach des Laubwalds so dicht, dass sie von oben Anweisungen bekamen, einen bestimmten Abschnitt zu durchsuchen. Einige Male mussten sie die Jeeps verlassen, um zu Fuß einen Felskessel oder breiten Spalt zu überprüfen. Zum Glück gab es hier keine Höhlen oder Grotten. Aber unterhalb der Hügelkuppen hatte der Sturm im Frühjahr viele 78
Bäume entwurzelt, und das Gelände war voller tiefer Rinnen, die Sichtschutz boten. Wenn überhaupt, dann würde der Saurier in solch einem Gewirr aus umgestürzten Stämmen und aufragendem Wurzelwerk Unterschlupf suchen. Professor Breuer konnte nicht sagen, ob Flugsaurier ausschließlich nachtaktive Jäger waren. Bisher hatte das Tier immer abends oder nachts gejagt. Aber vielleicht war das ja nur instinktive Vorsicht? Die Paläontologie ging davon aus, dass Flugsaurier gute Augen besaßen. Sie mussten ihre Beute wie Vögel aus großer Entfernung am Boden erkennen. Dagegen galten sie als eher tollpatschige Fußgänger. Zu diesem Schluss war eine Arbeitsgruppe von Breuers Kollegen um James Clark an der George Washington University in Washington, D.C. gekommen. Bislang waren sich die Biologen nicht einig gewesen, ob Flugsaurier ähnliche Behändigkeit besaßen wie Vögel, die beim Laufen nur die Zehen der Hinterfüße auf den Boden aufsetzen. Mit dem Skelettfund eines DimorphodonFlugsauriers in Mexiko hatten Clark und seine Mitarbeiter endlich Glück gehabt. Danach bewegten Flugsaurier sich am Boden zwar recht plump, aber der Bau ihrer Fußknochen erlaubte es ihnen, kräftig zuzugreifen. Das ermöglichte den kleineren Arten, auf Bäume zu klettern und auf Ästen zu sitzen. Als sie am Bachbett angelangt waren, schlug Mahler vor, eine Pause einzulegen. In der Nähe sollte sich ein kleiner See befinden, ein idyllisches Naturschutzgebiet, doch trotz der Karten konnten sie ihn nirgends entdecken. Sie hätten sich leicht vom Hub79
schrauber einweisen lassen können. Von oben musste es ein Kinderspiel sein, den See zu finden. Aber für Mahler wäre es das Eingeständnis gewesen, dass er inzwischen die Orientierung verloren hatte. »Okay, hier am Bach ist es genauso gut wie am See, oder?« Niemand widersprach. Alle waren froh, endlich ein paar Minuten ausruhen zu können. Es gab sauberes Wasser, um das Geschirr zu spülen, und die steil aufragenden Felswände bildeten eine malerische Kulisse für ihr Picknick. Sie kochten Tee auf der Ladefläche des Jeeps. Die Sandwiches waren mit Hühnchen belegt und stammten aus der Polizeikantine. Einen Augenblick später landete der Hubschrauber neben ihnen auf der Wiese. Der Pilot schaltete den Motor ab, und die Beamten kamen geduckt unter den sich immer noch drehenden Rotorblättern auf sie zu. »Die sind alle mit Sturmgewehren ausgerüstet«, sagte Robert Bach verächtlich, als Mahler sich vorn am Jeep zu schaffen machte. »Sie lehnen es ab, den Flugsaurier lebend zu fangen.« »So, was macht Sie da so sicher?«, fragte Linda. »Mahler will nicht, dass es während der Messen Ärger gibt.« Er versuchte ihr zu erklären, aus welchen Indizien er das schloss: Da war einmal die hohe Dosis des Betäubungsmittels, als sei das Tier so schwer wie ein ausgewachsener Elefantenbulle. Dann die Tatsache, dass die Beamten im Hubschrauber keine Betäubungsgewehre besaßen. Und natürlich Mahlers ständige Sorge, negative Schlagzeilen zu bekommen … 80
»Vielleicht sind wir da ein wenig zu pessimistisch, Robert?« »Ich hab’ gelernt, dass alles schief geht, was schief gehen kann.« Während sie aßen, blickte Linda sich argwöhnisch um. War weiter unten nicht der Platz, wo sie die Leiche der Frau gefunden hatten? Aber dann hätte Mahler ihn doch sofort wiedererkennen müssen? Oder war er solch ein Trottel? Sie bemerkten den Flugsaurier erst, als er sich direkt über ihnen befand. Es sah aus, als sei er von der Felswand am östlichen Talrand gestartet und dann steil aufgestiegen. Er flog in großer Höhe, aber die Spannweite seiner Flügel war selbst aus dieser Entfernung noch beeindruckend. »Großer Gott …«, sagte Robert Bach. Es klang eher bewundernd als entsetzt. Er stand auf und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Inspektor Mahler kletterte hinter ihm aus dem Wagen. Sein Blick folgte Bachs ausgestreckter Hand. Danach ging alles blitzschnell. Mahler nahm einem der Polizisten das Sturmgewehr aus der Hand und legte an. Ehe der Arzt reagieren konnte, hatte er zwei Schüsse auf das Tier abgefeuert. Der dritte Schuss ging in Richtung Felswand, weil Robert Bach ihm in den Arm fiel. »Was fällt Ihnen ein!« »Wir hatten doch vereinbart, ihn lebend zu fangen …« »Ich habe hier das Kommando. Von Vereinbarung kann überhaupt keine Rede sein.« »Wozu dann das Betäubungsmittel?« 81
»Es ist ein Raubtier, es tötet Menschen. Wollen Sie dafür die Verantwortung übernehmen?« »Wir könnten ihn auch lebend fangen, oder?« »Wir fangen ihn lebend, falls sich dazu eine Gelegenheit bietet und wenn ich es entscheide.« »Ich weiß nicht, ob das Ihrer Karriere so förderlich ist, wie Sie glauben«, widersprach Bach. »Das Tier wäre im Zoo während der Messezeit eine ungewöhnliche Attraktion und würde noch mehr Besucher anziehen. Wir haben jetzt schon Journalisten aus aller Welt hier.« »Überlassen Sie meine Karriere lieber mir«, sagte Mahler. Sein Gesicht war weiß vor Zorn. Linda hatte ihn noch nie so außer sich gesehen. Er gab dem Piloten des Hubschraubers ein Zeichen. »Sofort starten! Und geben Sie uns laufend Positionsbestimmungen durch.« »Tot oder lebendig, jedenfalls hat er ihn erst mal verfehlt«, murmelte Linda, als sie wieder neben Bach im Jeep saß.
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3 Es würde bald dunkel werden. Der Flugsaurier war zielstrebig in Richtung der Stadtgebiete geflogen – wahrscheinlich, weil er wie an den vergangenen Abenden auf Jagd gehen wollte. Als sie sich den ersten Häusern näherten, verlor der Pilot im Hubschrauber den Sichtkontakt. Das Tier hatte in großer Höhe den Verschiebebahnhof mit seinen Gleisanlagen und Lagerhallen passiert. Hinter dem Tunnel war es zwischen den Bäumen verschwunden. Sie kreisten eine Zeit lang suchend über den Messehallen und dem benachbarten Parkgelände. »Was ist mit den Laubbäumen hinter den Hallen?«, erkundigte sich Mahler über Funk. »Negativ …« »Und das Brachgelände weiter östlich?« »Okay, schauen wir uns da mal um …« Es dauerte eine Weile, bis der Hubschrauber das weitläufige Gelände mit seinen Ruinen aus dem Zweiten Weltkrieg inspiziert hatte. Sie sahen, wie er im Tiefflug über die Dächer glitt. Einmal schwenkte er scharf nach Westen, als habe er etwas Verdächtiges im Innenhof einer stillgelegten Zeche entdeckt. Dann stieg er auf und zog einen weiten Bogen über dem Land, wie um sich noch einmal aus großer Höhe zu vergewissern, dass er nichts übersehen hatte. 83
»Nein, negativ.« »In der eingeschlagenen Richtung weiter zum nächsten Stadtzentrum! Und achten Sie auf alles, was ihm Deckung bieten könnte.« Sie durchquerten die Vororte, und der Hubschrauber war ihnen weit voraus und nur noch ein winziger Punkt am Himmel. Ein Kastenwagen von World-News hatte sich an die Kolonne der Jeeps gehängt. Auf dem Stadtgebiet konnten sich die Journalisten wieder frei bewegen, es gab keine Absperrungen mehr. Linda war nicht sonderlich begeistert darüber, die Konkurrenz an den Fersen zu haben. Die Burschen verfügten über viel mehr technische Möglichkeiten als der Reporter, und wenn sie erst einmal Blut geleckt hatten, gaben sie nicht mehr auf. Inspektor Mahler schien genauso wenig erfreut über ihre Begleitung zu sein. Während der Fahrt meldete sich der Polizeipräsident und ließ sich den neuesten Stand durchgeben. »Können Sie uns den Wagen der World-News vom Hals schaffen?«, fragte Mahler, als er ihm Bericht erstattet hatte. »Das wäre hilfreich …« »Hm, will sehen, was ich tun kann.« Sie näherten sich jetzt dem Kongresszentrum. Die meisten Straßen waren wegen der engen Fahrbahnen Einbahnstraßen. Aber Mahler scherte sich einen Teufel darum. Er thronte hoch aufgerichtet mit dem Gewehr in der Hand auf dem Beifahrersitz und dirigierte den Jeep durch die Straßen, wie er es für erforderlich hielt. »Glauben Sie, wir haben überhaupt noch eine Chance, ihn lebend zu fangen, wenn es dunkel ist?«, fragte Linda zweifelnd. 84
»Ich weiß nicht«, sagte Bach zögernd. »Nur wenn wir nahe genug herankommen.« »Vielleicht ist das sogar besser so?« »Ja, vielleicht …« Bach warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu. Linda machte sich keine falschen Vorstellungen darüber, dass es egoistisch und eigennützig von ihr war, den Flugsaurier verschonen zu wollen. Schließlich tötete er jeden Tag Menschen. Obwohl er durch Genmanipulation geschaffen worden sein musste, hatte er während ihrer Begegnung auf der Dachterrasse nicht einen einzigen Augenblick den Eindruck einer künstlichen Kreatur auf sie gemacht. Ganz im Gegenteil: Man fühlte sich in eine vergangene Zeit zurückversetzt. Er war alles andere als künstlich – er war die Vergangenheit! Seine lederartigen Flughäute mit den dreifingrigen Armen, der merkwürdig geformte Kopf mit den wachen, misstrauischen dunklen Augen übten eine ungeheure Anziehungskraft auf sie aus. Gleich darauf hörten Linda und Robert über Funk die aufgeregte Stimme des Piloten im Hubschrauber: »Wir haben ihn! Er fliegt in Richtung Stadtzentrum …« Dann folgte eine Pause, in der nur noch das Motorgeräusch des Helikopters zu hören war. »Hallo, was soll das denn werden? Das Vieh scheint sich’s auf dem Kirchendach bequem machen zu wollen …« Mahler ließ die Wagenkolonne anhalten und richtete seinen Feldstecher auf die Kirche. »Na fantastisch«, murmelte er. »Überlassen wir die Drecksarbeit doch einfach dem Küster …« Breuer war ausgestiegen und kam zu ihrem Wagen her85
über. »Vielleicht sollten wir den Hubschrauber nicht zu nahe herankommen lassen?«, meinte er an Mahler gewandt. »Es könnte das Tier erschrecken und zu unüberlegten Reaktionen provozieren. Was halten Sie davon?« »Momentan sieht er nicht so aus, als könnte ihn irgendetwas aus der Ruhe bringen«, sagte Mahler und reichte ihm das Fernglas. »Nein, Sie haben Recht …« Mahler gab dem Fahrer seines Wagens ein Zeichen. Sie fuhren weiter und bogen in die Straße zum Justizministerium ein. In diesem Viertel befanden sich viele einfache Lokale und Restaurants, in denen sich die Angestellten nach der Arbeit trafen. Vor den Eingängen standen Gäste und starrten zur Plattform des Kirchturms hinüber. Einige johlten, als handle es sich um eine Karnevalsveranstaltung oder irgendetwas, das man nicht ganz ernst nehmen konnte. Kinder tollten ausgelassen über die Bürgersteige. In den Wohnhäusern waren jetzt viele Fenster geöffnet. Die meisten Zuschauer machten den Eindruck, als seien sie lediglich Zeugen eines weit entfernten Naturschauspiels, von dem man nicht selbst betroffen war. Offenbar machte sich niemand klar, in welcher Gefahr sie sich befanden. Linda stellte befriedigt fest, dass der Wagen der WorldNews an der nächsten Straßenkreuzung von einer Polizeikontrolle gestoppt wurde. Sie sah, wie einer der Journalisten ausstieg und wütend auf die Beamten einredete. Dann kam eine Meldung aus der Leitstelle der Polizei: »Pferd bei Übungsritt auf der Galopprennbahn durchge86
gangen. Bewegt sich momentan außer Kontrolle durchs Stadtzentrum …« »Auch das noch – ein Unglück kommt selten allein«, sagte Mahler. »Gibt uns das keinen Vorwand, den Verkehr im Zentrum zu sperren? Ich brauche freie Straßen.« »Wir tun, was wir können …« Er blickte wieder durch den Feldstecher. Der Flugsaurier hockte auf dem Dach unter der Uhr des Kirchturms und beobachtete wachsam das Treiben unter sich in den Straßen. Manchmal hob er ein wenig seine Flügel, wie vor Jagdeifer oder um sich Luft zu machen. Was, wenn ich ihn einfach mit einem gezielten Schuss vom Dach hole?, überlegte er. Würde ihn das in den Augen der Öffentlichkeit diskreditieren? Würde es sich negativ auf seine Nominierung für den Posten des Polizeichefs auswirken? Oder feierte man ihn dann als Helden? Er hatte gelernt, wichtige Fragen in Ruhe abzuwägen, erst recht, wenn es um etwas so Wichtiges wie seine Karriere ging. Aber jetzt war keine Zeit dafür. Sein Instinkt sagte ihm, dass es besser sein würde, das Tier einzufangen. Außerdem war die Entfernung für einen gezielten Schuss zu groß. »Pferd bewegt sich in Richtung Schlossplatz …«, meldete die Stimme der Leitstelle.
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4 Aus dieser Höhe sah das Land wie ein unendlicher grünbraun-gefleckter Teppich aus; winzige Lebewesen bewegten sich dort unten, die er nicht kannte, und einmal erschrak er, als ein lang gestreckter Bandwurm auf gleißenden Bändern den Berg aus einer dunklen Höhle verließ. Aber der Wurm kümmerte sich gar nicht um ihn. Er schnaufte und machte dröhnende Geräusche. Dann überquerte er den Fluss und verschwand in einem ebenso schwarzen Loch am gegenüberliegenden Berg. Gleich darauf spürte er wieder den sanften Wind unter der Lederhaut seiner Flügel. In den oberen Luftschichten war es wärmer, und die Wärme trug ihn höher hinauf, fast bis in die Nähe der weißen Schäfchenwolken … Dann kam die graue Steinwüste, in der schon die ersten Lichter flimmerten. Am Tag zuvor hatte er sich in einer hohen Wand aus klarem Wasser gespiegelt, die aus den anderen Steinkegeln aufragte. Einen Augenblick verstand er gar nicht, dass er selbst es war, der dort auf ihn zugeflogen kam! Er war über den viereckigen Turm geflogen und im Gleitflug zurück, um es an der anderen Seite gleich noch einmal zu probieren. Und wieder sah er voller Stolz in der spiegelnden Wand, mit welcher Leichtigkeit sich seine Schwingen bewegten. 88
Er spürte die unerhörte Kraft, das berauschende Gefühl, sich jederzeit in die Lüfte heben zu können nach so vielen Wochen im Halbdunkel jenes bedrückenden Ortes, an dem er das Licht der Welt erblickt hatte … Er würde niemals wieder dorthin zurückkehren. Er wusste sein Glück kaum zu fassen, dass ihm so unerwartet die Freiheit geschenkt worden war. In der Felsenwüste gab es immer genug für ihn zu jagen. Noch jagte er nur in der Dunkelheit, um herauszufinden, ob dort unten keine Gefahren auf ihn lauerten. Aber er sehnte jetzt schon den Tag herbei, an dem er zum ersten Mal aus der blendend hellen Sonne auf sein Opfer hinabstoßen würde. Und bei dieser Vorstellung stieß er unwillkürlich einen triumphierenden Schrei aus, der aus den steinernen Schluchten widerhallte. Er flog auf den hohen spitzen Turm im Zentrum des Steinmeers zu. Er hatte sich schon am ersten Tag vorgenommen, irgendwann auf dem Vorsprung unterhalb des merkwürdigen, glänzenden Kreises zu landen. Nur die bewegten Arme in seinem Zentrum hatten ihn bislang davon abgehalten. Und manchmal war aus den rechteckigen dunklen Öffnungen unterhalb der Spitze ein Furcht erregender, lange nachhallender Klang zu hören gewesen, fast so laut wie Donner. Von dort oben überblickte man das Land bis zum Horizont. Er erkannte noch genauer als im Gleitflug, wo sich ein Opfer bewegte. Diesmal schreckte er nicht vor den bewegten Zeigern zurück, sondern landete sicher auf dem Plateau. Schwärme von Tauben erhoben sich vor ihm in die Luft, 89
und in großer Höhe über ihm kreiste ein Falke, der misstrauisch Abstand hielt. Vögel waren zu wendig und viel wachsamer als seine Opfer am Boden, obwohl er sie gern erbeutet hätte. Ihre Jagd kostete ihn zu viel Kraft. Manche Vogelarten konnten in der Luft stehen bleiben und blitzschnelle Kehren fliegen. Von der steinernen Kante aus musterte er jede Bewegung in den Schluchten. Nicht die geringste Kleinigkeit entging seinen scharfen Augen. Weder die Mäuse und Ratten in den Innenhöfen, die bei Gefahren immer blitzschnell in ihren Verstecken untertauchten, noch die Hunde und Katzen. Vierbeiner waren viel schwerer zu fangen als die plumpen Zweibeiner. Dafür besaßen sie bewegliche Verstecke, die mit großer Geschwindigkeit durch das Steinmeer rasten. Immer noch riefen die Lichtstrahlen, die sich dort unten in der beginnenden Dämmerung und in der Nacht bewegten, seinen Argwohn hervor. Aber inzwischen hatte er sich schon fast daran gewöhnt. Eine Weile saß er versunken in den Anblick all der Bewegungen zwischen den Steinen. Von hier oben schien es, als betrachte man winzige Ameisen bei ihrem geschäftigen Treiben. War erst einmal die Dunkelheit hereingebrochen, dann würden nur noch wenige Beutetiere zu finden sein. Dann entdeckte er das Pferd und wurde auf der Stelle hell wach. Es kam unvermittelt aus dem Dunkel eines Baumes hervor galoppiert, als sei es von irgendetwas aufgeschreckt worden. Die tief stehende Sonne warf seinen langen Schatten voraus. Der runde, pralle Körper des Tieres erregte sofort sein Verlangen. Er stellte sich vor, wie sich seine scharfen Zähne begierig in seine Eingeweide 90
gruben, dass sie große Fetzen dunkelroten Fleisches herausrissen und in die Umgebung schleuderten, wie immer, wenn er im Blutrausch war … Das Pferd wirkte, als sei es in Panik. Es galoppierte über eine weite, steinerne Fläche, von der Steinstufen zu einem bepflanzten Plateau hinaufführten. In seiner Mitte befand sich ein runder Teich. Für einen Augenblick verschwand sein Opfer zwischen den Kronen der Laubbäume. Dann tauchte es wieder auf und stürzte in blinder Raserei ins Wasser. Er erkannte deutlich von seiner Aussichtsplattform, dass es sich dabei die Läufe verletzt hatte. Fast schien es, als wittere er sein warmes Blut bis hinauf zum Turm. Das Pferd setzte seinen Galopp auf der anderen Seite des Brunnens fort und trabte irritiert im Kreis. Jetzt erst entdeckte er, dass ein Verfolger hinter ihm her war – eines dieser zweibeinigen Wesen, die er in den vergangenen Tagen schon so oft erfolgreich gejagt hatte. Trotz seiner Körpergröße schien das Tier vor dem kleinen Geschöpf mit dem drohend erhobenen Stock Angst zu haben. Aber hatte er es nicht zuerst entdeckt? Es gehörte ihm, es war seine Beute! Also schwang er sich eilig von seinem Aussichtsplateau in die Luft, ließ sich in schnellem Gleitflug hinabsinken und landete nur wenige Meter vor dem Pferd auf dem Steinboden – die Flügel nach unten gestreckt und den Schnabel kampfbereit geöffnet, sodass seine Furcht einflößenden verschränkten Zähne zu sehen waren. Das Tier wendete erschreckt. Es lief zum Wasser zu91
rück; doch jetzt machte es nicht mehr denselben Fehler wie beim ersten Mal, sondern umrundete in hektischem Galopp das Becken. Seine aufgerissenen Läufe hinterließen hellrote Blutlachen auf den Steinen. Als er sich diesmal mit einer einzigen kraftvollen Bewegung in die Luft schwang, landeten seine Greiffüße direkt auf dem Rücken des Pferdes. Ein schneller Biss in den Nacken, und es brach zuckend unter ihm zusammen. Er stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er den Geruch der inneren Organe des Tieres witterte. Dann gruben sich seine Zähne tief in den Bauch des Pferdes, rissen große Stücke aus seinen Eingeweiden, um in den Bauchraum zu gelangen. Die Leber war ein besonderer Leckerbissen. Einen Augenblick lang war er wie von Sinnen und achtete nicht mehr auf seine Umgebung … Mit einem Mal hörte er ein eigentümliches Geräusch. Zwei Männer sprangen von einem rollenden Etwas. Grelle Lichter blendeten ihn. Einer stand nur wenige Meter von ihm entfernt und richtete etwas auf seine Brust. Es gab einen dumpfen Knall, und er verspürte einen stechenden Schmerz. Ein spitzer langer Gegenstand drang unterhalb seines Halses tief in seine Muskeln ein, und während er ihn noch in Panik mit der rechten Kralle aus dem Fleisch zu wischen versuchte, begann sich der Schmerz blitzschnell wie Feuer in seinem Körper auszubreiten und raubte ihm das Bewusstsein …
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5 »Volltreffer«, sagte Breuer. »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ihn erwischt, Frank!« Er war hinter Robert Bach und Linda aus dem Jeep gesprungen. »Gehen Sie nicht zu nahe heran«, warnte Inspektor Mahler. »Könnte sein, dass die Dosis zu schwach ist. Niemand weiß genau, wie viel Betäubungsmittel man bei seinem Körpergewicht braucht.« Er lud das Gewehr mit einer frischen Ampulle nach. Breuer musterte fasziniert die dunkelbraunen Strukturen auf der lederartigen Haut seiner Flügel. »Es lebt noch«, sagte Linda. »Sehen Sie, wie seine Augen zucken?« Das Tier bewegte sich unmerklich, und die kräftigen Muskeln an seinem Hals und Rumpf zitterten, als habe es sich nicht mehr ganz unter Kontrolle. Bach schüttelte ärgerlich den Kopf. »Sieht aus, als ob es stirbt. Ich glaube, die Dosis war zu hoch.« »Unsinn … geben Sie mir Rückendeckung«, verlangte Mahler und brachte das Gewehr in Anschlag. Linda bewunderte seinen Mut, denn Mahler wagte es tatsächlich, bis auf einen halben Meter an den Saurier heranzugehen. Ein Wunder, dass er nicht wie ein Großwildjäger seine Stiefelspitze auf das erlegte Wild setzte, um ein Foto machen zu lassen. 93
Stattdessen berührte er nur vorsichtig mit dem Gewehrlauf seinen Flügel. Das Tier richtete sich sofort drohend auf. Sein Kopf bog sich mit weit geöffnetem Schnabel zurück, sodass man seine spitzen, langen Zähne sah, gegen die das Gebiss eines Hais so harmlos wie das Milchgebiss eines Kindes wirkte. Dabei stieß es wieder seinen durch Mark und Bein gehenden Schrei aus. »Wollen Sie noch mehr Beweise, dass er lebt?«, fragte Inspektor Mahler. Linda schoss so viele Fotos, wie sie konnte. Der Motor der Kamera surrte. Besonders effektvoll würde das tote Pferd auf den Fotos wirken. Sie versuchte, seinen aufgerissenen Leib zusammen mit dem Saurier abzulichten. Obwohl sie dabei immer in sicherer Entfernung blieb, bemerkte sie, dass der Flugsaurier wachsam aus den Augenwinkeln jede ihrer Bewegungen verfolgte. »Ein Prachtexemplar«, schwärmte Robert Bach. »Es gibt keinen Zoo auf der Welt, der mit einer solchen Attraktion aufwarten kann.« »Vorausgesetzt, er bleibt am Leben«, sagte Breuer. »Und vergessen Sie nicht, was es kosten wird, ihn zu halten. Ein Großteil der Eintrittsgelder wird wahrscheinlich für Futter draufgehen. Ganz abgesehen davon, dass wir so gut wie nichts über seine Ernährung und Lebensweise wissen.« »Na, er frisst natürlich Menschen«, sagte Linda. »Und es gibt ja weiß Gott genug, denen man es wünschen würde, gefressen zu werden.« Mahler sah nicht so aus, als betrachte er sich als Adressat 94
dieses Kommentars. Er stolzierte tatsächlich um den Flugsaurier herum und bat Linda, ein paar Fotos vom ihm und dem Tier zu schießen. Dabei stellte er ein Bein vor und stützte mit zurückgelegtem Kopf den Kolben des erhobenen Gewehrs auf seinen Oberschenkel. »Was Ihnen jetzt noch fehlt, ist ein Tropenhelm, Frank«, sagte Linda. »Dann sehen Sie aus wie ein Großwildjäger zur Zeit Kaiser Wilhelms.« »Machen wir uns doch nichts vor, Linda. Sie brauchen Ihre Aufnahmen, um Ihrem Chefredakteur zu imponieren, und ich benötige für meine Nominierung zum Polizeipräsidenten eine gute Presse!« »Ich glaube, wir können uns alle zu unserem Erfolg gratulieren«, versuchte Breuer zu schlichten. »Ein Wunder, dass wir ihn so schnell fangen konnten.« »Lassen wir lieber erst die Sektkorken knallen, wenn wir ihn in den Zoo geschafft haben«, sagte Linda. Gleich darauf entdeckte sie den gestikulierenden kleinen Mann am Brunnen. Der Jockey kam hinkend vom Schlossplatz die Treppe hinunter. Das Pferd war ihm während des Trainings auf der Galopprennbahn am Stadtrand durchgegangen. Er hatte sich beim Sturz den rechten Fuß verstaucht. »Tut uns Leid«, sagte Inspektor Mahler. »Aber Ihr Pferd hat den Angriff leider nicht überlebt.« »Gütiger Himmel …« Der Jockey nahm andachtsvoll seine Lederkappe ab, als wolle er beten. »Wie soll ich das nur dem Besitzer des Pferdes beibringen?« »Schildern Sie ihm einfach, was passiert ist.« »Glauben Sie, das Tier hat sehr gelitten?« 95
»Dazu dürfte es kaum genügend Zeit gehabt haben.« »Ihr Pferd war leider nicht das einzige Opfer«, sagte Breuer. »Wir haben noch keine genauen Zahlen, wie viele Menschen vermisst werden – oder, Inspektor?« »Schon einer wäre zu viel!« »Wer auch immer diese Kreatur geschaffen hat, man wird ihn für den Tod der Menschen zur Verantwortung ziehen«, sagte Breuer. »Und das ist vermutlich die schwierigste Aufgabe, die jetzt auf mich zukommt.« »Falls es sich, wie wir vermuten, um eine Rekonstruktion aus Genmaterial handelt, kommen dafür wohl nur eine Hand voll Experten in Frage.« »Aber wer einen von diesen Vögeln aufsteigen lässt, könnte vielleicht auf die Idee gekommen sein, noch mehr davon zu schaffen«, gab Bach zu bedenken. »Malen Sie nicht den Teufel an die Wand«, sagte Mahler. Er ordnete über Funksprechgerät an, den Tieflader zum Abtransport des Flugsauriers heranzufahren. Dann teilte er der Leitstelle der Polizei mit, dass die Gefahr vorüber sei. »Sieht so aus, als könnte es noch eine weitere Betäubungsdosis vertragen, Doktor?«, fragte er Bach, als das Tier sich bewegte. »Höchstens ein Viertel der Dosis. Seine Atmung ist schon sehr schwach.« »Sie sind der Fachmann …« Mahler winkte seinen Beamten zu und zog das erste der beiden großen Fangnetze aus dem Kofferraum. Die Netze bestanden aus starkem Sisal, aber Linda fragte sich sofort, was passieren würde, wenn der Flugsaurier vorzeitig er96
wachte und die ganze Kraft seiner Flügel einsetzte, um freizukommen. Seine verschränkten Zähne sahen wie scharfe Messer aus. Kein Zoo der Welt war auf ein Tier mit dieser Flügelspannweite eingerichtet. Der Arzt bereitete die zweite Ampulle vor. Er hob den Metallbehälter in die Höhe und füllte ihn vorsichtig aus der Glasflasche mit dem Präparat. Es war höchstens ein Viertel der ersten Dosis. Dann lud er das Gewehr und schoss dem Saurier aus nächster Nähe in den Hals. Das Narkotikum entwich zischend in seinen Körper. Diesmal zeigte er fast keine Regung. Sein Körper sank einfach kraftlos in sich zusammen. Als der Tieflader kam, warfen sie zwei der großen Fangnetze über das Tier. Das Pferd unter ihm war ausgeblutet, und sie zogen den Saurier mit der Motorwinde von seinem Kadaver weg. Dann legten sie die Ledergeschirre an und hievten seinen Körper mit dem Kran auf die Ladefläche. »Ausgezeichnet«, sagte Mahler, als sie fertig waren. »Gute Arbeit. Damit dürfte der Spuk endgültig vorüber sein.«
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Drittes Kapitel 1 Doktor Born hatte die ganze Nacht über an der Synthese eines Eiweißstoffes gearbeitet, der es ihm erlauben würde, fehlerhafte Erbinformationen innerhalb einer DNS-Kette zu überbrücken. Defekte wurden im Allgemeinen mit speziellen Reparatur-Enzymen korrigiert. Manchmal gelang es den Enzymen jedoch nicht, ihre Arbeit durchzuführen. Dann wurde der fehlerhafte Abschnitt der DNS kurzerhand gelöscht. Der Rest des DNSMoleküls verschob sich, um die Lücke auszufüllen. Das Ergebnis: Die genetische »Schrift« war durcheinander gebracht. Israelische Wissenschaftler hatten entdeckt, dass dann ein SOS-Reparaturdienst einsprang. Er ersetzte die beschädigte DNS mit willkürlich gewähltem genetischem Material und wirkte wie eine »Leertaste«, die das DNS-Molekül in der richtigen Anordnung hielt. Dadurch wurde die Auslöschung beschädigter genetischer Buchstaben verhindert, die Gesamtstruktur der DNS blieb intakt. Born suchte nach einem Weg, willkürliches Füllmaterial durch sinnvolle Erbinformationen zu ersetzen. Er war überzeugt, dass es diese Möglichkeit tatsächlich gab. Es musste sie geben, denn schließlich war der Ptero98
saurier keine Einbildung: Man konnte ihn im Gehege des städtischen Zoos besichtigen. Eigentlich gebührte dem Entdecker dieser wissenschaftlichen Großtat viel eher der Nobelpreis als ihm. Er selbst hatte zwar wichtige theoretische Vorarbeiten geleistet. Mit seiner Methode konnte er Defekte bis zu gewissen Graden reparieren. Das Problem bestand jedoch nach wie vor darin, die zerstörerische Wirkung einiger fehlender Teile auf den Gesamtorganismus zu neutralisieren, die während der vielen Millionen Jahre im ewigen Eis Schaden genommen hatten. Offensichtlich war das jetzt einem seiner wissenschaftlichen Konkurrenten gelungen! Zweimal war er in der Nacht aus dem Institut in die Wohnung gegangen, um nach seiner Tochter zu sehen. Karen wirkte seit der Begegnung mit dem Flugsaurier verstört. Sie schlief schlecht und schreckte manchmal aus dem Schlaf auf. Er hatte Linda dazu überredet, für einige Nächte in ihrem Zimmer zu schlafen. Born rieb sich müde die Augen. Er starrte noch einmal durch das Elektronenmikroskop auf eine Eiweißprobe, die er mit Hilfe genetisch veränderter Bakterien synthetisiert hatte. Dann schaltete er resigniert die Elektronik ab. Da war ihm offensichtlich jemand einen großen Schritt voraus. Was er brauchte, war eine Gewebeprobe des Flugsauriers. Einen Augenblick später hörte er hinter sich leise Schritte, und Linda legte ihre Arme um seinen Hals. »Du arbeitest noch?«, erkundigte sie sich besorgt. »Arbeit, na ja … ich sollte es eher als Suche nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen bezeichnen«, sagte er und lächelte ein wenig hilflos. »Irgendjemand ist 99
uns allen einen großen Schritt voraus. Wie geht es unserem Sorgenkind?« »Karen schläft.« »Hm …« Born nickte zufrieden. »Schon was aus der Redaktion gehört?« »Der Verleger und die Redakteure sind begeistert. Ich habe eine Menge Pluspunkte gesammelt«, sagte sie nicht ohne Stolz. »Und die Polizei?« »Die Polizei geht ihren Weg, und wir gehen unseren.« »Unseren Weg, was soll das heißen?« »Wir brauchen deine Hilfe, Alex. Nur ein Fachmann kann uns auf die Spur des verrückten Gen-Tricksers führen. Bertram möchte, dass ich den Schöpfer des Flugsauriers finde, falls es einen gibt.« »Den würde ich auch gern kennen lernen.« »Wirst du, Alex, wenn wir mit meinen Recherchen Erfolg haben.« »Der Mann ist ein Killer.« »Die Redaktion des Reporter hat uns jede Unterstützung versprochen.« »Ich brauchte eine Blut- oder Gewebeprobe des Flugsauriers. Vielleicht lässt sich damit rekonstruieren, wie er vorgegangen ist.« »Die könnte uns Robert Bach beschaffen.« Linda wusste von Inspektor Mahler, dass Bach die Betreuung des Flugsauriers übernommen hatte. Für die wissenschaftlichen Untersuchungen war Professor Breuer verantwortlich. Er stützte sich auf die Hilfe von Experten an der 100
Universität. Wie aus der Redaktion des Reporter zu hören war, gingen fast stündlich Anfragen aus der ganzen Welt ein. Man hatte das Tier zunächst isoliert, weil man befürchtete, es könnte noch nicht genügend Abwehrkräfte gegen die heutigen Krankheitskeime entwickelt haben. Momentan war der Flugsaurier nur über eine Videokamera im Foyer des Zoos zu besichtigen. Er wurde in einem ehemaligen Elefantengehege gefangen gehalten, das mit Gittern abgedeckt worden war. World-News hatte eine Liveschaltung in alle Teile der Welt organisiert. Als Linda gegen zehn Uhr im Zoo ankam, sagte man ihr, Robert Bach habe letzte Nacht bei der Arbeit einen Schwächeanfall erlitten. Sein Stellvertreter, ein junger Assistenzarzt, der sich noch in der Ausbildung befand, wollte ihr keinen Zutritt zum Gehege erlauben. »Wir haben strenge Anweisungen.« »Ich bin Linda Meyer vom Reporter. Ich gehörte mit zu dem Team, das ihn gefangen hat.« »Tut mir Leid …« »Wo finde ich Doktor Bach?« »Im Elisabeth-Krankenhaus, Zimmer 210.« »Und Professor Breuer?« »An der Universität, nehme ich an.« Als sie das Gebäude verließ, lehnte ein Journalist von World-News an ihrem Wagen. Wegen der tief gezogenen Schlägermütze erkannte sie ihn erst, als sie kurz vor ihm stand. Barelli, ein Amerikaner italienischer Abstammung, hatte zwei Kameras umgehängt. Vor seinem Kinn hing ein Mikrofon, das mit Bügel am Kopf befestigt war, offenbar, weil er »online« mit seiner Redaktion bleiben wollte. Er 101
sah ziemlich albern mit seiner Ausrüstung aus, fand sie, als versuche er sich damit wichtig zu machen. »Hallo Linda …« »Hei, Alberto.« »Du bist ziemlich nahe dran, oder?« »Wieso?« Barelli schob den Bügel des Mikrofons nach oben. »Du warst mit dabei, als er gefangen wurde. Du hast gute Kontakte zu Doktor Born.« »Na und?« »World-News glaubt, dass die Sache überregionale Bedeutung hat.« »Überregionale Bedeutung …?« Linda warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Das will ich wohl meinen.« »Deshalb möchte unsere Redaktion dir ein lukratives Angebot machen.« »Ein Angebot, aha.« »Ich sagte, ein lukratives Angebot. Damit wärst du finanziell aus dem Schneider.« »Ihr wollt mich abwerben?« »Der Reporter hat überhaupt keine Chance gegen uns. Warum solltest du auf einen Laden setzen, der so gut wie tot ist? Wir haben den besseren redaktionellen Apparat, und wir haben die größeren Mittel.« »Und warum braucht ihr dann meine Hilfe?« »Du weißt, dass es jetzt erst richtig losgeht. Wer hat den Riesenvogel aufsteigen lassen? Gibt es vielleicht noch mehr davon? War es nur ein Versehen? Oder Absicht? Und falls ja, was will uns sein Schöpfer damit sagen? Ist es eine Botschaft? Versucht er vielleicht Druck 102
auszuüben? Zusammen wären wir ein unschlagbares Team.« »Ihr habt Angst, dass ich euch zuvorkommen könnte?« »Nachrichten zu verkaufen, ist ein legitimes Geschäft. Du lieferst uns die Exklusivstory, wie das Monster gefangen wurde. Dafür arbeitest du ab sofort in unserem Team mit. Das wäre ein kometenhafter Aufstieg für dich.« »Keine Villa auf den Bahamas, Barelli? Und kein schwarzes Konto in Liechtenstein?« »Okay, okay, du kannst mich nicht leiden. Hab’ schon kapiert. Aber ist das ein Grund …?« Linda setzte sich ans Steuer. Nachdem sie den Motor gestartet hatte, kurbelte sie die Scheibe hinunter und beugte den Kopf aus dem Wagenfenster. »Ihr steht hier in der Gegend herum und habt nicht den kleinsten Hinweis, wo ihr suchen sollt, oder? Vielleicht gibt es ja auch gar nichts weiter zu recherchieren? Vielleicht ist das Ding einfach aus einem Vulkan auf Sizilien aufgestiegen – und das war’s dann?« Sie fuhr ohne sonderliche Eile die Straße hinunter. Im Rückspiegel sah sie, wie Barelli zu seinem Wagen lief. Eine halbe Minute später war er hinter ihr. Na toll, dachte sie. Das war genau das, was sie befürchtet hatte. Um ihn loszuwerden, fuhr sie statt zur Universität über den Vorhof der Kathedrale und dann durch den Park zum Bach hinunter. Als Kind hatte sie oft hier gespielt. Weiter oben lag das, was Kinder eine »Wildnis« nannten, ein Brachgelände mit umgestürzten Bäumen und hohem Farn. Es gab zwar eine Furt, aber wegen des schlammigen Bodens musste man schon genau wissen, wo sie verlief. 103
Sie fuhr dicht ans Wasser heran und überzeugte sich mit schnellem Blick, dass Barelli ihren Wagen noch nicht sehen konnte. Als sein Fahrzeug oben an der Kathedrale auftauchte, hatte sie die Furt bereits durchquert. Und jetzt hilf mir, lieber Gott, dass er meine Reifenspuren nicht entdeckt, dachte Linda. Barelli war auf der anderen Seite des Bachbetts ausgestiegen und lief unschlüssig am Ufer entlang. Er hob er ein paar Steine auf und warf sie prüfend ins Wasser. Doch das machte ihm lediglich klar, wie tief der Bach war. Schließlich klappte er den Bügel hinunter und gab ein paar Anweisungen ins Mikrofon. Linda winkte ihm aus dem fahrenden Wagen zu und beschleunigte in Richtung Straße. Breuer wollte gerade sein Büro in der Universität verlassen, als Linda den Flur entlang kam. Unter seinem Arm klemmten Mappen, und in den Händen hielt er zwei Aktentaschen aus dunklem Rindsleder. »Nanu«, meinte er freundlich grinsend. »Ich dachte, Sie brüten in der Redaktion über Ihren Sensationsstorys?« »Ich weiß gar nicht, warum jeder auf dem Reporter herumhackt. Unsere Zeitung ist durchaus an seriöser Berichterstattung interessiert. Gibt es schon neue Erkenntnisse?« »Dafür wäre es noch zu früh.« »Vielleicht irgendwelche Schlussfolgerungen über seine Herkunft?« »Nein, das ist alles noch ein großes Mysterium für uns. Kommen Sie«, sagte Breuer und schloss die Tür seines Büros wieder auf. »Trinken wir eine Tasse Tee?« 104
»Gern.« Er schaltete den Wasserkocher ein und stellte zwei Tassen auf den Schreibtisch. »Was halten Sie von einer Untersuchung seiner Gene?«, erkundigte sich Linda. »Sie wissen, dass ich seit kurzem mit Doktor Born befreundet bin? Er wäre bereit, sich mit dem Material zu befassen.« »Sie meinen eine Analyse des Blutes?« »Oder einer Gewebeprobe.« »Doktor Born ist ein hervorragender Wissenschaftler, zweifellos der beste, den wir momentan haben. Seine Mitarbeit wäre ein außerordentlicher Gewinn für unser Team.« Er goss Linda Tee ein. »Aber?« »Wir brauchten die Genehmigung des Ministeriums. So ist der bürokratische Weg. Erst muss ein Konzept erstellt und dann der Antrag eingereicht werden.« »Wie lange wird das dauern?« »Eine Woche, wenn wir genügend Druck machen.« »Zu lange bei der Konkurrenz von World-News …« »Verstehen Sie mich richtig, wir haben die Federführung, und letztlich bestimmt unser Team, welche Mitarbeiter und Methoden eingesetzt werden. Aber dazu ist nun einmal die Zustimmung des Ministeriums erforderlich. Es hat Todesfälle gegeben. Wer soll die Verantwortung übernehmen, wenn Fehler gemacht werden?« »Verstehe …« Nach ihrem Gespräch kaufte Linda einen Blumenstrauß und eine Schachtel Pralinen für Robert Bach und fuhr zum Elisabeth-Krankenhaus. 105
Zimmer 210 lag im Anbau der Chirurgie. Um Gottes willen, dachte sie, als sie das Schild an der Glastür las. Das hörte sich weniger nach Schwächeanfall als nach einem handfesten Unfall an. Sie klopfte und blickte vorsichtig ins Zimmer. Robert Bach saß aufrecht im Bett. Er las den Reporter. Aus dem Radio auf der Nachtkonsole war leise Unterhaltungsmusik zu hören. »Lieber Himmel, Robert«, sagte sie erleichtert. »Hab’ mir schon Sorgen gemacht, als ich von Ihrer Einlieferung hörte.« Äußerlich sah man ihm nicht an, dass er krank war. Sein hellblondes Haar hatte einen unmerklichen grauen Schimmer bekommen, fand sie – als sei er über Nacht gealtert. Aber das mochte auch am Deckenlicht liegen. »Nur eine Prellung. Er hat mich an der Schulter erwischt, als ich nachts im Gehege war. Danach haben sie mich in der Chirurgie auf den Kopf gestellt, als ob ich mir sämtliche Knochen gebrochen hätte.« »Was denn, Sie sind zu ihm in den Käfig gegangen? Das war ziemlich leichtsinnig, oder?« »Ich glaubte, er sei noch betäubt.« »Sie haben die Dosis überschätzt?« Linda hob den Blumenstrauß und reichte ihm die Schachtel Pralinen. »Gute Besserung. Wenn es nur eine Prellung ist, sind Sie in ein paar Tagen wieder fit.« »Danke, dass Sie an mich gedacht haben.« »Oh, es war nicht ganz uneigennützig, wenn ich ehrlich bin.« Bach warf ihr einen überraschten Blick zu. 106
»Doktor Born und ich haben uns überlegt, dass uns eine Blutprobe des Flugsauriers auf die Spur seines Schöpfers führen könnte – falls es einen gibt.« »Mag sein. Alexander Born ist ein führender Experte auf dem Gebiet.« »Sie haben doch Proben von seinem Blut genommen, Robert?« »Als er noch betäubt war.« »Und wo befinden sich diese Proben jetzt?« »Im Kühlschrank des medizinischen Instituts.« »Sie meinen das Institut des Zoos?« »Professor Breuer von der Universität wird sich darum kümmern. Er hat vom Ministerium den Auftrag, die Untersuchungen zu koordinieren.« »Ja, ich weiß.« »Sie sehen nicht sehr glücklich aus bei dem Gedanken, Linda?« »Breuer meint, es könne länger als eine Woche dauern, bis die Genehmigung des Ministeriums kommt.« »Wegen des internationalen Aufsehens. Man will keine Fehler machen. Durchaus möglich, dass Born dann die Analysen vornimmt.« »Alex und ich sind der Meinung, es könnte gefährlich sein, so lange zu warten.« »Gefährlich, wieso?« »Weil wir diesem –«, sie zögerte, »Verbrecher möglichst schnell auf die Spur kommen müssen. Was, wenn es noch mehr Flugsaurier gibt?« »Sie glauben, er ist das Werk eines …?« »… eines Verrückten, ja.« 107
»Könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein? Eine Art Betriebsunfall?« »Wer ein Monster aus der Vorzeit wiedererstehen lässt, muss mit allem rechnen.« »Was auch immer dahinter steckt, wissenschaftliche Neugier oder Wahnsinn – es ist jedenfalls ein riskantes Spiel, da gebe ich Ihnen Recht.« »Es liegt an Ihnen, weiteres Unheil zu verhindern, Robert.« »So? Was kann ich denn tun?«, fragte er und faltete die Zeitung zusammen. »Sie haben Zugang zum medizinischen Institut.« Bach warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Im Ernst, deswegen sind Sie hier?« »Nur eine kleine Probe aus einem der Reagenzgläschen, Robert! Das merkt doch keiner. Sie könnten ja sagen, Sie hätten bei einer Probe versehentlich etwas weniger Blut entnommen.« »Und falls Born etwas findet? Dann würde die Sache auffliegen.« »Bis dahin ist er vielleicht schon offiziell an den Untersuchungen beteiligt. Und wir haben kostbare Zeit gewonnen.«
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2 Linda wartete bis kurz nach Mitternacht, ehe sie sich auf den Weg zum Zoo machte. Als sie das Haus verließ, fuhr sie vorsichtshalber eine Proberunde um den Block, um herauszufinden, ob Barelli oder einer der anderen Journalisten sich vielleicht an ihre Fährte heftete. Aber so weit schien World-News doch nicht gehen zu wollen, bei allem Jagdfieber … Der städtische Zoo lag am Rande des Villenviertels. Man fuhr eine steile Straße hinauf und auf der Hügelkuppe wieder hinunter, und dabei blickte man unwillkürlich in all die großen Wohnzimmerfenster. Nur die Wenigsten schienen es nötig zu haben, ihren Reichtum hinter Gardinen zu verbergen. Linda fragte sich, ob sie auch so leben wollte, wenn sie Karriere gemacht hatte: mit echten Chagalls an den Wänden und teuren Teppichen. Aber merkwürdigerweise reizte sie das alles kaum. Sie spürte, dass es Alex war, mit dem sie zusammen sein wollte, gleichgültig, ob in einer gewöhnlichen Fünf-Zimmer-Wohnung oder in Häusern wie diesen. Sie schaltete die Scheinwerfer ab und parkte an der Rückseite des Gebäudes. Über den Feldern lag Dunst. Das Grau ging nahtlos in die tiefe Schwärze der angrenzenden Hügel über. Mit einem Male kam ihr das, was sie vorhatte, gar nicht 109
mehr geheuer vor, sondern eher ein wenig verrückt. Großer Gott, was treibe ich hier eigentlich?, dachte sie. Robert hatte ihr den Schlüssel für den Notausgang gegeben. Es war eine grau gestrichene Eisentür mit der Aufschrift ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN! Um diese Zeit schob nur noch ein einziger Pfleger Wache. Er las in der Portiersloge Zeitung oder beobachtete die Monitore an den Decken der Gehege. Das medizinische Institut wurde nicht überwacht. Gewöhnlich gab es dort nichts zu stehlen. Sie sah noch einmal auf die Skizze des Grundrisses. Die Blutproben lagen in einem verschlossenen Kühlschrank, und der Schlüssel dazu befand sich an ihrem Schlüsselbund. Es ist alles ein Kinderspiel!, schärfte sie sich ein. Es ist nichts weiter als ein harmloses, rotes Glasröhrchen. Und doch war es vielleicht der Beginn einer glänzenden Karriere, die sie mit Sieben-Meilen-Stiefeln in die Chefredaktion des Reporter befördern würde. Linda dachte an die Eule im steinernen Kranz über dem Portal der Zeitung, das Symbol der Weisheit. Die Eule schien ob ihres Leichtsinns besorgt den Kopf zu schütteln. Eine ausrangierte Kommode versperrte den Gang, als sie die Eisentür aufschob. Sie war nur Zentimeter um Zentimeter von der Stelle zu bewegen. Ihre Hand tastete im Dunkel nach dem Lichtschalter an der Betonwand. Dann kam eine weitere Eisentür, die unverschlossen war. Dahinter befand sich die Glastür des medizinischen Instituts. Ihr Blick fiel durch das große Fenster des Labors in den Tierpark. Um diese späte Stunde war es überall dunkel. 110
Aus den Gehegen drang kein Laut. Weiter hinten überragte die Affeninsel mit einem künstlich angelegten Felsen die Gitter. Linda trat näher an die Scheibe und schreckte zurück. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich der Saurier gleich im ersten Gehege befand … Er hockte zusammengesunken am Stamm einer hohen Platane. Seine Flügel waren gestreckt und sein Kopf leicht geneigt, als schlafe er. Für ein Tier seiner Größe sah er in dieser Haltung überhaupt nicht martialisch aus. Während sie den Flugsaurier betrachtete, öffnete er die Augen, und Linda hatte das unbehagliche Gefühl, dass er sie wieder erkannte … Stoß jetzt bloß nicht deinen berüchtigten Schrei aus!, dachte sie und sah besorgt zur Überwachungskamera hinauf. Es würde den ganzen Zoo wecken. Vielleicht machte ihr Anblick ihn ja sogar aggressiv? Zum Glück bestand das Dach des Käfigs aus schweren Gittern, die mit Ketten zusammengeschlossen waren. Um sicherzugehen, dass sie sich nicht im Blickfeld des Kameraauges befand, ließ sie lieber den Lamellenvorhang herunter. Sie löschte auch das Licht im Gang, weil es von außen vielleicht zu sehen sein würde, und ließ den Schein ihrer Taschenlampe über die Einrichtung gleiten. Dann begann sie den Kühlschrank nach Ampullen mit der Aufschrift »Flugsaurier« zu durchsuchen. Unter den Flaschen mit dem Etikett lagen Notizen, die Bach angefertigt hatte: Art und Menge des Betäubungsmittels, das dem Tier verabreicht worden war, und Daten einer Blutanalyse, die Auskunft über seinen Gesundheitszustand geben sollte. 111
Linda öffnete ihr mitgebrachtes Glasröhrchen und stellte es in die Halterung am Kühlschrank. Das Blut des Sauriers hatte eine fast violette Farbe, als sei es ein Lebewesen von einem anderen Stern. Sie goss etwa ein Drittel davon in ihr Reagenzglas. Dann verteilte sie aus den anderen Proben so viel Blut auf die Glasröhrchen, dass in allen gleichviel Flüssigkeit war. Sie vergewisserte sich zweimal, dass sie den Kühlschrank wieder ordentlich verschlossen hatte, und kehrte zum Notausgang zurück. Die Kommode im Gang würde sie nicht wieder an ihren alten Platz stellen können. Aber wahrscheinlich fiel das niemandem auf. Puh!, dachte Linda, als sie draußen war, und lehnte sich aufatmend an die Wand. Sie zitterte leicht und ihr Herz pochte, wenn sie an den Blick des Sauriers dachte. Offenbar war sie längst nicht in so gut in Form wie früher, weder nervlich noch körperlich. Seit Bertrams Anruf hatte sie keine Gelegenheit mehr für ihr Lauftraining gehabt. Als sie zum Wagen zurückhastete, fiel ihr ein, dass sie nicht einmal einen Blick auf den Videobildschirm im Foyer geworfen hatte, um zu sehen, ob der Kamerablickwinkel im Gehege des Flugsauriers das Fenster einschloss … Linda konnte Alex nicht gut sagen, auf welche Weise sie an die Blutprobe gelangt war. Das hätte ihn in einen Gewissenskonflikt gebracht. Und auch er selbst durfte mit niemandem darüber reden, wenn er die Probe analysierte. Während der Fahrt zu seiner Wohnung dachte sie die ganze Zeit darüber nach, wie sie ihn dazu bringen könnte, die Sache geheim zu halten, ohne ihn hinters Licht zu führen. 112
Offenbar war das gar nicht so einfach. Sie wollte Alex nicht belügen. Auf ihre jugendliche, immer noch ein wenig unstete Weise hatte sie begonnen, ihn zu lieben – zu lieben mit der ganzen Kraft, deren sie momentan fähig war. Deshalb durfte es keine Unehrlichkeit zwischen ihnen geben. Schließlich entschloss sie sich einfach, ihm die Wahrheit zu sagen, auf die Gefahr hin, dass er es ablehnen würde, die Probe zu analysieren. Er war nicht in seinem Zimmer, deshalb ging sie durch den Wanddurchbruch hinüber ins Institut. Alex saß vor dem Elektronenmikroskop. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Kittel überzuziehen. Sein zerfranster grüner Pullover mit den Ärmelschonern aus braunem Wildleder glich dem, der ihm beim Angriff des Flugsauriers das Leben gerettet hatte. Anscheinend besaß er mehrere davon. Seine nackten Füße steckten in braun melierten Hausschuhen aus den fünfziger Jahren. »So spät noch bei der Arbeit?«, fragte sie und legte ihre Arme um seinen Hals. »Manchmal glaube ich, ich bin dicht vor der Synthese des Eiweißstoffs, mit dem man willkürliches Füllmaterial der DNS durch sinnvolle Erbinformationen ersetzen kann«, murmelte er und blickte zerstreut auf. »Was fehlt, ist der letzte Schritt – nur eine Winzigkeit in der Struktur des Enzyms.« »Hast du nicht kürzlich selbst gesagt, Wissenschaft sei auch und vor allem anderen ein Geduldspiel?« »Ja, aber was, wenn ich nicht mal genug Zeit und Mittel habe, das Spiel zu spielen? Dieser Bursche ist mir einfach einen großen Schritt voraus.« 113
»Muss es denn überhaupt ein Mann sein? Gibt es nicht auch begabte Wissenschaftlerinnen?« »Die Forscher in der Welt, die sich mit meinem Problem befassen, lassen sich an den Fingern von zwei oder drei Händen abzählen.« »Tatsächlich?« Linda musterte ihn überrascht. »Das schränkt den Kreis der Verdächtigen doch stark ein? Könntest du mir von ihnen eine Namensliste machen?« »Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass jemand ohne das Wissen seiner Kollegen und ohne internationale Kontakte arbeitet, obwohl es eher unwahrscheinlich ist. Wir sind auf gegenseitige Unterstützung angewiesen.« »Und weil das Tier hier und nicht in New York oder Tokio aufgetaucht ist, schließen wir daraus messerscharf, es könnte jemand aus unserer Gegend sein?« »Vermutlich, ja …« »Wie viele Personen kämen denn dafür in Frage?« »Nicht mehr als vier oder fünf.« Linda nahm ein Blatt Papier aus der Schublade. »Bitte schreib mir ihre Namen auf, ja?« Sie blickte ihm über die Schulter, während er schrieb. Als Born fertig war, sah er nicht sehr glücklich aus. Linda warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt – sechs Namen, zwei davon mit vollständigen Adressen, eine war die Anschrift eines Labors in der Nachbarstadt. »Ich würde niemandem auf der Liste ernsthaft unterstellen, dass er einen so verrückten Plan in die Tat umsetzt«, sagte er. »Vielleicht war’s ja gar keine Absicht, Alex, sondern nur ein Unfall? Jemand hat diesen Saurier geschaffen – aus 114
Faszination, um Gott zu spielen oder einfach, um es auszuprobieren, um seine Theorie zu bestätigen, was weiß ich –, und dann ist das Ganze außer Kontrolle geraten. Stell dir vor – ein so großes Tier! Man braucht einen riesigen Käfig oder eine Halle, um es gefangen zu halten.« Sie legte die Ampulle auf seinen Arbeitstisch. »Was ist das?« »Die versprochene Blutprobe.« »Was denn, man hat sie dir …?« Er streckte überrascht seine Hand danach aus, zog sie aber sofort wieder zurück, als könne er schon deswegen ins Gefängnis geworfen werden. »Breuer konnte sie mir leider nicht geben«, sagte Linda. »Später vielleicht, wenn entschieden ist, wer den Auftrag erhält. Natürlich wird er dich dafür vorschlagen. Er wartet noch auf die Genehmigung des Ministeriums.« »Heißt das, du hast dir die Probe illegal beschafft?« »Robert Bach hat dem Tier sofort nach der Gefangennahme Blut abgenommen, und als verantwortlicher Arzt war er damit einverstanden, dass ich dir etwas davon überlasse.« »Ohne Zustimmung seiner Vorgesetzten?« »Wir retten damit vielleicht Menschenleben, Alex.« Born schüttelte unschlüssig den Kopf. Aber dann öffnete er doch das Glasröhrchen, entnahm ihm mit der Pipette einen Tropfen Blut und setzte ihn auf den Objektträger des Elektronenmikroskops. Der Elektromotor begann zu summen, und der automatische Verteiler verdünnte den Tropfen zu einem kaum noch wahrnehmbaren blassroten Schleier. 115
Linda beobachtete Alex gespannt. Sie wusste, dass es kein Zurück mehr geben würde, wenn er erst einmal Blut geleckt hatte. Wissenschaftliche Neugier ist eine fast ebenso starke Kraft wie der Sexualinstinkt. Born hatte lange genug die Struktur der Eiweißmoleküle studiert. Manchmal erschienen sie ihm sogar in seinen Träumen. Einmal war er wie der Entdecker der DNS mit dem deutlichen Bild einer Struktur vor Augen erwacht. Es fiel ihm nicht schwer, solche Muster im Gewirr der Farben und Formen wiederzufinden. »Hm, Enzym VQ31 …« »Was ist damit?«, fragte Linda. »Es hat einen geringfügig anderen Aufbau, der Färbung in den Randbereichen nach zu urteilen.« Die Ränder besaßen eine wabenartige, violett schimmernde Struktur. Born schaltete die elektronisch gespeicherten Vergleichsmuster zu und ließ den Computer arbeiten. Jedes Bild benötigte nur Bruchteile von Sekunden, um identifiziert zu werden. Aber da es dreidimensional abgetastet und aus verschiedenen Blickwinkeln begutachtet wurde, brauchte der Prozessor mehr als fünfzehn Sekunden für die Analyse. Als die Liste abgearbeitet war, blieb die Anzeige beim Ergebnis stehen: KEINE IDENTIFIZIERUNG! »Was bedeutet das?« »Es ist eine neuartige Eiweißverbindung, ein Enzym, das in unserer bisherigen Katalogisierung nicht vorkommt.« 116
»Das gesuchte Enzym?« »Nennen wir es Enzym VQ32, weil es VQ31 so ähnlich ist«, murmelte Born geistesabwesend. Die Ränder der violetten Waben phosphoreszierten blaugrün. Bei genauem Hinsehen erkannte er sogar die blassgelben, schraubenförmigen Elemente, in denen sich der Reparaturmechanismus verbarg. Mein Gott, darin steckt die Lösung des Problems, dachte er. Das also war es. Eine solche Winzigkeit entschied über Leben und Tod … »Du hast meine Frage nicht beantwortet!« »Ja, es könnte sich um den Faktor handeln, mit dem fehlerhafte Erbinformationen innerhalb einer DNS-Kette überbrückt werden. Das würde uns ermöglichen, willkürliches Füllmaterial durch sinnvolle Erbinformationen zu ersetzen. Manchmal hilft genetisches Füllmaterial einem Lebewesen zu überleben. Aber oft sind die Fehler einfach zu umfangreich. Der Reparaturmechanismus versagt.« »Und jetzt noch mal ohne Fachchinesisch, Alex?« »Die Erbinformation des Flugsauriers ist wahrscheinlich durch lange Lagerung im Eis beschädigt. Einige Proben enthalten diese Information, andere jene, aber keine ist vollständig. Der angeborene Reparaturmechanismus ist überfordert. Finden wir jedoch in den verschiedenen defekten Informationen genau jene Teile, die in anderen Proben fehlen, dann können wir sie mit Hilfe des Enzyms zur ursprünglichen vollständigen DNS zusammensetzen.« »Und das Ergebnis ist das, was wir momentan im Gehege des Zoos bewundern?« »Ein Pterosaurier wie vor vielen Millionen Jahren.« 117
»Heißt das, wir könnten vielleicht beliebig viele Flugsaurier herstellen?« »Nur wenn wir über vollständiges Genmaterial aus dem ewigen Eis verfügen.« »Das bedeutet, unser mysteriöser Gegenspieler muss sich sein Material aus Grönland besorgt haben?« »Oder aus dem Dauerfrostgebiet Sibiriens«, bestätigte Born. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten.« »Werden solche Forschungsreisen denn nicht protokolliert?« »Im Allgemeinen schon. Außer, es handelt sich um private Reisen.« »Privat, weil man illegale Genversuche vornehmen will?« »Zum Beispiel, ja«, nickte er. »Das wäre eine Möglichkeit. Oder um eine gute wissenschaftliche Ausgangsbasis für den nächsten Nobelpreis zu ergattern.« »Du denkst an einen deiner Konkurrenten, Alex?« »Es liegt mir fern, meine Kollegen zu verdächtigen.« »Immerhin haben wir jetzt genügend Informationen, die uns auf seine Spur führen könnten«, überlegte Linda. »Erstens – es kommen nur sehr wenige Personen dafür in Frage. Wahrscheinlich jemand, der auf deiner Liste steht. Er könnte sich in unserer Gegend aufhalten, weil der Flugsaurier hier zum ersten Mal aufgetaucht ist. Und zweitens – er muss kürzlich eine Forschungsreise unternommen haben oder Zugang zu Proben aus dem ewigen Eis besitzen.« »Vielleicht hättest du bei deinem Spürsinn lieber Polizeibeamtin werden sollen?«, stellte Born lächelnd fest.
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3 Das Tierheim lag hinter hohen Tannen versteckt. Seine Backsteingebäude lehnten so windschief am Hang, dass die Baumkronen es zu stützen schienen. Als Linda in die Zufahrt einbog, war Hundegebell zu hören. Niemand kümmerte sich um sie, als sie durch die Pforte und den hohen Gang hinüber zu den Ställen ging. Zwei Tierpfleger fütterten junge Hunde in den Zwingern. Raben saßen lauernd auf dem Dach, um ihren Teil abzukriegen. Aber die Hunde waren meist schneller und gingen auf sie los, sobald sie sich über ihnen sehen ließen. Manchmal vergaßen sie bei der Jagd sogar das Futter und saßen auf ihren Hinterpfoten, den Blick erwartungsvoll zum Himmel gerichtet. Linda schritt die langen Reihen der Zwinger ab. Keiner der Hunde glich auch nur im Geringsten dem Troijon, den Inspektor Mahler bei der alten Frau entdeckt hatte. »Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie, als ihr die junge Pflegerin mit einem Eimer Fleischabfällen entgegenkam. »Man hat mir gesagt, ich würde hier einen sehr seltenen Hund – eine fast ausgestorbene Rasse – finden?« »Sie meinen den Franzosen?« »Franzosen? Ja, eine Rasse, die angeblich seit Ludwig dem Vierzehnten ausgestorben war – ein Troijon.« »Der ist vorgestern eingegangen.« 119
»An einer Krankheit?« »Nein, er wurde totgebissen. Vertrug sich mit den anderen Hunden nicht.« »Oh, wie schade. Wüssten Sie vielleicht, wo ich so ein Tier bekommen kann? Ich habe schon drei Züchter angerufen, aber immer vergeblich.« »Ich schreibe Ihnen die Adresse auf.« Linda folgte dem Mädchen ins Büro. Die Wände waren mit billiger, hellgrüner Lackfarbe gestrichen, und das Mobiliar sah wie vom Sperrmüll zusammengesucht aus. An der Wand hing ein Plakat, das Tierversuche anprangerte. »Sie wissen nicht zufällig, wieso diese ausgestorbene Rasse plötzlich wieder auf dem Markt ist?«, fragte Linda. »Keine Ahnung. Eine Schülerin hat uns den Hund gebracht.« »Und die hat ihn vom Züchter bekommen?« »Nein, er ist ihr zugelaufen.« »Woher wissen Sie dann, wer der Züchter ist?« »Es gibt hier in der Gegend nur einen, der sich mit ausgestorbenen Hunderassen beschäftigt«, sagte sie und reichte ihr die Adresse. »Ein verrückter alter Kerl draußen im verlassenen Güterbahnhof.« Dabei warf sie Linda einen halb bedauernden, halb belustigten Blick zu. Der Hundezüchter, von dem Lindas Hinweis auf das Tierheim stammte, hatte den Troijon bei einem geschäftlichen Besuch entdeckt. Er kaufte manchmal Tiere auf, wenn sie sich zur Zucht eigneten. Von seinem Kollegen am Güterbahnhof wusste er offenbar nichts. 120
Als Linda an der Rampe des. Gebäudes parkte, ahnte sie weshalb: Es gab weder ein Firmenschild, noch irgendeinen Hinweis. Das Gelände wurde von Obdachlosen bewohnt. In einer Blechtonne nahe der Weichen brannte ein qualmendes Feuer. Weiter unten parkte ein Wohnanhänger, dessen Scheiben mit Decken verhängt waren. Zwei alte Männer in schäbiger Kleidung spielten Karten an einem weißen Plastiktisch, der auf den stillgelegten Gleisen stand. Es gab keine Klingel, und das Emailleschild in Augenhöhe war mit schwarzer Lackfarbe übermalt. Sie klopfte an das eiserne Rolltor der Halle. Der Klang verhallte ohne Antwort hinter der metallenen Barriere. Linda ging hinüber zu den Kartenspielern und erkundigte sich nach dem Züchter. »Schieben Sie das Rolltor zurück«, sagte der eine der beiden Alten kichernd. »Und schon betreten Sie das Reich des Hades.« »Des Hades, wieso?« »Gehen Sie einfach hinein und erleben Sie Alfons in seiner ganzen männlichen Schönheit …« Er lachte und trank einen Schluck aus der Flasche, die neben seinen Füßen stand. Der andere lachte ebenfalls und nahm ihm die Flasche aus der Hand. »Das ist mein Schnaps!« »Hab’ dich nicht so …« Linda warf einen argwöhnischen Blick auf das Flachdach des Gebäudes. War die Halle des Güterbahnhofs vielleicht groß genug, um darin einen Flugsaurier gefangen zu halten? Sie kehrte zur Rampe zurück und legte ihre Hand auf den Griff des Eisentors. Im selben Augenblick erklang von 121
drinnen ein helles, metallenes Geräusch, und sie zuckte instinktiv zurück. Es klang, als habe sie das Eisentor bereits ein Stück weit aufgeschoben und es bewege sich in den Schienen! Plötzlich wusste sie, was es war. Ein Beo imitierte täuschend echt das Quietschen des Tores. Linda schob das Tor einen Spaltbreit auf und sah in die Halle. Der Vogel beobachtete sie von einem an der Decke aufgehängten Baumstamm. »Na, du hast mir ja einen Schreck eingejagt«, meinte sie vorwurfsvoll. »Schöner Vogel«, krächzte der Beo. »Schöner Vogel!« Durch einen Lichtschacht fiel diffuses Licht in die Halle. An der einen Wand standen aus groben Dachlatten zusammengezimmerte Käfige voller Singvögel. Aus dem offenen Durchgang in der anderen Wand hörte sie leises Wimmern. Sie folgte dem Klang. Dann bellten weit entfernt Hunde, wie durch mehrere Wände gedämpft. Auf halber Strecke blieb sie stehen und lauschte. Da war noch ein Geräusch … Ein Kaninchen mit Stummelflügeln huschte vor ihr durch die Halle und verschwand durch ein Mauerloch. Großer Gott, dachte Linda, Genmanipulation … Der Raum hinter dem Durchgang war leer bis auf eine Hobelbank und ein paar hölzerne Stühle. An den Betonwänden klebten Plakate von Pferderennen. Neben dem vergitterten Fenster hing das Foto eines Jockeys, umrahmt von goldenen Siegerkränzen. Die Eisentür zum benachbarten Raum stand offen, und als sie sich ihm zuwenden wollte, erschien ein unrasierter 122
Mann in der Türöffnung. Er trug ein nicht mehr ganz sauberes Unterhemd und eine ausgebeulte blaue Arbeitshose. »Nanu«, sagte er. »Hab’ mich also doch nicht getäuscht?« »Sie sind sicher Alfons Kaden?« »Wie er leibt und lebt.« »Die Männer an den Gleisen draußen haben mich schon vor Ihnen gewarnt.« »Gewarnt, wieso?« »Keine Ahnung, was sie damit meinten.« »Die haben doch Angst vor sich selbst«, sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich komme wegen des Troijons. Man sagte mir, im Tierheim sei einer zu haben. Aber als ich dort vorsprach, hatten ihn die anderen Hunde gerade totgebissen.« »Ein Troijon?«, fragte Kaden mit zusammengekniffenen Brauen. »Das ist meines Wissens eine längst ausgestorbene Rasse.« »Sie sind doch Züchter?« »Diese Hundeart gab’s zuletzt zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten.« »Ja, ich weiß. Aber irgendjemand hat sie reaktiviert.« »Reaktiviert? Was meinen Sie damit?« »Sie haben also keine Troijons anzubieten?« »Nein.« »Weil Sie keine züchten?« »Merkwürdige Frage. Wollen Sie vielleicht einen anderen Hund?« »Aus der Zeit Ludwigs des Vierzehnten?« »Wie kommen Sie bloß auf den Unsinn? Wer hat Sie hergeschickt?« 123
»Niemand. Ein Hundezüchter hatte den Troijon im Tierheim gesehen. Er gab mir den Tipp. Und dort schickte man mich zu Ihnen.« »Warum sollte das Tierheim Sie zu mir schicken?« »Eine Pflegerin hatte gehörte, dass Sie sich mit ausgestorbenen Rassen beschäftigen.« »Aus Liebhaberei. Aber nicht in der Praxis. Ich sammle alte Hundezeichnungen.« »Und woher stammt der Troijon?« »Wie soll ich das wissen?«, sagte er achselzuckend. Linda machte ein paar Schritte durch die Halle. Der Mann auf dem Foto neben den Rennplakaten ähnelte Kaden. »Sind Sie das?«, fragte sie. »Nein, mein Bruder.« »Hm … darf ich mich hier ein wenig umschauen?« »Hier gibt es nichts zu sehen.« »Was ist mit dem Kaninchen?« »Welches Kaninchen?« »Das mit den Stummelflügeln. Sie wissen schon.« Linda zeigte auf das Mauerloch. »Oh, eine Missgeburt.« »Ihr Bruder war also Rennfahrer. Haben Sie noch mehr Brüder?« »Ja, wieso?« »Ist einer von ihnen vielleicht Wissenschaftler – Genetiker zum Beispiel?« »Wissenschaftler? Nein, wir stammen aus einer sehr einfachen Familie.« Linda warf einen Blick in die Nachbarhalle. »Was ist da hinten in den Becken?« 124
»Krokodile …« »Ernsthaft, Sie halten hier Krokodile? Wozu denn?« »Na, um sie zu verkaufen. Ich bin Händler.« »An wen?« »Es gibt für alles Interessenten auf der Welt«, sagte Kaden und nestelte missmutig an seinem Unterhemd. »Reiche setzen sie in die Wassergräben, mit denen sie neuerdings ihre Villen umgeben, weil sie hoffen, dass dann niemand bei ihnen einbricht. Andere sind einfach Liebhaber großer Echsen. Und wieder andere schätzen ihr Fleisch als Leckerbissen.« »Igittigitt«, sagte Linda. »Kann man Krokodile denn essen?« »Kommt auf die Zubereitung an.« »Darf ich mir die Tiere mal ansehen?«, fragte sie. »Große Reptilien haben mich schon immer interessiert.« Es waren drei etwa zwanzig mal dreißig Meter große Bassins, zwischen denen sich schmale Stege ohne Geländer befanden. In etwa zwei Metern Tiefe ragten breite Betonstufen aus dem Wasser. Sie waren bemoost, und einige der Krokodile, die auf den Stufen lagen, waren ebenfalls bemoost und sahen so friedlich und unbeweglich aus wie große Kunststoffattrappen. Das Wasser war grün, fast undurchsichtig, man konnte nicht genau erkennen, wie viele Tiere sich darin verbargen. »Was für eine Rasse ist das?«, fragte sie. »Nil-Krokodile.« »Das sind die größten?« »So ziemlich, ja.« »Wie groß?« 125
»Sieben Meter.« Linda dachte daran, was Alex ihr über Krokodile als Wirtstiere für Flugsaurier gesagt hatte – und die Vorstellung, dass in ihren Eiern Saurier ausgebrütet werden könnten, ließ sie erschaudern. »Haben Sie schon mal welche für wissenschaftliche Versuche verkauft?« »Für Versuche? Nein, wieso?« Sie betrat einen der schmalen Metallstege zwischen den Becken, um besser ins Wasser sehen zu können. »Vorsicht«, warnte Kaden. »Die Biester sind momentan ziemlich aggressiv.« »Aggressiv – weshalb denn? Vielleicht, weil man ihnen ihre Brut weggenommen hat?« Kaden starrte sie überrascht an. »Sind Sie von der Presse? Für wen schnüffeln Sie hier herum?« »Schnüffeln ist nicht das passende Wort. Ich bin vom Reporter. Inspektor Mahler, der mit den Untersuchungen wegen des Flugsauriers betraut ist, hat kürzlich einen Troijon entdeckt. Es brachte ihn auf die Idee, das Tier könnte durch dieselben Genversuche entstanden sein.« »Ah, daher weht der Wind.« Ein verstehendes Grinsen zog über Kadens Gesicht. »Nein, hier gibt es keine Flugsaurier, wenn Sie das meinen. Wollen Sie sich umsehen?« »Gern.« Kaden ging voraus und schob das nächste Rolltor auf. »Hier sind meine Hunde untergebracht.« Er schaltete das Deckenlicht ein. Linda passierte die langen Reihen der Zwinger, die vorher nur spärlich durch das Glasdach in der Hallendecke beleuchtet gewesen waren, 126
ohne irgendetwas Auffälliges zu entdecken. Es waren die üblichen Rassen: Schäferhunde, Bulldoggen, Pudel, Terrier, Dackel … »Müssen Sie die armen Tiere denn im Dämmerlicht halten?«, fragte sie. »Oh, die sind froh, wenn sie mal ein bisschen Ruhe haben.« »Ruhe, vor wem?« »Na, vor den Flugsauriern«, sagte Kaden und steckte grinsend seine Daumen hinter die Hosenträger. Linda sah, dass er eine Tätowierung auf dem linken Handrücken hatte. »Von denen werden sie doch jede Nacht durch die Hallen gejagt.« »Sie machen sich über mich lustig. Aber diese Bestien töten Menschen. Ihnen ist wohl noch nicht klar, welchen Schaden sie anrichten?« »Kommt auf die Sichtweise an. Vom Standpunkt des Flugsauriers aus gesehen, richten wir Menschen Schaden an. Was glauben Sie denn, was meine Krokodile davon halten, wenn man ihnen das Leder über die Ohren zieht, um Handtaschen daraus zu machen?« »Ehrlich gesagt bin ich nicht zu Spitzfindigkeiten aufgelegt. Sie kennen also keinen Hundezüchter, der Troijons anbietet?« »Nein.«
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4 Der zweite Flugsaurier wurde zum ersten Mal gegen Mittag des folgenden Tages am Himmel über dem nördlichen Stadtgebiet gesichtet. Eine Schulklasse war mit ihrem Lehrer zum Grillplatz am Rande des Naturschutzgebiets unterwegs, als eines der Mädchen den riesenhaften dunkelbraunen Schatten über den Felsgipfeln des Talkessels entdeckte. Er kreiste dort so majestätisch und ruhig wie ein Adler, der auf Beute lauerte, aber die Zeiten waren vorbei, dass man ihn aus der Ferne für einen normalen Vogel halten konnte. Der Lehrer forderte sofort über sein Mobiltelefon Schutz von der Polizei an. »Etwas weiter unterhalb des Tals ist ein Zeltlager des Humboldt-Gymnasiums«, sagte der Beamte in der Zentrale. »Bringen Sie Ihre Schüler dorthin. Da sind sie sicher.« Inspektor Mahler erfuhr von der Existenz des zweiten Flugsauriers erst, als das Tier bereits das Gitterdach des Käfigs attackierte. An diesem Morgen hatte er seine Dachkammerwohnung renoviert. Nicht, weil er nun doch darauf verzichten musste, als neuer Polizeipräsident in eine geräumige Dienstvilla umzuziehen – nach der Gefangennahme des Flugsauriers standen seine Chancen besser denn je –, sondern weil ein 128
brennender Topf mit Butterfett einen stinkenden graugelben Belag auf den Tapeten hinterlassen hatte. Mahler war Anhänger der ayurvedischen Küche, in der Gee eine wichtige Rolle spielte, hielt seine Vorliebe aber lieber geheim. Ein überzeugter Vegetarier würde in den Augen der Öffentlichkeit vielleicht als Schwächling gelten. Er ließ sich sofort von einem Streifenwagen zum Zoo bringen und betrachtete ungläubig das Schauspiel, das sich ihm von der Besucherterrasse aus bot. Es sah ganz danach aus, als sei das zweite Tier das Weibchen des gefangenen Sauriers. Die Einsatzleitung hatte bereits Hubschrauberunterstützung angefordert. Vier seiner Beamten knieten mit angeschlagenen Gewehren an der Brüstung. »Erst schießen, wenn ich dazu den Befehl gebe«, rief Inspektor Mahler. Das Weibchen attackierte wie rasend die schweren Gitter auf dem Dach. Das Männchen versuchte vergeblich aus dem Käfig zu entkommen. Nach einigen Sprüngen blutete sein Kopf aus mehreren Wunden, und weil es dabei hektische Flugbewegungen machte, dauerte es nicht lange, bis es nur noch flügellahm auf und nieder hüpfte. »Sieht so aus, als habe er sich den rechten Flügel gebrochen«, sagte Doktor Bach. Mahler wandte sich überrascht um. »Ah, Sie sind schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen?« Der Hubschrauber kreiste jetzt in niedriger Höhe über dem Käfig, und einer der Beamten versuchte dem Weibchen einen Betäubungsschuss zu verpassen. »Gehen Sie nicht zu dicht herunter«, warnte Mahler über Funksprechgerät. »Wegen der Rotorblätter …« 129
Er hatte kaum ausgesprochen, als das Tier wütend nach oben stieß. Sein gewaltiger Flügelschlag ließ es so blitzschnell aufsteigen, dass der Pilot nicht die Spur einer Chance hatte, ihm auszuweichen. Der Schnabel des Tiers krachte hart gegen den Aluminiumboden der Kabine. Die Maschine drehte sich um ihre Achse, driftete kurz mit der Schwanzflosse nach unten und geriet dabei in den Flügelschlag des Sauriers. Das Schauspiel dauerte kaum länger als zehn Sekunden. Der Zusammenprall warf den Hubschrauber auf die Seite – und weil er in dieser Position ohne Auftrieb war, stürzte er wie ein Stein zu Boden. Ehe die Maschine auf dem Dach des Geheges explodierte, schnitten ihre Rotorblätter tief in den Unterleib des Sauriers … Blut spritzte pulsierend aus seinem Leib. Das Tier stieß einen markerschütternden Schrei aus. Dabei machte es eine hilflose Kopfbewegung, als versuche es sich gegen die plötzliche Lähmung seiner durchtrennten Muskeln zu wehren. Gleich darauf erschütterte eine zweite Explosion den Käfig, und die Polizeibeamten gingen vor der Druckwelle in Deckung. Mahler stand wie versteinert inmitten der schwarzen Rauchschwaden, die sie einzuhüllen begannen. »Das war der Reservetank des Helikopters.« »Sieht so aus, als habe es auch unseren Gast im Käfig erwischt«, sagte Doktor Bach. Der Feuerball der Explosion hatte alles Leben unter sich ausgelöscht. Flammen züngelten aus den Rissen im Betonboden des Geheges, und der Geruch von verkohltem 130
Fleisch nahm ihnen fast den Atem. Der Saurier im Gehege war durch die Hitze des Flugzeugbenzins innerhalb kurzer Zeit zur schwarz glänzenden Masse erstarrt. Das andere Tier hing mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Gitterdach und verbreitete beißenden Brandgeruch. Noch immer tropfte Blut aus der tiefen Schnittwunde in seinem Leib hinunter auf den Boden des Käfigs. Als habe man vergeblich versucht, große Reptilien zu rösten!, dachte Mahler. Er spürte, dass er sich übergeben musste. »Was ist denn los mit Ihnen?«, erkundigte sich Doktor Bach. »Ich dachte, Sie wären durch so was nicht aus der Fassung zu bringen?« Mahler erbrach sich wortlos an der hinteren Brüstung der Besucherterrasse. Das Gerippe des ausgebrannten Hubschraubers war vom Dach auf den Weg vor dem Gehege gekippt. Von der Besatzung hatte niemand überlebt. Pfleger versuchten mit Feuerlöschern die Flammen in den Sträuchern einzudämmen. Ein Krankenwagen kam mit Blaulicht die Einfahrt herunter, gefolgt von Fahrzeugen der Feuerwehr. Hinter ihnen sah Doktor Bach Linda Meyer durch den Eingang kommen. »Du meine Güte …«, sagte sie und musterte ungläubig das Inferno im Gehege. »Was ist denn hier passiert? Es gibt also noch mehr Saurier?« »Gab, muss man wohl sagen«, berichtigte Bach. »Wenn man sich ansieht, was von ihnen übrig geblieben ist. Das zweite Tier schien übrigens ein Weibchen zu sein.« 131
»Ein Weibchen? Heißt das, es könnte inzwischen Junge zur Welt gebracht haben?« »Das dürfte jedenfalls ein leichterer Weg sein, als die Reproduktion mit Wirtszellen.« »Lieber Himmel, wissen Sie eigentlich, was das bedeutet?« Linda warf einen besorgten Blick zur Wolkendecke hinauf, als könnten dort oben jeden Moment die Nachkommen des Pärchens auftauchen. »Kommt darauf an, wie viele Eier so ein Saurierweibchen legen kann.« »Falls sie nicht lebend gebären? Außerdem weiß niemand, wie schnell sie geschlechtsreif sind.« »Und wo sollte man so große Tiere eigentlich halten?«, fragte Bach. Linda nickte und brachte ihre Kamera in Anschlag. Sie schoss ein paar Bilder vom Hubschrauberwrack und den Rettungswagen. Besonders effektvoll würde ein Titelfoto mit dem toten Saurier auf dem Dach des ausgebrannten Geheges wirken. »Finden Sie nicht, es sei an der Zeit, dass endlich die Luftaufklärung aktiv wird?«, fragte sie an Inspektor Mahler gewandt. »Aus der Luft müsste sich der Standort so vieler Biester doch leicht ermitteln lassen.« »Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand«, sagte Mahler missmutig. »Bis jetzt sind es nur zwei, nicht fünfzig oder hundert.« Er ging die Treppe der Besucherplattform hinunter, um den Feuerwehrleuten Anweisungen zu geben. »Und wenn doch, wird das Militär kurzen Prozess mit ihnen machen«, sagte Bach.
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Born hatte sich frei genommen und war an die Seenplatte im Süden gefahren. Drei der Baggerseen besaßen wunderbare Sandstrände. An einem See fiel das Ufer etwa fünfzehn Meter steil ab und bildete knapp über der Wasseroberfläche eine Sandbank, die bei Nudisten wegen ihrer Abgeschiedenheit beliebt war. Er bevorzugte die altmodische Methode mit Badehose. Meist verzog er sich hierher mit einem Packen wissenschaftlicher Magazine, aber diesmal hing er einfach nur seinen Gedanken nach. Er setzte sich an seinen Lieblingsplatz zwischen den Dünen und blickte gedankenverloren aufs Wasser hinaus. Weit hinten sah man die Silhouetten von Hochhaustürmen. Diesmal waren die Strände menschenleer. Das Auftauchen des zweiten Flugsauriers schien den Menschen Angst einzujagen. Wenn es zwei Saurier gegeben hatte, gab es womöglich noch mehr? Den ersten Flugsaurier hätte man noch für ein Versehen halten können. Vielleicht war es ihm ja tatsächlich gelungen, bei einem wissenschaftlichen Experiment aus der Gefangenschaft zu entkommen? Der zweite Saurier legte den Verdacht nahe, dass es sich um Absicht handelte. Aber was bedeutete das? Born hatte nicht die geringste Ahnung, welche Motive jemanden dazu brachten, etwas so Verrücktes zu tun. Er starrte lange auf den See hinaus und fand keine Erklärung dafür. Was wollte dieses mysteriöse Genie damit beweisen? Plötzlich entdeckte er oben am Hang die Gestalt eines kleinen Mannes mit Schlägermütze, der ihm zuwinkte. Als 133
er auf die Sandbank herunterkam, sah er, dass an seiner Schulter zwei Kameras hingen. »Barelli von World-News … Wir sind an der Sache mit den Flugsauriern und haben gerade erfahren, dass man Sie mit der DNS-Analyse des Blutes beauftragt hat. Herzlichen Glückwunsch!« »Da wissen Sie mehr als ich …« »Kam über Funk herein.« Er zeigte auf seinen Kopfhörer. Am Bügel unter seinem Kinn hing ein winziges Mikrofon – als arbeite er in einem Callcenter. »Folgen Sie mir schon länger? Oder wieso haben Sie mich so schnell ausfindig gemacht?« »Gute Frage. Sie gelten als internationale Kapazität.« »Das ist keine Antwort. Heißt das, ich werde von der Presse beschattet? Warum haben Sie mich nicht einfach angerufen?« »Oh, man hat uns angewiesen, immer am Ball zu bleiben.« Barelli lächelte verlegen. »Wir haben nur Erfolg, wenn wir schnell sind. Aber dass ich Sie hier getroffen habe, war eher ein Zufall. Ich kam mit dem Wagen aus der Gegenrichtung.« Born sah ihm an, dass er log. »Und was versprechen Sie sich davon?« »Ich möchte Ihnen einen Exklusivvertrag anbieten. Wir glauben, dass die Vorfälle von überregionaler Bedeutung sind und die Berichterstattung darüber in professionelle Hände gehört. Eine Regionalzeitung wie der Reporter ist kaum der richtige Ansprechpartner. Dazu sichern wir Ihnen jede Art von Unterstützung zu, wissenschaftlich, organisatorisch – finanziell.« 134
»Sie wollen einen Exklusivvertrag mit mir abschließen? Was glauben Sie denn, wird das Ministerium von so einem Deal halten?« »Keinen Vertrag im echten Sinne, eher eine Vereinbarung. Es müsste nicht bedeuten, dass Sie anderen Journalisten Informationen vorenthalten.« »Sondern?« »Dass wir umgehend über jede wichtige Neuigkeit informiert werden.« »Sie meinen, vor allen anderen?« »Zwei, drei Stunden dürften doch keine große Rolle für Sie spielen.« »Bis dahin hätten Sie Ihre Neuigkeiten über Internet, Rundfunk und Fernsehen in alle Welt verbreitet – immer unter dem werbewirksamen Signum World-News?« »Sie halten uns einfach nur auf dem Laufenden, Doktor – mehr nicht.« »Weiß Ihre Redaktion von dem Angebot?« »Eine offizielle Vereinbarung käme für die Redaktion nicht in Frage.« »Und woher stammen die Gelder, die Sie mir gerade offeriert haben?« »Nun, sagen wir mal – ich weiß, dass es momentan sehr schwierig für Sie ist, Ihre Forschungen zu finanzieren. Ich könnte mich darum kümmern. Ich verfüge über gute Kontakte in den Staaten.« Born nickte amüsiert. Ein breites Lächeln zog über sein Gesicht. »Was finden Sie denn daran so komisch?«, erkundigte sich Barelli. 135
»Ihre Unterstellung, ich könnte darauf eingehen.« »Sie lehnen ein Angebot ab, von dem beide Seiten profitieren würden?« »Mir fehlen zwar die Forschungsgelder, um auf meinem Spezialgebiet weiterzukommen, so viel ist richtig. Aber Sie schätzen meine Korrumpierbarkeit völlig falsch ein. Wenden Sie sich an meine Freundin Linda Meyer beim Reporter, falls Sie offiziell freigegebene Informationen brauchen.« Born aß in einem kleinen italienischen Restaurant an der Landstraße zu Mittag. Als er einen Blick durch das Fenster warf, fuhr Barelli vorüber. Er hätte schon von den Lippen lesen können müssen, um zu verstehen, was der Italiener ins Mikrofon sprach – aber dass es keine Freundlichkeiten waren, sah man seinem Gesicht an. Born bestellte gut gelaunt einen Grappa. Aus der Küche roch es verführerisch nach Knoblauch. Der Sohn des Wirts spielte mit einer Drachenfigur. Es war ein Feuer speiendes Ungeheuer aus der Mythologie – ein Mischwesen aus Schlange, Echse und Vogel. Aus seinem offenen Maul züngelten winzige rote Plastikflammen. Dem Flugsaurier ähnelte es zwar nur wenig; aber in der Fantasie des Jungen konnte es fliegen – und seine Landebahn war die Glastheke mit den Vorspeisen. »Mama mia!«, sagte der Wirt, als er Born die Pasta servierte. »Der Junge ist völlig überdreht. Er redet nur noch von den Flugsauriern.« Den Nachmittag verbrachte er in der Vorstandssitzung der Chrysler-Bondt-Stiftung. Auf der Tagesordnung stand die 136
Finanzierung des Instituts. Man hatte ihn als verantwortlichen Wissenschaftler hinzugezogen, weil Professor Bensheim befürchtete, dass man ohne Aufstockung der Mittel nie wieder vergleichbare Leistungen mit internationalem Renommee wie den Born-Repro-Effekt vom Institut erwarten konnte. Wie immer, wenn der Vorsitzende das Wort ergriff, hatte Doktor Born den Eindruck, dass es vor allem darum ging, ihm nicht zu widersprechen. »Ihre Arbeiten sind nicht unumstritten«, sagte Herbert Kahn mit scharfer Stimme an Born gerichtet. »Es gab deswegen schon einen Prozess, oder?« »Ja, aber ich bekam in allen Punkten Recht.« »Es brachte die Chrysler-Bondt-Stiftung ins Gerede.« »Die wissenschaftliche Qualität meiner Entdeckungen ist unbestritten.« »Aber diese Entdeckungen können missbraucht werden.« »Auch ein Messer kann missbraucht werden«, sagte Doktor Born. Das war mehr als nur Widerspruch. In Kahns Ohren musste es wie eine Kampfansage klingen. Der Vorsitzende winkte einem der beiden Sekretäre an den Schreibtischen im Saal zu und ließ sich eine Mappe mit Papieren bringen. »Wären Sie wohl so freundlich, uns diesen Text vorzulesen«, sagte er und reichte Born ein Blatt aus den Unterlagen. »Das wissenschaftliche Kauderwelsch geht Ihnen leichter von den Lippen als mir.« Born warf einen Blick auf das Blatt und erstarrte. Es war die zurückdatierte Kopie eines Dokuments, das ihm Haderer 137
nach dem Ende ihres Prozesses gezeigt hatte. Es beschrieb Einzelheiten des Born-Repro-Effekts: seine Entdeckung der Erbgutmultiplikation ohne Wirtszellen und das Verfahren, mit dem man Gene reparieren und auf leichtere Weise multiplizieren konnte. Es war ein plumpe Fälschung – möglicherweise das Exzerpt von Untersuchungen, die er irgendwann leichtsinnig in seinem Schreibtisch vergessen hatte und die Haderer für seine eigene wissenschaftliche Karriere kopiert haben musste. »Dieses Material wurde wohlweislich niemals vor Gericht gegen mich verwendet«, sagte Born. »Es tauchte erst nach dem Prozess auf. Haderer hat es nicht vorgelegt, weil er befürchten musste, dass man ihn wegen Betrugs und geistigen Diebstahls belangen könnte.« »Nun, das ist Ihre Version der Dinge …« »Ist dies ein Gerichtsverfahren, in dem mir der Prozess gemacht wird? Sitze ich auf der Anklagebank? Oder geht es um die Bewilligung von Mitteln?« Professor Bensheim gab Alex ein Zeichen, sich nicht zu weit vorzuwagen. »Wir müssen verhindern, dass in der Öffentlichkeit ein falscher Eindruck entsteht«, erklärte Kahn. »Genmanipulation ist ein hoch sensibles Thema. Wir sollten alle Komplikationen erwägen.« »Doktor Born, den ich als Wissenschaftler außerordentlich schätze«, sagte Bensheim, »hat uns nur darlegen wollen, dass bereits eine kleine Aufstockung unserer finanziellen Mittel zu einem entscheidenden Durchbruch in der Reproduktion von Genen führen könnte. Dies würde zum Beispiel dazu beitragen, ausgestorbene Arten zu rekonstruie138
ren – eine nicht zu unterschätzende Bereicherung für unsere Zivilisation.« »Wie das Auftauchen der beiden ominösen Flugsaurier?«, erkundigte sich Alois Hund, der zweite Vorsitzende der Stiftung mit ironischem Unterton. »Rekonstruktion ausgestorbener Arten bedeutet auch, dass alte Kulturpflanzen verfügbar werden, die unseren modernen Pflanzen oft um ein Vielfaches überlegen waren.« »Mag sein, dass das für die Bondt-AG ein lohnenswertes Projekt wäre. Aber offenbar existiert diese Technik längst«, sagte Herbert Kahn. »Wir müssen sie gar nicht mehr mit Stiftungsgeldern unterstützen. Finden wir einfach nur heraus, wer der Schöpfer dieser Ungeheuer ist.« »Ich gebe zu bedenken, dass es sich dabei um das Ergebnis krimineller Machenschaften handelt, das Werk eines Verrückten«, sagte Bensheim. »Auch ein Messer kann missbraucht werden, nicht wahr?« »Ein rechtzeitiges Patent unseres Instituts auf diese Entdeckung hätte zumindest eine gewisse Sicherheit geboten«, widersprach Doktor Born. »Wir wissen alle, dass es keinen hundertprozentigen Schutz vor Missbrauch geben kann. Aber den meisten Wissenschaftlern dürfte der Aufwand zu groß sein, eine bereits vorhandene Entdeckung nachzuerfinden, wenn deren Details vom Patentamt als bedenklich und damit geheim eingestuft werden.« »Wenn sie als geheim eingestuft werden«, sagte Kahn. »Die Betonung liegt auf wenn.« Er nickte Born unmerklich zu, was offenbar bedeutete, 139
dass der Vorstand nun über den Antrag abstimmen würde und Borns Anwesenheit nicht weiter erwünscht sei.
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Viertes Kapitel 1 Linda hatte alle Namen auf Alex’ Liste überprüft. Das Labor in der Nachbarstadt schied aus, weil es inzwischen in Konkurs gegangen war. Die übrigen fünf Genetiker arbeiteten an den Universitäten der Umgebung und hatten während der letzten drei Jahre weder Forschungsreisen ins ewige Eis noch nach Sibirien unternommen – falls man den offiziellen Verlautbarungen glauben durfte. Sie verfügten auch über keine Proben, die für eine genetische Reproduktion in Frage kamen. Einer von Borns Kollegen laborierte an einer mysteriösen Viruserkrankung. Und ein anderer stand gerade vor Gericht wegen der Verführung einer Minderjährigen – er hatte sich ausgerechnet an die Tochter des Rektors herangemacht. Eine Nymphe mit dünnen weißen Armen und dem Gesicht einer Zwölfjährigen, obwohl sie bereits sechzehn war, wie Linda herausfand, als sie sich die Zeitungsartikel vornahm. Da blieb ihm kaum noch Gelegenheit, sich um die Brut von Sauriereiern zu kümmern … Die anderen waren eher recht farblose Vertreter ihres Fachs. Linda hatte sich die Mühe gemacht, jeden von ihnen 141
in Augenschein zu nehmen, um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Sie hatte ihren Wagen in der Nähe ihrer Wohnungen geparkt und wie ein Privatdetektiv abgewartet, bis sie das Haus verließen. Einer von ihnen, ein rundlicher kleiner Kerl, führte täglich seinen Pudel aus. Der zweite war scharf darauf, Professor zu werden. Der dritte galt als Anwärter für den Job des Wissenschaftsministers und würde den Teufel tun, ausgerechnet jetzt eine monströse Variante von Hitchcocks »Vögeln« aufsteigen zu lassen. Peter Bertram war überzeugt, dass all diese Spuren im Sande verliefen, als er Lindas Material gesichtet hatte. »Es muss jemand sein, der die Sache privat und geheim betreibt …« »Das heißt, er ist so schwer zu finden wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen?« »Nicht unbedingt. Erstens gibt es nur wenige qualifizierte Wissenschaftler in der Gegend. Und zweitens kommen wir vielleicht über sein Motiv an ihn heran.« »Sein Motiv, wieso?« »Na, wie viele Gründe gibt es denn schon, eine so überdrehte Show abzuziehen?« »Eher wenige, nehme ich an.« »Was will uns der Bursche damit beweisen?« »Vielleicht war es nur ein Versehen, ein Betriebsunfall?« Bertram schüttelte den Kopf. »Ich habe heute mit Alex telefoniert. Wenn diese Viecher ausgebrochen wären, dann beide zur selben Zeit. Man macht nicht zweimal denselben Fehler. Das andere Tier tauchte erst auf, als das erste schon eine Zeit lang gefangen war. Dahinter steckt Absicht.« 142
»Du meinst, uns stehen noch ein paar unliebsame Überraschungen bevor?« »Ich habe Alex geraten, sich einmal zu fragen, wer denn aus dem engeren Kreis seiner Kollegen das Zeug dazu hätte. Ich meine, – fachlich und charakterlich. Schließlich ist dies hier alles andere als das Weltzentrum der Genforschung. So viele Wissenschaftler kommen dafür nicht in Frage. Man muss im Grunde nur den einen Verrückten finden.« »Und was hat Alex dir darauf geantwortet?« »Er tat sich schwer mit seiner Antwort. Aber schließlich rückte er doch damit heraus.« »Wer ist es?«, fragte sie. »Spann mich nicht auf die Folter.« »Eigentlich fällt ihm nur einer ein – sein alter Konkurrent und Kollege Doktor Haderer.« »Haderer? Aber der steht gar nicht auf meiner Liste?« »Alex hat ihn schlichtweg vergessen.« »Du meinst, absichtlich vergessen?« »Vielleicht hat er ja die unangenehmen Erinnerungen an ihn einfach verdrängt.« »Und wo steckt dieser mysteriöse Haderer?« »Er ist untergetaucht. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Er hatte einen Prozess am Hals mit Alex wegen der Rechte auf den Born-Repro-Effekt. Und dann gab es da noch eine Geschichte, über die Alex ungern redet. Es hat mit seiner verstorbenen Frau Gloria und der Totgeburt ihrer zweiten Tochter zu tun.« »Ja, ich habe davon gehört.« »Vielleicht ist das der Schlüssel, Linda.« »Haderer …«, murmelte sie ungläubig. 143
»Finde den Mann, Linda, finde ihn. Mein Instinkt sagt mir, dass wir mit ihm der Erklärung für diese mysteriösen Flugsaurier ein gutes Stück näher kommen.« »Ach, übrigens …«, sagte Bertram, als Linda schon in der Tür stand. »Ich habe da einen interessanten Kontakt für dich geknüpft. Ein Verein, der sich mit Drachen beschäftigt … ja, mit Drachen. Halte mich jetzt nicht für übergeschnappt! Das Fernsehen hatte seinen Vorsitzenden zu einer Talkshow geladen, und ich dachte mir, es würde nicht schaden, diesem Burschen mal auf den Zahn zu fühlen.« »Du meinst, er könnte hinter den Flugsauriern stecken?« »Nein, aber er scheint besser informiert zu sein als jeder andere. Der Mann heißt Valentin … Jobst Valentin.« »Schick’ ihn zu mir«, nickte sie. Haderer!, dachte sie verärgert über sich selbst auf dem Weg ins Zeitungsarchiv. Darauf hätte sie auch selbst kommen können. Damit bewies Peter Bertram wieder einmal, warum er und niemand anders der Chefredakteur des Reporter war. Alex hatte Haderer bereits bei ihrem ersten Besuch des Instituts erwähnt. Sie erinnerte sich noch genau an seine Worte: »Ein ehemaliger Kollege. Er wurde wegen unerlaubter Genversuche entlassen.« Und sie hatte mit ironischem Unterton gefragt: »Oh, Sie haben also auch schwarze Schafe im Institut?« Das war noch, bevor sie angefangen hatten, sich zu duzen. Das Archiv war dem eigentlichen Verlagsgebäude angegliedert, ein ebenerdiger Backsteinbau mit Flachdach und hohen Fenstern, die auf die abgestorbenen Bäume am 144
Flussufer hinaus blickten. Im Winter liefen die Kinder hier Schlittschuh, aber während des Sommers blieb das Flussbett trocken. Aus dem Ufersand ragten große helle Kiesel – wie die Eier von Flugsauriern … dachte sie merkwürdig berührt. Das Mädchen im Archiv gähnte gelangweilt, als Linda es nach einer Liste aller Artikel über den Prozess fragte. Dabei sah es sie durch eine schwarze Hornbrille mit winzigen kreisrunden Gläsern an, als sei sie übergeschnappt. »Der Zeitungsbestand ist doch elektronisch gespeichert?« »Nicht alles. Wir hatten Datenverluste wegen eines Computerausfalls und müssten einige Jahrgänge neu einlesen.« Sie zeigte bedauernd auf drei etwa schrankhohe Stapel an der Rückwand des Archivs. »Wäre ja auch zu schön gewesen …« »Wenn Sie mir das Datum des Reporter sagen, könnte ich die Ausgabe aus dem Redaktionsarchiv besorgen. Dies hier ist das allgemeine Archiv«, fügte sie hinzu. »Das Redaktionsarchiv ist nur den Redakteuren zugänglich.« »Nein, habe ich nicht.« »Tja, dann …« »Welche Ausgaben sind denn noch nicht gespeichert?« »Die letzten zwei Jahre.« »Aha … kann ich telefonieren?« Linda hatte ihr Handy im Wagen vergessen. »Bitte.« Sie wählte Alex’ Nummer im Institut. »Sag mal, wann war der Prozess mit Ralf Haderer?« »Vor fünf Monaten, Ende März.« 145
»Und du hast nicht zufällig alle Artikel gesammelt, die über den Fall erschienen sind?« »Nein, warum sollte ich? Hör mal, Linda, ich möchte nicht, dass Haderer denkt, deine Recherchen seien so etwas wie eine späte Retourkutsche.« »Mach dir keine Sorgen, Alex.« Sie legte auf. »Ende März – wenn Sie so freundlich sein würden?«, sagte sie an das Mädchen gewandt. »Das sind maximal fünfzehn Ausgaben.« Sie bestellte sich beim mobilen Essensservice der Zeitung belegte Brötchen und einen Becher Kaffee und setzte sich mit dem Zeitungsstapel an einen Tisch unter der Galerie. Im Archiv gab es nur noch einen weiteren Leser, einen jungen Mann, den sie nicht kannte. Linda hatte den Eindruck, dass er sie neugierig musterte. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt und trug ein helles T-Shirt. Linda nahm sich die letzten Ausgaben vom März vor. Der einzige Artikel über den Prozess, den sie finden konnte, stammte aus der dreizehnten Woche. Haderer sah auf dem Zeitungsfoto ganz anders aus, als sie ihn sich vorgestellt hatte; zwar nicht unsympathisch, aber irgendwie angespannt. Er war mindestens zwei Meter groß und ging leicht vornübergebeugt, vermutlich, weil er wie andere Riesen Schwierigkeiten mit der Höhe der Türen hatte. Sein Gesicht unter der hohen Stirn wirkte bleich und unzufrieden, doch das konnte auch an der Momentaufnahme liegen. Sein Haar war so dicht wie das eines Terriers, keine Spur von Geheimratsecken. Der Artikel lautete: 146
Streit um Entdeckung des so genannten Born-Repro-Effekts beigelegt Dr. Ralf Haderer konnte keine Nachweise für seine Behauptung erbringen, bereits vor Dr. Alexander Born die wissenschaftlichen Grundlagen des so genannten BornRepro-Effekts entdeckt zu haben, für die Born möglicherweise demnächst den Nobelpreis erhalten wird. Das Gericht konstatierte allerdings eine jahrelange enge Zusammenarbeit der beiden Prozessgegner im Rahmen ihrer Projekte für die Bondt-AG, ein von der Chrysler-BondtStiftung finanziertes Institut zur Genforschung. Hier sei im Einzelnen nicht mehr genau zu rekonstruieren, welche Arbeitsschritte und Erkenntnisse welchem Wissenschaftler zuzurechnen wären. Insgesamt verfüge jedoch Dr. Born über die umfangreicheren Unterlagen, die klar seine führende Rolle belegen. Das Gericht schloss jedoch in diesem Zusammenhang eine zweimalige – möglicherweise sogar zeitgleiche – Entdeckung des Born-Repro-Effekts nicht grundsätzlich aus. Haderer beanspruchte also das Recht der Entdeckung für sich selbst. War das ein Motiv? Würde jemand deswegen etwas so Verrücktes tun? Vielleicht, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlte? Was will uns der Bursche damit beweisen?, hatte Bertram gefragt. Dass er der bessere wissenschaftliche Kopf war? Handelte es sich um eine Art Verzweiflungstat, ein Signal wie bei einem Selbstmörder, der keinen Sinn mehr in seinem Leben sah? 147
Linda brachte die Zeitungen zurück und ging hinunter zum Wagen. Als sie im Handschuhfach nach ihrem Telefon suchte, um Professor Bensheim wegen eines Termins anzurufen, sah sie durch die Windschutzscheibe den jungen Mann aus dem Archiv auf sich zukommen. »Ich weiß, es gehört sich nicht, jemanden einfach so anzusprechen«, sagte er mit altmodisch wirkender Schüchternheit. »Aber ich war vorhin nicht ganz sicher. Peter Bertram hat mir gesagt, dass Sie im Archiv seien. Sie sind doch die Journalistin, die das Ungeheuer entdeckt hat?« »Das Ungeheuer …? Ja, so kann man es auch nennen!« Linda lachte. »Nein, ich habe es nicht entdeckt, das war Doktor Born.« »Darf ich mich vorstellen?« Er steckte seine Hand aus. »Jobst Valentin. Ich bin der Erste Vorsitzende.« »Der Erste Vorsitzende – von was?« »Oh, natürlich, bitte entschuldigen Sie! Unser Verein befasst sich mit Drachen – und mit der Zukunft, so weit sie sich aus der Vergangenheit voraussagen lässt«, fügte er sibyllinisch lächelnd hinzu. »Ah, ja, Sie waren kürzlich in einer Talkshow, hat mein Chefredakteur mir gesagt. Und was hat Ihr Verein mit Flugsauriern zu tun?« »Wir sammeln alles, was mit alten Prophezeiungen über den Weltuntergang zusammenhängt. Wir glauben, dass die Zukunft längst in den historischen Schriften niedergelegt ist. Natürlich kommen für das Ende der Menschheit nicht nur Drachen in Frage. Aber davon einmal abgesehen, sind Drachen faszinierende Geschöpfe. In den Schöpfungsmythen verkörpert der Drache die gottfeindlichen Mächte. Im 148
Alten Testament bedroht er als großer Gegenspieler Gottes die Welt und muss in der Endzeit vernichtet werden, damit das Gottesreich siegen kann.« »Haben Flugsaurier denn überhaupt viel mit Drachen gemein?« »Wahrscheinlich geht die Vorstellung vom Drachen auf vorzeitliche Saurierformen zurück.« »Und Ihr Fanklub – was ist genau sein Zweck?« »Fanklub wäre wohl nicht der richtige Ausdruck.« Valentin zuckte verlegen die Achseln. »Wir verstehen uns eher als Mahner. Wir warnen vor großen Gefahren.« »Und das sind die Flugsaurier?« »Weil ihnen eine wichtige Rolle zukommt. Wir glauben, dass das Auftauchen von Drachen – einmal abgesehen von den asiatischen Glücksbringern – immer ein Indiz für die nahende Endzeit ist.« »Die Endzeit? Etwa der Weltuntergang? Das ist doch nicht Ihr Ernst?« »Drachen sind ein böses Omen. Man sollte rechtzeitig handeln, um größeres Unheil abzuwenden.« »Was meinen Sie mit handeln?« »Man muss sie töten …« »Verstehe. Aber sie sind ja längst tot. Wissen Sie das denn noch nicht? Die beiden Flugsaurier kamen beim Absturz eines Hubschraubers ums Leben.« »Die Tiere im Zoo, ja …« Linda versuchte aus dem Blick des jungen Mannes zu erraten, was diese Bemerkung bedeuten sollte. War er nur ein Spinner, einer der harmlosen Verrückten, die sich mit irgendwelchen abstrusen Dingen befassten? Ufos, Außerir149
dische, Schneemenschen, Ungeheuer von Loch Ness … gehörte das nicht alles in dieselbe Kategorie? »Heißt das, es gibt noch mehr Flugsaurier?« »Wir beobachten sie fast jede Nacht«, sagte Valentin. »Wer ist wir?« »Unser Klub.« »Und wo finden diese Flugvorführungen statt?«, erkundigte sich Linda ironisch. »Nicht weit von unserem Klub. Kennen Sie die stillgelegte Papierfabrik?« Linda nickte. »An der Abzweige hinter der Brücke liegt unser Heim.« »Ja, ich glaube, ich war schon mal dort.« »Sie kommen über die Waldhügel. Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zu den Außenbezirken der Städte.« »Um zu jagen?« »Das nehmen wir an.« »Und woher kommen sie?« »Keine Ahnung, das haben wir noch nicht herausgefunden. Wahrscheinlich von Nordwesten, aus der Ebene. Es gibt da ein paar große Waldgebiete.« »Hm, wie viele sind es?« »Momentan nur zwei.« »Aber ihr habt schon mehr beobachtet?« »Am Anfang nur einen, dann den anderen, immer einzeln – bis sie bei der Explosion starben. Wir glauben, die beiden neuen sind ein Pärchen.« »Und sie kehren immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück?« »Ja, sieht ganz so aus.« 150
»Warum gehen Sie deswegen nicht zur Polizei?« »Die Polizei ist auf unseren Klub nicht besonders gut zu sprechen.« »Nicht gut zu sprechen … aha. Deshalb haben Sie sich ans Fernsehen gewandt?« »Nein, man hatte uns eingeladen. Sie laden momentan alle ein, die irgendetwas zum Thema beitragen könnten. Die Polizei glaubt, wir seien Spinner. Ein gewöhnlicher Polizeibeamter ist kaum in der Lage, die Mythologie der Drachen zu begreifen. Sie glauben, es ginge uns wie Siegfried ums Heldentum, wir seien verhinderte Drachentöter.« »Seid ihr das denn nicht?« »Es gibt ernst zu nehmende Prophezeiungen, dass wir uns alle in sehr großer Gefahr befinden.« »Prophezeiungen? Von wem?« »Darüber kann ich jetzt noch nicht sprechen. Sie sollten erst die alten Schriften lesen.« »Und wozu das?« Jobst Valentin legte fast beschwörend die Hand auf das Emblem mit dem Drachen auf seiner Brust. »Wir würden Ihnen und Doktor Born gern bei der Suche helfen«, sagte er. »Vielleicht ist der Anruf Ihres Chefredakteurs ja so etwas wie eine glückliche Fügung.«
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2 Alex war sofort bereit, sich den »Klub der Drachenjäger« anzusehen, wie Linda ihn ironisch nannte; und zwar ohne Polizei, denn Inspektor Mahler würde sofort eine ganze Armada von Beamten in Bewegung setzen und die Umgebung in eine Baustelle verwandeln. Der Verein bemühte sich, einen guten Eindruck auf seine Gäste zu machen. Als Linda und Alex eintrafen, fegte ein dünnes, sommersprossiges Mädchen den Flur, und im Vorraum stand ein Junge im Overall auf der Leiter und schraubte Birnen in die Deckenlampen. Die Wände waren beklebt mit billigen Drucken der Apokalyptischen Reiter, die Pest, Krieg, Hungersnot und Tod versinnbildlichten. Daneben Seeungeheuer und Drachen im Stile der Fantasy-Literatur. Bei einigen Figuren handelte es sich um Hologramme, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten. Obwohl asiatische Drachen kein Unheil brachten, sondern als Glücksbringer galten, hing von der Saaldecke ein flammend rotgelber chinesischer Drache, dessen Brust mit einer Lanze durchbohrt war. Er lächelte seinen Besuchern wohlmeinend zu, trotz der dramatisch wirkenden Wunde, die jemand unter die Einstichstelle gemalt hatte. »Du meine Güte«, raunte Born. »An was für Traumtänzer sind wir denn hier geraten?« 152
»Lass dir bitte nichts anmerken …« Linda steuerte freundlich grinsend und mit ausgestreckter Hand auf Jobst Valentin zu. Die Stühle im großen Saal waren im Halbkreis um den Platz des Vorsitzenden angeordnet, einen reich verzierten hölzernen Sessel, der aus einem Kirchenschiff zu stammen schien. Weiter hinten am Podest lehnte ein langes Schwert. Die meisten Vereinsmitglieder hatten kaum das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreicht. Born hätte seinen Kopf darauf verwettet, dass die Versammlung sonst mittelalterliche Kleidung oder Ritterrüstungen trug, wie sie in den beiden Vitrinenschränken am Ende des Saals zu sehen waren, und dabei mit Lanzen und Speeren herumfuchtelte. Vermutlich hatten sie nur wegen ihres Besuchs darauf verzichtet. »Schön, dass Sie zu uns gefunden haben«, sagte Jobst Valentin und reichte Born die Hand, als sei er damit auch schon Vereinsmitglied geworden. »Ich freue mich, einen so bedeutenden Wissenschaftler in unserem Kreis begrüßen zu dürfen.« Er wartete ab, bis sich alle gesetzt hatten und zeigte in die Runde. »Bitte stellen Sie jetzt Ihre Fragen. Fast jeder der Anwesenden hat schon Drachen mit eigenen Augen gesehen.« »Wir reden doch von Flugsauriern, oder habe ich das falsch verstanden?«, fragte Born. »Wie ich bereits Ihrer Mitarbeiterin gegenüber andeutete, halten wir Flugsaurier für die wahren Vorbilder des Mythos. Später wurden dann Fabeltiere aus Löwe, Vogel oder Schlange daraus, Mischwesen, die der Fantasie der Alten 153
entsprungen waren. Sie wissen ja, was aus Erzählungen wird, die nur mündlich weitergegeben werden?« »Bitte sagen Sie uns etwas über die Prophezeiung«, schlug Linda vor. »Warum glauben Sie, dass Flugsaurier eine Gefahr für uns darstellen könnten? Ich meine, über das hinaus, was bisher passiert ist? Sie jagen nach Beute wie andere Raubtiere, und sie haben dabei Menschen getötet. Schlimm genug – aber weiter?« »Wir glauben, dass sie reaktiviert wurden. Sie haben nicht etwa bis heute unentdeckt im Verborgenen gelebt. Zum Beispiel in unzugänglichen Tälern oder Grotten oder in Vulkanen, wie jetzt in der Presse spekuliert wird.« »Daran glauben wir allerdings auch nicht.« »Jemand verfolgt mit ihrer Reaktivierung einen wohl durchdachten Plan.« »Und was für ein Plan sollte das sein?« »Stellen Sie sich einmal vor, diese Tiere würden die Vorherrschaft über den Planeten erlangen – es wäre zugleich der Sieg des Bösen über das Reich Gottes.« Born schüttelte unwillig den Kopf. »Das ist eine ziemlich abwegige Vorstellung. Ein paar Flugsaurier haben überhaupt keine Chance gegen unsere hoch technisierte Zivilisation.« »Ein paar vielleicht nicht – aber hunderttausend?« Die Versammlung der Drachenjäger murmelte beifällig. »Und woher sollten diese hunderttausend Saurier kommen?«, fragte Born. »Wer vier Saurier reaktiviert hat, der verfügt auch über die Mittel, um noch mehr zu erschaffen.« Jobst Valentin winkte dem jungen Mann zu, der die 154
Lampen im Vorraum gewechselt hatte. Zwei andere Klubmitglieder trugen einen Holztisch in den Saal. Wenig später wurde eine große, polierte, silberne Schale auf dem Holztisch positioniert. Das Licht der Deckenlampen changierte auf ihrem spiegelnden Deckel und verlieh ihm etwas von einem unbekannten extraterrestrischen Objekt, das eben aus dem Weltraum eingetroffen war. Linda versuchte sich ein Grinsen zu verbeißen, weil das Ganze einen so an den Haaren herbeigezogenen feierlichen und pathetischen Eindruck machte. Fehlte nur noch die passende Begleitmusik dazu. Jobst Valentin hob langsam den Deckel ab und blickte seine Gäste erwartungsvoll an. Die Schale enthielt zwei beige schimmernde Eier. Eines der beiden Eier war aufgebrochen. In seinem Innern befand sich ein junger Flugsaurier, kaum größer als eine Ente. »Donnerwetter«, sagte Born überrascht. Er ging näher an den Tisch heran und begutachtete vorgebeugt den Inhalt der Schale. »Das ist allerdings eine Überraschung. Wie sind Sie denn daran gekommen?« »Wir haben sie in den Bergen entdeckt.« Obwohl das Tier kurz nach dem Schlüpfen eingegangen sein musste, war es bereits voll ausgebildet. An seinen Flügeln entdeckte er die charakteristischen dünnen Greifarme mit den drei kurzen Fingern. »Es sind doch keine Krokodileier, wie wir vermutet hatten«, sagte Linda nachdenklich. »Oder, Alex?« »Nein, Krokodileier wären nur so groß wie Hühner- oder Gänseeier.« »Was schließt du daraus?« 155
»Unser verstorbenes Paar hatte bereits Nachkommen.« »Du meinst, dieser mysteriöse Mister X ist inzwischen so weit, dass er sich die schwierige Reproduktion mit Wirtszellen sparen kann?« »Ja, er hat das Problem mit Bravour gelöst. Der wichtigste Schritt war die Reaktivierung der alten DNS. Wenn er genügend Eier besitzt, kann er jetzt so viele Flugsaurier schaffen, wie er will. Wahrscheinlich wird er dazu ganz gewöhnliche Brutkästen benutzen.« »Und seine Saurier werden weitere Saurier zeugen?« »Wenn er’s darauf anlegt. Oder sagen wir besser: Falls er sie nicht daran hindert …« »Aber aus welchem Grund sollte er das zulassen?« »Keine Ahnung …« »Wo genau haben Sie die Sauriereier gefunden?«, fragte Linda. »Es ist ein Opfertisch aus keltischer Zeit oben im Wald«, sagte der Vorsitzende. »Und die Prophezeiung?« »Eine alte Textrolle. Wir fanden sie auf dem Altar neben der Silberschale.« »Dieses angebliche … Dokument ist noch in Ihrem Besitz?«, fragte Born. Jobst Valentin nickte und ließ sich von dem Jungen im Overall die Schriftrolle bringen. Sie bestand aus Pergamentpapier, das auf altes braunes Leinen geklebt war. Der Verfasser hatte sich allerdings keinerlei Mühe gemacht, eine echte alte Schriftrolle zu imitieren, sondern lediglich den äußeren Eindruck nachgeahmt – wie bei den Requisiten einer Theateraufführung … 156
… und ans Theater fühlten Linda und Alex sich auch erinnert, als sie den Text lasen: Sage mir aber, Vernichter der Welt, von wessen Hand Du wieder auferstehen willst, um Dein Werk zu vollenden? Denn er soll Dein getreuer Statthalter sein auf Erden, wenn die Dunkelheit Deines Reiches angebrochen ist, und zu wahren Ehren kommen kraft Deines Herzens, kraft Deiner Zunge, kraft Deines Blutes! Offenbarung des Leviathan, II, b4 Darunter befand sich eine Zeichnung, die mit chemischen Formeln erläutert wurde. Born erkannte verblüfft, dass es sich um eine Darstellung jenes Enzyms handelte, das er bei der Untersuchung des Blutes als nahen Verwandten von VQ31 identifiziert und später VQ32 genannt hatte. Selbst die Ränder entsprachen genau der wabenartigen, violett schimmernden Struktur, die er im Elektronenmikroskop gesehen hatte. Was ihn aber noch mehr überraschte, war das Diagramm der blassgelben, schraubenförmigen Elemente im Inneren des Enzyms, in denen sich der komplizierte Reparaturmechanismus der DNS verbarg. Als er jetzt die Struktur mit der zugehörigen Formel sah, wusste er sofort, wonach er so lange Zeit vergeblich gesucht hatte. Mein Gott, das also ist die Lösung des Problems!, dachte er voller Ehrfurcht, weil ein anderer es geschafft hatte, das Geheimnis zu lüften. Es war der Schalter, der die zerstörerische Wirkung fehlender Teile auf den Gesamtorganismus neutralisierte, der im ewigen Eis Schaden genommen hatte. 157
Dieses unscheinbare, schraubenartige Element entschied über Leben und Tod … »Ist das die Prophezeiung, von der Sie gesprochen haben?«, fragte Linda. »Und was bedeutet ‘kraft Deines Blutes’? Dass dabei Blut fließen wird?« »Vernichtung bedeutet natürlich Tod, die Endzeit. Aber kraft Deines Herzens, kraft Deiner Zunge, kraft Deines Blutes spielt auf etwas anderes an. In alten Legenden heißt es, dass man, wenn man das Herz eines Drachen isst, die Fähigkeit erlangt, die Sprache der Vögel zu verstehen. Wenn man dagegen die Zunge des Drachen verzehrt, kann man jeden mit seinen Argumenten überzeugen. Und das Blut des Drachen schützt, wenn es auf die Haut aufgetragen wird, vor Stichwunden.« »Warum sollte jemand einer so absurden Prophezeiung Glauben schenken?«, erkundigte sich Born. »Weil sie sich mit den alten Legenden deckt«, sagte der Vorsitzende. »In fast allen Kulturen verkörpert der Drache die Kraft des Bösen. In manchen Geschichten der christlichen Kirche wird er sogar als Symbol für den Teufel dargestellt.« Valentin ging hinüber und nahm zwei alte Folianten aus den Buchregalen. Sie waren in fleckiges, dunkles Leder gebunden und sahen aus, als hätten sie schon einige Brände und Wassereinbrüche überstanden. »Dies ist die berühmte Ausgabe von Mailand, verfasst von Agios Ambrosius, einem Mönch des vierzehnten Jahrhunderts. Ich übersetze aus dem Lateinischen: Berichte mir, Zerstörer der Welt, wessen glorreiche Hand Dein Werk vollenden soll? Er wird Dein ewiger 158
Statthalter auf Erden sein. Kraft Deines Blutes! Kraft Deines Herzens! Oder hier, ein Text, den man in Südfrankreich, nahe der spanischen Grenze gefunden hat: Zerstörer der Welt, verleihe mir die Kraft Deines Herzens, die Kraft Deiner Zunge, die Kraft Deines Blutes. Dann will ich Dein Werk vollenden und für immer Deinem Königreich dienen als getreues Sprachrohr, als Richter und Untertan. Sehen Sie die zum Teil wörtliche Übereinstimmung?« »Weil einer vom anderen abgeschrieben hat«, sagte Born verächtlich. Die Stimme des Vorsitzenden nahm einen feierlichen Tonfall an, als er die Arme anhob und sich fragend an die Versammlung wandte: »Oder weil jemand Mittel und Wege gefunden hat, die Prophezeiung zu erfüllen?« Beifälliges Gemurmel. »Unterschätze niemals die Kraft des Bösen. Das ist der Leitspruch unserer Bewegung …« »So? Na, sehr beeindruckend. Und einige von Ihnen haben also nach dem Unfall im Zoo noch weitere Flugsaurier gesehen?«, fragte Born. Fast alle hoben die Hände. »Sie können sie jeden Abend von den Waldhügeln aus beobachten«, meldete sich ein dünner Junge mit Hornbrille in der zweiten Reihe. »Es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis die ersten in den Städten auftauchen.« »Wenn Sie wollen, fahren wir raus und zeigen Ihnen den Altar!«, bot Jobst Valentin an. »Von dort haben Sie auch einen guten Blick übers Land.« 159
»Einverstanden.« Wenig später stiegen Valentin und der Junge mit der Hornbrille zu Born in den Landrover. Er hatte gehofft, die anderen würden darauf verzichten, sich ihnen anzuschließen, weil sie die Opferstätte schon kannten, aber einen Augenblick später bemerkte er, dass ihnen drei Wagen folgten. Der Junge mit der Hornbrille dirigierte sie über schmale Straßen in die bewaldeten Berge. Dann folgten sie den Wegweisern zur Jugendherberge, passierten eine eingestürzte Eisenbahnbrücke, deren rostige Gerippe wie Mahnmale rechts und links des Talkessels in die Luft ragten, und fuhren einen holprigen Waldweg hinauf. »Von hier aus haben wir den besten Blick.« »Aus welcher Richtung kommen sie?« Valentin zeigte nach Nordwesten. Dann deutete er auf einen grob behauenen Steintisch am Hang, der in der einbrechenden Dunkelheit unter den überhängenden Sträuchern nur noch schemenhaft zu erkennen war. »Und das da ist der Altar …« Born stieg aus und versuchte im Schein der Handlampe die Inschrift am Sockel zu entziffern. Das kleine Messingschild war von den Behörden angebracht worden. Es datierte den Altar um etwa achtzig nach Christus – vermutlich keltischen Ursprungs. »Wann haben Sie die Schriftrolle mit den Eiern entdeckt?« »Zwei Tage nach dem Unfall.« »Und die anderen Flugsaurier?« »Oh, wir beobachten sie fast jeden Abend, wenn wir hier draußen sind.« 160
Born nahm seinen Feldstecher aus dem Wagen und trat an den Abhang. Er musterte die Ebene und das nur leicht gewellte Hügelland am Horizont, dessen höchste Erhebungen kaum Kirchturmhöhe erreichten. Hier gab es keine Industrieanlagen oder stillgelegten Zechen mehr. Lediglich ein paar Gehöfte unterbrachen den tristen Grünton der Felder, und hier und da konnte man das graue Band einer Straße oder eines Sandwegs erkennen. Es war eine irgendwie zeitlose Landschaft, stilisiert wie das Bild eines Malers, der sich nicht festlegen wollte, und in der man ebenso gut einen Eselskarren wie ein schnelles Motorrad erwartet hätte. »Nichts zu sehen.« »Sie kommen schon noch. Man muss nur etwas Geduld haben.« Die Schlucht, in der sie den Leichnam der Frau entdeckt hatten, lag gut fünfzehn Kilometer nordöstlich. Auf den Hügeln sah man die Hochspannungsmasten der Stromversorgung. Um zu diesem Waldgebiet zu gelangen, hätte das erste Tier jede Nacht große Strecken über Ackerland fliegen müssen, falls es immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrte. »Kann man denn nicht erkennen, von wo sie aufsteigen?«, fragte Linda. »Sehen Sie den hellgrauen Streifen etwa eine Handbreit unter dem Horizont?«, fragte Valentin. »Sie glauben, dort könnte ihr Versteck sein? Was ist mit den Bauern? Haben Sie die Anwohner in der Umgebung nach verdächtigen Beobachtungen gefragt?« »Doktor …!«, sagte der Junge mit der Hornbrille und streckte bewundernd seine Hand aus. 161
Weit entfernt über der Ebene und so klein wie Segelflugzeuge, die eben noch mit bloßem Auge zu erkennen waren, zogen drei Flugsaurier ihre Bahn. Sie flogen in Formation, dicht nebeneinander und in gleicher Höhe. Und wie Segelflugzeuge schienen sie ohne größere Kraftverschwendung geschickt die Aufwinde zu nutzen. Es geht also weiter, dachte Born bestürzt – und zugleich fasziniert von der Leichtigkeit und Eleganz, mit der sich die Flugsaurier bewegten. Wie er vermutet hatte, war es nicht das Ende, sondern erst der Anfang der Tragödie. Irgendwie erinnerte ihn ihr Formationsflug an ein Bombengeschwader. »Sagten Sie nicht, es seien nur zwei?« »Spielt das denn eine Rolle? Hoffen wir lieber, dass es nicht zweihundert werden …« Im Feldstecher konnte Born erkennen, dass die Tiere noch sehr jung waren. Sie folgten einfach ihrem Instinkt, Beute zu machen. Jede Bewegung am Boden erregte ihre Aufmerksamkeit. Niemand wusste, wie lange sie brauchten, um fliegen und sich selbst ernähren zu können, wenn sie ausgeschlüpft waren. Drei Tage? Eine Woche? Einen Monat? Er reichte Linda das Glas. »Was hältst du von dem Verein?«, fragte Linda, als sie Valentin und den Jungen am Klubhaus abgesetzt hatten und Born den Landrover in Richtung Stadt steuerte. »Spinner. Das sind Spinner …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Anscheinend gibt es inzwischen für so gut wie alles Klubs – UFO-Klubs und Klubs, um 162
Satan oder die evolutionäre Intelligenz des Universums anzubeten. Und jetzt sehen einige ihre Aufgabe auch noch darin, den bösen Drachen zu töten. Kürzlich habe ich von einem Verein gehört, der sich jeden Donnerstag in PrinzEisenherz-Kostümen trifft. Sie tragen Kettenhemden und kämpfen mit Lederschwertern gegeneinander.« »Aber Valentin und seine Leute könnten uns nützlich sein, oder?« Immerhin hatte sie Valentin die Schriftrolle abluchsen können – wenn auch nur für einige Tage, um davon in der Redaktion eine Kopie machen zu können. »Du meinst, als nützliche Idioten? Und wofür?« »Damit wir Haderer finden.« Born stoppte den Landrover am Straßenrand und nahm überrascht seine Hände vom Lenkrad. »Seit wann sucht irgendjemand nach Ralf Haderer?« »Warst du es denn nicht, der Bertram auf die Idee gebracht hat?« »Bertram wollte lediglich wissen, wer sonst noch als Schöpfer der Flugsaurier in Frage käme.« »Aber deine Antwort fiel auch nicht vom Himmel! Weil dir inzwischen ein Verdacht gekommen war?« »Eigentlich nicht. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass mein alter Kollege plötzlich wie Doktor Mabuse von der Idee besessen sein sollte, die Menschheit zu vernichten.« »Haderer muss schließlich kein dämonischer Übermensch sein, Alex. Vielleicht sind seine Motive ja durchaus verständlich? Womöglich reagiert er nur auf etwas, das ihm schwer zu schaffen macht. Aber wenn ja – worauf reagiert er?« 163
»Haderer ist zweifellos davon überzeugt, ein würdigerer Anwärter für den Nobelpreis zu sein als ich. An seinen wissenschaftlichen Erfolgen gemessen, wäre das durchaus berechtigt. Aber deswegen gleich mit der Schöpfung solcher Ungeheuer zu reagieren, will mir nicht in den Kopf.« »Er ist nicht nur weiter mit seinen Forschungen, wie die Flugsaurier beweisen, sondern er glaubt auch, er sei der eigentliche Entdecker des Born-Repro-Effekts.« »Haderer hat mir nach unserem Prozess die Kopie eines Dokuments gezeigt, das mein Verfahren in allen Einzelheiten beschreibt. Ich hielt es für eine Fälschung, ein dreistes Plagiat aus Untersuchungen, die er irgendwann bei mir entdeckt hatte und nun für sich selbst reklamiert.« »Aber inzwischen sind dir Zweifel gekommen?« »Wir haben sehr lange eng zusammengearbeitet. Niemand erinnert sich noch genau an jede Einzelheit. Tausend Versuche, tausend Fragen. Es gibt zahllose Gesprächsrunden, ungezählte Fehlschläge. Irgendein Wort, ein Gedanke kann der Auslöser für eine bahnbrechende Entdeckung sein, ohne dass der andere davon etwas bemerkt. Man wacht morgens auf – und plötzlich ist die Lösung da. Wenn man wissenschaftlich gleichauf liegt, kommt es immer wieder vor, dass dieselbe Lösung zur selben Zeit gefunden wird.« »Und warum hat er seine Ansprüche nie angemessen geltend gemacht?« Er startete den Motor und legte den Gang ein. »Warum, Alex?« Born schwieg. »Du willst jetzt nicht darüber sprechen?« 164
»Nein.« Und dann gibt es da noch eine Geschichte, über die Alex ungern redet, dachte Linda. Es hat mit seiner verstorbenen Frau Gloria zu tun und der Totgeburt ihrer zweiten Tochter. Aber sie wagte es nicht, ihn jetzt danach zu fragen. Sie spürte, dass es nicht gut für ihre Beziehung war.
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3 Linda hatte mit Professor Bensheim einen Termin für Samstagvormittag vereinbart. Trotz ihrer vagen Andeutungen schien er zu ahnen, worum es ging. Der Name Haderer wirkte wie eine Initialzündung auf ihn. Er sagte, es sei ihm lieber, in seinem Haus und nicht im Institut darüber zu reden. Inzwischen flog die Luftwaffe Aufklärungsflüge über dem Land, und in den umliegenden Stadtgebieten verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht, man befürchte weitere Angriffe. Inspektor Mahler hätte lieber Polizeihubschrauber eingesetzt, aber nach dem Desaster im Zoo war dieser Wunsch nicht durchsetzbar gewesen. Wegen der Messen wurde die Gefahr immer noch heruntergespielt, obwohl Doktor Born sofort die Einsatzleitung über ihre Beobachtungen informiert hatte. Linda fand, diese Entscheidung könnte den Bürgermeister und den Polizeipräsidenten leicht den Kopf kosten. Doch anscheinend waren ein paar Tausend Besucher weniger ein Horrorszenario, das sie genauso leicht den Kopf kostete. Bensheim trug diesmal keine Cordjacke mit Fliege, sondern einen zerknitterten Bademantel aus schwarzer Seide. Sein Rauschebart wirkte etwas verwildert. Er warf einen besorgten Blick auf die Straße und schien erleichtert darüber zu sein, dass sie allein gekommen war. 166
»Haben Sie gedacht, ich hätte einen Übertragungswagen von World-News dabei?«, fragte Linda. »Oh … nein, ich warte nur auf Post. Herzlich willkommen. Setzen wir uns in die Küche. Ich habe uns grünen Tee gekocht. Sie trinken doch eine Tasse?« Linda nahm auf dem wackligen Hocker am Küchentisch Platz. »Ein Erbstück meiner Mutter«, erklärte er entschuldigend. »Ich hänge an den alten Dingen. Ich bin zwar, was meine Arbeit anbelangt, dichter an der Zukunft als die meisten anderen – zumindest hoffen wir das hier im Institut. Aber im Privatleben bevorzuge ich Dinge, die alt sind.« »Wer ist Gloria, Professor?« Bensheim musterte sie überrascht. »Sie kommen direkt zur Sache, was?« »Ich musste ein wenig recherchieren. Gar nicht so einfach bei jemandem, der wie Gloria in der Öffentlichkeit stand. Sie war schließlich eine berühmte Schauspielerin. Aber ihre größten Erfolge feierte sie offenbar als Kabarettstar im Filou. Alex spricht nicht gern über sie?« »Nein, am Ende ihrer Ehe gingen sich die beiden ziemlich auf die Nerven.« »Alex sagte mir einmal, Gloria sei bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben. Und es hörte sich nicht so an, als sei es sein Kind gewesen?« »Das hat er Ihnen gesagt? Dann war er aber ungewöhnlich redselig.« »Gibt es denn einen Grund, damit hinterm Berg zu halten?« »Viele Gründe. Um nur einen zu nennen: Meine Tochter 167
lebte nie sehr gesund, sie trieb Raubbau mit ihrer Gesundheit. Für einen Mann kein besonders erhebender Anblick, wenn eine Frau langsam in die Jahre kommt.« »Was denn, Gloria Stern ist Ihre Tochter?«, fragte Linda verblüfft. »Sie wollte immer alles zugleich, Ruhm und Schönheit – das Leben in vollen Zügen genießen – Genuss und Unsterblichkeit. Dabei verfiel sie zusehends.« »Stern war also nur ihr Künstlername. Dann sind Sie ja …?« »Ich bin Alex’ Schwiegervater. Wir reden nicht mehr darüber. Das Thema ist erledigt, ausgestanden.« »War Haderer der Grund für das Zerwürfnis der beiden?« »Hm, ja, mehr oder weniger.« Er zog seinen Morgenmantel enger um den hageren Körper, als fröstelte er. »Und was hat das alles mit den Flugsauriern zu tun?« Bensheim schüttelte abwehrend den Kopf. »Sie wollen nicht darüber reden, Professor? Darf ich fragen, warum?« »Weil es schon morgen in den Zeitungen stehen würde.« »Und wenn ich Ihnen mein Wort gebe?« »Ihrem Wort würde ich natürlich vertrauen, Linda. Ich halte Sie zwar für ehrgeizig, aber nicht für eine Karrierefrau, die über Leichen geht.« »Was wären das denn für … Leichen?« »Bitte versetzen Sie sich einmal in die Interessen unseres Instituts«, sagte Bensheim. »Alle Welt misstraut uns, weil man Bedenken gegen die Genmanipulation hat. Aber wir sind kein wirtschaftlich unabhängiges Institut wie private 168
Gentech-Firmen. Denen kann die öffentliche Meinung ziemlich schnuppe sein, soweit es nicht ihre Geschäfte betrifft. Wir dagegen sind auf Fördergelder einer Stiftung angewiesen. Gewiss, wir sollen wirtschaftlich arbeiten, doch wir erzielen Gewinne, wenn alles gut geht. Aber wir verfügen über ein finanzielles Auffangnetz. Das gibt uns Sicherheit, doch es macht uns auch anfälliger als andere für jede Art von schlechtem Image.« »Worauf wollen Sie hinaus, Professor?« »Haderer verlor seine Arbeit im Max-Planck-Institut wegen verbotener Genversuche, bevor er in der Bondt-AG anfing. Ich gab ihm eine zweite Chance.« »Versuche am Menschen?« »Ich hatte ihn gewarnt.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet …« »Ich stellte ihn unter der Bedingung ein, dass er niemals wieder rückfällig würde.« »Aber Haderer hielt sich nicht daran?« »Anfangs sah es so aus, als erliege er nur der Versuchung. Er konnte einfach nicht die Finger von der Lösung der uns allen auf den Nägeln brennenden Probleme lassen. Und als hoch begabter Wissenschaftler war er näher daran als die meisten anderen. Bei einem Defekt unseres Computersystems stießen wir dann auf gelöschte Daten – Daten aus Haderers geheimer Arbeit. Sie konnten während der Reparatur rekonstruiert werden. Er hatte uns von Anfang an hinters Licht geführt.« »In welchem Bereich? Bei der Reaktivierung von Saurier-DNS?« »Nein, darüber weiß ich nichts«, wehrte Bensheim ab. 169
»Haderer befasste sich wie viele andere Wissenschaftler mit der Technik des Klonens. Die Eizelle eines Embryos wird entkernt. Dann setzt man fremdes Erbgut in die Zelle. Diese Zelle teilt sich, bis sich eine Blastozyste gebildet hat. Sie wird in eine Gebärmutter implantiert.« »In der Theorie, meinen Sie? Was ist denn daran so außergewöhnlich?« Bensheim schwieg. »Weil er … diese Versuche am Menschen anstellte?« »Illegale Versuche …« »An wem? Doch nicht etwa an Ihrer … Tochter Gloria, Professor?« »Es entsteht ein menschlicher Klon, der bei der Geburt für ein normales Kind gehalten wird, aber in Wirklichkeit ein genaues Replikat seiner Mutter ist.« »Und der Versuch schlug fehl? Das Kind starb?« Bensheims Antwort klang so leise, dass Linda sie mehr erahnte als verstand. Das Gesicht des alten Mannes war plötzlich eisgrau. Vielleicht, so dachte sie, hatte er noch nie in seinem Leben aus irgendeinem Grund weinen können. Dazu war er zu beherrscht; stattdessen veränderte sich einfach seine Gesichtsfarbe. »Mein Gott, Professor, wer hätte das denn ahnen können?« Sie legte teilnahmsvoll ihren Arm um seine Schulter. »Wir mussten uns von ihm trennen. Unser Schweigen war der Preis dafür, dass er auf die Würdigung seiner Arbeit verzichtete. Aber irgendwann wollte er nicht mehr zu seinem Versprechen stehen. Es gab Drohungen und Denunziationen. Er ging sogar vor Gericht.« »Und gab schließlich doch noch klein bei?« 170
»Wir haben ihm etwas nachdrücklicher als früher klar gemacht, was ihn erwartete, falls wir auspackten.« »Sie drohten ihm mit Enthüllungen über seinen fehlgeschlagenen Genversuch?« »Es ließ sich nicht mehr vermeiden. Er schadete mit seinen Enthüllungen dem Institut. Es hätte uns auf unabsehbare Zeit ins Gerede gebracht und unsere Forschungsgelder beschnitten.« »Und Ralf Haderer …?« »… gab während des Prozesses in letzter Sekunde nach und legte entscheidende Unterlagen nicht vor, weil er seine Verhaftung fürchtete.« »Danach ging er in den Untergrund?« »Kein seriöses Institut in der Welt wird ihn jemals wieder einstellen. Seine Karriere ist ruiniert.« »Es muss sehr schmerzlich für Ralf sein, mitzuerleben, dass ein anderer den Nobelpreis bekommt?« »Schmerzlich vielleicht. Aber es war nicht illegal oder unfair. Alex ist schließlich kein geistiger Dieb. Entweder hat er den Repro-Effekt vor ihm erfunden, oder sie haben beide zur gleichen Zeit dieselbe Entdeckung gemacht.« »Aber Haderer war letztlich erfolgreicher, was die praktische Umsetzung anbelangte?« »Mag sein, ja. Er hat sich das alles selber zuzuschreiben.« »Und seine Flugsaurier sind gewissermaßen so etwas wie Vögel der Rache – als lebende Beweise seiner nobelpreiswürdigen Entdeckungen?« »Falls er tatsächlich ihr Schöpfer ist. Wir wissen noch nichts Genaues, oder? Jeder hat ein Recht auf die Unschuldsvermutung, bis das Gegenteil bewiesen wurde.« 171
»Was hat Ihre Tochter denn nur zu diesem Versuch bewogen?« »Gloria sah, dass sie zusehends verfiel. Sie wollte sich unsterblich machen. Sie glaubte, das sei ein Weg, ein riskanter und ungewöhnlicher Weg zwar, aber …« »Dann hat sie mehr als andere Frauen darunter gelitten, alt zu werden? Sie konnte das Ende ihrer Karriere nicht ertragen?« Bensheim schüttelte den Kopf. »Sagen wir es doch einfach frei heraus. Gloria war so verliebt in sich selbst, dass sie ein identisches Genduplikat von sich schaffen wollte, um in Gestalt ihrer Tochter als gefeierter Star weiterzuleben. Das mag eine exzentrische und überdrehte Vorstellung sein. Aber meiner Tochter war nichts zu verrückt, wenn sie es nur als authentisch ansah. Authentisch – das war eines ihrer Lieblingsworte. Ein anderes Wort für egozentrisch. Manche Menschen haben eine derart hohe Vorstellung von ihren Eingebungen, dass kein vernünftiges Argument sie wieder davon abbringen könnte.« »Weil es ihnen so viel bedeutet?« »Für Egozentriker ist alles bedeutend, was mit ihrer eigenen Person zu tun hat …« »Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen, Professor Bensheim? Warum sagen Sie mir das alles? Warum haben Sie mich ins Vertrauen gezogen?« »Weil es sehr großen Schaden anrichten könnte, wenn die Sache publik wird. Ich möchte nicht, dass Sie auf andere Weise an die Wahrheit gelangen. Eine Wahrheit, die vielleicht verfälscht und verzerrt ist, und die Sie glauben, der Öffentlichkeit zugänglich machen zu müssen.« 172
4 Danach fuhr sie erst einmal in ein kleines Café im Zentrum, um Ruhe in ihre Gedanken zu bringen. Großer Gott, das war die Story ihres Lebens! Diese Geschichte würde der Durchbruch sein. Daran konnte keiner ihrer Kollegen vorbeigehen, schon gar nicht der Verleger des Reporter. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Kaffeetasse zum Mund führte. Sie brauchte Haderers letzte Adresse. Ihr Blick fiel auf das Telefonbuch zwischen den Illustrierten. Auch wenn er untergetaucht war, würde darin wahrscheinlich noch seine letzte Anschrift zu finden sein. Alex hatte ihr gesagt, dass Haderer von seinen Eltern ein Haus am Stadtrand geerbt hatte. Ihr Finger glitt suchend über die Einträge. Haderer, Ralf, Dr. An der Schleuse 4 … Die Straße lag unterhalb des neuen Kanals. Sie erinnerte sich, zur Eröffnung des neuen Bauabschnitts einen Artikel geschrieben zu haben. Das Becken des neuen Kanals war bereits geflutet, aber der Durchstich sollte erst in einigen Wochen stattfinden. Bis dahin überbrückten riesige Pumpen die letzten fünfzig Meter Erdreich. Danach würde der Kanal den alten Seitenkanal mit den großen Häfen im Norden verbinden. Als sie die Dammstraße entlangfuhr, fiel ihr ein, dass sie damals – unwissentlich – ausgerechnet von Haderers Terrasse ein Foto für die Zeitung geschossen hatte. 173
Sie parkte ein gutes Stück vom Haus entfernt und ging die letzten Meter zu Fuß. Vor der Treppe warf sie einen vorsichtigen Blick in alle Richtungen. Der Damm war um diese Stunde menschenleer. Irgendwo weiter unten hatte sie ein paar Angler gesehen. Aber die würden sich kaum an sie erinnern können, falls sie von der Polizei befragt wurden. Sie ging hinter das Haus und schlug mit dem Spaten, der an der Wand lehnte, die Scheibe des Parterrefensters ein. Das Scheppern des Glases klang so laut, dass sie erschreckt innehielt. Mein Gott, was tue ich hier bloß!, dachte sie, als sei sie plötzlich aufgewacht. Ich bin auf dem besten Wege, alles zu verraten, woran ich glaube. Und das nur, um Karriere zu machen … Aber geschah es nicht auch, weil sie damit vielleicht Schlimmeres verhinderte? Die Formeln unter der Prophezeiung bewiesen, dass da jemand wusste, wovon er redete. Linda schüttelte unschlüssig den Kopf. Sie hatte jetzt keine Zeit, lange darüber nachzudenken! Skrupel brachten einen auch nicht weiter. Sie kletterte durchs Fenster und sah sich im Parterre um. Wenn Haderer hier gelebt hatte, dann hatte er seit dem Tode seiner Eltern wenig geändert. Es war das Mobiliar alter Leute, die mit den Dingen einen Erinnerungswert verbanden. Linda blieb stehen und warf einen Blick auf die vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos hinter der Scheibe des Vitrinenschranks. Gesichter ehrbarer Bürger, denen man nicht ansah, dass 174
ihrem Sohn eines Tages die Sicherungen durchbrennen würden. Die Frau ein wenig mollig, der Vater streng, wilhelminisch, in kerzengerader Pose, die Hand hinter dem Rücken verborgen. Haderers Zimmer waren im ersten Stock. Neben dem Büro hatte er sich ein kleines Labor eingerichtet. Auf den Arbeitstischen lagen Papiere. Linda blätterte sie flüchtig durch, aber um beurteilen zu können, worum es darin genau ging, hätte sie schon vom Fach sein müssen. Keine Hinweise, geschweige denn Zeichnungen oder andere Unterlagen über die Flugsaurier. Natürlich nicht, dachte sie. So leichtsinnig würde auch niemand sein. Sie nahm einen Stuhl und setzte sich in die Mitte des Labors, die Lehne vor der Brust. Ihr Blick glitt über das Durcheinander in den Regalen, die Gläser, Schachteln und Dosen, die Papierrollen mit Diagrammen, die Vergrößerungen von Genanalysen. Schwer zu sagen, wann er zuletzt hier gearbeitet hatte. Dem Staub nach zu urteilen, konnte das Wochen oder Monate her sein. Plötzlich fiel ihr Blick auf das Foto des Troijons. Es war mit einer Nadel an der Korkplatte zwischen den Notizzetteln befestigt und so klein, dass es ins Portemonnaie gepasst hätte. Es schien derselbe Hund zu sein, den Inspektor Mahler entdeckt hatte. Das ist der Beweis!, dachte sie und betrachtete ungläubig das winzige Bildchen in ihrer Hand. Damit schloss sich der Kreis, alles andere waren nur Spekulationen gewesen. An der Wand des abgedunkelten Raumes war schemen175
haft noch ein weiteres Tier zu erkennen. Sie hielt das Foto unter die Lampe. Schwer zu sagen, was es war. Es sah irgendwie merkwürdig aus. Es war – das Kaninchen mit den Stummelflügeln! Linda begann hektisch die Schubladen und Regale nach weiteren Beweisen zu durchsuchen. Sie gab sich keine Mühe mehr, die Unterlagen wieder ordentlich einzuräumen. Das nächste, was sie fand, waren ein paar großformatige Schwarz-Weiß-Fotos der Hochspannungsmasten und des nahe gelegenen Umspannwerks draußen auf dem freien Land. Die Höhe der Masten war mit schwarzem Filzstift eingezeichnet – und zwar sowohl der Abstand zwischen den einzelnen Leitungen wie auch die Gesamthöhe. Eine Skizze zeigte den Verlauf des neuen Kanal mit dem riesigen Pumpwerk, das wegen des starken Zuflusses bis zum Durchstich das Wasser aus dem neuen in den alten Kanal leitete. Auch hier war genau die Höhe der Deiche eingezeichnet. Das Stadtgebiet lag im Durchschnitt gut zehn Meter tiefer. Ein weiteres Foto zeigte das Atomkraftwerk etwa zwanzig Kilometer außerhalb der westlichen Stadtgebiete. Wieder schien Haderer sich ausführlich für die Höhenverhältnisse interessiert zu haben. Das Kraftwerk lag etwas niedriger als das Stadtgebiet und bezog sein Kühlwasser inzwischen aus dem neuen Kanal. Merkwürdig, dachte sie. Warum interessierte sich jemand für die Höhe von Hochspannungsmasten? Und was hatten diese Masten mit der Wasserstandshöhe des Kanals im Vergleich zum Stadtgebiet und der Lage des Atomkraftwerks zu tun? 176
Sie steckte alle Unterlagen in einen Umschlag, um sie sich später noch einmal anzusehen. Eher zufällig blickte sie in die Bibliothek nebenan, als sie durch den Korridor ins Parterre zurückkehren wollte. Was ist mit den Büchern?, dachte Linda. Ein paar sehr alte Folianten lagen aufgeklappt auf dem Lesetisch neben den Regalen. Der Titel des einen Bandes lautete: Alte Prophezeiungen Ihre Hand zitterte leicht vor Anspannung, als sie die Seiten durchblätterte. Fast alle Texte aus vorchristlicher und nachchristlicher Zeit befassten sich mit dem nahen Weltende. Doktor Haderer schien eine Art Vorliebe für den geweissagten Untergang entwickelt zu haben. Es erinnerte Linda fast an ein religiöses Bekenntnis. Die Lesezeichen waren römische Heiligenbilder oder Drucke von Dürers »Apokalyptischen Reitern«. Der Band daneben war die Ausgabe von Mailand aus dem 14. Jahrhundert von Agios Ambrosius mit deutscher Übersetzung auf der Gegenseite: Berichte mir aber, Zerstörer der Welt, wessen glorreiche Hand Dein Werk vollenden sollte? Denn er wird Dein ewiger Statthalter auf Erden sein. Kraft Deines Blutes! Kraft Deines Herzens! Als sie ins Zentrum zurückfuhr, brach die Dämmerung herein. Der Himmel im Westen, wo die Sonne unterging, war blutrot, und ein eigenartiger Brandgeruch lag in der Luft. Der Wind hatte aufgefrischt und kam jetzt von Nord177
westen. Es roch nach verbrannten Tannenzweigen! Und tatsächlich hörte sie die Sirenen der Feuerwehr in der Ferne, als sie vor Alex’ Wohnung stoppte. Jemand am Kiosk sagte: »Draußen an der stillgelegten Papierfabrik soll es einen Brand gegeben haben.« Alex hatte vorgeschlagen, Karen die Neuigkeit während eines gemeinsamen Abendessens mitzuteilen. Sie würden für ein Jahr zusammenziehen und dann heiraten, vorausgesetzt, nach dieser Probezeit sprach nichts dagegen. Genauer gesagt: Linda würde ihre Wohnung aufgeben und zu ihnen ziehen. Er war der Meinung, weil Karen bei ihnen wohnen würde, habe sie bei einem so einschneidenden Schritt ein Mitspracherecht. Linda hatte sich diese »Probezeit« ausbedungen. Die letzte gemeinsame Wohnung mit einem Mann war ein ziemlicher Reinfall gewesen. Er hatte es gehasst, wenn sie im frühen Morgengrauen zum Dauerlauf durch die City startete. Wenn sie schwitzte, zeichneten sich ihre Körperformen durch den eng anliegenden nassen Stoff ab. Er fand, ihr Aufzug – kurze weiße Hosen, weiße Bluse, lila Stirnband – ziele darauf ab, die Kerle anzumachen. Er war rasend eifersüchtig. Und seitdem hatte sie sich kaum noch vorstellen können, ein Mann sei nicht eifersüchtig. So oft Alex ihr auch sagte, er liebe sie über alles, werde aber niemals versuchen, einen Bienenschwarm festzuhalten, der den Korb wechseln wollte! »Ich glaube, er ist niemals eifersüchtig«, sagte Karen, während sie den Tisch eindeckten. »Das scheint in seinem genetischen Programm nicht vorzukommen. Mam hatte 178
sich mal in den Chef des Filou verknallt. Sie trafen sich fast jeden Abend. Als Kramer dann an einer Hepatitis erkrankte, hat Paps alles getan, um ihm die neuesten Medikamente aus den USA zu besorgen.« »War das … vor ihrer Zeit mit Ralf Haderer?« »Oh, von dieser Beziehung haben wir gar nichts mitbekommen. Sie hielt sie sorgfältig geheim.« »Und weißt du auch, weshalb?« »Wegen des Kindes.« »Deiner Schwester?« »Sie starb bei der Geburt.« Diesmal würden sie nicht auf der Dachterrasse essen – weil das unangenehme Erinnerungen weckte –, sondern im Salon. Born hatte den riesigen alten Esszimmertisch aus dem Keller holen lassen, der ein Erbstück von seinen Eltern war. Man kam sich vor, als sitze man an einer Rittertafel. Linda hatte den Verdacht, dass er seiner Tochter damit signalisieren wolle, nun seien sie eine Familie. Obwohl das gar nicht nötig war, dachte sie und lächelte insgeheim. Karen und sie waren längst unzertrennliche Freundinnen. Er hob mit feierlicher Gebärde den Silberdeckel vom Tablett, unter dem ein riesiger, mit Rosinen und Mandeln gefüllter Truthahn lag – genau in diesem Moment flackerte die Deckenbeleuchtung kurz auf – und erlosch … »Stromausfall«, sagte Karen. »Wenn das kein gutes Omen ist!« Sie standen auf und traten ans Fenster. »Merkwürdig, sieht aus, als sei das ganze Stadtgebiet dunkel«, sagte Born. Er ging die Wendeltreppe hinauf, um sich die Sache von der Terrasse aus anzusehen. 179
Fünftes Kapitel 1 Nur die roten Signallampen für den Flugverkehr an den Schornsteinen brannten jetzt noch. Sie hatten die Stadt noch nie so dunkel gesehen. Wenn ein Kraftwerk ausfiel, sprang meist sofort ein anderes aus dem internationalen Verbundnetz ein. »Sieht aus, als ob es ernst würde«, sagte Born und zeigte nach Nordwesten. »Großer Gott …« Linda folgte ungläubig seiner ausgestreckten Hand. »Das sind ja …« »Unsere alten Bekannten – und nicht zu wenige!« Es mussten Hunderte sein. Noch flogen sie in großer Höhe wie ein Schwarm weit entfernter Zugvögel. Aber ihre riesige Anzahl verdunkelte mehr und mehr den Himmel. »Wo kommen die denn plötzlich alle her?«, fragte Karen. Einen Augenblick später heulten Sirenen auf. Die Behörden gaben Luftalarm. Und wie ein Luftangriff – allerdings völlig lautloser Art – wirkte der Flug der Saurier auch, als die ersten von ihnen auf den Dächern am Stadtrand landeten. Andere bevorzugten die Flachdächer der Hochhäuser im Zentrum. Einige der Tiere waren nur wenige Hundert Me180
ter vom Naturkundemuseum gelandet. Sie saßen mit hängenden Flügeln wie riesige Krähen da und betrachteten aufmerksam das Geschehen in den dunklen Straßen. Es war, als hätten die neuen Herren von der Stadt Besitz ergriffen. Sie schienen keinerlei Respekt mehr vor ihnen zu haben. Wenig später war aus der Straße ein Lautsprecherwagen zu hören: »Achtung, Achtung, wichtige Durchsage! Durch den Flug der Saurier wurden die Strommasten der Überlandleitungen und das Umspannwerk beschädigt. Bitte suchen Sie sofort Schutzräume auf. Bitte suchen Sie Schutzräume auf …« Immer mehr Tiere landeten auf den Dächern im Zentrum. Sie hörten, wie die Dachpfannen unter ihrem Gewicht splitterten, wenn sie landeten und ihre krallenbewehrten Füße nach Halt suchten. »Was soll das heißen – die Überlandleitungen sind beschädigt?«, fragte Linda. »Na, dass wir bis auf weiteres im Dunkeln sitzen«, sagte Born. Linda dachte an die Schwarz-Weiß-Fotos der Strommasten. »Und was ist mit dem Atomkraftwerk?« »Ich nehme an, es wird über Notstromaggregate versorgt. Ein Reaktor braucht auch Kühlung, wenn er wegen Strommangels abgeschaltet wird.« »Könnte das nicht Absicht sein?« »Absicht, von wem?« »Von Haderer. Warte, ich hole die Fotos.« Sie konnte Alex unmöglich gestehen, dass sie dafür in Haderers Haus eingebrochen war, nicht an diesem Abend. 181
Aber er musste trotzdem wissen, welcher schreckliche Verdacht ihr gerade gekommen war … Als sie nach unten ging, war wieder der Lautsprecherwagen der Polizei zu hören: »Bitte schließen Sie Fenster und Türen. Suchen Sie Schutzräume auf. Es herrscht Ausgehverbot. Ich wiederhole: Es herrscht absolutes Ausgehverbot.« Sie lief eilig mit dem Umschlag und einer Taschenlampe die Wendeltreppe hinauf. Gleich darauf erklangen wieder Alarmsirenen. Eine davon befand sich nur zwei Häuser weiter am Dachgiebel, und der Lärm auf der Dachterrasse war so unerträglich, dass sie sich die Ohren zuhielten. Es ist wie im Krieg, dachte sie. Es ist tatsächlich die Endzeit – Haderers Endzeit … »Sieh dir das mal genau an.« Linda breitete die Fotos und Karten auf dem Tisch aus. »Strommasten, Atomkraftwerk, Pumpwerk am Kanal, alles mit Höhenangaben.« Born betrachtete im Schein der Taschenlampe die Bilder. »Paps!« rief Karen. Einer der Flugsaurier hatte sich mit trägem Flügelschlag vom Dach des gegenüberliegenden Hochhauses aufgeschwungen und nahm Kurs auf das Naturkundemuseum. Vielleicht war er durch den Schein der Taschenlampe aufmerksam geworden. »Verschwinden wir lieber nach unten«, sagte Born und raffte die Fotos zusammen. Wie beim Angriff des ersten Sauriers vor einigen Tagen landete auch dieses Tier krachend auf dem Esstisch. Doch diesmal riskierten sie es nicht, unter dem Dach des Vorraums Schutz zu suchen. Sie liefen eilig die Wendeltreppe zum Salon hinunter. 182
»Rollladen herunterlassen, sonst sehen sie das Licht«, sagte Born. Sie saßen eine Weile schweigend im Dunkeln und horchten auf die Geräusche von oben. Born griff nach Karens Hand. »Keine Angst«, sagte er. »Die Wendeltreppe ist zu eng für sie.« Er zündete eine Campinglaterne an und breitete die Fotos auf dem Tisch aus. »Ja, es hat ganz den Anschein, als habe er genau geplant, was jetzt passiert. Wenn eine so große Anzahl von Flugsauriern aus der Ebene in Richtung Städte fliegen, werden ein paar fast zwangsläufig in die Leitungen der Überlandmasten geraten. Sie liegen genau auf dem Weg.« »Vielleicht wollten sich einige von ihnen auf den Leitungen ausruhen«, sagte Karen. »Wie Vögel?« »Und ihr Gewicht hat die Kabel beschädigt«, überlegte Linda. Draußen waren jetzt Schüsse zu hören. »Sie versuchen, sie abzuknallen«, sagte Born. »Bei der Menge wird das gar nicht so leicht sein.« Im selben Augenblick splitterte auf der anderen Straßenseite eine Fensterscheibe. »Was war das …?«, fragte Karen mit schreckgeweiteten Augen. Born ging die Wendeltreppe hinauf und sah vorsichtig über die erste Stufe. Der Saurier war weggeflogen. Er lief in geduckter Haltung zum Geländer und sah zur anderen Straßenseite hinüber. Er hatte Mühe, im schwachen Himmelslicht, das durch die Wolkendecke fiel, zu erkennen, was passiert war. 183
Eine alte Frau schien so unvorsichtig gewesen zu sein, sich im Fenster zu zeigen. Der Flugsaurier musste mit seinem harten Schnabel die Fensterscheibe zertrümmert und sie gepackt haben. Jetzt kreiste er gemächlich mit ihr im Gleitflug über den Hausdächern, als wolle er seine Beute den anderen Tieren präsentieren. Born lief eilig hinunter in die Wohnung, um sein Jagdgewehr zu holen. »Was ist passiert?«, fragte Linda. »Bleibt lieber hier unten in Sicherheit. Ich erledige das allein.« Als er auf die Terrasse zurückgekehrt war, kreiste der Saurier noch immer mit seiner Beute über den Dächern. Die alte Frau bewegte sich nicht. Schwer zu sagen, ob sie noch lebte. Das Tier hatte sie beim Genick gepackt. Born legte an und zielte. Und wenn er den Saurier erlegte und die Frau mit ihm in die Tiefe stürzte? »Warte lieber, bis er irgendwo gelandet ist«, flüsterte Linda hinter ihm. »Ja, ich glaube auch, es ist zu riskant.« »Großer Gott, sieh dir das an, Alex …« Linda deutete zum Himmel. Die Wolkendecke war aufgerissen, und im Mondlicht waren jetzt fast überall Flugsaurier zu sehen, die zappelnde menschliche Opfer im Schnabel trugen. Sie kreisten in einiger Höhe über den Dächern, und ihre Bahnen überschnitten sich. Es sah tatsächlich so aus, als präsentierten sie einander stolz ihre Beute. Der Saurier mit der alten Frau flog zum Greifen nahe über sie hinweg. Er 184
setzte ihren leblosen Körper auf dem gegenüberliegenden Dach ab und startete sofort wieder mit kräftigem Flügelschlag. »Vorsicht, er kommt zu uns herüber, Alex …« Born zielte so genau auf seinen Kopf, wie es im Mondlicht ging, und drückte ab. Der Flugsaurier machte einen unkontrollierten Flügelschlag nach oben. Als er danach die Flügel wieder senkte, gab er einen Laut von sich, der an eine rasselnde Ankerkette erinnerte. Dann stürzte er wie ein Stein in die Tiefe. »Getroffen!«, rief sie begeistert. »Das ging leichter, als ich erwartet hatte.« Er legte auf einen ein paar Dächer weiter entfernten Saurier an, der nach Beute Ausschau hielt. Diesmal zielte er auf den Brustansatz direkt unterhalb seines langen Halses, wo er das Herz vermutete. »Wieder getroffen.« »Alex …!« Linda legte ihre Hand auf seinen Arm und zeigte zum gegenüberliegenden Dach. Der Körper der alten Frau war auf der Schräge ins Rutschen gekommen. Sie sahen voller Entsetzen, dass er sich langsam der Regenrinne näherte. Von unten war ein dumpfer Aufprall zu hören. »Sieh nicht hin«, sagte Born. »Hoffen wir, dass sie nichts mehr gespürt hat.« Er lud das Jagdgewehr nach. Seine Hand zitterte leicht wegen der Anspannung und weil er es nicht gewohnt war, zu schießen. Zum Glück hatte er genügend Munition. Er kniete sich hin und benutzte das Geländer als Auflage. Die nächsten Saurier waren jetzt gut hundert Meter entfernt. Er 185
schoss einmal und dann noch einmal. Aber keiner der beiden Schüsse traf. Von Westen her war jetzt das Geräusch schwerer Hubschrauber zu hören. Als sie näher kamen, sah er, dass es fünf Maschinen waren. Sie flogen mit Suchscheinwerfern über das Stadtgebiet. »Ich glaube, dann ist der Spuk bald vorüber«, sagte Linda. Sie bedauerte es, keine Aufnahmen machen zu können. Dafür war es einfach zu dunkel. Selbst die besten Blitzgeräte reichten nicht weiter als dreißig Meter. Born schüttelte skeptisch den Kopf. »Vom Hubschrauber aus ist es gar nicht so einfach, die Biester zu erwischen. Denk an den Unfall im Zoo. Man darf nicht zu nahe herankommen, sie sind ziemlich angriffslustig.« Eine der Maschinen war genau über ihnen. Sie sahen, dass in der offenen Luke Scharfschützen saßen.
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2 Tagsüber zeigten sich nur vereinzelt Tiere über den Stadtgebieten. Aber die wenigen, die sich am hellen Tage sehen ließen, genügten, um den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Autos hupten, Busse und Taxen standen quer; Fahrgäste stiegen aus und starrten zum Himmel, und Mütter zeigten ihren Kindern, die erst langsam begriffen, was passierte, wovor sie sich in Acht nehmen sollten. Meist heulten wenige Sekunden später Sirenen auf, und vom Stützpunkt starteten Kampfhubschrauber. Doch die Zeit, bis sie Jagd auf den Saurier machten, reichte aus, um ganze Straßenzüge voller Passanten in Bewegung zu setzen. Griff ein Flugsaurier an, dann flohen die Menschen in Panik in Hauseingänge und Toreinfahrten. Andere warteten in Hotelhallen und Foyers ab, bis der Spuk vorüber war. Vielen Gesichtern war die Angst und Nervosität anzumerken. Vertretern, Briefträgern und Straßenfegern machte es die Arbeit nicht leichter, ständig ein wachsames Auge nach oben zu haben. Die Fensterputzer an den Fassaden der Hochhäuser hatten nicht einmal die Möglichkeit, sich schnell in Sicherheit zu bringen. Öffentliche Parks und Wiesen wirkten wie ausgestorben, weil es dort keinen Schutz gab, und Fahrten über Land galten nur mit schweren Fahrzeugen als sicher. Viele Dächer von Pkws waren von Flugsauriern einge187
drückt worden, weil sie ihnen nachts wegen der Scheinwerfer als Landeplätze gedient hatten. Born nahm an, dass sie als nachtaktive Jäger ausgezeichnete Augen besaßen. Aber anscheinend wurden sie wie Motten vom Licht angezogen. Er versuchte seiner gewohnten Arbeit nachzugehen. Professor Bensheim hatte ihn mit dem Projekt betraut, die Erbanlagen der Anophelesmücke so weit zu verändern, dass sie nicht mehr in der Lage war, Malaria zu übertragen. An der Modifikation der Erbanlagen waren schon viele Institute in aller Welt gescheitert. Einmal hatte es so ausgesehen, als hätten kolumbianische Wissenschaftler das Problem gelöst. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund schien Bensheim ihm plötzlich nicht mehr wie sonst aus dem Wege zu gehen. Er erkundigte sich fast jeden Tag nach seinen Fortschritten, obwohl die Antwort immer dieselbe war: »Das ist ein Jahrhundertauftrag, Hans. Vielleicht überlebe ich diese Aufgabe nicht mehr. Oder ich gehe vorher in den Ruhestand.« »Unsinn, es ist ein Auftrag wie jeder andere.« »Hat Herbert Kahn das veranlasst? Um mich ruhig zu stellen?« »Nein, sobald wir lukrative Aufträge aus der Industrie erhalten, bist du wieder dabei.« Die kommende Nacht, das zeigte sich zwanzig Minuten nach Mitternacht, war die schlimmste, die sie bisher erlebt hatten. Trotz des Ausgehverbots waren fast genauso viele Menschen auf den Straßen wie sonst. Es schien, als wiege sie die Dunkelheit in – trügerischer – Sicherheit. Manche 188
versuchten im Schein von Taschenlampen die ausgehängten Vermisstenlisten zu lesen. Andere standen neugierig oder diskutierend am Straßenrand. Ständig heulten irgendwo Sirenen auf, und im Licht der Scheinwerfer, die das Militär tagsüber aufgebaut hatte, sahen sie, wie Scharfschützen in Dachfenstern Posten bezogen und leichte Flak auf Flachdächern ihre Geschützrohre auf die Lichtkegel der Suchscheinwerfer einstellte. Überall in den Stadtgebieten ratterten Dieselgeneratoren des Militärs. Die meisten Lokale und Restaurants hatten geöffnet, als suchten die Menschen die Gemeinschaft und fühlten sich sicherer, wenn sie nicht allein waren. Linda war gerade auf dem Wege in die Nachtredaktion, als aus dem größten Hochhausturm im Zentrum Flammen schlugen. Sechs oder sieben junge Flugsaurier hatten sich auf dem Dach des CITYCENTERS niedergelassen. Offenbar schien eines der Geschütze auf der Dachterrasse des Verwaltungsgerichts zu niedrig gezielt und dabei die oberen Etagen in Brand gesetzt zu haben. Das Feuer breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Gewaltige graue Qualmwolken quollen aus den durch die Hitze zerborstenen Scheiben, und Menschen sprangen aus den Fenstern in die Tiefe. Mit einem Male war ein ganzer Schwarm ausgewachsener Tiere über dem Viertel. Der aufsteigende scharfe Rauch machte sie anscheinend nervös, denn sie flogen aufgeregter und zielloser durch die Straßenschluchten als sonst. In das Schlagen ihrer großen Flügel und ihre heiseren Schreie mischten sich die Schüsse der Scharfschützen in den oberen Etagen der umliegenden Häuser. 189
Linda hastete eilig in den Schatten der Passage hinter sich zurück. Sie nahm ihr Handy aus der Umhängetasche und wählte Bertrams Nummer in der Redaktion. »Am Citycenter ist die Hölle los! Ich hab’ meine Kamera vergessen. Schick sofort einen Fotografen!« Sie beobachtete fassungslos, wie nach und nach das ganze Gebäude in Flammen aufging. Die Rauchwolken erinnerten auf beklemmende Weise an den Brand im WorldTrade-Center nach den Anschlägen in New York. Immer noch sprangen Menschen aus den Fenstern, denen der Rauch in den Fahrstühlen und Treppenhäusern den Rückweg versperrte. In den oberen Etagen war die Redaktion des Stadtmagazins untergebracht. Linda stand hilflos da und konnte nichts tun. Feuerwehrzüge näherten sich aus den umliegenden Straßen. Obwohl sie aus ihren Schläuchen riesige Wassermassen auf das Gebäude lenkten, konnten sie nicht vermeiden, dass es völlig ausbrannte. »Verlassen Sie besser das Viertel«, warnte ein Feuerwehrmann. »Der Rauch könnte wegen des vielen verbrannten Kunststoffs giftig sein.« Als Linda sich umwandte, weil hinter ihr am Straßenrand ein Wagen stoppte, sah sie, dass Bertram ihr vom Steuer aus zuwinkte. »Nichts wie weg hier«, sagte er durch die heruntergekurbelte Scheibe.
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3 Die Arbeitstrupps der Elektrizitätswerke hatten den ganzen Tag über versucht, die Überlandleitungen und das etwa einen Kilometer entfernte Umspannwerk zu reparieren. Aber gegen Nachmittag gab es immer noch keinen Strom. Die Masten waren auf einer Strecke von etwa zwei Kilometern unterbrochen. Anscheinend war ein ganzer Schwarm Saurier auf seinem Weg in die Leitungen geflogen. Krankenhäuser und Behörden verfügten über Notstromversorgungen. In vielen Hinterhöfen ratterten Benzingeneratoren, aber kaum .jemand hatte daran gedacht, dass die Tankstellen Elektrizität brauchten, um Treibstoff abgeben zu können. Die einzige Tankstelle, die mit einer generatorgespeisten Pumpe arbeitete, wurde von langen Schlangen belagert. Die Scharfschützen der Polizei hatten in der letzten Nacht etwa fünfzehn Flugsaurier abschießen können. Hinzu kamen noch einmal zwölf, die auf das Konto von Privatpersonen gingen. Acht Saurier waren durch die Hochspannungsmasten zu Tode gekommen, drei weitere in den Transformatoren des Umspannwerks. An den Hauswänden klebten Plakate, die es der Bevölkerung untersagten, weiter wild in der Gegend herumzuballern. Nach dem Frühstück fuhren sie hinaus zum Klubhaus, um Valentin und die anderen Vereinsmitglieder zu befragen. 191
Born hoffte, dass sie inzwischen herausgefunden hatten, wo die Flugsaurier aufstiegen. Er steuerte den Landrover die Waldhügel hinauf und dann zum Fluss hinunter. An der Brücke befand sich eine Militärsperre. Drei Jeeps und ein leichter Schützenpanzer bewachten den Weg zur Durchgangsstraße. Ein Posten mit Gewehr über der Schulter stoppte ihren Wagen. »Sie können hier nicht weiterfahren«, sagte er. »Die Gegend ist zu unsicher.« Borns Blick folgte der ausgestreckten Hand des Soldaten zum Klubhaus. Es war nur noch eine ausgebrannte Ruine. Aus dem Gemäuer stieg Rauch auf. Die verkokelten schwarzen Holzbalken ragten wie Symbole des Untergangs in den blauen Morgenhimmel. »Mein Gott, was ist denn hier passiert?« »Fahren Sie bitte in die Stadt zurück.« »Das da drüben waren gute Freunde von uns«, widersprach Linda. »Wir waren auf dem Wege zu ihnen. Wir haben ein Recht darauf, zu erfahren was passiert ist.« »Tut mir Leid, ich habe meine Anweisungen.« Born wendete achselzuckend den Wagen vor der Brücke. Als sie sich schon wieder auf der Straße befanden, sahen sie einen jungen Arbeiter mit Motorsäge aus dem Wald kommen. Born stoppte und kurbelte die Scheibe herunter. »Können Sie mir sagen, was unten im Klubheim passiert ist?« »Ein Angriff der Flugsaurier.« »Gibt es Überlebende?« »Nein, soweit wir wissen, sind alle tot. Die meisten hat es im Innenhof erwischt. Sie hatten sich Flammenwerfer 192
besorgt, um die Viecher zu bekämpfen. Das Haus muss dabei in Brand geraten sein.« »Aber nicht alle?« »Ein paar andere wurden später ausgeweidet in der Umgebung gefunden.« Er sprach das Wort »ausgeweidet« mit so teilnahmslosem Gesicht aus, als handle es sich um ein Gespräch unter Jägern. »Wann ist es passiert?« »Gestern, kurz vor Einbruch der Dämmerung.« »Noch scheuen sie das Tageslicht«, sagte Born nachdenklich. »Aber das kann sich schnell ändern.« »Wir haben schon zehn oder zwanzig von ihnen tagsüber entdeckt«, erklärte der Waldarbeiter. »Die Hubschrauber der Polizei und des Militärs steigen drüben von der Hügelkuppe auf, sobald sich einer zeigt.« »Was sagt denn unsere Luftbeobachtung? Wo haben diese verdammten Viecher ihren Unterschlupf?« »Sieht ganz so aus, als versteckten sie sich hier überall in den Wäldern.« »Dann dürfte es doch kein Problem sein, sie mit ein paar gezielten Bombenangriffen fertig zu machen?« »Wenn man sie findet. Die Gegend ist ziemlich unübersichtlich.« Doktor Born bedankte sich und fuhr die schmale Straße zur anderen Talseite hinunter und dann neben der Eisenbahnlinie wieder den Berg hinauf. Jenseits der Bergkuppe breitete sich bereits wieder Stadtgebiet unter ihnen aus. Auf den ersten Blick war kaum ein Unterschied zu erkennen. Vielleicht fuhren weniger Fahrzeuge durch die Straßen, und die hohen Schornsteine in den Randbezirken stießen 193
keine Rauchfahnen mehr aus. Seltsamer Gedanke, sich vorzustellen, dass das Leben dort unten schon fast wieder so weiterging, als sei nichts passiert. »Jetzt hat Mahler doch noch das Militär auf dem Hals«, sagte Linda. »Aber es sieht nicht so aus, als bekämen sie die Sache in den Griff.« Sie fuhren über die Dammstraße ins Zentrum zurück. Als sie am Pumpwerk waren, das die letzten fünfzig Meter vom neuen Kanal zum alten Seitenkanal überbrückte, bemerkten sie eine Gruppe von Arbeitern, die gestikulierend auf dem Damm standen. Born stoppte den Wagen, weil die Deichstraße überschwemmt war. Offenbar schafften es die Notpumpen nicht mehr, den Wasserzufluss aus dem neuen Kanalbecken zu bewältigen. Sie wurden von Dieselgeneratoren angetrieben und waren wesentlicher kleiner ausgelegt als das vom Netz versorgte Pumpwerk. »Sieh dir das an …«, sagte er. Linda stieg aus. Das bebaute Stadtgebiet lag gut zwei Meter tiefer als die Straße unterhalb des Deichs. »Er versucht uns unter Wasser zu setzen«, sagte Born. »Wenn die Notpumpen es nicht schaffen, laufen ein paar Städte in der Umgebung voll wie ein leeres Seebecken.« »Das bedeutet, er hat das alles tatsächlich so von Anfang an geplant? Den Angriff der Saurier? Dass sie in die Hochspannungsmasten geraten und dass wir dann Probleme mit dem Zufluss aus dem neuen Kanal bekommen?« »Sieht so aus.« »Was ist mit dem Atomkraftwerk?« 194
»Ich sagte ja schon, es wird über Notstromaggregate versorgt. Ein Reaktor braucht auch Kühlung, wenn er wegen Strommangels abgeschaltet wird.« »Kann es sich nicht selbst versorgen? Ich meine, wenn es doch Strom erzeugt?« »Keine Ahnung. Es gibt seinen Strom an das Elektrizitätswerk ab und bezieht ihn von dort zurück. Vielleicht hat man ja für den Notfall die Selbstversorgung vorgesehen. Nur dürfte uns das wenig nützen. Wenn der Wasserspiegel steigt, steht auch das Kraftwerk unter Wasser.« »Dann wird der Reaktorkern durch das steigende Wasser gekühlt?« »Ich weiß nicht, ich bin kein Fachmann.« »Großer Gott, Alex – er plant tatsächlich die Endzeit!« Sie gingen zu den Arbeitern hinüber. Einer der Männer hielt einen Bauplan in der Hand. Er war um die Fünfzig und trug eine dunkle Hornbrille. Sein Gesicht drückte Ratlosigkeit aus. »Warum schaffen Sie nicht noch mehr Notpumpen heran?«, fragte Born. »Wir haben einen Riss im Damm. Seit die Hauptpumpen ausgefallen sind, hält der Boden dem Wasserdruck nicht mehr stand.« Erst jetzt bemerkte Born, dass das Wasser nicht nur über die Dammstraße lief, sondern über eine Strecke von mehreren Hundert Metern auch aus dem Erdreich am Fuße des Damms sickerte. »Das ist dann ein Fall für den Katastrophenschutz, oder?«
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In dieser Nacht hatten sie zum ersten Mal das Gefühl, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten. Die Störtrupps waren außerstande, das Umspannwerk zu reparieren. Mit der fehlenden Energieversorgung war das Alltagsleben fast vollständig zum Erliegen gekommen. Unvorstellbar, wenn das alles nicht im Sommer, sondern während der kalten Jahreszeit passiert wäre. Außer den Lebensmittelgeschäften hatten die meisten Läden und Firmen geschlossen. In den Straßen patrouillierte Militär. Nach Einbruch der Dunkelheit bestand strengstes Ausgehverbot – aber wie bisher hielt sich kaum jemand daran. Sobald es dunkel wurde, fielen immer wieder Schüsse. Rätselhaft, woher die Leute all die Munition bezogen. Offenbar gab es viel mehr illegale Schusswaffen, als man angenommen hatte. Es ging das Gerücht um, man wolle ein paar Kilometer außerhalb des Großraums der Städte den Kanal sprengen, um die dichter bewohnten Gebiete vor Überschwemmungen zu schützen. Linda spürte, dass Alex neben ihr wach lag. »Glaubst du auch, dass es Haderer ist?«, fragte sie. »Hm …« »Ich bin in sein Haus eingebrochen, um nach Beweisen zu suchen.« »Ja, das habe ich mir schon gedacht.« »Was geht bloß in seinem Kopf vor?« »Er scheint völlig durchgedreht zu sein. Ich habe ihm immer zugetraut, dass er zu extremen Reaktionen neigt. Ralf gehört zu den Besessenen, die nicht loslassen können – wie Gloria. Darin gleichen sie sich«, fügte er hinzu. 196
»Aber was genau ist sein Motiv?« »Er will aller Welt beweisen, dass er der bessere Mann ist.« »Und ist er der bessere Mann, Alex?« »Schwer zu sagen.« »Ja oder nein?« »Er hat wissenschaftlich mehr erreicht als ich. Aber er hat sich moralisch disqualifiziert.« »Was wäre geschehen, wenn deine Frau die Geburt des geklonten Kindes überlebt hätte?« Born richtete sich auf und zündete eine Kerze an. Er drückte vorsichtig den Docht herunter, um die Flamme möglichst klein zu halten. Kerzen waren momentan Mangelware. »Und wenn deine Leute nicht Haderers gelöschte Daten hätten rekonstruieren können?«, fügte Linda hinzu. Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Gut, Schwamm drüber«, sagte sie. »Denken wir lieber an die Zukunft. Was können wir tun?« »Wir müssen sein Labor finden«, sagte er. »Den Ort, wo die Flugsaurier gezüchtet werden. Wir müssen ihn vernichten, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Es kann nur eine große Halle sein oder ein alter Stollen.« Karen erschien in der Tür des Schlafzimmers. Sie hatte sich in ihre Bettdecke eingewickelt, als suche sie darin Schutz. »Irgendwas nicht in Ordnung, Kleines?«, fragte Born. »Es ist so … unheimlich in meinem Zimmer.« »Komm, leg dich zu uns.«
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Sechstes Kapitel 1 Wollte man den Warnungen der Lautsprecherwagen Glauben schenken, dann hatte sich in dieser Nacht die Anzahl der Flugsaurier verdoppelt. Inzwischen war trotz des Desasters am Citycenter auf fast allen Hochhäusern leichte Flak installiert worden. Die Lichtkegel der Suchscheinwerfer huschten unaufhörlich über den Himmel. Dennoch blieb die Trefferquote unbefriedigend. Polizei und Luftwaffe hatten bereits vier Hubschrauber durch Zusammenstöße verloren. Die Tiere zeigten wenig Respekt vor ihren lärmenden Konkurrenten. Offenbar fiel es ihnen bei ihren Attacken schwer, die Gefahr für das eigene Leben einzuschätzen. Sie erkannten Hubschrauber nicht als Feinde, sondern hielten sie für Störenfriede oder Opfer. Fast alle kamen in den Rotorblättern zu Tode – und das bedeutete auch immer das Ende für den Hubschrauber und seine Besatzung. Jagdflugzeuge wiederum waren zu schnell und gefährdeten die Bevölkerung mit ihren Bordkanonen. Ein anderes Problem bestand darin, dass abgeschossene Flugsaurier fast unweigerlich auf Häuserdächer, parkende Fahrzeuge oder in die Straßen stürzten. Einige Saurier hatten wegen ihres Gewichts Dachstühle durchschlagen. Inspektor Mahler war als Organisator der zivilen Vertei198
digung beauftragt worden, mit Oberst Holt »geeignete Abwehrpläne« zu entwickeln, so die Formulierung der Landesregierung. Der Schutz der Bevölkerung sollte absolute Priorität besitzen. Plan zwei sah vor, den Ort zu finden, wo die Saurier ausschlüpften. Ziel Nummer drei lautete: Feuer frei auf alles, was wie ein Saurier aussah. Aber Mahler wurde nicht recht glücklich damit, wie das Militär mit der zivilen Einsatzleitung zusammenarbeitete. Oberst Holt verkörperte für ihn den Typ des smarten, kleinen »Dauergrinsers«. Er gab sich zwar jovial und entgegenkommend, doch seine Freundlichkeit beschränkte sich auf Gespräche. Mahler hatte den Eindruck, er werde von allen wichtigen Informationen ausgeschlossen. Die Stadtgebiete waren weiträumig abgesperrt worden. An den Durchgangsstraßen im Hinterland standen Militärposten. Das hinderte Journalisten aus aller Welt nicht daran, mit tausenderlei Sondergenehmigungen und angeblichen und echten amtlichen Schreiben in die Städte einzudringen. An allen großen Kreuzungen sah man Sendewagen. Findige Bürger hatten die Gunst der Stunde genutzt, ihre Dachterrassen und Flachdächer an Film- und Fototeams zu vermieten. »Was halten Sie davon, das Land von Flugzeugen aus mit Infrarotkameras abzusuchen?«, fragte Mahler. »Es kann doch nicht sein, dass so viele Viecher tagsüber wie vom Erdboden verschluckt sind.« »Nach unseren Informationen verstecken sich die meisten von ihnen in den Wäldern«, sagte Oberst Holt. »Ein anderer Teil kommt aus der Ebene im Nordwesten.« »Und wo schlüpfen ihre Jungen?« 199
»Das ist in der Tat die Frage …« »Es werden immer mehr, oder?« »Unsere Suchtrupps sind unterwegs. Nach Meinung von Experten kommen dafür nur große Hallen oder Werksanlagen in Frage. Vielleicht auch noch stillgelegte Stollen.« Er faltete eine Karte auseinander und deutete auf die eingezeichneten roten Kreise. »Das sind etwa fünfundvierzig Objekte im Land. Wir glauben, dass sie nicht wieder an den Ort ihrer Geburt zurückkehren, sobald sie einmal ausgeflogen sind.« »Kann die Luftaufklärung denn nicht feststellen, woher sie kommen?« »Nicht in der Nacht oder wenn sie einzeln aufsteigen und sich erst über dem Land sammeln.« Mahler schüttelte unwillig den Kopf. Es wollte ihm nicht einleuchten, dass Lebewesen mit einer Flügelspannweite von über zwanzig Metern so schwer zu finden sein sollten. Wenn sie in die Hocke gingen und sich klein machten, waren sie immer noch größer als ein Schützenpanzer. Und sobald sie sich aufrichteten, waren sie wegen ihres langen Halses so groß wie ein dreistöckiges Haus. Oder was steckte sonst hinter der angeblich erfolglosen Suche des Militärs? Bei seiner Inspektionsfahrt kam er an einem Militärposten vorüber, der seine Flak auf dem Dach eines Supermarktes montiert hatte. Der Scheinwerfer strich suchend über den Abendhimmel. Die beiden Männer am Geschütz verharrten schweigend in vorgebeugter Position, als lauschten sie auf den Flügelschlag ihrer Gegner. Gleich darauf bellte weit hinten am Stadtrand ein Ma200
schinengewehr. Dann, von einem Augenblick auf den anderen, heulten aus allen Richtungen Luftsirenen auf, und unzählige Scheinwerferkegel überschnitten einander am Himmel. So weit das Auge reichte, war das Himmelsgewölbe schwarz von Flugsauriern. Mahler hatte noch nie so viele von ihnen auf einmal gesehen. Die Geschütze feuerten aus allen Rohren; dazwischen krachten Gewehre und ratterten Maschinenpistolen. Dumpf rollte der Donner der Kanonen von den Waldhügeln zurück. Es ist wie im Krieg, dachte er. Hubschrauber näherten sich von Osten und Westen. Kampfjets jagten in niedriger Höhe über die Stadt. Ein abgeschossener Saurier stürzte nicht weit von ihnen in das Dach eines Wohnhauses. Sekunden später schlugen Flammen aus dem Dachstuhl. Dann gab es eine Explosion. Das Haus zerbarst vor ihren Augen, als sei es aus Pappmache. Eine Druckwelle aus Staub und Steinen fegte über sie hinweg. »Auf den Boden!«, rief Mahler seinem Fahrer zu. Sie sprangen aus dem Jeep und suchten hinter der niedrigen Mauer des Parkplatzes Deckung. Die folgenden Explosionen übertrafen alles, was er je erlebt hatte. Offenbar hatte die erste Explosion das Hauptrohr der Gasleitung beschädigt. Das Feuer breitete sich durch die Kanalisation aus – und wie von Zauberhand standen plötzlich die Häuser des ganzen Straßenzuges in Flammen. Mahler starrte wie hypnotisiert auf die Tankstelle am Ende .der Straße. »Weg hier …«, sagte er. »Gleich fliegt das ganze Viertel in die Luft.« 201
Sie liefen zu ihrem Jeep. Am anderen Ende der Straße hatten sich Schaulustige versammelt. Ein Kastenwagen von World-News filmte das Inferno. Der Reporter auf dem Dach hielt sich mit einer Hand an den Aufbauten fest und sprach stehend ins Mikrofon, während das Fahrzeug in Richtung Tankstelle rollte. Mahler ließ den Jeep anhalten. Er hielt seine Polizeimarke aus dem Fenster. »Polizei. Gleich explodiert das Tanklager. Räumen Sie sofort die Straße.« Doch niemand schien ihn im Gedränge zu beachten. Mahler warf einen ungläubigen Blick auf seine Marke, als habe sie plötzlich ihre Zauberkraft verloren. Dann wandte er sich achselzuckend in den Wagen zurück. »Weiter, fahren Sie weiter …« Gleich darauf tauchte ein Blitz die Hausfassaden vor ihnen in taghelles Licht. Ihr Jeep wurde wie von Geisterhand auf einer Seite angehoben und kam mit quietschendem Geräusch an einer Hauswand zum Stehen. Das Geräusch der Detonation war so ohrenbetäubend, dass Mahlers Gehör aussetzte. Plötzlich war es totenstill um ihn her … und diese Stille wirkte noch beklemmender als der Lärm. Er sah, dass sich die Lippen seines Fahrers bewegten, aber er verstand nicht, was er sagte. Sie stiegen aus und blickten zurück auf das Inferno am Ende der Straße. Mahler bewegte seinen Zeigefinger im Ohr; langsam, unendlich langsam, kehrte sein Gehör zurück. Bei der Explosion der Tankstelle musste es viele Tote gegeben haben, denn über den eingestürzten Häusern kreisten Flugsaurier, und einige von ihnen trugen bald schon leblose Opfer in den Klauen. 202
2 Das Wasser stieg jetzt stündlich um etwa drei Millimeter. Das schien nicht viel zu sein, ergab aber über sieben Zentimeter in vierundzwanzig Stunden. Aus der Kanalisation in den niedriger gelegenen Stadtbezirken flüchteten Ratten. Nur noch eine Frage der Zeit, bis die erste Epidemie ausbrach, dachte Born. Er war mit Linda auf der Beerdigung ihrer Kollegen vom Stadtmagazin gewesen und versuchte sich zum Markt im Norden durchzuschlagen, weil dort täglich frisches Obst und Gemüse angeliefert wurde. Beim letzten Flug der Saurier waren wieder Hochspannungsmasten und Transformatoren im Umspannwerk beschädigt worden. Obwohl rund vierzig Techniker mit Unterstützung des Militärs daran arbeiteten, die Leitungen zu reparieren, gab es höchstens ein bis zwei Stunden Elektrizität am Tag. Die Versorgung brach immer wieder wegen der Überschwemmung zusammen. Da die meisten Geschäfte über keine Kühlung mehr verfügten, wurden Lebensmittel knapp. In vielen Straßen versperrten die Leichen abgeschossener Flugsaurier den Weg; sie mussten erst mit schwerem Räumgerät beseitigt werden, um für die Müllabfuhr Raum zu schaffen. Der Geruch von Moder und Verwesung breitete sich aus. Viele Passanten trugen Atemschutzmasken aus Stoff vor dem Gesicht, aber die wenigs203
ten waren bereit, sich evakuieren zu lassen, weil sie Plünderungen befürchteten. Als Born in die Straße zum Justizministerium einbog, sah er Haderer aus einem kleinen Elektronikladen kommen. Er trug ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Paket unter dem Arm. Born war einen Moment lang unentschlossen, ob er ihm lieber unauffällig folgen sollte und so vielleicht den geheimen Ort fand, wo die Sauriereier ausgebrütet wurden, oder ob er ihn einfach zur Rede stellte. Aber ehe er sich entscheiden konnte, hatte Haderer ihn schon entdeckt. »Hallo, Ralf«, sagte Born. »Das ist ja eine Überraschung.« Er streckte seine Hand aus. Haderer ergriff sie nur zögernd. Er war alt geworden. Born hatte ihn noch als agilen Vierzigjährigen in Erinnerung, der anderen wegen seiner Größe und seiner langen Beine immer einen Schritt voraus war. »Tut mir Leid, dass du den Prozess verloren hast. In letzter Zeit habe ich viel darüber nachgedacht. Möglich, dass wir unsere Entdeckungen zeitgleich gemacht haben.« »So? Was veranlasst dich denn zu diesem Sinneswandel?« »Darf ich dich einladen? Das Café um die Ecke kocht auf Gas.« Haderer schüttelte unentschlossen den Kopf. »Um unserer alten Freundschaft willen.« Born hakte sich einfach bei ihm ein und zog ihn weiter. Das Café war bis auf den letzten Platz besetzt. Wegen der ausbleibenden Fernsehsendungen suchte fast jeder nach neuen Informationen. Kneipen und Restaurants hatten sich 204
zu wahren Diskussionsforen entwickelt. Batterie betriebene Rundfunkempfänger waren ständig umlagert. Im hinteren Teil hielt ein junger Mann einen Vortrag darüber, wie man sich verhalten sollte, wenn man von einem Flugsaurier angegriffen wurde: »Stellen Sie sich tot! Lassen Sie sich notfalls ein Stück weit forttragen! Warten Sie den günstigsten Augenblick ab, um zu fliehen, sobald er Sie losgelassen hat! Flüchten Sie in ein Dickicht oder an einen Platz, wo er Sie schwer finden oder greifen kann! Falls er nicht zu hoch mit ihnen fliegt und Sie nur bei der Kleidung gepackt hält: Versetzen Sie ihm von unten einen kräftigen Schlag mit beiden Fäusten gegen den Schnabel! Möglich, dass er Sie dann loslässt oder Ihre Kleidung dem Gewicht nachgibt und reißt!« »Das ist alles ausgemachter Blödsinn«, murmelte Haderer. »Die meisten Flugsaurier töten ihre Opfer bereits, wenn sie mit dem Schnabel nach ihnen greifen.« Als sie schon wieder gehen wollten, wurde im ersten Stock ein Tisch frei. Born bestellte ein Frühstück für sie beide. Es war gut und reichlich, mit frischen Brötchen, Mett und Rühreiern, und Haderer verschlang es fast gierig, als sei er völlig ausgehungert oder habe schon lange keine Gelegenheit mehr gehabt, in Ruhe zu essen. »Elektronik für deine Versuche?«, erkundigte sich Born. Er zeigte auf das in Packpapier eingeschlagene Paket neben Haderer. »Oh, nein. Das ist nur ein repariertes Telefon.« »Sieht momentan schlecht aus mit dem Telefonieren.« »Ja, die Telefonleitungen selbst führen zwar ihren eigenen Schwachstrom, der aus dem Telefonnetz kommt. Aber 205
die modernen Telefone benötigen zusätzlichen Strom aus dem Netz. Dies hier ist ein altes Drehscheibentelefon, das nur den Strom aus dem Telefonnetz benötigt.« »Verstehe. Dann gehörst du zu den Glücklichen, die noch Verbindung zur Außenwelt haben. Wohnst du noch in deinem alten Haus?« Die Frage war bewusst beiläufig gestellt, doch Haderer warf ihm einen wachsamen Blick zu. »Ja, aber ich bin selten dort.« »Du arbeitest wieder?« »Nur private Studien.« »Hör mal, Ralf, falls ich den Nobelpreis für meine Entdeckungen bekomme …« »Reden wir nicht mehr darüber.« »Doch, doch, es liegt mir ernsthaft auf der Seele, und das ist keine leere Floskel. Ich finde, dann sollte ich die Gelegenheit ergreifen und deinen Anteil an unserer Arbeit öffentlich machen. Vielleicht könnte dir das ja helfen, dich zu rehabilitieren.« Haderer warf ihm einen düsteren, fast deprimierten Blick zu. »Nein, das ist vorbei. Ich bin als Wissenschaftler ‚verbrannt’, würde man im Agentenjargon sagen. Mich nimmt keiner mehr, egal, was ich leiste.« »Ich hab’ sogar schon mal darüber nachgedacht, dir einen Anteil von meinem Preisgeld zukommen zu lassen? Brauchst du Geld?« »Nein, es geht mir gut.« »Ich trag’s dir auch nicht nach, dass Gloria sich für dich entschieden hat, Ralf. Wie sollte ich auch? Das musst du mir einfach glauben. Ich hatte nie die Absicht, dich wegen 206
unserer Konkurrenz fertig zu machen. Ich halte dich nicht mal moralisch dafür verantwortlich, dass Gloria versucht hat, auf diese etwas eigensinnige Weise unsterblich zu werden.« »Im Ernst?«, fragte Haderer. Er musterte Born mit allen Anzeichen der Skepsis. »Im Grunde ist es gar keine Frage der Moral.« »So? Das sehen die meisten aber anders!« »Weil man zu leicht Moral mit Prinzipien oder abstrakten Wertvorstellungen verwechselt. Entscheidend ist doch, ob man mit seinem Verhalten anderen Menschen schadet. Ein Kind, das ein genaues Duplikat seiner Mutter ist, leidet nur darunter, wenn es als Außenseiter von der Gesellschaft abgelehnt wird. Bei genügend gesellschaftlicher Akzeptanz würde es diese Herkunft womöglich sogar als Privileg ansehen. Aber wie auch immer, fragen wir solch ein Kind, ob es lieber nicht hätte geboren werden wollen, dann wird es vermutlich genauso an seinem Leben hängen und sein Recht auf Leben beanspruchen wie jedes andere Kind.« »Aus dieser Sicht habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet.« »Die wirkliche Tragödie ist, dass es bei der Geburt starb.« »Ehrlich gesagt, war das vor allem ein … nun ja, ein technisches Problem.« »Du meinst, weil momentan noch niemand so weit ist?« »Weil die Fehlerquote die Erfolge bei weitem übertrifft. Trotz der gegenüber Tieren anders gearteten Duplikationsmöglichkeiten beim Menschen. Und weil das unter Umständen auch noch für lange Zeit so bleiben wird.« 207
»Anders als bei denen da oben?«, fragte Born. Er beugte sich vor und deutete durch das Fenster des Cafés zum Himmel. Haderers Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. Born sah seinem Gesicht an, dass er herauszufinden versuchte, ob es als Anspielung oder eher als beiläufige Bemerkung gemeint war. »Ja, da hat jemand offenbar sehr erfolgreich gearbeitet.« »Mit altem Genmaterial?« »Vermutlich.« »Aus dem ewigen Eis?« »Das wäre nahe liegend. Wo sonst sollte sich die DNS so lange erhalten haben?« »Irgendeine Ahnung, wer der geniale Techniker gewesen sein könnte, Ralf?« »Nein.« Born goss sich Tee aus der Kanne ein. Er blies ins Glas und trank den Tee in winzigen Schlucken. Dann stellte er das Glas ab und lehnte seinen Kopf zurück, als gebe es dort oben über ihm an der Decke irgendetwas, das seine ganze Aufmerksamkeit verlangte. »Was könnte dieser mysteriöse Jemand damit bezwecken, Ralf?« »Wie soll ich das wissen?« »Du hast dir nie diese Frage gestellt?« »Ich bin zwar als Wissenschaftler von Natur aus neugierig«, erklärte Haderer amüsiert. »Aber manche Fragen disqualifizieren sich selbst.« »Könnte es verletzter Stolz sein?« »Das solltest du besser einen Psychologen fragen.« 208
»Oder will jemand einfach nur aller Welt beweisen, dass er besser ist?« Plötzlich hörten sie von unten erregtes Stimmengemurmel. Jemand rief den Treppenaufgang hinauf: »Sie kommen …!« Born und Haderer folgten den anderen hinunter vor das Haus. Auf der Straße hatte sich eine riesige Menschenmenge gebildet. Born blickte überrascht zum Himmel. »Mein Gott, sieh dir das an …« Hoch oben am Himmel schwebten ein paar hundert Flugsaurier. Aus dieser Entfernung war ihr überlanger Schnabel mit dem charakteristischen Wulst am Hinterkopf kaum noch zu erkennen. Sie flogen in so großer Höhe, dass man sie für Zugvögel oder Schwalben halten konnte. Es war das erste Mal, dass man tagsüber so viele von ihnen sah, vielleicht, weil ihr Instinkt sie immer noch davor bewahrte, bei Tageslicht menschlichen Siedlungen nahe zu kommen. »Sie probieren es aus«, flüsterte er. »Sie wollen herausfinden, wie weit sie sich vorwagen können.« Gleich darauf heulten Luftschutzsirenen auf. Am Stadtrand begann ein Geschütz zu feuern. Dann sahen sie vom Militärstützpunkt im Süden Kampfhubschrauber aufsteigen. »Gehen wir ins Café zurück«, schlug Born vor. »Ich würde gern noch mit dir reden.« Er zündete sich eine Zigarette aus der Packung an, die jemand auf dem Nebentisch vergessen hatte. »Was mir an der ganzen Sache ein großes Rätsel ist«, sagte er, »wo zieht man solche Mengen von Sauriern auf? 209
Wie bringt man sie unter? Das Problem ihrer Replikation hat unser geheimnisvoller Mister X offensichtlich gelöst. Aber wie versteckt man so viele Tiere? Ich habe da eine Theorie entwickelt: Alle Saurier stammen von einem oder wenigen Paaren. Er produziert mit diesen Pärchen so viele Eier wie er kann und lässt sie ausbrüten. Kurz vor dem Schlüpfen werden die Eier dann an sicheren Plätzen in der Umgebung ausgesetzt.« »Hört sich plausibel an«, bestätigte Haderer mit unmerklichem Grinsen. »In abgelegenen Waldgebieten, in Biotopen oder im hohen Schilf unten am See.« »Hm, es gibt im See sogar eine unbewohnte Insel«, sagte Haderer. »Damit wäre das Raumproblem gelöst. Doch sind die jungen Saurier sofort flugfähig? Wahrscheinlich nicht. Selbst wenn sie sehr schnell flügge werden, brauchen sie anfangs Nahrung. Aber so viele Flugsaurier können unmöglich von einem einzigen Mann versorgt werden. Er muss also Helfershelfer haben!« »Du meinst, hier in der Gegend gibt es überall ausgesetzte junge Flugsaurier?« »Und sie werden von seinen Leuten großgezogen – vielleicht nur wenige Tage lang. Aber jemand muss sich um sie kümmern.« Born drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und wandte sich langsam nach ihm um. »Du wirst dich wahrscheinlich fragen, warum ich dir das alles erzähle, Ralf? Die Antwort ist ganz einfach. Was sagt dir die so genannte Offenbarung des Leviathan?« 210
»Die Offenbarung des Levia …?« »Teil II, b4«, ergänzte Born, als spiele das eine Rolle. »Was soll das sein?« »Sage mir aber, Vernichter der Welt, von wessen Hand Du wieder auferstehen willst, um Dein Werk zu vollenden? Denn er soll Dein getreuer Statthalter sein auf Erden, wenn die Dunkelheit Deines Reiches angebrochen ist, und zu wahren Ehren kommen kraft Deines Herzens, kraft Deiner Zunge, kraft Deines Blutes!« Born griff in seine Jackentasche und hielt ein Handy hoch. »Ich werde jetzt mit diesem Telefon meinen guten alten Freund Inspektor Mahler von der Einsatzleitung anrufen …« »So? Wozu denn?« »Damit du die Polizei zu deinem gegenwärtigen Labor führst. Wahrscheinlich finden wir dort auch Unterlagen über die Offenbarung des Leviathan.« »Mein Labor? Wer sagt denn, dass ich ein Labor betreibe?« »Bring Inspektor Mahler einfach nur zu dem Ort, an dem du dich in den letzten Tagen nachweislich aufgehalten hast. Dafür lassen sich sicher Spuren finden? Es war nicht dein Haus am Deich, oder?« Haderer musterte ungläubig das Telefon in Borns Hand. »Unsinn – das Gerät läuft auf Akku. Du hattest gar keine Möglichkeit, es aufzuladen!« »Doch, unser Institut verfügt über ein Notstromaggregat. Erinnerst du dich noch daran, wie damals während der ersten Arbeiten am Kanal der Strom ausfiel? Die Versorgung brach zusammen, weil die großen Maschinen zu viel Ener211
gie abzapften. Aber unsere Kulturen am nächsten Morgen waren in Ordnung. Die Kühlung hatte weitergearbeitet.« Haderer war aufgestanden. Born drehte langsam seinen Körper mit dem Handy weg, damit er nicht danach greifen konnte, während er Inspektor Mahlers Nummer wählte. Haderers Faust traf ihn völlig unerwartet am Kopf. Er kippte mit dem Stuhl nach hinten und rappelte sich benommen wieder vom Boden auf. Sein zweiter Schlag erwischte ihn mit voller Kraft am Kinn, als er – noch nicht wieder ganz auf den Beinen – an der Tischkante Halt suchte. Bevor er zum zweiten Mal nach hinten kippte, wurde es dunkel vor seinen Augen.
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3 Die DNS-Analysen, die unter der Leitung Professor Breuers von den abgeschossenen Flugsauriern genommen worden waren, hatten ergeben, dass alle Tiere von insgesamt sieben Weibchen und zwei Männchen abstammten. Sechs der Weibchen gehörten demselben genetischen Stamm an: dem Ursprungspaar. Da das erste Paar im Zoo zu Tode gekommen war, nahm Mahler an, dass irgendwo in der näheren Umgebung sieben Saurier zu Brutzwecken gehalten wurden. »Es kann nur eine größere Halle oder ein stillgelegter Stollen sein«, überlegte er. »Unten am Güterbahnhof gibt es ein paar große Hallen«, sagte Linda. »Ein Tierhändler namens Kaden, der auf mich nicht gerade vertrauenswürdig wirkte, als ich nach Hinweisen suchte. Er hält sogar Mutanten.« Sie konnte Inspektor Mahler nicht gut gestehen, dass sie in Haderers Haus eingebrochen und dabei auf ein Foto des Troijons gestoßen war. »Mutanten?« »Kaninchen mit Stummelflügeln.« »Mit …?« »Ob nun Gendefekt oder Absicht, Kaden verfügt jedenfalls über die Technik, um Krokodileier auszubrüten. Er hält Nil-Krokodile in eigenen Zuchtbecken.« 213
»Sind Krokodileier nicht zu klein, um als Wirtseier für Flugsaurier zu dienen?«, fragte Mahler an Born gewandt. »Es sei denn, man wiederholt den Versuch so lange, bis man einen Treffer landet – etwas kleinere Tiere innerhalb der genetischen Bandbreite, die aus irgendeinem Grund auch in den engen Wirtseiern überleben könnten. Oder, Professor Breuer?« »Das wäre zumindest eine Erklärung für die Existenz der Flugsaurier.« »Warum haben Sie uns nicht früher von diesem Tierhändler berichtet, Linda?«, fragte Mahler. »Weil mich niemand danach gefragt hat. Und seit wann arbeiten wir eigentlich zusammen, Inspektor? Ich meine, solche Zusammenarbeit sollte doch auf Gegenseitigkeit beruhen?« »Fassen wir mal zusammen«, versuchte Born zu schlichten. »Mein alter Kollege Ralf Haderer könnte mit diesem Kaden zusammenarbeiten. Vielleicht stammt auch der Troijon aus seinem Labor. Dann ist Doktor Haderer sein Schöpfer. Ich kann mir gut vorstellen, dass es einer seiner Vorversuche war, um aus genetischem Material Klone zu erzeugen.« »Gut, nehmen wir uns diesen Tierhändler mal vor«, sagte Inspekteur Mahler. Er gab seinen Beamten ein Zeichen. Diesmal hausten keine Obdachlosen auf den stillgelegten Gleisen. Der Wohnanhänger war verschwunden. Inspektor Mahler hatte das Gelände um den ehemaligen Güterbahnhof weiträumig absperren lassen. Das Licht im Süden hatte eine eigentümliche Färbung, 214
als schillerten niedrige Wolkenpartikel in der Sonne, und über den Flachdächern hing Dunst. Es war, als stehe die Luft über dem Land still. Die geringste Bewegung trieb ihnen den Schweiß auf die Stirn. Mahler klopfte an das eiserne Rolltor der Halle, aber drinnen rührte sich nichts. »Gehen wir einfach hinein«, sagte Linda. »Die Hallen sind ziemlich weitläufig. Möglich, dass Kaden uns gar nicht hören kann.« Mahler nickte unwillig. Es behagte ihm immer noch nicht, dem Ratschlag einer Frau zu folgen, erst recht, wenn sie ihm schon einmal einen Korb gegeben hatte. Aus einem Schacht im Dach fiel diffuses Licht in die Halle. Die Regale an den Wänden waren leer. Aber von weiter hinten hörte man das Geräusch von Motoren. Ein Benzingenerator, dachte Mahler. Er ging auf die offene Eisentür am Ende der Halle zu, blickte in den Nebenraum und winkte den anderen, ihm zu folgen. Sie bogen in einen schmalen Korridor ein, durchquerten zwei Hallen, die Linda noch nicht kannte, und standen plötzlich vor einem etwa drei mal fünf Meter großen Generator. Seine grauen Außenbleche reichten bis zur Decke. An den Anschlüssen erkannte man, dass es sich um zwei 1500-PS-Dieselmotoren handelte. »So viel zur Stromversorgung«, sagte Mahler. »Was ist hinter der Eisentür?« »Keine Ahnung. So weit war ich damals nicht.« Inspektor Mahler drückte die Klinke und schob vorsichtig die Tür auf. Der Blick, der sich ihm bot, übertraf alle Erwartungen. 215
Er betrachtete verdutzt und mit leicht geöffnetem Mund die lange Reihe der Apparaturen. »Was ist los, Inspektor?«, erkundigte sich Linda hinter ihm. »Haben Sie eine Erscheinung?« »Sehen Sie sich das mal an …!« Die Halle war lang gestreckt und fensterlos, mit einer umlaufenden Galerie aus Eisenrosten unter der Decke. Auf den etwa dreißig Tischen standen je zwei beleuchtete Brutgeräte, etwa so groß wie Elektroherde. Durch die Sichtfenster sah man beige schimmernde Eier. Sie glichen denen auf dem Opferaltar in den Bergen. »Ah, Volltreffer …« Born vergewisserte sich mit schnellem Blick, dass jeder Brüter drei Eier beherbergte. Es war nicht zu erkennen, wann die nächsten Tiere schlüpfen würden. »Hier also werden die Eier ausgebrütet. Aber wo sind die Elterntiere?« Er blickte sich suchend um. »Vielleicht nebenan?« Linda steuerte auf die Tür der benachbarten Halle zu. »Überlassen Sie das lieber uns«, warnte Mahler. Er gab seinen beiden Beamten ein Zeichen. Im selben Moment flammten starke Scheinwerfer an der Hallendecke auf und eine Stimme rief von der Galerie: »Legen Sie Ihre Waffen auf den Boden!« Der Mann auf dem Eisenrost trug einen roten Overall und hielt ein Schnellfeuergewehr in den Händen. Es sah nicht so aus, als werde er zögern, es zu gebrauchen. »Kaden? Alfons Kaden?«, fragte Inspektor Mahler. Er beschattete seine Augen mit der Hand, um im Scheinwerferlicht besser sehen zu können. »Das Gelände ist weit216
räumig von Polizei umstellt. Sie haben nicht die geringste Chance, hier lebend herauszukommen, wenn Sie auf uns schießen.« Ein Schuss aus dem Schnellfeuergewehr krachte über ihren Köpfen in die Betonwand. Sie hörten, wie sein Querschläger mit blechernem Klang gegen einen Brüter prallte. »Waffen auf den Boden!« »Tun Sie, was er sagt«, befahl Inspektor Mahler. Er zog mit spitzen Fingern seine Waffe aus dem Schulterhalfter und legte sie vor sich auf den Boden. Die beiden anderen Beamten waren junge Burschen Anfang Zwanzig. Born hatte den Eindruck, dass sie erleichtert waren, nicht mit einem Schnellfeuergewehr konkurrieren zu müssen. Sie legten wie Mahler ihre Pistolen auf dem Betonboden ab und schoben sie mit den Füßen ein Stück weit weg. »Auch die Handys und Funksprechgeräte …« Linda reichte Born ihr Telefon. Sie hatte es morgens in der Redaktion aufgeladen, weil es dort ein Notstromaggregat gab, und Born legte es zusammen mit den anderen Geräten an die Betonwand. »Gehen Sie jetzt nach nebenan«, sagte der Mann auf der Galerie. »Wozu denn?«, erkundigte sich Mahler. »Das werden Sie schon noch herausfinden.« »Sie glauben doch nicht, dass Sie irgendeine Chance haben, Kaden?«, fragte Linda. »Draußen wimmelt es von Polizei.« »Lassen Sie das mal meine Sorge sein.« Die Halle nebenan war kleiner und stand bis auf zwei Container leer. Durch den Schacht in der Decke fiel kaum 217
Licht. Sie besaß nur eine Tür, und als sich der Schlüssel hinter ihnen im Schloss drehte und ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, ahnte Mahler, dass es irgendeinen Weg nach außen, jenseits der Absperrungen geben musste, durch den Kaden sich absetzen würde. »Was ist in den Containern?«, fragte Born. »Und wie sind sie hier hereingekommen, wenn es nur die Eisentür gibt?« »Ja, gute Frage.« Inspektor Mahler musterte nachdenklich das Dach. »Ein Rolldach! Sehen Sie die Schienen an den Schmalseiten?« Er lief wie ein Spürhund an den Betonwänden entlang auf der Suche nach einem Schalter, mit dem man das Dach bewegen konnte, aber als er ihn gefunden hatte, stellte sich heraus, dass der Elektromotor nicht reagierte. »Hätte ohnehin keinen Zweck gehabt«, sagte Born achselzuckend. »Auch von den Containern aus würden wir niemals die Decke erreichen.«
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Siebtes Kapitel 1 Als Inspektor Mahlers Leute das Gelände stürmten, kreisten Hubschrauber des Militärs über dem Gelände, und auf dem benachbarten Hügel war leichte Flak gegen aufsteigende Flugsaurier in Stellung gebracht worden. Doch die Elterntiere wurden offenbar an einem anderen Ort gehalten. In einer der Hallen entdeckten sie den Tunnel zum Flussufer, durch den Kaden entkommen war. Sein Eingang lag unter der Abdeckung eines leeren Zuchtbassins versteckt. Das mannshohe Rohr hatte früher als Abfluss gedient, wurde aber seit der Anbindung des Güterbahnhofs an das Kanalnetz nicht mehr benutzt. In den beiden Containern fanden Mahlers Beamte Reste von Sauriereiern. Es bestärkte Borns Vermutung, dass die Eier nur zum Ausbrüten zu Kaden gebracht worden waren und kurz vor dem Schlüpfen an verschiedenen Punkten in den Wäldern ausgesetzt wurden. In dieser Nacht zerstörte der Angriff der Flugsaurier noch einmal die provisorisch reparierten Masten der Überleitungen. Offenbar gerieten Flugsaurier bei ihrer typischen Flughöhe und wegen ihrer Flügelspannweite fast zwangsläufig in die Kabel. Die Stromversorgung brach um 23.10 Uhr zusammen, und das Wasser aus dem überlaufenden 219
Kanal begann wieder zu steigen. In den tiefer gelegenen Stadtteilen stand es jetzt fast zwanzig Zentimeter hoch. Der Reaktor draußen am Mittellauf des Kanals war abgeschaltet worden. Das Kraftwerk befand sich zwar zwanzig Kilometer außerhalb der Städte, aber da es tiefer lag, würde das von den Stadtgebieten zurückströmende Wasser in der Elektrik zu Kurzschlüssen führen. Es handelte sich um einen modernen Druckwasserreaktor. In diesem Reaktortyp wird Wasser bei einem Druck von 150 bar auf eine Temperatur von etwa 320 Grad Celsius erwärmt. Dabei gibt es Wärmeenergie in einem Dampferzeuger ab, dessen Dampf wie in jedem thermischen Kraftwerk Turbinen antreibt. Steigt die Temperatur im Reaktor durch den Ausfall der Kühlung an, werden die Brennelemente so heiß, dass ihre Hüllen schmelzen und die Kernspaltungsrate wieder zunimmt. Bei diesem Modell wurden die Notspeisewasserpumpen von vier Notstromdieseln angetrieben. Das Militär war zusätzlich mit schweren Dieselgeneratoren angerückt, um das System in Gang zu halten, falls die Pumpen versagten. Wegen des steigenden Hochwassers wurden alle Notstromleitungen wasserfest verlegt. Lautsprecherwagen fuhren durch die Straßen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Born hatte einige Kanister Benzin organisiert und versuchte mit Linda und Karen ein paar Sauriereier für Analysen im Institut zu retten. Die Anweisung der Einsatzleitung lautete, alle Eier aus den Brutgeräten auf den Platz vor dem alten Güterbahnhof bringen zu lassen und sie noch in der Nacht zu verbrennen. Als sie auf den Platz einbogen, bot sich ihnen ein ge220
spenstischer Anblick. Das Areal war von Scheinwerfern aus einem halben Dutzend Polizeifahrzeugen erhellt. Die Beamten brachten gerade die letzten der etwa hundertsechzig Sauriereier aus den Hallen und legten sie in der Mitte des Platzes ab. Born stieg aus und ging auf den Beamten zu, der die Verbrennung leitete. »Bondt-Institut«, sagte er und reichte ihm ein Schreiben. »Dies ist eine Verfügung des Ministeriums, die von Professor Breuer, dem Leiter der Forschungsgruppe, gegengezeichnet wurde. Sie berechtigt uns, drei Eier für wissenschaftliche Untersuchungen sicherzustellen.« »Was Sie nicht sagen? Ich habe andere Order. Meine Anweisung lautet, alle Sauriereier zu vernichten.« »Aber dies ist eine Anweisung des Ministeriums …« »Ich bekomme meine Anweisungen ausschließlich von der Einsatzleitung.« »Dann rufen Sie jetzt auf der Stelle Ihre Vorgesetzten an!«, sagte Born mit scharfer Stimme. »Ich werde Sie persönlich dafür verantwortlich machen, falls die Einsatzleitung keine Kenntnis von diesem Schreiben erhält.« Der Einsatzleiter war zwar einen ganzen Kopf kleiner als Born, und seinen harten Gesichtszügen nach zu urteilen, gehörte er nicht zu dem Typ, der sich schnell einschüchtern ließ. Trotzdem kletterte er achselzuckend in den Führerstand seines Wagens und griff zum Funksprechgerät. »Einsatzleitung? Inspektor Bahr am alten Güterbahnhof. Ich habe hier jemanden mit einem Schreiben vom Ministerium …« 221
Plötzlich war wieder jenes eigentümliche Sirren in der Luft, das sie inzwischen so gut kannten. »Paps …!«, rief Karen und zeigte zum Himmel. »Sieh dir das an!« »Schnell in den Wagen«, sagte Born. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, bevor die ersten Flugsaurier auf dem Platz landeten. Er schätzte, dass es mindestens hundert bis hundertfünfzig Tiere waren. Die Polizeibeamten hatten sich wie sie in ihre Fahrzeuge geflüchtet und beobachteten das Schauspiel durch die Scheiben. Sie wagten es nicht zu schießen. »Sieht ganz so aus, als seien sie nur wegen der Eier gekommen«, flüsterte Linda. Die Flugsaurier standen mit gesenkten Flügeln da und gaben merkwürdig sirrende Laute von sich. »Als ob sie sich miteinander verständigten«, sagte Karen. Sie hatten eine Art Schutzwall auf dem Platz gebildet. Die außen stehenden Tiere beobachteten argwöhnisch die Umgebung. Am Nachmittag war die Flak vom gegenüberliegenden Hügel wieder abgezogen worden. Aber angesichts der Fahrzeuge wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, das Feuer zu eröffnen. Eines der Tiere stupste ein Ei an und griff dann vorsichtig mit dem Schnabel danach. Es hob den Kopf und gab einen triumphierenden Laut von sich. Die anderen stimmten sofort in sein Freudengeheul ein. Weitere Flugsaurier landeten auf den Dächern der Hallen und reckten ihre Hälse nach den Eiern. Gleich darauf stieg der erste Saurier mit einem Ei im Maul auf, kreiste 222
noch einmal laut krächzend über dem Gelände und bog dann nach Nordwesten ab. Das schien das Signal für die anderen zu sein, es ihm gleich zu tun. Sie näherten sich behutsam den Eiern und trugen sie in ihren Schnäbeln fort. Trotz der scharfen, verschränkten Zähne schien keines der Eier dabei zu zerbrechen. Zwei der Tiere befanden sich dicht vor ihnen. Einer der Saurier blickte gleichgültig über sie hinweg. »Nicht bewegen …«, flüsterte Born. Gleich darauf hörten sie, wie ein anderer auf dem Dach ihres Landrovers landete. Das Blech knarrte beängstigend und bog sich eine Handbreit über ihren Köpfen durch, doch der Überrollbügel verhinderte, dass die Kabine eingedrückt wurde. »Merkwürdig, sie beachten uns gar nicht«, sagte Born. »Sie sind ganz damit beschäftigt, ihre Brut in Sicherheit zu bringen.« »Aber woher wissen sie denn, welches ihr Ei ist?«, fragte Karen. »Sie wissen es gar nicht. Es ist so etwas wie sozialer Instinkt. Rettest du mein Ei, rette ich deines …« »Du meinst, sie leben in sozialen Verbänden?«, fragte Linda ungläubig. »Was wissen wir schon über diese Lebensform!« Nach und nach holte jedes der Tiere ein Ei ab, und wenig später war der Platz leer. Die letzten Flugsaurier schwangen sich von den Flachdächern auf. Der Einsatzleiter stieg aus seinem gepanzerten Polizeifahrzeug aus und kam zu ihnen herüber. 223
»Damit hat sich Ihre Order vom Ministerium wohl erledigt?«, erklärte er mit unmerklichem Grinsen, als Born die Scheibe herunter kurbelte. »Und wir haben bald hundertsechzig Flugsaurier mehr.« Wegen des einsetzenden Dauerregens stieg das Wasser noch schneller. An vielen Stellen stand es bereits einen halben Meter hoch. In einigen Straßen wurde der Verkehr nur noch mit Schlauchbooten aufrechterhalten. Abwässer aus der Kanalisation vermischten sich mit dem Regenwasser und dem überlaufenden Kanal. Über allem lag der Geruch von Abfällen und Fäkalien. Es hieß, die Regierung wolle den Kanal etwa zwanzig Kilometer westlich sprengen, um den Zufluss zu stoppen, aber Mahler hielt das für unwahrscheinlich. Er hatte sich mit dem Einsatzstab die Geländeformationen angesehen. Es gab auf dieser Strecke nur einen Punkt, bei dem das Kanalwasser kontrolliert ablaufen würde. Doch in der Abflussrinne lag ein Dorf, das als Baudenkmal eingestuft war … Inzwischen gab es die ersten Fälle von Ruhr und Legionärskrankheit. Die Legionärskrankheit vermehrt sich besonders leicht in wärmeren Gewässern. Wird die Kanalisation von der Sonne aufgeheizt, scheint das ein idealer Nährboden zu sein. War der Erreger erst einmal in die Wasserversorgung eingedrungen, verbreitete er sich vor allem über Duschen und Wasserhähne. Die Symptome glichen denen einer schweren Lungenentzündung mit hohem Fieber, Husten und Atembeschwerden. Inspektor Mahler sah jetzt immer häufiger hustende 224
Menschen. Altere und immun geschwächte Menschen waren besonders gefährdet, bei ihnen verlief die Krankheit oft tödlich. Da sich Penicillin als unwirksam erwiesen hatte, flogen Militärhubschrauber große Mengen des Antibiotikums Erythromycin ein. Bei Ruhr kam es wegen der toxischen Wirkung der Shiggellen und des Salz- und Wasserverlustes schnell zu Koliken, Erbrechen und Kreislaufzusammenbrüchen. Der Dauerregen wurde zum Problem, weil landende und startende Flugsaurier nachts die Dachpfannen beschädigen und Regenwasser in die Häuser eindrang. Immer häufiger tauchten Saurier jetzt auch tagsüber in den Straßen auf. Sie saßen auf hohen Mauern und Dächern und beobachteten ungeniert das Treiben in den Straßen. Sobald auf sie geschossen wurde, griffen drei oder vier von ihnen den Schützen an. Offenbar hatten sie inzwischen begriffen, wann Gefahr für sie drohte. Breuer nahm an, dass sie mindestens so intelligent waren wie Delphine oder Wölfe, die in Rudeln jagten und sich gegenseitig die Beute zutrieben. Das Militär hatte etwa vierzehnhundert Scharfschützen in den Stadtgebieten postiert. Die meisten Behörden und Verwaltungen waren geschlossen. Von den Firmen arbeitete höchstens noch ein knappes Viertel. Das Personal war vor allem damit beschäftigt, Geräte und Waren vor Wassereinbruch und Bränden zu schützen. Brände gehörten inzwischen zum alltäglichen Bild. Fast jede Nacht gingen Häuser in Flammen auf. Da die Stromversorgung immer wieder zusammenbrach, führten abgeschossene und auf Dächer stürzende Flugsaurier fast zwangsläufig 225
zu Bränden durch umstürzende Gaslampen und Kerzen, oder weil Flammen aus offenen Feuerstellen um sich griffen. Der Regen hatte nachgelassen, und Inspektor Mahler stülpte den Deckel über seine altmodische AdlerSchreibmaschine und machte sich auf den Weg zum Naturkundemuseum. In der letzten Sitzung des Katastrophenrats hatte jemand die Frage gestellt, ob es nicht möglich sei, Flugsaurier an ihrer biologischen Schwachstelle anzugreifen. Niemand wusste genau, was darunter zu verstehen sein sollte. Doch der Begriff »biologische Schwachstelle« gefiel dem Polizeipräsidenten so gut, dass er vorgeschlagen hatte, Doktor Born als Experten hinzuzuziehen. Vom Parkplatz hinter dem Polizeipräsidium aus sah Mahler einen Flugsaurier auf dem Flachdach der ALBENGA-Versicherung sitzen. Das Tier beobachtete ihn mit unverhohlenem Interesse. Er spannte demonstrativ seinen Regenschirm auf, als biete das Schutz vor ihm. Als er in den Wagen stieg, war das Dach leer. Gleich darauf entdeckte er den Saurier weit hinten in großer Höhe über den Schornsteinen der Werksanlagen. Er wirkte dort so klein und verloren wie irgendein x-beliebiger Vogel. Merkwürdig: Wenn man nur lange genug mit ihnen zu tun hatte, schien es fast, als gewöhne man sich an sie … Born wollte gerade von der Mittagspause ins Institut zurückkehren, als Inspektor Mahler an seiner Wohnungstür klingelte. »Kann mir denken, warum Sie kommen«, sagte Born 226
und reichte ihm die Hand. »Weil ich nicht ganz unschuldig an dem Schlamassel bin, in dem wir uns momentan befinden?« »Unschuldig?«, fragte Inspektor Mahler verständnislos. »Wegen meines Streits mit Haderer.« »Oh, verstehe. Nein, deswegen bin ich nicht hier. Die Einsatzleitung möchte Sie bei der nächsten Sitzung des Katastrophenrats als Experten hinzuziehen. Jemand kam auf die Idee, Saurier ließen sich vielleicht biologisch bekämpfen?« »Möglich, aber im Augenblick wüsste ich nicht, wie.« »Natürlich interessieren mich alle Fakten, die Ihren Kollegen Haderer als Urheber dieses …« – Mahler zögerte – »Weltuntergangs überführen könnten. Was wohl niemand ganz nachvollziehen kann, ist sein Motiv.« »Trinken wir eine Tasse Kaffee?« »Gern.« Born schloss die Tür zum Institut auf und zog seinen Kittel an. »Setzen wir uns an meinen Arbeitsplatz, ja? Ich würde Ihnen gern etwas zeigen.« Inspektor Mahler registrierte mit neidvollem Blick, dass der Kaffeeautomat des Instituts arbeitete, als habe es nie einen Kurzschluss oder Stromausfall gegeben. Er hatte seit langem keinen so guten Kaffee mehr getrunken. Born setzte sich an seinen Tisch und rief ein paar Daten von der Festplatte ab. Eine Struktur aus phosphoreszierenden Waben erschien auf dem Bildschirm. Die Klassifizierung in der Textmaske über dem Bild lautete: 227
Enzym VQ32 Innerhalb der Waben war ein winziger Bereich von der Größe eines Streichholzkopfes rot markiert. Born zoomte ihn noch näher heran, bis man mehr Einzelheiten erkannte. »Das sind Kopien aus dem Elektronenmikroskop. Achten Sie auf die Markierung. Ich nehme die Vergrößerung wieder zurück. Was sehen Sie jetzt?« »Der Inhalt der Markierung ist verschwunden.« »Zwanzigfach geringere Vergrößerung, und man sieht nichts mehr vom Reparaturmechanismus der DNS! Was sich in dieser Markierung verbirgt, ist die Lösung des Rätsels. In dieser Winzigkeit finden Sie den Grund dafür, dass nicht ich, sondern Haderer den Nobelpreis für Biologie bekommen sollte.« »Wie soll ich das verstehen?« »Weil ich es irgendwann versäumt habe, mir diesen Bereich in zwanzigfach höherer Vergrößerung anzusehen, haben wir jetzt ein Problem mit den Flugsauriern.« Inspektor Mahler musterte ihn ungläubig. »Sie machen sich dafür verantwortlich?« »In gewissem Sinne schon.« Mahler schüttelte energisch den Kopf. »Nein, was wir momentan erleben, ist das Ergebnis dessen, was Haderer aus seiner Entdeckung gemacht hat. Sie können unmöglich die Schuld dafür übernehmen.« »Wann ist man schuldig und wann nur Verursacher, Inspektor? Haderer war mir wissenschaftlich einen Schritt voraus. Es stand mir frei, seine Aussagen zu überprüfen. 228
Aber die Aussicht auf den Preis hat mich geblendet! Ich habe meine Ohren vor seinen Argumenten verschlossen. Ich wollte sie verschließen, um es genau zu sagen.« »Unter wissenschaftlichen Konkurrenten ist das nichts Ungewöhnliches, oder?« »Wir kennen uns schon seit der Schulzeit. Wir sind, solange wir denken können, Konkurrenten gewesen, ob bei den Mädchen oder den Klassenarbeiten. Wir haben uns schon immer bis aufs Blut bekämpft.« Aus irgendeinem Grund, den er nicht weiter erklären konnte, betrachtete Inspektor Mahler das fast schon als einen Vertrauensbeweis, ja eine Freundschaftserklärung. »Wie Sie vielleicht wissen«, fuhr Born fort, »hat Haderer sogar gegen mich prozessiert, um sein Recht zu bekommen.« »Aber der Prozess ging negativ für ihn aus?« »Weil Glorias Vater es lieber sah, dass ein unbescholtener Wissenschaftler den Preis erhielt – sein Schwiegersohn, der Mann seiner Tochter.« »Oh, das wusste ich nicht …« »Man übte massiven Druck auf Haderer aus.« »Ah, verstehe. Darf ich fragen, welcher Art dieser Druck war?« »Es gab da gewisse Verfehlungen, die ihm schaden konnten, wenn sie an die Öffentlichkeit gelangten.« »Sie können nicht darüber reden, Doktor? Berechtigt ihn das denn, eine ganze Region ins Unglück zu stürzen?« »Nein. Aber wir haben sein Leben ruiniert.« »Und nun ruiniert er das Leben anderer?«
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Wegen der Einbahnstraßen fuhr Inspektor Mahler gewöhnlich durch die Melanchthonstraße zum Präsidium zurück. Doch weil die Unterführung unter Wasser stand, bog er über die Hochbrücke in den höher gelegenen Kreisverkehr ein. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Als er die Abfahrt auf der anderen Seite der Hochbrücke passierte, verdunkelte sich plötzlich der Himmel über ihm, und er trat erschrocken mit aller Kraft auf die Bremse … Der Schatten stürzte krachend vor ihm auf die Fahrbahn und ließ die Brücke erzittern. Mahler hatte keinen Schuss gehört, deshalb brauchte er einen Augenblick, um zu begreifen, dass es ein abgeschossener Flugsaurier war. Er stieg aus, weil der Körper des Tieres die Hochbrücke versperrte. Sein rechter Flügel lag auf dem Geländer und zuckte im Todeskampf. Bei seinem Absturz war eine Reklametafel in die Tiefe gestürzt. Als Inspektor Mahler sich über das Geländer beugte und nach unten sah, hörte er vom Hochhaus über Megaphon eine Männerstimme rufen: »Achtung, Flugsaurierangriff! Verlassen Sie sofort die Brücke!« Noch ehe er reagieren konnte, entdeckte er auch schon über sich den gewaltigen Schatten mit den Greifhänden und dem Furcht einflößenden Schnabel. Der Saurier stieß blitzschnell auf ihn herab, und während er ihn hochriss, spürte Mahler eine verzweifelte – und plötzlich endlos scheinende – Sekunde lang, wie der Biss des Tieres ihm mit krachendem Geräusch das Genick brach … Der Schuss des Scharfschützen im Hochhaus erwischte den Flugsaurier, als er gerade wieder mit behäbigem Flügelschlag aufsteigen wollte. 230
Noch im Todeskampf ließ er seine Beute fallen, und Inspektor Mahlers lebloser Körper stürzte vor seinen parkenden Wagen auf die Hochbrücke.
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2 Viele Straßen und Innenhöfe waren jetzt mit Netzen gesichert, Anwohner hatten ihre Fenster verbarrikadiert, und überall bewegten sich Militärpatrouillen, die beim Auftauchen eines Flugsauriers sofort über Megaphon Warnhinweise gaben. Doktor Born war es gelungen, eines der letzten Netze auf dem Markt zu ergattern und damit seine Dachterrasse abzuspannen. Er hatte Peter Bertram zum Abendessen eingeladen. Bei der Sommerhitze war es eine Wohltat, wieder auf dem Dach zu essen. Es gab gefüllten Karpfen in Trüffelsauce und zum Nachtisch belgischen Konfekt. Die Transporter des Militärs brachten jeden Morgen frische Lebensmittel in die Städte, weil der Radstand normaler Lkws für den Wasserstand zu niedrig war. Der Strom für seine Küche kam aus dem Notstromaggregat des Instituts. »Irgendwelche Neuigkeiten vom Kraftwerk?«, erkundigte er sich. »Wird evakuiert oder nicht?« »Der Reaktorkern ist unter Kontrolle. Die Stromversorgung mit Dieselgeneratoren funktioniert. Und obwohl wir jeden Tag Menschen durch Saurierangriffe und Seuchen verlieren, denkt niemand daran, die Gegend zu evakuieren – nach dem Motto, wer gehen will, kann gehen.« Bertram war der Meinung, dass die Regierung zu wenig gegen die Epidemien tat. Inzwischen waren über zweihun232
dert ältere Bürger an der Legionärskrankheit verstorben. Oberst Holt hielt die Verteilung von Erythromycin für ausreichend. Wer gegen den Rat der Einsatzleitung kein Antibiotikum einnahm und sich anstatt aus Tankwagen weiter aus dem Wasserhahn versorgte oder die Duschen im Badezimmer benutzte, musste wissen, welches Risiko er einging. »Ein unglaublicher Skandal«, fuhr Bertram fort. »Viele alte Leute wagen sich gar nicht mehr auf die Straße. Sie verhungern in ihren Wohnungen. Die meisten haben noch nie etwas von der Legionärskrankheit gehört.« »Wäre es nicht die Aufgabe der Presse, davor zu warnen?« »Wir drucken eine kostenlose Sonderausgabe mit Informationen. Welche Vorkehrungen man gegen den Angriff von Sauriern ergreifen sollte. Wie lange der Spuk noch andauern wird. Mit welchen Maßnahmen man sich gegen die Ruhr und die Legionärskrankheit schützt.« »Gute Idee.« Born sah fragend in die Runde. »Gibt es dabei irgendein Problem?« »Kann man wohl sagen. Unser Problem besteht darin, dass beide Einsatzstäbe – der zivile und der militärische – das Recht für sich beanspruchen, zu entscheiden, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen und welche nicht.« »Angeblich haben wir momentan nur eine nächtliche Ausgangssperre«, ergänzte Linda. »Es wurde noch kein Ausnahmezustand erklärt. Aber de facto ist die Pressefreiheit bereits eingeschränkt.« »Wir steuern geradewegs auf eine Katastrophe zu. Doch 233
diese Burschen in den Einsatzstäben verhalten sich so, als würde es ausreichen, jede Nacht ein paar Flugsaurier abzuballern.« »Man muss die Elterntiere töten«, sagte Born. »Solange sie sich ungehindert vermehren können, bekommt man die Lage nicht in den Griff. Ersatz für die beschlagnahmten Brüter zu finden, dürfte für Haderer kein Problem sein. Notfalls reichen dazu auch ein paar umgebaute Elektroherde.« Linda öffnete ihre Tasche und nahm die Schriftrolle mit der Prophezeiung heraus. »Das hier ist unsere Trumpfkarte gegenüber der Einsatzleitung«, erklärte sie. »Wenn die Bevölkerung diesen Text zu Gesicht bekommt, dürfte allen klar sein, worauf die Angriffe der Flugsaurier abzielen. Wir haben die Prophezeiung bisher nicht veröffentlicht, weil ich Valentin ein Versprechen gegeben hatte. Aber nun, da er tot ist …?« »Natürlich man wird das als Sensationsmache und Verstoß gegen den noch nicht erklärten Ausnahmezustand werten«, sagte Bertram. »Deshalb brauchen wir dich, Alex, um die Sache in Szene zu setzen.« »Hat Linda mich deswegen dazu überredet, dich zum Essen einzuladen?« »Weibliche Diplomatie«, bestätigte er grinsend. »Aber für einen guten Zweck, oder? Du nimmst mit einem Reporter von World-News Kontakt auf. Du steckst ihm, dass diese Prophezeiung existiert, zeig ihnen meinetwegen das Dokument. Lass es ihn sogar filmen. Aber aus einer Entfernung, aus der man nicht genug Details erkennen kann! Sag ihm, das Material sei im Besitz des Reporter und die 234
Redaktion zögere wegen der Zensur, es zu veröffentlichen.« »World-News’ Einfluss ist so mächtig, dass sich die Einsatzleitung nicht mehr gegen eine Veröffentlichung sperren kann. Es würde sonst aussehen, als halte man gefährliche Informationen zurück«, sagte Linda. »Verstehe. An wen denkt ihr?« »Alberto Barelli – der ist besonders scharf.« »Und wenn World-News genügend Druck gemacht hat und man genauer wissen will, was in dieser Prophezeiung steht, kommt der Reporter mit seiner Sonderseite«, sagte Linda. »Hm, gute Idee. Das könnte funktionieren …« Peter Bertram nickte erfreut. »Schön, dass du mitmachst, Alex. Ich dachte schon, die Sache sei dir zu windig. Wir brauchen jemanden, der glaubwürdig wirkt. Du bist der einzige außer Linda, der damals dabei war.« Barelli schien Born ihren kleinen Streit am See nicht nachzutragen. »Diese verdammten Militärs werfen uns überall Knüppel zwischen die Beine«, zischte er zwischen den Zähnen hindurch. »Aber ist es nicht das Recht der Öffentlichkeit, umfassend informiert zu werden? Haben Sie gewusst, dass im Kernkraftwerk schon zweimal der Kühlkreislauf ausgefallen ist?« »Nein, davon höre ich zum ersten Mal.« »Eine Hand wäscht die andere, Doktor.« »Wann soll das denn gewesen sein?« »Heute Nacht und dann noch einmal gegen Mittag. Ein 235
abgeschossener Flugsaurier ist in das provisorische Kontrollzentrum des Kraftwerks gelangt. Wegen des Hochwassers musste der Schaltraum aufgegeben und die Elektrik in eine Baracke auf ein acht Meter hohes Eisengerüst verlegt werden.« »Ja, davon habe ich gehört.« »Ein Flugsaurier sauste durchs Dach. Sie bekamen die Stromversorgung zwar schnell wieder in den Griff. Aber gegen Mittag gab es einen Computerausfall. Wir sind nur ganz knapp einer Katastrophe entgangen, Doktor. Sie und Ihre Familie tun besser daran, die Gegend zu verlassen.« »Schön, dass Sie sich so viel Sorgen um unser Leben machen.« Er schloss den Safe des Instituts auf nahm die Textrolle mit der Prophezeiung aus dem Fach. »Dies ist die Prophezeiung. Sie wurde auf einem Opfertisch aus keltischer Zeit in den Bergen entdeckt«, sagte er. »Zusammen mit einer Silberschale, in der sich Sauriereier befanden.« »Sage mir aber, Vernichter der Welt, von wessen Hand Du wieder auferstehen willst, um Dein Werk zu vollenden …«, las Barelli. Er warf Born einen ungläubigen Blick zu. »Und Sie glauben, das Zeug ist echt?« »Was heißt echt? Es ist ein Zitat – oder ein Text in Anlehnung an alte Prophezeiungen. Irgendein Verrückter hat sich seine Botschaft zu Eigen gemacht.« »Auf Inspektor Mahlers Beerdigung ging das Gerücht um, dieser Verrückte sei Ihr ehemaliger Kollege im Institut, Doktor Ralf Haderer?« »Kein Kommentar. Dazu kann ich nichts sagen.« »Hm …«Barelli las weiter: »Denn er soll Dein getreuer 236
Statthalter sein auf Erden, wenn die Dunkelheit Deines Reiches angebrochen ist, und zu wahren Ehren kommen kraft Deines Herzens, kraft Deiner Zunge, kraft Deines Blutes! Offenbarung des Leviathan … Das ist sensationell, Doktor! Wenn wir clever vorgehen, macht dieser Text die Runde um die ganze Welt. Kann ich das Dokument fotografieren?« »Es befindet sich im Besitz des Reporter.« »Oh … heißt das, wir können kein Beweismittel veröffentlichen?«, erkundigte er sich enttäuscht. »Ich biete Ihnen an, es aus einer Entfernung zu fotografieren, aus der man keine Einzelheiten erkennen kann. Aber Sie dürfen natürlich aus der Prophezeiung zitieren. Der Reporter wird später das Original veröffentlichen.« »Sie lassen World-News den Vortritt? Und wenn wir genügend Staub aufgewirbelt haben, sahnt der Reporter mit der Präsentation des Originals noch einmal kräftig ab?« »Haben Sie mich nicht am See gefragt, ob ich ein Angebot naiv finden würde, bei dem beide Seiten profitieren?« »Verstehe«, sagte Barelli grinsend. »Es gibt genügend andere Interessenten.« »Die Einsatzleitung wird uns in der Luft zerreißen. Dann sehen wir mal, was von uns übrig bleibt …«
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3 Inspektor Bahr machte kurz nach seiner Ernennung zum Leiter der zivilen Einsatzgruppe die vielleicht folgenschwerste Entdeckung seiner Karriere. Er überflog gerade die Wälder außerhalb der nördlichen Stadtteile, als er unten in einem schmalen Flusstal einen Mann mit rotem Overall entdeckte. Der Bursche hatte es ziemlich eilig, unter den Bäumen zu verschwinden, als er den Motor ihres Helikopters hörte. »Geben Sie mir ein Fernglas«, sagte er in die Maschine gewandt. »Sollte mich wundern, wenn das nicht unser Freund Alfons Kaden ist …« Er musterte durch das Glas die Baumkronen. Das Gelände war uneben und schwer zugänglich, mit wenigen Fußpfaden und einer Piste zwischen den Grashügeln. Ein idealer Platz, um Saurier aufzuziehen, die gerade geschlüpft waren. Breuer hatte ihm gesagt, dass zwischen dem Ausschlüpfen und den ersten Flugversuchen nur wenige Tage lägen. Sie flogen einen weiten Kreis in zweihundert Metern Höhe und gingen dann auf fünfzig Meter hinunter. Der Hang war von Senken durchsetzt, an deren Rändern hohe Sträucher wuchsen. »Noch tiefer«, sagte er zum Piloten. »Sehen Sie den kleinen Teich in der Nähe des Bachs?« Die Tiere brauchten frisches Wasser, aber Kaden würde sich wahrscheinlich die Arbeit sparen wollen, jeden Tag mit Wassertanks herauszukommen. Gleich darauf entdeckte er einen Jeep unter einem überhängenden Baum. 238
»Auf der Wiese am Wasser landen«, sagte Inspektor Bahr. Die Maschine setzte auf dem Hang auf, und drei seiner Leute bezogen mit ihren Schnellfeuergewehren Posten, um den Flug vom Boden aus zu sichern. Als der Helikopter wieder aufgestiegen war, richtete Inspektor Bahr das Megaphon auf die Baumgruppe unter ihnen: »Achtung, Kaden, wir haben Ihren Wagen. Werfen Sie das Gewehr weg und kommen Sie mit erhobenen Händen auf die Lichtung.« »Inspektor!«, sagte der Pilot. Bahrs Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. In einer der Senken, fast verdeckt unter den überhängenden Bäumen und Sträuchern, bewegten sich drei junge Flugsaurier. Einer fraß an Fleischresten, die wie Innereien aussahen. Die beiden anderen führten einen spielerischen Kampf mit ihren langen Schnäbeln. Sie hatten bereits die Färbung ausgewachsener Tiere, aber ihre Flügelspannweite betrug höchstens acht oder neun Meter. Bahr gab seinen Scharfschützen ein Zeichen. Drei von ihnen postierten sich in der offenen Tür des Helikopters. Die Maschine flog in niedriger Höhe über die Senke, ehe die Beamten das Feuer eröffneten. Im Lärm des Kugelhagels brauchte Inspektor Bahr ein paar Sekunden, bis er begriffen hatte, dass ihn ein Streifschuss erwischt hatte. Seine Finger tasteten nach der blutenden Wunde an seinem rechten Oberarm. »Nicht weiter schlimm …«, sagte er zum Piloten gewandt. Gleich darauf sahen sie Kaden unten von einem Felsvorsprung aus auf sie anlegen. 239
»Okay …«, nickte Bahr. »Feuer frei!« Die Kugel des Scharfschützen traf Kaden in den Kopf – das sahen sie, als der Helikopter noch einmal in wenigen Metern Höhe über ihn hinwegflog. Sie landeten auf dem Brachland unterhalb des Hügels. Inspektor Bahr stieg aus und ging mit angeschlagenem Gewehr auf die Leiche des Mannes im Overall zu. Er drehte seinen Körper auf die Seite und dann wieder zurück auf den Rücken. »Glauben Sie wirklich, dass das Alfons Kaden ist?«, fragte der Scharfschütze, der ihn erwischt hatte. Er war damals mit ihnen in der Halle gewesen. »Jedenfalls ist es der gleiche Overall, oder?« Inspektor Bahr ging zum Funksprechgerät in der Maschine hinüber und nahm das Mikrofon aus der Halterung. »Einsatzleitung? Inspektor Bahr auf Inspektionsflug. Wir haben einen Toten. Benötige Identifizierung durch Linda Meyer vom Reporter. Haben Sie unsere Koordinaten?« »Koordinaten geortet«, bestätigte die Zentrale. »Einsatzort acht Kilometer nordwestlich des Stadtgebiets.« Linda hatte darauf bestanden, Karen mitzunehmen, weil sie vielleicht nie wieder junge Flugsaurier zu Gesicht bekommen würden. Und Born hoffte immer noch, zwei oder drei Eier für das Institut retten zu können. Vom Luftstützpunkt waren nach der Meldung acht Kampfhubschrauber aufgestiegen, um in der Gegend nach frisch geschlüpften Sauriern zu suchen. Inspektor Bahr kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu, als ihr Helikopter landete. Sein rechter Arm war verbunden. 240
»Nur eine Schramme«, winkte er ab und zeigte zu dem Mann im Overall hinüber. »Aber wir haben ein Problem. Ich hoffe, es ist nicht der Falsche?« Linda beugte sich zu dem Toten hinunter und drehte sein Gesicht zur Seite. »Nein, das ist eindeutig Alfons Kaden. Er hat noch einen Bruder, der ihm ähnlich sieht. Aber ich erkenne ihn an der Tätowierung auf dem Handrücken.« »Sind Sie einverstanden, wenn wir uns ein wenig in der Gegend umsehen, Inspektor?«, fragte Born. »Bleiben Sie im Umkreis des Helikopters, bis der Platz an die militärische Einsatzleitung übergeben wird«, sagte Bahr. »Und Vorsicht bei den Jungtieren.« Seine Leute hatten zwei weitere Nester ein Stück oberhalb der Hügel ausfindig gemacht und die Tiere sofort erschossen. Eine Patrouille war auf dem Weg zur nahe gelegenen Schlucht. Sie sollte erforschen, ob die Grotte in der Felswand groß genug war, um ausgewachsenen Tieren Unterschlupf zu bieten. Born sah zum Himmel. »Bleiben wir lieber dicht zusammen«, sagte er. Es ging steil hinauf durch den knorrigen Wald, der hier vor allem aus Kiefern bestand. Auf dem Wege sahen sie Kadens Jeep. Er war voll beladen mit Proviantbehältern. Ein Beamter inspizierte gerade die Ladung. Er nickte ihnen freundlich zu, als er ihre Schritte hörte. Die Jungtiere lagen in einer Senke. Ihre Körper waren von zahllosen Einschusslöchern übersät. Offenbar hatten die Beamten aus dem Helikopter mit Schnellfeuergewehren auf sie geschossen. »Kein schöner Anblick«, sagte Born und legte fürsorg241
lich seinen Arm um Karens Schulter. »Nicht hinsehen, Kleines.« Er hatte gehofft, in der Umgebung noch ein paar Eier zu entdecken, die kurz vor dem Schlüpfen standen. Aber alles, was sie finden konnten, waren die zerbrochenen Schalen der erschossenen Tiere. »Gehen wir auf die Hügelkuppe?«, fragte er. »Von dort aus hat man einen besseren Rundumblick.« Als sie oben waren, sahen sie einen Saurier in etwa zweihundert Metern Entfernung vorüberziehen. Er flog nicht allzu hoch und nutzte die Aufwinde wie ein Segelflugzeug, um Kraft zu sparen. Es war eines der größten Tiere, das Born je gesehen hatte. Er schätzte seine Flügelspannweite auf mindestens zweiundzwanzig Meter. Der Anblick war so fantastisch, dass er für einen Augenblick jede Angst vergaß. Das dort oben war nicht das Werk eines Menschen. Es hatte nur jemand ein uraltes genetisches Muster wiederbelebt. »Ich glaube, er hat uns entdeckt!«, rief Karen. »Nicht bewegen«, sagte Born. »Dann passiert uns nichts.« Aber Karen machte sich los und lief den Hang hinunter, als sei sie beim Anblick des riesigen Tieres plötzlich kopflos geworden. Sie steuerte auf den Schutz der überhängenden Weiden am Fuße des Hügels zu. Der Flugsaurier registrierte ihre Bewegung aus den Augenwinkeln. Er hatte ein Opfer entdeckt und stieg sofort mit mächtigen Flügelschlägen auf, um Kurs auf den Hügel zu nehmen. »Karen, um Himmels willen …!« 242
Born und Linda erwachten fast gleichzeitig aus ihrer Erstarrung und liefen los. Karen hatte etwa die halbe Strecke bis zu den Bäumen zurückgelegt, als der Flugsaurier auf sie herabstieß. Sie versuchte ihm mit einer schnellen Kehrtwendung auszuweichen, doch sein langer Schnabel erwischte sie an den Trägern des Kleides und riss sie mit solcher Leichtigkeit in die Luft, als habe sie kein Gewicht. Gott sei Dank hat er sie nicht im Genick gepackt, dachte Born. Den meisten Opfern wurde schon beim Zupacken das Genick gebrochen. »Zurück zum Hubschrauber …« Born spürte, dass die Angst um seine Tochter ungeheure Kräfte in ihm aktivierte. Aber sie hatten ein gutes Stück in dem unebenen Gelände zurückgelegt, und der Rückweg kostete Zeit. Sein Herz pochte wie wild, und das Blut begann in seinen Schläfen zu hämmern. Als sie den Helikopter erreichten, war der Saurier schon mit Karen über der Ebene im Nordwesten. Inspektor Bahr verfolgte seinen Flug mit dem Feldstecher. Er hatte sofort begriffen, was passiert war und gab dem Piloten ein Zeichen. »Kommen Sie, kommen Sie …« Born reichte Linda von der Kabine aus die Hand und half ihr beim Einsteigen. Der Rotor riss den Helikopter mit aufheulendem Motor nach oben. Er ging in Schräglage, um schneller an Höhe zu gewinnen. Dann kehrte er in die Waagerechte zurück und beschleunigte so stark, dass sie sich an den Haltegriffen festhalten mussten. Einen Augenblick später sahen sie unter sich den Hügel mit den toten Sauriern und dem Jeep. 243
Aus dieser Höhe sah es so aus, als lägen beide Plätze nahe beieinander. Nach einigen Minuten waren sie so dicht hinter dem Tier, dass Born Karens Gesicht erkennen konnte. Ihr Körper wirkte wie erstarrt. Sie hatte die Augen geschlossen … aber als sie den Helikopter hörte, wandte sie den Kopf nach ihnen und hob unmerklich die Hand. »Mein Gott, es muss furchtbar für sie sein«, sagte Linda. Born gab Karen mit Handzeichen zu verstehen, dass sie sich möglichst ruhig verhalten sollte. Der Flugsaurier hatte sie entdeckt und beschleunigte seinen Flügelschlag. Es sah nicht so aus, als mache ihn der Helikopter nervös. Er flog unbeirrt nach Nordwesten, in Richtung Ebene. »Bleiben wir lieber etwas zurück«, sagte Inspektor Bahr zum Piloten. »Man weiß nie, wie diese Biester reagieren.« »Sieht aus, als wisse er genau, wohin er will. Vielleicht fliegt er zu seinem Hort zurück.« Die einzige Straße endete an einem trockengefallenen See. Weiter nördlich sahen sie ein verfallenes Gebäude mit Hallen, das von hohen Mauern umgeben war. »Die alte Flugzeugfabrik«, bemerkte Inspektor Bahr. »Ein paar Hangars stehen noch. Die Fabrikationshalle ist bei einer Explosion eingestürzt.« »Eine stillgelegte Fabrik?«, fragte Born. »Das wäre doch der richtige Platz für Haderer?« »Sieht ganz so aus, als ob sich da unten was täte«, sagte Bahr und richtete seinen Feldstecher auf einen Landrover, der eben durch das Tor des vorderen Hangars kam. Das Erscheinen des Hubschraubers am Himmel hatte eine 244
verblüffende Wirkung auf ihn. Der Mann am Steuer legte den Rückwärtsgang ein und setzte den Wagen in einer von den durchdrehenden Reifen aufgewirbelten Staubwolke zurück. Als sie weiter herunter gingen, konnten sie zwischen den Baumwipfeln im Innenhof drei große provisorische Brutstätten erkennen. Sie waren durch Strohballen und niedrige Drahtzäune voneinander getrennt. Der Flugsaurier steuerte auf einen der Horts zu und setzte Karen vor seinen beiden Jungen ab. Dann stieß er mit Blick zum Himmel einen wütenden Schrei aus und schwang sich sofort wieder in die Luft. »Achtung …«, rief Inspektor Bahr, an die beiden Scharfschützen in der Maschine gewandt. Ihre Schüsse trafen den Saurier ins Herz und in den Kopf, als er nur noch etwa zehn Meter von ihrem Helikopter entfernt war. Er drehte ab und kippte im Gleitflug auf die Seite. Seine Flügel zuckten unkontrolliert im Todeskampf. Dann trudelte er langsam über das eingestürzte Dach der Fabrik und verschwand hinter den Baumwipfeln jenseits der Rückwand. »Das war knapp«, seufzte Linda erleichtert. Die beiden Jungtiere wirkten noch zu schwach und unbeholfen, um mit einem ausgewachsen Menschen fertig zu werden. Das eine hackte wie spielerisch mit seinem Schnabel nach Karen. Sie flüchtete vor ihm hinter den Tankwagen. Das andere Tier lief flügelschlagend an der Mauer entlang und stieß jammernde Laute aus. »Ich glaube, es ruft nach seinen Eltern«, sagte Born. Während sie im Innenhof landeten, forderte der Pilot über Funk Unterstützung an. 245
Born sprang vom Helikopter und lief unter den drehenden Rotorblättern zu seiner Tochter hinüber. »Alles in Ordnung, Kleines …«, sagte er und schloss Karen in seine Arme.
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4 Der Hubschrauber war sofort wieder aufgestiegen, nachdem er die Scharfschützen abgesetzt hatte, um das Gelände aus der Luft zu sichern. »Können Sie damit umgehen?«, fragte Greg, der Anführer der Gruppe, ein drahtiger hellblonder Bursche. Er reichte Born zwei PDWs und zeigte ihm und Linda, wie man die Magazine einschob. »Es ist ganz leicht … sehen Sie? Und immer zusammenbleiben! Schießen Sie auf jeden Saurier, noch ehe er Sie entdeckt hat. Wenn er erst mal angreift, ist es meist zu spät.« Als sie zum Hangar liefen, hörten sie in der Ferne Motorenlärm. Es waren drei Helikopter, die im Formationsflug vom Stützpunkt kamen. »Da kommt unsere Verstärkung.« Greg lugte vorsichtig durch das offene Tor der Halle. Dann sprang er mit angeschlagenem Gewehr in den Eingang und winkte den anderen zu. »Sehen Sie sich das mal an … da sind unsere Muttertiere.« Der Hangar war mit bis zur Decke reichenden Gittern abgeteilt. Die Käfige der sechs weiblichen Tiere waren kreisförmig um den mittleren Käfig angeordnet, in dem sich das Männchen befand. Wenn die Rollgitter an den Innenseiten der Käfige hochgezogen wurden, hatte das 247
Männchen Zugang zu den weiblichen Tieren. Ihre Eier rollten über Gummibänder in mit Stroh ausgepolsterte Becken. An den Seitenwänden der Halle standen etwa fünfzig beleuchtete Brutkästen, wie im Lager des Tierhändlers. Die Tiere wurden unruhig, als sie die Gruppe im Eingang bemerkten. Das Männchen richtete sich mit Imponiergebärde auf, bis seine Flügelspitzen das Wellblechdach berührten, und gab fauchende Geräusche von sich. Das schien die Weibchen in den Außenkäfigen ebenfalls aggressiv zu machen. Zwei von ihnen warfen sich angriffslustig gegen die Gitterwände, die anderen entblößten drohend ihre riesigen Schnäbel mit den verschränkten Zähnen. Born nahm an, dass sie bisher nur wenig Kontakt mit Menschen gehabt hatten. Vielleicht kannten sie überhaupt nur ihren Schöpfer Haderer. Greg hielt nach dem Landrover Ausschau. Er gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen, und lief mit dem Gewehr im Anschlag durch die Halle. Vom Fahrzeug keine Spur, aber es gab links und rechts zwei schmale Fahrwege, die zur Kellerebene führten. In einem kleinen Büroverschlag an der Hallenwand stand ein Tisch, auf dem eine Landkarte lag. Born warf einen Blick darauf und pfiff leise durch die Zähne. In der Umgebung waren zahlreiche rote Kreise eingezeichnet. »Seht euch die mal an. Anscheinend sind das die Plätze, wo man die Saurier ausgesetzt hat. Immer in den Wäldern und Naturschutzgebieten und weitab der Straßen.« »Nach der Karte müssten das ja Hunderte sein«, sagte Karen. 248
»Es sind Hunderte. Denk an all die Viecher, die nachts auf Jagd gehen.« Greg hatte mit den Hubschraubern draußen über sein Funksprechgerät Verbindung aufgenommen. »Landrover gesichtet«, sagte er. »Aber bisher kein Feindkontakt. Versuchen ihn ausfindig zu machen. Im Hangar Nummer eins sieben Saurier in Käfigen.« »Noch nicht liquidieren. Warten Sie ab, bis wir uns die Tiere angesehen haben.« »Okay, weiter …«, sagte Greg. »Hinter mir bleiben.« Karen wirkte immer noch schwach. Der Flugsaurier hatte sie an den Trägern des Hosenanzugs gepackt; zwischen ihren Schulterblättern zeichneten sich blutige Schrammen ab. Born hätte sich gewünscht, dass sie lieber im Hubschrauber geblieben wäre, aber dazu war es jetzt zu spät. Einen Augenblick später war er froh, dass sie ihm gefolgt war, denn vom Turm auf dem Dach des Hangars bellte ein Maschinengewehr los. Durch das offene Seitentor konnten sie sehen, wie die Kugeln die Scheiben der Pilotenkanzel durchschlugen. Die Maschine drehte eilig nach Norden ab und setzte weiter hinten auf dem Brachland zur Notlandung an. Rauch stieg aus ihrem Heck auf. Sie sahen, dass Bahr und der Pilot ausstiegen und hinter den Sträuchern Deckung suchten. »Sperrfeuer vom Dach auf Hangar eins«, sagte Greg ins Funksprechgerät. Er zeigte mit dem Gewehrlauf zum Treppenaufgang. »Sie und die beiden Frauen bleiben hier unten, Doktor. Meine Leute und ich nehmen sich den Tower vor.« Er war kaum mit ihnen hinter dem ersten Treppenabsatz 249
verschwunden, als die ganze Halle von einem dumpfen, rollenden Geräusch erzitterte. »Was ist das?«, fragte Karen mit schreckgeweiteten Augen. Born legte seinen Arm um ihre Schultern. »Ruhig bleiben, Kleines. Gehen wir zu Haderers Büro zurück, da sind wir in Sicherheit.« »Die Rolltore!«, rief Linda. »Er will uns den Fluchtweg abschneiden …« Das Haupttor der Halle und die Seiteneingänge wurden mit schweren Wellblechtoren verschlossen. Gleich darauf entdeckten sie, dass auch der Treppenaufgang zum Tower durch ein Rollgitter versperrt war. »Werft eure Waffen in den Schacht des Müllcontainers am Büro«, befahl Haderers Stimme aus den Deckenlautsprechern. Offenbar konnte er sie über die Kameras an den Hallenwänden sehen. »Du hast überhaupt keine Chance, Ralf«, sagte Born. »Da draußen ist überall Polizei und Militär …« »Falls dir etwas am Leben deiner Tochter und deiner Freundin liegt, dann verhalte dich jetzt genauso, wie ich sage, Alex. Ich kann die Halle auch unter Betäubungsgas setzen, wenn dir das lieber ist?« Um seine Drohung zu untermalen, zischten unten an den Wandsockeln Düsen auf. »Nette kleine Entscheidungshilfe, oder?«, fragte er höhnisch. »Die Anlage wurde installiert, um meine Freunde in den Käfigen unter Kontrolle zu halten. Für menschliche Lungen ist das Gemisch ziemlich ungesund.« »Okay, okay …« Born hob seine PDW in Richtung der 250
Videokameras. Er und Linda warfen die Waffen auf sein Zeichen in den Schacht vor Haderers Büro. Aus dem Treppenaufgang waren noch keine Schüsse zu hören gewesen. Daraus schloss Born, dass Gregs Beamte durch Gitter am Eingang und Ausgang der Treppe festgesetzt worden waren. Gleich darauf sahen sie Haderer über eine kleine eiserne Wendeltreppe aus der Luke des Towers zu ihnen herunterkommen. Er hielt ein Schnellfeuergewehr in der Hand und sah übernächtigt aus. Die Ereignisse der letzten Tage mussten an seinen Kräften gezehrt haben. Seine geröteten Augen strahlten Unruhe und eine Art von verbissener Entschlossenheit aus. Das Gewehr in seiner Hand zitterte vor Anspannung. »Großer Gott, Ralf … wenn ich das alles doch nur ungeschehen machen könnte«, sagte Born. »Mir liegt eigentlich gar nicht viel an diesem verdammten Preis …« »Der Preis … . der Preis …« Haderer lachte abfällig. »Hast du wirklich geglaubt, es gehe mir darum, Genugtuung zu bekommen? Vielleicht, weil ein paar senile skandinavische Trottel mich für den besseren Wissenschaftler halten? Ahnst du immer noch nicht, was damals passiert ist?« »Was damals passiert ist …?«, wiederholte Born verständnislos. »Nein.« »Hab’ mir schon gedacht, dass sie dir keinen reinen Wein eingeschenkt haben. Wie sollten sie auch? Das hätte sie leicht den Kopf kosten können.« Haderer ging zur Wand des Hangars hinüber und tippte einen Code in das Schaltfeld über den Armaturen. 251
Gleich darauf begann sich das Hallendach in Bewegung zu setzen. Es lief träge auf quietschenden Metallrädern an und gab einen langsam größer werdenden Ausschnitt des Himmels frei. »Was soll das heißen, Ralf? Wer hat mir keinen reinen Wein eingeschenkt?« »Na wer wohl?« »Du meinst die Ärzte in der Klinik?« »Ah, unser Mister Neunmalklug macht sich langsam Gedanken?« Er lächelte wie jemand, für den das alles jetzt keine Rolle mehr spielte. »In der Nacht, als unser Kind geboren wurde, riefen sie deinen Schwiegervater in den Kreißsaal, Alex. Sie hatten bei einer Genanalyse entdeckt, dass unser Kind ein genaues Duplikat Glorias war. Der erste Mensch, der in einer öffentlichen Klinik als Klon zur Welt kam! Aber niemand dieser ach so moralischen Herren im weißen Kittel wollte dafür die Verantwortung übernehmen.« »Kam das Kind nicht als Totgeburt zur Welt?« »So steht es in den Papieren.« »Du willst sagen, man hat die offiziellen Papiere gefälscht?« »Ich glaube, so nennt man das wohl.« »Und das Kind …?« »Die Drecksarbeit überließ man deinem Schwiegervater, Professor Bensheim.« »Das ist nicht dein Ernst? Wie hätte er das bewerkstelligen sollen?« »Die Ärzte ließen ihn für ein paar Minuten im Geburtssaal mit dem Kind und seiner Mutter allein. Angeblich, 252
weil er dringend mit seiner Tochter unter vier Augen reden wollte. Aber zu diesem Zeitpunkt war Gloria bereits tot. Sie hatte die Strapazen der Geburt nicht überlebt. Als Wissenschaftler wissen wir beide, dass bei so einem kleinen Balg schon eine winzige Injektion eines gewissen Mittels gegen Hustenkrämpfe ausreicht, um Atemstillstand herbeizuführen, nicht wahr, Alex?« »Bronchspas …«, sagte Doktor Born. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Und in welchem Institut wurde dieses Medikament entwickelt? In der Bondt-AG, denn seine Wirksamkeit beruht auf genmanipulierten Lungenzellen. Dort verfügt man auch über das weltweit einzige Mittel, um das Präparat nachzuweisen. Wie praktisch, oder? Selbst im Ernstfall – aber wer wollte einem so renommierten Wissenschaftler schon misstrauen? – hätte eine leichte Manipulation an diesem Mittel ausgereicht, um jeden Verdacht auszuräumen. Professor Bensheim ging nicht das geringste Risiko ein. Als die Arzte und Schwestern in den Kreißsaal zurückkehrten, war das Kind tot.« »Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?« »Damals hatte ich noch keine Beweise. Aber nachdem Bensheim mich gezwungen hatte, in den Untergrund zu gehen, brach ich ins Institut ein. Ich stahl eine Ampulle des Mittels, mit dem sich nachweisen ließ, dass dem Kind Bronchspas injiziert worden war. Dann vergewisserte ich mich in der Leichenhalle davon – fünf Stunden vor seiner Beerdigung –, dass ich Recht hatte. Ich ging mit meinen Befunden zur Klinikleitung. Natürlich wollte sie nichts davon wissen. Ich bin sicher, dass sie bestochen wurden, 253
Alex! Eine Nachtschwester machte mir Andeutungen, dass sie nicht genug abbekommen habe. Danach versuchte ich die Staatsanwälte auf Bensheim anzusetzen. Sie lachten mir ins Gesicht. Das Kind sei von Fachleuten obduziert worden. Ich selbst habe mich straffällig gemacht und könne froh sein, wenn man mich nicht sofort verhaftete …« »Du meinst, auch die Staatsanwälte waren bestochen?« »Es gab Anweisungen von oben. Man fürchtete, es werde ein schlechtes Licht auf das Institut werfen – auf das internationale Renommee, das sie sich von deinem Nobelpreis erhofften, und die Gelder, die damit flossen. Aber ich will auch nicht bestreiten, dass sie das Ganze wohl eher für einen kleinlichen Rachefeldzug von mir hielten …« »Und nun erleben wir alle deinen großen Rachefeldzug, Ralf?« »Schlagen wir sie einfach mit ihren eigenen Mitteln! Was ist denn diese Welt anderes als ein großes Haifischbecken? Wir sind unter Raubtieren, Alex! Nun kehren die stärkeren, die überlegeneren Raubtiere zurück, die wahren Meister des Planeten. Ist das keine angemessene Antwort? Meine Flugsaurier haben nicht so viel Skrupel, ein Menschenleben zu vernichten«, sagte Haderer. Dabei legte er Daumen und Zeigefinger zusammen. »Sie befreien die Erde vom Ungeziefer.« »Damit hast du alles verraten, woran wir als Wissenschaftler glauben, Ralf. Ohne Verantwortung sind wir nichts weiter als Tiere …« »Verantwortung … pah! Muss ich dich denn an deine eigenen Worte erinnern, Alex? Was hast du uns all die Jahre 254
gepredigt? Wisst ihr, was der Unterschied zwischen einem seriösen Wissenschaftler und einem Scharlatan ist? – Es gibt keinen! Sie pfuschen beide in Gottes Schöpfung herum und gaukeln uns vor, es gebe echten Erkenntnisfortschritt. Waren das nicht deine Worte?« »Mag sein. Aber es ist nicht als moralischer Freibrief zu verstehen.« »Du hast immer gewusst, dass ich dir in vielen Forschungen einen großen Schritt voraus war. Und trotzdem warst du sofort bereit, einen Prozess gegen mich zu führen.« »Nicht ich habe diesen Prozess angestrengt.« »Nein, wozu auch? Weil immer klar war, wie er ausgehen würde«, sagte Haderer. »Erinnerst du dich noch an die Nacht, als ich dir zum ersten Mal die Struktur jenes Enzyms im Mikroskop zeigte, das jetzt in der wissenschaftlichen Literatur VQ32 genannt wird?« Doktor Born musterte ihn ungläubig. »Nein, wann soll das gewesen sein?« »Vor Glorias einundvierzigstem Geburtstag. Du warst ziemlich mit den Nerven herunter wegen eurer ständigen Streitereien. Du hattest von unserer Liaison erfahren. Im Enzym VQ32 lassen sich alle Reparaturmechanismen finden, die für den so genannten Repro-Effekt erforderlich sind. Du hattest fünfzehn Jahre an diesem Projekt gearbeitet – an deinem Lebenswerk. Und jetzt, nach einem Blick durch das Elektronenmikroskop, musstest du zu deinem Entsetzen erkennen, dass ein anderer dir einen großen Schritt voraus war.« »Unsinn, davon weiß ich nichts …« 255
»Weil du damals einfach zusammengeklappt bist. Dein Kreislauf versagte – genau zum passenden Zeitpunkt. We später dein Gedächtnis, Alex.« Haderer gab einen weiteren Code in das Tastenfeld über den Armaturen ein, und nun hoben sich die schweren Gitter der Käfige an Ketten zur Decke. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt, Ralf? Was soll das denn werden?«, fragte Born. »Willst du uns diesen Ungeheuern ausliefern?« »Meine Tiere würden mir nie etwas zuleide tun«, erklärte Haderer lächelnd. »Anders als euch. Ihr seid nichts weiter als Abschaum für sie – dumme, leicht zu jagende Beute. Und gar nicht mal besonders schmackhaft.« »Stellt euch hinter mich«, sagte Born. Er winkte Karen und Linda ungeduldig zu, als sie nicht sofort reagierten. Das Schiebedach des Hangars war jetzt vollständig geöffnet. Ein ausgewachsener Flugsaurier schwebte plötzlich über ihnen, vielleicht, weil er von der Jagd zu seinem Hort zurückkehrte, und landete auf der Dachkante, um neugierig die Szene unten in der Halle zu beobachten. Die anderen Saurier hatten nur Augen für sie und Doktor Haderer. Eines der Weibchen kam mit schnellen Schritten auf Linda zu – ein wenig ungelenk wegen der langen Gefangenschaft im Käfig – und schnappte zwei-, dreimal drohend mit seinem langen Schnabel nach ihr. Linda flüchtete zum Rolltor in der Seitenwand. Born schob dem Tier einen leeren Transportwagen entgegen. Dann ergriff er Karens Hand und zog sie mit sich. »Zum Treppenaufgang … da haben sie weniger Bewegungsfreiheit …« 256
Das Männchen schien den Angriff des Weibchens als Konkurrenz zu betrachten, denn es machte einen wütenden Satz in ihre Richtung. Im selben Augenblick öffneten sich langsam die drei Rolltore des Hangars. Doktor Born nahm an, dass es den Beamten draußen gelungen war, den Mechanismus über die Tastenfelder auszulösen. Aber Haderer hatte die Gefahr erkannt und kam ihnen mit schnellen Schritten entgegen, um ihnen den Weg abzuschneiden. Er gab zwei Warnschüsse ab. Sie hörten, wie die Querschläger von der Betonwand der Treppe abprallten. »In Deckung!« Das Männchen stieß einen Schmerzensschrei aus, weil es von einem Querschläger getroffen worden war. Es bog wütend seinen Kopf zurück – offenbar hatte es begriffen, wer ihm diesen Schmerz zufügte. Als Haderer von seinem Schnabel in der Brust getroffen würde, kippte er wie vom Blitz getroffen nach hinten. Sein Mund war halb geöffnet und sein Gesicht drückte weniger Entsetzen oder Verblüffung aus, als eine seltsam undramatische Art von Überraschung, weil alles so schnell und unerwartet kam. Doktor Born hatte den Eindruck, dass er sofort tot war. Der Flugsaurier heulte triumphierend und packte Haderers Körper beim Genick. Danach schwang er sich mit einem einzigen gewaltigen Flügelschlag zur Hallendecke hinauf. Das Tier oben auf der Dachkante krächzte begierig wie ein hungriger Rabe, als es den Körper im Schnabel des anderen Sauriers entdeckte. Dann folgte es ihm mit ebenso machtvollen Flügelschlägen, um ihm seine Beute abzujagen. 257
Born nahm Haderers Schnellfeuergewehr vom Boden und richtete es auf die Weibchen. Sie bauten sich drohend vor ihm auf, den Kopf zurückgebogen, und verharrten mit leicht angehobenen Flügeln, als ahnten sie die Gefahr. Er zielte, ohne lange nachzudenken, und schoss das ganze Magazin leer. Als er sich nach den Frauen umblickte, sah er, dass Karen zitternd neben dem Treppenaufgang zusammengesunken war. Linda beugte sich schützend über sie. Er legte seine Arme um die Schultern der beiden Frauen und brachte sie zum Ausgang. »Es ist überstanden«, sagte er. »Es ist endgültig überstanden.« Und als sei das noch nicht genug, fügte er mit leiser Stimme hinzu: »Ich wusste, dass es keinen anderen Weg mehr geben würde, meinen Fehler wieder gut zu machen …« Durch das Rolltor sahen sie Polizeihubschrauber, und auf dem Feld landende Militärmaschinen. Zwischen den Hangars waren überall Soldaten und Beamte. Und ein gutes Stück weiter draußen – nur noch Punkte am Himmel und mit bloßem Auge schon nicht mehr zu erkennen – flogen die beiden Saurier im Zickzack Ausweichmanöver, um sich ihre Beute streitig zu machen.
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