Jack Vance
Emphyrio Roman Broschiert-Lübbe Erscheinungsdatum: 2001 Erstveröffentlichung: 1969 ISBN: 3404242823 Scan: Be...
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Jack Vance
Emphyrio Roman Broschiert-Lübbe Erscheinungsdatum: 2001 Erstveröffentlichung: 1969 ISBN: 3404242823 Scan: Bellana Torres K-Leser: DW
Über das Buch Ghyl Tarvoke ist der Sohn eines in bescheidenen Verhältnissen lebenden Handwerkers in der großen Stadt Ambroy. Es scheint ihm bestimmt, seinem Vater in Beruf und Lebenswandel nachzufolgen: Er unterzieht sich den religiösen Pflichtritualen ebenso wie der Ausbildung zum Schnitzer von Schirmwänden. Nur selten gestattet er sich einen Ausflug in eine verufene Gastwirtschaft oder gar in die unbewachten Vorstädte. Die Stadt Ambroy und der ganze Planet Halma werden von einer Kaste vornehmer Lords beherrscht, die Handwerk und Handel kontrollieren. Als bei Ghyls Vater eines Tages verdächtige Unterlagen gefunden werden, die auf seine rebellische Vergangenheit schließen lassen, wird er einer Gehirnwäsche unterzogen, die ihn zum Schwachsinnigen macht. Daraufhin begehrt Ghyl auf: Er erinnert sich an die Legende des heldenhaften Emphyrio, der den Bewohnern von Halma einst Freiheit und Frieden gebracht hat. Auf den Spuren seines Vorbilds verlässt Ghyl den Planeten, um einen Weg zu finden, die Herrschaft der Lords zu brechen.
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Jack Vance
EMPHYRIO Roman
Ins Deutsche übertragen von Hainer Schumacher
Mit Illustrationen von Jonann Peterka
Bastei Lübbe
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 24 282 1. Auflage: Januar 2001 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Titel der Originalausgabe: Emphyrio
© 1969 by Jack Vance All rights reserved © für die deutschsprachige Ausgabe 2001 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Martina Sanier / Stefan Bauer Titelillustration: Michael Whelan / Agentur Schluck Innenillustrationen: Johann Peterka Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: Fotosatz Steckstor, Rösrath Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-24282-3
Ghyl Tarvoke lebt mit seinem Vater auf Halma, einer abgelegenen Welt in den Weiten der Galaxis. Schon in frühester Jugend lernt Ghyl die Unterdrückung durch die mysteriösen Lords kennen, die das Volk von Halma rücksichtslos ausbeuten. Und als sein Vater durch das herrschende System stirbt, wird Ghyl Tarvoke zum Rebellen. Mit einem gekaperten Raumschiff verläßt er seine Heimatwelt und bereist die Galaxis. Er will das wohlgehütete Geheimnis der Lords ergründen und seinem Volk die Freiheit bringen. Schließlich erreicht er die Erde, den legendären Planeten seiner Vorfahren. Hier, so hofft er, liegt der Schlüssel zur Freiheit…
Kapitel Eins
In der Kammer auf der Spitze des Turms befanden sich sechs Individuen: Drei von ihnen nannten sich ›Lords‹ oder manchmal auch ›Spender‹, ein armseliger Untertan, der ihr Gefangener war, und zwei Garrion-Wachen. Die Kammer wirkte dramatisch und sonderbar: Ihre Form war ungleichmäßig, und die Wände waren mit kastanienbraunem Samt behangen. An einem Ende fiel ein Lichtstrahl durch eine Schießscharte herein. Das Licht besaß einen rauchigen bernsteinfarbenen Ton, als wäre die Scheibe staubbedeckt – was sie nicht war. Tatsächlich war das Glas kunstvoll geschliffen, so dass es bemerkenswerte Effekte erzeugte. Am gegenüberliegenden Ende des Raums befand sich eine trapezförmige Tür aus schwarzem Stahl. Der bewusstlose Gefangene war in einen komplizierten, vielgliedrigen Rahmen gespannt worden. Man hatte ihm die Schädeldecke entfernt; auf seinem nackten Gehirn glänzte ein gelb gestreiftes Gel. Über ihm hing eine schwarze Kapsel, ein seltsam hässliches Objekt, wenn auch nur eine an sich schlichte Vorrichtung aus Glas und Metall. Die Oberfläche der Kapsel zierten ein Dutzend warzenförmige Ausbuchtungen, und von jeder zuckte ein Strahl ins Gel. Der Gefangene war ein hellhäutiger junger Mann mit gewöhnlichem Gesicht. Das Haar, das man noch sehen konnte, war gelbbraun. Stirn und Wangenknochen waren breit, die Nase stumpf, der Mund freundlich und großzügig, und der Kiefer lief in ein festes Kinn aus; es war ein Gesicht unschuldiger Unmöglichkeit. Die Lords oder ›Spender‹ – letzteres klang altmodisch und wurde nur selten gebraucht –
waren von anderer Art. Zwei waren groß und dünn, mit feiner Haut, langen Nasen, finsteren Mündern und schwarzem Haar, das eng am Kopf anlag. Der dritte war älter, kräftiger als die anderen, mit verschlagenem Gesichtsausdruck und einem wütenden Funkeln in den Augen; seine Haut war ungewöhnlich dunkel und zeichnete sich durch einen ungesunden magentafarbenen Unterton aus. Lord Fray und Lord Fanton waren anspruchsvoll und hochmütig; Großlord Dugald der Boimarc schien unter großen Sorgen und chronischer Wut zu leiden. Alle drei gehörten einer Rasse an, die weithin für ihre notorische Eleganz und Genußsucht bekannt war; alle drei wirkten sie humorlos und säuerlich, unfähig, sich zu entspannen und einfach nur wohlzufühlen. Die beiden Garrion im hinteren Teil des Raums waren ›Andromorphs‹: schwarz und purpur-braun und bemerkenswert kräftig. In ihren Augen – schwarzen glanzlosen Kugeln – brach sich das Sternenlicht, und aus den Schläfen wuchsen ihnen Büschel schwarzen Haars. Die Lords trugen schwarze Gewänder von exquisitem Schnitt und Kappen aus mit Juwelen besetztem Metallgeflecht, während die Garrion in schwarze Lederharnische gehüllt waren und rostbraune Schürzen umgebunden hatten. Fray, der neben einer Konsole stand, erklärte die Funktionsweise des Mechanismus. »Erstens: die Verbindungsherstellung. Jeder Strang sucht sich eine Synapse. Wenn das Blitzen aufhört, was jetzt gerade geschieht, und die Anzeigen übereinstimmen« – Fray deutete auf ein Paar einander gegenüberliegender schwarzer Zeiger – »dann wird er zu einem Nichts: zu einem primitivem Tier, einem Polypen mit Muskelreflexen. Anhand der Reichweite und Komplexität der Querverbindungen klassifiziert der Computer die Neuralschaltkreise in sieben Gruppen.« Lord Fray untersuchte
das gelbe Gel, nachdem die Scanstrahlen verloschen waren. »Das Gehirn ist jetzt in sieben Bereiche aufgeteilt. Wir bringen ihn in den gewünschten Zustand, indem wir die Kontrolle in bestimmten Bereichen lockern, und andere – falls nötig – dämpfen oder gar abschalten. Da Lord Dugald nicht beabsichtigt, eine Rehabilitation durchzuführen…« Fanton unterbrach ihn mit seiner rauen Stimme. »Er ist ein Pirat. Er muss verbannt werden.« »… werden wir die Kontrolle Stück für Stück lockern, bis er in der Lage ist, die exakte Erklärung zu geben, die Lord Dugald verlangt. Wie ich jedoch gestehen muss, entziehen sich Lord Dugalds Beweggründe meinem Verständnis.« Und Lord Fray warf Großlord Dugald einen kurzen Blick zu. »Meine Beweggründe sind hinreichend«, erklärte Dugald, »und sie betreffen Euch mehr, als Ihr ahnt. Macht weiter.« Mit einer schlichten Geste drückte Fray den ersten von sieben Knöpfen. Auf einem gelben Schirm wand sich eine amorphe schwarze Form. Fray nahm einige Korrekturen vor; die Form stabilisierte sich und schrumpfte zu einer münzgroßen schwarzen Scheibe zusammen, die im Herzrhythmus des Gefangenen zitterte. Der junge Mann keuchte, stöhnte und zerrte zaghaft an seinen Fesseln. Geschickt legte Fray ein Muster aus konzentrischen Kreisen über den Punkt und nahm eine letzte Anpassung vor. Die Augen des jungen Mannes verloren ihren glasigen Ausdruck. Er sah Lord Fanton und Lord Dugald; die schwarze Scheibe auf dem Schirm zuckte kurz. Er sah die Garrion; die schwarze Scheibe verdrehte sich. Er drehte den Kopf und blickte durch die Schießscharte. Die Sonne hing tief im Westen. Aufgrund einer seltsamen optischen Eigenschaft des Fensterglases wirkte sie wie eine blasse graue Scheibe umgeben von einer rosa-grünen Aureole. Der schwarze Fleck auf dem Schirm zögerte und zog sich langsam zusammen.
»Phase Eins«, sagte Fray. »Seine genetischen Reaktionen sind wiederhergestellt. Seht Ihr, wie sehr die Garrion ihn beunruhigen?« »Das ist kein großes Mysterium«, schnaufte der alte Lord Dugald. »Sie sind seinem genetischen Hintergrund fremd.« »Warum«, verlangte Fanton kühl zu wissen, »hat der Fleck dann auf unseren Anblick ähnlich reagiert?« »Bah«, murrte Lord Dugald. »Wir sind nicht seinesgleichen.« »Stimmt«, bestätigte Fray, »noch nicht einmal nach so vielen Generationen. Die Sonne dient ihm jedoch als Richtpunkt für sein mentales Koordinatensystem. Sie ist ein mächtiges Symbol.« Er drückte den zweiten Knopf. Die schwarze Scheibe explodierte. Der junge Mann wimmerte, zuckte und versteifte sich. Wieder nahm Fray einige Korrekturen vor, bis erneut eine schwarze Scheibe auf dem Schirm erschien. Er aktivierte den Stimulator. Der junge Mann beruhigte sich. Sein Blick wanderte durch den Raum von Lord Fray zu Lord Dugald, zu den Garrion, zu seinem eigenen Körper. Die schwarze Scheibe behielt ihre Form und Lage bei. »Phase Zwei«, sagte Fray. »Er erkennt Dinge, kann sie jedoch nicht zueinander in Beziehung setzen. Er ist wach, doch nicht bei Bewusstsein; er kann sich und seine Umgebung nicht voneinander unterscheiden. Für ihn ist alles dasselbe: Objekte und ihr emotionaler Bezug sind identisch. Dieses Stadium ist nutzlos für unsere Zwecke. Also weiter zu Phase Drei.« Er drückte den dritten Knopf; der runde schwarze Fleck dehnte sich aus. Abermals korrigierte Fray das Ergebnis und verdichtete den Fleck zu einer kleinen Scheibe. Der junge Mann wuchtete sich auf, starrte auf die Metallstiefel und Handschellen hinab und blickte dann zu Fanton und Dugald. Fray sprach ihn mit kalter, deutlicher Stimme an: »Wer bist du?«
Der junge Mann runzelte die Stirn und befeuchtete seine Lippen. Wie aus weiter Ferne antwortete er: »Emphyrio.« Fray nickte knapp; Dugald blickte ihn überrascht an. »Was soll das?« »Eine fehlerhafte Verbindung, eine tief verwurzelte Identifikation – mehr nicht. Bei so etwas muss man mit Überraschungen rechnen.« »Aber wird er nicht dazu gezwungen, präzise zu sein?« »Zur Präzision gemäß seiner Erfahrung und von seinem Standpunkt aus.« Frays Stimme nahm einen trockenen Tonfall an. »Wir dürfen keine universellen Wahrheiten erwarten – falls solche überhaupt existieren.« Er wandte sich wieder an den jungen Mann. »Wie lautet dein Geburtsname?« »Ghyl Tarvoke.« Erneut nickte Fray. »Wer bin ich?« »Ihr seid ein Lord.« »Weißt du, wo du bist?« »In einem Horst über Ambroy.« Fray drehte sich zu Dugald tun. »Jetzt ist er in der Lage, seine Wahrnehmung mit seinen Erinnerungen zu vergleichen; er kann nun Dinge qualitativ bestimmen. Allerdings ist er noch immer nicht bei Bewusstsein. Wäre er für eine Rehabilitation vorgesehen, wäre jetzt der Anfangspunkt dafür, da nun all seine Gedankenverbindungen leicht zugänglich sind. Weiter zu Phase Vier.« Fray drückte den vierten Knopf und machte seine üblichen Korrekturen. Ghyl Tarvoke zuckte zusammen und zerrte an Fuß- und Handfesseln. »Jetzt ist er auch zu quantitativen Beurteilungen in der Lage. Er kann Beziehungen erkennen und Vergleiche anstellen. In gewissem Sinne ist er bei Verstand. Bei Bewusstsein ist er jedoch noch immer nicht. Würde man ihn rehabilitieren, müsste man in diesem Stadium noch einige Korrekturen vornehmen. Phase Fünf.«
Phase Fünf wurde abgeschlossen. Aufgeregt blickte Ghyl Tarvoke von Fray zu Dugald, zu Fanton, zu den Garrion. »Sein Zeitgefühl ist wiederhergestellt«, erklärte Fray. »Er hat seine Erinnerungen zurückerlangt. Mit ziemlichem Aufwand könnten wir jetzt eine objektive Erklärung ohne jegliche emotionale Färbung von ihm bekommen. Es wäre sozusagen ›das Skelett der Wahrheit‹. Unter gewissen Umständen ist das wünschenswert, doch jetzt würden wir nichts Neues dabei erfahren. Er kann keine Entscheidungen treffen, und somit ist er nicht in der Lage, verständliche Aussagen zu machen. Sprache ist ein kontinuierlicher Entscheidungsprozess: Ständig wählt man zwischen Synonymen, dem Grad der Betonung, verschiedenen Syntaxvarianten. Also auf zu Phase Sechs.« Er drückte den sechsten Knopf. Die schwarze Scheibe zerplatzte in winzige Tropfen. Überrascht trat Fray einen Schritt zurück. Ghyl Tarvoke stieß wilde, tierische Laute aus, knirschte mit den Zähnen und sträubte sich abermals gegen seine Fesseln. Rasch nahm Fray seine Korrekturen vor, bannte die sich windenden Elemente und presste sie in eine zuckende Scheibe. Keuchend saß Ghyl Tarvoke in seinem Gestell und blickte die Lords voller Abscheu an. »Nun denn, Ghyl Tarvoke«, sagte Fray, »und was denkst du jetzt von dir?« Der junge Mann blickte von Lord zu Lord, antwortete aber nicht. Dugald trat hochmütig einen halben Schritt zur Seite. »Wird er sprechen?« »Er wird sprechen«, antwortete Fray. »Achtet auf Folgendes: Er ist bei Bewusstsein, und er hat sich selbst unter Kontrolle.« »Ich frage mich, was er weiß«, sinnierte Dugald. Er blickte von Fanton zu Fray. »Vergesst nicht, dass nur ich hier die Fragen stelle!« Fanton warf ihm einen scharfen Blick zu. »Man könnte fast glauben, dass Ihr und er gemeinsame Geheimnisse habt.«
»Denkt, was Ihr wollt«, schnappte Dugald. »Vergesst nur nicht, wer hier zu sagen hat!« »Wie könnte man das vergessen?«, erwiderte Fanton und wandte sich ab. Dugald sprach zu Fantons Rücken. »Wenn Ihr meine Position haben wollt, dann nehmt sie Euch! Aber nehmt auch die Verantwortung!« Fanton drehte sich wieder um. »Ich will gar nichts von Euch. Erinnert Euch nur daran, wer es war, dem diese störrische Kreatur Schaden zugefügt hat.« »Euch, mir, Fray, jedem von uns… Es ist dasselbe. Habt Ihr nicht gehört, wie er den Namen ›Emphyrio‹ gebraucht hat?« Fanton zuckte mit den Schultern. Fray meldete sich wieder zu Wort. »Nun denn, zurück zu Ghyl Tarvoke! Er ist noch keine vollständige Persönlichkeit. Er kann die freien Verbindungen noch nicht nutzen, das flexible Netz. Er ist unfähig zur Spontaneität. Er kann nichts vortäuschen, weil er nichts schaffen kann. Er kann nicht hoffen; er kann nicht planen, und deshalb besitzt er keinen Willen. Also dann: Jetzt werden wir die Wahrheit hören.« Er setzte sich auf eine gepolsterte Bank und aktivierte ein Aufzeichnungsgerät. Dugald trat vor und baute sich vor dem Gefangenen auf. »Ghyl Tarvoke: Wir wünschen die Hintergründe deiner Verbrechen zu erfahren.« Mit einem Hauch von Boshaftigkeit in der Stimme mischte Fray sich ein. »Ich schlage vor, dass Ihr etwas kategorischere Fragen stellt.« »Nein, nein!«, gab Dugald zurück. »Ihr versteht offensichtlich nicht, was ich will.« »Ihr habt es nicht erklärt«, erwiderte Fray mit bissiger Höflichkeit.
Während die Lords sich stritten, hatte Ghyl Tarvoke an seinen Fesseln gezerrt. Jetzt forderte er gereizt: »Macht diese Ketten los; dann werde ich mich wohler fühlen.« »Dein Wohlbefinden ist ohne Bedeutung«, raunzte Dugald. »Du wirst an den Rand von Bauredel verbannt. Also sprich jetzt!« Erneut stemmte sich Ghyl Tarvoke gegen seine Fesseln; dann entspannte er sich wieder und starrte an die Wand hinter den Lords. »Ich weiß nicht, was Ihr hören wollt.« »Genau«, murmelte Fray. »Genau.« »Wir wollen die Umstände erfahren, die zu deinen verabscheuungswürdigen Verbrechen geführt haben!« »Ich erinnere mich an ein ganzes Leben voller Ereignisse. Ich werde Euch alles erzählen.« »Ich würde es vorziehen«, erwiderte Dugald, »wenn du gleich auf den Punkt kommen würdest.« Ghyl runzelte die Stirn. »Beendet die Prozedur, damit ich denken kann.« Dugald blickte entrüstet zu Fray, während Fanton lachte. »Ist das etwa keine Willensmanifestation?« Fray strich sich über sein langes Kinn. »Ich vermute, dass die Bemerkung eher einer logischen Schlussfolgerung entstammt denn einer emotionalen Reaktion.« Er wandte sich an Ghyl. »Stimmt das?« »Das ist korrekt.« Fray lächelte schwach. »Nach Phase Sieben wirst du zur Ungenauigkeit in der Lage sein.« »Ich habe nicht den Wunsch, irgendjemandem etwas vorzutäuschen – ganz im Gegenteil. Ihr werdet die Wahrheit erfahren.« Fray kehrte zum Kontrollpult zurück und drückte den siebten Knopf. Die schwarze Scheibe löste sich in einem Nebel aus Tropfen auf. Ghyl Tarvoke stöhnte gequält. Fray arbeitete an
den Kontrollen; die Tropfen verschmolzen, und schließlich war die Scheibe wieder wie zuvor. Eine Zeitlang saß Ghyl einfach nur ruhig da. Dann sagte er: »Ihr werdet mich jetzt also töten.« »Sicher werden wir das. Verdienst du etwas anderes?« »Ja.« Fanton platzte heraus: »Und warum hast du dann Menschen so viel Böses angetan, die dir nie ein Leid zugefügt haben? Warum? Warum? Warum?« »Warum?«, schrie Ghyl. »Um etwas zu erreichen! Um etwas aus meinem Leben zu machen und dem Kosmos meinen Stempel aufzudrücken! Ist es etwa gerecht, dass mein Leben von der Geburt bis zum Tod so viel Wirkung haben soll wie das eines Grashalms auf den Dunkumhöhen?« Fanton lachte bitter. »Bist du etwas Besseres als ich? Mein Leben und Sterben hat genauso wenig Bedeutung. Wer wird sich schon an einen von uns erinnern?« »Ihr seid Ihr, und ich bin ich«, erwiderte Ghyl Tarvoke. »Und ich bin unzufrieden.« »Und das aus gutem Grund«, bemerkte Lord Dugald und grinste mürrisch. »In drei Stunden wirst du verbannt werden. Also sprich jetzt, oder du wirst nie gehört werden!«
Kapitel Zwei
Ghyl Tarvoke bekam einen ersten Einblick in die Natur des Schicksals an seinem siebten Geburtstag, während des Besuchs bei einer fahrenden Schauspieltruppe. Sein Vater, ein distanzierter Mann, der für gewöhnlich nur vage Zusagen gab, hatte sich aus irgendeinem Grund an das Ereignis erinnert, und gemeinsam machten sie sich zu Fuß auf den Weg durch die Stadt. Ghyl hätte es vorgezogen, die Oberbahn zu nehmen; doch aus Gründen, die sich Ghyls Verständnis entzogen, hatte Amiante es abgelehnt, und so schlenderten sie nach Norden durch das alte Vashmont-Entwicklungsgebiet, vorbei an den Skeletten von einem Dutzend verfallener Türme, die alle den Horst eines Lords trugen. Nach einiger Zeit erreichten sie das Nördliche Marktfeld in der Oststadt, wo Framtrees Peripatetischer Jahrmarkt seine bunten Zelte aufgeschlagen hatte. An einer großen Rotunde stand zu lesen: Die Wunder des Universums; eine phantastische Reise durch sechzehn faszinierende Welten ohne Gefahren, Unannehmlichkeiten und Ausgaben, arrangiert in geschmackvoller und erbaulicher Folge. Außerdem gab es ein Puppenspiel mit lebenden Damarpuppen; ein Diorama, auf dem bemerkenswerte Ereignisse aus Halmas Geschichte dargestellt waren; eine Ausstellung außerplanetarischer Kreaturen, lebendig, tot oder als Bild; ein komisches Ballett mit dem Titel Niaiserie; einen telepathischen Salon mit Pagoul, dem mysteriösen Erdenmann; Spielbuden, Erfrischungsstände und eine ganze Reihe unterschiedlicher Händler, die allen möglichen Tand und Kleinkram verkauften. Ghyl konnte kaum gehen vor lauter
Staunen, während Amiante sich mit geduldiger Gleichgültigkeit durch die Menge drängte. Bei den meisten Besuchern handelte es sich um Empfänger aus Ambroy, doch viele stammten auch aus anderen Gegenden Fortinones; und es gab auch Fremde aus Bauredel, Sauge und Closte. Letztere waren vor allem an den Kokarden zu erkennen, die ihnen kostenlose Wohlfahrtsgutscheine garantierten. Nur selten sahen sie einen Garrion, seltsame Tiere, die sich als Menschen herausgeputzt hatten; doch ihre Anwesenheit deutete darauf hin, dass ein Lord oder eine Lady sich unter das niedere Volk gemischt hatte. Amiante und Ghyl besuchten die erste Rotunde, um eine Reise durch andere Welten zu unternehmen. Sie sahen die Schlacht der Vögel bei Sloe auf Madura, die Ammoniakstürme von Fajane und erhaschten einen Blick auf die Verlockungen der Fünf Welten. Ghyl betrachtete die fremdartigen Szenarien, ohne sie zu verstehen; für ihn war das alles zu fremd, zu gewaltig und bisweilen auch zu wild, als dass er es hätte verarbeiten können. Amiante wiederum betrachtete es mit einem bittersüßen Lächeln auf den Lippen. Amiante würde niemals reisen; er würde niemals genug Gutscheine besitzen, um sich auch nur einen drei Tage langen Ausflug nach Damar leisten zu können, und da er das wusste, schien er alle derartigen Ambitionen aufgegeben zu haben. Nachdem sie die Rotunde verlassen hatten, besuchten sie eine Halle, wo ein Diorama berühmte mythische Liebespaare zeigte: Lord Guthmore und der Bergwildling; Medié und Estase; Jeruun und Jeran; Hurs Gorgonja und Ladati der Metamorph, sowie ein Dutzend weiterer Paare in pittoresken, antiken Kostümen. Ghyl stellte viele Fragen, denen Amiante meist mit der Bemerkung auswich: »Die Geschichte von Halma ist überlang und viel zu verwirrend. Es reicht, wenn ich dir sage, dass diese Figuren Märchengestalten sind.«
Nach der Halle gingen sie zum Puppentheater und schauten den kleinen maskierten Kreaturen zu, wie sie tanzten, herumtollten, miteinander schnatterten und sangen und das Stück darboten: »Tugendhafte Treue einem Ideal gegenüber ist der sichere Weg zu finanzieller Unabhängigkeit.« Fasziniert beobachtete Ghyl Marelvie, die Tochter eines einfachen Drahtmachers, auf der Bühne bei einem Straßentanz im Foelgher-Bezirk, wo sie die Aufmerksamkeit von Lord Bodbozzle dem Chaluz erregte, einem lüsternen, alten Magnaten mit fünfundzwanzig Lehen. Lord Bodbozzle umwarb sie mit geschickten Kapriolen, einem komischen Feuerwerk und einer bombastischen Rede, doch Marelvie weigerte sich, sich seinem Gefolge anzuschließen, es sei denn als legitime Gattin und für den Preis von vier Lehen. Lord Bodbozzle erklärte sich damit einverstanden, aber zuerst sollte Marelvie sein Schloss besuchen, wo man sie zu einer Lady erziehen und sie in finanzieller Unabhängigkeit unterweisen würde. So wurde die vertrauensselige Marelvie per Luftdraht zum Schloss auf einem Turm hoch über Ambroy befördert, wo Lord Bodbozzle sofort versuchte, sie zu verführen. Marelvie musste mehrere Schicksalsschläge ertragen, doch im kritischen Augenblick sprang ihr Geliebter Rudel durch ein Fenster herein, nachdem er die nackten Träger des Turms emporgeklettert war. Er überwältigte ein Dutzend GarrionWachen und drängte den wimmernden Lord Bodbozzle an die Wand, während Marelvie vor Freude tanzte. Mit sechs Lehen im Herzen Ambroys und einer Raumjacht erkaufte sich Lord Bodbozzle sein Leben. Finanziell unabhängig und von den Empfängerlisten gestrichen, machte sich das glückliche Paar auf den Weg, während Lord Bodbozzle sich die Wunden leckte… Die Lichter gingen an: Pause. In der Hoffnung, doch nicht in der Erwartung, eine Meinung zu hören, drehte Ghyl sich zu
seinem Vater um. Amiante neigte dazu, seine Gefühle für sich zu behalten. Im Alter von sieben Jahren fühlte Ghyl bereits, dass das Urteil seines Vaters oft etwas Unorthodoxes, ja Unerlaubtes an sich hatte. Amiante war ein großer Mann. Er bewegte sich langsam und bedächtig, doch auf eine Art, die eher Sparsamkeit und Selbstbeherrschung denn Schwerfälligkeit signalisierte. Sein Kopf war groß, sein Gesicht breit und blass mit schmalem Kinn und sinnlichem Mund, der für gewöhnlich zu einem nachdenklichen Halblächeln verzogen war. Amiante sprach nur wenig und wenn, dann leise, doch Ghyl hatte schon erlebt, wie sich aus scheinbar nichtigen Gründen eine wahre Redeflut aus seinem Mund ergossen hatte, als stünde er unter großem Druck, nur um dann unvermittelt wieder aufzuhören. Jetzt hatte Amiante jedoch nichts zu sagen; Ghyl konnte nur vermuten, was sein Vater über das Missgeschick des Lord Bodbozzle dachte. Ghyl ließ seinen Blick über die Zuschauer schweifen und bemerkte ein Paar Garrion in prächtigen Livreen aus lavendelfarbenem, scharlachrotem und schwarzem Leder. Sie standen an der Rückwand der Halle, menschenähnlich, doch nicht menschlich, Hybriden aus Insekt, Gargoyle und Affe, regungslos, doch wachsam, die runden Augen auf nichts gerichtet, doch alles beobachtend. Ghyl stupste seinen Vater mit dem Ellbogen an. »Garrion sind hier! Lords schauen den Puppen zu!« Amiante warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück. »Lords oder niedere Edelleute.« Ghyl suchte im Publikum. Niemand ähnelte Lord Bodbozzle; niemand strahlte den fast unsichtbaren Glanz der Autorität und finanziellen Unabhängigkeit aus, der – so stellte Ghyl sich vor – alle Lords umgeben musste. Er wollte seinen Vater fragen, wen er für den Lord hielt; doch im letzten Augenblick überlegte er es sich anders, wohl wissend, dass Amiantes
einzige Antwort ein desinteressiertes Schulterzucken sein würde. Ghyl blickte die Reihen entlang von einem Gesicht zum anderen. Wie konnte ein Lord oder überhaupt ein Edelmann sich nicht ob der karikierenden Darstellung von Lord Bodbozzle aufregen? Doch niemand wirkte sonderlich erregt… Ghyl verlor das Interesse an der Angelegenheit. Vielleicht besuchten die Garrion die Vorstellung aus eigenem Antrieb heraus. Die Pause sollte zehn Minuten dauern. Ghyl glitt von seinem Stuhl, um sich die Bühne einmal von nahem anzusehen. An der Seite befand sich eine Segeltuchklappe. Ghyl schlug sie beiseite und blickte in den Nebenraum, wo ein kleiner Mann in braunem Samt am Tisch saß und an einer Tasse Tee nippte. Ghyl blickte über die Schulter zurück. Amiante schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein und kümmerte sich nicht um seinen Sohn. Ghyl duckte sich unter dem Tuch hindurch und blieb zögernd stehen, jederzeit bereit, augenblicklich zurückzuspringen, sollte der Mann im braunen Samt ihn packen wollen, denn aus irgendeinem Grund glaubte Ghyl, die Puppen seien geraubte Kinder, die man so lange geschlagen hätte, bis sie nach dem Willen ihres Herrn spielten und tanzten: eine Vorstellung, die dem Stück eine schreckliche Faszination verlieh. Doch abgesehen von einem höflichen Nicken schien der Mann im braunen Samt völlig uninteressiert an Ghyl zu sein. Davon ermutigt trat Ghyl ein paar Schritte näher. »Bist du der Puppenspieler?« »Der bin ich, Junge: Holkerwoyd der Puppenspieler, der sich ein wenig Erholung von seiner Arbeit gönnt.« Der Mann war recht alt und knorrig. Er schien nicht von der Art zu sein, die Kinder schlug und quälte. Mit neu gewonnenem Selbstvertrauen fragte Ghyl, ohne eigentlich zu wissen, was er damit meinte: »Bist du… echt?«
Holkerwoyd fand diese Frage offenbar ganz und gar nicht dumm. »Ich bin so echt wie nötig, zumindest von meinem Standpunkt aus betrachtet. Es gibt einige, die mich als… sagen wir vergänglich empfunden haben.« Ghyl verstand im Wesentlichen, was die Antwort zu bedeuten hatte. »Du reist bestimmt an viele Orte.« »Das entspricht in der Tat der Wahrheit. Den ganzen Nordkontinent rauf und runter, über die Bucht nach Salula, die Halbinsel runter nach Wantanua… und das allein auf Halma.« »Ich war noch nie aus Ambroy weg.« »Du bist noch jung.« »Ja. Eines Tages will ich finanziell unabhängig sein und durch den Weltraum reisen. Hat du auch andere Welten besucht?« »Dutzende. Ich bin neben einem Stern geboren worden, so fern, dass du nie sein Licht am Himmel über Halma sehen wirst.« »Warum bist du dann hier?« »Das frage ich mich oft selbst, doch die Antwort ist immer die gleiche: Weil ich nirgendwo anders bin. Diese Erklärung ist weit vernünftiger, als sie klingt. Und ist es nicht ein Wunder? Hier bin ich, und hier bist du; denk doch nur einmal darüber nach! Wenn man dann über die Größe der Galaxis sinniert, muss man das doch als einzigartigen Zufall erkennen!« »Ich verstehe nicht.« »Das ist einfach! Nehmen wir einmal an, du wärst hier und ich woanders, oder ich wäre hier und du woanders, oder wir beide wären anderswo: Das sind drei Fälle, die weitaus wahrscheinlicher sind als der vierte, nämlich die Tatsache, dass wir beide uns hier nur wenige Meter voneinander entfernt befinden. Ich wiederhole: Das ist eine gar wunderbare
Verkettung der Ereignisse! Und da denken einige, die Zeit der Wunder sei vorbei!« Ghyl nickte zweifelnd. »Diese Geschichte über Lord Bodbozzle… Ich bin nicht sicher, ob ich sie mag.« »Hm?« Holkerwoyd blähte die Wangen. »Und warum nicht?« »Sie war nicht wahr.« »Aha. Und in welchem Punkt im Besonderen?« Ghyl durchforstete sein Vokabular, um etwas auszudrücken, was nicht mehr als Intuition war. Schließlich sagte er: »Ein Mann kann nicht gegen zehn Garrion kämpfen und gewinnen. Das weiß jeder.« »Ja, ja, ja«, murmelte Holkerwoyd. »Der Junge besitzt einen pedantischen Verstand.« Und an Ghyl gewandt: »Aber wünschst du dir nicht, dass es so wäre? Ist es nicht unsere Pflicht, lustige Geschichten zu erzählen? Wenn du erwachsen bist und gelernt hast, wie viel du der Stadt schuldest, bleibt dir noch genug Zeit für Trübsinn.« Ghyl nickte weise. »Ich habe gedacht, die Puppen wären kleiner und viel schöner.« »Ah, wieder so pedantisch. Diese Unzufriedenheit. Nun denn! Wenn du größer bist, werden sie kleiner sein.« »Sie sind doch keine gestohlenen Kinder, oder?« Holkerwoyds Augenbrauen sträubten sich wie der Schwanz einer erschrockenen Katze. »Das glaubst du? Wie könnte ich Kinder dazu abrichten, Luftsprünge zu veranstalten und Possen zu reißen, wo sie doch solche Skeptiker sind, solch anspruchsvolle Kritiker, solche Absolutisten?« Ghyl hielt es für höflich, das Thema zu wechseln. »Da ist ein Lord im Publikum.« »Nein, mein Freund. Eine kleine Lady. Sie sitzt links in der zweiten Reihe.« Ghyl blinzelte. »Woher weißt du das?«
Holkerwoyd machte eine großartige Geste. »Willst du mich all meiner Geheimnisse berauben? Nun, mein Junge, wisse dies: Masken und das Maskieren ebenso wie das Demaskieren, das ist mein Handwerk. Jetzt lauf zurück zu deinem Vater. Er trägt die Maske bleierner Geduld auf seiner Seele. Innerlich bebt er vor Kummer. Auch du wirst Leid und Kummer kennen lernen; ich sehe, du bist entrückt.« Holkerwoyd trat vor und wedelte wild mit den Armen. »Hopp, hopp! Ha! Los! Lauf!« Ghyl floh in die Halle zurück und setzte sich wieder auf seinen Platz. Amiante blickte ihn fragend an, doch Ghyl wich ihm aus. So viele Aspekte der Welt waren jenseits seines Verständnisses. Während er sich Holkerwoyds Worte noch einmal ins Gedächtnis zurückrief, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Tatsächlich. Dort in der zweiten Reihe: ein kleines Mädchen mit einer gemütlich wirkenden Frau mittleren Alters. Das war also eine Lady! Ghyl musterte sie von Kopf bis Fuß. Ohne Zweifel war sie hübsch und elegant, und Ghyl sah in der Tat den Unterschied. Sicherlich war ihr Atem parfümiert, herb wie der Duft des Zitronenstrauchs. Sicherlich wanderten ihre Gedanken in unendlichen Tiefen, hüteten wunderbare Geheimnisse… Ghyl bemerkte eine Aura von Arroganz und Hochmut, die er irgendwie als faszinierend empfand… eine Herausforderung. Die Lichter verloschen; der Vorhang teilte sich, und jetzt begann eine traurige kleine Geschichte, von der Ghyl glaubte, sie sei eine Botschaft Holkerwoyds an ihn persönlich, auch wenn das eher unwahrscheinlich war. Der Hintergrund für die Geschichte war das Puppentheater selbst. Eine der Puppen, die sich die Außenwelt als einen Ort ewiger Fröhlichkeit vorstellte, floh aus dem Theater und mischte sich unter eine Gruppe Kinder. Eine Zeitlang sangen sie und rissen Possen; dann wurden die Kinder des Spielens müde und gingen ihrer Wege. Die Puppe wanderte durch die
Straßen und betrachtete die Stadt: welch düsterer Ort verglichen mit dem Theater, so unwirklich und künstlich es auch gewesen sein mochte! Doch die Puppe wollte nicht wieder zurückkehren, denn sie wusste, was sie erwartete. Zögernd hüpfte sie hierhin und dorthin, ging dann widerwillig ins Theater zurück und sang ein wehmütiges Lied. Die anderen Puppen begrüßten sie mit zurückhaltender Ehrfurcht; auch sie wussten, was sie zu erwarten hatten. Und tatsächlich wurde in der Vorstellung das traditionelle Drama Emphyrio gegeben, in dem die ausgerissene Puppe den Emphyrio spielte. Am Ende wurde Emphyrio von den Tyrannen gefangengenommen und nach Golgatha geschleppt. Vor seiner Hinrichtung versuchte er, eine Rede zu halten, um sein Leben zu rechtfertigen, aber die Tyrannen wollten ihn nicht sprechen lassen und demütigten ihn ein letztes Mal, indem sie ihn der Sinnlosigkeit preisgaben. Ein grotesk großer Lumpen wurde Emphyrio in den Mund gestopft; eine glänzende Axt schlug ihm den Kopf ab, und das war das Schicksal der Puppe, die ausgerissen war. Ghyl bemerkte, dass das Lady-Mädchen, ihre Gefährtin und die Garrion-Wachen nicht bis zum Finale geblieben waren. Als die Lichter wieder angingen und überall staunende weiße Gesichter aus der Dunkelheit erschienen, waren sie verschwunden. Ghyl und Amiante gingen durch die Dämmerung nach Hause; jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Schließlich sagte Ghyl: »Vater?« »Ja.« »In der Geschichte wurde die Puppe, die weggelaufen ist und Emphyrio gespielt hat, hingerichtet.« »Ja.« »Aber die Puppe, die die weggelaufene Puppe gespielt hat, wurde auch hingerichtet!«
»Das ist mir auch aufgefallen.« »Ist sie auch weggerannt?« Amiante seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sind Puppen billig… Übrigens war das nicht die richtige Geschichte von Emphyrio.« »Was ist denn die richtige Geschichte?« »Das weiß niemand.« »Hat Emphyrio wirklich gelebt?« Amiante dachte einen Augenblick lang nach, bevor er darauf antwortete. »Die Geschichte der Menschheit ist sehr lang. Wenn ein Mann mit Namen Emphyrio nie existiert hat, hat es einen anderen mit einem anderen Namen gegeben.« Ghyl musste feststellen, dass diese Antwort jenseits seiner intellektuellen Fähigkeiten lag. »Wo glaubst du, hat Emphyrio gelebt? Hier in Ambroy?« »Das ist ein Problem«, antwortete Amiante und runzelte nachdenklich die Stirn, »dass einige Männer versucht haben zu lösen – ohne Erfolg. Es gibt natürlich Hinweise. Wenn ich ein anderer Mann wäre und nicht so alt, und wenn ich…« Seine Stimme verhallte. Schweigend gingen sie eine Zeitlang nebeneinander her. Dann fragte Ghyl: »Was bedeutet es ›entrückt‹ zu sein?« Amiante musterte ihn neugierig. »Wo hast du denn das Wort gehört?« »Holkerwoyd der Puppenspieler hat gesagt, ich sei entrückt.« »Ah, ich verstehe. Nun denn. Es bedeutet, dass du – wie soll ich sagen? – dass du eine Ausstrahlung besitzt, als seien all deine Gedanken auf etwas Großes ausgerichtet. Es bedeutet, dass du dereinst große und bemerkenswerte Taten vollbringen wirst.« Ghyl war fasziniert. »Und werde ich finanziell unabhängig sein und reisen? Mit dir natürlich.«
Amiante legte Ghyl die Hand auf die Schulter. »Das bleibt abzuwarten.«
Kapitel Drei
Amiantes Geschäfts- und Wohnhaus war ein schmales, vier Stockwerke hohes Gebäude aus alten schwarzen Balken und braunen glasierten Ziegeln; es lag am Undle-Platz im BruebenBezirk. Im Erdgeschoss befand sich Amiantes Werkstatt, wo er Schirmwände aus Holz herstellte; im nächsten Stock lag die Küche, wo Amiante und Ghyl kochten und aßen, sowie ein Nebenraum, in dem Amiante seine unzusammenhängende Sammlung alter Manuskripte aufbewahrte. Im dritten Stock schliefen Amiante und Ghyl, und darüber befand sich ein Speicher voller unbrauchbarer Gegenstände, die zu alt oder zu bemerkenswert waren, um sie wegzuwerfen. Amiante war der zurückhaltendste aller Männer: nachdenklich, oft sogar brütend. Manchmal arbeitete er mit schier unglaublicher Energie; dann wiederum beschäftigte er sich stunden- oder gar tagelang mit dem winzigen Detail einer Skizze, und manchmal tat er einfach gar nichts. Er war ein hervorragender Handwerker: Seine Schirmwände waren von erlesener Qualität, doch seine Produktion war nicht groß. Daher mangelte es oft an Wohlfahrtsgutscheinen im TarvokeHaushalt. Wie alle Waren in Fortinone, so waren auch Kleider handgemacht und teuer; Ghyls Wams und Hose hatte Amiante aus Stoffresten selbst genäht, auch wenn die Gilden solche ›Übergriffe‹ zu verhindern suchten. Selten hatten sie ein paar Münzen für Süßigkeiten übrig und nie für organisierte Unterhaltung. Jeden Tag fuhr die Bark Jaoundi majestätisch den Insse zum Feriendorf Brazen hinauf und kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder zurück. Für die Kinder von Ambroy war eine solche Fahrt der meist ersehnte Ausflug; sie konnten sich nichts Schöneres vorstellen. Ein- oder zweimal
hatte auch Ghyl von der Jaoundi gesprochen, doch ohne Erfolg. Trotzdem betrachtete Ghyl sich als glücklich. Amiante legte ihm nur wenige Einschränkungen auf. Andere Kinder, die nur wenig älter waren als er, lernten bereits ein Handwerk: zumeist in einer Gildenschule, in der heimatlichen Werkstatt oder der eines Verwandten. Die Kinder von Schreibern, Buchhaltern oder ähnlichen Berufen, die höheres Können in Lesen und Schreiben verlangten, wurden sogar bis zur zweiten oder dritten Liste∗ ausgebildet. Fromme Eltern schickten ihre Kinder ins Kleinkind-Hopser oder Jugendspringer des Finukan-Tempels oder brachten ihnen einfache Muster zu Hause bei. Amiante jedoch, sei es nun aus Absicht oder Zerstreutheit, verlangte nichts dergleichen von Ghyl, der kam und ging, wie es ihm gefiel. Er erkundete den gesamten Brueben-Bezirk; dann wurde er mutiger, und es drängte ihn weiter hinaus. Er ∗
In Fortinone und dem gesamten Nordkontinent waren fünf Schreiblisten oder -Systeme in Gebrauch: 1.) Eine Gruppe von 1231 Piktogrammen, die aus alten interplanetarischen Konventionen hervorgegangen waren und die allen Kindern beigebracht wurde. 2.) Eine Kursivversion der Piktogramme, welche Händler und Kunsthandwerker verwendeten und die um etwa vierhundert Sonderzeichen reicher war. 3.) Eine Silbenschrift, die manchmal dazu diente, die Piktogramme zu ergänzen, manchmal aber auch als eigene Schrift eingesetzt wurde. 4.) Eine Kursivform dieser Silbenschrift mit einer großen Zahl von Wortzeichen. Das war die Schrift der Lords, der Kirchenleute, seien sie nun geweiht oder Laien, der Richter und Schreiber. 5.) Ein archaisches Alphabet (kurz Archaisch genannt) mit unzähligen Varianten, das jedoch nicht nur in archaischen Texten zu finden war, sondern auch seiner Wirkung wegen Verwendung fand wie beispielsweise bei Tavernenschildern, Schiffsnamen und Ähnlichem.
erforschte die Docks und Werften des Nobile-Bezirks, kletterte über die Rümpfe alter Barken im Schlamm des DodrechtenFlachlands und aß rohe Meeresfrüchte zum Mittagessen. Er überquerte die Bucht zur Despar-Insel, wo die Glasbläser und Eisenschmiede zu Hause waren, und bei mehreren Gelegenheiten wanderte er über eine der Brücken zur äußersten Landspitze hinaus. Südlich von Brueben, nahe dem Herzen des alten Ambroy, lagen jene Bezirke, die während der Imperialen Kriege am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogen worden waren: Hoge, Cato, Hyalis Park und Vashmont. Entlang der gewundenen Straßen dieser Bezirke drängten sich zumeist die Häuser in bis zu zwei Reihen, und alle waren sie aus den Ziegeln gebaut, die man aus den Trümmern geborgen hatte. In Hoge befand sich der öffentliche Markt und in Cato der Tempel. An manchen Stellen sah man aber auch rußgeschwärzte Betonruinen, umgeben von übel riechenden Tümpeln voller Schleim in seltsamen Farben und dazwischen gelegentlich der Verschlag eines Nichtkos∗. In Cato und Vashmont standen auch die dürren Gerippe der alten Zentraltürme, die die Lords als Stützen für ihre Horste beanspruchten. Eines Tages erinnerte sich Ghyl an Rudel die Puppe und beschloss, die Durchführbarkeit ihrer Heldentaten auf die Probe zu stellen. Nachdem er sich einen Turm ausgesucht hatte – das Eigentum Lord Waldos des Flowan∗∗ –, begann Ghyl das Gebilde ∗
Nichtko = Nichtkooperierender; Nichtempfänger. Menschen, die keine Wohlfahrtsleistungen empfingen, vornehmlich: Chaotizisten, Anarchisten, Diebe, Schwindler und Zuhälter. ∗∗
Die Lords leiteten ihre Beinamen von den öffentlichen Lehen ab, die den größten Teil ihres Besitzes ausmachten. Diese Lehen hießen in der Sprache der Zeit: Spay, Chaluz, Flowan, Übertrend, Unterstrich und Boimarc: Kommunikation, Energie, Wasser, Transit, Abwasser und Handel.
hinaufzuklettern: die Diagonalstrebe zum ersten Horizontalträger hinauf, über eine weitere Diagonale zum zweiten Träger, zum dritten, zum vierten; dreißig Meter hoch, sechzig, neunzig, und dort hielt er an und klammerte sich an den Träger, denn die Entfernung zum Boden war furchterregend. Eine Zeitlang saß Ghyl auf dem Träger und blickte über die alte Stadt. Der Ausblick war auf eine melancholische Art atemberaubend; aus einem bestimmten Winkel von der Sonne beleuchtet, war an den Ruinen eine schier unglaubliche Menge von Einzelheiten zu erkennen. Ghyl spähte nach Hoge hinüber und versuchte, den Undle-Platz auszumachen… Von unten hallte eine heisere, strenge Stimme herauf. Ghyl blickte hinunter und sah einen Mann in braunen Hosen und schwarzem Mantel: einer von Vashmonts Wohlfahrtsagenten. Ghyl stieg wieder auf den Boden hinunter, wo er ernsthaft getadelt wurde und man von ihm verlangte, Namen und Anschrift anzugeben. Früh am nächsten Morgen kam ein Wohlfahrtsagent des Brueben-Bezirks, Helfred Cobol, am Undle-Platz vorbei, um mit Amiante ein ernstes Wort zu reden, und Ghyl bekam Angst. Würde man ihn rehabilitieren? Doch Helfred Cobol erwähnte nichts wegen des Vashmont-Turms, sondern empfahl Amiante nur, Ghyl etwas Disziplin beizubringen, was Amiante sich mit höflichem Desinteresse anhörte. Helfred Cobol war ein stämmiger, untersetzter Mann mit dickem Kopf, einer Beule als Nase und kleinen grauen Augen. Er war forsch und stets geschäftsmäßig, und ihm eilte der Ruf voraus, niemanden je zu bevorzugen. Doch er war auch ein sehr erfahrener Mann, der dazu neigte, die Regeln nicht allzu hart zu interpretieren. Im Verkehr mit den meisten Empfängern legte Cobol eine unbeschwerte Art an den Tag, doch in
Gegenwart von Amiante war er stets sehr vorsichtig, als betrachtete er den Holzschnitzer als ausgesprochen unberechenbar. Helfred Cobol war kaum gegangen, als Eng Seche, der streitsüchtige alte Bezirksdelegierte der Holzschnitzergilde, vorbeikam, um die Räumlichkeiten zu inspizieren und sich davon zu überzeugen, dass Amiante sich an die Gildenregeln hielt und nur die vorgeschriebenen Werkzeuge und Techniken einsetzte und keine Schablonen oder Maschinen verwendete, um den Herstellungsprozess zu automatisieren. Er blieb über eine Stunde, untersuchte jedes einzelne von Amiantes Werkzeugen, bis Amiante ihn schließlich fragte, was er eigentlich suche. »Nichts Besonderes, Em.∗ Tarvoke, nichts Besonderes. Vielleicht eine Schraubzwinge oder etwas Ähnliches. Ich muss sagen, dass deine Arbeiten in letzter Zeit von recht gleichmäßiger Qualität waren.« »Wenn Ihr wollt, kann ich in Zukunft weniger gut arbeiten«, schlug Amiante vor. Die Ironie in seinen Worten, falls er das denn beabsichtigt hatte, entging dem Delegierten. »Das widerspricht unseren Regeln. Nun denn… Ich habe Euch gesagt, was zu sagen ich gekommen war.« Amiante wandte sich wieder seiner Arbeit zu, und der Gildendelegierte ging. Anhand seiner Haltung und der Art, wie er Hammer und Beitel führte, erkannte Ghyl, das sein Vater erbost war. Schließlich warf Amiante die Werkzeuge beiseite, ging zur Tür und blickte auf den Undle-Platz hinaus. Dann kehrte er wieder in die Werkstatt zurück. »Hast du verstanden, wovon der Delegierte gesprochen hat?« »Er hat geglaubt, du würdest betrügen.« ∗
Em.: Abkürzung für ›Empfänger‹, die übliche formelle Anrede.
»Ja… so etwas in der Art zumindest. Weißt du, warum er so beunruhigt war?« »Nein.« Und dann fügte Ghyl loyal hinzu: »Für mich hat sich das dumm angehört.« »Nun, nicht ganz. In Fortinone leben wir vom Handel, und wir garantieren, dass all unsere Waren handgemacht sind. Etwas zu duplizieren oder zu gießen… all das ist verboten. Wir stellen keine zwei Gegenstände her, die einander gleichen, und die Gildendelegierten haben die Aufgabe, diese Regel durchzusetzen.« »Was ist mit den Lords?«, fragte Ghyl. »Welcher Gilde gehören sie an? Was produzieren sie?« Amiante verzog das Gesicht zu einem halben Lächeln. »Sie sind anders als der Rest. Sie gehören keiner Gilde an.« »Wie verdienen sie sich dann ihre Gutscheine?«, verlangte Ghyl zu wissen. »Das ist einfach«, antwortete Amiante. »Vor langer Zeit gab es einen großen Krieg. Ambroy lag in Schutt und Asche. Die Lords kamen hierher und gaben eine Menge Gutscheine dafür, alles wiederaufzubauen: ein Prozess, den man ›Investieren‹ nennt. Sie restaurierten die Wasserversorgung, bauten Röhren für die Oberbahn und so weiter. Deshalb bezahlen wir jetzt für die Nutzung dieser Anlagen.« »Hm«, machte Ghyl. »Ich dachte, wir würden Wasser, Energie und Ähnliches als Teil der freien Wohlfahrtsfürsorge bekommen.« »Nichts ist ›frei‹«, bemerkt Amiante. »Es sei denn, jemand stiehlt, doch auch dann wird dieser Jemand früher oder später für sein Stehlen bezahlen müssen. Tatsächlich ist es wie folgt: Die Lords nehmen sich einen Teil unseres Geldes – 1,18 Prozent, um genau zu sein.« Ghyl dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Ist das viel?«
»Es erscheint angemessen«, antwortete Amiante trocken. »Es gibt drei Millionen Empfänger in Fortinone und etwa zweihundert Lords – sechshundert, wenn man die Ladys und die niederen Adeligen mit einrechnet.« Amiante schürzte die Lippen. »Das ist eine interessante Rechnung… drei Millionen Empfänger, sechshundert Adelige… Das macht einen Adeligen auf fünftausend Empfänger. Bei 1,18 Prozent – oder sagen wir ein Prozent, das ist einfacher – hat jeder Lord so viel Einkommen wie fünfzig Empfänger.« Amiante schien über das Ergebnis seiner Rechnung erstaunt zu sein. »Selbst den Lords muss es doch schwerfallen, so viel auszugeben… Egal, das ist nicht unsere Angelegenheit. Ich gebe ihnen ihren Anteil, und das mit Freuden. Auch wenn es in der Tat ein wenig verwirrend ist, dass… Werfen sie das Geld zum Fenster raus? Spenden sie es für wohltätige Zwecke? Als ich Korrespondent war, hätte ich daran denken sollen, danach zu fragen.« »Was ist ein ›Korrespondent‹?« »Nichts Wichtiges. Eine Position, die ich vor langer Zeit einmal innehatte, als ich noch jung war… vor sehr langer Zeit, fürchte ich.« »Ein Korrespondent ist doch kein Lord, oder?« Amiante lachte leise. »Sicher nicht. Sehe ich etwa wie ein Lord aus?« Ghyl musterte ihn kritisch. »Ich vermute nicht. Wie wird man ein Lord?« »Durch Geburt.« »Aber… was ist mit Rudel und Marelvie in dem Puppenspiel? Haben sie keine Lehen bekommen und sind sie dann nicht Lord und Lady geworden?« »Nicht wirklich. Verzweifelte Nichtkos und manchmal auch Empfänger haben bisweilen einen Lord entführt und ihn gezwungen, ihnen Lehen und größere Geldbeträge zu übertragen. Die Entführer waren dann finanziell unabhängig,
und manche nannten sich vielleicht auch Lord, aber sie wagten nie, sich mit den echten Lords zu mischen. Schließlich kauften die Lords Garrion-Wachen von den Damar-Puppenbauern, und jetzt wird nur noch selten jemand entführt. Außerdem haben die Lords sich verabredet, nie mehr Lösegeld zu bezahlen. Also kann ein Empfänger oder Nichtko nie ein Lord werden, selbst wenn er es wollte.« »Wenn Lord Bodbozzle Marelvie geheiratet hätte, wäre sie dann eine Lady geworden? Wären ihre Kinder Lords gewesen?« Amiante legte sein Werkzeug beiseite und dachte sorgfältig nach, bevor er antwortete. »Oft nehmen sich Lords eine Mätresse, eine Geliebte, aus den Reihen der Empfänger«, erklärte er. »Aber sie achten sorgfältig darauf, nie Kinder zu zeugen. Sie sind anders als wir, leben von uns getrennt, und offenbar beabsichtigen sie, nichts daran zu ändern.« Die bernsteinfarbene Scheibe in der Tür verdunkelte sich, dann flog sie auf, und Helfred Cobol betrat das Geschäft. Unheilverkündend funkelte er Ghyl an, dem daraufhin das Herz in die Hose rutschte. Helfred Cobol wandte sich an Amiante. »Ich bin gerade meine Auftragsliste für den Nachmittag durchgegangen. Dort findet sich eine in Rot geschriebene Notiz Euren Sohn Ghyl betreffend. Es geht um Hausfriedensbruch und das Eingehen unnötiger Risiken. Das Vergehen wurde von einem Wohlfahrtsagenten in Bezirk 12B, Vashmont, aufgenommen. Er berichtet, dass Ghyl die Träger des Turms emporgeklettert ist, der Lord Waldo dem Flowan gehört, und zwar bis zu einer gefährlichen und illegalen Höhe. Dadurch hat er eine Straftat gegen Lord Waldo und die Bezirke Vashmont und Brueben begangen, was eine Einweisung nach sich ziehen könnte.« Amiante klopfte sich Holzsplitter von der Schürze und blähte die Wangen. »Ja, ja. Der Junge ist recht lebhaft.«
»Viel zu lebhaft! Tatsächlich ist sein Verhalten sogar unverantwortlich! Tag und Nacht streunt er herum, wo es ihm gefällt. Ich habe ihn schon mitten in der Nacht vollkommen durchnässt nach Hause schleichen sehen! Er stromert durch die Stadt wie ein Dieb! Er lernt nichts als Faulheit! Ich kann nicht glauben, dass das so richtig ist. Sorgt Ihr Euch denn nicht um die Zukunft Eures Kindes?« »Immer mit der Ruhe«, erwiderte Amiante in lässigem Tonfall. »Die Zukunft ist lang.« »Das Leben eines Mannes ist kurz. Es ist höchste Zeit, dass er sich seiner Berufung stellt! Ich vermute, Ihr beabsichtigt, ihn zum Holzschnitzer ausbilden zu lassen, oder?« Amiante zuckte mit den Schultern. »Ein Handwerk wie jedes andere auch.« »Er sollte unter Aufsicht gestellt werden und Unterricht bekommen. Warum schickt Ihr ihn nicht auf die Gildenschule?« Amiante prüfte mit dem Daumen die Schneide des Beitels. »Lasst ihn doch noch etwas seine Unschuld genießen«, sagte er mit rauer Stimme. »Er wird sich in seinem Leben noch genug abschinden.« Helfred Cobol wollte etwas darauf erwidern, hielt sich dann jedoch zurück. Statt dessen stieß er ein Grunzen aus, das durchaus etwas hätte bedeuten können. »Noch etwas: Warum nimmt er nicht an den Freiwilligen Tempelübungen teil?« Amiante legte den Beitel beiseite und runzelte die Stirn, als wäre er verwirrt. »Was das betrifft… Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie gefragt.« »Lehrt Ihr ihn daheim das Springen?« »Nun, nein. Ich springe selbst nur wenig.« »Hm. Ungeachtet Eurer eigenen Gewohnheiten solltet Ihr ihn dahingehend ermahnen.«
Amiante blickte zur Decke empor, griff wieder nach seinem Beitel und fing mit einem Paneel aromatischen Arzackholzes an, das er gerade an seiner Bank befestigt hatte. Das Bild war bereits angelegt: ein kleiner Hain, wo langhaarige Jungfern vor einem Satyr flohen. Die Ränder des Reliefs waren mit Kreide markiert. Vorsichtig schnitt Amiante die ersten Furchen ins Holz, wobei er mit dem Daumen einen eisernen Richtscheit führte, der ihm zur besseren Orientierung diente. Helfred Cobol durchquerte den Raum, um ihm zuzuschauen. »Sehr schön… Was ist das für ein Holz? Kodilla? Boligam? Eines von diesen Harthölzern vom Südkontinent?« »Arzack, aus den Wäldern von Perdue.« »Arzack! Ich hatte ja keine Ahnung, dass man solch große Bretter daraus schneiden kann! Die Bäume haben doch kaum einen Durchmesser von neunzig Zentimetern, oder?« »Manche sind größer. Ich suche mir meine Bäume selber aus«, erklärte Amiante geduldig. »Die Waldarbeiter schneiden die Stämme in Stücke von etwas mehr als zwei Metern Länge. Dann leihe ich mir einen großen Bottich aus einer Färberei. Zwei Jahre lang wird das Holz darin in Chemikalien eingelegt. Schließlich hole ich das Holz heraus, ziehe die Rinde ab und schneide es alle paar Zentimeter ein – insgesamt etwa dreißigmal pro Stück. Die äußeren drei Zentimeter eines Stamms löse ich ab, wodurch ein Stück von zwei Metern Länge und einem Meter fünfzig bis zwei Meter fünfzig Breite übrig bleibt. Dieses Stück kommt dann in eine Presse, und zu guter Letzt schneide ich es flach.« »Hm. Ihr zieht die äußeren Schichten selber ab?« »Ja.« »Und die Zimmermannsgilde hat nichts dagegen einzuwenden?« Amiante zuckte mit den Schultern. »Sie können oder wollen diese Arbeit nicht tun. Ich habe keine andere Wahl – selbst
wenn ich es wollte.« Den letzten Halbsatz hatte er nur gemurmelt. Leicht verärgert sagte Helfred Cobol: »Wenn jedermann nur seinem eigenen Geschmack folgen würde, würden wir wie die Wirwan leben.« »Vielleicht.« Amiante fuhr fort, an dem Stück Arzack zu schnitzen. Helfred Cobol nahm einen der Späne und roch daran. »Was ist das für ein Duft? Holz oder Chemie?« »Ein wenig von beidem. Frisches Arzackholz riecht deutlich nach Pfeffer.« Helfred Cobol seufzte. »Einen Schirm wie den hätte ich auch gerne, aber meine Vergütung hält mich so gerade mal am Leben. Ihr habt nicht zufällig ein paar Reste, die Ihr loswerden wollt, oder?« Amiante blickte ausdruckslos zur Seite. »Redet mit den Boimarc-Lords. Sie kaufen alle meine Schirme. Was übrig bleibt, verbrennen sie; die zweite Wahl kommt in ein Lager, und die erste ist für den Export bestimmt. Zumindest glaube ich das. Ich würde mehr Gutscheine verdienen, wenn ich meine Waren selbst vermarkten dürfte.« »Wir müssen unseren Ruf wahren«, erklärte Helfred Cobol. »In anderen Teilen der Welt stehen die Waren aus Ambroy für Perfektion!« »Bewunderung ist etwas Schönes«, erwiderte Amiante, »aber es bringt einem nur wenig Gutscheine ein.« »Was wollt Ihr denn? Dass der Markt mit dupliziertem Billigzeug überflutet wird?« »Warum nicht?«, entgegnete Amiante und machte sich wieder an die Arbeit. »Dann würden sich Produkte erster Wahl noch deutlicher vom Rest abheben.« Helfred Cobol schüttelte missbilligend den Kopf. »Verkaufspolitik ist nicht so einfach.« Einen Moment lang schaute er Amiante noch zu; dann legte er den Finger auf
dessen eisernen Richtscheit. »Ihr lasst besser den Gildendelegierten nicht sehen, dass Ihr mit einem Richtscheit arbeitet. Er würde Euch wegen Betrugs vors Komitee zerren.« Amiante blickte leicht erstaunt auf. »Das hier hat nichts mit Duplizieren zu tun. Ein Richtscheit ist keine Schablone.« »Die Art, wie Ihr den Daumen am Scheit entlang führt, erlaubt es Euch, Furchen von gleichmäßiger Tiefe zu ziehen.« »Das ist doch vollkommener Blödsinn«, murmelte Amiante. »Das sollte nur eine freundschaftliche Warnung sein, weiter nichts«, erklärte Helfred Cobol. Er blickte zu Ghyl. »Dein Vater ist ein guter Handwerker, Junge, aber vielleicht ein wenig weltfremd. Nun mein Rat an dich: Gib dieses Streunen auf, sei es nun bei Tag oder bei Nacht. Schreib dich für ein Handwerk ein. Holzschnitzer zum Beispiel, oder wenn du etwas anderes machen willst, kann dich der Gildenrat beraten, wo es einen Mangel gibt. Ich persönlich glaube, dass du mit Holzschnitzen am besten dran wärst. Amiante kann dir viel beibringen.« Helfred Cobol warf noch einen letzten Blick auf den Richtscheit. »Noch etwas: Du bist nicht zu jung für den Tempel. Sie werden dir erst die einfachen Sprünge beibringen und dich die richtige Doktrin lehren. Aber wenn du so weitermachst wie bisher, wirst du noch als Vagabund oder Nichtko enden.« Helfred Cobol nickte Amiante höflich zu und verließ die Werkstatt. Ghyl ging zur Tür und beobachtete, wie Helfred Cobol den Undle-Platz überquerte. Dann schloss er die Tür wieder – ein weiteres Stück Arzack, in das Amiante runde Fenster aus Bernsteinglas eingebaut hatte – und ging langsam durch den Raum. »Muss ich jetzt in den Tempel?«, fragte er. Amiante grunzte. »Man darf Helfred Cobol nicht allzu ernst nehmen. Bestimmte Dinge sagt er nur, weil das zu seiner Arbeit gehört. Ich wage zu behaupten, dass er seine Kinder
zwar zum Springen schickt, er selbst aber nicht frommer ist als ich.« »Warum heißen alle Wohlfahrtsagenten Cobol?« Amiante zog sich einen Stuhl heran und schenkte sich einen Becher bitteren Tees ein. Nachdenklich nippte er daran. »Vor langer Zeit, als Fortinones Kapitol weiter die Küste hinauf in Thadeus stand, war der dortige oberste Wohlfahrtsagent ein Mann namens Cobol. Er verschaffte all seinen Brüdern und Neffen eine Stellung, so dass es nach einiger Zeit nur noch Cobols in der Wohlfahrt gab. So ist es noch heute. Und Wohlfahrtsagenten, die keine geborenen Cobols sind – was sehr selten vorkommt –, ändern ihre Namen. Das ist einfach nur eine Frage der Tradition. Ambroy ist eine Stadt mit vielen Traditionen. Einige von ihnen sind nützlich, andere nicht. Der Bürgermeister von Ambroy wird für fünf Jahre gewählt, doch er hat nicht wirklich eine Funktion; er macht nichts anderes, als seine Vergütung zu beziehen. Das ist zum Beispiel eine der nutzlosen Traditionen.« Respektvoll blickte Ghyl auf seinen Vater. »Du weißt fast alles, nicht wahr? Außer dir weiß niemand so etwas.« Amiante nickte missgelaunt. »Mit solchem Wissen lässt sich kein Gutschein verdienen, obwohl… Ach, genug davon.« Er leerte seinen Becher. »Es scheint, als müsste ich dir beibringen, wie man Holz bearbeitet, und Lesen und Schreiben… Na, dann komm mal her. Sieh dir die Hohlmeißel und Beitel an. Zuerst musst du ihre Namen lernen. Diesen hier nennt man einen Falzhobel. Das hier ist ein Lochbeitel und das eine Holzraspel…«
Kapitel Vier
Amiante war kein strenger Lehrmeister. Im Großen und Ganzen verlief Ghyls Leben wie bisher, auch wenn er keine Türme mehr emporkletterte. Der Sommer kam nach Ambroy. Es gab Regen und Gewitter und dann eine Periode wunderbaren Wetters, so dass die halb in Trümmern liegende Stadt fast schön wirkte. Amiante gab sein Brüten auf, und in einem Anfall von Tatkraft nahm er Ghyl auf eine Wanderung den Insse hinauf mit, bis in die Ausläufer der Meagherberge. Ghyl war noch nie so weit weg von zu Hause gewesen. Im Gegensatz zu dem Verfall, der in Ambroy herrschte, wirkte das Land bemerkenswert frisch und offen. Ghyl und Amiante schlenderten im Schatten der Bäume am Ufer entlang, und dann und wann blieben sie stehen, um einen besonders schönen Anblick zu genießen, wie zum Beispiel eine mit Weidenbäumen bewachsene Insel mit einer malerischen Hütte und einem Landungssteg, oder ein Hausboot, das am Ufer festgemacht hatte mit Kindern, die sich im Wasser tummelten, und Erwachsenen, die an Deck saßen und einen Becher Bier genossen. Nachts schliefen sie in Betten aus Laub und Stroh und wärmten sich an einem kleinen Feuer. Über ihnen funkelten die Sterne der Galaxis, und Amiante deutete auf jene, die er kannte: den Mirabiliscluster, Glysson, Heriartes, Cornus, Alode. Für Ghyl waren dies Namen voller Magie. »Eines Tages«, erklärte er Amiante, »wenn ich größer bin, werde ich viele Wandschirme schnitzen und alle Gutscheine sparen. Dann werde ich zu all diesen Sternen reisen und auch zu den Fünf Welten der Jeng!«
»Das wäre schön«, erwiderte Amiante mit einem Grinsen. »Ich sollte besser noch etwas Arzack einlegen, damit wir genug Paneelen haben.« »Glaubst du, wir könnten uns eine Raumjacht kaufen und reisen, wohin wir wollten?« Amiante schüttelte den Kopf. »Raumjachten kosten viel zu viel. Hunderttausend Gutscheine, manchmal mehr.« »Wenn wir hart genug arbeiten, könnten wir dann nicht so viel sparen?« »Dafür müssten wir unser ganzes Leben arbeiten und sparen, und selbst dann hätten wir immer noch nicht genug. Raumjachten sind den Lords vorbehalten.« Sie kamen an Brazen, Grigglesby und Blonnet vorbei; dann schwenkten sie Richtung Berge. Schließlich machten sie sich erschöpft und fußkrank wieder auf den Weg nach Hause, und tatsächlich gab Amiante ein paar ihrer wertvollen Gutscheine dafür aus, um die letzten zwanzig Meilen per Oberbahn durch Flusspark, Vashmont und Hoge zu fahren. Wieder daheim arbeitete Amiante eine Zeitlang mit großem Eifer, als wäre er von der Durchführbarkeit von Ghyls Plänen überzeugt. Ghyl half ihm so gut er konnte und übte dabei den Umgang mit Hohlmeißel und Beitel, doch die Gutscheine sammelten sich nur mit erschreckender Langsamkeit an. Amiantes Eifer ließ bald nach; er fiel wieder in seine alten Gewohnheiten des Arbeitens und Brütens, starrte bisweilen minutenlang ins Leere, und schließlich verlor auch Ghyl das Interesse. Es musste doch eine andere, schnellere Möglichkeit geben, sich Gutscheine zu verdienen: Spielen zum Beispiel. Das Entführen eines Lords stand außer Frage; Ghyl wusste, dass sein Vater einen solchen Vorschlag nie auch nur in Betracht ziehen würde. Der Sommer verging; es war eine friedliche Zeit, vielleicht die glücklichste in Ghyls Leben. Seine Lieblingszuflucht
waren die Dunkumhöhen im Veige-Bezirk nördlich von Brueben, eine grasbewachsene Hügelkette an der Flussmündung. An Dutzenden frischer Morgen und an ebenso vielen diesigen Nachmittagen kletterte Ghyl die Hügel hinauf – manchmal allein und manchmal mit seinem Freund Floriel, einem großäugigen verwahrlosten Kind mit blasser Haut, einem zerbrechlich wirkenden Körper und dichtem, ungepflegtem schwarzem Haar. Floriel lebte bei seiner Mutter, die in einer Brauerei arbeitete, wo sie die großen Kessel schrubbte, die dem Bier seinen charakteristischen rauchigen Geschmack verliehen. Sie war eine große, freche Frau, die überdies noch eitel war, denn sie behauptete, die Cousine zweiten Grades des Bürgermeisters zu sein. Der Geruch von Hopfen umgab Floriels Mutter und all ihre Besitztümer und übertrug sich sogar auf ihren Sohn. Seit jener Zeit sah Ghyl stets das blasse Gesicht des zerlumpten Gassenkindes vor sich, wann immer er Bier trank oder auf dem Markt Hopfen roch. Floriel war ein Gefährte nach Ghyls Geschmack: ein fügsamer, kleiner Kerl, dem es jedoch nicht an Tatkraft oder Phantasie mangelte und der stets bereit war, auf Abenteuer zu gehen. Die beiden Jungen verbrachten viele glückliche Stunden auf den Dunkumhöhen, genossen das gelbbraune Sonnenlicht, kauten auf dem weichen Gras herum und beobachteten den Flug der Schrumpfvögel über den Sümpfen. Die Dunkumhöhen waren ein Ort, um sich gehen zu lassen und zu träumen; im Gegensatz dazu stand der Raumhafen im Godero-Bezirk, östlich der Dunkumhöhen, wo es an allen Ecken nach Abenteuer roch. Der Raumhafen war in drei Bereiche aufgeteilt mit dem Depot im Zentrum. Im Norden befand sich das Handelsfeld, wo für gewöhnlich drei Frachter be- oder entladen wurden. Im Süden, entlang der Zugangsstraßen, lagen geradezu unendlich faszinierend in ihrer Pracht die Raumjachten der Lords. Im Westen befand sich das
Passagierterminal. Hier konnte man die großen schwarzen Ausflugsschiffe sehen, mit denen jene Empfänger, die dank ihres Fleißes und ihrer Sparsamkeit dazu in der Lage waren, zu anderen Welten flogen. Das Reiseangebot war vielfältig. Das billigste und beliebteste war eine Fünf-Tage-Reise zum Mond Damar, einer kleinen, seltsamen Welt, die etwa halb so groß wie Halma war und wo die Puppenbauer lebten. In Garwan, an Damars Äquator, befand sich ein Touristenzentrum mit Hotels, Promenaden und Restaurants. Puppenspiele der unterschiedlichsten Inhalte wurden dort aufgeführt: Legenden und Märchen, Schauergeschichten, Historienspiele, Farcen, makabre und erotische Geschichten. Die Puppen waren kleine menschliche Abbilder, die weit sorgfältiger gezüchtet und weit teurer waren als die armseligen kleinen Kreaturen, die man beispielsweise bei Framtrees Peripatetischem Jahrmarkt zu sehen bekam. Die Damarer selbst lebten unter der Erde in großem Luxus. Ihr Pelz war schwarz, ihre kleinen, knochigen Köpfe mit schwarzen Fellbüscheln bedeckt, und ihre Augen funkelten neugierig wie Sternensaphire – um es kurz zu machen: Sie waren ihren eigenen Exportpuppen nicht unähnlich. Ein weiteres, in gewissem Sinne prestigeträchtigeres Touristenziel war der Planet, der Halma am nächsten lag: Morgan, eine Welt der windgepeitschten Ozeane, der ebenen Steppen und steilen Berge, die wie Nadeln aus dem Flachland ragten. Auf Morgan gab es eine Reihe schäbiger Ferienorte, die außer einem Ausflug auf hochrädrigen Segelgleitern in die Steppe nur wenig Abwechslung boten. Trotzdem zahlten Tausende hart verdiente Gutscheine dafür, zwei Wochen im Tundra Inn, dem Berghaus oder am Kap des Zorns zu verbringen. Ein weit wünschenswerteres Ziel waren die Wunderwelten des Mirabilisclusters. Menschen, die von den Wunderwelten
zurückkehrten, hatten sich ihren Lebenstraum erfüllt; sie waren zu den Sternen gereist, und sie würden ein Leben lang von den Wundern erzählen, die sie gesehen hatten. Diese Reise lag jedoch jenseits der Möglichkeiten aller außer den Bestsituierten: Gildenvorsteher und Delegierte, Wohlfahrtsleiter, Boimarcauditoren und Finanzverwalter und jene Nichtkos, die sich durch Merkantilismus, Spielen oder Verbrechen ein Vermögen verdient hatten. Dass auch jenseits des Mirabilisclusters Welten existierten, war bekannt: Rodion, Alcantara, die Erde, Maastricht, Montiserra mit seinen schwebenden Städten, Himat und noch viele andere; doch niemand reiste je so weit abgesehen von den Lords in ihren Raumjachten. Für Ghyl und Floriel war nichts unmöglich. Die Nasen gegen den Zaun des Raumhafens gepresst schworen sie sich, dass für sie nur ein Leben der finanziellen Unabhängigkeit und der Sternenreisen in Frage kam. Aber zunächst einmal mussten sie dafür genug Gutscheine verdienen, und genau das war der Stolperstein. An Gutscheine kam man nur schwer heran; das wusste Ghyl nur allzu genau. Andere Welten waren ihrem Ruf nach reich; es hieß, dort würden Gutscheine einfach verteilt. Aber wie sollten er, sein Vater und Floriel auf solch eine verschwenderische Welt kommen? Würde er doch nur eine große Heldentat vollbringen, dann könnte er vielleicht auf wundersame Weise in den Besitz von genügend Gutscheinen gelangen, um eine Raumjacht zu kaufen! Diese Freiheit, diese Abenteuer, diese Romantik…! Ghyl erinnerte sich an all den Reichtum, den der böse Lord Bodbozzle hatte abgeben müssen, nachdem er besiegt worden war. Rudel und Marelvie waren finanziell unabhängig geworden… doch das war nur ein Puppenspiel gewesen. Gab es denn keine andere Möglichkeit, um an genug Gutscheine zu kommen?
Eines erstaunlichen Tages am Ende des Sommers lagen Ghyl und Floriel wieder einmal auf den Dunkumhöhen, kauten auf Grasstengeln herum und redeten über die Zukunft. »Was, glaubst du, wirst du wirklich einmal tun?«, fragte Ghyl. »Zuerst«, antwortete Floriel und vergrub sein mädchenhaft feines Gesicht in den Händen, »werde ich Gutscheine horten: Dutzende. Dann werde ich lernen, wie man spielt – so wie die Nichtkos. Ich werde lernen, wie man gewinnt, und eines Tages werde ich Hunderte und Aberhunderte von Gutscheinen besitzen, ja Tausende sogar. Dann werde ich mir davon eine Raumjacht kaufen und wegfliegen! Weg! Weg! Weg! Jenseits von Mirabilis!« Ghyl nickte nachdenklich. »Das wäre eine Möglichkeit.« »Oder«, fuhr Floriel fort, »ich könnte die Tochter eines Lords aus großer Gefahr retten. Dann würde ich sie heiraten und wäre dann selbst ein Lord.« Ghyl schüttelte den Kopf. »Das ist noch nie passiert. Die Lords sind viel zu stolz dafür. Sie haben nur Freunde unter ihren Untertanen; man nennt sie Mätressen.« Floriel blickte nach Süden über das braun-grüne Trümmerfeld von Brueben hinweg zu den Türmen von Vashmont. »Worauf sollten sie stolz sein? Sie sind Leute wie du und ich, nur dass man sie zufälligerweise Lords nennt.« »Sie sind anders«, antwortete Ghyl. »Auch wenn ich gehört habe, dass niemand sie als Lords erkennt, wenn sie ohne Garrion-Wachen durch die Straßen gehen.« »Sie sind stolz, weil sie reich sind«, erklärte Floriel. »Ich werde auch ein Vermögen verdienen, und dann werde auch ich stolz sein, und sie werden sich darum streiten, ihre Töchter mit mir verheiraten zu dürfen, nur um dann meine Gutscheine zählen zu können. Stell dir das doch nur einmal vor! Blaue Gutscheine, orange Gutscheine, grüne Gutscheine! Ganze Bündel in allen möglichen Farben!«
»Die wirst du auch alle brauchen«, bemerkte Ghyl. »Raumjachten kosten eine ganze Menge: eine halbe Million nehme ich an. Eine Million für die wirklich guten: eine Lixon oder Hexander mit Promenadendeck. Lass uns doch einfach mal ein wenig träumen. Stell dir vor, wie wir beide dort draußen durch den Raum gleiten, jenseits von Mirabilis und auf dem Weg zu einem wunderbaren fremden Planeten. Wir dinieren im Hauptsalon – es gibt Steinbutt, gerösteten Fasan und den besten Gadewein –, und dann schlendern wir über das Promenadendeck zur hinteren Kuppel, wo wir unser Eis essen und den Anblick von Mirabilis hinter uns und den des Großen Schwertes über uns genießen.« Floriel seufzte laut. »Wenn ich es mir nicht leisten kann, eine Raumjacht zu kaufen… dann werde ich eben eine stehlen. Ich halte das nicht für falsch«, erklärte er Ghyl ernst, denn dieser warf seinem Freund einen zweifelnden Blick zu. »Ich stehle dann ja nur von den Lords, und die können sich den Verlust leisten. Denk doch nur einmal an die Unmengen von Gutscheinen, die sie ständig bekommen und nicht ausgeben!« Ghyl wusste nicht, ob das wirklich so war, doch er wollte jetzt nicht darüber streiten. Floriel erhob sich auf die Knie. »Lass uns zum Raumhafen rübergehen! Da können wir uns die Jachten ansehen und uns eine aussuchen!« »Jetzt?« »Natürlich! Warum nicht?« »Aber es ist so weit.« »Wir nehmen die Oberbahn.« »Mein Vater mag es nicht, den Lords so viele Gutscheine zu geben.« »Die Oberbahn kostet nicht viel. Nach Godero sind’s weniger als fünfzehn Scheine.« Ghyl zuckte mit den Schultern. »Also gut.«
Sie stiegen den Hang auf dem üblichen Weg hinunter, doch anstatt sich nach Süden zu wenden, gingen sie um die städtischen Gerbereien herum zum Oberbahnhaltepunkt 2 West. Per Rolltreppe fuhren sie zur Rampe hinunter und bestiegen eine Kapsel. Nacheinander drückten die beiden auf das Raumhafensymbol, dann hielten sie ihre Minderjährigenkarten vor eine Sensorplatte. Die Kapsel beschleunigte, raste nach Osten, bremste ab und öffnete sich; die Jungen traten auf die Rolltreppe hinaus, die sie sogleich zur Halle des Raumhafens brachte, einem höhlenartigen Raum, in dem jeder Schritt widerhallte. Die Jungen schlichen an die Seite und besprachen mit gedämpften Stimmen die Situation. Denn trotz all des Kommens und Gehens und der Atmosphäre unterdrückter Erregung war die Halle ein freudloser Ort: Die Wände waren mit mattbraunen Fliesen verkleidet, und das Dach war ein düsteres Gewölbe. Ghyl und Floriel beschlossen zu beobachten, wie die Passagiere die Ausflugsschiffe bestiegen. Sie näherten sich dem Einschiffungsfeld und versuchten, durch das Tor zu schlüpfen, doch eine Wache scheuchte sie fort. »Die Beobachtungsplattform befindet sich hinter dem Torbogen dort. Nur Passagiere dürfen das Feld betreten!« Doch dann drehte der Mann sich um, um die Frage eines Passagiers zu beantworten, und plötzlich mutig geworden packte Floriel Ghyl am Arm, und die beiden huschten an dem Mann vorbei. Erstaunt und entzückt über ihre Kühnheit rannten sie in den Schatten eines überhängenden Pfeilers, wo sie sich niederkauerten, um erneut die Situation abzuschätzen. Ein Geräusch aus dem Himmel erschreckte sie: ein plötzliches hohes Brüllen von einem Ausflugsschiff der Leamas-Linie, das sich wie eine große, beleibte Ente auf seinem Bremsgitter niederließ. Das Brüllen verwandelte sich in ein Pfeifen, als das Kraftfeld in Kontakt mit dem Boden kam, bis es schließlich für
menschliche Ohren nicht mehr zu hören war. Das Schiff berührte den Boden; das hohe Geräusch kehrte wieder in den hörbaren Bereich zurück, verhallte, und schließlich ruhte das Schiff fest auf dem Boden von Halma. Die Luken öffneten sich, und langsam strömten die Passagiere heraus; die Gutscheine waren ausgegeben und die Sehnsüchte befriedigt. Floriel schnappte erregt nach Luft. Er deutete nach vorne. »Die Luken sind auf! Ist dir klar, dass wir uns an Bord verstecken könnten, wenn wir uns jetzt einfach durch die Menge quetschen und hineingehen würden? Wenn das Schiff dann wieder im All ist, könnten wir wieder herauskommen! Sie würden uns niemals zurückschicken! Wie würden mindestens Damar sehen und vielleicht sogar Morgan.« Ghyl schüttelte den Kopf. »Wir würden gar nichts sehen. Sie würden uns bei Wasser und Brot in einen kleinen Raum sperren, und unseren Vätern würden sie dann die Reise in Rechnung stellen… Das sind Tausende von Gutscheinen! Mein Vater könnte das nicht bezahlen. Ich weiß nicht, was er tun würde.« »Meine Mutter würde es auch nicht bezahlen«, sagte Floriel. »Aber sie würde mich windelweich hauen. Doch das ist mir egal. Wir wären durchs All gereist!« »Wir würden auf die Rehabilitierungsliste kommen«, sagte Ghyl. Floriel winkte verächtlich ab. »Was macht das schon? Wir könnten ein Teil der Zukunft werden. Solch eine Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.« »Das ist keine Gelegenheit«, erwiderte Ghyl. »Nicht wirklich. Vermutlich würden sie uns schon beim Versuch, uns einzuschleichen, schnappen und einfach hinauswerfen. Wir würden gar nichts für uns erreichen. Und abgesehen davon… Wer will schon auf einem alten Ausflugsschiff reisen? Ich will
eine Raumjacht. Lass uns sehen, ob wir irgendwie aufs Südfeld kommen können.« Die Raumjachten standen in Reih und Glied am äußersten Ende des Feldes mit einer Zugangsstraße davor. Um die Straße zu erreichen, musste man ein weites offenes Feld überqueren, wo die beiden Jungen jeder sehen konnte, der von der Beobachtungsplattform oder dem Kontrollturm in ihre Richtung blickte. Ghyl und Floriel duckten sich an die Wand, beredeten die Situation und sprachen das Für und Wider ab. »Komm«, sagte Floriel. »Lass uns einfach losrennen.« »Es wäre besser, langsam zu gehen«, erwiderte Ghyl. »Sonst hält man uns sofort für Diebe; aber das sind wir natürlich nicht. Wenn man uns schnappt, können wir dann wahrheitsgemäß sagen, dass wir niemandem schaden wollten. Wenn sie uns rennen sehen, glauben sie sicher, dass wir irgendwas im Schilde führen.« »Also gut«, knurrte Floriel. »Dann lass uns gehen.« Sie kamen sich nackt und ungeschützt vor, während sie das offene Areal überquerten, doch schließlich erreichten sie die Zugangsstraße, ohne angehalten worden zu sein. Und jetzt, ganz nah vor ihnen, standen die faszinierenden Raumjachten. Die erste war eine hundert Fuß lange Dameron CoCo 14, deren hoher Bug auf die Straße hinausragte. Vorsichtig spähten die Jungen die Straße hinunter, da auf diesem Weg zumeist die Lords zu ihren Jachten kamen. Alles wirkte ruhig; friedlich lagen die phantastischen Jachten auf ihren Landegestellen, als würden sie schlafen. Kein Garrion war in Sicht und auch kein Lord oder irgendwelche Mechaniker – bei letzteren handelte es sich im Allgemeinen um Männer aus Luschein auf dem Südkontinent. Floriels Kühnheit, die mehr seinem Temperament und seiner außergewöhnlichen Neugier entsprang als seinem Mut, verflog allmählich. Er wurde ängstlich und ungeduldig, während Ghyl,
der sich alleine niemals so weit vorgewagt hätte, nun das Durchhaltvermögen für beide aufbieten musste. »Glaubst du, wir sollten noch weiter gehen?«, fragte Floriel in heiserem Flüsterton. »Wir sind schon so weit gekommen«, antwortete Ghyl, »und wir schaden niemandem. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand daran stören wird – noch nicht einmal ein Lord.« »Was würden sie mit uns machen, wenn sie uns schnappen? Würden sie uns zur Rehabilitation schicken?« Ghyl lachte nervös. »Natürlich nicht. Falls uns jemand fragt, sagen wir, wir hätten uns einfach nur die Jachten ansehen wollen, was ja auch die Wahrheit ist.« »Ja«, erwiderte Floriel zweifelnd. »Ich vermute, du hast Recht.« »Dann komm«, sagte Ghyl. Sie gingen die Straße nach Süden hinunter. Nach dem Dameron folgte ein Blaupacken und danach ein zwar kleinerer, doch üppigerer Scharlachpacken; dann ein riesiger Gallypool Irwanvor, ein Hatzräuber und ein Sperling Sternenjäger mit einem glitzernden Rumpf aus Gold und Silber. Jacht folgte auf Jacht, und eine war schöner als die andere. Ein oder zweimal gingen die Jungen unter die Rümpfe, um die schimmernde Außenhaut eines Schiffes zu berühren, das so weit gereist war, und sich die Markierungen der Anlaufhäfen anzusehen. Auf halbem Weg die Straße hinunter erreichten sie eine Jacht, deren Bug vornüber geneigt war und von einem Stützgerüst gehalten wurde – offenbar, um die Reparatur zu erleichtern, und die beiden Jungen schlichen verstohlen näher an sie heran. »Sieh mal!«, flüsterte Ghyl. »Man kann in den Hauptsalon hineinsehen. Ist sie nicht wunderbar?« Floriel bestätigte das. »Das ist eine Lixon Triplange. Die haben diese schweren Hauben vor den vorderen Bullaugen.« Er ging unter den Rumpf, um sich die Hafenmarkierungen
anzusehen. »Die hier war wirklich schon überall: Triptolemus, Jeng, Sanreale… Wenn ich eines Tages lesen kann, werde ich sie alle lesen können.« »Ja, ich will auch lesen lernen«, sagte Ghyl. »Mein Vater weiß viel über das Lesen; er kann es mich lehren.« Er starrte auf Floriel, der ihm erregt winkte. »Was ist los?« »Ein Garrion!«, zischte Floriel. »Versteck dich hinter der Stütze!« Rasch gesellte sich Ghyl zu Floriel hinter dem Gerüst, das als Bugstütze diente. Die beiden Jungen wagten kaum zu atmen. Verzweifelt flüsterte Floriel: »Sie können uns nichts tun, selbst wenn sie uns entdecken. Er ist nur ein Diener; er hat nicht das Recht, uns Befehle zu erteilen, uns zu jagen oder so was – jedenfalls nicht, solange wir keinen Schaden anrichten.« »Vermutlich nicht«, erwiderte Ghyl. »Wir sollten uns trotzdem verstecken.« »Sicher.« Der Garrion ging vorbei. Er bewegte sich mit dem fließenden, entschlossenen Schritt seiner Rasse. Er trug eine hellgrün-graue Livree mit goldenen Rosetten und eine graugrüne Lederkappe. Floriel, der sich rühmte, so gut wie alles zu wissen, wagte eine Vermutung, was den Patron des Garrion betraf. »Grün und Grau… Das könnte Verth der Chaluz sein… oder Hermann der Chaluz. Chaluzlords haben diese goldene Rosette, weißt du? Das bedeutet Macht.« Ghyl wusste es nicht, doch er nickte zustimmend. Sie warteten, bis der Garrion im Terminal verschwunden war. Vorsichtig kamen die Jungen wieder hinter dem Stützgerüst hervor. Sie blickten nach links und rechts; dann setzten sie ihren Weg entlang der Jachten fort. »Sieh mal!«, keuchte Floriel. »Die Deme… Die gold-schwarze! Die Luke steht offen!«
Die beiden Jungen blieben stehen und starrten auf die faszinierende Öffnung. »Da muss der Garrion hergekommen sein«, sagte Ghyl, »und er wird auch wieder zurückkommen.« »Aber nicht sofort. Wir könnten die Rampe hochklettern und mal einen Blick hineinwerfen. Niemand würde je davon erfahren.« Ghyl verzog das Gesicht. »Ich bin schon einmal wegen eines Vergehens zurechtgewiesen worden.« »Das hier ist aber kein Vergehen! Wem schadet das denn? Wenn uns irgendjemand fragt, was wir hier tun, sagen wir einfach, wir würden uns ein wenig umschauen.« »Da befindet sich mit Sicherheit jemand an Bord«, bemerkte Ghyl unentschlossen. Floriel dachte nicht nach. »Der Garrion repariert oder putzt vermutlich gerade etwas. Er holt sich bestimmt neues Werkzeug oder so was. Er ist sicher ganz lange fort. Lass uns einen Blick hineinwerfen.« Ghyl schätzte die Entfernung zum Terminal ab: ein Marsch von gut einer Minute. Floriel zupfte ihn am Ärmel. »Komm schon. Lass uns so tun, als wär’n wir kleine Lords. Nur ein kurzer Blick hinein, um zu sehen, wie die Lords so leben.« Ghyl dachte an Helfred Cobol; er dachte an seinen Vater. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Er und Floriel hatten bereits mehr gewagt, als sich gehörte… Doch der Garrion war im Terminal, und was konnte es schon schaden, mal einen Blick durch den Eingang zu werfen? »Wenn wir nur bis zur Tür gehen würden…« Nun war es Floriel, der zögerte; er hatte darauf vertraut, dass Ghyl seinen Vorschlag ablehnen würde. »Glaubst du wirklich, wir sollten das tun?« Ghyl bedeutete ihm, vorsichtig zu sein, und schlich auf die Raumjacht zu. Floriel folgte ihm.
Am Fuß der Rampe blieben sie stehen, um zu lauschen. Im Inneren war es vollkommen ruhig. Von ihrem Standort aus konnten die beiden Jungen jedoch nur das Innere der Luftschleuse erkennen… und auch einen Schimmer von edlem Holz, scharlachrotem Stoff sowie einem Regal voller Glasund Metallgeräte: Luxus, fast zu üppig, um wirklich zu sein. Fasziniert, angetrieben von ihrer Neugier und fast gegen ihren Willen und mit Sicherheit gegen alle Vernunft stiegen die beiden Jungen verstohlen wie Katzen in einem fremden Haus die Rampe empor. Sie spähten durch die Luke und hörten das Summen von Maschinen, sonst nichts. Dann wichen sie wieder zurück, um einen Blick Richtung Terminal zu werfen. Der Garrion war noch nicht wieder herausgekommen. Den Jungen schlug das Herz bis zum Hals, und sie hielten den Atem an, als sie die Luftschleuse betraten und in den Hauptsalon spähten. Staunend und voller Freude atmeten sie langsam aus. Der Salon war vielleicht dreißig Fuß lang und sechzehn breit. Die Wände waren mit grau-grünen Sakoholzpaneelen und Wandteppichen verkleidet, und ein dicker purpurfarbener Teppich bedeckte den Boden. Am vorderen Ende des Salons ging man vier Stufen zu einer Kontrollkonsole hinauf, und am Ende führte eine Tür aufs Aussichtsdeck mit seiner gläsernen Kuppel. »Ist das nicht wunderbar?«, seufzte Floriel. »Glaubst du, wir werden jemals eine Raumjacht haben? Eine, die so schön ist wie diese hier.« »Ich weiß es nicht«, antwortete Ghyl melancholisch. »Ich hoffe es… ja. Eines Tages werde ich eine haben, und jetzt lass uns gehen.« Floriel flüsterte: »Denk doch nur einmal darüber nach! Wenn wir was von Astrogation verstünden, könnten wir uns die Jacht einfach so nehmen, und dann… auf und davon aus Ambroy! Sie würde uns dann ganz allein gehören!«
Der Gedanke war verführerisch, doch absurd. Ghyl war nun mehr als bereit, wieder zu verschwinden, doch zu seinem großen Entsetzen rannte Floriel tollkühn durch den Salon und sprang die Stufen zur Kontrollkonsole hinauf. Ghyl rief ihm in ängstlichem Tonfall zu: »Fass nur nichts an! Nicht einen einzigen Knopf!« »Komm schon. Hältst du mich etwa für einen Idioten?« Ghyl blickte sehnsüchtig zum Eingang zurück. »Wir sollten jetzt besser gehen.« »Oh, aber du musst hier raufkommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie phantastisch das ist.« »Fass nur nichts an!«, warnte ihn Ghyl erneut. »Du bringst uns noch in große Schwierigkeiten.« Er trat ein paar Schritte vor. »Lass uns gehen.« »Sobald ich…« Floriels Stimme wurde zu einem erschrockenen Stammeln. Ghyl folgte seinem Blick und sah ein Mädchen am hinteren Niedergang. Sie trug ein prächtiges Kleid aus rosafarbenem Samt und eine eckige, flache, weiche Kappe aus dem gleichen Material, von der zwei scharlachrote Schleifen bis über ihre Schulter hingen. Sie besaß dunkles Haar; ihr Gesicht war pikant, beweglich und sprühte vor Leben, doch in diesem Augenblick blickte sie wütend von einem Gassenkind zum anderen. Ghyl starrte sie fasziniert an. War das die gleiche kleine Lady, die ihm der Puppenspieler auf dem Jahrmarkt gezeigt hatte? Auf jeden Fall war sie sehr hübsch, dachte er, und sie besaß dieses gewisse Etwas, das die Lords von den normalen Menschen unterschied. Floriel erwachte aus seiner Versteinerung und löste sich von der Kontrollkonsole. Das Mädchen trat ein paar Schritte vor. Ein Garrion folgte ihr in den Salon. Floriel erstarrte mit dem Rücken zum Schott. Er stammelte: »Wir… wir wollten
niemandem etwas tun; wir… wir wollten nur mal einen Blick…« Das Mädchen musterte ihn ernst; dann drehte sie sich zu Ghyl um. Angewidert verzog sie das Gesicht. Sie blickte zu dem Garrion. »Verpass ihnen eine ordentliche Tracht Prügel, und dann wirf sie hinaus.« Der Garrion packte Floriel, der entsetzt aufheulte. Ghyl hätte in diesem Augenblick entkommen können, doch er beschloss zu bleiben – warum, das wusste er selbst nicht, aber auf jeden Fall war seine Anwesenheit keine Hilfe für Floriel. Desinteressiert verabreichte der Garrion Floriel ein paar Schläge. Floriel schrie und wand sich dramatisch. Das Mädchen nickte knapp. »Genug. Jetzt der andere.« Weinend floh Floriel an Ghyl vorbei die Rampe hinunter. Ghyl wich keinen Schritt zurück, als der Garrion sich ihm näherte, und er versuchte, sein Zittern zu unterdrücken, als die riesige Gestalt über ihm aufragte. Die Hand des Garrion war kühl und rau; ihre Berührung jagte Ghyl einen seltsamen Schauder über den Rücken. Er spürte die Schläge kaum, deren Kraft sorgfältig bemessen war. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Mädchen gerichtet, das kritisch die Ausführung der Strafe beobachtete. Ghyl fragte sich, wie jemand, der so hübsch und elegant war, gleichzeitig so gefühllos sein konnte. Waren alle Lords so grausam? Das Mädchen bemerkte Ghyls Blick und fühlte vielleicht dessen Bedeutung. Sie runzelte die Stirn. »Schlag bei dem hier härter zu. Er ist so anmaßend!« Ghyl erhielt ein paar zusätzliche Schläge und wurde dann grob aus dem Schiff gestoßen.
Floriel stand ängstlich ein gutes Stück vom Schiff entfernt auf der Straße. Ghyl rappelte sich auf und blickte noch einmal die Rampe empor. Es war nichts zu sehen. Er drehte sich um und gesellte sich zu seinem Freund. Wortlos trotteten die beiden Jungen über die Straße davon. Ohne weitere Aufmerksamkeit zu erregen, gelangten sie in die Halle zurück. Eingedenk der Abneigung seines Vaters gegenüber der Oberbahn bestand Ghyl diesmal darauf, zu Fuß zurückzugehen: Das war ein Marsch von vier Meilen. Auf dem Weg überkam Floriel die nackte Wut. »Was sind diese Lords doch für abscheuliche Wesen! Hast du gesehen, wie das Mädchen sich gefreut hat? Sie hat uns behandelt, als wären wir Dreck! Als würden wir stinken! Und meine Mutter ist die Cousine zweiten Grades des Bürgermeisters! Eines Tages werde ich meinen eigenen Verteidiger haben, hast du gehört? Nichts kann mich davon abhalten!« Ghyl seufzte traurig. »Sie hätte wirklich freundlicher zu uns sein können… aber genauso gut hätte es ihr vermutlich niemand verübelt, wenn sie uns weit schlimmer behandelt hätte – sehr viel schlimmer.« Floriel blickte ihn erstaunt an; sein Haar war zerzaust, das Gesicht verzerrt. »Hä? Was soll das? Sie hat befohlen, uns zu schlagen! Und dann hat sie auch noch grinsend zugesehen!« »Sie hätte uns nach unseren Namen fragen können. Was wäre wohl passiert, wenn sie uns den Wohlfahrtsagenten gemeldet hätte?« Floriel ließ den Kopf hängen. Die beiden Jungen trotteten nach Brueben. Die untergehende Sonne warf ihnen ihr bernsteinfarbenes Licht entgegen.
Kapitel Fünf
Der Herbst kam nach Ambroy, dann der Winter: eine Jahreszeit des kalten Regens und des Nebels, die das Wachstum einer schwarzblauen Flechte anregte, welche die Ruinen überwucherte und der alten Stadt einen düsteren Glanz verlieh, der ihr in der trockenen Jahreszeit fehlte. Amiante beendete seinen Wandschirm, der als hervorragend eingestuft wurde und für den er auch von der Gilde entsprechend belobigt wurde; er war zufrieden. Auch erhielt er Besuch von einem Gildenspringer aus dem Tempel, einem jungen Mann mit schlankem, kantigem Gesicht, der ein scharlachrotes Jackett, einen großen schwarzen Hut und braune Hosen trug; von einem Leben voller Springen waren seine Beine ungewöhnlich muskulös geworden. Er kam, um Amiante ob Ghyls sorglosem Lebenswandel Vorhaltungen zu machen. »Warum nimmt er nicht an der Seelenstiftung teil? Was ist mit seinen Grundsprüngen? Er kennt weder die Riten noch die Worte oder die Doxologie, ganz zu schweigen von den Sprüngen! Finuka verlangt mehr als das!« Amiante hörte dem Mann höflich zu, arbeitete jedoch weiter mit dem Beitel. Schließlich erwiderte er in sanftem Tonfall: »Der Junge ist kaum alt genug zum Denken. Irgendwann ist auch er reif zur Hingabe, und dann wird er rasch lernen, was er bisher versäumt hat!« Der Springer erregte sich. »Das ist ein Trugschluss! Kinder werden jung geschult. Seht Euch doch nur mich an! Ich habe schon damit begonnen, als ich auf allen vieren über den Teppich gekrochen bin! Meine ersten Worte waren die Apotheosis und die Simulationen. So ist es am besten. Schult
die Kinder, wenn sie jung sind. Im Augenblick befindet er sich in einem spirituellen Vakuum und ist empfänglich für alle möglichen seltsamen Kulte. Es ist besser, seine Seele so schnell wie möglich mit den Lehren Finukas zu füllen.« »Ich werde ihm alles erklären«, sagte Amiante. »Vielleicht wird ihn das zum Gottesdienst anregen. Wer weiß das schon?« »Die Eltern tragen die Verantwortung«, intonierte der Gildenspringer. »Wann seid Ihr zum letzten Mal gesprungen? Ich vermute, das ist schon Monate her.« Amiante rechnete einen Augenblick lang nach. Er nickte. »Mindestens ein paar Monate, ja.« »Na also!«, rief der Springer triumphierend. »Ist das nicht Erklärung genug?« »Wahrscheinlich. Nun denn, ich werde später mit dem Jungen reden.« Der Gildenspringer wollte noch weiter über dieses Thema debattieren, doch als er sah, wie versunken Amiante in seine Arbeit war, schüttelte er besiegt den Kopf, machte ein heiliges Zeichen und ging. Ausdruckslos blickte Amiante auf, als der Springer durch die Tür verschwand.
Die Zeit und die Wohlfahrtsregeln drängten Ghyl. An seinem zehnten Geburtstag trat er in die Holzschnitzergilde ein. Das war jedoch nur seine zweite Wahl, denn die Seemannsgilde, die er bevorzugt hätte, war allen verschlossen außer den Söhnen aktiver Mitglieder. Amiante legte für das Ereignis seine formelle Gildenkleidung an: einen weiten braunen Umhang mit spitzen Schulterpolstern, schwarzen Kordeln zur Verzierung und geschnitzten Holzknöpfen, sowie enge Hosen mit weißen Knopf reihen an der Seite und einen Schnabelhut aus braunem Filz, der mit schwarzen Quasten und
Gildenmedaillen geschmückt war. Ghyl trug seine ersten Hosen (bisher hatte er immer nur den grauen Kinderkittel getragen) sowie ein kastanienbraunes Jackett und eine schneidige, polierte Lederkappe. Gemeinsam gingen sie nach Norden zur Gildenhalle. Die Initiation war eine langwierige Angelegenheit: Sie bestand aus einem guten Dutzend Ritualen, Fragen und Antworten, Belehrungen und Versicherungen. Ghyl zahlte die Gebühren fürs erste Jahr und erhielt seine erste Medaille, die der Gildenmeister ihm feierlich an die Kappe heftete. Von der Gildenhalle gingen Ghyl und Amiante ostwärts über das alte Mercantilium zur Wohlfahrtsagentur in der Oststadt. Hier erwarteten den Jungen weitere Formalitäten. Ghyl wurde gekennzeichnet, und die Wohlfahrtsnummer wurde ihm auf die rechte Schulter tätowiert. Von nun an galt er für die Agentur als Erwachsener und würde als solcher von Helfred Cobol direkt beraten werden. Ghyl wurde nach seinem Status im Tempel gefragt und war gezwungen zuzugeben, dass er keinen hatte. Der Qualifikationsamtmann und der Schreiber hoben die Augenbrauen, blickten von Ghyl zu Amiante und zuckten schließlich mit den Schultern. Der Schreiber vermerkte auf dem Fragebogen: »Gegenwärtig keine Fähigkeiten; Status des Elternteils steht in Zweifel.« In gemessenem Tonfall erklärte der Qualifikationsamtmann dem frisch gebackenen Erwachsenen: »Um die wahre Erfüllung als Mitglied der Gesellschaft zu erreichen, müsst Ihr im Tempel aktiv sein. Ich werde Euch daher zur Vollarbeit einteilen. Vier Stunden pro Woche müsst Ihr freiwillig im Tempel dienen sowie verschiedene Zahlungen leisten und Geschenke machen. Da Ihr ein wenig… nein… da Ihr beachtlich zurückgeblieben seid, werdet Ihr in eine besondere Indoktrinationsklasse eingeschrieben… Habt Ihr gerade etwas gesagt?«
»Ich habe gefragt, ob das mit dem Tempel wirklich notwendig ist«, stammelte Ghyl. »Ich wollte nur wissen, ob…« »Die Belehrung im Tempel ist nicht wirklich Pflicht«, erwiderte der Amtmann. »Es fällt eher unter die Kategorie ›dringend empfohlen‹, da alles andere auf eine potentielle Nichtkooperation hindeuten würde. Daher werdet Ihr Euch morgen um zehn Uhr im Jugendbüro des Tempels melden.« Da Amiante seine Meinung für sich behielt, blieb Ghyl wohl oder übel nichts anderes übrig, als sich am folgenden Tag im Zentraltempel des Cato-Bezirks vorzustellen. Der Büroangestellte gab ihm einen roten Umhang, den man zum Springen hochbinden konnte, ein Buch, in dem der Große Entwurf beschrieben und erklärt wurde, und eine Karte mit einfachen Mustern; dann teilte er ihn für eine Studiengruppe ein. Ghyl kam im Tempel nur schleppend voran und wurde schon bald von anderen übertroffen, die weit jünger waren als er und spielend die kompliziertesten Muster sprangen: Sie sprangen, tanzten, wirbelten herum und zuckten mit den Zehen, um hier ein Zeichen und dort ein Emblem zu berühren, und schwangen verächtlich weit über die schwarzen und grünen ›Vergehen‹ hinweg, glitten rasch am Rand entlang oder drehten sich an den roten Dämonenpunkten vorbei. Daheim lehrte Amiante seinen Sohn in einem plötzlichen Anflug von Tatkraft das Lesen und Schreiben der Silben der dritten Stufe und sandte ihn in die Lehrhallen der Gilde, um dort die Mathematik zu erlernen. Es war ein geschäftiges Jahr für Ghyl. Die alten Tage des Herumlungerns und Wanderns schienen in der Tat weit weg zu sein. An seinem elften Geburtstag gab Amiante ihm ein Arzackpaneel, das er zu einem Schirm verarbeiten und mit einem Design seiner Wahl verzieren sollte. Ghyl sah die Skizzen seines Vaters durch und wählte eine angenehme
Komposition, die zwei Jungen zeigte, welche auf Obstbäume hinaufkletterten, und dieses Bild passte er dann den natürlichen Linien des Holzes an. Amiante war mit dem Design zufrieden. »Das ist durchaus passend«, sagte er, »neckisch und fröhlich. Es ist immer besser, etwas Heiteres zu produzieren. Glück und Zufriedenheit sind eine Zuflucht; Unzufriedenheit und Langeweile sind real. Die Menschen, die deine Schirme betrachten, haben ein Recht auf alle Fröhlichkeit, die du ihnen geben kannst, auch wenn diese Freude nur ein abstraktes Kunstwerk ist.« Ghyl fühlte sich genötigt, dem Zynismus seines Vaters zu widersprechen. »Ich betrachte Glück und Zufriedenheit durchaus nicht als Illusion! Warum sollten die Menschen sich mit Illusionen zufrieden geben, wenn die Wirklichkeit so schlimm ist? Sind Taten nicht besser als Träume?« Wie meistens, so zuckte Amiante auch diesmal mit den Schultern. »Es gibt so viel mehr wunderbare Träume als bedeutungsvolle Taten.« »Aber Taten sind real! Jede Tat ist tausend Träume wert!« Amiante lächelte reumütig. »Traum? Tat? Was davon ist die Illusion? Fortinone ist alt. Milliarden von Menschen haben hier gelebt und sind gestorben, kleine Fische im Meer der Zeit. Sie schwimmen ins sonnendurchflutete Flachwasser, schimmern ein oder zwei Augenblicke lang, und dann treiben sie wieder ins Trübe davon.« Mürrisch blickte Ghyl durch die bernsteinfarbene Fensterscheibe, die ihm einen verzerrten Blick auf das Treiben auf dem Undle-Platz gewährte. »Ich kann mich aber nicht wie ein Fisch fühlen, und du bist auch keiner. Wir leben in keinem Meer. Du bist du, und ich bin ich, und das hier ist unser Heim.« Er warf seine Werkzeuge beiseite und stapfte hinaus, um frische Luft zu schnappen. Er ging nach Norden in den
Veige-Bezirk, und seiner alten Gewohnheit folgend kletterte er die Dunkumhöhen hinauf. Sehr zu seiner Verärgerung fand er dort zwei kleine Jungen und ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Sie saßen im Gras und warfen Kiesel den Hang hinunter. Ihr Geschnatter wirkte zu ausgelassen für den Ort, an dem Ghyl so viel Zeit mit Nachdenken verbracht hatte. Er warf ihnen einen wütenden Blick zu, woraufhin sie ihn verwirrt anstarrten. Ghyl stapfte in Richtung Norden davon, den langen Hang zum sumpfigen Dodrechten-Flachland hinunter. Während er ging, dachte er an Floriel, den er schon eine Zeitlang nicht mehr gesehen hatte. Floriel hatte sich der Metallformergilde angeschlossen. Als Ghyl ihm zuletzt begegnet war, hatte er eine kleine schwarze Lederkappe getragen, unter der sein lockiges Haar auf eine Art hervorquoll, die fast zu ›reizend‹ für einen Jungen war. Floriel war ein wenig distanziert gewesen. Ghyl hatte den Eindruck gehabt, dass sein Freund sich nun wohl doch für eine vernünftige Laufbahn entschlossen hatte; das wilde Gerede der Kindheit schien vergessen zu sein.
Am späten Nachmittag kehrte Ghyl wieder nach Hause zurück. Amiante kramte in der Mappe mit seinen persönlichen Schätzen herum, die er für gewöhnlich in einem Schrank im dritten Stock unter Verschluss hielt. Ghyl hatte den Inhalt der Mappe noch nie aus der Nähe gesehen. Er trat näher und blickte Amiante über die Schulter, während dieser einige alte Schriften studierte: Manuskripte, Kalligraphien, Ornamente und Illustrationen. Ghyl bemerkte einige außergewöhnlich alte Schriftstücke, auf denen seltsam gleichförmige und regelmäßig angeordnete Buchstaben zu sehen waren. Ghyl war verwirrt. Blinzelnd blickte er auf die antiken Dokumente. »Wer kann so
sorgfältig und genau schreiben? Heutzutage bekommt kein Schreiber mehr so etwas hin.« »Was du hier siehst, ist durch einen Prozess entstanden, den man ›Drucken‹ nennt«, erklärte Amiante. »Damit kann man ein Schriftstück hundert-, ja tausendmal kopieren. Aber natürlich ist es heutzutage nicht mehr erlaubt, irgendetwas zu drucken.« »Wie macht man das?« »Es gibt mehrere Verfahren… jedenfalls soviel ich weiß. Manchmal ritzt man die Buchstaben in Metallstücke, taucht sie in Tinte und drückt sie aufs Papier, oder man spritzt die Tinte einfach in einem feinen Strahl auf die leere Seite. Auch kann man Buchstaben durch eine Schablone aufs Papier brennen. Ich weiß sehr wenig über diese Verfahren, doch ich glaube, auf anderen Welten finden sie noch Verwendung.« Eine Zeitlang studierte Ghyl die archaischen Symbole; dann bewunderte er die kräftigen Farben der Ornamente. Amiante, der ein kleines Pamphlet las, lachte leise. Ghyl drehte sich neugierig zu ihm um. »Was steht da?« »Nichts Bedeutendes. Das ist nur eine Anzeige, in dem ein elektrisches Boot von der Bidderbasse-Fabrik in Luschein angeboten wird. Der Preis: tausendzweihundert Zechinen.« »Was ist eine Zechine.« »Das ist Geld. So etwas Ähnliches wie Wohlfahrtsgutscheine. Ich glaube nicht, dass die Fabrik noch arbeitet. Vielleicht waren ihre Boote von schlechter Qualität. Vielleicht haben aber auch die Oberbahn-Lords ein Embargo über sie verhängt. Das ist schwer zu sagen. Es gibt keine zuverlässigen Aufzeichnungen darüber… zumindest nicht in Ambroy.« Amiante seufzte traurig. »Man kann niemals alles lernen, was man lernen will; aber wir sollten dennoch dankbar sein. Andere Zeiten waren weit schlechter als unsere. Es mangelt uns an nichts in Fortinone und auch nicht in Bauredel. Wir
leben natürlich nicht in Wohlstand – der ist den Lords vorbehalten –, aber es mangelt uns auch an nichts.« Ghyl betrachtete die gedruckten Buchstaben. »Sind die schwer zu lesen?« »Eigentlich nicht. Würdest du es gerne lernen?« Ghyl zögerte; er dachte an seine ohnehin schon vielen Verpflichtungen, die ihm nur wenig Zeit für sich selbst ließen. Wenn er je nach Damar, Morgan oder zu den Wunderwelten reisen wollte (von einer Raumjacht träumte er inzwischen nur noch selten), dann musste er fleißig arbeiten und sich Gutscheine verdienen. Aber er nickte. »Ja, ich würde es gerne lernen.« Amiante schien darüber erfreut zu sein. »Ich bin nicht sehr versiert darin, und es gibt vieles, was ich nicht verstehe – die Texte sind oft bruchstückhaft und in alter Sprache verfasst –, aber vielleicht können wir ihre Rätsel gemeinsam lösen.« Amiante schob seine Werkzeuge beiseite, legte ein Tuch auf den Schirm, an dem er arbeitete, und breitete die alten Schriften aus; dann holte er Feder und Papier und begann, die alten Buchstaben zu kopieren. Im Laufe der nächsten Tage bemühte sich Ghyl, die archaische Schrift zu meistern – was nicht so einfach war, wie er zunächst vermutet hatte. Amiante konnte die Symbole weder in Primärpiktogramme transliterieren, noch in Sekundärkursive oder Silben der dritten Ebene. Und nachdem Ghyl gelernt hatte, einzelne Buchstaben zu identifizieren und miteinander zu kombinieren, war er gezwungen, sich mit archaischen Idiomen, Konstruktionen und Anspielungen auseinanderzusetzen, die auch Amiante ihm nicht zu erklären vermochte. Eines Tages kam Helfred Cobol zum Einkaufen vorbei und fand Ghyl beim Kopieren der Manuskripte vor, während Amiante über seiner Mappe hockte und nachdachte. Helfred
Cobol stand in der Tür, stemmte die Hände in die Hüften und setzte einen säuerlichen Gesichtsausdruck auf. »Nun. Was geht denn hier im Laden des alten und des jungen Empfängers Tarvoke vor? Wollt Ihr in die Schreiberzunft überwechseln? Erzählt mir nicht, dass Ihr da neue Muster für Eure Schirme entwerfen würdet. Ich weiß es besser.« Er trat vor und warf einen Blick auf Ghyls Übungen. »Archaisch, wie ich sehe. Ich kann es nicht lesen, und ich bin ein Wohlfahrtsagent.« Mit einem Hauch mehr Gefühl als für gewöhnlich in der Stimme erwiderte Amiante: »Niemand kann ständig immer nur das Gleiche tun, und so schnitzen auch wir nicht nur von früh bis spät.« »Das verstehe ich«, erklärte Helfred Cobol. »Den Arbeiten nach zu urteilen, die Ihr seit meinem letzten Besuch abgeliefert habt, scheint Ihr in letzter Zeit allerdings recht wenig gearbeitet zu haben, egal ob nun früh oder spät. Macht weiter so, und Ihr werdet auf die Grundvergütung angewiesen sein.« Amiante blickte zu seinem fast fertigen Holzschirm, als wolle er abschätzen, wie viel daran noch zu tun war. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er. »Alles zu seiner Zeit.« Helfred Cobol trat um den schweren, alten Tisch herum und blickte auf die aufgeschlagene Mappe. Amiante zuckte kurz, als wolle er die Mappe schließen, doch er hielt sich zurück. Solch eine Handlung würde den Mann nur anregen, der zu Neugier und Misstrauen ausgebildet war. Helfred Cobol berührte die Mappe nicht, sondern beugte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen darüber. »Interessantes altes Zeug.« Er deutete auf die Mappe. »Gedrucktes Material, glaube ich. Für wie alt schätzt Ihr das?« »Das kann ich nicht wissen«, antwortete Amiante. »Clarence Tovanesko wird erwähnt; also dürfte es nicht älter als tausenddreihundert Jahre sein.«
Helfred Cobol nickte. »Es könnte sogar hier hergestellt worden sein. Wann traten die Antiduplizierungsregeln in Kraft?« »Ungefähr fünfzig Jahre nachdem dies hier wohl gedruckt worden ist.« Amiante nickte in Richtung des alten Textes. »Aber natürlich ist das nur eine Vermutung.« »Heutzutage sieht man nur noch selten etwas Gedrucktes«, sinnierte Helfred Cobol. »Noch nicht einmal Raumschiffe bringen mehr Contrabande herein, wie es noch zu Zeiten meines Großvaters üblich gewesen ist. Die Leute scheinen regeltreuer geworden zu sein, was uns Wohlfahrtsagenten das Leben natürlich erleichtert. Unglücklicherweise sind die Nichtkos dieses Jahr aber recht aktiv, diese zerstörungswütigen Anarchisten.« »Im Großen und Ganzen recht wertloses Gesindel«, stimmte ihm Amiante zu. »Im Großen und Ganzen?«, schnaufte Helfred Cobol. »Ich würde doch sagen alle! Sie sind vollkommen unproduktiv. Ein Tumor im Leib der Gesellschaft. Die Verbrecher saugen uns das Blut aus, und die Kleinhändler bringen die Buchhaltung der Agenturen und Gilden durcheinander.« Amiante hatte nichts mehr zu sagen. Helfred Cobol wandte sich Ghyl zu. »Ich rate dir, diese sinnlose Beschäftigung aufzugeben, so gelehrt sie auch sein mag«, sagte er und redete Ghyl bewusst wieder als Kind an. »Als Schreiber wirst du nie genug Gutscheine verdienen können. Auch habe ich gehört, dass deine Leistungen im Tempel alles andere als zufriedenstellend sind. Es heißt, du seiest bis jetzt nur eine Halbdrehung-zu-Ehren-Finukas gesprungen. Ihr bedürft der Übung, junger Empfänger Tarvoke! Und Ihr solltet auch mehr Zeit mit Hammer und Beitel verbringen!« »Ja, Herr«, sagte Ghyl in unterwürfigem Tonfall. »Ich werde mein Bestes tun.«
Helfred Cobol schlug ihm freundlich auf die Schulter und verließ das Geschäft. Amiante wandte sich wieder seiner Mappe zu; aber die Stimmung war dahin, und trotzig blätterte er ein Papier nach dem anderen um. Ghyl hörte ihn einen Fluch murmeln, und als er zu seinem Vater hinüberblickte, sah er, dass dieser in seinem Zorn einen seiner Schätze zerrissen hatte: ein großes Stück dünnen, schlechten Papiers, auf das schöne Karikaturen dreier einst berühmter Persönlichkeiten gedruckt waren. Nach seinem Ausbruch saß Amiante still und steif wie ein Felsen da und brütete über etwas, das er offenbar nicht mit Ghyl teilen wollte. Schließlich stand Amiante schweigend auf, warf seinen zweitbesten braun-blauen Umhang über die Schulter und ging hinaus, um irgendetwas zu erledigen. Ghyl folgte ihm zur Tür und blickte seinem Vater hinterher, während dieser den Platz überquerte und in einer der Gassen verschwand, die zum Nobile-Bezirk und zu den Docks führten. Ebenfalls unruhig geworden, konnte Ghyl sich nicht länger auf die alte Schrift konzentrieren. Er unternahm einen halbherzigen Versuch, eine schwierige Tempelaufgabe zu meistern; dann machte er sich wieder an die Arbeit und verbrachte den Rest des Tages mit seinem Schirm. Die Sonne war bereits hinter den Gebäuden untergegangen, die den Platz umgaben, als Amiante schließlich wieder heimkehrte. Er hatte mehrere Päckchen dabei, die er ohne ein Wort im Schrank verschwinden ließ; dann schickte er Ghyl auf den Markt, um Seetang und Lauch fürs Abendessen zu holen. Ghyl kam diesem Auftrag nur langsam und widerwillig nach; sie hatten noch einen Rest Eintopf, den Amiante, welcher recht sparsam war, was das Essen betraf, ursprünglich noch hatte essen wollen. Warum diese unnötige Ausgabe? Ghyl wusste jedoch, dass fragen sinnlos war. Im besten Falle würde Amiante ihm nur eine vage, unbedeutende Antwort geben, und
im schlimmsten Falle würde er schlicht so tun, als hätte er die Frage nicht gehört. Irgendetwas Besonderes lag in der Luft, dachte Ghyl. Schlecht gelaunt ging er zuerst zum Grünwarenhändler, dann in einen Laden für Meerespflanzen. Während des Abendessens wäre Amiante jedem außer Ghyl wie immer erschienen. Ghyl wusste es jedoch besser. Ohnehin kein gesprächiger Mann, starrte Amiante die meiste Zeit über düster auf seinen Teller; nur dann und wann blickte er auf und versuchte, ein unverfängliches Gespräch anzufangen. Er erkundigte sich nach Ghyls Fortschritten im Tempel – ein Thema, an dem er bisher nur wenig Interesse gezeigt hatte. Ghyl berichtete ihm, dass er mit den Übungen zwar recht gut vorankomme, doch der Katechismus bereite ihm Schwierigkeiten. Amiante nickte; Ghyl sah jedoch, dass er in Gedanken woanders war. Dann fragte Amiante, ob Ghyl im Tempel Floriel getroffen habe, da dieser sich ähnlichen Übungen unterziehen musste. »Ein seltsamer Junge«, bemerkte Amiante. »Er ist sehr leicht von irgendetwas zu überzeugen – oder zumindest ist das mein Eindruck –, und er hat etwas Verrücktes an sich, das ihn unsicher macht.« »Den gleichen Eindruck habe ich auch«, sagte Ghyl, »obwohl er inzwischen dem Druck nachzugeben und sich auf seine Arbeit in der Gilde zu konzentrieren scheint.« »Ja, so ist das«, sinnierte Amiante in einem Tonfall, als wäre das genaue Gegenteil – Trägheit und Nichtkooperation – die normale Verhaltensweise. Wieder folgte ein langes Schweigen. Amiante runzelte die Stirn und blickte auf seinen Teller, als bemerke er gerade zum ersten Mal, was er da aß. Er erwähnte etwas zu Helfred Cobol. »Unser Agent meint es nur gut; aber er versucht, zu viele Konflikte zu lösen. Das macht ihn unglücklich. Er wird niemals zurechtkommen.«
Ghyl war sehr interessiert an der Meinung seines Vaters. »Ich habe ihn immer als ungeduldig und rüde empfunden.« Amiante lächelte und versank wieder in seinen Gedanken. Dann machte er jedoch noch eine weitere Bemerkung: »Wir haben Glück mit Helfred Cobol. Mit den höflichen Agenten kommt man weit schwerer zurecht. Sie sind nur an der Oberfläche glatt; sie sind undurchschaubar… Wie würde es dir gefallen, ein Wohlfahrtsagent zu sein?« Ghyl hatte noch nie darüber nachgedacht. »Ich bin kein Cobol. Ich vermute, sie verdienen eine Menge Gutscheine… oder jedenfalls habe ich das gehört. Ich wäre allerdings lieber ein Lord.« »Natürlich. Wer würde das nicht sein wollen?« »Aber einer zu werden ist vollkommen unmöglich, nicht wahr?« »Zumindest hier in Fortinone bleiben sie unter sich.« »Waren sie auch Lords auf ihrer Heimatwelt? Oder waren sie dort nur einfache Empfänger wie wir?« Amiante schüttelte den Kopf. »Einst, vor langer Zeit, arbeitete ich für eine Agentur, die Informationen aus anderen Welten vertrieb. Damals hätte ich das vielleicht fragen können, doch meine Gedanken waren woanders. Ich weiß nichts über die Heimatwelt der Lords. Vielleicht ist es Alode, vielleicht aber auch die Erde, von der ich gehört habe, dass sie die ursprüngliche Heimat aller Menschen sein soll.« »Ich frage mich«, sagte Ghyl, »warum die Lords hier in Fortinone leben. Warum haben sie sich nicht in Salula, in Luschein oder auf den Manginseln niedergelassen?« Amiante zuckte mit den Schultern. »Ohne Zweifel aus demselben Grund warum wir dort leben, wo wir leben. Wir sind hier geboren worden; also leben wir hier, und hier werden wir auch sterben.«
»Nehmen wir einmal an, ich würde nach Luschein gehen und mich zum Raumfahrer ausbilden lassen. Würden die Lords mich dann auf einer ihrer Jachten anheuern?« Amiante schürzte unschlüssig die Lippen. »Die erste Schwierigkeit bestünde darin, erst einmal einen Ort zu finden, wo man die Raumfahrerei erlernen kann. Es ist ein sehr beliebter Beruf.« »Hast du dir je gewünscht, Raumfahrer zu werden?« »O ja, das habe ich. Ich hatte auch meine Träume. Trotzdem… Es ist wohl das Beste, beim Holzschnitzen zu bleiben. Auf jeden Fall werden wir auf diese Art niemals hungern müssen.« »Aber wir werden auch nie finanziell unabhängig sein«, sagte Ghyl und seufzte enttäuscht. »Das stimmt.« Amiante stand auf und trug seinen Teller zum Spülbecken, wo er ihn mit einem Minimum an Wasser und Sand reinigte. Ghyl beobachtete die akribische Vorgehensweise seines Vaters mit beiläufigem Interesse. Amiante, das wusste er, ärgerte sich über jeden Gutschein, den er gezwungenermaßen an die Lords abgeben musste. Das war etwas, was Ghyl zutiefst verwirrte. Er fragte: »Die Lords nehmen sich doch 1,18 Prozent von allem, was wir produzieren und verdienen, nicht wahr?« »Das tun sie«, antwortete Amiante. »1,18 Prozent von allem, sei es nun importiert, für den Export oder den heimischen Markt bestimmt.« »Warum verbrauchen wir dann so wenig Wasser und Energie, und warum gehen wir so viel zu Fuß? Müssen wir die Gutscheine nicht ohnehin bezahlen?« Amiantes Gesicht nahm einen sturen Ausdruck an wie stets, wenn er von den Gutscheinen sprach, die an die Lords gezahlt werden mussten. »Überall stehen Zähler, und die Zähler
messen alles mit Ausnahme der Luft, die wir atmen. Selbst das Abwasser wird gemessen. Die Wohlfahrtsagentur hält dann von jedem Empfänger einen bestimmten Betrag ab, der auf einer vorher festgelegten Grösse beruht, welche sich aus dem Verbrauch errechnet; dabei handelt es sich in jedem Fall um einen ausreichend großen Betrag, um die Lords, die Wohlfahrtsagenten und alle anderen Funktionäre zu bezahlen. Für die Empfänger bleibt wenig genug.« Ghyl nickte unschlüssig. »Wie sind die Lords überhaupt in den Besitz all der Versorgungseinrichtungen gekommen?« »Das war vor ungefähr tausendfünfhundert Jahren. Damals hat es Kriege gegeben – mit Bauredel, mit den Manginseln und mit Lankenburg. Davor gab es den Sternenkrieg, davor den Schrecklichen Krieg und davor… unzählige Kriege. Der letzte Krieg zwischen Kaiser Riskanie und den Weißaugenmännern endete in der Zerstörung der Stadt. Ambroy war verwüstet, die Türme zerstört, und die Bevölkerung lebte wie Wilde. Dann erschienen die Lords in ihren Raumschiffen und brachten alles wieder in Ordnung. Sie erzeugten Energie, sorgten für Wasser, bauten Transitröhren, öffneten die Kanäle wieder und organisierten den Im- und Export. Dafür verlangten sie von allem ein Prozent, was man ihnen auch gewährte. Als sie dann den Raumhafen gebaut hatten, gestand man ihnen weitere 0,18 Prozent zu, und bei diesen 1,18 Prozent ist es bis heute geblieben.« »Und wann hat man das Duplizieren für illegal und falsch erklärt?« Amiante zog die Brauen zusammen. »Die ersten Einschränkungen wurden vor ungefähr tausend Jahren eingeführt, nachdem unser Handwerk und andere sich allmählich einen Ruf erworben hatten.« »Und in all der Zeit davor haben die Menschen Dinge dupliziert?«, fragte Ghyl in ehrfürchtigem Tonfall.
»So viel und so oft sie für angemessen hielten.« Amiante stand auf und ging in die Werkstatt, um weiter an seinem Schirm zu arbeiten. Ghyl trug sein Geschirr zur Spüle, und während er es abwusch, dachte er über die bizarren alten Zeiten nach, als die Menschen noch ohne Rücksicht auf die Wohlfahrtsregeln arbeiten konnten. Als alles sauber war, ging auch er zu seiner Bank, um eine Zeitlang an seinem Schirm zu arbeiten. Dann beobachtete er Amiante, der die ohnehin schon glänzende Oberfläche seines Werks polierte, auch wenn die wenigen Unregelmäßigkeiten kaum noch zu erkennen und der Schirm nahezu perfekt war. Ghyl versuchte, das Gespräch wieder aufzunehmen, doch Amiante hatte nichts mehr zu sagen. Schließlich wünschte ihm Ghyl eine gute Nacht und stieg in den dritten Stock hinauf. Er ging zum Fenster, blickte über den Undle-Platz und dachte an die Menschen, die über diesen Platz marschiert waren, um Triumphe zu feiern oder Niederlagen zu betrauern, an die sich schon lange niemand mehr erinnerte. Am Himmel leuchtete Damar, eine blau, rosa, gelb gesprenkelte Scheibe, und sein Licht ließ die alten Gebäude wie Perlmutt schimmern. Das Licht aus der Werkstatt fiel unmittelbar unter dem Fenster auf die Straße. Amiante arbeitete spät – was sehr ungewöhnlich war, denn Amiante zog das Tageslicht vor, um den Lords zumindest einen Teil der Energieabgaben vorzuenthalten. Andere Häuser um den Platz herum, deren Bewohner diese Einstellung teilten, waren bereits dunkel. Als Ghyl sich gerade abwenden wollte, flackerte das Licht aus der Werkstatt plötzlich auf und verschwand. Verwirrt blickte Ghyl hinunter. Sein Vater war niemand, der zu Heimlichkeiten neigte; er pflegte sich nur meist recht vage auszudrücken, und er neigte dazu, in seinen Gedanken zu versinken. Warum also hatte Amiante nun die Läden geschlossen? Bestand vielleicht eine Verbindung zwischen
dieser Heimlichtuerei und den Päckchen, die Amiante heute Abend mitgebracht hatte? Ghyl setzte sich auf seine Couch. Die Wohlfahrtsregeln beinhalteten kein Verbot privater oder heimlicher Aktivitäten, solange diese nicht die gesellschaftspolitischen Regeln verletzten, was tatsächlich bedeutete, dass sie im Vorfeld von einem Wohlfahrtsagenten genehmigt werden mussten. Steif saß Ghyl auf der Couch und krallte sich in die Tagesdecke. Er wollte nichts entdecken, was sowohl seinen Vater als auch ihn in Verlegenheit bringen würde; aber trotzdem… Widerwillig stand Ghyl wieder auf. Leise stieg er die Treppe hinunter. Er bemühte sich nicht nur, so wenig Lärm wie möglich zu verursachen, sondern er achtete auch darauf, nicht allzu ›verstohlen‹ vorzugehen, da er sich nicht als Schnüffler fühlen wollte. Koch- und Wohnbereich rochen nach Eintopf und Seetang. Ghyl ging zu dem viereckigen Lichtfleck, der den Anfang der Treppe markierte… Das Licht ging aus. Ghyl erstarrte. Bereitete sich Amiante darauf vor, nach oben zu kommen…? Doch es waren keine Schritte zu hören. Amiante blieb in der nun dunklen Werkstatt. Aber ganz dunkel wurde es nicht. Plötzlich blitzte ein blauweißes Licht auf und brannte ein oder zwei Sekunden lang. Dann, nur einen Augenblick später, erschien ein mattes, flackerndes Glühen. Ängstlich schlich Ghyl an den Rand der Treppe und blickte durch das Geländer in die Werkstatt hinab. Ein paar Augenblicke lang starrte er einfach nur verwirrt hinab, während sein Herz derart laut schlug, dass er sich wunderte, dass Amiante ihn nicht hörte. Aber Amiante war vollkommen in seine Arbeit vertieft. Er regelte einen Mechanismus ein, den er offenbar extra für diese Gelegenheit entworfen hatte: einen ungefähr zwei Fuß langen Kasten aus recht grobem Material, einen Fuß hoch und einen Fuß breit
und mit einer Art Röhre an einem Ende. Dann ging Amiante zu einer Schüssel und blickte auf einen blass schimmernden Gegenstand in einer Flüssigkeit hinab. Er schüttelte den Kopf und schnalzte offensichtlich unzufrieden mit der Zunge. Anschließend löschte er die Lichter mit Ausnahme einer einzigen Kerze und wandte sich einer weiteren, mit Flüssigkeit gefüllten Schüssel zu, in die er ein steifes Stück Papier schob. Mehrmals wendete er das Papier in der Flüssigkeit, bis es vollkommen davon durchtränkt war; schließlich zog er es wieder heraus und legte es auf ein Gestell vor dem Kasten. Dann drückte er einen Knopf; aus der Röhre schoss ein greller blauweißer Blitz hervor, und auf dem Papier erschien ein Bild. Das Licht verschwand. Rasch legte Amiante das Papier auf die Werkbank und träufelte ein schwarzes Pulver darüber, das er mit einem Roller einrieb. Dann hob er das Papier in die Höhe, schüttelte es, um es von den Pulverresten zu befreien, und schob es in eine der Schüsseln. Nach einer Weile nickte er zufrieden. Er zog das Blatt wieder heraus, knüllte es zusammen und warf es beiseite. Schließlich wiederholte er den ganzen Prozess. Fasziniert beobachtete ihn Ghyl. Es war vollkommen klar, was hier geschah: Sein Vater verletzte gerade die grundsätzlichste aller Wohlfahrtsregeln. Er fertigte Duplikate an. Ghyl musterte seinen Vater, als wäre er ein Fremder, der irgendwelche unheimlichen Kräfte besaß. Sein pflichtbewusster Vater, der allseits geachtete Holzschnitzer, fertigte Ehiplikate an! Das war zwar nicht zu leugnen, aber dennoch unvorstellbar! Ghyl fragte sich, ob er wachte oder träumte. Das Ganze besaß in der Tat etwas Groteskes, was an einen Traum erinnerte. In der Zwischenzeit hatte Amiante einen weiteren Gegenstand in seine Projektionskiste gesteckt und dessen Bild
auf ein leeres Blatt Papier gebannt. Ghyl erkannte den Gegenstand als eines der Dokumente aus Amiantes Sammlung alter Schriften. Amiante ging nun selbstbewusster zu Werke. Er fertigte zwei Kopien an. Und damit fuhr er fort, bis er alle alten Papiere in seiner Mappe kopiert hatte. Schließlich schlich Ghyl wieder nach oben in sein Zimmer und versuchte, nicht unnötig darüber zu spekulieren, was er gerade gesehen hatte. So spät in der Nacht wollte er nicht mehr nachdenken; doch eine schreckliche Sorge blieb: Trotz der geschlossenen Läden war das Licht auf dem Platz zu sehen. Angenommen, jemand bemerkte das seltsame Flackern und Blitzen und fragte sich nach der Ursache dafür… Ghyl blickte aus dem Fenster nach unten, und das ständige Aus und An sowie die blauweißen Blitze wirkten doch sehr verdächtig. Wie konnte Amiante nur so unvorsichtig sein, so vollkommen geistesabwesend, dass er sich über solche Dinge keine Gedanken machte? Zu Ghyls Erleichterung wurde Amiante seiner verbotenen Aktivitäten schon bald müde. Ghyl hörte ihn in der Werkstatt hin und her gehen und seine Geräte verstauen. Dann kam Amiante langsam die Treppe hinauf. Ghyl gab vor, bereits zu schlafen. Amiante ging ins Bett. Ghyl lag jedoch noch länger wach, und er vermutete, dass auch Amiante noch nicht schlief, sondern seinen seltsamen Gedanken nachhing… Schließlich schlief Ghyl ein.
Am Morgen war Amiante wieder ganz der Alte. Während Ghyl sein Frühstück aus Brei und Fischflocken aß, dachte er über Folgendes nach: Amiante hatte in der vergangenen Nacht insgesamt acht, neun oder vielleicht sogar zehn Papiere aus seiner Sammlung kopiert. Es war nicht unwahrscheinlich, dass
er auch vom Rest Duplikate anfertigen würde. Ghyl musste ihn irgendwie darauf aufmerksam machen, dass man das Licht auf dem Platz sehen konnte. So beiläufig wie möglich fragte er: »Hast du gestern Abend die Lampe repariert?« Zunächst blickte Amiante seinen Sohn nur verwirrt an; dann runzelte er verlegen die Stirn. Amiante war vermutlich der unbegabteste Heuchler überhaupt. »Äh… Wie kommst du darauf?« »Ich habe durch Zufall aus dem Fenster geschaut und gesehen, dass ständig das Licht anging. Du hattest zwar die Läden geschlossen, aber das Licht war draußen deutlich zu sehen. Deshalb vermute ich, dass du die Lampe repariert hast.« Amiante rieb sich das Kinn. »So etwas Ähnliches… ja, so etwas Ähnliches. Nun denn… Gehst du heute in den Tempel?« Das hatte Ghyl ganz vergessen. »Ja. Auch wenn ich mit den Übungen kaum zurechtkomme.« »Nun, tu einfach dein Bestes. Einigen Menschen fällt es halt leichter als anderen.« Ghyl verbrachte einen fürchterlichen Morgen im Tempel. Unbeholfen sprang er einfache Muster, während Kinder, die weit jünger, doch hingebungsvoller waren als er, geschickt die Elementarmuster sprangen und sich so das Lob ihres Führungsspringers verdienten. Und um alles noch schlimmer zu machen, kam der Dritte Assistenzspringer zu Besuch und beobachtete erstaunt Ghyls peinliche Hopser; schließlich war er von dem Anblick so entsetzt, dass er die Hände in die Luft warf, mit den Augen rollte und die Halle wieder verließ. Als Ghyl wieder nach Hause zurückkehrte, stellte er fest, dass Amiante einen neuen Schirm begonnen hatte. Anstatt des üblichen Arzackholzes hatte Amiante sich ein Stück teuren Ingholzes besorgt, das ihm bis zu den Augen reichte und so breit war wie seine ausgestreckten Arme. Den ganzen Nachmittag über arbeitete er daran, seinen Entwurf auf das
Paneel zu übertragen. Es war ein beeindruckendes Design, doch Ghyl empfand Amiantes Inkonsequenz ein wenig befremdlich, wenn auch in gewissem Sinne amüsant: Erst riet er Ghyl, nur fröhliche Themen für seine Arbeiten zu wählen, und nun fertigte er selbst ein Stück voller Melancholie an. Das Muster bestand aus einem mit Blättern geschmückten Gittergeflecht, aus dem eine Reihe kleiner, ernster Gesichter herausblickte. Keines der Gesichter ähnelte einem anderen; nur ihre Blicke glichen einander in Ernst und Kraft. Über dem Geflecht standen drei Worte in einer schönen, offenen Schrift: ›Erinnere dich meiner‹. Erst spät am Nachmittag stellte Amiante die Arbeit an dem neuen Schirm ein. Er gähnte, reckte sich und stand auf. Dann ging er zur Tür und blickte auf den Platz hinaus, auf dem es jetzt nur so von Menschen wimmelte, die von ihrer Arbeit in der Stadt zurückkehrten: Schauermänner, Bootsbauer, Mechaniker; Holz- und Metallarbeiter, Steinhändler und Dienstmänner; Schreiber und Buchhalter; Schlächter und Fischer; Statistiker und Wohlfahrtsagenten; Hausmädchen, Krankenschwestern, Ärzte und Zahnärzte – letztere allesamt weiblichen Geschlechts. Als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, überprüfte Amiante die Fensterläden. Er rieb sich das Kinn; dann drehte er sich zu Ghyl um, der so tat, als habe er nichts bemerkt. Amiante ging zum Schrank, holte eine Flasche heraus und schenkte zwei Gläser roten Schilfblütenweins ein. Eines davon reichte er Ghyl; er selbst nippte an dem anderen. Ghyl blickte auf. Es fiel ihm schwer, diesen leicht fülligen, ruhigen und in sich gekehrten Mann mit jener Gestalt in Einklang zu bringen, die in der vergangenen Nacht so eindeutig gegen die Wohlfahrtsregeln verstoßen hatte. Wäre das alles doch nur ein Traum gewesen – ein Albtraum! Die so hilfreichen und geduldigen Wohlfahrtsagenten konnten unerbittlich werden,
wenn sie herausfanden, dass irgendjemand die Wohlfahrtsregeln nicht beachtete. Ghyl hatte einmal gesehen, wie ein Mann zur Rehabilitation abgeführt worden war, weil er seine Frau ermordet hatte, und die Vorstellung, dass auch Amiante so behandelt werden könnte, entsetzte ihn derart, dass es ihm den Magen umdrehte. Amiante sprach über Ghyls Schirm: »… ein wenig mehr Tiefe… vor allem hier am Rand. Das Wichtigste ist Vitalität. Schließlich sind hier Jünglinge dargestellt, die fröhlich durchs Land tollen. Warum das Thema mit zu viel Feinheit verderben?« »Ja«, murmelte Ghyl. »Ich werde von nun an tiefer schnitzen.« »Ich glaube, etwas weniger Einzelheiten beim Gras würden mir besser gefallen. Zu viele Details berauben die Blätter… Aber es ist deine Interpretation, und du musst tun, was du für richtig hältst.« Ghyl nickte gedankenverloren. Er legte den Beitel beiseite und trank den Wein; heute würde er nicht mehr schnitzen. Normalerweise war er es, der ein Gespräch begann und redete, während Amiante zuhörte; doch nun waren die Rollen vertauscht. Amiante wandte sich dem Abendessen als Thema zu. »Vergangene Nacht hatten wir ja Seetang. Ich fand ihn ein wenig fad. Was hältst du von einem Salat mit Nüssen und Käse? Oder wären dir Brot und kaltes Fleisch lieber? Es sollte allerdings nicht zu teuer sein.« Ghyl antwortete, dass er gerne Brot und kaltes Fleisch essen würde, und Amiante schickte ihn in den Laden. Als Ghyl beim Hinausgehen einen Blick zurück warf, sah er zu seinem Entsetzen, dass Amiante wieder die Läden überprüfte, sie vor und zurück schwang, öffnete und wieder schloss.
In dieser Nacht arbeitete Amiante wieder mit der Dupliziermaschine, doch diesmal hatte er alle Spalten in den Läden mit Tüchern verstopft. Kein Licht flackerte mehr auf den Platz hinaus, das die Neugier eines vorüberkommenden Nachtagenten erregt hätte. Unglücklich ging Ghyl zu Bett. Er war nur froh, dass Amiante wenigstens Vorsichtsmaßnahmen ergriff, wenn er schon beschlossen hatte, mit seinen Verstößen gegen die Wohlfahrtsregeln fortzufahren.
Kapitel Sechs
Trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die Amiante getroffen hatte, wurde sein Fehlverhalten entdeckt – allerdings nicht von Helfred Cobol, der Amiante kannte und es deshalb vermutlich bei einer wütenden Moralpredigt hätte bewenden lassen und ihn anschließend im Auge behalten hätte. Nein, Amiantes Aktivitäten wurden unglücklicherweise von Ells Wolleg entdeckt, dem Gildendelegierten, einem übereifrigen kleinen Mann mit einem missmutigen gelben Eulengesicht. Er war zu einer Routineüberprüfung von Amiantes Werkzeugen und Arbeitsbedingungen vorbeigekommen, und als er dabei ein Stück Holz hochhob, entdeckte er drei fehlerhafte Kopien eines alten Diagramms, die Amiante unvorsichtigerweise dort hatte liegen lassen. Wolleg beugte sich vor und runzelte die Stirn. Seine erste Regung war schlicht Verärgerung darüber, dass Amiante so unordentlich war, seine eigenen, privaten Arbeiten mit denen für die Gilde zu mischen. Dann, als offensichtlich wurde, dass es sich hier um einen Fall von Duplizierung handelte, stieß er einen komischen, hohen Schrei aus. Amiante, der gerade Werkzeuge am anderen Ende des Tisches ordnete und Späne beseitigte, verzog traurig und verzweifelt das Gesicht. Ghyl saß wie erstarrt daneben. Wolleg drehte sich zu Amiante um, und seine Augen funkelten hinter den dicken Brillengläsern. »Seid so gut und verständigt sofort per Fernverbindung die Wohlfahrtsagentur.« Amiante schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Fernverbindung.« Wolleg richtete den Finger auf Ghyl. »Lauf, Junge. Lauf so schnell du kannst. Ruf die Wohlfahrtsagenten her.«
Ghyl erhob sich halb und… dann ließ er sich wieder auf den Stuhl zurückfallen. »Nein.« Ells Wolleg verschwendete keine Zeit damit, mit Ghyl zu streiten. Er ging zur Tür, schaute sich auf dem Platz um und marschierte zu einem öffentlichen Fernverbindungsterminal. Sobald Wolleg den Laden verlassen hatte, sprang Ghyl auf. »Rasch, laß uns die anderen Sachen verstecken!« Amiante stand einfach nur da, als könne er sich nicht mehr bewegen. »Rasch!«, zischte Ghyl. »Er wird gleich wieder zurück sein!« »Wo soll ich sie hintun?«, murmelte Amiante. »Sie werden alles durchsuchen.« Ghyl rannte zum Schrank und holte Amiantes Geräte heraus. Den Kasten füllte er mit Spänen und anderem Abfall, und in die Linsenröhre stopfte er Drahtstifte; dann schob er das Ganze zwischen die anderen Behälter. Die Birnen, die den blauen Blitz verursachten, und der Batterieblock stellten jedoch ein gewisses Problem dar, das Ghyl dadurch löste, dass er sie hinausbrachte und über den Zaun auf einen angrenzenden Abfallhaufen warf. Eine Zeitlang beobachtete Amiante ihn mit leerem Blick, dann kam ihm plötzlich ein Gedanke, und er rannte die Treppe hinauf. Nur Sekunden, bevor Wolleg wieder im Laden erschien, kehrte er zurück. Wolleg sprach in steifem, gemessenem Tonfall. »Streng genommen gilt meine Sorge nur den Verordnungen und Standards der Gilde. Nichtsdestoweniger stehe ich im Dienst der Öffentlichkeit, und so habe ich meine Pflicht getan. Ich möchte hinzufügen, wie sehr es mich beschämt, Duplikate zweifellos irregulären Ursprungs ausgerechnet bei einem Holzschnitzer zu finden.« »Ja«, murmelte Amiante, »das muss ein schwerer Schlag für Euch sein.«
Wolleg wandte seine Aufmerksamkeit den Duplikaten zu und stieß ein angewidertes Grunzen aus. »Wie ist das hier in Eure Hände gelangt?« Amiante lächelte schwach. »Wie Ihr schon vermutet habt, sind sie irregulären Ursprungs.« Ghyl seufzte leise. Zumindest hatte Amiante in einem Anflug plötzlicher Reue nicht beschlossen, alles auszuplappern. Drei Wohlfahrtsagenten erschienen: Helfred Cobol und zwei Aufseher mit scharfem, stechendem Blick. Wolleg erklärte ihnen, worum es ging, und zeigte ihnen die Duplikate. Helfred Cobol blickte zu Amiante, schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. Die beiden anderen Agenten durchsuchten kurz den Laden, fanden aber nichts. Es war offensichtlich, dass ihr Verdacht nicht so weit ging, dass Amiante selbst es gewesen sein könnte, der die Duplikate angefertigt hatte. Dann führten die beiden Aufseher Amiante trotz Ghyls eindringlicher Proteste davon. Helfred Cobol zog Ghyl beiseite. »Pass auf deine Manieren auf, Junge«, mahnte er vertraulich. »Dein Vater muss in die Agentur und sich dort in einem Verhör verantworten. Wenn die Anklage klein ausfällt – und davon gehe ich eigentlich aus –, wird er der Rehabilitation entgehen.« Ghyl hatte schon früher von kleinen und großen Anklagen gehört, doch er hatte das stets nur für eine Redewendung gehalten. Nun war er dessen nicht mehr so sicher. Die Worte besaßen einen bedrohlichen Klang. Er war jedoch zu niedergeschlagen, um Helfred Cobol irgendwelche Fragen zu stellen, und so setzte er sich auf die Bank. Helfred Cobol ging in der Werkstatt auf und ab, griff nach diesem und jenem Werkzeug, spielte am Holz herum und blickte gelegentlich zu Ghyl, als wolle er ihm etwas sagen, wisse aber nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Schließlich
murmelte er etwas Unverständliches, ging zur Tür und blickte auf den Platz hinaus. Ghyl fragte sich, worauf er wartete. Auf Amiantes Rückkehr? Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch bei der Ankunft einer großen, grauhaarigen Wohlfahrtsagentin, deren Aufgabe es offensichtlich war, die Aufsicht über das Haus zu übernehmen. Helfred Cobol nickte ihr höflich zu und ging schweigend davon. Mit strenger, klarer Stimme sagte die Frau zu Ghyl: »Ich bin Schwester Hantillebeck. Da du noch minderjährig bist, hat man mich beauftragt, bis zur Rückkehr des verantwortlichen Erwachsenen den Haushalt zu führen. Um es kurz zu machen: Du unterstehst jetzt meiner Verantwortung. Das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass sich irgendetwas an deinem Alltag ändert. Du musst weiterhin arbeiten und deine Übungen machen, wie du es gewohnt bist.« Schweigend beugte sich Ghyl über seinen Schirm. Schwester Hantillebeck verschloss die Tür, inspizierte das Haus, schaltete überall das Licht an und rümpfte ob Amiantes nicht gerade akribischer Haushaltsführung die Nase. Dann kehrte sie wieder in die Werkstatt zurück, ohne vorher die Lichter ausgeschaltet zu haben, auch wenn noch immer Licht durch die Fenster hereinfiel. Ghyl wagte es, vorsichtig zu protestieren. »Falls es Euch nichts ausmacht, würde ich gerne die Lichter ausschalten. Mein Vater mag es nicht, den Lords mehr zu geben als unbedingt notwendig.« Die Bemerkung ärgerte Schwester Hantillebeck. »Es macht mir aber etwas aus. Das Haus ist dunkel und ekelerregend schmutzig. Ich will sehen, wohin ich meinen Fuß setze. Ich will nicht plötzlich in irgendetwas Widerliches treten.« Ghyl dachte einen Augenblick lang nach; dann sagte er vorsichtig: »Es gibt hier nichts Widerliches. Wirklich. Ich
weiß, wie sehr sich mein Vater aufregen würde… und wenn ich die Lampen ausschalte, kann ich ja jedesmal vor Euch herlaufen und sie für Euch anmachen, wenn Ihr irgendwohin gehen wollt.« Schwester Hantillebeck wirbelte herum und starrte Ghyl mit einem derart wilden Blick an, dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Die Lampen brennen weiter! Was geht mich die Armut deines Vaters an? Soviel ich weiß, ist er nicht viel besser als ein Chaotizist. Will er Fortinone erwürgen? Sollen wir um seinetwillen Dreck fressen?« »Ich verstehe nicht«, erwiderte Ghyl mit schwacher Stimme. »Mein Vater ist ein guter Mann. Er würde niemals irgendjemandem ein Leid zufügen.« »Bah.« Die Schwester schwang herum, machte es sich auf einer Couch bequem und begann, ein Silbernetz zu häkeln. Langsam kehrte Ghyl wieder zu seinem Schirm zurück. Die Schwester nahm einen Streifen gezuckerten Seetangs aus ihrer Tasche, eine Flasche Sauerbier und ein Stück Quarkkuchen. Ghyl beschloss nun doch, seine Arbeit für heute ruhen zu lassen. Er stieg in den Wohnbereich hinauf und dachte nicht mehr an Schwester Hantillebeck. Er aß einen Teller dicke Bohnen; dann löschte er gegen den Willen der Schwester alle Lampen in den oberen Stockwerken und ging zu seiner Couch. Er wusste nichts wie und wo die Schwester die Nacht verbrachte, und als er am nächsten Morgen hinunterging, war sie verschwunden. Kurz darauf schlurfte Amiante in den Laden. Sein dünnes graues Haar war zerzaust, und seine Augen glitzerten wässerig wie Quecksilber. Er blickte zu Ghyl; Ghyl blickte zu ihm. Ghyl fragte: »Haben… haben sie dir wehgetan?« Amiante schüttelte den Kopf. Er trat ein paar Schritte in den Raum und blickte vorsichtig hierhin und dorthin. Dann ging er
zu einer Bank, setzte sich und strich sich mit der Hand über den Kopf, was sein Haar noch mehr durcheinander brachte. Ghyl beobachtete ihn besorgt und versuchte festzustellen, ob sein Vater krank war oder nicht. Amiante hob beruhigend die Hand. »Kein Grund zur Sorge. Ich habe nur schlecht geschlafen… Haben sie gesucht?« »Nicht gründlich.« Amiante nickte schwach. Er stand auf, ging zur Tür und blickte hinaus auf den Platz, als wäre die Szenerie – die Fersenkornbäume, die Annelbüsche, die Gebäude auf der anderen Seite – ihm fremd. Dann drehte er sich wieder um, kehrte zur Bank zurück und betrachtete die halb fertigen Gesichter auf seinem Schirm. Ghyl fragte: »Soll ich dir etwas zu essen bringen? Oder etwas Tee vielleicht?« »Im Augenblick nicht.« Amiante ging nach oben. Eine Minute später kehrte er mit seiner alten Mappe wieder zurück, die er auf die Werkbank legte. Ghyl fragte entsetzt: »Sind dort die Kopien drin?« »Nein. Die sind unter den Dachpfannen.« Es schien Amiante nicht sehr zu wundern, dass Ghyl so viel über seine Aktivitäten wusste. »Aber… Warum?«, fragte Ghyl. »Warum hast du diese Dinge überhaupt dupliziert?« Langsam hob Amiante den Kopf und blickte seinem Sohn in die Augen. »Wenn nicht ich«, antwortete er, »wer hätte es dann tun sollen?« »Aber… die Regeln… die Verordnungen…« Ghyls Stimme verhallte. Amiante erwiderte nichts darauf. Das Schweigen war fast so bedeutungsvoll wie alles, was hätte gesagt werden können.
Amiante öffnete die Mappe. »Ich hatte gehofft, du würdest sie für dich selbst entdecken, nachdem du erst einmal gelernt hättest, wie man sie liest.« »Was genau ist das denn?« »Verschiedene Dokumente aus der Vergangenheit – aus einer Zeit, da Regeln noch lästig oder vielleicht sogar unnötig waren.« Amiante nahm eines der Papiere, betrachtete es kurz und legte es beiseite. »Einige sind sehr wertvoll.« Er blätterte die Dokumente durch. »Hier: die Charta des alten Ambroy. Kaum noch zu lesen und heute den meisten unbekannt. Aber sie ist immer noch in Kraft.« Auch dieses Dokument legte er beiseite und berührte ein anderes. »Hier: die Legende von Emphyrio.« Ghyl blickte auf die Buchstaben hinab und erkannte sie als die archaische Schrift, die sich noch immer seinem Verständnis entzog. Amiante las ihm den Text laut vor. Am Ende der Seite hielt er an und legte das Papier beiseite. »Ist das alles?«, fragte Ghyl. »Ich weiß es nicht.« »Aber wie endet die Geschichte?« »Das weiß ich auch nicht.« Unzufrieden verzog Ghyl das Gesicht. »Ist sie wahr?« Amiante zuckte mit den Schultern. »Wer weiß das schon? Vielleicht der Historiker.« »Wer ist das?« »Jemand, der weit weg von hier lebt.« Amiante ging zum Schrank und holte Pergament, Tinte und einen Stift. Er begann, das Fragment abzuschreiben. »Ich muss sie alle kopieren. Ich muss sie überall verteilen, damit sie nicht verloren gehen.« Er beugte sich über das Pergament. Ghyl beobachtete ihn ein paar Minuten lang; dann drehte er sich zur Tür um, als von dort plötzlich ein Schatten hereinfiel. Ein Mann trat langsam in den Laden. Amiante blickte auf;
Ghyl blieb im Hintergrund stehen. Der Besucher war groß mit schönem Gesicht und kurzgeschorenem grauen Haar. Er trug ein Jackett aus schwarzem Stoff und mit einem Dutzend Fransen unter jedem Arm, eine weiße Weste und eine braunweiß gestreifte Hose: Es war ein prächtiger, würdevoller Anzug, wie er einem Mann von hohem Stand entsprach. Ghyl, der den Mann schon einmal bei einem Gildentreffen gesehen hatte, erkannte ihn als Em. Blaise Fodo, den Gildenmeister höchstpersönlich. Langsam stand Amiante auf. Fodo sprach mit voller, ernster Stimme. »Ich habe von Euren Schwierigkeiten gehört, Em. Tarvoke, und ich bin gekommen, um Euch die besten Wünsche der Gilde zu überbringen und Euch unseren Rat anzubieten, solltet Ihr ihn benötigen.« »Ich danke Euch, Em. Fodo«, erwiderte Amiante. »Ich wünschte, Ihr wärt hier gewesen, um Ells Wolleg davon abzuraten, mich verhaften zu lassen. Das wäre ein ›Rat‹ gewesen, wie ich ihn hätte brauchen können.« Der Gildenmeister runzelte die Stirn. »Unglücklicherweise kann ich nicht jede Unachtsamkeit eines Gildenmitglieds voraussehen, und der Delegierte Wolleg hat natürlich nur seine Pflicht erfüllt, so wie er sie verstand. Aber ich bin überrascht, Euch schreiben zu sehen. Was tut Ihr da?« Amiante antwortete ihm mit ungewöhnlich klarer Stimme. »Ich kopiere ein antikes Manuskript, damit es für die Nachwelt erhalten bleibt.« »Was ist das für ein Dokument?« »Die Legende von Emphyrio.« »Nun denn, das ist bewundernswert – allerdings auch die Arbeit eines Schreibers. Sie schnitzen kein Holz, und wir verfassen und kopieren keine Texte. Was würde uns das auch bringen?« Er deutete auf Amiantes ungeschickte Schrift und lächelte spöttisch und nachsichtig zugleich, als betrachte er das
Gekrakel eines kleinen Kindes. »Diese Kopie kann man nicht im Mindesten als fehlerlos bezeichnen.« Amiante kratzte sich am Kinn. »Es ist lesbar, hoffe ich. Könnt Ihr Archaisch lesen?« »Sicher. Welche alte Angelegenheit bereitet Euch so Kopfzerbrechen?« Er nahm das Dokument und neigte den Kopf zur Seite, während er versuchte, Sinn in den alten Text zu bringen. Das kam dabei heraus: Über die Welt Aume – oder manche sagen Heimat –, die die Menschen unter großen Mühen und Schmerzen an sich genommen und wo sie ihre Höfe an den Ufern des Meeres errichtet haben, brach eine Monsterhorde vom dunklen Mond Sigil herein. Die Menschen hatten ihre Waffen schon lange abgelegt, und so sprachen sie nun mit leisen Stimmen: »Monster: Euch umgibt der Geruch der Entbehrung. Wenn ihr hungert, dann esst unsere Nahrung; teilt unseren Überfluss, bis ihr befriedigt seid.« Die Monster konnten nicht sprechen, doch ihre großen Hörner schrien: »Wir kommen nicht für Nahrung!« »Euch umgibt der Wahnsinn des Mondes Sigil. Seid ihr um des Friedens willen gekommen? Dann ruht euch aus. Lauscht unserer Musik; badet eure Füße in der See, und schon bald wird euer Schmerz gelindert sein.« »Wir kommen nicht für Heilung!«, schrien die großen Hörner. »Euch umgibt die Verzweiflung der Ausgestoßenen, die nicht heilbar ist, denn Liebe können wir euch nicht bieten. Daher müsst ihr auf den Mond Sigil zurückkehren und euch mit denen einigen, die euch hierhergeschickt haben.« »Wir kommen nicht für Liebe!«, brüllten die Hörner.
»Was dann ist euer Ziel?« »Wir sind hier, um die Menschen von Aume oder wie manche sagen der Heimat zu versklaven, um uns unsere Arbeit zu erleichtern. Betrachtet uns nun als eure Herren, und jener, der uns missmutig anblickt, wird unter unseren schrecklichen Füßen zertrampelt werden.« Die Menschen wurden versklavt, und die Monster gaben ihnen alle schwere Arbeit, die sie finden konnten oder für notwendig erachteten. Nach einiger Zeit wurde Emphyrio, der Sohn eines Fischers, zur Rebellion getrieben, und er führte seine Bande in die Berge. Er verwendete eine magische Schreibtafel, und alle, die seine Worte hörten, wussten, dass er die Wahrheit sprach, so dass die Menschen sich gegen die Monster erhoben. Mit Feuer und Schwert, Folter und Tod rächten sich die Monster von Sigil an den Menschen von Aume. Doch noch immer hallte die Stimme des Emphyrio von den Bergen herab, und alle, die ihn hörten, leisteten fortan Widerstand. Die Monster marschierten in die Berge und zerschlugen jeden Felsen. Emphyrio zog sich in die abgelegensten Gegenden zurück – zu den Schilfinseln, in die Wälder und Sümpfe. Die Monster folgten ihm und ließen ihm keine Zeit, sich zu erholen. Im Holzpass hinter den Prankenbergen stellte Emphyrio sich der Horde. Er sprach mit der Stimme der Wahrheit, und mit Hilfe seiner magischen Schreibtafel sandte er Worte wie Blitze herab. »Seht! Ich halte die magische Tafel der Wahrheit in meinen Händen! Ihr seid Monster; ich bin ein Mensch. Jeder von uns ist allein; jeder sieht Morgenund
Abenddämmerung; jeder spürt Schmerz und empfängt Trost. Warum sollte der eine Sieger und der andere Opfer sein? Wir werden niemals zusammenfinden. Niemals sollt ihr Gewinn aus der Arbeit der Menschen ziehen! Unterwerft euch dem, was sein muss! Schenkt ihr diesen Worten keine Beachtung, dann werdet ihr den bitteren Kelch bis zur Neige leeren müssen und niemals den dunklen Sand von Sigil wiedersehen.« Die Monster konnten nicht anderes, als der Stimme des Emphyrio zu glauben, und so hielten sie staunend inne. Eines von ihnen trat vor und sprach: »Emphyrio! Komm mit uns, und sprich im Catademnon, denn dort wohnt die Macht, die uns zu bösen Taten führt.« (Ende des Fragments) Bedächtig legte Blaise Fodo das Blatt wieder auf den Tisch zurück. Einen Augenblick lang blickten seine Augen ins Nichts, und seine Lippen formten ein nachdenkliches Oval. »Ja… ja, in der Tat.« Er zuckte mit den Schultern, um sein schwarzes Jackett zu straffen, das ein wenig verrutscht war. »Diese alten Legenden sind faszinierend; doch wir müssen sie im richtigen Licht betrachten und dürfen die Realität nicht aus den Augen verlieren. Ihr seid ein exzellenter Holzschnitzer; Eure Schirme sind hervorragend, und auch vor Euerem Sohn liegt eine produktive Zukunft. Warum also verschwendet Ihr Eure Arbeitszeit mit dem Niederschreiben alter Geschichten? Am Ende wird das noch zur Obsession! Besonders«, fügte er in bedeutungsvollem Tonfall hinzu, »wenn es Euch zu irregulären Taten verführt. Ihr müsst realistisch sein, Em. Tarvoke!« Amiante zuckte mit den Schultern und legte Pergament und Tinte beiseite. »Vielleicht habt Ihr Recht.« Er griff nach dem Beitel und begann, an seinem Schirm zu arbeiten.
Doch Em. Blaise Fodo ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Noch eine ganze halbe Stunde lang lief er in der Werkstatt auf und ab und blickte zuerst Ghyl, dann Amiante über die Schulter. Er sprach noch weiter über Amiantes Vergehen und tadelte ihn dafür, dass er sich von seiner Sammelleidenschaft dazu hatte verführen lassen, illegale Duplikate anzufertigen. Auch ermahnte er Ghyl, ein Leben des Fleißes, der Frömmigkeit und der Demut zu führen. »Der Weg des Lebens ist viel befahren. Die weisesten und besten von uns haben Wegweiser auf ihm errichtet, Brücken und Warnsignale; es ist jedoch natürlich weder Torheit noch Arroganz, von Zeit zu Zeit nach rechts und links zu blicken, um einen neuen, besseren Pfad zu suchen, solange man den richtigen Weg im Auge behält. Nun denn: Blick auf deinen Wohlfahrtsagenten, deinen Gildendelegierten und deinen Führungsspringer. Folge ihren Anweisungen, und du wirst ein zufriedenes Leben führen.« Schließlich verschwand der Gildenmeister wieder. Sofort nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, legte Amiante den Beitel beiseite und kehrte wieder zu seinen Kopien zurück. Ghyl hatte nichts zu sagen, auch wenn sein Herz voll Vorahnung war. Kurz darauf ging er auf den Platz, tun etwas zu essen zu kaufen, und wie es das Schicksal wollte, traf er dabei Helfred Cobol. Der Wohlfahrtsagent blickte ihn fragend an. »Was ist nur in Amiante gefahren, dass er sich auf einmal wie ein Chaotizist verhält?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Ghyl. »Aber er ist kein Chaotizist. Er ist ein guter Mann.« »Das weiß ich. Deshalb mache ich mir ja Sorgen. Es kann nichts Gutes dabei für ihn herauskommen, wie du sicherlich ebenfalls weißt.«
Insgeheim hielt Ghyl Amiantes Verhalten zwar für seltsam, doch betrachtete er es keinesfalls als schädlich oder falsch. Allerdings diskutierte er nicht mit Helfred Cobol darüber. »Ach ja, er ist kühner, als ihm gut tut«, fuhr der Wohlfahrtsagent fort. »Du musst ihm helfen. Du bist ein verantwortungsbewusster Junge. Sorg dafür, dass dein Vater in Sicherheit ist. Mit unmöglichen Legenden und aufrührerischen Traktaten herumzuspielen wird nur seinen Stab aufladen.« Ghyl runzelte die Stirn. »Bedeutet das dasselbe wie ›eine Anklage erhöhen‹?« »Ja. Weißt du, was damit gemeint ist?« Ghyl schüttelte den Kopf. »Nun, in der Wohlfahrtsagentur gibt es Ständer mit kleinen, numerierten Stäben, die jeder einen Menschen repräsentieren. Ich werde ebenso durch solch einen Stab repräsentiert wie Amiante und du. Die meisten dieser Stäbe bestehen aus reinem inaktivem Eisen; andere sind magnetisiert. Bei jedem Vergehen wird eine gewisse, genau berechnete Menge magnetischer Energie auf den betreffenden Stab übertragen. Wurde längere Zeit kein Vergehen mehr registriert, nimmt die Magnetisierung allmählich ab und verschwindet schließlich ganz. Doch reiht sich Vergehen an Vergehen, nimmt die magnetische Ladung immer mehr zu, bis die Energie so groß ist, dass der Stab nach unten gezogen wird und ein Signal auslöst, das eine sofortige Rehabilitation zur Folge hat.« Ehrfürchtig und deprimiert zugleich blickte Ghyl über den Platz hinweg zu seinem Haus. Dann fragte er: »Was geschieht, wenn ein Mensch rehabilitiert wird?« »Ha, ha!«, rief Helfred Cobol in düsterem Tonfall. »Du fragst nach den Geheimnissen unserer Gilde. Wir sprechen nicht über diese Dinge. Es reicht, wenn du weißt, dass der Betreffende von allen verbrecherischen Neigungen befreit wird.« »Haben auch Nichtkos Stäbe in der Agentur?«
»Nein. Sie sind keine Empfänger; sie leben außerhalb des Systems. Wenn sie ein Verbrechen begehen, was häufig geschieht, finden sie weder Verständnis, noch werden sie rehabilitiert – sie werden aus Ambroy verbannt.« Ghyl drückte seine Einkäufe an die Brust und schauderte – vielleicht aufgrund der kalten Bö, die vom Himmel herabwehte. »Ich sollte jetzt wohl besser nach Hause gehen«, sagte er mit leiser Stimme. »Dann nach Hause mit dir. In zehn, fünfzehn Minuten werde ich noch einmal nach deinem Vater sehen.« Ghyl nickte und kehrte nach Hause zurück. Amiante war an der Werkbank eingeschlafen; sein Kopf lag auf den Armen. Ghyl erstarrte vor Entsetzen. Links und rechts von seinem Vater lagen Duplikate, jede einzelne Kopie, die Amiante jemals angefertigt hatte. Es schien, als hätte er gerade versucht, die Papiere zu ordnen, als der Schlaf ihn übermannt hatte. Ghyl ließ die Pakete fallen, schloss und verriegelte die Tür und rannte zur Werkbank. Es war sinnlos, Amiante zu wecken und sofort von ihm zu verlangen, dass er wieder Herr der Lage war. So raffte Ghyl die Duplikate zusammen und stopfte sie in einen Kasten, den er mit Spänen und Papierabfällen auffüllte und unter die Werkbank schob. Erst dann versuchte er, seinen Vater zu wecken. »Wach auf! Helfred Cobol ist auf dem Weg!« Amiante stöhnte, hob schwerfällig den Kopf und blickte seinen Sohn schläfrig an. Ghyl entdeckte noch zwei weitere Blätter, die ihm vorhin entgangen waren. Er packte sie, und im gleichen Augenblick ertönte ein Klopfen an der Tür. Ghyl schob die Papiere unter die Späne und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen. Es schien nirgends mehr etwas Verbotenes herumzuliegen.
Ghyl öffnete die Tür. Helfred Cobol blickte fragend zu ihm hinunter. »Seit wann verriegelt man die Tür gegen das Erscheinen eines Wohlfahrtsagenten?« »Ein Fehler«, stammelte Ghyl. »Ich habe mir nichts dabei gedacht.« Inzwischen war Amiante wieder bei klarem Verstand und blickte besorgt hierhin und dorthin. Helfred Cobol trat vor. »Noch ein paar letzte Worte, Em. Tarvoke.« »Letzte Worte?« »Ja. Ich arbeite in diesem Bezirk schon viele Jahre, und so lange kennen wir uns auch schon. Doch allmählich werde ich zu alt für den Außendienst, und deshalb werde ich in eine Agentur in Elsen versetzt. Ich bin gekommen, tun Euch und Ghyl Auf Wiedersehen zu sagen.« Langsam stand Amiante auf. »Es tut mir Leid, Euch gehen zu sehen.« Helfred Cobol lächelte sein typisches sardonisches Lächeln. »Nun denn, meine letzten Worte: Widmet Euch Eurer Schnitzerei, und erzieht Euren Sohn zu einem orthodoxen Bürger. Warum springt Ihr nicht mit ihm im Tempel? Er könnte viel durch Euer Beispiel lernen.« Amiante nickte höflich. »Nun denn«, sagte Helfred Cobol erneut. »Ich sage Euch beiden Lebewohl und übergebe Euch in die Verantwortung von Schute Cobol, der meinen Platz einnehmen wird.«
Kapitel Sieben
Schute Cobol war ein Mann, dessen Stil sich drastisch von dem Helfred Cobols unterschied. Er war jünger, korrekter in Art und Kleidung und weit formeller in Gesprächen. Er war forsch und genau, besaß ein schlankes Gesicht, einen herabhängenden Mund und schwarzes Haar, das sich im Nacken sträubte. Auf seinen Einführungsrunden erklärte er jedermann, dass er beabsichtige, sich bei seiner Arbeit exakt an die Wohlfahrtsregeln zu halten. Amiante und Ghyl gegenüber machte er sehr deutlich, wie sehr ihm ihr laxer Lebensstil missfiel. »Ihr alle beide besitzt Eurer psychiatrischen Einstufung nach zu urteilen weit überdurchschnittliche Fähigkeiten, und dementsprechend leistet Ihr weit unter Norm. Ihr, mein junger Em. Tarvoke, seid alles andere als fleißig, sowohl was Eure Arbeit betrifft als auch den Tempeldienst…« »Ich unterrichte ihn«, unterbrach ihn Amiante in gemessenem Tonfall. »Hä? Was unterrichtet Ihr ihn denn? Holzschnitztechnik?« »Ich habe ihn das Lesen und Schreiben gelehrt, alles über die Rechenkunst, was ich weiß, und auch sonst hoffe ich, ihm noch das ein oder andere beigebracht zu haben.« »Ich rate Euch dringend an, dafür zu sorgen, dass er sich ernsthaft für den zweiten Rang im Tempel vorbereitet. Meinen Aufzeichnungen zufolge, nimmt er zwar regelmäßig an den Übungen teil, ist jedoch noch mit keinem Muster wirklich vertraut.« Amiante zuckte mit den Schultern. »Vielleicht später im Leben…« »Was ist mit Euch selbst?«, verlangte Schute Cobol zu wissen. »Wie es scheint, habt Ihr in den vergangenen vierzehn
Jahren den Tempel nur zweimal besucht und seid nur einmal gesprungen.« »Sicher war es öfter. Sind die Aufzeichnungen der Agentur in diesem Punkt genau?« »Natürlich sind die Aufzeichnungen der Agentur genau! Was ist das überhaupt für eine Frage? Darf ich fragen, ob Ihr Aufzeichnungen besitzt, die das Gegenteil belegen?« »Nein, die besitze ich nicht.« »Nun denn… Warum seid Ihr dann nur einmal in den vergangenen vierzehn Jahren gesprungen?« Amiante strich sich verärgert übers Haar. »Ich bin nicht so beweglich. Ich kenne die Muster nicht… Ich habe wenig Zeit…« Schließlich verließ Schute Cobol den Laden wieder. In Erwartung irgendeines Kommentars blickte Ghyl zu Amiante, doch dieser schüttelte nur müde den Kopf und beugte sich wieder über seinen Schirm. Amiantes Schirm der hundert Gesichter erhielt eine 9,503 oder ›Höhepunkt‹ bei der Beurteilung, und seine Gesamtnote betrug 8,626, was seiner Arbeit den Status ›Erste Klasse‹ einbrachte, so dass sie sogar für den Export vorgemerkt wurde. Ghyls einziger Schirm erhielt eine Bewertung von 6,855, was ausreichend hoch über der 6,240-Grenze der ›Zweiten Klasse‹ für den ›heimischen Gebrauch‹ lag, und so wanderte das Werk ins Warenhaus der Oststadt. Ghyl wurde für die Heiterkeit seines Entwurfs gelobt, doch ermahnte man ihn, in Zukunft mehr auf die Feinheiten zu achten. Ghyl, der auf die ›Erste Klasse‹ gehofft hatte, war niedergeschlagen. Amiante weigerte sich, die Bewertung∗ zu ∗
Vom Standpunkt eines Handwerkers in Ambroy aus betrachtet war die Beurteilung das wichtigste Ereignis des Jahres, da dabei die Höhe seiner Vergütung für das folgende Jahr bestimmt wurde. Eine solche Beurteilung wurde einem strengen, ausgefeilten Ritual gemäß ausgeführt und war recht
kommentieren; er sagte lediglich: »Fang einen neuen Schirm an. Wenn wir ihnen mit unseren Schirmen Freude bereiten, sind sie ›Erste Klasse‹, wenn nicht, werden sie ›Zweite Klasse‹ oder sogar abgelehnt. Also lass uns den Richtern zu Gefallen sein. Das ist nicht allzu schwer.« »Nun gut«, sagte Ghyl. »Mein nächster Schirm wird Jungen zum Thema haben, die Mädchen küssen.« »Hmmm«, sinnierte Amiante. »Du bist erst zwölf Jahre alt. Warte noch ein, zwei Jahre damit. Warum versuchst du dich nicht an einem Standarddesign? Sagen wir ›Weiden und Vögel‹?« So vergingen die Monate. Trotz Schute Cobols ausdrücklicher Missbilligung verbrachte Ghyl nur wenig Zeit mit den Tempelübungen und mied die Gildenschule, so gut es ging. Von Amiante lernte er Archaisch und so viel über menschliche Geschichte, wie dieser wusste. »Die Menschen stammen von einer einzigen Welt, einem Planeten mit Namen Erde… oder zumindest glaubt man das im Allgemeinen. Die dramatisch – was sogar so weit ging, dass die Richter für die Ausführung der Zeremonie entweder Beifall oder Kritik ernteten. Drei Gruppen von Richtern arbeiteten unabhängig voneinander im Boimarc-Warenhaus im Ostteil der Stadt und bewerteten jede einzelne Arbeit der Handwerker von Ambroy. Zur ersten Gruppe gehörten der Meister der Handwerkergilde, ein Experte für bestimmte Waren aus einem der transstellaren Lager und ein Boimarc-Lord, der vorgeblich auch aufgrund seiner Sachkenntnis ausgewählt worden war. Die zweite Gruppe bildeten der Vorsitzende des Intergildenwohltätigkeitsverbandes, der Handwerksführungsdirektor der Wohlfahrtsagentur sowie der Richter der Seligpreisungen aus dem Tempel. Die dritte Gruppe schließlich bestand aus drei Boimarc-Lords und einem einfachen Empfänger, der per Losentscheid aus der Bevölkerung gewählt wurde und der dafür den Titel Unabhängiger Würdenträger und das nächste Jahr über doppelte Vergütung erhielt. Die erste Gruppe prüfte nur ganz bestimmte Gegenstände, und ihre Bewertungen zählten doppelt. Die zweite und dritte Gruppe beurteilten alles.
Erdenmenschen lernten, Schiffe durch den Weltraum zu schicken, und das war der Anfang der menschlichen Geschichte, wie wir sie kennen, auch wenn ich glaube, dass auch die Erde eine interessante Vergangenheit hatte. Die ersten Menschen, die nach Halma kamen, fanden hier Kolonien wilder Insekten vor – Wesen so groß wie Kinder –, die in Tunneln und künstlichen Hügeln lebten. Viele große Schlachten wurden geschlagen, bis die Insekten endgültig vernichtet waren. In der Halle von Curios gibt es Bilder davon. Vielleicht hast du sie schon gesehen.« Ghyl nickte. »Mir haben die Insekten irgendwie Leid getan.« »Ja, vielleicht… Die Menschen waren nicht immer nur barmherzig. Sie haben viele Kriege ausgefochten, die heute alle vergessen sind. Wir sind kein historisches Volk; wir scheinen nur für den Tag zu leben – oder genauer: von einer Beurteilung zur nächsten.« »Ich würde gerne einmal andere Welten besuchen«, sagte Ghyl. »Wäre es nicht wunderbar, wenn wir genug Gutscheine verdienen könnten, um überall hin zu reisen, wohin wir wollten, um dort unseren Lebensunterhalt mit Schnitzen zu verdienen?« Amiante lächelte wehmütig. »Auf anderen Welten wächst kein Holz wie Ing oder Arzack und auch kein Daban, Sark oder Hacknuß… und außerdem ist Ambroy berühmt für seine Handwerker. Wenn wir anderswo arbeiten würden…« »Wir könnten doch sagen, dass wir Handwerker aus Ambroy sind!« Zweifelnd schüttelte Amiante den Kopf. »Ich habe noch nie gehört, dass irgendjemand so etwas getan hätte. Außerdem bin ich sicher, dass die Wohlfahrtsagentur einem solchen Plan niemals zustimmen würde.«
An Ghyls vierzehntem Geburtstag wurde er als Vollmitglied in den Tempel aufgenommen und in die Klasse für religiöse und soziologische Indoktrination eingeschrieben. Der Führungsspringer erklärte die Elementarmuster weit sorgfältiger als Ghyls bisherige Lehrer. »Ein Muster ist natürlich nur ein Symbol; aber es beinhaltet eine schier unendliche Zahl von Bedeutungen für die Wirklichkeit. Inzwischen kennt ihr die verschiedenen Gruppen: die Tugenden und Laster sowie die Lästerungen und Gebete, die in den Mustern repräsentiert sind. Die Ernsthaften bestätigen ihre Rechtgläubigkeit, indem sie die traditionellen Muster springen. Sie bewegen sich von einem Symbol zum nächsten, meiden die Laster und suchen die Tugenden. Selbst die Alten und Kranken nehmen es auf sich, mehrere Muster am Tag zu springen.« Ghyl sprang und hüpfte mit den anderen, und schließlich erreichte er einen ausreichend hohen Grad an Präzision, dass er nicht zur Zielscheibe des Spotts wurde. Im Laufe des Sommers von Ghyls fünfzehntem Lebensjahr unternahm die Klasse eine Pilgerfahrt zum Rabiahang in den Meagherbergen, um dort die Glyphe zu sehen und zu studieren. Per Oberbahn ging es in das Bauerndorf Libon; dann machten sie sich, begleitet von einem Wagen voller Schlafsäcke und Proviant, zu Fuß auf den Weg in die Hügel hinauf. In der ersten Nacht kampierte die Gruppe am Fuß einer felsigen Anhöhe neben einem Teich, der von Schilf und Wasserweiden umgeben war. Feuer wurden entfacht, und es wurde viel gelacht und gesungen; Ghyl hatte noch nie eine solch fröhliche Zeit verbracht. Das Abenteuer bekam eine besondere Würze durch eine Gruppe gar nicht mal so weit entfernter Wirwan, halb intelligenter Wesen von ungefähr acht Fuß Größe, mit langen Schnauzen, schwarzen, glänzenden Augen und einer rot, schwarz, braun gefleckten harten Haut.
Dem Führungsspringer zufolge, waren die Wirwan auf Halma heimisch und hatten schon lange vor Erscheinen der ersten Menschen in den Meagherbergen gelebt. »Sollten wir ihnen begegnen, dann kommt ihnen nicht zu nahe«, warnte der Führungsspringer, ein strenger Mann, der niemals lächelte. »Sie sind nicht aggressiv, sondern verstecken sich meist; aber es ist durchaus vorgekommen, dass sie zugeschlagen haben, wenn sie sich belästigt fühlten. Vielleicht werden wir welche zwischen den Felsen sehen, auch wenn sie normalerweise in Tunneln und Löchern leben, von denen sie sich nie weit entfernen.« Einer der Jungen, ein frecher Kerl mit Namen Nion Bohart, sagte: »Sie werfen mit ihrem Geist; sie können Gedanken lesen, stimmt’s?« »Unsinn«, erwiderte der Führungsspringer. »Das wäre ein Wunder, und sie wissen nichts von Finuka, der einzigen Quelle für Wundertaten.« »Ich habe gehört, dass sie nicht sprechen«, fuhr Nion Bohart trotzig fort. »Sie werfen ihre Gedanken über große Entfernungen hinweg, aber wie das funktioniert, weiß niemand.« Ihr Lehrer bereitete dem Gespräch rasch ein Ende. »So! Und jetzt ab in die Schlafsäcke. Morgen ist ein wichtiger Tag. Wir werden den Rabiahang hinaufsteigen, um die Glyphe zu sehen.« Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück aus Tee, Keksen und getrockneten Meerespflaumen, machten sich die Jungen wieder auf den Weg. Das Land war öd und leer; außer Felsen und vertrockneten Dornenbüschen war nichts zu sehen. Gegen Mittag erreichten sie den Rabiahang. Während eines Sturms vor langer Zeit war der Hang von einem Blitz getroffen worden; ein Streifen blanken, schwarzen Steins war davon übrig geblieben, der von komplizierten Markierungen
durchzogen war. Einige dieser Markierungen ähnelten archaischen Buchstaben und waren von Priestern in Gold gefasst worden. Hintereinander gelesen, ergaben sie die Worte: FINUKA LENKT! Vor der heiligen Glyphe war eine Plattform errichtet worden, in die man ein Elementarmuster aus Quarz, Jesper und Onyx eingearbeitet hatte. Eine Stunde lang vollführten der Führungsspringer und seine Schüler rituelle Übungen; dann packten sie ihre Sachen wieder zusammen, stiegen den Rest des Hangs hinauf, und, oben angekommen, schlugen sie ihr Lager auf. Die Aussicht war phantastisch. Ghyl hatte noch nie so weit sehen können. Im Osten befand sich ein tiefes Tal und dahinter die dunkle Masse der Meagherberge, die Schlupfwinkel der Wirwan. Im Süden und Osten wanden sich die Ausläufer der Berge und wurden immer flacher, bis sie schließlich im Norden in Bauredel und im Süden in den großen Alkaliebenen endeten. Im Westen lagen die bewohnten Gebiete von Fortinone, eine ausgedehnte Fläche aus braun, grau, schwarz und grün, die vom Licht der untergehenden Sonne mit einem einheitlichen gelbbraunen Schleier überzogen wurde, so dass das Ganze wirkte, als betrachte man einen vergilbten alten Film. In der Ferne glitzerte etwas Silbernes: das Meer. Es war ein Land, das im Aussterben begriffen war, ein Land mit mehr Ruinen als bewohnten Gebäuden, und Ghyl fragte sich, wie es wohl vor zweitausend Jahren hier ausgesehen haben mochte, als die Städte noch heil gewesen waren. Er saß auf einem flachen Felsen, hatte die Arme um die Knie geschlungen, dachte an die Geschichte von Emphyrio und übertrug den Ort der Handlung auf die Landschaft vor ihm. Dort drüben in den Meagherbergen hatte sich Emphyrio den Monsterhorden vom verrückten Mond Sigil widersetzt –
welcher genauso gut Damar hätte sein können. Dort, der Einschnitt im Nordosten: sicherlich der Holzpass. Und dort das Schlachtfeld, wo Emphyrio seine magische Tafel beschworen hatte. Die Monster? Wer sonst als die Wirwan?… Ein herrischer Ruf riss Ghyl aus seinen Gedanken; es war der Führungsspringer, der verkündete, dass man Feuerholz brauche. Der Zauber des Augenblicks war gebrochen, wurde jedoch sofort durch einen anderen ersetzt: das Schauspiel des Sonnenuntergangs, der Land und Himmel in einen traurigen Glanz tauchte, die Farbe antiken Bernsteins. Aus Töpfen auf Dreibeinen stieg der Duft von Schinken und Linsen empor. Die Brombeerholzfeuer knisterten und flackerten; Rauch stieg in den Himmel hinauf. Die Szene weckte etwas tief in Ghyls Geist und bescherte ihm eine seltsame Gänsehaut. Just auf diese Art und just vor den gleichen Feuern hatten einst seine urzeitlichen Vorfahren gehockt: auf der Erde… oder auf was für einem Planeten die Menschheit auch immer ihren Ursprung hatte. Noch nie hatte Ghyl etwas so gut geschmeckt. Nach dem Essen, als die Feuer heruntergebrannt waren und der Himmel schier unglaublich nah erschien, fühlte er sich, als stünde er am Rand einer wunderbaren neuen Erkenntnis… Sich selbst betreffend? Die Welt? Die Natur des Menschen? Er konnte nicht sicher sein. Das Wissen schwebte am Rand seines Geistes, zitterte… Das Wunder des Nachthimmels inspirierte auch den Führungsspringer. Er deutete nach oben und erklärte: »Über uns, und ich will, dass alle es sich anschauen, ist eine Herrlichkeit, die sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzieht. Achtet auf den Glanz der Mirabilis-Sterne, und dort, ein Stück darüber, der Rand der Galaxis. Ist das nicht wunderbar? Was denkst du, Nion Bohart? Zieht nicht auch dich der Anblick des offenen Himmels in seinen Bann?«
»Ja, das tut er«, antwortete Nion Bohart. »Ist es nicht eine schier unvergleichliche Pracht? Das ist der Beweis dafür, dass all das Springen zu Ehren Finukas Früchte trägt.« Vor kurzem war Ghyl in Amiantes alten Manuskripten auf ein paar Zeilen eines philosophischen Dialogs gestoßen, die ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen waren; und jetzt sprach er sie unschuldig aus: »›Im Angesicht der Unendlichkeit muss jede Möglichkeit ihren physischen Ausdruck finden, so unwahrscheinlich sie auch sein mag.‹ ›Heißt das nun ja oder nein?‹ ›Beides und keins von beidem.‹« Verärgert ob der Unterbrechung, die die Stimmung zerstörte, welche er zu erschaffen versuchte, fragte der Führungsspringer in kaltem Tonfall: »Was ist das für ein mehrdeutiges Obskurantengerede? Ich verstehe nicht.« »Es ist eigentlich recht einfach«, antwortete Nion Bohart, der ein, zwei Jahre älter war als Ghyl und zur Impertinenz neigte. »Es bedeutet, dass alles möglich ist.« »Nicht ganz«, sagte Ghyl. »Es bedeutet mehr als das. Ich glaube, es ist ein wichtiger Gedanke.« »Unsinn«, schnaufte der Führungsspringer. »Aber vielleicht bist du ja so gnädig, uns zu erleuchten.« Ghyl stand plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er war verlegen und fühlte sich seltsam, zumal er nicht ganz verstand, was genau nun von ihm erwartet wurde. Er blickte sich um und sah, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Zaghaft begann er: »Wie ich es verstehe, so ist der Kosmos vermutlich unendlich, was bedeutet… nun, er ist unendlich. Es gibt lokal begrenzte Situationen… eine schier
unglaubliche Zahl davon. Tatsächlich gibt es in der Unendlichkeit auch eine unendliche Zahl lokaler Umstände, so dass alles irgendwo existieren muss, egal wie unwahrscheinlich es auch sein mag. Vielleicht ist das so; ich weiß wirklich nicht, wie die Chancen stehen, dass…« »Komm, komm!«, schnappte der Führungsspringer. »Du plapperst nur! Erklär uns deine erleuchtete Erkenntnis in einfachen Worten!« »Nun, es kann sein, dass durch das Gesetz des Zufalls ein Gott wie Finuka durchaus existieren kann und an einem bestimmten Ort die Kontrolle ausübt. Vielleicht hier über den Nordkontinent oder über die ganze Welt. An anderen Orten gibt es aber vielleicht überhaupt keine Götter. Das hängt natürlich von der Wahrscheinlichkeit ab, wie häufig eine bestimmte Art von Gott auftritt.« Ghyl zögerte, dann fügte er bescheiden hinzu: »Natürlich weiß ich das alles nicht genau.« Der Führungsspringer atmete tief durch. »Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass ein Individuum, das versucht, die Möglichkeit oder die Wahrscheinlichkeit eines Gottes zu evaluieren, sich zu etwas aufbläst, das dem Gott überlegen ist?« »Das ist kein Grund, warum wir nicht einen dummen Gott haben sollten«, murmelte Nion Bohart mit einem Unterton in der Stimme, der dem Führungsspringer entging. Er funkelte Nion Bohart nur kurz an und fuhr dann fort: »Das ist, wenn ich so sagen darf, eine Vorstellung, die von schier unglaublicher Arroganz zeugt. Außerdem steht unsere lokale Situation nicht zur Debatte. Die Glyphe liest sich klar und deutlich ›Finuka lenkt‹! Und das wiederum bedeutet offensichtlich, dass Finuka alles beherrscht! Nicht nur ein paar Hektar hier und ein paar Hektar dort. Wäre es anders, würde sich die Glyphe wie folgt lesen lassen: ›Finuka lenkt alles in Elbaum, im Brueben-Bezirk und entlang des Dodrechten-Flachlands‹ oder so ähnlich. Ist
das nicht klar und deutlich? Die Glyphe liest sich ›Finuka lenkt‹, was bedeutet, dass Finuka überall die Geschicke lenkt und über die Menschen richtet! So! Und jetzt Schluss mit diesem Logik-Hickhack!« Ghyl hielt seine Zunge im Zaum. Der Führungsspringer wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Himmel zu und deutete auf verschiedene Himmelskörper. Einer nach dem anderen schliefen die Jungen ein. Früh am nächsten Morgen brachen sie das Lager ab und sprangen eine letzte Übung vor der Glyphe, bevor sie den Hang wieder zur Oberbahn in einer nahe gelegenen Bergbaustadt hinabstiegen. Während der gesamten Rückreise sprach der Führungsspringer kein einziges Wort mit Ghyl oder Nion Bohart, doch bei ihrem nächsten Besuch im Tempel wurden beide in eine besondere Klasse für schwierige, widerspenstige oder aufsässige Jungen versetzt; die Aufsicht über diese Klasse führte ein besonders strenger Indoktrinator. Zu Ghyls Überraschung war auch sein alter Freund Floriel Huzsuis in dieser Klasse. Floriel war inzwischen zu einem sanften, unkonventionellen Jungen herangewachsen mit hübschem, doch deutlich mädchenhaften Gesicht. Floriel galt nicht aufgrund seiner Aufsässigkeit als schwierig, sondern vielmehr aufgrund seiner Tagträumereien. Er lächelte die meiste Zeit, als fände er die Klasse in jeder Hinsicht amüsant. Das entsprach zwar nicht im Mindesten der Wahrheit, doch aufgrund seines Gesichtsausdrucks wurde der arme Floriel immer wieder für seinen vermeintlichen Unernst zurechtgewiesen. Der Indoktrinator, Saltator Honson Ospude, war ein großer, grimmiger Mann mit verkniffenem Gesicht. Er war so sehr auf seine Aufgabe fixiert, dass er nicht den Hauch von Flexibilität oder Humor zeigte, sondern versuchte, den Geist der Schüler kraft seiner eigenen leidenschaftlichen Rechtgläubigkeit zu
formen. Aber nichtsdestoweniger war er ein gelehrter, belesener Mann, und er führte Dutzende interessante Themen in den Lehrplan ein. »Jede Gesellschaft gründet sich auf ein Fundament aus Annahmen«, erklärte Honson Ospude bei einer Gelegenheit. »Es gibt eine schier unendliche Vielzahl solcher Annahmen, von denen sich die Gesellschaft einige aussucht; das ist auch der Grund für die Vielfalt galaktischer Zivilisationen, die sich alle deutlich voneinander unterscheiden. Die Gesellschaft von Fortinone gehört natürlich zu den erleuchtetsten, da sie auf einem der hehrsten menschlichen Gedanken gründet. Wir sind ein glückliches Volk. Die Grundsätze, die unser Leben bestimmen, sind unbeschreiblich, aber auch unbestreitbar und zugleich ausgesprochen wirksam. Sie garantieren uns Schutz vor Not und bieten jedem von uns die Chance, finanziell unabhängig zu werden, solange wir fleißig bleiben.« Bei diesen Worten konnte sich Nion Bohart nicht länger zurückhalten; er lachte und krächzte: »Finanziell unabhängig? Wenn man einen Lord entführt vielleicht.« Weder verärgert noch verblüfft von dieser Unterbrechung stellte sich Honson Ospude der Herausforderung – denn genau das war es. »Wenn du einen Lord entführst, wird dir das keine finanzielle Unabhängigkeit, sondern die Rehabilitation einbringen.« »Wenn man geschnappt wird.« »Die Wahrscheinlichkeit einer Rehabilitation ist in einem solchen Fall recht groß«, sagte Honson Ospude. »Selbst wenn es dir gelingen würde, einen Lord zu entführen, würde dir das heutzutage nichts mehr einbringen. Der Lord würde nicht bezahlen. Wir sind keine Barbaren mehr. Die Lords haben sich verpflichtet, nicht länger Lösegeld zu zahlen; daher bieten Entführungen keinen finanziellen Anreiz mehr.«
Vielleicht ein wenig unbesonnen bemerkte Ghyl: »Ich könnte mir vorstellen, dass ein Lord, der sich zwischen Tod oder Zahlen entscheiden müsste, beschließen könnte, die Abmachung zu ignorieren.« Honson Ospude blickte von Nion zu Ghyl; dann ließ er seinen Blick durch die Klasse schweifen. Die Schüler hörten der Diskussion interessiert zu. »Mir scheint, wir haben hier einen feinen Haufen Möchtegern-Banditen. Nun, Jungs, ein Wort zur Warnung: Ihr werdet nur Leid und Kummer ernten, wenn ihr für das Chaos arbeitet. Die Regeln, denen wir folgen, bilden nur eine zerbrechliche Barriere zwischen Barbarei und Wohlstand. Reißt diese Mauer nieder, und ihr zerstört nicht nur euch selbst, sondern auch alles andere.« Er hielt kurz inne. »So. Das reicht für heute. Denkt gut darüber nach, was ich euch gesagt habe. Und jetzt zum Muster.« Im Lauf der Zeit schlossen sich einige Schüler – darunter Floriel Huzsuis, Nion Bohart, Mael Villy, Uger Harspitz, Shulk Odlebush und ein, zwei andere – zu einer Clique zusammen, deren informeller Führer der ruhelose, tollkühne Nion Bohart war. Nion Bohart war ein oder zwei Jahre älter als die anderen: ein großer, breitschultriger Jüngling, gut aussehend wie ein Lord, mit schönen grünen Augen und schmalem Mund. In vielerlei Hinsicht war Nion Bohart ein recht amüsanter Gefährte; stets war er zu Streichen bereit, und nie wurde er erwischt. Es waren stets der eigensinnige Uger Harspitz oder der verträumte Floriel, die entdeckt und für etwas bestraft wurden, das Nion Bohart begangen hatte. Ghyl hielt sich von dieser Gruppe fern, auch wenn er Floriel recht gut leiden mochte. Nion Boharts Unfug grenzte an Verantwortungslosigkeit, und Ghyl betrachtete Nions Einfluß auf den phantasievollen Floriel als schädlich. Honson Ospude verabscheute Nion Bohart; trotzdem bemühte er sich, den widerspenstigen Jüngling so gerecht wie
möglich zu behandeln. Nion Bohart und die anderen seiner Clique taten jedoch ihr Bestes, um Honson Ospudes Gelassenheit zu untergraben: Sie zweifelten seine Lehren an, leugneten den Wert universeller Rechtgläubigkeit und sprangen am Ende jedes Schultags absichtlich falsche, blasphemische Muster, auch wenn sie stets so taten, als wäre ihnen nur ein Fehler unterlaufen. Ghyl wiederum war bemüht, nur ein Minimum an Aufmerksamkeit zu erregen. Er verhielt sich ausgesprochen unauffällig – sehr zum Missfallen von Floriel und Nion, die es gerne gesehen hätten, wenn er an ihren Streichen teilgenommen hätte. Sprachen sie ihn jedoch darauf an, lachte Ghyl sie lediglich aus, und so hatte er kaum Kontakt zu der Clique.
Die Jahre vergingen. Schließlich wurde die Klasse dem Statut gemäß aufgelöst. Ghyl war inzwischen achtzehn Jahre alt und wurde als verantwortungsvoller Empfänger Fortinones aus der Tempelschule entlassen. Um das Ende der Schulzeit angemessen zu feiern, wandte sich Amiante an die Gastwirte und ließ ein großes Fest ausrichten: Es sollte geröstete Biloa-Vögel in Fruchtsoße geben, Fetzenfisch, gezuckerte Meeresalgen, Schüsseln voller Wellhornschnecken sowie alle möglichen Kuchen und Süßigkeiten und guten Wein – kurz: Es gab alles, was das Herz begehrt. Ghyl lud Floriel zu dem Fest ein, der ja keinen Vater mehr hatte und dessen rüder Mutter das Ereignis vollkommen gleichgültig war. Die beiden Jünglinge stürzten sich auf die Delikatessen, während Amiante mal dies, mal das probierte. Kurz nach dem Essen wurde Floriel jedoch unruhig und verkündete, dass er sich wohl besser bald wieder auf den Weg machen solle, was Ghyl ein wenig ärgerte.
»Was?«, rief Ghyl. »Es ist doch gerade erst Nachmittag! Bleib wenigstens bis zum Abendessen.« »Abendessen? O nein. Ich bin so vollgestopft, dass ich mich kaum noch bewegen kann… Nun, um ehrlich zu sein hat Nion uns zu einem kleinen Beisammensein eingeladen, und ich habe ihm versprochen zu kommen. Warum begleitest du mich nicht?« »Ich möchte nicht einfach so uneingeladen irgendwo auftauchen.« Floriel lächelte geheimnisvoll. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Nion hat mir den Befehl gegeben, dich mitzubringen.« Letzteres war offenbar frei erfunden, doch Ghyl, der bereits ein gutes Dutzend Becher Wein getrunken hatte, war in der Tat in Feierstimmung. Er blickte auf die andere Seite des Raums, wo Amiante dem Gastwirt half, die leeren Töpfe, Pfannen und Tabletts wieder einzupacken. »Ich frag mal, was mein Vater noch so im Sinn hat.« Amiante hatte keinerlei Einwände, und so zog Ghyl seine neue pflaumenblaue Hose an, einen schwarzen Mantel mit scharlachroten Verzierungen und einen kecken schwarzen Hut. In seinen neuen Kleidern glaubte Ghyl, eine recht ansehnliche Figur abzugeben. Floriel dachte ähnlich und machte keinen Hehl aus seiner Meinung. »Das sieht ja absolut klasse aus! Neben dir bin ich ja die reinste Vogelscheuche!… Aber na ja… Wir können wohl nicht alle reich und schön sein. Komm jetzt. Die Sonne steht schon im Westen, und wir wollen den Spaß ja nicht versäumen.« Zur Feier des Tages fuhren sie mit der Oberbahn durch Hoge nach Cato. Dort stiegen sie aus und gingen in einen Bezirk voller besonders alter Steinhäuser, deren schwarze Ziegelmauern durch irgendeinen dummen Zufall die Zerstörungen des letzten Krieges überlebt hatten.
Ghyl war verwirrt. »Ich dachte, Nion wohnt auf der anderen Seite von Hoge, in der Nähe von Foelgher.« »Wer hat denn gesagt, dass wir zu seinem Haus gehen?« »Und wo gehen wir dann hin?« Floriel machte ein rätselhaftes Zeichen. »Das wirst du gleich sehen.« Er führte Ghyl durch eine feuchte, modrig riechende Gasse, durch ein Tor, das von grünen und purpurfarbenen Laternen umgeben war, und in eine Taverne, deren Schankraum das gesamte Erdgeschoss eines der alten Häuser einnahm. Von einem Tisch auf der anderen Seite des Raums rief Mael Villy: »Da ist Floriel… und auch Ghyl! Hier rüber!« Sie gingen zu ihren Freunden, die schon reichlich Bier und Wein genossen hatten, suchten sich einen Sitzplatz, und dann drückte ihnen irgendjemand einen Becher in die Hand. Nion Bohart sprach einen Toast aus: »Möge Honson Ospude Pickel auf der Zunge und alle Führungsspringer wunde Füße bekommen! Mögen sie den Doppelt-Ernsten-Acht-NeunSprung versuchen, sich dabei auf die Schnauze legen und mit ihren Nasen in tierischen Ausscheidungen landen!« Begleitet von Pfiffen und Bravo-Rufen erwiderten die Jungen den Toast und tranken. Ghyl nutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf seine Umgebung zu werfen. Der Raum war groß; reich beschnitzte Pfeiler trugen die elegante alte Holzdecke, die mit gelben Fliesen verziert war. Die Wände waren fleckig und mattrot; der Boden bestand aus Stein. Das Licht stammte von vier großen Leuchtern, an denen jeweils Dutzende kleiner Lampen brannten. In einem Alkoven spielte ein Drei-MannOrchester Tanzmusik auf Zither, Flöte und Tamburin, und darunter rekelten sich auf einer langen Couch zwanzig junge Frauen in den unterschiedlichsten Kleidern; einige waren ausgesprochen extravagant gekleidet, andere streng, doch allesamt strahlten sie etwas Besonderes aus, das sie von den
anderen Frauen Ambroys unterschied. Schließlich erkannte Ghyl, wo er sich befand: in einer der halb legalen Tavernen, in denen nicht nur Wein, Essen und Musik angeboten wurden, sondern wo man sich auch von Animierdamen verwöhnen lassen konnte. Neugierig blickte Ghyl zu den Mädchen hinüber. Keine von ihnen fand er sonderlich hübsch, und einige wirkten sogar geradezu grotesk mit ihren schier unglaublich komplizierten Kleidern und einer solchen Menge von Schminke im Gesicht, dass man ihr wahres Aussehen nur noch erahnen konnte. »Hast du eine gefunden, die dir gefällt?«, rief Nion Bohart zu Ghyl hinüber. »Heute Abend sind alle frei. Ist nicht viel los. Such dir eine aus. Sie wird dir die Zehen kitzeln.« Ghyl schüttelte den Kopf, um seine Unlust zu bekunden, und schaute sich im Raum um. »Wie gefällt es dir hier?«, fragte ihn Floriel. »Gut. Aber ist es nicht sehr teuer hier?« »Nicht so teuer, wie du vielleicht denkst, wenn du nur trinkst und dich von den Mädchen fern hältst.« »Zu schade, dass der alte Honson Ospude nicht hier ist, stimmt’s nicht, Nion?«, rief Shulk Odlebush. »Wir würden ihn so abfüllen, dass er nicht mehr wüsste, wo oben und unten ist.« »Ich würde ihn gern im Clinch mit der Fetten da sehen«, bemerkte Uger Harspitz und grinste lüstern. »Die mit der Federhalskrause. Das wär ein Gerangel!« Drei Männer und zwei Frauen betraten den Raum. Die Männer wirkten vorsichtig und zurückhaltend, die Frauen hingegen kühn, ja unverschämt. Nion stieß Floriel mit dem Ellbogen in die Seite und flüsterte ihm was ins Ohr; Floriel sagte zu Ghyl: »Nichtkos… die Fünf, die sich da gerade setzen.«
Verstohlen blickte Ghyl zu den fünf Männern und Frauen, die sich nun, nachdem sie sich aufmerksam umgeschaut hatten, entspannt auf ihren Stühlen zurücklehnten. Ghyl fragte Floriel: »Sind das Verbrecher… oder einfach nur Nichtempfänger?« Floriel leitete die Frage an Nion weiter, der sie ernst, aber mit einem zynischen Grinsen beantwortete. Floriel berichtete Ghyl: »Er weiß es nicht genau. Er glaubt, sie handeln mit Schrott: altem Metall, alten Möbeln… vermutlich mit allem, was sie in die Finger bekommen.« »Woher weiß Nion das alles?«, erkundigte sich Ghyl. Floriel zuckte mit den Schultern. »Er weiß alles Mögliche. Ich glaube, sein Bruder ist ein Nichtko… oder war es zumindest. Ich bin nicht sicher. Die Leute, denen die Taverne gehört, sind übrigens auch Nichtkos.« »Was ist mit denen da?« Ghyl nickte zu den Mädchen auf der langen Couch hinüber. Wieder leitete Floriel die Frage an Nion weiter, und wieder erhielt er sofort eine Antwort. »Das sind alles Empfänger. Sie gehören entweder der Schwestern- oder Dienstmanngilde an.« »Oh.« »Manchmal kommen auch Lords hierher«, sagte Floriel. »Als ich das letzte Mal mit Nion hier war, saßen zwei Lords und zwei Ladies in der Ecke und tranken Bier wie Schauermänner.« »Nein!« »Doch! Wirklich!«, meldete sich Nion, der um den Tisch herumgegangen war, um sich der Unterhaltung anzuschließen. »Vielleicht sind auch heute Abend ein paar Lords hier. Wer weiß das schon? Hier, Kumpel. Lass dir noch einen einschenken. Gutes, starkes Bier.«
Ghyl ließ es zu, dass sein Becher wieder aufgefüllt wurde. »Warum sollten Lords und Ladies in solch eine Taverne gehen?« »Weil hier das Leben ist! Es ist aufregend! Es gibt hier echte Menschen, nicht nur so langweilige Gutscheinsammler.« Ghyl schüttelte erstaunt den Kopf. »Ich dachte immer, sie würden nach Luschein, auf die Manginseln oder sonstwo außerhalb Fortinones hinfliegen, wenn sie dann mal von ihren Türmen runterkommen, um sich zu amüsieren.« »Das stimmt für gewöhnlich auch. Aber manchmal finden sie es wohl einfach bequemer, im guten alten Keechers direkt unter ihnen einzukehren. Ich nehme an, sie tun alles, um der Langeweile ihrer Horste zu entkommen.« »Langeweile?« Ghyl ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Sicher. Glaubst du etwa, das Leben der Lords besteht nur aus Gadewein und Raumfahrerei? Einige von ihnen haben so viel Zeit, dass sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.« Ghyl dachte über diese neue Erkenntnis das Leben der Lords betreffend nach. Was war mit den Luftbooten, die ständig von hier nach dort huschten und das nicht nur nach Luschein oder auf die Mangs, sondern auch nach Minya-Judos, auf die wilden Parainseln oder auf die Wewargletscher? Dass ein solches Leben langweilig sein sollte, konnte sich Ghyl nur schwer vorstellen. Aber wer wusste das schon? »Kommen sie ohne Garrion hierher?« »Was das betrifft, so weiß ich es nicht. Jedenfalls sieht man in der Taverne selbst nie einen Garrion. Vielleicht hocken sie hinter dem Gitter da hinten, um von dort aus alles zu beobachten.« »Solange es kein Sonderagent ist«, sagte Mael Villy und warf einen Blick über die Schulter nach hinten.
»Denk nicht darüber nach. Sie wissen ohnehin, dass du hier bist«, sagte Nion Bohart. »Sie wissen alles.« Ghyl grinste. »Vielleicht hocken Garrion und Wohlfahrtsagenten zusammen hinter dem Gitter.« Nion Bohart spie aus. »Wohl kaum. Die Wohlfahrtsagenten kommen genau wie alle anderen hierher, um mit den Mädchen zu spielen.« »Auch die Lords?« fragte Ghyl. »Die Lords? Ha! Du solltest sie einmal sehen. Und die Ladies! Sie stehen ihren Männern in Geilheit keineswegs nach.« »Hast du schon mal von Lord Mornune dem Sterilen gehört?«, fragte Uger Harspitz. »Wie er die Verlobte meines Cousins verführt hat? Das war irgendwo in Insse – in irgendeinem Ferienort. Brazen? Grigglesby? Ich habe den Namen vergessen… egal: Auf jeden Fall wurde mein Vetter unter einem falschen Vorwand fortgerufen, und als er wieder zurückkam, war das Mädchen bei Lord Mornune, und am nächsten Morgen erschien sie nicht zum Frühstück. Sie schrieb meinem Vetter, dass es ihr gut gehe und dass Lord Mornune sie mit auf Reisen nehme – zu den Fünf Welten und noch jenseits davon. Ist das nicht ein Leben?« »Alles, was man dazu braucht, sind 1,18 Prozent«, knurrte Nion Bohart. »Hätte ich die, würde ich die Mädchen auch verführen.« »Du könntest es mit deinem einen Gutschein und den achtzehn Schecks doch zumindest mal versuchen«, schlug ihm Shulk Odlebush vor. »Frag doch mal die Fette mit dem Federkragen.« »Bah. Die wär mir noch nicht einmal einen Scheck… Aber hallo! Da ist ja mein Freund Aunger Wermarch! Hi, Aunger! Hierher! Ich möchte dich meinen Freunden vorstellen!«
Aunger Wermarch war ein ausgesprochen extrem gekleideter junger Mann. Er trug spitze weiße Schuhe und einen mit schwarzen Troddeln verzierten gelben Hut. Nion Bohart stellte ihn der Gruppe vor: »Aunger ist ein Nichtko und stolz darauf!« »Stimmt voll und ganz!«, erklärte Aunger Wermarch. »Sie können mich Chaotizist, Dieb oder Aussätziger nennen; sie können mir jeden Namen geben, den sie wollen, solange sie mich nicht in ihre verdammten Wohlfahrtsrollen eintragen.« »Setz dich, Aunger. Trink einen Becher Bier mit uns… Jaaa, guter Junge.« Aunger zog sich einen Stuhl heran und akzeptierte einen Becher Bier. »Ein fröhliches Leben euch allen!« »Und Sand in die Augen der Wasserwächter!«, rief Nion. Ghyl trank mit dem Rest. Als Aunger Wermarch sich von ihnen abwandte, bat er Floriel um eine Erklärung. Floriel zwinkerte ihm bedeutungsvoll zu, und plötzlich wusste Ghyl, wer mit ›Wasserwächter‹ gemeint war: die Wohlfahrtsagenten, die am Ufer patrouillierten und nach Schmugglern von dupliziertem Material Ausschau hielten, das zwar andernorts billig, in Fortinone jedoch selten und teuer war. Das hier war also ein Schmuggler, ein asozialer Parasit, ein Blutsauger – oder zumindest hatte Ghyl das auf den Gildenversammlungen gelernt. Ghyl zuckte mit den Schultern. Schmuggeln verstieß vielleicht ebenso gegen die Wohlfahrtsregeln wie Amiantes Duplizierungsversuche; doch andererseits war Amiante nicht von der Aussicht auf Profit angetrieben worden. Daher konnte man Amiante wohl kaum als asozialen Parasiten und sicherlich nicht als Blutsauger bezeichnen. Ghyl seufzte. Heute Abend würde er bestimmt nicht darüber urteilen. Als er bemerkte, dass sein Becher leer war, schenkte Ghyl sich nach und füllte bei der Gelegenheit auch die Becher der
anderen am Tisch. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und wartete darauf, wie der Abend sich entwickeln würde. Zwei weitere junge Männer kamen zu ihnen, sprachen mit Aunger Wermarch und zogen sich Stühle heran. Ghyl wurde ihnen nicht vorgestellt. Er saß am äußersten Ende des Tischs und war so von der Unterhaltung weitgehend ausgeschlossen, was ihm jedoch ganz gelegen kam. Sein Kopf wurde leicht, und er beschloss, kein Bier mehr zu trinken. Allmählich dachte er über den Aufbruch nach. Er sprach mit Floriel, der ihn mit leeren Augen anblickte und den Mund zu einem schlaffen Grinsen verzogen hatte. Floriel war betrunken, und zwar auf eine Art, die auf Gewohnheit hindeutete. Floriel sprach davon, die Mädchen anzuheuern, doch Ghyl konnte sich nicht für den Gedanken erwärmen – besonders nicht aufgrund der Tatsache, dass ihm die jungen Frauen nun doch recht abgerissen erschienen. Das sagte er auch Floriel, der ihm riet, noch ein, zwei Bier zu trinken, dann würden sie hübscher. Gequält verzog Ghyl das Gesicht. Er bereitete sich gerade darauf vor zu gehen, als er am anderen Ende des Tisches eine gewisse Spannung bemerkte. Aunger Wermarch sprach leise mit seinen zwei Freunden; verstohlen blickten sie zu einer Gruppe von vier Männern, die gerade den Schankraum betreten hatten: Sonderagenten der Wohlfahrt. Selbst Ghyl konnte das erkennen. Nion Bohart blickte interessiert in seinen Becher, doch Ghyl sah, wie Nions Hand unter den Tisch zuckte. Dann geschah alles ganz schnell. Die Sonderagenten näherten sich dem Tisch. Aunger Wermarch und seine beiden Freunde sprangen davon, stolperten über die beiden Agenten, rannten zur Tür und waren bereits verschwunden, bevor irgendjemand etwas sagen oder sonstwie darauf reagieren konnte. Nion Bohart und Shulk Odlebush richteten sich wütend auf. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ja, was hat das zu bedeuten?«, erwiderte einer der Sonderagenten trocken. »Es bedeutet, dass drei Männer diesen Ort ohne unsere Erlaubnis verlassen haben.« »Warum auch nicht?«, verlangte Nion erregt zu wissen. »Wer seid Ihr überhaupt?« »Wohlfahrtsagenten, Sonderabteilung… Wer habt Ihr denn gedacht?« »Ach so«, entgegnete Nion deutlich ruhiger. »Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt? Ihr seid so verstohlen näher gekommen, dass meine Freunde Euch für Verbrecher gehalten und beschlossen haben zu gehen.« »Kommt mit«, sagte der Agent. »Ihr alle. Ein paar Fragen verlangen Antwort. Und wenn es Euch nichts ausmacht«, fügte er an Nion Bohart gewandt hinzu, »dann hebt bitte das Päckchen auf, das Ihr gerade auf den Boden geworfen habt, und gebt es mir.«
Die jungen Männer wurden zu einem Wagen geführt und ins Strafzentrum von Hoge gebracht. Zwei Stunden später wurde Ghyl wieder entlassen. Er war nur oberflächlich befragt worden. Er hatte die Wahrheit gesagt; dann hatte man ihm befohlen, nach Hause zu gehen. Floriel, Mael Villy und Uger Harspitz entließ man mit einer Warnung. Nion Bohart und Shulk Odlebush, die man mit Schmuggelware erwischt hatte, mussten für ihr asoziales Verhalten sühnen. Ihre Grundvergütung wurde um zehn Gutscheine pro Monat herabgesetzt; zwei Monate lang mussten sie in der Fröhlichen Saubermannschwadron arbeiten und die Straßen von Abfall befreien, und anschließend mussten sie noch einen Tag pro Woche im Tempel an den Übungen teilnehmen.
Kapitel Acht
Auf dem Undle-Platz war es kühl und vollkommen ruhig, als Ghyl wieder nach Hause zurückkehrte. Damar war eine schmale Sichel, die knapp über den formlosen Gebäuden im Osten hing. Nirgends war mehr Licht zu sehen; die Luft war kühl und frisch, und das einzige Geräusch war das Scharren von Ghyls Schritten. Ghyl betrat die Werkstatt. Der Duft von Holz und Politur stieg ihm in die Nase. So vertraut und angenehm war dieser Geruch der Dinge, die er liebte, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er blieb stehen und lauschte; dann stieg er die Treppe hinauf. Amiante schlief noch nicht. Ghyl zog sich aus, ging zum Bett seines Vaters und berichtete ihm, was sich heute Abend zugetragen hatte. Amiante bemerkte nichts dazu, und in der Dunkelheit des Schlafzimmers vermochte Ghyl ihm seine Meinung auch nicht am Gesicht abzulesen. Schließlich sagte Amiante: »Nun denn… Geh jetzt ins Bett. Du hast niemandem geschadet, und auch dir selbst ist nichts passiert. Allerdings hast du eine Menge gelernt, und so können wir diesen Abend wohl als Erfolg verbuchen.« Wieder ein wenig aufgeheitert, legte Ghyl sich hin, und müde wie er war, schlief er sofort ein. Er erwachte von Amiantes Hand auf seiner Schulter. »Der Wohlfahrtsagent ist hier, um über die Ereignisse von gestern Abend zu sprechen.« Ghyl zog sich an, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und kämmte sich das Haar zurück. Als er in den ersten Stock hinunterstieg, fand er Schute Cobol und Amiante am Tisch sitzend vor. Sie tranken Tee und unterhielten sich freundlich,
auch wenn Schute Cobols Mund noch verspannter und sein Gesicht noch blasser war als für gewöhnlich. Er begrüßte Ghyl mit einem höflichen Nicken und musterte ihn von Kopf bis Fuß, als stünde er einem vollkommen Fremden gegenüber. Die Unterhaltung begann recht zurückhaltend; Schute Cobol bat Ghyl, ihm seine Version der Ereignisse zu schildern. Nach und nach wurden seine Fragen jedoch schärfer und seine Kommentare bissig. Ghyl wurde wütend. »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt! Nach bestem Wissen und Gewissen habe ich nichts Unrechtes getan. Warum deutet Ihr also immer wieder an, ich sei ein Chaotizist oder so was?« »Ich deute gar nichts an. Ihr seid derjenige, der hier die Schlussfolgerungen zieht. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass Ihr bei der Wahl Eurer Freunde recht unverantwortlich wart. Diese Tatsache verbunden mit Eurer mangelnden Rechtgläubigkeit in der Vergangenheit veranlasst mich, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und entsprechend zu handeln, anstatt wie sonst dem betreffenden Empfänger zunächst einmal Vertrauen entgegenzubringen.« »Wenn ich ohnehin nicht Euer Vertrauen genieße, erübrigt es sich wohl weiterzureden. Warum sollte ich meinen Atem mit unnötigen Erklärungen verschwenden?« Schute Cobol presste die Lippen aufeinander; er blickte zu Amiante. »Und Ihr, Em. Tarvoke… Ihr müsst wohl zugeben, dass Ihr als Vater recht nachlässig gewesen seid. Warum habt Ihr Euren Sohn keinen größeren Respekt vor den Institutionen gelehrt? Wenn ich recht informiert bin, hat man Euch früher schon einmal dafür getadelt.« »Ja, ich erinnere mich an so etwas«, erwiderte Amiante mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen. Schute Cobol wurde zunehmend gereizt. »Würdet Ihr dann bitte meine Frage beantworten? Vergesst nicht, dass Ihr schlussendlich die Verantwortung für diese traurigen
Ereignisse tragt. Ein Vater schuldet seinem Sohn die Wahrheit, keine Ausflüchte und Zweideutigkeiten.« »Ja, ja, die Wahrheit!«, sinnierte Amiante. »Könnten wir die Wahrheit doch nur erkennen, wenn wir sie sehen. Das wäre in der Tat eine gute Rückversicherung.« Schute Cobol schnaufte verächtlich. »Das ist die Quelle all unserer Probleme. Die Wahrheit ist die Rechtgläubigkeit, was denn sonst? Man braucht keine ›Rückversicherung‹ außer den Wohlfahrtsregeln.« Amiante stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte aus dem Fenster hinaus. »Einst lebte dort der Held Emphyrio«, sagte er. »Er sprach solch klare Wahrheiten aus, dass selbst Monster in ihrem Tun innehielten, um ihm zuzuhören. Ich frage mich, ob er wohl die Regeln der Wohlfahrtsagentur durch seine magische Tafel verkündet hat.« Schute Cobol erhob sich ebenfalls. In leidenschaftslosem, formellem Tonfall sagte er: »Ich habe Euch sorgfältig erklärt, was die Wohlfahrtsagentur von Euch für die Wohltaten verlangt, die Ihr erhaltet. Wenn Ihr sie weiter erhalten wollt, dann müsst Ihr Euch an die Regeln halten. Habt Ihr noch irgendwelche Fragen?« »Nein.« Das war Amiante. »Nein.« Das war Ghyl. Schute Cobol verneigte sich höflich. Er ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und sagte: »Selbst Emphyrio wäre den Wohlfahrtsregeln verpflichtet, würde er heute leben. Es kann keine Ausnahmen geben.« Er ging. Amiante und Ghyl folgten ihm in die Werkstatt hinunter. Ghyl ließ sich auf seine Bank fallen und stützte das Kinn in die Hände. »Ich frage mich, ob das wahr ist? Würde Emphyrio die Wohlfahrtsregeln befolgen?« Amiante setzte sich ebenfalls. »Wer weiß? Er würde keinen Feind finden, keine Tyrannei… nur Ineffektivität und vielleicht
hier und da Korruption. Auf jeden Fall bekommen wir nur sehr wenig als Gegenleistung für unsere harte Arbeit.« »Er wäre ja wohl kaum ein Nichtko«, sinnierte Ghyl. »Oder? Jemand, der hart und ehrlich arbeitet, aber nicht in den Wohlfahrtsregeln eingetragen ist?« »Möglich. Vielleicht würde er aber auch beschließen, sich zum Bürgermeister wählen zu lassen, um jedermanns Vergütung erhöhen zu können.« »Wie sollte er das denn machen?«, fragte Ghyl interessiert. Amiante zuckte mit den Schultern. »Der Bürgermeister besitzt keine wirkliche Macht – auch wenn er laut Charta der höchste Würdenträger der Stadt ist. Aber zumindest könnte er höhere Preise für unsere Waren verlangen. Er könnte darauf drängen, dass Fabriken errichtet werden, wo wir dann viele der Güter produzieren könnten, die wir im Augenblick importieren.« »Das bedeutet Duplizieren.« »Etwas zu duplizieren ist nicht an sich schon falsch, solange es nicht unserem Ruf als Handwerker schadet.« Ghyl schüttelte den Kopf. »Die Wohlfahrtsagentur würde das niemals erlauben.« »Vielleicht nicht… Es sei denn, Emphyrio wäre in der Tat der Bürgermeister.« »Eines Tages«, sagte Ghyl, »werde ich den Rest der Geschichte kennenlernen. Dann werden wir wissen, was wirklich geschehen ist.« Skeptisch schüttelte Amiante den Kopf, als hätten sich seine Gedanken in der Vergangenheit oft in die gleiche Richtung bewegt. »Vielleicht. Aber es ist wahrscheinlicher, dass es sich bei der Geschichte von Emphyrio tatsächlich nur um eine Legende handelt.«
Ghyl dachte angestrengt nach. Schließlich fragte er: »Gibt es keine Möglichkeit, wie wir die Wahrheit in Erfahrung bringen könnten?« »Vermutlich nicht in Fortinone. Der Historiker müsste es wissen.« »Wer ist der Historiker?« Amiante verlor allmählich das Interesse an der Unterhaltung und begann, einen seiner Beitel zu schärfen. »Ich habe gehört, dass der Historiker auf einem weit entfernten Planeten die gesamte menschliche Geschichte aufzeichnet.« »Auch die Geschichte von Halma und Fortinone?« »Vermutlich.« »Aber wie könnten derartige Informationen den Historiker überhaupt erreichen?« Amiante beugte sich über den Schirm und setzte den Beitel an. »Das ist nicht schwer. Er könnte zum Beispiel Korrespondenten beschäftigen.« »Was für eine seltsame Vorstellung!«, bemerkte Ghyl. »Seltsam? Ja, in der Tat.«
Jenseits des Undle-Platzes, ein paar Schritt die Gosgargasse hinauf, durch eine Tür, auf die ein blaues Stundenglas gemalt war, und vier Treppen zu einem gemütlichen, kleinen Penthouse hinauf: Das war das Heim von Sonjaly Rathe und ihrer Mutter. Sonjaly war ein kleines, schlankes Mädchen, ungewöhnlich hübsch, mit blondem Haar und unschuldigen grauen Augen. Ghyl fand sie bezaubernd. Unglücklicherweise war sich Sonjaly ihrer Wirkung aufs andere Geschlecht durchaus bewusst, und oft verschaffte sie sich mit einem koketten Blick oder einem verträumten Augenaufschlag einen Vorteil bei den jungen Männern.
Eines Nachmittags saß Ghyl mit Sonjaly im Campari-Café und versuchte sich an einer ernsthaften Unterhaltung, worauf Sonjaly nur mit kecken Bemerkungen reagierte, als niemand anderes als Floriel erschien. Ghyl runzelte die Stirn und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Dein Vater hat mir gesagt, dass ich dich wahrscheinlich hier finden könnte«, sagte Floriel und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Was trinkst du da? Pomardo? Das ist nichts für mich. Bedienung! Einen Schoppen Edelwein bitte: Weißen Amanour.« Ghyl stellte Sonjaly und Floriel einander vor. Floriel sagte: »Ich vermute, du hast die Neuigkeiten schon gehört.« »Neuigkeiten? Nun, in einem Monat oder so wird ein neuer Bürgermeister gewählt. Ich habe einen neuen Schirm fertig, und Sonjaly denkt darüber nach, von den Marmorpolierern zu den Kuchen-, Keks- und Süßigkeitenmachern zu wechseln.« »Nein, nein«, erwiderte Floriel. »Ich meine Neu-igkeiten. Nion Bohart muss keinen Arbeitsdienst mehr leisten. Das will er heute Abend mit einer Party feiern.« »Oh. Will er das?« Ghyl runzelte die Stirn und blickte in seinen Becher. »Das will er. Im Palast zur Gewundenen Weide, wenn du weißt, wo das ist.« »Natürlich weiß ich das«, erwiderte Ghyl, der in Sonjalys Gegenwart nicht dumm erscheinen wollte. »Er liegt im Foelgher-Bezirk, nahe der Flussmündung… Aber ich sollte dich wohl besser mitnehmen; alleine findest du es ja doch nicht.« »Ich bin nicht sicher, ob ich gehen will«, sagte Ghyl. »Sonjaly und ich…« »Sie kann doch auch mitkommen. Warum nicht?« Floriel drehte sich zu Sonjaly um, die sehr zu Ghyls Verärgerung ihr verführerischstes Lächeln aufgesetzt hatte. »Dir würde die
Gewundene Weide gefallen; es ist ein wunderbarer alter Ort mit einer phantastischen Aussicht. Die interessantesten und klügsten Leute gehen dahin und auch viele Nichtkos. Selbst Lords und Ladies – aber die natürlich nur heimlich.« »Das hört sich wunderbar an! Ich würde gerne kommen!« »Deine Mutter hätte sicherlich etwas dagegen«, wandte Ghyl in ärgerlicherem Tonfall ein, als er beabsichtigt hatte. »Sie würde dich niemals in solch eine Taverne gehen lassen.« »Sie muss es ja nicht erfahren«, erklärte Sonjaly mit einer Frechheit, die Ghyl erstaunte. »Außerdem muss sie heute Abend arbeiten. Sie muss ein Gildenbankett ausrichten.« »Gut! Fein! Hervorragend! Dann gibt es also keine Probleme«, sagte Floriel fröhlich. »Wir werden alle zusammen gehen.« »Also gut«, stöhnte Ghyl noch immer wütend. »Ich vermute, uns bleibt nichts anderes übrig.« Sonjaly straffte die Schultern. »In der Tat! Wenn du meine Gegenwart als derart störend empfindest, dann muss ich euch ja nicht begleiten.« »Nein, nein, natürlich empfinde ich deine Gegenwart nicht als störend!«, beeilte sich Ghyl zu erklären. »Missversteh mich nicht!« »Ich missverstehe niemanden«, schnaufte die wütende Sonjaly. »Und ich bin sicher, dass Em. Huzsuis so nett wäre, mir den Weg zum Palast zur Gewundenen Weide zu erklären, so dass ich den Weg dorthin selbst im Dunkeln finden könnte.« »Mach dich nicht lächerlich!« schnappte Ghyl. »Wir werden gemeinsam gehen.« »Das ist schon besser.«
Ghyl putzte seine pflaumenfarbene Hose, bügelte sein Jackett, schob Verstärkungen in seine Stiefel und polierte die
Bronzebeschläge. Kurz blickte er zu Amiante – der sich ernsthaft bemühte, desinteressiert zu wirken -; dann band er schwarze Stoffrosetten an seine Knie und schmierte sich Pomade in sein goldbraunes Haar, bis es fast schwarz war. Schließlich blickte er erneut aus den Augenwinkeln heraus zu seinem Vater, während er sich die längeren Haare an seinen Ohren zu eleganten Knoten band. Floriel war nicht wenig überrascht ob Ghyls elegantem Aussehen. Er selbst trug einen leichten dunkelgrünen Anzug und eine Kappe aus schwarzem Samt. Gemeinsam gingen sie zu dem Haus mit dem Stundenglas in der Gosgargasse. Sonjaly hatte bereits nach ihnen Ausschau gehalten. Sie öffnete die Tür, noch bevor die beiden Jünglinge klopfen konnten, und mahnte sie, still zu sein. »Meine Mutter ist noch immer zu Hause. Ich habe ihr gesagt, ich würde Gedée Anstrut besuchen. Wartet an der Ecke auf mich.« Fünf Minuten später war sie bei ihnen. Sie war ein wenig außer Atem, doch mit gerötetem Gesicht wirkte sie sogar noch attraktiver. »Vielleicht können wir Gedée auch noch mitnehmen. Sie ist immer gut gelaunt, und ich bin sicher, dass sie es lieben würde, auf eine Party zu gehen. Ich glaube nicht, dass sie schon einmal in einer Taverne war – wie ich natürlich auch noch nicht.« Widerwillig stimmte Ghyl auch diesem Vorschlag zu, auch wenn Gedées Gegenwart es fast unmöglich machen würde, dass er heute Abend ein, zwei Stunden mit Sonjaly allein verbringen könnte. Außerdem bedeutete Gedée eine zusätzliche Belastung für Ghyls Börse, es sei denn, es würde ihm gelingen, Floriel davon zu überzeugen, für sie den Begleiter zu spielen – eine eher zweifelhafte Hoffnung, da Gedée ungewöhnlich groß und dürr war; außerdem hatte sie eine Hakennase und dünnes, raues schwarzes Haar, das
überdies noch zu einem unmöglichen Pagenkopf geschnitten war. Doch Sonjaly hatte es nun einmal vorgeschlagen, und wenn sich Ghyl geweigert hätte, dann hätte Sonjaly den ganzen Abend über kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Gedée Anstrut stimmte sofort zu, sich der Party anzuschließen, und wie Ghyl erwartet hatte, machte Floriel sofort deutlich, dass er nicht beabsichtige, sich an der Unterhaltung von Gedée zu beteiligen. Die vier fuhren per Oberbahn nach Süd-Foelgher und stiegen nicht weit vom Hyalispark aus. Sie kletterten einen kleinen Hügel empor, einen Ausläufer jener Kette, die weiter nördlich in Veige zu den Dunkumhöhen wurde; doch hier floss der Fluss unmittelbar am Fuß des Hügels entlang, und im Wasser spiegelte sich das orange-gelbe Licht der untergehenden Sonne. Der Palast zur Gewundenen Weide war nicht weit entfernt – ein wackeliges Gebilde, das bei schönem Wetter geöffnet, bei Wind jedoch verriegelt und verrammelt war. Die Spezialität des Hauses war gegrillter Schlammaal, Schnecken in würziger Sauce und ein blasser, leichter Wein aus der Küstenregion südlich von Ambroy. Nion Bohart war noch nicht eingetroffen. Die vier suchten sich einen Tisch. Als kurz darauf der Kellner kam, stellte sich heraus, dass Gedée schrecklich hungrig war, denn sie hatte noch nicht zu Abend gegessen. Ghyl schaute mürrisch zu, wie sie Unmengen an Aal und Schnecken verschlang. Floriel bemerkte, dass er hoffte, ein kleines Segelboot zu bauen oder zu kaufen, und Sonjaly bekundete, ausgesprochen interessiert an Segelbooten und dem Reisen im Allgemeinen zu sein. Zwischen den beiden entwickelte sich eine angeregte Unterhaltung, während Ghyl entmutigt beobachtete, wie Gedée sich auf den Teller Aal stürzte, den er eigentlich für Sonjaly
bestellt hatte; diese hatte jedoch scheinbar die Lust daran verloren. Schließlich traf Nion Bohart in Gesellschaft einer übertrieben gekleideten jungen Frau ein, die offenbar ein, zwei Jahre älter war als er. Ghyl glaubte, sie als eines der Mädchen zu erkennen, die bei Keechers auf der Bank gesessen hatten. Nion stellte sie als Marta vor, erwähnte jedoch nicht, welcher Gilde sie angehörte. Einen Augenblick später erschienen Shulk und Uger und schließlich auch Mael Villy in Begleitung eines recht derben Mädchens, das nicht nur aufgrund seines feuerroten Haars alles andere als unauffällig war. Als wolle sie damit ihre Verachtung für die Rechtgläubigen bekunden, trug sie ein hautenges schwarzes Etwas, das ihre Rundungen kaum verdeckte, wenn überhaupt. Sonjaly hob verächtlich die Augenbrauen, während Gedée sich mit der Hand über den Mund wischte und einfach nur vor sich hinstarrte; ihr schien so ziemlich alles egal zu sein. Weinkrüge wurden gebracht und Becher gefüllt und geleert. Aus dem Abend wurde Nacht. Farbige Laternen wurden entzündet, und ein Flötenspieler, der angeblich von den Manginseln stammte, spielte Liebeslieder. Nion Bohart war merkwürdig schweigsam. Ghyl vermutete, dass die Erfahrung mit den Wohlfahrtsagenten ihn geläutert oder zumindest etwas weniger großspurig hatte werden lassen. Aber nach ein, zwei Bechern Wein, einem kurzen Blick zur Tür und einem ebenso kurzen zu Sonjaly, rückte Nion seinen Stuhl näher heran und wurde wieder weitgehend er selbst: ernst und zynisch und doch gleichzeitig auch fröhlich und übermütig. Zu Ghyls Erleichterung begann Shulk Odlebush ein Gespräch mit Gedée und ging sogar so weit, ihr den Becher bis zum Rand mit Wein zu füllen. Ghyl schob seinen Stuhl näher an Sonjaly heran, die über irgendetwas lachte, das Floriel gerade gesagt hatte; kurz blickte sie zu Ghyl hinüber, als wäre
er überhaupt nicht da. Ghyl atmete tief durch, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn wieder und setzte sich schmollend zurück. Jetzt redete Nion und berichtete von seiner Erfahrung bei der Wohlfahrtsagentur. Alle hörten ihm schweigend zu. Er erzählte, wie man ihn in die Agentur gebracht hatte, von seinem Verhör und von den strengen, richterlichen Ermahnungen, in Zukunft nicht mehr mit Schmugglern zu verkehren. Man hatte ihn gewarnt, sein Stab sei schon stark aufgeladen und die Rehabilitation nicht mehr fern. Gedée, die auf der letzten Schnecke kaute, fragte: »Da ist etwas, was ich nicht verstanden habe: Die Nichtkos sind ja keine Empfänger, also stehen sie auch nicht auf den Wohlfahrtslisten und haben keine Verhaltensstäbe. Nun… Kann ein Nichtko rehabilitiert werden?« »Nein«, antwortete Nion Bohart. »Wenn ein Nichtko bei einem Verbrechen erwischt wird, verbannt man ihn jenseits einer der vier Grenzen. Ein einfacher Vagabund wird nach Bayron verbannt. Einem Schmuggler ergeht es schlimmer; den verbannt man auf die Alkaliebenen, während man die größten Verbrecher nach Bauredel schickt. Der Sonderermittler hat mir das alles erklärt. Ich habe ihm gesagt, ich sei kein Verbrecher und dass ich keine schlimme Tat begangen hätte; er antwortete, dass ich trotzdem gegen die Regeln verstoßen hätte. Da habe ich ihm gesagt, vielleicht sollte man die Regeln ändern; aber er wollte einfach nicht lachen.« »Gibt es denn keine Möglichkeit, die Regeln zu ändern?«, erkundigte sich Sonjaly. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Nion. »Ich vermute, der Chefaufseher tut, was er für das Beste hält.« »Irgendwie ist das komisch«, bemerkte Floriel. »Ich frage mich, wie das alles begonnen hat.«
Ghyl beugte sich vor. »In den alten Tagen war Thadeus die Hauptstadt von Fortinone. Damals war die Wohlfahrtsagentur ein Teil der Regierung. Als Thadeus zerstört wurde, gab es keine Regierung mehr und natürlich auch niemanden, der die Wohlfahrtsregeln hätte ändern können. Also sind sie nie verändert worden.« Alle Augen richteten sich auf Ghyl. »Ah, ja«, sagte Nion Bohart. »Wo hast du das denn alles gelernt?« »Von meinem Vater.« »Nun, wenn du so allwissend bist… Wie werden die Regeln denn nun geändert?« »Wie gesagt, gab es seitdem keine Regierung mehr. Zuerst leitete der Bürgermeister die Stadt, bis die Wohlfahrtsagentur jedwede Form von Regierung endgültig überflüssig machte.« »Der Bürgermeister kann gar nichts tun«, knurrte Nion Bohart. »Er ist nur so eine Art Aufseher für die städtischen Dokumente, ein Nichts.« »Na, jetzt komm aber!«, rief Floriel in gespieltem Zorn. »Ich möchte, dass du weißt, dass der Bürgermeister ein Vetter zweiten Grades meiner Mutter ist. Er ist ein sehr feiner Mann!« »Zumindest kann man ihn weder verbannen noch rehabilitieren«, sagte Ghyl. »Wenn ein Mann wie Emphyrio zum Bürgermeister gewählt werden würde – zufälligerweise stehen nächsten Monat ja wieder Wahlen an –, dann könnte er darauf bestehen, dass die Charta von Ambroy ab sofort wieder Geltung hat, und der Wohlfahrtsagentur bliebe nichts weiter übrig, als zu gehorchen.« Mael Villy lachte. »Stellt euch das doch nur einmal vor! Sämtliche Vergütungen würden angehoben! Agenten, die die Straßen fegen und Pakete ausliefern!« »Wer kann denn zum Bürgermeister gewählt werden?«, fragte Floriel. »Jeder?«
»Natürlich«, jubilierte Nion. »Der Cousin deiner Mutter hat es ja auch irgendwie geschafft, die Stelle zu bekommen.« »Er ist ein sehr distinguierter Mann!«, protestierte Floriel. Ghyl sagte: »Im Allgemeinen nominiert der Rat der Gildenmeister ein älteres Gildenmitglied. Er wird auch stets gewählt und wiedergewählt, und so geht das weiter, bis er stirbt.« »Wer war Emphyrio?«, fragte Gedée. »Den Namen habe ich schon einmal gehört.« »Ein mythischer Held«, erklärte Nion Bohart. »Er ist Teil der interstellaren Folklore.« »Vielleicht bin ich ja dumm«, sagte Gedée und grinste, »aber welchen Sinn sollte es machen, einen mythischen Helden zu wählen? Was springt dabei heraus?« »Ich habe ja nicht gesagt, dass wir Emphyrio wählen sollten«, erklärte Ghyl. »Ich habe davon gesprochen, was ein Mann wie Emphyrio alles verändern könnte.« Floriel wurde allmählich betrunken. Er lachte ziemlich albern. »Ich sage: Wählt Emphyrio! Mythischer Held hin oder her!« »Genau!«, rief Mael. »Wählt Emphyrio! Ich bin dafür!« Missbilligend rümpfte Gedée die Nase. »Ich sehe immer noch nicht, was uns das bringen sollte.« »Es würde uns nicht wirklich etwas bringen«, erklärte ihr Nion Bohart. »Es wäre einfach nur lustig… Blödsinn, wenn du willst. Für die Wohlfahrtsagentur wäre es wie ein Dorn im Arsch.« »Für mich hört sich das einfach nur dumm an«, schnaufte Gedée. »Ein Kinderstreich.« Gedées Missbilligung reichte vollkommen aus, dass auch Ghyl Gefallen an dem Gedanken fand. »Wenn es auch zu nicht viel nütze wäre, so würden die Empfänger vielleicht trotzdem
merken, dass das Leben aus mehr besteht, als nur auf die Zuteilung von Gutscheinen zu warten.« »Genau!«, rief Nion Bohart. »Gut gesprochen, Ghyl! Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so ein Unruhestifter bist.« »Ich bin nicht wirklich ein… Aber der durchschnittliche Empfänger könnte schon ein wenig Anregung vertragen.« »Ich halte das Ganze immer noch für dumm«, verkündete Gedée und trank einen kräftigen Schluck Wein. Floriel sagte: »Zumindest wäre das mal was anderes. Was muss man tun, um Bürgermeister zu werden?« »Seltsam«, sagte Nion Bohart, »aber das kann ich beantworten, auch wenn meine Mutter keine Vettern hat. Es ist ziemlich einfach. Der Bürgermeister selbst ist für die Wahl verantwortlich, da die Wohlfahrtsagentur theoretisch nichts mit dem Amt zu tun hat. Ein Kandidat muss hundert Gutscheine als Pfand beim Bürgermeister hinterlegen, der daraufhin verpflichtet ist, den Namen an der Promenade der Stadtverwaltung auszuhängen. Am Wahltag gehen dann alle, die wählen wollen, zur Promenade, schauen die Namen durch und teilen anschließend einem Schreiber ihre Entscheidung mit.« »Also braucht man nur hundert Gutscheine«, sagte Floriel. »Ich kann zehn aufbringen.« »Was?« Sonjaly kicherte. »Du willst den Vetter deiner Mutter aus dem Amt drängen?« »Er ist ein dummer, alter Scharlatan. Vor noch nicht einmal einem Monat ist er an mir und meiner Mutter vorbeigegangen und hat so getan, als hätte er uns nicht gesehen. Wisst ihr was? Ich werde fünfzehn Gutscheine dazugeben!« »Ich würde noch nicht einmal einen vergilbten Scheck dazutun«, schnaufte Gedée. »Das ist doch lächerlich, einfach kindisch. Und vielleicht verstößt es sogar gegen die Regeln.«
»Ich gebe auch zehn«, verkündete Ghyl. »Oder fünfzehn… warum eigentlich nicht?« »Ich gebe fünf dazu«, sagte Sonjaly und warf Nion Bohart einen schelmischen Blick zu. Shulk, Mael und Uger verkündeten, ebenfalls zehn geben zu wollen, und die beiden Mädchen, die mit Nion und Shulk gekommen waren, lachten und versprachen jeweils fünf. Nion lehnte sich zurück, runzelte die Stirn und lächelte leicht. »Wenn ich richtig gerechnet habe, kommen wir so auf insgesamt fünfundsiebzig Gutscheine. Nun gut, dann werde ich also fünfundzwanzig geben, um die hundert vollzumachen, und mehr noch… Ich werde sie dem Bürgermeister persönlich überbringen!« Alle tranken. Dann sagte Ghyl: »Noch etwas! Nehmen wir einmal an, dass Emphyrio durch irgendeinen fantastischen Zufall gewählt werden sollte… Was dann?« »Bah! Das wird nie geschehen«, erwiderte Nion Bohart. »Und wenn doch… Vielleicht fangen die Leute dann wenigstens einmal an nachzudenken.« »Die heute sollten lieber darüber nachdenken, wie sie sich benehmen«, erklärte Gedée steif. »Ich finde die ganze Idee einfach nur scheußlich.« »Oh, jetzt komm aber, Gedée«, sagte Floriel. »Sei nicht so eingebildet! Was hast du gegen ein wenig Spaß?« Gedée wandte sich an Sonjaly. »Glaubst du nicht, es wird Zeit, dass wir wieder nach Hause gehen?« »Warum so eilig?«, verlangte Floriel zu wissen. »Die Party hat doch gerade erst begonnen.« »Natürlich!«, rief Sonjaly. »Komm schon, Gedée. Mach dir keine Sorgen. Wir können noch nicht so früh nach Hause gehen. Unsere Freunde würden uns auslachen.« »Nun, ich will auf jeden Fall nach Hause.« »Und ich nicht!«, schnappte Sonjaly. »Klar?«
»Ich kann nicht alleine gehen«, sagte Gedée. »Das hier ist ein ziemlich rauer Bezirk.« Sie stand auf und wartete. Ghyl murmelte: »Also gut… Sonjaly, wir sollten jetzt besser gehen.« »Aber ich will noch nicht gehen. Ich amüsiere mich gerade. Warum bringst du Gedée nicht nach Hause und kommst dann wieder zurück?« »Was? Bis ich wieder hier bin, werden alle anderen bereit sein aufzubrechen.« »Wohl kaum, mein Junge«, sagte Nion Bohart. »Das hier ist eine Feier. Wir beabsichtigen, die Nacht durchzumachen. Wenn wir hier fertig sind, gehen wir woanders hin, um ein paar Freunde von mir zu treffen.« Ghyl wandte sich an Sonjaly. »Willst du nicht doch mitkommen? Wir könnten auf dem Weg reden und…« »Also wirklich, Ghyl! Das ist so eine Kleinigkeit, und ich habe gerade so viel Spaß.« »Also schön«, sagte Ghyl. »Komm, Gedée.« »Was für ein rüder Haufen!«, erklärte Gedée, nachdem sie die Taverne verlassen hatten. »Ich dachte, es würde ein schöner Abend werden; sonst wäre ich gar nicht erst mitgekommen. Ich glaube, deine Freunde sind allesamt Nichtkos! Man sollte sie melden.« »Sie sind nichts dergleichen«, erwiderte Ghyl. »Ebenso wenig wie ich.« Gedée nickte bedeutungsvoll und schwieg. Sie fuhren zurück in den Brueben-Bezirk; dann gingen sie zu Fuß zum Undle-Platz und durch die Gosgargasse zu Gedées Haus. Sie öffnete die Tür, drehte sich zu Ghyl um und lächelte schüchtern mit ihrem lückenhaften Gebiss. »Nun denn, wir sind hier – weit weg von diesem schäbigen Haufen. Natürlich meine ich damit nicht Sonjaly… Die ist nur verwöhnt und übermütig… Möchtest du nicht mit hineinkommen? Ich könnte
uns eine schöne Kanne Tee aufschütten. Immerhin ist es noch nicht so spät.« »Nein, danke«, erwiderte Ghyl. »Ich sollte jetzt besser wieder zu der Party zurückkehren.« Vornehm warf ihm Gedée die Tür ins Gesicht. Ghyl machte auf dem Absatz kehrt und marschierte über den Undle-Platz zurück. In der Werkstatt seines Vaters brannte ein mattes Licht; entweder arbeitete Amiante an seinem Schirm oder mit seinen alten Dokumenten. Ghyl verlangsamte seinen Schritt ein wenig und fragte sich, ob sein Vater wohl auch gern zu der Party kommen würde. Vermutlich nicht… aber während er den Platz überquerte, blickte er mehrmals zu dem matten Licht hinter den bernsteinfarbenen Fenstern zurück. Zurück ging es per Oberbahn nach Süd-Foelgher und den Hang hinauf zum Palast zur Gewundenen Weide. Zu Ghyls Entsetzen waren in der Taverne bereits die Lichter gelöscht worden; der Schankraum war leer, abgesehen vom Hausmeister und dem Kellner. Ghyl ging zum Kellner. »Die Leute, mit denen ich vorhin an dem Tisch dort gesessen habe… Haben sie gesagt, wo sie hingehen wollten?« »Nein, mein Herr, jedenfalls nicht mir. Sie waren sehr ausgelassen. Sie haben viel gelacht und jede Menge Wein getrunken. Ich weiß es wirklich nicht.« Langsam stieg Ghyl wieder den Hügel hinab. Waren sie vielleicht zu Keechers Taverne in Cato gegangen? Unwahrscheinlich. Ghyl lachte hohl und machte sich auf den Weg durch die dunklen Straßen Foelghers, vorbei an steinernen Lagerhäusern und Hütten aus alten schwarzen Ziegeln. Nebel trieb vom Fluss herüber und sammelte sich in feuchten Schwaden um die wenigen Straßenlampen. Schließlich schlurfte Ghyl mit hängenden Schultern und schlecht gelaunt wieder auf den Undle-Platz. Dort blieb er kurz
stehen und ging dann in die Gosgargasse zu dem Haus mit dem blauen Stundenglas. Sonjaly lebte im vierten Stock. Die Fenster waren dunkel. Ghyl setzte sich auf die Stufen vor der Tür und wartete. Eine halbe Stunde verging. Ghyl seufzte und stand wieder auf. Sonjaly war vermutlich schon längst wieder zu Hause. Er ging heim und legte sich ins Bett.
Kapitel Neun
Als Ghyl am nächsten Morgen aufstand, hatte Amiante bereits mit der Arbeit begonnen. Ghyl wusch sich, zog seine Arbeitskleidung an und ging zum Frühstück hinunter. »Nun?«, fragte Amiante. »Wie war die Party?« »Nett. Hast du je vom Palast zur Gewundenen Weide gehört?« Amiante nickte. »Ein angenehmer Ort. Servieren sie dort noch immer Schlammaal und Schnecken?« »Ja.« Ghyl nippte an seinem Tee. »Nion Bohart war auch dort, ebenso wie Floriel und andere aus der Sonderklasse im Tempel.« »Ah, ja?« »Weißt du, dass nächsten Monat Bürgermeisterwahlen sind?« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht; aber ich nehme an, es ist einfach mal wieder Zeit dafür.« »Wir haben darüber geredet, hundert Gutscheine zusammenzulegen und den Namen Emphyrio auf die Liste setzen zu lassen.« Amiante hob die Augenbrauen und trank einen Schluck Tee. »Die Wohlfahrtsagenten werden das nicht lustig finden.« »Das geht sie doch eigentlich gar nichts an, oder?« »Alles, was die Empfänger angeht, geht auch die Wohlfahrtsagentur etwas an.« »Aber was können sie schon tun? Auf jeden Fall verstößt es nicht gegen die Regeln, einen Namen auf die Wahllisten setzen zu lassen!« »Den Namen eines toten Mannes, einer Legende.« »Ist das gegen die Regeln?«
»Technisch gesehen glaube ich nicht, da keine Betrugsabsicht zu erkennen wäre. Wenn die Öffentlichkeit eine Legende ins Amt des Bürgermeisters zu wählen wünscht… Natürlich könnte es noch andere Vorbedingungen geben wie das Alter, den Wohnsitz und so weiter. Falls ja, dann kann man den Namen natürlich nicht auf die Liste setzen lassen.« Ghyl nickte knapp. So oder so, es war ja ohnehin egal… Er ging in die Werkstatt hinunter, schärfte seine Beitel und begann, an seinem Schirm zu schnitzen… und die ganze Zeit über blickte er mit einem Auge zur Tür. Sicherlich würde bald jemand klopfen. Sonjaly würde in Tränen aufgelöst hereinschauen und sich für den gestrigen Abend entschuldigen. Doch niemand klopfte, und es war auch kein in Tränen aufgelöstes Gesicht zu sehen. Am Nachmittag, als die Tür weit offen stand, um das bernsteinfarbene Sonnenlicht hereinzulassen, erschien Shulk Odlebush. »Hallo, Ghyl Tarvoke. Arbeitest du gerade?« »Wie du siehst.« Ghyl legte den Beitel beiseite und drehte sich auf der Bank um. »Was führt dich hierher? Stimmt irgendetwas nicht?« »Alles in Ordnung. Vergangene Nacht hast du fünfzehn Gutscheine für ein bestimmtes Projekt erwähnt. Nion hat mich gebeten, sie abzuholen.« »Ja, natürlich.« Doch Ghyl zögerte. Im Licht des Tages erschien ihm der geplante Streich nur noch sinnlos und höhnisch. Doch wie Amiante erklärt hatte… Wenn die Bevölkerung für eine Legende stimmen wollte, warum sollte man ihr dann diese Gelegenheit verwehren? Ghyl versuchte, Zeit zu gewinnen. »Wo seid ihr gestern Abend hingegangen, nachdem die Gewundene Weide geschlossen hatte?« »Den Fluss hinauf in ein Privathaus. Du hättest kommen sollen. Wir hatten eine wunderbare Zeit.«
»Ich verstehe.« »Floriel hat einen ziemlich guten Geschmack, was Mädchen betrifft.« Hier neigte Shulk leicht den Kopf zur Seite. »Von dir kann man das ja nicht gerade behaupten. Was war das für eine Ziege, die du da mitgebracht hast?« »Ich habe sie nicht mitgebracht. Ich habe sie nur nach Hause begleitet.« Shulk zuckte desinteressiert mit den Schultern. »Gib mir die fünfzehn Gutscheine. Ich habe es ein wenig eilig.« Ghyl runzelte die Stirn und zuckte unwillkürlich zusammen, doch er sah keinen Weg, wie er aus diesem Dilemma entkommen sollte. Er blickte zu seinem Vater, in der Hoffnung, dieser würde ihn ob seiner Torheit ermahnen, doch Amiante schien das Gespräch überhaupt nicht zu verfolgen. Ghyl ging zum Schrank, zählte fünfzehn Gutscheine ab und gab sie Shulk. »Hier.« Shulk nickte. »Hervorragend. Morgen gehen wir zur Städtischen Promenade und lassen unseren Kandidaten für das Bürgermeisteramt eintragen.« »Wer geht?« »Jeder, der will. Wird das nicht großartig werden? Stell dir doch nur einmal den Aufruhr vor!« »Das habe ich schon.« Shulk hob zum Abschied die Hand und verschwand. Ghyl ging zur Werkbank und setzte sich Amiante gegenüber. »Glaubst du, dass das richtig war?« Bedächtig legte Amiante den Beitel ab. »Auf jeden Fall war es nicht falsch.« »Ich weiß… aber war es dumm? Ich kann mich nicht entscheiden. Das Amt des Bürgermeisters ist doch so unwichtig.« »Im Gegenteil!«, erklärte Amiante mit einer Leidenschaft, die Ghyl überraschte. »Das Amt ist in der Bürgercharta begründet
und sehr alt.« Amiante hielt kurz inne und grunzte verächtlich – wem oder was gegenüber er diese Verachtung empfand, vermochte Ghyl nicht zu sagen. »Was kann ein Bürgermeister denn alles tun?«, erkundigte sich Ghyl. »Er kann – oder zumindest kann er es versuchen – den Paragraphen der Charta Geltung verschaffen.« Amiante runzelte die Stirn und blickte zur Decke hinauf. »Ich vermute, man kann darüber streiten, ob die Wohlfahrtsregeln die Bestimmungen der Charta effektiv aufheben… auch wenn die Charta offiziell nie abgeschafft worden ist. Das Amt des Bürgermeisters ist Beweis dafür.« »Die Charta ist älter als die Wohlfahrtsregeln?« »Das ist sie in der Tat. Älter und allgemeiner formuliert.« Amiantes Stimme klang nun wieder leidenschaftslos und nachdenklich. »Das Amt des Bürgermeisters ist die letzte Manifestation der Charta, was ausgesprochen schade ist.« Er zögerte und schürzte die Lippen. »Meiner Meinung nach würde es dem Bürgermeister vermutlich ziemlich… schwer fallen, den Prinzipien der Charta Geltung zu verschaffen. Ja, es wäre wohl sehr schwer.« »Warum schwer?«, fragte Ghyl. »Die Charta besitzt doch immer noch ihre Gültigkeit.« Amiante tippte sich nachdenklich ans Kinn und starrte durch die offene Tür auf den Undle-Platz hinaus. Ghyl fragte sich schon, ob sein Vater die Frage überhaupt gehört hatte. Schließlich ergriff Amiante jedoch wieder das Wort; aber seine Stimme klang irgendwie… schräg – jedenfalls erschien es Ghyl so. »Freiheit und andere Privilegien müssen ständig ausgeübt werden, auch wenn es bisweilen unangenehm ist. Andernfalls geraten sie in Vergessenheit oder kommen schlicht aus der Mode, werden unorthodox… und schließlich irregulär. Manchmal wirkt ein Mensch, der auf seinen Privilegien
beharrt, schrill und streitsüchtig; aber tatsächlich erweist er mit seinem Verhalten der Allgemeinheit einen großen Dienst. Freiheit darf nie zu einem Gesetz werden; doch noch weniger dürfen sich Regeln in Restriktionen verwandeln.« Amiantes Stimme verhallte. Er griff nach dem Beitel und betrachtete ihn, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. Ghyl runzelte die Stirn. »Dann glaubst du also, ich sollte versuchen, Bürgermeister zu werden, um der Charta Geltung zu verschaffen?« Amiante lächelte und zuckte mit den Schultern. »Was das betrifft, so kann ich dir keinen Rat geben. Das musst du schon selbst entscheiden… Vor langer Zeit hatte ich die Gelegenheit, etwas Ähnliches zu tun. Man hat mich überredet, davon abzulassen, und seitdem habe ich mich nie mehr richtig wohlgefühlt. Vielleicht bin ich einfach kein tapferer Mann.« »Natürlich bist du tapfer!«, erklärte Ghyl. »Du bist der tapferste Mann, den ich kenne!« Doch Amiante lächelte nur, schüttelte den Kopf und wollte nicht mehr sagen. Gegen Mittag des folgenden Tages kamen Nion, Floriel und Shulk Ghyl besuchen. Sie waren aufgeregt. Nion trug einen schwarz-braunen Anzug, der ihn weit älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Floriel war freundlich, wenn auch ein wenig unverbindlich. »Was zum Teufel ist denn vorgestern mit dir passiert?«, fragte er unschuldig. »Wir haben auf dich gewartet, gewartet und gewartet. Schließlich haben wir beschlossen, du seist entweder nach Hause gegangen oder« – er zwinkerte – »du hättest ein wenig mit Gedée geschmust.« Ghyl drehte sich angewidert um. Floriel zuckte mit den Schultern. »Wenn du das so siehst…« Nion sagte: »Es gab eine kleine Schwierigkeit. Wir konnten den Namen Emphyrio nicht registrieren lassen, ohne dass er
mit einem hier wohnhaften Empfänger von einwandfreiem Ruf in Verbindung steht. Damit war ich natürlich schon draußen. Floriel und Shulk haben Schwierigkeiten mit ihrer Gilde. Mael ist aus dem Tempel geworfen worden. Uger… na ja, du kennst ihn ja. Er ist ja nun wirklich nicht dafür geeignet. Also haben wir dich unter dem Spitznamen Emphyrio nominiert.« Nion trat vor und schlug Ghyl auf den Rücken. »Mein Junge, du könntest der nächste Bürgermeister sein!« »Aber… aber ich will nicht Bürgermeister sein!« »Realistisch betrachtet sind deine Chancen ohnehin gering.« »Gibt es keine Altersbeschränkungen? Immerhin…« Nion schüttelte den Kopf. »Du bist ein vollwertiger Empfänger; du hast einen guten Ruf in deiner Gilde, und du stehst nicht auf den Tempellisten. Um es kurz zu machen: Du bist ein vollkommen akzeptabler Kandidat.« Amiante lachte leise; alle drehten sich zu ihm um, doch der alte Holzschnitzer schwieg. Ghyl runzelte die Stirn. Er hatte nicht im Geringsten den Wunsch verspürt, tiefer als die fünfzehn Gutscheine in die Angelegenheit verwickelt zu werden. Besonders nicht, da er keine Kontrolle über das Ganze hatte – nicht solange auch Nion dabei war. Es sei denn natürlich, er würde versuchen, seine formelle Führungsrolle auszuspielen, was jedoch unweigerlich eine Auseinandersetzung mit Nion zur Folge hätte oder zumindest ein Kräftemessen. Andererseits – wie Amiante erklärt hatte – verstieß eine Kandidatur weder gegen die Wohlfahrtsregeln, noch war sie moralisch verwerflich. Es gab keinen Grund, warum er nicht unter dem Spitznamen Emphyrio antreten sollte, solange für jedermann klar ersichtlich war, dass sich hinter diesem Namen Ghyl Tarvoke verbarg. Ghyl sagte: »Ich habe keinerlei Einwände… solange eine Bedingung erfüllt wird.«
»Was für eine?« »Dass ich die Kontrolle über alles bekomme. Ihr werdet von mir Befehle entgegennehmen.« »Befehle?« Nion verzog das Gesicht. »Jetzt hör aber auf!« »Wenn du das nicht willst… Nimm doch deinen eigenen Namen.« »Wie du weißt, kann ich das nicht.« »Dann wirst du wohl meiner Bedingung zustimmen müssen.« Nion rollte mit den Augen. »Also gut. Wenn du aus dem Ganzen eine derart pompöse Angelegenheit machen willst…« »Nenn es, wie du willst.« Aus den Augenwinkeln heraus sah Ghyl, dass Amiante ihnen die ganze Zeit über aufmerksam zugehört hatte. Jetzt verzog sein Vater die Lippen zu einem Hauch von einem Lächeln und beugte sich über seinen Schirm. »Stimmt ihr meiner Bedingung nun zu?« Erneut verzog Nion das Gesicht; dann lächelte er und war wieder der alte. »Ja, natürlich. Das Wichtigste dabei ist aber nicht Autorität oder Prestige, sondern der Spaß, der damit verbunden ist.« »Also gut. Ich will nicht, dass sich irgendwelche Nichtkos oder Kriminelle einmischen, sei es nun direkt oder indirekt. Das Ganze muss streng nach den Regeln ablaufen.« »Nichtkos sind nicht unbedingt amoralisch«, bemerkte Nion Bohart. »Das stimmt«, meldete sich Amiante von der Bank. »Aber die Nichtkos, die du kennst, sind es«, erwiderte Ghyl nach einem kurzen Blick zu seinem Vater. »Ich möchte nicht gerade auf Gedeih und Verderb deinen Bekannten ausgeliefert sein.« Nion zog die Lippen zurück und entblößte kurz eine Reihe scharfer weißer Zähne. »Du scheinst wirklich zu wollen, dass alles so läuft, wie du es willst.«
Ghyl warf die Arme hoch und verkündete ehrlich: »Macht es doch ohne mich! Bitte! Tatsächlich…« »Nein, nein, nein«, unterbrach ihn Nion Bohart. »Wir sollen es ohne dich machen? Ohne den Initiator des ganzen Plans? Unsinn! Das wäre ja geradezu pervers!« »Dann… keine Nichtkos. Keine Erklärungen oder sonstige Aktivitäten ohne meine vorherige, ausdrückliche Genehmigung.« »Aber du kannst doch nicht überall zugleich sein.« Ghyl blickte Nion Bohart gut zehn Sekunden lang an. Gerade als er den Mund öffnete, um endgültig seinen Rückzug aus dem Projekt zu verkünden, zuckte Nion mit den Schultern. »Was immer du sagst.« Kurze Zeit später, nachdem die Jungen gegangen waren, erschien Schute Cobol. Erregt legte er bei Amiante Protest ein. »Diese Idee ist ja geradezu lächerlich! Ein Jüngelchen, fast ein Kind noch, als Kandidat für das Bürgermeisteramt! Und dann nennt er sich auch noch prahlerisch Emphyrio! Nennt Ihr das etwa soziales Verhalten?« Amiante fragte in sanftem Tonfall: »Verstößt es gegen die Regeln?« »Es ist mit Sicherheit Wichtigtuerei und vollkommen unangemessen! Ihr verspottet dieses ehrenwerte Amt! Das wird viele Menschen verwirren und abstoßen!« »Wenn eine Handlung nicht gegen die Regeln verstößt, ist sie richtig und angemessen«, erwiderte Amiante. »Und wenn eine Handlung richtig und angemessen ist, kann jeder Empfänger es nach Herzenslust tun.« Schute Cobols Gesicht wurde rot vor Zorn. »Erkennt Ihr denn nicht, in was für Schwierigkeiten mich das bringen würde? Meine Vorgesetzten werden mich fragen, warum ich solch einen Wahnsinn nicht im Keim erstickt habe! Also gut.
Halsstarrigkeit funktioniert in beide Richtungen. Wie es der Zufall will, liegt gerade eine Anfrage auf meinem Tisch, was die Erhöhung Eurer jährlichen Vergütung betrifft. Man hat mich gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Leider muss ich den Antrag jetzt ablehnen, und zwar aufgrund sozialer Unverantwortlichkeit. Es nützt Euch gar nichts, sich mit mir anzulegen!« Das rührte Amiante nicht. »Tut, was Ihr für richtig haltet.« Schute Cobol wirbelte zu Ghyl herum. »Und wie lautet Euer letztes Wort?« Ghyl, der noch vor kurzem alles andere als begeistert davon gewesen war, Bürgermeisterkandidat zu werden, vermochte nun seinen Zorn kaum noch zu beherrschen. »Es verstößt nicht gegen die Regeln. Warum also sollte ich mich nicht als Kandidat aufstellen lassen?« Schute Cobol stürzte aus der Werkstatt. »Pah!«, machte Ghyl. »Vielleicht hatten Nion und die Nichtkos doch Recht.« Amiante antwortete nicht direkt darauf. Er trommelte sich mit den Fingern aufs Kinn und sagte mit schwerer Stimme: »Es ist Zeit.« Ghyl blickte fragend zu seinem Vater, doch Amiante sprach mit sich selbst. »Es ist Zeit«, intonierte er erneut. Ghyl ging zu seiner Bank und setzte sich. Während er arbeitete, warf er Amiante immer wieder verwirrte Blicke zu. Sein Vater starrte zur offenen Tür hinaus, und von Zeit zu Zeit bewegte sich sein Mund, wenn er sich selbst wieder etwas zumurmelte. Schließlich ging er zum Schrank und holte seine Mappe heraus. Während Ghyl ihn besorgt beobachtete, blätterte Amiante die Papiere durch. Noch bis spät in der Nacht arbeitete Amiante in der Werkstatt. Ghyl wälzte sich nervös auf seiner Couch herum,
ging jedoch nicht hinunter, um herauszufinden, was sein Vater tat. Am folgenden Morgen war der Laden von einem seltsamen, säuerlichen Geruch erfüllt. Ghyl stellte keine Fragen, und Amiante gab keine Erklärungen. Im Laufe des Tages nahm Ghyl an einem Gildenausflug auf die Pyriteinsel teil, die zwanzig Meilen vor der Küste lag. Die Insel war lediglich ein kleiner Felshaufen, auf dem nur ein paar vom Wind zerzauste Bäume wuchsen; allerdings gab es dort auch einen Pavillon, ein Restaurant und ein paar Hütten. Ghyl hatte gehofft, dass seine Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters relativ unbemerkt bleiben würde – die Wahl war den meisten Leuten ohnehin egal –, doch das war nicht der Fall. Den ganzen Tag über wurde er verspottet, aus den Augenwinkeln heraus beobachtet und von den meisten gemieden. Ein paar junge Frauen und Männer erkundigten sich neugierig danach, warum er ausgerechnet diesen Spitznamen gewählt hatte, und fragten nach seinen Motiven und seinen Plänen für den Fall, das er gewählt werden sollte. Ghyl war nicht in der Lage, ihnen intelligente Antworten zu geben. Auf jeden Fall wollte er seine Kandidatur nicht als Scherz verstanden wissen, den sich ein paar Betrunkene ausgedacht hatten und aus dem er nun nicht mehr rauskam. Am Ende des Tages fühlte er sich gedemütigt und war wütend. Als er wieder nach Hause zurückkehrte, war Amiante ausgegangen. In der Werkstatt hing noch immer ein Rest des säuerlichen Geruchs vom Morgen. Amiante kehrte erst sehr spät wieder heim, was ausgesprochen ungewöhnlich war. Am nächsten Tag wurden überall in den Bezirken Brueben, Nobile, Foelgher, Dodrechten, Cato, Hoge, Veige und bis hinaus nach Godero und in die Oststadt Plakate gesehen. In
dunkelbraunen Buchstaben auf grauem Hintergrund stand dort geschrieben: Lasst uns die Dinge zum Besseren verändern EMPHYRIO SOLLTE UNSER NÄCHSTER BÜRGERMEISTER SEIN Ghyl sah die Plakate mit Erstaunen. Es war offensichtlich, dass sie mit irgendeinem Gerät dupliziert worden waren. Wie sonst hätte man so viele Plakate in so kurzer Zeit herstellen können? Eines der Plakate hing an einer Wand auf der anderen Seite des Undle-Platzes. Ghyl beugte sich nahe heran, schnüffelte an der Tinte und erkannte den säuerlichen Geruch, der die Werkstatt erfüllt hatte. Ghyl setzte sich auf eine Bank und starrte aus leeren Augen auf das Plakat. Eine schreckliche Situation! Wie konnte sein Vater nur so unverantwortlich sein? Was war nur in ihn gefahren? Ghyl erhob sich, ließ sich jedoch sofort wieder zurückfallen. Er wollte nicht nach Hause gehen; er wollte nicht mit seinem Vater sprechen… Und doch konnte er nicht den ganzen Tag über hier sitzen bleiben. Widerwillig stand er auf und ging langsam über den Platz ins Haus zurück. Amiante stand an der Werkbank und arbeitete am Entwurf zu einem neuen Schirm: Das Bild zeigte ein geflügeltes Etwas, das Früchte vom Baum des Lebens pickte. Das Holz war ein dunkles, glänzendes Stück Perdura, das Amiante sich für ein besonderes Design aufbewahrt hatte. Als er seinen Vater derart gelassen sah, blieb Ghyl in der Tür stehen und starrte ihn verwirrt an. Amiante hob den Blick und nickte. »Sieh an… Unser zukünftiger Jungpolitiker ist nach Hause zurückgekehrt. Wie läuft der Wahlkampf?«
»Es gibt keinen Wahlkampf«, murmelte Ghyl. »Ich bereue jetzt schon, mich jemals auf diesen Unsinn eingelassen zu haben.« »Oh. Denk doch nur einmal an das Prestige… vorausgesetzt natürlich, dass du gewählt wirst.« »Die Chance ist wohl ziemlich gering. Und Prestige? Als Holzschnitzer kann ich mir größeres Prestige verdienen.« »Falls du als Emphyrio gewählt werden solltest, wäre mit einem Mal alles anders. Das Prestige läge in den ungewöhnlichen Umständen begründet.« ›»Prestige‹ oder Spott? Letzteres ist wohl wahrscheinlicher. Ich weiß nichts von dem, was ein Bürgermeister braucht. Das ist einfach absurd.« Amiante zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Entwurf zu. Ein Schatten fiel auf Ghyls Bank. Er drehte sich um. Es war, wie er gefürchtet hatte: Dort standen Schute Cobol und zwei Männer in dunkelblau-braunen Uniformen – Sonderagenten. Schute Cobol blickte von Ghyl zu Amiante. »Ich bedauere die Notwendigkeit dieses Besuchs. Ich kann beweisen, dass ein Regelverstoß in diesem Laden begangen worden ist, nämlich die Duplizierung mehrerer hundert Plakate.« Ghyl lehnte sich auf seiner Bank zurück. Schute Cobol und die beiden Agenten traten vor. »Entweder ist nur einer von Euch schuldig oder alle beide«, erklärte Schute Cobol. »Bereitet Euch darauf vor…« Amiante stand auf und blickte verwirrt von einem zum anderen. »Schuld? Für das Drucken politischer Plakate? Darin vermag ich keine Schuld zu sehen.« »Ihr habt diese Plakate gedruckt?« »Das habe ich; sicher. Das ist mein gutes Recht und kein Regelverstoß.«
»Ich denke da anders, besonders nachdem Ihr gewarnt worden seid. Das ist ein ernstes Verbrechen!« Amiante breitete die Arme aus. »Wie kann das ein Verbrechen sein, wo ich doch nur ein Recht ausgeübt habe, das mir durch die Große Charta von Ambroy garantiert wird?« »Hä? Was soll das sein?« »Die Große Charta. Seid Ihr damit etwa nicht vertraut? Sie ist die Grundlage aller Regeln.« »Ich weiß nichts von irgendeiner Charta. Ich kenne den Regelkodex der Wohlfahrtsagentur, was vollkommen ausreichend ist.« Amiante war mehr als höflich. »Gestattet mir, Euch den Abschnitt zu zeigen, auf den ich mich beziehe.« Er ging zum Schrank und holte eins seiner alten Pamphlete hervor. »Seht Ihr: die Große Charta von Ambroy. Ihr habt doch sicherlich zumindest schon einmal davon gehört, oder?« »Ja, gehört habe ich wohl einmal davon«, gab Schute Cobol widerwillig zu. »Nun denn, hier ist der Abschnitt: ›Jeder tugendhafte Bürger von einwandfreiem Ruf darf sich für ein öffentliches Amt bewerben. Des Weiteren dürfen er und seine Sponsoren die Öffentlichkeit über die Kandidatur in Kenntnis setzen, und zwar auf dem Wege der Werbung, des Aufhängens gedruckter Bulletins und Plakate, verbaler Botschaften und Appelle auf öffentlichen Plätzen…‹ Da steht noch mehr zu dem Thema, aber ich glaube, das reicht erst mal.« Schute Cobol warf einen Blick auf das Pamphlet. »Was für ein Gekrakel soll das denn sein?« »Das ist Formelles Archaisch«, erklärte Amiante. »Was auch immer es sein mag; ich kann es nicht lesen, und wenn ich es nicht lesen kann, dann bin ich auch nicht daran gebunden. Dieser Müll könnte alles Mögliche sein! Ihr versucht, mich hinters Licht zu führen!«
»Das will ich keinesfalls«, sagte Amiante. »Das hier ist sozusagen die Grundregel von Ambroy, der sich die Wohlfahrts- und Gildenregeln unterordnen müssen.« »Müssen sie das?« Schute Cobol lachte grimmig. »Und wer soll diesem Gesetz Geltung verschaffen?« »Der Bürgermeister und das Volk von Ambroy«, antwortete Amiante. Schute Cobol winkte den Agenten. »Ins Amt mit ihm. Er hat regelwidrig Duplikate angefertigt.« »Nein, das habe ich nicht! Seht Ihr denn nicht den Abschnitt hier? Er erklärt klar und deutlich meine Rechte!« »Und habe ich Euch nicht gesagt, dass ich das nicht lesen kann? Es gibt Hunderte, ja Tausende solch obsoleter Dokumente. Und jetzt kommt mit! Ich habe nichts für Chaotizisten übrig!« Ghyl sprang auf und schlug nach Schute Cobol. »Lasst meinen Vater in Ruhe! Er hat nichts Falsches getan!« Einer der Agenten stieß Ghyl beiseite, und der zweite stellte ihm ein Bein, so dass er der Länge nach hinfiel. Schute Cobol baute sich über ihm auf und blähte die Nüstern. »Glück für Euch, dass der Schlag sein Ziel verfehlt hat; ansonsten…« Er beendete den Satz nicht, sondern drehte sich zu seinen Agenten um. »Kommt. Ins Amt mit ihm.« Und Amiante wurde fortgeschleppt. Ghyl rappelte sich auf, rannte zur Tür und folgte den Wohlfahrtsagenten zu ihrem fünfrädrigen Wagen. Amiante blickte aus dem Wagenfenster. Sein Gesichtsausdruck war wild, doch irgendwie wirkte er auch ruhig. »Leg beim Bürgermeister Protest ein! Verlang von ihm, dass er der Charta Geltung verschafft!« »Ja! Ja! Aber wird er es auch tun?« »Ich weiß es nicht. Tu einfach, was du kannst.«
Die Agenten schoben Ghyl beiseite, und der Wagen fuhr davon. Ghyl blickte ihm hinterher. Dann kehrte er wieder in die Werkstatt zurück, ohne die entsetzten Blicke von Freunden und Nachbarn zu beachten. Er steckte die Charta in einen Umschlag, holte ein paar Gutscheine und Schecks aus dem Schrank und rannte zur Oberbahnstation. Schließlich fand Ghyl den Bürgermeister, den Vetter von Floriels Mutter, in der Taverne Zum Braunen Stern. Wie nicht anders zu erwarten war, hatte der Mann noch nie von der antiken Charta gehört; vollkommen desinteressiert warf er lediglich einen kurzen Blick darauf. Ghyl erklärte ihm die Umstände und drängte den Bürgermeister zu intervenieren, doch dieser schüttelte entschlossen den Kopf. »Der Fall ist klar – zumindest für mich. Duplizieren ist strengstens verboten, und zwar aus guten Gründen. Euer Vater scheint recht kapriziös zu sein, wenn er bewusst eine solche Regel bricht.« Wütend wandte sich Ghyl ab und marschierte durch die Dämmerung zurück zum Undle-Platz. Wieder in der Werkstatt saß er stundenlang da und brütete vor sich hin, während draußen schon längst das Zwielicht der Nacht gewichen war. Schließlich stieg er in sein Zimmer hinauf. Er legte sich auf seine Couch und starrte ins Nichts. Bei dem Gedanken, was man gerade mit seinem Vater machte, drehte sich ihm der Magen um. Der arme, unschuldige Amiante, dachte Ghyl. Er hatte auf die Magie der Worte vertraut, auf einen Satz auf einem seiner uralten Papiere. Doch nach und nach, während die Nacht immer älter wurde, beschlichen Ghyl die ersten Zweifel. Wenn er sich die
Handlungen seines Vaters in den vergangenen Tagen ins Gedächtnis zurückrief, so fragte er sich nun, ob Amiante nicht einfach nur getan hatte, wovon er geglaubt hatte, es tun zu müssen – und zwar ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Risiken, derer er sich vermutlich bewusst gewesen war. Armer, dummer, tapferer Amiante, dachte Ghyl.
Anderthalb Wochen später wurde Amiante wieder nach Hause gebracht. Er hatte Gewicht verloren, und er wirkte geradezu apathisch. Als er die Werkstatt betrat, ging er sofort zu seiner Bank und setzte sich, denn seine Beine waren zu schwach, um ihn zu tragen. »Vater!«, sagte Ghyl mit heiserer Stimme. »Geht es dir gut?« Amiante nickte langsam. »Ja. So gut, wie man es erwarten kann.« »Was… Was haben sie getan?« Amiante atmete tief durch. »Ich weiß es nicht.« Er blickte auf den Schirm, an dem er zuletzt gearbeitet hatte, und nahm vorsichtig einen Beitel in die Finger, die ihm plötzlich dick und ungeschickt erschienen. »Ich weiß noch nicht einmal mehr, warum sie mich überhaupt mitgenommen haben.« »Weil du Plakate gedruckt hast!« »Ah, ja. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe ihnen irgend etwas vorgelesen. Was war das noch?« »Das hier!«, rief Ghyl und versuchte vergeblich, sich nichts von seiner Erregung und seiner Qual anmerken zu lassen. »Die Große Charta! Erinnerst du dich nicht mehr?« Ohne großes Interesse griff Amiante nach dem alten Stück Papier, drehte es hierhin und dorthin und gab es Ghyl wieder zurück. »Ich scheine wirklich müde zu sein. Ich kann es nicht lesen.«
Ghyl ergriff den Arm seines Vaters. »Komm nach oben, und leg dich hin. Ich werde Abendessen machen, und dann können wir reden.« »Ich bin nicht hungrig.« Muntere Schritte ertönten vor der Tür. Dann folgte ein kurzes Klopfen, und Nion Bohart betrat die Werkstatt; er trug eine große grüne Schnabelkappe, einen grünen Anzug und schwarzgelbe Stiefel. Beim Anblick von Amiante blieb er unwillkürlich stehen. Dann trat er langsam näher und schüttelte traurig den Kopf. »Rehabilitation, wie? Das hatte ich schon befürchtet.« Und er musterte Amiante, als betrachtete er eine Wachsfigur. »Ich muss schon sagen, sie haben sich nicht sehr zurückgehalten.« Ghyl richtete sich langsam auf und drehte sich zu Nion um. »Du bist an alldem schuld.« Nion Bohart versteifte sich entrüstet. »Jetzt komm aber! Keine Beleidigungen! Ich habe weder die Regeln noch die Große Charta verfasst! Ich habe nichts Falsches getan!« »Nichts Falsches«, echote Amiante mit schwacher Stimme. Ghyl schnaufte zweifelnd. »Nun denn… Was willst du?« »Ich bin gekommen, um mit dir die Wahl zu besprechen.« »Da gibt es nichts zu besprechen. Ich bin nicht interessiert.« Amiante bewegte den Mund, als wiederholte er erneut, was er gerade gehört hatte. Nion Bohart warf seine Kappe auf die Bank. »Also gut, Ghyl. Du bist erregt; das kann ich verstehen. Aber gib denen die Schuld, die es verdienen.« »Und wer soll das sein?« Nion Bohart zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen.« Er blickte zum Fenster hinaus und machte eine rasche Bewegung, als wolle er den Raum verlassen. »Noch mehr Besucher«, murmelte er.
Vier Männer betraten die Werkstatt. Ghyl kannte nur Schute Cobol. Schute Cobol nickte Ghyl höflich zu, warf einen kurzen Blick zu Nion Bohart und musterte Amiante mit grimmiger Miene. »Nun denn, als Rehabilitierter habt Ihr Anrecht auf besondere Beratung. Das hier ist Zurik Cobol. Er wird Euch bei der Schaffung einer gesunden, neuen Lebensgrundlage zur Seite stehen.« Zurik Cobol war ein kleiner runder Mann mit rundem, kahlem Kopf. Er nickte knapp und starrte Amiante an. Während Schute Cobol gesprochen hatte, hatte Nion Bohart sich unauffällig zur Tür geschlichen; doch nun bedeutete ihm einer der Männer hinter Schute Cobol – ein großer Mann in Schwarz mit hagerem Gesicht und einem großen schwarzen, mit Schleifen verzierten Hut –, er solle bleiben, wo er war. Schute Cobol blickte von Amiante zu Ghyl. »Ich muss Euch davon in Kenntnis setzen, dass auch Euer Stab hoch aufgeladen ist. Experten haben Euer Verhalten als verbrecherisch klassifiziert.« »Ach, haben sie das?«, erwiderte Ghyl in beißendem Tonfall. Ihm kam die Galle hoch. »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Erstens: Eure Kandidatur ist nichts weiter als ein böswilliger Streich und ein Versuch, die Stadt zu demütigen. Solch ein Verhalten ist pietätlos und kann nicht toleriert werden. Zweitens versucht Ihr, die Wohlfahrtslisten durcheinander zu bringen, indem Ihr Euch den Namen eines legendären, nichtexistenten Mannes gebt. Drittens impliziert die Tatsache, dass Ihr Euch offenbar mit einem legendären Rebellen gegen die etablierte Ordnung identifiziert, dass Ihr durch Euer Verhalten chaotizistisches Gedankengut verbreiten wollt. Viertens habt Ihr mit Nichtkooperierenden verkehrt…«
Nion Bohart schwankte vorwärts. »Und was, wenn ich fragen darf, ist irregulär daran, mit Nichtkos zu verkehren?« Schute Cobol sah ihn noch nicht einmal an. »Nichtkooperierende existieren außerhalb der Wohlfahrtsregeln; daher ist ihre Existenz an sich schon ein Regelverstoß, auch wenn nicht aktiv dagegen vorgegangen wird. Bei der Kandidatur des Emphyrio handelt es sich ohne Zweifel um die Idee von Nichtkooperierenden. Fünftens seid Ihr der Sohn und Partner eines Mannes, der bereits zweimal wegen Duplizierens getadelt worden ist. Eine Absprache zwischen Euch beiden können wir zwar nicht nachweisen, doch es ist wohl wahrscheinlich, dass Ihr gewusst habt, was hier vor sich ging. Ihr habt bei der Agentur keine Meldung erstattet. Absichtliches Verschweigen eines Regelverstoßes ist ein Verbrechen. Allerdings reichen die Beweise in keinem dieser fünf Punkte aus, um entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Ihr seid sehr geschickt, junger Mann.« (Bei diesen Worten warf Nion Bohart Ghyl einen Blick zu, der deutlich verriet, dass er diesen nun mit neuen Augen sah.) »Seid jedoch versichert, dass Ihr niemanden täuschen könnt und dass Ihr von nun an aufmerksam beobachtet werdet. Dieser Herr hier…« er deutete auf den Mann in Schwarz »… ist der Oberste Untersuchungsagent des Brueben-Bezirks, eine sehr wichtige Persönlichkeit. Ihr habt seine Aufmerksamkeit erregt, und von Eurem Standpunkt aus betrachtet ist das nicht sehr vorteilhaft.« »In der Tat«, bestätigte der schwarze Agent mit leiser, angenehmer Stimme. Er deutete auf Nion. »Ist das da einer der Komplizen?« »Das ist Nion Bohart, ein notorischer Tunichtgut«, antwortete Schute Cobol. »Ich habe seine Akte griffbereit. Sie liest sich nicht sehr schön.«
Der Agent winkte ab. »Er ist gewarnt. Jetzt ist wohl alles gesagt.« Die Wohlfahrtsagenten verschwanden wieder mit Ausnahme von Zurik Cobol, der Amiante nach draußen ins Sonnenlicht führte, ihn auf eine Bank setzte und ernst auf ihn einredete. Nion Bohart blickte zu Ghyl. »Hui! Was für ein Wespennest!« Ghyl setzte sich auf seine Bank. »Habe ich vielleicht irgendeinen schrecklichen Fehler begangen? Ich weiß es nicht…« Nion hatte das Interesse verloren und ging zur Tür. »Morgen ist Wahl«, rief er über die Schulter zurück. »Vergiss nicht, wählen zu gehen!«
Kapitel Zehn
Insgesamt gab es fünf Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters. Der Amtsinhaber erhielt die Mehrheit der Stimmen und durfte so seine Pfründe behalten. Emphyrio wurde ein überraschend starker Dritter mit etwa zehn Prozent der Stimmen – genug, um die Wohlfahrtsagentur erneut aufzuschrecken. Schute Cobol kam in die Werkstatt und verlangte, dass Amiante ihm seine sämtlichen privaten Papiere aushändigte. Amiante saß an der Werkbank, arbeitete lustlos an seinem Schirm und blickte mit einem seltsamen Funkeln in den Augen auf. Schute Cobol trat einen Schritt näher; zu Ghyls Überraschung sprang Amiante auf und schlug Schute Cobol mit einem Hammer. Schute Cobol fiel zu Boden, und Amiante hätte erneut zugeschlagen, wäre Ghyl ihm nicht in den Arm gefallen. Schute Cobol stöhnte, hielt sich den Kopf und wankte aus der Werkstatt hinaus ins goldene Licht der Nachmittagssonne. Mit einer Stimme, die Ghyl niemals erkannt hätte, sagte Amiante zu seinem Sohn: »Nimm die Papiere. Sie gehören dir. Bewahr sie sicher auf.« Dann ging er auf den Platz hinaus und setzte sich auf eine Bank. Ghyl versteckte die Mappe unter den Dachpfannen. Eine Stunde später erschienen Wohlfahrtsagenten, um Amiante abzuführen. Als er vier Tage später wieder zurückkehrte, war er freundlich, unbeschwert und allem gegenüber gleichgültig. Einen Monat später fiel er in eine düstere Stimmung und sackte in seinem Stuhl zusammen. Ghyl beobachtete ihn besorgt.
Amiante döste. Als Ghyl ihm eine Schüssel Brei zum Mittagessen brachte, war Amiante tot. Ghyl war allein in der alten Werkstatt. Amiantes Gegenwart war noch überall zu spüren; hier lagen seine Werkzeuge, dort seine Entwürfe, und die Wände hallten noch immer vom Klang seiner milden Stimme wider. Ghyl konnte vor lauter Tränen kaum sehen. Was sollte nun werden? Sollte er weiter als Holzschnitzer arbeiten? Sollte er ein Nichtko werden und ein Leben als Vagabund führen? Oder sollte er vielleicht nach Luschein oder Salula auswandern? Er holte Amiantes Mappe vom Dach herunter und ging die Papiere durch, die sein Vater stets so liebevoll behandelt hatte. Er entschlüsselte den Text der alten Charta und schüttelte den Kopf ob der idealistischen Vision, die die Gründerväter von Ambroy gehabt hatten. Als er noch einmal das Emphyriofragment las, machte es ihm Mut. Emphyrio stritt und litt für die Wahrheit, dachte er. Ich werde das Gleiche tun. Wenn ich doch nur die Kraft dafür in mir finden könnte! Amiante hätte das auch gewollt! Er nahm das Fragment und die Charta aus der Mappe und versteckte sie an unterschiedlichen Orten; die Mappe selbst brachte er wieder an ihren angestammten Platz unterm Dach. Dann kehrte Ghyl wieder in die Werkstatt zurück. Im Haus war es vollkommen ruhig, abgesehen von einer Vielzahl leiser Geräusche, die Ghyl bis jetzt nie aufgefallen waren, wie das Knarren alten Holzes und das Pfeifen des Windes unterm Dach. Es wurde Nachmittag. Sanftes Licht strömte durch die bernsteinfarbenen Fenster herein. Wie oft hatte Ghyl in diesem Licht an der Werkbank gesessen und sein Vater ihm direkt gegenüber! Ghyl kämpfte gegen die Tränen an. Er brauchte jetzt all seine Stärke; er musste sich entwickeln und Wissen anhäufen. Doch zunächst einmal vermochte er die große Unzufriedenheit, die er empfand, nicht auf einen Punkt zu richten. Die
Wohlfahrtsagentur arbeitete im Großen und Ganzen für das Wohl der Empfänger. Die Gilden setzten und überwachten Standards, die den Waren der Stadt eine solche Qualität verliehen, das Ambroys Existenz relativ sicher war. Die Lords forderten zwar ihre 1,18 Prozent von allem, doch das war kein sonderlich schmerzlicher Betrag. Aber was stimmte dann nicht? Wo war die Wahrheit? Welchen Kurs hätte Emphyrio eingeschlagen? Vor lauter Verzweiflung und in dem Verlangen, unbedingt etwas tun zu müssen, griff Ghyl nach dem nächstbesten Beitel, ging zu Amiantes Werkbank und setzte sich vor dessen Perdurapaneel, auf dem das Geflügelte Etwas und der Baum des Lebens zu sehen waren. Er arbeitete wie im Fieber, und schließlich war der Boden über und über mit Spänen und Splittern bedeckt. Schute Cobol ging vor dem Fenster vorbei, klopfte, öffnete die Tür und spähte herein. Er sagte nichts. Ghyl sagte nichts. Die beiden blickten einander in die Augen. Schute Cobol nickte langsam und verschwand.
Die Zeit verging… ein Jahr, zwei Jahre… Ghyl traf keinen seiner alten Freunde mehr. Zur Entspannung fuhr er aufs Land hinaus und schlief oft unter irgendeinem Busch. Ganz auf sich allein gestellt, wurde er zu einem anderen Menschen – zu einem jungen Mann mittlerer Größe mit harten Schultern und straffen Muskeln. Auch seine Gesichtszüge wurden zusehends härter, und besonders um seinen Mund herum waren tiefe Falten zu sehen. Sein Haar trug er kurz, und seine Kleidung war schlicht, vollkommen schmucklos. Eines Tages im Frühsommer, nachdem er gerade einen Schirm beendet hatte, wanderte er zur Entspannung nach Süden durch Brueben und Hoge bis nach Cato, und durch Zufall kam er an Keechers Taverne vorbei. Einem plötzlichen
Impuls folgend ging er hinein und bestellte sich einen Becher Bier und etwas zu essen. Alles war genauso, wie er es in Erinnerung hatte, auch wenn ihm jetzt alles irgendwie kleiner und weit weniger prächtig erschien. Die Mädchen auf der Bank musterten ihn und kamen zu ihm; Ghyl schickte sie wieder fort. Er saß an seinem Tisch und beobachtete die Gäste, die kamen und gingen… Ein Gesicht, das er kannte: Floriel! Ghyl rief nach ihm. Floriel drehte sich um, und als er Ghyl erkannte, riss er erstaunt die Augen auf. »Was tun alles in der Welt machst du denn hier?« »Nichts Besonderes.« Ghyl deutete auf sein Bier und seinen Teller. »Ich esse; ich trinke.« Vorsichtig zog Floriel sich einen Stuhl heran. »Ich muss schon sagen, ich bin überrascht… Ich habe gehört, dass du nach dem Tod deines Vaters… nun, dass du sehr ruhig geworden seist, ja sogar ein wenig einsiedlerisch. Ein typischer Gutscheinraffer, der nur noch für die Arbeit lebt.« Ghyl lachte – zum ersten Mal seit wie langer Zeit? Seit Jahren, wie es schien. Es fühlte sich gut an, wieder zu lachen. Vielleicht war das Bier dafür verantwortlich oder vielleicht auch eine plötzliche Sehnsucht nach Gesellschaft. »Ich war wirklich die meiste Zeit allein. Was ist mit dir? Du hast dich verändert, seit ich dich zum letzten Mal gesehen habe.« Und tatsächlich hatte Floriel sich wenn schon nicht in einen anderen Menschen, so doch in eine ›verstärkte‹ Version seines alten Selbst verwandelt. Er war so gut aussehend und frohgemut wie immer; doch gleichzeitig hatte er sichtbar an Selbstvertrauen gewonnen. Mit einem Hauch von Selbstgefälligkeit in der Stimme sagte er: »Ich nehme an, ich habe mich wirklich ein wenig verändert… aber im Herzen bin ich natürlich noch immer der gute, alte Floriel.« »Bist du noch immer bei den Metallformern?« Beleidigt warf Floriel Ghyl einen überraschten Blick zu. »Natürlich nicht!
Hast du es denn noch nicht gehört? Ich bin jetzt ein Nichtko. Du sitzt hier neben einem Mann, der außerhalb der Gesellschaft lebt. Beschämt dich das denn nicht?« »Nein, das habe ich noch nicht gehört.« Ghyl musterte Floriel von Kopf bis Fuß. Anhand der Kleidung war nicht zu übersehen, dass Floriel in einem gewissen Wohlstand lebte. »Wovon lebst du? Arm siehst du jedenfalls nicht aus. Womit verdienst du dir deine Gutscheine?« »Oh, mit diesem und jenem. Flussaufwärts habe ich ein kleines Haus – sehr hübsch. Das vermiete ich meist über die Wochenenden, und dabei kommt schon was zusammen. Und um ehrlich zu sein, besorge ich manchmal Mädchen für ein paar Männer… aber ich mache nichts Kriminelles, verstehst du? Ich verdiene mir halt meinen Lebensunterhalt. Und du?« »Ich schnitze noch immer Wandschirme.« »Aha. Und? Willst du damit weitermachen?« »Ich weiß es nicht… Erinnerst du dich daran, wie wir früher immer von Reisen gesprochen haben?« »Ja, natürlich. Das habe ich nie vergessen.« »Ich auch nicht.« Ghyl beugte sich vor und starrte in sein Bier. »Das Leben hier ist vollkommen sinnlos. Wir leben, und wir sterben, ohne auch nur einen Funken der Wahrheit gesehen zu haben. Irgendetwas läuft in Ambroy schrecklich falsch. Ist dir das auch schon mal aufgefallen?« Floriel blickte ihn schräg an. »Noch immer derselbe alte Ghyl! Du hast dich kein bisschen verändert!« »Wie meinst du das?« »Du warst schon immer ein Idealist. Glaubst du wirklich, ich gäbe einen Scheiß für Wissen oder Wahrheit? Nein. Aber ich werde reisen, und noch dazu in angemessenem Stil. Tatsächlich…« Floriel blickte nach rechts und links. »… Du erinnerst dich natürlich an Nion Bohart.« »Sicher.«
»Ich sehe ihn oft. Er und ich, wir haben ein paar großartige Ideen. Der einzige Weg zu bekommen, was wir wollen, ist, es von jenen zu nehmen, die es haben… von den Lords.« »Sprichst du etwa von Entführungen?« »Warum nicht? Ich sehe das nicht als Verbrechen. Sie nehmen sich ihren Reichtum von uns, und somit ist es unsere Pflicht, das Gleichgewicht wiederherzustellen und uns etwas von ihnen zu nehmen.« »Da gibt es nur eine Schwierigkeit: Wenn man euch schnappt, werdet ihr nach Bauredel verbannt. Was nutzt einem Mann schon aller Reichtum dieser Welt, wenn er nur noch eine Spanne dick ist?« »Ha, ha! Man wird uns aber nicht schnappen!« Ghyl zuckte mit den Schultern. »Dann macht, was ihr wollt. Meinen Segen habt ihr. Die Lords werden es wohl überleben, wenn sie ein paar Gutscheine verlieren. Sie nehmen uns ja schließlich genug davon ab.« »Das nenne ich gut gesprochen!« »Ist Nion auch Nichtko geworden?« »Sicher. Insgeheim war er das schon seit Jahren.« »Das habe ich mir schon gedacht.« Floriel bestellte mehr Bier. »Auf Emphyrio! Was für eine phantastische Schau, diese Wahl! All die Leute, die sich schrecklich aufgeregt haben, und erst die Wohlfahrtsagenten… wunderbar!« Ghyl stellte seinen Becher ab und verzog das Gesicht. Floriel störte sich nicht daran; er plapperte munter weiter. »Als Nichtko habe ich ein paar verdammt gute Zeiten erlebt, das kann ich dir sagen! Ich kann es dir nur empfehlen. Du musst deinen Verstand gebrauchen, das stimmt; aber zumindest musst du nicht ständig vor Wohlfahrtsagenten und Gildendelegierten im Staub herumkriechen.« »Solange du nicht erwischt wirst.«
Floriel nickte schelmisch. »Selbstverständlich muss man auch sehr diskret sein; aber das ist nicht allzu schwer. Du wärst erstaunt, welche Möglichkeiten sich einem als Nichtko eröffnen. Ich sage: Verabschiede dich von der Gesellschaft! Werde Nichtko!« Ghyl lächelte. »Darüber habe ich schon oft nachgedacht, aber… Ich weiß nicht, womit ich meine Gutscheine verdienen sollte.« »Für einen klugen Mann bieten sich Hunderte von Möglichkeiten zum Gutscheineverdienen. Nion zum Beispiel hat eine Flußbark gechartert und verbreiten lassen, ›dass indiskretes Verhalten kein Problem sei‹… An nur einem Wochenende hat er dreitausend Gutscheine gemacht. So wird man reich und nicht anders!« »Ich vermute, du hast Recht. Aber ich habe kein goldenes Händchen.« »Es wäre mir eine Freude, dich zu Anfang ein wenig an die Hand zu nehmen. Warum kommst du nicht für ein paar Tage in mein Haus? Es liegt direkt am Fluss, nicht weit vom Bezirkspavillon. Wir werden nichts tun… nur herumlungern, essen, trinken und reden. Hast du eine Freundin?« »Nein.« »Nun, auch dabei kann ich dir helfen. Ich selbst lebe mit einem Mädchen zusammen. Ich glaube, du kennst sie: Sonjaly Rathe.« Ghyl nickte und lächelte grimmig. »Ich erinnere mich an sie.« »Nun denn… Was sagst du?« »Klingt gut. Ich würde dich gerne besuchen.« »Gut! Sagen wir… nächstes Wochenende? Eine gute Zeit, gerade rechtzeitig für den Bezirksball.« »Also schön. Brauche ich neue Kleider?«
»Natürlich nicht. Alles wird ziemlich locker sein. Auf dem Bezirksball ist allerdings ein wenig Schick angesagt. Also kauf dir was Feines. Ansonsten reicht ein Badeanzug.« »Wie kann ich das Haus finden?« »Nimm die Oberbahn bis Grigglesby. Geh dann zweihundert Schritte zurück bis zu einem einfachen Gerüst und dem blauen Haus mit dem gelben Sonnenstrahl.« »Ich werde da sein.« »Äh… Soll ich noch ein Mädchen besorgen?« Ghyl dachte einen Augenblick lang nach. »Nein«, antwortete er schließlich. »Ich glaube nicht.« »Oh, komm schon«, neckte ihn Floriel. »Du bist doch wohl nicht moralinsauer geworden!« »Nein. Aber im Augenblick möchte ich mich einfach auf nichts einlassen. Ich kenne mich. Ich kann einfach nicht auf halber Strecke aufhören.« »Dann hör eben nicht auf halber Strecke auf! Sei kein Feigling!« »Also schön. Tu, was du willst.«
Kapitel Elf
Die Fahrt den Insse entlang war angenehm. Vollkommen geräuschlos glitten die Wagen der Oberbahn auf ihren magnetischen Feldern dahin; durch die Fenster war deutlich zu sehen, wie sich das Sonnenlicht auf dem Insse spiegelte. Von Zeit zu Zeit unterbrachen kleine Hecken die Szenerie oder Gruppen von Schwammbäumen und Schwarznetz. Auf der anderen Seite waren Weiden zu sehen, wo Biloa-Vögel Samen pickten. Ghyl saß gedankenverloren in seinem Sitz. Es war an der Zeit, dachte er, seinen Horizont zu erweitern und neues Territorium für sich zu erschließen. Vielleicht war das auch der Grund dafür gewesen, warum er Floriels Einladung so bereitwillig angenommen hatte. Schute Cobol hätte sicher etwas dagegen… Einen Scheiß auf Schute Cobol! Wenn es doch nur leichter wäre, zu reisen und finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen… Der Wagen hielt in Grigglesby. Ghyl stieg aus und nahm seine Tasche aus dem Auswurf. Was für ein wunderbares Fleckchen Erde! dachte er. Riesige Trauerapfelbäume ragten über die kleine Bahnhofshalle empor. Das Sonnenlicht strömte durch die gelb-grünen Wipfel, und die Luft war erfüllt von einem angenehmen Duft. Ghyl wanderte über ein Polster aus alten Blättern am Ufer entlang. Am anderen Ufer paddelte ein dunkelhaariges Mädchen in einem Skiff träge den Fluss hinunter. Sie sah, dass Ghyl sie beobachtete, lächelte und winkte; dann trug sie die Strömung um eine Flussbiegung, in einen kleinen dunklen Seitenarm und außer Sichtweite. Es war, als wäre niemals ein dunkelhaariges Mädchen in einem weißen Kleid den Fluss
hinuntergetrieben… Ghyl schüttelte den Kopf und grinste ob seiner eigenen Phantastereien. Er setzte seinen Weg den Fluss entlang fort und erreichte schließlich ein Gerüst, das zu einem blassblauen Haus unter einem Wasserkirschenbaum hinaufführte. Ghyl stieg über die gefährlich knirschenden Planken bis zu einer Art Veranda, von wo aus er den Fluss überblicken konnte. Hier saß Floriel in Shorts und neben ihm ein kühles, hübsches blondes Mädchen, das Ghyl als Sonjaly Rathe erkannte. Sonjaly nickte, lächelte und täuschte Enthusiasmus vor; Floriel sprang auf. »Du bist also endlich angekommen! Schön, dich zu sehen. Bring deine Tasche rein. Ich werde dir zeigen, wo du dein Zeug verstauen kannst.« Floriel wies Ghyl ein kleines Zimmer mit Flussblick zu, über dessen Decke braun-gelbe Lichtstrahlen tanzten. Ghyl zog sich etwas Bequemeres an und ging wieder auf die Veranda hinaus. Floriel drückte ihm einen Becher Punsch in die Hand und deutete auf einen Liegestuhl. »Jetzt entspann dich einfach. Sei einmal so richtig faul. Das ist etwas, was ihr Empfänger einfach nicht kennt. Immer arbeitet ihr nur und zuckt jedesmal zusammen, wenn der Gildendelegierte mit seinem dreckigen Finger auf einen Fehler deutet. Für mich ist das nichts.« »Für mich auch nicht«, seufzte Sonjaly, kuschelte sich an Floriel und warf Ghyl einen rätselhaften Blick zu. »Mir ergeht es ähnlich«, gestand Ghyl. »Wenn ich doch nur wüsste, wie ich anders leben sollte.« »Werde ein Nichtko.« »Und was dann? Außer Holzschnitzen kann ich nichts. Wo oder wem sollte ich meine Arbeiten verkaufen? Sicher nicht der Gilde. Die kümmert sich nur um ihre eigenen Leute.« »Es gibt da so gewisse Möglichkeiten; es gibt da so gewisse Möglichkeiten.« »Ohne Zweifel. Aber ich will nicht stehlen.«
»Das hängt nur davon ab«, bemerkte Sonjaly in einem Tonfall, als feiere sie eine Liturgie, »von wem man stiehlt.« »Die Lords betrachte ich als faire Beute«, sagte Floriel. »Und vielleicht auch noch die ein oder andere vollgefressene Institution.« »Die Lords, ja«, erwiderte Ghyl, »oder auch noch ein paar andere. Ich müsste einmal eingehender darüber nachdenken und das Für und Wider abwägen.« Floriel lachte und schwenkte seinen Becher. »Ghyl, du bist einfach viel, viel zu ernst! Immer machst du alles direkt zu einer Grundsatzfrage.« Ghyl lachte ebenfalls. »Wenn ich zu ernst bin, dann bist du zu verantwortungslos.« »Pah«, erwiderte Floriel. »Ist die Welt vielleicht verantwortungsvoll? Natürlich nicht! Die Welt besteht nur aus Zufällen; sie ist leichtsinnig. Verantwortungsvoll zu sein bedeutet, wahnsinnig zu sein.« Ghyl dachte einen Augenblick lang nach. »Das ist womöglich der Fall, wenn die Welt sich selbst überlassen ist; aber eine Gesellschaft schafft sich automatisch eine Ordnung. Wenn man in einer Gesellschaft lebt, bedeutet Verantwortungsbewusstsein keineswegs Wahnsinn.« »Blödsinn!« Und Floriel zerpflückte in allen Einzelheiten die Unsinnigkeiten gewisser Gildenpraktiken, Tempelrituale und Wohlfahrtsregeln. Nichts davon konnte Ghyl bestreiten. »Ich stimme dir zu. Ein Großteil unserer Gesellschaft ist wirklich absurd. Aber schütten wir nicht das Kind mit dem Bade aus? Die Gilden und die Agentur sind notwendige Instrumente, so krank sie uns bisweilen auch erscheinen mögen. Selbst die Lords dienen einem Zweck.« »Wir brauchen Veränderung!«, erklärte Floriel. »Ursprünglich versorgten uns die Lords mit Kapital und wertvollen Kenntnissen. Das ist nicht zu leugnen. Aber dieses
Kapital haben sie sich bereits unzählige Male wieder zurückgeholt. Weißt du, wie viel 1,18 Prozent von all unseren Umsätzen sind? Hast du das jemals ausgerechnet? Nein? Nun, die Summe ist gigantisch. Und im Laufe der Jahre ist sie sogar noch größer geworden. Tatsächlich ist es geradezu unglaublich, dass so wenige Lords so viel ausgeben können. Selbst ihre Raumjachten kosten nicht so viel. Und ich habe gehört, dass ihre Horste keineswegs mit Gold ausgelegt sind. Nion Bohart kennt einen Klempner, der die Leitungen in den paar Horsten wartet, und dieser Klempner hat gesagt, einige der Horste seien geradezu karg eingerichtet.« Ghyl zuckte mit den Schultern. »Es ist mir egal, wie sie ihr Vermögen ausgeben – obwohl ich es natürlich gerne sehen würde, wenn sie meine Wandschirme anstatt Lu-Hang-Seide kaufen würden. Aber ich glaube nicht, dass ich die Lords direkt abschaffen würde. Immerhin bieten sie uns ein recht beeindruckendes Schauspiel, ein prächtiges Drama.« »Mein höchstes Ziel ist es, selbst ein Lord zu werden«, erklärte Floriel. »Sie abschaffen? Niemals! Auch wenn sie Parasiten sind.« Sonjaly stand auf. Sie trug nur einen kurzen Rock und eine luftige Bluse. Als sie an Ghyl vorüberging, wackelte sie aufreizend mit den Hüften. Floriel zwinkerte Ghyl zu. »Schenk uns noch was Punsch nach, und hör auf, mit dem Hintern zu wackeln; wir wissen auch so, wie schön du bist.« Lustlos füllte Sonjaly die Becher. »Schön, ja. Und was nützt mir das? Ich will reisen. Floriel will mich noch nicht einmal in die Meagherberge mitnehmen.« Und spielerisch legte sie Ghyl die Hand unters Kinn. »Würdest du?« »Ich bin so arm wie Floriel«, erwiderte Ghyl, »und ich bin noch nicht einmal ein Dieb. Mein ›Reisefahrzeug‹ sind meine Schuhe, die ich natürlich liebend gerne mit dir teilen würde.«
Sonjaly verzog mürrisch das Gesicht und kehrte ins Haus zurück. Floriel beugte sich vor und flüsterte Ghyl rasch zu: »Wegen dem Mädchen, das ich einladen wollte… die, die ich im Sinn hatte, hat heute anderswo zu tun. Sonjaly hat es bei Gedée versucht…« »Gedée?«, rief Ghyl entrüstet. »Aber sie lernt für ihre Prüfung als Fischpackerin.« »Als Fischpackerin?« »Du weißt schon… haltbar gemachten Fisch in Dosen und so stopfen. Die Kunst liegt in der Methode – jedenfalls behauptet das Sonjaly. Man muss die lieben kleinen Brustflossen zusammenrollen und dann die Fühler geschickt…« »Erspar mir die Einzelheiten«, unterbrach ihn Ghyl. »Und erspar mir auch Gedée.« »So ist es ohnehin besser«, versicherte ihm Floriel. »Du kannst ohne einen Klotz am Bein auf den Ball gehen und deinen Blick so weit schweifen lassen, wie du willst. Auch Lords und Ladies haben sich angekündigt.« »Also wirklich! Woher willst du denn das schon wieder wissen?« Floriel deutete nach vorne. »Sieh mal dort rüber, jenseits der Flussbiegung. Siehst du das Weiße da? Das ist der Bezirkspavillon. Dahinter liegt ein riesiger Park, das Gut von Lord Aldo dem Unterlinier. Während des Sommers kommen viele Lords und Ladies – besonders die jüngeren – von ihren Horsten herunter, und sie alle lieben den Ball fast abgöttisch. Ich wette, es werden mindestens fünfzig von ihnen dort sein.« »Mit hundert Garrion«, sagte Ghyl. »Werden die Garrion auch Kostüme und dergleichen tragen?« Floriel lachte. »Was für ein Anblick! Wir werden sehen. Du hast natürlich ein Kostüm mitgebracht, oder?« »Ja. Es ist nichts Besonderes. Ich werde als zambolischer Krieger gehen.«
»Das ist gut genug. Ich gehe als Hanswurst, Nion als Jeng der Schlangenmann.« »Oh! Nion wird auch dort sein?« »Natürlich. Nion und ich sind sozusagen Partner. Wir kommen ganz gut miteinander zurecht, wie du dir sicher denken kannst.« Mit einem leichten Stirnrunzeln nippte Ghyl an seinem Punsch. Floriel war ein sehr umgänglicher Mensch; Ghyl konnte sich in seiner Gegenwart entspannen und seinen Unsinn genießen. Von Nion hingegen fühlte Ghyl sich stets irgendwie herausgefordert. Ghyl leerte seinen Becher. Er würde Nion einfach ignorieren. Egal, wie sehr dieser ihn auch provozieren würde, er würde ruhig bleiben. Floriel griff nach dem Krug, um Punsch nachzuschenken, doch der Krug war leer. »Komm her!«, rief er Sonjaly. »Sei ein liebes Mädchen, und bring uns Punsch.« »Mach ihn dir doch selbst«, antwortete eine trotzige Stimme. »Ich habe mich hingelegt.« Floriel ging mit dem Krug hinein. Es folgte ein kurzer, gedämpfter Streit; dann erschien Floriel mit einem vollen Krug. »Und jetzt erzähl mir von dir. Wie kommst du so ohne deinen Vater zurecht? Ist es in dem großen Haus nicht recht einsam?« Ghyl antwortete, dass er bescheiden, aber angemessen lebe und dass er sich in der Werkstatt in der Tat bisweilen recht einsam fühle. Die Stunden vergingen. Sie aßen Käse und Essiggemüse zu Mittag, und später gingen sie zum Fluss hinunter schwimmen. Nion Bohart traf just in dem Augenblick ein, da sie aus dem Wasser stiegen. »Hallo, hallo! Na, ihr feuchten Wesen! Da ist ja auch Ghyl, wie ich sehe. Es ist lange her. Und Sonjaly. Welch verehrungswürdige Kreatur… besonders in diesem
feuchten Hauch von einem Badeanzug. Floriel, du verdienst sie wirklich nicht.« Sonjaly warf Floriel einen gehässigen Blick zu. »Das sage ich ihm oft; aber er glaubt mir einfach nicht.« »Dagegen werden wir etwas tun müssen… Nun denn, Floriel, wo soll ich meine Taschen unterbringen? In dem üblichen kleinen Loch? Für den guten alten Nion ist ja alles gut genug. Na ja, das macht mir nichts.« »Nun komm schon«, sagte Floriel. »Du verlangst und bekommst stets das beste Bett im Haus.« »In diesem Fall… Ich will bessere Betten!« »Ja, ja, natürlich… Hast du dein Kostüm mitgebracht?« »Natürlich. Das wird der prächtigste Bezirksball aller Zeiten werden. Wir machen ihn dazu… Was trinkt ihr da?« »Montaradapunsch.« »Für mich auch welchen, wenn ich darf.« »Wenn du gestattest«, sagte Sonjaly, verneigte sich verführerisch und reichte Nion einen Becher. Floriel wandte sich angewidert ab; er war offenbar alles andere als amüsiert. Weder Nion noch Sonjaly ließen sich von Floriels Missbilligung sonderlich beeindrucken, und den Rest des Nachmittags flirteten die beiden ungeniert mit Blicken und verstohlenen Berührungen miteinander, die fast schon ein Streicheln waren. Floriel wurde zunehmend gereizt. Schließlich machte er eine sarkastische Bemerkung, auf die Sonjaly ihm frech antwortete. Floriel verlor die Beherrschung. »Tu, was du willst!«, schnaufte er. »Ich kann dich nicht kontrollieren, und ich würde es auch nicht tun, wenn ich es könnte; ich habe in meinem Leben genug Kontrolle erlebt!« Nion lachte gut gelaunt. »Floriel, du bist genauso ein Idealist wie Ghyl. Kontrolle ist notwendig und sogar gut… solange ich es bin, der sie ausübt.«
»Wie seltsam«, murmelte Floriel. »Ghyl hat mir das Gleiche gesagt.« »Was?«, meldete sich Ghyl überrascht. »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Ich habe gesagt, dass Ordnung für eine Gesellschaft notwendig ist.« »Das ist wahr«, erklärte Nion. »Selbst die Chaotizisten stimmen dir darin zu, so paradox dir das auch erscheinen mag. Und du, Ghyl, bist du immer noch ein unerschütterlicher Empfänger?« »Nicht wirklich… Ich weiß nicht, was ich bin. Ich habe das Gefühl, als müsste ich viel lernen.« »Zeitverschwendung. Das ist schon wieder dein Idealismus. Das Leben ist zu kurz zum Denken! Keine Unentschlossenheit! Wenn du die süßen Früchte des Lebens genießen willst, musst du sie dir nehmen.« »Und ich muss bereit sein, schnell zu laufen, wenn der Eigentümer kommt, um sie sich zurückzuholen.« »Das auch. Ich besitze keinen falschen Stolz. Ich kann sehr schnell rennen. Mich verlangt nicht danach, irgendjemandem als Exempel zu dienen.« Ghyl lachte. »Zumindest bist du ehrlich.« »Vermutlich ja. Die Wohlfahrtsagentur verdächtigt mich diverser Schurkereien, kann es aber nicht beweisen.« Ghyl blickte über den Fluss hinweg. Trotz Sonjalys Eigenwilligkeit und Floriels Gezänk schien ihm diese Art zu leben weit fröhlicher und normaler zu sein als sein eigener, immer gleicher Alltag: Er schnitzte und polierte Holz, ging einkaufen, aß, schlief, schnitzte und polierte Holz und so weiter… und das alles nur für seine monatliche Vergütung! Wenn Floriel sich seinen Lebensunterhalt faul in einem Haus am Fluss verdienen konnte, warum sollte er das nicht auch tun?
Ghyl Tarvoke, ein Nichtko? Warum nicht? Er musste ja niemanden berauben oder erpressen. Ohne Zweifel konnte man auch als Nichtko legal Gutscheine verdienen – oder fast legal. Ghyl wandte sich an Nion: »Wenn ein Mensch Nichtko wird, wie zum Teufel bleibt er dann am Leben?« Nion blickte ihn fragend an; offenbar wusste er, was in Ghyls Kopf vorging. »Das ist überhaupt kein Problem. Es gibt Dutzende von Möglichkeiten, sich über Wasser zu halten. Solltest du dich je entscheiden, diesen Schritt zu tun, kannst du ruhig zu mir kommen. So respektabel, wie du wirkst, wirst du vermutlich ganz gut zurechtkommen. Niemand würde je von dir vermuten, dass du deine Finger in was Üblem drin hast.« »Ich werde es mir merken.« Die Sonne ging unter; der Himmel brannte von einem Sonnenuntergang, wie Ghyl ihn seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, als er oft auf den Dunkumhöhen gewesen war. »Es ist Zeit, dass wir uns für den Ball umziehen«, sagte Floriel. »Die Musik fängt in einer halben Stunde an, und wir wollen doch nichts verpassen. Zuerst einmal hole ich aber das Schiff, damit wir gleich über den Fluss kommen.« Er machte sich auf den Weg das Ufer hinunter. Ghyl ging in sein Zimmer, und als er wieder herauskam, ertappte er Nion und Sonjaly bei einer eindeutig leidenschaftlichen Umarmung. »Entschuldigung«, sagte Ghyl. Keiner von beiden achtete auf ihn, und er kehrte in sein Zimmer zurück.
Kapitel Zwölf
Floriel Huzsuis, Sonjaly Rathe, Nion Bohart und Ghyl Tarvoke: Mit ihren phantastischen Kostümen, die ihre Persönlichkeiten nahezu vollständig verbargen, stiegen sie ins Boot. Floriel ruderte über den Fluss zum Pavillon, der bereits im Licht Tausender winziger grüner, gelber und rosafarbener Lichter erstrahlte. Floriel hielt das Boot, während seine Passagiere ans Ufer kletterten; dann band er es an einem Ring fest, der zu diesem Zweck am Kai befestigt war. Der Pavillon lag unmittelbar vor ihnen: ein weiter Raum aus poliertem Holz mit Privatlogen und Zuschauerplattformen auf jeder Seite. Auf Höhe der Tanzfläche befand sich eine Doppelreihe elegant dekorierter Stände, wo Wein und andere Erfrischungen an die Feiernden ausgegeben wurden. Ein Ordner sprach die vier an, und sie zahlten den Eintritt. Dann stiegen sie mit vielleicht hundert anderen auf die Tanzfläche hinunter. Waren das Lords? Ladies? Empfänger aus der Gegend hier? Aus der Stadt? Oder Nichtkos wie Floriel, Sonjaly und Nion? Ghyl vermochte den einen nicht vom anderen zu unterscheiden, und er fragte sich, ob der ansonsten allwissende Nion wohl dazu in der Lage war. An den Ständen versorgten die vier sich mit grünen Knisterglasbechern voll Edelwein und stellten sich an die Seite, um das Spektakel zu beobachten. Dann stiegen Musiker in schwarz-weißen Narrenkostümen auf eine Bühne. Sie stimmten ihre Instrumente – ein erregendes Geräusch, das Lust auf das kommende Fest machte und fast so süß klang wie die
Musik selbst – und spielten auf ihren Fideln und Konzertinas schließlich eine fröhliche Weise. Die Tänze der Zeit waren recht gemächlich, nichts im Vergleich zu den wilden Tänzen des Letzten Imperiums oder dem orgiastischen Wirbeln und Springen, wie man es auf dem Südkontinent sah. Es gab mehrere Arten von Pavanen und ebenso viele Promenaden und für die Jüngeren eine Art beschwingtes Hand-in-Hand-Springen, das bemerkenswert lebhaft war. In allen Fällen standen die Paare nebeneinander, hielten sich an den Händen oder hakten sich unter. Die erste Melodie war ein Adagio, und der entsprechende Tanz bestand aus einem langsamen, schleifenden Schritt, einer Verbeugung, einem weiteren Schritt und einem möglichst hohen Anheben des Knies, das dann in dieser Position gehalten wurde, während die Musik eine kleine Figur spielte, woraufhin sich das Ganze wiederholte. Ghyl, der weder tanzen konnte noch Lust darauf hatte, beobachtete, wie Nion entschlossen auf Sonjaly zuging. Floriel trat dazwischen und zog eine halb amüsierte, halb verärgerte Sonjaly auf die Tanzfläche hinaus. Mit wohlwollendem, nachsichtigem Lächeln stellte Nion sich neben Ghyl. »Der arme Floriel… Wann wird er es endlich lernen?« Vor und zurück stapften die Tänzer über den Boden, elegantgrotesk, grotesk-elegant. Die Gäste trugen eine Vielzahl unterschiedlichster Kostüme: Es gab Clowns, Dämonen und Helden, Wesen von fremden Planeten und Gestalten aus uralter Zeit, sowie phantastische Kreaturen, die sowohl einem Traum als auch einem Albtraum entsprungen sein konnten. Dort funkelte Metall, und hier schimmerte Seide. Nion berührte Ghyls Arm. »Dort unter dem Torbogen versammeln sich die Lords und Ladies. Sieh dir einmal an, wie sie hierhin und dorthin spähen; es ist eine Schande, dass sie so vorsichtig sein
müssen. Warum können sie sich nicht einfach frei unter das Volk mischen?« Ghyl verzichtete darauf zu erklären, dass hier nicht nur Furcht, sondern auch Stolz und Hochmut am Werke waren. Neugierig fragte er: »Woher weißt du, dass das Lords sind?« »Wegen ihrer Eigenarten. Sie unterscheiden sich von uns in jeder Hinsicht. Sieh dir einmal an, wie sie sich an die Wand drücken. Manche behaupten, sie hätten eine gewisse Angst vor Räumen entwickelt, weil sie nun schon seit unzähligen Generationen in der Luft leben. Ihr Gleichgewichtssinn verändert sich ebenfalls hier unten; solltest du je mit einer Lady tanzen, wirst du das merken; sie wird sich zwar geschmeidig, aber erratisch bewegen, ohne jegliches Gefühl für die Musik.« »Oh! Hast du schon einmal mit Ladies getanzt?« »Nicht nur getanzt… Sieh sie dir jetzt mal an… Wie sie sich putzen und miteinander schnattern und dies und das debattieren… Oh, sie sind so gelehrt und anspruchsvoll!« Die Lords und Ladies waren in mehreren Gruppen gekommen, die sich nun auflösten. Einer nach dem anderen huschten sie hierhin und dorthin wie magische Wesen, die sich auf einen gefährlichen Ozean hinauswagten. Ghyl ließ seinen Blick über die oberen Ränge schweifen. »Wo sind die Garrion? Verstecken sie sich in den dunklen Logen da oben?« »Vielleicht.« Unwissend zuckte Nion mit den Schultern. »Sieh dir doch nur einmal diese Lords an! Wie sie die Mädchen anstarren! Geil wie sonst was! Gib ihnen zehn Minuten, und sie schwängern jede Frau hier!« Ghyl folgte Nions ausgestreckter Hand, doch nun sahen alle gleich aus; die Lords und Ladies hatten sich mit der Menge vermischt. Die Musik hörte auf; Sonjaly brachte Floriel zurück.
»Die Lords sind hier«, informierte Nion die beiden. »Mindestens eine größere Gruppe, vielleicht auch mehr.« Sonjaly verlangte, man solle ihr die Lords zeigen; doch nun fiel es sogar Nion schwer, Lord von Empfänger zu unterscheiden. Die Musik begann erneut: eine langsame Pavane. Sofort nahm Floriel Sonjaly in Beschlag, doch diese schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich würde mich jetzt gerne etwas ausruhen.« Ghyl beobachtete die Tänzer und kam zu dem Schluss, dass auch er diese Schritte würde ausführen können. Entschlossen, sich als ein genauso galanter Lebemann wie die anderen zu beweisen, ging Ghyl zu einem wohlgeformten Mädchen in grünem Kostüm und führte es auf die Tanzfläche hinaus. Er schlug sich wacker auf dem unbekannten Terrain – oder zumindest glaubte er das von sich. Das Mädchen hatte wenig zu sagen; sie lebte in der weit außerhalb gelegenen Vorstadt Gottsprung, wo ihr Vater Wiegemeister war. »Wiegemeister?«, sinnierte Ghyl. »Gehört das zur Schreiberoder zur Werkzeugmachergilde? Oder ist das eine offizielle Funktion?« »Eine offizielle Funktion.« Das Mädchen deutete auf einen jungen Mann, der ein Kostüm aus sich überlappenden roten und schwarzen Streifen trug. »Mein Verlobter«, erklärte sie Ghyl. »Er ist auch ein Funktionär und hat die besten Aussichten, auch wenn wir dafür vermutlich nach Süden, nach Ditzim umziehen müssen.« Sonjaly hatte sich offensichtlich wieder erholt; jetzt tanzte sie mit Nion. Dieser bewegte sich weit geschickter und schwungvoller, als es Ghyl überhaupt möglich war. Sonjaly umklammerte seine Arme und drückte sich ohne Rücksicht auf Floriels Gefühle an ihn.
Die Musik hörte auf; Ghyl überließ das Mädchen in dem grünen Kostüm ihrem Verlobten und trank einen Becher Wein, um seine Nerven zu beruhigen. Nion und Sonjaly schlenderten auf die andere Seite des Pavillons. Floriel verzog das Gesicht und murmelte irgendetwas vor sich hin. Am gegenüberliegenden Ende des Pavillons erschien eine weitere Gruppe von Lords und Ladies, die unterschiedlich kostümiert waren: Sie gingen als Rhadamese-Krieger, Druiden, Barbaren, Meermänner. Eine Lady trug graue Kristalle; bei einer anderen blitzte etwas blau, und wieder eine andere hatte weiße Federbüsche an ihrem Kostüm. Die Musiker machten ihre Instrumente bereit, und erneut erklang eine fröhliche Melodie. Eine Gestalt in einem Kürass aus schwarzem Emaille und Messing, mit braun-schwarz gestreiften Hosen und schwarzer Kappe trat vor Sonjaly und verneigte sich. Sonjaly warf einen kurzen Blick auf Nion und ließ sich dann von dem Fremden wegführen. War das ein Lord?, fragte sich Ghyl. Es schien so. Sein stolzes Auftreten und die Art, wie er den Kopf hochhielt, identifizierten ihn als solchen. Ghyl hatte den Eindruck, als sei Nion verärgert. So verging der Abend. Mit mittelmäßigem Erfolg versuchte Ghyl die Bekanntschaft einiger Mädchen zu machen. Sonjaly – wenn sie denn einmal zu sehen war – blieb in Gesellschaft des in schwarz, braun und Messing gewandeten jungen Lords. Floriel trank mehr Wein als gut für ihn war und blickte missmutig drein. Allerdings schien Sonjalys Frivolität Nion Bohart noch weit mehr zu ärgern als Floriel. Die Atmosphäre im Pavillon wurde immer gelöster. Die Tänzer bewegten sich zunehmend freier. Ihre Schritte wurden immer schwungvoller; manchmal rissen sie die Knie grotesk in die Höhe, und dann wieder warfen sie die Köpfe hierhin und dorthin. Aus irgendeinem Grund jedoch ließ Ghyl sich von der
allgemeinen Stimmung nicht anstecken. Er war verwirrt und ärgerte sich immer mehr über sich selbst. War er wirklich so sauertöpfisch, so verkrampft, dass er sich noch nicht einmal mehr richtig amüsieren konnte? Er biss die Zähne zusammen und beschloss, galanter zu sein als selbst die Galantesten – wenn auch nur kraft seines Willens, wenn schon nicht anders. Er ging am Rand des Pavillons herum, um dann neben einem wahrhaft wohlgeformten, maskierten Mädchen in einem weißen Kleid stehen zu bleiben. Sie war dunkelhaarig und schlank und sehr graziös; Ghyl hatte sie schon früher bemerkt. Sie hatte bereits eine gewisse Menge Wein getrunken, und sie wirkte so fröhlich und ausgelassen, wie Ghyl gerne sein wollte. Bei jeder ihrer Bewegungen presste sich das Kleid an ihren Körper; offenbar trug sie nichts darunter. Als sie Ghyls Aufmerksamkeit bemerkte, neigte sie neckisch den Kopf zur Seite. Ghyl schlug das Herz bis zum Hals. Schritt für Schritt trat er näher. Er war plötzlich schüchtern geworden, auch wenn er Szenen wie diese bereits hundertmal in seinen Träumen durchlebt hatte. Das Mädchen wirkte seltsam vertraut auf ihn; das Ganze erfüllte ihn mit einem Gefühl von déjà-vu. Schließlich wurde das Gefühl so stark, dass Ghyl ein, zwei Schritt von dem Mädchen entfernt stehen blieb. Verwirrt schüttelte Ghyl den Kopf und musterte das Mädchen von ihren kleinen weißen Sandalen bis zum Bauch hinauf. In gespielter Bestürzung seufzte das Mädchen. »Du bist so kritisch! Bin ich irgendwie anormal?« »Nein, nein!«, stammelte Ghyl. »Natürlich nicht! Du bist absolut bezaubernd!« Ihre Mundwinkel zuckten, und sie beschloss, Ghyl noch mehr zu verführen. »Andere sind sicher schöner als ich, aber du starrst nur mich an! Ich bin sicher, dass du mich für äußerst seltsam hältst.«
»Niemals! Aber ich hatte gerade das Gefühl, als hätten wir uns schon einmal gesehen, als würden wir uns von irgendwoher kennen… aber ich weiß nicht von wo. An jemanden wie dich würde ich mich mit Sicherheit erinnern!« »Du bist sehr höflich«, sagte das Mädchen. »Und ich hätte mich sicher auch an dich erinnert. Da ich das jedoch nicht tue« – hier warf sie ihm den bezauberndsten aller Blicke zu –, »oder doch? Du hast wirklich etwas Vertrautes an dir, als würden wir uns in der Tat schon lange kennen.« Mit klopfendem Herzen trat Ghyl vor, und sein Hals brannte mit einem wunderbar süßen Schmerz. Er ergriff ihre Hände, die sie ihm bereitwillig überließ. »Glaubst du an Träume für die Zukunft?« »Nun… ja. Vielleicht.« »Und an Vorbestimmung und geheimnisvolle Liebe?« Sie lachte, ein wunderbar rauchiger Klang, und drückte Ghyl die Hände. »Ich glaube an hundert wundervolle Dinge. Aber werden die Leute uns nicht für verrückt halten, wenn wir hier auf dem Ball stehen und uns gegenseitig unsere Philosophien erklären?« Verwirrt blickte Ghyl hierhin und dorthin. »Nun ja… Willst du tanzen? Oder wenn du willst, können wir uns auch da drüben hinsetzen und einen Becher Wein zusammen trinken.« »Ich würde lieber Wein trinken… Für das Tanzen habe ich nicht allzu viel übrig.« Ghyl kam ein erstaunlicher neuer Gedanke… oder genauer, in seinem Unterbewusstsein wusste er plötzlich etwas mit absoluter Sicherheit: Dieses Mädchen war kein Empfänger; sie war eine Lady! ›Der Unterschied‹ war deutlich zu merken! Der Klang ihrer Stimme, die Art, wie sie ihren Kopf hielt, und der herbe Duft ihres Parfüms.
Begeistert besorgte Ghyl zwei Becher Gadewein und führte das Mädchen zu einer mit Kissen gepolsterten Bank im Schatten. »Wie heißt du?« »Ich bin Shanne.« »Ich bin Ghyl.« Suchend warf er einen Blick zur Seite. »Wo lebst du?« Sie machte eine weit ausholende Geste. Sie war sehr lebhaft, und auf ihrem Gesicht zeichnete sich immer wieder ein neuer, fröhlicher Ausdruck ab. »Hier, dort, überall. Ich lebe, wo immer ich bin.« »Natürlich. Genau wie ich. Aber lebst du in der Stadt… oder in einem Horst?« Shanne riss in gespielter Verzweiflung die Hände hoch. »Willst du mich all meiner Geheimnisse berauben? Und wenn schon nicht meiner Geheimnisse, dann meiner Träume? Ich bin also Shanne, ein Vagabundenmädchen ohne Ruf, Vermögen oder Hoffnung.« Ghyl ließ sich nicht täuschen. ›Der Unterschied‹ war offensichtlich: jenes undefinierbare Etwas, das die Lords und Ladies von den Empfängern trennte. Ein parapsychischer Schatten? Ein kaum wahrnehmbarer Duft, klar und frisch wie Ozon, der vielleicht vom langen Kontakt mit der Höhenluft herrührte? Aber was auch immer… Es war wunderschön. Ghyl kam ein unangenehmer Gedanke, der ihn unwillkürlich zusammenzucken ließ. Wenn das so war, traf dann nicht auch das Gegenteil zu? War es nicht möglich, dass das niedere Volk einen geradezu ekelerregenden Gestank absonderte? Die Lords, die so sehr hinter den Empfängermädchen her waren, dachten offenbar anders. Vielleicht galt das Gleiche auch für Ladies und männliche Empfänger… Ghyl war noch nie ernsthaft verliebt gewesen. Seine Vernarrtheit in Sonjaly erschien ihm nun geradezu unglaublich dumm. In diesem Augenblick tanzte Sonjaly ganz in der Nähe – diesmal wieder
mit Nion. Wie grobschlächtig Sonjaly doch im Vergleich zu Shanne wirkte! Shanne schien Ghyl zumindest freundlich gesonnen zu sein, denn – Wunder über Wunder – sie hakte sich bei ihm unter, lehnte sich entspannt zurück, und ihre Schulter berührte die seine. »Ich liebe den Bezirksball«, sagte Shanne mit sanfter Stimme. »Es ist immer so aufregend, besonders da man nie weiß, wen man alles kennen lernen wird.« »Du warst schon früher hier?«, fragte Ghyl, und es schmerzte ihn, dass er nicht ebenfalls dabei gewesen war, um diese Erfahrung mit ihr zu teilen. »Ja, ich war letztes Jahr schon einmal hier. Aber ich war nicht glücklich. Die Person, die ich kennen gelernt habe, war… grob.« »Grob? Warum das? Was hat er getan?« Doch Shanne lächelte nur rätselhaft und drückte Ghyl freundschaftlich den Arm. »Der Grund, warum ich das frage«, sagte Ghyl, »ist, dass ich nicht die gleichen Fehler begehen will.« In Shannes Lachen lag nur ein Hauch von Zurückhaltung, so dass Ghyl sich fragte, was für Geschmacklosigkeiten und Grobheiten der Mann vom letzten Jahr wohl verbrochen hatte. Shanne sprang auf. »Komm. Die Musik gefällt mir: eine Mangserenade. Ich würde gerne tanzen.« Ghyl blickte unschlüssig aufs Parkett. »Er scheint mir sehr kompliziert zu sein. Ich weiß so gut wie nichts über das Tanzen.« »Was? Hat man dich denn nicht im Tempel das Springen gelehrt?« Das Mädchen hat einen Hang zum Spott, dachte Ghyl. Nun, das machte ihm nichts. Und sein Instinkt hatte sich nicht geirrt: Sie war eine junge Lady. »Ich bin nur sehr wenig gesprungen«,
sagte Ghyl. »Jedenfalls so wenig wie möglich. Als Folge davon hat Finuka mich mit zwei linken Füßen gestraft, und ich möchte nicht, dass du mich für unbeholfen hältst. Aber am Kai liegt ein Boot. Würde es dir gefallen, wenn ich dich auf den Fluss hinausrudern würde?« Shanne musterte ihn kurz abschätzend und leckte sich mit ihrer rosa Zunge über die Lippen. »Nein«, antwortete sie in nachdenklichem Tonfall. »Das wäre nicht… vorteilhaft.« Ghyl zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich mich eben im Tanzen versuchen.« »Wunderbar!« Sie zog ihn in die Höhe, und einen atemberaubenden Augenblick lang lehnte sie sich gegen ihn, so dass er ihren Körper spürte. Ghyl bekam eine Gänsehaut; seine Knie fühlten sich warm und weich an. Er blickte auf Shannes Gesicht hinab und sah ein geheimnisvolles Lächeln. Ghyl wusste nicht, was er denken sollte. Ghyl tanzte genauso schlecht, wie er angekündigt hatte, doch Shanne schien es nicht zu bemerken. Tatsächlich stellte sie sich kaum besser an; der Rhythmus der Musik war ihr offenbar egal. Ghyl war mehr und mehr davon überzeugt, eine junge Lady vor sich zu haben. Natürlich! Sie konnte nicht mit ihm auf dem Fluss rudern gehen aus Furcht, entführt zu werden; schließlich konnten sie ja keinen Garrion mit ins Boot nehmen. Ghyl lachte leise. Sofort hob Shanne den Kopf. »Warum lachst du?« »Hochgefühl«, antwortete Ghyl. »Shanne das Vagabundenmädchen ist das lieblichste Wesen, dem ich jemals begegnet bin.« »Zumindest heute nacht bin ich Shanne das Vagabundenmädchen«, sagte sie mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme. »Und morgen?«
»Schschsch.« Sie legte ihm die Hand auf die Lippen. »Sag niemals dieses Wort!« Mit einem raschen Blick nach rechts und links führte sie Ghyl durch die Menge zu ihrer Bank zurück. Das Fest wurde immer ungezwungener. Die Tänzer stolzierten und wirbelten herum, sprangen und warfen die Köpfe hin und her. Einige drehten extravagante Pirouetten; andere umarmten sich leidenschaftlich, ohne dabei auf ihre Umgebung zu achten. Ebenso berauscht von den Farben, den Geräuschen und der Schönheit wie vom Wein schlang Ghyl den Arm tun Shannes Hüfte; sie legte ihm den Kopf auf die Schulter und blickte zu ihm hinauf. »Hast du gewusst, dass ich Gedanken lesen kann?«, fragte sie mit einem heiseren Flüstern. »Deine Gedanken gefallen mir. Du bist stark, klug und gut… aber du bist auch viel, viel zu ernst. Wovor fürchtest du dich?« Während sie sprach, war ihr Gesicht nah an seinem. Ghyl, der das Gefühl hatte zu träumen, beugte sich immer näher zu ihr hinab, und näher, näher… Ihre Gesichter trafen sich, und er küsste sie. Ghyls ganzes Wesen schien förmlich zu explodieren. Er würde nie wieder derselbe sein! Wie feige und langweilig war doch der alte Ghyl Tarvoke gewesen! Jetzt schien ihm nichts mehr unmöglich. Seine alten Ziele… wie armselig sie doch waren! Er küsste Shanne erneut. Sie seufzte. »Ich bin schamlos. Ich kenne dich doch erst seit einer Stunde.« Ghyl hob ihre Maske hoch und blickte ihr ins Gesicht. »Viel länger.« Er hob seine eigene Maske. »Erkennst du mich?« »Ja. Nein. Ich weiß es nicht.« »Denk einmal… acht Jahre zurück. Vielleicht neun. Du warst in deiner Raumjacht: einer schwarz-goldenen Deme. Zwei Straßenjungen haben sich an Bord geschlichen. Erinnerst du dich jetzt?«
»Natürlich. Du warst der Trotzige. Du Halunke. Du hast die Tracht Prügel wirklich verdient.« »Wahrscheinlich. Ich dachte, du wärst herzlos, grausam… du warst so unnahbar.« Shanne kicherte. »Wirke ich jetzt auch noch so unnahbar?« »Du wirkst… Ich finde kein geeignetes Wort dafür. Aber das war nicht das erste Mal, dass wir uns gesehen haben.« »Nein? Wann dann?« »Als ich klein war, hat mein Vater mich in Holkerwoyds Puppentheater mitgenommen. Du hast in der ersten Reihe gesessen.« »Ja. Ich erinnere mich. Wie seltsam, dass du mich bemerkt hast.« »Wie hätte ich dich nicht bemerken können? Ich muss diesen Augenblick vorhergesehen haben.« »Ghyl…« Sie seufzte und nippte an ihrem Wein. »Ich liebe den Boden so! Hier sind die starken Dinge, die Leidenschaften! Oh, du musst glücklich sein, hier zu leben!« Ghyl lachte. »Das meinst du doch nicht ernst. Du würdest dein Leben nie gegen… gegen, sagen wir, ihres eintauschen.« Er deutete auf Sonjaly. Die Musik hatte aufgehört, und Sonjaly und Nion verließen die Tanzfläche. Nion entdeckte Ghyl. Sein Schritt wurde langsamer; er drehte den Kopf, starrte und ging weiter. »Nein«, sagte Shanne. »Das würde ich nicht. Kennst du sie?« »Ja. Und auch den jungen Mann.« »Der Angeber. Ich habe ihn beobachtet. Er war nicht, was…« Ihre Stimme verhallte. Ghyl fragte sich, was sie ihm wohl hatte sagen wollen. Eine Zeitlang saßen sie schweigend beieinander. Die Musik begann erneut. Sonjaly tanzte mit dem Lord in Schwarz und Braun vorbei. In einer Art verträumter Neugier hielt Ghyl nach
Floriel und Nion Ausschau, doch keiner von beiden war zu sehen. »Da hinten geht dein Freund mit jemand, den ich kenne«, flüsterte Shanne. »Gleich werden sie verschwinden.« Sie drückte Ghyls Arm. »Ich habe keinen Wein mehr.« »Oh! Tut mir Leid. Nur einen Augenblick.« »Ich komme mit dir.« Sie gingen zu einem Stand. »Kauf die ganze Flasche«, flüsterte Shanne. »Die grüne.« »Ja, natürlich«, sagte Ghyl. »Und dann?« Shanne schwieg. Es war ein bedeutungsvolles Schweigen. Ghyl sicherte sich den Wein und ergriff Shannes Arm. Sie gingen hinaus und wanderten am Ufer entlang. Nach einiger Zeit blieb Ghyl stehen und küsste Shanne. Leidenschaftlich erwiderte sie den Kuss. Sie wanderten weiter, bis sie schließlich eine Wiese erreichten, die bis unmittelbar an den Fluss reichte. Damar, der zu einem Viertel voll war, warf einen kupferfarbenen Schimmer aufs Wasser. Shanne nahm ihre Maske ab; Ghyl tat es ihr nach, und sie tranken Wein. Ghyl starrte auf den Fluss hinaus und dann zum Mond empor. Shanne sagte: »Du bist so ruhig. Bist du traurig?« »In gewissem Sinne, ja. Weißt du warum?« Sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Sprich nicht davon. Was sein muss, wird auch sein. Was niemals sein kann… wird auch niemals sein.« Ghyl blickte sie an und versuchte, jede noch so versteckte Bedeutung in ihren Worten zu finden. »Aber«, fügte sie mit sanfter Stimme hinzu, »was sein kann… kann auch sein.« Ghyl trank aus der Flasche, stellte sie ab, drehte sich zu ihr um und breitete die Arme aus. Sie tat es ihm nach; die beiden wurden eins, und was danach geschah, übertraf selbst Ghyls
kühnste Träume so weit, wie es noch nicht einmal das Wiedererscheinen von Emphyrio hätte tun können. Es folgte eine Pause, in der die beiden einfach nur eng aneinander geschmiegt dasaßen und Wein tranken. In Ghyls Kopf drehte sich alles. Er wollte etwas sagen, doch erneut hielt Shanne ihn davon ab, erhob sich auf die Knie, drückte seinen Kopf an ihren Busen, und wieder verschwamm die Welt vor Ghyls Augen. Schließlich breitete sich Ruhe aus. Ghyl hielt die Flasche ins Mondlicht. »Genug für dich und mich.« »Mein Kopf dreht sich«, sagte Shanne. »Meiner auch.« Er ergriff ihre Hand. »Nach heute Nacht… Was?« »Morgen fliege ich auf meinen Turm zurück.« »Aber wann werde ich dich wiedersehen?« »Ich weiß es nicht.« »Ich muss dich aber wiedersehen! Ich liebe dich!« Shanne zog die Beine an, schlang die Arme um die Knie und lächelte zu Damar empor. »In einer Woche von heute an werde ich reisen. Ich werde reisen, reisen, reisen! Zu fernen Welten jenseits der Sterne!« Ghyl schrie auf. »Wenn du gehst, werde ich dich niemals wiedersehen!« Shanne schüttelte den Kopf und lächelte wehmütig. »Vermutlich ist das so.« Ein rauer kalter Wind wehte durch Ghyls Adern und ließ sein Blut zu Eis erstarren. Er fühlte sich steif, war zutiefst entsetzt… Die Zukunft machte ihm Angst. Schließlich gelang es ihm, seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Du provozierst mich zu den ungeheuerlichsten Taten.« »Nein, nein«, erwiderte Shanne mit ihrer süßen Stimme. »Denk noch nicht einmal daran! Du könntest rehabilitiert
werden oder was auch immer ihnen sonst noch an schrecklichen Dingen einfallen mag.« Ghyl nickte langsam. »Diese Möglichkeit besteht.« Er drehte sich wieder zu Shanne um. Dann nahm er sie in die Arme und küsste sie auf Gesicht, Augen und Mund. Sie seufzte und schmolz förmlich in seinen Armen dahin. Ghyl war nun jedoch nicht mehr nach Zärtlichkeit zumute; er fühlte sich so alt wie Damar, ein Weiser in der Geschichte aller Welten. Schließlich standen sie auf. Ghyl fragte: »Wohin wirst du jetzt gehen?« »Zum Pavillon. Ich muss meinen Vater finden. Er wird sich fragen, wo ich abgeblieben bin.« »Macht er sich noch keine Sorgen um dich?« »Ich denke nicht.« Ghyl legte dem Mädchen die Hände auf die Schultern. »Shanne! Können wir nicht zusammen aus Ambroy fortgehen? Lass uns auf den Südkontinent oder auf die Manginseln gehen! Sollen wir dort nicht unser Leben gemeinsam verbringen?« Wieder legte Shanne ihm die Finger auf den Mund. »Das würde niemals funktionieren.« »Und ich werde dich wirklich niemals wiedersehen?« »Niemals.« Hinter ihnen ertönte ein Geräusch: leise Schritte. Ghyl drehte sich um und sah eine schwarze massige Gestalt, die still am Ufer des mondbeschienenen Flusses wartete. »Das ist nur mein Garrion«, sagte Shanne. »Komm. Lass uns zum Pavillon zurückgehen.« Ghyl wandte sich in die entsprechende Richtung. Gemeinsam gingen sie am Ufer entlang. Ein Stück hinter ihnen folgte diskret der Garrion.
Kapitel Dreizehn
Am Pavillon angekommen, küsste Shanne Ghyl auf die Wange; dann zog sie ihre Maske wieder an und mischte sich unter eine farbenprächtige Gruppe von Lords und Ladies. Ghyl blickte ihr noch einen Augenblick lang hinterher, dann wandte er sich ab. Wie sehr das Universum sich mit einem Mal verändert hatte! Wie fremd ihm auf einmal das Leben erschien, das er noch vor einer Woche geführt hatte! Da war Floriel. Ghyl ging zu ihm. »Hier bin ich wieder. Wo ist Sonjaly? Wo ist Nion?« Floriel lachte freudlos. »Du hast den ganzen Spaß versäumt.« »Hm?« »Ja. Ein Lord in Rüstung – vielleicht ist er dir aufgefallen – hat sich für Sonjaly interessiert. Nion hat das ganz und gar nicht gefallen. Als die beiden nach draußen gegangen sind, um am Fluss entlang zu spazieren, ist Nion ihnen hinterhergerannt, auch wenn ihn das eigentlich gar nichts anging. Wenn jemand Grund hatte, sich aufzuregen, dann ich. Nun, ich bin ihnen ebenfalls gefolgt, um zu sehen, was geschehen würde. Nion forderte den Lord heraus; der Garrion packte ihn, verprügelte ihn und warf ihn in den Fluss. Der Lord ging mit Sonjaly davon. Nion trieb fluchend und wild mit den Armen wedelnd den Fluss hinunter. Welch ein Bild! Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Ghyl lachte; es war jedoch mehr ein Krächzen als ein Ausdruck der Freude, und Floriel sah ihn erstaunt an. »Und wie ist es dir ergangen? Ich habe dich vorhin mit einem Mädchen in Weiß gesehen.« »Bist du bereit aufzubrechen?«
»Warum nicht? Es war ein furchtbarer Abend. Ich werde nie wieder auf diesen Bezirksball gehen. Das alles ist nur ein frivoles Spiel; richtige Unterhaltung gibt es hier nicht. Nun denn, lass uns aufbrechen.« Sie gingen durch die Nacht zum Kai, und Floriel ruderte das Boot über den Fluss. Damar war untergegangen; im Osten graute bereits der Morgen. Im Hauptraum von Floriels kleinem Haus flackerte ein Licht. Hier saß Nion in eine Decke gewickelt und trank Tee. Als Floriel und Ghyl den Raum betraten, blickte er auf und grunzte eine mürrische Begrüßung. »Ihr seid also endlich zurück. Was hat euch so lange aufgehalten? Wisst ihr, dass ein Garrion mich verprügelt und in den Fluss geworfen hat?« »Das geschieht dir ganz recht«, sagte Floriel. Er schenkte Tee aus und reichte Ghyl einen Becher. Schweigend saßen die drei beieinander. Schließlich machte Ghyl ein Geräusch – irgendetwas zwischen einem Seufzen und einem Stöhnen. »Das Leben in Ambroy ist vollkommen sinnlos; es ist die reinste Verschwendung.« »Merkst du das jetzt erst?«, fragte Nion verbittert. »Vermutlich ist das Leben überall so sinnlos«, bemerkte Floriel und schnaufte verächtlich. »Stimmt. Das ist auch der einzige Grund, warum ich noch hier bin«, erklärte Nion. »Das und die Tatsache, dass ich hier meinen Lebensunterhalt verdienen kann.« Ghyl verschränkte die Hände um seinen Becher. »Wenn ich den Mut dazu hätte – wenn irgendeiner von uns den Mut dazu hätte –, dann könnten wir ausziehen, tun… um was zu finden.« »Was meinst du mit ›was finden‹?«, fragte Nion in streitsüchtigem Tonfall. »Ich bin nicht sicher. Irgendetwas Bedeutendes, etwas Großes. Die Möglichkeit, etwas bemerkenswert Gutes zu tun, ein schreckliches Unrecht wiedergutzumachen, große Taten zu
vollbringen, den Menschen für alle Zeit ein Vorbild sein! Wie Emphyrio!« Nion lachte. »Emphyrio? Schon wieder? Wir haben schon einmal für ihn gearbeitet, nur gebracht hat uns das nichts.« Ghyl achtete nicht auf ihn. »Irgendwo existiert die Wahrheit, was Emphyrio betrifft. Ich will diese Wahrheit kennen lernen. Ihr nicht?« Floriel war aufmerksamer als Nion und betrachtete Ghyl neugierig. »Warum bedeutet dir das so viel?« »Emphyrio hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt. Mein Vater starb mit seinem Geist neben sich; er hielt sich für Emphyrio. Er wollte die Wahrheit nach Ambroy bringen. Warum sonst hätte er so viel wagen sollen?« Nion zuckte mit den Schultern. »Mit der Wahrheit kannst du dir kein Brot backen.« Er musterte Ghyl von Kopf bis Fuß. »Das Mädchen, mit dem du da gesessen hast… War das eine Lady?« »Ja. Shanne.« Ghyl sprach den Namen ganz sanft aus. »Ihrer Figur nach zu urteilen, schien sie mir sehr attraktiv zu sein. Wirst du sie wiedersehen?« »Sie wird reisen, und ich werde hierbleiben.« Nion blickte ihn an und hob die Augenbrauen. Dann stieß er sein säuerliches Lachen aus. »Ich glaube«, sagte er an Floriel gewandt, »unseren Freund hat es wirklich erwischt!« Floriel, der noch immer unter Sonjalys Treulosigkeit litt, war nicht sonderlich daran interessiert. »Ich nehme an, so etwas kommt vor.« Nion sprach Ghyl nun ernst, wenn auch herablassend an. »Mein lieber Junge, du darfst diese Leute nicht ernst nehmen! Warum, glaubst du wohl, kommen sie auf den Bezirksball? Aus keinem anderen Grund als für ein kleines Techtelmechtel. Auf diese Art bauen sie ihre Spannung ab und leben ihre Gefühle aus; immerhin führen sie ein unnatürliches Leben in
ihren Horsten da oben. Sie verabscheuen die Arroganz, die Kälte und die Eitelkeit von ihresgleichen. Deswegen steigen sie zum Bezirksball herunter und wärmen sich am Feuer ehrlicher Leidenschaft.« »Unsinn«, murmelte Ghyl. »Die Situation war nichts dergleichen.« »Ha! Hat sie gesagt, dass sie dich liebt?« »Nein.« »Hat sie sich scheu und widerwillig gegeben?« »Nein.« »Hat sie eingewilligt, dich wiederzusehen?« »Nein. Aber sie reist auch in Kürze ab. Sie hat mir alles erklärt.« »Oh?« Nachdenklich zupfte sich Nion am Kinn. »Hat sie dir auch gesagt, wann sie abreist?« »Ja.« »Und wann wird das sein.« Ghyl warf Nion Bohart einen scharfen Blick zu, dessen Tonfall inzwischen ein wenig zu beiläufig geworden war. »Warum fragst du?« »Ich habe meine Gründe… besonders, weil sie so vertrauensselig war. Normalerweise sind diese Lords und Ladies geradezu unglaublich heimlichtuerisch. Du musst irgendwie ihr Herz getroffen haben.« Ghyl lachte freudlos. »Ich bezweifele, dass sie überhaupt ein Herz hat.« Nion dachte einen Augenblick lang nach; dann blickte er zu Floriel. »Bist du bereit?« Floriel verzog das Gesicht. »So bereit, wie ich sein kann. Aber wir wissen nicht genau, wann sie aufbrechen werden oder von wo.« »Vermutlich vom Godero-Raumhafen.«
»Vermutlich. Aber wir kennen das Schiff nicht.« Floriel blickte zu Ghyl. »Hat sie erwähnt, in was für einem Typ Raumjacht sie fliegen will?« »Ich kenne die Jacht.« Nion sprang auf. »Du kennst sie? Wunderbar! Unsere Probleme sind gelöst. Wie steht’s? Willst du dich nicht uns anschließen?« »Bei dem Versuch, eine Raumjacht zu stehlen?« »Ja. So eine Gelegenheit bekommt man nur einmal. Wir… oder besser du kennst das Abflugdatum; dadurch wissen wir dann auch, wann die Jacht betankt und beladen wird, beziehungsweise wann die Besatzung an Bord geht. Wir müssen nur noch an Bord gehen und einfach das Kommando übernehmen.« Ghyl nickte. »Und was dann?« Nion zögerte kaum wahrnehmbar. »Nun, wir werden versuchen, Lösegeld für unsere Gefangenen zu erpressen. Das ist nur vernünftig.« »Sie zahlen keine Lösegelder mehr; darauf haben sie sich alle geeinigt.« »Das hat man mir auch gesagt. Nun, wenn sie nicht zahlen, dann zahlen sie eben nicht. Wir können die Geiseln dann immer noch auf Morgan oder sonst wo absetzen und anschließend auf der Suche nach Reichtum und Abenteuer davonfliegen.« Ghyl nippte an seinem Tee und blickte auf den langsam dahinfließenden Fluss hinaus. Was erwartete ihn noch in Ambroy? Ein Leben als Holzschnitzer und verfolgt von Schute Cobols ständigen Ermahnungen? Shanne? Hatte sie mehr in ihm gesehen als nur einen rührseligen Primitivling?… Wenn sie denn überhaupt über ihn nachgedacht hatte. Ghyl zuckte unwillkürlich zusammen. Langsam sagte er: »Ich würde mir schon gerne die Raumjacht nehmen, wenn
auch nur, um den Historiker zu suchen, der die gesamte Geschichte der Menschheit kennt.« Floriel lachte nachsichtig. »Er will Emphyrios Leben erforschen.« »Warum auch nicht?«, entgegnete Nion leichthin. »Das ist sein Privileg. Wenn uns erst einmal die Raumjacht gehört und wir uns ein paar Gutscheine verdient haben, gibt es nichts, was ihn davon abhalten könnte.« Floriel zuckte mit der Schulter. »Vermutlich hast du Recht.« Ghyl blickte von einem zum anderen. »Bevor ich mir auch nur ein einziges weiteres Wort anhöre, möchte ich eines klarstellen. In Folgendem müssen wir uns einig sein: kein Töten, kein Plündern, keine Entführungen und keine Piraterie.« Nion lachte verärgert. »Im selben Augenblick, da wir die Jacht übernehmen, sind wir Piraten! Warum es schönreden?« »Das stimmt.« »Die Lords werden für ihre Reise eine große Summe mit an Bord nehmen, um ihre Ausgaben zu decken«, erklärte Floriel. »Es gibt keinen Grund, warum wir es ihnen lassen sollten.« »Da stimme ich dir auch zu. Das Eigentum der Lords ist faire Beute. Wenn wir schon eine ihrer Raumjachten stehlen, wäre es Unsinn, darauf zu verzichten, auch in ihre Börsen zu greifen. Aber anschließend jagen wir niemanden mehr und fügen keiner Menschenseele mehr Schaden zu… Einverstanden?« »Ja, ja«, antwortete Nion ungeduldig. »Nun? Wann bricht die Jacht auf?« »Floriel, was ist mit dir?« »Kein Problem für mich. Alles, was wir wollen, ist die Jacht.« »Dann ist es also abgemacht. Kein Töten…« »Es sei denn zur Selbstverteidigung«, unterbrach ihn Nion. »… kein Plündern, keine Entführungen und keine Piraterie.«
»Abgemacht«, sagte Floriel. »Abgemacht«, sagte Nion. »Die Raumjacht fliegt in weniger als einer Woche – eine Woche von gestern an gerechnet. Floriel kennt das Schiff sehr gut. Es ist die schwarz-goldene Deme, aus der wir vor langer Zeit hinausgeworfen worden sind.« »Da sieh mal einer an«, staunte Floriel. »Noch etwas«, fuhr Ghyl fort. »Nehmen wir einmal an, dass es uns tatsächlich gelingen sollte, die Jacht zu übernehmen… Wer kann sie steuern? Wer kann die Maschinen bedienen?« »Das ist kein Problem«, erklärte Nion. »Die Lords können ihre Schiffe auch nicht bedienen. Sie heuern Techniker aus Lusch an, die auch uns gehorchen werden, solange wir ihre Vergütung zahlen.« »Nun denn«, sagte Floriel. »Dann ist ja alles klar. Die Raumjacht gehört so gut wie uns!« »Wir könnte es auch anders sein?«, fragte Nion. »Aber natürlich brauchen wir noch zwei, drei andere: Mael und Shulk und Waldo Hidle; Waldo wird die Waffen für uns besorgen. Wunderbar! In ein paar Tagen beginnt für uns ein neues Leben!« Er hob den Becher, und die Verschwörer stießen miteinander an.
Kapitel Vierzehn
Mit dem Gefühl, zu einem Ort zu gehen, den er vor langer Zeit einmal gekannt hatte, kehrte Ghyl zum Undle-Platz zurück. Eine hohe Wolkendecke verhüllte den Himmel, so dass der Platz in ein hellbraunes Licht getaucht war. Eine unnatürliche Stille hing in der Luft, die Ruhe vor dem Sturm. Auf der Straße waren nur wenige Empfänger zu sehen, und diese wenigen hatten ihre Mäntel eng um die Schultern geschlungen und huschten eilig zu ihren Zielen wie Insekten, die vor dem Licht flohen. Ghyl betrat die Werkstatt und schloss die Tür hinter sich; Fliegen summten gegen die Fensterläden. Wie immer blickte Ghyl als Erstes zu Amiantes Bank, als erwartete er, dort eines Tages wieder die vertraute Gestalt seines Vaters zu sehen. Dann ging er zu seiner eigenen Bank und blieb dort eine Zeit lang nachdenklich stehen, während er den halb fertigen Schirm betrachtete, der nun niemals vollendet werden würde. Er bereute nichts. Bereits jetzt schien ihm sein altes Leben unendlich weit entfernt zu sein. Wie eintönig und beschränkt dieses Leben doch gewesen war!… Und was war mit der Zukunft? Sie war formlos und leer: ein großer freier Raum, der erst noch gefüllt werden musste. Ghyl konnte sich noch nicht einmal vorstellen, in welche Richtung sich sein Leben entwickeln würde – doch bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, musste natürlich zunächst einmal der geplante Akt der Piraterie gelingen. Er schaute sich in der Werkstatt um. Seine Werkzeuge und sonstigen Besitztümer, Amiantes Sammlung von Kleinigkeiten… all das musste er zurücklassen – abgesehen von Amiantes Mappe, die Ghyl niemals aufgegeben hätte. Er holte sie aus dem Schrank und hielt sie unschlüssig in der Hand. Sie war zu groß, tun sie ständig bei
sich zu tragen. Ghyl packte die wertvollsten Teile zu einem kleinen Paket zusammen, jene Schriftstücke, die Amiante besonders geschätzt hatte. Und was den Rest betraf… Er würde fortgehen und niemals wiederkehren. Es war herzzerreißend. Der Raum war mit so vielen Erinnerungen behaftet… Am nächsten Morgen kamen Nion, Floriel, Mael und Waldo Hidle in die Werkstatt, und die jungen Männer arbeiteten Pläne aus. Nion schlug einen Plan vor, der einfach und kühn zugleich war und die entsprechenden Vorteile besaß. Er hatte herausgefunden, dass Garrion nie am Eingang zur Startbahn aufgehalten wurden, sondern sich frei bewegen konnten. Also schlug er vor, dass sie sich als Garrion verkleiden sollten, um so zu den geparkten Raumjachten zu gelangen. Dann würden sie sich in der Nähe der schwarzgoldenen Deme verstecken. Wenn dann die Mannschaft vermutlich in Begleitung von ein, zwei Garrion an Bord gehen würde, würden die Verschwörer die Garrion mit einem Minimum an Gewalt – worauf Ghyl bestand – überwältigen, die Mannschaft einschüchtern und die Jacht übernehmen. Nion und Floriel wollten anschließend noch auf die Lords warten, um sie als Geiseln zu nehmen und Lösegeld für sie zu verlangen. Ghyl sprach sich dagegen aus. »Erstens wird es immer wahrscheinlicher, dass wir scheitern, je länger wir warten, und dann droht uns die Rehabilitierung. Und zweitens werden die Lords kein Lösegeld zahlen; das haben sie untereinander abgemacht, um sich vor Entführungen zu schützen.« Nion schüttelte den Kopf. »Sie werden zahlen; mach dir deswegen keine Sorgen. Glaubst du wirklich, dass sie so opferbereit sind? Ich halte das eher für unwahrscheinlich.« Waldo Hidle, ein großer junger Mann mit markantem Gesicht, rostfarbenem Haar und blassgelben Augen, schlug sich auf Ghyls Seite. »Ich bin dafür, das Schiff zu übernehmen
und so rasch wie möglich zu verschwinden. Sobald wir aktiv werden, sind wir auch verwundbar. Nehmen wir einmal an, eine Nachricht trifft ein, und wir antworten nicht korrekt, oder wir vernachlässigen irgendeine triviale Formalität… Wir hätten sofort eine Streife auf dem Hals.« »Das ist ja alles schön und gut«, sagte Nion. »Lasst uns einmal annehmen, wir entkommen mit dem Schiff. Mit was sollen wir dann unsere Kosten decken? Wir müssen praktisch denken. Eine Entführung ist das geeignete Mittel, um an Gutscheine zu kommen.« Floriel fügte hinzu: »Wenn sie sich weigern, Lösegeld zu bezahlen, wie Ghyl vermutet, dann sind wir nicht besser und nicht schlechter dran als vorher. Die Geiseln können wir immer noch einfach irgendwo absetzen.« »Aber«, sagte Nion, »auf jeden Fall werden sie auch ein paar Gutscheine bei sich haben, die wir uns dann nehmen könnten.« Ghyl wusste nicht mehr, was er darauf erwidern sollte, und kurz darauf wurde Nions Plan angenommen. Täglich trafen sich die Verschwörer von nun an in Ghyls Werkstatt, um das Verhalten und die Bewegungsweisen der Garrion einzuüben. Waldo Hidle und Nion besorgten Garrionmasken und -kostüme, und von da an wurden die Übungen in Verkleidung durchgeführt, wobei jeder die Vorstellung des anderen begutachtete. Bei drei Gelegenheiten statteten sie dem Raumhafen einen unauffälligen Besuch ab, um ihr Vorgehen eingehender zu planen. In der Nacht vor dem entscheidenden Tag versammelten sich alle in der Holzschnitzerwerkstatt; sie versuchten zu schlafen, was ihnen jedoch nur schlecht gelang, denn sie waren viel zu aufgeregt. Bereits lange vor Sonnenaufgang waren sie schon wieder aufgestanden. Sie färbten ihre Haut im rotbraunen Ton der
Garrion und schlüpften in die inzwischen vertrauten Kostüme. Dann hüllten sie sich in weite Mäntel und gingen los. Ghyl verließ die Werkstatt als Letzter. Kurz blieb er in der Tür stehen und blickte noch einmal zu den vertrauten Werkbänken und Werkzeugregalen zurück; die Tränen standen ihm in den Augen. Dann schloss er die Tür, drehte sich um und folgte seinen Gefährten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie liefen in Garriontracht über die Straße, was bereits gegen die Regeln verstieß. Würde man sie erwischen, müssten sie zumindest ein peinliches Verhör über sich ergehen lassen. Per Oberbahn fuhren sie zum Raumhafen. Jeder berührte mit seiner Garrionschulter den Registrierungssensor. Irgendwann in der Zukunft würde man ihnen die Fahrt in Rechnung stellen, doch dann wäre keiner von ihnen mehr hier, um sie zu bezahlen – oder zumindest hofften sie das. Am Raumhafen angekommen, marschierten sie auf Garrionart durch die große Halle. Niemand blickte sie zweimal an. Am Kontrolltor erwartete sie der erste Test. Der Wachmann lugte gelangweilt hinter seinem Tresen hervor und drückte den Türknopf. Das Tor glitt auf, und die Verschwörer marschierten auf das Südfeld hinaus. Vorbei an einer Raumjacht nach der anderen wanderten sie die Zugangsstraße hinunter und positionierten sich hinter dem Front- und Heckgerüst der Jacht neben der Deme, jenem schwarz-goldenen Schiff, aus dem Ghyl und Floriel vor so langer Zeit hinausgeworfen worden waren. Die Zeit verging. Die Sonne stieg in den Himmel empor; ein kleiner rot-schwarzer Frachter landete auf dem Nordfeld, wo er bereits erwartet wurde. Nion sagte mit rauer Stimme: »Da kommen sie.« Er deutete auf eine Gruppe auf der Straße: sechs LuschRaumfahrer und zwei Garrion.
Das weitere Vorgehen der Verschwörer hing davon ab, wer als Erster an Bord gehen würde: die Mannschaft oder die Garrion. Die Mannschaft war mit ziemlicher Sicherheit nicht bewaffnet, doch wenn sie einen Streit bemerkten, würden sie Alarm schlagen. Im günstigsten Fall würde die Mannschaft an Bord gehen, während die beiden Garrion noch draußen blieben, um die Bugverankerung zu lösen oder sonst eine kleine Arbeit zu erledigen. Doch dieser günstigste Fall trat nicht ein. Die Garrion stiegen die Rampe hinauf, öffneten die Einstiegsluke, drehten sich um und blickten auf die Straße hinaus, als würden sie genau mit solch einem Überfall rechnen, wie ihn die Verschwörer geplant hatten. Die Mannschaft ging ins Schiff; die Garrion folgten ihnen, und die Luke wurde wieder geschlossen. Schweigend und frustriert verfolgten die Piraten alles. Sie hatten keine Möglichkeit gehabt zu handeln. Im selben Augenblick, da sie sich gezeigt hätten, hätten die Garrion die Waffen gezogen. »Nun denn«, zischte Nion. »Warten wir auf die Lords… Dann müssen wir handeln!« Eine Stunde verging, zwei Stunden, und die Verschwörer wurden immer nervöser. Dann fuhr ein kleiner Rollwagen die Straße entlang, der voller bunter Päckchen und Pakete war: persönliches Gepäck. Der Wagen hielt unter der Deme. Die Heckklappe öffnete sich; eine Rampe wurde ausgefahren, und die Päckchen und Pakete wurden an Bord gebracht. Schließlich kehrte der Wagen auf dem gleichen Weg wieder zurück, den er gekommen war. Spannung lag in der Luft. Vor lauter Aufregung drehte sich Ghyl der Magen um; er hatte das Gefühl, als würde sich hier, unter der Bugstütze der Raumjacht, sein ganzes Leben konzentrieren.
»Da kommen die Lords«, murmelte Floriel schließlich. »Alle zurück.« Drei Lords und drei Ladies kamen die Straße herunter. Ghyl erkannte Shanne. Hinter ihnen marschierten zwei Garrion. Nion neben ihm murmelte ebenso irgendetwas vor sich hin wie Mael auf der anderen Seite. Die Lords und Ladies verließen die Straße und begannen, die Einstiegsrampe emporzusteigen. Die Luke öffnete sich. »Jetzt!«, sagte Nion. Er löste sich aus seinem Versteck, stapfte die Rampe empor, und die anderen folgten ihm. Die Garrion griffen sofort nach ihren Waffen, doch Nion und Mael waren darauf vorbereitet. Strahlen schossen aus ihren Gewehren; die Garrion brachen zusammen. »Schnell!«, fuhr Nion die Lords an. »Ins Schiff! Tut, was ich sage, wenn euch euer Leben lieb ist!« Entsetzt zogen sich die Lords und Ladies ins Schiff zurück, dicht gefolgt von Nion, Mael und Floriel; Ghyl und Waldo bildeten den Schluß. Sie platzten in den Salon. Die beiden Garrion, die mit der Mannschaft an Bord gekommen waren, funkelten die Eindringlinge unentschlossen an; dann stürzten sie vor und klapperten mit ihren Schnäbeln. Nion, Mael und Floriel feuerten ihre Waffen ab, und die Garrion verwandelten sich in dampfende Haufen dunklen Fleischs. Die Ladies schrien entsetzt auf, und die Lords krächzten heiser. Im Hauptgebäude des Raumhafens heulte eine Sirene auf; offenbar hatte jemand im Tower den Überfall bemerkt. Nion Bohart rannte in den Maschinenraum und wedelte mit seiner Waffe vor den Technikern herum. »Bringt das Schiff hoch! Wir haben die Kontrolle übernommen! Sollten wir bedroht werden, sterbt ihr als Erste!« »Idiot!«, rief einer der Lords. »Du wirst uns noch alle umbringen! Der Tower hat Befehl, alle gekaperten Schiffe
abzuschießen, egal wer an Bord ist. Habt ihr das nicht gewusst?« »Schnell!«, brüllte Nion. »Hoch mit dem Schiff! Oder wir sind alle tot!« »Die Spulen sind kaum warm und die Systeme noch nicht gecheckt!«, schrie ein Luschein-Ingenieur. »Bringt uns hoch oder ich brenne euch einer nach dem anderen die Beine weg!« Und das Schiff stieg auf. Es schwankte heftig hin und her, weil die Antriebsaggregate noch nicht ausbalanciert waren, und vielleicht rettete das den Menschen an Bord das Leben. Denn bevor die Hafengeschütze ihr Ziel erfassen konnten, nahm das Schiff Geschwindigkeit auf und war auf und davon.
Kapitel Fünfzehn
Nion Bohart hatte das Kommando über das Schiff übernommen – eine Tatsache, die seine Gefährten stillschweigend duldeten und gegen die die Lords nichts unternehmen konnten. Er übte seine Befehlsgewalt mit großspurigem Gehabe aus; doch an seiner Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit konnte keinerlei Zweifel bestehen, ebenso wenig wie an dem Vergnügen, das ihm das Ganze offensichtlich bereitete. Er richtete seine Waffen auf die Lords, während Floriel sie durchsuchte. Floriel fand weder Waffen noch größere Geldsummen, wie er erwartet hatte. »Nun denn«, sagte Floriel in unheilvollem Tonfall. »Wo ist euer Geld? Gutscheine, Valuta, was auch immer…« Der Lord, dem das Schiff gehörte, ein schmalgesichtiger, finsterer Kerl in rosa-silbernem Anzug und mit einem galanten Hut aus Silberdraht, schnaufte verächtlich und drehte sich zu Nion um. »Das Geld ist in unserem Gepäck. Wo wohl sonst?« Nion, der sich nicht im Geringsten an dem hochnäsigen Gehabe des Lords störte, steckte die Waffe in den Gürtel. »Die Namen bitte?« »Ich bin Fanton der Oberbahn. Das ist meine Begleiterin, Lady Radance, und dies hier ist meine Tochter, Lady Shanne.« »Gut. Und Ihr, mein Herr?« »Ich bin Ilseth der Spay, und meine Begleiterin ist Lady Jacinth.« »Und Ihr, mein Herr?« »Ich bin Xane der Spay.« »Gut. Ihr dürft Euch hinsetzen, wenn Euch danach zumute ist.«
Die Lords und Ladies blieben einen Augenblick lang stehen; dann murmelte Fanton irgendetwas, und die Gruppe ging zu den Sitzen nahe dem Schott. Nion blickte sich in dem Salon um. Er deutete auf die Garrionleichen. »Du, Ghyl, und du, Waldo, werft diesen Müll hinaus.« Ghyl stand steif da; er kochte förmlich vor Wut. Sicher, in einer Situation wie dieser war ein Anführer notwendig; trotzdem hatte Nion sich dieses Privileg nach Ghyls Meinung ein wenig vorschnell angeeignet. Wenn er nun Nions Befehl ohne zu murren Folge leistete, dann akzeptierte er stillschweigend dessen Autorität. Gehorchte er ihm jedoch nicht, würde er einen Streit vom Zaum brechen… und sich damit Nions Hass zuziehen. Also… Kämpfen oder sich unterwerfen? Ghyl entschied sich für den Kampf. »Der Notfall ist vorüber, Nion. Wir haben dieses Abenteuer als eine Gruppe von Gleichen begonnen. Lass uns das auch so halten.« »Was soll das denn?«, raunzte Nion. »Ist dir die Arbeit etwa zu unangenehm?« »Nein. Ich habe nur etwas dagegen, dass du befiehlst, wer die unangenehme Arbeit zu erledigen hat.« Einen Augenblick lang blickten die beiden einander an; Nion lächelte, war jedoch offensichtlich alles andere als amüsiert. Er knurrte: »Wir können uns nicht über jede Kleinigkeit streiten. Irgendjemand muss nun mal die Befehle geben.« »In diesem Fall schlage ich vor, dass wir uns damit abwechseln. Floriel kann anfangen; ich bin dann als Nächster dran oder Mael, du oder Waldo… Das macht keinen großen Unterschied. Aber lasst uns eine Gruppe von Gleichen bleiben und uns nicht in einen Führer und seine Gefolgschaft verwandeln.« Ghyl fühlte, dass nun die Zeit gekommen war,
nach Unterstützung zu suchen, und so blickte er sich um. »Stimmt ihr mir zu?« Waldo meldete sich als Erster. Zögernd sagte er: »Ja, ich stimme dir zu. Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand hier Befehle geben sollte, solange wir uns in keiner Notsituation befinden.« »Ich mag keine Befehle«, erklärte Mael. »Wie Ghyl gesagt hat, sind wir hier alle gleich. Lasst uns unsere Entscheidungen gemeinsam fällen und dann entsprechend handeln.« Nion blickte zu Floriel. »Und was ist mir dir?« Floriel leckte sich die Lippen. »Nun, ich schließe mich dem an, wofür auch immer die anderen sich entscheiden.« Nion gab nach. »Dann soll es so sein. Wir sind eine Gruppe, und als solche werden wir auch handeln. Trotzdem brauchen wir Regeln, sonst fällt diese Gruppe auseinander.« »Das sehe ich genauso«, sagte Ghyl. »Und jetzt schlage ich vor, dass wir unsere Gäste, Passagiere, Gefangene oder was immer sie auch sein mögen, in die Kabinen sperren und anschließend eine Besprechung abhalten.« »Sehr gut«, erwiderte Nion und fügte sarkastisch hinzu: »Vielleicht würden Mael und Floriel sich ja um das Wegsperren unserer Gäste kümmern, während Waldo, ich und Ghyl, wenn es ihm denn so gefällt, die Leichen entsorgen.« »Einen Augenblick«, meldete sich Lord Fanton. »Bevor ihr eure Besprechung abhaltet… Was für Pläne habt ihr in Bezug auf uns?« »Wir wollen Lösegeld«, antwortete Nion. »So einfach ist das.« »In diesem Fall müsst ihr eure Pläne revidieren. Wir werden kein Lösegeld erbitten, und selbst wenn wir es täten, würde es niemand bezahlen. So lautet unser Gesetz. Euer Verbrechen war sinnlos.«
»Nicht ganz«, erwiderte Nion, »selbst falls das, was Ihr sagt, der Wahrheit entspricht. Wir haben das Schiff, und das allein ist schon ein Vermögen wert. Wenn niemand Lösegeld zahlt, werden wir Euch zum Menschenmarkt nach Wale bringen. Die Frauen werden an Bordelle verkauft und die Männer in den Wüstenminen Silikonblumen sammeln… aber das heißt natürlich nur, falls Ihr das der Zahlung von Lösegeld vorziehen solltet.« »Mit ›vorziehen‹ hat das nichts zu tun«, sagte Ilseth der Spay, der weniger entschlossen wirkte als Lord Fanton. »Es ist das Gesetz; wir können nichts dagegen tun.« Nun meldete sich Ghyl zu Wort, um Nion zuvorzukommen. »Wir werden die Lage unter uns besprechen. Solange Ihr uns keinen Ärger macht, werden wir Euch nichts tun.« Nion sagte: »Wenn es Euch dann nichts ausmacht, würde ich sagen: ab zu den Kabinen!«
Still trieb das Schiff durch den Weltraum. Der Antrieb war abgeschaltet, während die fünf jungen Piraten sich berieten. Die Führungsfrage wurde als Erste diskutiert. Nion Bohart hatte sich wieder abgeregt und führte nun vernünftige Argumente an. »In einer Situation wie dieser muss irgendjemand als Koordinator fungieren. Das ist eine Frage von Verantwortung und von gegenseitigem Vertrauen. Will jemand den Job des Anführers? Ich will ihn nicht, aber ich bin bereit, die Mühe auf mich zu nehmen, weil ich mich für unsere Gruppe verantwortlich fühle.« »Ich will kein Anführer sein«, erklärte Floriel energisch und warf Ghyl einen giftigen Blick zu. »Ich bin zufrieden, wenn jemand den Job übernimmt, der dazu fähig ist.« Mael grinste. Offensichtlich fühlte er sich nicht ganz wohl. »Ich will den Job auch nicht; doch andererseits will ich auch
nicht nur die Drecksarbeit machen und hierhin und dorthin rennen, während irgendein anderer den König spielt.« »Für mich gilt das Gleiche«, sagte Waldo. »Vielleicht brauchen wir ja auch keinen Anführer. Es ist doch nicht so schwer, miteinander zu reden und sich auf irgendwas zu einigen.« »Das bedeutet aber ständige Diskussionen«, knurrte Floriel. »Es wäre in jedem Fall einfacher, einem allein die Verantwortung zu übertragen.« »Es wird keine unnötigen Diskussionen geben, wenn wir ein paar Regeln aufstellen, an die wir uns dann alle halten«, sagte Ghyl. »Immerhin sind wir keine Piraten; wir planen ja schließlich keine Überfälle und dergleichen.« »Ah ja?«, erwiderte Nion. »Und von was willst du bitteschön leben? Wenn wir kein Lösegeld bekommen, haben wir zwar eine Raumjacht, aber keine Gutscheine, um sie instand zu halten.« »Unsere ursprüngliche Abmachung war klar und deutlich«, sagte Ghyl. »Wir haben abgemacht, niemanden zu töten. Jetzt sind vier Garrion tot, aber das war wohl unvermeidlich. Dann haben wir noch abgemacht, Lösegeld zu verlangen, und warum auch nicht? Die Lords sind Parasiten. Aber wichtiger als alles andere ist, dass wir uns darauf geeinigt haben, die Raumjacht nicht zur Piraterie zu missbrauchen, sondern nur mit ihr zu reisen! Wir wollten zu weit entfernten Welten, nach denen wir alle uns nun schon so lange gesehnt haben!« »Das ist ja alles schön und gut«, sagte Floriel und blickte kurz zu Nion; »aber was sollen wir essen, wenn uns die Vorräte ausgehen? Womit sollen wir die Hafengebühren bezahlen?« »Wir können das Schiff vermieten. Wir können hierhin und dorthin Ausflüge organisieren oder zur Not auch
Transportaufträge annehmen. Mit einer Raumjacht muss sich doch auch auf ehrliche Art Gewinn erzielen lassen!« Lächelnd schüttelte Nion den Kopf. »Ghyl, mein Freund, das Universum ist grausam. Ehrlichkeit ist ein schönes Wort, doch es bedeutet nichts. Wir können es uns nicht leisten, sentimental zu sein. Wir haben uns entschieden; es gibt kein Zurück mehr.« »Das entspricht nicht unserer ursprünglichen Abmachung!«, rief Ghyl. »Wir haben uns verpflichtet: kein Morden, kein Plündern.« Nion zuckte mit den Schultern. »Was denken die anderen?« Floriel erklärte leichthin: »Wir müssen leben. Ich habe keine Skrupel.« Mael schüttelte unbehaglich den Kopf. »Ich habe nichts gegen Diebstahl – besonders nicht, wenn man die Reichen beraubt. Aber ich will weder töten noch plündern oder Menschen versklaven.« »Ich denke in etwa genauso«, sagte Waldo. »Auf die ein oder andere Art ist Diebstahl ein Naturgesetz. Jedes Lebewesen stiehlt von einem anderen, um überleben zu können.« Langsam zeichnete sich ein ruhiges Lächeln auf Nions Gesicht ab. Ghyl schrie leidenschaftlich: »Das haben wir nicht abgemacht! Wir haben uns darauf geeinigt, die Jacht zu nehmen und von da an als ehrliche Menschen zu leben. Diese Abmachung zu brechen ist vollkommen unakzeptabel! Wie sollen wir dann noch einander vertrauen? War nicht die Suche nach der Wahrheit unser ursprüngliches Ziel?« »Die Wahrheit?«, schrie Nion. »Nur ein Trottel würde solch ein Wort überhaupt in den Mund nehmen! Was bedeutet es? Ich weiß es nicht.« »Ein Aspekt der Wahrheit«, erklärte Ghyl, »hat zum Beispiel mit dem Einhalten von Versprechen zu tun, und genau darum sollten wir uns im Augenblick die größten Gedanken machen.«
Nion begann: »Schlägst du etwa vor…« Doch Mael sprang auf und hielt die Hände in die Höhe. »Lasst uns nicht streiten! Das wäre Wahnsinn! Wir müssen zusammenarbeiten.« »Genau«, sagte Floriel und warf Ghyl einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wir müssen an das Wohl aller denken. Keiner von uns kann für sich allein überleben.« Waldo sagte: »Aber lasst uns ehrlich miteinander sein. Niemand leugnet, dass wir eine solche Abmachung getroffen haben, wie Ghyl sie erwähnt hat.« »Das ist ja vielleicht so«, erwiderte Floriel, »aber wenn vier von uns gewisse Änderungen vornehmen wollen, müssen wir dann nur wegen Ghyls Idealismus davon Abstand nehmen? Erinnert euch… Die Suche nach der ›Wahrheit‹…« »Was auch immer das sein mag«, warf Nion ein. »… wird nicht unsere Bäuche füllen!« »Vergesst mal meinen ›Idealismus‹ für einen Augenblick«, sagte Ghyl. »Ich bestehe nur darauf, dass sich jeder an unsere Abmachung hält. Wer weiß? Vielleicht kommen wir als ehrliche Leute ja sogar besser zurecht als Diebe. Und ist es nicht besser, sich nicht ständig vor Verfolgung und Strafe fürchten zu müssen?« »Da hat Ghyl nicht ganz Unrecht«, gestand Waldo. »Wir könnten es zumindest versuchen.« »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der sich seinen Lebensunterhalt nur mit dem Besitz einer Raumjacht verdient hat«, knurrte Nion. »Und jetzt mal ernsthaft: Wer sollte uns schon hinterherjagen, wenn wir dann und wann mal das ein oder andere ›konfiszieren‹?« »Unsere Abmachung war klar und deutlich«, wiederholte Ghyl. »Kein Diebstahl, keine Piraterie. Wir haben unser Ziel erreicht: Wir besitzen jetzt eine Raumjacht. Wenn fünf Männer wie wir nicht auf ehrliche Art und Weise Geld verdienen können, dann geschieht es uns recht, wenn wir verhungern!«
Es folgte ein langes Schweigen. Nion verzog mürrisch und angewidert das Gesicht. Floriel rutschte unruhig hin und her und blickte überall hin, nur nicht zu Ghyl. Schließlich sagte Mael. »Also gut. Lasst es uns versuchen. Wenn es nicht funktioniert, können wir immer noch was anderes machen… oder uns trennen.« »Und was«, verlangte Nion zu wissen, »soll in diesem Fall aus der Raumjacht werden?« »Wir könnten sie verkaufen und die Gutscheine unter uns aufteilen oder Lose ziehen.« »Pah! Unsere Lage ist wirklich ziemlich miserabel.« »Wie kannst du das sagen?«, regte sich Ghyl auf. »Wir hatten Erfolg! Wir haben unsere Raumjacht! Mehr können wir uns ja wohl kaum wünschen, oder?« Nion wandte ihm den Rücken zu. Floriel sagte: »Wir können immer noch Lösegeld fordern. Ich sage, nehmen wir uns die Lords einer nach dem anderen vor. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sie lieber in Wale verkauft werden würden, anstatt zu bezahlen.« »Ja, lasst uns mit ihnen reden«, stimmte ihm Waldo eifrig zu, der die alte Einigkeit wiederhergestellt sehen wollte. Lord Fanton war der Erste, der in den Salon zurückgebracht wurde. Seine Augen funkelten vor Wut, als er von einem zum anderen blickte. »Ich weiß, was ihr wollt: Lösegeld! Ihr werdet keins bekommen.« Nion sprach in verbindlichem Tonfall. »Ihr wollt Euch und Eure Familie doch sicher vor dem Menschenmarkt bewahren, oder?« »Natürlich. Aber weder ich noch einer meiner Freunde kann euch Lösegeld bezahlen. Tut also, was ihr nicht lassen könnt. Durch uns werdet ihr nicht reich.« »Nun gut«, sagte Nion. »Kehrt wieder in Eure Kabine zurück.«
Xane der Spay wurde geholt. Nion stemmte die Hände in die Hüften und trat vor; doch Ghyl sprach als Erster. »Lord Xane, wir wollen Euch keine unnötigen Schwierigkeiten bereiten, aber wir haben gehofft, ein Lösegeld für Eure sichere Rückkehr zu bekommen.« Lord Xane hob hilflos die Hände. »Hoffnungen sind billig. Auch ich habe Hoffnungen. Werden meine erfüllt? Ich bezweifele es.« »Ist es buchstäblich wahr, dass Ihr niemandem befehlen könnt, Lösegeld zu bezahlen?« Xane der Spay lachte verlegen. »Zunächst einmal haben wir nur wenig Bargeld zur Verfügung.« »Was?«, rief Mael. »Bei 1,18 Prozent aller Einkünfte von Ambroy?« »Es ist aber so. Großlord Dugald der Boimarc ist ein sehr strenger Buchhalter. Nachdem er alle Steuern, Unkosten und dergleichen von unserem Einkommen abgezogen hat, bleibt nur wenig übrig, ob ihr das nun glaubt oder nicht.« »Ich zumindest glaube Euch nicht«, spie Floriel. »›Ausgaben‹, ›Steuern‹… Haltet Ihr uns etwa für Idioten?« Nion fragte mit samtener Stimme: »Wo fließt das ganze Geld hin? Immerhin handelt es sich um eine beträchtliche Summe.« »Die Frage müsst ihr Großlord Dugald stellen. Und vergesst nicht, dass uns das Gesetz verbietet, auch nur den Fetzen eines Gutscheins als Lösegeld zu bezahlen.« Lord Ilseth der Spay gab eine ähnliche Erklärung ab. Wie Fanton und Xane beteuerte er, dass niemand auch nur die geringste Summe an Lösegeld bezahlen würde. »Dann«, sagte Nion grimmig, »werden wir Euch in Wale verkaufen.« Ilseth schüttelte verzweifelt den Kopf. »Treibt ihr eure Rachsucht da nicht ein bisschen zu weit? Immerhin habt ihr Lord Fantons Raumjacht und unser Bargeld.«
»Wir wollen zusätzliche zweihunderttausend Gutscheine.« »Unmöglich. Tut, was ihr nicht lassen könnt.« Ilseth verließ den Salon. Nion rief ihm hinterher: »Keine Sorge! Das werden wir!« »Seltsam, dass sie behaupten, arm zu sein«, sinnierte Ghyl. »Was um alles in der Welt wird nur aus ihrem Geld?« »Für mich sind diese Erklärungen nichts als unverschämte Lügen«, schnaufte Floriel. »Ich denke, wir sollten ihnen gegenüber keine Gnade zeigen.« »Seltsam ist es aber trotzdem«, sagte Waldo. »In Wale bringen sie tausend Gutscheine das Stück«, erklärte Nion. »Und für das Mädchen bekommen wir vielleicht sogar fünftausend.« »Hm«, sagte Floriel. »Neuntausend ist weit weg von zweihunderttausend, aber besser als nichts.« »Also dann: nach Wale«, sagte Nion. »Ich werde der Mannschaft entsprechende Anweisungen geben.« Ghyl erklärte: »Nein, nein, nein! Wir haben abgemacht, dass wir die Lords auf Morgan absetzen!« Floriel schrie wütend auf. Mit einem finsteren Lächeln auf den Lippen drehte sich Nion zu Ghyl um. »Ghyl, das ist nun schon das dritte Mal, dass du dich dem Willen der Mehrheit widersetzt.« »Eher ist es das dritte Mal, dass ich euch an eure Versprechen erinnere«, erwiderte Ghyl. Nion verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast Streit in die Gruppe gebracht, was nicht akzeptabel ist.« Er ließ die Arme wieder hängen, und nun konnte jeder sehen, dass er eine Pistole in der Hand hielt. »Es ist zwar ausgesprochen unangenehm, aber…« Er richtete die Waffe auf Ghyl. Waldo schrie: »Bist du wahnsinnig geworden?« Er rappelte sich auf und packte Nions Arm. Ein Schuss löste sich mitten in Waldos offenen Mund, und er fiel nach vorne. Mael packte
seine eigene Waffe und sprang auf; er richtete sie auf Nion, brachte es jedoch nicht über sich zu schießen. Floriel duckte sich hinter Nion, feuerte, und Mael rollte übers Deck. Ghyl sprang in den Eingang zum Maschinenraum, zog seine Waffe, zielte auf Nion, hielt sich jedoch mit Schießen zurück aus Furcht, die Hülle zu treffen. Floriel, der vor einer Bettcouch hockte, war weit verwundbarer; doch wieder brachte Ghyl es nicht über sich zu schießen. Das war Floriel, der beste Freund seiner Kindheit! Nion und Floriel zogen sich in den hinteren Teil des Salons zurück. Ghyl hörte, wie sie miteinander flüsterten. Hinter ihm verfolgte die Luschein-Mannschaft entsetzt das Spektakel. Ghyl rief: »Ihr zwei könnt nicht gewinnen. Ich kann euch aushungern. Ich kontrolliere die Maschinen, das Essen, das Wasser. Ihr müsst tun, was ich will.« Nion und Floriel flüsterten lange miteinander; dann rief Nion: »Wie lauten deine Bedingungen?« »Steht auf! Mit dem Rücken zu mir und mit erhobenen Händen.« »Und dann?« »Dann werde ich euch in eine Kabine sperren und auf einem zivilisierten Planeten absetzen.« Nion lachte rau. »Du Idiot.« »Dann hungert«, sagte Ghyl. »Und verdurstet meinetwegen.« »Was ist mit den Lords und Ladies? Sollen die auch verhungern und verdursten?« Ghyl dachte einen Augenblick lang nach. »Die können einer nach dem anderen kommen und etwas essen.« Wieder ertönte Nions hässliches Lachen. »Jetzt will ich dir mal unsere Bedingungen sagen. Ergib dich, und ich werde dich auf einem zivilisierten Planeten absetzen.« »Mich ergeben? Warum? Ihr seid nicht in der Position, um mit mir zu verhandeln.«
»Doooch, das sind wir.« Jemand bewegte sich. Ein Rascheln, leise Stimmen, und dann stapfte Lord Xane steif in den Salon. »Halt«, sagte Nion. »Bleibt genau da stehen.« Und er hob die Stimme, so dass Ghyl ihn verstehen konnte. »Wir haben vielleicht nicht viel anzubieten, aber wir haben genug. Du hast etwas gegen das Töten; also wirst du vielleicht das ein oder andere tun, um das Leben unsere Gäste zu schützen.« »Wie meinst du das?« »Wir werden sie töten, einen nach dem anderen, bis du auf unsere Bedingungen eingehst.« »So etwas würdet ihr niemals tun!« Ein Blitz schoss aus Nions Waffe. Lord Xane der Spay brach zusammen; sein Kopf war schwarz verkohlt. »Glaubst du mir jetzt?«, rief Nion. »Als Nächste ist Lady Radance dran!« Ghyl dachte nach: Könnte er es schaffen, vorzustürmen und die beiden zu töten, bevor er selbst dran glauben musste? Unmöglich. Nion fragte: »Willigst du nun ein? Ja oder nein?« »Willige ich zu was ein?« »Dich zu ergeben.« »Nein.« »Also gut; wir werden die Lords und Ladies einen nach dem anderen töten und dann ein Loch in die Schiffshülle brennen, so dass wir alle verrecken. Du kannst nicht gewinnen.« »Wir werden zu einem zivilisierten Planeten fliegen«, sagte Ghyl. »Dort könnt ihr dann von Bord gehen. So lauten meine Bedingungen.« Es folgten Lärm, Schritte, Wimmern und Lady Radance wankte in den Salon. »Warte!«, schrie Ghyl. »Wirst du dich ergeben?«
»Ich werde zu Folgendem einwilligen: Wir fliegen zu einem zivilisierten Planeten, wo die Lords, die Ladies und ich von Bord gehen werden. Das Schiff soll euch gehören.« Nion und Floriel flüsterten miteinander. »Einverstanden.«
Die Raumjacht landete auf dem Planeten Maastricht, dem fünften Planeten des Capella-Systems: ein Ziel, auf das sich Lord Fanton, Ghyl und Nion nach langen, hitzigen Diskussionen geeinigt hatten. Ein Druckausgleich war notwendig; außerdem hatten jene, die von Bord gehen wollten, sich mit Tönungsmitteln eingerieben und Antigene zu sich genommen, die an die komplexe Biochemie von Maastricht angepasst waren. Die Salonluke öffnete sich, und Licht strömte herein. Fanton, Ilseth, Radance, Jacinth und Shanne gingen in die Schleuse und blinzelten ins grelle Licht hinaus. Ghyl wagte es nicht, den Salon zu durchqueren. Nion Bohart war rachsüchtig und hinterhältig, und Floriel, der inzwischen unter dessen Kontrolle stand, war keinen Deut besser. Ghyl zog sich in den Maschinenraum zurück und öffnete die schwere Ladeluke. Er warf Pakete mit Nahrung und Wasser hinaus und dann das Gepäck der Lords, aus dem er vorher alles Geld genommen hatte – eine beachtliche Summe. Schließlich stopfte er sein eigenes, kleines Bündel in die Jacke, ließ sich auf den Boden fallen und rollte hinter einen nahe gelegenen Baum; er rechnete mit allem. Doch Nion und Floriel schienen zufrieden damit zu sein, Ghyl aus dem Schiff zu wissen. Die Luken schlossen sich; der Antrieb summte, und die Jacht stieg wieder empor, nahm Geschwindigkeit auf und verschwand.
Kapitel Sechzehn
Die gold-schwarze Deme war verschwunden. Die Einsamkeit war vollkommen. Die Gruppe stand in einer großen Savanne, die weit entfernt im Osten und Westen von niedrigen Hügeln aus Granit und Sandstein begrenzt wurde. Der Himmel war von einem strahlend hellen Blau – das absolute Gegenteil zu dem staubigen, braunen Himmel von Halma. Ein knöcheltiefer Teppich aus hartem gelbem Gras mit scharlachroten Beeren erstreckte sich in alle Richtungen, soweit das Auge sehen konnte. Hier und dort standen ein dunkler Busch oder die schwarzen verkrüppelten Reste eines alten Baumes. Bald wurde offensichtlich, dass es früh am Morgen war. Die Sonne, Capella, hing umgeben von einem weißen Schimmer auf halber Höhe zum Zenit; der Horizont im Osten war in einen hellen Dunst gehüllt. Nun denn, dachte Ghyl, hier war die ferne Welt, die zu sehen er sich sein ganzes Leben lang gewünscht hatte. Er lachte höhnisch. Selbst in seinen wildesten Träumen hätte er sich niemals vorstellen können, auf eben dieser Welt mit zwei Lords und drei Ladies ausgesetzt zu werden. Er musterte seine unfreiwilligen Gefährten, die sich in den Schatten eines Schwammbuschs duckten. Die Lords trugen noch immer ihre prächtigen Gewänder und stolzen Hüte. Erneut konnte Ghyl ein leises Lachen nicht unterdrücken. Wenn er sich hier schon unwohl fühlte, so war das nichts im Vergleich zu dem absurden Spektakel, das ihm die Lords und ihre Damen boten. Sie sprachen leise miteinander, gestikulierten nervös und blickten hierhin und dorthin; ihr Hauptaugenmerk schien den entfernten Hügeln zu gelten. Dann bemerkten sie Ghyl und blickten ihn angewidert an.
Ghyl ging zu ihnen; sie wichen zurück. Ghyl fragte: »Weiß irgendjemand, wo wir sind?« »Das ist die Rakanga-Savanne auf dem Planeten Maastricht«, antwortete Fanton knapp und drehte sich um, als wolle er Ghyl von allen weiteren Gesprächen ausschließen. Höflich fragte Ghyl: »Gibt es hier in der Nähe irgendwelche Dörfer oder Städte?« »Irgendwo ja; aber wir wissen nicht wo«, sagte Fanton über die Schulter hinweg. Einen Hauch weniger gereizt als Fanton sagte Ilseth: »Deine Freunde haben ihr Bestes getan, um es uns so schwer wie möglich zu machen. Das hier ist der wildeste Teil von Maastricht.« »Dann schlage ich vor«, sagte Ghyl, »dass wir das Vergangene ruhen lassen sollten. Sicher, ich war Teil der Gruppe, die Euer Schiff konfisziert hat, aber ich wollte Euch kein Leid zufügen. Vergesst nicht, dass ich Euch das Leben gerettet habe.« »Dieser Tatsache sind wir uns durchaus bewusst«, erklärte Fanton kalt. Ghyl deutete über die Savanne. »Ich sehe einen Wasserlauf in der Ferne – oder zumindest ist da eine Baumreihe, die darauf hindeutet. Wenn wir dorthin gehen und wenn dort wirklich ein Fluss ist, dann müssten wir an seinen Ufern früher oder später auf eine Siedlung stoßen.« Fanton schien ihm nicht zugehört zu haben. Er diskutierte ernst mit Ilseth, und beide blickten beinahe sehnsüchtig zu den weit entfernten Hügeln. Die älteren Frauen flüsterten ebenfalls miteinander. Shanne sah Ghyl mit unergründlichen Augen an. Ilseth wandte sich an die Ladies. »Am besten wir wenden uns Richtung Hügel, um aus dieser höllischen Ebene herauszukommen. Mit etwas Glück finden wir dort eine Grotte oder sonst eine Art Unterschlupf.«
»Aye«, sagte Fanton. »Während der seltsamen Nacht sollten wir nicht unter freiem Himmel schlafen.« »O nein!«, hauchte Lady Jacinth entsetzt. »Dann lasst uns losmarschieren.« Fanton verneigte sich vor den Ladies. Die Ladies blickten besorgt in den Himmel hinauf und huschten dann über die Savanne davon, dicht gefolgt von Fanton und Ilseth. Verblüfft blickte Ghyl ihnen hinterher. Er rief: »Wartet! Das Essen und das Wasser!« Fanton rief über die Schulter zurück. »Bring es mit!« Ghyl starrte ihn mit einer Mischung aus Zorn und Heiterkeit an. »Was? Ihr wollt, dass ich alles trage?« Fanton blieb kurz stehen und inspizierte die Pakete. »Ja, alles, auch wenn ich glaube, dass es nicht reichen wird.« Ghyl lachte ungläubig. »Tragt Euren eigenen Proviant.« Fanton und Ilseth sahen einander an und hoben irritiert die Augenbrauen. »Noch etwas.« Ghyl deutete auf die Hügel, von wo ein großes, buckliges schwarzes Tier sie beobachtete. Als das Tier die Aufmerksamkeit der Menschen bemerkte, erhob es sich auf die Hinterbeine, um sie besser sehen zu können. »Das ist ein wildes Tier«, sagte Ghyl. »Vermutlich ist es gefährlich. Ihr habt keine Waffen. Wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann geht nicht ohne Proviant und Wasser.« Ilseth knurrte: »Da ist was dran. Wir haben keine andere Wahl.« Widerwillig machte Fanton wieder kehrt. »Dann gib mir die Waffe, und du trägst den Proviant.« »Nein«, sagte Ghyl. »Ihr müsst Euren eigenen Proviant tragen. Ich gehe nach Norden zum Fluss, wo es mit Sicherheit irgendwo eine menschliche Siedlung gibt. Wenn Ihr in die Hügel dort geht, werdet Ihr entweder verhungern, verdursten oder von wilden Tieren zerrissen werden.«
Die Lords runzelten die Stirn, blickten zum Himmel empor und dann über die Savanne hinweg. Ghyls Vorschlag ergab Sinn; sie würden mit ihm gehen. Höflich sagte Ghyl: »Ich habe Euer Gepäck aus der Jacht geworfen. Wenn Ihr feste Kleidung dabei habt, dann schlage ich vor, Ihr zieht Euch um.« Die Lords und Ladies hörten nicht auf ihn. Ghyl teilte den Proviant in drei gleiche Teile auf. Mit sichtlichem Widerwillen warfen sich die Lords ihre Bündel über die Schultern und machten sich auf den Weg. Zweimal habe ich diese Lords nun schon vor dem sicheren Tod gerettet, dachte Ghyl, und ohne Zweifel werden sie mich im selben Augenblick, da wir eine menschliche Siedlung erreichen, als Piraten denunzieren. Man wird mich verbannen oder was auch immer sonst die hiesige Strafe dafür ist. Was also soll ich tun?
Hätte Ghyl sich weniger Sorgen um die Zukunft gemacht, er hätte die Reise über die Savanne genossen. Die Lords waren eine wahre Quelle der Wunder. Erst schalten und beleidigten sie Ghyl ohne Unterlass, dann wieder weigerten sie sich, ihn überhaupt zu bemerken. Ihr Hochmut und ihre Oberflächlichkeit erstaunten Ghyl immer wieder, ebenso wie ihre völligen Unfähigkeit, mit ihrer Umgebung zurechtzukommen. Sie hatten geradezu Ehrfurcht vor der weiten, offenen Fläche, und sobald sie einen Baum sahen, rannten sie in dessen Schutz. Ihr Erbe war schuld an diesem Verhalten, entschied Ghyl. Seit Jahrhunderten hatten sie wie verwöhnte Kinder gelebt; niemand hatte je von ihnen Entscheidungen verlangt, und nie waren sie in irgendeiner Form in Not geraten. Nun machten sie sich Sorgen, waren jedoch nicht in der Lage, weiter als ein paar Minuten
vorauszudenken. Ihre Gefühlsäußerungen waren zwar dramatisch, doch nie heftig. Nach den ersten paar Stunden begegnete Ghyl den Eigenheiten seiner Begleiter mit Gleichgültigkeit. Aber wie sollte er sie sicher in die Zivilisation zurückbringen und gleichzeitig mit heiler Haut davonkommen? Die Aussicht, ein Flüchtling auf einem fremden Planeten zu werden, gefiel Ghyl ganz und gar nicht.
Die Lords machten sofort deutlich, dass sie die Nacht dem Tag zum Reisen vorzogen. Mit entwaffnender Offenheit informierten sie Ghyl, dass ihnen die Strecke gar nicht mal so weit erschien, und daher würden sie das grelle Licht Capellas meiden. Doch eine Vielzahl wilder Tiere wanderte durch die Savanne. Eines fürchtete Ghyl besonders: eine sehnige Kreatur von zwanzig Fuß Länge mit schmalem, flachem Körper und acht langen Beinen. Aufgrund ihrer Fortbewegungsart nannte er sie ›den Schleicher‹. Im Dunkeln könnte das Wesen sich ungesehen an sie heranschleichen und sie mit seinen Klauen zerreißen. Und es gab auch noch weitere Biester, die nicht weniger schrecklich waren: kleine, hüpfende Tiere, deren Körper an mit Dornen gespickte Fässer erinnerten, riesige Schlangen, die auf Hunderten von winzigen Füßen dahinglitten und Rudel haarloser roter Wölfe, die die Gruppe zweimal auf die Bäume jagten. Daher weigerte sich Ghyl trotz der Forderung der Lords, bei Nacht zu wandern. Fanton drohte, ohne ihn weiterzugehen, doch nachdem er eine Reihe unheimlicher Schreie und ein furchterregendes Heulen gehört hatte, entschied er sich, im Schutz von Ghyls Waffe zu bleiben. Unter einem großen Schwammbaum entfachte Ghyl ein Feuer, und die Gruppe aß einen Teil ihres Proviants. Nun schnitt Ghyl das Thema an, das ihn am meisten beschäftigte. »Ich befinde mich in einer recht seltsamen Lage«,
sagte er Fanton und Ilseth. »Wie Ihr wisst, war ich Teil der Gruppe, die für Eure Unannehmlichkeiten verantwortlich ist.« »Diese Tatsache haben wir nicht vergessen«, erwiderte Fanton in überraschend höflichem Tonfall. »Das ist auch der Grund für mein Dilemma. Ich wollte weder Euch noch den Ladies irgendein Leid zufügen. Ich wollte nur die Jacht. Jetzt empfinde ich es als meine Pflicht, Euch in die Zivilisation zurückzubringen.« Fanton blickte ins Feuer und antwortete nur mit einem grimmigen, undurchschaubaren Nicken. »Ließe ich Euch allein«, fuhr Ghyl fort, »bezweifelte ich, dass Ihr überleben würdet. Aber ich muss auch an mich selbst denken. Ich will Euer Ehrenwort, dass Ihr mich nicht an die Behörden ausliefern werdet, wenn ich Euch in Sicherheit bringe.« Wütend spie Lady Jacinth: »Du wagst es, Forderungen an uns zu stellen? Sieh uns doch nur einmal an! Diese Schande! Diese Demütigung! Diese Unannehmlichkeiten…!« »Lady Jacinth, Ihr missversteht mich!«, unterbrach sie Ghyl. Ilseth machte eine gleichgültige Geste. »Also gut, ich stimme zu. Immerhin hat dieser Mann sein Bestes für uns getan.« »Was?«, rief Fanton leidenschaftlich. »Das hier ist die verabscheuungswürdige Laus, die mir meine Jacht gestohlen hat! Ich verspreche nur, dass er angemessen bestraft werden wird!« »In diesem Fall«, sagte Ghyl, »werden wir uns trennen. Von nun an werde ich meiner Wege gehen.« »Solange du uns die Waffe lässt, ist das kein Problem.« »Ha! Ich werde nichts dergleichen tun.« Ilseth sagte: »Komm schon, Fanton. Sei vernünftig. Das hier ist eine äußerst ungewöhnliche Situation. Wir müssen großherzig sein!« Er wandte sich an Ghyl. »Soweit es mich betrifft, ist der Akt der Piraterie vergessen.«
»Und Ihr, Lord Fanton?« Fanton grunzte säuerlich. »Na schön.« »Und die Ladies?« »Sie werden sich diskret verhalten… oder zumindest nehme ich das an.« Eine sanfte Brise wehte aus der Dunkelheit heran und brachte einen bösen Geruch mit, der Ghyl einen Schauder über den Rücken jagte. Die Lords und Ladies schienen es nicht zu bemerken. Ghyl stand auf und spähte in die Dunkelheit hinaus. Als er sich umdrehte, sah er, dass die Lords und Ladies sich bereits zum Schlafen niederlegten. »Nein, nein!«, zischte er aufgeregt. »Zur Sicherheit müssen wir so hoch in den Baum hineinklettern wie irgend möglich.« Die Lords blickten ihn an, rührten sich aber nicht. »Wie Ihr wollt«, sagte Ghyl. »Euer Leben gehört Euch.« Er schürte das Feuer mit einem abgebrochenen Ast und zog so den Ärger von Lord Fanton auf sich. »Muss das sein! Feuer ist etwas Verabscheuungswürdiges!« »Da draußen sind Tiere«, sagte Ghyl. »Das Feuer wird uns zumindest gestatten, sie zu sehen. Und ich rate Euch dringend, auf den Baum zu klettern.« »Es ist einfach lächerlich in den Zweigen zu hocken«, erklärte Lady Radance. »Wie sollen wir dort schlafen? Ist dir noch nicht einmal aufgefallen, wie müde wir sind?« »Auf dem Boden seid Ihr verwundbar«, sagte Ghyl höflich. »Im Baum werdet Ihr zwar nicht gut schlafen können, aber zumindest wärt Ihr dort ein wenig sicherer.« Er kletterte hinauf und legte sich auf eine Astgabel. Am Boden murmelten die Lords und Ladies nervös miteinander. Schließlich sprang Shanne auf und kletterte den Baum hinauf. Fanton half Lady Radance; gemeinsam ließen sie sich auf einem Ast neben Ghyl nieder. Lady Jacinth beschwerte sich bitterlich und weigerte
sich, höher als bis zu einem dicken Ast zehn Fuß über dem Boden zu klettern. Ilseth schüttelte verzweifelt den Kopf und machte es sich auf einem Ast ein Stück höher bequem. Das Feuer brannte herunter. Aus der Dunkelheit hallte ein dumpfes Klopfen und ein entferntes Heulen zu den Menschen herüber. Niemand sagte ein Wort. Die Zeit verging. Ghyl döste unruhig vor sich hin. Gegen Mitternacht bemerkte er einen ekelerregenden Gestank. Das Feuer war fast verloschen. Dann ertönten schwere, langsame Schritte. Eine riesige, dunkle Kreatur stapfte heran. Unter dem Baum hielt sie an; eine Pranke stand in der Glut. Dann griff sie hinauf, pflückte Lady Jacinth von ihrem niedrigen Ast und ging mit der hilflos schreienden Edeldame davon. Ghyl sah nicht genug, um zielen zu können. Alle kletterten höher, und niemand machte mehr ein Auge zu. Die Nacht war in der Tat lang. Fanton und Ilseth hockten schweigend in der Nähe des Wipfels, und Lady Radance flötete unentwegt wie ein trotziger Vogel, während Shanne von Zeit zu Zeit ein leises, verlorenes Wimmern ausstieß. Dann wurde es kalt und feucht, und Tau legte sich auf die Savanne; Lady Radance und Shanne schwiegen und wurden steif. Schließlich erschien im Osten ein Band aus grünem Licht, das sich rasch ausdehnte und die Farbe zu Rose wechselte; kurz darauf stieg dann die gleißend helle Scheibe von Capella über den Horizont. Die abgespannten Menschen kletterten vom Baum herunter. Ghyl machte ein Feuer, über das er allein sich zu freuen schien. Nach einem kurzen Frühstück in gedrückter Stimmung setzten die fünf ihren Weg nach Norden fort. Zu Ghyls Überraschung zeigte Lord Ilseth weder Trauer noch Entsetzen über den Verlust von Lady Jacinth, und auch die anderen
schien der Tod der Frau nicht im Mindesten zu berühren. Was für sein seltsames Volk!, wunderte sich Ghyl. Haben sie keine Gefühle, oder betrachten sie das Leben nur als Spiel? Und er lauschte den Lords und Ladies, die ihr Selbstvertrauen allmählich wiedergewannen und sich miteinander unterhielten, als wäre Ghyl nicht da. Fanton und Ilseth deuteten erneut in Richtung Hügel und drehten nach Westen ab, bis Ghyl sie wieder auf ihren ursprünglichen Kurs zurückrief. Am frühen Vormittag sammelten sich dunkle Wolken im Süden. Der Wind wurde immer stärker, und dann prasselte ein Hagelschauer auf die Wanderer nieder, wie Ghyl ihn noch nie erlebt hatte. Ghyl hielt die Arme über den Kopf, während die Lords und Ladies nach den Hagelkörnern schlugen, als wären es Insekten; Ghyl schaute ihnen erstaunt zu. Der Sturm hörte so plötzlich auf, wie er begonnen hatte; nach einer Stunde war der Himmel wieder klar, und Capella brannte auf die glitzernde Savanne herab. Doch die Lords und Ladies hatten den Mut verloren. Ihre wunderbaren, breitkrempigen Hüte hingen schlaff herab; ihre Slipper waren zerrissen und ihre reich verzierten Gewänder voller Flecken. Nur Shanne versank nicht in Schwermut – vielleicht aufgrund ihrer Jugend –, und sie ließ sich zu Ghyl zurückfallen. Zum ersten Mal, seit die Piraten das Schiff gekapert hatten, sprachen sie miteinander. Erstaunt stellte Ghyl fest, dass Shanne ihn nicht als den jungen Mann vom Bezirksball wiedererkannte; tatsächlich schien sie die ganze Geschichte schlicht vergessen zu haben. Als Ghyl sie daran erinnerte, sah sie ihn verwirrt an. »Aber… Was für ein Zufall! Du warst auf dem Bezirksball… und jetzt bist du hier!« »Ein wirklich, seltsamer Zufall«, stimmte Ghyl ihr traurig zu.
»Warum bist du so böse? Ein Pirat, ein Entführer! Du hast so unschuldig, so vertrauenswürdig gewirkt, wenn ich mich recht entsinne.« »Ja, da hast du Recht. Ich könnte dir die Veränderung erklären, aber du würdest es nicht verstehen.« »Es macht ohnehin keinen Unterschied. Mein Vater wird dich im selben Augenblick den Behörden ausliefern, da wir die Zivilisation erreichen. Ist dir das nicht bewusst?« »Vergangene Nacht haben er und Ilseth mir versprochen, es nicht zu tun!«, schrie Ghyl. Shanne blickte ihn verwundert an und schwieg. Gegen Mittag erreichten sie eine Baumreihe, die in der Tat an einen kleinen Wasserlauf grenzte. Später am Nachmittag kamen sie dann zu der Stelle, wo der Bach in einen flachen Fluss mündete, an dessen Ufer ein Pfad entlang führte, und nicht viel später gelangten sie zu einem verlassenen Dorf aus einem guten Dutzend grauer Holzhütten. Ghyl schlug vor, in der am besten erhaltenen die Nacht zu verbringen, und diesmal stimmten ihm die Lords ohne Widerrede zu. Die Innenwände der Hütte waren mit alten Zeitungen zugekleistert, deren Buchstaben Ghyl nicht lesen konnte; dennoch konnte er nicht anders, als ehrfürchtig dieses schier unverschämte Beispiel von Duplizierung anzustarren. Hier und dort waren verblasste Bilder zu sehen: Männer und Frauen in seltsamen Kostümen, Raumschiffe, Gebäude unbekannter Bauart und eine Karte von Maastricht, die Ghyl eine halbe Stunde lang studierte, ohne ihr einen Sinn entnehmen zu können. Capeila versank in einem farbenprächtigen Lichtermeer, das den traurigen malvenfarbenen Sonnenuntergängen von Halma so ganz und gar nicht ähnelte. Ghyl entzündete ein Feuer auf dem alten Steinherd, was die Lords wieder einmal ärgerte. »Muss es denn so warm und hell sein? Und all diese Flammen…«, beschwerte sich Lady Radance.
»Ich nehme an, er will uns etwas zu essen machen«, sagte Lord Ilseth. »Aber warum muss er uns deshalb hier rösten?«, knurrte Fanton. »Hätten wir das Feuer vergangene Nacht in Gang gehalten«, erwiderte Ghyl, »und hätte Lady Jacinth auf meinen Rat gehört und wäre höher in den Baum geklettert, dann würde sie jetzt vermutlich noch leben.« Nach diesen Worten schwiegen die Lords und Ladies, und ihre Blicke huschten nervös hin und her. Dann zogen sie sich in die dunkelste Ecke der Hütte zurück und pressten sich an die Wand – ein Verhalten, das Ghyl als doch recht merkwürdig empfand. Im Laufe der Nacht versuchte irgendetwas die wackelige Tür der Hütte aufzubrechen, die Ghyl versperrt hatte. Ghyl setzte sich auf und griff nach seiner Waffe. Im Herd brannte noch ein wenig Glut. Wieder erbebte die Tür; dann waren draußen Schritte zu hören – Schritte, die von einem Menschen zu stammen schienen. Ghyl folgte dem Geräusch der Schritte, die von der Tür zum Fenster wanderten. Vor dem Hintergrund des Sternenhimmels sah er den Kopf eines Menschen – oder zumindest den eines menschenähnlichen Wesens. Ghyl warf ein Stück Holz nach dem Kopf. Er traf, und irgendetwas schrie. Dann herrschte Stille. Einige Zeit später hörte Ghyl erneut Geräusche an der Vordertür: schweres Atmen, Kratzen und ein leises Quieken. Schließlich kehrte wieder Stille ein.
Am Morgen ging Ghyl vorsichtig zur Tür und öffnete sie behutsam. Auf dem Boden draußen war nicht die geringste Spur zu sehen, und nirgends wartete eine Falle darauf, ausgelöst zu werden. Aber was war dann der Grund für die nächtlichen Aktivitäten gewesen? Ghyl stand in der Tür und
suchte die Umgebung weiterhin nach irgendwelchen Spuren ab. Lord Ilseth trat hinter ihn. »Tritt zur Seite, wenn es dir nichts ausmacht.« »Einen Augenblick noch. Ich will nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.« »In Ordnung? Warum sollte nicht alles in Ordnung sein?« Ilseth schob Ghyl beiseite und trat hinaus. Unter seinen Füßen gab der Boden nach. Er riss sein Bein zurück, und an seinem Knöchel hing eine plumpe purpurfarbene Kreatur, die an einen fetten Fisch oder an eine in die Länge gezogene Kröte erinnerte. Ilseth rannte durchs Dorf und schlug nach dem Ding an seinem Bein. Dann stieß er plötzlich einen lauten Schmerzensschrei aus und hüpfte wild durch die Landschaft. Er verschwand hinter einer Reihe schwarzer Büsche und wurde nie mehr gesehen. Ghyl atmete tief durch. Mit einem Stück Holz stocherte er im Boden herum und fand vier weitere Fallen. Fanton schaute ihm über die Schulter, sagte aber nichts. Lady Radance und Shanne, die bis jetzt entsetzt in der Hütte gehockt und vor sich hin gewimmert hatten, brachten es schließlich über sich hinauszugehen. Vorsichtig verließ die Gruppe das schreckliche Dorf und setzte ihren Weg das Flussufer entlang fort. Stundenlang marschierten sie im Schatten riesiger Bäume mit rotbraunen Stämmen und üppigem grünen Blätterwerk. Hunderte von winzigen affenähnlichen Kreaturen hingen in den Ästen, kreischten und schnatterten und warfen dann und wann ein paar Zweige hinunter. Von Zeit zu Zeit überkam Ghyl das Gefühl, dass ihnen jemand folgte; dann wieder schienen ein paar Wellen im Fluss wie absichtlich neben ihnen her zu fließen. Gegen Mittag verschwanden diese Zeichen, und eine Stunde später erreichten sie kultiviertes Land: von Büschen begrenzte Felder voller Obst und Gemüse von allerlei Art. Kurz darauf betraten sie
eine kleine Stadt, die aus einer Reihe von unbemalten Holzhäusern am Ufer des Flusses bestand, der hier mit einem kleinen Kanal zusammenfloss. Die Stadtbewohner waren klein, besaßen runde Köpfe, schwarze Augen und harte Gesichter. Sie trugen grobe graue oder braune Gewänder mit spitzen Kapuzen und schmale Lederslipper; jeder einzelne hatte kabalistische Symbole auf die Wangen tätowiert. Es war kein angenehmes Volk, und die Menschen beäugten die Fremdlinge mit mürrischer Gleichgültigkeit. Fanton sprach sie in scharfem Tonfall an und erhielt eine Antwort in einer Sprache, die Ghyl zu seiner Überraschung trotz des starken Akzents durchaus verstehen konnte. »Was ist das für eine Stadt?« »Attegase.« »Wie weit ist die nächste größere Stadt entfernt?« »Das ist wohl Daillie… ungefähr zweihundert Meilen.« »Wie erreicht man Daillie möglichst schnell?« »Es gibt hier kein ›möglichst schnell‹. Wir haben keinen Grund zur Eile. In fünf Tagen kommt der Wasserbus. Mit dem könnt ihr nach Reso fahren und dann weiter mit dem Gleiter nach Daillie.« »Nun denn, ich muss mit den Behörden sprechen. Wo ist das Spaysystem?« »Das Spaysystem? Was ist das?« »Ein Kommunikationsgerät. Das Telefon, das Funkgerät…« »So etwas haben wir nicht. Das hier ist Attegase, nicht Hyagansis. Wenn ihr solche Spielereien sucht, solltet ihr besser dorthin gehen.« »Nun, und wo liegt dieses Hyagansis?«, verlangte Fanton zu wissen, woraufhin sein Gegenüber und die Zuschauer in lautes Gelächter ausbrachen. »Es gibt kein Hyagansis! Das ist eine Redensart! O Mann!«
Fanton atmete tief durch und drehte sich um. Ghyl fragte: »Wo können wir die nächsten fünf Tage unterkommen?« »Da drüben am Kanal gibt es so eine Art Taverne, wo sich Trinker und Kanalschiffer rumtreiben. Vielleicht wird die alte Voma sich um euch kümmern; vielleicht aber auch nicht, wenn sie wieder zu viel gefressen hat. Sie ist so aufgedunsen, dass sie sich kaum noch um sich selbst kümmern kann.« Die Wanderer schleppten sich zur Taverne neben dem Kanal: einem seltsamen Gebäude aus fleckigem Holz mit einem gewaltigen Spitzdach, in das in unregelmäßigen Abständen schiefe Mansardenfenster eingelassen worden waren. Eine Ecke des Dachs war weggeschnitten, um einem Vordach Platz zu machen, das den Weg zum Eingang schützte. Die Taverne war allerdings von außen weit pittoresker als von innen. Die Wirtin, eine schlampige Frau in schwarzer Schürze, willigte ein, die Gruppe zu beherbergen. Sie streckte die Hand aus und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Lasst mich euer Geld sehen. Ich kann es mir nicht leisten, gutes Essen an Leute zu verschwenden, die nicht bezahlen können, und ich habe noch nie einen so verrückten Haufen wie euch gesehen, wenn ich mal so sagen darf. Was ist mit euch passiert? Seid ihr aus einer Raumschiffschleuse gesprungen?« »So ähnlich«, antwortete Ghyl. Er warf einen kurzen Blick zu Fanton und holte das Geld aus der Tasche, dass er sich aus dessen Gepäck genommen hatte. »Wie viel wollt Ihr?« Voma inspizierte die Münzen. »Was ist das?« »Interplanetarische Valuta«, erwiderte Fanton heftig. »Hattet Ihr denn noch nie Gäste von anderen Welten?« »Ich habe das Glück, dann und wann Leute vom Kanal zu bedienen, denen ich meistens alles auf Schuldschein verkaufen muss. Aber glaubt ja nicht, ich sei dumm, mein Herr, denn ich
bin für meine Wutausbrüche bekannt und habe schon mehr als einem sogenannten Gast die Nase gebrochen.« »Dann zeigt uns unsere Zimmer. Man wird Euch schon bezahlen, keine Angst.« Die Zimmer waren einigermaßen sauber, aber das Essen – gekochtes Gemüse in einer ranzig riechenden Sauce – entsprach nicht gerade dem Geschmack der Edelleute. Ghyl fragte: »Das sind doch diese ›Fettrüben‹, oder?« »Das sind Fettrüben, ja. In Teig gebacken und fein gewürzt. Ich selbst darf sie nicht anfassen, oder ich muss dafür bezahlen.« »Bringt uns frisches Obst«, verlangte Fanton. »Oder eine einfache Brühe.« »Tut mir Leid, mein Herr. Ich kann Euch aber einen Krug Swabowein bringen.« »Sehr gut. Bringt den Wein und vielleicht noch etwas Brot.« So verging der Tag. Im Laufe des Abends erklärte Ghyl der Wirtin, dass sie aus dem Süden gekommen seien, wo ihr Luftboot hatte notlanden müssen. Schweigen senkte sich über die Gäste; alle hatten ihm zugehört. »Aus dem Süden? Ihr seid durch die Rakanga marschiert?« »Ich glaube, so nennt man sie, ja. In einem verlassenen Dorf hat uns irgendetwas angegriffen. Wer oder was war das?« »Die Boun höchstwahrscheinlich. Manche behaupten, es seien Menschen. Sie sind auch der Grund, warum das Dorf verlassen ist. Die Boun haben alle geholt. Diese hinterlistigen, grausamen Biester.«
Am folgenden Tag traf Ghyl auf Shanne, die am Kanal entlang schlenderte. Sie protestierte nicht dagegen, dass er sich ihr anschloss, und irgendwann setzten sie sich nebeneinander ans
Ufer, wo sie vor dem Licht der untergehenden Sonne von Capella sicher waren. Eine Zeitlang beobachteten sie schweigend die Boote, die an ihnen vorüberglitten, angetrieben von großen Segeln und bisweilen auch von elektrischen Feldern. Ghyl versuchte, den Arm um Shanne zu legen, doch sie entzog sich ihm. »Komm schon«, sagte Ghyl. »Als wir an einem anderen Fluss so beisammen saßen, warst du nicht so hochnäsig.« »Das war der Bezirksball, etwas vollkommen anderes, und du warst damals weder Vagabund noch Pirat.« »Ich dachte, das mit der Piraterie hätte sich mittlerweile erledigt.« »Nein, hat es nicht. Vater plant, dich im selben Augenblick anzuzeigen, da wir Daillie erreichen.« Ghyl lehnte sich auf den Ellbogen zurück. »Aber er hat versprochen, mich nicht zu melden. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben!« Shanne blickte ihn mit einem überraschten Lächeln an. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass er sich an eine Abmachung mit einem einfachen Empfänger halten würde? Verträge gelten nur zwischen Gleichen. Er hatte immer die Absicht, dich bestrafen zu lassen, und zwar schwer.« Ghyl nickte. »Ich verstehe… Warum hast du mich gewarnt?« Shanne zuckte mit den Schultern und schürzte die Lippen. »Ich nehme an, ich bin pervers. Oder grob. Oder gelangweilt. Es gibt niemanden, mit dem ich hier reden könnte, außer mit dir, und ich weiß, dass du nicht wirklich böse bist wie die anderen.« »Danke.« Ghyl stand auf. »Ich glaube, ich gehe wieder in die Taverne zurück.« »Ich werde dich begleiten… Bei so viel Licht und Luft werde ich rasch nervös.« »Ihr seid ein bizarres Volk.«
»Nein, ihr seid… unaufmerksam. Strukturen und Schatten bemerkt ihr nicht.« Ghyl ergriff ihre Hände, und einen Augenblick lang standen sie am Ufer einander gegenüber und blickten sich in die Augen. »Warum vergisst du nicht einfach, dass du eine Lady bist, und kommst mit mir? Das würde allerdings bedeuten, das Leben eines Vagabunden zu führen; du müsstest alles aufgeben, woran du gewöhnt bist und…« »Nein«, sagte Shanne und lächelte kalt zum anderen Ufer hinüber. »Du darfst mich nicht missverstehen… was du allerdings offenbar tust.« Ghyl verbeugte sich formell. »Es tut mir Leid, dass ich Euch derart in Verlegenheit gebracht habe, edle Dame.« Er ging in die Taverne zurück und suchte Voma. »Ich bin weg. Hier…« er gab ihr die Münzen »… das sollte reichen für das, was ich Euch schulde.« Voma starrte auf die Münzen. »Was ist mit den anderen? Dieser sauertöpfische Lord Fanton hat mir gesagt, Ihr würdet für alle bezahlen.« Ghyl lachte verächtlich. »Haltet Ihr mich für einen Idioten? Seht zu, dass er Euch selbst bezahlt.« »Wir Ihr wünscht, mein Herr.« Voma ließ die Münzen in ihrer Börse verschwinden. Ghyl ging in sein Zimmer, schnappte sich sein Bündel, rannte zum Kanal hinunter und traf gerade rechtzeitig dort ein, um auf eine vorbeifahrende Bark zu springen. Sie war bis oben hin mit Fellen und eingelegten Fettrüben beladen und stank zum Steinerweichen; aber nichtsdestoweniger war sie ein Transportmittel. Ghyl traf eine Abmachung mit dem Bootsführer und brachte sein Bündel zur windabgewandten Seite aufs Vorderdeck. Dort ließ er sich dann nieder, betrachtete die Landschaft und dachte über seine Situation nach. Reisen, Abenteuer, finanzielle Unabhängigkeit: Das war das Leben, nach dem er sich gesehnt hatte, und das
hatte er auch erreicht – abgesehen von der finanziellen Unabhängigkeit. Er zählte sein Geld: zweihundertzwölf interplanetarische Einheiten, das sogenannte Valuta. Es würde für drei Monate reichen, vielleicht auch für länger, wenn er umsichtig war. Das war auch eine Art von finanzieller Unabhängigkeit. Ghyl lehnte sich gegen einen Stapel Felle, betrachtete die langsam vorbeigleitenden Bäume, dachte über die Vergangenheit und die übel riechende Gegenwart nach und fragte sich, was wohl die Zukunft für ihn bereithielt.
Kapitel Siebzehn
Eine Woche später legte die Bark an einer Betonmole in Daillie an. Ghyl sprang ans Ufer. Er erwartete halb, von Wohlfahrtsagenten empfangen zu werden oder was auch immer hier als Ordnungshüter durchging; aber die Mole war leer, abgesehen von einem Paar Schauermänner, die die Bark festmachten, und diese beachteten ihn gar nicht. Ghyl ging in die Stadt hinein. Zu beiden Seiten der Straße befanden sich Lagerhäuser und Manufakturen aus weißem Beton und mit Fenstern aus grünem Glas und sanft gewellten Schaumbetondächern. Alles leuchtete und funkelte im Licht von Capella. Ghyl marschierte Richtung Nordosten auf das Stadtzentrum zu. Ein frischer Wind wehte die Straße hinunter, zerzauste Ghyls abgerissene Kleider, und er hoffte, dass die Brise auch den Gestank der Barke davontrug. Heute schien ein Feiertag zu sein, denn die Straßen waren geradezu unheimlich leer; in den sauberen Gebäuden herrschte Stille; nicht ein Geräusch war zu hören, abgesehen vom Rauschen des Windes. Eine Stunde lang folgte Ghyl der im Licht Capellas strahlenden Straße und traf nicht eine Menschenseele. Schließlich erreichte die Straße eine Hügelkuppe, und dahinter erstreckte sich eine wahrhaft gigantische Stadt, die von hundert Glasprismen verschiedener Größe beherrscht wurde; einige von ihnen waren sogar größer als die Gerüste im VashmontBezirk, und jedes einzelne glitzerte und strahlte. Ghyl setzte seinen Weg die sonnendurchflutete Straße entlang fort und gelangte so in einen Bezirk voll würfelförmiger weißer Häuser. Jetzt waren auch Menschen zu sehen: braunhäutiges, nicht sonderlich großes Volk mit
kantigen Gesichtern, schwarzem Haar und schwarzen Augen, das sich kaum von den Menschen in Attegase unterschied. Sie hielten in ihrem Tun inne, als Ghyl an ihnen vorüberging. Immer deutlicher wurde er sich bewusst, wie sehr er stank; seine Kleidung war verdreckt, sein Haar verfilzt, denn die ganze Fahrt über hatte er sich weder rasieren noch waschen können. Eine Seitenstraße hinunter erspähte er eine Markthalle: ein riesiges, neunseitiges Gebäude mit durchsichtigen Dachplatten, jede in einer anderen Farbe. Ein alter Mann, der sich auf einen Stock stützte, wies ihm den Weg zu einer Geldwechselstube. Ghyl gab dem Geldwechsler fünf seiner Münzen und erhielt dafür eine Handvoll Metallscheiben. Damit kaufte er sich einheimische Kleidung und Stiefel, ging zu einem öffentlichen Ruheraum, wusch sich, so gut es ging, und wechselte die Kleidung. Ein Friseur rasierte ihn und schnitt ihm das Haar der hiesigen Mode entsprechend. Ghyl wirkte nun weit weniger auffällig, als er seinen Weg Richtung Stadtzentrum fortsetzte, wobei er sich hauptsächlich von einem öffentlichen Rollweg vorwärts tragen ließ. In einer nicht allzu teuren Herberge mietete er sich ein Zimmer, von wo aus er den Fluss überblicken konnte; dann badete er in einer achteckigen Wanne; das Wasser hatte er mit Dufthölzern versetzt. Drei kahlgeschorene Kinder, deren Geschlecht nicht zu erkennen war, warteten ihm dabei auf. Sie sprühten ihn mit öligem Schaum ein, schlugen ihn mit weichen Federbündeln und schütteten immer wieder frisches Wasser über ihn, mal heiß, mal kalt. Erfrischt schlüpfte Ghyl wieder in seine neuen Kleider und wanderte in den Spätnachmittag hinaus. Am Abend aß er in einem Gasthaus, dessen Fenster mit Wandschirmen verstellt waren, die jenen nicht unähnlich waren, welche in Ambroy hergestellt wurden. Ghyls Interesse daran verflog jedoch sofort, als er erkannte, dass die Schirme aus einem
synthetischen Material gefertigt waren. Dabei fiel ihm auf, dass er in ganz Daillie nur wenige natürliche Stoffe gesehen hatte. Es gab hier Unmengen von Beton, Glas und allen möglichen Arten künstlichen Materials, doch nur wenig Holz, Stein oder Keramik. Dieser Mangel verlieh Daillie einen sterilen Charakter; die ganze sonnenverbrannte Stadt wirkte wie vom Wind leergefegt. Capella versank hinter den Glastürmen. Die Dämmerung senkte sich über die Stadt, und in dem Gasthaus wurde es dunkel. Die Kellner brachten Glaskolben an jeden Tisch, in denen jeweils ein Dutzend Insekten umherschwirrten, die in den unterschiedlichsten blassen Farben leuchteten. Ghyl lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, nippte an seinem wohl duftenden Tee und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen den leuchtenden Insekten und dem lebhaften Volk von Daillie an den Nachbartischen auf. Die Rakanga-Savanne, die Bouns in dem verlassenen Dorf, Attegase und Vomas Taverne schienen unendlich weit entfernt zu sein. Die Ereignisse an Bord der Raumjacht waren sogar nur noch ein halb vergessener Albtraum. Und die Holzschnitzerwerkstatt am Undle-Platz? Ghyls Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lächeln. Er dachte an Shanne. Wie schön wäre es, wenn sie ihm hier jetzt gegenüber sitzen würde, das Kinn in die Hände gestützt und mit funkelnden Augen im Licht der Insekten. Wie viel Spaß sie haben könnten, wenn sie gemeinsam die Stadt erkundeten! Und wenn sie dann erst zusammen zu fernen Planeten flogen…! Ghyl schüttelte den Kopf. Das war ein Traum, vollkommen unmöglich. Er würde schon von Glück sagen können, wenn Lord Fanton in seiner Ungeduld und durch die Umstände vorwärts getrieben vergessen würde, ihn wegen Piraterie anzuzeigen. Wäre er bei der Gruppe geblieben, so dass der hohe Herr ihn ständig vor Augen hatte, hätte nichts Lord
Fanton davon abhalten können, sofort zu den örtlichen Behörden zu rennen, sobald sie einen Fuß nach Daillie gesetzt hätten. Aber aus den Augen, aus dem Sinn; Lord Fanton könnte es durchaus als unter seiner Würde betrachten, gegen einen schlichten Empfänger… Ghyl kehrte in seine Unterkunft zurück und ging in der Überzeugung zu Bett, Lord Fanton, Lady Radance und Shanne nie mehr wiederzusehen. Daillie war nicht nur groß in Bezug auf ihre Fläche und die Einwohnerzahl; die Stadt besaß auch einen besonderen Charakter. Sie hatte etwas Flüchtiges an sich, das man nicht genau benennen konnte. Die einzelnen Komponenten waren jedoch leicht zu identifizieren: Über die weite, sonnenbeschienene Fläche wehte ständig ein frischer Wind; die sauberen Gebäude waren von homogener Bauweise und bestanden ausnahmslos aus synthetischem Material; das Volk war äußerst lebhaft, doch schien es zugleich auch sehr zurückhaltend zu sein, da jeder offenbar ausschließlich seinen eigenen Angelegenheiten nachging. Der Raumhafen lag in der Nähe des Stadtzentrums. Schiffe aus dem gesamten menschlichen Raum kamen nach Daillie, doch erregten sie nicht das mindeste Interesse. Es gab keine Enklaven für Fremdweltler, und Spezialitäten von fremden Planeten wurden nur in wenigen Gasthöfen feilgeboten; die Zeitungen und Magazine beschäftigten sich vorwiegend mit inneren Angelegenheiten: Sport, Wirtschaft und die Aktivitäten der Vierzehn Familien und ihrer engsten Mitarbeiter. Verbrechen war entweder nicht existent, oder es wurde absichtlich ignoriert. Tatsächlich sah Ghyl keinen einzigen Gesetzeshüter: Es gab weder eine Polizei noch eine Miliz oder sonst welche uniformierten Amtsträger. Am dritten Tag seines Aufenthalts zog Ghyl in eine billigere Herberge in der Nähe des Raumhafens tun; am vierten Tag
erfuhr er vom Städtischen Informationsbüro. Sofort machte er sich auf den Weg dorthin. Der Amtmann notierte Ghyls Wünsche, arbeitete ein paar Augenblicke lang an einem Rechner und drückte dann ein paar Knöpfe auf einer Tastatur. Lichter blinkten, und ein Stück Papier wurde auf den Tisch ausgeworfen. »Das ist nicht viel«, sagte der Amtmann. »Enverios, ein Pathologe aus Gangalaya, ist im vergangenen Jahrhundert gestorben. H.I.… Nein? Hier ist ein Emphyrio, früher Despot von Aume… was auch immer ›Despot‹ heißen mag. Und es gibt auch noch einen Enfero, einen Musiker der Dritten Ära.« »Was ist mit diesem Emphyrio, dem Despoten von Aume? Gibt es noch weitere Informationen zu ihm?« »Nur das, was ich Euch gerade gesagt habe… und natürlich die H.I.-Referenz.« »Was heißt ›H.I.‹?« »Das Historische Institut der Erde, welches für diesen Eintrag verantwortlich ist.« »Könnte das Institut mich mit noch mehr Informationen versorgen?« »Das nehme ich doch an. Es besitzt detaillierte Aufzeichnungen aller bedeutenden Ereignisse in der menschlichen Geschichte.« »Und wie komme ich an diese Aufzeichnungen ran?« »Kein Problem. Wir werden einen Suchantrag stellen. Das kostet fünfunddreißig Bice. Allerdings braucht ein Paket von der Erde hierher gut drei Monate.« »Das ist eine lange Zeit.« Da stimmte ihm der Amtmann zu. »Aber ich kann Euch keinen schnelleren Weg anbieten… Es sei denn, Ihr wollt selbst zur Erde fliegen.« Ghyl verließ das Informationsbüro und fuhr per Bodenwagen zum Raumhafen. Das Terminal war eine riesige Glaskuppel,
die von einem grünen Rasen umgeben war, mit Zufahrtsstraßen aus Beton und Parkplätzen. Phantastisch!, dachte Ghyl, der sich noch sehr gut an den schmuddeligen Raumhafen von Ambroy erinnerte. Trotzdem fehlte ihm etwas; aber was? Das Geheimnisvolle? Die Romantik? Und er fragte sich, ob die Kinder von Daillie wohl die gleiche Ehrfurcht und das gleiche Staunen empfanden, wenn sie sich auf ihren Raumhafen schlichen, so wie Ghyl und Floriel es in ihrer Kindheit getan hatten… der verräterische Floriel. Dieser Gedankengang führte Ghyl auch wieder zu Lord Fanton; doch allen diesbezüglichen Spekulationen wurde ein jähes Ende bereitet, nachdem er die ersten paar Schritte ins Terminal getan hatte. Kaum fünfzig Fuß von ihm entfernt stand Shanne. Sie trug ein frisches weißes Kleid und silberne Sandalen; ihr Haar war sauber und glänzte, dennoch wirkte sie abgehärmt und erschöpft, und ihr Gesicht besaß eine ungesunde rosa-purpurne Farbe. Unauffällig huschte Ghyl hinter einen Stützpfeiler und ließ seinen Blick durchs Terminal schweifen. Am Schalter standen Lord Fanton und Lady Radance. Beide wirkten deutlich mitgenommen, als wäre der Marsch durch die Savanne noch lange nicht vorüber. Shanne gesellte sich zu ihnen, und gemeinsam durchquerten sie das Terminal. Selbst hier, wo Menschen aus den unterschiedlichsten Welten sich mischten, fielen sie ob ihrer Hochnäsigkeit und Distanziertheit auf… Das war eben ›der Unterschied‹. Ghyl war nun vollkommen sicher, dass Lord Fanton ihn nicht bei den Behörden angezeigt hatte. Tatsächlich glaubte Fanton vermutlich, Ghyl habe den Planeten schon längst verlassen. Vorsichtig erledigte Ghyl seine eigenen Angelegenheiten. Er erfuhr, dass er mit zwei verschiedenen Schiffslinien zur Erde gelangen konnte, und zwar zu unterschiedlichen Preisen und
mit unterschiedlichem Komfort. Das billigste Ticket kostete eintausendzweihundert Bice, weit mehr als Ghyl besaß. Ghyl verließ den Raumhafen und kehrte ins Stadtzentrum zurück. Wenn er die Erde besuchen wollte, musste er eine große Summe Geldes verdienen, doch wusste er nicht wie. Vielleicht sollte er doch einfach den Amtmann im Informationsbüro bitten, ihm die gewünschten Informationen auf dem üblichen Weg zu besorgen… Mit diesen Gedanken schlenderte Ghyl über die Granvia, eine Straße voller Luxushändler, die alle möglichen Waren vertrieben, und hier stieß er auf einen Gegenstand, dessen Anblick alle anderen Gedanken aus seinem Kopf vertrieb. Der Gegenstand war ein geschnitzter Wandschirm von wahrhaft edlen Ausmaßen, der im Schaufenster von Jodel Heurisx, Mercator, stand. Ghyl blieb unvermittelt stehen und näherte sich dem Fenster. Der Schirm zeigte ein Gitter, das mit Ranken befestigt war. Hunderte winziger Gesichter lugten ernst zwischen den Ranken hervor, und auf einem Schild stand ›Erinnere dich meiner‹ zu lesen. In der unteren rechten Ecke entdeckte Ghyl sein eigenes Kindergesicht und nicht weit davon entfernt das seines Vaters Amiante. Ghyl traten die Tränen in die Augen, und er wandte sich ab. Als er wieder sehen konnte, drehte er sich erneut zu dem Schirm um. Der Preis war vierhundertfünfzig Bice. Ghyl rechnete die Summe in Valuta und dann in Gutscheine um… Und dann rechnete er erneut. Das musste ein Irrtum sein: nur vierhundertfünfzig Bice? Amiante hatte dafür umgerechnet fünfhundert Bice erhalten: Das war wenig genug, sicher, besonders wenn man bedachte, wie viel Liebe und Leidenschaft Amiante stets in seine Arbeit gelegt hatte. Seltsam, dachte Ghyl, wirklich seltsam. Tatsächlich sogar… erstaunlich.
Er betrat den Laden. Ein Mann in der schwarzweißen Robe der Handelsfunktionäre trat ihm entgegen. »Ihr wünscht, mein Herr?« »Der Wandschirm im Fenster… Der Preis ist vierhundertfünfzig Bice?« »Das ist korrekt, mein Herr. Er ist zwar etwas teuer, aber es ist auch ein hervorragendes Stück.« Verwirrt verzog Ghyl das Gesicht. Er ging ans Fenster und untersuchte den Schirm aufmerksam; vielleicht war er ja beschädigt. Er schien jedoch in perfektem Zustand zu sein. Ghyl blickte noch einmal genauer hin… und alles Blut wich ihm aus dem Gesicht. Langsam drehte er sich zu dem Funktionär um. »Dieser Schirm ist eine Reproduktion.« »Natürlich, mein Herr. Was habt Ihr denn gedacht? Das Original ist nicht zu bezahlen. Es hängt im Museum des Ruhms.« Jodel Heurisx war ein energischer Mann mit fröhlichem Gesicht. Er war mittleren Alters, breit und kräftig gebaut und besaß ein entschlossenes Auftreten. Sein Büro war ein großer, sonnendurchfluteter Raum. Nur wenig Möbel standen darin: ein Kabinettschrank, ein Tisch, eine Anrichte, zwei Stühle und ein Hocker. Heurisx saß auf dem Hocker, Ghyl auf dem Rand eines der beiden Stühle. »Nun denn, junger Mann, wer seid Ihr?«, fragte Heurisx. Ghyl fiel es schwer, eine zusammenhängende Erklärung abzugeben. Er platzte heraus: »Der Schirm in Eurem Fenster… Das ist eine Reproduktion.« »Ja, und zwar eine gute. Sie besteht aus gepresstem Holz anstatt aus Plastik. Natürlich ist das nichts im Vergleich zum Original. Was ist damit?« »Wisst Ihr, wer den Schirm gemacht hat?« Heurisx musterte Ghyl und nickte. »Der Schirm trägt die Signatur ›Amiante‹. Amiante ist ein Mitglied der Thurible-
Kooperation, ohne Zweifel ein Mann von hohem Prestige und beachtlichem Vermögen. Thurible-Waren sind niemals billig, aber sie sind auch wirklich von außerordentlicher Qualität.« »Darf ich fragen, woher Ihr den Schirm bekommen habt?« »Das dürft Ihr, und ich werde antworten: von der ThuribleKooperation.« »Hat sie ein Monopol?« »Für solche Schirme? Ja.« Ghyl saß eine halbe Minute einfach nur da und ließ den Kopf auf die Brust hängen. Dann: »Nehmen wir einmal an, irgendjemand könnte dieses Monopol brechen.« Heurisx lachte und zuckte mit den Schultern. »Das ist keine Frage der Zerschlagung eines Monopols, sondern der Vernichtung von etwas, das ein starker kooperativer Organismus zu sein scheint. Warum zum Beispiel sollte dieser Amiante sich mit einem Neuling abgeben, wo doch ohnehin schon alles gut für ihn läuft?« »Amiante war mein Vater.« »In der Tat!… Habt Ihr ›war‹ gesagt?« »Ja. Er ist tot.« »Mein Beileid.« Und Jodel Heurisx musterte Ghyl mit vorsichtiger Neugier. »Für die Herstellung dieses Schirms«, sagte Ghyl, »hat er ungefähr fünfhundert Bice erhalten.« Jodel Heurisx lehnte sich entsetzt zurück. »Was? fünfhundert Bice? Nicht mehr?« Ghyl schnaufte verächtlich. »Ich habe Schirme geschnitzt, für die ich nicht mehr als fünfundsiebzig Gutscheine bekommen habe. Das sind ungefähr zweihundert Bice.« »Erstaunlich«, murmelte Jodel Heurisx. »Wo kommt Ihr her?« »Aus der Stadt Ambroy auf Halma. Das liegt weit weg von hier, jenseits von Mirabilis.«
»Hmmm.« Heurisx kannte Halma offenbar oder zumindest den Mirabiliscluster. »Dann verkaufen die Handwerker von Ambroy also an Thurible?« »Nein. Unsere Handelsorganisation nennt sich Boimarc. Boimarc muss mit Thurible handeln.« »Vielleicht sind dieses Boimarc und die ThuribleKooperation ein und dasselbe«, gab Jodel Heurisx zu bedenken. »Vielleicht werdet Ihr von Eurem eigenen Volk betrogen.« »Unmöglich«, knurrte Ghyl. »Die Boimarc-Einkäufe werden von den Gildenmeistern abgesegnet, und die Lords nehmen sich ihren Anteil davon. Wenn da irgendjemand was veruntreut, würden die Lords genauso betrogen werden wie die Empfänger.« »Auf jeden Fall fährt hier irgendjemand beträchtliche Gewinne ein«, sagte Jodel Heurisx. »So viel ist klar. Irgendjemand ganz oben an der Spitze des Monopols.« »Nehmen wir also noch einmal an, Ihr wärt in der Lage, das Monopol zu brechen…« Heurisx klopfte sich mit dem Finger aufs Kinn. »Wie sollte ich das anfangen?« »Wir könnten Ambroy in einem Eurer Schiffe besuchen und direkt von Boimarc kaufen.« Heurisx hob abwehrend die Hände. »Haltet Ihr mich etwa für einen Mogul? Verglichen mit den Vierzehn bin ich nur ein ganz kleiner Fisch. Ich besitze keine Raumschiffe.« »Könnt Ihr denn ein Raumschiff chartern?« »Unter enormem Kostenaufwand. Aber natürlich wäre der Profit noch viel größer… falls Boimarc direkt an uns verkaufen würde.« »Warum sollten sie es nicht tun? Wir könnten ihnen das Zwei- bis Dreifache ihrer bisherigen Einnahmen bieten. Jeder gewinnt dadurch: die Handwerker, die Gilden, die
Wohlfahrtsagenten, die Lords. Niemand verliert etwas außer Thurible, die sich schon lange genug auf ihrem Monopol ausgeruht haben.« »Das klingt vernünftig.« Heurisx lehnte sich gegen den Tisch. »Wie stellt Ihr Euch Eure eigene Rolle dabei vor? Im Augenblick scheint Ihr mir außer dieser Information nicht viel bieten zu können.« Ghyl starrte ihn an. »Im Moment muss Euch mein Leben reichen. Wenn ich gefasst werde, wird man mich rehabilitieren.« »Ihr seid ein Verbrecher?« »In gewissem Sinne ja.« Ghyl spürte, wie ihm vor Wut das Blut in die Wangen stieg; dennoch gelang es ihm, seine Stimme beherrscht klingen zu lassen. »Natürlich würde es mir sehr gefallen, finanziell unabhängig zu sein; aber das ist nebensächlich. Mein Vater ist ausgebeutet worden. Thurible hat ihm sein Leben gestohlen, und dafür sollen sie bezahlen. Ich wäre mehr als glücklich, wenn ich nur noch das in meinem Leben erreichen würde.« Heurisx lachte laut auf. »Nun, Ihr könnt versichert sein, dass ich weder Euch noch sonst irgend jemanden betrüge. Nehmen wir einmal an, dass ich nach gründlichem Nachdenken zustimme, ein Schiff auf meinen Namen zu chartern und die finanziellen Risiken zu übernehmen… dann glaube ich, sollte ich zwei Drittel des Gewinns bekommen und Ihr eines.« »Das ist mehr als fair.« »Kommt morgen wieder; dann werde ich Euch meine Entscheidung mitteilen.«
Vier Tage später trafen Ghyl und Jodel Heurisx sich in einem Café am Flussufer, wo die Kaufleute von Daillie die meisten ihrer Geschäfte abwickelten. Heurisx wurde von einem jungen
Mann begleitet, der knapp zehn Jahre älter als Ghyl war und wenig zum Gespräch beizutragen hatte. »Ich habe mir ein Schiff mit Namen Grada besorgt«, sagte Jodel Heurisx. »Es ist größer, als ich beabsichtigt hatte; aber andererseits kostet es mich auch keine Chartergebühren, denn es gehört meinem Bruder Bonar Heurisx.« Er deutete auf seinen Gefährten. »Wir werden uns gemeinsam an diesem Unternehmen beteiligen. Er wird eine Ladung Spezialinstrumente für Luschein auf Halma zusammenstellen, wo es laut Rolvers Handelsführer einen geeigneten Markt dafür gibt. Damit werden wir zwar keinen großen Profit erwirtschaften, aber genug, um die Kosten abzudecken. Dann werdet Ihr und er nach Ambroy fliegen, um dort Handwerkswaren einzukaufen, wie Ihr es beschrieben habt. Auf diese Weise wird das finanzielle Risiko auf ein Minimum reduziert.« »Mein persönliches Risiko besteht unglücklicherweise weiterhin.« Jodel Heurisx warf ein Stück emailliertes Metall auf den lisch. »Wenn Euer Photo darin eingeprägt ist, wird Euch das als Tal Gans identifizieren, Einwohner von Daillie. Wir werden Eure Haut dunkler machen, Eure Haarpracht ein wenig lichten und Euch mit angemessener Kleidung ausstatten. Niemand wird Euch erkennen außer vielleicht einem engen Freund; doch solch eine Begegnung werdet Ihr vermutlich ohnehin vermeiden wollen.« »Ich habe keine engen Freunde.« »Dann überantworte ich Euch jetzt der Obhut meines Bruders. Er ist der Ungezügeltere von uns beiden und ein wenig unvorsichtiger als ich. Um es kurz zu machen: Er ist genau der richtige Mann für solch ein Unternehmen.« Jodel Heurisx stand auf. »Ich werde euch beide jetzt alleinlassen, und ich wünsche Euch viel Glück.«
Kapitel Achtzehn
Es war ein seltsames Gefühl, wieder nach Ambroy zurückzukehren. Wie vertraut und lieb und doch gleichzeitig so düster und feindselig wirkte die halb in Ruinen liegende Stadt. In Luschein hatte es keinerlei Schwierigkeiten gegeben, auch wenn sie ihre Instrumente für weit weniger hatten verkaufen müssen, als Bonar Heurisx erwartet hatte – seitdem war er recht niedergeschlagen. Dann ging es um den Planeten herum, über das Tiefe Meer, nach Norden an der Baro-Halbinsel und Salula vorbei, über die Große Bucht hinweg und die Küste von Fortinone entlang. Zum letzten Mal ging Ghyl die Einzelheiten seiner neuen Identität durch. Unter ihnen erstreckte sich Ambroy. Die Grada akzeptierte das Landeprogramm des Towers und sank auf den vertrauten Raumhafen hinab. Die Landeformalitäten in Ambroy waren schier unglaublich langwierig; zwei Stunden vergingen, bevor Ghyl und Bonar Heurisx ins fahle Sonnenlicht des Vormittags hinausgehen durften. Ghyl rief über Spay bei Boimarc an und erfuhr, dass Großlord Dugald zwar anwesend, aber sehr beschäftigt sei und daher niemanden ohne vorherige Anmeldung empfangen könne. »Dann erklärt Lord Dugald bitte«, sagte Ghyl, »dass wir vom Planeten Maastricht kommen, um mit ihm über die ThuribleKooperation zu sprechen, und dass es sehr zu seinem Vorteil wäre, uns so schnell wie möglich zu treffen.« Sie warteten drei Minuten; dann erschien der BoimarcFunktionär wieder und sagte ihnen, dass Lord Dugald ein paar Minuten für sie erübrigen könne, wenn sie sofort herüberkämen.
»Wir sind gleich da«, sagte Ghyl. Per Oberbahn fuhren sie bis an den äußersten Rand der Oststadt, einem Distrikt mit verlassenen Straßen und leeren Arealen voller Trümmer und zerbrochenem Glas; nur wenige Gebäude waren noch bewohnt. Es war ein öder Bezirk, dem man jedoch eine gewisse düstere Schönheit nicht absprechen konnte. Auf einem dreißig Morgen großen Grundstück befanden sich das Verwaltungszentrum der Boimarc und das Lagerhaus der Gildenvereinigung. Ghyl und Bonar Heurisx traten durch ein Tor im Zaun und gingen zum Verwaltungsgebäude. Aus dem trostlosen Foyer führte man sie in einen großen Raum, in dem zwanzig Angestellte an Schreibtischen, vor Rechnern und an Aktenschränken arbeiteten. Lord Dugald saß in einem leicht höher gelegenen, mit Glas abgetrennten Alkoven, und wie die anderen Boimarc-Angestellten, so schien auch er sehr beschäftigt zu sein. Ghyl und Bonar Heurisx wurden zu einem freien Platz unmittelbar vor Lord Dugalds Alkoven geführt, wo dieser sie jederzeit im Blick hatte. Hier warteten sie auf gepolsterten Bänken. Lord Dugald warf jedoch nur einen kurzen Blick durchs Glas, schenkte ihnen ansonsten aber keinerlei Beachtung. Mit unverhohlener Neugier musterte Ghyl den Großlord. Er war klein, untersetzt und hing auf seinem Stuhl wie ein halb gefüllter Sack. Seine schwarzen Augen lagen dicht beieinander; dunkelgraue Haarbüschel standen ihm über den Ohren ab, und seine Haut besaß einen unnatürlich purpurfarbenen Ton. Man konnte ihn fast komisch nennen; er glich einer Karikatur, die Ghyl irgendwo schon einmal gesehen hatte… Natürlich! Lord Bodbozzle aus Holkerwoyds Puppentheater! Und Ghyl hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken.
Ghyl beobachtete den Lord, während dieser ein vergilbtes Pergament nach dem anderen studierte, offenbar Anforderungen oder Rechnungen; jedes dieser Pergamente wurde mit einem karminroten Stempel versehen, welcher ein Werkzeug vor einem großen Globus zeigte. Ghyl entdeckte, dass die Schriftstücke von einem Angestellten vorbereitet wurden, der an einem erleuchteten Schreibtisch saß, wie er ihn schon in Daillie gesehen hatte. Lord Dugald hatte nichts weiter zu tun, als den Inhalt der Schriftstücke mit seinem persönlichen Siegel zu bestätigen. Schließlich bestätigte Lord Dugald das letzte Dokument, und der Stempel mit dem Siegel verschwand unter dem Schreibtisch. Erst dann winkte der Lord als Zeichen, dass Bonar Heurisx und Ghyl vortreten sollten. Die beiden betraten den Glaskasten; Lord Dugald bedeutete ihnen, sich zu setzen. »Was ist das von wegen der Thurible-Kooperation? Wer seid Ihr? Händler?« Bonar Heurisx wählte seine Worte sorgfältig aus. »Ja, das ist korrekt. Wir sind gerade erst auf der Grada aus Daillie auf Maastricht hier eingetroffen.« »Ja, ja. Redet schon.« »Unsere Untersuchungen«, fuhr Bonar Heurisx fort, »haben uns zu dem Schluss geführt, dass die Thurible-Kooperation ineffektiv arbeitet. Um es kurz zu machen: Wir können mit weit weniger Aufwand wesentlich effizienter arbeiten, was auch Boimarc zum Vorteil gereichen würde. Oder wenn Ihr es vorzieht, würden wir auch direkt von Euch kaufen, was natürlich Euren Gewinn vervielfachen würde.« Lord Dugald rührte sich nicht. Nur seine Augen huschten von einem zum anderen. Höflich antwortete er: »Euer Vorschlag ist undurchführbar. Wir pflegen hervorragende Beziehungen zu unseren Handelspartnern. Außerdem sind wir an langfristige Verträge gebunden.«
»Aber das System ist nicht zu Eurem Vorteil!«, protestierte Bonar. »Ich biete Euch neue Verträge und zahle das Doppelte!« Lord Dugald stand auf. »Tut mir Leid. Dieses Thema steht nicht zur Diskussion.« Niedergeschlagen blickten Bonar Heurisx und Ghyl ihn an. »Warum lasst Ihr es uns nicht wenigstens einmal versuchen?«, fragte Ghyl. »Das ist vollkommen unmöglich. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet…« Als sie draußen über den Huss-Boulevard gingen, sagte Bonar Heurisx: »So viel dazu. Thurible hat also einen langfristigen Vertrag.« Nach kurzem Nachdenken murrte er: »Offenbar sind wir geschlagen.« »Nein«, erwiderte Ghyl. »Noch nicht. Boimarc hat vielleicht einen Vertrag mit Thurible, aber nicht die Gilden. Wir werden zur Quelle der Waren gehen und Boimarc einfach umgehen.« Bonar Heurisx schnaufte skeptisch. »Und was hoffst du damit zu erreichen? Lord Dugald scheint große Autorität zu besitzen.« »Ja, aber er hat keine Autorität über die Empfänger. Die Gilden sind nicht verpflichtet, an Boimarc zu verkaufen, und Handwerker müssen nicht für die Gilden produzieren. Jeder kann Nichtko werden, wann immer er will, solange es ihm nichts ausmacht, seine Wohlfahrtsvergütungen zu verlieren.« Bonar Heurisx zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, es kann nicht schaden, wenn wir es zumindest einmal versuchen.« »Genau mein Gedanke. Nun denn, als Erstes zur Schreibergilde, um dort nach handgeschriebenen Büchern zu fragen.« Sie gingen nach Süden ins alte Kaufmannsviertel und auf den Bardenplatz, an den die meisten Gildenhäuser grenzten. Bonar Heurisx, der immer wieder über die Schulter geblickt hatte,
flüsterte plötzlich: »Wir werden verfolgt. Die beiden Männer mit den schwarzen Umhängen verfolgen jede unserer Bewegungen.« »Sonderagenten«, erklärte Ghyl und lächelte finster. »Das überrascht mich kaum… Nun, soweit ich weiß, tun wir nichts Irreguläres; aber ich sollte mir besser nicht anmerken lassen, dass ich mit der Stadt vertraut bin.« Mit diesen Worten blieb er stehen und schaute sich mit verwirrtem Gesichtsausdruck auf dem Bardenplatz um; dann fragte er einen Passanten, der daraufhin auf die Schreiberhalle deutete, ein großes Gebäude aus schwarzen und braunen Ziegeln und mit vier riesigen, alten Holzgiebeln. Ghyl täuschte Unsicherheit vor und zögerte kurz. Gemeinsam betrachteten er und Bonar Heurisx das Gebäude; dann öffneten sie die Tür und gingen hinein.
Ghyl hatte die Schreiberhalle noch nie besucht, und so war er sehr überrascht von dem ungehörigen Geschnatter und den Spötteleien, die aus den umliegenden Ausbildungsklassen ins Foyer hallten. Sie stiegen eine Treppe hinauf, deren Seiten mit Kalligraphien verziert waren. Oben angekommen, fanden die beiden rasch das Büro des Gildenmeisters. Im Vorraum saß ein gutes Dutzend nervöser Schreiber, die allesamt Kästchen mit ihren neuesten Arbeiten in der Hand hielten, welche nun zur Begutachtung vorgelegt werden mussten. Verzweifelt betrachtete Bonar Heurisx die Wartenden. »Müssen wir etwa schon wieder anstehen?« »Vielleicht nicht«, antwortete Ghyl. Er durchquerte den Raum und klopfte an die Tür. Die Tür öffnete sich, und dahinter erschien eine mürrisch dreinblickende Frau. »Warum hämmert Ihr so laut gegen die Tür?«
Ghyl antwortete in seinem besten Daillie-Akzent: »Bitte meldet uns seiner Exzellenz, dem Gildenmeister. Wir sind Händler von einer weit entfernten Welt, und wir würden gerne Geschäfte mit den Schreibern von Ambroy tätigen.« Die Frau drehte sich um, sagte etwas zu jemandem hinter ihr und wandte sich wieder an Ghyl. »Bitte, tretet ein.« Der Gildenmeister der Schreiber, ein leicht reizbarer alter Mann mit zerzaustem weißem Haar, saß hinter einem riesigen Tisch voller Bücher, Plakate und Kalligraphiehandbücher. Bonar Heurisx unterbreitete dem Mann sein Angebot. Der Gildenmeister war überrascht. »Wir sollen Euch Manuskripte verkaufen? Was für ein Gedanke! Wie sollen wir sicher sein, dass wir auch unser Geld bekommen?« »Bargeld ist Bargeld«, erklärte Bonar. »Aber… Das ist ja absurd! Unsere Art des Handels ist lange erprobt; so war es schon immer, seit wir denken können.« »Um so mehr Grund, mal über eine Veränderung nachzudenken.« Der Gildenmeister schüttelte den Kopf. »Das gegenwärtige System funktioniert sehr gut. Alle sind zufrieden. Warum sollten wir daran etwas ändern?« Ghyl meldete sich zu Wort. »Weil wir Euch das Doppelte oder das Dreifache von Boimarc zahlen werden. Dann wären alle noch viel zufriedener.« »Ganz und gar nicht! Wie sollen wir davon die Wohlfahrtsabzüge und die Sonderausgaben berechnen? Im Moment können wir das noch ohne Mühe selber tun.« »Trotz der Abzüge würdet Ihr immer noch das Doppelte von dem verdienen, was Ihr jetzt bekommt.« »Und was dann? Die Handwerker würden habgierig werden. Sie würden nur noch halb so sorgfältig arbeiten, aber doppelt so schnell in der unsinnigen Hoffnung, irgendwann finanziell unabhängig zu werden. Jetzt wissen sie, wie viel Mühe und
Sorgfalt es bedarf, um ein Erste-Klasse-Siegel zu bekommen. Wenn man sie mit Reichtum in Versuchung führt, was soll dann aus unseren Standards werden? Was wird aus der Qualität unserer Produkte? Was aus unserer Zukunft? Sollen wir unsere Sicherheit für ein paar armselige Gutscheine einfach so wegwerfen?« »Nun, dann verkauft uns eben die Zweite Klasse. Wir werden sie ans andere Ende der Galaxis verfrachten und sie dort verkaufen. Die Handwerker werden ihr Einkommen verdoppeln, und ihr würdet euren gegenwärtigen Markt behalten.« »Und was, wenn dann nur noch Zweite Klasse produziert wird, weil sie sich ja genauso gut verkauft wie die Erste? Das Problem bleibt das Gleiche! Unser höchstes Gut ist die Qualität; wenn wir dieses Prinzip aufgeben und unsere Waren verschlechtern, werden wir zu Pfuschern.« Verzweifelt rief Ghyl: »Dann lasst uns wenigstens als Mittelsmänner für eure Waren fungieren. Wir werden euch dasselbe zahlen, was ihr auch sonst bekommt, und noch einmal den gleichen Betrag in einen Fond zugunsten der Stadt. Mit diesem Geld könnte man die Ruinen beseitigen und Forschungs- und Erholungseinrichtungen errichten.« Der Gildenmeister funkelte Ghyl zornig an. »Wollt Ihr mich für dumm verkaufen? Wie wollt Ihr all das nur mit den Produkten der Schreiber finanzieren?« »Wir wollen es ja gar nicht nur mit den Produkten der Schreiber finanzieren, sondern mit denen aller Gilden!« »Das ist mir zu weit hergeholt. Die alten Wege sind erprobt und gut. Niemand wird finanziell unabhängig, und niemand wird eitel und eigensinnig; alle arbeiten sorgfältig, und niemand hat Grund, sich zu beschweren. Wenn wir jetzt etwas Neues einführen, zerstören wir das Gleichgewicht. Unmöglich!«
Der Gildenmeister scheuchte sie hinaus. Entmutigt verließen die beiden die Gildenhalle. Die Sonderagenten warteten ein Stück vom Eingang entfernt und beobachteten sie mit unverhohlener Neugier. »Und was jetzt?«, fragte Bonar Heurisx. »Wir können es noch bei den anderen wichtigen Gilden versuchen. Wenn wir versagen, haben wir wenigstens unser Bestes getan.« Bonar Heurisx willigte ein, und so machten sie sich auf den Weg zum Syndikat der Goldschmiede; doch als sie schließlich zum Gildenmeister vorgelassen wurden und ihm ihren Vorschlag unterbreiteten, erhielten sie die gleiche Antwort wie zuvor. Der Gildenmeister der Glasbläser weigerte sich offen, mit ihnen zu sprechen, und bei den Instrumentenbauern verwies man sie auf das Konklave der Gildenmeister in acht Monaten. Der Gildenmeister der Keramik- und Porzellanmacher steckte seinen Kopf gerade lange genug in den Vorraum, um sich ihren Vorschlag anzuhören; dann bellte er ein knappes ›Nein‹ und war wieder verschwunden. »Jetzt bleibt uns nur noch die Holzschnitzergilde«, sagte Ghyl. »Das ist vermutlich die einflussreichste. Wenn wir dort eine negative Antwort erhalten, können wir genauso gut wieder nach Maastricht zurückkehren.« Sie gingen über den Bardenplatz zu dem langen, niedrigen Gebäude mit der vertrauten Fassade. Ghyl beschloss, nicht mit hineinzugehen. Der Gildenmeister war zwar kein guter Bekannter, doch besaß er einen scharfen Verstand und ein gutes Gedächtnis. Also wartete Ghyl auf der Straße, während Bonar allein hineinging. Die Sonderagenten, die sie die ganze Zeit über verfolgt hatten, näherten sich Ghyl. »Dürfen wir fragen, warum Ihr alle Gildenmeister aufsucht? Das scheint
uns sehr seltsam zu sein für Leute, die fremd auf diesem Planeten sind.« »Wir erkundigen uns nach Handelsmöglichkeiten«, antwortete Ghyl. »Der Boimarc-Lord wollte uns nicht zuhören; also haben wir beschlossen, es bei den Gilden direkt zu versuchen.« »Hm. Die Wohlfahrtsagentur würde einer solchen Vereinbarung ohnehin nicht ihre Zustimmung geben.« »Der Versuch schadet ja niemandem.« »Nein, natürlich nicht. Von welchem Planeten stammt Ihr? Eure Sprache klingt fast, als würdet Ihr aus Ambroy kommen.« »Maastricht.« »Maastricht, sieh einer an.« An der Oberbahnstation kehrten die ersten Pendler von der Arbeit zurück. Menschen drängten sich an den drei Wartenden vorbei. Eine hagere, wohlbekannte weibliche Gestalt schlenderte vorbei, blieb stehen, drehte sich um und starrte Ghyl erstaunt an. Ghyl wandte sich von ihr ab. Die junge Frau reckte den Hals vor und betrachtete Ghyls Gesicht. »Na, wenn das nicht Ghyl Tarvoke ist?«, krächzte Gedée Anstrut. »Was um alles in der Welt machst du denn hier und noch dazu in diesem fremdländischen Kostüm?« Die Sonderagenten beugten sich vor. Einer von ihnen fragte: »Ghyl Tarvoke? Habe ich den Namen nicht schon einmal gehört?« »Ihr müsst mich mit jemandem verwechseln«, sagte Ghyl zu Gedée. Gedée trat einen Schritt zurück und riss die Augen auf. »Das habe ich ja ganz vergessen. Ghyl Tarvoke ist mit Nion und Floriel… oh-oh!« Sie legte die Hand auf den Mund und zog sich langsam zurück. »Einen Augenblick bitte«, sagte der Sonderagent. »Wer ist Ghyl Tarvoke? Ist das Euer Name, mein Herr?«
»Nein, natürlich nicht.« »Doch das ist er!«, kreischte Gedée. »Du bist ein elender Pirat und Mörder! Du bist der schreckliche Ghyl Tarvoke!«
In der Wohlfahrtsagentur wurde Ghyl vor den Rat für Soziale Problemfälle gezerrt. Die Mitglieder saßen in einem langen Kasten hinter eisernen Tischen und musterten ihn ausdruckslos. »Ihr seid Ghyl Tarvoke.« »Ihr habt meine Papiere gesehen.« »Ihr seid von Gedée Anstrut, von dem Wohlfahrtsagenten Schute Cobol und auch noch von anderen eindeutig identifiziert worden.« »Wenn Ihr wollt, dann bin ich halt Ghyl Tarvoke.« Der Tür ging auf, und Lord Fanton der Spay betrat den Raum. Er baute sich vor Ghyl auf und starrte ihm ins Gesicht. »Das ist einer von ihnen.« »Gebt Ihr zu, ein Pirat und Mörder zu sein?«, fragte der Vorsitzende des Rats für Soziale Problemfälle. »Ich gebe zu, das Schiff von Lord Fanton konfisziert zu haben.« »›Konfisziert‹? Welch hochgestochenes Wort.« »Meine Absichten waren keineswegs schändlich. Ich beabsichtigte, die Wahrheit über die EmphyrioLegende herauszufinden. Emphyrio war ein großer Held; seine Geschichte könnte die Menschen von Ambroy inspirieren, denn sie brauchen die Wahrheit.« »Das steht hier nicht zur Debatte. Ihr seid der Piraterie und des Mordes angeklagt.« »Ich habe keinen Mord begangen. Fragt Lord Fanton.« Lord Fanton erklärte mit gnadenloser Stimme: »Vier Garrion sind getötet worden; von welchem der vier Piraten weiß ich nicht. Tarvoke hat mir mein Geld gestohlen. Wir haben einen
schrecklichen Marsch erdulden müssen, in dessen Verlauf Lady Jacinth von einem Her verschlungen und Lord Ilseth vergiftet worden ist. Tarvoke kann die Verantwortung für diese Toten nicht von sich weisen. Schließlich hat er uns ohne einen einzigen Scheck einfach so in einem armseligen Dorf zurückgelassen. Wir waren gezwungen, die unangenehmsten Kompromisse einzugehen, bevor wir wieder in die Zivilisation gelangten.« »Ist das wahr?«, fragte der Vorsitzende Ghyl. »Ich habe die Lords und Ladies vor der Sklaverei und dem Tod gerettet, und das gleich mehrmals.« »Aber Ihr seid auch ursprünglich dafür verantwortlich, dass sie überhaupt erst in diese Lage gekommen sind, oder?« »Ja.« »Mehr muss nicht gesagt werden. Die Rehabilitierung wird verweigert. Ihr werdet auf immer aus Ambroy verbannt. Die Verbannung wird sofort vollstreckt.« Ghyl wurde in eine Zelle gebracht. Eine Stunde verging. Dann öffnete sich die Tür, und ein Agent winkte ihn zu sich. »Komm. Die Lords wollen dich befragen.« Zwei Garrion nahmen Ghyl in Gewahrsam. Er wurde in einen Luftwagen verfrachtet und nach Vashmont geflogen. Der Wagen landete auf der blau gefliesten Terrasse eines Horstes. Ghyl wurde hineingebracht. Drinnen zog man ihn aus und führte ihn nackt auf die Spitze eines Turms. Drei Lords betraten den Raum: Fanton der Spay, Fray der Unterlinier und Großlord Dugald der Boimarc. »Du warst äußerst geschäftig, junger Mann«, sagte Dugald. »Was genau hattest du eigentlich im Sinn?«
»Ich wollte das Handelsmonopol brechen, das die Menschen von Ambroy förmlich erwürgt.« »Ich verstehe. Und was soll dieses hysterische Gejammer von wegen ›Emphyrio‹?« »Die Legende interessiert mich. Sie besitzt eine besondere Bedeutung für mich.« »Komm, komm, komm!«, erwiderte Dugald in scharfem Tonfall. »Das kann nicht die Wahrheit sein! Wir verlangen, dass du ehrlich bist!« »Was sollte es mir nützen, Euch nicht die Wahrheit zu sagen?«, fragte Ghyl. »Oder Euch gar Lügen zu erzählen?« »Du bist so schwer zu fassen wie Quecksilber!«, knurrte Dugald. »Ich warne dich! Du kannst dich unseren Fragen nicht lange entziehen. Sag uns alles, oder wir sind gezwungen, dich einer Sonderbehandlung zu unterziehen, so dass dir nichts anderes mehr übrig bleibt.« »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt. Warum glaubt Ihr mir nicht?« »Du weißt ganz genau, warum wir dir nicht glauben!« Und Dugald winkte den Garrion, die Ghyl daraufhin packten und ihr zitterndes Opfer durch eine trapezförmige Tür in einen kleinen Raum warfen. Dort setzten sie ihn auf einen schweren Stuhl und schnallten ihn an, so dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Dugald sagte: »Fangen wir an.« Das Verhör war vorüber. Dugald saß mit gespreizten Beinen auf einem Stuhl und blickte zu Boden. Fanton und Fray standen auf der anderen Seite des Raums und vermieden es, einander anzusehen. Plötzlich drehte Dugald sich zu ihnen um. »Was auch immer Ihr gehört habt und was auch immer Ihr daraus schließt… Vergesst es! Emphyrio ist ein Mythos, und
dieser junge Möchtegernheld wird bald noch nicht einmal mehr das sein.« Er winkte den Garrion. »Bringt ihn in die Wohlfahrtsagentur zurück, und empfehlt den Agenten, ihn augenblicklich zu verbannen.«
Auf der Rückseite der Wohlfahrtsagentur wartete ein schwarzer Luftwagen. Nur in einen weißen Kittel gehüllt wurde Ghyl herausgebracht und in den Wagen gestoßen. Mit lautem Knall fiel die Wagentür ins Schloss; der Luftwagen erbebte, hob ab und flog Richtung Norden davon. Es war Spätnachmittag; die Landschaft war in ein trübes, müdes Licht getaucht. Der Luftwagen landete neben einer Betonmauer, die die Grenze von Bauredel markierte. Eine gepflasterte Straße zwischen zwei Mauern führte zu einer Öffnung in der Grenzmauer, wo ein breiter weißer Streifen den genauen Grenzverlauf zwischen Fortinone und Bauredel kennzeichnete. Unmittelbar hinter dieser etwa mannsbreiten Öffnung verstopfte ein fleckiger brauner Betonklotz den Durchgang. Ghyl wurde gepackt und zwischen die Mauern auf die Straße geschoben, die zur Grenze führte. Ein Sonderagent schlug sich auf den traditionellen, breitkrempigen schwarzen Hut und verlas in unheilvollem Tonfall das Verbannungsurteil: »Gehe aus unserem geliebten Land, o böser Mann, der du für schuldig befunden wurdest, anderen großes Leid zugefügt zu haben! Der glorreiche Finuka hat das Töten in seinem ganzen kosmischen Reich verboten, und so danke ihm nun, dass dir nicht das Gleiche zuteil wird, was du deinem Opfer hast angedeihen lassen! So wirst du auf immer und ewig aus Fortinone ins Land Bauredel verbannt. Willst du noch ein letztes Muster springen?« »Nein«, antwortete Ghyl mit rauer Stimme.
»Dann geh mit Finukas Hilfe ins Land von Bauredel!« Ein riesiger Betonkolben, der den ganzen Raum zwischen den beiden Seitenwänden einnahm, glitt herbei und schob Ghyl voran. Gleichzeitig versank der Betonklotz in dem mannsbreiten Grenzdurchgang im Boden. Ghyl stemmte sich ins Straßenpflaster. Der Kolben schob ihn langsam weiter vor, auf die jetzt freie Öffnung hin. Sechzig Fuß bis zur Grenze. Blass-gelbes Sonnenlicht fiel durch den Durchgang, so dass jeder einzelne Riss im Pflaster zu erkennen war und der Pfropfen sich wie ein riesiger schwarzer Schatten vor dem hellen Himmel abhob. Ghyl starrte auf das Pflaster. Er sprang nach vorne – der Kolben behielt seine gemächliche, aber unnachgiebige Geschwindigkeit bei –, riss an einem Pflasterstein und dann an noch einem, bis seine Fingerkuppen blutig waren. Als er schließlich einen losen Stein fand, hatte der Kolben ihm nur noch vierzig Fuß Straße gelassen; aber nachdem der erste Stein gelöst war, folgten ihm rasch weitere. Ghyl rannte mit den Steinen zur Grenze nach vorn, stapelte sie auf und rannte zurück, um mehr zu holen. Steine, Steine, Steine: Ghyl hatte Kopfschmerzen, und zischend rang er nach Atem. Dreißig Fuß Straße, zwanzig, zehn. Ghyl kletterte den Steinhaufen hinauf; er brach unter ihm zusammen. Verzweifelt stapelte er die Steine wieder auf, während der Kolben schon fast seine Schulter erreicht hatte. Wieder ging es die Steine hinauf, und als der Haufen diesmal unter ihm zusammenbrach, hatte Ghyl die Grenzmauerkrone erreicht. Unter ihm ein Knirschen und Krachen – die Pflastersteine wurden zu rotem Staub zermahlen. Ghyl lag flach auf der Mauerkrone. Im Augenblick verbargen ihn die Wände der Zugangsstraße und der riesige Kolben; sollten die Wohlfahrtsagenten nachsehen, ob alles wie geplant
gelaufen war, konnte er sich noch immer nach Bauredel hinübergleiten lassen. Ghyl rührte sich nicht. Die Sonne verschwand hinter den Wolken, und der Sonnenuntergang wurde zu einem trostlosen Schauspiel aus Gelb und Braun. Ein kalter Wind wehte über die Einöde. Ghyl hörte nicht ein Geräusch. Der Antrieb des Kolbens war abgeschaltet; die Wohlfahrtsagenten waren verschwunden. Vorsichtig erhob sich Ghyl auf die Knie und spähte in alle Richtungen. Der Betonklotz hatte sich wieder hochgeschoben und versperrte den Durchgang. Bauredel im Norden war völlig dunkel: eine Ödnis, über die ein kalter Wind hinwegfegte. Im Süden funkelten ein paar weit entfernte Lichter. Ghyl stand auf; er schwankte ein wenig. Der Luftwagen war verschwunden; der Verschlag, in dem der Kolben mitsamt seiner Maschinerie untergebracht war, war dunkel, doch Ghyl war nur halb überzeugt davon, allein zu sein. Etwas Entsetzliches lag hier in der Luft… vielleicht das Heulen der armen Seelen, die vor ihm nach Bauredel verbannt worden waren. Ghyl blickte nach Süden, nach Ambroy, vierzig Meilen entfernt, wo die Grada ihm Sicherheit versprach. Sicherheit? Ghyl stieß ein heiseres Lachen aus. Er wollte mehr als nur Sicherheit. Er wollte Rache: Rache für all die Jahre des Betrugs und der Ausbeutung, Rache für all die verlorenen Leben. Er ließ sich auf den Boden fallen und machte sich auf den Weg nach Süden über die Ebene hinweg und auf die Lichter eines Dorfes zu. Seine Beine fanden allmählich ihre Kraft wieder. Er erreichte eine umzäunte Weide, über die Biloa-Vögel auf der Suche nach Futter stapften. Nachts war es angeblich schon vorgekommen, dass ein erschreckter Biloa einen Menschen angegriffen hatte. Also machte Ghyl einen großen Bogen um die Weide, bis er
schließlich eine unbefestigte Straße erreichte, der er zum Dorf folgte. Am Rand des Dorfes blieb er stehen. In seinem weißen Kittel war er mehr als auffällig. Würde man ihn so sehen, wüsste jeder sofort, was er war, und dann würde der örtliche Wohlfahrtsagent gerufen werden… Ghyl duckte sich in die Schatten und schlich um den Rand des Dorfes herum bis zu einem Biergarten, wo er wieder anhielt und sich gründlich umschaute. Er ließ sich auf alle viere nieder und kroch den Zaun des Biergartens bis zu einer Stelle entlang, wo ein untersetzter, älterer Mann seinen braunen Mantel aufgehängt hatte. Während der Mann mit der Kellnerin sprach, schnappte Ghyl sich den Mantel, zog sich wieder unter die Bäume zurück, warf den Mantel über die Schultern und zog die Kapuze über den Kopf, um seinen Daillie-Haarschnitt zu verbergen. Vor dem Biergarten erstreckte sich ein kleiner Platz, und auf dessen anderer Seite befand sich eine Oberbahnstation, deren Betongleis nach Süden führte. In der Hoffnung, dass der untersetzte Mann nicht sofort den Verlust seines Mantels bemerken würde, ging Ghyl entschlossen auf die Station zu. Drei Minuten später traf ein Wagen ein. Mit einem letzten Blick über die Schulter Richtung Biergarten stieg Ghyl ein und wurde nach Süden getragen. Meile folgte auf Meile: Erst ging es durch Walz und Batra, dann durch Elsen und Godero. Der Wagen hielt an; Ghyl trat auf den Rollweg hinaus und wurde zu einem Aufzug gebracht, der ihn nach oben ins Terminal des Raumhafens trug. Ghyl schlug die Kapuze des gestohlenen Mantels zurück und marschierte aufs Nordtor zu. Der dortige Wachmann trat an ihn heran. »Eure Papiere bitte, mein Herr.« »Ich habe sie verloren«, sagte Ghyl und bemühte sich um seinen besten Daillie-Akzent. »Ich gehöre zur Grada – das Schiff da drüben.« Er beugte sich über das Registrierungsbuch
des Hafenangestellten. »Das hier ist meine Unterschrift: Tal Gans. Dieser Mann hier« – Ghyl nickte zu einem Kollegen des Wachmanns, der nicht weit entfernt stand – »hat mich hereingelassen.« Der Wachmann wandte sich an seinen Kollegen. »Stimmt das?« »Das stimmt.« »Bitte gebt in Zukunft etwas sorgfältiger auf Eure Papiere Acht, mein Herr. Irgendein Verbrecher könnte sie missbrauchen.« Ghyl nickte feierlich und trat aufs Feld hinaus. Fünf Minuten später befand er sich wieder an Bord der Grada. Bonar Heurisx musterte ihn erstaunt. »Ich habe mir große Sorgen gemacht! Ich dachte schon, ich würde dich niemals wiedersehen!« »Ich hatte einen furchterregenden Tag. Nur durch Zufall lebe ich noch.« Er berichtete Heurisx von seinem Abenteuer, und Heurisx starrte ihn kopfschüttelnd an und wunderte sich über all die Veränderungen, die nur ein einziger Tag gebracht hatte: Ghyls Wangen waren hohl, seine Augen gerötet; von all der Leidenschaft und der Hoffnung der Jugend war nichts mehr übrig geblieben. »Nun denn«, sagte Bonar Heurisx, »soviel zu unserem Plan, der, vorsichtig formuliert, ohnehin recht gewagt war.« »Nicht so schnell«, erwiderte Ghyl. »Wir sind hierher gekommen, um Handel zu treiben, und Handel treiben werden wir auch.« »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«, entgegnete Bonar Heurisx. »Etwas könnte noch möglich sein«, erklärte Ghyl. Er ging zu seinem Spind und tauschte seinen weißen Kittel gegen eine dunkle Daillie-Hose und ein enges, dunkles Hemd.
Bonar Heurisx schaute ihm verwirrt zu. »Sollen wir etwa heute Abend noch rausgehen?« »Ich, nicht du. Ich hoffe, etwas arrangieren zu können.« »Kann das nicht bis morgen warten?«, beschwerte sich Bonar Heurisx. »Morgen wird es zu spät sein«, sagte Ghyl. »Morgen werde ich mich wieder beruhigt haben und vernünftig sein. Jetzt bin ich noch voller Wut.« Bonar Heurisx erwiderte nichts darauf. Ghyl beendete seine Vorbereitungen. Wegen der Wachleute am Tor wagte er es nicht, einige Gegenstände mitzunehmen, die er gerne dabeigehabt hätte, und so gab er sich mit einer Rolle Klebeband und einem dunklen Barett auf dem Kopf zufrieden. »Wahrscheinlich werde ich ungefähr zwei Stunden fort sein. Wenn ich bis zum Morgen nicht wieder zurück bin, solltest du besser von hier verschwinden.« »Das ist ja alles schön und gut; aber was hast du vor?« »Handel treiben – auf diese oder auf eine andere Art.« Ghyl verließ das Schiff und ging zum Tor. Dort ließ er eine lustlose Durchsuchung nach Contrabande über sich ergehen und erhielt eine neue Aufenthaltserlaubnis. »Bitte geht mit diesen Papieren etwas sorgfältiger um als mit den letzten. Und passt auf die Tavernenmädchen auf. Sie fallen über Euch her, und am nächsten Morgen wacht Ihr mit dickem Kopf und keinem Scheck mehr in der Tasche auf.« »Ich gebe schon auf mich Acht.« Wieder fuhr Ghyl per Oberbahn in die Oststadt – in der Nacht eine der verlassensten Und trostlosesten Bezirke der Stadt. Erneut näherte er sich dem dreißig Morgen großen Grundstück, auf dem sich das Lagerhaus der Gildenvereinigung und das Boimarc-Verwaltungszentrum befanden. Verstohlen wie ein Tier schlich er auf den Zaun zu. Im Lagerhaus war es dunkel, abgesehen von einem Licht im
Wachraum. Im Verwaltungszentrum waren noch ein paar Fenster erleuchtet. Zwei Flutlichter, eines auf jeder Seite, erhellten das Grundstück, wo tagsüber Gabelstapler Luftlaster und Tafelwagen entluden. Im Schatten eines zerbrochenen Signalmastes verborgen, beobachtete Ghyl seine nähere Umgebung. Die Nacht war feucht und dunkel. Im Osten standen die Ruinen antiker Reihenhäuser. Weit im Süden brannten vereinzelte gelbe Lichter auf den Horsten des Vashmont-Bezirks, und nicht weit entfernt sah Ghyl die roten und grünen Lichter einer Taverne. Auf dem Grundstück wehten Nebelfetzen um die Flutlichter herum. Ghyl näherte sich dem Tor, das geschlossen und verriegelt und ohne Zweifel mit einer Alarmanlage verbunden war. Hier konnte er nicht hoffen hineinzugelangen. Er machte sich daran, das Grundstück zu umrunden, und schließlich erreichte er eine Stelle, wo die feuchte Erde eingesackt war und sich ein schmaler Spalt unter dem Zaun auf tat. Ghyl duckte sich und huschte durch die Schatten zur Nordseite des Boimarc-Gebäudes. Er spähte durch ein Fenster, sah aber nur leere Räume. Zwar gab es hier genug Licht, doch kein Geräusch war zu hören und keine Menschenseele zu sehen. Ghyl blickte nach links und rechts, trat wieder von dem Fenster zurück und wanderte an der Fassade entlang, wobei er alle Fenster und Türen prüfte; doch wie erwartet waren sie allesamt verschlossen. Am östlichen Ende wurde gerade ein kleiner Anbau errichtet. Ghyl kletterte die halb fertige Mauer empor und von dort aus aufs Dach. Er lauschte… Nichts. Ghyl schlich über das Dach und fand schließlich einen unverschlossenen Lüftungsschacht, dessen Abdeckung er löste, so dass er sich in einen Lagerraum hinablassen konnte.
Leise und vorsichtig stieg er ins Erdgeschoss hinab zu den Hauptbüros. Leuchtfelder gaben ein warmes, gleichmäßiges Licht ab. Ghyl hörte das Ticken irgendeines automatischen Instruments. Der Raum war noch immer leer. Rasch untersuchte Ghyl seine Umgebung und merkte sich besonders die verschiedenen Türen für den Fall, dass er schnell von hier verschwinden musste. Dann wandte er sich selbstbewusst Lord Dugalds Alkoven zu. Er schaute hinter den Schreibtisch, und dort hing der Stempel mit dem Siegel des Großlords. Auf dem Tisch lagen Formulare, die noch nicht abgezeichnet waren. Ghyl nahm alle drei an sich und ging zu einem Verarbeitungsapparat, wo er herauszufinden versuchte, wie die Formulare kodiert und gedruckt wurden. Anschließend studierte er die Ausgabe auf dem automatischen Bestandsberechner. Die Zeit verging. Ghyl stellte willkürlich ein paar Verkaufsorders her, und mit Hilfe der Informationen, die er dadurch erlangte, stellte er sich schließlich das aus, was er wollte. Sorgfältig überprüfte er das Ergebnis. Perfekt… jedenfalls soweit er das beurteilen konnte. Er beseitigte alle Spuren seiner Arbeit und legte die drei ursprünglichen Formulare wieder auf den Schreibtisch zurück. Dann nahm er Lord Dugalds Stempel aus der Halterung und bestätigte damit das Schriftstück, das er angefertigt hatte. Und nun? Was sollte er jetzt mit der Verkaufsorder tun? Ghyl las eine Notiz, die jemand an die Computerkonsole geklebt hatte. Es handelte sich um eine Liste von Orten und Terminen, und sie bestätigte Ghyls Verdacht: Die Verkaufsorder musste dem Verwalter des Lagerhauses übergeben werden. Ghyl verließ die Büros auf demselben Weg, den er gekommen war. Die Türen wagte er nicht zu benutzen aus Angst, einen Alarm auszulösen.
Wieder in den Schatten angelangt, blickte er zu dem Lagerhaus hinüber, wo noch immer nur das Licht im Wachraum brannte. Ghyl näherte sich dem Lagerhaus von hinten, kletterte eine Laderampe empor und rannte geduckt zur nächsten Ecke. Vorsichtig spähte er um die Ecke herum und in den kleinen Wachraum mit zwei Mann. Einer nähte etwas, und der andere hatte die Füße auf den Tisch gelegt und schaukelte vor und zurück. Ghyl wich zurück, ging die Laderampe entlang und versuchte alle Türen auf dieser Seite des Gebäudes. Sie waren fest verschlossen. Ghyl seufzte unglücklich. Dann fand er ein Stück Holz, zog sich damit in eine Ecke zurück und wartete. In den nächsten fünfzehn Minuten geschah rein gar nichts; doch schließlich blickte der Mann, der nähte, auf seine Uhr, stand auf, schaltete eine Handlampe an und sagte irgendetwas zu seinem Kameraden. Dann machte er sich auf seine Runde. Pfeifend ging er an Ghyl vorbei. Ghyl glitt in die Schatten zurück. Vor einer Tür hielt der Wachmann an, fummelte an seinem Schlüsselbund herum und steckte einen Schlüssel ins Schloss. Ghyl schlich sich von hinten an ihn heran und schlug mit dem Holzstück zu. Der Wachmann brach zusammen. Ghyl nahm ihm die Waffe und die Lampe ab und fesselte und knebelte den Mann mit dem Klebeband. Mit einem letzten Blick nach rechts und links öffnete er die Tür und betrat das dunkle Lagerhaus. Er leuchtete mit der Laterne hierhin und dorthin. Das Lager war bis unters Dach mit Kisten der unterschiedlichsten Waren gefüllt, die nach ›Hervorragend‹, ›Erste Klasse‹ und ›Zweite Klasse‹ geordnet waren. Das Büro des Lagerverwalters lag unmittelbar links. Ghyl trat ein und suchte mit seiner Lampe die Tische und Regale ab. Irgendwo musste er doch einen Stapel gelben Pap… Dort in der kleinen Nische. Ghyl untersuchte die Formulare,
die dort aufbewahrt wurden. Das oberste war das älteste mit der kleinsten Nummer. Ghyl entfernte es, schrieb die Nummer auf sein eigenes Formular und legte dies dann auf den Stapel. Er rannte zur Tür zurück. Der Wachmann stöhnte, war aber noch immer bewusstlos. Ghyl schleppte ihn ins Lagerhaus und legte ihn neben einen Kistenstapel. Zwei der Kisten hob er herunter, stellte sie neben den Kopf des Wachmanns, und den Rest der Kisten brachte er durcheinander. Lampe, Waffe und Schlüssel gab er dem Wachmann zurück; dann entfernte er das Klebeband und verschwand.
Eine dreiviertel Stunde später war Ghyl wieder an Bord der Grada, wo er einen besorgten Bonar Heurisx fand. »Du warst so lange weg! Hast du irgendetwas erreicht?« »Eine ganze Menge sogar! Fast alles! Oder zumindest hoffe ich das. Morgen früh werden wir es wissen.« Aufgeregt erklärte Ghyl seinem Partner, was los war: »…und alle als ›Hervorragend‹ gekennzeichneten habe ich zum Verkauf freigegeben! Das Beste vom Besten! Oh, wie sich Lord Dugald ärgern wird!« Heurisx hörte ihm entsetzt zu. »Das Risiko! Nehmen wir einmal an, irgendjemand bemerkt dein Täuschungsmanöver!« Übermütig wedelte Ghyl mit den Armen. »Das ist undenkbar! Aber trotzdem… Wir sollten uns darauf vorbereiten, falls nötig von hier zu verschwinden, und das schnell. Da stimme ich mit dir überein.« »Ich habe nie auch nur ein Kupferstück gestohlen!«, schrie Bonar Heurisx verzweifelt. »Und ich werde auch jetzt nicht stehlen!« »Wir stehlen doch gar nichts! Wir nehmen uns etwas… und bezahlen dafür.« »Aber wann? Und an wen?«
»Zu angemessener Zeit und an… wer auch immer das Geld dann haben will.« Bonar ließ sich in einen Sessel fallen und rieb sich müde die Stirn. »Irgendetwas wird schiefgehen. Du wirst schon sehen. Es ist unmöglich zu stehlen und…« »Entschuldige bitte: zu handeln.« »… zu stehlen, zu handeln, sich zu erschwindeln, oder wie auch immer du es nennen willst – auf jeden Fall ist es nicht so einfach.« »Wir werden sehen. Wenn alles gut läuft, müsste die Lieferung bei Sonnenaufgang hier sein.« »Und wenn es schlecht läuft?« »Wie ich gesagt habe… Wir sollten uns besser darauf vorbereiten, rasch aufzubrechen.«
Die Nacht verging, und schließlich graute der Morgen. Ghyl und Bonar saßen auf glühenden Kohlen und warteten entweder auf die Lastwagen oder auf die fünfrädrigen Wagen der Wohlfahrtsagentur. Eine Stunde nach Sonnenaufgang kam ein Hafenangestellter die Rampe herauf. »Ahoi, Grada!« »Ja? Ja?«, rief Bonar Heurisx aufgeregt. »Was gibt es?« »Erwartet Ihr Fracht?« »Sicher.« »Nun denn, öffnet Euren Laderaum, und bereitet Euch aufs Einladen vor. Hier in Ambroy lieben wir es, wenn alles reibungslos verläuft.« »Sofort.« Zehn Minuten später hielt der erste Wagen neben der Grada. »Ihr müsst verdammt wichtige Kunden sein«, bemerkte der Fahrer. »Ich habe nur ›Hervorragend‹ geladen.« Bonar Heurisx machte ein unverbindliches Geräusch.
Insgesamt sechs Lastwagen fuhren zur Grada. Der Fahrer des sechsten sagte: »Ihr beraubt uns fast aller ›Hervorragenden‹. So eine Lieferung habe ich noch nie gesehen. Im Lagerhaus wundern sich alle darüber.« »Das ist nur eine Fracht«, erwiderte Ghyl. »Wir sind bis oben hin voll. Das reicht fürs Erste. Ihr müsst uns nichts mehr bringen.« »Es ist auch nur noch wenig da, was wir bringen könnten«, murmelte der Fahrer. »Nun denn, bitte unterschreibt die Empfangsbestätigung.« Ghyl griff nach einem Stift, und einer plötzlichen Laune folgend unterschrieb er mit ›Emphyrio‹. Bonar Heurisx rief der Mannschaft zu: »Schließt die Luken! Wir starten!« »Gerade noch rechtzeitig«, sagte Ghyl. Er deutete Richtung Terminal. »Da kommen die Sonderagenten.« Die Grada hob ab, und auf dem Feld unter ihr sprangen ein Dutzend Wohlfahrtsagenten aus ihren schwarzen Wagen und starrten dem Schiff hinterher. Ambroy verschwand; Halma verwandelte sich in eine Kugel. Braun und purpurn glitt Damar vorüber. Der Antrieb heulte heiser, und die Grada ging auf Raumgeschwindigkeit.
Jodel Heurisx verschlug es fast die Sprache angesichts der Qualität und Menge der Ladung. »Das ist keine Handelsware; das ist ein Schatz!« »Das ist über Jahrhunderte gehortet worden«, erklärte Ghyl. »Alle Waren, die je die Auszeichnung ›Hervorragend‹ bekommen haben. Seht einmal diesen Schirm hier mit dem geflügelten Wesen… Das ist der letzte Schirm meines Vaters. Nach seinem Tod habe ich ihn poliert und gewachst.«
»Nehmt ihn«, sagte Jodel Heurisx. »Behaltet ihn für Euch selbst.« Ghyl schüttelte den Kopf. »Verkauft ihn mit dem ganzen Rest. Mich erinnert er nur an meinen Kummer.« Aber Jodel Heurisx ließ nicht zu, dass Ghyl sentimental wurde. »Eines Tages werdet Ihr einen Sohn haben. Wäre dieser Schirm nicht ein schönes Geschenk für ihn?« »Falls so etwas Unwahrscheinliches je geschehen sollte.« »Der Schirm gehört Euch; aber ich werde ihn hier bei mir aufbewahren, bis Ihr ihn braucht.« »Na gut. Wer weiß schon, was die Zukunft für uns bereithält?« »Der Rest der Ladung wird auf die Erde gebracht. Warum sich mit der Provinz zufriedengeben? Die großen Vermögen sind auf der Erde und die antiken Paläste… Wir werden die Aufmerksamkeit von Sammlern erregen. Für die Gilden von Ambroy werden wir eine gewisse Summe zurücklegen. Die Transportkosten ziehen wir natürlich ab. Was dann übrigbleibt, werden wir in drei gleiche Teile teilen. Für jeden von uns bleibt dann noch genug. Ihr werdet finanziell unabhängig sein, Ghyl Tarvoke!«
Kapitel Neunzehn
Sein ganzes Leben lang hatte Ghyl Spekulationen über die Herkunft der Menschheit gehört. Einige erklärten, dass die Erde der Ursprungsort der menschlichen Wanderung gewesen sei; eine andere Gruppe verwies auf Triptolemus, und wieder eine andere auf Amenaro, den einsamen Planeten von Deneb Kaitos. Einige wenige glaubten, dass die Menschheit spontan aus einer kosmischen Sporenflut entstanden sei. Jodel Heurisx beseitigte Ghyls Unsicherheit. »Ihr könnt sicher sein: Die Erde ist der Ursprung der Menschheit! Wir alle sind Erdenmenschen, egal, wo wir geboren sind!« In vielerlei Hinsicht widersprach die Erde den Vorstellungen, die Ghyl sich im Vorfeld von ihr gemacht hatte. Er hatte geglaubt, eine trostlose Welt vorzufinden, deren Horizont von Ruinen übersät und deren Sonne ein feuriges rotes Auge war. Er hatte sich ölige Ozeane vorgestellt, von Algen überwuchert… Aber die Sonne war warm und gelb-weiß, ähnlich der Sonne von Maastricht, und die Ozeane schienen weit klarer zu sein als das Tiefe Meer im Westen von Fortinone. Die Bewohner der Erde waren ebenfalls eine Überraschung. Ghyl war auf Zynismus vorbereitet gewesen, auf Trübsinn, Trägheit und Exzentrik. Er hätte nicht weiter von der Realität entfernt sein können. Zwar zeigten gewisse Leute, auf die er traf, in der Tat diese Charakteristika, doch andere waren so offen und unkompliziert wie Kinder. Wieder andere überraschten Ghyl durch ihre Leidenschaft und Hektik; sie verhielten sich, als sei der Tag zu kurz, um alles zu erledigen. Als er mit Jodel Heurisx vor einem Café in Alt-Köln saß,
machte er Bemerkungen über die Verschiedenartigkeit der Leute, die an ihrem Tisch vorübergingen. »Das stimmt«, sagte Jodel Heurisx. »Andere Städte auf anderen Planeten sind zwar auch kosmopolitisch, doch die Erde ist ein Universum für sich.« »Ich hatte erwartet, dass die Menschen hier alt, gesetzt, ja weise sind. Auf einige trifft das natürlich zu, aber andere… Seht Euch zum Beispiel diesen Mann in dem grünen Lederanzug an. Seine Augen funkeln; er schaut nach rechts und links, als sähe er das alles zum ersten Mal. Aber natürlich könnte er genauso fremd hier sein wie wir.« »Nein, er ist ein Erdenmensch«, sagte Jodel Heurisx. »Fragt mich nicht, woher ich das weiß; ich könnte es Euch nicht erklären. Es ist eine Frage des Stils, von kleinen Dingen, die den Hintergrund eines Mannes verraten. Was diese Unruhe betrifft, so behaupten die Soziologen, dass materieller Wohlstand und psychische Stabilität sich umgekehrt proportional zueinander verhalten. Barbaren haben weder Zeit für Idealismus noch für Psychosen. Für die Menschen der Erde sind Begriffe wie ›Rechtfertigung‹ und ›Erfüllung‹ von großer Bedeutung, und einige von ihnen – wie vielleicht der Mann in Grün – beschäftigen sich ein wenig zu sehr damit. Aber dabei gibt es schier unzählige Varianten. Manche widmen all ihre Kraft irgendwelchen Visionen. Andere werden in sich gekehrt, werden Sybariten, Hedonisten, Sammler oder Ästheten, oder sie konzentrieren sich auf das Studium irgendeiner geheimnisvollen Wissenschaft. Natürlich gibt es hier auch eine Menge ›normaler Leute‹, aber irgendwie werden sie nie bemerkt; sie dienen nur dazu, den Kontrast stärker hervortreten zu lassen. Aber wenn Ihr erst einmal eine Zeitlang auf der Erde seid, werdet Ihr das schon selbst herausfinden.«
Die Ladung der Grada wurde verkauft, und zwar mit einem beachtlichen Gewinn. In Tripolis verabschiedete sich Ghyl von Jodel und Bonar Heurisx. Er versprach ihnen, eines Tages wieder nach Maastricht zurückzukehren. Jodel Heurisx sagte: »An diesem Tag wird mein Heim dein Heim sein – ich darf doch ›du‹ sagen, oder? Und vergiss niemals, dass ich noch diesen wunderbaren Wandschirm mit dem geflügelten Wesen für dich habe.« »Ich werde es nicht vergessen; doch jetzt heißt es erst einmal Lebwohl.« »Lebwohl, Ghyl Tarvoke.« Mit einer gewissen Melancholie beobachtete Ghyl, wie die Grada in den blauen afrikanischen Himmel emporstieg. Doch als das Schiff kurz darauf verschwunden war, besserte sich seine Laune sofort wieder. Es gab schlimmere Schicksale, als zum ersten Mal die Erde zu besuchen und noch dazu mit dem Gegenwert von einer Million Gutscheinen in der Tasche! Ghyl dachte an seine Kindheit: eine unwirkliche Zeit, die nun hinter einem goldenen Schleier verborgen war. Wie oft hatten er und Floriel im gelben Gras der Dunkumhöhen gelegen und von Reisen und finanzieller Unabhängigkeit gesprochen! Beide hatten sie auf unterschiedliche Art ihr Ziel erreicht. Und Ghyl fragte sich, durch welchen Teil des Alls Floriel im Augenblick wohl gerade zog. Lebte er noch, oder war er bereits tot…? Armer Floriel, dachte Ghyl. So einsam und verloren. Einen Monat lang zog Ghyl über die Erde. Er erkundete die Wolkentürme von Amerika und die ebenso eindrucksvollen Unterwasserstädte im Great Barrier Reef und die großen Naturparks, über die man nur hinwegfliegen durfte. Er besuchte die restaurierten Urstädte von Athen, Babylon und Memphis, sowie das mittelalterliche Brügge, Venedig und Regensburg. Überall, manchmal schwer und manchmal leicht, spürte man den Atem der Geschichte. Jedes noch so
abgelegene Gebiet strahlte etwas aus: die Erinnerung an Millionen Tragödien, an Millionen Triumphe, an Geburt und Tod, an Küsse und an vergossenes Blut, und überall hörte man Freudenlieder und Lobpreisungen, Schlachtgesang und Todesschreie. Alles war von Geschichte durchdrungen: die Erde, die Luft und das Wasser. Nachts waren Geister nichts Ungewöhnliches – oder jedenfalls sagte man das Ghyl –, besonders in den alten Palastbezirken oder in den Bergen des Kaukasus und den Mooren des Nordens. Ghyl begann zu glauben, dass die Erdenmenschen sich fast ausschließlich mit Geschichte beschäftigten – ein Eindruck, der noch durch die unzähligen Historienspiele untermauert wurde, die überall zur Aufführung kamen, durch das Überleben anachronistischer Traditionen und durch die Existenz eines Historischen Instituts, wo jede noch so kleine Bemerkung zur menschlichen Geschichte aufbewahrt und analysiert wurde… Das Historische Institut! Irgendwann würde er das Historische Institut in London besuchen, auch wenn er – aus Gründen, über die er nicht nachdenken wollte – im Augenblick kein großes Bedürfnis danach verspürte. In Sankt Petersburg lernte er ein schlankes norwegisches Mädchen mit Namen Flora Eilander kennen, das ihn bisweilen an Shanne erinnerte. Eine Zeitlang reisten sie gemeinsam, und sie wies ihn auf Aspekte der Erde hin, die ihm bisher entgangen waren. Besonders häufig spottete sie über Ghyls Theorie, dass die Erdenmenschen sich mit nichts anderem als nur mit der Vergangenheit beschäftigten. »Nein, nein, nein!«, widersprach sie ihm entschieden mit ihrer melodischen Stimme. »Du liegst völlig daneben! Wir machen uns nur über die Seele der Ereignisse Gedanken, über die Essenz des Ganzen!« Ghyl konnte nicht sicher sein, ob er sie richtig verstanden hatte, doch das war er auf der Erde mittlerweile gewöhnt. Er
empfand die Erdenmenschen als ausgesprochen befremdlich. In jedem Gespräch fand er tausend unterschwellige Anspielungen, was auf einen Geist hindeutete, der es gewohnt war, nicht nur das Gesagte, sondern auch das Unausgesprochene zu verstehen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass die Sprache der Erdenmenschen Feinheiten enthielt, die er niemals würde verstehen können: Bisweilen schienen andere im Bruchteil einer Sekunde Dinge zu hören, die im Widerspruch einer kaum merklichen Modulation einer Silbe zu der vorherigen begründet lagen, namenlose Stimmungen, auf die sofort reagiert werden musste. Ghyl ärgerte sich über sich selbst und begann, sich mit Flora zu streiten, die der Situation mit Hochmut begegnete. »Du darfst nicht vergessen, dass wir alles schon einmal erfahren haben. Wir haben alles ausprobiert, was es auszuprobieren gibt. Deshalb ist es nur natürlich…« Ghyl stieß ein raues Lachen aus. »Unsinn! Habt ihr jemals Leid oder Furcht gekannt? Habt ihr eine Raumjacht gestohlen und Garrion getötet? Wart ihr auf dem Bezirksball in Grigglesby und habt die Lords und Ladies magischen Wesen gleich in ihren wunderbaren Kostümen gesehen? Oder seid ihr schon einmal durch einen Ritus im Finuka-Tempel gestolpert? Habt ihr träumend von den Meagherbergen auf das alte Fortinone hinabgeblickt?« »Nein, natürlich habe ich all das noch nie gemacht.« Und Flora musterte ihn von Kopf bis Fuß und schwieg. Sie wanderten noch einen weiteren Monat von Ort zu Ort: nach Abessinien, wo das Sonnenlicht Aloe blühen ließ und Bitumen zum Kochen brachte, nach Sardinien mit seinen Olivenbäumen und in die nebelverhangenen Sümpfe des gotischen Nordens. Eines Tages stieß Ghyl in Dublin auf ein Plakat, das ihn erstarren ließ:
Framtrees Originale Peripatetische Unterhaltungsschau Die Ganze Wunderbare Transgalaktische Welt! Hört die furchterregenden Schreie der Bacchaniden von Maupte! Lacht über die Possen von Holkerwoyds Puppen! Riecht den originalen Duft von zwei Dutzend fernen Planeten! Und noch viel, viel mehr! Im Casteyn-Park, nur sieben Tage.
Flora war nicht daran interessiert, doch Ghyl bestand darauf, sofort zum Casteyn-Park zu gehen, und dieses eine Mal war es Flora, die staunte. Ghyl sagte ihr nicht mehr, als dass er diese Schau schon einmal in seiner Kindheit besucht hatte; und mehr gab es dazu auch nicht zu sagen. Neben einem kleinen Wäldchen aus riesigen Eichen fand Ghyl die gleichen grellbunten Zelte, die gleichen Plakate und die gleichen Geräusche und Gerüche, die er schon als Kind gekannt hatte. Er suchte Holkerwoyds Puppentheater und schaute sich eine mehr oder weniger interessante Revue an. Die Puppen quiekten und sprangen, trillerten beliebte Lieder, karikierten örtliche Persönlichkeiten, und dann spielte eine Gruppe in extravaganten Kostümen eine Reihe von Farcen. Nach der Vorstellung ließ Ghyl die gelangweilte, doch nachsichtige Flora auf ihrem Platz zurück und näherte sich dem Vorhang neben der Bühne. Es hätte durchaus derselbe Vorhang sein können, durch den er schon einmal getreten war, und er kämpfte gegen den Drang an, über die Schulter
zurückzublicken und nach seinem Vater Ausschau zu halten, der doch sicher hier irgendwo sitzen musste. Langsam zog er den Vorhang beiseite, und dort, als hätte er sich all die Jahre nicht bewegt, saß Holkerwoyd und flickte seine Requisiten. Holkerwoyd war gealtert. Seine Haut glänzte wie Wachs, und seine Zähne waren gelb geworden, doch sein Blick war so scharf wie immer. Als er Ghyl bemerkte, hielt er in seiner Arbeit inne und neigte den Kopf zur Seite. »Ja, mein Herr?« »Wir haben uns schon einmal getroffen.« »Ich weiß.« Holkerwoyd rieb sich die Nase. »Ich habe schon so viele Menschen gesehen und bin an so vielen Orten gewesen; es ist wahrhaft eine Aufgabe, all das im Gedächtnis zu behalten… Lasst mich mal nachdenken. Wir haben uns vor Jahren auf einem fernen Planeten getroffen, in einem Loch am Rand des Universums. Halma. Der Planet unter dem grünen Mond Damar, wo ich meine Puppen kaufe.« »Wie könnt Ihr Euch daran erinnern? Ich war damals noch ein kleiner Junge.« Holkerwoyd lächelte und wackelte mit dem Kopf. »Ihr wart ein sehr ernster kleiner Kerl, der mit staunenden Augen in die Welt hinausblickte. Damals wart Ihr in Begleitung Eures Vaters. Was ist aus ihm geworden?« »Er ist tot.« Holkerwoyd nickte; das überraschte ihn nicht. »Und wie ist es Euch im Leben so ergangen? Ihr seid weit weg von Ambroy.« »Mir geht es gut genug. Aber es gibt da eine Frage, die mich bis heute nicht in Ruhe lässt. Ihr habt damals die Legende von Emphyrio aufgeführt, und die Puppe ist hingerichtet worden.« Holkerwoyd zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Die Puppen sind nicht auf ewig zu gebrauchen. Sie entwickeln ein Bewusstsein und Gefühle.
Dann sind sie nicht mehr zu gebrauchen und müssen zerstört werden, bevor sie die ganze Truppe infizieren.« Ghyl verzog das Gesicht. »Vermutlich sind Puppen billig.« »Billig genug, aber die Damarer sind geschickte Händler und kalt wie Stahl. Oh, wie sie das Klimpern von Valuta in ihren Börsen lieben! Und sie haben viel davon. Sie leben in Palästen, während ich in einer schäbigen Hütte schlafe und bei dem kleinsten Geräusch aufschrecke.« Holkerwoyd wurde aufgeregt und wedelte mit seinem Nähzeug herum. »Sollen sie doch endlich die Preise senken und weniger Prunk um sich sammeln! Aber egal, wie laut ich mich auch beschwere, sie sind taub auf diesem Ohr. Würdet Ihr Emphyrio gerne noch einmal sehen? Ich habe eine Puppe, die mir allmählich zu selbstständig wird. Ich habe sie gewarnt und mit ihr geschimpft; aber immer wieder ertappe ich sie dabei, wie sie ins Publikum starrt.« »Nein«, antwortete Ghyl und wich zum Vorhang zurück. »Dann wünsche ich Euch nun zum zweiten Mal Lebewohl.« Holkerwoyd hob zum Abschied die Hand. »Vielleicht sehen wir uns eines Tages noch mal wieder; aber ich bezweifele es. Die Jahre vergehen schnell. Eines Morgens werden sie mich steif auf dem Boden liegend finden, während meine Puppen über mich hinwegklettern, mir ins Maul starren und mich an den Ohren ziehen…«
Zurück im Black Swan Hotel setzten Ghyl und Flora sich in die Bar, und Ghyl starrte düster in sein Weinglas. Flora unternahm mehrere Versuche, eine Unterhaltung zu beginnen, doch Ghyl war in Gedanken weit entfernt, jenseits von Mirabilis, und er gab nur einsilbige Antworten. Im Wein sah er das schmale Haus am Undle-Platz. Er hörte Amiantes leise Stimme und das Kratzen von Beiteln auf Holz. Er spürte das
trübe Sonnenlicht auf seiner Haut und den Wind in den Sümpfen der Inssemündung; er erinnerte sich an die Gerüche in den Docks von Nobile und Foelgher, an die dünnen, hohen Türme in Vashmont und die Ruinen unter ihnen… Ghyl hatte Heimweh, auch wenn er Ambroy nicht länger als Heimat betrachten durfte. Als er an Amiantes Demütigung und Tod dachte, wurde er so verbittert, dass er sein Glas in einem Zug leerte. Die Karaffe war ebenfalls leer, und ein Kellner, der erkannte, in welcher Stimmung sich Ghyl befand, eilte rasch herbei und brachte eine neue. Flora stand auf, betrachtete Ghyl ein, zwei Sekunden lang und verließ dann den Raum. Ghyl dachte an seine Verbannung, an den riesigen Betonkolben, die zermahlenen Pflastersteine und die Stunde, die er auf der Mauer gewartet hatte, während um ihn herum die Dämmerung eingebrochen war. Vielleicht hatte er diese Bestrafung wirklich verdient gehabt; immerhin hatte er tatsächlich eine Raumjacht gestohlen. Aber war dieses Verbrechen nicht gerechtfertigt gewesen? Benutzten die Lords nicht Boimarc, die Thurible-Kooperation oder was auch immer, um die Empfänger zu betrügen und auszubeuten? Ghyl dachte darüber nach, nippte an seinem Wein und fragte sich, wie er dieses Wissen wohl am besten unter den Empfängern verbreiten könnte. Sich zu diesem Zweck an die Gilden oder die Wohlfahrtsagentur zu wenden war vollkommen sinnlos; beide waren geradezu besessen konservativ. Das Problem verlangte ausführliches Nachdenken. Ghyl schüttete sich den letzten Rest Wein in den Hals und ging in seine Suite hinauf. Flora war nirgends zu sehen. Ghyl zuckte mit den Schultern. Er würde sie niemals wiedersehen; das wusste er. Vielleicht war es ja gut so.
Am folgenden Tag überquerte er die Irische See und fuhr ins antike London. Nun würde er endlich das Historische Institut aufsuchen. Aber so leicht kam man nicht in das Historische Institut hinein. Ghyls entsprechenden Fragen an einem Teleschirmterminal wurde zunächst ausgewichen; dann empfahl man ihm an einer Führung der alten Universitäten von Oxford und Cambridge teilzunehmen. Als Ghyl darauf beharrte, ins Historische Institut zu kommen, wurde er an das Büro für Gewichte und Maßeinheiten verwiesen, welches ihn wiederum ans Dundee House weiterleitete. Letzteres erwies sich als Hauptquartier einer Art von Geheimdienst, dessen Funktion Ghyl niemals wirklich verstehen sollte. Ein Angestellter fragte ihn höflich nach dem Grund für sein Interesse am Historischen Institut, woraufhin Ghyl, der nur mit Mühe seine Ungeduld beherrschen konnte, die Legende von Emphyrio erwähnte. Der Angestellte, ein goldhaariger junger Mann mit Schnurrbart, drehte sich um und sprach ein paar leise Worte scheinbar in die Luft hinein; dann lauschte er auf irgend etwas. Er wandte sich wieder an Ghyl. »Wenn Ihr in Eurem Hotel bleibt, wird Euch ein Agent des Instituts in Kürze kontaktieren.« Halb amüsiert und halb verärgert wartete Ghyl. Eine Stunde später bekam er Besuch von einem hässlichen kleinen Mann in schwarzem Anzug und grauem Mantel: Arwin Rolus, Stellvertretender Direktor für Mythologische Studien am Historischen Institut. »Wie ich gehört habe, seid Ihr an der Legende von Emphyrio interessiert.« »Das bin ich«, bestätigte Ghyl. »Aber zunächst einmal: Bitte nennt mir den Grund für all die Geheimniskrämerei.« Rolus lachte leise, und Ghyl erkannte, dass der Mann nicht ganz so hässlich war. »Die Situation mag Euch vielleicht etwas
seltsam erscheinen, aber allein schon aufgrund seiner Natur sammelt das Historische Institut auch eine beachtliche Menge sensiblen Materials. Doch das ist natürlich nicht die Hauptfunktion des Instituts; wir sind und bleiben in erster Linie Wissenschaftler. Dennoch lösen wir von Zeit zu Zeit Probleme für… für aktivere Leute.« Er musterte Ghyl von Kopf bis Fuß. »Wenn ein Fremdweltler sich nach dem Historischen Institut erkundigt, stellen die Behörden sicher, dass er nicht beabsichtigt, alles in die Luft zu jagen.« »Da besteht keine Gefahr«, sagte Ghyl. »Ich will Informationen, weiter nichts.« »Und was genau für Informationen?« Ghyl reichte dem Mann das Fragment aus Amiantes Mappe. Mühelos las Rolus die uralte Schrift. »Hm-hmm. Interessant. Und jetzt wollt Ihr herausfinden, was wirklich geschehen ist, nicht wahr? Ihr wollt wissen, wie die Geschichte ausgeht.« »Genau.« »Darf ich fragen warum?« Die Erdenmenschen waren schon ein misstrauischer Haufen, dachte Ghyl. In gemessenem Tonfall erklärte er: »Ich kenne die Hälfte der Legende seit meiner Kindheit. Irgendwann habe ich mir einmal geschworen, sollte ich je die Gelegenheit bekommen, den Rest zu erfahren, würde ich sie nützen.« »Und das ist der einzige Grund?« »Nicht ganz.« Rolus hakte nicht weiter nach. »Eure Heimatwelt ist…« Er hob seine buschigen grauen Augenbrauen. »Halma. Das ist eine Welt jenseits des Mirabilisclusters.« »Halma. Eine sehr entfernte Welt… Nun, vielleicht kann ich Eure Neugier befriedigen.« Er drehte sich zu dem Wandschirm um und gab einen Kode ein. Eine Liste erschien auf dem Schirm; Rolus wählte einen Eintrag aus. »Hier«, sagte er. »Das ist die vollständige Chronik, wie sie ein Unbekannter vor
zweitausend Jahren auf der Welt Aume oder – wie manche sagen – in der Heimat aufgezeichnet hat.« Auf dem Schirm erschien ein Text in Archaisch. Die ersten Absätze glichen denen von Ghyls Fragment; dann: Im Catademnon saßen jene ohne Ohren, um zu hören, jene, die keine Seele hatten und die weder Frieden noch Gemeinschaft kannten. Emphyrio holte seine Tafel hervor und rief zum Frieden auf. Sie gerieten in Unruhe und schwenkten grüne Wimpel. Emphyrio sprach von Gemeinschaft; doch ohne Ohren, um zu hören, und die Augen abgewandt, verstand ihn niemand, und sie schwenkten blaue Wimpel. Emphyrio berief sich auf die Gutherzigkeit, die Mensch von Monster unterschied, und auf die Gnade. Sie zerbrachen die Tafel der Wahrheit unter ihren Füßen und schwenkten rote Wimpel. Dann hoben sie Emphyrio mit ihren Händen empor und trugen ihn zur Wand; sie trieben einen großen Nagel durch seinen Kopf, und so hing er an der Wand des Catademnon. Nachdem sich alle den Mann angeschaut hatten, der die Wahrheit hatte verkünden wollen, nahmen sie ihn herunter und trugen ihn unter dem Träger hindurch, an den sie ihn genagelt hatten, in die Krypta und sperrten ihn dort auf ewig ein! Aber was hatten sie davon? Wer war das Opfer? Auf der Welt Aume – oder Heimat – verwüsteten Sigils Horden nicht länger das Land. Die Monster blickten einander an und sagten: »Ist es wahr, wie Emphyrio gesagt hat, dass wir Wesen sind, für die die Sonne auf- und untergeht, die Schmerz kennen und Trost erfahren? Warum verwüsten wir dann das Land? Lasst uns fortan ein gutes Leben führen, denn wir haben nur das eine.« Und sie warfen ihre Waffen fort und zogen sich an Orte zurück, die ihnen angenehm waren, und
so wurden sie zu den freundlichsten aller Wesen, so dass sich die Menschen ob ihrer anfänglichen Wildheit wunderten. Emphyrio starb bei dem Versuch, von den Dunklen Menschlichkeit zu erflehen und sie zu bitten, ihre Monster zurückzurufen. Sie widerlegten ihn; sie nagelten ihn an die Wand. Aber die einst gefühllosen Monster hatten sich durch die Wahrheit in die friedfertigsten aller Kreaturen verwandelt. Sollte es hier eine Moral geben, so liegt sie jenseits des Verständnisses dessen, der diese Zeilen schreibt.
Kapitel Zwanzig
Aus der Wand kam ein Stück Papier mit dem Text in gedruckter Form; Rolus reichte es Ghyl, der die Geschichte noch einmal las und das Papier dann zu Amiantes Fragment steckte. »Die Welt Aume… Ist das Halma? Ist Sigil der Mond Damar?« Rolus rief weitere Informationen auf den Schirm, diesmal jedoch in einer Schrift, die Ghyl unbekannt war. »Aume ist Halma«, erklärte er. »Es ist eine Welt mit einer außergewöhnlich komplizierten Geschichte. Kennt Ihr sie?« »Nein«, antwortete Ghyl. »In Ambroy lernen wir nur wenig über unsere Vergangenheit.« Er konnte die Bitterkeit in seiner Stimme nicht verbergen. »Sehr wenig sogar, um ehrlich zu sein.« Ohne weiteren Kommentar las Rolus vor, was auf dem Schirm zu lesen stand, wobei er gelegentlich das ein oder andere erläuterte. Zwei oder drei Jahrtausende vor Emphyrio und lange bevor die ersten Menschen erschienen, hatten die Damarer bereits Kolonien auf Halma errichtet, wozu sie Raumschiffe verwendet hatten, die ihnen eine Spezies von Sternenwanderern gegeben hatte. Doch dann brach Krieg aus; die Damarer wurden von Halma vertrieben und nach Damar zurückgejagt, wo sie Mittel ersonnen, um die Sternenwanderer zu vernichten. Aufgrund ihrer Brutapparate waren die Damarer in der Lage, jedwedes genetische Material zu duplizieren, das in ihrem Genpool vorhanden war. Sie beschlossen, eine Armee von unbesiegbaren Kriegern zu züchten, gnadenlos und wild, die die Sternenwanderer in Fetzen reißen würde. Zuerst züchteten sie einen Prototyp; dann konstruierten sie künstliche Gene, um die Kreaturen en masse herzustellen. Nachdem die
Armee aufgestellt war, sandten sie sie fort von Sigil oder Damar; doch isoliert wie sie in ihren Höhlen waren, hatten sie nicht bemerkt, dass inzwischen tausend Jahre vergangen waren. Die Sternenwanderer waren verschwunden – wohin, weiß Gott allein –, und die Menschen hatten die Herrschaft über den Planeten übernommen. Der Angriff der Armee von Damar schien ein willkürlicher Akt der Aggression zu sein. Die Wirwan – um den Monstern einen Namen zu geben – wirkten wie Unholde aus der Hölle. In gewisser Weise ähnelten sie ihren Vorfahren. Sie besaßen ein schlechtes Gehör und kommunizierten über Radiowellen. Emphyrio konstruierte offenbar eine Maschine, mit der er menschliche Worte in die Sprache der Wirwan übertragen konnte. Er war der erste Mensch, der mit den Invasoren sprach, und er fand heraus, dass sie vollkommen unschuldig waren, denn sie waren schlicht nur für diesen einen Zweck trainiert worden. Er half ihnen, sich ihrer selbst bewusst zu werden; er korrumpierte sozusagen ihre Unschuld. Wie verzaubert wurden sie mit einem Mal zögernd und zurückhaltend, und schließlich zogen sie sich in die Berge zurück. Durch seinen Erfolg ermutigt, reiste Emphyrio nach Sigil in der Hoffnung, auch jene zu befrieden, die die Armee ausgeschickt hatten. »Über Emphyrios letztendliches Schicksal weiß man nichts Genaues«, sagte Rolus. »Der Bericht, den Ihr gerade gelesen habt, behauptet, die Damarer hätten ihm einen Nagel durch den Kopf getrieben und ihn so getötet. In einer anderen Quelle wird berichtet, dass Emphyrio einen Friedensvertrag ausgehandelt hätte und wieder nach Aume zurückgekehrt sei, wo er dann der erste Lord wurde. Es gibt auch noch andere Berichte. So wird zum Beispiel noch behauptet, Emphyrio sei auf Sigil gefangengenommen worden und werde dort noch heute künstlich am Leben erhalten. Wie gesagt… Die Tatsachen sind unbekannt. Jetzt ist zumindest alles anders. Die
Damarer produzieren Puppen in ihren Brutkammern. Die Wirwan sind eine aussterbende Spezies, die nur noch in den Hängen der Meagherberge überlebt hat, und die Menschen sind so, wie Ihr sie kennt.« Ghyl stieß einen lauten Seufzer aus. So! Die Geschichte war erzählt. Fortinone, das alte Schlachtfeld, war heute friedlich. Auf Damar bedienten die Puppenbauer Touristen und stellten Spielzeug her. Und Emphyrio? Sein Schicksal war unbekannt. Ghyl erinnerte sich an den Schulausflug in die Meagherberge, als sich vor seinem geistigen Auge die Landschaft in die der Legende verwandelt hatte. Damit war er der Wahrheit nähergekommen, als er sich je erträumt hatte. Arwin Rolus bereitete sich darauf vor zu gehen. »Gibt es noch etwas, was Ihr zu wissen wünscht?« »Sammelt das Institut auch heute noch Informationen über Halma? Über Fortinone?« »Ja, natürlich.« »Habt Ihr einen Korrespondenten in Ambroy?« »Mehrere.« »Aber ihre Identität ist geheim, oder?« »Selbstverständlich. Würden sie bekannt werden, wäre ihre Mission gescheitert. Wir sind zur Neutralität verpflichtet. Nicht jeder von uns ist allerdings dazu in der Lage… Euer Vater zum Beispiel.« Ghyl starrte Rolus an. »Mein Vater? Amiante Tarvoke? Er war ein Korrespondent des Instituts?« »Ja. Viele Jahre lang.« Ghyl ging zu einem Schönheitschirurgen. Seine Nase wurde schmaler gemacht, der kleine Höcker abgeraspelt und die Augenbrauen ein wenig verschoben. Die Tätowierung auf seiner Schulter wurde entfernt, und seine Fingerabdrücke sowie die seiner Zehen und die Linien auf seinen Handtellern
wurden verändert. Seine Haut wurde olivbraun gefärbt, das Haar schwarz, und schließlich vermochte nur noch er kraft seiner Erinnerung sich als Ghyl Tarvoke wiederzuerkennen. Bei Ball and Sons, einem Herrenausstatter, kleidete Ghyl sich im Erdenstil ein, und als er dann sein Hologramm betrachtete, staunte er nicht schlecht: Wer würde diesen frohgemuten, galanten jungen Mann wohl noch mit dem armen, zerlumpten Ghyl Tarvoke in Verbindung bringen? An falsche Papiere zu kommen erwies sich jedoch als recht schwer. Schließlich rief Ghyl im Dundee House an und wurde mir Arwin Rolus verbunden. Rolus erkannte Ghyl sofort, was diesen zutiefst beunruhigte. Ghyl erklärte, was er wollte, doch Rolus zögerte, ihm zu helfen. »Bitte, Ihr müsst die Position des Instituts verstehen. Aus didaktischen Gründen mischen wir uns niemals in die inneren Angelegenheiten einer Gesellschaft ein. Wir zeichnen alles auf, analysieren und interpretieren es – aber wir verbreiten nichts. Wenn ich als Angestellter des Historischen Instituts Euch bei Eurer Intrige behilflich wäre, bedeutete das, dass sich das Institut aktiv in den Lauf der Geschichte einmischt.« Ghyl glaubte, dass Rolus ein wenig übertrieb. Rasch sagte er: »Das sollte kein offizieller Antrag sein. Ich wollte mit Euch sprechen als meinem einzigen Bekannten auf der Erde und Euch um Euren Rat bitten.« »Ich verstehe«, sagte Rolus. »Nun, in diesem Fall…« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Natürlich weiß ich nichts von diesen Dingen; aber« – ein Stück Papier glitt aus dem Schlitz neben dem Schirm – »wenn Ihr diese Nummer anruft, wird Euch zumindest jemand zuhören.« »Ich habe auch noch eine Frage an Euch in Eurer offiziellen Funktion.« »Und wie lautet sie?«
»Wo ist das Catademnon? Wo auf Damar?« Rolus nickte knapp, als hätte er diese Frage bereits erwartet. »Ich werde die entsprechende Information heraussuchen lassen. Das Rechercheergebnis müßte schon bald bei Euch eintreffen, und die dafür fällige Gebühr wird Eurer Hotelrechnung hinzugefügt.« Zehn Minuten später glitt abermals ein Stück Papier unter dem Schirm hervor. Darauf stand zu lesen: Das Catademnon, Halle der Kriegsherren des alten Sigil, jetzt als Damar bekannt, ist eine Ruine in den Bergen zehn Meilen südwestlich der heutigen Alten Stadt. Im Laufe des Abends nahm Ghyl Kontakt zu dem Mann auf, dessen Nummer ihm Arwin Rolus gegeben hatte. Am nächsten Tag holte er dann seine neuen Papiere ab und nahm die Identität von Sir Hartwig Thorn, einem Grande, an. Sofort buchte er eine Passage nach Damar, und noch am selben Abend verließ er die Erde.
Kapitel Einundzwanzig
Damar war eine unheimliche kleine Welt, im Durchmesser halb so groß wie Halma, doch mit nur einem Sechstel der Masse des Planeten und zwei Dritteln von dessen Schwerkraft. An den Polen gab es ausgedehnte Sümpfe und in der Äquatorregion Berge und Gräben von bemerkenswerten Ausmaßen sowie eine Trockenzone, in der Damars berühmtes Äquatorialdickicht wuchs: ein Gewirr aus stacheligen Zweigen, zehn Meilen breit und bis zu einer halben Meile hoch. Aufgrund der Sümpfe, Berge, Spalten und des Dickichts gab es nur wenige Gebiete, die zur Besiedlung geeignet waren. Garwan, das Touristenzentrum und Damars Alte Stadt lagen an den einander gegenüberliegenden Enden der großen Zentralebene, die offenbar durch den Einschlag eines riesigen Meteoriten vor undenklichen Zeiten entstanden war. In Garwan gab es Hotels, Restaurants, Badehäuser und Freizeiteinrichtungen – Luxus in einer bizarren Umgebung. Puppentheater boten Unterhaltung und Abwechslung: Es gab Farcen, Historienspiele, makabre Dramen und erotische Stücke. Die Darsteller waren etwas Besonderes: hübsche kleine Wesen von vier bis fünf Fuß Größe, die sich drastisch von den affenähnlichen Kobolden Holkerwoyds unterschieden. Die Damarer selbst verließen nur selten ihre Residenzen unter den Hügeln, in die sie all ihren ungeheuren Reichtum steckten. Eine typische Residenz bestand aus einem komplexen System von Räumen, die mit weichen Stoffen ausgelegt und geschickt beleuchtet waren. Silbernes Licht fiel auf graue und perlmuttfarbene Vorhänge; Rot, Karmin und Magenta wurden Blau und Rosa gegenübergestellt. Purpurne und meergrüne Leuchtgloben waren hinter durchsichtigen Schleiern
verborgen. Eine solche Residenz wurde niemals fertig; ständig wurde irgendwo etwas verändert. In seltenen Fällen wurde ein Mensch, dem die Damarer zu Gefallen sein wollten oder der eine ausreichend hohe Gebühr gezahlt hatte, in solch eine Residenz eingelassen: ein Besuch, dem ein außerordentlich seltsames Ritual vorausging. Schnatternde Puppen badeten den Besucher, besprühten ihn mit Duftstoffen, hüllten ihn von Kopf bis Fuß in eine weiße Robe und stülpten ihm Sandalen aus weißem Filz über. Auf solche Art keimfrei gemacht, deodoriert und verpackt wurde der Besucher anschließend durch schier unendliche Korridore voller Wandbehänge in wunderbar ausgeleuchtete Grotten geführt, die mit Stoffnetzen und Schleiern überaus kunstvoll und farbenfroh drapiert waren. Kam er dann schließlich wieder heraus, konnte er nicht anders, als voller Ehrfurcht auf das zurückzublicken, was er gerade gesehen hatte – selbst wenn es nur aus Staunen ob des schier unglaublichen Reichtums geschah. Der durchschnittliche Ausflügler sah die Damarer jedoch nur als schweigende Schatten in einem Büro oder Laden. Als Ghyl in Garwan eintraf, nahm er sich ein Zimmer in einem der Hotels von ›Alt Damar‹: einem pyramidenförmigen Haufen von weißen Kuppelhäusern mit kleinen Fenstern, die in scheinbar willkürlichen Abständen eingesetzt worden waren. Ghyl wurde in zwei Räumen untergebracht, die mit grünen Wandschirmen voneinander getrennt waren und deren Boden ein dicker schwarzer Teppich bedeckte. Ghyl verließ das Hotel und ging zu einer Reiseagentur. Auf einem in Schatten gehüllten Balkon stand ein Damarer, dessen große runde Augen wie kleine Sterne funkelten. Die Kreatur war kleiner, schlanker und gelenkiger als ein Garrion, doch ansonsten waren beide Spezies vollkommen gleich. Auf dem Tresen stand ein Monitor, der Radiosignale in Schrift übertrug. Darauf stand zu lesen: »Ihr wünscht?«
»Ich möchte einen Luftwagen mieten.« Die Worte verwandelten sich auf dem Schirm zu seltsamen Symbolen, die der Damarer las. Die Antwort lautete: »Das ist möglich, wenn auch teuer. Eine Tour mit der Ausflugsbahn ist nicht so teuer und bei weitem vorzuziehen, denn damit reist man sicher und mit allem Luxus.« »Ohne Zweifel«, erwiderte Ghyl. »Aber ich bin ein Gelehrter von einer Erdenuniversität. Ich will Artefakte suchen. Ich will die Puppenfabriken besuchen sowie die alten Ruinen.« »Das ist möglich. Es gibt jedoch eine Ausfuhrgebühr für Artefakte, Fossilien und dergleichen. Aufgrund des empfindlichen Herstellungsprozesses ist es allerdings nicht ratsam, die Puppenfabriken zu besuchen. Ein Besucher wäre sicherlich nicht amüsiert. Es gibt auch keine interessanten Ruinen. Die Ausflugsbahn bietet einen höheren Gegenwert.« »Ich ziehe es vor, einen Luftwagen zu mieten.« »Ihr müsst den Wert des Wagens als Kaution hinterlegen. Wann braucht Ihr ihn?« »Morgen, so früh wie möglich.« »Euer Name?« »Hartwig Thorn.« »Der Wagen wird morgen auf der Rückseite Eures Hotels auf Euch warten. Ihr dürft nun dreitausendeinhundert Standardvaluta bezahlen. Die dreitausend sind die Kaution. Ihr werdet sie zurückbekommen. Der Wagen selbst kostet hundert pro Tag.« Ghyl wanderte ein, zwei Stunden durch die Stadt. Als der Abend nicht mehr fern war, setzte er sich vor ein Café und trank importiertes Bier aus Fortinone. Halma erschien am Himmel, eine riesige bernsteinfarbene Scheibe, auf der vage vertraute Linien zu erkennen waren.
Ein Mann betrat das Café, gefolgt von einer Frau; abwechselnd hoben sie sich als Silhouette vor Halma ab. Ghyl schaute genauer hin. Der Mann war Schute Cobol, die Frau ohne Zweifel seine Gattin; vermutlich waren sie nach Damar gekommen, um hier ihre gehorteten Gutscheine auszugeben wie alle anderen Empfänger auch. Schute Cobol blickte zu Ghyl, betrachtete dessen Erdenkleidung und flüsterte etwas zu seiner Frau, die daraufhin ebenfalls zu Ghyl blickte. Dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Speisekarte. Ghyl lächelte schelmisch und blickte zu Halma hinauf.
Kapitel Zweiundzwanzig
Auf Damar waren die Tage und Nächte kurz. Nach dem Essen und nachdem er bis tief in die Nacht über einer Karte von Damar gebrütet hatte, war Ghyl kaum in seiner Suite, als die Sonne bereits wieder aufging. Mit einem Gefühl, als warte das Schicksal auf ihn, stand Ghyl auf. Vor langer Zeit hatte Holkerwoyd ihn als ›entrückt‹ bezeichnet – als jemanden, der den Eindruck erwecke, als trage er die Last der Welt auf den Schultern, wie ihm sein Vater erklärt hatte. Langsam zog er sich an und war sich dieser Last bewusst. Es schien, als habe er sein ganzes Leben lang nur auf diesen einen Tag hingearbeitet. Der Luftwagen wartete auf einer Landeplattform hinter dem Hotel. Ghyl untersuchte die Kontrollen und beschloss, sie seien Standard. Er kletterte hinein, schloss die Kanzel und richtete alles so her, dass er sich wohl fühlte. Er überprüfte das Energieniveau: Die Zellen waren voll; er drückte den Anlasser und zog das Steuerrad zurück. Der Wagen erhob sich in die Luft. Ghyl schob das Steuer nach vorne und zog es sofort wieder nach hinten; schwungvoll glitt der Wagen hinauf. So weit, so gut. Ghyl flog immer höher und über die Berge hinweg. Weit im Süden lag das Äquatorialdickicht, ein formloser schmutzigbrauner Fleck. Ghyl steuerte nach Norden. Meile folgte auf Meile, und die dünne Höhenluft zischte an der Kanzel vorbei. Vor ihm glitzerte ein einzelner reifbedeckter Gipfel. Ghyl flog in nördlicher Richtung an ihm vorbei und sah dahinter Damar Alte Stadt: eine lieblose Ansammlung länglicher Verschlage und Lagerhäuser. Instinktiv zog Ghyl es vor, seine Gegenwart geheimzuhalten,
reduzierte die Flughöhe auf hundert Fuß über dem Boden und steuerte nach Südwesten. Er suchte eine Stunde, dann entdeckte er die Ruinen: einen Haufen behauener Steine inmitten der Felstrümmer der umliegenden Berge. Er landete auf einer ebenen, kiesbedeckten Fläche nicht weit von einer niedrigen Mauer entfernt, und jetzt fragte er sich, warum er so lange gesucht hatte, denn das Gebäude war von monumentalen Ausmaßen, und die Außenmauern standen noch. Er stieg aus, blieb aber zunächst einmal neben dem Wagen stehen, um zu lauschen. Außer dem Rauschen des Windes war nichts zu hören. Damar Alte Stadt in zehn Meilen Entfernung war ein zusammengewürfelter Haufen grau-weißer Gebäude. Er sah keine Menschenseele; nichts bewegte sich in der Stadt. Ghyl nahm seine Handlampe und seine Pistole und näherte sich der zerbrochenen Mauer. Dahinter befand sich ein Graben, dem eine dickere Wand aus überwuchertem Beton folgte; sie war an vielen Stellen gerissen, stand aber noch immer aufrecht. Das war eine Halle für Riesen, und Ghyl kam sich unglaublich klein vor. Dennoch… Emphyrio war ein Mensch wie er gewesen, ein Mensch mit all dem Mut und all der Furcht, die seiner Spezies eigen war. Er war zum Catademnon gekommen… und dann? Ghyl überquerte den Graben, und über eine alte Zufahrt erreichte er ein von Trümmern versperrtes Portal. Er kletterte hinauf und spähte in die Halle hinein, aber das Sonnenlicht fiel nicht bis hierher, und so war im Inneren alles in Schatten gehüllt. Ghyl schaltete seine Lampe an, rutschte die Trümmer hinunter und in einen feuchten Gang hinein, der mit dem Staub von Jahrhunderten gefüllt war. An der Wand hingen noch immer Stofffetzen, die vielleicht aus Obsidianfasern geflochten
und mit Metalloxyd gefärbt worden waren. Die Muster waren teilweise von Moos bedeckt; trotzdem konnte man sie noch erkennen. Sie erinnerten Ghyl an Wandbehänge, die er schon einmal gesehen hatte, doch wo, das hatte er vergessen… Der Gang öffnete sich in eine ovale Halle, deren Dach eingebrochen war, so dass man den Himmel sehen konnte. Ghyl hielt an. Er stand im Catademnon. Hier war Emphyrio den Tyrannen von Sigil gegenübergetreten. Kein Geräusch war zu hören, noch nicht einmal mehr der Wind, doch der Atem der Vergangenheit war förmlich greifbar. Am anderen Ende der Halle befand sich eine Öffnung mit den Resten uralter Standarten zu beiden Seiten. Hier könnte Emphyrio an die Wand genagelt worden sein… falls das denn tatsächlich sein Schicksal gewesen sein sollte. Ghyl durchquerte die Halle. Er blieb stehen und blickte zu dem Steinträger über der Öffnung empor. Da war auf jeden Fall eine Narbe, ein erodiertes Loch, eine Halterung. Wenn Emphyrio hier gehangen hatte, dann mussten sich seine Füße ungefähr in Höhe von Ghyls Schultern befunden haben, und sein Blut wäre auf Ghyls Füße getropft… Der Stein war von grauen Flecken überzogen. Ghyl ging unter dem Träger hindurch und richtete seine Lampe in die Öffnung hinein. Staub, Trümmer und vertrocknete Pflanzen bedeckten den ersten Teil einer breiten Treppe. Ghyl kletterte um die Hindernisse herum und leuchtete mit seiner Lampe nach allen Seiten, »… und sie trugen ihn unter dem Träger hindurch, an den sie ihn genagelt hatten, in die Krypta und sperrten ihn dort auf ewig ein!« Die Stufen führten in eine ovale Kammer, von der aus drei Gänge in die Dunkelheit führten. Der Boden der Kammer bestand aus großen, behauenen Steinen, auf denen eine dicke Staubschicht lag. Die Krypta? Ghyl leuchtete in der Kammer umher und ging in die Richtung, in der die Krypta liegen musste. Er
blickte in einen langen Raum, kalt und still. Auf dem Boden lag ein Dutzend zerbrochener Glasbehälter, die dick mit Staub bedeckt waren. Jeder dieser Behälter enthielt organische Überreste: Chitinpanzer, Streifen uralten Leders… In einem der Behälter befand sich ein menschliches Skelett, das in seine Einzelteile zerfallen war. Der Schädel blickte Ghyl aus leeren Augen an. In der Mitte der Stirn befand sich ein rundes Loch.
Ghyl flog zurück nach Garwan, landete hinter dem Hotel und holte seine Kaution ab. Dann ging er in seine Suite, wo er badete und sich frische Kleider anzog. Schließlich setzte er sich auf die Terrasse, von wo aus er den Platz vor dem Hotel überblicken konnte. Er fühlte sich irgendwie… leer. Er hatte nicht erwartet zu finden, was er gefunden hatte. Das Skelett war eine große Enttäuschung gewesen. Er hatte auf mehr gehofft. Was war mit der Vorahnung, mit der er den Tag begonnen hatte? Sein Instinkt hatte ihm einen Streich gespielt. Alles war mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit vonstatten gegangen; es war eine Schande. Ghyl war unruhig und unzufrieden. Er hatte die Überreste von Emphyrio entdeckt; daran bestand kein Zweifel. Aber Drama? Es gab hier nichts Dramatisches. Er wusste nicht mehr als zuvor. Emphyrio war sinnlos gestorben; sein glorreiches Leben hatte ein unrühmliches Ende gefunden. Aber das war nicht sonderlich überraschend; das meiste war in der Legende bereits angedeutet worden. Die Sonne versank hinter den Hügeln im Westen. Garwans Silhouette – übereinander gestapelte Kuppeldächer – hob sich schwarz vor dem braunen Himmel ab. Aus der Gasse neben dem Hotel trat eine dunkle Gestalt: ein Damarer. Er ging an der Hecke entlang, die die Terrasse begrenzte, und hielt kurz an, um über den Platz zu blicken. Dann drehte er sich zur
Terrasse um, als wolle er feststellen, ob es hier heute Abend lohnende Geschäfte für ihn gab. Habgierige, verwöhnte Biester, dachte Ghyl, die jede Zechine, jeden Gutschein und jeden Bice in ihre ohnehin schon extravaganten Residenzen stecken. Er fragte sich, ob die Damarer in den alten heroischen Tagen, in den Tagen Emphyrios, auch schon so genusssüchtig gewesen waren. Im Catademnon hatte nichts auf Luxus hingedeutet. Vielleicht hatten ihnen in jenen Tagen einfach die finanziellen Mittel gefehlt, um ihren Geschmack zu befriedigen… Als er Ghyls Aufmerksamkeit bemerkte, drehte der Damarer seinen merkwürdigen spitzen Kopf und starrte den Menschen einige Sekunden lang an, wobei sich die grüngelben Sterne in seinen Augen ständig weiteten und wieder zusammenzogen. Ghyl starrte zurück und begann plötzlich zu spekulieren… Unvermittelt wandte der Damarer sich ab und verschwand hinter der Hecke. Ghyl lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Dort saß er lange Zeit in Gedanken versunken, während Ausflügler kamen, aßen und gingen. Und schließlich verschwand auch das Zwielicht, und es wurde Nacht. Das war eine seltsame und widersprüchliche Situation gewesen. Ghyl schwankte zwischen Heiterkeit ob seines eigenen schrulligen Verhaltens und einer entsetzlichen Kälte in seinem Geist. Als Übung in abstrakter Logik ließ sich das Problem auf erschreckend einfache Weise lösen. Wenn man die Argumente in menschliche Worte fasste, blieb die Kraft der Logik, doch die Lösung implizierte eine derart herzergreifende Tragödie, dass man es nicht glauben konnte.
Trotzdem: Fakten waren Fakten. So viele merkwürdige Kleinigkeiten, die Ghyl einst ehrfürchtig betrachtet hatte, fügten sich nun zu festen Teilen eines komplizierten Ganzen zusammen. Ghyl stieß ein wildes Lachen aus, was ihm tadelnde Blicke von einer in der Nähe sitzenden Ausflugsgruppe einbrachte. Ghyl schluckte seine Heiterkeit wieder herunter. Die Leute hielten ihn bestimmt für einen Wahnsinnigen. Aber wenn er jetzt an ihren Tisch gehen und ihnen seine Gedanken mitteilen würde, was würden sie dann erst über ihn denken! Ihr Ausflug, für den sie ihr ganzes Leben lang gespart hatten, wäre ruiniert. Würden sie ein solches Wissen willkommen heißen? Das war ein neues Problem: Was sollte er tun? Wie sollte er weiter vorgehen? Es gab niemanden, der ihm einen Rat hätte geben können; er war allein. Was hätte Emphyrio unter diesen Umständen getan? Die Wahrheit! Also gut, dachte Ghyl; dann also die Wahrheit, und soll die Konsequenzen tragen, wer will. Ihm kam ein weiterer Gedanke, der fast zu einem zweiten wahnsinnigen Lachanfall geführt hätte. Was war jetzt mit seinen Vorahnungen von wegen Schicksal? Sie hatten sich erfüllt, und zwar zehnmal mehr, als er erwartet hatte. Ghyl winkte dem Kellner, er solle ihm die Speisekarte bringen, und bestellte sich etwas zu essen. Am Morgen würde er nach Ambroy reisen.
Kapitel Dreiundzwanzig
Spätnachmittag, Ambroy-Zeit, traf Ghyl auf dem vertrauten Raumhafen von Godero ein. Er wartete, bis die Ausflügler das Schiff verlassen hatten, dann schlenderte er hochmütig die Rampe hinunter in der Hoffnung, so seine innere Erregung zu verbergen. Der Kontrolleur am Tor war ein ungewöhnlich ernster Mann. Als er Ghyls Erdenkleidung sah, runzelte er mürrisch die Stirn und inspizierte Ghyls Papiere mit entmutigender Skepsis. »Von der Erde, hm? Was wollt Ihr hier in Ambroy?« »Ich reise.« »Hm. Sir Hartwig Thorn. Ein Grande. So etwas haben wir hier auch. Es ist überall das Gleiche. Die Grandes reisen; die kleinen Leute arbeiten. Aufenthaltsdauer?« »Vielleicht eine Woche.« »Es gibt hier nichts zu sehen. Ein Tag reicht.« Ghyl zuckte mit den Schultern. »Das könnte durchaus sein.« »Hier ist alles trostlos; jeder rackert sich nur ab. Außer oben auf den Horsten werdet Ihr hier nichts Sehenswertes finden. Habt Ihr gehört, dass sie gerade die Abgaben erhöht haben? Jetzt sind es 1,46 Prozent, wo es doch vor kurzem noch 1,18 Prozent waren. Nehmt Ihr auf der Erde auch Prozente?« »Dort gibt es ein anderes System.« »Ich nehme an, Ihr führt kein dupliziertes oder maschinell hergestelltes Material ein und keine kopierten Artikel, sei es nun zum Verkauf oder als Geschenk?« »Nein. Nichts.« »Also gut, Sir Hartwig. Ihr dürft durch, wenn Ihr wollt.«
Ghyl verließ die ihm wohl vertraute Halle. Von einer öffentlichen Spaykabine meldete er einen Anruf bei Großlord Dugald dem Boimarc in seinem Horst in Vashmont an. Auf dem Schirm erschien eine weiße Scheibe vor dunkelblauem Hintergrund. »Großlord Dugald der Boimarc ist im Augenblick abwesend. Er würde sich jedoch freuen, eine Nachricht von Euch entgegennehmen zu dürfen.« »Ich bin ein Grande von der Erde, der gerade hier eingetroffen ist. Wo kann ich Lord Dugald finden?« »Er nimmt an einem Fest im Horst von Lord Parnasse dem Unterlinier teil.« »Ich werde dort anrufen.« Ein niederer Edelmann mit schmalem Gesicht und poliertem schwarzen Haar, das auf wunderliche Art über die Stirn gekämmt war, antwortete auf den zweiten Anruf. Hochmütig hörte er Ghyl zu und drehte sich dann ohne ein Wort um. Einen Augenblick später erschien Lord Parnasse. Ghyl gab sich zugleich hochmütig als auch erheitert. »Ich bin Sir Hartwig Thorn, ein Reisender von der Erde. Ich habe angerufen, um Großlord Dugald meinen Respekt zu erweisen, und bin an Euren Horst verwiesen worden.« Parnasse, ein dünner Mann von dunkler Hautfarbe, musterte Ghyl von Kopf bis Fuß. »Ich fühle mich geehrt, Eure Bekanntschaft zu machen. Lord Dugald befindet sich in der Tat in meinem Horst und genießt ein Fest.« Er zögerte einen kaum merklichen Augenblick lang. »Ich würde mich freuen, Euch in meinem Horst begrüßen zu dürfen, zumal Ihr Lord Dugald offenbar dringend zu sprechen wünscht.« Ghyl lachte. »Darauf habe ich schon viele Jahre lang gewartet, da machen ein, zwei Tage nichts mehr aus; aber ich würde es in der Tat begrüßen, wenn wir die Angelegenheit so rasch als möglich hinter uns bringen könnten.« »Sehr gut, Sir Hartwig. Ihr seid wo?«
»Am Godero-Raumhafen.« »Wenn Ihr zum Büro C geht und meinen Namen erwähnt, wird man Euch ein Transportmittel zur Verfügung stellen.« »Ich werde sofort kommen.«
Die Empfänger glaubten im Allgemeinen, dass die Lords in Prunk und Pracht lebten, umgeben von sündhaft teuren Gegenständen; sie glaubten, die Lords atmeten nur die betörendsten Düfte ein und würden von wunderschönen Mädchen verwöhnt. Es hieß, ihre Betten seien aus duftenden Hölzern geschnitzt, ihre Matratzen mit Blüten gefüllt, und jede Mahlzeit sei ein Festmahl mit den teuersten Delikatessen und dem edelsten Gadewein. Trotz all der Gedanken, die in seinem Kopf umherschwirrten, war Ghyl aufgeregt, als der Luftwagen sich vom Boden erhob und Richtung Horst flog. Auf einer von einer weißen Balustrade umgebenen Terrasse wurde er abgesetzt, und ganz Ambroy erstreckte sich unter ihm. Zwei breite Stufen führten auf eine höhere Terrasse, und dahinter lag der Palast von Lord Parnasse. Ghyl befahl dem Fahrer zu warten. Er stieg die Stufen hinauf und näherte sich der Tür, neben der zwei Garrion in roten Livreen standen. Durch große, mit goldenen Satinvorhängen verzierte Fenster sah Ghyl eine beeindruckende Versammlung von Lords und Ladies. Ghyl betrat den Palast, ohne von den Garrion angehalten zu werden. Drinnen blieb er erst einmal stehen, um die feiernden Lords und Ladies zu betrachten. Es war ungewöhnlich still. Alle flüsterten nur miteinander, und lachte einmal jemand, so tat er das fast lautlos. Fast schien es, als stritten sie darum, wer sich am leisesten verhalten und gleichzeitig visuell am meisten hermachen könne.
Ghyl schaute sich im Raum um. Alles war elegant, sicher, doch das diffuse Licht verbarg eigentlich mehr, als dass es die Einrichtung erhellte. Der Boden bestand aus braunen und senffarbenen Karos, und darüber lag ein dicker schwarzer Teppich von den Manginseln. Als Sitzgelegenheiten dienten Sofas, die mit flaschengrünem Plüsch gepolstert waren – auf Ghyl wirkten sie eher exzentrisch; sicherlich stammten sie nicht aus der Werkstatt eines Ambroy-Tischlers. Die Wände waren mit Wandteppichen behangen, die offensichtlich damarischen Ursprungs waren. Pracht und Luxus, ja, dachte Ghyl, aber das alles hatte auch etwas Schäbiges an sich; es wirkte leblos und aufgesetzt wie eine Bühnendekoration. Der Luft mangelte es an Frische, und von Spontaneität war den Gästen nichts anzumerken. Ghyl hatte den Eindruck, als würde er dem Puppenspiel eines Festes zusehen und nicht einer wirklichen Feier. Da nimmt es nicht wunder, dachte Ghyl, wenn die Lords und Ladies auf solche Feste wie den Bezirksball gehen, wo sie an der Leidenschaft ihrer Untertanen teilhaben können… Im selben Augenblick, da er an den Bezirksball dachte, entdeckte er Shanne, die ein wunderbares limonenfarbenes Kleid trug. Ghyl beobachtete sie fasziniert, während sie sich flüsternd mit einem jungen Lord unterhielt. Mit charmantem Eifer setzte sie all ihre Waffen ein: Lächeln, Schmollmund, schelmischer Augenaufschlag… Ein großer dünner Lord näherte sich Ghyl: Lord Parnasse. Er verneigte sich vor Ghyl. »Sir Hartwig Thorn?« Ghyl verneigte sich ebenfalls. »Der bin ich.« »Ich hoffe, Ihr findet Gefallen an meinem Horst.« Lord Parnasses Stimme klang ungewöhnlich trocken und weit weniger hochmütig als die anderer Mitglieder seines Standes. »Er ist wunderbar.«
»Wenn Ihr Lord Dugald dringend zu sprechen wünscht, werde ich Euch jetzt zu ihm führen. Habt Ihr dann alles erledigt, fühlt Euch frei, Euch zu amüsieren, wie Ihr wollt.« »Ich möchte Eure Gastfreundschaft nicht überstrapazieren«, sagte Ghyl. »Wie Ihr seht, habe ich dem Luftwagen befohlen zu warten. Weswegen ich hier bin, ist vermutlich schnell erledigt.« »Wie Ihr wünscht. Wenn Ihr mir jetzt bitte folgen wollt.« Shanne hatte Ghyl bemerkt; sie starrte ihn fasziniert an. Ghyl lächelte und nickte ihr zu; es machte keinen Unterschied, ob sie ihn erkannte oder nicht. Verwirrt und nachdenklich blickte sie Ghyl hinterher, der von Lord Parnasse in einen kleinen Raum geführt wurde, der mit einem blauen Seidenvorhang abgetrennt war. An einem kleinen Intarsientisch saß Lord Dugald der Boimarc. »Hier ist Sir Hartwig Thorn von der Erde, der etwas mit Euch besprechen will«, sagte Parnasse. Er verneigte sich steif und ging. Der untersetzte Großlord Dugald mit der ungesunden Hautfarbe blickte Ghyl an. »Kenne ich Euch? Ihr kommt mir irgendwie bekannt vor. Wie war noch mal Euer Name?« »Mein Name ist nicht von Bedeutung«, sagte Ghyl. »Nennt mich einfach Fürst Emphyrio von Ambroy.« Dugald starrte ihn kalt an. »Dieser Scherz scheint mir ein wenig übertrieben.« »Dugald, der Ihr Euch Großlord nennt, Euer ganzes Leben ist nichts als ein Scherz.« »Hä? Was soll das?« Dugald wuchtete sich in die Höhe. »Worum geht es hier überhaupt? Ihr seid kein Erdenmensch! Eure Stimme ist die eines niederen Empfängers. Was für eine Farce ist das hier?« Dugald drehte sich um, um den Garrion zu rufen, der am anderen Ende der Halle stand.
»Wartet«, sagte Ghyl. »Hört mir zu, und entscheidet dann, was Ihr tun wollt. Wenn Ihr den Garrion jetzt ruft, verliert Ihr alle Möglichkeiten.« Dugalds Gesicht lief purpurn an, und er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Ich kenne Euch«, sagte er schließlich. »Ich habe Euch schon einmal gesehen. Ich erinnere mich an Eure Art zu sprechen… Kann das sein? Ihr seid Ghyl Tarvoke der Verbannte! Ghyl Tarvoke der Pirat! Der große Dieb!« »Ich bin Ghyl Tarvoke.« »Das hätte ich schon wissen sollen, als Ihr den Namen ›Emphyrio‹ erwähnt habt. Welch Ungeheuerlichkeit, dich hier zu finden! Was willst du von mir? Rache? Du hast deine Strafe verdient!« Lord Dugald funkelte Ghyl wütend an. »Wie bist du entkommen? Du bist verbannt worden!« »Das stimmt«, sagte Ghyl. »Jetzt bin ich aber wieder hier. Ihr habt meinen Vater vernichtet, und mit mir habt Ihr das Gleiche versucht. Ich habe kein Mitleid mit Euch.« Wieder drehte sich Dugald zu dem Garrion um, und wieder hob Ghyl die Hand. »Ich trage eine Waffe; ich kann sowohl Euch als auch den Garrion jederzeit töten. Ihr solltet mich besser anhören; es wird nicht lange dauern. Dann könnt Ihr immer noch entscheiden, was Ihr tun wollt.« »Dann sprich!«, knurrte Dugald. »Sag, was du sagen willst, und dann geh!« »Ich habe den Namen Emphyrio genannt. Er lebte vor zweitausend Jahren und besiegte die Puppenspieler von Damar. Er weckte das Bewusstsein der Wirwan; er überzeugte sie davon, Frieden zu halten. Dann ging er nach Damar und sprach im Catademnon. Wisst Ihr, was der Catademnon ist?« »Nein«, antwortete Lord Dugald in verächtlichem Tonfall. »Red weiter.« »Die Puppenspieler trieben einen Nagel durch Emphyrios Kopf; dann bereiteten sie einen neuen Feldzug vor. Was sie
mit Gewalt nicht hatten bekommen können, hofften sie nun durch List zu erreichen. Nach den Imperialen Kriegen bauten sie die Stadt wieder auf; sie installierten die Oberbahn und die Unterlinie und richteten Boimarc ein. Auch schufen sie die Thurible-Kooperation, und danach verkaufte Boimarc an Thurible und vielleicht auch umgekehrt. Puppenspieler! In der Tat! Wozu brauchten die Damarer Puppen? Sie benutzten die Menschen von Fortinone als Puppen und raubten uns unseren Reichtum.« Dugald rieb sich die Nase. »Woher weißt du das alles?« »Wie könnte es anders sein? Ihr habt mich einen Dieb und Pirat genannt. Aber Ihr seid hier der Pirat und Dieb! Genauer gesagt: Ihr seid eine Puppe, die von Dieben kontrolliert wird.« Lord Dugald schien förmlich anzuschwellen. »Jetzt aber halblang. Willst du mich auch noch beleidigen?« »Das ist keine Beleidigung; das ist die Wahrheit, und zwar im wörtlichen Sinne. Ihr seid Puppen, die die Damarer vor langer Zeit in ihren Gentanks geschaffen haben.« Lord Dugald blickte Ghyl in die Augen. »Bist du sicher?« »Natürlich. Lords? Ladies?« Ghyl stieß ein heiseres Lachen aus. »Was für ein Witz! Ihr seid hervorragende Kopien von Menschen… aber Ihr seid Puppen.« »Wer hat dich mit solch fantastischen Gedanken angesteckt?«, verlangte Lord Dugald barsch zu wissen. »Niemand. In Garwan habe ich einen Damarer beim Gehen beobachtet; er setzte kaum die Füße auf, als täten sie ihm weh. Ich konnte mich daran erinnern, dass die Lords und Ladies auf Maastricht genauso gegangen sind, und ich erinnerte mich auch daran, wie sie das Licht gescheut haben und den offenen Himmel. Sie wollten in die Berge rennen, um sich zu verstecken – wie Wirwan und wie Damarer. Ich erinnerte mich auch an ihre Hautfarbe: Da ist dieses Rosa, das manchmal zum Purpurfarbenen hinüberwechselt – Damarerpurpur. Auf
Maastricht habe ich mich gefragt, wie menschlich aussehende Wesen sich nur so seltsam verhalten können. Wie konnte ich nur so naiv sein? Und nicht nur ich… Unzählige Generationen von Männern und Frauen haben nie auch nur das Geringste bemerkt; sie waren geradezu unglaublich dumm. Dabei ist alles so einfach. Einen derart großen Betrug kann man kaum begreifen; deshalb leugnet ihn jeder.« Während Ghyl sprach, begann Dugalds Gesicht zu zittern und auf seltsame Art zu arbeiten. Er schob die Lippen vor und zurück; seine Augen quollen aus den Höhlen, und seine Schläfen pochten so heftig, dass Ghyl schon fürchtete, der Mann platze auseinander. Schließlich platzte Dugald heraus: »Unsinn… Müll… Das ist ja krank…!« Ghyl schüttelte den Kopf. »Nein. Sobald man sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hat, ist alles sonnenklar. Schaut!« Er deutete auf die Wandbehänge. »Ihr richtet Euch genauso ein wie Damarer; Ihr habt keine Musik; Ihr könnt mit uns einfachem Volk keine Kinder zeugen; Ihr riecht sogar seltsam.« Dugald sackte auf seinen Stuhl zurück, und einen Augenblick lang schwieg er. Dann blickte er listig zu Ghyl. »Wie weit habt Ihr dieses wilde Gedankengut verbreitet?« »Weit genug«, antwortete Ghyl. »Andernfalls hätte ich nicht gewagt hierherzukommen.« »Hah! Wen habt Ihr informiert?« »Zunächst einmal ist da das Memorandum an das Historische Institut.« Dugald stöhnte, als sei ihm plötzlich übel geworden. Dann erklärte er mit einem mitleiderregenden Rest an Mut: »Sie werden solch ein Geschwätz niemals glauben! Wem sonst noch?« »Es würde Euch nichts nützen, mich zu töten«, sagte Ghyl in höflichem Tonfall. »Ich sehe, dass Ihr es gerne tun würdet. Ich
versichere Euch, es wäre sinnlos, ja, schlimmer noch… Meine Freunde würden dieses Wissen nicht nur in ganz Fortinone verbreiten, sondern im gesamten menschlichen Universum. Die Lords sind nur Puppen, und sie sind auch noch stolz auf ihr Theater, mit dem sie das Volk, das ihnen vertraut, fortlaufend betrügen.« Dugald kauerte sich in seinem Stuhl zusammen. »Der Stolz ist nicht gespielt; er ist echt. Soll ich dir mal etwas sagen? Nur ich, Großlord Dugald der Boimarc, ich bin der einzige Lord, der keinen Stolz besitzt. Ich bin demütig, bescheiden… weil nur ich allein die Wahrheit kenne. All die anderen trifft keine Schuld. Sie erkennen zwar, dass sie anders sind, aber sie führen das auf ihre Überlegenheit zurück. Nur ich bin nicht stolz; nur ich weiß, was ich bin.« Er stöhnte auf. »Nun muss ich zahlen, was du verlangst. Was willst du? Geld? Eine Raumjacht? Ein Stadthaus? All das?« »Ich will nur die Wahrheit. Die Wahrheit muss bekannt gemacht werden.« Dugald krächzte protestierend. »Was kann ich tun! Willst du, dass ich mein eigenes Volk vernichte? Die Ehre ist alles, was wir haben. Ich allein bin ohne Ehre, und sieh mich an! Sieh, wie es mir ergeht! Ich bin anders als die anderen. Ich bin eine Puppe!« »Ihr allein wisst es?« »Ich allein. Bevor ich sterbe, werde ich es einem anderen verraten und ihn auf diese Art genauso verdammen, wie ich verdammt worden bin.« Lord Parnasse trat in den kleinen Nebenraum. Fragend blickte er von Ghyl zu Lord Dugald. »Ihr seid noch immer bei Euren Geschäften? Das Abendessen ist bald fertig.« Er wandte sich an Ghyl: »Werdet Ihr uns Gesellschaft leisten?« Ghyl lachte angespannt. Lord Parnasse hob die Augenbrauen. »Sicher«, sagte Ghyl. »Es wäre mir eine Freude.«
Lord Parnasse verneigte sich höflich und ging wieder. Lord Dugald setzte einen Ausdruck gespielter Jovialität auf. »Nun denn, lass uns einmal über die Sache nachdenken. Du bist kein Chaotizist; ich bin sicher, dass du keine Gesellschaft vernichten willst, die sich über Jahrhunderte hinweg bewährt hat. Immerhin…« Ghyl hob die Hand. »Lord Dugald, eines muss auf jeden Fall geschehen: Diesem Betrug muss ein Ende gemacht werden, und die Menschen, die Ihr beraubt habt, müssen entschädigt werden. Wenn Ihr und Eure ›Gesellschaft‹ diese Schritte überlebt, schön und gut. Nur Euch und die Damarer hasse ich, nicht die Lords von Ambroy.« »Was du verlangst, ist unmöglich«, erklärte Dugald. »Du bist hier reinstolziert und hast mich bedroht, und jetzt ist meine Geduld am Ende! Ich warne dich mit allem Nachdruck, keine Lügen zu verbreiten!« Ghyl drehte sich zur Tür um. »Die Ersten, die es erfahren sollen, werden Lord Parnasse und seine Gäste sein.« »Nein!«, schrie Dugald außer sich. »Willst du uns alle vernichten?« »Dem Betrug muss ein Ende gemacht werden, und es muss Entschädigung geben.« Dugald hob verzweifelt die Arme. »Du bist unerbittlich.« »›Unerbittlich‹? Ich bin leidenschaftlich. Ihr habt meinen Vater getötet. Ihr habt uns zweitausend Jahre lang betrogen und bestohlen. Wie könnt Ihr da von mir etwas anderes erwarten?« »Ich werde alles wieder in Ordnung bringen. Die Abgabenhöhe wird wieder auf 1,18 Prozent zurückgesetzt, und die Empfänger werden fortan eine wesentlich höhere Rückerstattung erhalten. Dafür sorge ich persönlich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hartnäckig die Damarer sind!« »Die Wahrheit muss bekannt gemacht werden.«
»Aber was ist mit unserer Ehre?« »Verlasst Halma. Nehmt Euer Volk, und geht auf einen weit entfernten Planeten, wo niemand Euer Geheimnis kennt.« Dugald stieß einen gequälten Schrei aus. »Wie soll ich solch eine drastische Maßnahme erklären?« »Mit der Wahrheit.« Dugald starrte Ghyl in die Augen, und einen seltsamen, kurzen Augenblick lang hatte Ghyl das Gefühl, wie bei einem Damarer in eine schier unendliche Leere zu blicken. Dugald musste ebenfalls etwas gesehen haben, was ihn erschreckte. Er drehte sich um, verließ den kleinen Raum und trat in die Halle hinaus, wo er auf einen Stuhl kletterte. Seine raue Stimme übertönte das allgemeine Murmeln. »Hört mir zu! Hört mir alle zu! Die Wahrheit muss gesagt werden!« Die Lords und Ladies drehten sich höflich überrascht zu ihm um. »Die Wahrheit!«, schrie Dugald. »Die Wahrheit muss gesagt werden! Alle müssen es endlich erfahren!« Stille herrschte in der Halle. Dugalds Blick huschte nach rechts und links. Es fiel ihm schwer, die ersten Worte herauszubringen. »Vor zweitausend Jahren«, erklärte er, »hat Emphyrio Fortinone von den Damarermonstern befreit, die wir als Wirwan kennen. Jetzt ist ein neuer Emphyrio gekommen, um eine andere Rasse von Damarermonstern zu vertreibern. Er hat darauf bestanden, dass die Wahrheit bekannt gemacht wird, und so werdet Ihr sie jetzt hören. Vor fast zweitausend Jahren, als Ambroy in Trümmern lag, ist eine neue Art von Puppen von Damar herabgesandt worden. Wir sind diese Puppen. Wir haben unseren Herren auf Damar gedient und ihnen das Geld gegeben, das wir aus unseren Untertanen gepresst haben. Das ist die Wahrheit, und nun, da
sie bekannt ist, können uns die Damarer zu nichts mehr zwingen. Wir sind keine Lords; wir sind Puppen. Wir besitzen keine Seele, keinen Verstand, keine Identität. Wir sind künstlich. Wir sind keine Menschen, ja noch nicht einmal Damarer, und vor allem sind wir keine Lords. Wir sind Maschinen, Spielzeuge. Ehre? Unsere Ehre ist wie Rauch im Wind. Würde? Stolz? Auf uns bezogen sind diese Worte einfach nur lächerlich.« Dugald deutete auf Ghyl. »Er kam heute Abend hierher und nannte sich Emphyrio, und er zwang mich, die Wahrheit zu sagen. Ihr habt die Wahrheit jetzt gehört… … und wenn die Wahrheit gesagt ist, gibt es nichts mehr zu sagen.« Dugald stieg vom Stuhl herunter. Im Raum herrschte Schweigen. Eine Glocke ertönte. Lord Parnasse bewegte sich und ließ seinen Blick über die Gäste schweifen. »Das Festmahl erwartet uns.« Langsam verließen die Gäste den Raum. Ghyl stand daneben. Shanne kam an ihm vorbei. Sie blieb stehen. »Du bist Ghyl. Ghyl Tarvoke.« »Ja.« »Einst, vor langer Zeit, hast du mich geliebt.« »Aber du hast mich nie geliebt.« »Vielleicht habe ich das. Vielleicht habe ich dich so sehr geliebt, wie ich konnte.« »Das ist lange her.« »Ja. Jetzt ist alles anders.« Shanne lächelte höflich, hob ihre Röcke hoch und ging.
Ghyl wandte sich an Lord Dugald. »Morgen müsst Ihr zu Euren Untertanen sprechen. Sagt Ihnen die Wahrheit, so wie Ihr Eurem eigenen Volk die Wahrheit gesagt habt. Vielleicht werden sie Eure Türme nicht einreißen. Wenn sie jedoch außer sich vor Wut sind, müsst Ihr bereit sein, sofort aufzubrechen.« »Wohin? In die Meagherberge, um uns den Wirwan anzuschließen?« Ghyl zuckte mit den Schultern. Lord Dugald drehte sich um. Lord Parnasse wartete auf ihn. Sie gingen in die Speisehalle und ließen Ghyl allein zurück. Ghyl ging wieder auf die Terrasse hinaus. Dort blieb er einen Augenblick lang stehen und blickte auf die alte Stadt hinaus, die sich unter ihm erstreckte und deren Lichter bis über den Insse hinweg leuchteten. Noch nie hatte er etwas derart Schönes gesehen. Er ging zum Luftwagen. »Bring mich zur Taverne zum Braunen Stern.«
Kapitel Vierundzwanzig
Die Menschen von Ambroy, so vorsichtig, so fleißig, so schlicht, waren mehrere Stunden wie benommen, nachdem die Erklärung über das öffentliche Spaysystem verbreitet worden war. Sie hörten auf zu arbeiten, gingen hinaus auf die Straße und starrten zu Damar empor, zu den Horsten auf den Vashmonttürmen hinauf und dann hinüber zur Wohlfahrtsagentur. Die Menschen sprachen nur wenig miteinander. Gelegentlich stieß einer ein heiseres Lachen aus, doch nur, um dann wieder zu schweigen. Langsam trieben die Menschen auf die Wohlfahrtsagentur zu, und gegen Mittag hatte sich eine große Menschenmenge auf dem Platz davor versammelt und starrte das düstere, alte Gebäude an. Im Inneren hatte sich der Cobol-Klan zu einer Notfallsitzung versammelt. Die Menge wurde allmählich unruhig. Vereinzelt war ein erstes Murmeln zu hören, das rasch lauter wurde. Irgend jemand, vielleicht ein Chaotizist, warf einen Stein, der ein Fenster zerbrach. Ein Gesicht erschien in dem Loch, und ein Arm machte ermahnende Gesten, die die Menge jedoch nur noch mehr zu reizen schienen. Bis jetzt hatten sie gezögert, zumal sie nicht wussten, welche Rolle die Wohlfahrtsagentur bei dem allen gespielt hatte. Aber die wütenden Gesten aus dem Fenster schienen die Wohlfahrtsagentur in das Lager jener zu rücken, die die Empfänger über zweitausend Jahre hinweg ausgebeutet hatten, und immerhin: Hatten nicht die Wohlfahrtsagenten die Regeln durchgesetzt, die den Schwindel erst möglich gemacht hatten?
Unruhe breitete sich aus. Das Murmeln wurde zu einem drohenden Knurren. Weitere Steine wurden geworfen; Fenster barsten. Aus einem Lautsprecher aus dem Dach rief plötzlich eine Stimme: »Empfänger! Kehrt an Eure Arbeit zurück! Die Wohlfahrtsagentur beschäftigt sich mit der Situation, und in angemessener Zeit werden wir die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Löst diese Versammlung auf, und geht! Sofort! Geht in eure Häuser und an eure Arbeitsplätze! Das ist ein offizieller Befehl!« Die Menge hörte nicht darauf. Immer mehr Steine wurden geworfen, und plötzlich stand die Wohlfahrtsagentur unter Belagerung. Eine Gruppe von jungen Männern versuchte, den Eingang aufzubrechen. Gewehrfeuer ertönte; mehrere der jungen Männer brachen zusammen. Die Menge rückte vor und drang durch die zerbrochenen Fenster in die Agentur ein. Weitere Schüsse hallten über den Platz, doch die Menge war bereits im Gebäude, wo viele schreckliche Dinge geschahen. Die Cobols wurden in Stücke gerissen und das Gebäude niedergebrannt. Die Hysterie hielt die ganze Nacht hindurch an. Die Horste blieben intakt, doch hauptsächlich, weil der Mob keine Mittel hatte, tun sie anzugreifen. Am nächsten Tag versuchte der Gildenrat, die Ordnung wiederherzustellen, was ihm auch weitgehend gelang, und dem Bürgermeister wurde die Aufgabe übertragen, eine Miliz aufzustellen. Sechs Wochen später verließen hundert Raumschiffe von jedweder Art – Passagierschiffe, Frachter und Raumjachten – Ambroy und flogen nach Damar. Ein paar Damarer wurden getötet und ein paar mehr gefangengenommen. Der Rest suchte Zuflucht in den Residenzen. Einer Gesandtschaft der Damarer wurde folgendes Ultimatum übergeben:
Seit zweitausend Jahren habt ihr uns mitleidlos ausgeplündert. Wir verlangen vollständige Wiedergutmachung. Bringt uns all euren Reichtum: jeden Fetzen Stoff, jedes wertvolle Artefakt, all eure Schätze, das Geld, Schuldscheine, fremde Einlagen und Devisen. Bringt uns alles, was von Wert ist. Diese Dinge sollen von nun an uns gehören. Anschließend werden wir eure Residenzen sprengen. Fortan sollen die Damarer in der Oberfläche ein ebenso trostloses Leben leben wie das, welches sie uns aufgezwungen haben. Anschließend werdet ihr dem Staat Fortinone jährliche Reparationen in Höhe von zehn Millionen Gutscheinen zahlen, und das für zweihundert Halma-Jahre. Wenn ihr nicht sofort auf diese Bedingungen eingeht, werdet ihr allesamt vernichtet werden, und nicht ein Damarer wird am Leben bleiben. Vier Stunden später wurden die ersten Wertgegenstände aus den Residenzen geschafft. Auf dem Undle-Platz wurde ein Schrein errichtet für ein kristallenes Gefäß mit dem Skelett des Emphyrio. Auf der Tür eines Hauses in der Nähe mit bernsteinfarbenen Fenstern hing eine Plakette aus poliertem Obsidian. Darauf stand in silbernen Buchstaben geschrieben: In diesem Haus lebte und arbeitete der Sohn von Amiante Tarvoke, Ghyl, der, indem er den Namen Emphyrio annahm, diesem Namen, seinem Vater und sich selbst große Ehre erwies. ENDE