KLEINE BIBLIOTHEK
DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HERBERT WENDT
ELDORADO K R E U Z F ...
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KLEINE BIBLIOTHEK
DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HERBERT WENDT
ELDORADO K R E U Z F A H R T D U R C H DAS K A R I B I S C H E MEER
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MÜRNAU•MÜNCHEN•INNSBRUCK
•BASEL
Westindien, die Antillen, Mittclamerika — hier begann mit der Entdeckungsfahrt des Kolumbus das große koloniale Abenteuer des Abendlandes. In den karibischen Häfen, Silberminen und Zuckerplantagen wurde der Grundstein zu Europas Reichtum gelegt. Hier entstanden "Weltreiche und Riesenvermögen. Hier blühte der überseeische Handel jahrhundertelang in einer uns heute märchenhaft vorkommenden Weise. Hier suchten Tausende das Goldland — Eldorado.
Schuldbeladene Erde . . . Sieben europäische Staaten nahmen einst in Westindien Inseln und Landstriche in Besitz, gründeten Kolonien und Handelskompanien, bekämpften einander, schnappten einander die fettesten Beutestücke weg — nie versiegende interessante Stoffe für die Verfasser von Abenteurergeschichten. Männer wie Kolumbus und Las Casas, Cortez und Baiboa, Drake und Raleigh haben ihre Spuren in Karibien hinterlassen. Prunk und Glanz der reichen spanischen und französischen Kreolen, der Zuckerherren, der Händler und Schatzsucher an den karibischen Küsten Mittel- und Südamerikas waren einst geradezu sprichwörtlich. Aber Karibien steckt nicht nur voller Romantik; es ist auch blutige, schuldbeladene Erde. Jede Insel, jeder Küstenstrich weckt schmerzliche Erinnerungen an die düstere Kehrseite des europäischen Kolonialreichtums: Mehr als drei Jahrhunderte lang waren die karibischen Länder Hauptziele der Sklavenverschiffung, Stätten der Negersklaverei. Rund dreißig Millionen Afrikaner — so haben die Historiker ausgerechnet — sind insgesamt nach Amerika verschleppt worden. Mehr als ein Drittel davon gelangte in diejenigen Gebiete, die man nach altem Seemannsbrauch „Westindien" nennt — auf die Großen und die Kleinen Antillen, nach Mittelamerika und zu den Küsten des nördlichen Südamerika. So kommt es, daß die meisten karibischen Inseln und auch verschiedene Küstenstriche des Festlandes der Bevölkerung nach längst nicht mehr amerikanisch sind: Die indianischen Ureinwohner, die Kariben und Aruaks, starben aus — oder besser: Sie waren bereits hundert Jahre nach der Entdeckung fast ganz ausgerottet. Und
ihren Platz nahmen zwangsverschleppte Neger ein, deren Nachkommen heute die Hauptmasse der Bevölkerung bilden. Afrikanische Musik, afrikanische Feste und Tänze, afrikanische Kulte, Sitten und Gebräuche haben sich über die Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger rein erhalten und beherrschen das Leben der breiten Massen. Manche Inseln wirken — man darf das wohl ohne Übertreibung sagen — vielfach afrikanischer als der afrikanische Kontinent selber. Wie sieht es nun heute in Westindien aus — auf den Inseln und in den benachbarten Festlandsstaaten? Nun — die romantisch-abenteuerlichen Zeiten von einst sind längst vergangen. Verschwunden sind die märchenhaften Reichtümer der Großplantagen-Besitzer, vergessen die Schrecken der Sklaverei, verweht die Erinnerungen an spanische Silberflotten, holländische Handelsfahrer, englische und französische Kaperschiffe. Das Abendland hat in den letzten hundertfünfzig Jahren den größten Teil seiner Kolonien räumen müssen: Im Jahre 1804 sprengte Haiti die kolonialen Fesseln*, fünfzehn Jahre später folgten Venezuela, Kolumbien und Mittelamerika, 1844 wurde San Domingo frei, 1898 Kuba, 1954 erhielten die Niederländischen Antillen Selbstverwaltung, und 1958 versuchten die britischwestindischen Kolonien in der autonomen Westindischen Föderation sich selbst die Freiheit zu geben; aber dieser Staatenbund ist inzwischen wieder auseinandergebrochen. Wohl gibt es in Westindien noch zahllose idyllisch-verträumte Erdenflecke, die scheinbar von der Zeit vergessen sind: palmenumsäumte Ufer, reizvolle Fischerdörfer, einsame Koralleninseln, alte Schlösser und Festungen, riesige Plantagen und Hazienden, Reste von Gold- und Silberbergwerken oder auch dichte urwaldhafte Mangrove-Dschungel, echte urtümliche Wildnisse, bewohnt von Flamingos, Ibissen, Reihern und anderen Wasservögeln. Doch auch diese verlorenen Winkel werden nach und nach vom Reiseverkehr entdeckt. An anderen Stellen aber wachsen modernste Großstädte hoch. Es entstehen Badeorte, Touristen- und Handelszentren, Industriegebiete, moderne Flughäfen und Autostraßen. Und in vier karibischen Ländern regiert seit langem die Weltmacht ö l . Die karibische Freiheitsbewegung ist von weltgeschichtlicher Bedeutung. Denn der westindische Raum grenzt an die Vereinigten 'Staaten, er ist durch den Panama-Kanal mit dem Stillen Ozean verbunden, er schlägt die Brücke zwischen den beiden amerikanischen Festlandhälften. Grund genug, aufzuhorchen, wenn dieser Raum unruhig wird, wenn politische Erdbeben, politische Hurrikans losbre• Vgl. Lux-Lesebogen 352, „Der Kaiser von Haiti". 3
chen — wie das gerade in allerjüngster Zeit der Fall ist. Ich erwähne hier nur die Revolution in Venezuela und auf Kuba — Ereignisse, die weit über Karibien, weit über Amerika hinaus die Weltöffentlichkeit beschäftigen.
Curafao — der Bazar Westindiens Die erste Inselgruppe, die ich auf meiner Kreuzfahrt durch die Karibische See besuchte, wirkte keineswegs unruhig oder gar stürmisch. Im Gegenteil: Diese kleinen, freundlichen, adretten Eilande sahen haargenau so aus, wie man sich wohlgeordnete und gutverwaltete Musterkolonien vorstellt. Es sind die Niederländischen Antillen. Ich möchte mit ihnen beginnen — nicht, weil man sie auf einer Westindienfahrt als erste anzulaufen pflegt, sondern weil sie sich noch viele reizvolle Erinnerungen aus vergangenen Zeiten bewahrt haben. Auf einer der Inseln, auf Aruba, wohnen sogar noch indianerblütige Menschen, in denen das Erbe der karibischen Ureinwohner fortlebt. Sechs Inseln oder Inselchen sind es. Drei davon — Sankt Martin, Saba und Sankt Eustatius — liegen mitten im großen Inselbogen, der sich von Nordamerika nach Südamerika schwingt; die drei anderen — Aruba, Curacao und Bonaire — sind der Küste Venezuelas vorgelagert. Es sind letzte winzige Reste des großen holländischwestindischen Handelsreiches, eines Reiches, das einstmals halb Nordbrasilien kontrolliert, unzählige Häfen und Märkte beherrscht und sogar das Gelände der heutigen Weltstadt New York besessen hatte. Der Name des Mannes, der dieses Kaufmannsreich regierte, des berühmtesten Einwohners von Curacao, ist Peter Stuyvesant. Sankt Eustatius und Willemstad auf Curacao waren im achtzehnten Jahrhundert die wichtigsten Märkte Westindiens. Oft lagen dort mehr als siebenhundert Handelsschiffe aus den verschiedensten Ländern und Weltteilen auf Reede. Die Niederländischen Antillen versorgten die Nordamerikaner im Unabhängigkeitskrieg, sie unterstützten den südamerikanischen Freiheitshelden Simon Bolivar*, sie beteiligten sich am Gewürz-, am Zucker- und am Sklavenhandel, boten Waren aus fünf Erdteilen an und waren gleichsam ein einziger großer Bazar. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die Inseln ihre Rolle ausgespielt und sanken zur Bedeutungslosigkeit herab. Im zwanzigsten Jahrhundert aber erlebten zwei der Inseln, Curajao und Aruba, * Vgl. Lux-Lesebogen 227, „Simon Bolivar". 4
eine erstaunliche Wiedergeburt: Als im benachbarten Venezuela die größten Ölvorkommen der Welt entdeckt wurden, errichteten die großen ölgesellschaften ihre Raffinerien nicht auf dem venezolanischen Festland, sondern auf den beiden zoll- und steuerbegünstigten, von Krisen und Revolten unberührten holländischen Inseln. Niederländisch-Westindien, das selber keinen einzigen Tropfen öl produzierte, lebte seitdem vom ö l . Bis vor kurzem wurden auf Curayao und Aruba alljährlich etwa fünfunddreißig bis vierzig Millionen Tonnen Erdöl verarbeitet. Ohne das öl wären die beiden Inseln tote Erde, übervölkertes Notstandsgebiet; denn die reichen Phosphatlager von einst sind längst ausgebeutet, und die wenigen Früchte, die geerntet werden, reichen nicht im entferntesten zur Ernährung der Bevölkerung aus. Curacao und Aruba sind heiße, wüstenartige Eilande, von ledernen Riesenkakteen bedeckt, und außer kargen Zitrus-Bäumen und bedürfnislosen Ziegenherden gedeiht hier kaum etwas. Nahezu alle Lebensmittel müssen aus Venezuela und aus den Vereinigten Staaten eingeführt werden. Die einzigen nennenswerten Ausfuhrgüter der Inseln sind
Der karibische Raum — Westindien. 5
der bekannte Curacao-Likör, ferner Strohhüte, Salz und die Samenkapseln der hohen, windzerzausten Divi-divi-Bäume, die von den Gerbereien benutzt werden. Den Ölraffinerien verdankt Niederländisch-Westindien nicht nur seinen Wohlstand, sondern auch sein gemäßigtes politisches und soziales „Klima". Der Bevölkerung geht es gut; jedermann hat sein Auskommen. Und so fehlen die Spannungen, die sonst überall in Karibien an der Tagesordnung sind. Die Städte — Willemstad auf Curacao, Oranjestad und San Nicolas auf Aruba — wirken wie reizvolle Nachbildungen holländischer Kleinstädte: blitzsauber, behäbig, wohlhabend, ein klein wenig altfränkisch, voller Märkte und Kaufläden, in denen man alle nur denkbaren Artikel aus aller Welt zoll- und steuerfrei erwerben kann — Brillanten, chinesisches Porzellan, indisches Elfenbein, Krokodilleder, Panamahüte, indianische Altertümer, Muscheln aus Bonaire, Spitzen aus Saba, Schnitzereien aus Haiti, deutsche Kameras, amerikanischen Whisky und vieles andere. Willemstad ist heute das Einkaufszentrum, der große Bazar, Westindiens geblieben. Auch die Landbewohner, die Obstpflanzer, Ziegenhalter, Fischer und Bootsfahrer in ihren kleinen Holzhäusern und Palmblatthütten wirken wohlhabend und zufrieden; auch sie profitieren mittelbar vom ö l . Es gibt hier keine Analphabeten, keine Slums, keine Streiks und Straßendemonstrationen; die Niederländischen Antillen regieren sich seit sechs Jahren selbst und — regieren sich sehr gut. Ja, man kann diese Inseln geradezu als Musterbeispiele für das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft bezeichnen: Die Nachkommen holländischer Kolonisatoren und portugiesisch-jüdischer Kaufleute leben hier friedlich und reibungslos mit den Nachkommen der einstigen Sklaven zusammen. Das einfache Volk spricht nicht holländisch, sondern Papiamento — eine eigenartige Mischsprache, die aus protugiesischen, spanischen, holländischen und afrikanischen Elementen zusammengesetzt ist. Im PapiamentoDialekt von Aruba sind sogar noch indianische Sprachbestandteile enthalten, und zwar aus folgendem Grund: Aruba muß in der vorkolumbischen Zeit ein Mittelpunkt der indianischen Kultur gewesen sein. Interessante Höhlenzeichnungen deuten darauf hin, die man im felsenübersäten Innern der Insel entdeckt hat. Im sechzehnten Jahrhundert verpflanzten die Spanier eine Anzahl von Indianern aus Haiti nach Aruba, die dort — auf Grund einer Verordnung Kaiser Karls V. — eine Freistatt finden sollten. Die Holländer, die Aruba im Jahre 1634 in Besitz nahmen, 6
vermischten sich zwar mit den Kariben, taten ihnen aber kein Leid an. Und so kommt es, daß die Arubaner von heute geradlinige Nachfahren der indianischen Ureinwohner sind — die fast einzigen indianerblütigen Menschen, die es jetzt noch in Westindien gibt. Ein schönes Bild — so scheint es wenigstens — bietet sich dem Besucher also auf den Niederländischen Antillen: ein Musterbild rassischer Eintracht und sozialen Friedens. Aber — wie lange wird das noch dauern? Was wird sein, wenn der Wohlstand einmal ein Ende hat? Venezuela hat längst eigene Erdöl-Raffinerien, die die von Curacao und Aruba bei weitem übertreffen. Außerdem ist Venezuela — gerade in jüngster Zeit — für die großen ölgeseüschaften ein oft unsicherer Partner geworden. Was wird sein, wenn — infolge wirtschaftlicher oder politischer Ereignisse — den beiden Inseln plötzlich der ölhahn abgedreht wird? Zwar will man in Holländisch-Westindien nicht recht an eine solche Katastrophe glauben; aber man trifft doch allerlei Vorkehrungen, um sich vom öl etwas unabhängiger zu machen. Durch Bewässerungsanlagen sollen Landwirtschaft und Viehzucht gefördert werden. Man versucht, Eiweiß aus Meerespflanzen zu gewinnen. Riesige Destillationswerke verwandeln Seewasser in Trinkwasser. Vor allem aber hofft man auf den Zustrom von Touristen. Curacao war schon immer ein Fremdenverkehrszentrum; und Aruba — mit neuen prächtigen Hotel- und Kasinobauten — will es der Nachbarinsel jetzt gleichtun, Amerikanische Touristen geben auf den Antillen alljährlich rund siebzig Millionen Dollar aus. Die Leute von Aruba und Curacao hoffen, daß es ihnen gelingt, einen guten Teil dieses Dollarstromes auf ihre friedlichen, naturschönen, idyllischen Inseln abzuleiten — auf ein kleines paradiesisches Inselreich, das von den vielen Problemen, Unruhen und Erschütterungen des westindischen Raumes verschont blieb.
Trinidad — Insel der Kolibris Die britischen Teile Westindiens sind im Gegensatz zu den Niederländischen Antillen ein Inselreich voller Probleme und Mißklänge. Zwei große, elf mittlere und unzählige kleine Inseln sind es, Inseln voll abenteuerlicher Geschichte, Wunsch- und Trauminseln für den tropensüchtigen Europäer: Trinidad, Jamaika, Barbados, Antigua, Grenada, Santa Lucia — Namen, die romantische Erinnerungen wekken, die uns an weißen Palmenstrand und tiefblaue See, an grell-
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bunte Fischerboote und fröhliche dunkelhäutige Menschen denken lassen. Nun — wer die britisch-westindische Geschichte kennt, der weiß, daß die dunkelhäutigen Menschen auf diesen Trauminseln oftmals nur wenig Grund zum Frohsinn hatten. Er denkt an die blutigen Sklavenaufstände von einst, an die zahllosen Rassen- und Sozialkämpfe von heute, an die stellenweise beängstigende Überbevölkerung, die Jahr für Jahr Tausende von Westindiern zur Auswanderung nach Südamerika und nach England zwingt. Ich möchte nur eines dieser Tropen-Eilande herausgreifen — Trinidad, die Insel der Kolibris, wie sie einst zur Indianerzeit hieß, die Insel der KalypsoSänger, der Limbo-Tänzer und des rauschhaften Karnevals. Denn Trinidad ist Herz- und Kernstück in der Perlenreihe der britischen Westindien-Inseln. Die ältere Geschichte dieser Inselkette ist nicht so dramatisch verlaufen wie die Geschichte Kubas, Haitis oder der karibischen Festlandsstaaten. Hier entwickelte sich in der Vergangenheit alles in Ruhe. Aber in neuerer Zeit hat es auch in Britisch-Westindien geschwelt; auch in Britisch-Westindien hat es noch in jüngster Zeit Streiks und Unruhen gegeben — wie überall, wo sich eine farbige Bevölkerungsmehrheit mit Macht zur Selbständigkeit durchringen möchte. Die Zeitungen berichteten von Krawallen, Revolten und sogar von politischem Mord. Und vor noch gar nicht so langer Zeit konnte der Besucher aus dem fernen Europa in so manchem britischwestindischen Hafen auf Häuserwänden oder Eisenbahnwagen Kreideinschriften lesen, zum Beispiel die Aufforderung: „Weg mit dem Weißen Mann!" Es bedurfte großer Klugheit und Erfahrung, um diese schwelende Glut nicht zu einem hellodernden Feuer werden zu lassen. Im Jahre 1947 faßte man in England den Plan, sämtliche britischen Besitzungen in Karibien mit Ausnahme einiger Randgebiete in einer Föderation zusammenzufassen. Dieser geplante Staatenbund erhielt in den folgenden Jahren eine Verfassung nach dem Muster der australischen Bundesverfassung, ferner eine einheitliche Währung und beschränkte Selbstverwaltung; es war geplant, sie ganz allmählich, Schritt für Schritt, in die Freiheit zu entlassen. Seit dem 22. August 1958 war die Westindische Föderation nicht mehr Kolonie, sondern selbständiges Mitglied des Commonwealth — mit eigenem Ministerpräsidenten, eigener Regierung, eigenem Parlament. Aber die Selbstherrlichkeit dauerte kaum drei Jahre. Im Jahr 1961 löste sich Jamaika, und 1962 trennte sich Trinidad aus der Gemeinschaft, um eigene souveräne 8
Staaten zu werden. Denn das Zusammengehörigkeitsgefühl auf den etwa 2000 Kilometern sich erstreckenden Inseln der Föderation war nicht genügend entwickelt. Diebritischen Antillen bilden weder geschichtlich noch bevölkerungsmäßig oder wirtschaftlich eine Einheit. Einige Inseln kamen schon sehr früh in britischen Besitz; andere gehörten bis zum achtzehnten Jahrhundert zum spanischen oder zum französischen Kolonialreich. Neger und Mulatten, Nachkommen der einstigen Sklaven, bilden zwar fast überall die Hauptmasse der Bevölkerung; aber es gibt Inseln mit einer starken weißen Minderheit, Inseln, auf denen die Nachfahren ostindischer Kulis eine große Rolle spielen, und sogar eine Insel, auf der noch reinblütige Indianer wohnen — Dominika. Auf den meisten Inseln herrscht immer noch die tropische Plantagen-
Vielerorts in Westindien stößt man auf vorgeschichtliche magische Steinbilder untergegangener indianischer Völker.
•Wirtschaft vor: hauptsächlich werden Zucker, Kakao, Baumwolle und Bananen angebaut. Jamaika aber lebt außerdem von seinen großen Bauxit-Vorkommen, und Trinidad ist der viertgrößte ölproduzent der Neuen Welt. Auch in politischer Hinsicht gibt es tiefgreifende Unterschiede: Trinidad ist gemäßist, Barbados fortschrittlich und Jamaika radikal. Es war für die Väter der neuen Gemeinschaft ein Wagnis, diese verschiedenen Welten und Lebensformen in einem Staatenbund zusammenzufassen. Die Gegensätze enthüllten sich vor allem, als die Wahl der künftigen Hauptstadt erörtert wurde. Nahezu jede Insel oder Inselgruppe meldete ihre Ansprüche an, wollte Kopf und Herz der Föderation werden. Nach heftigem Streit entschied man sich schließlich für die Insel mit der buntesten Bevölkerung und den ruhigsten politischen Verhältnissen — für Trinidad. Trinidad ist wohl der weltbürgerlichste Fleck Erde auf unserem Planeten, ein Treffpunkt der verschiedensten Nationen und Sprachen aus vier Kontinenten. Etwa sechzig Prozent der Bevölkerung sind Neger und Mulatten, dreißig Prozent Inder; außerdem leben hier Chinesen, Syrer, Spanier, Portugiesen, Nachkommen französischer Kreolen aus Haiti und Martinique, Engländer, Italiener, amerikanisches Militärpersonal und die verschiedenartigsten afrikanisch-asiatisch-europäischen Mischlinge. Die Geschichte dieser im wahrsten Sinne des Wortes „farbigen" Bevölkerung ist ungemein reizvoll — Ausdruck der bunten, wechselnden Ereignisse, die sich seit fünfhundert Jahren im westindischen Raum abgespielt haben. Als Kolumbus auf seiner dritten Reise im Jahre 1498 die große Insel vor der Orinoko-Mündung entdeckte — Trinidad, die „Dreifaltigkeitsinsel", wie er sie nannte —, war sie von einer Anzahl hochstehender und sehr kriegerischer Indianerstämme bewohnt. Wir wissen wenig über diese Ureinwohner. Nur das eine ist überliefert, daß sie die Kolibris, die winzigen schillernden Charaktervögel der Insel, als heilige Tiere verehrt haben. Sie kämpften tapfer gegen die spanischen Eindringlinge, und es dauerte fast hundert Jahre, ehe sie endgültig unterworfen waren. Bald darauf waren sie verschwunden, untergegangen und nur in einigen spanischsprechenden Siedlern mag sich ihr Blut vielleicht über die Zeiten gerettet haben. Die Spanier, blieben nicht im ungestörten Besitz der Insel. Englische und französische Piraten setzten sich in den geschützten Buchten von Trinidad fest und überfielen von dort aus die spanischen Handelschiffe. Einmal, im Jahre 1595, eroberten und zerstörten die Seeräuber sogar die damalige Hauptstadt San Jose. Doch weder die 10
Engländer noch die Franzosen interessierten sich ernstlich für die wilde, urwaldbedeckte Dreifaltigkeitsinsel. Trinidad blieb spanisches Nebenland, von Eingeborenen entblößt, kaum bevölkert und halb vergessen. Um 1780 wohnten dort lediglich knapp dreihundert bettelarme Siedler, die nach der Überlieferung noch nicht einmal heile Kleider für den Besuch der Sonntagsmesse hatten. Bis ein französischer Kreole aus Grenada, Roume de Saint Laurent, die große Wende brachte. Er verschaffte französischen Siedlern von den Kleinen Antillen die Erlaubnis, sich unter spanischem Schutz in Trinidad niederzulassen. Als bald darauf die Französische Revolution losbrach, strömten Anhänger des französischen Königs und Gegner der Republik aus Haiti, Martinique und anderen Inseln in großer Zahl nach Trinidad, begleitet von einer noch größeren Zahl schwarzer Sklaven. Das erste Emigrantenschiff, das mit tausend Franzosen in Puerto de Espana, dem heutigen Port of Spain, eintraf, führte den Namen „Calypso". Und dieser Name einer griechischen Muse ging ein in das Volksleben von Trinidad: Die seltsamen Gesänge der Trinidad-Neger, die Zuckerrohrlieder oder „Cambouleys", wie sie früher genannt wurden, sind heute in aller Welt als „Kalypsos" bekannt. Die Franzosen führten die Plantagenwirtschaft auf Trinidad ein, vor allem den Anbau von Zuckerrohr und Kakao. Durch die französische Einwanderung stieg die Bevölkerungszahl innerhalb von fünfzehn Jahren um das Sechzigfache. Trinidad wurde das gelobte Land aller Abenteurer, Glückssucher und Flüchtlinge in Karibien. Ein wirtschaftliches Chaos entstand, das von der spanischen Kolonialmacht nicht mehr gebändigt werden konnte. Und so kam es, daß Großbritannien die Insel im Jahre 1797 ohne einen einzigen Schuß in Besitz nahm. Der spanische Gouverneur, der Trinidad nicht hatte verteidigen können, wurde später in seiner Heimat vor Gericht gestellt und starb als Bettler in Sevilla. Im Verlauf der britischen Herrschaft wurde die Bevölkerung der Insel noch bunter. Neger aus Jamaika trafen ein, portugiesische Flüchtlinge aus Madeira, chinesische Einwanderer und schließlich — nach Aufhebung der Sklaverei — große Transporte ostindischer Kulis, die die Negerarbeiter in den Zucker- und Kakao-Plantagen ersetzen sollten. Die Inder brachten ihre Kulte und Religionen mit, bauten Moscheen und Hindu-Tempel und prägten den Charakter weiter Landstriche im Innern der Insel. Die indischen Volksfeste und Kultfeiern sind für Trinidad heute genauso bezeichnend wie der wilde, entfesselte Negerkarneval, wie die Kalypso-Gesänge, die 11
Limbo-Tänze und die metallenen Trommeln, Pfannen und Pingpongs, mit denen die Bands zum Tanz aufspielen. So bunt und gegensätzlich auch die Völker und Rassen sind, die hier auf Trinidad zusammentrafen — sie bilden dennoch längst eine Einheit: Sie bezeichnen sich mit Stolz als Westindier. Gerade in den letzten Jahren beginnt sich immer stärker ein Nationalgefühl auf Trinidad zu entwickeln, das freilich die dünne weiße Oberschicht nicht einbezieht. Zwischen Weißen und Farbigen weht im gesellschaftlichen Leben ein seidener Vorhang: Die Weißen treffen in ihren streng abgeschlossenen Klubs zusammen, die angesehenen Farbigen in ihren ebenso exklusiven Nautic-Klubs. Und dieser Vorhang lüftet sich nur zur Karnevalszeit und beim Kricket — dem Nationalspiel Karibiens, dem die Inselbewohner mit gleidier Leidenschaft huldigen wie die Südamerikaner dem Fußball. Es bleibt abzuwarten, ob diese gesellschaftliche Farbenschranke verschwindet, wenn Trinidad einmal ein eigener Staat ist. Sie ist auf Trinidad ohnehin nicht so spürbar wie auf anderen britischwestindischen Inseln, wo noch die alte Gesellschaftsschicht der großen Pflanzer herrscht. Denn Trinidad ist seit langem kein reines Plantagenland mehr. Die Insel produziert alljährlich fünf Millionen Tonnen ö l . Sie besitzt im Pitch Lake, dem berühmten Asphalt-See von La Brea, die größten Asphaltvorkommen auf der Erde mit einer Ausbeute von 300 000 Tonnen pro Jahr. Sie hat außerdem ein großzügiges Industrialisierungsprogramm entwickelt, so daß ein Großteil der Bevölkerung künftig in Maschinen- und Textilfabriken, Glashütten, chemischen und pharmazeutischen Werken arbeiten wird. Die volkstümlichsten Erzeugnisse der Dreifaltigkeitsinsel allerdings sind nach wie vor der Angostura-Schnaps und das Nationalgetränk der Westindier — der Rum. Der Aufbau von Industriebetrieben soll mithelfen, auch die anderen Inseln, deren künftiges Schicksal nach Auflösung der Westindischen Föderation noch völlig im Dunklen liegt, von einer Hauptsorge zu befreien — von dem Problem, wie die breiten Massen auf den überbevölkerten Inseln künftig ihr Auskommen finden werden. In den letzten fünfzig Jahren verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf den meisten Inseln; die von Trindad verdreifachte sich sogar. Der Bevölkerungsdruck hat zahllose Westindier zur Auswanderung gezwungen. Westindische Chauffeure, Hafen- und Industriearbeiter sind überall in mittel- und südamerikanischen Küstenstädten anzutreffen. Eine besonders starke Westindier-Kolonie lebt — zum Teil unter recht unwürdigen Umständen — in den Arbeiter12
„Kleines Venedig" nannten die Entdecker die Küste Venezuelas nach den auf Pfählen im Wasser stehenden Hütten der Ureinwohner. Noch heute stößt man besonders im Delta des Magdalenenstromes auf solche Pfahlbauten (zum Text Seite 14).
bezirken von London. Diese farbigen Emigranten haben es nicht leicht. Es entstehen die vielfältigsten Spannungen und Konflikte mit den Bewohnern der Gastländer. Haßgefühle werden gezeugt; der Keim zu politischem Radikalismus wird gelegt. Westindier wurden zum Beispiel kürzlich in London die Opfer der ersten Rassenkrawalle, die es seit vielen Jahrzehnten in England gegeben hat. Auswanderertragödien gehören darum zu den bevorzugten Themen der westindischen Literatur. Die Trauminseln im Karibischen Meer sind also keineswegs Paradiese unter Palmen; sie haben ihre Probleme, ihre Nöte und Sorgen — besonders jetzt, nach dem Fehlschlag der Föderation. Aber die Westindier haben eine glückliche Natur. Sie sind fleißig, arbeitsam und begabt. Sie leben in einer überwältigend schönen Umwelt: Gerade Trinidad ist mit seinen orchideenbestandenen Urwäldern, den blauen Bergen im Norden, den weißen Strandufern, den blütenüberschütteten Parks und den dichten Caroni-Sümpfen, die von Flamingos, Silberreihern und feuerroten Ibissen belebt sind, eine der zauberhaftesten Land13
schalten auf unserer Erde. matinsel, träumen von ihr Kalypsos. Und man darf staatliche Unabhängigkeit der großen Insel Jamaika, werden will.
Die Leute von Trinidad lieben ihre Heiin der Fremde, besingen sie in unzähligen annehmen, daß ihnen der Sprung in die gelingt, ebenso wie den Menschen auf das 1962 ebenfalls ein selbständiger Staat
Venezuela — Segen und Fluch des Öls Eldorado — ein hübsches Märchen war das, ein erregender Traum des Entdeckungszeitalters: der Traum vom goldenen Land, von Menschen, die in Goldstaub baden, vom Paradies auf Erden. Vor vierhundert Jahren glaubte die Menschheit fest an die Existenz dieses Goldlandes. Die Karten verzeichneten das Dorado. Expeditionen wurden ausgerüstet, um es aufzusuchen. Man vermutete es in den verschiedensten Gegenden Westindiens, auf dieser oder jener Insel, vor allem aber auf dem Festland südlich der karibischen Inselwelt, in einer kaum erforschten, urwaldbedeckten Landschaft, deren Bewohner in Pfahlbauten und Wasserdörfern lebten und die von den Spaniern darum Klein-Venedig genannt wurde — Venezuela. Aber das Traumland fand sich nicht. Spanier, Briten und Abgesandte des Augsburger Handelshauses der Welser opferten vergebens ihr Leben in den Fieberwäldern am Orinoko. Venezuela blieb eine unbedeutende, unterentwickelte Nebenkolonie Spanisch-Westindiens und später — nach Erringung der Unabhängigkeit — eine unbedeutende südamerikanische Republik, beherrscht von einer dünnen Schicht schwerreicher Großgrundbesitzer, bewohnt von einer geschichtslosen Landbevölkerung, die zum überwiegenden Teil indianerblütig war. Bis ins zwanzigste Jahrhundert trat dieses Land nur ein einziges Mal in die Weltgeschichte ein — mit einem Paukenschlag freilich, als Simon Bolivar dort im Jahre 1810 den südamerikanischen Freiheitskampf entfesselte. Doch auch Simon Bolivar ahnte nichts von den wahren Schätzen und Reichtümern seiner Heimat; er ahnte nicht, daß Venezuela in der Tat ein Dorado war — kein Goldland zwar, aber das Land mit dem größten Ölvorkommen auf unserer Erde. Eine riesige seeartige Bucht schiebt sich im Westen Venezuelas tief ins Landesinnere — das Becken von Maracaibo. Dort, an den Ufern des Maracaibo-Sees, hatten die Spanier einst die indianischen Pfahlbauten entdeckt, nach denen das Land benannt wurde. Daß es unter den Kreideschichten dieses Beckens Erdöl gab, wußte man bereits seit 14
1878. Doch erst im Jahre 1912 entschloß sich der Diktator Gomez, ausländisches Kapital ins Land zu holen, um die Ölquellen auszubeuten. Er wandte sich übrigens zunächst an Deutschland. Und erst als die deutsche Wirtschaft kein Interesse zeigte, vergab er — im Anfang sehr zögernd — einige Ausbeutungsrechte an die großen englisch-nordamerikanischen ölgesellschaften. Es dauerte zwar noch etliche Jahre, bis das öl Venezuelas eine nennenswerte Rolle in der Weltwirtschaft spielte; aber Gomez hatte eine Lawine ins Rollen gebracht. Er hatte den Anstoß gegeben zur einschneidendsten Wandlung, die sich je in einem lateinamerikanischen Staat vollzogen hat — zu einer Wandlung, deren Ergebnisse der Reisende heute mit tiefster Verblüffung zur Kenntnis nimmt. Venezuela, bis dahin ein sehr dünn besiedeltes Wald- und Steppenland, ein Land der Plantagenbesitzer, Viehzüchter, Kaffeepflanzer, der kleinen Mais- und Tabakbauern, lebte — etwa seit 1928 — in immer stärkerem Maße vom ö l . Wälder von Bohrtürmen ersetzten die Urwälder im MaracaiboBecken und schoben sich sogar tief in den See vor. Weltverlorene Fischerorte verwandelten sich in Tankerhäfen. Ölleitungen krochen durch den Dschungel, in dem — zum Teil auch heute noch — wilde, unzivilisierte und oft kriegerische Indianerstämme hausen. Unzählige Kleinbauern und Kolonisten ließen ihre Pflanzungen und Viehweiden im Stich und strömten — in einer regelrechten Völkerwanderung — zu den Niederlassungen der Ölgesellschaften, um dort Arbeit und Dollars zu suchen. Diese Landflucht war schon in den dreißiger Jahren so stark, daß das einstige Ackerbauland Venezuela einen großen Teil seiner Nahrungsmittel einführen mußte. Die Kaffeeproduktion des Landes — um die Jahrhundertwende die drittgrößte der Welt — kam völlig zum Erliegen. Stadtviertel und ganze Städte, die — oft recht malerisch — in altspanischem Kolonialstil erbaut waren, mit barocken Fassaden, verwinkelten Gassen, blühenden Gärten und schattigen Höfen, fielen der Spitzhacke zum Opfer. Sie werden heute durch Wolkenkratzerstädte ersetzt. Vor allem die Hauptstadt Caracas, einst ein gemütliches, verträumtes Städtchen von knapp hunderttausend Einwohnern, verwandelte sich in den letzten zwanzig Jahren in ein neuzeitliches Babel, eine Riesenstadt, in der ein Sechstel der Bevölkerung des Landes lebt. Aus den Öl-Camps und ihren Trabantenstädten entwickelte sich ein völlig neuartiger Siedlungsstil. Kurz: bald hing — direkt oder indirekt — das Leben eines jeden Venezolaners vom öl ab. Zwölf Gesellschaften beuten gegenwärtig das öl des MaracaiboBeckens aus. Ihre Einnahmen gehen zu fünfzig Prozent an den 15
Staat. Der gesamte Staatshaushalt Venezuelas fußt auf diesem ö l geld. Die Regierung wird davon bezahlt, das Militär wird davon besoldet, Krankenhäuser, Universitäten und Schulen werden davon errichtet, die Arbeitslosen werden davon unterstützt. Das öl finanziert den Bau von Autostraßen, Häfen und Flugplätzen, es finanziert Industriebauten und Hilfsmaßnahmen — es finanziert sogar Revolutionen und Gegenrevolutionen. Dreiundneunzig Prozent der Staatseinnahmen Venezuelas fließen aus den Ölquellen. Das öl hat Venezuela zu einem der teuersten Länder auf unserer Erde gemacht; es ist Segen und Fluch In den letzten dreißig Jahren haben die ölgesellschaften Milliardenbeträge in Venezuela investiert — ein Riesenkapital, das sie so weit wie möglich schützen und absichern wollen. Ein solcher Schutz aber wird im revolutionsfreudigen Lateinamerika oft durch eine starke, rücksichtslose Militärdiktatur garantiert. Venezuela wurde ein Land der Diktaturen. Bis zum Jahre 1958 war die Demokratie — von ein paar kleinen bescheidenen Zwischenspielen abgesehen — ein unbekannter Begriff in Venezuela. Diktatoren lösten einander ab, die durchweg der herrschenden Klasse von Großgrundbesitzern, Multimillionären und Militärs entstammten. Diese Diktatoren huldigten zwar mehr oder weniger hemmungslos dem Hauptlaster der hohen südamerikanischen Gesellschaftsschicht — der Korruption; aber sie hatten dank des ölsegens immer noch genügend Geld zur Verfügung, um das Land zu modernisieren und kühne, ehrgeizige Bau-, Wirtschafts- und Sozialprojekte durchzuführen. In besonderem Maße gilt das für den letzten Diktator — den General Perez Jimenez. Perez Jimenez bemühte sich fünf Jahre lang, alle Putsch- und Revolutionsgelüste in Dollars zu ersticken; er wurde der Schöpfer der Weltstadt Caracas und hatte den ehrgeizigen Plan, Venezuela mit Hilfe des ölgeldes — nach außen hin wenigstens — zum modernsten, fortschrittlichsten Staat in Südamerika zu machen. Dieser Musterstaat des Perez Jimenez aber, dieses Öl-Dorado — das zeigte sich seit 1958 —- war nur eine Fassade. Hinter dieser Fassade lebte ein Volk, das innerhalb weniger Jahre ein ganzes Zeitalter übersprungen hatte; es lebte zum Teil ohne Lebenshoffnung, ohne ausreichende Schulen, unter schlechtesten Wohnverhältnissen. Caracas war nicht nur eine Stadt der Luxusvillen und Wolkenkratzer, sondern auch eine Stadt der Ranchos, der Bretterbuden, Wellblechbaracken und Erdhöhlen. Die Landbevölkerung hauste oft in Lehmdörfern, die sich kaum von den Indianersiedlungen der Frühzeit unterschieden. Der ölsegen hatte den überkommenen Gegensatz zwischen arm und reich nicht überbrückt, sondern nur noch vertieft. 16
Brdöl verwandelt das Land: Blick in einen der großen Straßenzüge von Caracas, der Hauptstadt Venezuelas.
Das ölparadies Venezuela wurde so — hinter der glitzernden Außenseite — ein Nährboden für politischen Radikalismus. Und dieser Radikalismus führte schließlich im Jahre 1958'zum Sturz der Diktatur Perez Jimenez in der blutigsten Revolution, die Südamerika in diesem Jahrhundert erlebt hatte. Zwar siegte in den darauffolgenden Wahlen — den ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte Venezuelas — die linksdemokratische „Acciön Democratica"; aber der Kommunismus erstarkte wie in keinem anderen südamerikanischen Land. Linkssozialistische und kommunistenfreundliche Persönlichkeiten übernahmen wichtige Stellen in Verwaltung und Wirtschaft. Wie wird die Zukunft Venezuelas aussehen? Kann dieses Volk, das noch heute zu 51 Prozent aus Analphabeten besteht, für die Demokratie — für eine Demokratie im westlichen Sinne — gewonnen werden? Oder verfällt es abermals einer Diktatur — einer von 17
rechts oder gar einer von links? Sehr viel hängt hier von der künftigen Haltung der ölgesellschaften ab. Das Zeitalter der Militärdiktatoren in Lateinamerika geht seinem Ende entgegen. Die ö l trusts werden sich deshalb umstellen müssen; sie werden gezwungen sein, der werdenden Demokratie eine Chance zu geben. Sie werden dafür manches Opfer bringen müssen — eine höhere Beteiligung am ölgewinn zum Beispiel ist der selbstverständliche Wahlschlager einer jeden Partei in Venezuela. Und es ist noch keineswegs sicher, ob sich diese Opfer auf die Dauer lohnen werden. Venezuela ist zu einem Land der Hoffnung und der Ungewißheit geworden — sowohl für die Demokratie als auch für das ö l . So modern sich Venezuela auch heute gebärdet — wirtschaftlich steht es mit einem Fuß noch tief in der kolonialen Frühzeit: Es lebt — wie die meisten lateinamerikanischen Staaten es einst taten — von der Ausfuhr eines einzigen Produktes. Es ist ölland, wie Brasilien, Guatemala und Costarica Kaffeeländer waren, wie Kuba Zukkerland, Bolivien Zinnland, Chile Kupferland ist. Über einer solchen einseitigen Wirtschaftsform (Monokultur) schwebt ständig die Gefahr der Überproduktion und der Absatzkrise. Einige dieser Staaten, durch bittere Erfahrungen gewitzigt, haben ihre Volkswirtschaft darum längst auf mehrere Füße gestellt — Brasilien zum Beispiel, das heute ein modernes Industrieland geworden ist. Auch Venezuela gibt sich seit einem Jahrzehnt Mühe, etwas von der Öl-Abhängigkeit freizukommen. Man gewinnt Bauxit, Magnesit und Asphalt. Man hat im Urwald am Orinoko Eisenerzvorkommen entdeckt, die zu den größten der Welt gehören, und baut dort — mit Hilfe der ölgelder natürlich — eine moderne Stahlindustrie auf. Auch andere Industriezweige sind im Entstehen begriffen. In neuester Zeit bemüht man sich sogar, die Landwirtschaft — die nach der Entdeckung des ö l paradieses zur Bedeutungslosigkeit herabsank — wieder etwas stärker zu fördern. Die Unabhängigkeit vom öl wird für die Zukunft Venezuelas von entscheidender Bedeutung sein — nicht nur wirtschaftlich. Sie wird auch das Selbstbewußtsein und die Selbstverantwortung des Volkes stärken — eines gärenden, sich unbehaglich fühlenden Volkes, das bisher im Grunde nichts als Rentenempfänger der großen, allmächtigen Trusts im Maracaibo-Becken war. Ich habe bisher nur von den wirtschaftlichen und politischen Problemen des Landes Venezuela gesprochen — aus verständlichen Gründen; denn diese Probleme sind es, die dem Besucher zu allererst auffallen, die ihn beunruhigen oder nachdenklich stimmen. Aber Venezuela besteht nicht nur aus dem Maracaibo-Becken, den Tankerhäfen und der Wolkenkratzerstadt Caracas; es ist ein aufregend bun18
tes und vielgestaltiges tropisches Riesenland, viermal so groß wie die Bundesrepublik, voller Urlandschaften, die heute zum Teil noch genauso unberührt daliegen wie vor anderthalb Jahrhunderten, als Alexander von Humboldt* sie bereiste und erforschte. Man findet hier nahezu alles, was Südamerika an Landschaftsformen bietet: die Hochgebirgswelt der Anden mit Gipfeln bis zu 5000 Meter, den dichten Regenwald am Orinoko und im nördlichen Amazonas-Gebiet mit orchideenbedeckten Riesenbäumen, scheuen Indianerstämmen und einer Fülle versteckt lebender Tiere, die weiten endlosen Savannen, die sich zur Regenzeit in ein Blütenmeer verwandeln, die Mangrove-Sümpfe mit ihren unzähligen Wasservögeln und sogar einen großen, fischreichen etwas schwermütig wirkenden Binnensee — den Valencia-See. An der Grenze gegen Kolumbien hin lebt ein noch kaum erforschtes Indianervolk, die Motilones, deren Gebiet kein Grenzschmuggler und kein Erdölgeologe zu betreten wagt. Andere Indianer, die Goajiros, wohnen sogar in unmittelbarer Nähe von Maracaibo und wandeln in ihrer bunten Tracht durch die Marktstraßen der ölstadt. Dicht bei diesen Goajiro-Siedlungen wird eine fast 9 km lange Brücke gebaut, die die beiden Ufer des Maracaibo-Sees verbinden soll. Im Nebelwald der Küsten-Bergwelt befindet sich eines der eigenartigsten Bauwerke, die es auf unserer Erde gibt: die Ruine des Rancho Grande, eines riesigen Gästehauses, das der Diktator Gomez vor fünfundzwanzig Jahren mitten in der Wildnis errichten ließ. Der Urwald hat inzwischen längst nach diesem Rancho Grande gegriffen; Orchideen und Schlingpflanzen bedecken die Wände der Gästezimmer, auf den Terrassen sonnen sich Echsen und Schlangen, und in den Empfangshallen sind Regentümpel entstanden, in denen unzählige Frösche leben. Ein Flügel des Rancho Grande wurde darum in eine Biologische Station verwandelt — eine ideale Station, denn die Urwaldgeschöpfe, die man beobachten will, spazieren oft nächtlings durch die Fensterhöhlen ins Innere oder wohnen sogar im Gebäude selbst; Man trifft in Venezuela noch einsame, weltverlorene Siedlungen wie zur Kolonisationszeit, zum Beispiel die von Schwarzwaldbauern gegründete Siedlung Tovar im Küstengebirge, die erst kürzlich durch eine Straße mit der Außenwelt verbunden wurde und deren Bewohner nach wie vor den schwäbischen Dialekt ihrer Vorväter sprechen. Man trifft Korallen- und Perleninseln vor der Küste und endlose Kokospalmenwälder an den Ufern, die wie ein Stück Südsee • Vgl. Lux-Lesebogen 296, „Alexander von Humboldt". 19
aussehen. Und so mancher alte Gutshof mit seinem schattigen Park, seiner schwankenden Hängebrücke, seinen Pflanzungen und Viehherden erinnert an die Zeiten, in denen das öl noch unter der Kreideschicht des Maracaibo-Beckens schlummerte — in denen Venezuela noch das Eldorado der Pioniere, Glückssucher und Kolonisten war und nicht das Revier der großen Öl-Trusts.
Kolumbien — Reise in die Vergangenheit Cartagena ist ohne Zweifel einer der schönsten Häfen der Welt. Zwar wird man auf einer Reise durch das Karibische Meer überfüttert mit Natur- und Landschaftsschönheiten aller Arten, so daß die Sinne nach und nach ein wenig abstumpfen. Aber wenn sich nach wochenlanger Insel- und Uferfahrt endlich an der Mangrove-Küste von Kolumbien die Chica-Bucht öffnet, die schmale Einfahrt, die nach Cartagena führt, wenn der hohe Popa-Hügel sichtbar wird, von dem Alexander von Humboldt einst in begeisterten Worten schwärmte, und wenn nach und nach die weißen und bunten Renaissance- und Barockhäuser wie venezianische Paläste aus dem grünen Wasser der Lagune steigen, dann ist das ein Erlebnis, dem sich selbst der abgebrühteste Weltreisende nicht entziehen kann. Man muß an die große Zeit Spanisch-Westindiens denken, an Entdecker und Eroberer, an den Prunk der Ordenskirchen und Statthalterpaläste, an Gold- und Silberflotten, Sklavenmärkte und Inquisitionsgerichte, an englische und französische Piratenschiffe, die beutehungrig vor der Lagune lauerten —, an jene abenteuerliche Zeit, als das heutige Kolumbien, das damalige spanische Vizekönigreich Neugranada, zu den glanzvollsten, reichsten, meistbegehrten Gebieten auf unserer Erde gehört hat. Cartagena in Südkolumbien ist ein steingewordenes Stück Vergangenheit, das wie durch ein Wunder die überstürzte Modernisierung Lateinamerikas ohne Schaden überdauert hat. Jedes Viertel, jeder Winkel der Altstadt ist ein Stück südamerikanischer Geschichte. Eine verwirrende Vielfalt von Mauern und Wällen, so breit, daß sie heute als Autostraßen benutzt werden, umschließt das feierlich-barocke Stadtzentrum. Eine geschickt angelegte Riesenfestung, ein wahrer Fuchsbau mit unzähligen Schleich- und Fluchtwegen, San Felipe mit Namen, v/eckt Erinnerungen an die zahllosen Überfälle britischer Freibeuter, die den Spaniern hier — im Verladehafen — das Gold der Inkaländer abjagen wollten. Auf der Popa, dem Hügel hoch über der Festung, haben einst die spani20
sehen Eroberer gestanden und bei klarem Wetter in der Ferne die Schneegipfel der Anden gesehen. Ein Kanal verbindet den Hafen von Cartagena mit der Herzschlagader Kolumbiens — dem Magdalenenstrom. Diesen Kanal gab es schon zur Spanierzeit; er zerfiel dann und wurde erst im Jahre 1952 wiederhergestellt. Er bildete einst den letzten Abschnitt des alten Goldweges: Die Schätze und Reichtümer der Andenländer wurden auf Maultier- und Lamarücken übers Hochgebirge zum Oberlauf des Magdalenenstroms geschafft, dort auf Boote geladen, stromabwärts bis zum Kanal gebracht und auf dem Kanal nach Cartagena transportiert. Millionen- und Milliardenwerte sind so im Laufe der Jahrhunderte durch Cartagena geflossen — und die reichen, prunkvollen Bauwerke verraten deutlich, daß ein Gutteil davon in der Stadt hängen geblieben ist. Kolumbien ist schon immer ein Land der Edelmetalle und Edelsteine gewesen, eine Schatzkammer Südamerikas — eine größere wahrscheinlich als das goldene Peru der Inkazeit, wenn man den
Durch ungeheure Waldgebiete Kolumbiens windet sieh der Magdalenenstrom, einer der wichtigsten Verkehrswege des Landes. 21
jüngsten Forschungen der Ausgräber glauben will. Die ChibchaIndianer, die hier in vorspanischer Zeit das Hochland der Anden bewohnten, gehörten zu den berühmtesten Gold- und Silberschmieden Alt-Amerikas. Freilich sind sie bis heute die großen Unbekannten unter den amerikanischen Kulturvölkern geblieben. Denn die goldhungrigen Eroberer haben schon im sechzehnten Jahrhundert die kleinen Fürstentümer und Priesterkönigreiche der Chibcha so radikal zerstört, daß von ihren Städten und Tempeln heute kaum noch Ruinen aufzufinden sind. Wir können aber vom goldenen Zeitalter Kolumbiens eine schwache Vorstellung gewinnen, wenn wir die Chibcha-Arbeiten betrachten, die in den Museen über die Zeiten gerettet wurden — die Goldmasken, die vergoldeten, mit Edelsteinen gefüllten Mumien, die goldenen Kultstäbe, Armringe, Schmuckplatten, Menschenköpfe und Tierfiguren. Ein Goldschatz ist das, der auch in dieser Lückenhaftigkeit noch alles, was wir an frühgeschichtlichem Goldschmuck aus Europa oder Asien kennen, weit in den Schatten stellt. Eine noch ältere Kultur, die vermutlich tief ins erste vorchristliche Jahrhundert hinabreicht, fand sich am. oberen Magdalenenstrom. Dort entdeckten die Ausgräber in den letzten Jahrzehnten — seit 1950 vor allem — große Kult- und Grabkammern mit gewaltigen Steinbildern. Überlebensgroße menschliche Gestalten sind dort in den Fels gehauen und allerlei Wassertiere — Kaulquappen, Schlangen und Molche —, die vielleicht auf einen Wasserkult hindeuten. Man vergleicht diese Denkmäler heute mit den glanzvollen Denkmälern der alten Inka. Nur — wir wissen nichts von dem Volk, das hier das harte Gestein bearbeitete und die Riesenblöcke türmte; wir wissen noch nicht einmal genau, wann — in welchem Zeitalter — die seltsamen Steinbilder geschaffen wurden. Die archäologischen Entdeckungen in Kolumbien gehören zu den größten Überraschungen der Amerikaforschung in der allerjüngsten Zeit. Das Gold, das die Chibcha schmiedeten und nach dem die Spanier suchten, spielt auch heute noch im Kolumbien eine große Rolle. Nach wie vor wird es fast überall im Andengebiet aus den Bergen gefördert oder aus den Flüssen gewaschen. Außerdem gibt es in Kolumbien reiche Platin-, Silber- und Kupferminen; man gewinnt hier Bernstein, Quecksilber, Schwefel, Antimon und Mangan, Edelund Halbedelsteine werden entdeckt, und einige kolumbianische Inseln im Karibischen Meer sind Mittelpunkt der Perlen- und Korallenfischerei. In der Goldförderung steht Kolumbien heute an siebter, in der Platin-Förderung an zweiter, in der Gewinnung von Smaragden sogar an erster Stelle in der Weltproduktion. 22
Aber in der Erde Kolumbiens ruhen auch noch andere Schätze, die für die Weltwirtschaft von noch größerer Bedeutung sind. Die reichen Eisen- und Kohlenvorkommen in der Nähe der Hauptstadt Bogota haben zur Errichtung eines der größten Stahlwerke in Lateinamerika geführt. Die Erdöllager erstrecken sich bis nach Ostkolumbien; und die Sachkenner nehmen an, daß die ölvorräte in Kolumbien genauso groß sind wie die in Venezuela. Das öl Kolumbiens wird zwar schon seit 1921 ausgebeutet; die meisten Ölvorkommen aber sind noch unerschlossen. Dennoch steht Kolumbiens Erdölförderung bereits heute an dritter Stelle in Lateinamerika. Man betritt also, wenn man im historischen Hafen Cartagena das Schiff verläßt, eine sehr reiche Erde — eines der reichsten Bergbauländer Amerikas. Nur merkt man auf einer Kolumbien-Reise nicht viel davon. Kolumbien wirkt — im Gegensatz zum Nachbarstaat Venezuela, der sich in fieberhafter Geschwindigkeit modernisiert hat — immer noch wie ein Stück lebendig gebliebener südamerikanischer Vergangenheit; es lebt keineswegs nur von seinen Bodenschätzen, sondern auch von seiner Landwirtschaft. Es ist zum überwiegenden Teil ein Plantagen- und Kleinbauernland geblieben, ja, im Süden und Südosten sogar, im Gebiet der Quellflüsse des Amazonas, ein wildes, großartiges, nur unvollkommen erforschtes Urwaldland. Kolumbien sieht eigentlich — von den wenigen Großstädten und Industriegebieten abgesehen — nach wie vor genauso aus, wie man sich das alte Südamerika, das Südamerika des neunzehnten Jahrhunderts, vorstellt: Große Farmen wechseln ab mit kleinen Lehmdörfern, in denen braune, indianergesichtige Maisbauern leben; halbwilde Viehherden ziehen über die Grassteppen; und in den Wäldern wohnen noch etwa zweihunderttausend freie Indianer, deren Unabhängigkeit kaum angetastet wird. In Kolumbien findet man nahezu alle Klimazonen, die es in Südamerika gibt. Jede Zone hat ihre eigene Ackerbauweise und ihre eigenen Feldfrüchte. In den feuchtheißen Küstengebieten gedeihen Zuckerrohr, Baumwolle und Tabak, Kakao, Bananen und Reis. Im kühlen Andenhochland erntet man Kartoffeln, Bohnen, Mais und Weizen. In den gemäßigten Zonen, auf den weiten Savannen vor allem, wird Rinder- und Schweinezucht betrieben. Das wichtigste Erzeugnis Kolumbiens aber ist der Kaffee — ein milder Bergkaffee, der in Höhen von etwa tausend Metern angebaut wird und der einen ausgezeichneten Ruf genießt. Mit seinen rund siebenhundert Millionen Kaffeebäumen ist Kolumbien — nach Brasilien — das zweitgrößte Kaffeeland der Welt. Der Kaffee wird hier nicht — wie es 23
in anderen Ländern üblich ist — in Großplantagen angebaut, sondern in Kleinbetrieben von kaum fünf Hektar Größe. Ein wirtschaftlich gesundes Land also, so sollte man meinen, ein glückliches Land, das zu seinen Überlieferungen und Bräuchen steht, das sich langsam und stetig entwickelt hat, anstatt wie andere lateinamerikanische Staaten es taten — Hals über Kopf vom Rancho in den Wolkenkratzer, vom Mittelalter in die Neuzeit zu springen. Ein Land, in dem auch das geistige und kulturelle Leben gepflegt wird: Es gibt in Kolumbien — für zwölf Millionen Einwohner — neun Universitäten und vierundsiebzig andere Hochschulen, achtundzwanzig Rundfunksender, vierzig Tageszeitungen, zahlreiche wissenschaftliche Institute und sogar einige erfolgreiche Filmgesellschaften. Die Hauptstadt Bogota, die in 2600 Meter Höhe schachbrettartig auf einer Hochebene in den Anden liegt, galt schon zur Zeit Alexander von Humboldts und Simon Bolivars als geistiger Mittelpunkt Spanisch-Westindiens; sie ist bis heute einer der großen geistigen Mittelpunkte Lateinamerikas geblieben. Die langsame, fast zögernde Entwicklung Kolumbiens freilich ist schuld daran, daß dem Besucher aus Europa das Eisenbahn- und Straßennetz recht lückenhaft und beinahe vorsintflutlich vorkommt. Es fehlen moderne Schnellstraßen und Autobahnen, wie sie heute Venezuela, Brasilien und andere südamerikanische Länder haben. Es gibt nur ganz wenige Schienenwege, hauptsächlich im AndenHochland. Dafür ist Kolumbien aber ein Land der Flugzeuge. Im Jahre 1919 wurde hier — noch vor den Vereinigten Staaten — der erste Luftdienst Amerikas eröffnet; und heute sorgen vierzehn landeseigene Luftfahrt-Gesellschaften auf mehr als dreihundert Flugplätzen für den Personen- und Gütertransport. Noch wichtiger fast als die Luftwege sind die Wasserstraßen Kolumbiens. Hier ist das Gold- und Kaffeeland vom Schicksal ganz besonders begünstigt: Schiffbare Ströme, allen voran der gewaltige Magdalenenstrom, verbinden das dichtbesiedelte Anden-Hochland mit den Küsten des Karibischen Meeres und des Stillen Ozeans. Auf dem Magdalenenstrom verkehren heute noch die alten hochbordigen Schaufelraddampfer; sie befahren eine Strecke von fast dreizehnhundert Kilometern und sind nach wie vor das Haupt-Transportmittel für die breiten Volksmassen. Im Magdalenen-Delta liegt auch Kolumbiens größte Hafenstadt, das farbenfrohe, mit tropischer Schnelligkeit aufblühende Barranquilla, das dem altehrwürdigen Cartagena längst den Rang abgelaufen hat. Und in der Nähe der Magdalenen-Mündung in einer wilden, ursprünglichen, von hohen 24
Bergen eingerahmten Lagunenlandschaft, befindet sich ein weiterer geschichtlicher Platz: Santa Marta, der Sterbeort des Befreiers Simon Bolivar — nationale Wallfahrtsstätte und zugleich einer der bedeutendsten Bananenhäfen Westindiens. Dennoch — trotz all dieser Reichtümer, Schönheiten und Vorzüge, trotz einer gesunden Landwirtschaft, einer blühenden Industrie und einer Vielfalt genutzter und ungenutzter Bodenschätze •— ist Kolumbien im Grunde genommen ein armes, unterentwickeltes Land geblieben. Das klingt widersinnig — vor allem, wenn wir Kolumbien eben noch als ein reiches Land, als eine Schatzkammer, bezeichnet haben. Aber gerade hier, in diesem schicksalsbegünstigten Andenland, wird einem mit erschreckender Deutlichkeit ein Haupt-Problem des heutigen Südamerika klar — ein Zustand, der in anderen Ländern bereits zu blutigen Revolutionen geführt hat: Von den Reichtümern profitiert lediglich eine winzige Minderheit, eine dünne
Amerikanische Afrikaner — die meisten leben noch abseits des Eldorados. 25
Oberschicht, die sich hauptsächlich aus den Nachkommen der einstigen spanischen Großgrundbesitzer zusammensetzt. Die breiten Volksmassen dagegen — die Kleinbauern, Pächter und Arbeiter — haben in ihrer überwiegenden Mehrheit einen so niedrigen Lebensstandard, wie wir ihn uns in Europa gar nicht mehr vorstellen können. Jeder zweite Kolumbianer behauptet zwar, er sei Weißer; in Wirklichkeit aber zählen nur fünf Prozent der Bevölkerung zur weißen Rasse. Alle übrigen Kolumbianer sind Indianermischlinge oder auch — in den Küstengebieten — Negermischlinge. Die kleine Gruppe der Weißen beherrscht die Wirtschaft und auch die Politik. Und diese Politik trug sehr häufig diktatorische Züge — wie überall, wo eine kleine Minderheit eine große Mehrheit regiert. Die Spannungen, die sich daraus ergaben, machten Kolumbien zu einem Land der Aufstände, Staatsstreiche und Bandenkriege — zu einem schwelenden Unruheherd, in dem eine gesunde demokratische Entwicklung bis vor kurzem nicht möglich war. Wahrscheinlich wird die Industrialisierung des Landes, die erst vor wenigen Jahren eingesetzt hat, hier manches ändern. Schon jetzt wächst eine starke städtische Mittelschicht heran, die Arbeitsschutzgesetze, Mindestlöhne und andere soziale Reformen durchgesetzt hat und die auch in kultureller Hinsicht führend geworden ist. Dank dieser gesunden Mittelklasse, die stärker ist als in den Nachbarländern, hat Kolumbien eine gute Chance, das Ubergangszeitalter zu überwinden — eine hoffentlich unblutige Revolution, die schon jetzt als eine zweite und endgültige Befreiung des Landes bezeichnet wird.
Costa Rica — Musterland unter dem Vulkan Es war ein unheimlicher Anblick: Eine rötlidh-grauschwarze tote Aschelandschaft, so weit ich sehen konnte, dichte weiße Nebelmassen, die plötzlich aus dem Nichts kamen, alles einhüllten und dann wieder verschwanden, ein eisiger Wind, der Schwaden von Lavastaub vor sich hertrieb — und vor mir der riesige Krater, einer der gewaltigsten in Amerika, der im Augenblick nicht rauchte, aber einen ziegelroten brodelnden See im Innern barg. Ringsum vermummte, frierende Touristen aus mindestens zwölf Nationen, die hier — in dreieinhalbtausend Meter Höhe — aus chromblitzenden Wagen geklettert waren, um Costa Ricas Hauptsehenswürdigkeit zu bewundern: den größten Vulkan des Landes, den Irazii. 26
Die Berglandschaft unterhalb des Kratergipfels wirkt genauso überraschend und verblüffend wie der Krater selbst: dichte grüne Alpenmatten, Hänge und Bergweiden mit Nadelholzbäumen, Wacholder- und Heidekrautgewächsen, rieselnde Gebirgsbäche, Häuser und Sennhütten wie in den Alpen — man vergißt völlig, daß man sich in einem Tropenland, zehn Grad über dem Äquator, befindet; man glaubt irgendwo in Oberbayern oder in der Schweiz zu sein. Die Täuschung ist vollkommen, wenn dann noch braunes Alpenvieh über die Matten.zieht und wenn eine leuchtende Wolke das Haupt des Irazü einhüllt und ihn in einen Schneegipfel zu verwandeln scheint. Den Kraterrand des Irazü kann man bequem auf einer gutangelegten Bergstraße im Auto erreichen. Der Besuch der Nachbarvulkane aber — des dampfenden Turrialba zum Beispiel und des Poas, der beängstigende Schwefelwolken ausspuckt — erfordert schon eine regelrechte Expedition. Es gibt außerdem noch zahlreiche andere Vulkane und sogar ganze Vulkangebirge in Costa Rica; das kleine Land, das ungefähr so groß ist wie Südwestdeutschland, gehört zu den vulkanischsten Gebieten auf unserer Erde. Und die bedeutendsten dieser Vulkane sind nicht nur in Tätigkeit; sie verursachen auch von Zeit zu Zeit Erdbeben, die in Zentralamerika beinahe zum Alltagsleben gehören. Wenn man den Irazü gesehen hat, will man auch sein Opfer kennenlernen — die Ruinen von Cartago. Dieses mittelamerikanische Cartago, die frühere Hauptstadt Costa Ricas, wurde nicht wie das nordafrikanische Karthago einmal, sondern viermal bis auf die Fundamente zerstört — in den Jahren 1723, 1825, 1841 und zuletzt, in der größten Erdbebenkatastrophe Costa Ricas, am 4. Mai 1910. Jedesmal trug der unheimliche rauchende Riese, der Irazü, die Schuld daran. Heute leben in Cartago nur halb soviel Menschen wie vor hundertfünfzig Jahren. Die Stadt besteht — wegen der Einsturzgefahr — in der Hauptsache aus einstöckigen Häusern; und von Alt-Cartago sind lediglich die grauen, grünbewachsenen Trümmer der Kathedrale übriggeblieben. Hauptstadt des Landes ist seit langem das etwas stabilere San Jose, das einige Kilometer weiter vom Irazü entfernt ist. Fast alle nennenswerten Städte Costa Ricas — von den Häfen abgesehen — liegen dicht beieinander auf einer kleinen Hochebene im Landesinnern, die knapp die Größe eines deutschen Landkreises hat. Dieses Hochbecken, die Meseta Central, ist von Gebirgsketten eingerahmt und hat eine Höhe von durchschnittlich zwölf- bis fünf27
zehnhundert Metern — hier herrscht also ein angenehmes gemäßigtes Klima, das auch für Nord- und Mitteleuropäer erträglich ist. „Garten Amerikas" — so nennen die Einwohner voll Stolz ihre Landesmitte; denn sie gehört zu den fruchtbarsten Gegenden des karibischwestindischen Raumes. Auch das verdankt Costa Rica dem Irazü und seinen rauchenden Nachbarn. Die dunkle Vulkanasche, aus der hier die oberste Erdschicht besteht, ist ein besonders idealer Boden für die verschiedensten Pflanzen — vor allem für das Nationalprodukt Nummer eins, für den Costarica-Kaffee. Costa Rica liegt zwar — wie bei einem so kleinen Land nicht anders zu erwarten ist — der Menge nach nur an zehnter Stelle der Kaffeeländer; der Güte nach aber streitet es sich mit den beiden anderen mittelamerikanischen Kaffeestaaten, mit Guatemala und Salvador, um den ersten Platz. Von europäischen Reisenden und Geschäftsleuten wird Costa Rica gern als Musterland bezeichnet, als die „Schweiz Lateinamerikas". Nun — ein tropisches Musterland ist in den Augen des Durchschnittseuropäers ein Land, das nicht sonderlich tropisch wirkt, in dem zum Beispiel nur wenige Farbige wohnen, dessen Straßen und Märkte nicht allzu fremdländisch aussehen und das viele europäische Eigenheiten besitzt — das, mit anderen Worten, an die Heimat erinnert. Und das ist auf der kleinen fruchtbaren Hochebene von Costa Rica in der Tat der Fall. Die Bevölkerung besteht hier nahezu ausschließlich aus Weißen, aus den Nachkommen spanischer Pflanzer und Kleinbauern, die sich seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in der Meseta Central niedergelassen haben. Eine Croßgrundbesitzerschicht wie in anderen lateinamerikanischen Ländern und eine damit verbundene Sklavenwirtschaft hat es in dieser kleinbäuerlichen „amerikanischen Schweiz" nie gegeben. Auch mit Indianern haben sich die weißen Kolonisten kaum vermischt. Die wenigen einheimischen Indianerstämme wurden schon früh in die Wälder abgedrängt, wo ihre Reste heute noch wohnen; die starken Indianervölker aus dem benachbarten Nicaragua und Honduras aber waren drei Jahrhunderte lang die geschworenen Erbfeinde, mit denen die kleine Bauernkolonie möglichst nichts zu tun haben wollte. Die Hauptstadt San Jose, in der heute ein Zehntel der Bevölkerung Costa Ricas lebt, ist wohl die europäischste Hauptstadt Lateinamerikas — ein sauberes, wohlgeordnetes, modernes Geschäftsund Kulturzentrum, in dem mir vor allem die erstaunlich reichhaltigen Buchläden aufgefallen sind, mit Promenaden, Cafes und Parks, die etwas an eine französische Provinzstadt erinnern, und 28
einem Theater, das eine verkleinerte Nachbildung der Pariser Oper ist. San Jose wuchs nicht — wie die meisten lateinamerikanischen Großstädte — in den letzten zwanzig Jahren zu einer Wolkenkratzer-City heran; das verbot sich schon wegen der Erdbebengefahr. Es besitzt zwar zahlreiche moderne Bauwerke und auch einige Hochhäuser, aber nicht mehr als eine europäische Stadt von ähnlicher Größe. Eine Stadt also, die dem Europäer viel vertrauter, viel heimatlicher vorkommt als die südamerikanischen Riesenstädte. Außerdem wohnt hier in San Jose eine starke europäisch-nordamerikanische Kolonie, die das Gesicht der Stadt mitprägt: Kaufleute, Hotelbesitzer, Ingenieure, Wissenschaftler und viele andere Gruppen. Auch den übrigen Bewohnern von San Jose, den Ladenbesitzern, Verkäufern, Arbeitern und Passanten, fehlt der farbige Einschlag. Sie sehen genauso aus wie wir, sie benehmen sich genauso — und das rührt den europäischen Gast, der sich plötzlich wie zu Hause fühlt: Er ist begeistert von San Jose, er wird fortan das Loblied des Landes Costa Rica singen. Nun ist Costa Rica in der Tat so etwas wie ein westindisches Musterland — freilich nicht, weil es so weiß, so europäisch ist, sondern weil in diesem kleinen Bauernstaat die schroffen sozialen Gegensätze und Spannungen fehlen, die tiefen, erschreckenden Gegensätze zwischen reich und arm, die sonst für Mittel- und Südamerika charakteristisch sind. Costa Rica ist ein Land des Mittelstandes. Es hat den höchsten Bildungsdurchschnitt und — neben Uruguay — die weitaus geringste Analphabetenzahl in Lateinamerika. An eine vernünftige Bodenreform ist Costa Rica bereits vor mehr als hundert Jahren herangegangen: Es hat einen großen Teil seiner Gemeinde- und Staatsländereien an landhungrige Siedler verteilt. Ein bettelarmes, besitzloses Landproletariat, das in anderen Ländern einen Großteil der Bevölkerung und zugleich einen ständigen Unruheherd bildet, gibt es hier nicht. Und die dünne Schicht altkonservativer Familien — auch die gibt es natürlich in Costa Rica — besteht weder aus Multimillionären, noch beherrscht sie — wie in den Nachbarstaaten — die Wirtschaft, die Finanzen und die Politik des Landes. Zwar gab es auch in Costa Rica — wie überall im lateinamerikanischen Raum — die verschiedenartigsten Putsche, Aufstände und Umstürze, durch die bald die eine, bald die andere Interessengruppe an die Macht gebracht werden sollte. Vor etwa zehn Jahren tobte dort sogar ein regelrechter Bürgerkrieg. Aber in den meisten Fällen rebellierten die Costarizenser, wenn eine Regierung gegen die de29
mokratischen Spielregeln verstieß, wenn ein Präsident diktatorische Gelüste bekam oder wenn eine Wahl nicht ganz einwandfrei verlief. Inzwischen aber ist die Demokratie hier so gefestigt, daß Costa Rica zu den wenigen Staaten auf unserer Erde gehört, die es sich leisten konnten, ihr Heer abzuschaffen und eine nahezu völlige Abrüstung vorzunehmen: eine Maßnahme, die uns Europäer auf dem Pulverfaß der großen Weltpolitik wie ein wunderbares Märchen vorkommt. Ich habe bisher nur von dem kleinen Hochbecken im Vulkangebirge gesprochen, der Meseta Central, dem Kaffeegebiet, in dem die wichtigsten Städte liegen und in dem zwei Drittel der Bevölkerung leben. Aber Costa Rica besteht nicht nur aus diesem kühlen Hochland, sondern auch aus den Abdachungen, die sich zum Atlantischen und zum Stillen Ozean senken, und aus einer sehr heißen, sehr tropischen Küstenzone. Hier sieht das Musterland, der „Garten Amerikas", ganz anders aus: wild, fremd, farbenprächtig — so, wie man sich Mittelamerika meist vorstellt. Drei Viertel des Landes sind noch von tropischem Urwald bedeckt — einem herrlichen, außerordentlich blumen- und vogelreichen Bergwald, der in großen Teilen noch kaum erschlossen ist. Dort leben die letzten Indianer — zwei Stämme von etwa hundert Köpfen —; dort brechen Wasserfälle und schäumende Bergflüsse durch das grüne Dickicht; und dort haust — im menschenleeren Süden vor allem — eine hochinteressante Tierwelt: Affen, Papageien und Pfefferfresser, Raubkatzen, Faultiere, Tapire und bunte, glänzende Riesenschmetterlinge. Costa Rica ist auch eines der orchideenreichsten Länder der Erde. Außerdem gibt es hier — auf diesem schmalen Raum zwischen Atlantik und Pazifik — dreimal soviel Vogelarten wie in ganz Europa. Eine sehr berühmte Eisenbahn, die einmal eine große Rolle im Wirtschaftsleben gespielt hat, verbindet die beiden Ozeanküsten. Sie beginnt in Puerto Limon am Karibischen Meer, windet sich durch den Bergurwald auf die Hochebene, berührt die Hauptstadt und einige andere Städte und klettert dann zum Stillen Ozean hinab — nach Puntarenas. Wenn man sie benutzt — und nahezu jeder Tourist tut das •—, dann erlebt man sämtliche Landschaftsformen Costa Ricas. Mit dem Bau der Linie begann man im Jahre 1884, dreißig Jahre vor Eröffnung des Panama-Kanals. Sie wurde 1900 fertiggestellt und war die erste — und für lange Zeit die einzige — Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik in Mittelamerika. Was das für Costa Rica bedeutete, dafür nur ein einziges Beispiel: Vor dem Beginn des Bahnbaus hatte Costa Rica jährlich höchstens 360 30
Büschel Bananen ausgeführt — eine so winzige Menge, daß sie in den Statistiken überhaupt nicht erwähnt wurde. Nach Fertigstellung der Bahnlinie aber führte das Land zehn bis zwölf Millionen Büschel Bananen pro Jahr aus — die Ausfuhr stieg also innerhalb zweier Jahrzehnte um das Dreißigtausendfache! Seit dieser Zeit sind die heißen Küstenniederungen Costa Ricas Plantagengebiete geworden. Hier regiert die ungekrönte Königin Zentralamerikas — die United Fruit Company. Dieses größte FruchtUnternehmen der Welt, das halbe Länder urbar gemacht und schon Revolutionen entfacht, Regierungen gestürzt und eingesetzt hat, pflanzt in Costa Rica außer Bananen hauptsächlich Kakao und Manilahanf an — eine Faser, die man aus einer Bananen-Art gewinnt. Für karibische Revolutionäre ist die United Fruit Company das rote Tuch: Die Enteignung ihrer Plantagen gehört zum Programm eines jeden Extremisten — so zum Beispiel 1932 in Salvador, 1950 in Guatemala und heute bei Fidel Castro in Kuba. In Costa Rica aber denkt kein Mensch daran, diese große nordamerikanische Bananen-Kompanie anzugreifen oder zu enteignen. Man macht im Gegenteil gute Geschäfte mit ihr und ist dankbar, daß sie mithilft, den Bahn- und Straßenbau zu finanzieren. Denn — wie gesagt — verelendete Landproletarier, die nach den Riesenländereien der United Fruit hungern könnten, gibt es in Costa Rica nicht. In diesen Bananen- und Kakao-Gebieten Costa Ricas, vor allem in der großen Provinz Limon am Karibischen Meer, wohnen ganz andere Menschen als auf dem Hochland. Zahlreiche Neger und Mulatten, hauptsächlich aus den übervölkerten britisch-westindischen Inseln, sind hier eingewandert; sie arbeiten in den Häfen und Plantagen, haben sich Holzhäuser und Holzhütten ihrer Art erbaut wie in Trinidad und Jamaika und verzieren dieses weißeste, europäischste aller karibischen Länder mit fröhlichen farbigen Tupfen. Die Gegensätze zwischen der kühlen Hochebene und dem bunten Küstenland sind überraschend; es ist, als ob man plötzlich ein ganz anderes Land, ja, einen anderen Erdteil betreten hätte. Der Hafen Limon — ein buntbelebter Markt wie auf den Antillen, ein Park voller Riesenbäume, von denen gewaltige Luftwurzeln herabhängen und in denen Faultiere herumklettern, eine Insel darin — La Uvita —, die aus einem Tropenbilderbuch stammen könnte, Lehmstraßen, auf denen dunkelhäutige Kinder spielen, Waggons voller Bananen, die zu den Schiffen rollen, dschun31
gelartige Pflanzungen, wo die Orchideen über rotbraunen Kakaoschoten pendeln: Auch das ist Costa Rica — genauso wie die Musterstadt San Jose hoch droben auf der Hochebene Meseta Central, genauso wie der brodelnde Krater des unheimlichen Riesen Irazu.
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