dtv Reihe Hanser
Tom ist anders, anders als die anderen seines Volkes. Er ist nicht schnell genug, nicht leise genug,...
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dtv Reihe Hanser
Tom ist anders, anders als die anderen seines Volkes. Er ist nicht schnell genug, nicht leise genug, er hört und sieht nicht so gut wie sie. Und er sieht auch ein wenig anders aus. Er sei wie Edrin, sagen die Elfen, und Edrin war eine Gefahr für die anderen. Also haben sie sie getötet. Aus Angst flieht Tom in die Stadt der Dämonen und findet Unterschlupf in einem Gartenhäuschen. Nur dumm, dass manchmal eines der Dämonenwesen dorthin kommt und ihn schließlich entdeckt. Es heißt Anna und es hat einen feindseligen Bruder. Zum Glück nimmt die Nachbarin Edie Mackintosh Tom zu sich. Bald macht sich ein unheimlicher Gedanke in Toms Kopf breit: Ist er vielleicht ein bisschen wie die Dämonen? Und ist Edie vielleicht ein bisschen wie er selbst? Sally Prue dachte sich bereits als Teenager Geschichten aus. Aber immer, wenn sie sie in der Schule aufschreiben sollte, kam nur eine große Unordnung dabei heraus. Also nahm sie wie fast ihre ganze Familie eine Stelle in der nahen Papierfabrik an und heiratete schließlich den Mann, der ihr dort gegenübersaß. Mit ihm und ihren zwei Töchtern lebt sie heute in Hertfordshire in England.
Sally Prue
Elfenhauch Aus dem Englischen von Ute Mihr
Deutscher Taschenbuch Verlag
Das gesamte lieferbare Programm der Reihe Hanser und viele andere Informationen finden Sie unter www.reihehanser.de Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung September 2006 e-Book by Brrazo 08/2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © Sally Prue 2001 Titel der Originalausgabe: ›Cold Tom‹ (Oxford University Press, Oxford) © der deutschsprachigen Ausgabe: Carl Hanser Verlag München Wien Umschlagbild: Dieter Wiesmüller Gesetzt aus der Palatino 11/14´ Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-13: 978-3-423-62278-3 ISBN-10: 3-423-62278-4
1 Das Volk floh. Panisch zog Tom sich in die dunkelvioletten Zweige eines struppigen Schwarzdorns und verharrte dort reglos. Die Dämonen waren zu dritt. Keine besonders großen Exemplare, aber dennoch waren sie schwerfällig, heiß und fett. Mit hässlich blaffenden Stimmen brüllten sie sich an. Tom bemühte sich, ruhig zu atmen. Wie waren die Dämonen hierher gekommen? Er war nicht eingeschlafen, bestimmt nicht. Warum hatte er sie nicht bemerkt? Sie kamen direkt auf ihn zu. Ihre trampelnden Füße machten richtig Lärm. Warum hatte er sie nicht gehört? Sie bogen um ein Schwarzdorngestrüpp und kamen wieder in Sicht. Jetzt witterte er auch ihren muffigen, fauligen Geruch. Dauernd berührten sie sich, umarmten sich und warfen einander Sklavenschatten in den Geist. Tom hielt die Luft an, damit ihm nicht übel wurde. Sie würden direkt unter ihm vorbeigehen. Sein Herz hämmerte laut gegen die Rippen. Dämonen waren halb blind und fast taub. Aber jetzt waren sie sehr nahe. Ihre schweren Schritte ließen den Schwarzdorn erzittern. 7
Ein Dämon streckte seinen fleischigen Arm aus. Er drückte einen Ast beiseite und der ganze Busch schwankte hin und her. Toms Füße rutschten ab. Er fiel, griff ins Leere, bekam etwas zu fassen und hing in der Luft. Kreischend flogen Vögel auf, aber die Dämonen wandten nicht einmal den Kopf. Sie trotteten stumpfsinnig weiter. Als Tom mit seinen Füßen wieder Halt fand, waren nur noch ihre heiseren Stimmen zu hören. Tom atmete tief durch und dankte den Sternen. Ein feines Rauschen strich über die Lichtung, nicht viel mehr als das Rascheln von Blättern, und das Volk stand wieder vor ihm. Es waren einige Dutzend, kühl und schmal, in silbernen Gewändern. Und alle Augen waren auf Tom gerichtet. Auf Tom, der sie nicht gewarnt hatte. Tom schaute kurz zu ihnen hinüber und vergaß die Dämonen. Er ließ sich fallen und rannte los. Erst als er den dicken Ring von Bäumen um die Lichtung herum durchquert hatte, machte er Halt. Er lauschte. Nichts zu hören. Niemand folgte ihm. Leise schlich er am Waldrand entlang weiter. Im Nebel jenseits der fahlen Winterwiese breitete sich die Stadt der Dämonen aus. Überall auf dem Gemeindeland hatten sie inzwischen ihre Vorposten. Tom ging über die Wiese auf ein einzelnes Dornengestrüpp zu. Dort war sein Nest. Er schlängelte sich in die mit Wollfäden ausgekleidete Höhle und rollte sich zu einer Kugel zusammen. 8
Das Volk wäre fast entdeckt worden. Und er war schuld. Bald würde das Volk ihn aufspüren. Wenn sie nicht beschlossen, ihn warten zu lassen. Und er wartete.
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2 Die Wolken wurden langsam dunkel wie Blutergüsse, aber niemand kam. Nur ein Buchfink näherte sich Tom, setzte sich auf einen Ast über seinem Kopf und putzte sich. Der kleine Vogel war winterdünn, wahrscheinlich nur Haut und Knochen und Federn, aber – Tom setzte sich vorsichtig auf. Eins. Zwei. Drei. Jetzt! Er sprang auf und griff zu. Sein Ärmel blieb an den Dornen hängen, trotzdem gelang es ihm, eine Hand voll nadelspitzer Klauen zu packen. Aber auf einmal wehrte sich der Buchfink und kämpfte um sein Leben. Er kratzte und pickte, schrie und wand sich in Toms kalten Fingern. Tom schlängelte hastig die andere Hand durch die Zweige, damit er dem Vogel den Hals umdrehen konnte. Zu spät. Der Vogel drehte sich und pickte sich seinen Weg in die Freiheit. Tom blieben nur drei blutige Federn. Traurig leckte er das Blut von den Kielen. Der ganze Hang hallte wider von spitzen Alarmrufen. Jetzt war jedes Lebewesen auf der Hut. Das machte all seine Hoffnung zunichte, dass er noch Beute machen würde. Aber eigentlich hatte es nie viel Hoffnung gegeben. Tom seufzte. Keine Chance, heute 10
Abend noch etwas in den Magen zu bekommen. Außer er stellte sich dem Volk. Im Winterwind zogen sich seine Muskeln zusammen. Er zitterte und schlang die Arme um den Körper. Das Volk würde Rache nehmen, wenn er zurückkehrte. Aber dem konnte er nicht entkommen, egal was er tat. Am Ende würden sie ihn kriegen. Er kuschelte sich wieder in sein Nest. Er wollte noch eine Stunde warten. Vielleicht hätten sie dann so viel getrunken, dass sie sich nicht mehr um ihn kümmerten. Dann würde er sich stellen. Jeder aus dem Volk saß allein da, voll gefressen, und das Mondlicht der kalten Nacht ergoss sich über sie. Sia legte sich ins Gras zurück und leckte ein paar Blutstropfen von ihrem Arm. Sie war sehr schön und sie hatte Tom geworfen. Das war merkwürdig, denn Tom war langsam und seine Stimme war hässlich. Das hatte Sia ihm gesagt. Vor dem Volk lag ein Hirsch. Der noch warme Körper war von der Kehle bis zum Waidloch aufgeschlitzt und dampfte in der kalten Luft. Tom lief das Wasser im Mund zusammen. Vorsichtig stellte er einen Fuß ins Mondlicht. Alle aus dem Volk sahen ihn, aber sie fraßen und ließen sich nicht ablenken. Tom schlich vorsichtig zu dem Wild. Die Leber war der Teil des Tieres, der am wenigsten geschätzt und eigentlich den Fliegen überlassen wurde. Aber Toms Zähne waren stumpf und seine Reißzähne waren noch nicht gewachsen. Er zog sein Messer. 11
Tom aß, sehr leise und sehr vorsichtig, und duckte sich dabei in den Schatten des Hirschkörpers. Jetzt schütteten sie sich in glitzernden Strömen Dämonenwein in den Rachen. Sias lange Kehle leuchtete weiß über ihren silbernen Ketten. Larn saß ein Stückchen abseits. Er war der geschickteste Jäger des Volks, und er hatte Tom gezeugt. Larn goss sich die letzten Tropfen des schwarzen Weins in den Mund und warf die Flasche weg. Tom drückte sich noch dichter an die warme Flanke des Hirschs. Jetzt war das Volk satt und konnte sich ihm zuwenden. »Tom ist da«, sagte Sia. Tom begann zu reden, obwohl er näselte und seine Stimme heiser klang und sie ihn verhöhnen würden. »Die Dämonen haben sich angeschlichen«, sagte er, und kaltes hohes Lachen antwortete ihm. »Schleichende Dämonen?«, fragte eine Stimme voller Verachtung. »Er muss blind sein wie ein Maulwurf.« »Er ist heiser wie ein Igel.« »Und taub.« »Und leichtsinnig.« Bei dieser Bemerkung erstarb das Lachen. »Beinahe wurden wir entdeckt«, sagte jemand. »Das darf nie wieder geschehen.« »Man muss ihn lehren, wach zu bleiben.« »Und er darf die Lektion nicht vergessen.« Tom wartete. 12
Dann sagte jemand: »Durchbohrt ihn mit einem Speer.« Tom bedeckte das Gesicht mit den Armen. Mehr konnte er nicht tun. Er wartete. Jemand kam näher. Der Raureif knirschte. Tom machte sich so klein, wie er nur konnte, aber eine Hand riss an seinem Gürtel, und er streckte instinktiv die Arme aus, als der Boden sich seinem Gesicht näherte. Dann drehte sich das Gras schwindelerregend an ihm vorbei und er hing hilflos an seinem Gürtel. Die ganze Lichtung tanzte und drehte sich wild und der Gürtel schnitt ihm in den Bauch. Eine Runde folgte auf die andere, bis er nicht mehr wusste, wo er war und was geschah oder warum alle lachten. Dann zerflossen die Sterne und die Dunkelheit zu einem großen Wirbel und er flog. Er flog. Die Landung war härter, als er sie sich vorzustellen vermochte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er verschiedene, klar gegeneinander abgegrenzte Empfindungen: den stechenden Schmerz einer Fleischwunde, den verdrehten Knöchel und den Kampf seiner leeren erschöpften Lungen. Aber dann kam ein größerer Schmerz. Er traf ihn mit blaffenden Dämonenstimmen und der Gewalt einer Flutwelle. Seine Lungen waren leer, deshalb konnte er nicht schreien. Der Schmerz überrollte ihn und verschluckte ihn. Dann spürte er nichts mehr.
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3 Tom schlug die Augen auf und blickte in den Himmel. Zuerst fiel ihm auf, dass die Sterne falsch aussahen: Sie waren klein und irgendwie vereist, so dass er die hellen Explosionen ihrer endlosen Kämpfe kaum erkennen konnte. Einen Augenblick lang lag er ganz still und versuchte herauszufinden, wo er war. Ein wenig entfernt von ihm sang jemand. Es war ein altes Lied. Die Worte stammten von den Dämonen, aber die Melodie war typisch für das Volk. Oh, ich verbiete euch Maiden Mit güldenem Haar Euch zu nähern Carterhaugh Denn der junge Tarn Lin ist da. Alle vom Volk hatten schöne Stimmen. Sie waren so klar und rein, dass die Weinflaschen der Dämonen, die auf dem Boden herumlagen, manchmal anfingen zu klirren. Nur Toms Stimme war heiser und rau. Nur Tom konnte nicht singen. Er lag zwischen den gezähnten Halmen des gefrorenen Grases, und während er lauschte, kam die Erinnerung. Aber der Gesang war weit weg und erstarb. Tom setzte sich mühsam auf. Sein Kopf fühlte sich an, 14
als wäre er mit Steinen gefüllt. Langsam und vorsichtig setzte er die Bruchstücke seiner Erinnerungen zusammen. Er hatte zugelassen, dass Dämonen sich dem Volk näherten. Und er hatte dafür bezahlt. Im Sitzen hörte er den Gesang wieder: Wenn ich ein Kind in mir fühle, Vater, muss ich selbst die Schande tragen; Es gibt keinen Herrn in deinem Reich Den du nach dem Namen kannst fragen Tom hatte dieses Lied schon viele Male gehört. Es erzählte die Geschichte einer Frau aus dem Volk. Sie hatte – unvorstellbar – einen Dämon zum Geliebten, verlor ihn aber an eine Frau aus seiner Welt. Er bewegte behutsam seine Arme und Beine. Das tat zwar schrecklich weh, aber er hatte sich wohl nicht ernsthaft verletzt. … Die Königin der Elfen nahm mich gefangen, Damit ich auf ihrem grünen Hügel leben soll … Er spitzte die Ohren, aber als die Töne höher wurden, erstarb der Gesang wieder. Warum brach der Gesang immer wieder ab? Die Singstimmen des Volks waren so hoch, dass die Dämonen sie nicht hören konnten, und jetzt schienen sich die höchsten Töne des Liedes auch ihm zu entziehen. 15
In seiner Erinnerung hallten die höhnischen Bemerkungen wider. Taub und leichtsinnig. Taub? War er wirklich taub? Vielleicht waren seine Ohren verstopft. Vielleicht hatte er sich verletzt, als er auf dem Boden aufgeschlagen war. Aber vielleicht … Vielleicht hatte er deshalb die Dämonen nicht gehört. Eingeschlafen war er nicht. Das hätte er nicht gewagt, nicht draußen im offenen Gelände. Vielleicht wurde er tatsächlich taub. Inzwischen müsste das Lied zu Ende sein. Das Volk würde sich schlafen legen. Auch morgen könnten wieder Dämonen durch das Gemeindeland kommen und Tom könnte ihnen besonders nahe kommen. Aber so lange er scharf Ausschau hielt … Er muss blind sein wie ein Maulwurf. Nein. Nein. Tom wand sich bei dem Gedanken. Wieder schaute er zu den Sternen hinauf. Sie waren wie winzige Diamanten über dem samtenen Himmel verstreut. Aber das war alles falsch. Sie sollten nicht so klein sein, so hell und so tot. Sie sollten den Himmel mit flackerndem Feuer verzehren. Auf einmal traute Tom seiner Wahrnehmung nicht mehr. Wo war das Volk? Er hatte geglaubt, sie hätten sich zur Ruhe gelegt, aber sie konnten auch ganz in seiner Nähe sein. Wenn er nicht richtig sah und nicht richtig hörte, würde er noch mehr Dämonen durch16
lassen. Wenn er das Volk noch einmal in Gefahr brachte … Eine Amsel begrüßte die erste Morgenröte mit einigen wenigen verhaltenen Tönen. Tom rappelte sich auf und humpelte zwischen den Bäumen hindurch zu seinem Nest. Nebelschleier über dem nassen Gras verwischten die Umrisse der Dämonenstadt. Schon jagten ein oder zwei Dämonenwagen über die toten Straßen. Dämonen. Wenn er die Dämonen noch einmal durchließe … Durchbohrt ihn mit einem Speer. Tom dachte an den aufgebrochenen, dampfenden Hirsch. Er durfte nicht beim Volk bleiben. Er musste weggehen. Aber dann gab es für ihn keine Hoffnung. Er konnte zwar Fallen stellen und vielleicht ein Kaninchen fangen, aber damit würde er sich nicht am Leben erhalten. Larn pflückte Vögel von den Bäumen und erlegte einen Hirsch mit dem Speer auf dreißig Schritte. Bei Tom knackte immer ein Zweig unter den Füßen. Sie sagten, er mache so viel Lärm wie die Dämonen. Dämonen. Dämonen hatten zu essen. Tom hatte davon gehört und ihr Essen sogar gekostet, wenn die Alten zuweilen auf Raubzug in die Stadt gingen. Durch einen Feuerball der Dämonen zu sterben war auch nicht schlimmer, als von einem Speer durchbohrt zu werden. 17
Oder etwa doch? Der Morgen war gekommen, aber Tom brauchte keine Ruhe. Er hatte sich die ganze Nacht im Graben ausgeruht. Um die Steine in seinem Kopf nicht in Bewegung zu versetzen, ging er langsam den Abhang hinunter auf die Stadt der Dämonen zu.
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4 Das Volk ging niemals einfach so in die Stadt der Dämonen. Dämonen waren zwar dumm und zu schwerfällig, um sich flink bewegen zu können, aber sie waren stark und konnten einem mit der Hand die Knochen brechen. Wurde man von einem Dämon erwischt, konnte man nur noch die Sterne anrufen und sich unsichtbar machen. Tom bahnte sich seinen Weg durch das Gras. Reif lag nur noch im morgendlichen Schatten der Grasbüschel und so hinterließ er keine Fußspuren. Die Dämonen brauchten ihn nicht zu fangen, um ihn zu töten: Sie schossen mit Bleibolzen, die seinen Körper durchschlagen konnten. So töteten sie die Hirsche im Gemeindeland. Das Tier machte einen Satz, bäumte sich auf und fiel tot um. Die Speere des Volks waren besser, denn sie waren geräuschlos. Und ihre Wirkung war nicht weniger tödlich. Aber die Dämonen waren stark. Sie mussten nicht leise sein. Tom gelangte zum Rand des Gemeindelandes. Dort war die Straße der Dämonen. Sie bestand aus einem grauen, harten Stoff, der alle Pflanzen verwelken ließ. Er betrat die Straße. Tom war noch nie zuvor in der Stadt der Dämonen 19
gewesen. Sie roch nach Tod. Zitternd stand er bei der Brücke über den Fluss. Die Gefahr ließ seine Haut kribbeln. Hinüberzugehen war Wahnsinn, aber bleiben war ebenso gefährlich. Im Schlagschatten der Brüstung schlüpfte er über die Brücke, immer bereit, die Sterne anzurufen, damit sie ihn verbargen. Auf der anderen Seite der Brücke begann ein Weg aus viereckigen Platten, der von viereckigen Steinhäusern gesäumt wurde. Tom ging vorsichtig weiter, aber der Morgen dämmerte gerade erst, und die Dämonen saßen noch bei ihrem morgendlichen Fressgelage. Um ihn herum waren so viele Häuser, dass er meinte, in das sich kräuselnde Wasser eines Teichs zu blicken: Alles spiegelte und vervielfachte sich. Er konnte sich umdrehen, sooft er wollte. Alles in seiner Umgebung sah gleich aus. Dann ging ein Stück Wegs vor ihm eine Tür auf. Erschrocken drückte Tom sich gegen eine raue Lehmmauer. Aber die Dämonen, die heraustraten, waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn nicht bemerkten. Sie drückten ihre Lippen aufeinander. Dann ging das Männchen weg, aber das Weibchen und ihr Junges folgten ihm mit den Augen, bis er um die Ecke gebogen war. Tom musste sich beinahe übergeben. Sklavenbande fesselten das Männchen an die anderen. Tom konnte sie nicht sehen, aber er spürte, dass sie da waren. Bande, die am Geist des Männchens zerrten und ihn zur Rückkehr zwangen, so dass die anderen sich von ihm ernähren konnten. 20
Tom zog sich schaudernd zurück. Auf einmal verstand er, welche Gefahr ihm von der Dämonenstadt drohte. Nicht töten würde sie ihn, sondern seinen Geist fesseln, so dass er nie wieder frei wäre. Nicht einmal Larn war so grausam. Tom machte kehrt und floh.
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5 Die Häuser der Dämonen waren viereckig und sie sahen überall unerbittlich gleich aus. Sogar die Pflanzen waren von Zäunen umgeben und gestutzt. Alles war steif, leblos und einsam. Die Straßen verliefen schnurgerade, kreuzten sich und verliefen wieder gerade weiter. Tom rannte einen Weg hinunter, zögerte, bog um eine Ecke, fand alles fremd und blieb stehen. In der Ferne, jenseits der Häuser, wuchsen ein paar Eichen. Sie mussten außerhalb der Stadt stehen. Tom ging in ihre Richtung weiter, aber die Straße, der er folgte, bog in die entgegengesetzte Richtung ab. Tom lief um eine Ecke und dann noch einmal. Die Sonne stieg rasch immer höher über den Nebel. Wieder kam er an eine Ecke und stieß dort fast mit einem großen weiblichen Dämon zusammen, der zwei Junge bei sich hatte. Ein Blick in ihr griesgrämiges Gesicht mit dem klaffenden roten Mund reichte. Tom floh auf eine Mauer, wo er von einem herabhängenden Busch halb verborgen wurde, und rief die Sterne an, damit sie sich seiner annahmen. Die Stadt zog sich in die Länge und wurde ganz blau, und Tom spürte in seinem Körper eine Leichtigkeit, die ihm sagte, dass er allen Blicken entschwunden war. Er hielt den Atem an, während der 22
dicke Dämon und die beiden Jungen an ihm vorbeitrampelten. Die Jungen jammerten und ließen sich schlurfend ziehen. Doch das Weibchen hielt sie mit Händen aus Leder fest. Ihr Geruch war schrecklich, scharf und süß zugleich, wie der Dämonenwein. Endlich waren sie vorbei und Tom holte vorsichtig Luft. Er konnte nur für kurze Zeit unsichtbar bleiben und jetzt, bei vollem Tageslicht, würden die Straßen bald voll von Dämonen sein. Er musste die Stadt schnell verlassen. Rasch stieg er von der Mauer und trottete die Straße hinunter. Aber die Stadt war noch verwirrender, wenn sie lang und blau war, und da die Häuser jetzt bis zum Himmel reichten, sah er auch die Wipfel der Eichen nicht mehr. Er ging weiter, spürte aber bald den Sog der wirklichen Welt, der ihn wieder sichtbar machen würde. Lange konnte er ihm nicht mehr widerstehen. Die Straßen wurden breiter und belebter und immerzu waren Dämonen in Sicht. Tom bog um eine Ecke und stand auf einmal auf einem großen Platz. Dort waren so viele Dämonen, dass er dem Gestank nicht ausweichen konnte. Er würgte und drehte sich weg – doch da nahm er die Spur eines anderen Duftes wahr. Fleisch. Witternd blieb er stehen. Ja, dort drüben. Ein ganzes Haus voller Fleisch. Ein weiß gekleideter Dämon reichte einem anderen Dämon ein Stück. Es gab jede Menge davon, direkt draußen vor der Tür, aber die 23
Dämonen gingen achtlos daran vorbei. Waren sie etwa so blind und so blöd, dass sie es nicht sahen? Tom schob sich näher heran. Auf weißen Auslagebrettern lagen Teile von Schafen. Tom lief das Wasser im Mund zusammen. Er war hungrig und nichts würde ihn davon abhalten, sich ein Stück Fleisch zu holen. Sobald ein Dämon vor der Theke stand, wollte er sich eine Platte mit Fleisch schnappen. Da waren schon zwei Dämonen. Zwei noch nicht ganz ausgewachsene Männchen. Sie gingen sehr schnell, aber Tom konnte leicht hinter ihnen vorbeischlüpfen und eine Platte mit Schafteilen von der Theke nehmen. Es war ganz einfach. Einen Augenblick lang. »He!« Die beiden Dämonen blieben stehen. »Ja?« Tom schob die Platte mit dem Fleisch unter sein Hemd und wollte sich verdrücken. »Leg das zurück!« »Was?« »Die Platte mit dem Nackenstück. Ich hab’s gesehen. Leg es zurück!« »Er spinnt.« »Ich hol die Polizei!« Auf einmal war es überhaupt nicht mehr einfach. Alle Dämonen blieben gaffend stehen, und ein runzliges Weibchen mit Buckel und einer Tasche auf Rä24
dern versperrte Tom den Weg. Er ging rückwärts und schlüpfte zwischen einem Männchen mit Doppelkinn und flacher Kappe und einem kraushaarigen Weibchen mit kastenförmiger Brust hindurch. Die Dämonen brüllten sich gegenseitig an. Inzwischen war Tom schon ganz am Rand der Menge. Wenn er an diesem abwesend wirkenden Dämon mit den knotigen Beinen vorbeikäme, könnte er … Irgendetwas stieß ihn heftig in den Rücken, und bevor er wusste, was geschah, lag er eingekeilt zwischen Rädern, einer Tasche und einem runzligen Dämon flach auf dem Boden. Die Platte mit dem Fleisch rutschte aus der Tiefe seines Hemdes hervor und wurde sichtbar. Wie Tom. »Seht nur!« »Nein, so was!« »Wo kommt der denn her?« »Haltet ihn!« Eine Hand näherte sich ihm. Er wich aus, wand sich, krabbelte, kam irgendwie auf die Füße und rannte los. Die Pflastersteine unter seinen Füßen waren hart. Er spürte, wie sie unter dem Gewicht der Dämonen bebten, die ihm dicht auf den Fersen waren. Tom rannte. Er nahm die erste Abzweigung, die zweite und die dritte, aber er war langsam, zu langsam. Sie würden ihn bestimmt einholen. Die vierte Abzweigung. Viereckige Steinhäuser, eines am anderen. Es gab keinen Ausweg. Vielleicht 25
war das in der Stadt so. Vielleicht gab es keinen Weg hinaus. Aus dieser Straße jedenfalls führte wirklich kein Weg hinaus, denn sie endete in einem akkuraten Halbkreis von Häusern. Das war’s. Jeden Augenblick würden die Verfolger um die Ecke biegen. Ein Versteck. Keine Zeit, die Sterne anzurufen. Ein Versteck. Irgendwo. Über das Tor und den Pfad entlang. Eine Lichtung, flatternde Wäsche auf der Leine. Schnell. Ein Versteck. Ein Versteck. Aber wo? Weiter. Außer Sicht. In einen Busch? Winter. Keine Blätter. Aber dort. Auf der anderen Seite der Wiese. Eine Hütte. Mit letzter Kraft stürzt er in die Richtung. Hoch mit dem Riegel. Er schlüpft hinein. Die Fenster der Häuser. Die Haut prickelt. Er rollt sich auf dem Boden zusammen. In Sicherheit.
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6 Tom bewegte sich erst wieder, als er sicher war, dass die Dämonen die Suche aufgegeben hatten, als sein Herz wieder an der richtigen Stelle schlug und er normal atmen konnte. Er setzte sich auf und sah sich um. Die Hütte war einfach aus Brettern zusammengezimmert. In der Ecke häuften sich staubige Schachteln und knubbeliger Abfall, an der Wand hingen Werkzeuge und ein paar Zwiebelzöpfe. Zwiebeln? Tom warf einen prüfenden Blick zum Fenster und nahm sich eine. Die Zwiebel war sehr scharf und trieb ihm das Wasser in die Augen, so dass er sie beinahe wieder wegwarf. Aber er war hungrig und so mampfte er heulend weiter, bis er sie aufgegessen hatte. Nach einer Pause, in der er den scharfen Geschmack weghechelte, nahm er sich noch eine. Zwiebeln waren sogar knackiger als die Knochen einer Lerche. Das Geräusch des Kauens füllte seinen Kopf und die Schärfe nahm ihm die Sicht. Deshalb wäre er fast entdeckt worden. Vom Fenster her fiel ein Schatten auf ihn, und er hatte nur eine panikerfüllte Sekunde, um die Zwiebelschalen wegzufegen, und eine zweite, um die Sterne anzurufen. 27
Kaum war er verschwunden, ging die Tür auf. Zuerst wurden eine riesige feiste Hand und ein riesiger feister Fuß sichtbar, dann ein unförmiger Schatten, der sich zu einem Dämon verdichtete. Er war klein und gedrungen, mit dünnem schwarzem Haar. Ein halbwüchsiges Weibchen. Der Dämon schloss die Tür hinter sich und Tom war gefangen. Er drückte sich tiefer in die Ecke und versuchte trotz des Gestanks nicht zu würgen. Der Dämon war schwer bepackt und hatte es überhaupt nicht eilig. Zuerst warf er ein Kissen auf den Boden und setzte sich darauf. Dann fing er an, mit sich selbst zu sprechen. »Na ja«, schwatzte er laut und heiser los. »Wahrscheinlich besser als nichts. Es ist zwar feucht und zugig und riecht nach Zwiebeln, aber hier haben wir wenigstens Ruhe vor Joe.« Außer dem Kissen hatte der Dämon ein Bündel mit gedrucktem Papier bei sich, eine Hand voll Heu, einen viereckigen Block, der betörend süß roch, und eine halbe Karotte. Wie lange will er noch bleiben?, dachte Tom verzweifelt. Er spürte, dass er auf der Grenze zur wirklichen Welt balancierte. Der Dämon fasste in seine Manteltasche und zog ein zotteliges rundes Etwas hervor. Das war – ja, das war Fleisch. Lebendiges Fleisch. Tom hatte so etwas noch nie gesehen. Es sah aus wie eine verwahrloste Wasserratte ohne Schwanz. 28
Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Der Dämon streichelte das Stück Fleisch und fing dabei wieder an zu sprechen: »Tut mir leid, dass es so kalt ist, Sophie«, sagte er. »Magst du ein Stück Karotte?« Der Dämon setzte das Stück Fleisch namens Sophie in seinem Schoß ab. Es saß da und knabberte an der Karotte und der Dämon streichelte die Fellwirbel. Wenn du ein Tier tötest, das Angst hat, wird das Fleisch zäh. Tom vermutete, dass der Dämon die Sophie beruhigte, bevor er ihr den Hals umdrehte. Aber der Dämon hatte es offenbar nicht eilig. Er streichelte die Sophie eine Weile und stöberte dann in den Sachen herum, die er mitgebracht hatte. Tom musste sich die ganze Zeit darauf konzentrieren, unsichtbar zu bleiben. Der Sog der wirklichen Welt war jetzt sehr stark. Der Dämon untersuchte sorgfältig, Blatt für Blatt, das Bündel Papier, und Tom, der sich der wirklichen Welt unaufhaltsam näherte, überlegte, ob er stark genug wäre, den Dämon durch einen Schlag mit einem Spaten zu töten. Keine Chance. Dämonen waren hart wie Stein. Aber jetzt bewegte sich der Dämon endlich. Halt durch, dachte Tom mit zusammengebissenen Zähnen. Halt durch! Der Dämon stand auf und schob die Sophie wieder in seine Manteltasche. »Wir gehen lieber zurück«, sagte er. »Aber jetzt 29
wissen wir wenigstens, wo wir uns vor Joe verstecken können. Komm, Sophie.« Noch bevor der Dämon den Riegel vorgeschoben hatte, war Tom wieder sichtbar. Schwer atmend ließ er sich auf den Boden fallen und dankte den Sternen. Das hatte keinen Sinn. Er war erst ein paar Stunden in der Stadt und schon zweimal wäre er fast entdeckt worden. Hier war es noch gefährlicher als auf dem Gemeindeland. Er musste zurück. Durch das Fenster sah er, wie ein sauergesichtiger alter Dämon in der nächsten Lichtung Wäsche abhängte. Er wartete, bis der Dämon weg war. Dann schlüpfte er aus der Hütte und ging den Pfad hinunter.
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7 Tom versuchte gar nicht erst, sich an den Weg zu erinnern. Er ging nur so direkt wie möglich auf die rotbraunen Wipfel der Eichen zu und merkte, dass er bergab ging. Aber das war klar, der Fluss floss ja am Rand der Stadt vorbei. Er musste also bergab gehen. Hoffnung erfüllte ihn. Er bog nach links ab und nach rechts und endlich erreichte er die Brücke und die Straße, die in das Gemeindeland hinausführten. Leer und still lag das Gemeindeland vor ihm, und er war vollauf zufrieden damit, dass er der viereckigen Stadt und ihren faulig riechenden Dämonen entkommen war. Sogar das triefnasse Gras kam ihm anheimelnd vor nach den harten, tödlichen Straßen der Dämonen. Langsam und ruhig ging er weiter und es tröstete ihn, wieder dort zu sein, wohin er gehörte. Er hatte sich wohl leiser bewegt als jemals zuvor, denn Larn bemerkte ihn nicht. Er saß in der breiten Astgabel einer Kastanie und schlug vorsichtig zwei Feuersteine gegeneinander. Tom erstarrte. Larn war unberechenbar, zuweilen auch gefährlich. Tom machte vorsichtig einen Schritt zurück, aber eine Stimme von oben ließ ihn innehalten. »Larn«, sagte die Stimme. »Ich habe Worte für dich.« 31
Das war Sias Stimme. Auch sie konnte ihm gefährlich werden. Tom hielt den Atem an. Larn schlug weiter durchscheinende Splitter von dem Feuerstein ab. »Was für Worte?« »Tom ist eine Gefahr für uns.« Larn rutschte ein bisschen und wandte Sia noch mehr den Rücken zu. Damit zeigte er ihr, dass er aufmerksam lauschte. »Er hat dafür bezahlt. Er ist jetzt vorsichtig.« »Vorsicht allein genügt nicht. Wir dürfen auf keinen Fall gesehen werden, Larn. Die Zahl der Dämonen wächst. Jedes Jahr sind es mehr. Und sie fürchten sich nicht mehr. Sie haben die Geschichten vergessen, die sie so lange in Angst gehalten haben.« »Das stimmt.« Tom trat ganz leise und vorsichtig in den schützenden Schatten eines glatten Buchenstamms. »Wir haben noch jeden Dämon weggelockt, der uns gesehen hat, auch wenn wir ihn nicht für uns selbst wollten«, sagte Sia. »Aber ein dummer Vorfall mit einem Toten könnte uns hundert Dämonen auf den Hals hetzen.« »Auch das stimmt.« Als Sia wieder sprach, hatte sie scheinbar das Thema gewechselt. »Tom ist wie Edrin.« Eine Pause entstand. »Er hat die gleiche Stimme«, stimmte Larn zu. »Mit ihm muss man verfahren wie mit Edrin.« 32
Larn antwortete nicht, aber Tom konnte durch die Wedel eines abgestorbenen Adlerfarns sein Gesicht sehen. Er lächelte.
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8 Früher einmal war das Volk viel größer gewesen und hatte den Dämonen Angst eingejagt. Aber das war lange her. Nicht einmal Tom wusste, wie viele vom Volk im Gemeindeland lebten, denn sie waren jetzt Einzelgänger und kamen nur zum Fressen zusammen. Selbst ein Weibchen, das gerade geworfen hatte, suchte ihr Junges nur auf, wenn ihr Gesäuge schwer war mit Milch. Und sobald das Junge krabbeln konnte, musste es für sich selbst sorgen. Dennoch war Tom ziemlich sicher, dass niemand mit dem Namen Edrin im Gemeindeland lebte. Er hatte sich im Laufe der Zeit jedem Weibchen einmal genähert, weil ein Weibchen manchmal seinem Jungen Futter hinwarf, wenn es selbst mehr hatte, als es essen konnte. Aber keines hieß Edrin. »Sie ist nicht da«, hatte ein Weibchen auf seine Frage geantwortet und nach der Hand voll später Brombeeren geschnappt, die Tom ihm anbot. »Sie war viele Jahre lang nicht da.« »Wo ist sie?«, wollte Tom wissen. Ihr Mund war verschmiert vom dunklen Saft der Brombeeren. »Sie war ein Krüppel. Eine Gefahr. Eines Tages war sie weg.« 34
Damit stopfte sie sich die letzten Brombeeren in den Mund und ging davon. Edrin war ein Krüppel. Eine Gefahr. Und dann war sie weg. Aber wohin war sie gegangen? Tom mied die Lichtung und vor allem Larn und Sia und überprüfte seine Fallen. Er hatte Glück: Ein junges Kaninchen war in die Falle gegangen. Zum ersten Mal seit drei Tagen aß er Fleisch, und es schmeckte gut.
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9 In der Stadt lebten bereits viele tausend Dämonen, aber dennoch wurden es immer mehr. Jedes Jahr kamen neue hinzu, die den Boden der nahe gelegenen Wiesen aufbrachen und noch mehr Häuser bauten. Das Volk hatte lange Zeit geglaubt, dass die Dämonen niemals auf dem Gemeindeland bauen würden, aber sie kamen immer näher. Sie drangen inzwischen in jeden Winkel des Gemeindelands vor, hinterließen ihren Unrat und drängten das Volk immer mehr in die Enge. Es konnte an den Hecken der Dämonenfelder entlang nach Norden ziehen, aber was dann? Dann kamen die Ententeiche, wo die Dämonen jagten. Tom hielt sich in der Nähe seines Nests auf und entfernte sich nur, um seine Fallen zu überprüfen. Mit Bucheckern, die er sammelte, und wilden Karotten, die er ausgrub, hielt er sich einigermaßen am Leben. Aber er wurde immer dünner und konnte nicht mehr lange so weiterleben. Wenn er allein gewesen wäre, dann vielleicht, aber das Gemeindeland war voll von geschickten Jägern, die den größten Teil der Nahrung für sich beanspruchten. Und dass er immer schlechter sah, machte alles noch schwerer. Manchmal spähte er mit zusammengekniffenen Augen hinauf zu den Sternen und versuchte, ihren flac36
kernden Glanz zu erkennen. Aber er sah nur winzige silberne Punkte, wunderschön, aber tot. Da Tom allein war, musste er nicht reden. Wenn er sich aber den Zeh an einer Wurzel anstieß oder die Hand an einem Dornenzweig aufriss, stellte er fest, dass seine Stimme immer heiserer und tiefer wurde. Über eine Woche lang gelang es ihm, Larn und Sia aus dem Weg zu gehen, aber dann erspähte er eines Abends Sias silbern glitzerndes Gewand zwischen den abendlich düsteren Baumstämmen. Hastig zog er sich auf einen Wildwechsel zurück und kletterte in eine Stechpalme. Dort stieß er auf Larn. Toms erster Impuls war, sich fallen zu lassen und wegzurennen. Aber Sia war schnell und sie hatte scharfe Augen. Die funkelten vom Fuß des Baums zu ihm hinauf. Larn saß behaglich in einer Astgabel. Das Volk hatte keinen Anführer, aber niemand war so närrisch und legte sich mit Larn an. Tom bewegte sich vorsichtig in die Richtung, wo die Zweige der Stechpalme mit denen einer benachbarten Esche zusammenstießen. Larn lehnte sich träge zurück. Er schaute Tom nicht an, aber er war wachsam. »Bleib«, sagte er. Tom erstarrte. Ein Fuß hing in der Luft. Sein Herz klopfte auf einmal heftig. Larn musterte ihn mit raschem Blick. »Du fürchtest dich«, sagte er sanft. Tom fiel nichts ein, was er darauf sagen könnte. 37
Im Baum unter ihm bewegte sich etwas. Sia kletterte herauf. Sie könnten mit ihm machen, was sie wollten. Während Larn gähnend seine langen Zähne zeigte, tauchte Sia als Silhouette in der Abenddämmerung hinter ihm auf. »Edrin fürchtete sich auch immer«, sagte Sia. »Sie wimmerte und heulte und verdarb uns die Jagd.« Toms Kehle war wie zugeschnürt, aber er gab sich Mühe, sehr große Mühe, etwas zu sagen. »Wer ist Edrin?« Larn antwortete, immer noch mit sanfter Stimme: »Arial, die mich geworfen hat, hat auch sie geworfen.« Sia fauchte: »Sie war ein Krüppel. Blind, taub, zu nichts zu gebrauchen. Sie war eine Gefahr für das Volk.« Die Luft um Tom herum schien auf einmal sehr dünn. Er brachte nur noch ein Flüstern heraus: »Was – was ist mit ihr geschehen?« Larn lachte. Es war ein grässliches Lachen, das seinen Kopf nach hinten warf und die schimmernden Stechpalmenblätter mit Reif überzog. Tom wollte ausweichen. Aber hinter ihm war nichts. »Irgendwann muss er es erfahren«, sagte Sia. Larn wandte sich an Tom und schaute ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen zum ersten Mal direkt an. Sie waren wach und scharf wie die Augen eines Fuchses oder einer Eule. Die Augen eines Jägers. »Ich habe sie getötet«, sagte Larn. 38
10 Tom hatte es gewusst. Er hatte es die ganze Zeit gewusst. Dennoch konnte er sich nicht rühren oder sprechen. Wie gelähmt verharrte er unter Larns glühendem Blick. Dann befand er sich plötzlich auf dem Boden. Vielleicht war er gefallen. Er war gelandet, hatte sich überschlagen und aufgerappelt, und bevor er wusste, dass er sich bewegte, rannte er schon davon. Er rannte, ohne zu denken, blind. Und er rannte schnell. Sie verfolgten ihn. Er spürte die Kälte, die von ihnen ausging. Er flüchtete im Zickzack rennend, sich duckend und ausweichend zwischen die dunklen Bäume. Larn konnte einen Speer dreißig Schritte weit schleudern. Tom warf sich in ein großes Gestrüpp. Hier konnte ein Speer ihm nichts mehr anhaben, aber er kam viel langsamer voran. Die Kälte seiner Verfolger war nicht mehr hinter ihm – sie bewegte sich um das Gestrüpp herum auf die andere Seite. Sie wollten ihm den Weg abschneiden. Er blieb stehen und panische Angst ergriff ihn. Wenn er kehrtmachte, könnte er sie vielleicht abschütteln. Aber er wäre nicht lange sicher vor ihnen. Nirgendwo im Gemeindeland wäre er lange sicher. Er sah zum Himmel hinauf. Er war halb verhun39
gert und sehr müde, fast zu müde, aber er nahm all seine Kraft zusammen und rief die Sterne an, damit sie ihn aufnähmen. Und sie hörten ihn, gerade noch, und entzogen ihn der Welt. Tom atmete schwer und weinte fast vor Schwäche. Er war so erschöpft, dass er nur wenige Minuten unsichtbar bleiben konnte, und in dieser Zeit musste er entkommen. Aber es war schwer, dornigen Zweigen auszuweichen, die nach einem griffen, wenn man unsichtbar war. »Da!«, sagte Sia. »Nimm deinen Speer. Schau!« »Ich seh ihn«, antwortete Larn. Tom ließ alle Vorsicht fahren. Er befreite sich aus den letzten Dornen und rannte los. Larns Speer riss eine Handbreit entfernt Blätter von den Bäumen, aber Tom rannte weiter. Er rannte einfach in die blaue Nacht hinein. Er rannte und rannte, bis seine Füße die Straße der Dämonen berührten, aber hinter sich hörte er immer noch Schritte. Ein kleiner Teil seines Gehirns sagte ihm, dass er sich am besten versteckte, aber er hatte keine Zeit, etwas anderes zu tun als zu rennen. Auch als er die Brücke erreichte und die viereckigen Häuser aus Stein, blieb ihm keine Zeit zum Nachdenken. Die Stadt war jetzt dunkel. Lange dunkelblaue Schatten ragten auf, die fast die Sterne berührten. Tom spürte immer stärker den Sog der Erde, die ihn wieder sichtbar machen würde. Er musste einen sicheren Platz finden, aber hinter sich und in sich spürte er die Kälte und er wagte es nicht, stehen zu bleiben. 40
Und dann war da etwas Neues – eine offene Tür, aus der Licht auf die Straße strömte. Das bedeutete etwas, aber die Gedanken in Toms Kopf waren vor lauter Angst so wirr, dass er nicht herausfinden konnte, was es war. Er rannte direkt darauf zu, direkt in das Licht -und direkt in etwas Hartes. Tom prallte zurück, fiel hin und etwas sehr Schweres begrub ihn unter sich. Er zappelte und wand sich, aber er lag unter etwas Heißem, das schrecklich stank, und er hätte ebenso gut unter einer umgestürzten Eiche gefangen sein können. Das Ding stieß ein heiseres Dämonenbellen aus, als es fiel, und blieb dann fluchend liegen. Jetzt drängten sich noch mehr, unzählige kobaltblaue Dämonen in der Tür. Tom hatte panische Angst. Unaufhaltsam entglitten ihm die Sterne. Er versuchte nicht länger, den Dämon von sich wegzustoßen, sondern biss ihn stattdessen in die Hand. Der Dämon riss seine Hand so schnell zurück, dass er beinahe ein paar von Toms Zähnen mitnahm. »Was ist los, Mike?«, fragte einer der Dämonen. Mike hielt sich die Hand. »Es hat mich gebissen! Es hat mich gebissen!«, rief er. »Helft mir!« Tom stieß den Dämon heftig zur Seite, der schrie wieder auf und rollte weg. Auch Tom schrie beinahe auf, denn jetzt drückte der Dämon mit seinem ganzen Gewicht seinen Knöchel auf die Straße. »Hilfe! Helft mir! Um Gottes willen!« 41
Die Dämonen in der Tür schauten skeptisch, aber zwei streckten die Hand aus. Tom rollte zur Seite und wollte aufstehen, aber ein fürchterlicher stechender Schmerz in seinem Knöchel warf ihn wieder zu Boden und entriss die Sterne beinahe seinem Griff. Er biss die Zähne zusammen und krabbelte davon. Die Stimmen der Dämonen folgten ihm die Straße hinauf. »Was war das?« »Er sagt, der Unsichtbare hat ihn angegriffen.« »Was?« »Ja, auf seiner Hand sind Abdrücke von Zähnen, wirklich.« Tom zog sich an einer Mauer hoch. Er musste weg hier, denn die Sterne waren seinem Griff gefährlich weit entglitten, und der Schmerz machte ihn schwer und zog ihn nach unten. Er versuchte, seinen verletzten Knöchel noch einmal zu belasten und stellte fest, dass er den Fuß gerade noch kurz aufsetzen konnte. Verzweifelt humpelte er die Straße hinunter.
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11 Der Himmel klarte auf und die Luft roch nach Frost. Tom wusste nicht, wohin er ging, aber endlich schien es, als habe er Larn und Sia abgehängt. Vielleicht hatten sie es aber auch nur den Dämonen überlassen, ihn zu töten. Im Schatten der ersten dunklen Einfahrt blieb er stehen und ließ sich aus dem Reich der Sterne fallen. Die Erleichterung war riesig. Wenigstens einen Augenblick lang. Aber wohin sollte er jetzt gehen? Er konnte sich nur einen Ort vorstellen. Er war sich nicht sicher, aber er müsste ausreichen, bis er etwas Besseres gefunden hätte. Sein Instinkt leitete ihn zu dem akkuraten Halbkreis von Steinhäusern. Sie waren dunkel, also waren sie keine Gefahr für ihn. Schmerzerfüllt humpelte er an den orangefarbenen Lichtstreifen der Laternen vorbei, die die Sterne verdunkelten. Und dann, obwohl es Nacht war und alle Dämonen schliefen, durchschnitt ein Lichtspeer die Dunkelheit vor ihm. Tom erstarrte. Etwas stimmte hier nicht. In diesem Haus war etwas wach. Etwas, das gespürt hatte, dass er kam. Und es suchte ihn. Aber das war unmöglich. Das war ein Dämonen43
haus, und kein Dämon hatte so gute Augen oder so viel Verstand. Tom schlich vorsichtig um die Lichtlanze herum und den Pfad hinauf zum nächsten Haus in die zerbrechliche Sicherheit des hölzernen Verschlags.
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12 Die Sterne ließen den ganzen Himmel erstrahlen. Violett, purpur, gold. Dann breitete sich explosionsartig ein riesiger Lichtschein über den ganzen Himmel aus. Tom wich aus, stieß sich den Kopf und erwachte. Es war taghell. Er stützte sich auf einem Ellbogen auf, rieb sich die Augen und versuchte tastend herauszufinden, wo er war. Ja, er war in dem Dämonenschuppen. Und er sah direkt in die angstvoll aufgerissenen Augen eines Dämons. Er war leichenblass und seine Nase klebte platt an der Fensterscheibe. Tom riss vor Schreck den Mund auf, versuchte zu denken, sah sich voller Angst um, versuchte zu denken – Es war das junge Weibchen, das er schon einmal gesehen hatte. Denk! Der Dämon hatte ihn gesehen. Was soll ich tun? Bei allen Sternen, er kam herein! Sterne! Die Sterne! Ruf die Sterne an! Schnell! Als die Tür aufging, zogen ihn die Sterne gerade aus der Welt. Der Dämon spähte zuerst umher und 45
trat dann ein. Er war so dick, dass er den ganzen Eingang ausfüllte. Tom war auf die Füße gekommen, aber sein Knöchel war über Nacht angeschwollen und er konnte ihn fast nicht belasten. Es bestand keine Hoffnung, sich den Weg nach draußen freizurempeln. »Ich weiß, dass du da bist«, sagte der Dämon. Seine bellende Stimme klang brüchig, fast so, als hätte er Angst. Tom hielt den Atem an. »Ich habe dich gesehen«, wiederholte der Dämon beharrlich. »Du hast geschlafen. Ich hab dich gesehen. Ich heiße Anna. Wie heißt du?« Der Dämon trat vor und breitete tastend die Arme aus, um ihn zu finden. Tom drückte sich in die hinterste Ecke des Schuppens. »Wie hast du dich unsichtbar gemacht?«, wollte der Dämon wissen. Wenn er näher käme, wäre vielleicht genügend Platz, um an ihm vorbeizukommen und hinauszuwitschen. Aber der Dämon war nicht dumm. Er suchte die Hütte systematisch Zentimeter für Zentimeter ab. Tom duckte sich hastig unter dem wild um sich schlagenden Arm, aber das war zu viel für seinen Knöchel. Um sich zu stabilisieren, hielt er sich an der Wand fest, und in den zwei Sekunden, die er um sein Gleichgewicht rang, hatte die Hand des Dämons ihn berührt. Tom hechtete weg, aber der Dämon war erstaunlich schnell. Er stürzte nach vorn und legte beide Arme um ihn. Etwas quiekte. 46
»Oh!«, rief der Dämon. Er ließ einen Augenblick locker und drückte dann aber wieder zu, nur dieses Mal ein bisschen vorsichtiger. »Sophie? Tschuldigung. Meine Güte, bist du kalt!« Nein, der Dämon war heiß. Seine Hände waren so heiß, dass sie ihn fast verbrannten. Der Dämon tastete ihn mit fleischigen Fingern ab. »Okay«, sagte er entschlossen. »Du trägst Kleider. Ein Tier bist du also nicht. Und ein Geist bist du auch nicht, denn ich kann dich festhalten. Du bist ein Junge. Oder vielleicht ein Mädchen. Mach dich wieder sichtbar!« Der Dämon stank widerlich, und Tom wandte sich unwillkürlich ab, aber das verstärkte seinen Griff nur. Niemals hätte Tom gedacht, dass dieser Dämon so schwer und so stark ist. Er tastete seinen Arm ab, nicht grob, aber doch so fest, dass er ihn auf seinen verletzten Fuß drückte. Der Schmerz war unvorstellbar, so schlimm, dass Tom fast das Bewusstsein verlor. Die Sterne entglitten ihm, und er taumelte zurück in die Welt.
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13 »Es gibt dich ja wirklich«, sagte der Dämon verwundert und sah ihn direkt an. Tom schaute eilig weg. Der Dämon hatte blaue Glupschaugen, und Tom spürte, wie er versuchte, ihn zum Sklaven zu machen. »Lass mich in Ruhe«, murmelte er durch seinen Schmerz hindurch. »Was? Was hast du gesagt?« Dämonen waren taub. Er schrie: »Lass mich in Ruhe!« Der Dämon überlegte kurz und trat dann einen Schritt zurück. Tom versuchte, die Hitze des Dämons von seinem Arm wegzurubbeln. Noch immer versperrte der Dämon die Tür. »Wer bist du?« Einen Augenblick lang wollte Tom einen Weg finden, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Aber das war hoffnungslos. »Tom.« Der Dämon war ein bisschen kleiner als er, aber er hatte starke Knochen, die von kräftigen Muskeln bewegt wurden, und er war rundum mit einer dicken Fettschicht umgeben. Und er starrte ihn die ganze Zeit an. 48
»Wie hast du dich unsichtbar gemacht?« Tom schüttelte den Kopf. Das konnte man nicht erklären, jedenfalls nicht mit Worten. »Ich habe die Sterne angerufen«, sagte er. »Tot kannst du nicht sein«, sagte der Dämon, aber seine Stimme klang wieder brüchig. »Weil du dich ja bewegst. Aber ein Mensch bist du auch nicht.« Tom wusste nicht, was »Mensch« bedeutete. »Was bist du dann?«, fragte der Dämon. Tom öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dieser Dämon war jung und wusste offenbar nichts vom Volk. Er seufzte. »Verloren«, sagte er.
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14 Der Dämon namens Anna schloss die Tür der Hütte, nahm die Sophie vorsichtig aus seiner Tasche und setzte sich auf den Boden. Auch Tom setzte sich, so vorsichtig wie möglich. Sein Knöchel schmerzte noch immer sehr. »Ich könnte dir eine Landkarte bringen, wenn du magst«, schlug der Dämon vor. »Nein«, entgegnete Tom mit abgewandtem Gesicht, um dem Blick des Dämons zu entgehen. Das nahm der Dämon übel. »Jedenfalls solltest du nicht hier herumhängen«, sagte er. »Das ist Privatbesitz. Außerdem erfrierst du.« Tom wollte ja gar nicht bleiben. Aber er hatte keine Ahnung, wohin er gehen könnte. »Sag mir, wo ich allein sein kann«, sagte er. »Dann geh ich dorthin.« Die Augen des Dämons schienen Lichtstrahlen auszusenden, die ihn forschend durchdrangen. »Das ist schwierig«, antwortete er. »Besonders weil dein Knöchel verletzt ist. Warum möchtest du allein sein? Warum kannst du nicht nach Hause gehen?« Tom spürte, wie der Blick aus den schrecklichen großen Augen auf ihm ruhte. Der Dämon versuchte, 50
sich seiner zu bemächtigen, er spürte es. Er fuhr herum. »Das ist meine Sache«, fauchte er. »Meine. Verschwinde!« Der Dämon Anna senkte den Blick. Das war gut. Er schob die Sophie zurück in seine Tasche und stand schwerfällig auf. »Das ist genau das, was mir noch gefehlt hat«, sagte er niedergeschlagen. »Noch einer, der gemein zu mir ist. Ich dachte, Joe wäre schlimm genug. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass der Schuppen von einem eiskalten Dingsda heimgesucht werden könnte!« »Ich bin kein Ding«, sagte Tom kühl. Anna blieb stehen. Eine Hand lag auf dem Riegel. »Was bist du dann? Ein Mensch wie ich bist du nicht, oder?« Tom schnaubte beim bloßen Gedanken daran. »Ich bin kein Dämon«, sagte er. Anna starrte ihn an. Anna starrte immer. »Ich bin auch kein Dämon«, antwortete sie. »Ich bin gut, wirklich.« Gut? Fleisch war gut. Wein war gut. Aber ein Dämon? Tom hatte noch nie gehört, dass jemand einen Dämon gegessen hatte. »Weißt du«, fuhr Anna langsam fort. »Das hört sich vielleicht ein bisschen merkwürdig an, aber bist du … bist du vielleicht eine Art Elf?« Tom zuckte die Achseln. Anna wusste also doch etwas vom Volk. 51
»Die Dämonen haben dieses Wort im Zusammenhang mit uns benutzt«, sagte er kurz angebunden. Anna starrte ihn an, bis er zuschlagen wollte. »Wenn du hier bleiben musst, dann könnte ich dir etwas zu essen bringen. Meine Mutter schleppt immer tonnenweise Zeug an, wenn Joe kommt. Er ist mein Stiefbruder. Dads Sohn.« Mein Stiefbruder; meine Mutter. Tom drehte es vor Ekel den Magen um. »Du isst doch?«, fragte Anna. »Ja«, sagte Tom grimmig. »Viel. So viel ich kann.« Anna atmete schwer. »Und ich wollte sowieso oft hier draußen sein, um Joe aus dem Weg zu gehen.« Sophie gab leise zirpende Geräusche von sich. Tom lief das Wasser im Mund zusammen. »Also gut«, sagte Anna auf einmal. »Du kannst hier bleiben und ich helfe dir, so gut ich kann. Aber komm möglichst keinem in die Quere. Nimm dich vor allem in Acht vor Edie Mackintosh von nebenan. Sie ist der neugierigste Mensch der Welt. Außerdem kommt Joe bald. Wenn du einen Jungen im Garten siehst, mach dich am besten auf der Stelle unsichtbar. Joe ist total gemein. Mum und Dad sind eigentlich in Ordnung, aber du weißt ja, wie Eltern sind.« »Ja«, sagte Tom. »Die, die mich in die Welt gesetzt haben, wollen mich töten.«
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15 Im Schuppen war es besser als draußen, wo Larn ihn aufspießen könnte. Aber das war auch alles, was für den Schuppen sprach. Er war so klein, dass Tom sich nicht ausstrecken konnte, und es gab nichts zu tun. Und Anna gab ihm Dämonenessen, fad und viereckig, ohne die geringste Spur von Blutgeruch. Tom verließ in dieser Nacht humpelnd den Schuppen und erkundete den Garten. Aber die Sophie wurde drinnen im Haus gehalten, und die rückwärtige Eingangstür war verschlossen. Also kehrte er wieder in den Schuppen zurück und kaute sich durch das Ding, das Anna ihm gebracht hatte. Sie nannte es Brötchen, und es schmeckte wie verrottetes Holz. Anna hatte ihn zu Recht vor dem weiblichen Dämon im Nachbarhaus gewarnt. Er war alt, trug immer einen dicken Mantel und eine Reiterkappe, die er mit einem Schal auf dem Kopf festband. Stundenlang hielt er sich im Garten auf und warf prüfend misstrauische Blicke in die Runde. Und wenn er drinnen war, spähte er immer hinaus in den Garten. Das allein war schon schlimm genug, aber es gab noch etwas anderes an Edie Mackintosh, das Tom verstörte. Er hatte es in jener ersten Nacht gespürt, als der Lichtschein aus Edies Haus zu ihm herausgefallen 53
war. Irgendetwas hatte nach ihm gesucht, irgendetwas Kaltes und Mächtiges. Tom achtete sehr genau darauf, dass Edie ihn nicht zu Gesicht bekam. Aber Edie hatte auch wenig Gelegenheit, denn Tom konnte kaum gehen. Er wagte sich nur hinaus, um aus der Wassertonne vor dem Schuppen zu trinken oder um zu der Latrine zu gehen, die er hinter dem Schuppen gegraben hatte. Sonst blieb er einfach, wo er war. Der Dämon Anna brachte ihm zweimal am Tag etwas zu essen. Es tat gut, zweimal am Tag zu essen, aber Anna redete die ganze Zeit, fixierte ihn mit schrecklichen Glupschaugen und bellte vor sich hin. Er biss die Zähne zusammen und ignorierte sie. Dämonen redeten sowieso nur Unsinn. Der Dämon Anna quasselte immerzu von Magie, aber Tom machte nicht einmal den Versuch zu verstehen, was er damit meinte. Das gehörte alles zu seinem Plan, ihn zu versklaven. Deshalb brachte er ihm dauernd wertvolle Gegenstände wie Süßigkeiten in farbigem Papier, ein Kissen, ein kleines Klappmesser, und deshalb fragte er ihn dauernd nach seiner Familie aus – dabei gab es keine Familie und schon gar nicht seine. So versuchte der Dämon, ihn dankbar zu machen. Darum sah er ihn dauernd an und berührte ihn. Ein Dämon blieb ein Dämon. Das würde er niemals vergessen, weil Anna so hässlich war. Doch dann, am dritten Tag, als er fiebrig und gelangweilt mit schmerzendem Knöchel im Schuppen lag, stellte er fest, dass er sich auf Annas Besuch fast freute. 54
Aber natürlich nur, weil er hungrig war. Anna hatte die Sophie immer noch nicht gefressen, obwohl das Tier kaum noch fetter werden konnte. Das war merkwürdig. Toms Knöchel heilte viel zu langsam, aber er heilte. In ein oder zwei Tagen könnte er aufbrechen. Er würde irgendwohin gehen. Irgendwohin, nur weg von Anna, bevor er sich so an sie – den Dämon – gewöhnte, dass er seine glühende Hitze und seine bellende Stimme nicht mehr bemerkte. Anna brachte ihm an diesem Abend noch mehr weißes Brot und eine Decke. Die Wolle war gesponnen und verwoben, sonst hätte sie ein gutes Nest abgegeben. »Ich kann nicht bleiben«, sagte Anna. »Joe ist gekommen. Er schnüffelt mir bestimmt nach, wenn ich nicht vorsichtig bin.« Tom freute sich. Anna konnte nicht bleiben, das hatte auch gar keinen Sinn. Noch ein Tag und dann wäre er weg. Anna würde zum Schuppen schleichen und ihn leer vorfinden. Der Dämon würde ihm weiterhin etwas zu essen hinlegen, aber Tom würde niemals zurückkehren. Und dann würde der Dämon merken, dass es ihm nicht gelungen war. Dass er ihn nicht zu seinem Sklaven gemacht hatte. »Also, tschüss dann«, sagte Anna und zögerte in der Tür. Tom sah sie nicht an.
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16 Tom stellte seinen verletzten Fuß auf den Boden. Nichts. Er richtete sich auf und verlagerte das Gewicht auf den Fuß. Nicht das leiseste Ziehen. Gut. Heute Abend würde er gehen. Er würde durch die Nacht wandern, bis er einen Ort gefunden hätte, wo er allein war. Und dort würde er den Rest seines Lebens bleiben. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung vor dem Fenster wahr – aber es war nur Anna, die über das nasse Gras trottete. Sie versteckte etwas unter ihrem schweren Mantel. »He! Anna!« Das war eine neue Stimme. Tom ließ sich fallen, damit er nicht gesehen wurde. »Was ist?«, wollte Anna wissen. »Was hast du da unter deinem Mantel?« »Lass mich in Ruhe.« Schwere Schritte näherten sich. Dann Geräusche eines Handgemenges und ein heiserer Schrei. »Schokohörnchen«, sagte die Stimme triumphierend. Das war bestimmt Joe. »Ich sag’s Evelyn. Ich wette, sie hat sie für heute zum Tee gekauft.« »Gib sie zurück!« Wieder gab es eine Rauferei, die mit einem Schmerzensschrei endete. 56
»Du miese kleine Ratte! Warte nur, bis ich Dad gezeigt hab, was du getan hast. Es blutet sogar.« »Geschieht dir recht.« »Kein Wunder, dass du so fett bist.« »Ich bin nicht fett.« »Du gehst bestimmt jeden Tag in den Schuppen und stopfst dich voll. Vier Hörnchen. Kein Mensch kann allein vier Schokohörnchen essen.« »Sie sind nicht für …« Anna bemerkte ihren Fehler zu spät. Tom fluchte. »Nicht für dich?« Joe klang auf einmal interessiert. »Für wen sind sie dann?« Stille. »Versteckst du ein Tier im Schuppen?« »Nein.« »Lügnerin.« »Ich lüge nicht.« »Das wir sich bald zeigen.« »Nein! Wag es nicht! Das ist mein Schuppen!« »Hände weg. Aus dem Weg.« Sie kamen herein. Tom drückte sich an die Hinterwand des Schuppens und versuchte jedes Gefühl von Fiebrigkeit zu vertreiben. Er holte tief Luft, nahm alle Kraft zusammen und rief die Sterne an. Dann wartete er.
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17 »Siehst du«, sagte Anna, aber sie klang nicht wirklich erleichtert. Der neue Dämon Joe war fast ausgewachsen. Und für einen Dämon ziemlich dünn. Mit düsterer Miene sah er sich im Schuppen um. »Es ist bestimmt irgendein Ungeziefer. Etwas anderes würde ja nicht bei dir bleiben. Ich wette, es ist eine Ratte.« »Eine unsichtbare Ratte«, sagte Anna spöttisch. Dieser Dämon Anna war so dumm, dass Tom ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte. Je mehr Anna den anderen Dämon ärgerte, desto entschlossener würde der versuchen, Annas Geheimnis zu lüften. Er spähte umher. Seine harten Augen waren hell, fast wie die Augen vom Volk. Tom zuckte zurück, als der Blick über ihn wanderte. »Wo hast du es versteckt?« Wenn Anna wegginge, würde der andere Dämon folgen. Aber Anna war so dumm, dass sie das nicht kapierte. »Ich hab schon ein Haustier«, sagte sie. »Ich hab Sophie. Hast du noch deinen Hamster, Joe?« Joe zischte verächtlich und bückte sich, damit er unter das Durcheinander in der Ecke spähen konnte. Dann zischte er wieder und stand widerstrebend auf. 58
»Wahrscheinlich bist du verrückt, weil du Essen in den Schuppen bringst für irgendwas, das gar nicht da ist. Ich sag’s Dad, und er lässt dich wegsperren.« »Macht er nicht.« »Doch. Du gehörst weggesperrt. In die Klapsmühle.« Anna legte schimpfend die Hände vors Gesicht und stieß kurze hupende Töne aus. »Völlig bekloppt«, sagte Joe. »Kein Wunder, dass Dad sagt, er hat die Nase voll von dir.« Annas Gesicht lief tief rot an. »Du lügst!« Dämonen waren so dumm, dachte Tom. Wenn sie sich hassten, sollten sie sich aus dem Weg gehen. Es sah fast so aus, als gefiele es ihnen, einander zu hassen. Joe jedenfalls gefiel es: Er wich in gespieltem Entsetzen vor Anna zurück, und Tom musste sich noch tiefer in die Ecke drücken. »Ohh! Ohh! Vorsichtig, Anna! Schlag mich nicht, schlag mich nicht! … Huch!« Tom krümmte sich keuchend zusammen, wurde jedoch von Joe übertönt, der vor Schmerz laut aufschrie. Annas Hand flog an den Mund, aber glücklicherweise kümmerte sich Joe nicht um Anna. Er drückte vorsichtig seinen Ellbogen an sich. »Jetzt schau, was wegen dir passiert ist«, schnappte er. »Wegen dir hab ich mir den Ellbogen gestoßen.« Er sah sich um, brach ab, und starrte verdutzt in 59
die Leere hinter sich. Tom drückte die Hand an die Stelle an seinem Kopf, wo Joes Ellbogen ihn getroffen hatte, und trat einen Schritt zur Seite. »Du kannst die Hälfte der Hörnchen haben«, sagte Anna rasch. Joe wurde noch argwöhnischer und wirbelte herum. Dabei streifte er mit der Hand Toms Gewand. Tom erstarrte. Joe ebenfalls. Dann drehte er sich wieder um und streckte vorsichtig die Hand aus. Tom ließ sich auf den Boden fallen, aber er hatte nicht genug Platz. Sein Knie stieß gegen einen Stapel Blumentöpfe aus Plastik. Er schwankte, stand gefährlich schief, und dann fielen krachend alle Blumentöpfe auf den hölzernen Boden. Joe griff blind zu und erwischte Tom an der Schulter. Tom entwand sich dem Griff und kam rasch wieder frei. Er stürzte in die gegenüberliegende Ecke und verhielt sich dort absolut still. Joe sah sich schimpfend um. »Was ist los?«, fragte Anna. »Hier ist etwas«, rief Joe aufgeregt. »Etwas Großes, Lebendiges.« »Ich seh nichts«, sagte Anna. »Was soll es denn sein?« Joe sah sie wütend an. »Wenn ich raten darf, dann würde ich sagen, es ist die Art von Ding, die Schokohörnchen isst«, sagte er und begann mit den Händen tastend den Schuppen abzusuchen, so wie Anna das auch getan hatte. Er 60
würde ihn im nächsten Augenblick haben. Tom sah nur einen Ausweg. Er wartete auf eine Gelegenheit. Zupacken und beißen waren eine Bewegung. Joe schrie auf und zog die Hand zurück. Voller Entsetzen starrte er auf das Blut, das aus seinem Finger troff. Tom wartete nicht. Er duckte sich unter Joes Ellbogen hindurch und hielt auf die Tür zu. Wenn Anna nicht plötzlich einen Schritt nach vorn gemacht hätte, hätte er verschwinden können. So aber stieß er direkt mit ihr zusammen, und das gab Joe den entscheidenden Augenblick, um sich zu erholen. Er stürzte ins Leere und bekam einen Kopf und einen Arm zu fassen. Tom zappelte verzweifelt, aber Joe hatte ihn im Schwitzkasten. Tom trat mit den Füßen und traf auch etwas. Joe fluchte, aber er ließ nicht los. Er verstärkte seinen Griff, bis Tom kaum noch Luft bekam. »Nicht!«, sagte Anna schrill. »Lass ihn los!« Das Gewicht von Joes starken Muskeln drückte um Toms Hals. Es war aussichtslos. Tom hörte auf, sich zu wehren. »Was ist?«, wollte Joe wissen. »Lass ihn los!« »Sag mir, was es ist. Sonst brech ich ihm den Hals.« Der Arm schloss sich noch fester um Toms Hals, und vor seinen Augen stieg ein Nebel auf. Was Tom an Luft einatmen konnte, roch so stark nach Dämon, dass er fast erstickte. 61
»Es ist ein … Junge«, antwortete Anna widerstrebend. Eine Hand tastete an Toms Arm entlang bis zu seiner Hand und wieder zurück. »Und warum ist er unsichtbar?« Anna verknotete ihre Finger. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht – ich glaube nicht, dass er ein Mensch ist.« »Was?« Der Griff um Toms Hals lockerte sich einen Augenblick lang. Tom wand sich und duckte sich, aber der Griff wurde wieder fester und drehte ihm fast den Kopf vom Hals. »Halt still! Hast du ihn schon gesehen?« »Hmm. Ja.« »Okay. Du! Ich möchte dich sehen! Mach dich sichtbar!« Tom hätte ohnehin nicht länger ausgehalten. Er ließ sich aus dem Reich der Sterne wieder zurück in die Wirklichkeit fallen.
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18 »Jetzt lass ihn los«, sagte Anna. Joe konnte es nicht schnell genug tun. Hastig trat er einen Schritt zurück und starrte Tom an. Dämonen starrten einfach immer. »Wo kommt denn der her?«, fragte Joe. Er war so erstaunt, dass er zum ersten Mal nicht wütend klang. »Ich hab ihn im Schuppen gefunden.« »Er ist ganz schön blass. Fast weiß.« »Er gehört zum Volk«, erklärte Anna. »Sie leben auf dem Gemeindeland. Schon immer, sagt er, seit vielen hundert Jahren. Ich glaube …« »Was?« Anna sah verlegen aus, aber auch ein bisschen trotzig. »Ich glaube, er ist eine Art Elf.« Joe setzte zu einer Erwiderung an, überlegte es sich dann aber anders. »Kann er sprechen?« »Ja.« Joe stieß Tom vor die Brust. »Wie hast du dich unsichtbar gemacht?«, wollte er wissen. Tom wünschte, er wäre so stark, dass er Joe töten könnte. 63
»Die Sterne haben mich aufgenommen«, sagte er kurz. Joe stieß einen verwunderten, spöttischen Laut aus. »Er klingt wie ein Streifenhörnchen.« »Sei nicht gemein!« Joe ging nicht darauf ein. Er dachte nach. »Wie meinst du das, dass die Sterne dich aufgenommen haben?«, fragte er weiter. Anna nestelte an der Verpackung der Schokohörnchen. »Kommt lieber weg vom Fenster, alle beide, sonst schnüffelt Edie gleich wieder hier herum.« Das war ein vernünftiger Vorschlag. Tom ließ sich in die Ecke fallen. Joe faltete seine langen Beine unbeholfen zusammen und setzte sich auf den kleinen freien Platz daneben. »Es ist jedenfalls nicht möglich«, sagte er gereizt. »Die Naturwissenschaft … ich meine … unsichtbar sein … ich meine … einfach nicht möglich.« Anna reichte Tom und Joe jeweils ein Schokohörnchen. Tom fand es fad, aber die schwarze Schicht schmeckte süßer als Honig. »Du würdest auf einer Stufe stehen mit Einstein und Newton und Hawking, wenn du das mit der Unsichtbarkeit hinkriegst«, fuhr Joe fort. »Stell dir das mal vor.« Anna betrachtete sehnsüchtig die beiden übrigen Schokohörnchen, seufzte und versteckte sie in der Gießkanne. 64
»Die heben wir lieber auf«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich heute noch mal kommen kann.« »Was macht er hier?«, fragte Joe plötzlich. »Er versteckt sich vor seinen Eltern. Sie wollen ihn umbringen«, sagte Anna. »Seine Tante Edrin haben sie schon getötet.« »Warum?« Tom fand das alles entsetzlich. Die Dämonen schauten ihn dauernd an und redeten und versuchten, in seine Gedanken einzudringen, damit sie Besitz von ihm ergreifen konnten. Er hasste sie. »Lasst mich in Ruhe«, sagte er wütend. »Ich brauch euch nicht. Ich will euch nicht. Das ist alles meine Angelegenheit.« Der Blick aus Annas großen, runden, traurigen Augen hing wieder an ihm. Auf einmal wurde ihm fast schlecht, denn er spürte den Schmerz, den er ihr verursacht hatte. Er verstand ihn nicht nur, sondern er spürte ihn. Er spürte die Gefühle eines anderen. Das bedeutete, dass sie kurz davor war, ihn zum Sklaven zu machen. Und das machte seinen Hass auf sie nur noch größer. »Du brauchst mich«, sagte sie tapfer. »Du brauchst mich, weil ich dir Essen bringe.« »Jetzt nicht mehr. Ich kann wieder gehen. Ich brauche niemanden.« Joe gab ein neidisches, anerkennendes Grunzen von sich. »Das mach ich auch, sobald ich sechzehn bin.« »Genau«, sagte Anna grob. »Ich kann mir richtig 65
vorstellen, wie du alleine lebst. Heute Morgen hast du nicht einmal deine Schuhe gefunden.« »Ist ja rührend. Nein …«, seine Stimme wurde leiser und klang nicht mehr so heiser. »Ich werde Wissenschaftler. Nur ich allein. Keine Familie. Nur Fakten.« Das war so wichtig, dass Tom sprechen musste, sogar mit einem Dämon. »Wo ist dieser Ort, an dem du allein leben kannst?« Joe sah ihn scharf an. Dann lehnte er sich zurück und musterte ihn abschätzig. »Ach so«, sagte er und in seiner Stimme schwang mehr als nur eine Spur von Triumph mit. »Du bist hier, weil du nicht weißt, wohin du sonst gehen sollst.« Tom schwieg. Joe lachte. Es war kein freundliches Lachen. Es erinnerte Tom an Larn. »Ich glaube doch, dass du unsere Hilfe brauchst«, sagte der Dämon.
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19 Alle Dämonen versuchten jeden zum Sklaven zu machen, der ihren Weg kreuzte. Sie waren tückisch und hatten verschiedene Methoden. Anna wollte alles über ihn wissen und war dauernd da. Sie wollte ihn durch schiere Beharrlichkeit einfangen. Joe versuchte es mit Angst, aber das war leicht zu ignorieren. Wenn das, was Joe sagte, nicht so lebenswichtig gewesen wäre, hätte sich Tom nicht einmal die Mühe gemacht zuzuhören. »Es gibt viele Millionen Dämonen«, sagte Joe mit schrecklicher Genugtuung. »Millionen und Abermillionen, auf der ganzen Welt. Jeden Tag kommen mehr Dämonen über das Meer gefahren und bauen immer mehr Häuser. Es gibt kaum noch einen Ort im ganzen Land, wo du nicht in Sichtweite eines Dämonenhauses bist.« Anna lauschte. Sie war dumm, aber sie war nicht feige. Und sie hätte widersprochen, wenn Joe gelogen hätte. »Und Dämonen sind wirklich schrecklich«, fuhr Joe fort. »Du hast großes Glück, dass Anna dich gefunden hat. Sie ist so schwach und so dämlich, dass sie dir nicht viel anhaben kann. Aber die meisten Dämonen sind grausam und böse.« »Nein, sind wir nicht«, warf Anna ein. »Ich habe 67
noch nie jemanden kennen gelernt, der so schrecklich ist wie du. Alle anderen sind ziemlich nett, meistens jedenfalls. Nur Mrs Hitchen in der Schule natürlich nicht.« Joe zischte verächtlich. »Du hast ja keine Ahnung.« »Hab ich schon. Wir sind nicht annähernd so böse wie Toms Volk. Oder laufen wir etwa rum und bringen unsere Kinder um?« »Aber sicher. Steht doch tagtäglich in der Zeitung.« »Sind doch nur Meldungen.« »Keineswegs. Was ist mit Dad? Er hat mich einfach im Stich gelassen.« »Nein, er …« »Und jetzt ist Mum weg.« »Aber das ist nur …« »Und das sind nur einige wenige Beispiele für die schrecklichen Gemeinheiten, die Dämonen tun«, sagte Joe und beugte sich so dicht über Tom, dass er den heißen Dämonenatem auf seinem Gesicht spürte. »Das tun wir unseren Artgenossen an. Du hast überhaupt keine Vorstellung davon, was wir mit anderen Lebewesen anstellen. Da haben wir so richtig Spaß. Wir sperren Vögel in winzige Käfige, in denen sie ihre Flügel nicht ausbreiten können. Und wenn sie davon aggressiv werden, schneiden wir ihnen die Schnäbel ab, damit sie sich nicht gegenseitig umbringen.« »Hör auf!«, rief Anna und steckte die Finger in die Ohren. 68
»Und wir machen noch viel schlimmere Sachen. Wenn wir ein neues Wesen entdecken, so wie dich, dann nehmen wir es auseinander, um herauszufinden, wie es funktioniert. Ziehen seine Haut ab. Das machen wir als Erstes, damit wir an die Innereien rankommen.« »Wenn du ihn anfasst, sag ich es Dad!«, rief Anna. Joe schüttelte den Kopf. »Wenn Dad von Tom erfährt, hat sein letztes Stündchen geschlagen. Dad holt die Polizei. Hab ich Recht?« »Na ja«, sagte Anna voller Zweifel. »Vermutlich …« »Und die Polizei übergibt ihn den Wissenschaftlern. Und die nehmen ihn sofort auseinander. Schlitzen seine Augäpfel auf und reißen ihm die Fingernägel raus. Würde dir das gefallen, Tom? Nein? Na, dann gibt es nur einen, der dich retten kann. Ich.« Tom hasste Joe so sehr, dass er das Gefühl hatte, ein silbernes Messer steckte in seinem Herzen. Es nahm ihm die Luft, so dass er nicht sprechen konnte. »Du kannst allein niemals von hier abhauen, ohne gefangen zu werden«, flüsterte Joe. »Im Umkreis von hundert Meilen leben viele Millionen Dämonen. Aber ich könnte dich rausschmuggeln. Ich könnte Dad dazu bringen, dass er dich an einen einsamen Ort bringt. Wenn du unsichtbar wärst, könnten wir dich ins Auto setzen. Niemand würde es merken.« Das war nur ein vager Strohhalm, aber Tom ergriff ihn. 69
»Wann könntest du mich wegbringen?«, fragte er. Joe lehnte sich zurück und verzog das Gesicht zu einem bösen, zufriedenen Grinsen. »Sobald ich fertig bin«, sagte er. »Ich möchte zuerst mehr darüber wissen, wie man unsichtbar wird.«
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20 Dämonen waren böse und grausam. Und einige waren besonders schlimm. »Zuerst müssen wir dich vermessen«, verkündete Joe. »Alles streng wissenschaftlich. Anna, hol ein Maßband und ein Thermometer.« Anna zögerte ein bisschen. »Warum gehst du nicht selbst?« »Soll ich Dad alles erzählen?« Anna blieb noch eine Weile unschlüssig stehen, aber Joe wandte den Blick von ihr ab und schließlich öffnete sie die Tür des Schuppens und rannte den Weg hinunter. Tom kniete auf dem Boden und hasste Joe aus tiefstem Herzen. Jetzt waren sie allein und Joe konnte mit ihm tun, was er wollte. Joe war schlau, so schlau, dass er wirklich erfinderisch war. »Mach dich unsichtbar«, befahl er. Ohne nachzudenken schüttelte Tom den Kopf. »Es ist nicht nötig«, sagte er. »Doch, es ist nötig. Ich möchte sehen, ob es allmählich passiert oder plötzlich. Außerdem möchte ich sehen, ob du zuerst deine Farbe veränderst oder ob du glühst oder was. Oder ob es riecht.« Tom schüttelte den Kopf. »Das ist nichts, was man nur so zum Spaß tut«, sagte er. »Es ist eine ernste Angelegenheit.« 71
Joe lachte spöttisch. »Du sagst mir, das wäre eine ernste Angelegenheit«, sagte er sanft. »Ganz richtig. Denn wenn du nicht mitmachst, habe ich keinen Grund, dir zu helfen. Nicht wahr? Ich könnte auch gleich die Wissenschaftler holen. Vielleicht sollte ich das sowieso tun. Sie könnten deine DNA analysieren. Wäre doch interessant. Angeblich ist das menschliche Genom zu achtundneunzig Prozent identisch mit dem der Schimpansen. Ich frage mich, wie weit die Identität mit deinem Genom geht.« Vielleicht könnte er Joe erwürgen, wenn er unsichtbar war. Ihn würgen, bis ihm die Augen aus dem Kopf traten und sein Gesicht blau anlief … »Ich warte«, sagte Joe. Tom gab sich geschlagen. Er hob die Hände und rief die Sterne an.
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21 »Mensch!«, rief Joe und starrte ins Nichts. Tom trat verstohlen einen Schritt nach links, so dass Joe ihm nicht mehr direkt ins Gesicht glotzte. Jetzt fühlte er sich viel besser. Er warf einen kurzen Blick auf Joe, der ganz blau und lang gezogen aussah, und stellte erschrocken fest, dass er jetzt fast einer vom Volk sein könnte. Das Blau hatte alle Farbe aus seinem Gesicht genommen und sein Körper war so in die Länge gezogen, dass er fast anmutig wirkte. Sein Gesicht sah beinahe aus wie ein Totenschädel. Beide schauderten ein bisschen. »Das war unglaublich«, sagte Joe. »Es gab kein Aufleuchten und gar nichts. Du bist einfach verschwunden. Wo bist du jetzt?« Tom antwortete nicht. Vorsichtig nahm er einen Nagel, den jemand auf dem Fensterbrett liegen gelassen hatte. Als Joe in die andere Richtung schaute, warf er ihn gegen die Tür. Joe fuhr herum. »Oh, nein, das tust du nicht!«, murmelte er und stürzte zur Tür. Um nicht hinzufallen, führte er einen merkwürdigen Tanz auf, bei dem er Arme und Beine fast verknotete. Trotzdem stieß er sich den Ellbogen an der Wand an. Joe fuhr wieder herum und fluchte zornig. 73
»Warum hast du das gemacht? Wo bist du?« Er streckte die Hand aus. Aber wahrscheinlich hatte er die Abdrücke der Zähne auf seinem Finger gesehen, denn er zog die Hand hastig wieder zurück. »Okay«, sagte er. »Du hast mich getäuscht. Was hast du gemacht? Etwas geworfen? Du kannst wieder sichtbar werden.« Joe hatte Angst. Tom stand triumphierend da und genoss es. Unsichtbar war er der Stärkere. Das durfte er nicht vergessen. Die Dämonen haben das Volk immer gefürchtet. Dämonen fürchteten sich vor vielen Dingen – vor der Dunkelheit, vor den Toten. Schwere Schritte stampften über das Gras draußen und dann stieß Anna die Tür auf. »Ich habe …« Sie hielt inne und blickte sich um. »Wo ist Tom?« »Unsichtbar«, antwortete Joe säuerlich. Anna wühlte in ihrer Tasche und zog ein kleines Glasröhrchen hervor. »Also los. Tom, das ist ein Thermometer. Damit können wir deine Körpertemperatur messen. Es tut nicht weh. Du musst dieses Ende ein paar Minuten unter die Zunge legen. Da, nimm und mach es selbst. Ich seh dich ja nicht.« Tom zögerte. Aber dann siegte seine Neugier, und er nahm das zerbrechliche Röhrchen aus Annas Hand. »Mensch!«, sagte Joe noch einmal. »Es ist weg. Aber das habe ich auch vermutet. Ich meine, seine Kleider sind ja auch mit ihm verschwunden.« 74
»Es ist ein Glück, dass er verschwinden kann«, sagte Anna. »Gerade hat mich Edie Mackintosh angehalten.« »Blöde alte Schachtel«, sagte Joe verächtlich. »Warum setzt sie eigentlich immer diese alberne Reitkappe auf? Wahrscheinlich hat sie eine Glatze.« »Nein, hat sie nicht. Sie hat mich alles Mögliche gefragt. Was wir im Schuppen machen und so.« Tom steckte das Thermometer vorsichtig unter seine Zunge. Es war unangenehm und schmeckte leicht metallig. Er wartete darauf, dass etwas passierte. »Was hast du ihr gesagt?«, fragte Joe. »Dass du mit deinem lieben Bruder Mama und Papa spielst?« Anna schüttelte den Kopf. »Sie ist schlau. Sie hätte es nicht geglaubt.« »Diese alte Hexe!« »Ich glaube … ich bin mir sogar ziemlich sicher … Sie weiß, dass wir hier jemanden verstecken.« Tom erinnerte sich an den Lichtspeer, der ihn entdeckt und durchbohrt hatte, in der Nacht, als er hier angekommen war. War das Edie Mackintosh gewesen? Auf einmal schienen die Gefahren, mit denen Joe ihm gedroht hatte, sehr nah und sehr real. Joe hatte, verdammt noch mal, Recht. Tom brauchte die beiden wirklich. Er nahm das Thermometer aus dem Mund und ließ sich in die wirkliche Welt zurückfallen. Auf dem Thermometer hatte sich anscheinend nichts verän75
dert. Joe riss es ihm aus der Hand, drehte es und schielte darauf. »Ich seh die Quecksilbersäule nicht«, klagte er. »Lass mich mal«, sagte Anna, ohne viel Hoffnung. »Man müsste eine silberne Säule sehen. Sie zeigt die Temperatur an. Aber ich kann gar nichts sehen.« Anna stand auf Zehenspitzen hinter Joe und versuchte, von dort aus etwas zu erkennen. Plötzlich stieß sie ein Geräusch aus – weder ein Wort noch einen Schrei. »Was ist das?«, fragte sie. »Auf dem Stück, das er im Mund hatte.« Joe warf einen flüchtigen Blick darauf. Dann schaute er noch einmal, genauer. Ganz vorsichtig berührte er den weißen Rand, der sich um den Kolben am Ende des Thermometers gebildet hatte. Er sah in einer Mischung aus Verwunderung und Angst auf. »Reif«, sagte er.
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22 Edie Mackintosh hatte einen Verdacht. Da war Tom sich sicher. Sonst würde sie nicht so viel Zeit im Garten verbringen. Schon gar nicht im Winter, wo es draußen kaum etwas zu essen gab. Auch jetzt war Edie Mackintosh mit ihrem verrückten Hut und ihrem unförmigen Mantel im Garten und stocherte mit ihrer Hacke im Boden herum. Das war besonders lästig, weil er zu seiner Latrine musste. »Joseph! Joseph!« Tom spähte vorsichtig über das Fensterbrett. Joe war erwischt worden. »Wieder auf dem Weg zum Schuppen, was?« »Nein«, sagte Joe. »Ich wandere nach Australien aus.« Edie Mackintosh musterte ihn argwöhnisch unter ihrem Hutrand hervor. »Kommt deine Schwester auch raus?« »Halbschwester«, korrigierte er sie kühl. »Was?« »Anna. Sie ist nicht meine Schwester. Sie ist meine Halbschwester.« Edies Augen verengten sich zu Schlitzen. »Es überrascht mich, dass ein so großer Junge wie du mit einem kleinen Mädchen wie Anna spielt.« Joes Augen funkelten mordlustig. Manchmal war 77
er den anderen vom Volk wirklich sehr ähnlich. Aber er tat ihr nichts. Allerdings war es auch nicht schwer, Edie Mackintosh zu hassen: Sie hatte eine scharfe Stimme, scharfe Augen und eine scharfe Nase und unter ihren blöden Kleidern schien sie nur Haut und Knochen zu verbergen. Und sie wusste etwas. Jemand öffnete die rückwärtige Tür. »Da ist dein Dad«, verkündete Edie Mackintosh. »Bernard!« Bernard war riesig – breit und heiß vor lauter Fett. Er hatte schwarze Schafswolle auf dem Kopf, buschige Augenbrauen, die über der Nase zusammengewachsen waren, und einen stets geöffneten Mund mit wulstigen Lippen. »Morgen, Edie«, sagte er und wollte weitergehen, aber Edie ließ ihn nicht entkommen. »Ist es nicht schön für Sie, dass Sie Joe endlich mal hier haben?« Bernard stieß einen erstickten Schrei aus und blieb stehen. »Er kommt nicht so oft, oder?« »Nur wenn Mum auswärts arbeitet«, sagte Joe boshaft. Bernard gab tief in seiner Kehle einen heiseren Laut von sich. »Aber es ist wunderbar, dass er jetzt da ist«, sagte er ziemlich schroff. »Wirklich wunderbar«, fügte er an, als wolle er seine Schroffheit wieder gutmachen. »Und was hat Joe vor, solange er zu Besuch ist?« 78
»Er weiß es nicht«, sagte Joe. »Er war die ganze Zeit bei der Arbeit.« Bernard schaukelte mit seinem massigen Körper hin und her wie ein angebundener Bulle. »Ich muss zur Arbeit, Joe«, sagte er. »O ja, ich weiß. Du würdest ja nicht deine Urlaubstage verplempern, während ich da bin, nicht wahr?« Bernard öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich dann aber doch anders. »Am Wochenende bin ich da«, sagte er schließlich und klang auf einmal ganz sanft. »Vielleicht könnten wir zusammen was unternehmen.« Joe schnaubte und ging davon. Edie sah ihm nach. »Es ist bestimmt schwer für ein Kind, wenn die Familie auseinander gebrochen ist, nicht wahr?«, sagte sie. Bernard schnaubte und ging ebenfalls davon.
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23 Die Tage waren jetzt kurz und rau. Obwohl über eine Woche lang kein Frost geherrscht hatte, kam es Tom vor, als werde es im Schuppen immer kälter und ungemütlicher. Er fragte Joe, wann Bernard ihn wegbringen könne. »Am Wochenende«, sagte Joe. »Noch ein paar Tage. Ich habe ihn damit genervt, dass er Urlaub nehmen soll, aber das darf er nicht. Also kann er es mir nicht abschlagen, am Wochenende etwas mit mir zu unternehmen.« Tom schüttelte sich. Die Dämonen machten sich dauernd gegenseitig zu Sklaven, aber dass sie darauf auch noch stolz waren, das erschien ihm schrecklich. »Pass auf«, fuhr Tom fort. »Ich hab in Dads altem Chemiekasten ein Stückchen Lackmuspapier gefunden. Spuck drauf und dann noch einmal, wenn du unsichtbar bist.« Tom schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt«, sagte er. Joe schob den Unterkiefer vor. »Vorsicht …« »Nein«, sagte Tom noch einmal. »Es ist … Ich weiß nicht. Ich glaube, mir geht’s nicht gut.« Joe schnaubte. »Natürlich geht’s dir gut.« 80
Aber das stimmte nicht. Tom wusste nicht, was los war, aber er fühlte sich unruhig und unzufrieden und außerdem war ihm heiß. Das war das Problem. Aber es war verwirrend, denn zugleich war ihm kalt. »Hmmm«, sagte Joe. »Vielleicht ist es das Essen. Du isst normalerweise hauptsächlich Fleisch, nicht wahr? Und Anna füttert dich schon die ganze Zeit mit Brötchen.« Anna hatte ihm auch einen Mantel gebracht. Er roch streng nach Dämonenschweiß, aber vergangene Nacht war er froh gewesen, dass er ihn hatte. »Lass mich sehen, wie du versuchst, unsichtbar zu werden«, sagte Joe. »Ich kann nicht«, antwortete Tom. »Versuch’s«, sagte Joe. Tom betrachtete ihn: sein fahles Gesicht mit den starrenden Stachelbeeraugen und seine schweren sehnigen Arme. Eine neue Woge von Hass wallte in ihm auf. Sogar jetzt, in diesem Augenblick, versuchte Joe ihn zum Sklaven zu machen. Er streckte unsichtbare Tentakel aus, die nach seiner Seele griffen. Tom konnte ein Zittern nicht unterdrücken. Joe packte Toms Arm. Seine Finger waren dick und so kräftig, dass sie Toms Knochen brechen konnten. »Versuch unsichtbar zu werden«, sagte Joe drohend. Tom war nahe daran, es zu versuchen. Aber er wusste, dass er es nicht tun durfte. Irgendetwas war in seinem Innern geschehen, und er wusste, dass er 81
das Reich der Sterne nicht erreichen würde. Wenn er es versuchte, würde etwas Schreckliches passieren. Joe senkte den Kopf und blies Tom faulige Gase ins Gesicht. »Du hältst dich doch an unsere Abmachung, nicht wahr?«, fragte er ganz ruhig. »Ich kann nämlich problemlos die Polizei holen, wenn du das lieber willst.« »Nein«, sagte Tom und spürte mehr Hass in sich als jemals zuvor. »Dann ruf deine Sterne an, du Wicht.« Tom versuchte seinen Arm dem Griff zu entwinden, aber Joe war viermal stärker als er. »Vielleicht geht’s mit einem gebrochenen Arm leichter«, schlug Joe bösartig vor. »Nein!«, rief Tom. Mit einem gebrochenen Arm würde er niemals für sich selbst sorgen können. Er würde verhungern wie Linna im vergangenen Jahr. Und Joe könnte ihm problemlos den Arm brechen. Tom versuchte nachzudenken. Anna war in die Stadt gegangen, um Essen zu besorgen. Es gab keinen Ausweg. In seinem Kopf pochte es, aber das war vor allem sein unbändiger Hass. Vielleicht fühlte er sich deshalb so elend. »Ich zähle bis fünf«, sagte Joe. »Eins, zwei …« Es gab keinen Ausweg. Voller Verzweiflung rief Tom die Sterne an.
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24 Sie waren zu weit weg. Er hatte es gewusst. Er versuchte, sich nach oben zu katapultieren, aber es war keine Kraft in ihm, und das Reich der Sterne blieb weit entfernt – weit außerhalb seiner Reichweite. Auf einmal fiel er zurück durch grenzenlose Dunkelheit. Das tat gut und er fühlte sich kühl und leicht, bis er den Ring aus Luft erreichte, der die Erde umschloss. Der Aufprall war hart und auf einmal war alles heiß, glühend heiß. Überall züngelten Flammen, in seinen Augen, in seinen Haaren, in seinen Lungen. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und schrie. Und irgendwo, durch den Lärm hindurch, schrie noch jemand. Dann war es still. Tom lag immer noch zusammengekauert zitternd draußen unter freiem Himmel. Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war, aber er zitterte am ganzen Leib und wusste, dass etwas katastrophal schief gelaufen war. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Alles war schwarz, verkohlt und schwarz. Um ihn herum stieg Rauch auf von schwelenden Holzbalken. Wenige Meter entfernt bellte etwas. Ein Dämon. Er bellte. Der Rauch kringelte und verzog sich, und Tom stellte fest, dass er auf eine Wand blickte. Mehr als eine Wand, ein Haus – ein viereckiges Steinhaus, wie Dämonen es bauten. 83
»Joe!« Eine neue Stimme, klar und hoch, aber trotz allem die Stimme eines Dämons. »O mein Gott. Joe!« Das Bellen verwandelte sich in ein Heulen. »Was ist passiert? Alles in Ordnung? O mein Gott, was hast du mit dem Schuppen angestellt?« Tom bewegte sich. Er wusste nicht, was hier vor sich ging, aber der Schuppen war weg und er wurde nur von dem sich kräuselnden Rauch verborgen. Er kroch zum Rand des Gartens und schob sich durch die vertrockneten Stängel der Sommerblumen zu dem Durchgang zwischen den Häusern. Auf dieser Seite gab es keine Fenster, aber es gab Türen. Toms Kopfhaut kribbelte angesichts der Gefahr, aber er war so verwirrt, dass er nicht wusste, woher ihm Gefahr drohte. Sie drohte aus dem Nachbarhaus. Eine knochige Hand schnellte aus der Türöffnung und packte ihn. »Was hast du mit dem Schuppen angestellt?«, fragte jemand.
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25 Edie Mackintosh war dünn für einen Dämon, aber sie war stark. Tom kämpfte vergeblich, denn er war schwach und ihm war schwindelig. »Lass es einfach!«, sagte Edie Mackintosh. »Du kommst hier zu mir herein.« Hinter der geöffneten Dämonentür lauerte Gefahr. Ein Schwall Hitze drang zu ihm heraus, Hitze, wie sie nur der Sommer brachte, und mit der Hitze ein Duft nach Honig und altem Gemüse und Gefahr. Er dachte daran, sie zu beißen, aber aus irgendeinem Grund ließ er es sein. Und dann hatte das Haus ihn umschlossen. Es gab nur noch Wände und Türen und Gegenstände, die im düsteren Zwielicht lauerten. Vor den Fenstern hingen spinnwebartige Laken, und überall war es erstickend heiß. Edie Mackintosh zerrte ihn durch das Halbdunkel an einen Ort, wo ein Käfig mit heißen roten Stangen glühende Hitze verströmte und alles staubig und ausgestopft wirkte. Sie stieß ihn auf einen der ausgestopften Gegenstände. Er war so gepolstert, dass er sich nicht wehtat, als er hineinfiel. »Du bleibst hier«, schnappte Edie Mackintosh. »Und fass nichts an!« Sie war nur eine Minute weg. Tom saß da und versuchte zu denken. Aber das Feuer drang auf ihn ein 85
und seine Gedanken schmolzen. Er wusste, dass im Reich der Sterne etwas passiert war, aber … Edie Mackintosh kehrte mit einer grauen Schüssel und einem Arm voller Tücher zurück. »Lass mal sehen, was du dir getan hast«, sagte sie. Und sie stürzte sich auf ihn. Tom wich aus, aber sie erwischte sein Gesicht. Das Tuch war nass. Er bekam fast keine Luft, aber wenigstens klärte die Kälte seine Gedanken. Und er verstand, was um ihn herum geschah. Ein Dämon. Er war von einem Dämon gefangen worden. Er war bei der schrecklichen Edie Mackintosh in einem Dämonenhaus und … »So ein Dreck«, sagte Edie Mackintosh. »Schau dir den Schmutz auf dem Handtuch an! Aber zum Glück ist es nur ein kleiner Schnitt.« Auf dem Handtuch waren Spuren von Asche und Blut. Wie war er in ein Feuer geraten? Er konnte sich nicht erinnern. Er erinnerte sich nur noch daran, dass er im Schuppen war. Zusammen mit Joe. Das war alles. Und er erinnerte sich, dass Joe geschrien hatte. »Also, wie heißt du?«, wollte Edie Mackintosh wissen. Er klingt wie ein Streifenhörnchen. Tom schüttelte den Kopf. Seine Stimme würde ihn sofort verraten. Überhaupt fühlte er sich wegen der Hitze sehr krank. Sein Herz pochte so schnell, dass er kaum atmen konnte. »Du kannst es mir auch gleich sagen«, sagte Edie Mackintosh. »Du wirst viele Fragen beantworten 86
müssen. Den Schuppen fremder Leute in die Luft zu jagen. Das ist ja kriminell.« Der Schuppen. Ja, er erinnerte sich an den Schuppen. Aber dann erinnerte er sich auch, inmitten verkohlter Balken zu sitzen, die im Kreis um ihn herumlagen wie die Teile eines geplatzten Fasses. Und schon da hatte er die schreckliche Gewissheit gefühlt, dass das der Schuppen war. »Ich muss das Jugendamt anrufen«, sagte Edie Mackintosh. »Oder die Polizei.« Die Polizei? Was hatte Joe gesagt? Die Polizei brachte einen zu den Wissenschaftlern, die einen auseinander nahmen. »Na?«, herrschte Edie Mackintosh ihn an. »Hat’s dir die Sprache verschlagen?« Tom war sicher, dass er einen Ausweg gefunden hätte, wenn sein Kopf klar gewesen wäre. Aber er war immer noch benommen von dem, was auch immer passiert sein mochte, und von der Hitze. Außerdem war da noch etwas in diesem Haus, das ihn noch kränker machte. »In diesem Zustand kannst du keinesfalls irgendwo hingehen«, sagte Edie Mackintosh. »Nicht in diesen halb verbrannten Kleidern. Und es wäre auch gefährlich, wegen des Schocks. Ich glaube, ich rufe lieber beim Jugendamt an und frag nach, was sie dort meinen.« Sie verließ das Zimmer und redete mit jemandem, der eigentlich gar nicht da sein konnte, denn am Ende des einseitigen Gesprächs sagte Edie Mackintosh: 87
»Ja, ich wäre froh, wenn Sie vorbeikommen könnten. Danke. Wiederhören.« Dann kam sie zurück, warf ihm einen durchdringenden Blick zu und drehte das Feuer auf. Sie setzte sich und sah ihn an.
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26 Die Hitze war wie Wasser. Sie überschwemmte einen, so dass man kaum sah und kaum hörte, und dann warf sie einen in eine seltsame Welt. Jetzt bellte in dem rostroten Nebel ein anderer Dämon. Er hatte einen schlaffen blutroten Mund und schimmelige Haare. Sein staubiges Gesicht näherte sich Tom. »Meinst du, du kannst mir deinen Namen sagen?« Die heiße Luft umfing die Worte und zerquetschte sie. »Es hat keinen Zweck«, sagte Edie Mackintosh, sehr nah, aber zugleich auch sehr weit weg. »Er spricht nicht.« Das staubige Gesicht wich ein bisschen zurück. »Seltsam, dass ich ihn nicht kenne. Entweder ist seine Familie erst in diesen Distrikt gezogen oder er ist weggelaufen. Aber keine Beschreibung auf der Liste passt auf ihn.« Er streckte den Kopf mit den vorstehenden Fischaugen wieder nach vorn. »Ich möchte dir helfen«, bellte er. Tom verhielt sich ganz still und versuchte, in seinem Dunstkreis nicht zu atmen. »Vielleicht kommt er aus einer Familie, die in Ih89
ren Akten noch nicht aufgetaucht ist«, meinte Edie Mackintosh. »Das ist unwahrscheinlich. Er ist offensichtlich sehr bedürftig. Ich meine, er trägt sehr merkwürdige Schuhe. Und er ist entweder stumm oder sehr verwirrt.« »Was meinen Sie, wie lange es dauert, bis Sie wissen, wo er hingehört?« »Dürfte nicht allzu lange dauern. Seine Schule muss ihn melden, auch wenn seine Familie es nicht tut.« »Und bis dahin?« »Nehmen wir ihn in unsere Obhut.« Der Dämon streckte die Hand aus. Die langen Klauen waren so angemalt, dass sie zu den Lippen passten. »Ich bin hier, weil ich mich um dich kümmern möchte«, bellte er und zeigte seine Zähne. Edie Mackintosh gab ein missbilligendes Geräusch von sich. »Der Junge hat Todesängste ausgestanden«, sagte sie. »Weiß der Himmel, welche Auswirkungen Laidlaw auf ihn hat. Dort wollen Sie ihn doch vermutlich hinbringen.« »O ja, sie haben viel Erfahrung dort …« »Apropos Erfahrung. Ich glaube, Sie lassen ihn am besten hier bei mir.« Der Mund des anderen Dämons zuckte verächtlich. »Tut mir leid, aber wir lassen Kinder nicht einfach bei …« 90
»Selbstverständlich nicht. Die Vorschriften reichen aufeinander gestapelt bis zur Decke. Ich muss es wissen, achtundzwanzig Kinder vom Jugendamt habe ich durch dieses Haus geschleust, meine eigenen nicht mitgezählt. Sie sind neu in diesem Distrikt, nicht wahr?« »Ach, ich verstehe. Und Sie wären bereit? Also, es muss natürlich seinen geordneten Gang gehen. Ich werde alles im Büro vorlegen müssen, aber …« Die Hitze war zähflüssig wie Honig. Tom musste unbedingt etwas sagen oder etwas tun, aber alles, was er sagte oder tat, würde gewiss in die Katastrophe führen. Er sollte bei Edie Mackintosh bleiben, die etwas wusste, die gefährlich war. Andererseits war jeder Dämon gefährlich. Und er fühlte sich so krank. Er saß da und versuchte krampfhaft, sein Gehirn zum Denken zu bringen, während die Dämonen sprachen.
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27 Edie Mackintosh gab ihm Fleisch. Er stopfte es in den Mund, sobald es nicht mehr zu heiß war, und wurde beim Warten fast wahnsinnig vor Gier, aber sie beschwerte sich trotzdem, dass er sein Essen kalt werden lasse. Er verschlang alles, auch das kleinste Stückchen, obwohl es verbrannt schmeckte, und sogar die Pfützen von dem nach Fleisch schmeckenden Schleim, in dem das Fleisch lag, schlürfte er in sich hinein. Die Mahlzeit tat ihm offenbar gut, denn danach erschien ihm die Hitze des Hauses ein wenig erträglicher. Aber er hatte immer noch das Gefühl, langsam und lautlos in einen endlos tiefen Brunnen zu fallen. Edie Mackintosh brachte ihn nach dem Essen in sein Zimmer. Darin stand ein riesiges gepolstertes Ding, in dem er schlafen sollte. Aber er konnte nicht schlafen, denn wenn ihn nicht der juckende pulverige Ruß wach hielt, der sich in seiner Haut festgesetzt hatte, oder die Hitze, dann war es die Dunkelheit, die seine Aufmerksamkeit gefangen nahm. Um Mitternacht stellte sich wenigstens die Heizung ab. Und dann fand er endlich heraus, was ihn in diesem Haus noch beunruhigte: Vor jedem Fenster und vor jeder Tür hing ein Kranz aus bemoosten Erlenzweigen. Das war schrecklich für ihn, denn die Zweige sand92
ten schrille Schwingungen aus, die ihm durch Mark und Bein gingen und sein Gehirn und seinen Körper in wabbelige Gelatine verwandelten. Er hasste sie. Wenn er ihnen zu nahe kam, schrie jeder einzelne Nerv in seinem Körper auf. Schließlich legte er sich auf den Boden, möglichst weit entfernt vom Fenster, und versuchte, die schrillen Töne nicht zu beachten. Schlaf fand er nicht, aber es blieben ihm viele Stunden, in denen ihm klar wurde, wie groß die Gefahr war, in der er sich befand. Edie Mackintosh wusste mehr über ihn, als ein Dämon wissen sollte. Das war schon eine Weile klar. Und um alles noch klarer zu machen, hatte sie Erlenzweige aufgehängt, damit niemand vom Volk in ihr Haus eindringen konnte. Zwei Dinge musste er unbedingt in Erfahrung bringen. Warum fühlte Edie sich vom Volk bedroht? Und: Wie sollte er entkommen, wenn alle Ausgänge von einem Zauber bewacht wurden?
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28 Am nächsten Morgen traf noch ein Dämon in Edie Mackintoshs Haus ein, ein ausgewachsener Mann, der über seine besten Jahre jedoch schon hinaus war. Sein Körper war weich und plump, er hatte ein glänzendes Gesicht, nur noch wenige Haare und ein Lächeln, das seine Absichten verbarg. Tom war endlich aus einem kurzen, unruhigen Schlummer erwacht und hatte festgestellt, dass es im Haus nicht mehr ganz so heiß war. Aber das lag wahrscheinlich an seiner Krankheit, denn er fühlte sich den Sternen noch ferner als am Tag zuvor. Auch sich selbst kam er seltsam fremd vor, auf eine Art und Weise, die er nicht verstand. Der neue Dämon stellte ebenfalls Fragen. Aber das war kein Problem, denn Tom antwortete einfach nicht. Keine Stimme, keine Vergangenheit. Vor allem durfte er keinen Dämon an sich herankommen lassen, denn er war so kalt, dass er unmöglich einer von ihnen sein konnte. Der Dämon wurde weder nervös noch ungehalten. Er saß da und wartete lächelnd auf Antworten. Er müsste also ziemlich lange bleiben. »Ich gehe davon aus, dass er beim Arzt war?«, fragte der Dämon schließlich. »Nein, noch nicht«, sagte Edie Mackintosh. »Ich 94
hatte einen Termin für ihn heute Morgen, aber da Sie kamen …« »Ach so. Nun, er muss natürlich gründlich untersucht werden. Er ist recht blass, soweit ich das bei all dem Dreck sehen kann. Vielleicht hört er schlecht. Oder er versteht unsere Sprache nicht.« »O nein, er versteht jedes Wort, das Sie sagen. Er ist nur ein bisschen bockig.« Der Dämon lächelte sein seine Absichten verbergendes Lächeln. »Es muss einen guten Grund geben, wenn das so ist. Ist er … äh …«, er hielt inne und lächelte wieder. »Ich möchte wirklich wissen, wie du heißt«, sagte er. »Ich habe beschlossen, ihn Tom zu nennen«, sagte Edie Mackintosh und beobachtete, wie Tom zurückzuckte, als der Name bei ihm ankam. Woher wusste sie das? Was hatte sie mitbekommen, als er sich im Schuppen versteckt hatte? Vom Schuppen war nur noch ein verkohltes Viereck im Garten nebenan übrig. Früh am Morgen hatte Tom von seinem Schlafzimmerfenster aus zugeschaut, wie Joe grimmig die schwarzen verbogenen Überreste in eine Schubkarre lud und beim Zaun aufstapelte. »Hat er Ihnen seinen Namen gesagt?«, fragte der Dämon rasch. Edie schüttelte den Kopf. »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass er nichts gesagt hat«, sagte sie. »Aber er sieht aus wie ein Junge, der Tom heißt. Und Sie sehen ja, dass er darauf reagiert.« 95
»Gut«, sagte der Dämon. »Mich würden die Ergebnisse der medizinischen Untersuchung interessieren.« Er sah auf die Uhr. »Also dann, auf Wiedersehen … äh … ist es in Ordnung, wenn ich Tom zu dir sage?« Antworte nicht. Der Dämon lächelte. Antworte nicht. »Missfällt es dir, wenn du Tom genannt wirst?« Antworte nicht. »Also dann, auf Wiedersehen.« Edie Mackintosh begleitete ihn hinaus und babbelte vor sich hin, über das Wetter, über nichts. Dann schloss sich die Tür, und der Dämon war fort. Edie Mackintosh kam zurück in das Vorderzimmer. Sie kreuzte die Arme vor der Brust und rieb mit den Händen an ihren Ärmeln auf und ab. »Ich glaube, hier drinnen ist es kälter als draußen«, klagte sie. »Ich muss dauernd die Heizung höher drehen. Als ob irgendetwas die Wärme im Haus aufsaugen würde.« Tom saß reglos da, aber sein Herz machte einen Sprung, als ob er versehentlich in ein Kaninchenloch getreten wäre. Edie stand ein Stück weit von ihm entfernt, aber auch ohne sie anzusehen, wusste er, dass ihr Blick anklagend und argwöhnisch war. »Irgendwann musst du reden«, sagte sie. »Du bringst dich nur in Schwierigkeiten.« Und dann, als er sich immer noch nicht umdrehte und sie ansah, sagte sie: 96
»Wie gründlich sollen die Ärzte dich eigentlich untersuchen, Tom?« Damit wandte sie sich um und ging hinaus.
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29 Im Haus gab es statt einer Latrine eine Art Becken, das alles mit einem gurgelnden Schwall Wasser verschluckte. Das war gut, denn Edie Mackintosh hatte zusätzlich noch Rosmarinzweige an alle Erlenkränze gehängt und es Tom damit vollends unmöglich gemacht, an ihnen vorbeizukommen. Es hatte sowieso nicht viel Sinn, nach draußen zu gehen, denn draußen lauerten das Volk und eine Menge Dämonen, die alle danach trachteten, ihn zu fangen. Hier drinnen gab es nur Edie Mackintosh – was sie allerdings von ihm wollte, konnte er nur raten. Wenigstens war die Hitze jetzt ein wenig erträglicher, aber Tom hatte den schrecklichen Verdacht, dass das an seiner steigenden Körpertemperatur lag. Permanent glühte ein unruhiges Fieber in seinem Körper, und die Kälte der Sterne schien sich mit jedem Augenblick weiter zu entfernen. Und das war gut möglich, denn eine böse Ahnung sagte ihm, dass die Sterne den Schuppen zerstört hatten. Toms Zimmer, der Raum, wo er schlafen sollte, war schrecklich. Die Wände waren blendend weiß und er empfand die ganze Atmosphäre als sehr unangenehm. Aber für ihn war das Zimmer der beste Ort, denn dort ließ Edie Mackintosh ihn allein. Und er hatte einen guten Ausblick in den Nachbargarten. 98
Tom drehte den Spiegel so, dass er hinaussehen konnte, ohne dem Erlenkranz nahe zu kommen, der am Fenster hing. Er hielt nach dem Volk Ausschau … oder er weidete seine Augen am Anblick der Freiheit … oder … oder er suchte etwas, das er selbst nicht so genau wusste. Das Volk würde ihn jetzt finden. Er hatte sie alarmiert, weil er den Zorn der Sterne auf den Schuppen gelenkt hatte. Dennoch verbrachte er mehr Zeit damit, auf den schwarzen Schatten zu starren, der sich in das nasse Gras eingebrannt hatte, als die Bäume abzusuchen, in denen sich eine schmale Gestalt mit einem silbernen Speer verbergen könnte. Der Garten war fast den ganzen Tag über leer. Das Wetter hatte umgeschlagen und stürmische Regenböen rissen die letzten Blätter von den Bäumen. Tom saß fiebernd viele Stunden lang in der dörrenden Hitze des Hauses und starrte hinaus. Eine Tür schlug, und er lehnte sich nach vorn an das kühle Glas. Es war Anna. Von hier oben sah sie noch kompakter aus. Sie trottete über den Rasen zu dem schwarzen Fleck, wo der Schuppen gestanden hatte, und blieb dort einen Augenblick lang stehen. Ihr Gesicht war fleckig von der Kälte. Es sah verfroren und jämmerlich aus. Sie schritt sorgfältig den ganzen Garten ab, spähte unter jeden Busch und umrundete beide Bäume. Offenbar suchte sie etwas. Tom wusste, was sie suchte. Sie ging sehr langsam, traurig. Und etwas an ihrem Anblick warf einen Schatten in Toms Herz. Er fuhr entsetzt zurück. Nein. Nein, es durfte nicht 99
passieren. Es war nur etwas Flüchtiges. Es würde vorübergehen. Es war vorbei. Sie … der Dämon … war aus seinem Kopf verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und er war immer noch frei. Sie ging wieder über das nasse Gras. Die Tränen hatten schmutzige Rinnen durch ihr Gesicht gezogen. Tränen? Warum weinte sie? Sie hatte sich doch nicht verletzt. Aber sie war ein Dämon, ein Sklave, der mit allen anderen Dämonen in der Welt verbunden war. Jedes beliebige Leid könnte sie zum Weinen gebracht haben. Ihn interessierte das sowieso nicht. Aber … Sie weinte, weil er weg war. Zorn loderte in ihm auf. Diese Närrin, warum machte sie sich um ihn Sorgen. Er war nicht einmal einer der ihren. Es war eine Krankheit, ein Zwang. Sie kümmerte sich um alles, sogar um das Tier Sophie. Anna war eine Närrin. Sie war eine Närrin, weil sie ihm Essen gebracht hatte, weil sie ihn beschützte, mit ihm redete und ihm das Leben rettete. Jetzt ging sie zurück ins Haus. Aus den Augen, aus dem Sinn. Er würde hier sitzen und froh sein, dass sie weg war, dass sie wieder ins Haus zu den anderen stinkenden Dämonen zurückgekehrt war. Aber die anderen würden sie vielleicht wieder hinaustreiben. Er hoffte … Nein. Nein. 100
Tom wandte sich vom Spiegel ab und drückte sein Gesicht gegen die kühle Wand. Nein. Er beschwor das Bild der kämpfenden Sterne herauf, die Pracht des eisig wirbelnden Feuers. Aber die Sterne waren jetzt außerhalb von ihm, weit weg. Sehr weit weg. Er dachte an das Volk. An die schönen, silbernen Gestalten. Er dachte an Sia. Seine Lippen kräuselten sich in kalter Verachtung. Verglichen mit Sia war Anna unförmig, schwerfällig und derb. Anna war närrisch und unwissend. Ihr Gesicht war rot und ihre Zähne waren stumpf. Aber sie beherrschte seine Gedanken. Tom fluchte und knirschte mit den Zähnen. Er würde sich von ihr befreien. Genau, das würde er tun. Er würde nicht ihr Sklave sein. Aber ihr Bild haftete an ihm wie ein klebriges Spinnennetz. Je heftiger er versuchte, sich von ihm zu befreien, desto mehr verhedderte er sich in ihm. Seine Hand. Wo Anna sie berührt hatte. Sein Ärmel. Annas waren grün. Tom stürzte quer durchs Zimmer, und es gelang ihm, den eisernen Griff hochzudrücken und das Fenster zu öffnen. Feuchte kalte Luft schlug ihm entgegen. Blas sie weg, dachte er. Kühle mein Herz. In der Kälte wurde Annas Nase abstoßend rot. Nein. Nicht ihr Sklave sein. Sie war eine Närrin, ja, eine Närrin, und sie war ihm egal. Er würde sie 101
verfluchen, sie zerstören. Silberne Speere durch ihr Herz treiben. Aber … Tom spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, obwohl er keine Schmerzen empfand. Als ob Annas Tränen in seinem Innern Kanäle ausgewaschen hätten. Und da wusste er, dass es zu spät war. Sie war zu listig gewesen. Sie hatte ein Band zwischen ihnen geknüpft. Und die feine Verbindung zwischen ihnen war dicker und stärker geworden, bis auch er sie spürte. Er spürte, wie sie an ihm zog. Wie konnte er sie jetzt noch verfluchen? Er würde zugleich sich selbst verfluchen. Tom entdeckte, dass er sie hasste. Er hatte früher schon gehasst, aber noch nie so wie jetzt. Sie hatte ihn zum Sklaven gemacht und er würde nie wieder frei sein. Er hasste sie. Wann würde sie wieder in den Garten kommen?
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30 Eine Stunde später ging die Hintertür wieder auf, aber diesmal trat Joe heraus. Er trug eine Kehrschaufel und einen Handbesen. Mit finsterer Miene stapfte er zu dem verkohlten Schatten des Schuppens, warf seinen Handfeger auf den Boden und starrte ihn böse an. Anna folgte ihm und blieb in einiger Entfernung unentschlossen stehen. Ihre Stimmen drangen durch das geöffnete Fenster zu Tom herauf. »Was schaust du?« »Nichts!« »Dann hau ab.« Anna schwankte, aber ihre Füße schienen so schwer, dass sie sich nicht bewegen konnte. Tom würgte. Nicht nur ihn selbst hatte Anna an sich gebunden. Sie machte es mit allen, sogar mit Joe. Sogar mit Joe. Auf einmal hasste Tom Anna so sehr, dass er kaum noch Luft bekam. »Joe, wo hast du die Sachen hingetan, die vom Schuppen noch übrig waren?« »Was geht dich das an?« »Ich möchte sie nur sehen, sonst nichts.« Joe trat missmutig gegen die Kehrschaufel. »Drüben beim Kompost. Aber es ist nichts übrig.« Anna lief zum oberen Ende des Gartens und sto103
cherte in den Überresten. Joe begann, kleine geschmolzene Glasscherben aufzufegen. Dann trottete er zum Mülleimer, warf alles hinein und trottete wieder zurück, um eine neue Ladung zu holen. »Joe!« »Was?« »Ist das alles?« »Ja. Dad sagt, du sollst nicht drangehen, wegen der Versicherung.« Anna, der schwerfällige Dämon, der immerzu darauf lauerte, sich jemanden zum Sklaven zu machen, trieb sich weiter im Garten herum. Tom beobachtete die beiden. Er wünschte, er hätte einen Speer und Larns Kraft und Geschick, ihn zu benutzen. Aber andererseits war er auch froh, dass er keinen hatte. »Joe!« »Hör auf, da rumzumachen, sonst sag ich’s Dad!« »Hast du noch irgendwas gefunden?« »Ach, hau doch ab.« Anna trottete hinüber und stellte sich direkt vor Joe. »Und da war wirklich nichts, was du Dad verschwiegen hast?« »Ich weiß nicht, was du …« Anna stampfte auf. Nasse schwarze Tropfen bespritzten Joe. Mit einem zornigen Aufschrei richtete er sich auf und versuchte, sie wegzuwischen. »Sicher war da was«, sagte Anna. »Und du weißt, was ich meine. Was hast du noch gefunden?« 104
»Nichts! Nichts!« »Hast du richtig gesucht?« »Natürlich. So was Großes wird mir kaum entgangen sein, oder?« »Und wenn er unsichtbar war?« Joe merkte, dass er überall schwarz verschmiert war. Er gab auf und stand auf. »Ich habe alles abgetastet«, verteidigte er sich. »Wahrscheinlich ist er abgehauen.« Tom sah, wie Joe sich abwandte, aber Anna machte ein paar Schritte und stand wieder direkt vor ihm. Wie konnte sie es ertragen, ihm so nahe zu sein? »Wie ist es passiert?« Joe zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Es ist einfach alles in die Luft geflogen.« »Warum?« »Ich hab’s dir gesagt. Ich weiß es nicht. Du musst deinen Hauself schon selbst fragen. Wenn du ihn findest.« Anna stand ganz still und dachte nach. »Glaubst du, es war jemand vom Volk?« »Was weiß ich. Wahrscheinlich hat Tom versucht, mich umzubringen. Er ist spurlos verschwunden.« »Oder in tausend Stücke explodiert.« »Das ist nicht meine Schuld«, sagte Joe gereizt. »Du meinst wohl, ich hätte ihn dazu angestiftet? Du meinst wohl, ich hätte gesagt, wie wärs, wenn du den Schuppen in Schutt und Asche legst? Das ist genau das, was ich wollte. Meinst du nicht auch? Mir die 105
Augenbrauen versengen und Dad und Evelyn erklären müssen, warum der halbe Garten in die Luft geflogen ist.« »Mum und Dad waren sehr verständnisvoll.« Joe zuckte die Achseln. »Jedenfalls«, sagte Anna, »weißt du genau, dass Tom den Schuppen nicht hochjagen wollte. Er brauchte ihn als Versteck vor seiner Familie. Und es ging ihm nicht gut.« Joe gab einen höhnischen Laut von sich. »Woher weißt du das? Er sah von Anfang an aus wie tot.« »Er hatte Fieber. Seine Temperatur war beim letzten Messen bis auf zehn Grad gestiegen.« »Vielleicht ist er ins Delirium gefallen«, sagte Joe boshaft. »Aber es hatte nichts mit mir zu tun. Ich wollte ihn nur dazu bringen, dass er sich unsichtbar macht.« »Du Idiot!« Joe warf die Kehrschaufel auf den Boden und machte einen Schritt auf sie zu. Seine Ohren hatten eine dunkle Farbe angenommen, noch schrecklicher als sonst. »Pass auf, was du …« »Ich wusste, dass du was gemacht hast. Du hast ihn gezwungen, nach den Sternen zu greifen.« »Na, das musste ich doch auch. Beweise sammeln. Nur aus diesem Grund durfte er im Schuppen bleiben.« Anna starrte ihn an, ihr Gesicht war auf einmal ganz weiß und ihre Brust hob und senkte sich, als wäre sie sehr schnell gerannt. 106
»Ich hasse dich«, sagte sie merkwürdig ruhig, aber eindringlich. »Ich hätte für Tom einen Platz suchen müssen, wo du nicht an ihn rankommst.« »Und was wäre dann anders?«, fragte Joe spöttisch. »Er wäre so oder so weg.« Anna ballte ihre Wurstfinger. »Aber er wäre sicher!«, schrie sie verzweifelt. »Er kann überall sein. Wir wissen, dass er krank ist. Und verletzt ist er wahrscheinlich auch. Womöglich steckt er in schrecklichen Schwierigkeiten.« Joe zuckte wieder die Achseln. »Nicht unser Problem«, sagte er. Da schlug Anna zu.
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31 Dämonen hatten lächerlich stumpfe Zähne, aber Tom hätte dennoch gedacht, dass sie in einem Kampf einen gewissen Nutzen hatten. Die Haut der Dämonen war ja nicht besonders dick. Anna hatte keine Ahnung, wie man tötet. Sie war viel kleiner als Joe, aber wenn sie ihn gleich in die Kehle gebissen hätte, dann hätte sie eine Chance gehabt. So aber hielt Joe sie sich mit einer Hand vom Leib und gleichzeitig verhöhnte er sie, um sie noch mehr zu reizen. Einen Augenblick lang überlegte Tom, ob er den Erlenkranz an seinem Fenster abreißen und hinunterschlüpfen könnte, um ihr zu helfen. Er könnte Joe von hinten anspringen und mit seinem Gürtel erwürgen. Aber dann war er wieder er selbst und fluchte heftig. Das war nicht sein Kampf. Joe und Anna waren nur Schatten seiner Vergangenheit. Andererseits aber auch wieder nicht, denn Anna hatte ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Tom verzog das Gesicht, ballte die Fäuste und versuchte, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Er beschwor ein Bild der Sterne herauf, um mit ihrem kalten Feuer Anna aus seiner Erinnerung zu brennen. »Anna!« 108
Das war eine neue Stimme. Tom vergaß die Sterne und beugte sich näher zum Spiegel hinüber. Jetzt war ein dritter Dämon im Garten, ein großer Mann. Bernard. Mit einem Satz war er bei Anna. Er packte sie, aber sie war so damit beschäftigt, Joe zu töten, dass sie es gar nicht merkte. Erst als Bernard direkt vor ihr stand und ihre Handgelenke gepackt hatte, kam sie zu sich. Sie weinte, schnappte nach Luft und gab durch die Zähne hindurch kurze, heisere Laute von sich. »Anna! Was tust du da?« Bernard musste seine Frage wiederholen, das zweite Mal sehr laut, bis er zu ihr durchdrang. »Ich bring ihn um!«, bellte sie. Joe rieb sich grollend die Hand. »Blödes kleines Miststück«, sagte er. »Die braucht eine Tracht Prügel.« Anna stieß ein markerschütterndes Geheul aus und stürzte nach vorn. Beinahe stieß sie Bernard über den Zaun. Er glitt auf dem nassen Boden aus, schrie auf und konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. »Anna! Schluss jetzt!« Joe grinste sie an. »Sie gehört ohne Abendessen ins Bett«, sagte er. Bernard packte Anna am Arm, wandte sich zu Joe um und schrie: »Halt den Mund!« Er konnte dreimal so laut schreien wie Anna. Die Worte hallten im Garten wider und als er fertig war, starrten Anna und Joe ihn mit offenem Mund an. »Meine Güte«, fuhr Bernard fort. Er schrie jetzt 109
nicht mehr, sondern flüsterte unruhig, fast als habe er sich selbst Angst eingejagt. »Was ist hier los? Anna, Liebes, das darf doch wohl nicht wahr sein, was ist los?« Anna musste mehrmals tief Luft holen, bevor sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie sprechen konnte. »Ich hasse ihn«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Wen? Joe?« Sie schluckte und nickte. Bernard hielt inne. »Schade, dass du in dem Feuer dein Skateboard verloren hast«, sagte er. »Und es ist eine große Veränderung in deinem Leben, dass Joe jetzt da ist. Aber er gehört zur Familie, oder?« Joe grinste sie gehässig an. »Also sei nett zu mir.« Bernard atmete so tief ein, dass er fast vom Boden abhob. Diesmal schrie er nicht, aber es war offensichtlich, dass er sich nur zusammenriss. »Ich sagte, halt den Mund!« Joes Gesicht wurde weiß vor Hass. Bernard und Joe standen da und starrten sich zornig an. Auf einmal verstand Tom, warum Dämonen sich dauernd ansahen. Sie wollten die Kontrolle über den anderen haben, und der Blickkontakt verstärkte die Bande zwischen ihnen. Ja, jetzt war ihm klar, was er die ganze Zeit gesucht hatte, denn jetzt konnte er die Bande zwischen ihnen deutlich sehen. Sie waren dünn und sehnig und sie zogen so heftig an ihnen, dass sie kaum das Gleichgewicht halten konnten. 110
Endlich stieß Bernard einen tiefen Seufzer aus. »Komm, Joe!«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich geschrien habe, aber es wird doch alles nur noch schwieriger, wenn du Anna ärgerst, oder nicht?« »Ich hab sie wenigstens nicht geschlagen«, sagte Joe gepresst. »Schau dir meine Hand an.« Bernard warf einen Blick auf die Hand und seufzte. »Anna …« »Ist mir egal«, sagte Anna bockig. »Aber mir nicht«, sagte Bernard. »Wir leben hier zusammen und wir müssen miteinander klarkommen.« »Aber ich will ihn nicht hier haben«, sagte Anna. »Er ist schrecklich und er … verdirbt einem alles.« »Glaub bloß nicht, dass ich hier sein will«, sagte Joe. »Ich bin nur hier, weil Mum unbedingt nach New York wollte.« »Immer mit der Ruhe«, sagte Bernard. »Sie wollte nicht …« »Doch, sie wollte.« Bernard blinzelte ein paarmal. »Na ja«, sagte er, »also … ahm … es ist doch schön, dass sie eine Pause hat. Und ich hab mich darauf gefreut, dass du kommst …« Joe knurrte. »Ach ja. Ich weiß, wie sehr du dich darauf freust. Darum darf ich auch jedes Jahr ganze zweimal kommen, was?« Bernard fuhr zusammen. 111
»Joe, das liegt … Pass auf, Anna, Liebes, ich glaube, Joe und ich müssen reden.« Jetzt knurrte Anna. »Natürlich musst du das«, sagte sie. »Es geht doch immer nur um Joe. Was ich zu sagen habe, interessiert dich nicht die Bohne. Immer hat Joe Recht.« Bernard schien in sich zusammenzufallen. »Anna …« Anna wirbelte zu Joe herum. »Dad mag dich vielleicht, aber nur, weil er nicht weiß, wie du wirklich bist. Aber ich kenne dich – du stinkst und du bist ekelhaft und ich werde dir niemals verzeihen!« Damit drehte sie sich um und stürmte davon.
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32 Dämonen waren enorm stark, aber inzwischen waren die Bande um Joe und Bernard so dick, dass Tom erstaunt war, dass die beiden sich überhaupt noch bewegen konnten. Jetzt nahm er auch noch andere Bande wahr, die in verschiedene Richtungen verliefen – zum Haus oder zu Endpunkten, die er gar nicht mehr sehen konnte. »Joe …«, begann Bernard ernst. »Ja?« Bernard ging im Kreis herum und die Verbindungen strafften und verdrehten sich und schnitten in sein Fleisch ein. »Tut mir leid, dass du nicht sehr viel Spaß hier hast«, sagte er. »Viel Spaß?« Bernard hob die Hände, als wollte er die Bitterkeit abwehren, die in Joes Worten lag. »Wenn wir ein Fahrrad für dich besorgen«, begann er, ohne viel Hoffnung. »Irgendwas, mit dem du dich beschäftigen kannst …« Voller Verachtung entblößte Joe schimmernde Zähne. »Du hast doch keine Ahnung.« Bernard verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, aber die vielen Verbindungen hielten ihn an Ort und Stelle. 113
»Wohl nicht«, sagte er dumpf. »Du wirst älter, Joe, und du willst jetzt deinen eigenen Weg finden. Dabei kann ich dir nicht helfen. Niemand kann das. Sosehr ich das auch wünschte.« Bernard machte eine Bewegung, als wollte er Joe die Hand auf die Schulter legen, aber im letzten Augenblick überlegte er es sich anders. Er ging müde weg. Die Bande lasteten schwer auf ihm, und Joe sah ihm nach. »Dad!« Joe folgte ihm rasch zum Haus hinunter und war bald außer Sicht. Es war, als würde er von einem Band gezogen, das sich rasch zu einem starken Seil verdickt hatte.
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33 Tom blieb sitzen und schaute jetzt in den leeren Garten. Der Erlenkranz summte und surrte, aber er biss die Zähne zusammen und versuchte, die Töne nicht zu beachten. In dem Haus fühlte er sich wie in einer Schachtel. Er konnte sich nicht bewegen und er bekam keine Luft. Vielleicht sollte er einfach durch das Surren des Kranzes hindurchspringen, es einfach darauf ankommen lassen. Aber dann fiel plötzlich ein Schatten über ihn. Die winterschwache Sonne hatte sich in einem Gewirr aus Ästen verfangen, aber da war noch etwas anderes. Etwas Neues. Etwas Gefährliches. Ein Geräusch im Flur ließ ihn herumwirbeln. Finger legten sich um die schimmernde Kante der Tür zu seinem Zimmer. Trockene, knochige Finger ohne dickes Dämonenfleisch. Tom stürzte zum offenen Fenster, aber das Klirren des Erlenkranzes schwoll an zu einer Wand aus kreischenden Tönen, die ihn zurück auf das Bett warf. Und jetzt stand eine Gestalt in der Türöffnung und sah ihn an. Sie war nicht schön, sondern vom Alter verwelkt. Aber sie war nicht vom Volk. Nein, nicht vom Volk. »Ich meinte, ich würde einen Luftzug spüren«, 115
sagte die Gestalt. »Bitte schließ das Fenster. Die Heizung läuft auf vollen Touren. Das ist rausgeschmissenes Geld.« Edie blieb stehen und sah zu, wie er mit zusammengebissenen Zähnen seinen Arm durch den surrenden Erlenkranz streckte und das Fenster schloss. Dann nickte sie und ging weg. Tom lag auf dem Bett und atmete schwer. Das Surren wurde durch das geschlossene Fenster ein wenig gedämpft, aber er spürte immer noch einen Schatten im Zimmer wie einen silbernen Speer aus Eis. Er stützte sich auf einen Ellbogen und dann sah er es im Spiegel. Die Finger einer Hand schoben sich um den Stamm des Apfelbaums im Nachbargarten. Dünne Finger waren es, keine Spur von Dämonenfleisch. Tom zog sich rasch in den Schatten des Zimmers zurück und starrte angestrengt in den Spiegel. Über den tastenden Fingern erschienen ein ovales Gesicht und dann mandelförmige Augen, die in der Abenddämmerung schwarz schimmerten wie bittere Schlehen. Die suchenden Augen eines Jägers.
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34 Am nächsten Tag brachte Edie Mackintosh einen zweiten Erlenkranz in sein Zimmer und hängte ihn an die Gardinenstange über dem Fenster. »Na bitte«, sagte sie. »Das macht das Zimmer doch gleich freundlicher.« Tom fand das gar nicht. Dieser Kranz war noch frisch und feucht und mit grünem Moos überzogen. Er summte und surrte so laut, dass Tom nicht denken konnte. Den ganzen Morgen verkroch er sich in die Ecke seines Zimmers, die am weitesten von Kranz und Heizkörper entfernt war. Wenn er sich an die Wand lehnte, konnte er sich ein bisschen abkühlen, denn sein schwelendes Fieber hatte längst die Kälte vertrieben, die Larns Anwesenheit verströmte. Manchmal fand er die Kraft, im Spiegel den Nachbargarten zu beobachten. Es nieselte und er sehnte sich danach, draußen im kühlen Regen zu sein. Aber die Mauern seines Gefängnisses waren jetzt noch dicker geworden. Er war eingesperrt. Von der Hitze, die jeden Gedanken dahinschmelzen ließ. Von den Erlenzweigen, die seinen Kopf vibrieren ließen. Vor allem aber von den suchenden Augen. Anna kam einmal in den Garten und trottete durch den Regen. Sie ging suchend überall herum und ließ 117
dann etwas Weißes auf einer Platte unter einem Busch stehen. Dann kam Joe heraus und leistete ihr Gesellschaft. Zusammen gingen sie den Durchgang entlang und die Straße hinunter. Ihre Umrisse waren ganz verschwommen wegen der vielen Bande, die an ihnen zerrten. Zwei Stunden später kamen sie durchgefroren und schlecht gelaunt mit hängenden Köpfen zurück. Tom hätte gern gewusst, was zwischen ihnen passiert war. Das lenkte ihn ein bisschen von der überbordenden Hitze und dem zermürbenden Surren der Erlenkränze ab. Edie Mackintosh sah er fast gar nicht an diesem Tag, aber am Abend, als sie in der Küche das Essen zubereitete, fing sie an zu singen. Ihre Stimme war heiser, rau und gewöhnlich, ohne Anmut leierte sie die Melodie herunter. Doch je länger sie sang, desto klarer wurde ihre Stimme. Sie sang eine Melodie, die er noch nie zuvor gehört hatte, aber irgendwie, ganz fern, hallte in ihr das Echo von Liedern des Volks wider. … Die Königin der Elfen nahm mich gefangen, Damit ich auf ihrem grünen Hügel leben soll … Auch die Worte kannte er: Es war die Geschichte von Tarn Lin, den das Volk gefangen genommen hatte, und von dem Dämon Janet, die ihn befreite und ein Kind von ihm empfing. Tom lauschte begierig – zugleich getröstet und verwirrt. 118
Im letzten Teil des Liedes wurde die Stimme von Edie Mackintosh hoch, sehr hoch sogar.
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35 Der Nachmittag ging zur Neige, und die Wäsche in beiden Gärten hing traurig an der Leine, so feucht, wie sie morgens aufgehängt worden war, und fast schon starr vom Frost. Edie hatte Tom eine riesige Portion dampfendes Dämonenessen vorgesetzt. Er hatte gegessen, aber nachdem er ungefähr drei Viertel der Portion vertilgt hatte, war er so satt, dass er zum ersten Mal im Leben nicht mehr weiteressen wollte. Er ging zurück in sein Zimmer und wollte dort abwarten, bis das Völlegefühl abgeklungen wäre, aber die Hitze des Essens in ihm war so stark, dass er nach Luft rang wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er biss die Zähne zusammen, stieß seine Hand durch den surrenden Erlenkranz und riss das Fenster weit auf. Die kalte, feuchte Luft legte sich auf sein Gesicht, und er sog sie tief ein. Im Nachbargarten war jemand. Ein ausgewachsenes Weibchen. Sogar für einen Dämon war sie sehr fett. Sie nahm die Wäsche von der Leine. Ein zweites Augenpaar beobachtete sie. Larn. Er hatte sich behaglich in einem Baum zusammengerollt und wer seine Kälte nicht spürte, würde ihn nicht entdecken. Tom zog den Kopf rasch hinter den Vorhang zurück. 120
Aber in diesem Augenblick war Larn nicht hinter Tom her. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Dämonenfrau. Er beobachtete sie wachsam, obwohl sie fett war und mit ihren roten Händen nichts Schönes an sich hatte. Aber dann war da eine Bewegung in dem Durchgang zwischen den beiden Häusern. Und als Tom wieder hinschaute, war Larn verschwunden. »Ihr beide seht aus, als könntet ihr was Heißes vertragen«, sagte die fette Dämonenfrau, als Joe und Anna aus dem Durchgang traten. Das war ein Trick, um sie zu umgarnen, und er funktionierte. Die Stränge zwischen ihnen wurden dicker und kürzer und zogen die beiden zu ihr. »Was habt ihr gemacht?« »Wir waren in der Stadt«, sagte Joe trübselig. Der Dämon stieß ein trauriges Lachen aus. »Ich fürchte, das ist nicht so spannend wie in London«, sagte sie. »Hast du Joe das Sportzentrum gezeigt, Anna?« »Wir waren auf dem Gemeindeland«, sagte Anna. »Kein Wunder, dass ihr so dreckig seid. Warum wolltet ihr dorthin?« »Wir haben einen Freund gesucht«, antwortete Anna. »Aber er war nicht da.« »Ach, Liebes«, sagte der fette Dämon ruhig. »Du hättest dich im Sportzentrum verabreden sollen. Wisst ihr was? Morgen geb ich euch Geld und dann könnt ihr schwimmen gehen. Hast du deine Badehose mitgebracht, Joe?« 121
»Ich schwimme nicht gern«, antwortete Joe missmutig. Der fette Dämon nahm zwei T-Shirts von der Leine. Dann versuchte sie es noch einmal. »Vielleicht hat euer Freund die Zeit vergessen«, sagte sie. »Ihr hättet ihn hierher bitten sollen. Du kannst gern das Telefon benutzen, Joe.« Anna trat gegen ihren Korb. »Konnten wir nicht. Wir wissen seine Nummer nicht und wir wissen nicht, wo er wohnt.« »Ach, Liebes«, sagte der fette Dämon noch einmal. »Wo habt ihr ihn denn kennen gelernt?« »Er hing hier herum«, sagte Anna. »Ihr hättet ihn hereinbitten sollen«, sagte der fette Dämon. Dann hielt sie plötzlich beim Zusammenlegen eines klammen Sweatshirts inne. »Ist das vielleicht der Junge, von dem Edie mir erzählt hat? Sie sagte, sie hätte gesehen, dass sich hier jemand rumdrückt.« Joe und Anna sahen sich an. »Vielleicht ist er es«, gab Joe widerstrebend zu. »Na, ihr könnt sicher sein, dass Edie alles über ihn in Erfahrung gebracht hat, was es in Erfahrung zu bringen gibt. Hat sie nichts zu euch gesagt?« Anna runzelte plötzlich die Stirn. »Ich habe sie die letzten zwei Tage kein einziges Mal gesehen«, sagte sie. Der fette Dämon blinzelte mit fleischigen Augenlidern. »Das ist ja was ganz Neues. Wahrscheinlich hatte 122
sie viel zu tun. Was hat sie gesagt, als ihr gerade den Weg herunterkamt?« »Sie hat uns nicht gesehen«, antwortete Anna langsam. Der fette Dämon sah erstaunt aus und ein bisschen besorgt. »Hoffentlich ist sie nicht krank«, sagte sie. »Es sieht ihr gar nicht ähnlich, nicht rauszuschauen, wenn jemand vorbeigeht. Ich schau lieber mal bei ihr vorbei und erkundige mich, wie es ihr geht.« »Nein«, sagte Joe rasch. »Ist schon gut, Evelyn. Ich mach das, zusammen mit Anna.« »Aber …«, begann Anna. »… es ist doch wirklich komisch, oder?«, sagte Joe beschwörend. »Dass Edie nicht rauskommt und schaut, was wir machen.« »Mag sein«, meinte Anna gedankenverloren. »Sieht fast so aus, als ob …« »Ja«, sagte Joe. »Nicht wahr?« Der fette Dämon sah von einem zum anderen. »Na ja, solange ihr wisst, um was es geht …«, sagte sie. »Also dann geht und klopft bei ihr an. Aber zieht zuerst die dreckigen Turnschuhe aus. Und bleibt nicht zu lange, sonst kommt ihr zu spät zum Tee.«
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36 Jemand schlug zweimal gegen die Wohnungstür. Das tat man, wenn man in das Haus eines Dämons wollte. Tom stand im Halbdunkel oben an der Treppe und wartete. Sie hatten sich andere Schuhe angezogen, aber in ihren Haaren glänzte immer noch feucht der Nebel. Edie musterte sie und nickte. »Hab’s mir gedacht, dass ihr beiden es seid«, sagte sie. »Kommt lieber rein.« Sie schoben sich durch die Tür. »Ihr sucht vermutlich euren Freund«, sagte Edie. »Also …« »Tom!« Die Fesseln, die Anna ihm angelegt hatte, zerrten so stark an ihm, dass er auf der Treppe stolperte. Sie wurde dunkelrot, als sie ihn erblickte. Es war ekelhaft, dennoch hatte Tom auf einmal das Gefühl, dass er am richtigen Ort war. Joe starrte missmutig auf den Teppich. Edie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Er sagt nichts«, sagte sie und wies mit einem Kopfnicken auf Tom. »Kein Wort, die ganze Zeit, die er jetzt hier ist. Ich hab ihm gesagt, dass er irgendwann reden muss. So ein Psycho-Fritze war schon hier. Und den Besuch beim Arzt kann ich nicht 124
mehr lange rauszögern – den kann er dann nicht mehr an der Nase herumführen.« Anna und Joe fiel offenbar nichts ein, was sie darauf sagen könnten. Edie rümpfte die Nase. »Aber da ihr nun schon mal da seid«, sagte sie, »könnt ihr auch was Nützliches tun.« Sie nahm ihren dicken wattierten Mantel vom Haken und stieß einen dünnen Arm durch den Ärmel. Er klingelte seltsam, als sie ihn über der Schulter zurechtrückte. »Ich muss zum Supermarkt«, sagte sie. »Bleibt hier und schaut nach ihm. Ich brauche höchstens eine halbe Stunde, wenn das Auto anspringt.« Tom wich hastig vor der trüben Kälte zurück, die durch die offene Tür hereinkam. Larn könnte dort draußen stehen. In der Tür drehte Edie sich um und rückte ihren topfartigen steifen Hut zurecht. »Tut, was ihr wollt, aber geht auf keinen Fall mit ihm hinaus«, sagte sie. »Hier ist er sehr gut aufgehoben – besser geht’s nicht. Ich habe Türen und Fenster gesichert, so dass nichts Böses hereinkann.« »Was sollte das sein?«, fragte Joe so höhnisch, wie er es wagte. Edie schnaubte. »Tom weiß Bescheid«, sagte sie und schlug die Tür hinter sich zu. Tom blieb unschlüssig stehen. In der Gesellschaft von Dämonen konnte man sich nie sicher fühlen. 125
Und tatsächlich: Kaum war die Tür zu, warf Anna sich auf ihn. Er wich rasch zurück, aber der hölzerne Pfosten am Fuß der Treppe war im Weg und er konnte ihren massigen Armen nicht ausweichen. Fast hätte er sie gebissen, so schrecklich war es. »Ach, Tom«, sagte Anna und hüllte ihn mit ihrem Seufzer in faulige Dämonengerüche. »Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist.« Tom duckte sich schaudernd unter ihrem Ellbogen hindurch. »Es geht dir doch gut?«, fragte sie weiter, während sie ihm folgte und ihn mit ihren hervorquellenden Augen anstarrte. Tom zog sich ins Wohnzimmer zurück und schlüpfte in die Ecke hinter dem gepolsterten Sessel. Dort fühlte er sich sicherer. Anna und Joe blieben in der Tür stehen. »Ich bin nicht verletzt«, sagte Tom. »Da bin ich aber froh«, sagte Anna. »Wir beide sind froh.« Sie stieß Joe an, der ihre Hand abschüttelte und unbehaglich sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen Fuß verlagerte. »Ja«, sagte er gedehnt. »Hör mal … Ich wollte nicht, dass der Schuppen in die Luft fliegt. Vor allem nicht mit mir drin.« »Wir wollen dir immer noch helfen«, sagte Anna. »Stimmt’s, Joe?« »Ja«, brummte Joe schroff. »Sag uns einfach, was wir für dich tun können. Sag einfach, wie wir dir helfen können.« 126
Tom wünschte, er würde sie verstehen. Anna hatte ihn bereits zum Sklaven gemacht. Was wollte sie noch von ihm? »Ich glaube, ich sterbe«, sagte er. Und erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass das stimmte. Schon seit einiger Zeit, vor allem aber, seit er in diesem Haus war, hatten seine Sinne nachgelassen. Zuerst hatte er immer schlechter gehört, dann immer schlechter gesehen und jetzt hatte er das Gefühl, dass seine ganze Person, sein Körper und sein Geist, in der Hitze dieses schrecklichen Hauses verdorrten. »Oh«, sagte Joe verblüfft. »Aäh … ach so.« »Wir könnten ihn in ein Krankenhaus bringen«, schlug Anna unsicher vor. »Ich habe genug Geld für die Busfahrkarten.« »Genau«, sagte Joe. »Was glaubst du, was die mit jemandem anstellen, der eine normale Körpertemperatur von unter null hat?« »Na ja, sie könnten ihn untersuchen und so. Jedenfalls …« »Ich kann das Haus nicht verlassen«, sagte Tom. Er zeigte auf den Kranz aus Erlenzweigen, der an der Vorhangstange hing. »Ich kann nicht einfach an einem Erlenkranz vorbeigehen.« Joe näherte sich nachdenklich dem Erlenkranz. Ihm machte der Kranz nichts aus. »Und wenn ich ihn runternehme?«, fragte er. »Könntest du dann rausgehen?« »Ja, aber dann könnten die anderen vom Volk reinkommen. Und sie würden mich töten.« 127
»Wenn du rausgehst, wirst du getötet, und wenn du bleibst, stirbst du«, sagte Joe. »Schwierig.« Anna wanderte im Zimmer auf und ab. »Wir könnten ein Taxi rufen«, sagte sie. »Oder … vielleicht hat Tom das einfach falsch verstanden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Eltern ihn wirklich töten wollen.« Tom ließ sich müde über die Lehne des Sessels fallen. Dämonen waren so dumm. »Mein Vater hat mich gefunden. Ich habe ihn gesehen. Er jagt mich.« »Und wie will er dich töten?«, fragte Joe fasziniert. »Wahrscheinlich mit dem Speer. Wenn er es nicht schafft, mich zu erwürgen. Das würde ihm vermutlich mehr Spaß machen.« Anna schauderte. »Ich glaub es nicht«, sagte sie. »So ist doch niemand. Es hat doch niemand Freude am Töten.« Joe stieß ein kurzes Lachen aus. »O doch«, sagte er. »Es macht Spaß. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal im Park Frösche zertreten habe. Das war wirklich gut. Ich weiß, dass ich die Woche darauf wie wahnsinnig geschrien habe, weil sie weg waren. Und so ist es!« »Ich bin froh, dass ich Dad gebeten habe, ein Vorhängeschloss an Sophies Stall zu montieren«, sagte Anna widerwillig, und Tom fragte sich, warum Joe die Frösche zertreten hatte. Ganz, mit knusprigen Knochen schmeckten sie doch viel besser. 128
Joe wurde auf einmal ganz rot vor Aufregung. »Ich weiß, wie wir Toms Eltern davon abhalten, ihn zu töten!« »Wie?«, fragte Anna. Joe grinste überlegen. »Ganz einfach«, sagte er. »Wir töten ihn.«
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37 »Wir nehmen Toms Kleider«, erklärte Joe, »beschmieren sie mit Blut und lassen sie irgendwo auf dem Gemeindeland liegen. Dann wird das Volk denken, er wäre von wilden Tieren getötet worden.« Tom holte tief Luft. Dämonen waren dumm. »Es gibt kein Tier im Gemeindeland, das mich fressen würde«, sagte er. »Nicht mit Schädel und allem.« Aber Joe war ganz entzückt von seiner glänzenden Idee. »Du könntest auch auf andere Art und Weise sterben«, sagte er. »Durch einen Zug. Wir könnten deine Kleider neben die Eisenbahnschienen legen. Dann denken die Leute vom Volk …« »Die Leute vom Volk denken, dass du dumm bist«, sagte eine trockene Stimme hinter ihm. Edie stand da und betrachtete sie. Einen Augenblick lang herrschte fassungsloses, Übelkeit erregendes Schweigen. Dann fand Anna ihre Sprache wieder. »Das … Das ist nur ein Spiel«, sagte sie einfältig, und Edie schnaubte. »Das will ich hoffen. Der bloße Gedanke, dass ein so närrischer Trick das Volk täuschen könnte! Fragt Tom.« Tom spürte, wie ein Schauer nach dem anderen durch seinen Körper lief. 130
»Welches Volk?«, wollte Joe heiser wissen. Edie stellte drei Tragetaschen auf den Tisch. »Das Elfenvolk natürlich, das auf dem Gemeindeland lebt. Jetzt hört mal zu. Ich hab mit all den Erlenkränzen an Fenstern und Türen dafür gesorgt, dass er hier ziemlich sicher ist. Ich behaupte nicht, dass niemand vom Feenvolk hier reinkommt – aber sie kommen nur durch, wenn sie sich gegenseitig helfen, und das kann ich mir nicht vorstellen. Nein, das Volk ist eine hartherzige Sippe.« Joe verzog das Gesicht, als hätte er etwas Ekliges gegessen. »Also bitte«, sagte er ziemlich gekränkt. »Woher kennen Sie denn das Volk?« Edie schnaubte noch einmal. »Weil ich schon mein ganzes Leben hier verbringe, deshalb. Du kannst nicht nahe an einem gefährlichen Ort wie dem Gemeindeland leben und nichts über ihn wissen.« »Aber … aber ich wohne auch schon mein ganzes Leben lang hier«, sagte Anna. »Und mir hat nie jemand was gesagt.« Edie zögerte. Dann zog sie sich langsam einen Stuhl heran und setzte sich. »Die Leute heutzutage haben keine Ahnung«, sagte sie. »Früher kannten alle das Volk. In der Schule wurden Lieder über das Elfenvolk gesungen. Vielleicht haben alle so getan, als wäre das alles nur erfunden, aber sie wussten schon, was Sache war.« 131
»Was wussten sie?«, fragte Joe, schon nicht mehr so verächtlich. »Dass sie niemals allein aufs Gemeindeland gehen dürfen. Dass sie niemals einen aus dem Elfenvolk anschauen dürfen. Niemals zurückschauen. Dass sie sich vor dem Mondlicht in Acht nehmen müssen.« »Was hat es mit dem Mondlicht auf sich?«, fragte Joe beunruhigt. »Sag’s ihm«, sagte Edie Mackintosh. »Im Mondlicht wird man leichter unsichtbar«, sagte Tom. »Das Volk geht dann manchmal bis in die Stadt.« »Welche Stadt?« »Diese Stadt«, sagte Tom. »Hierher.« Eine Pause entstand, während Anna und Joe das Gesagte verdauten. »Das Volk ist also oft in der Stadt?«, fragte Joe endlich. »Richtig«, antwortete Edie. »Na, dann können sie nicht sehr gefährlich sein, oder? Ich meine, man hört nicht allzu oft von Leuten, die von silbernen Speeren durchbohrt aufgefunden werden.« Edie zischte ihn an. »Natürlich nicht. Das Elfenvolk legt es nicht darauf an, Menschen zu töten. Was hätte das für einen Sinn?« »Was … was wollen sie dann?«, fragte Anna. Edie betrachtete ihre abgearbeiteten Hände. »Sie wollen sie lebend«, sagte sie.
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38 Es war still im Zimmer, bis der Nachhall der letzten Wörter verklungen war. Dann ergriff Joe das Wort. »Sie nehmen uns auf den Arm«, sagte er. »Wenn das stimmen würde, dann hätte man das Gemeindeland zubetoniert und mit Stacheldraht eingezäunt.« »Glaubst du etwa, das Elfenvolk weiß das nicht? Deshalb bewegen sie sich ja ganz leise und vorsichtig. Aber sie bewegen sich, das kann ich dir versichern. Hast du noch nie gehört, dass jemand verschwindet?« »Nur Tom«, sagte Joe. »Spaß beiseite. Das ist unmöglich. Nach der Quantentheorie …« »Doch nicht so!«, schnappte Edie. »Sie lösen sich nicht mit einem Puff in einer Rauchwolke auf. Sie verschwinden. Hast du noch nie gehört, dass jemand das Haus verlassen hat und nie wieder gesehen wurde?« Wieder entstand eine Pause. Dann sagte Anna langsam: »Ich habe davon gehört. Da war jemand …« Aber Joe wischte alles beiseite. »Sie gehen nach London«, sagte er. »Sie streiten mit ihren Eltern und dann gehen sie nach London oder Newcastle oder sonst wohin und suchen sich einen Job.« 133
»Nicht alle«, meinte Edie. »Manche kommen nicht so weit. Vor allem die Jungen nicht und die Schönen. Jemand aus dem Elfenvolk bezaubert sie.« »Und was dann?«, wollte Joe wissen. »Was geschieht mit ihnen?« »Die Gebeine des Elfenvolks verschwinden schnell: vielleicht nehmen die Körper derjenigen, mit denen sie fertig sind, denselben Weg. Zu den Sternen.« Joe runzelte die Stirn. »Sie erfinden das alles.« Edie sprang auf. »Frag Tom«, sagte sie. »Ich sage nur, dass er hier im Haus sicher ist.« »Nein, ist er nicht«, sagte Anna. »Er ist krank. Und es geht ihm immer schlechter.« Edie zuckte die Achseln. »Da kann ich nichts machen.« »Und …« Anna schien mit einem schwierigen Gedanken zu kämpfen. »Auch wenn es ihm gut ginge … Sie könnten ihn doch nicht ewig im Haus behalten.« »Warum nicht?« Anna zog die Stirn hoch. »Na …« »Ich sag dir eines«, sagte Edie trocken. »Ich glaube nicht, dass er lange lebt, wenn er weggeht.«
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39 Das unregelmäßige Brummen von Edies Auto entfernte sich noch einmal in die Nacht. »Alles klar«, flüsterte Joe. »Sie ist um die Ecke gebogen.« »Wir kommen.« Joe hatte bereits den Erlenkranz abgenommen, der über dem Nebeneingang hing. Es waren nur drei Schritte über den Weg bis zur Tür von Annas Haus. »Es wird klappen«, sagte Anna hinter Tom. »Joe hat das rückwärtige Tor geschlossen und den anderen Weg mit Resten des Schuppens verbarrikadiert. Du bist ganz sicher. Komm. Bei uns geht es dir vielleicht besser.« Tom spürte die Hitze ihrer Hand, mit der sie ihn auf den Rücken klopfte. Er ging einen Schritt von ihr weg, in die Nacht hinein. »Bleib nicht stehen«, sagte Anna und geleitete ihn hinüber. Tom überquerte die Schwelle von Annas Haus. Die Atmosphäre war ganz anders als in Edie Mackintoshs Haus. Vor allem roch es anders. »Das ist Knoblauch«, sagte Anna, als er die Nase verzog. »Ich habe die Tür- und Fensterrahmen mit zerquetschtem Knoblauch beschmiert. Ich dachte, das hilft vielleicht, das Volk fern zu halten.« 135
Joe tauchte schemenhaft aus der Dunkelheit auf. Er verdrehte die Augen. »Das waren Vampire«, sagte er, »Vampire mögen Knoblauch nicht.« »Das Volk ist den Vampiren vielleicht ähnlich.« »Du bist blöd. Das kann gar nicht sein, denn das Volk mag Silber.« »Oh, daran hab ich gar nicht gedacht.« Anna betrachtete die schmierigen Spuren an den Wänden und seufzte. »Na ja, schaden wird es nicht. Ich hoffe nur, dass ich’s wieder wegkriege, sonst geht Mum an die Decke.« »Du solltest Tom dazu bringen, das Zeug abzulecken«, sagte Joe. »Das hält jeden von ihm fern.« Bernard betrat das Zimmer. Er hatte einen langen gebogenen Gegenstand aus Metall in der Hand. »Hast du das Sandpapier?«, fragte er Joe. »Wir müssen den Rost abschmirgeln.« »Dad, das ist Tom«, sagte Joe. »Er wohnt nebenan bei Edie Mackintosh.« Bernard nickte. Tom sah sich im Zimmer um. Alle Möbel waren an die Wände gerückt und auf dem Boden lagen überall verstreut Metallbänder und winzige Boxen auf Rädern. Bernard war so unförmig, dass es ihm schwer fiel, sich auf den Boden zu setzen. Es war klar, dass ihm das Aufstehen noch größere Schwierigkeiten bereitete, deshalb fühlte Tom sich sehr sicher. »Hier«, sagte Joe. »Da sind zwei.« 136
»Gut. Übernimmst du das gerade Stück?« In der Ecke des Zimmers stand eine Kiste, die an der Vorderseite mit einem Drahtgeflecht bespannt war. Darin war etwas Lebendiges. Die Sophie. »Im Winter ist sie im Haus«, erklärte Anna. »Möchtest du sie mal auf die Hand nehmen?« Tom schüttelte den Kopf. Er fühlte sich so merkwürdig, dass er sie nicht einmal essen wollte. Und er verstand immer noch nicht, warum Anna sich ein Stück Fleisch im Haus hielt. Es hatte keinen Sinn, aus einem Tier einen Sklaven zu machen. Oder doch? Anna führte Tom zu einem Sessel und hockte sich selbst auf die Lehne. »Dad hat seine Eisenbahn aufgebaut und sie tun so, als würden sie sie reparieren, damit sie sie verkaufen können«, flüsterte sie. »Mum sagt, das hätte was mit männlichen Zusammengehörigkeitsritualen zu tun. Wie geht es dir? Fühlst du dich hier besser?« Tom setzte sich und atmete tief durch. Gut, dass es hier keine Erlenkränze gab. Wegen der Hitze war er zwar immer noch am ganzen Körper nass, aber wenigstens störte ihn das permanente Surren der Kränze nicht mehr beim Denken. Aber – er sah zu Bernard und Joe hinüber. Sie schmirgelten ihre Metallstücke ab. Sie sahen sich nicht an und sie sprachen kein Wort miteinander, aber als Tom sie beobachtete, bemerkte er ein neues dickes Band zwischen ihnen, so dick wie eine Kette. Und jetzt wuchs das Band weiter, auf seinen Sessel zu. Zuerst erfasste es Anna. Er 137
konnte es kaum glauben, dass es sie nicht zu Boden zog. Sie lehnte sich nur in dem gepolsterten Stuhl zurück wie eine Katze in der Sonne. Das dicke Band wuchs weiter. Es bildete einen Ableger, und Tom musste sein Bein rasch zurückziehen, um ihm zu entgehen. Aber es näherte sich ihm unerbittlich. Ein großes dickes Band, das ihn an all diese Dämonen hier binden, ihn fesseln würde. Er schlängelte sich aus dem Sessel, bevor es ihn in die Enge treiben konnte. »Alles in Ordnung?«, fragte Anna. Das Band machte einen Bogen. An Anna gebunden zu sein war schon schlimm genug, aber wenn dieses große schwere Ding ihn einfing, würde es alles Leben aus ihm herauspressen. Das Band schnitt ihm den Weg zur Tür ab. Tom sah sich um. Da war ein Fenster. Das würde genügen. »Tom«, sagte Anna. »Was ist los?« Er tastete den Fensterrahmen ab. Er war anders konstruiert als in Edie Mackintoshs Haus. »Tom, soll ich das Fenster öffnen?« So war Anna. Dauernd machte sie um alles ein großes Theater. Alle Dämonen machten das. Sie banden sich aneinander, so dass sie sich kaum bewegen konnten, und dann wunderten sie sich, warum es für sie so schwierig war, irgendetwas zu tun. Anna band sich sogar an Tiere wie an die Sophie. Er spürte, wie die Wut auf alle Dämonen in ihm aufstieg. Sie waren ekelhaft – fett und rot und stinkend und roh. 138
»Tom …« Er schaffte es nicht, das Fenster zu öffnen. Blöde Dämonen mit ihren blöden Besitztümern. Er hasste sie alle. Er hasste sie. Anna legte die Hand auf seinen Arm, aber er wich ihr aus. Sie sah dunkel aus – ihre Umrisse waren verschwommen wegen all der Verbindungen, die an ihr zogen und sie an die anderen ketteten. Kein Wunder, dass Dämonen so dick waren: Sie mussten das Gewicht all der Bande tragen, die sie aneinander fesselten. Er fühlte sich in die Enge getrieben, denn das Band kam immer näher. Er hasste sie alle, und sein Hass war so groß, dass das Band, das sich ihm näherte, abstarb. Es schrumpelte zusammen und wurde schwarz, als ob ein grausamer Frost seine Lebensadern gekappt hätte. Tom war frei. Alle Dämonen starrten ihn aus ihrem Kokon aus Fesseln an. Aber um sie musste er sich nicht mehr kümmern. Er war frei von ihnen allen. Triumphierend ging er auf die Tür zu, und das Band vor ihm schrumpfte weiter zusammen. »Alles in Ordnung mit Tom?«, fragte Bernard. »Er ist so blass geworden.« Joe richtete sich auf, er war wachsam und beunruhigt zugleich. »Ich glaube, er will heim«, sagte er. »Er ist manchmal … äh … ein bisschen … schüchtern. Anna, begleite ihn.« 139
Anna schlüpfte in die Küche und öffnete die Hintertür. »Ich bring dich zurück zu Edie«, flüsterte sie. »Und ich komm später noch mal vorbei und schau, ob alles in Ordnung ist.« Bernard sagte gerade: »Bisschen komisch, der Typ.« Draußen war es feucht und kalt. Tom holte tief Luft. Die Luft war frisch und enthielt keine Spur von Dämonen oder ihren Dingen. Freiheit. »Beeil dich«, flüsterte Anna. »Man kann nie wissen, wer hier herumschleicht. Womöglich kommt Edie gleich heim und erwischt dich hier draußen.« Sie öffnete die Hintertür von Edie Mackintoshs Haus und nahm den Erlenkranz ab, so dass er durchgehen konnte. Aber er würde nicht dorthin zurückgehen. Dieses Haus nahm ihm den Atem, löste ihn auf, trieb ihn in den Wahnsinn. Er konnte nicht zurückgehen und in einem Dämonenhaus herumschleichen, während all seine Sinne schwanden. Während er starb. Es war sehr dunkel. Der Mond ging gerade auf: voll und schön und glänzend. Sein Licht würde die sanfte Dunkelheit über dem Gemeindeland in ein Geflimmer aus Schwarz und Silber verwandeln. Anna zitterte. »Ich darf nicht hier draußen sein«, sagte sie. »Es ist kalt und außerdem scheint der Mond. Hör mal. Wenn du magst, dann komm ich mit rein und warte, bis Edie heimkommt.« 140
Tom spürte, wie die Luft aus Edie Mackintoshs Haus zu ihm herausdrang. Sie war muffig und voller surrender Schwingungen. Sie trocknete seinen Körper aus und zerstörte seinen Geist. Er stand da und hasste Anna und Joe und alle anderen, jedes einzelne Dämonending in dieser Dämonenstadt, die ihn tötete. Die Sterne waren fern. Tom sah zu ihnen hinauf und er wusste, dass er sie noch so laut anrufen konnte. Sie würden ihn nicht hören. Sie waren wunderschön, auch wenn er sie nicht richtig erkennen konnte. Er konnte es nicht sehen, aber sie kämpften. Die Sterne kämpften immer, denn das war der Preis der Freiheit. Plötzlich war ihm, als stünde das Volk vor ihm. Er sah sie, von den Strahlen des Mondlichts durchdrungen standen sie da: jeder für sich allein, silbern gekleidet, stolz und triumphierend. Durch die Türöffnung erblickte er den rechteckigen weißen Kasten, auf dem Edie das Essen verbrannte. Und musste an den aufgeschlitzten Hirsch denken, dessen warmes Blut auf das dürre Wintergras troff. Dämonenaugen sahen nicht gut im Dunkeln. »Tom?«, sagte Anna. »Tom, wohin gehst du? Tom, hier draußen ist es gefährlich für dich. Tom!« Aber Tom war endlich frei von ihr.
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40 Die kalte Luft war berauschend. Tom lief bis zum Ende der Straße und dann bergab hinunter zum Fluss. Auf einmal wusste er, wohin er wollte. Am Rand der Stadt war die Brücke. Tom ging weiter und hatte nur einen Gedanken: weg vom Dämonengestank der Stadt und zurück ins Gemeindeland. Nach Hause. Die Autos, die harte Lichtkegel über ihn hinweg schwenkten, kümmerten ihn nicht. Bald kam nur noch Dunkelheit, weiche Dunkelheit. Das Gemeindeland. Der Ort, zu dem er immer zurückkehren würde. Er schüttelte die überflüssigen Dämonenhausschuhe von den Füßen und trat auf das Gras. Unter seinen Füßen spürte er Steine, und er war wieder ein Teil des Gemeindelands. Dämonen gingen durch die Welt, als gehörten sie nicht zu ihr, ihre Haut, ihre Augen und Ohren waren verschlossen. Die samtene Dunkelheit lag offen vor ihm. Er warf sich in sie hinein. Überall war es dunkel – aber vielleicht war er auch so lange weg gewesen, dass er vergessen hatte, wie man sich im Wald bewegt. Er stolperte über etwas, fluchte, und ein zurückschnellender dorniger Zweig schlug ihm in den Nacken. Er blieb stehen und befreite sich aus den Dornen. 142
Er musste aufpassen, wohin er trat. Aber es gelang ihm nicht. Darin lag das Problem. Der Mond schien, aber er hatte seine Leuchtkraft verloren – oder Tom hatte seine Sehkraft eingebüßt, denn er hatte das Gefühl, dass er durch ein grausames Gestrüpp aus peitschenden Ästen tappte, die nach ihm griffen, ihn stolpern ließen und ihn zu Umwegen zwangen. Ohne den verlässlichen Mond hätte er jede Orientierung verloren. Endlich kam er schwer atmend an einem Ort heraus, wo er Gras unter den Füßen hatte. Helft mir, flüsterte er den diamantharten Sternen zu. Aber ihr kalter Hauch erfasste seine Worte und zerstreute sie in alle Richtungen. Er wandte sich um und folgte dem grasbewachsenen Pfad. Er kannte das Gemeindeland, jeden Quadratzentimeter, aber dieser Ort kam ihm fremd vor. Er sah seine Umgebung nicht nur nicht richtig, sie roch auch falsch, nämlich eigentlich nach gar nichts. Dann trat er auf etwas, das seinen Knöchel festhielt, und beim Fallen dachte er an Anna. Er drängte den Gedanken zurück. Anna gehörte der Vergangenheit an. Sie war gewesen. Das war alles. Die Vergangenheit war ein fremdes Land, das nichts mit dem Heute zu tun hatte. Die Vergangenheit wirft keine Schatten. So hieß es. Aus den Augen, aus dem Sinn. Er würde nicht an Dämonen denken. Er hasste sie. Hasste sie. Hasste sie. Und während der Hass ihn ganz und gar durchdrang, lösten sich die Bande. 143
Tom sog die frische Luft ein. Sie spülte Anna weg und Joe und Edie Mackintosh. Und dann war er wieder frei. Im Gemeindeland wimmelte es von Schatten und silbernen Lichtstrahlen. Er lauschte. Nichts. Da war niemand. Er war allein. Das war ein Wort der Stärke: Er war sogar stärker als das Volk, denn er war ganz allein. Er wollte nach Norden wandern und dann immer weiterziehen. Es würde ganz einfach sein, denn er fürchtete sich nicht vor Dämonen. Er würde von ihnen leben – ihre Mülleimer durchstöbern und ihre Haustiere rauben. Anna? Er taumelte, diesmal hatte es ihn an der Kehle erwischt. Noch ein Band. Aber er würde sie alle loswerden. Anna war eine Närrin. Eine Närrin aus der Vergangenheit, die nichts mit ihm zu tun hatte. Sie würde ihn bald vergessen haben. Er würde alle Bande verkümmern lassen, die ihn an sie fesselten. Sie waren jetzt getrennt. Getrennt. Er hob die Hände zum Himmel und lachte. Er war sogar frei von den Sternen. Das Volk war gebunden – er lachte triumphierend und drückte den Matsch zwischen seinen Zehen hervor –, gebunden an das Gemeindeland. Das Volk war den Dämonen in die Falle gegangen. Es glaubte, frei zu sein, aber es lebte in Angst, und das war keine Freiheit. Er hatte sein ganzes Leben lang in Angst verbracht und sich versteckt. Er hatte gar nicht gelebt. Tom ging weiter durch den Wald. Das letzte Mal. 144
Weit weg raste ein Dämonenauto über die Straße. Die Dämonen machten das Beste daraus. Das verstand er jetzt. Sie waren Sklaven, aber sie waren glücklich in ihrer Knechtschaft. Wie Anna? Diesmal kamen die Bande von zwei Seiten zugleich und fesselten ihm die Arme an den Körper, so dass es ihm einen Augenblick lang schwer fiel zu hassen. Er konnte sich nur erinnern. An die Berührung von Annas Hand. An ihre Augen. Und dann dämmerte ihm langsam die Erkenntnis, dass Anna ihn nicht als ihren Sklaven wollte. Sie hatte versucht, es ihm zu sagen, aber er hatte nicht verstanden, was sie ihm sagen wollte. Was sie ihm geben wollte. Er war sich fast sicher, dass sie ihm etwas geben wollte. Aber sie war ein Dämon, heiß und roh und schwerfällig. Und er hasste sie. Er hasste sie. Hasste sie. Die Bande schrumpelten zusammen und fielen herab. Er ging ein bisschen weiter und die ausgefransten Streifen aus Schwarz und Silber wichen vor ihm zur Seite. Dann kam er zu einer Lichtung. Zuerst sah er Sia und er war ergriffen von ihrer Schönheit. Er hatte es vergessen. Er hatte vergessen, wie sie den Kopf wandte und wie anmutig ihr Körper war. Niemand schenkte ihm Beachtung. Larn war auch da, sein Speer ruhte auf seiner Schulter und seinem 145
gebeugten Knie. Das Mondlicht fing sich in den Höhlen seines Schädels und lag schimmernd auf seinem hellen Haar. Dann erhob einer aus dem Volk die Stimme und sang ein Lied. Und Tom kannte das Lied: Oh, ich verbiete euch Maiden Mit güldenem Haar Euch zu nähern Carterhaugh Denn der junge Tarn Lin ist da. Das Lied beschwor einen Zauber, so dass es kein Lied mehr war, sondern ein Band von Bildern, die an seinen Augen vorbeizogen. Tom sah die goldblonde Dämonenfrau, die durch die wilde Natur streifte, und den wunderschönen jungen Mann, den sie zu ihrem Geliebten machte. Er hatte die Geschichte tausend Mal gehört, und der Teil, in dem Tarn Lin sich in eine Viper verwandelt, hatte ihm immer am besten gefallen. Jetzt aber weckte ein anderer Teil der Geschichte seine Aufmerksamkeit, ein Teil, den er früher kaum beachtet hatte. Denn es gab noch eine Person. Als der goldblonde Dämon zurückkam, um Tarn Lin für sich in Besitz zu nehmen, erwartete sie ein Kind von ihm. In dem Band von Bildern, die das Lied heraufbeschwor, sah Tom einen Schmetterling, der über eine Wiese tanzte. Ein Schmetterling. 146
Und dann erzählte das Lied vom Zorn der Frau aus dem Volk, die Tarn Lin verloren hatte. Von dem schrecklichen Fluch, mit dem sie Tarn Lins Augen in Holz verwandelte. Auch den Dämon verfluchte sie: Schande über ihr böses Gesicht, Einen schrecklichen Tod soll sie leiden Denn sie nahm den liebsten Ritter mir Von allen Zeiten Ein Schmetterling. Der Dämon erwartete Tarn Lins Kind. Aber vielleicht hatte es auch andere Kinder gegeben. Tarn Lin, der prächtige Ritter, hatte schließlich sieben Jahre lang beim Volk gelebt. Was waren das für Kinder, die einen Dämon zum Vater hatten, aber in das Volk hineingeboren waren? Waren sie Dämonen? Oder gehörten sie zum Volk? Oder waren sie etwas ganz anderes? Das Lied ging zu Ende und das Band von Bildern verblasste und löste sich auf. Das Volk stand wieder vor ihm. Er konnte sie nicht alle deutlich erkennen, aber der Mond schnitt Lichtkorridore in die Dunkelheit, in denen eine Wange oder ein Arm hell leuchteten. Wie würden solche Kinder aussehen? Hätten sie womöglich keine Reißzähne? Würden sie aus starren Augen blicken, die anderen dauernd anfassen wollen und immerzu grundlos weinen? Könnten sie die Sterne anrufen? 147
Was machte das Volk mit solchen Jungen? Ein Schmetterling. Ein Ei, eine Raupe, eine Puppe, ein Schmetterling. Vielleicht waren solche Kinder zunächst ganz normal, aber dann, je älter sie wurden, büßten sie langsam ihr Seh- und Hörvermögen ein? Eines Tages würde auch Larn ungelenker und langsamer werden und dann würde einer der jüngeren ihn töten und sein Jagdrevier übernehmen. Würde Joe seinen Vater Bernard ebenso töten? Natürlich nicht. Sie waren so miteinander verwoben, dass sie einander keinen Schaden zufügten. Joe hatte versucht, die anderen zu hassen, aber er konnte es nicht. Niemand, der unter Dämonen lebte, konnte es. Er war gefangen in ihren erbarmungslosen Banden. Gefangen und gebunden, so dass er sich nicht bewegen und nicht denken konnte. Und so verlor er sich. Der Mond stieg höher und die Schatten wurden kürzer. Tom sah Sia an, die so wunderschön war. Er hasste sie nicht. Das Volk kam ihm wie ein Gemälde vor: überhaupt nicht wirklich. Er gehörte nicht zum Volk. Ich gehe fort, dachte er. Und lebe allein. Allein. Frei. Und vielleicht nach einer Weile … Tom empfand auf einmal einen Schmerz, der ihm unbekannt war. Zuerst lag er schwer auf seiner Brust, dann schnürte er ihm den Hals zu. Er konnte nicht leben wie das Volk, immer nur hassen und kämpfen. Das war wunderschön und herrlich, aber es war unmöglich. 148
Er gehörte nicht dazu. Nicht zu den Dämonen mit ihren erstickenden Fesseln und nicht zum Volk. Er war allein. Ganz allein. Er stand da und atmete tief durch. Sein Kopf war auf einmal ganz klar: Er brauchte das Volk nicht oder die Dämonen oder sich selbst. Und die Sterne waren außer Reichweite. Er wollte nur eines. Er machte drei Schritte nach vorn und stand vor dem Volk.
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42 Sofort richteten sich alle Augen auf ihn. Dann bewegte sich etwas und nur noch Larn mit dem Speer in der Hand stand vor ihm. Das Volk war fort, nur die Luft bewegte sich einen Augenblick lang und die Kälte suchender Augen umgab ihn. Im Mondlicht wirkten die Bäume wie ein Käfig. Tom wartete. Er wartete auf das Ende seines Lebens, aber er musste nicht lange warten. Larn riss den Arm zurück – er war so elegant, so schön – und blieb dann einen Augenblick still stehen, ganz im Gleichgewicht. Vollkommen. Tom sah an dem Speer entlang und er schien ihm nur wenige Spannen lang. Merkwürdig, dachte Tom, wie froh ich bin, dass das das Ende ist. Larn warf. Irgendwo schrie eine Stimme, aber der Speer hatte ihn getroffen und war in ihn eingedrungen und die Sterne kamen in einem Wirbel von Feuer näher. Der Speer in seinem Innern war eiskalt und die Welt verschwand. Aber die Sterne blieben. Andere Dinge umgaben ihn auf einmal – warme Dinge. Dämonen, vielleicht. Und sie hielten ihn, und ihre warmen Arme linderten die brennende Kälte des Speers. »Hast du das gesehen?«, sagte jemand, jemand, der sehr nah war, aber zugleich auch weit weg. 150
»Ich bin mir nicht sicher, was ich gesehen habe. Tom? Tom!« »Es sah aus … einen Moment dachte ich, da wäre ein ganzer Kreis von Menschen unter den Bäumen … und einer von ihnen hätte einen Speer. Deshalb hab ich geschrien.« »Er antwortet nicht. Joe, warum antwortet er nicht?« »Das Mondlicht macht alles so trügerisch. Tom, kannst du mich hören?« »Wir müssen ihn nach Hause bringen.« »Ich weiß. Hilf mir, ihn umzudrehen. Mal sehen, vielleicht können wir ihn tragen.« Die Sterne waren jetzt alle direkt bei Tom, feurig und kalt. Sie verbanden sich mit der Kälte des Speers. Aber da war auch die Wärme der Dämonen. Und alles war faszinierend und angenehm. Und er hatte keine Angst. »O Gott!« Sie hatten ihn auf den Rücken gedreht. Ihre Hände lagen auf seiner Brust. Aber er sah nichts als die hellen, lodernden Sterne. »Ich kann ihn nicht anfassen. Anna, ich kann ihn irgendwie sehen, aber ich kann ihn nicht anfassen!« »Es ist ein Speer. Ein silberner Speer. Davor … davor hatte Tom die ganze Zeit Angst.« »Was können wir tun?« Und dann war eine neue Stimme hinter ihnen zu hören. »Es ist zu spät, etwas zu tun«, sagte sie. »Jetzt können wir uns nur noch an ihn erinnern.« 151
43 Joe und Anna. Tom erinnerte sich an die Stimmen. Und auch die andere Stimme war ihm nicht fremd. Eisige Flammen leckten um ihn herum, aber er war ganz ruhig. »Edie Mackintosh!« »Wie kommen Sie denn hierher?« Edie. Richtig. »Was meint ihr wohl?« Noch zwei Hände. Kühle Hände diesmal, ganz und gar nicht wie feuchte Dämonenhände. Aber durch die Flammen tropfte heißes Wasser auf sein Gesicht herab. »Warum weinst du?«, fragte Edie rau. Ein Gesicht näherte sich Toms Gesicht. »Er atmet noch. Wenn Sie zu einer Telefonzelle fahren und einen Krankenwagen rufen …« Jemand wickelte ihn in etwas ein. »Das hätte keinen Sinn.« »Aber …« »Alles Wissen einer Klinik kann ihm nicht helfen. Das weißt du.« »Aber … dann … und wenn wir ein paar Kräuter sammeln oder so …« »Einen Zauberspruch aufsagen …« »Oder jemand vom Volk holen …« 152
Edie lachte. Tom hörte es und war froh. »Das Volk? Das ist längst da.« »Was?« »Spürt ihr sie nicht? Nicht hinschauen! Das ist gefährlich.« »Aber wenn ich mir einen von ihnen schnappe …« »Du kannst genauso gut versuchen, das Mondlicht zu fangen. Und es hätte keinen Sinn. In Toms Herz steckt ein Speer vom Volk. Er stirbt. Keine Medizin kann hier etwas ausrichten.« Warme Hände streichelten ihn. »Tom!« Annas Stimme. Die Flammen der Sterne verschwammen jetzt zu einem weichen, leuchtenden Nebel. Das tat gut, aber er lag auf dem Grund eines tiefen Brunnens und er war zu weit weg, um zu antworten. »Tom!« Ihre Stimme klang schmerzerfüllt und Tom fühlte Mitleid. Aber die Sterne waren fort und das Licht wurde schwächer.
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44 Joe ballte die Fäuste, als er auf dem gefrorenen Boden niederkniete. »Wir müssen doch was tun«, murmelte er. Anna umschloss mit beiden Händen den Speer, der so grässlich aus Toms Brust ragte. Aber ihre Hände griffen ins Nichts. »Ich versteh das nicht«, sagte Joe. Sein Gesicht war weiß, aber seine Stimme war so laut und rau, dass sie nicht zitterte. Er fuhr mit der Hand durch den Speer. »Ich sehe ihn«, sagte er beharrlich. »Also muss er da sein.« Anna legte ihr Gesicht dicht neben Toms. »Tom, ich bin’s, Anna«, flüsterte sie eindringlich. »Tom, es ist kein echter Speer. Bitte wach auf.« »Echt genug«, sagte Joe. »Aber er gehört in die Welt des Volks, deshalb nehmen wir ihn nicht richtig wahr. Wenn wir … ich weiß auch nicht … aber wenn wir es schaffen, wie die Leute vom Volk zu denken …« Anna verzog das Gesicht vor Anstrengung. »Kälte … und Mondlicht …« »… und allein sein«, sagte Joe. »Du bist allein und gleichzeitig hassen dich alle. Jeder, der sich dir nähert, will was von dir. Will dir wehtun.« »Und die Sterne«, sagte Anna. »Die Sterne sind wichtig. Sie greifen nach dir und nehmen dich auf, 154
wenn du sie nur heftig genug bittest. Und sie sind wild und schon.« Joe hob das Gesicht. »Wie Diamanten«, sagte er. »Sterne! Nehmt mich in eure Welt auf!« Er blieb ganz still sitzen und atmete leise. Dann griff er nach dem Speer – aber seine Hand glitt wieder durch ihn hindurch. »Du verschwendest deine Zeit«, sagte Edie Mackintosh, die mit dem Rücken gegen einen Baum lehnte. »Es hat keinen Sinn, dass du ein Gesicht machst, als würdest du unter Verstopfung leiden.« Joe fuhr zu ihr herum. Er war sehr wütend. »Ich versuch’s wenigstens. Warum versuchen Sie es nicht? Wir können doch nicht einfach aufgeben.« »Warum nicht?« Sie schleuderte ihm diese harten schrillen Worte voller Verachtung entgegen. »Er geht euch nichts an«, sagte Edie. »Das Volk hasst euch. Und ihr habt keine Ahnung, wer er ist. Die Sterne sind für das Volk keine Diamanten. Sie sind groß und niedrig und erfüllen den Himmel mit Hass und mit Feuer.« »Nicht doch«, sagte Anna kläglich, ohne den Kopf zu heben. »Keinen Streit. Nicht jetzt. Bitte keinen Streit.« Das Mondlicht schnitt tiefe Kerben um Edie Mackintoshs Mund und ließ ihre Augen in schattigen Höhlen glühen. Sie nickte knapp. »Anna hat Recht«, sagte sie. »Es lohnt sich nicht, 155
darum zu streiten. Er stirbt und dann ist wieder alles wie vorher.« Anna stieß einen leisen schmerzerfüllten Schrei aus, und Joe rappelte sich auf. Er war noch wütender als zuvor. Aber dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit und er sah an Edie Mackintosh vorbei. Er erstarrte mit offenem Mund.
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45 Anna zog Joes Mantel noch fester um Tom. »Tom darf nicht sterben«, flüsterte sie. »Er darf nicht. Denn er hat etwas mit mir zu tun. Als ich ihn gefunden habe, war er verletzt und ganz allein. Er war so allein –« »Nicht hinschauen«, sagte Edie scharf. »Schau niemals jemandem vom Volk in die Augen. Joe, hörst du mich?« Aber Joes Blick war wie der eines Schlafwandlers starr auf irgendetwas hinter Edie gerichtet. Er machte ein paar Schritte, aber Edie packte ihn am Arm. »Joe, das darfst du nicht. Sie versucht, dich wegzulocken.« »Tom«, sagte Anna und auf einmal war ihre Stimme kräftig und klar. »Du kannst mich nicht verlassen. Nicht jetzt. Du bist jetzt ein Teil von mir. Ich lass dich nicht gehen.« Mit plötzlicher Kraft drehte Edie Joe herum. »Du hetzt dir das ganze Volk auf den Hals«, sagte sie. »Wenn eine Frau vom Volk dich einfängt, wollen alle Männer nur noch dein Blut. Komm zurück zu uns, Joe. Schau deine Schwester an. Schau Anna an.« Joe wankte und blinzelte und hielt eine Hand hoch gegen das blendende Mondlicht. Dann taumelte er und fiel auf die Knie. Er begann wild mit Armen und Beinen um sich zu schlagen, als 157
ob er den Fängen eines vielarmigen wilden Tieres entkommen wollte. »Nein«, murmelte er. »Ich will nicht. Ich will nicht. Lass mich in Ruhe. Ich möchte frei sein!« Dann fiel er nach vorn und kauerte auf Händen und Knien. Annas Stimme war wieder zu hören und sie klang triumphierend durch den Wald. »Ihr bleibt beide«, sagte sie. »Denn ihr gehört beide zu mir.« Und Joe, der verzweifelt versuchte, gegen die klammernden schwarzen Fesseln anzuatmen, sah, wie sich etwas um den Speer wand, der in Toms Brust steckte. Doch dann fiel vor ihm ein Schatten auf den Boden, und er hatte die Gestalt eines großen Mannes. Etwas sprang ihn an wie ein aufleuchtender Blitz, nur dass es kalt war, schrecklich kalt. Es drang durch Joes Herz und die Lichter gingen aus.
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46 Die friedliche Ruhe fiel ab von Tom und war im Nu restlos verschwunden. Dann hatte er das Gefühl zu fallen, tief und schnell. Er schlug auf der Erde auf, der Aufprall stauchte seinen ganzen Körper und brach ihm fast die Knochen. Um ihn war es dunkel, dunkler als je zuvor. Und die Sterne waren weg. Jetzt ertönten Stimmen, die Tom noch nie gehört hatte. Es waren weder die hohen Stimmen des Volks noch bellende Dämonenstimmen, aber dennoch waren sie ihm nicht fremd. Etwas schüttelte ihn. Sein Rücken kratzte über den Boden und die Erde war härter, als sie es je zuvor gewesen war. Eine Stimme kam ihm höher vor als die anderen und härter, aber sie brachte in seinem Herzen etwas zum Klingen. Tom drehte mit äußerster Mühe den bleischweren Kopf. Dort waren die Sterne. Er konnte sie sehen. Ferne, winzige silberne Nadelstiche. So fern. »Tom«, sagte die harte Stimme. Sie war klar und fuhr wie ein Speer in seinen Körper. »Sag was, wenn du kannst.« Tom hob die rechte Hand. Sie war schwer – sehr schwer –, auch wenn ihre schwarze Silhouette gegen den fast schwarzen Himmel genauso aussah wie immer. 159
Und dann legte sich etwas auf seine Erinnerung, das er nicht verstand. Da war etwas – jemand – »Anna«, sagte Tom. Auch seine Stimme klang ungewohnt. Nicht nach Volk. Aber auch nicht nach Dämon. Irgendwie dazwischen, ein bisschen nach Annas. Und er war froh, dass sie nach Annas Stimme klang. Etwas nahm seine Hand. »Du bist zurückgekommen«, sagte es. »O Tom, ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist.« Aber er war keineswegs zurückgekommen. Das war ein anderer Ort. Oder aber die Welt war gleich geblieben, und er hatte sich verändert. Ja. Das war passiert. Er war ein anderer geworden und alles, was vorher gewesen war, war verschwunden. Alles außer Anna – und jemand mit einer harten Stimme. Er wandte sich Trost suchend an sie.
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47 Tom öffnete die Augen in Edie Mackintoshs kaltem, zum Garten gelegenen Zimmer. Er fühlte sich schrecklich schwer. Deshalb blieb er liegen und ließ seine Augen durchs Zimmer wandern. Die weißen Wände waren auf einmal schmuddelig cremefarben. Überhaupt hatte alles jetzt eine andere Farbe. Sogar seine Haut war nicht mehr weiß, sondern eher biskuitfarben. Es war alles so entsetzlich, dass er die Augen wieder schloss. Später kam Anna zu Besuch. Edie Mackintosh hatte ihn gedrängt, sich anzuziehen und hinunterzugehen. »Oh!«, sagte sie. Sie stand da und sah ihn an. »Tom!« Edie Mackintosh versetzte ihr einen leichten Stoß, um sie aus dem Eingang zu bugsieren. »Natürlich ist es Tom«, sagte sie. »Wer sonst?« Tom saß in seinem Sessel – immer noch sehr schwer – und war froh, dass sie gekommen war. »Mit allen ist irgendetwas passiert«, erklärte er. Vor Überraschung über seine neue Stimme hörte er beinahe auf zu sprechen. Langsam fing sie an, ihm zu gefallen. »Ihr seid alle keine Dämonen mehr.« »Ich war nie ein Dämon«, sagte Anna. »Allerdings 161
muss ich zugeben, dass man, was Joe betrifft, diesem Irrtum leicht aufsitzen kann.« »Wie geht es ihm?«, fragte Edie Mackintosh. »Er ist ruhiger als sonst. Aber er kommt, sobald er gefrühstückt hat.« Kaum hatte sie ausgeredet, klopfte es an der Tür und Edie öffnete. »Geht’s Tom gut?« »Komm rein und begrüß ihn.« Joe sah anders aus, so wie alle anderen anders aussahen. Ein Schatten in seinem Blick, eine Art Vorsicht, war neu. Aber vielleicht hatte er ihn früher nur nicht bemerkt. Joe stand da und sah Tom lange an. »Du gehörst nicht mehr zum Volk«, sagte er endlich. Tom wusste, dass das stimmte. Da gab es nichts zu rütteln und nichts zu hoffen. »Jeder verändert sich, Joe«, sagte Edie fast zärtlich. »Wir alle. Immerzu.« Anna nickte weise. »Dad sagt sogar, dass du vielleicht noch richtig nett wirst, für einen Jungen, wenn wir alle ganz, ganz lieb zu dir sind«, meinte sie. Joe sah sie an und in seinem Gesicht ging eine Veränderung vor, als ob der Mensch, der sich vor Angst verkrochen hatte, einen Augenblick hervorlugte. »Ja, vielleicht«, sagte er. »Wenn ihr wirklich lieb zu mir seid.« 162
48 Die Welt war voller Dämonen. Aber man musste keine Angst vor ihnen haben, vor den meisten wenigstens nicht, nur vielleicht vor den sehr dummen oder unglücklichen. Millionen und Abermillionen Dämonen lebten zusammen und waren meist glücklich miteinander verbunden. Tom fand das sehr merkwürdig. Merkwürdig, aber angenehm, wenn man sich mal an die Vorstellung gewöhnt hatte. Familien. Sie waren der Grund, warum es funktionierte. Jedes Junge – jedes Kind – wurde in eine Familie hineingeboren. Es war so einfach: Wenn ein Junges jemanden hatte, der es beschützte, musste es nicht ums Überleben kämpfen. Nur wenn es keinem traute, musste es kämpfen. Tom versuchte, das Anna und Joe zu erklären. Anna hatte es auf sich genommen, ihm Unterricht im Menschsein zu erteilen, und Joe lungerte gern bei ihnen herum und ärgerte sie. Mensch zu sein war noch viel schwieriger, als Tom sich vorgestellt hatte. Anna war kaum zu bremsen. »Aber ich werde nie ein richtiger Mensch sein«, platzte er mitten in eine endlose Aneinanderreihung von Anweisungen. »Ich bin einfach unausstehlich.« »Was?«, fragte Anna entsetzt. 163
»Unausstehlich«, wiederholte Tom. »Wie Joe.« Anna stieß einen kurzen Freudenschrei aus und Joe richtete sich empört auf. »Ich bin nicht unausstehlich«, protestierte er. »Wie du früher warst«, sagte Tom beschwichtigend. Joe öffnete den Mund, dachte einen Augenblick lang nach und ließ sich wieder in den Sessel sinken. »Warum denkst du, dass du unausstehlich sein wirst?« »Weil Dämonenjunge – Kinder – eine besondere Person brauchen, die ihr Sklave ist und sie beschützt. Und ich habe so was nicht.« Tom hörte, wie Edie Mackintosh in der Küche klappernd Tee kochte. Das war auch so etwas Merkwürdiges: Die Menschen machten ihre Getränke so heiß, dass man sie nicht trinken konnte. Außerdem hatten sie die Angewohnheit, das Wasser mit trockenen Blättern zu würzen. Tom versuchte, sich daran zu gewöhnen, aber es erschien ihm viel einfacher, Wasser aus Pfützen zu schlabbern. Edie Mackintosh sang, während sie darauf wartete, dass das Teewasser kochte. Sie sang oft beim Arbeiten – nicht richtig, sondern geistesabwesend, nur so vor sich hin. Sie sang noch einmal das Lied vom Dämon Tarn Lin, den die Königin der Elfen gefangen genommen und der sieben Jahre lang bei ihr gelebt hatte. Sie saßen da und lauschten. Edies Stimme war rein und sehr hoch. 164
»Nicht gerade hitparadenverdächtig«, sagte Joe gähnend. »Wetten, dass dieses Lied älter ist als Frank Sinatra?« »Na klar ist es das«, sagte Anna plötzlich. »Das Volk und die Menschen leben schon seit vielen Hunderten von Jahren nebeneinander. Das ist die Lösung.« »Was?«, fragte Joe schläfrig, aber Anna antwortete ihm nicht. »Tom, wie hieß deine Tante noch mal?« Tom brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Die Verwandtschaftsbezeichnungen der Dämonen passten nicht richtig, wenn es um das Volk ging. »Edrin«, sagte er endlich. »Und was ist mit ihr geschehen?« Tom wurde von einer Erinnerung an tiefe Dunkelheit überwältigt. Er schauderte. »Ich hab es dir erzählt. Es war Larn. Er hat sie getötet.« »Mit einem Speer. Er hat sie bestimmt mit einem Speer getötet, nicht wahr?« Joe setzte sich mit einem Ruck auf und war auf einmal hellwach. »Na klar«, sagte er, »sonnenklar! Er hat sie getötet. So wie er Tom getötet hat.« Edie Mackintosh trug ein Tablett mit vier dampfenden Teetassen ins Zimmer. »Bitte schön«, sagte sie. »Was starrt ihr mich so an?« Anna erhob sich und ging auf sie zu und legte ihre Finger zärtlich an Edies Wange. 165
»Sie sind kalt«, sagte sie. Edie Mackintosh stellte das Tablett ab. »Schlechte Durchblutung«, sagte sie. »Viele ältere Menschen leiden daran.« Auch Joe erhob sich. »Und Sie sind sehr dünn«, sagte er. »Ich glaube, Sie sind die dünnste Person, die ich kenne – außer Tom.« Edie Mackintosh schlug gereizt mit einem Geschirrtuch nach ihm. »Sei nicht so unhöflich.« Tom sah ihr in die Augen, die mit Lichtpunkten gesprenkelt waren. Silbernen Lichtpunkten. Er hielt den Atem an, denn er wusste, dass er dicht davorstand, etwas ungeheuer Wichtiges zu entdecken. Die drei Kinder scharten sich um sie, vorsichtig und schweigend, wie um ein großes Wunder. »Er funktionierte nicht, stimmt’s?«, sagte Joe triumphierend. »Larns Speer. Er hat auch Tom nicht getötet.« »Na, um das herauszufinden braucht es nicht viel Hirnschmalz.« »Ja«, sagte Anna und ihre Augen glänzten. »Larns Speer gehört zur Welt des Volks: Er kann Tiere töten, weil sie sowieso halb in der Welt des Volks leben. Und er kann die töten, die zum Volk gehören.« »Aber einige im Volk sind anders«, ergänzte Joe. »So wie Tom anders war. Wenn sie älter werden, verändern sie sich. Zuerst sind sie ungeschickt, dann lässt ihr Gehör nach, dann ihr Sehvermögen, bis sie 166
schließlich eine Gefahr für das Volk sind und getötet werden müssen.« Da verstand Tom. Er verstand sogar, warum es ihn gerade in diesen Teil der Dämonenstadt gezogen hatte. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Er trat näher an Edie Mackintosh heran und sah ihr ins Gesicht. Ihre Haut war gealtert und leuchtete nicht mehr, aber er konnte immer noch die feinen Linien ihres Schädels erkennen. Und ihre wilden Augen hatten viel gesehen. »Warum hat Larns Speer dich nicht getötet?«, fragte er. Edie Mackintosh trat zurück und setzte sich. Unvermittelt legte sie die Hände an ihr Herz. »Das war … jemand anders«, sagte sie. »Es ist lange her. Sehr lange. Frank versuchte ihn herauszuziehen. Frank, den ich später geheiratet habe. Er war ein guter Mann. Ich wäre mit dem Tod gegangen. Ich hätte mit den Sternen getanzt, aber er ließ mich einfach nicht. Er ließ mich einfach nicht in Frieden. Die Sterne waren bei mir, aber er schrie mich an, schrie und rief mich. Schließlich verlöschten die Sterne und alles wurde schwarz. Und als ich aufwachte, war ich in diesem Haus und irgendwie war ich nicht tot. Aber ich war jemand anders.« Mit den Sternen tanzen. Ja. Genau so war es gewesen. Tom war plötzlich von Freude erfüllt. Nicht kämpfen, sondern tanzen. Die Sterne hatten immer getanzt. Nicht gehasst, sondern … Die Welt war anders. 167
Anna kniete nieder und nahm Edies Hände. »Sie sind Edrin, nicht wahr?« Aber die alte Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht mehr. Nicht mehr. Ich bin jemand anders.« Es war still. Dann sagte Anna: »Warum haben Sie es uns nicht gesagt? Und vor allem: Warum haben Sie es Tom nicht gesagt? Sie wussten doch von Anfang an, woher er kam?« Edie nickte langsam. »Ich konnte seine Kälte spüren«, sagte sie, »und ich hatte Angst, dass das Volk mich schließlich doch aufgespürt hatte. Ich lebe schon lange, das ist mir bewusst, aber ich verspüre nicht die geringste Lust, früher zu sterben als unbedingt notwendig. Deshalb habe ich immer diese harte Kappe getragen – sieht doof aus, aber es gibt Schlimmeres. Außerdem haben Frank und ich ein Kettenfutter in meinen Mantel genäht. Und ich nehme immer das Auto. In meinem Auto fühle ich mich sicher. Wir beschlossen, dass wir niemals jemandem verraten, woher ich komme. Das war am sichersten – für mich – und auch für das Volk. Ich wollte ihm keinen Schaden zufügen.« Tom verstand. »Das Volk ist wunderschön«, sagte er. »Du gewöhnst dich an die Angst«, sagte Edie sanft zu ihm. »Sie ist immer da, aber du gewöhnst dich an sie.« »Aber ihr braucht keine Angst haben«, warf Joe 168
plötzlich ein. »Ihr seid jetzt Menschen. Larn kann euch nichts anhaben.« Edie schüttelte den Kopf. »Larns Speer hat mich fast getötet. Ich weiß nicht, warum nur fast. Frank hat mich wohl irgendwie gerettet. Deshalb habe ich mich gestern Abend auch so ins Zeug gelegt und euch provoziert. Ich wollte, dass ihr wütend seid. Wie Frank damals. Mehr konnte ich nicht tun.« Joe runzelte grimmig die Stirn. »Aber dieses Ding hat Tom gerettet«, sagte er. Er hielt inne und betrachtete die verständnislosen Mienen. »Habt ihr es nicht gesehen? Da war eine Frau …« »Du musst das alles vergessen«, sagte Edie Mackintosh. »Das galt nicht dir.« »… und als ich sie ansah, leuchtete auf einmal der Wald. Und sie rief nach mir … glaub ich wenigstens, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie etwas sagte … aber dann sah ich Tom und Anna vor mir und ich sah dicke Bande, die sie miteinander verbanden. Und dann erfasste eines davon mich und das andere wand sich um den Speer. Und … ich glaube … da war ein Mann … und er warf etwas Kaltes, das wie ein Blitz durch mich hindurchfuhr. Ich glaube, es war ein Speer. Aber er hat mir eigentlich nicht wehgetan. Nur der Wald wurde wieder dunkel.« Eine Fessel. Tom holte zitternd tief Luft. Diese Fessel hatte ihn und vor ihm auch schon Edrin gerettet. Die Kraft der Sklavenbande zwischen ihm und 169
Anna hatten ihn in die Welt der Dämonen gezogen. Jetzt würde er niemals frei sein. Niemals. »Dir braucht also keine Angst haben«, fuhr Joe triumphierend fort. »Ihr seid jetzt beide Menschen. Und ein Speer vom Volk kann euch nichts anhaben. Genauso wenig wie mir.« »Aber … das Volk … sie können die Menschen immer noch verfluchen«, sagte Anna zögernd. »Sie können uns in ihre Welt locken, wie die Frau, die du gesehen hast.« Da lachte Edie. »Ich bin viel zu alt. An mir hat das Volk kein Interesse mehr«, sagte sie. »Und Tom ist noch zu jung.« »Dann seid ihr sicher«, sagte Joe. »Ihr könnt sogar ins Gemeindeland gehen. Das Volk kann euch nichts anhaben.« Tom und Edie sahen sich an. »Sicher?«, sagte Edie sanft. Und ihre silbergesprenkelten Augen wurden auf einmal so tief wie ein Teich im Mondlicht. »Mit diesem Wechselbalg im Haus? Das kommt mir keineswegs so vor. Aber mir soll’s recht sein, wenn ich wieder im Gemeindeland spazieren gehen kann.« Anna ging im Zimmer umher. »Die Kinder da«, fragte sie und wies mit den Augen auf die kleinen Fotografien. »Sind das alle Ihre?« »Wir hatten nicht erwartet, dass wir Kinder bekommen würden«, sagte Edie. »Und als das erste dann da war, freuten wir uns so, dass wir es wohl ein bisschen übertrieben haben.« 170
Joe versuchte, die Bilder zuzuordnen. »Drei Jungs«, sagte er. »Und wie viele Mädchen?« »Auch drei«, gab Edie zu. »Aber die letzten beiden waren Zwillinge. Und das dort ist Jason. Er war mein Stiefsohn. Und bislang vierzehn Enkelkinder. Aber das fünfzehnte ist unterwegs.« Joe verzog das Gesicht. »Und keines ist zu hundert Prozent Mensch«, sagte er. »Interessant. Wenn das Volk Menschen in seine Welt locken kann, wie es in der Geschichte von Tarn Lin beschrieben wird, müssen auch die vom Volk menschliche Eigenschaften und Gene besitzen. Aus diesem Grund entwickeln manche Abkömmlinge vom Volk im Laufe ihres Lebens menschliche Eigenschaften.« Anna nickte. »Aber die menschlichen Gene behalten schließlich die Oberhand und deshalb wird das Volk immer kleiner«, sagte sie. Sie saßen eine Weile schweigend da. »Ich frage mich, wie viele Menschen ein bisschen was vom Volk in sich haben?«, sagte Joe auf einmal. »Ich wette, ich gehöre dazu. Deshalb konnte ich auch diese Frau sehen.« »Sollte mich nicht wundern«, sagte Edie trocken. Anna lächelte Tom an. »Jedenfalls hast du jetzt eine ganze Menge Familie«, sagte sie. »Zwanzig Cousins und Cousinen.« »Und eine oder einen unterwegs«, warf Edie stolz ein. 171
»Und eine Tante«, sagte Joe. Tom ging an den Fotos entlang. Es waren so viele. Und bald wäre er für immer und ewig an sie gebunden, so wie er an Edie und Anna und Joe gebunden war. Plötzlich wollte er wegrennen. Er wollte frei sein. Er wollte ein einsames Moor finden und vom Fallen stellen und Wurzeln sammeln leben. Ganz allein. Aber das würde nicht geschehen. Noch waren die Bande unsichtbar, aber sie waren da und fesselten ihn an die anderen. Er war gefangen. Für immer gefangen. Sein Gesicht musste einen schmerzerfüllten Ausdruck angenommen haben, denn Anna nahm seine Hand. »Wir helfen dir«, sagte Anna, und er zitterte im Schein ihrer Augen. Plötzlich bekam er kaum noch Luft unter dem Druck all dieser Dämonenbande. Er war jetzt einer von vielen Millionen Dämonen und all diese Dämonen würden ihn jede Sekunde seines Lebens beherrschen. Seine Knochen waren dick und stark. Er würde leben. Oder jedenfalls nicht sterben. Er würde zusammen mit all den anderen tanzen. Für immer als Dämonensklave tanzen. Auf einmal erinnerte er sich, wie schön Sia war. Aber Anna sagte etwas und das Band, das zwischen ihnen war, zog die Erinnerung fort.
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Dietlof Reiche
Keltenfeuer
ISBN 3-423-62269-5 Seit Urzeiten gibt es diesen Hügel hinter dem Beckmann-Hof. Plötzlich interessieren sich Archäologen dafür und Grabräuber. Von all dem ahnt die 13jährige Kathrin nichts, als ihr auf dem Hügel ein altertümlich gekleidetes Mädchen erscheint. Leon, Sohn einer Archäologin, weiß mehr. An eine Erscheinung mag er nicht glauben – bis ihm am selben Ort ein keltischer Krieger gegenübersteht. Der Hügel hütet ein gefährliches Geheimnis, das spüren Kathrin und Leon. Sie müssen sich selbst in Gefahr begeben, um die leichtfertigen Erwachsenen zu retten.
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