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Scan by Schlaflos Von Alan Dean Foster erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: * Die Eissegler von Trancky-ky • 06/3591 * Das Tar-Aiym Kräng ■ 06/3640 * Die denkenden Wälder • 06/3660 Alien • 06/3722 * Der Waisenstern • 06/3723 * Der Kollapsar • 06/3736 * Die Moulokin-Mission • 06/3777 Kampf der Titanen • 06/3813 Outland • 06/3841 * Cachalot • 06/4002 * Meine galaktischen Freunde • 06/4049 * Auch keine Tränen aus Kristall ■ 06/4160 * Homanx Eins ■ 06/4220 3 Romane in Kassette zum Sonderpreis Das Tar-Aiym Kräng Der Waisenstern Der Kollapsar Der Bannsänger-Zyklus:
Bannsänger • 06/4276 Die Stunde des Tors • 06/4277 Der Tag der Dissonanz ■ 06/4278 Der Augenblick des Magiers ■ 06/4279 Die Pfade des Wanderers • (in Vorb.) Colligatarch ■ 06/4338 * Die Reise zur Stadt der Toten • 06/4308 El Magico • 06/4355 Das Schloß der Wunder ■ (in Vorb.) In der ALLGEMEINEN REIHE: Das Ding aus einer anderen Welt • 01/6107 Krull • 01/6286 Starman ■ 01/6369 Pale Rider. Der namenlose Reiter • 01/6596 Aliens ■ 01/6839 Die mit * gekennzeichneten Romane und Erzählungen spielen in Alan Dean Fosters Homanx-Commonwealth. Siehe dazu den Aufsatz »ALAN DEAN FOSTERS HOMANX-UNIVER-SUM. DIE COMMONWEALTH-KONKORDANZ« von Michael C. Good-win, in: HEYNE SCIENCE FICTION MAGAZIN 12 (HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY, Band 06/4167).
ALAN DEAN FOSTER
El Magico Science Fiction Roman Deutsche Erstveröffentlichung WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4355 Titel der amerikanischen Originalausgabe SLIPT Deutsche Obersetzung von Heinz Nagel Das Umschlagbild schuf Klaus Holitzka Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1984 by Alan Dean Foster Copyright © 1986 der deutschen Obersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1986 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-31362-3
Für Sissy und Randy Shimp, Freunde, die immer da sind, wenn man sie braucht. Für Rübe Cozart, der, indem er nie viel sagt, vieles sagt. Und ganz besonders für Jane Cozart, die sich selbst zur bösen Hexe des Westens ernannt hat, und in Wirklichkeit Glinda, die gute Hexe des Ostens ist.
1 Die Alpträume hatten im Laufe der Jahre nachgelassen, aber dann hatten sie sich diesen Sommer um so heftiger wieder eingestellt. Seit dem Unfall waren sechs Jahre verstrichen, und doch sah sie ihn im Schlaf ebenso deutlich, als hätte er sich erst gestern ereignet. Und der Traum ließ die Einzelheiten keineswegs undeutlicher erscheinen. In mancher Hinsicht waren die Alpträume jetzt sogar noch schlimmer als gleich nach der Katastrophe. Die Zeit ließ die Erinnerung langsamer ablaufen, und jede Sekunde verging im Zeitlupentempo. Immer wieder starben sie und bluteten dabei in Zeitlupe. Langsam starben sie. Das Quietschen der Bremsen und der so erschütternd uncharakteristische Fluch von Mrs. Robish, während sie
sich vergebens abmühte, den alten Schulbus zu Dingen zu veranlassen, für die er nicht gebaut war. Das dröhnende, alles überwältigende Kreischen der Zugpfeife, die vor dem bevorstehenden Unheil warnte. Eine Empfindung, so etwa, wie wenn man am Strand von einer großen Welle erfaßt wird, die sie in dem Bus herumwarf. Salzige Feuchte, aber nicht die des Meeres, sondern vom Blut, das aus Dutzenden kleiner, zerfetzter Leiber spritzte, während die Lokomotive sich in die Breitseite des hängengebliebenen Busses bohrte. Doch mehr als an alles andere erinnerte sie sich an die Ruhe, die sie erfaßt hatte. Sie hatte nicht geschrien wie die übrigen Kinder alle. Sie erinnerte sich ganz deutlich daran, wie sie damals gedacht hatte, das Innere des Busses sei zu Schnee geworden. Sie hatte nie Schnee gesehen, nur auf Bildern; aber so stellte sie sich Schnee vor, so wie die Millio7
nen Glassplitter, die das Innere des Busses füllten, als die Fenster wie von einer Explosion nach innen platzten. Und dann hatte die Welle sie wieder gepackt und hatte sie nach hinten geschleudert. Sie war auf dem letzten Sitz gesessen. Sie erinnerte sich daran, wie sie Schrotkugeln in eine Blechdose getan und sie dann geschüttelt hatte, um damit ein entfernt an Musik erinnerndes Geräusch zu erzeugen. Sie hatte die Dose geschüttelt und die Schrotkörner tanzen lassen, so wie ihre Freunde an jenem Nachmittag durch den Bus flogen. Kleine, weiche Leiber, die plötzlich nicht mehr am Leben waren und mit nassem Klatschen gegen die Wände prallten; Leiber, die dann zermalmt und zerfetzt wurden. Und ihr empörter Kleiner-Mädchen-Verstand verdrängte den Anblick, so gut er das konnte, und ließ nicht zu, daß sie die abgetrennten Arme und Beine zur Kenntnis nahm, die rings um sie herum durch die Luft flogen. Sie erinnerte sich daran, wie sie Jimmy Lee Cooper zusah, wie er an ihr vorbeischwebte, mit irgendwie traurigem Gesicht (oder was davon übrig war). Und dann ein betäubender, zerrender Schmerz in ihrem Rücken, der sie mehr erschreckte, als er ihr weh tat, als sie durch die zerbrochene Heckscheibe flog, ganz so wie die Superhelden in den Trickfilmen am Samstagmorgen. An diesem Tag war es warm gewesen, selbst für südtexanisches Küstenland. Sie erinnerte sich noch an die Wärme, die sie einhüllte, als sie durch die Luft schwebte, sah noch vor sich, wie das zerquetschte Wrack des Schulbusses die Gleise hinunter entschwand, während der Berg, als der ihr der Zug erschien, es vor sich herschob. Jimmy Lee Cooper sah sie nie wieder. Nur seinen Sarg bei dem Massenbegräbnis. Und dann war sie auf dem Boden aufgeprallt und hatte schließlich aufgehört sich zu bewegen. Sie war dafür dankbar gewesen, weil sie eine Art von Übelkeit zu empfinden begann. Ihr ganzer Körper war wie taub, so als hätte ihr der Zahnarzt, Dr. Franklin, am ganzen Leib Novocain verpaßt und nicht nur an dem einen schlimmen Zahn, den er ihr vor 8
einigen Monaten gerichtet hatte. Und jetzt wurden alle anderen Geräusche von einem zornigen, scharfen Kreischen verdrängt, während der Zug versuchte, zum Stehen zu kommen. Und dann waren die Leute gekommen, waren die Straße heruntergelaufen, auf der der Bus gewesen war. Aus ihren Wagen strömten sie heran und rannten auf die Gleise zu, auf den jetzt fast zum Stehen gekommenen Zug zu und auf das, was von dem Schulbus übriggeblieben war. Das Kreischen der Zugbremsen wurde jetzt von vielen, viel weicheren Schreien verdrängt. Sie hatte noch nie Erwachsene so schreien hören, und es versetzte sie in panische Angst. Ob sie versucht hatte aufzustehen oder nicht, erfuhr sie nie. Sie wußte nur, daß sie nicht aufstand. Außerdem war ihr auch gar nicht danach, sich zu bewegen. Wohin hätte sie sich auch bewegen sollen? Sie würden alle zu spät zur Schule kommen, dachte sie, und fragte sich, ob es als Entschuldigung für Mrs. Romero wohl ausreichen würde, daß ein Zug den Bus erfaßt hatte. Sie blickte an sich hinab und sah, daß ihr Kleid ganz zerrissen und daß sie über und über schmutzig war. Da war auch eine Menge Blut, aber es schien nicht das ihre zu sein. Woher sie das wußte, konnte sie nicht genau sagen, aber später stellte sich heraus, daß sie recht gehabt hatte. Und dann war da jemand, der sich über sie beugte, auf sie herunterblickte. Ein Mann, der einen blauen Overall und ein weißes Hemd und einen breiten texanischen Hut trug. Er stand einfach da und starrte sie an und redete schnell mit sich selbst. Sie wußte nicht, warum er eigentlich die ganze Zeit von Jesus sprach, weil sie doch nicht in der Kirche waren. Er kniete neben ihr nieder, und sie erinnerte sich daran, daß er ein nettes, altes Gesicht gehabt hatte; ein Gesicht, das von vielen Jahren in der Sonne des südlichen Texas braungegerbt war. Er schob sich den Hut zurück und benutzte ihn dann dazu, Schatten für ihr Gesicht zu machen. Das Schreien hielt an, irgendwo in weiter Ferne. Dann 9
war da ein neues Geräusch: das lauter werdende Klagen eilig herannahender Sirenen. Zuerst war sie nicht sicher gewesen, daß es das war, weil sie vorher nie mehr als eine Sirene gleichzeitig gehört hatte. Wenn sie alle so zusammen klagten, dann war es schwer, sie zu identifizieren. Dann berührte sie der Mann, strich mit den Fingern über ihre linke Seite, von der Schulter bis hinunter zu ihrem Bein. Und dann zog er die Hand plötzlich weg, als ob er Feuer berührt hätte, und blickte ganz komisch. Dann stand er auf und redete. Sie erinnerte sich ganz deutlich an seine Worte, obwohl das weit zurücklag und sie sehr müde gewesen war.
»Brauchst keine Angst zu haben, kleines Mädchen. Das kommt schon wieder in Ordnung. Ich werd' jetzt Hilfe holen und bin gleich wieder da. Du darfst dich nur nicht bewegen. Verstehst du das?« Sie nickte. Sie wollte sagen: >Ich werd' mich nicht bewegen, Mister. Ich bin sehr müde, und ich will auch nicht aufstehen^ Aber sie sagte nichts. Er lächelte ihr zu; ein komisches Lächeln, gar nicht so beruhigend, wie er das wollte, und rannte auf die Straße zu. Zu den Sirenen, dachte sie. Und bald darauf beugten sich andere Leute über sie, und der nette Mann war bei ihnen. Sie keuchten alle ein wenig, so als ob sie gerannt wären. Der Farmer, der sie gefunden hatte, redete mit einem der jüngeren Männer in sauberen, weißen Mänteln. »Ich hab' ihr gesagt, daß sie sich nicht bewegen soll«, sagte er. »Ich glaube auch nicht, daß sie sich wirklich bewegt hat.« Dann untersuchten sie die jungen Männer, strichen mit den Händen über sie, und einer von ihnen sah seinen Freund an und sagte leise: »Wir müssen sie auf die Trage legen.« Der andere Mann nickte zustimmend. Dann spürte sie Hände unter sich. Sanfte, vorsichtige Hände, die sie anhoben. Sie erinnerte sich, wie sie zu ihnen gesagt hatte: »Ist 10
schon in Ordnung. Sie tun mir nicht weh. Es tut überhaupt nicht weh.« Einer der Männer im weißen Mantel hatte auf sie heruntergelächelt. Es schien so, als würde er sich große Mühe geben, nicht zu weinen, und es war komisch, so etwas an einem erwachsenen Mann zu sehen. Sie hatte das bisher erst ein- oder zweimal erlebt, als ihre Mommy nicht gewußt hatte, daß sie wach gewesen war. Aber an einem erwachsenen Mann hatte sie es noch nie gesehen. Dann legten sie sie auf etwas Flaches, Weißes. Fast hätte sie zu schreien angefangen, als sie sie anhoben, weil es sie an den Augenblick des Fliegens in dem sich überschlagenden Schulbus erinnerte, mit ihren Freunden, die dabei zerfetzt wurden, weil es sie daran erinnerte, wie sie durch das Heckfenster geflogen war. Aber als ihr dann klar wurde, daß sie gar nicht flog, sondern nur getragen wurde, lockerte sie sich wieder etwas. Sie schoben sie in einen großen Wagen, der oben ein rotes Licht hatte. Eine Ambulanz, dachte sie. Sie hatte immer schon in einer Ambulanz fahren wollen. Sie erinnerte sich daran, daß sie einen der netten Männer gefragt hatte: »Werd' ich die Sirene hören können?« Er hatte sie angelächelt, und sie hatte durch sein Lächeln hindurch seine Sorge gespürt und auch, daß er an ganz andere Dinge dachte, und hatte gesagt: »Sicher wirst du das Kleines, sicher.« Sie warteten eine Ewigkeit. Dann wurde eine zweite Trage gebracht und neben die ihre hineingeschoben. Auf der Trage war noch ein kleines Mädchen gewesen. Amanda dachte, daß sie wie Lucey Huddle aussah, aber sie war nicht ganz sicher, weil ein Stück von dem Gesicht fehlte. Als sie die Fahrt etwa zur Hälfte hinter sich hatten (sie fuhren sehr schnell, das wußte sie), zog der nette Mann, der ihr gesagt hatte, sie würde die Sirene hören können, ein sauberes Laken über Lucey Huddles Kopf. Als er sah, daß Amanda ihn dabei beobachtete, flüsterte er ihr zu: »Es ist schon in Ordnung. Sie schläft nur. Auf die Weise kann sie besser schlafen.« 11
Amanda nickte langsam, und das war ihre erste Bewegung seit langer Zeit. Sie gab keine Antwort, weil sie nicht wollte, daß der nette Mann verlegen wurde, weil sie wußte, daß er gelogen hatte. Und sie wollte nicht, daß er merkte, daß sie das wußte. Er sagte sonst nichts, sondern starrte nur irgendwie ins Leere. Aber hie und da riß er sich in die Wirklichkeit zurück und sah nach ihr. Es war seltsam, dachte sie, während die Ambulanz über den Highway raste. Einen Augenblick lang, wie sie da im Gras lag, in der Nähe der Cottonwoodbäume, hatte sie gedacht, sie würde sich selbst sehen können, aus der Luft. Eine komische Art, die Dinge zu sehen, dachte sie. Sie kicherte und erschreckte damit den netten Mann. Irgendwie eine feine Sache, sich selbst von oben sehen zu können, wie man auf dem Boden liegt. Sie erinnerte sich, wie sie sich selbst, über und über mit Blut beschmiert, liegen sah. Ihr blaues Kleid war zerfetzt, und ihre beiden Schuhe waren verschwunden (wo die bloß waren? dachte sie). Richtig verdreht und zerknüllt war sie dagelegen, wie eine Stoffpuppe, eine richtige Lumpenanni. Und dann der Farmer und die Männer in den weißen Mänteln, die auf sie heruntersahen. Sie erinnerte sich ganz deutlich an das alles, viel zu deutlich, als sie schwer atmend und in kaltem Schweiß gebadet aufwachte. Sie wußte, was passiert war, zwang sich dazu, sich im Bett aufzusetzen, bis sie wieder die Kontrolle über ihren Atem hatte. Dann wischte sie sich mit dem Laken den Schweiß weg. Der war schlimm, dachte sie. Aber wenigstens war sie diesmal nicht schreiend aufgewacht. Es tat weh, den Ausdruck im Gesicht ihrer Eltern zu sehen, wenn sie das tat und sie in ihr Zimmer gerannt kamen. Sie lauschte, ob sie sie hören konnte; aber aus ihrem Schlafzimmer vorne am Korridor war nichts zu hören, nur das Sommerkonzert, das die Grillen draußen lieferten, das gelegentlich vom beunruhigenden Dröhnen einer Zikade unterbrochen wurde. Und wenn die Grillen eine Weile 12
Ruhe gaben, konnte sie das schwache Klatschen des Wassers gegen die Seemauer hören, das den Hof schützte. Manchmal schnarchte ihr Vater, und das konnte sie auch hören; aber nicht in dieser Nacht.
Sie benutzte die linke Hand, um ihre Beine über die Bettkante zu schieben. Ihre Arme waren schlank, aber viel muskulöser, als man sie bei einem durchschnittlichen sechzehnjährigen Mädchen erwartete. Sie benutzte sie dazu, sich in ihren Rollstuhl zu stemmen. Ihr Nachthemd blieb einen Augenblick lang an einem der Bremsgriffe hängen. Sie zerrte gereizt daran, und es löste sich. Und jetzt herumdrehen und zum Fenster rollen, um dazusitzen und nachdenklich in die Nacht hinauszustarren. Es war fast Vollmond, und das Mondlicht leuchtete wie der Lichtkegel einer Taschenlampe auf die LavacaBucht herunter. Sie erinnerte sich an das Allerseltsamste an dem Zwischenfall, wie ihre Eltern das immer vorsichtig nannten. Das war auch in dem Alptraum gewesen; das einzige daran, was nicht alptraumhaft war. Da war noch jemand gewesen, der dastand und auf ihren kleinen, verkrümmten Körper herunterblickte - nur daß dieser Jemand nicht dagewesen war. Sie kannte ihn. Sie kannte ihn gut. Ein alter Mann, ihr Onkel Jake. Sie runzelte über sich selbst die Stirn, so wie sie das immer tat, wenn sie sich daran erinnerte, und wischte sich das lange, schwarze Haar aus der Stirn. Das Mondlicht, das durch das Fenster strömte, ließ ihr Gesicht fast engelhaft erscheinen, ließ die kupferne Haut und die scharfgeschnittenen Züge zum Leben erwachen, die ihre gemischt anglohispanische Herkunft widerspiegelten. Es hatte ihm leidgetan, sehr leid, daß er den Zwischenfall nicht hatte verhindern, ihr nicht irgendwie hatte helfen können. Aber er hatte ihr geholfen, einfach indem er bei ihr gewesen war. Onkel Jake war immer bei ihr gewesen. Das war ihr kleines Geheimnis. Als die Leute vom Krankenhaus ihre Mommy und ihren Daddy vor dem Operationssaal zu13
rückgehalten hatten, hatte Onkel Jake mit ihr hineingehen können. Sie dachte jetzt an ihn und war beunruhigt und wußte nicht, weshalb sie beunruhigt war. Und das machte sie noch unruhiger. Er war nicht verletzt, hatte nicht etwa einen Unfall gehabt, sonst hätte sie das gleich gewußt, sofort. Es hätte sie schneller aufgeweckt als jeder Alptraum, weil es echt gewesen wäre. Alles, was Onkel Jake widerfuhr, war für sie wirklich. Sie hatte es damals gewußt, als er das Wohlfahrtsbüro aufgesucht hatte und als sein Temperament mit ihm durchgegangen war. Er hatte sich damals richtig aufgeregt, und das sollte er nicht, und sein Herz, was das Schwächste an ihm war, das Älteste, hatte angefangen weh zu tun. Der gleichgültige Gesichtsausdruck des Bürokraten hinter dem Schreibtisch hatte sich in Schrecken verwandelt, und dann hatte man andere Leute gerufen. Aber er hatte das gut überstanden. Und dann, damals, als er sich das Meisterschaftsspiel angesehen hatte und sein Fernseher ausgefallen war - da war er zugleich aufgeregt und zornig gewesen. Damals hatte sein Herz nicht so weh getan, aber es hatte ihr trotzdem Angst gemacht. Sie hatte ihren Onkel Jake viele Jahre lang nicht persönlich gesehen, genaugenommen nur zweimal; einmal gleich nach dem >Zwischenfall<, als er sie im Krankenhaus besucht hatte, und einmal vor zwei Jahren, als er fast den ganzen Sommer geblieben war. Aber er schickte ihr immer etwas zu Weihnachten und zum Geburtstag und war immer da, wenn sie mit ihm reden wollte. Das war ihr eigenes kleines Geheimnis, ihr ganz spezielles Geheimnis, und es gehörte nur ihr und Onkel Jake, dem verkrüppelten Teenager und dem arteriosklerotischen alten Mann. Sie dachte über ihre unbegründete Besorgnis nach und fragte sich, ob sie nicht vielleicht versuchen sollte, ihn jetzt anzurufen. Nein, sie würde zuerst über ihre Gefühle nachdenken müssen. Außerdem war es spät, und sie wollte ihn nicht wecken. Ein alter Mann brauchte seinen Schlaf. 14
Sie legte die Hände auf die glatten, kühlen Chromräder, drehte sich herum und rollte auf einen der beiden Bücherschränke zu, die vom Boden bis zur Decke reichten. Beide waren voll; die Regale zum größten Teil mit gebrauchten Taschenbüchern gefüllt. Amanda hatte das nie etwas ausgemacht; schließlich war ein Buch ein Buch, ob es nun einen wertvollen Ledereinband hatte oder nur einen zerrissenen aus Papier. Worauf es ankam, waren nur die Worte. Eine ganz schöne Bibliothek war das, und ganz beiläufig zwischen den Bänden über Pflanzen und Leute und Themen aus der Schule gab es auch Bücher mit komischen Titeln, Bücher, bei denen selbst ihre Mommy und ihr Daddy gar nicht erst vorgaben, daß sie sie verstanden. Aber bei einem Vierteldollar pro Buch war es ihnen gleichgültig, was sie auf ihren Fahrten nach Houston kaufte. Sie studierte die Regale und benutzte dann den mechanischen Arm, um nach oben zu greifen und einen ganz bestimmten Band herauszuholen. Der hatte ihr geholfen, sich selbst etwas besser zu verstehen. Vielleicht würde das Buch ihr jetzt auch zu verstehen helfen, weshalb sie sich um ihren Onkel Jake Sorgen machte. Sie machte sich häufig Sorgen um ihn, weil sie ihn liebte und weil er auf eine Art und Weise etwas Besonderes war, die nicht einmal ihre Eltern argwöhnten. Mehr als alles andere wollte sie ihn schützen. Das war komisch, weil Onkel Jake, abgesehen von seinem schwachen Herzen, ein robuster, energischer Mann war, und das, obwohl er schon in den Siebzigern war. Er konnte zumindest gehen, und das war etwas, was Amanda seit dem Zwischenfall nicht mehr konnte. Das käme von ihrem Rücken, hatten die Ärzte ihren Eltern gesagt. Es ist in ihrem Rücken, und wir können da nichts machen. Niemand kann da etwas machen. Tut uns wirklich leid. Und Achselzucken und auf Wiedersehen ... Sie erinnerte sich daran, was Gehen war - jetzt schon eine verblassende Erinnerung, eine süße, unschuldige
Erinnerung, ebenso wie all ihre anderen Kindheitserinnerungen. 15
Erinnerungen von vor dem Zwischenfall. Ihre Beine würden jetzt und in alle Zukunft rund und verchromt und kalt sein. Sie knipste die kleine Leselampe über ihrem Schreibtisch an und schob sie sich an ihrem Schwanenhals zurecht. Dann lehnte sie sich in dem Rollstuhl zurück und fing zu lesen an. In dem kleinen Buch gab es eine Menge großer Worte, Worte, die ihren Eltern nicht viel bedeuten würden; aber sie hatte sich mit ihnen vertraut gemacht und fühlte sich in ihrer Gesellschaft behaglich. Sie war eine gute Schülerin, manchmal sogar eine ausnehmend gute. Aber wenn man nicht ausgeht, keine Parties besucht, nicht zum Tanzen geht und die Wochenenden nicht auf einem Segelboot verbringt, hat man auch eine Menge Zeit zum Studieren. Der sonore Gesang der Insekten übertönte das vertraute Klagelied der Klimaanlage und des Entfeuchters. Etwas würde geschehen, das spürte Amanda, und es hatte irgendwie mit ihrem Onkel Jake zu tun. Vielleicht würde es sich ausbreiten und sie auch betreffen, weil sie ebenso eng mit ihrem Onkel Jake verbunden war wie er mit ihr. Und es ist etwas Schlimmes, dachte sie ängstlich. Etwas sehr Schlimmes. Aber wenigstens hatte sie nicht das Gefühl, als ob es mit Zügen zu tun hätte, wenn sie auch nicht sicher war, ob es nicht vielleicht mit Bussen zu tun hatte. Und der Gedanke ließ sie ein wenig ruhiger werden. Nach einer Weile sank sie in tiefen, alptraumlosen Schlaf. Das Buch entglitt ihrer schlaffen Hand und schloß sich auf dem Boden. 16 2
Derselbe fette, silberne Mond, der über der südtexanischen Küste auf die Bucht von Lavaca herunterstrahlte, beleuchtete auch ein winziges Tal in der Nähe des kleinen Städtchens Riverside in Kalifornien. Und nur der Mond sah zu, wie sechzig, und keineswegs sechshundert in das kleine Tal des Todes ritten. Sie saßen auch auf Stahl und Gummi und nicht zu Pferde. Und da waren keine Kanonen, die darauf warteten, ihnen Feuer und Tod entgegenzuschleudern. Dies waren auch nicht die Hügel der Krim, und der Angriff auf das kleine Tal wurde in aller Stille und Verstohlenheit durchgeführt, so still und so verstohlen, wie die Eindringlinge das nur konnten. Der General, der die Attacke leitete, hatte in Chemie und Betriebswirtschaft promoviert. Seine Soldaten waren mit Hacken und Schaufeln, mit Bulldozers und Diesel-Lkws bewaffnet. Der Feind, gegen den sie kämpften, war ebenso tödlich wie unsichtbar. Und er bewohnte das Tal nicht etwa - er erfüllte es. In jener schüsselförmigen Senke in den Bergen östlich der weitgedehnten Metropole von Los Angeles lebte nichts. Ein paar verdrehte, knorrige Gestalten griffen mit ausgebleichten Fingern nach dem Mond: die Skelette der Mesquite, des Cottonwood und der Krüppeleiche, die einst auf dem Boden des Tales gediehen waren. In den letzten fünfzig Jahren hatte eine beunruhigende Vielzahl industrieller Abfallprodukte das Grundwasser vergiftet, aus dem ihre Wurzeln Nahrung bezogen hatte. Jetzt wuchs dort nicht einmal mehr Unkraut. 17
Auf dem tiefsten Punkt des Tales hatte sich ein täuschend unschuldig aussehender Tümpel einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die mit schmutzigem Schaum gesprenkelt war, angesammelt. Die kleine Armee in Schutzanzügen behandelte den Tümpel mit besonderer Sorgfalt. Eine Mischung aus Regenwasser und Säuren, Schlamm und Dingen mit langen, zungenbrechenden Namen füllte ihn. Und rings um den Tümpel standen verrostete, zerbrochene Metallfässer Wache, wie Gespenster mit kräftigen Rippen. Leise und schnell machten sich die Männer und Maschinen an die Arbeit. Keiner redete. Zum einen erschwerten die Atemgeräte und Masken, die sie trugen, die Unterhaltung; zum anderen war ihr Stillschweigen nicht nur für den Erfolg ihrer Operation von Bedeutung, sondern auch dafür, daß jeder Arbeiter einen dreifachen Überstundenbonus bekam. Und diejenigen, die mit Schaufeln und Saugschläuchen arbeiteten, zupften häufig und instinktiv an den dicken Handschuhen, die ihre Hände schützten. An den Hügelflanken im Osten und Süden leuchteten schwach ein paar Lichter durch die späte Sommernacht. Einmal protestierte das Getriebe einer Bodenfräse laut gegen zu hastiges Schalten. Sofort kamen Mechaniker gerannt, um den Klagelaut zum Verstummen zu bringen, und packten zusätzliche Schallisolierung um das Getriebe. Die Attacke war sorgfältig geprobt und lief mit bewunderungswürdigem Tempo ab. Es war schon ein gutes Stück nach Mitternacht. Ehe der erste Sonnenstrahl über San Gorgonio aufleuchtete, würde jeder Arbeiter und jede Maschine das Tal wieder verlassen haben müssen, und die Arbeit mußte abgeschlossen sein. Während der Angriff ablief, lehnten ähnlich maskierte Arbeiter oben auf dem Ostkamm an ihren Lkws. Sie unterhielten sich leise und blickten wartend auf die hektische Betriebsamkeit hinunter. Auf den Ladeflächen ihrer Fahrzeuge lagerte ein seltsames Sortiment von Vegetation, eine Parodie der Gärtnerkunst. Da war junge Mesquite, Dornenbirne, Springerkaktus, Manzanita ... ein Querschnitt durch den 18
wilden Chaparral, der die trockenen Hügel von Südkalifornien wie eine Kruste überzog. Nein, keine Rosenbüsche, keine zarten Geranienbeete - die Landschaftsgärtner, die man dafür bezahlt hatte, um die natürliche Vegetation zu ersetzen, die von industriellen Giften ermordet worden war, fanden die ganze Geschichte absurd. Aber man hatte ihnen klargemacht, wie dringend das war, und sie hatten sehr viel Verständnis für das Geld, das man ihnen bezahlte. Während sie zusahen und warteten, blickten sie gelegentlich über das Tal zu den Lichtern, die sie an den
Hügelflanken sehen konnten. Aber aus den winzigen, baufälligen Häusern dort kam niemand, um neugierig auf die Arbeiten herunterzublicken, die unter ihnen abliefen. Es war mitten in der Woche. Morgen war ein Arbeitstag, und Arbeit war für das Überleben der Bewohner dieser Hütten und Baracken wichtig - soweit sie Glück hatten, einen Job zu besitzen. So ignorierten sie die schwachen Geräusche und widmeten sich dem viel notwendigeren Schlaf. Für sie war das Tal nichts - höchstens ein schmutziger, aber scheinbar sicherer Spielplatz für ihre zahlreichen Kinder. Die Eltern waren zu sehr mit dem Geschäft des Überlebens beschäftigt, um sich über das Tal Sorgen zu machen. Die meisten von ihnen konnten nicht einmal die langen englischen Wörter lesen, die man auf die zerbrochenen Fässer und Kanister gemalt hatte, die an den Talhängen herumlagen. Aber obwohl sich in den Hütten nichts regte, warteten andere Männer, die Geld und Holzknüppel bei sich trugen, um sie je nach Bedarf einzusetzen, um die Aufmerksamkeit zu reduzieren. Aber die Stunden gingen ihrer Wege, auf den Morgen zu, ohne daß es zu Störungen der schläfrigen Bürger kam, die gemächlich in ihren Betten über dem Tal ruhten. Nach weniger als einer Stunde war der bösartige kleine Tümpel trockengesaugt. Die Männer, die ihn geleert hatten, falteten sorgsam ihre Schläuche zusammen, stiegen in ihre Fahrzeuge und fuhren ihre gepanzerten Tankwagen die 19
kiesbedeckte Straße hinauf. Soweit die Kisten und Fässer noch intakt waren, hatte man sie auf unmarkierte Lkws geladen, die den Tankwagen nach oben folgten. Jetzt machten sich die Bulldozer ans Werk, und Brückenwagen bezogen Position. Schnell und präzise wurden die obersten fünf Meter tödlich verseuchten Bodens abgehoben und auf die wartenden Laster geladen. Dann breitete man dicke Plastikplanen darüber, um die Erde abzudecken und unsichtbar zu machen. Und dann folgten die Lkws den Tankwägen hinaus in die Wüste. Und gleich darauf spielte sich eine Parodie des Vorgangs, mit dem das kleine Tal vergiftet worden war, ab. Lastwagen polterten in das Tal hinunter, und frische Chemikalien in gutartiger Kombination wurden in den freigelegten Boden eingearbeitet. Als das abgeschlossen war, begann die Arbeit der Landschaftsgärtner. Sie kamen mit ihren Trucks und ihren Lastwagen und machten sich daran, die Flora zu ersetzen, die einmal dort gediehen war. Dabei waren sie aber stets sorgsam darauf bedacht, nicht mit der kürzlich behandelten Erde in Berührung zu kommen. Wassertrucks und Männer, die sich Kanister auf den Rücken geschnallt hatten, bewegten sich zwischen den Gärtnern. Jeder Busch, jeder Strauch und jedes sorgfältig manikürte Unkrautbett wurde reichlich mit sauberem, frischem Wasser besprüht, in das man konzentrierte Nährstoffe gemischt hatte. Und zwischen ihnen allen bewegten sich Männer und Frauen sichtlich anderer Herkunft. Sie bewegten sich langsamer, bedächtiger. Die Jeans und Flanellhemden, die sie trugen, hingen irgendwie unnatürlich an ihnen. Sie wichen den Gärtnern und Bewässerern aus und steckten Dinge in den Boden und taten das so ernsthaft und bedächtig wie ein Arzt, der die Temperatur eines Patienten mißt. Sie entnahmen Bodenfragmente und Wurzelstücke, steckten sie in Reagenzgläser und träufelten aus bereitgehaltenen Fläschchen Flüssigkeiten hinein. Und die Resultate flüsterten sie einander durch ihre Schutzmasken zu. Hie und da attackierten Trupps von Arbeitern isolierte 20
Stellen von krankem Boden, die übriggeblieben waren. Der Schnitt mußte total sein, sonst würde der Krebs sich wieder ausbreiten und die Arbeit der ganzen Nacht hinfällig machen. Nichts durfte für die Inspektoren zurückbleiben, nicht die leiseste Andeutung, daß fünfzig Jahre lang industrieller Abfall unberührt und unbehandelt in dieses Tal geschüttet worden war. Die Erde hier war schrecklich und brutal mißhandelt worden, die Reparaturarbeit war gründlich und teuer; aber die Reparaturen waren eher kosmetisch als ernsthaft. Das Tal konnte nie wieder das sein, was es einmal gewesen war. Die Männer auf den Erdbewegungsmaschinen, die Landschaftsgärtner und die Ingenieure waren Leichenbestatter, Leichenkosmetiker, keine Wiedererwecker. Wenn sie fertig waren, würde das Tal ganz natürlich aussehen. So ist das immer, wenn ein guter Balsamierer am Werk war. Aber darunter, die Substanz des Tales, das, was es einmal zu einem gesunden, normalen Stück Erde gemacht hatte - das Darunter würde ebenso tot wie vorher sein. Benjamin Huddy warf einen Blick zum Himmel und sah dann auf die Uhr. Die Uhr war sehr teuer und sehr genau. Fast vier. Sie würden bald Schluß machen müssen. Die Direktion der Westregion von CCM würde auf seinen Bericht warten, in dem hohen, sauberen Turm, den die Firma in West-Los Angeles besaß. Es würde eine Freude sein, diesen Bericht zu erstatten, überlegte er. Es hatte keine ernsthaften Störungen ihrer Arbeit gegeben. Da waren keine unerwarteten tiefen Schlammtümpel gewesen, die man hätte ausheben müssen. Keine unterirdische Aktivität, der man ausweichen mußte, und auch keine Spur einer Wasserader, die man hätte ableiten müssen. Dem Tempo nach zu schließen, mit dem die Landschaftsgärtner ihre Arbeit erledigten, würde das Tal binnen neunzig Minuten wieder seinen ungestörten Nachbartälern gleichen, die sich in vom Chaparral bedeckter Anonymität weithin nach Süden und Osten erstreckten. Ganz in der Nähe ragten die Zwillingsberge von San 21
Gorgonio und San Jacinto fast viertausend Meter in den immer noch dunklen Nachthimmel. Huddy wünschte sich, er stünde jetzt auf dem Gipfel des letzteren, statt hier über dem Tal stehen zu müssen und sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Es würde nett sein, in der Zahnradbahn nach Palm Springs hinunterzufahren und sich dort im Lakes oder irgendeinem anderen schönen Hotel ein Zimmer zu nehmen, zu duschen und vielleicht ein wenig Tennis zu spielen. Nach dem Job hier hatte er sich ein wenig Erholung verdient. Aber Palm Springs und die Erholung würden noch ein wenig warten müssen, das wußte er. Zuerst kam der Bericht an die Direktion und die Schreibtischarbeit nach dem Einsatz. Als einer der Abteilungsleiter von CCM erfahren hatte, daß die Inspektoren des Riverside County das Tal auf ihre Liste verdächtiger, unbefugter Chemieablagerungen gesetzt hatten, hatte es einen Ausbruch von Panik gegeben, der bis ins Firmenhauptquartier in New York zu verspüren gewesen war. Irgend jemand hatte sich einen Fehler geleistet. Es gab eine Anweisung, daß alle Abfallieferungen an Unterauftragnehmer weitergegeben wurden, die man nicht ausschließlich mit CCM in Verbindung setzen konnte. Aber jene Ablagerungsstelle war ein halbes Jahrhundert lang von der CCM benutzt worden, und in der ganzen Zeit war niemand auf die Idee gekommen, die Benutzung einzustellen. Dann tauchte der Bericht auf, und irgendein Angestellter erkannte die potentielle Gefahr für die Gesellschaft. Im Chemiebereich der CCM war es zu hektischem Geschrei gekommen, aber jene Wenigen, die einen kühlen Kopf behielten, beruhigten sie. Das Ganze war nur ein Problem, wenn auch ein ernsthaftes. Und Probleme erforderten eine Lösung. Huddy, der hoch genug in der Firma aufgestiegen war, um Zugang zu solchen gefährlichen Informationen zu haben, war derjenige gewesen, der die Antwort geliefert hatte. Er hatte gefühlt, daß es sich um eine jener seltenen Chancen 22
handelte/wie sie sich gelegentlich auf dem Schlachtfeld des Geschäftslebens bieten, und hatte die ganze Nacht gearbeitet und war dann bei einer hastig einberufenen Vorstandssitzung mit Tabellen und Statistiken erschienen, aus denen die Details seines Planes hervorgingen. Daß Ruth Somerset dabei geholfen hatte, das Ganze zusammenzustellen, erwähnte er nicht. Die Direktion war beeindruckt gewesen. Selbst Webster, der Schwiegersohn des Aufsichtsratsvorsitzenden der CCM, hatte sich ausgeschlossen gefühlt. Etwas widerstrebend, aber in überwiegendem Maße erleichtert, hatte sich die Direktion einverstanden erklärt, ihm und einem Kollegen das Projekt zu übergeben. Erst dann hatte er Somersets Namen erwähnt. Tatsächlich waren die eigentlichen Säuberungsarbeiten, soweit es Huddy betraf, fast ein Kinderspiel gewesen. Die eigentliche Schwierigkeit waren die komplizierten Manöver gewesen, derer es bedurft hatte, um alles vorzubereiten und das Inspektionsteam aufzuhalten. Doch Überredungskunst und subtile Drohungen, Argumente und geschickt eingesetzte Bestechung hatten das ihre getan. Morgen, vielleicht übermorgen, würden die Bezirksinspektoren eintreffen und ein einfaches, kleines Tal vorfinden, das seinen Nachbarn aufs Haar glich, und keineswegs einem uralten, mißbrauchten Ablagerungsplatz, der mit genügend toxischen Chemikalien durchsetzt war, um ein paar tausend Elefanten umzubringen. Vielleicht würde es nicht ganz so üppig erscheinen wie das Tal daneben, aber immerhin gesünder als die Wohnplätze, die es säumten. Dort oben wuchs nicht einmal mehr Mesquite. Nur alte Reifen gab es dort und zerfallene Autowracks aus den Fünfzigerjahren, Bierflaschen und Blechdosen in rostiger Fülle. Und die CCM würde dann mit beträchtlichem Firmenstolz und nicht wenig rechtschaffener Empörung darauf hinweisen können, daß das Tal, in dem man ihr vorwarf, illegal Chemikalien abzulagern, in Wirklichkeit ein viel ge23
sünderer Ort war als die bewohnte Kiesstraße, die an den umliegenden Hügelkämmen entlangführte. Huddy sah zufrieden zu, wie die Landschaftsgärtner ihren Auftrag beendeten und wie die Prüfcrew zielbewußt zwischen den neugepflanzten Bäumen und Büschen dahinzog. In weniger als sechs Stunden hatten seine Leute sowohl dem Aussehen als auch der Messung nach fünfzig Jahre unerlaubter Ablagerungen der Fabriken Riverside, Barstow und Perris der Consolidated Chemical and Mining gesäubert. Keiner der an der Aktion beteiligten Angestellten hatte gegen die Geheimhaltung protestiert. Bei den meisten handelte es sich ohnehin um Personal der CCM, das gewöhnt war, das zu tun, was man von ihnen verlangte. Und von den anderen erkauften große Prämien sowohl Schweigen wie auch Loyalität. Außerdem - selbst wenn es sich um eine etwas irreguläre Operation handelte, war doch das Endergebnis, die Säuberung des Areals, etwas Nützliches. Worauf sonst kam es denn an? Niemand würde etwas davon haben, die Firma für die Fehler der Vergangenheit zu bestrafen. Wenn wirklich jemand etwas sagte, dann würden doch schließlich nicht die Arbeiter aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren mit ihrem Job für ihre Fehler bezahlen. Die eingesetzte Logik variierte, aber das Ergebnis war dasselbe. Jeder Angestellte schaffte es irgendwie, den Vorgang zu seiner persönlichen Zufriedenheit zu begründen. Warum auch sich selbst Schwierigkeiten machen? Wenn die Müllhalde so gefährlich war, dann hätte man das doch inzwischen längst bemerkt, nicht wahr? Da war es doch besser, den Mund zu halten und das zu tun, was man einem auftrug. Besonders wenn eine negative Bemerkung nicht nur dazu führen konnte, daß man seinen Job verlor, sondern auch, daß einen keine einzige große Firma in ganz Amerika mehr einstellte.
Es ist schwer, empört zu sein, wenn man Kollegen hat, die nicht dasselbe empfinden, oder wenn man eine Familie ernähren muß. Nein, da war es schon besser, wenn man ein24
fach seine Arbeit tat und später versuchte, nicht davon zu träumen. Was diese Trupps antrieb, war ein gemeinsames Ziel, war Furcht, war Habgier. Huddy hätte sich selbst ein Bild dieser Dinge verschaffen können, zog es aber vor, diese Phase des Einsatzes Untergebenen zu überlassen. Er redete nicht gern mit Leuten, die mit den Händen arbeiteten. Für einen intelligenten Mann wie ihn kennzeichneten die Themen Bier und Fußball in etwa die Grenzen seiner Interessen. Er sah jünger als seine vierzig Jahre aus, obwohl das Grau an seinen Schläfen (von seinem Friseur sorgfältig gepflegt, um ihm jenes distinguierte Aussehen des jungen leitenden Angestellten zu verleihen) sein echtes Alter andeuteten. Er war hochgewachsen und hager, eine elegante Vogelscheuche, die ein freundliches, jungenhaftes Grinsen kultivierte, das ihm den Zugang zu ebenso vielen weiblichen Schlafzimmern wie Firmenbüros verschafft hatte. Er war jetzt seit zehn Jahren bei der CCM. Wenn alles wie geplant ablief und die Bezirksinspektoren in dem Tal nicht genug fanden, um darüber Gestank zu verbreiten (er lächelte bei sich über das Wortspiel), dann sollte ihn wenigstens die Prokura erwarten. Und wenn das Ganze sich bis nach New York herumsprach, dann war es nicht einmal ausgeschlossen, daß er in die Zentrale berufen wurde. Sein Blick wanderte zu der Straße hinunter. Eine Gestalt in Blue jeans kam auf ihn zugeklettert. Ihre Umrisse unterschieden sich in höchst auffälliger und wohltuender Weise von denen der Arbeiter, die darunter saubermachten. Zusätzlich zu dem Karriereerfolg, den die Operation ihm versprach, war da noch Ruth. Sie war zehn Jahre jünger als er, in mancher Hinsicht weiser, in anderer ganz das Gegenteil. Sie war nicht seine Assistentin. Aber als stellvertretende Chefprogrammiererin für den Datenverarbeitungsbereich der Westsektion der CCM in West-Los Angeles hatte sie Zugang zu Informationen, die außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches lagen; Informationen, zu denen er unter normalen Umständen keinen Zu25
gang hatte. Sie war sein Maulwurf, sein Auge und sein Ohr zu den übrigen Aktivitäten der Firma. Er hatte mehr als einmal seine Information dazu benutzt, um seine Kollegen und Konkurrenten in den Konferenzen und Direktionsscharmützeln auszumanövrieren, wo Firmenhäuptlinge gemacht oder zerbrochen wurden. Daß sie an einer solchen Expedition wie dieser teilnahm, war nicht ungewöhnlich. Ihre Abteilung war damit beauftragt, Daten, Akten und Frachtbriefe zu ändern, um die Inspektoren und sonstige bürokratische Wachhunde zu verwirren. Huddy hatte vor, dabeizusein, wenn die Bezirksinspektoren schließlich daran gingen, das Tal zu inspizieren. Er wollte sich an dem Ausdruck weiden, der sich ohne Zweifel in ihren Gesichtern einstellen würde. Selbstverständlich konnten sie die Geschichte der Müllhalde nicht völlig tilgen, ebensowenig wie sie das mit den Chemikalien nicht tun konnten, die sich im Boden breitgemacht hatten. Aber es würde reichen. Wenn hier schließlich die Sonne aufging, würde nicht genug Gift im Tal übrig sein, um für irgend etwas, das größer als ein Schmetterling war, eine Bedrohung darzustellen - zumindest an der Oberfläche. »Fast fertig, Benjy«, sagte sie zu ihm. »Fast.« Niemand beobachtete sie, also erlaubte er sich den Luxus einer langen Umarmung, eines flüchtigen Kusses und eines köstlichen Zupackens mit beiden Händen an ihrer strammen Hinterpartie. »Das war hübsch«, murmelte sie, als sie sich ihm entzog und ihm spitzbübisch zulächelte. »Das müssen wir eines Tages wieder tun.« Die beiden waren ebensolang ein Liebespaar, als sie gemeinsame Verschwörer waren. »Wie wär's zum Beispiel mit jetzt?« Sie griff nach ihm. Er hob die Hände in gespielter Abwehr. »Hier gibt es zu viele Augen. Zu viele von den Vorarbeitern kennen mich.« »Es ist ja dunkel.« Ihre schmalen Finger wanderten an seinem Schenkel hinauf und streichelten sein Glied. Er faßte nach ihrer Hand und trat abwehrend einen Schritt zurück. 26
Langsam, lächelnd, um ihr zu zeigen, daß er nicht verärgert war. »Jedenfalls nicht hier.« »Hör zu, jeder weiß, daß wir gemeinsam an diesem Projekt gearbeitet haben.« Sie konnte richtig kokett sein, wenn sie das wollte, dachte er. »Ja«, gab er zu, »aber nicht, wie eng wir zusammengearbeitet haben.« »Und auch nicht, wie gut und wie vielfältig.« Dann wurde sie einen Augenblick lang ernst und blickte ins Tal hinunter. »Wir sind hier in einer Stunde fertig und weg, ehe die Sonne aufgeht.« Huddy nickte. »Es ist gut gelaufen. Hör zu, ich möchte, daß die Vorarbeiter der Maschinentrupps neben der dreifachen Überstundenprämie ... wie heißen sie doch?« Es überraschte ihn nicht, daß sie sich sofort an die Namen erinnerte; in der Beziehung war Ruth ganz wie ihre Computer. »Larson und Kilcallen?« »Genau. Ich möchte, daß sie noch eine Extraprämie bekommen, zusätzlich zu dem, was man ihnen versprochen hat.« »Ich werde es der Personalabteilung sagen.« Sie runzelte die Stirn. »Ob die da freilich mitmachen, weiß ich nicht, bei all den anderen Kosten. Das Ganze kostet die Firma schon eine Stange Geld.«
»Anderson hat mir Blankovollmacht gegeben, als die Direktion meinen Plan akzeptiert hat. Das weißt du doch.« »Deshalb brauchst du nicht gleich verschwenderisch zu werden«, wandte sie ein. Er zuckte die Achseln. »Ein paar zusätzliche Prämien spürt man bei den Gesamtkosten gar nicht. Vielleicht kann ich Larson und Kilcallen eines Tages einmal brauchen. Es ist immer eine gute Idee, wenn man solche Leute etwas enger an sich bindet, wenn man die Gelegenheit dazu bekommt.« »Wenn du das willst, Benjy ...« Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, das Lohnbüro zu verständigen. Mehr als eine solche Notiz brauchte Ruth Somerset nicht; das gehörte mit zu den Dingen, die sie für Huddy so wertvoll machten. 27
Er hatte es nicht gern, wenn seine Entscheidungen irgendwo auf Papier standen. Schließlich könnten sie andere Leute ja irgendwann einmal lesen. Und was für ein hübscher Kopf das auch war, dachte er, wenn auch ihre Frisur gar nicht zu ihrem Sweatshirt und den Blue jeans paßte. Das hatte sie vergessen. Aber er würde das nicht erwähnen. Ruth konnte recht komisch sein, wenn man sie auf Fehler hinwies. Er dachte - übrigens nicht das erstemal - wie glücklich er es doch getroffen hatte. Er war bereits viel weiter auf der Firmenleiter aufgestiegen als die meisten Leute, die anderthalbmal so alt wie er waren, und hatte bessere Beziehungen als die meisten. Und eine schöne, kluge Frau an seiner Seite, die ihm behilflich war. Auf diskrete Distanz an seiner Seite natürlich. Sie war ebenso intelligent und ehrgeizig wie er. Ja, er konnte wirklich von Glück reden. Er dachte noch einmal an die Direktionssitzung. Ridgeway hatte ihnen gesagt, daß New York sie mit dem Problem alleingelassen hätte - und dem Hinweis, daß sie gut daran täten, schnell eine Lösung zu finden. Zögern unter seinen Kollegen, Verwirrung, während sie aus dem Konferenzraum strömten. Und dann sein hastiger Anruf bei Ruth, am Abend in seine Wohnung zu kommen. Und dann die Ausarbeitung des Planes. Die vielen Einzelheiten, um die es sich zu kümmern galt. Der sorgfältige Zeitplan, die Methoden, die sie einsetzen würden, um die Inspektion durch den Bezirk hinauszuschieben: Und alles das sorgfältig überlegt und niedergeschrieben und dann auf dem Computer ausgedruckt und kopiert. Ridgeways Gesichtsausdruck am nächsten Morgen, als Huddy ihm die Mappe mit dem Projekt übergeben hatte. Das Warten auf die Entscheidung aus New York. Die offizielle Genehmigung mit Ridgeways zögerndem, aber nichtsdestoweniger auch bewunderndem Segen. Und jetzt war es fast abgeschlossen. All die Wochen der Sorgen und der Pläne, die Besorgnis, daß ein plötzlicher Regenfall alles zerstören würde - das alles hatten sie nun hin28
ter sich. Selbst die Hetze in letzter Minute, um einen bestimmten chemischen Neutralisator in ausreichender Menge ausfindig zu machen, als sie entdeckt hatten, daß in den Lagerhäusern der Firma davon nicht genügend vorhanden war - selbst das hatte ihren Plan nicht zum Scheitern gebracht. Bei dem Gedanken daran mußte er lächeln. Sie waren gezwungen gewesen, den Neutralisator durch Dritte und Vierte von einem der größten Konkurrenten der CCM zu kaufen, dem es natürlich ein Vergnügen gewesen wäre, das Zeug zurückzuhalten, wenn er nur gewußt hätte, daß das zu einer öffentlichen Bloßstellung der CCM geführt hätte. Alles war planmäßig gelaufen. Wenn es nicht in allerletzter Sekunde zu irgendwelchen Pannen kam, würde die Operation eine halbe Stunde vor dem Zeitplan abgeschlossen sein. Sein Blick wanderte von dem Tal, in dem sich die Aktivitäten langsam beruhigten, zu den wenigen Lichtern der kleinen Häuser an der Bergflanke hinüber. Größtenteils Straßenlampen, wie er wußte. Für das Fernsehen war es längst zu spät und für den Kaffee noch zu früh. Landstreicher, Gesindel und Wetbacks*, dachte er unberührt. Er kannte die Namen jeder Familie, deren Grundstücke an die Müllkippe angrenzten. Man hatte darüber gründliche Nachforschungen angestellt. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde keiner der Leute Schwierigkeiten machen. Falls sie diesbezügliche Neigungen verspürt hätten, wären sie schon längst zu den Medien gegangen. Und das hatte niemand getan. Ein paar von den Häusern standen schon ebenso lange hier, wie die Müllhalde existierte. Größtenteils handelte es sich um einfache Holzgerüste mit Lehmwänden darauf und * Wetback - Naßrücken; Slangbezeichnung für mexikanische illegale Einwanderer, die gewöhnlich durch einen der Grenzflüsse ins Land gekommen sind und sich dabei >den Rücken naß gemacht haben«. -Anrn. d. Ubers. 29
mit Dächern aus zersprungenen roten Ziegeln, die da und dort mit Wellblech geflickt waren. Huddy war anfangs recht beunruhigt gewesen, als er erfahren hatte, daß ein paar der Leute kleine Gärten besaßen, die unmittelbar an die Abraumhalde angrenzten und die von ihren armen Besitzern hingebungsvoll gepflegt wurden. Aber nachdem er die Fotos gesehen hatte, war er beruhigt gewesen. Die Gärten lagen ziemlich weit oben am Kamm. Die paar armseligen Salatköpfe oder Selleriestauden würden ihre Wurzeln ganz bestimmt nicht weit genug in die Tiefe hinunterschicken können, um auf toxische Abfallstoffe zu stoßen. Ganz bestimmt nicht. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, der ohnehin schon beunruhigten Direktion diese Information zuzuleiten. Und Huddy würde da ganz bestimmt keine Aufklärung liefern. Außerdem hatte er sich bereits dazu entschlossen, das Ganze für eine unnötige Besorgnis zu halten. »Ich weiß ganz sicher, daß das eine Beförderung gibt.« Ruth Somersets Blick ruhte immer noch auf der sich wie
durch Zauberei verändernden Landschaft in der Tiefe. »Wenn die Prämie, die da mitkommt, groß genug ist, möchte ich, daß wir irgendwo hinfliegen.« Sie hatte die Gesichtszüge eines Filmstars, dachte er, als sie zu ihm aufblickte. Und dahinter den Verstand und die Moral eines Piranha. »Wir sollten zur Abwechslung einmal richtig Urlaub machen. Tahiti. Ich wollte immer schon einmal nach Tahiti.« »Das würde dir nicht gefallen«, erklärte ihr Huddy. »Viel zu französisch.« »Nun, dann eben woanders.« Sie warf ihm beide Arme um den Hals, ohne sich darum zu kümmern, wer sie etwa beobachtete, oder um die Firmenetikette, jetzt und hier bei Sonnenaufgang an der Bergflanke. »Nur wir beide auf einer Insel, ganz für uns. Die Bahamas, wenn du nicht so weit von zu Hause weg möchtest. Jamaika. Barbados. Mir ist es egal. Solange es dort bloß einen warmen Strand und nicht zu viele Leute gibt.« Er lächelte auf sie hinab, legte die Arme um sie und zog 30
sie zu sich heran. »Also gut. Ich ergebe mich, meine Süße. Sobald das alles schön verpackt ist und unsere Beförderungen feststehen.« »Dann weißt du selbst also auch etwas.« »Jedenfalls genug«, versicherte er ihr. »Ist ja nur logisch. Wir haben der Firma den Arsch gerettet, und das ist immer etwas wert. Ein, zwei Sprossen die Leiter hinauf, würde ich sagen.« »Stennets Stelle«, murmelte sie, und ihre Augen funkelten erwartungsvoll. »Auf den bin ich schon seit einem Jahr scharf. Und wenn ich dann Chefprogrammierer für die ganze Westregion bin und du Prokurist ...« »Warum sich damit zufriedengeben?« unterbrach er sie. »Zehn Jahre«, sagte er mit vertraulich leiser Stimme und bewunderte dabei ihre Aggressivität, »gib mir zehn Jahre, dann bin ich Aufsichtsratsvorsitzender. Und nicht nur für die Westregion.« »Und was ist mit mir?« In ihrem Gesichtsausdruck mischten sich Spott und Sorge. »Du? Du bist natürlich meine Stellvertreterin.« »Wie komisch.« Sie tippte ihn an die Stirn. »Und was ist mit Webster?« »Den kannst du vergessen. Der ist ein Schaf, und daran ändern auch hochgestellte Verwandte nichts. Nicht daß er dumm wäre - das ist er nicht. Aber Mumm hat er keinen. Will sich nie festlegen. New York würde ihn nie auf einen wirklich wichtigen Posten berufen, weil die ganz genau wissen, daß er sich nie entscheiden kann, wenn sich ihm eine richtige Chance bietet.« »Fünf Jahre«, entschied sie und beobachtete ihn dabei. »Du wirst keine zehn brauchen.« »Wenn wir Glück haben. Und wenn die CCM nicht interessiert ist, gibt es andere Firmen. Sobald sich erst einmal herumgesprochen hat, welchen Erfolg wir hier gehabt haben - und ich werde dafür sorgen, daß es sich herumspricht - werden sich unsere Konkurrenten überschlagen, mir Angebote zu machen. Aber ich würde lieber bei der CCM blei31
ben. Da weiß ich Bescheid. Freilich, wenn Exxon sich ernsthaft bemühen würde ...« Jetzt war sie überrascht. »Du hast mir gar nicht erzählt, daß du mit denen im Gespräch bist.« »Reg dich nicht gleich auf! Bloß ein paar freundschaftliche Mittagessen, sonst nichts. Fachsimpeleien. Du weißt doch, daß ich immer gern ein paar Eisen im Feuer habe.« »Hoffentlich nicht auch in deinem Privatleben.« Wieder das Funkeln in ihren Augen, nur diesmal anders. Er warf einen letzten Blick zu den kleinen Häusern auf der anderen Seite des Tals hinüber. Sie folgte seinem Blick und wurde dann plötzlich ernst. »Es hat doch keinen Ärger mit denen da gegeben?« »Was für Ärger könnten die denn schon machen, selbst wenn sie genug wüßten und den Wunsch verspürten? Sind doch bloß Nigger und elendes Pack. Aber nein, keiner hat einen Piepser getan. Als ich vor einer Woche hier durchkam, um mich ein letztes Mal zu überzeugen, habe ich mit denen geredet, die nicht von der Fürsorge leben. Ich hab' ihnen gesagt, daß wir hier ein wenig saubermachen würden und daß ich ihnen dankbar wäre - und meine Firma auch -, wenn sie dafür sorgten, daß uns ihre Kinder nicht im Wege sind. Ich habe jedem einen Fünfziger gegeben. Du hättest die sehen sollen, wie die in ihren Blechkisten abgehauen sind. Auf dem schnellsten Weg zum nächsten Schnapsladen.« Er machte eine angewiderte Handbewegung. »Natürlich waren auch ein oder zwei darunter, die ich nicht kaufen konnte, aber es war auch nicht schwer, die zum Schweigen zu bringen. Ich hab' veranlaßt, daß ein paar Freunde sie besucht haben. Kein Problem. Und wie stand's bei dir?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr blondes Haar schimmerte im Mondlicht. »Unterhalb der Direktion ahnt niemand, was hier vor sich geht. Alle Kosten und Beschaffungsmaßnahmen laufen über >Projekt Baja California<, und keiner würde auf die Idee kommen, daß sie nicht mit dem Phosphatprojekt dort unten in Verbindung stehen. Es würde einen viel 32
besseren Programmierer erfordern, als ihn der Bezirk hat, um da die Wahrheit von der Fälschung zu trennen. Und außerdem müßte er spanisch sprechen. Es verdad, mi amor. Selbst wenn einer auf die richtigen Zahlen stoßen würde, dann ist die ganze Operation doch in ihrer Substanz ebenso gut versteckt wie eine echte GucciTasche in einer Wagenladung von Fälschungen aus Hongkong.« Huddy nickte und trat unauffällig einen Schritt zurück. Ein Mann kam auf sie zu. Ein großes, vierschrötiges
Individuum, ein paar Jahre älter als Huddy. Doch das war schwer zu sagen. Wenn man körperlich arbeitete, dann alterte man dabei schneller als am Schreibtisch. Und außerdem ließ ihn sein Bierbauch noch älter erscheinen. Das war Larson, und er hatte vier Kinder und eine Frau, die kränkelte, wie Huddy sich erinnerte. Alle vier Kinder wohnten noch zu Hause, und keines davon hatte Drogenprobleme. Er lächelte bei sich. Er legte Wert darauf, alles über seine Untergebenen zu wissen; das half ihm dabei, sich mit ihren kleinen persönlichen Problemen zu identifizieren, und das lieferte ihm auch den Hebel, mehr als nur die Macht eines Vorgesetzten über ihr Leben auszuüben. Als einer der Vorarbeiter der Säuberungsoperation befand Larson sich in einer Position, um sich ziemlich gut vorstellen zu können, was hier vor sich ging. Und auch, um vor Gericht darüber Zeugnis abzulegen. Aber dazu würde es nie kommen, das wußte Huddy. Dazu war der Vorarbeiter viel zu sehr (auf seine Stellung angewiesen. »Entschuldigen Sie, Mr. Huddy«, sagte der Vorarbeiter angemessen unterwürfig. Großer Footballstar auf dem College, dachte Huddy. Zweite Mannschaft, Verteidigung. Jetzt war davon nicht mehr viel zu sehen. Heutzutage kämpfte Larson wohl eher mit einem Besen. Aber trotzdem ein guter Mann. Deshalb hatte Huddy ihn auch hier eingesetzt. Er würde den Mund halten. »Was ist denn, Larson?« Er deutete mit dem Daumen ins Tal hinunter. »Wir sind hier so gut wie fertig, Sir. Das sehen Sie ja.« 33
»Irgendwelchen Ärger beim Hinausfahren?« »Nicht daß ich wüßte. Warten Sie, ich will nachfragen.« Der Vorarbeiter zog ein Funkgerät vom Gürtel, murmelte hinein, lauschte und steckte es dann zurück. »Nein, Sir. Keiner der Trucks ist beim Hinausfahren aufgehalten worden. Jeder Fahrer hat strikte Anweisung, sich genau an die Geschwindigkeitsvorschriften zu halten sonst verliert er seine Prämie, und zwar bis auf den letzten Penny. Und keine Klagen von den Typen in der Umgebung; die Highway Patrol hat uns nicht bemerkt, und ich habe dafür gesorgt, daß die Trucks auf der Fernstraße in großen Abständen fahren. Der letzte ist bereits draußen in Springs. Bis der Verkehr einsetzt, sind sie schon auf der Fünfundzwanzig. Bis heute abend werden sie in der Nähe von Mexicali sein.« »Und Sie sind sicher, daß unsere Leute an der Grenze wissen, was sie zu tun haben?« »Das ist alles erledigt«, sagte Larson vorsichtig. »Die richtigen Leute haben Geld bekommen. Die Trucks werden durchfahren, zur Küste, und sich an dem Punkt treffen, den wir uns am Golf ausgesucht haben. Bis morgen abend ist das, was wir hier herausgeschafft haben, ein Problem, um das sich die Fische Sorgen machen müssen - und nicht mehr Sie.« »Nicht mehr wir«, verbesserte ihn Huddy. »Richtig. Nicht CCM, meine ich. Entschuldigen Sie.« »Ist schon gut. Sie haben das prima gemacht. Larson, Sie und die anderen. Sie werden nächsten Monat noch eine Extraüberraschung in Ihrer Lohntüte vorfinden, über das hinaus, was wir bereits verabredet haben. Ich habe das bereits bewilligt, und Ms. Somerset hier wird dafür sorgen, daß es auch ausbezahlt wird.« Sie nickte dem Vorarbeiter zu. Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Diese Frau machte ihn nervös und unruhig. Aber daß er sich freute, konnte er nicht verbergen. Dann würde er den alten Datsun sechs Monate früher abstoßen und sich einen neuen Wagen kaufen, dachte er. Und ein 34
neues Stereo vielleicht. Vielleicht würde das Geld sogar reichen, um Frank etwas zukommen zu lassen. Er wollte sich bei Huddy bedanken, ließ es dann aber bleiben. Er wußte, daß Huddy nicht gern mit ihm redete. Larson sollte das recht sein. Er selbst hielt Huddy für ein aufgeblasenes Arschloch. Aber auf sein Geschäft verstand er sich, das mußte er zugeben. Außerdem brauchte man den Kerl ja nicht zu mögen. Es reichte, wenn man seine Anweisungen befolgte, dann war schon im September Weihnachten. »Ich werde dafür sorgen, daß hier ordentlich saubergemacht wird, Sir.« »Ich weiß, daß Sie das tun werden, Larson.« Mehr sagte er nicht, und damit war das Gespräch beendet. Der Vorarbeiter nickte, machte kehrt und ging wieder den Weg hinunter. Als er außer Sichtweite war, legte Huddy den Arm um Ruth Somersets Rücken. »Gehen wir zu mir oder zu dir?« fragte sie und leckte sich über die Unterlippe. »Zu uns«, sagte er. »O nein!« Sie ließ sich enttäuscht gegen ihn sinken. »Nicht wieder arbeiten. Ich dachte, wir wären fertig.« »Noch nicht ganz. Das weißt du doch, Süße. Komm schon, du bist ohnehin doppelt so gründlich wie ich! Wir wollen doch nicht in letzter Minute irgend etwas übersehen und die ganze Geschichte scheitern lassen.« »Also gut. Aber ich hab' jetzt wirklich genug, Benjy. Fast zwei Tage ohne Schlaf.« »Ich verspreche dir, daß wir uns dafür etwas gönnen. Nach morgen abend, nachdem ich mir das hier noch einmal bei Tag angesehen habe, werde ich dir das alles entgelten.« Sie schmiegte sich an ihn. 35 3
Der Pfad führte zu einem schräg angelegten Parkplatz unmittelbar hinter der Hügelkuppe. Darunter lagen die Lichter von Riverside und abseits, im Norden, San Bernadino. Huddy stieg in den Wohnwagen und knipste die
Beleuchtung an. Der Begriff Wohnwagen paßte nicht; dies war kein einfacher Campingbus, wie ihn vielleicht eine Familie für ihre Urlaubsreisen benutzen mochte; dies waren zehn Meter sybaritischer Luxus. Selbst die Liegesessel vorne waren mit Leder bezogen. Er holte sich zwei Drinks aus der Bar und ließ ein paar Tabletten aus der Pillendose, die er stets bei sich trug, in sein Glas fallen. Diese Tabletten hatten ihn die letzte Woche auf den Beinen gehalten. Somerset ließ sich in den Sessel vor dem Computerterminal fallen. Ihre Finger huschten behende über die Tastatur; Zahlen und Namen erschienen auf dem Bildschirm, die eigentlich gar nicht in den Firmenarchiven von CCM hätten sein dürfen. Das war das Schöne an der Computerarbeit, dachte sie. Alles war so schnell und sauber. Es brauchte keine schwerfälligen Reißwölfe oder Aktenöfen mehr. Ein Fingerdruck genügte, um illegale Informationen zu löschen und sie für immer aus dem Bereich möglicher Verfolgung zu entfernen. Sie wußte, was Huddy jetzt überprüft haben wollte. Die Müllkippe selbst war sauber. Die Bezirksinspektoren würden gesunde Luft und Vegetation vorfinden. Nur Leute konnten ihnen jetzt noch Schwierigkeiten machen. Huddy würde in bezug auf mögliche Unruhestifter absolut sicher sein wollen. Er würde alles doppelt überprüft haben wollen, 36
um sicher zu sein, daß jeder entweder gekauft oder hinreichend unter Druck gesetzt war, um sich zu beugen. Huddy reichte ihr ein Glas. Das war der einzige Bereich, in dem sich ihr Geschmack unterschied. Er konnte einfach nicht begreifen, was sie Gin abgewinnen konnte, der für ihn den Geschmack und die Konsistenz von Maschinenöl hatte. Er beugte sich über sie, während sie das Fernterminal betätigte. Die Liste, die sie herbeigezaubert hatte, enthielt die Namen jedes einzelnen, ob nun Erwachsener oder Kind, der im Umkreis von hundertfünfzig Metern der äußersten Grenze der Müllkippe lebte oder in den letzten dreißig Jahren dort gelebt hatte. Das Ganze war keineswegs eine Liste, wie sie einer privaten Gesellschaft eigentlich zugänglich sein dürfte. Neben den üblichen Daten wie Name, Größe, Gewicht und dergleichen enthielt die Liste auch bei denjenigen, die einen Beruf hatten, die Namen der Arbeitgeber, den Betrag an Fürsorgeunterstützung, den jede Familie erhielt, welche Individuen für wirtschaftlichen Druck besonders angreifbar waren (was praktisch für jeden auf der Liste galt), für wen das nicht zutraf und selbst die Daten und Beschreibungen ernsthafter Krankheiten, die der Betreffende durchgemacht hatte. Besonders die letztgenannte Statistik wollten Somerset und Huddy unbedingt vor fremden Augen schützen. Ein Arzt, der sich diese Liste angesehen hätte, hätte sofort etwas Ungewöhnliches bemerkt. Die Liste umfaßte weniger als dreihundert Namen. Für eine solch kleine Gruppierung mit so unterschiedlichem ethnischen Hintergrund war das Auftreten ernsthafter Beschwerden der Atemwege außergewöhnlich hoch, ebenso die Zahl der Todesfälle, die auf verschiedene Arten von Krebs zurückzuführen waren. Huddy überraschten die Statistiken nicht. Er hatte beinahe etwas von der Art erwartet, als er das Projekt übernommen hatte. Unangenehm für diejenigen, die das Pech hatten, in der Nähe des Müllplatzes zu leben, aber das fiel wohl kaum in seine Verantwortung. Die Zahl der möglichen 37
und bekannten Karzinogene, die der Müllkippe zugeschrieben worden waren, füllte eine weitere lange Liste. Glücklicherweise lebten nur wenige Leute sehr lange in der Umgebung der Müllkippe. Sie verteilten sich über den ganzen Südwesten und Mexiko. Von denen, die geblieben waren, waren einige in jüngster Zeit weggezogen, was auf indirekte Interventionen von CCM zurückzuführen war, die durch Huddys Mittelsmänner für unerwartete finanzielle Glücksfälle oder Stellenangebote andernorts an Familien mit besonders hoher Krebsrate gesorgt hatte. Die Inspektoren des Bezirks würden keine Ansammlung schwerkranker Bürger finden, die in der Umgebung der Lagerstätte wohnten. So erschien es beispielsweise fast wie ein Wunder, daß sich für Mr. Gomez trotz seines dauernden Hustens auf wundersame Weise plötzlich ein Stellenangebot ergeben hatte. Die Familie war lange durch ein tragisches Schicksal geschlagen worden. Beide Eltern Gomez' waren vor einigen Jahren an Leberkrebs gestorben. Als das Stellenangebot erfolgte, nahm die Familie daher bereitwillig an, entzückt von dem Wissen, daß selbst ihr Umzug nach Calexico von den neuen Arbeitgebern des Mr. Gomez bezahlt werden würde. Es war nicht notwendig gewesen, Akten zu fälschen, und man hatte auch niemanden aufgefordert zu lügen. Potentielle Warnsignale wurden einfach dazu veranlaßt, wegzuziehen. Alle waren für die unerwartete Großzügigkeit dankbar. Keiner sah irgendeinen Zusammenhang zwischen der plötzlichen günstigen Schicksalswendung und seinem schrecklichen Pech in der Vergangenheit. Nur noch einer blieb, den Huddy gerne losgeworden wäre: ein alter, langjähriger Bewohner der Gegend, der Jake Pickett hieß. Er griff an Somerset vorbei und berührte die Tastatur. Ein Abriß über Jake Picketts erschien auf dem Schirm. Somerset kannte den Namen und warf Huddy einen mitfühlenden Blick zu. Dieser Pickett hatte das erste Stellenangebot abgelehnt, das Huddys Leute ihm gemacht hatten. Zum einen war er älter als die Gomez' oder irgend38
einer der anderen, die sie hatten übersiedeln müssen. Er hatte schon länger als irgendein anderer in dem Tal gewohnt. Im Gegensatz zu den Gomez hatte er dort Wurzeln geschlagen. Also hatte er den Firmenvertretern nur geduldig zugelächelt und dabei höflich ihre Angebote abgelehnt.
»Dies ist mein Zuhause«, hatte er ihnen gesagt. »Ich lebe jetzt seit fünfzig Jahren hier und werde ganz bestimmt nicht einfach alles zusammenpacken und weggehen. Wozu auch? Eine Stellung? In meinem Alter?« Er hatte gelacht. »Das muß doch ein Witz sein. Ich habe meine Pension und meine bescheidenen Ersparnisse. Suchen Sie sich einen Jüngeren, der den Job wirklich braucht.« Und damit hatte er die Tür vor den Nasen der enttäuschten Firmenvertreter geschlossen. Seine Pension konnten sie nicht manipulieren, das wußte Huddy, und die Ersparnisse des Mannes lagen sicher und fest auf einem Bankkonto. Er war zu alt, als daß man ihn körperlich hätte bedrohen können, und wahrscheinlich zu dumm, um zu wissen, was gut für ihn war. Er las weiter, was der Bildschirm ihm bot, und murmelte halblaut vor sich hin: »Eine Schwester nach Texas übersiedelt und dort im Alter von zweiundzwanzig Jahren gestorben.« Er ertappte sich dabei, wie er wissend, aber leidenschaftslos nickte. »Lungenkrebs.« Er fragte sich, ob die Frau wohl geraucht hatte, und hoffte, daß dies der Fall gewesen war. Nicht daß jemand so gründlich nachforschen würde. Das Beste an Pickett war, daß er herzkrank war. Eine ganze Litanei von Herzanfällen und Angina, das Ganze durch Leberprobleme kompliziert. Leichtes Übergewicht. Pickett hatte in seiner Jugend getrunken, das aber dann offenbar aufgegeben. Wenn er nur mitmachen und heute abend sterben würde, dachte Huddy. Er überlegte, ob er vielleicht ein paar Muskelmänner dazu veranlassen sollte, in das Haus des alten Mannes einzubrechen und ihn sich etwas vorzuknöpfen. Sie konnten ja ein paar Sachen mitneh39
men, damit es wie ein Raubüberfall aussah. Vielleicht würde das schon ausreichen, um einen Herzinfarkt auszulösen. Das Unangenehme war nur, daß es nicht viel zum Stehlen gab, und ein einziger argwöhnischer Bezirksdetektiv würde schon ausreichen, um wirklich alles durcheinanderzubringen. Eine bessere Idee - und der Vorschlag kam von Somerset - war, ein paar Barrio-Schläger einzusetzen. Unglücklicherweise war das Tal aber so weit von der Stadt entfernt, daß es keine städtischen Halbstarken-Banden gab, die Anspruch auf das Areal erhoben. Außerdem waren Teenager alles andere als verläßlich und würden einem am Ende vielleicht mehr Ärger bereiten, als der Alte. Zu gefährlich. Was Huddy wirklich beunruhigte, war aber nicht Picketts Unzugänglichkeit oder seine oder seiner Familie Krankengeschichte. Ein paar verbleibende Krankheitsfälle konnten sie ja durchaus tolerieren. Den Berichten nach war dieser Mann ohnehin so etwas wie ein Sonderling. Nicht verrückt, nur unabhängig und starrköpfig genug, um einfach aus Spaß an der Freude Ärger zu machen, ohne sich um die Folgen zu scheren. Er war ein alter Mann, der ganz für sich allein lebte, ohne Verwandte im Umkreis von tausend Meilen. Es gab anscheinend wirklich keine Möglichkeit, ihm beizukommen. Gomez andererseits hatte sechs Kinder. Wenn er den Job in Calexico nicht angenommen hätte, dann hätte es für Huddys Leute auch andere Möglichkeiten gegeben, ihn davon zu überzeugen, daß es besser für ihn war, das zu tun, was man ihm sagte. Aber um Pickett in die Hand zu bekommen, gab es, wie es schien, wirklich keine Möglichkeit. Er sprach perfektes Englisch, hatte den größten Teil seines Lebens dicht neben der Ablagerungsstätte gelebt und schien auf geradezu widerwärtige Art geradlinig. Huddy war ganz entschieden nicht daran interessiert, daß er mit den Bezirksinspektoren redete. Der vorgetäuschte Einbruch schien immer noch die beste Alternative zu sein. Wenn man die Einbrecher fing, konnten sie immer noch behaupten, sie hätten das falsche Haus er40
wischt. Die Geschichte würde dann zwar ziemlich dünn, aber immerhin plausibel sein. Eigentlich sollte sie die Polizei glauben, und vielleicht würden sie sogar damit durchkommen, daß sich der alte Mann >zufällig< eine verirrte Kugel einfing. »Weißt du was?« fragte Huddy. »Ich mach' mir zuviel Sorgen.« Somerset lehnte sich zurück und legte ihm die Hand auf den Arm. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte ihn mit ihren großen lapislazulifarbenen Augen an. »Das habe ich dir doch auch schon gesagt, Benjy.« »Ja. Weißt du, wenn wir das hinter uns haben, sollten wir wirklich Ferien machen. Uns eine Insel suchen und ein paar Wochen bloß am Strand liegen. Ich bin sicher, daß die Firma nichts dagegen hätte. Zum Teufel, wenn wir das durchkriegen, nehmen die uns überhaupt nichts mehr übel.« »Das ist mein Junge.« Einer ihrer langen Fingernägel beschrieb Kreise auf seinen Bauch. »Was für einen Sinn hat es denn, sich selbst völlig fertigzumachen, wenn man nicht wenigstens gelegentlich einmal das Leben genießt?« »Ich vergesse manchmal einfach, mich auszuruhen.« Insgeheim dachte er, das ist dein Fehler, Somerset. Diejenigen, die darauf aus sind, wirkliche Macht auszuüben, haben keine Zeit zum Ausruhen. Lotosesser kommen nicht voran. Nachdem er sein eigenes Überlegenheitsgefühl damit gestärkt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu. »Ich meine, was können wir denn mit diesem Burschen machen? Hat Spaß daran, sich an Halloween zu maskieren, zu Weihnachten den Weihnachtsmann zu spielen und gibt sich mit den Kindern in der Nachbarschaft ab. Ein richtig altmodischer Typ. Wie, zum Teufel, manipuliert man denn so jemanden?« Und außerdem noch unberechenbar, dachte er. Genau der Typ, der einem Inspektor der Gesundheitsbehörde
irgend etwas wirklich Gefährliches sagen kann. Er las weiter: »Oberschule abgeschlossen, aber kein College.« Das paßte. Tatsächlich überraschte es Huddy sogar, ein Oberschuldiplom vorzufinden. Aber natürlich eine 41
ländliche Schule. Praktisch wertlos. Er ist also nicht gerade der Hellste. Gut. Vielleicht würde es ihm nicht ganz leicht fallen, seine Gefühle und seinen Argwohn in Worte zu kleiden. Und daß er seine Schwester erwähnen würde, die fünfzehn Jahre mit ihm zusammengelebt hatte, war auch höchst unwahrscheinlich. Bestimmt haben sie beide unten am Tümpel gespielt. Nun, die Schwester kam ja nicht mehr in Betracht, die war schon lange tot. Ein Jammer, daß Pickett sich nicht dasselbe zugezogen hatte wie seine Schwester. Somersets Hand wanderte zu seinem Kragen und streichelte ihn am Hals. Ihre Finger spielten mit seinem Haar. Er seufzte, versuchte sich mit Gewalt zu entspannen. Weniger als eine Woche noch, sagte er sich. Nicht einmal sieben Tage mehr, und dann können wir all das vergessen und uns über das Geld und unsere Beförderung freuen. Nur Pickett stand immer noch vor seinem geistigen Auge und versperrte ihm wie ein schwarzes Mahnmal den Weg zu all den Freuden. Er würde es noch einmal mit dem Stellenangebot probieren, nur daß er den Vorschlag diesmal selbst machen würde. Auf die Weise konnte er sich zumindest persönlich ein Urteil über dieses letzte Hindernis auf der Straße seines Erfolges machen. Ehe er irgendwelche extremen Entscheidungen wie den vorgetäuschten Einbruch traf, mußte er sich selbst vergewissern, wie gefährlich Pickett etwa sein würde. Hoffentlich würde sich der alte Mann überzeugen lassen, so daß keine extremen Maßnahmen nötig sein würden. Gleich morgen früh, sagte er sich. Jetzt war er erschöpft, und Somerset hatte recht, daß er Entspannung brauchte. Darauf verstand sie sich. Und wie sie sich darauf verstand! Huddy war natürlich sicher, daß er ebensoviel gab, wie er bekam. Sex war auch nur eine Form von Machtausübung. Er empfand keinerlei Skrupel dabei, ihr in solchen Augenblicken das Gefühl zu vermitteln, daß sie das Kommando hatte. Das war gut für ihr Ego, und ihm tat es ja nicht weh. Ja, es war nett, Somerset bei sich zu haben, und zwar 42
nicht nur wegen ihres enzyklopädischen Verstandes. Sie wußte das, und das bereitete ihr keinerlei Probleme. Dafür war sie viel zu ausgeglichen. Der Computer fuhr fort, ihnen gläsern zuzuzwinkern, während sie den Platz vor der Konsole mit der Couch vertauschten. Er würde das mit Jake Pickett am Morgen erledigen. Wahrscheinlich machte er sich grundlos Sorgen um den alten Mann. Alles andere war so glatt gelaufen. Ein starrköpfiger alter Mann würde ganz sicher nicht alles zunichte machen. Somerset zog ihn auf die Couch herunter, und er vergaß Jake Pickett, vergaß das Projekt, vergaß alles, gab sich ganz ihrer wundervollen Wärme und ihren geübten Bewegungen hin. Wie gewöhnlich bereitete ihnen ihr Liebesspiel riesigen Spaß - und wie gewöhnlich hatte es mit Liebe gar nichts zu tun ... 43 4
Sicherlich wachte ein wohltätiger Geist über Benjamin Huddy, denn er erfuhr am nächsten Morgen, daß die Anwälte der Firma einen weiteren Triumph im juristischen Verwirrspiel erzielt hatten, für das sie berühmt waren. Es war ihnen gelungen, die Inspektion in dem Tal nicht etwa um weitere ein oder zwei Tage hinauszuschieben, sondern um eine ganze Woche. Huddy konnte die Freude, die er darüber empfand, kaum für sich behalten. Eine ganze Woche würde den Landschaftsgärtnern noch mehrmals Gelegenheit geben, sich einzuschleichen und den verpflanzten Chaparral zu überprüfen, Wasser und Dünger hinzuzufügen und jegliche Pflanzen zu entfernen, die in dem gereinigten Boden nicht Wurzeln geschlagen hatten. Außerdem gab ihm das Gelegenheit, in das Büro in Century City zurückzukehren und Arbeiten zu erledigen, die sich inzwischen dort angehäuft hatten, ehe er am nächsten Tag nach Riverside zurückfuhr, um dem starrköpfigen Jake Pickett gegenüberzutreten. Der Teil Riversides, durch den er fahren mußte, um in das Tal zu gelangen, war untertags noch deprimierender. Dieses Barrio war schlimmer als Ost-Los Angeles. Es gab hier keinen Gemeinschaftsgeist, nichts von dem Stolz, der die grellbunten Wandgemälde hervorgebracht hatte, die aus alten Gebäuden in Los Angeles Türme des Lichts und der Farbe gemacht hatten. Er steuerte den Cadillac vorsichtig durch von Müll gesäumte Straßen, vorbei an alten Markt44
platzen, die von schwarzen Eisentoren abgeschirmt wurden. Und dann hatte er schließlich das eigentliche Barrio hinter sich gelassen und manövrierte den schweren Eldorado die unbefestigte Straße zu dem Bergkamm hinauf, der an das Tal grenzte. Er überlegte, ob er nicht vielleicht doch einen Mitarbeiter hätte schicken sollen. Aber er war neugierig, wie die Stelle nach ein paar Nächten der Arbeit durch die Landschaftsgärtner aussah, und wußte außerdem, daß er besser als irgendein Assistent mit Pickett zurechtkommen würde. Die hatten schließlich ihre Chance gehabt und es nicht geschafft. Wenn man will, daß etwas richtig gemacht wird, muß man es selbst machen, dachte er etwas säuerlich. Die hatten den alten Mann einfach nicht richtig angepackt. Außerdem war es ein schöner Tag, gerade recht, um nicht ins Büro zu gehen. Er würde nichts verpassen. Er hatte eine gute Sekretärin, und Somerset würde ihn warnen, falls sich in bezug auf das Projekt irgendwelche
unerwarteten Entwicklungen ergeben sollten. Auf der unbefestigten Straße, die sich den Berg hinaufschlängelte, waren nicht viele Reifenspuren zu sehen. Nicht jeder, der an der Straße lebte, besaß einen Wagen, obwohl man das nicht aus ihren Grundstücken schließen konnte, wo hingeschiedene Chevrolets und radlose Fords sich langsam unter der Sonne Kaliforniens auflösten rostige Dinosaurier aus den Fünfzigerjahren. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, wirkte das Tal eigenartig. Er befand sich auf derselben Höhe wie damals in der Nacht, aber alles andere war völlig anders, auch der Sonnenstand. Das war eine nützliche Erkenntnis, dachte er. Es war nützlich, sich das Tal von jedem Ort aus anzusehen, von dem aus die Inspektoren es betrachten würden. Und was sie sehen würden, war eine kleine geologische Senke, die sich durch nichts von den Dutzenden anderer in der Gegend unterschied. Die höchsten Bäume waren in der Mitte des Tales gepflanzt worden, wo die größte Wahrscheinlichkeit bestand, 45
daß sich Wasser sammeln würde. Hastig verpflanzte Gräser und wildes Getreide beugten sich in der Sommerbrise. Keine Spur deutete darauf hin, daß hier Menschenhand eingegriffen hatte oder daß die natürliche Ordnung verändert worden wäre. Etwas fiel ihm ins Auge. Er runzelte die Stirn und bremste. Er ließ das Fenster herunter. Auf der anderen Hügelseite. Dort war ein Stück Buschwerk, das den Anschein hatte, als würde es viel zu schnell braun werden, selbst für den südkalifornischen Spätsommer. Er prägte sich die Stelle ein. Muß dafür sorgen, daß die Leute sich darum kümmern, dachte er. Und einen Techniker muß ich auch hinschicken, um sicherzustellen, daß der Boden sauber ist. Nicht daß der Bezirk wegen eines einzigen Stücks vergifteter Flora viel Aufhebens machen würde; aber Huddy wollte, daß alles auf den ersten Blick so normal, so natürlich wirkte, daß sie sich nicht einmal die Mühe machen würden, auf dem Weg zu ihrem nächsten Einsatzort auf ihrer ökologischen Abschußliste eine Bodenanalyse durchzuführen. Er fuhr weiter hinauf und war für den Frontantrieb dankbar, der mit der ansteigenden Straße wenig Mühe hatte, und zuckte jedesmal zusammen, wenn ein aufgewirbelter Kieselstein den Wagen traf, daß es durch den gepolsterten Innenraum hallte. Dann erreichte er das Ende der Straße, ganz in der Nähe des höchsten Punktes. Sein Weg war mit zwei ziemlich heruntergekommen wirkenden weißen Stangen versperrt. Die Aufschrift >Sackgasse< auf dem Schild, das an einer der Stangen hing, war kaum noch zu entziffern, ein paar Einschußlöcher zierten sie, aufgesprühte Graffiti, die für jedermann außerhalb des Barrio unverständlich waren, ein paar Beulen von Kleinkaliberkugeln und Steinkratzer. Die untere der beiden waagrechten Stangen lag wie verloren auf dem Boden. Kinder waren auf ihr auf und ab gehüpft, bis sie abgebrochen war. Eben dieselben Kinder, die eigentlich in der Schule hätten sein müssen, tauchten jetzt wie durch Zauberei aus den Hö46
fen auf, die die primitven, schmutzigen Häuser umgaben. Sie drängten sich um den Wagen, bewunderten den sauberen Lack und die polierten Chromleisten und machten Huddy etwas unruhig. Schließlich sagte er sich, daß es am besten wäre, gar nichts zu tun. Sich dieses Pack zum Feind zu machen, war das letzte, was er jetzt wollte. Er stand einen Augenblick lang da, ignorierte das Kichern und die Blicke aus großen Augen und studierte die Papiere und die Karte auf seinem Klemmbrett. Jake Picketts Haus lag genau vor ihm. Man mußte dazu einen kurzen Pfad hinaufgehen, der an der Stelle anfing, wo die Straße endete. Von hier ab war der Hügelkamm zu schmal, als daß man eine Straße hätte bauen können, und das hatte zu Picketts vergleichsweiser Isolierung geführt. Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf, als er das Türschloß zudrückte. Ein Klicken war zu hören, als beide Türen einschnappten. Sogleich verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Kinder vom Wagen auf seinen Fahrer. Huddy achtete sorgsam darauf, keines der Kinder zu berühren, die sich jetzt um ihn drängten. »He, Mister!« Der Junge, der ihn ansprach, sah aus, als wäre er etwa zehn Jahre alt. Er warf einen bewundernden Blick auf den Eldorado. »Schöner Wagen. Viel zu schön, als daß Sie von der Fürsorge sein können.« »Das stimmt«, antwortete er gezwungen freundlich. »Ich komme nicht vom Bezirk und auch nicht von der Stadt.« »Nun, woher denn dann?« fragte ein anderer Junge neugierig. Sein T-Shirt war knapp unter seinem Brustbein abgeschnitten, so daß sein brauner Bauch zu sehen war. Ob das der hiesigen Mode entsprach oder nur eine Folge von Armut war, hätte Huddy nicht sagen können, und es interessierte ihn auch nicht. Aus der Nähe starrte ihn ein kleines, schwarzhaariges Mädchen ernst an. Hin und wieder wandte sie den Blick ab, wenn sie ein Hustenanfall würgte, so daß sie sich zusammenkrümmen mußte. Huddy kannte diesen Husten und ahnte seine mutmaßliche Ursache. Jetzt, wo sie sauberge47
macht hatten, würde dieser Husten vielleicht verschwinden. Vielleicht. Für die Bezirksinspektoren würde es unmöglich sein, irgend etwas von den chronisch kranken Leuten zu beweisen, die hiergeblieben waren. Außerdem waren diese Leute doch gewohnheitsmäßig krank. Wer wollte schon sagen, wo sich die Familie des Mädchens diesen Husten zugezogen hatte? Wahrscheinlich südlich der
Grenze. Die Eltern des kleinen Mädchens waren ohnehin mit großer Wahrscheinlichkeit Illegale. Huddy grinste. Die würden ebensowenig mit einem Regierungsbeamten reden, wie einen Gewerkschaftsjob annehmen. Sein Blick wanderte wieder zu dem Fußweg zurück. »He, Mann, wenn Sie nicht von der Fürsorge sind«, beharrte der ältere Junge, »was machen Sie dann hier?« »Ich will einen Freund besuchen.« Er deutete auf das überraschend adrett wirkende kleine Haus hinter den Speerbalken. »Lebt Mr. Pickett in dem Haus da?« »Pickett?« Der älteste Junge runzelte die Stirn, während die anderen sich um ihn drängten. »Er meint el hombre magico«, sagte einer der anderen Jungen schließlich, »stupido.« »Du nennst mich stupido, Victor?« Er setzte an, den Jüngeren wegzuschieben, überlegte es sich dann aber anders. Er war immer noch nicht sicher, ob dieser Fremde mit dem auffälligen Wagen harmlos war. »Ja, das ist sein Haus, denke ich. Er hat doch nicht irgendwelchen Ärger, oder? Sind Sie auch sicher, daß Sie nicht von der Fürsorge kommen?« »Ganz sicher«, beruhigte ihn Hardy. »Das ist gut«, sagte einer der anderen Jungen. »El hombre magico ist ein netter alter Bursche. Aber da ist bei ihm nicht alles in Ordnung.« Er tippte sich an die Brust. »Enfermedad del coranzon.« »Richtig«, sagte Huddy und hoffte, daß das auch so war. »Hat er denn in letzter Zeit irgendwelche Herzanfälle gehabt?« 48
»He, ich bin doch kein Doktor, Mann!« sagte der ältere Junge und zuckte die Achseln. »Und so viel sehen wir den auch gar nicht.« Plötzlich interessierte ihn etwas anderes, und sein Blick wanderte weiter, ließ Huddy los. »He, Mama ist zu Hause. Komm, Carmela, kommt alle! Vielleicht hat sie Limonade mitgebracht.« »Adios, Mister. Grüßen Sie el hombre magico. Und keine Sorge um Ihren Wagen.« Lachend und Kleiderfetzen hinter sich herziehend rannten die Kinder barfuß die Straße hinunter, auf das Haus zu, wo gerade ein zerbeulter, alter Oldsmobile in die Einfahrt gerollt war. Huddy war froh, daß die Kinder weg waren. Er vergewisserte sich, daß seine Krawatte richtig saß, und schnippte sich ein Stäubchen vom Ärmel und schob sich dann das Klemmbrett unter den rechten Arm, während er den schmalen Weg hinaufging. Trotz der Versicherung des älteren Jungen wollte er seinen Wagen nicht länger als absolut notwendig dieser Umgebung aussetzen. Er würde das Gespräch mit Pickett so kurz wie möglich halten. Die Steigung war nicht besonders stark, und er brauchte nicht lang zu gehen. Als Huddy vor dem kleinen Lehmpalast stand, konnte er nicht umhin die Aussicht zu bewundern. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf das Städtchen Riverside, die Berge im Norden und Osten und Corona im Süden. Der beige Lehm war bei weitem nicht so zersprungen, wie Huddy das schon manchmal gesehen hatte, insbesondere wenn man das vermutliche Alter des Hauses in Betracht zog und die Kräfte, denen es im Laufe der Jahre ausgesetzt gewesen war. Lehm und Wasser und Erdbeben vertrugen sich nicht besonders gut miteinander. Ein paar uralte Rosenbüsche teilten sich mit neueren Irisbüschen den Platz. Die Rosen waren vermutlich so alt wie das Haus selbst. Er trat auf die Veranda, streckte den Finger zum Klingelknopf hin aus und fragte sich, ob er wohl funktionieren würde. Doch seine Hand kam nicht dazu, ihn zu berühren. Die Tür öffnete sich. 49
»'n Tag.« Pickett wies mit einer Kopfbewegung zu den Schranken hinunter und deutete Huddys unbehaglichen Blick richtig. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe Ihren Wagen Herauffahren und die Kinder lachen hören. Hierher kommen nicht viele Leute. Und die, die es doch tun, verlaufen sich gewöhnlich. Die biegen nach rechts ab und fahren wieder hinunter. Sie haben das nicht getan. Ich nehme also an, daß Sie mich sprechen wollen.« »Wenn Sie Jake Pickett sind ...« Huddy tat so, als würde er auf sein Klemmbrett sehen. »Falls meine Mutter mich nicht angelogen hat.« Er grinste, trat beiseite. »Kommen Sie rein!« »Danke!« Wenn Pickett ein knurriger, reizbarer alter Mann wäre, würde das leichter sein, dachte Huddy, während er die Treppe hinaufging. Nicht daß es am Ende irgend etwas zu sagen gehabt hätte. Huddy wollte, daß der andere das tat, was man von ihm erwartete, nicht etwa Höflichkeit. Das Innere des Häuschens überraschte ihn. Es war nicht makellos, aber viel sauberer und adretter als viele Junggesellenbuden, die Huddy gesehen hatte. Ein uraltes Sofa beherrschte das kleine Wohnzimmer. Abgewetzte, aber saubere Decken verbargen die fadenscheinigen Stellen in der geblümten Polsterung. Dann gab es einen alten Schaukelstuhl, einen Ohrensessel mit sauber geflickten Armlehnen, einen sehr einfachen Tisch, der wohl aus den Dreißigerjahren stammte, und einen kleinen Fernseher auf einem hölzernen Regal. Huddys Augen wanderten von einer Öffnung zur nächsten, und nichts entging ihnen. Nach allem, was er durch die Türöffnungen sehen konnte, paßte der Rest des Hauses, sowohl was Sauberkeit als auch knappe Möblierung anging, zu dem Wohnzimmer. Pickett sah so alt aus, wie er war. Er wirkte nicht besonders krank, aber nicht jeder Herzleidende trug seine Beschwerden ins Gesicht geschrieben. Er war etwas größer als der Durchschnitt, was Huddy überraschte. Seine Vorstellung von kranken alten Männern war immer gewesen, daß 50
sie klein und bucklig waren und mit nach vorne gebeugtem Kopf gingen. Pickett war ebenso groß wie Huddy
und hielt sich kerzengerade. Unter dem sauberen, braunen Hemd war ein kleiner Bauchansatz zu erkennen, und seine Blue jeans waren an den Schenkeln und Waden, wo seine Muskeln eingeschrumpft waren, etwas aufgeplustert. Picketts Schultern waren gerundet, als hätte er sein Leben an einer Schreibmaschine verbracht. Sein Gesicht war freundlich und offen, sein Kinn spitz, die Nase leicht gekrümmt, die Augen hell und wach und blau. Das dicke, weiße Haar, das noch kaum schüttere Stellen zeigte, war oben und an den Seiten gerade nach hinten gekämmt, so wie man es vor fünfzig Jahre getragen hatte. Komisch, wie die Menschen sich doch davor scheuen, ihre Frisur zumindest ein wenig zu ändern. Er streckte die Hand aus. »Benjamin Huddy, Mr. Pickett.« Der Griff, mit dem der Alte seine Hand umfaßte, war fest, aber wohl doch nur ein Schatten dessen, was er einst gewesen war. »Wie ich heiße, wissen Sie ja.« Die Stimme des alten Mannes war kräftig und zitterte überhaupt nicht. Aus den Augenwinkeln konnte Huddy das Etikett der kleinen Flasche auf dem Kaffeetisch lesen. Die Buchstaben waren rot: Nitrostat. Gegen Angina pectoris, sagte sich Huddy. Es war beruhigend, wenigstens eine Spur von Krankheit in diesem Haus zu sehen. Pickett selbst entsprach in keiner Weise den Vorstellungen, die Huddy sich gemacht hatte. »Setzen Sie sich doch, junger Mann.« Pickett ließ sich in den Ohrensessel sinken und deutete auf die Couch. »Was kann ich für Sie tun?« Huddy setzte sich ... und hätte fast das Gleichgewicht verloren, während er immer tiefer sank. Neue Möbel ließen einen nicht so willkommen fühlen wie diese alte Couch. Er blätterte in den Papieren auf seinem Klemmbrett und setzte eine ernste Miene auf. »Meine Unterlagen besagen, daß Sie lange Zeit in diesem Haus gelebt haben, Mr. Pickett.« 51
Der alte Mann nickte. »Den größten Teil meines Lebens. Tatsächlich bin ich hier aufgewachsen.« »Dann kann ich ihr Widerstreben verstehen.« »Mein Widerstreben?« »Nun, Ihr Widerstreben, die Stelle anzunehmen, die Ihnen die Firma angeboten hat, die ich vertrete, die Masters Security Systems aus San Diego. Erinnern Sie sich?« »Oh, sicher.« Pickett schien die Decke zu studieren. »Ich erinnere mich ganz deutlich, wie ein anderer junger Bursche, jünger als Sie, eines Tages hier auftauchte und mir irgendeinen Bewachungsjob dort unten angeboten hat. Das hatte ich schon vergessen.« »Das war eine Stelle als Wachmann, Mr. Pickett. In einem der zahlreichen Wohnhochhäuser, für die Masters verantwortlich ist. Leichte Nachtarbeit. Sie überwachen ein halbes Dutzend Fernsehmonitore und fordern über Radiotelefon Hilfe an, wenn Sie irgendwo etwas Verdächtiges sehen. Das ist gute Arbeit für einen Mann in Ihren Jahren, Mr. Pickett. War' doch nett, mal gutes Geld zu verdienen? Ich weiß, was die Bundesversicherung bezahlt. Ich glaube, der Vertreter von Masters hat Ihnen auch Unterstützung bei der Übersiedlung in ein nettes, modernes neues Apartment in einem Seniorenheim angeboten.« Er lächelte Pickett freundlich zu. »Sie haben das Angebot abgelehnt. Ich würde gerne den Grund erfahren.« »Dann gehören Sie auch zu dieser Firma Masters?« »Ich bin mit ihr verbunden, wenn auch nicht unmittelbar dort angestellt. Wir geben uns große Mühe, die Leute auszuwählen, die wir einstellen möchten, Mr. Pickett. Wenn es so aussieht, als hätten wir die falsche Wahl getroffen, sind wir enttäuscht und versuchen dann herauszufinden, was schiefgelaufen ist.« »Hat nicht viel zu sagen«, erklärte Pickett. »Ich hab' das dem jungen Mann auch gesagt. Ich bin hier aufgewachsen, habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich war schon einmal in San Diego. Hübsche Stadt. Sea World hat mir gut gefallen und das Weltraumtheater auch. Aber ich bin nicht 52
daran interessiert, dorthin zu ziehen. Außerdem mag ich Pistolen nicht.« Huddy zwang sich zur Geduld. »Sie brauchen bei dieser Tätigkeit keine Pistole zu tragen, Mr. Pickett«, erklärte er. »Sie brauchen bloß die Fernsehmonitore zu überwachen. Wenn irgend etwas Ernsthaftes passiert, sind Sie nur dafür zuständig, die Männer mit den Pistolen zu rufen.« »Dann klingt das aber nicht, als ob ich da ein so großartiger Wachmann wäre.« »Es liegt ganz bei Ihnen, ob Sie eine Waffe tragen wollen oder nicht, Mr. Pickett. Das liegt in Ihrer Wahl. Was wir brauchen, ist jemand mit guten Augen, dem es nichts ausmacht, längere Zeit an einem Platz zu sitzen. Das kann nicht jeder, wissen Sie? Für jüngere Männer ist das besonders schwer.« »Tut mir leid«, sagte Pickett. »Immer noch nicht interessiert. Möchten Sie ein Bier haben?« Das wollte Huddy tatsächlich, war aber nicht ohne weiteres bereit, das Risiko einzugehen, was der Kühlschrank dieses alten Mannes wohl enthalten mochte. »Nein, danke. Ich habe gerade zu Mittag gegessen. Aber sagen Sie, Mr. Pickett, beunruhigt Sie das Leben hier eigentlich nicht? Mir ist schon klar, daß Sie Ihr ganzes Leben hier verbracht haben, aber die Umgebung hat sich doch seit Ihrer Kindheit ganz drastisch geändert.« »Das hat sie wohl«, sagte Pickett. »Ganz sicher hat sie das. Früher ist kaum jemals einer die Straße raufgekommen. Als meine alten Herrschaften das Häuschen hier gebaut haben, gab's nicht mal 'ne richtige Straße.« »Und das macht Sie überhaupt nicht unruhig, Mr. Pickett? Das Seniorenheim, in dem Sie wohnen würden, hat
ein komplettes Sicherheitssystem, rund um die Uhr ärztliches Personal, und Sie würden trotzdem ganz für sich wohnen.« »Sie verstehen mich nicht.« Pickett grinste ihn an. »Ich mag diese Umgebung hier, und zwar ganz genauso, wie sie geworden ist, Huddy. Früher war es einmal schrecklich ein53
sam hier, bis die Familien dann herzogen - die Sanchez, die Rials, die Diaz und die Diegos und die Dan Phungs.« »Das stört Sie nicht?« »Wieso stören? Im Gegenteil! Ich hab's Ihnen doch gesagt, ich hab' gern Gesellschaft. Mir macht es einen Riesenspaß, all die Kinder um mich zu haben. Sagen Sie, Sie wissen doch, wie die mich nennen?« »El hombre magico«, sagte Huddy abwesend. »Das haben sie mir gesagt.« »Ja. Den Zaubermann. Stellen Sie sich das mal vor! Ein alter Knacker wie ich!« Pickett machte sein Spitzname offenbar Spaß. »Ich führ' denen kleine Taschenspielerkunststückchen vor und halte sie bei guter Laune, wenn sie nicht in der Schule sind, und das sind die meisten fast immer. Und dafür laß ich mich von ihren Mamas verwöhnen. Sie wissen schon: Die erledigen mir meine Einkäufe, kümmern sich manchmal um meine Wäsche und so. Ich bin hier so etwas wie ein öffentlicher Babysitter. Weil es sonst keinen gibt.« Sein Grinsen wurde breiter. »Daran hab' ich mehr Spaß, als wenn ich nach Einbrechern und Dieben Ausschau halten müßte.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur anderen Seite des Zimmers. »Wenn ich in die Röhre starren möchte, dann sehe ich mir lieber Laverne und Shirley oder Football an als irgendeinen leeren Korridor. Wenn Sie also hier sind, um mich zu überreden, diesen Job anzunehmen, junger Freund, dann fürchte ich, haben Sie sich den Weg umsonst gemacht.« Er zögerte einen Augenblick lang. »He, aber vielleicht können Sie mir etwas sagen.« »Wenn ich kann.« Der enttäuschte Huddy war im Begriff zu gehen. Pickett machte eine weitausholende Handbewegung nach rechts. »Es geht um diese alte Müllkippe dort unten.« Huddys Muskeln spannten sich sofort. »Solange ich mich erinnern kann, hat dieses Zeug dort unten vor sich hingestunken und die Gegend verpestet. Und dann wach' ich vor ein paar Tagen plötzlich auf, und man könnte meinen, King Kong hätte dort drunten mit einem Eimer und einem Spaten 54
gearbeitet. Alles sauber. Jemand muß es verdammt eilig gehabt haben, das zu tun, Mr. Huddy. Ich habe mich bloß gefragt, ob Sie vielleicht zufällig wissen, wer das getan hat und warum. Nicht das Saubermachen - das war schon seit Jahren überfällig. Aber warum so schnell?« »Keine Ahnung«, sagte Huddy vorsichtig. »Ich könnte mir nur denken, daß die Leute, die ihren Dreck dort abgelagert haben, auf die Idee gekommen sind, daß es Zeit war, einmal sauberzumachen, und das dann auch gleich getan haben.« »Ja, Zeit war es wohl. Das war es schon vor dreißig oder vierzig Jahren.« Er zuckte leicht zusammen, und seine Hand griff an seine Brust. Es dauerte nur eine Sekunde lang, und er griff nicht nach dem Tablettenröhrchen auf dem Tisch. »Aber besser spät als nie, denke ich«, fuhr er fort. »Mir ist es inzwischen egal. Aber die Kinder spielen die ganze Zeit dort unten, wissen Sie das? So wie meine Schwester und ich, als wir noch klein waren. Ihre Eltern versuchen sie davon abzuhalten, aber Kinder spielen überall, wo ihnen danach ist. Ich versuche sie zu warnen, aber ich versteh' ihre Sprache kaum, und einige von denen können kaum Englisch. Es ist gut, jetzt die Bäume und das Gras dort unten zu sehen. Das ist besser für die.« »Ich bin sicher, daß die Firmen, die dafür verantwortlich waren, sich jetzt auch wohler fühlen, weil sie saubergemacht haben«, sagte Huddy betont arglos. »Nun ja. Bloß schade, daß sie das nicht schon vor langer Zeit getan haben. Ich hab' nämlich eine Schwester gehabt, wissen Sie? Die hat lange Zeit hier mit mir zusammengelebt. Catherine hieß sie. Als Mom und Dad dann gestorben waren, ist sie weggezogen. Und dann ist sie viel zu jung gestorben. Ich hab' mich immer gefragt, ob nicht vielleicht das Zeug, das die dort unten abgelagert haben ...« - und wieder wies seine Hand in Richtung auf das Tal -, »vielleicht etwas damit zu tun hatte, daß Caty so jung gestorben ist.« »Es gibt immer Leute, die jung sterben«, meinte Huddy. »Woran ist sie denn gestorben?« 55
»Krebs. Leber und Lunge. Ein bildhübsches Mädchen, das war Catherine wirklich. Meine Eltern sind auch an Krebs gestorben. Schätze, ich habe Glück gehabt.« »Sehen Sie«, sagte Huddy, »das liegt bei Ihnen in der Familie. Man kann das nicht einer einzigen Ursache zuschreiben.« »Hm, mag schon sein«, sagte Pickett leise. »Aber bevor Dad gestorben ist, hatten wir keinen Krebs in der Familie. Zumindest habe ich nie etwas davon gehört.« »Nun, Sie wissen ja, wie das früher mit den ärztlichen Aufzeichnungen war. Damals wußte man häufig gar nicht, woran die Leute gestorben sind. Und selbst wenn man es wußte, hat man den Krankheiten alle möglichen Namen gegeben.« »Das stimmt«, räumte Pickett ein, »aber das ist heute ja auch nicht mehr wichtig, denke ich. Vorbei ist vorbei. Jedenfalls bin ich froh, daß der Dreck endlich weg ist.« »Ich auch«, sagte Huddy. Er stand auf. »Nun, wenn ich Sie wirklich nicht überzeugen kann, unser Angebot anzunehmen, Mr. Pickett ...«
»Nein, ich fürchte, das können Sie nicht, junger Mann.« »Offensichtlich ist Ihnen das, was Sie mir da erzählt haben, recht wichtig. Ich stelle mir vor, wenn jemand Sie fragen würde, was Sie von der Sache halten, dann würden Sie denen sicher sagen, wie glücklich Sie sind, daß hier endlich saubergemacht worden ist?« »Sicher würde ich das. Ich würde denen dasselbe sagen, was ich Ihnen gesagt habe. Vorbei ist vorbei.« Huddy spürte Erleichterung. Dieser Mann wird uns keinen Schaden zufügen, entschied er. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, daß Sie sich für mich Zeit genommen haben, Mr. Pickett. Masters Security wird sich wohl jemand anders suchen müssen.« »Ja, ich denke schon.« Pickett stand auf und ging auf die Tür zu. »Aber sagen Sie mir eines, Mr. Huddy: Warum sind die gerade auf mich so scharf? Ich bin doch schon seit Jahren in Pension.« 56
»Gute Referenzen. Die Behörden weisen uns auf Leute wie Sie hin. Und wir sind bemüht, unseren Senioren zu helfen, wo immer wir können. Diese Stellung eignet sich für jemanden, der schon älter ist. Aber ich bin sicher, daß wir keine Schwierigkeiten haben werden, jemanden zu finden.« »Das ist gut, weil ich mich hier so wohl fühle.« Pickett griff nach der Tür. »Glauben Sie ja nicht, daß ich nicht zu schätzen weiß, was Sie für mich tun wollen. Ich habe bloß einfach keine Lust.« Jetzt, wo das Gespräch beendet war, drängte es Huddy in sein Büro zurück. Es wäre ihm immer noch lieber gewesen, wenn Pickett den Job angenommen hätte. Aber nachdem er jetzt mit ihm gesprochen hatte, war er ziemlich sicher, daß der alte Mann nichts sagen würde, was irgendeinen neugierigen Bezirksinspektor, der etwa an seine Tür klopfen würde, beunruhigen könnte. Wahrscheinlich würde er ihm auch nur davon vorschwärmen, wie hübsch der Platz jetzt aussah und wie gut das für die Kinder sein würde. Es klopfte an der Tür, und dann war leises Kichern zu hören. »Das ist ganz bestimmt Ortuno und seine Bande«, sagte Pickett. »Ich nehme an, die mamacita von Carlos ist vom Supermarkt zurück.« »Ich werd' jetzt gehen, Mr. Pickett. Nochmals vielen Dank, daß Sie sich Zeit für mich genommen haben. Und wenn Sie es sich je anders überlegen sollten, dann haben Sie ja die Telefonnummer von Masters.« »Ja, ich denke, ich hab' sie hier irgendwo hingesteckt, als sie mir der andere junge Mann gegeben hat. Machen Sie's gut, Sonny.« »Schon recht.« Pickett trat beiseite, während Huddy die Tür öffnete. Beide traten hinaus. Pickett dicht hinter Huddy. Schmutzige, verstaubte Kinder drängten sich lachend und kichernd um den alten Mann und riefen ihm in einem kaum verständlichen Durcheinander aus Spanisch und Englisch zu. Zwei von ihnen schoben ihm Cola-Flaschen hin. 57
»Jetzt mal langsam.« Pickett machte besänftigende Handbewegungen. »Ich kann nicht alle gleichzeitig drannehmen. Wer kommt als erster? Du?« Er deutete auf ein kleines Mädchen, das sich mit beiden Händen den Mund hielt und den Kopf schüttelte. »Und wie wär's mit dir?« Der kleine Junge, den er ausgewählt hatte, trat einen Schritt zurück. »Oder vielleicht solltest ...« Er packte schnell zu und schnappte sich den ältesten Jungen, den Anführer der kleinen Kinderschar, der Huddy bei seiner Ankunft ausgefragt hatte. Etwas ließ Huddy zögern. Was er gehört hatte, ging ihm durch den Sinn. »El hombre magico ... Ich mach' denen Taschenspielerkunststückchen vor ...« Er vergeudete immer zu viel Zeit damit, seiner Neugierde nachzugehen. Aber Pickett hatte wirklich nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was man sich unter einem Zauberer vorstellte. Huddy war neugierig, was der alte Mann tun konnte. »Okay«, dirigierte Pickett den Jungen, »halt sie fest!« Der Junge hielt die Flasche mit dem süßen Getränk und schloß die Augen. Das gehört alles mit zu der Show, dachte Huddy. Warum steh' ich hier und seh' mir das an? Ich hab' schließlich zu tun, und Ruth wird sich schon fragen, wo ich so lange bleibe. Pickett strich mit beiden Händen über der Limonadenflasche durch die Luft, schloß die Augen und murmelte halblaut etwas Unverständliches. Als er fertig war, schnippte er mit den Fingern. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob überhaupt nichts geschehen wäre. Dann sah Huddy, daß der Verschluß von der Flasche gefallen war und ihr Besitzer bereits das süße Zeug in sich hineinschüttete. »Okay, und jetzt die anderen.« Pickett entfernte einen Flaschenverschluß nach dem anderen. Jedesmal schob Huddy sich ein wenig näher hinan und versuchte herauszufinden, was hinter dem Trick steckte. Er runzelte die Stirn. Das Ganze sah so einfach aus, und doch hätte er nicht um 58
viel Geld sagen können, wie der alte Mann das bewerkstelligte. Ganz sicher waren die Verschlußkappen vorher nicht gelockert worden, weil Limonade ja sofort ihre Kohlensäure verlor, wenn man den Kronenkorken abnahm. Aber wie genau er auch hinsah, er konnte nicht sehen, wie Pickett es anstellte. Die Hände des alten Mannes kamen keiner der Flaschen nahe, sondern blieben immer wenigstens zehn Zentimeter entfernt. Jetzt hatte er sogar die Flasche des kleinen schwarzhaarigen Mädchens geöffnet, das er als erstes angesprochen hatte, und das stand wenigstens drei Meter abseits. Die Kinder rannten jetzt wieder lachend und trinkend den Weg hinunter. Huddy zögerte. Es war inzwischen heiß geworden, und es würde noch heißer werden. Er hatte im Büro eine Menge zu tun und sehnte sich nach der
Kühle des klimatisierten Büroturms in Century City. Trotzdem folgte er Pickett zum Haus zurück, bis sie wieder auf der Veranda standen. »Jetzt versteh' ich, warum die Sie den Zaubermann nennen. Ein hübscher Trick ist das. Arbeiten Sie auch mit Karten und Stöcken und solchem Zeug?« »Nö, ich spiel' bloß so rum.« Pickett wirkte ein wenig verlegen. »Ich hab' Ihnen ja gesagt, ich bin hier so etwas wie der öffentliche Babysitter. Ich hab' mich schon immer auf solche Tricks verstanden. Das hält die Kinder bei Laune.« Er zögerte kurz. »Wollen Sie es noch mal sehen?« Er wies zur Straße hinunter. »Den Eltern ist das alles egal.« »Ja. Ja, ich würde es gern noch einmal sehen, Jake. Wie wär's, wenn ich Sie jetzt doch um dieses Bier bitten würde, das Sie mir angeboten haben?« »Gut. Warten Sie hier!« Pickett verschwand ins Haus und tauchte kurz darauf wieder mit zwei dunkelgrünen Glasflaschen auf. Das versetzte Huddy den nächsten leichten Schock und ließ den alten Mann in seiner Einschätzung eine Stufe höher steigen. »Also.« Pickett reichte seinem Besucher die beiden Hei59
neken-Flaschen hinunter. »Halten Sie in jeder Hand eine, dann mach' ich sie beide gleichzeitig auf.« »Von dort oben auf der Porch?« »Warum nicht?« Pickett lächelte unschuldig. Huddy begriff nicht. Und wenn er etwas nicht begriff, dann war er ungehalten. Es störte ihn ungemein, daß er sich einfach nicht zusammenreimen konnte, wie der alte Mann den scheinbar doch so einfachen Trick zustandebrachte. »Und was ist Ihr Geheimnis? Wie machen Sie es?« »Wenn ich Ihnen das jetzt sagen würde, dann wär's doch kein Geheimnis mehr, oder?« sagte Pickett und grinste. Huddy überprüfte beide Deckel und zerrte mit aller Kraft an einem. Er saß fest, ließ sich nicht bewegen. Er inspizierte beide Flaschen genau nach irgendwelchen versteckten Fäden, fand aber nichts. Pickett wartete, bis er fertig war. Er lächelte noch immer. »Nun?« sagte Huddy. »Nun - was, Sonny?« »Fangen Sie an! Was ist mit Ihrem >Zauberspruch« Dabei gestikulierte er mit einer der beiden Flaschen. »Ach, das - das ist bloß für die Kinder. Aber wenn Sie natürlich die ganze Show haben wollen ...« »Nein, das können Sie sich sparen. Machen Sie es, wie Sie Lust haben!« »Okay«, sagte Pickett, worauf Huddy zusammenzuckte, als die Kronenkorken beider Flaschen prompt heruntersprangen. Bier schäumte aus der Flasche, mit der er herumgefuchtelt hatte, und lief ihm über die rechte Hand. »Hoppla!« Pickett stieg die Treppe herunter und schnappte sich die Flasche. Er nahm einen langen Zug und strich sich dann zufrieden über die Lippen. »Jedenfalls bequemer, als einen Flaschenöffner zu suchen, wie?« Er lachte. Huddy nippte vorsichtig an seinem Bier. Es war gut und kalt, und er war froh, daß er darum gebeten hatte. Irgendwie half es ihn zu beruhigen. Er hatte den Trick jetzt aus der 60
Nähe gesehen. Vielleicht aus zu großer Nähe; denn wenn sein Leben davon abgehangen hätte, daß er erklärte, wie Jake Pickett die beiden Kronenkorken gelöst hatte, dann wäre Huddy jetzt ein toter Mann gewesen. Wenn er auf die Idee gekommen wäre, einen der beiden Kronenkorken unter einem Vergrößerungsglas anzusehen, hätte ihm das vielleicht einen Hinweis darauf gegeben, was sich abgespielt hatte. Er hätte dann gesehen, daß von dem Korkbelag, der die Verschlußkappe innen auskleidete, anscheinend etwas fehlte. Aber die Kronenkorken lagen vergessen im Staub, als Pickett ihn zur Straße hinunterbegleitete. »Das ist ein einfacher Trick«, sagte Huddy vorsichtig. »Wirklich einfach.« Dabei bemerkte er gar nicht, wie schmutzig seine Schuhe wurden, die doch immerhin zweihundert Dollar gekostet hatten. »Aber ich will verdammt sein, wenn ich herausbekommen kann, wie Sie das gemacht haben.« »Wollen Sie noch mehr sehen?« Pickett strahlte wie ein kleiner Junge, der seinen Eltern gerade ein Zeugnis mit lauter Einsern gezeigt hatte. »Hmm.« Huddy gab sich desinteressiert. Das hatte er bei Direktionssitzungen genügend oft üben können. »Ja, ich würd' schon gern mehr sehen. Werden Sie sich noch ein paar Flaschen holen?« »Nee. Den Trick haben Sie ja gesehen.« Pickett lehnte sich auf die Schranke. Sie protestierte ächzend, und das ramponierte Schild mit der Aufschrift >Sackgasse< drohte herunterzufallen. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Eldorado. »Ihr Wagen ist ganz schön schmutzig.« »Ja, die Straße ist nicht asphaltiert.« Er fragte sich, worauf Pickett wohl hinauswollte. Gleichzeitig ärgerte es ihn, daß der alte Mann es bemerkt hatte. Die Vorderseite des schweren Wagens war mit Schlamm bespritzt, und die Speichenräder hatten braune Flecken. »Kommen Sie, sagen Sie schon«, drängte Huddy, »was werden Sie jetzt machen?« 61
»Schon geschehen.« Pickett stand an der Schranke. »Haben Sie sich in letzter Zeit Ihren Wagen angesehen?« Huddy sah sich um, und das, was er sah, traf ihn wie ein Ziegelstein zwischen die Augen. Der Schlamm und der Schmutz waren verschwunden, nicht nur von der Vorderseite des Wagens, sondern auch von unten und den Speichenrädern. Langsam ging er um den Eldorado herum. Selbst die Unterseite des Kofferraums war makellos sauber. Der Trick mit den Limonadenflaschen hatte ihn verblüfft. Der mit den Bierflaschen hatte ihn wirklich neugierig gemacht. Und jetzt stand er wie benommen da und starrte den Wagen mit weit aufgerissenen Augen an. Ruhig Blut, sagte er sich. Nichts überstürzen! Suche nach der logischen Erklärung! Zieh keine voreiligen Schlüsse! »Wie haben Sie das gemacht?« Pickett zuckte die Achseln. »Wie ich sagte: Das ist ein Trick. Nichts Besonderes.« »Ich sehe kein Wasser. Und keinen Luftschlauch. Wie haben Sie das gemacht?« Die Stimme kippte über, und er zwang sich, ruhig zu werden. »Mr. Pickett, würde es Ihnen etwas ausmachen, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen?« »Ich hab's Ihnen doch gesagt, Sonny«, erinnerte ihn der alte Mann. »Ihr Job als Wachmann interessiert mich nicht und auch kein ...« »Nein, nein«, beeilte sich Huddy ihn zu beruhigen. »Nichts dergleichen. Security Masters können Sie vergessen ... Masters Security«, verbesserte er sich schnell. »Was ich sagen wollte, ist, der Termin für die Untersuchung ist bereits für Sie festgelegt worden, und die Ärzte, die das machen sollten, sind Firmenangestellte. Wenn Sie nicht erscheinen, bekommt der zuständige Arzt einfach ein paar Stunden frei. Jammerschade, die Zeit zu vergeuden. Ich wollte das vorher schon erwähnen. Auf die Weise kriegen Sie eine komplette Untersuchung, die Sie nichts kostet.« »Ich mag keine Krankenhäuser.« Pickett runzelte verunsichert die Stirn. 62
»Ich auch nicht. Ich gehe zu denselben Ärzten«, log er fieberhaft. »Die sind nur für unsere leitenden Angestellten tätig.« Jetzt grinste Pickett. »Das könnte Spaß machen. Ich bin 'ne ganze Weile nicht beim Arzt gewesen. Die Pensionskasse zahlt für Allgemeinuntersuchungen nicht. Würde mir ganz sicher nicht schaden, denke ich.« »Natürlich nicht. Überhaupt nicht. Wie gesagt, eigentlich wäre es doch schade, wo der Termin schon steht. Und wegen Geld brauchen Sie sich nichts zu denken. Die Firma kann es sich leisten.« »Ich hab' trotzdem ein komisches Gefühl dabei, Huddy. Wo ich doch die Stelle nicht annehme und das alles.« »Betrachten Sie es als Ausgleich für das Bier«, sagte Huddy besänftigend. »Meine Firma tut gern etwas für Senioren. Wenn wir Sie nicht dazu überreden können, die Stelle anzunehmen, dann können wir wenigstens dafür sorgen, daß Sie über Ihren Gesundheitszustand Bescheid wissen. Wir machen so etwas die ganze Zeit.« »Können Sie meinen Termin nicht einfach irgendeinem anderen geben?« Huddy schüttelte den Kopf. »So läuft das bei uns nicht. Sie nehmen den jetzt entweder, oder er ist dahin. Kommen Sie schon, Jake! Unsere Firmenärzte verdienen schon genug Geld, daß wir ihnen nicht auch noch bezahlte Freizeit verschaffen müssen.« Und damit traf er auf den Nerv. Pickett hatte genug amtsärztliche Untersuchungen erlebt und war neugierig geworden. »Sonny, ich bin einverstanden.« »Danke, Jake! Wissen Sie, wenn man sieht, wie Sie hier so leben, über einer Chemiehalde, dann kann man ja wirklich nicht wissen, was Sie sich vielleicht eingefangen haben. Und unsere Ärzte sind ein gutes Stück besser als die, die für den Bezirk tätig sind. Wenn es etwas gibt, was Sie sich hier eingefangen haben, dann werden die das auch finden und hinkriegen.« 63
»Okay, okay, Sie haben mich überzeugt. Aber Sie sind auch ganz sicher, daß es nichts kostet?« »Keinen Cent«, sagte Huddy munter. »Das verspreche ich Ihnen.« Er führte die Flasche an die Lippen und nahm noch einmal einen kräftigen Schluck, wie um seine guten Absichten zu demonstrieren. »Nun, und wann ist mein Termin?« »In ein paar Tagen. Ich erinnere mich nicht genau.« »Haben Sie ihn nicht bei Ihren Papieren?« Pickett deutete mit einer Kopfbewegung auf das Klemmbrett. »Ah ... nein. Warum soll ich das mit mir herumschleppen? Warum? Haben Sie vor, nicht da zu sein?« Pickett lachte. »Ich habe mehr Zeit als sonst etwas, Huddy. Wo muß ich hin?« »Ich schicke Ihnen die Einzelheiten, sobald ich wieder in meinem Büro bin.« Er sah sich um. »Haben Sie einen Wagen?« Pickett drehte sich um und deutete auf ein blaues Gebilde, das etwas weiter unten an der Straße parkte. »Der da. Er ist so alt, daß er unheimlich viel Benzin braucht. Aber er läuft noch gut. Daß ich keinen Platz für eine Garage habe, heißt nicht, daß ich Fußgänger wäre. Vergessen Sie nicht, Sonny, ich bin gebürtiger Angelino.« »Wie dumm von mir. Meinen Sie, Sie können das Büro finden, wenn ich Ihnen den Weg beschreibe?« »Daß ich hier draußen wohne, heißt noch lange nicht, daß ich nicht herumkomme, Huddy. Ich bin mein ganzes Leben lang durch dieses Land gefahren. Ihre Leute brauchen mir bloß zu schreiben, wo ich hin soll, und ich werd' meinen Weg finden.«
»Fein. Ich melde mich also. Sie machen das richtig, Jake.« »Ich geb' mir Mühe.« Er streckte die Hand aus, um sich von ihm zu verabschieden, und wartete, bis Huddy die Flasche in die linke Hand genommen hatte. »He, denken Sie ja nicht, daß ich nicht dankbar wäre. Das bin ich nämlich. Ich wollte bloß sicher sein, daß Sie nicht etwa vorhaben, irgendeinen jungen Schlaukopf zu schicken, der mir klarmachen 64
soll, was für einmalige ärztliche Versorgung ich bekommen würde, wenn ich Ihren Job annehme.« »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte Huddy leise. »Ich verspreche Ihnen, die Untersuchung wird ein ganz und gar entspannendes Erlebnis für Sie sein.« 65
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Huddy kostete es einige Überwindung, darauf zu verzichten, die Straßenlage seines Eldorado auf der ungeteerten Straße zu testen. Aber kaum hatte er den Riverside Freeway erreicht, als er die Tachonadel auf achtzig Meilen schnellen ließ. Und dort blieb sie, solange sein Radarwarner keinen Laut gab. Und mit ähnlich hoher Tourenzahl kreisten seine Gedanken. Immer wieder hoben sich vor seinem geistigen Auge Verschlußkappen von Bierflaschen, winzige Metallkreise, die ebensoleicht vom Flaschenhals glitten, als wären Flaschenhals und Deckel teflonbeschichtet gewesen. Und Pickett stand da und genoß sein Staunen und grinste sein dummes, unwissendes Altmännergrinsen, während kaltes Bier über Huddys rechte Hand schäumte. Huddy sah auf seinen Ärmel und war für den dunklen Flecken dort dankbar: der augenfällige Hinweis, daß er nicht geträumt hatte. Und dann der Eldorado am Straßenrand - gerade noch mit Schlamm und Staub bedeckt und im nächsten Augenblick so sauber wie im Vorführraum. Der Wagen hatte seinen Schmutz abgeworfen, die Flaschen ihre Kronenkorken und Huddy ein paar ausgeprägte Vorurteile. Jetzt begannen die Warnsignale, die ihn schon so oft gerettet hatten, in ihm zum Leben zu erwachen. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und wurde langsamer, bis die zulässige Geschwindigkeit erreicht war. Ganz gleich, wie vielversprechend ein Projekt auch zu Anfang aussehen mochte - es gab immer die unvermeidbaren, versteckten Probleme, die man auf den ersten Blick nicht gleich erkannte. 66
Du mußt gründlich nachdenken, ermahnte er sich. War es möglich, daß es für den Flaschentrick irgendeine andere Erklärung gab? Zehn Minuten später mußte er einräumen, daß es einige Möglichkeiten gab. Aber was war mit seinem plötzlich gesäuberten Cadillac? So sehr er sich auch Mühe gab, er konnte sich einfach keine Methode vorstellen, die es Pickett ermöglicht hätte, den verkrusteten Schmutz von den Seiten und der Unterpartie des Wagens zu entfernen. Blieben also nur unvorstellbare Methoden, und eben das hatte Huddy so erregt und seinen Verstand auf Hochtouren arbeiten lassen. Hier war etwas am Werk, das er nicht begriff. Es war keine Zauberei und auch nicht Fingerfertigkeit. Pickett verstand es ganz offensichtlich selbst auch nicht, doch das hatte nichts zu besagen. Wichtig war nur, welchen Nutzen man daraus ziehen konnte. Huddy war stolz darauf, daß er sich auch außerhalb der engen Interessen von CCM über alle wichtigen Ereignisse und Entwicklungen auf dem laufenden hielt. Er las mehr als nur >Forbes<, >Business Week< und >Fortune< und versuchte seinen Horizont weiter zu halten, als sich mit der Lektüre der Fachzeitschriften zu begnügen, die für das Management von CCM vorgeschrieben war. Er las ebenso zu seiner Unterhaltung wie für geschäftliche Zwecke und war in einer Zeit gereift, in der das Unmögliche nur einen Mikrochip weit von der Wirklichkeit entfernt war. Und daher hatte er eine gewisse Vorstellung davon - sofern er nicht im Begriff war, völlig verrückt zu werden was Jake Picketts Tricks vielleicht bedeuten konnten, und zwar Vorstellungen, die ein etwas weniger belesenes Individuum vielleicht gleichgültig mit einem Achselzucken abgetan hätte. Vielleicht war das, was er dachte, verrückt, sagte er sich. Vielleicht würde er einen Narren aus sich machen, indem er seinen Hoffnungen und Mutmaßungen nachging und dabei etwas schmerzhaft Offensichtliches übersah. Vielleicht. Aber der Erfolg seiner Säuberungsmaßnahme in dem Tal 67
hatte ihm in der Firma so viel Gewicht verliehen, daß jetzt durchaus die Zeit war, auch das Risiko einer kleinen Panne einzugehen. Wenn er sich in bezug auf Pickett völlig irrte -und die Chance bestand durchaus -, dann würde er eben die Peinlichkeit auf sich nehmen und das Ganze schnell hinter sich bringen. Und im übrigen würde alles so lautlos geschehen, daß seine Vorgesetzten und Kollegen eigentlich gar nicht bemerken sollten, was vor sich ging. Er hatte eine ausgezeichnete Chance, entweder seinen Erfolg zu verkünden oder einen Mißerfolg vertuschen zu können. Jedenfalls war das Ganze ein Risiko, das sich lohnte. Er war so in Gedanken versunken, daß er die Abzweigung verpaßte und einen Umweg über die Overland und die Pico machen mußte. Dann bog er in den Century Boulevard ein und verschwand in einem der unterirdischen Parkplätze, deren Ausfahrten die Straßen säumten wie die Löcher von Ameisenbären. Der Wachmann winkte ihm zu, als er an ihm vorbeifuhr. Er stellte den Wagen auf dem ihm zugeteilten Platz ab, fuhr mit dem Expreßlift ins achtundzwanzigste Stockwerk und strebte seinem Büro zu, ohne auf die Zurufe und das Winken seiner Kollegen zu achten. Shawna, seine Sekretärin, erwartete ihn.
»Hello, Mr. Huddy. Man hat Sie schon vermißt.« Sie sah auf ihren Block. »Sie müssen sechs Anrufe erwidern. Der erste kam von Mr. ...« »Das hat alles Zeit.« Er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, die das Klemmbrett hielt. »Aber einer der Anrufe war von ...« »Alles, habe ich gesagt, Shawna. Ich erledige das so schnell wie möglich.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Sie blickte ihm neugierig nach, bis er in seinem Büro verschwunden war. Hinter den Glasfenstern breiteten sich endlose Wellen von Häusern und Beton aus, bis sie im Smog verschwanden. Wenn die Luft klar war, konnte man von Huddys nach Westen blickendem Fenster bis zum Pazifik sehen. Aber die 68
Luft war nicht klar. Das ist an Spätsommertagen in Los Angeles selten der Fall. Aber wie die meisten seiner Mitbürger hatte er sich an den braungelben Dunst acklimatisiert, der im Becken von L.A. als Luft galt. Außerdem war der Ausblick ohnehin ein alter Hut. Er saß einen Augenblick versunken hinter seinem Schreibtisch und betrachtete die Maserung in dem Nußbaumholz und drückte dann den Knopf der Sprechanlage. »Shawna?« »Ja, Mr. Huddy?« »Verbinden Sie mich mit Ruth Somerset, ja?« »Ja, Sir.« Eine Pause. Und dann: »Da meldet sich niemand, Sir.« »Verdammt! Vergessen Sie's!« Er schaltete die Sprechanlage ab und wandte sich dem Computerterminal zu, das links auf seinem Schreibtisch stand. Er aktivierte den Bildschirm. Ruth konnte das viel schneller, das wußte er. Aber da sie nicht greifbar war, würde er versuchen, sich die Information selbst zu verschaffen. Um bis auf ihre Rückkehr zu warten, war ihm die Sache viel zu wichtig. Wichtiger als alles andere; wichtiger als die Anrufe, die er erwidern sollte, wichtiger als Ruth und ihr geplanter Urlaub. Das einzige, worauf es jetzt ankam, war, eine Erklärung für Jake Picketts kleine Taschenspielerkunststückchen zu finden. Der Computer reagierte prompt auf das Paßwort, das die Information über das Säuberungsprojekt schützte. Diskrete Codes ließen eine Liste mit ein paar hundert Namen auf dem Bildschirm erscheinen. Eine Liste, die für CCM sehr gefährlich war. Sie enthielt die Namen aller Menschen, die in enger Nachbarschaft der Gifthalde gelebt hatten und von den die Toxikologen glaubten, daß ihre Krankheit unmittelbar dieser Umgebung zuzuschreiben war, sowie alle persönlichen Informationen über die Betreffenden. Er brauchte nur Sekunden, um Picketts Namen zu finden; bei einigen anderen hätte es länger gedauert - bei denen beispielsweise, die inzwischen in Mexiko lebten. PICKETT, JAKE. Schwarze Buchstaben starrten ihn von 69
einem weißen Bildschirm an. Huddy stützte das Kinn auf die linke Hand, und sein Zeigefinger strich langsam über das Grübchen an seinem Kinn, während er den Text auf dem Bildschirm studierte. Was er dort vorfand, war nicht neu, aber er las es trotzdem. Pickett war unmittelbar neben der Chemiehalde aufgewachsen. Seine Eltern ebenfalls. Das überraschte Huddy etwas. So alt sah das Lehmhaus nicht aus; aber es war nicht schwer, älteres Material mit Lehm zu überziehen. Stein beispielsweise oder Adobe. Diesmal interessierte er sich eingehender für die Schwester, die Pickett erwähnt hatte. Sie war nach dem Tod der beiden Eltern weggezogen. Schließlich hatte sie sich in Houston niedergelassen, wo sie geheiratet hatte. Ein Kind, eine Tochter, anscheinend normal (bis jetzt jedenfalls, dachte Huddy). Geschieden. Verstorben. Die wesentlichen Geschehnisse eines Lebens lassen sich auf sehr engem Raum konzentrieren. Huddy las weiter. Die Tochter hieß Wendy, war also Picketts Nichte. Sie war aus Houston weggezogen und hatte schließlich einen Mann namens Arriaga Ramirez geheiratet, den Besitzer und Betreiber eines kommerziellen Fischerbootes. Zwei Kinder: ein Sohn, Martin, derzeit Student an der Universität von Texas, und eine sechzehnjährige Tochter namens Amanda. Beide Kinder ebenfalls anscheinend gesund und normal. Das heißt, sie waren so geboren worden. Die Tochter war seit einem Busunfall, den sie im Alter von zehn Jahren erlitten hatte, querschnittgelähmt, und an den Rollstuhl gefesselt. Schlimm, dachte Huddy. Die Welt ist hart. Beide Eltern Picketts waren jung gestorben. Drei Krebstodesfälle in derselben Familie, die alle möglicherweise auf die jetzt gesäuberte Gifthalde zurückzuführen waren. Huddy empfand wegen des Todes von Picketts Vater, Mutter und Schwester keinerlei Schuldgefühl. Das alles war geschehen, ehe er seine Tätigkeit bei CCM aufgenommen hatte. Für das, was ihnen widerfahren war, trug er keine moralische Verantwortung. Aber diese Großnichte tat ihm doch sehr 70
leid. Wirklich schlimm, wenn so etwas einem Kind widerfährt. Wichtig war, daß es reichlich Beweismaterial für die Theorie gab, daß die enge Nachbarschaft der Müllhalde eine Auswirkung auf den Gesundheitszustand der Pickett-Familie gehabt hatte. Warum Angst davor haben, sagte er sich. Wo es Hinweise auf genetische Schädigungen gibt, kann es auch genetische Verbesserungen geben. Seit sein Cadillac so plötzlich sauber geworden war, war ein einziges Wort in sein Bewußtsein hineingeschossen und pulsierte dort immer noch wie eine Leuchtreklame, wartete, daß er es leugnete. >Telekinese<: Die Fähigkeit, Gegenstände zu bewegen, ohne sie physisch zu berühren, vermittels irgendeiner Art mentaler Energie. Wissenschaftler spotteten darüber, Zeitschriften trieben ihre Auflagen hoch, indem sie sich
damit befaßten, und Tests, die sich damit auseinandersetzten, machten einen häufig wahnsinnig, indem sie zu keinen klaren Ergebnissen führten. Was für Tests? Kronenkorken, die unberührt von ihren Flaschen glitten? Schmutz, der sich von der Unterseite eines schlammbespritzten Wagens löste? Waren das brauchbare Tests, die sich als Grundlage eigneten, um Industrieimperien darauf zu errichten? Wohl kaum. El hombre magico nannten die Kinder aus der Nachbarschaft Pickett. Der Zaubermann, der sie mit seinen Tricks amüsierte und damit ihren Eltern das Leben ein wenig leichter machte. Huddy bezweifelte, daß sich je auch nur ein einziger Erwachsener die Zeit genommen hatte, sich einen von Picketts Tricks anzusehen. Die waren schließlich für Kinder. Und selbst wenn sie das getan hätten - was hätten sie schon gesehen? Ein wenig Bühnenzauber und sonst nichts. Aber Huddy ließ sich nicht so leicht täuschen. Was war mit der Nichte, dieser Wendy? Konnte auch sie Zauberkunststückchen vorführen? In den Aufzeichnungen gab es darauf keinen Hinweis; aber den hatte es in bezug auf Pickett ja auch nicht gegeben. So etwas würden Leute, die Informationen zu sammeln hatten, nicht berichten. 71
Die Familie Ramirez lebte in dem kleinen Städtchen Port Lavaca. Huddy sagte das nichts; er war eher mit den Vororten von London und Hongkong vertraut. Die Tatsache, daß Port Lavaca an der südtexanischen Küste zwischen Houston und Corpus Christi lag, sagte ihm mehr. CCM hatte beträchtliche Interessen an Houston. Er schaltete auf eine andere Liste. Ja, da war es: die große Raffinerie, ein Teil der petrochemischen Abteilung von CCM. Sie lag südlich von Houston an der Matagorda-Bucht, nicht weit von Port Lavaca entfernt. Interessant, aber nicht sonderlich nützlich. Er studierte den Bildschirm und betätigte unterdessen wieder die Sprechanlage. »Shawna, probieren Sie's noch einmal in Miss Somersets Büro, ja?« Diesmal dauerte es etwas länger als das letzte Mal, und dann drang eine vertraute Stimme aus dem Lautsprecher. Sie war kühl und höflich, ganz geschäftsmäßig. Das mußte sie sein; schließlich hörten andere zu. »Mr. Huddy? Hier Ruth Somerset.« Huddy lächelte. »Ich habe da ein paar Fragen an Ihren Bereich, Miss Somerset, über die ich gerne mit Ihnen sprechen würde, aber nicht am Telefon. Ich weiß, daß Sie viel zu tun haben. Aber hätten Sie vielleicht ein paar Minuten für mich Zeit?« »Ist es auch wirklich wichtig?« Ein tiefer Atemzug. »Ich habe wirklich sehr viel zu tun.« »Es tut mir sehr leid, aber ich brauche wirklich dringend Ihre Unterstützung.« Er konnte sie am anderen Ende der Leitung grinsen sehen. »Wenn es wirklich dringend ist, dann komme ich.« Während er auf sie wartete, dachte er nach, wie er weiter vorgehen würde. Es dauerte nicht lange, bis sie in sein Büro trat. Adrett und formell wie immer. Schwarzer Rock, weiße Bluse und schwarze Weste. Rüschenärmel, dunkle Strümpfe, einfache, goldene Halskette. Schwarze Schuhe. Ganz professionell. Er fragte sich, was seine Kollegen, die Somerset für so etwas wie eine Eiskönigin hielten, wohl gedacht 72
hätten, wenn sie die Dessous hätten sehen können, die die stellvertretende Leiterin der Computerabteilung gewöhnlich unter ihrem Geschäftskostüm trug. Ihr Blick wanderte zu dem immer noch eingeschalteten Terminal hinüber. »Hast du etwas von meinen Ablagen gefunden?« »In deiner Ablage finde ich immer etwas.« Er zwang sich, ernst zu werden. »Setz dich!« »Wirklich Benjy, ich hoffe, daß das wichtig ist.« Sie preßte die Lippen zusammen. »Ich habe eine ganze Menge aufzuarbeiten.« »Wichtig ist gar kein Wort dafür. Ich bereite mich darauf vor, den Abgrund auszuloten. Oder vom Dreimeterbrett in einen Eimer trübes Wasser zu springen.« »Was du sagst, klingt auch recht verworren.« »Aber nicht absichtlich. Es ist nur so, daß ein paar Dinge, die ich in letzter Zeit ausgegraben habe, mich ein wenig überwältigt haben.« »Was für Dinge?« Sie schlug ihre perfekten Beine übereinander und wartete darauf, daß er nun endlich zur Sache kam. »Du erinnerst dich doch an den einen potentiellen Unruhestifter, über den ich mir Sorgen machte, als wir vor ein paar Tagen im Tal waren?« Sie überlegte einen Augenblick lang und schüttelte dann den Kopf. »Er hieß Pickett. Jake Pickett.« »O ja, jetzt erinnere ich mich. Du wolltest ihn dir persönlich ansehen.« »Und das habe ich getan. Ich bin hinaufgefahren, um ihm eine Stellung anzubieten, die es ihm erlaubt hätte, die Gegend und das Gesindel, das dort wohnt, zu verlassen. Er hat die Stelle wieder abgelehnt, war aber mit den Säuberungsarbeiten so zufrieden, daß ich nicht das Gefühl hatte, er könne gefährlich werden. Er ist intelligenter als die anderen Leute dort, aber das ist eher angeborene Schlauheit als echte Intelligenz.« 73
»Wenn er kein Problem darstellt, warum erwähnst du ihn dann?«
»Als ich schon im Gehen war, hat Pickett für ein paar Kinder einige Zauberkunststückchen vorgeführt. Und dann noch zwei speziell für mich.« Wenn Somerset verwirrt war, sah sie nicht ganz so hübsch aus. »Und was soll das alles, Benjy? Ich verstehe wirklich nicht, worauf du hinauswillst?« Huddy holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Ich habe Grund zu der Annahme, daß der Einfluß der Gifthalde bei der Pickett-Familie im Laufe der Zeit zu einer genetischen Mutation geführt hat, die sich in der Person Jake Picketts in einer paranormalen Fähigkeit manifestiert hat. Diese paranormale Fähigkeit ist gemeinhin als Telekinse bekannt.« Sie starrte ihn an. Als sie sicher war, daß er nicht etwa versuchte, sie auf den Arm zu nehmen, platzte sie mit dem für sie so typischen trillernden Lachen heraus. Huddy schloß sich nicht an, sondern wartete geduldig. »Das ist also dein Ernst! Benjy, du solltest dir keine Science Fiction-Filme mehr ansehen. Die haben einen schlechten Einfluß auf dich.« »Die meisten Leute sind schnell bei der Hand, sich lustig zu machen, wenn jemand das Thema Parapsyhologie aufs Tapet bringt«, sagte er ruhig. Da er ihre Reaktion erwartet hatte, ärgerte sie ihn auch nicht. Er wäre tatsächlich enttäuscht gewesen, wenn sie anders reagiert hätte. »Was ist denn mit diesem Israeli, diesem Uri Geller? Dem, der Löffel verbiegt, indem er sie nur ansieht? Und mit diesen Leuten, die Film einfach dadurch entwickeln, daß sie Bilder auf die Negative denken? Was ist mit Kirlian-Fotografie? Und es gibt auch noch andere Beispiele.« »Ich seh' mir auch die Nachrichten an und lese Zeitung«, antwortete sie. »Es gibt für jedes Beispiel, das du erwähnt hast, eine Erklärung.« »Und vielleicht gibt es auch eine für das, was dieser Pickett tun kann, die ich nur nicht erkenne. Komm schon, Ruth, du kennst mich doch. Ich bin ein strikter Pragmatiker 74
und neige gewiß nicht zu Ausflügen in die Fantasy, und ich brauche harte Beweise, ehe ich glaube, daß ein Flugzeug fliegt oder ein neuer Angestellter seinem Job gewachsen ist. Aber verdammt noch mal, Ruth, ich hab' das gesehen! Es ist geschehen. Vor meinen Augen ist es geschehen. Ich war weder betrunken noch high.« »Was hast du gesehen?« Ihre Stimme war jetzt ruhig, vorsichtig. Sie wollte ihn nicht verärgern, und er war so überzeugt. »Ich habe gesehen, wie er Kronenkorken von fest verschlossenen Bierflaschen entfernt hat, ohne sie zu berühren. Ich hielt die Flaschen in der Hand und hatte die Verschlüsse vorher untersucht. Sie saßen fest.« Somerset lehnte sich in dem Sessel nach hinten. Die weiße Bluse und der schwarze Rock spannten sich plötzlich straff über einem täuschend üppigen Körper, und einen Augenblick lang hatte Huddy ganz andere Gedanken. »Kronenkorken. Wegen ein paar Kronenkorken läßt du alles fallen und rennst herum und sagst, der Himmel würde einstürzen?« »Nicht nur das - nein«, sagte er, von ihrem Sarkasmus ungerührt. »Er hat mich anschließend gefragt, ob ich noch einen anderen Trick sehen wollte. Das habe ich bejaht. Also hat er meinen Wagen saubergemacht.« »Was?« Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Meinen Wagen hat er saubergemacht, den Eldo«, wiederholte Huddy und war über ihre Reaktion erfreut, »und zwar ohne ihn zu berühren.« Zum ersten Mal klang eine Andeutung von echtem Interesse aus ihrer Stimme. Jetzt hatte sie Feuer gefangen. »Was hat er getan?« Huddy stand auf und begann hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen. Dabei fuchtelten seine Hände in der Luft herum, als wäre er ein italienischer Verkehrspolizist. Er war vollgepumpt mit nervöser Energie und Erregung und schaffte es, Ruth einen Teil davon zu vermitteln. »Ich stand da, und er hat sich erboten, mir noch einen 75
Trick zu zeigen. Er sagte: >Ihr Wagen ist schmutzige und ich sagte >ja<, und als ich das nächste Mal hinsah, war kein Fleckchen Straßenstaub mehr dran. Selbst die Speichenräder sahen aus, als wären sie gerade aus der Waschanlage gekommen. Und dabei habe ich höchstens ein paar Sekunden lang nicht hingesehen. Ein paar Sekunden. Vorher war ich eine schmutzige, nicht asphaltierte Straße hinaufgefahren. Die Unterseite des Eldo war völlig verschlammt. Und dieser alte Mann grinste ihn einfach an, und er ist so sauber wie im Ausstellungsraum. Aber er hat ihn nicht gewaschen. Das habe ich gleich überprüft. Er war knochentrocken. Nicht daß irgendwo Wasser gewesen wäre. Und darüber hab' ich nachgedacht, während er ganzen Fahrt auf dem Freeway. Und die einzige Erklärung, die mir in den Sinn kommt, ist, daß er den Schmutz irgendwie entfernt hat, ohne ihn zu berühren. Der Himmel ist mein Zeuge.« Er blieb stehen und starrte sie erwartungsvoll an. »Das gibt keinen Sinn«, sagte sie langsam. »Sehr schlau. Rücken Sie zwei Felder vor! Gehen Sie nicht über Start!« »Halt den Mund und laß mich nachdenken, Mann! Du hast gesagt, es seien eine Menge Kinder dagewesen, und dieser Pickett würde mit ihnen spielen. Vielleicht haben die sich zusammen etwas ausgedacht. Vielleicht haben die Jungs den Wagen irgendwie geschüttelt, als du nicht hinsahst.« »Dieser Straßendreck war festgekrustet, Ruth. Um ihn loszuschlagen, hättest du den Wagen aus tausend Fuß Höhe fallen lassen müssen. Aber du hast schon die richtigen Worte gewählt. Nur glaube ich nicht, daß jemand
den Wagen geschüttelt hat. Ich glaube eher den Schlamm.« Sie beobachtete ihn scharf, während sie über das nachdachte, was er gesagt hatte. Sie kannte Benjamin Huddy inzwischen recht gut. Daß er ihr irgendeinen komplizierten Possen spielte, glaubte sie nicht. Dazu war er nicht der Typ. Und selbst wenn er gerade Lust dazu verspürt hätte, so 76
wäre das nicht die Art von Witz gewesen, den er sich mit ihr machen würde. »Ich habe alle ärztlichen Aufzeichnungen über die Anwohner studiert«, erinnerte sie ihn. »Es gibt dort keinerlei Hinweise auf ... ah ... paranormale Fähigkeiten.« »Das vielleicht nicht, aber dafür eine ganze Menge über andere Arten abnormaler Entwicklungen. Frühzeitige Kindersterblichkeit beispielsweise, oder Verformungen, physische Verformungen. Warum nicht auch mentale Verformungen? Wenn Pickett der einzige ist, dann ist es ja kaum verwunderlich, daß davon in seinen Unterlagen nichts erscheint.« »Komisch«, murmelte Somerset. »Wenn es zu paranormalen Entwicklungen gekommen sein sollte, dann wäre Picketts Familie diejenige, wo man danach suchen müßte.« »Genau«, sagte Huddy. »Seine beiden Eltern und seine Schwester hatten Krebs. Ich unterstelle, daß dieselben Karzinogene, die sie getötet haben, auch auf Pickett gewirkt haben. Aber bei ihm in einer nicht tödlichen und höchst einmaligen Art und Weise. Er hat Probleme mit dem Herzen. Das ist wahrscheinlich auf die Auswirkungen der Chemikalien zurückzuführen. Und dann hat er noch etwas anderes.« »Du meinst wirklich, daß es sich lohnt, dem nachzugehen, Benjy?« Er nickte langsam. »Und ob!« »Also gut. Und wie willst du vorgehen?« »Zuerst muß ich dafür sorgen, daß Pickett beobachtet wird. Ganz besonders dann, wenn er von den Kindern umgeben ist. Wir sollten ihn ziemlich genau überwachen können, selbst aus der Ferne. Wir wollen Forakers Leute einsetzen, das sind Profis, und geduldig sind sie auch. Die werden keine unnötigen Fragen stellen.« "vSomerset nickte. »Und was soll ich ihnen sagen? Worauf sollen sie achten?« »Zauberkunststückchen. Fingerfertigkeiten. Alles, was aus dem Rahmen fällt. Ich möchte, daß alles, was er diesen Kindern vormacht, auf Videoband gespeichert wird. Das ist 77
alles ohnehin nur oberflächlich. Genaueres werden wir dann herausfinden, wenn Pickett kommt, um sich den Tests zu unterziehen.« »Er hat sich einverstanden erklärt, sich testen zu lassen?« Somersets Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Er glaubt, daß er eine ärztliche Gratisuntersuchung bekommt. Und die wird er auch kriegen. Nur daß sie viel gründlicher und intensiver sein wird, als er denkt. Warum sollte er nicht kommen? Er hat doch keinen Grund zu der Annahme, daß wir ein ungewöhnliches Interesse an ihm hegen.« »Du hast gesagt, er sei intelligenter, als es zunächst den Anschein hätte. Bauernschläue hast du es genannt. Was, wenn er Verdacht schöpft? Was, wenn er herausfindet, daß du dich deshalb für ihn interessierst, weil du meinst, das Leben neben der Chemiehalde hätte irgendeine dauernde Auswirkung auf ihn gehabt? Vielleicht argwöhnt er bereits, daß das etwas mit dem vorzeitigen Tod seiner Eltern und seiner Schwester zu tun haben könnte. Du brauchst nur etwas zu tun, um diese Ansicht zu unterstützen, und bringst ihn damit dazu, zu irgendeiner Behörde zu gehen und sich dort zu beklagen.« »Du hast recht. Wir werden sehr vorsichtig sein müssen. Aber ich würde mir darüber keine Sorgen machen. Wenn er zuviel herausfindet und es so aussieht, als würde er uns Ärger bereiten und nicht wert sein, daß wir ihn halten, dann kann er immer noch seine Herzattacke kriegen. Es kann ohnehin sein, daß er eine schwere Insuffizienz hat. Das sollte kein Problem sein. Keiner seiner Nachbarn ist das, was man einen engen Freund nennen könnte. Seine einzigen Verwandten leben einen halben Kontinent entfernt, und nichts deutet darauf hin, daß er in engem Kontakt mit ihnen steht. Wir sollten mit ihm ziemlich genau das tun können, was wir wollen.« »Ich werde mein möglichstes tun, Benjy, das weißt du. Außerdem sollst du wissen, daß ich kein Wort von dem glaube, was du da gesagt hast.« 78
»Trotzdem solltest du darüber nachdenken, was es bedeuten könnte, wenn ich in bezug auf Pickett recht habe. Wenn sein Gehirn irgendwie verändert ist und das in Verbindung zu seinen Lebensumständen steht, dann sollten wir in der Lage sein, diese Umstände hinreichend genau wiederherzustellen, um auch die Resultate zu erzeugen. Nicht hier natürlich - das könnte ja eine unserer Firmen in Südamerika erledigen. Sicher, es würde gefährlich sein. Wahrscheinlich würden wir dabei ein paar Dutzend indianische >Freiwillige< verlieren. Aber wenn wir die Verbindung isolieren könnten, die dasselbe Talent anderen induziert, würde das all die Mühen und das Risiko auf jeden Fall wert sein.« »Wenn Pickett irgendeine solche Fähigkeit besitzt«, erinnerte sie ihn skeptisch. »Sicher, sicher. Es würde einige Generationen erfordern, um sie erscheinen zu lassen. Ich wette, daß die DNS von Picketts Eltern zuerst verändert wurde und sich die Mutation dann in Pickett und vielleicht auch seiner Schwester verstärkt hat. Im Fall seiner Schwester sind andere Faktoren dazwischengekommen, und so erwies sie sich als Sackgasse.«
»Was nützt uns eine Entdeckung, bei der es Generationen dauert, bis man sie bestätigen kann?« »Wir brauchen bloß zu beweisen, daß Pickett diese Fähigkeit besitzt. Solange wir damit beschäftigt sind, das zu beweisen, steht uns alles zur Verfügung. Ein eigener Geschäftsbereich, vielleicht autonom innerhalb der Firmenstruktur. Soviel Geld und soviel Freiheit, wie man sich, wünschen kann. Unsere eigene Firma. Würde es dir Spaß machen, in Südamerika zu leben?« »Ich weiß nicht genau. Darüber habe ich nie nachgedacht.« »Dann tu das! Dort unten könntest du wie eine Königin leben.« »Das reizt mich nicht. Und du würdest gut daran tun, etwas langsamer zu treten, bis wir ein paar Fakten haben, die 79 wir vorzeigen können. Bis jetzt ist noch nichts bewiesen, vergiß das nicht!« »Schön, dann geb' ich zu, daß ich etwas zu enthusiastisch bin. Kannst du mir das vorwerfen?« Er stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. »Ich übernehme die volle Verantwortung. Aber deine Hilfe brauche ich, Süße. Das meiste können wir ohnehin allein erledigen. Die Firma braucht nichts zu wissen, bis wir beschließen, daß die Zeit gekommen ist, etwas zu sagen. Tatsächlich ist es sogar besser, wenn die Firma nichts weiß. Wenn sich das als so wichtig erweist, wie ich glaube, könnte es ja sein, daß wir damit auf den Markt gehen wollen.« »Und das ist ein weiterer Grund, weshalb ich Foraker für die Beobachtung einsetzen möchte. Er wird direkt und ausschließlich dir berichten.« Er ging um den Schreibtisch herum, legte ihr beide Hände auf die Schultern und sagte ruhig und eindringlich: »Das könnte die Wende für uns sein. Jeder Traum, den wir je hatten, jeder Wunsch könnte in Erfüllung gehen. Und das alles hängt an einem verrückten Talent eines alten Mannes, und ich glaube nicht einmal, daß er das weiß. Und was das Beste ist, wenn ich unrecht habe, dann können weder er noch die Firma uns etwas anhaben.« Später, bei der nachmittäglichen Direktionssitzung, überraschte Shapeleigh, einer der Direktoren, Huddy und alle anderen, indem er ihn in einer kurzen, aber formellen Ansprache für seine Arbeit an der >Riverside-Sache< belobigte. Es war eine Sache, ein solches Lob schriftlich zu erhalten, und noch einmal etwas ganz anderes, so etwas vor all seinen Kollegen zu hören. Huddy genoß jedes Wort. Offenbar hatten die Inspektoren des Bezirks das Areal untersucht. Wie es schien, hatten sie damit gerechnet, dort Schlimmeres zu finden, sich aber dann gezwungen gesehen, verblüfft und enttäuscht wieder abzuziehen - sehr zum Vergnügen der gebührend empörten Firmenvertreter, die sie begleitet hatten. All die Berichte über schreckliche Gerü80
che, die von dem kleinen Tal ausgingen, waren allem Anschein nach übertrieben oder sogar von der vorwiegend aus Einwanderern bestehenden Bevölkerung der Umgebung eindeutig gefälscht worden. Oh, Hinweise auf Verseuchung hatte es schon gegeben, aber nichts Ernstes. Nichts Lebensbedrohendes. Was die Anwesenheit chronisch kranker Kinder und Erwachsener in der Gegend anging - nun, es gab keine Möglichkeit, einen schlüssigen Zusammenhang zwischen ihren Krankheiten und der Tatsache herzustellen, daß sie in der Umgebung des Tales wohnten. Nicht, ohne sehr viel Geld auszugeben -und das hatte der Bezirk, wie Huddy und die anderen in der CCM richtig angenommen hatten, nicht. Einen Inspektor gab es, der geneigt schien, die Sache weiter zu verfolgen; aber er war zu sehr damit beschäftigt, sich auf seinen ausgedehnten Urlaub in Südfrankreich vorzubereiten, als daß er sich mit solchen Belanglosigkeiten hätte beschäftigen können. Es hatte ja auch keinen Sinn, ein totes Pferd zu schlagen, besonders wo die Beweise für eine Verfehlung auf so schwachen Beinen standen. Und was eine Befragung der unmittelbaren Anwohner anging, so waren die Inspektoren in so enttäuschter Stimmung abgezogen, daß der Firmenvertreter, der sie begleitet hatte, es als höchst unwahrscheinlich darstellte, daß eine solche Befragung je stattfinden würde. Ja, die ganze Organisation der Consolidated Chemical and Mining schuldete Huddy und Ruth Somerset Dank. Shapeleigh strahlte Huddy über die lange Tafel hinweg väterlich huldvoll an, während er seinen Segen erteilte, und Huddys Kollegen und Konkurrenten knirschten insgeheim enttäuscht mit den Zähnen. Diese Chance hatten sie sich entgehen lassen. Und Huddy nicht. Das betrübte sie zutiefst. Später, als die anderen gegangen waren, nahm Shapeleigh Huddy beiseite und gratulierte ihm auch noch persönlich. Es war die Rede von großen Geldbeträgen, und es fielen Andeutungen auf in naher Zukunft freiwerdende Stel81
len. Huddy lauschte höflich und beflissen, aber nur mit halbem Ohr. Sein eigentliches Interesse galt Kronenkorken und einem schmutzigen Cadillac und einem ganz bestimmten alten Mann ... Jake Pickett sah zu, wie das Wasser rings um die alten Rosenbüsche in den Boden sickerte. Bald würde die Zeit da sein, sie für den Winter zurückzuschneiden. Der alte Schlauch wurde zu einer sorgsam aufgerollten, grünen Schlange unter dem Wasserhahn. Pickett war stolz darauf, wie sauber und adrett sein kleiner Garten war. Er machte nicht viel Arbeit; schließlich bedurften nur die Rosen und die Iris einiger Pflege. Die große, die neben dem mit Ziegelsteinen gepflasterten Weg wuchs, brauchte nur gelegentlich Wasser. Er ging um das Haus herum, um sich am Sonnenuntergang zu erfreuen. Im Westen suchte sich die Sonne einen
Ruheplatz im fernen Pazifik. Obwohl er sein ganzes Leben in Südkalifornien verbracht hatte, war er nur zweimal am Strand gewesen; beide Male als Kind. Er erinnerte sich daran, daß ihm das Meer gefallen hatte: das Spiel der Brandung, der weiße Sand zwischen den Zehen, die heiseren Rufe der Möwen, die am Himmel ihre Kreise zogen und immer wieder herunterstießen - aber die Leute, die den Strand bevölkerten, hatte er nicht gemocht. Ihm war das alles zu überfüllt. Er zog sein Haus und seinen Garten am Hügel vor. Und wenn er Gesellschaft brauchte, dann hatte er die lachenden, braunhäutigen Kinder. Ihre Eltern waren nett zu ihm, und wenn er einmal Tapetenwechsel wollte, konnte er immer noch in den Stadtpark hinunterfahren oder den Arrowhead hinauf. Jake Pickett fühlte sich in seiner vertrauten Umgebung wohl, hier störte ihn niemand. Er betrat die Küche durch die Hintertür und sah in den kleinen Topf mit Schweinefleisch und Bohnen, die auf dem Herd vor sich hindünsteten. Nachdem er kurz mit einem 82
hölzernen Kochlöffel umgerührt hatte, um zu vermeiden, daß sie anbrannten, probierte er. Gut, dachte er, und schön heiß. Eine Frau hätte seine Ernährung wahrscheinlich verbessert; aber irgendwie hatte er nie das Bedürfnis nach dauernder Gemeinsamkeit empfunden. Einfach ein etwas kauziger, langweiliger, alter Junggeselle, das bin ich, dachte er, ohne daß ihm das Bild Mißvergnügen bereitet hätte. Er schüttete die Bohnen aus dem Topf in einen großen Teller, half mit dem Holzlöffel etwas nach und vergewisserte sich, daß ja kein Schweinefleisch im Topf geblieben war. Dann riß er ein paar Stücke Brot von dem großen, runden Laib, der auf der Theke lag, legte den Plastikbeutel, aus dem er ihn geholt hatte, verschlossen wieder in den Kühlschrank zurück und ging ins Wohnzimmer. Das Schweinefleisch und die Bohnen vertrugen sich gut mit den Abendnachrichten. Beides waren grundlegende Bestandteile von Picketts Lebensstil. Manchmal störte es ihn, daß er nicht viel von dem verstand, was die Korrespondenz ten in den Abendnachrichten mit ihren Honigstimmen von sich gaben. Nicht daß sie große Worte gebraucht hätten: das taten sie nicht. Es war nur so, daß ihm einige der Themen, mit denen sie sich befaßten, völlig fremd waren. Er bedauerte es, daß er nicht über die Oberschule hinausgekommen war. Die Umstände, das Leben waren dazwischengekommen und hatten eine höhere Erziehung unmöglich gemacht. Er hatte immer arbeiten müssen, um Geld nach Hause zu bringen, ganz besonders, nachdem seine Eltern so jung gestorben waren. Später, Nachdem Catherine dann nach Texas gezogen war, war alles ein wenig leichter geworden. Für seinen eigenen Lebensunterhalt hatte er immer irgendwie genug verdient. Und jetzt, wo er seine Pension bezog, war er tatsächlich sogar besser dran als jemals zuvor. Das erzeugte in ihm ein gutes, zuversichtliches Gefühl. Natürlich half es dabei, daß er nie viel gehabt hatte und deshalb auch nie viel erwartete. Er kam sich nicht besonders unterprivilegiert vor. 83
Das Schweinefleisch und die Bohnen füllten ihm wohlig den Bauch. Wie gewöhnlich waren sie viel nahrhafter als die Nachrichten. Er stand auf und ging wieder in die Küche. Dort wusch er sorgfältig den Teller aus und stellte ihn zum Trocknen auf das gelbe Regal. Dann ging er zum Fernseher zurück. Draußen war endlich die Sonne untergegangen. Es wurde jetzt täglich kühler. Bald würde Winter sein, und die Regenfälle würden anfangen; kurze, heftige Regengüsse, wie sie für Südkalifornien typisch waren. Der Kamm, auf dem sein Haus stand, hatte mehr Felsgestein darunter als die meisten ähnlichen Hügellandschaften. An anderen Stellen würde es zu Schlammlawinen kommen, und wenn er dann davon las, würde er mit der Zunge schnalzen. Die Leute in diesem Teil des Landes bauten auch an den verrücktesten Orten. Ihn amüsierte das immer wieder. Er hatte den Regen gern, obwohl das kühle Wetter in den letzten Jahren angefangen hatte, seine Gelenke zu plagen, als ob sein Herz nicht schon genug gewesen wäre. Aber du solltest besser die guten Seiten zählen, du habgieriger, alter Narr, ermahnte er sich. Ebensogut könntest du in South Dakota wohnen statt in Kalifornien. Verdammt, du weißt ja gar nicht, was Kälte wirklich ist. Er sah zu, wie der Bildschirm sich mit Seifenblasen füllte, und lauschte der Musik. Lawrence Welk war ihm angenehm vertraut. Nach Welk war die Zeit für Situationskomödien; dafür hatte er nicht viel übrig. Allem Anschein nach war er über die primitiven Gags hinausgewachsen, die heutzutage Mode waren. Die Dokumentarsendung, die anschließend von PBS kam, war nett. Sie befaßte sich mit dem Südpazifik. Die Fernsehröhre war für ihn wohl die einzige Möglichkeit, je die Fidji-Inseln zu erleben, nicht nur, weil es ihm an Geld mangelte, sondern auch wegen seines Herzens. Aber er genoß solche Reisen vom Lehnstuhl aus. Das war das Beste am Fernsehen. Dann die Spätnachrichten, im wesentlichen eine Wieder84
holung dessen, was er bereits früher gesehen hatte. Er sah sie sich trotzdem an, weil er den Wetterbericht mitbekommen wollte. Als er dann aufstand, um das Gerät abzuschalten, fragte er sich, ob er vielleicht etwas vom Sparbuch abheben und in ein Farbgerät investieren sollte. Aber die waren so verdammt teuer, und die Bilder kamen auch nicht schärfer oder die Worte klarer herein. Trotzdem war das ein Gedanke, mit dem er schon seit Monaten spielte. Solche Berichte wie der über den Südpazifik verliehen dem Wunsch neuen Schwung. Er würde noch einmal darüber nachdenken, entschied er. Er war schon halb ausgekleidet, als er in das Schlafzimmer ging. Dort gab es keinen Fernseher. Fernseher
gehörten ins Wohnzimmer, das hatte er schon damals entschieden, als diese neue Erfindung auf den Markt kam. Aber ein kleines, tragbares Radiogerät stand auf dem Tischchen neben dem Bett. Es war schon etwas zerbeult, funktionierte aber noch. Er knipste es an. Das Gerät war auf den lokalen Nachrichtensender eingestellt. Obwohl die meisten Nachrichten eher deprimierend waren, fand Jake das entspannend. Wie es vielen armen Leuten geht, war die tägliche Litanei von Katastrophen und Krisen eher beruhigend als niederdrückend für Jake, weil er daran erinnert wurde, um wie viel besser es ihm doch erging, als das der Rest der Welt von sich behaupten konnte. Der Sprecher hatte eine besonders angenehme Stimme. Sie haben beide etwas für sich, dachte er. Fernsehen und Radio. Im Radio machten sie sich keine Sorgen darüber, ob sie auch genügend dumme Witze rissen oder wie sie aussahen. Man konnte dort ein Journalist sein und brauchte nicht wie ein Filmstar auszusehen. Die erzwungene Jovialität und Heiterkeit, die armseligen Stegreifkommentare (die Stationen nannten das >vergnügte Nachrichten<) hatten ihn fast dazu veranlaßt, ganz auf die Fernsehnachrichten zu verzichten. Eine Weile hatte er sich angewöhnt, den Ton dabei abzuschalten. Die elektrische Decke war schon seit einigen Stunden 85
eingeschaltet, und das Bett war hübsch warm, als Jake unter die Decke kroch. Er fror heutzutage schneller als früher. Das war auch ein Zeichen des Altwerdens, hatte der Arzt ihm gesagt. Komisch, aber er fühlte sich gar nicht so, als würde er alt werden. Keinen Tag über fünfzig fühlte er sich. Nur nicht in bezug auf sein Herz natürlich. Er brauchte nicht nachzusehen, um sich zu vergewissern, ob das kleine Fläschchen mit Nitroglycerin-Tabletten dort stand, wo es hingehörte: auf dem Tischchen neben der Lampe. Die Flasche und die kleinen, gelben Pillen, die sie enthielt, waren seit zwanzig Jahren Teil seines Lebens gewesen. Er konnte sie ganz leicht auch ohne Hilfe der Lampe finden. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es fast zehn war. I Mitternacht in Texas, dachte er. Er lehnte sich gegen die I beiden Kissen und schloß die Augen. Mondlicht fiel schwach durch die dünnen Vorhänge. Jake versuchte, nicht einzuschlafen. Es war Donnerstagnacht. Donnerstagnacht bekam er immer einen Anruf von Amanda Rae. Ihre Gespräche waren für ihn immer der Höhepunkt des Tages. Sie brauchte natürlich nicht so spät anzurufen, aber so l war es leichter. Leichter für sie, nicht etwa für Jake. Schließlich lag ja die ganze Arbeit bei ihr. Es war komisch, wie ihre regelmäßigen Gespräche angefangen hatten. Sie hatten über die Jahre so regelmäßig miteinander geredet, daß Jake auch fast imstande war, sie zu rufen. Aber es war so viel einfacher, wenn sie anrief und er nur wartete. Auf diese Weise hatte sie keine so großen Schwierigkeiten, die Verbindung herzustellen, hatte sie ihm erklärt. Als sie ihn das erste Mal angerufen hatte, hatte er nicht gewußt, daß sie das war. Er hatte nicht einmal gewußt, was es war, geschweige denn, wer. Da war nur ein sinnloses, wortloses Klagen in seinem Kopf gewesen. Er verbrachte Stunden damit, das Haus danach abzusuchen, woher dieses Klagen kam; dachte, vielleicht wäre eines der Kinder aus der Nachbarschaft irgendwo steckengeblieben - in dem engen 86
Kriechraum unter den Bodenbrettern vielleicht oder an dem Abhang, der nach unten zu der Müllkippe führte. Tagelang war das so weitergegangen, wochenlang, bis Jake sich schließlich dazu entschlossen hatte, doch zu dem Seniorencenter in Riverside zu gehen und einen Arzt aufzusuchen. Der Arzt hatte ihm ein paar Pillen und einige Ratschläge gegeben, doch beides hatte nichts genutzt. Erst später, nachdem aus den Klagen Andeutungen von Worten geworden waren, hatte Jake erfahren, daß er seine Großnichte Amanda Rae hörte. Jener erste verzweifelte, klagende Ruf war aus dem Haus ihrer Eltern in Port Lavaca, Texas, gekommen, und das lag jetzt mehr als sechzehn Jahre zurück. Er hatte oft mit Amanda darüber gesprochen. Sie brauchten beide eine Weile, bis sie sich zusammenreimten, daß er ihren Ruf aus ihrer Mutter heraus gehört hatte, weil ihn jenes erste Klagen zwei Monate vor ihrer Geburt erreicht hatte. 87
6 Als Jake sich in sein Kopfkissen kuschelte und darauf wartete, daß seine Großnichte anrief, machte es daher überhaupt keinen Unterschied, daß kein Telefon im Schlafzimmer war. Er und Amanda Rae brauchten keines. Sie hatten etwas Besseres, etwas viel Besseres. Jake gab gar nicht vor, es zu verstehen, aber Amanda glaubte, sie verstünde es. Er war so stolz auf seine Großnichte. Sie war so klug, ihre Lehrer hatten sie sogar als geradezu brillant bezeichnet. Das kam von all den Büchern, die sie las. Jake wußte, daß Amanda Rae viel klüger war als er, aber das schüchterte ihn nicht ein. Jemand, der einem so nahestand, konnte einen nicht einschüchtern. Auf ihre eigenartige, geheime Art waren Jake und Amanda einander viel näher als Onkel und Großnichte; sie waren eher wie Bruder und Schwester. Es war seltsam, aber Amanda konnte niemand anderen rufen, nur ihren Onkel Jake. Sie stellten darüber oft Spekulationen an, aber die brachten sie auch nicht weiter. Wenn es echte Telep ... - Jake stolperte über das Wort - echte Telepathie war, dann eine schrecklich eingeschränkte. Sie konnte auf diese Weise weder mit ihrer Mutter noch mit ihrem Vater noch mit sonst jemandem sprechen. Nur mit Onkel Jake. Es wurde ihr ganz spezielles Geheimnis. Ihre Eltern wußten nicht davon und ihre Ärzte auch nicht, obwohl sie davon eine ganze Menge hatte. Es gab auch für niemanden Grund, es zu argwöhnen, weil es keinerlei Hinweise
darauf gab. 88
Jake lächelte ganz für sich, wie er so im Kissen lag. Das sparte einem ganz sicher eine Menge Geld für Ferngespräche. Auf diese Weise wußte er immer Bescheid, was es in Amandas Familie Neues gab; er erfuhr alles über Wendy und ihren hart arbeitenden Mann Arri und über Amanda selbst. Und er konnte mehr tun, als nur nehmen: er konnte auch geben. Die Klugheit, die er besaß, war vielleicht nicht die Art, die mit Büchern zu tun hatte, aber dafür verstand er etwas vom Leben. Sein aus gesundem Menschenverstand erwachsener Rat hatte Amanda oft gute Dienste geleistet. Es ist wichtig, daß ein junger Mensch jemand Älteren hat, der nicht zur unmittelbaren Familie gehört, und mit dem er reden kann. Jake gab einen mitfühlenden und ungefährlichen Beichtvater auf Distanz ab. Und dann war er dort. In Port Lavaca. Es war viel mehr als nur ein stummer, wechselseitiger Gedankenaustausch. Es war auch möglich, Ideen auszutauschen und Geräusche, manchmal sogar Gerüche. Es war, als würde ein Stück von Jakes Bewußtsein plötzlich durch das halbe Land versetzt, um dort hinter fremden Augen dazusitzen. Da war ein undeutliches, nebelhaftes Bild der Bucht von Lavaca. Der Blickwinkel sagte Jake, daß Amanda Rae in' Richtung auf die Aransas Wildreservation zum Fenster hinaussah. Einen Augenblick lang waren sie eine Person, der müde, alte Mann und das unbewegliche, junge Mädchen. Es war ein fairer Tausch. Durch ihren Onkel Jake konnte Amanda immer noch das Gefühl des Gehens wahrnehmen, ein lieblicher, beweglicher Tagtraum. Dadurch wurde die Erinnerung an das, was Gehen war, in ihr am Leben erhalten, und das machte sie etwas weniger bitter. »'Tag, Onkel Jake«, sagte eine flüsternde Stimme in seinem Kopf. »Hello, Mandy.« Er lächelte. »Die Bucht sieht heute nacht mächtig hübsch aus.« »Das ist sie auch. Aber heiß und stickig ist es.« »Das überrascht mich nicht. Ich wünschte, ich könnte es fühlen.« 89 »Das würde ich mir auch wünschen, Onkel Jake. Und dann würde ich mir wünschen, daß da mehr Mond da wäre. Der Mond ist immer so hübsch auf dem Wasser. Man kann die Fische springen sehen.« »Ich hab' schon 'ne ganze Weile nicht mehr gefischt. Ich wünschte, ich könnte zu euch kommen und sie selbst springen sehen.« »Du siehst sie doch springen, nur durch mich.« Sie lachte in seinem Bewußtsein mit ihrer vox telepathica. »Du weißt, was ich meine«, schalt er sie sanft. »Ich habe dich seit Jahren nicht mehr gesehen. Es war' schrecklich nett, einmal einen richtigen Besuch dort zu machen. Persönlich. Aber ich hab' das Geld nicht.« Amanda war zu höflich, zu verständnisvoll, um vorzuschlagen, daß ihr Onkel Jake vielleicht in Betracht ziehen könnte, seinen Farbfernseher aufzugeben und das Geld, das er sich gespart hatte, statt dessen für eine Reise nach Texas zu verwenden. Aber so weit ging sie, daß sie sagte: »Du weißt, daß Mom und Dad sich freuen würden, wenn du kämst.« »Nicht mehr, als ich mich freuen würde, sie wiederzusehen, Mandy. Vielleicht schaff ich es in ein paar Monaten.« »Sicher, Onkel Jake.« Diese Fiktion erhielten sie beide hartnäckig aufrecht. »Vielleicht in ein paar Monaten. Was macht dein Herz? Schwierigkeiten?« X »In letzter Zeit nicht«, versicherte er ihr. »Tatsächlich fühl' ich mich viel besser, als ich mich letztes Jahr um diese Zeit gefühlt habe. Ich hatte seit Januar keinen richtigen Anfall mehr. Ich hab' recht gut auf mich aufgepaßt.« Er lachte glucksend. »Vielleicht bessert sich mein Zustand, hm?« »Das weiß man nie, Onkel Jake.« Amanda wußte aus ihren Studien, daß das Herz ihres Onkels durch mehrere Herzattacken so beschädigt war, daß keine Chance auf Besserung bestand. Er hatte die letzten fünf Jahre hinhaltenden Widerstand geleistet und würde das den Rest seines Lebens tun. Sie gab sich große Mühe, nicht daran zu denken. 90
»Ich bin viel zu Fuß gegangen«, sagte er ihr, »und hab' mit den Kindern hier gespielt. Das macht Spaß. Hast du gestern von der Bergwerksexplosion in Bolivien gehört?« »Sicher. Schrecklich, was die diesen armen Leuten dort drunten antun. Die quälen sie jahraus, jahrein wie Tiere, bloß für ein wenig Zinn und Silber.« »Kein Wunder, daß der Kokain-Schmuggel so blüht, Mandy. Das ist viel leichter zu gewinnen als Zinnerz. Ich kann es denen wirklich nicht verdenken. Aber das war in der ganzen Geschichte immer so.« »Ich weiß, Onkel Jake. Wahrscheinlich wird es in Zukunft auch so bleiben. Was machen deine Nachbarn?« Er überdachte die Liste von Namen, mit denen Amanda vertraut geworden war. »O ja«, sagte er. »Ich hatte neulich Besuch.« »Das ist aber hübsch. Wer war es denn?« »Ein netter Bursche. Gut angezogen. Etwa so alt wie dein Dad. Er gehört zu dem Verein, der mir diese Stelle verschaffen wollte - du weißt schon, Wachdienst in irgendeinem leeren Gebäude in San Diego.« »Ach, ist das die Stelle mit dem Apartment im Seniorenheim?« »Ja, genau die.«
»Ich hatte damals gefunden, daß das recht gut klang, Onkel Jake«, sagte sie nicht sonderlich interessiert. »Hast du wieder abgelehnt?« »Sicher. Und du weißt auch warum. Ich könnte hier nicht weggehen. Wozu auch? Um ein paar Jahre herumzuliegen und mir das Geschwätz alter Leute anzuhören? Und das Geld brauch' ich auch nicht.« »Wenn du mehr Geld hättest«, sagte sie, »könntest du uns öfter besuchen kommen.« »Das stimmt, daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich brächte es einfach nicht fertig, dieses Haus zu verlassen, Mandy. Mom und Pop sind nämlich hier gestorben und ...« »Ist schon recht, Onkel Jake«, sagte sie, bemüht, ihn zu 91
besänftigen. »Das versteh' ich schon. Ich mach' ja nur Spaß. Du hast gesagt, bei der Stelle ging es darum, ein leeres Gebäude zu bewachen?« »Nun, Nachtwächter in einem Bürogebäude. Ich sollte da ein paar Fernsehschirme beobachten und schreien, wenn ich irgendwelche Einbrecher sehe.« »Und dazu sind die bis von San Diego gekommen und haben dir einen Platz in einem Seniorenheim versprochen? Für so einen Job?« »Plus Gehalt und Umzugskosten. Klang gar nicht übel. Wenn dieses Haus nicht gewesen wäre, dann wäre es mir schwergefallen, nein zu sagen. He, was ist denn?« Er hatte nichts gehört, konnte aber ihre Beunruhigung spüren. »Einen Platz in einem Seniorenheim? Umzugskosten? Ein Gehalt? Nimm es mir nicht übel, Onkel Jake, aber du bist ja nicht gerade der Typ von Mensch, in den eine große Firma langfristig investiert.« Wieder lachte er glucksend. »Ja, das hab' ich mir auch gedacht. Aber er hat gemeint, seine Firma würde gerne Senioren behilflich sein, und ich hätte so gute Referenzen.« »Onkel Jake, du hast seit zwanzig Jahren keine regelmäßige Arbeit mehr gehabt.« Das war ihm nicht neu, und Jake sagte es ihr. »Das hat aber nichts zu bedeuten, Mandy, weil ich nie ernsthaft in Betracht gezogen habe, den Job anzunehmen. Also hab' ich eigentlich gar nicht so richtig darüber nachgedacht. Weißt du«, fuhr er dann fort und wechselte damit das Thema, »die haben die alte Müllhalde unter dem Haus saubergemacht.« »Das freut mich zu hören«, sagte sie. »Das war auch schon längst fällig. Nach allem, was du mir erzählt hast, muß das ja der reinste Höllentümpel gewesen sein.« »Nun, ein Chrysanthemenfeld war es jedenfalls nicht, das steht fest. Ich hab' mir die ganze Zeit Sorgen gemacht wegen der Kinder, die dort unten spielen. Ich hab' ja selbst auch dort gespielt, als ich noch jünger war, bis ich begriff, daß das nicht gut war. Jetzt ist es richtig hübsch und sauber. 92
He, weißt du, ich hab' dem Mann ein paar von meinen Tricks gezeigt.« »Aber, aber, Onkel Jake«, sagte Amanda warnend, »du weißt doch, was ich dir dazu gesagt habe.« »Ja, ich weiß schon. Aber er hat gesehen, wie ich den Kindern den Trick mit den Kronenkorken vorgemacht habe. Schließlich hab' ich ja nicht so oft Gelegenheit, ein bißchen anzugeben. Also hab' ich ihm seinen Wagen saubergemacht. Einfach den Schmutz weggenommen. Ihn schlupft gemacht.« »Oh, Onkel Jake, ich hab' dir doch gesagt, daß du so etwas nicht vor Erwachsenen tun darfst, und ganz besonders nicht vor Fremden.« »Ist schon in Ordnung, Mandy. Ein wirklicher netter Bursche war das. Ihm schien es Spaß zu machen. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Jedenfalls hat er gesagt, ich hätte das Anrecht auf eine Gratisuntersuchung, die seine Firma bezahlt. Bloß damit du siehst, was für ein netter Bursche das war. Ich geh' nicht gern ins Krankenhaus. Du weißt ja, wie die sich immer mit der Versicherung anstellen.« Amanda war sofort auf der Hut. »Was für eine Untersuchung?« »Jetzt laß mal, Mandy! Du brauchst nicht so zu reagieren. Dieser Bursche war richtig nett zu mir. Ich hab' ihn um gar nichts gebeten. Er hat mir das von sich aus angeboten, wo sie doch den Termin schon für mich gemacht hatten. Da kann ich ebensogut hingehen.« »Hat er dir das angeboten, vor oder nachdem du den Schmutz auf seinem Wagen schlupft gemacht hast?« Jake mußte einen Augenblick lang überlegen. »Nachher, denke ich.« Jetzt klang ihre Stimme verzweifelt. »Onkel Jake, du magst die Menschen zu gern.« »Da kann ich nicht dagegen an, Mandy. So bin ich eben.« »Hmm. Da bietet dir dieser Typ einen Job in San Diego an. Umzugskosten, Gehalt, Gratisuntersuchung. Onkel Jake, Firmen tun so etwas einfach nicht aus reiner Nächsten93
liebe. Sicher, du würdest einen guten Nachtwächter abgeben, aber keinen so guten Nachtwächter. Doch ganz sicher nicht so gut, daß die dich von Riverside bis hinunter nach San Diego bringen würden. Wo sie doch ganz gewiß einen ebenso guten Wachmann in San Diego finden könnten.« »Du bist so mißtrauisch, Mandy. Ich glaube, ich verstehe nicht recht. Warum mir denn das Angebot machen, wenn sie es nicht ernst meinen?« »Ich bin sicher, daß die das ernst gemeint haben, Onkel Jake. Aber nicht aus den Gründen, die du meinst. Du sagst, die haben gerade diese Müllkippe saubergemacht?« »Stimmt. Du hättest all die Traktoren und Lastwagen sehen sollen, die da mitten in der Nacht herumgefahren
sind. Ich schätze, die wollten es billig machen.« »Sicher. Und in aller Stille auch. Wahrscheinlich wollten sie dich und alle anderen, die vielleicht zu viel geredet hätten, wegschaffen.« »Ach, jetzt komm schon, Mandy! Du hast zu viele von diesen Spionageromanen gelesen.« »Onkel Jake, sind in letzter Zeit irgendwelche Leute aus deiner Nachbarschaft weggezogen? In den letzten zwei Wochen?« »Nun, ja - die Greens und die Gomez'. Aber daran ist doch nichts Besonderes. Leute ziehen die ganze Zeit hierher und wieder weg.« »Wie sind sie denn umgezogen, Onkel Jake?« »Was meinst du?« »Ich meine, ob sie alles in ihr Auto gestopft haben oder ob ein professionelles Umzugsunternehmen gekommen ist und sie weggebracht hat?« »Jetzt, wo du es erwähnst - ja, sie haben Umzugswagen benutzt. Zwei verschiedene Firmen, aber ...« »Kommt dir das nicht ein wenig ungewöhnlich vor, Onkel Jake? So wie du mir das erzählt hast, sind die Leute in deiner Nachbarschaft schrecklich arm. Berufsmäßige Umzugsunternehmen klingt nicht wie etwas, das die sich leisten könnten 94
»Nun, ich weiß nicht genau, wieviel Geld die Leute hier haben oder nicht haben«, erwiderte er etwas aus der Defensive heraus. »Obwohl ich nicht den Eindruck hatte, daß die Greens oder die Gomez' besonders wohlhabend sind. Vielleicht haben sie irgendwo anders neue Jobs bekommen, und ihre Arbeitgeber waren ihnen beim Umzug behilflich.« »Genau - ganz genau wie der Job, für den dieser Bursche dir beim Umzug nach San Diego behilflich sein wollte!« Die Erregung ließ ihren Argwohn wachsen. »Onkel Jake, dieser Mann hat etwas von dir gewollt. Es hört sich an, als sei er die Art Mensch, die von anderen Menschen immer nur etwas will.« Jake fing an, Einwände zu bringen, zögerte dann aber. Mandy verstand sich besonders gut darauf, komplizierte Probleme aufzulösen. Er hatte gelernt, ihrer Meinung zu vertrauen. »Er ist gewiß nicht die Art Mensch, die einfach geradeheraus nach dem fragt, was er haben will. So jemand versucht das indirekt, so wie sie das wahrscheinlich mit den Greens und den Gomez' gemacht haben.« »Wer ist >sie« wollte Jake wissen. »Die Leute, die für die Mülldeponie verantwortlich waren. Bist du sicher, daß dieser Mann, der zu dir gekommen ist, um dir den Job anzubieten, nicht ein Vertreter der Firma war, der der Müllplatz gehört?« »Er hat gesagt, er sei Vertreter irgendeiner Sicherheitsfirma in San Diego«, murmelte Jake. »Namen«, sagte sie, »bloß Namen.« Dann herrschte Stille. Nach einer Weile fragte Jake: »Amanda Rae, bist du noch da?« »Ich habe bloß nachgedacht, Onkel Jake. Du weißt doch, daß ich sehr viel lese. Marty bringt mir auch Bücher aus der Universitätsbibliothek. Ich war immer schon halb davon überzeugt, daß eine Menge ungewöhnlicher Dinge, so wie Omas Tod und vielleicht auch dein schlimmes Herz und meine Art, mit dir zu reden, und deine Fähigkeit, Dinge schlupft zu machen, daß das alles daher kommt, weil die 95
Familie zwischen all diesen Chemikalien dort draußen in Kalifornien herangewachsen ist. Der alte Brunnenschacht, den du früher benutzt hast, ehe du Wasser aus der Leitung bekamst, war wahrscheinlich verseucht, und du hast mir ja oft genug gesagt, wie du und Oma Catherine immer unten an der Müllkippe gespielt habt. Allein schon, daß ihr die Luft dort eingeatmet habt, hatte vermutlich 'ne Menge damit zu tun.« »Amanda, wir wissen nicht, ob das stimmt, und man kann das nicht überprüfen.« »Natürlich nicht«, pflichtete sie ihm bei. »Aber ich wette, daß jemand angefangen hat, das zu überprüfen. Und deshalb haben die Verantwortlichen endlich saubergemacht, und zwar so schnell und in der Nacht.« »Ich kann mich dem wirklich nicht anschließen, Mandy. Ich bin sicher, daß die Verantwortlichen auch für eine ordentliche Firma tätig sind. Leute lassen nicht einfach zu, daß Gift so herumliegt. Sicher, es hat nicht besonders gut gerochen, aber ...« »Onkel Jake! Lieber, süßer Onkel Jake. Du bist so verdammt nett, daß es gar nicht gut ist für dich.« Jake spielte mit dem Gedanken, sie wegen des >verdammt< zu tadeln, aber das hatte er schon oft genug getan. Außerdem rutschte ihm gelegentlich auch ein solches Wort heraus, wenn er mit ihr redete. Und die Kinder fanden heutzutage ebensowenig dabei, zu fluchen, wie es ihnen auch nichts ausmachte, zehn Dollar fürs Kino auszugeben. »Onkel Jake, ich glaube nicht, daß du dieses Angebot für eine Gratisuntersuchung von diesem Fremden annehmen solltest. Wie hieß der Mann doch gleich?« »Mr. Huddy.« »Hm. Ich glaube nicht, daß du diesen Mr. Huddy aufsuchen solltest, und ich glaube auch nicht, daß du dich dieser Untersuchung unterziehen solltest. Und ich möchte, daß du mir jetzt versprichst, daß du für ihn nicht noch einmal etwas schlupft machst, und wenn er auch noch so darum bittet oder dir Geld dafür anbietet.« 96
»Amanda, das ist doch nur ein harmloser kleiner Trick.«
»Ich habe immer wieder versucht, dir zu erklären, Onkel Jake, daß du der einzige Mensch auf der ganzen Welt bist, der diesen kleinen Trick beherrscht. Bitte, tu nicht, was dieser Huddy von dir will! Geh nicht mit ihm, mach diese Untersuchung nicht mit, und zeig ihm keine Tricks mehr! Wenn er dich danach fragt, dann sag ihm, daß es ein echter Bühnentrick sei. Sag ihm, daß du in deiner Jugend ein halbprofessioneller Bühnenzauberer gewesen wärst. Sag ihm, was du willst, aber sag ihm nicht, daß du immer schon Dinge wie Flaschenverschlüsse schlupft machen konntest! Das ist wichtig, Onkel Jake!« »Also schön, Mandy«, sagte er, bemüht, sie zu beruhigen. »Wenn es dir so viel bedeutet, dann werde ich es tun. Aber ich begreife wirklich nicht, warum du dich eigentlich so aufregst.« »Das ist schon in Ordnung, Onkel Jake. Du brauchst es nicht zu begreifen. Es reicht, wenn du es mir versprichst, okay?« »Okay, Mandy. Aber ich tue das nur, weil du mich darum bittest, das weißt du.« »Ist das nicht der beste Grund, den es dafür geben kann? Und jetzt sag mir, wie haben die Dodgers gestern gespielt?« »Klasse!« Pickett erwärmte sich schnell für das neue Thema. »Richtig fertiggemacht haben sie die Pirates. Dieser mexikanische Junge hat geworfen ... Ich kann seinen Namen einfach nicht richtig aussprechen.« »Dann denk ihn einfach«, forderte Mandy ihn auf. Das tat er, und sie wußte es. Als am nächsten Morgen die Türglocke ging, steckte er mit beiden Händen tief in Hackfleisch. Er seufzte, überlegte, wer das wohl sein mochte, und wischte sich die schmierigen Hände an einem Handtuch ab. Der Hackbraten würde eben warten müssen. Er trat an die Tür und öffnete sie. Auf den Gedanken, zuerst nachzusehen, wer ihn sprechen wollte, kam er nie, ob97
wohl er in einem der gefährlicheren Viertel von Südkalifornien lebte. Aber die Umgebung wußte Bescheid. Ebenso wie die Straße und der Rest des Barrio. Kein Ärger mit dem alten Mann, der oben auf dem Hügel lebt. Er ist gut für die ninos. Jake zog die Tür auf. Und draußen stand der nette junge Mann, mit dem er das letzte Mal geredet hatte, und lächelte ihn an: Benjamin Huddy. Diesmal hatte er zwei weitere junge Männer bei sich. Beide waren von eindrucksvoller Größe. Jake wunderte sich über ihre Anwesenheit und sagte sich, daß ein Mann wie dieser Mr. Huddy vielleicht manchmal Assistenten bei sich hatte. Jake kam in den Sinn, daß Huddy ihm in keiner Weise erklärt hatte, was er eigentlich machte. Jake hatte angenommen, daß er ein Personalanwerber sei, weil er ihn deshalb aufgesucht hatte. Aber Huddy hatte nie dergleichen gesagt. Aber Unhöflichkeit lag ihm nicht. »Kommen Sie rein, Mr. Huddy! Nett, Sie wiederzusehen.« »Ganz meinerseits, Jake. Ich darf Sie doch Jake nennen, oder?« »Warum denn nicht. Kommen Sie rein, wenn ich auch nicht weiß, ob genügend Stühle für alle da sind.« Er trat neben seinen Lehnsessel. Huddy nahm auf der Couch Platz. »Das ist schon in Ordnung, Jake. Drew und Idanha macht es nichts aus, wenn sie stehen müssen, oder, Jungs?« Keiner der beiden großen jungen Männer gab Antwort. Sie bezogen einfach neben der Tür Stellung und sahen schweigend zu. Jake störte das ein wenig, weil er nicht wußte, was sie taten. Dann begriff er und entspannte sich. Wahrscheinlich waren sie nur mit Huddy mitgefahren und hatten irgendwo anders zu tun und sich jetzt dafür entschieden, nicht im Wagen zu warten, sondern hereinzukommen. Das leuchtete ein. Draußen war es heiß. »Nun«, murmelte Huddy. Er hielt einen kleinen Stapel Papiere in der Hand, in denen er jetzt blätterte. »Wie geht's Ihnen denn heute, Jake?« »Ausgezeichnet, Mr. Huddy, vielen Dank.« i »Bitte, sagen Sie Benjamin zu mir. Freut mich, das zu hören. Erinnern Sie sich, wie ich Sie wegen dieser ärztlichen Untersuchung befragt habe? Die, die wir Ihnen gratis verpassen wollen, weil Sie unser Angebot in Betracht gezogen haben?« »Das hab' ich nicht, Benjamin. Ich meine, ich hab' es nicht in Betracht gezogen. Aber das hat ohnehin nichts zu sagen. Ich hab' mich entschieden, diese Untersuchung nicht mitzumachen.« Huddy entglitt einen Augenblick lang sein Gesichtsausdruck und ließ etwas anderes als freundliche Unschuld erkennen, ehe er die Maske wieder aufsetzte. Jake fiel die kurze Wandlung nicht auf. »Das versteh' ich jetzt nicht, Jake. Als wir das letztemal davon redeten, schienen Sie richtig begeistert. Die Untersuchung kostet Sie überhaupt nichts und dauert auch nicht lang. Falls Sie die lange Fahrt stört, würden wir Sie gerne für die Untersuchung in die Stadt fahren und auch wieder nach Hause bringen.« »Tut mir leid, aber ich hab's mir anders überlegt, Benjamin. Mir ist einfach nicht danach, daß ein paar Ärzte in mir herumstochern. Vielleicht ein anderes Mal.« Der jüngere Mann in Huddys Begleitung trat jetzt einen Schritt vor und sagte höflich: »Wenn Sie möchten, Mr. Huddy, Sir, dann können wir sicher Jake hier überzeugen, daß er mitkommt.« Jake entging der zornige Blick nicht, den Huddy seinem vierschrötigen Helfer zuwarf. »Zurück, und überlassen Sie das mir, Drew!« »Aber sicher, Mr. Huddy. Wie Sie meinen.« Der Große nahm seine Position wieder ein und blickte beleidigt. Huddy lächelte Jake beruhigend zu. »Sie müssen meine Begleiter entschuldigen. Sie sind noch in der Ausbildung
und geben sich große Mühe, mir zu helfen.« »Sicher, das versteh' ich«, sagte Jake. Wenn sie Assistenten waren, was taten sie dann für Huddy? Das gab keinen Sinn. Sie standen bloß herum und sahen zu. 98 99
Gelegentlich drang Lärm von den draußen spielenden Kindern ins Haus. Huddy hatte die Kinder beim Hereinkommen gesehen. Er wollte keinen Ärger, und ganz bestimmt nicht jetzt. Aber solche Überlegungen waren ohnehin verfrüht. »Wirklich, Jake«, begann er und versuchte es auf einem anderen Weg, »ich versteh' Sie nicht. Diese Untersuchung ist doch nur zu Ihrem Vorteil. Ich hab' bis jetzt noch nie erlebt, daß einer so eine Gratisuntersuchung ausschlägt.« »Nun, es tut mir wirklich leid, Benjamin, aber ich möchte jetzt nicht nach L.A. fahren, und ich mag jetzt auch nicht mehr darüber reden.« »Ich will Sie doch nicht ärgern, Jake. Ich weiß, daß Sie da wegen Ihres Herzens vorsichtig sein müssen. Hören Sie, würden Sie mir einen Gefallen tun? Ich werde schrecklich dumm aussehen, wenn ich denen sage, daß Sie nicht zu der Untersuchung kommen. Würden Sie wenigstens darüber nachdenken, ob Sie sie nicht doch haben wollen? Ich kann sie ja noch ein paar Tage aufschieben.« Er reichte ihm eine Karte. »Wenn Sie es sich vor dem nächsten Freitag anders überlegen, dann rufen Sie mich an, und ich lasse einen neuen Termin vereinbaren. Das da ist meine Telefonnummer.« Jake nahm die Karte entgegen und studierte sie kurz. »Consolidated Chemical and Mining?« »Masters Security ist nur eine von unseren Tochterfirmen. Wir sind eines von diesen großen Konglomeraten, Jake. Wir haben Interessen auf der ganzen Welt, nicht nur in L.A. und San Diego.« Er stand auf. »Überlegen Sie es sich eben noch einmal, Jake. Mehr will ich gar nicht. Wir haben noch ein paar Tage Zeit, und mir wäre es wirklich recht, wenn Sie die Untersuchung mitmachten. Ihre Gesundheit ist mir wirklich wichtig.« »Mir auch«, meinte Jake. »Okay, Benjamin, ich werd' noch mal darüber nachdenken, das versprech' ich Ihnen.« »Mehr verlange ich gar nicht, Jake.« Huddy warf seinen beiden Assistenten einen Blick zu, worauf die sofort nach 100
draußen gingen. »Wiederseh'n, Jake.« Huddy lächelte freundlich. »Einen schönen Tag noch.« »Ihnen auch, Benjamin.« Jake sah ihnen nach, bis der Cadillac gewendet hatte und in einer Staubwolke und verfolgt von lachenden Kindern die Straße hinunterrollte. Dieser Bursche macht sich wirklich Gedanken um meine Gesundheit, dachte Jake, obwohl er nicht begriff, warum. Seit er Pension bezog, hatte sich niemand mehr so um sein Wohlergehen gekümmert. Ab Amanda Rae recht hatte? War es möglich, daß diese Untersuchung, die ihm dieser Bursche einreden wollte, überhaupt nichts mit seinem Gesundheitszustand zu tun hatte? Nee, das gab wirklich keinen Sinn, überlegte er. Aber warum sonst sollte er Jake eine Gratisuntersuchung anbieten? Hartnäckig war er jedenfalls. Huddy holte eine Flasche aus dem Regal, das als Bar diente, und goß zwei Fingerbreit von dem Inhalt in ein mit Eiswürfeln gefülltes Glas. Er fügte weitere Flüssigkeit aus einer anderen Flasche hinzu und füllte dann ein weiteres Glas. Somerset war dekorativ über die leicht geschwungene Couch hingebreitet und sah auf desinteressierte Art großartig aus. Hinter ihr öffneten sich die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster den Lichtern der Megalopole, jenem weitausgedehnten, flachen Weihnachtsbaum, dem das Los-Angeles-Becken nachts ähnelte. Er reichte ihr ihren Drink. »Ich begreife einfach nicht, weshalb er seine Meinung so total geändert hat«, murmelte er, während er sich neben sie setzte. »Als ich ihm den Vorschlag das erstemal machte, schien er richtig begeistert. Was mag ich wohl gesagt haben, daß er es sich anders überlegt hat?« »Ruhig bleiben, Benjy.« Sie nippte an ihrem Drink. »Wahrscheinlich hattest du gar nichts damit zu tun. Er hat es sich einfach anders überlegt. Du weißt doch, wie diese alten Knacker manchmal sein können.« 101
»Nein, ich weiß nicht, wie sie sein können. Ich hab' nicht oft mit >alten Knackern< zu tun, und du auch nicht.« »Na fein. Er hat es sich also anders überlegt. Vielleicht überlegt er es sich noch einmal anders. Du hast mir gesagt, du hättest ihm zwei Tage zum Überlegen gegeben, und er hätte sich bereiterklärt, noch einmal darüber nachzudenken.« »Ich weiß, ich weiß.« Huddy stand auf und machte sich daran, das Glas nachzufüllen. »Aber wir können es uns nicht leisten, ihm zu viel Zeit zu lassen. Angenommen«, sagte er ernst, »angenommen, er hat ein wenig mehr Grips, als wir ihm zutrauen. Angenommen, er redet mit irgend jemandem darüber. Das CCM auf meiner Geschäftskarte hat er sofort bemerkt. Clever ist er vielleicht nicht, aber verdammt aufmerksam. Ich hab' mich leicht rausgeredet, aber auf dem Weg zurück ins Büro hätt' ich mich am liebsten in den Hintern getreten. Dabei war das Ganze bloß ein Reflex, ihm einfach so eine Karte hinzuhalten.« »Wie du schon sagst«, beruhigte sie ihn, »es scheint ja nichts geschadet zu haben. Er hatte sich schon entschieden, ehe du ihm die Karte gezeigt hast.«
»Ja. Aber wenn er mit jemandem redet... Was ist denn, wenn er auch eine Verbindung zwischen seiner kleinen Zauberdemonstration und meinem plötzlichen Interesse an seiner Gesundheit hergestellt hat?« »Das ist höchst unwahrscheinlich. Er hat einfach nicht den Bildungshintergrund, der ihn in die Lage versetzen würde, eine solche Verbindung herzustellen. Wenn das der Fall wäre, dann hätte er dir seine >Tricks< wahrscheinlich gar nicht erst vorgeführt.« »Ich weiß, daß ich mir unnötig Sorgen mache«, sagte er j müde, »aber ich kann nicht anders. Ich bin eben so. Ich wünschte, er hätte es sich mit dieser Untersuchung nicht anders überlegt. Wenn wir ihn einfach in den Wagen bekommen hätten, wäre alles andere zu erledigen gewesen. Aber da waren überall zu viele Kinder, um zu versuchen, ihm beim Einsteigen >behilflich< zu sein. 102
Weißt du, ich wette, daß ich der erste Erwachsene mit Augen im Kopf bin, dem er je diese Tricks gezeigt hat. Er meint, die würden sich bloß für Kinder eignen.« »Was durchaus der Fall sein kann, Benjy. Vergiß das nicht! Wir haben immer noch keine harten Beweise dafür, daß es sich um mehr als Taschenspielertricks handelt.« »Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte Huddy langsam und überzeugt. »Natürlich, Benjy. Ich widersprech' dir ja gar nicht. Ich sage nur, daß es neben Zauberei und übernatürlichen Dingen auch noch andere Erklärungen für das geben kann, was geschehen ist.« »Das ist nicht übernatürlich. Das ist Psionik und Parapsychologie.« »Und die meisten intelligenten Wissenschaftler sind der Ansicht, daß das in den Bereich des Übernatürlichen fällt. Ich habe ein wenig nachgelesen, wie du siehst.« »Ich auch, Ruth. Du kennst mich. Ich bin Realist.« »Das ist mir klar, Benjy«, sagte sie zuckersüß. »Und das ist der einzige Grund, weshalb ich hier mit von der Partie bin.« »Weißt du«, sagte er plötzlich erregt, »seine plötzliche Weigerung, sich der Untersuchung zu unterziehen, sein abrupter Stimmungswechsel sagen uns auch etwas.« »Was denn?« »Nun ... vielleicht, daß er seine eigenen Fähigkeiten kennt und argwöhnt, daß ich etwas bemerkt habe. Weshalb sollte er sonst eine einfache ärztliche Untersuchung ablehnen? Ist seine abrupte Weigerung denn nicht ein Beweis dafür, daß er etwas vor uns zu verbergen hat?« Sie überlegte, während ihr der Alkohol wohlig durch die Kehle rann. »Das ist ein höchst interessanter Gedanke, Benjamin«, sagte sie langsam. »Ja, sehr interessant. Warum die Untersuchung ablehnen, wenn er nichts zu verbergen hat? Es sei denn, er hat vielleicht mit jemandem darüber gesprochen und sich beraten lassen.« »Mit wem könnte er denn gesprochen haben? Wenn er 103
weiß, daß er zu mehr als solch einfachen Tricks imstande ist - wem könnte er dann dieses Wissen anvertrauen und dabei die Gewißheit haben, daß es geheim bleibt? In der Nachbarschaft niemand, das steht fest.« »Vielleicht wäre es besser, ihn einfach abzuholen«, schlug sie nachdenklich vor. »Deshalb hatte ich ja heute zwei Jungs bei mir. Aber die Anwesenheit all der Kinder hat mich gestört. Außerdem dachte ich, als er sagte, er wolle es sich noch einmal überlegen, es wäre besser, ihm noch zwei Tage Zeit zu lassen. Natürlich wird es einfacher sein, wenn er aus freien Stücken kommt. Verdammt, vielleicht hat er nur abgelehnt, weil er gerade Verstopfung hatte oder dergleichen. Alte-Leute-Krankheiten. Vielleicht ruft er morgen an und fragt, ob er kommen darf. Wenn er das tut, dann hol ich ihn sofort ab, ehe er es sich noch mal anders überlegt. Wenn wir ihn abholen müssen, dann ist das etwas, das man besser in der Nacht tut. Und dann würde ich auch nicht gerne meinen eigenen Wagen benutzen. Ein Lieferwagen wäre da besser. Etwas mit dem Firmenschild eines Installateurs oder eines Elektrikers auf den Türen. Wie hat Navis denn reagiert, als wir heute nicht auftauchten?« »Ganz philosophisch«, erklärte sie. »Ich hab' ihm einfach gesagt, das Projekt sei ein paar Tage verschoben worden. Er beklagte sich ein wenig darüber, wie man mit seiner wertvollen Zeit umginge, aber das war alles.« »Gut. Navis ist ein guter Mann. Er wird schon den Mund halten. Wenn er sieht, was bei dieser Sache zu gewinnen ist, wird er so mit seines Tests beschäftigt sein, daß er gar nicht auf die Idee kommt, daß er etwas Illegales tut.« »Vielleicht müssen wir ihn beteiligen«, meinte sie. »Darauf bin ich vorbereitet«, erklärte Huddy. Er nippte an seinem Glas. »Es würde unmöglich sein, den Arzt, der die Tests durchführt, völlig von jedem Nutzen auszuschließen. Zwei Tage noch. Er hat es sich einmal anders überlegt. Vielleicht haben wir Glück, und er tut es ein zweites Mal. Wenn nicht, werd' ich mich noch einmal mit Drew unterhalten. 104
Den Lieferwagen beschaffen wir schon einmal für alle Fälle. Vielleicht müssen wir sogar einen heißen Wagen nehmen.« »Das ist aber doch ganz bestimmt nicht nötig.« »Das könnte einfacher und ungefährlicher sein als der Versuch, einen Firmenwagen zu tarnen. Und wenn wir uns
einen mieten, dann könnte man den zu uns zurückverfolgen. Verdammt!« meinte er und runzelte die Stirn. »Von solchen Sachen halte ich nichts. Die Säuberungsaktion war eine Sache, aber das hier ist einfach unter meiner Würde.« »Möchtest du, daß ich es übernehme?« fragte sie. »Du hast hart gearbeitet. Zuerst die Säuberungsaktion und jetzt das, ganz zu schweigen von deiner normalen Arbeit.« »Das geht schon in Ordnung. Wie kann ich von dir verlangen, daß du Details übernimmst, wenn du in Wirklichkeit nicht an das glaubst, was ich tue? Das tust du doch nicht, oder?« »Eigentlich nicht. Jedenfalls bis jetzt noch nicht.« »Dann kann ich nicht von dir verlangen, daß du Risiken für etwas eingehst, wozu du noch nicht ganz stehst. Hör zu, du hast recht. Ich mach' mir zu viele Sorgen. Wir haben es schließlich nur mit einem alleinstehenden alten Mann zu tun.« »Was passiert denn mit ihm, wenn du ihn Navis übergibst?« wollte sie wissen. Sie schlug die Beine wieder übereinander und entblößte glatte, gebräunte Haut bis hinauf zu ihrer sündteuren seidenen Unterwäsche. »Man wird ihm Sedativa geben und ihm sagen, er sei kurzzeitig in eine Krankenhausstation überwiesen worden. Das ist kein Problem. Ein alter Mann wie er mit einem schwachen Herzen muß jederzeit damit rechnen, plötzlich in einem Krankenhausbett aufzuwachen. Und dann kann Navis mit seinen Tests anfangen. Ich nehme an, wenn an meinem Verdacht auch nur die geringste Substanz ist, wird Pickett lange Zeit bei uns sein.« »Und wenn er nicht kooperiert?« fragte Somerset. »An105
genommen, er kommt zu dem Schluß, daß er Dr. Navis seine kleinen Tricks nicht vorführen will?« »Oh, das wird er!« murmelte Huddy. »Das wird er. Über die Möglichkeit hab' ich bereits mit Navis gesprochen. Der macht sich gar keine Sorgen darüber, daß Pickett das tut, was wir von ihm wollen.« 106 7
»Mandy, das versteh' ich nicht. So viel Theater um meine Gesundheit. Selbst die Leute im Krankenhaus zeigen nicht so viel Interesse an mir.« »Onkel Jake«, sagte Amanda in seinem Kopf, »verstehst du denn immer noch nicht? Diese Karte, die dieser Mann dir gegeben hat, beweist das. Consolidated Chemical and Mining. Das ist eine große Firma, Onkel Jake. Und du hast einem ihrer Vertreter gezeigt, wie du Dinge schlupft machen kannst; einem Mann, der vermutlich eine naturwissenschaftliche Ausbildung genossen hat; einem Mann, der sofort erkennt, daß man Dinge nicht einfach schlupft macht.« »Das war doch gar kein besonderer Trick«, murmelte Jake unschuldig. »Ich hab' doch bloß ...« »Ich weiß, was du getan hast. Kronenkorken und Straßenschmutz. Das reicht. Ich hab' dich doch schon oft gewarnt, Onkel Jake. Eigentlich hättest du das wirklich wissen müssen.« »Es tut mir leid, Mandy. Aber was nun einmal geschehen ist, ist geschehen. Ich hab' immer noch das Gefühl, daß das viel zu viel Aufregung über ein paar schmutzige Radkappen und zwei Flaschen Bier ist. Ich würde mir wünschen, daß ich mehr darüber wüßte, wie ich die Dinge schlupft mache. Ich weiß schon, daß du ein paarmal versucht hast, es mir zu erklären, wie es deiner Meinung nach geht.« Er wälzte sich im Bett herum. »Ich kann einfach nicht ...« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Onkel Jake. Ich verstehe es wirklich nicht. Ich versuche auch nur mir einen Reim drauf zu machen. Ärztliche Untersuchung, he? Diese 107
Leute interessiert überhaupt nicht, was dein Herz macht. Die wollen sich deinen Kopf anschauen.« »Nun, was war' denn daran so schlimm, Mandy?« fragte Jake ein wenig gereizt. »Was wäre denn, wenn ich diese Untersuchung machen würde? Vielleicht könnten die mir sagen, wie ich die Dinge schlupft mache.« »Onkel Jake, ich hab' dir doch gesagt, wenn solche Leute sich für dich interessieren, dann werden sie dich und deine Fähigkeit benutzen. Für Geld.« »Aber wie können sie das denn?« flüsterte er in die Dunkelheit hinein. »Ich weiß doch nicht, wie ich es mache. Außerdem gibt es einfachere Methoden, um Flaschen zu öffnen und Autos sauberzumachen.« »Woher weißt du denn, daß das alles ist, was du kannst, Onkel Jake? Du hast nie etwas anderes versucht. Diese Leute werden dich dazu bringen, daß du es versuchst, ob du nun willst oder nicht. Woher weißt du denn, daß du nicht auch etwas anderes schlupft machen kannst?« »Nun, das weiß ich nicht, aber ...« »Dann solltest du mal darüber nachdenken«, murmelte sie. Er konnte sehen, daß sie wieder am Fenster saß, weil er in seinen eigenen Gedanken das Licht auf der Lavaca-Bucht sehen konnte. »Die Untersuchung beunruhigt mich gar nicht so sehr, Onkel Jake. Was mich beunruhigt, ist, daß große Firmen selten besonders am Wohlergehen der Leute interessiert sind, die sie benutzen. Diese Leute interessiert bloß deine Fähigkeit. Sie werden dich in ihren Tests so weit schieben, wie sie können. Und bei deinem Herzen ...« Das wirkte. Jake Pickett war ein kräftiger Mann, hochgewachsen und angefüllt mit kompakter, drahtiger Stärke. Aber diese verdammte, schwache Maschine, die er in seiner Brust herumtrug, machte ihn verletzbar. »Ich hab' dir doch gesagt«, meinte er, »dieser Huddy scheint mir ein ganz netter Kerl zu sein.« Er konnte fast hören, wie sie seufzte.
»Onkel Jake, in mancher Hinsicht bist du ein schrecklich cleverer Mann. Aber mit Leuten hast du dich nicht viel aus108
einandersetzen müssen. Ich habe viel Zeit in Krankenhäusern verbracht. Es gibt gute Ärzte und es gibt schlechte Ärzte. Es gibt Mediziner, die dir helfen wollen, und andere, die in dir nur etwas sehen, das man aufschneidet und von dem man Proben unter ein Mikroskop legt. Ich bin diesem Mr. Huddy noch nicht begegnet. Aber nach dem, was du mir gesagt hast, klingt er mir eher wie ein Mikroskoptyp.« »Nun, ich hab' ihm bereits gesagt, daß ich weder mit ihm noch mit seinen Leuten zu irgendeiner Untersuchung gehen werde.« »Seine Leute?« »Das letztemal hat er zwei mitgebracht. Ich glaube, es waren seine Assistenten, das vermute ich wenigstens.« »Zwei Assistenten«, murmelte Amanda. »Ja. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, fällt mir ein, daß es ziemlich kräftige Burschen waren. Keiner von ihnen hat viel gesagt.« »Jetzt ist alles klar, Onkel Jake«, sagte sie entschieden. »Ich möchte, daß du weggehst. Du mußt dieses Haus verlassen. Und zwar jetzt gleich.« »Aber ich hab' denen doch gesagt, daß ich die Untersuchung nicht haben will.« »Oh, aber du wirst sie doch mitmachen, wenn du dortbleibst, Onkel Jake. Dafür wird dieser >nette Bursche< schon sorgen. Das weiß ich. Das kann ich fühlen. Du gehst jetzt sofort dort weg, ehe die dich abholen kommen!« »Hier weg? Aber ...« Das war ganz und gar nicht der Verlauf, den er sich von dem Gespräch erwartet hatte. Er setzte sich im Bett auf, sah in dem dunklen Zimmer nichts. »Wohin soll ich denn? Das hier ist mein Zuhause. Vielleicht kann ich mit diesen Leuten reden.« »Du hast bereits mit ihnen geredet, Onkel Jake. Das ist ja ein Teil des Problems.« »Du glaubst wirklich, daß die versuchen würden, mir weh zu tun, wenn ich das nicht mache, was sie wollen?« »Nein. Die werden nicht versuchen, dir weh zu tun, Onkel Jake. Nicht daß es einen großen Unterschied machen wür109
de. Sie werden lächeln und sich entschuldigen, während sie ihre Tests an dir durchführen. Dieser Huddy wird nicht versuchen, dir weh zu tun. Es wird ihm nur gleichgültig sein, ob er dir weh tut oder nicht.« »Dann werd' ich für ihn und seine Freunde überhaupt nichts tun. Ich werde diese Tests nicht mitmachen, ganz gleich, was sie mir antun.« »Du wirst diese Tests mitmachen, ob du nun magst oder nicht, Onkel Jake, wenn die dich in ihre Hände bekommen. Du darfst nicht mit diesen Leuten reden. Du mußt ihnen entkommen. Mußt weggehen! Weglaufen!« Jake hätte nicht sagen können, an welchem Punkt er das Kind wurde, das der Erwachsenen Amanda zuhörte. »Aber du verstehst das nicht, Mandy. Weglaufen ist nicht so einfach, wie du das sagst.« »Onkel Jake, selbst ich kann sehen, wie du es machst, und dabei kann ich selbst nicht laufen. Wir werden uns überlegen, wie wir dir diese Leute vom Hals halten. Aber du mußt jetzt sofort dort weg, ehe sie zurückkommen, um dich zu holen. Ich brauche Zeit, über das nachzudenken, was zu tun ist. Du hast gesagt, sie hätten dir etwas Zeit gelassen, um über die Untersuchung nachzudenken?« »Zwei Tage«, erklärte er. »Dann hast du einen vollen Tag Vorsprung. Ich weiß«, sagte sie, und ihre Freude verdrängte sofort ihre Besorgnis, »warum kommst du eigentlich nicht nach Port Lavaca? Du hast uns jahrelang nicht mehr besucht. Ich hab' die ganze Zeit versucht, dich zu überreden, daß du herkommst. Jetzt hast du einen guten Grund.« »Mandy, wenn dir das so viel bedeutet, dann werd' ich es tun. Ich bin immer noch nicht überzeugt, daß du in bezug auf Mr. Huddy oder seine Firma recht hast. Aber wenn es dich so sehr beunruhigt ...« »Das würde es«, versicherte sie ihm. »... dann werde ich zu Besuch kommen. Aber ich muß schon sagen, das ist eine recht hinterlistige Art, mich zu überreden.« Er versuchte die ganze Sache ins Lächerliche zu 110
ziehen. »Eigentlich solltest du Mr. Huddy einen Dankesbrief schicken, dafür, daß er dir eine Möglichkeit geliefert hat, mir das einzureden.« »Ich glaube nicht, daß ich deinem Mr. Huddy je begegnen möchte«, antwortete sie humorlos. »Beeil dich, Onkel Jake! Ich weiß, daß du nicht viel brauchst, also gibt es auch nicht viel zu packen. Und sobald du einmal hier bist, überlegen wir uns gemeinsam, wie wir Huddy davon abhalten, dich zu belästigen. Hier herrscht so viel Betrieb, daß er sich dreimal überlegen wird, was er macht. Und Mom und Dad werden auch hier sein und uns helfen.« »Ich werde gleich morgen früh abreisen«, versprach er ihr. »Kannst du nicht gleich?« »Nein, das kann ich nicht.« Er schlüpfte wieder unter die dünne Decke. Er war in letzter Zeit immer so müde, so schrecklich müde. Früher war er nicht so leicht oder so schnell müde geworden, erinnerte er sich. Alt zu werden machte keinen Spaß. Dabei fühlte er sich gar nicht alt. Nur daß ihm die Arbeit in letzter Zeit nicht mehr so von der Hand ging wie früher. »Nicht heute nacht, Mandy.« »Bitte, Onkel Jake! Bitte!«
»Du mußt deinem Onkel Jake schon auch ein bißchen nachgeben, Mandy.« Er war schon halb eingeschlafen. »Du hast mich bereits überredet, daß ich dich besuche. Reicht das denn nicht für einen Abend? Du weißt, daß dein armer, alter Onkel Jake schnell müde wird. Das Weglaufen wird mir viel leichter fallen, wenn ich gut ausgeschlafen bin. Huddy hat mir zwei Tage Zeit gelassen, vergiß das nicht! Ich habe also eine Menge Zeit.« »Okay«, sagte sie besorgt, »aber du darfst am Morgen nicht herumtrödeln.« »Ich - herumtrödeln?« Er lächelte in den leeren Raum. »Ich werde in aller Frühe hier weggehen. Ich werde wie gewöhnlich mit der Sonne aufstehen, und dann gehe ich. Aber guter Schlaf ist wichtig.« »Also gut, Onkel Jake. Ich kann dich nicht dazu bringen, 111
daß du jetzt fährst. Aber daß du mir auch ganz bestimmt wegfährst, ehe die nachsehen kommen.« »Keine Sorge.« Ihre Gedanken begannen bereits zu verblassen. »Das werde ich. Ganz bestimmt ...« In Amandas Geist war nur ein stumpfes, leeres Echo verschwundenen Bewußtseins, wie der Wind, der unter der Tür eines dicht verschlossenen Raumes durchweht. Sie wußte, daß er jetzt schlief. Sie stieß sich vom Fenster ab, drehte den Rollstuhl herum und rollte zum Bett hinüber. Auf die Armlehnen gestützt, hob sie sich auf die Matratze hinüber, griff dann nach ihren Beinen und schob sie unter die Decke. Sie kuschelte sich in das warme Bett. Besorgt, sie war so schrecklich besorgt um ihn. Sie hatte über alle möglichen, nicht ganz ethischen ärztlichen Experimente gelesen. Und das war es ganz sicher, was dieser Huddy mit ihrem geliebten Onkel Jake vorhatte. An ihm Experimente durchführen. Harmlose, wenn möglich, und gefährliche, wenn es sein mußte. Er würde herausfinden wollen, wie Onkel Jake Schmutz und Kronenkorken schlupft machte. Sie würde sich die ganze Nacht hindurch Sorgen machen, bis sie wußte, daß er das kleine Haus in Kalifornien sicher verlassen hatte. In gewisser Weise war es vielleicht am besten so, obwohl sie das Ganze nicht so leicht sehen konnte, wie ihr Onkel das tat. Es würde so gut sein, ihn wiederzusehen. Er war von solcher Wärme und so locker, ein richtiger zweiter Vater war er für sie. Sie hatten etwas gemeinsam, was keine zwei weiteren Menschen auf der Welt gemeinsam haben konnten; etwas, das nur sie miteinander teilten. Nein, sie würde nicht zulassen, daß jemand ihren Onkel Jake schlecht behandelte. Aber alles würde gut werden. Er brauchte sich ja nur wegzuschleichen, ohne daß ihn jemand sah. Vielleicht würde er den Besuch in die Länge ziehen können. Sie wußte, daß ihre Eltern Onkel Jake fast ebenso gern hatten wie sie. Sie würden überglücklich sein, wenn er 112
bei ihnen wohnte. Im Haus war genügend Platz. Sie würde sich keine Sorgen um ihn machen, weil er nicht allein leben würde. Es war nicht gut, wenn er ganz für sich alleine war, auch ohne die Huddys dieser Welt. Vielleicht würden Mom und Dad ihn sogar überreden können, dauernd bei ihnen zu bleiben, hier in Port Lavaca. Sie hatten das schon einmal versucht. Vielleicht würde er diesmal auf sie hören. Sein Herz wurde schließlich nicht besser. Ja, alles würde sich vielleicht zum Guten wenden. Sie drehte sich auf dem Kissen herum und lächelte. Sie fühlte sich viel besser in dem Wissen, daß er im Begriff war, zu ihr zu kommen. Und während sie sich entspannte, dachte sie über das nach, was sie ihm nicht gesagt hatte. Es war etwas, was ihr infolge ihrer vielen Lektüren und ihrer Recherchen anfing, Sorge zu bereiten. Sie hatte nie herausfinden können, was Onkel Jake die Fähigkeit gab, Dinge schlupft zu machen, oder was es vielleicht bedeuten konnte. Natürlich wußte auch sonst niemand etwas über solche Dinge. Ihre Sorge war, daß er, obwohl er nur kleine Dinge schlupft machen konnte, wie Kronenkorken und Schmutz, vielleicht noch weitere Dinge schlupft machen konnte, wenn man ihn unter Druck setzte. Aber ihre Sorge galt nicht dem, was Onkel Jake widerfahren könnte, wenn sich diese Umstände je einstellen sollten. Sie war vielmehr darüber besorgt, was Onkel Jake vielleicht jemand anderem würde antun können. Die Ambulanz rollte lautlos durch die fast menschenleeren Gassen. Die meisten Kinder waren in der Schule, und ihre Eltern, soweit sie Arbeit hatten, waren bereits seit Stunden tätig; nur ein paar Hausfrauen waren zurückgeblieben und starrten neugierig die mit kaum lesbaren Aufschriften bemalte alte Ambulanz an, als sie neben der Schranke am Ende der Straße ächzend zum Stehen kam. Sie setzte vorsichtig zurück und wendete, so daß sie in Richtung zur Stadt stand. 113
Ein großer, ganz in Weiß gekleideter Mann wartete geduldig hinter dem Steuer. Zwei kletterten aus der Seitentür und gingen den schmalen Pfad hinauf, der zu dem Haus führte. Das war besser, als sich mitten in der Nacht hineinzustehlen, dachte Huddy. Viel besser. Man konnte sich immer auf Ruth verlassen, wenn es darum ging, eine Lösung für ein etwas peinliches Problem zu finden. Ihr Verstand war ebenso beweglich wie es ihre Hüften waren. »Und daß Sie mir ja dran denken, Drew«, schärfte er mit leiser Stimme seinem Assistenten ein. »Ich möchte, daß das alles in völliger Stille und ganz ruhig abläuft. Dieser Mann hat ein schwaches Herz, und als Toter nützt er uns nichts. Das ist auch der angebliche Grund dafür, weshalb die >Ambulanz< ihn abholt.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Hemdtasche des anderen. »Die Dosis sollte gerade richtig sein. Ich habe darauf geachtet, daß der Arzt sie sorgfältig abmißt.« Drew grinste und tippte sich an die Tasche, in der die aufgezogene Spritze steckte. »Der alte Knabe sollte uns
keinen Ärger machen, Sir.« Huddy nickte nur und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Haus zu, dem sie sich jetzt näherten. Er mochte Drew nicht sonderlich. Drew war dümmer, als er aussah: ein grobschlächtiger, ungebildeter, ziemlich brutaler Typ. Unglücklicherweise brauchte man manchmal gerade die primitiven Qualitäten solcher Leute. »Ich hoffe immer noch, daß sich das alles als unnötig erweist und daß er freiwillig mitkommt.« Huddy zog sich etwas verlegen den weißen Arztkittel zurecht. »Wenn nicht, dann verwickle ich ihn in ein Gespräch, und Sie schleichen sich hinter ihn und machen ihn kirre. Okay?« »Und wie soll ich auf die Weise eine Vene finden, Mr. Huddy? Daß ich diese Maskerade trage, macht mich ja noch lange nicht zum Arzt.« »Sie haben vergessen, daß die Spritze mit einem allgemeinen Beruhigungsmittel gefüllt ist«, sagte Huddy gereizt. 114
»Sie brauchen nicht in eine Vene zu spritzen. Einfach irgendwo in den Muskel.« »Hat aber gar nicht so ausgesehen, als ob der alte Knacker irgendwo noch Muskeln hätte. Sie sollten sehen, daß er stehenbleibt, während sie mit ihm reden, dann versuch' ich ihm eins in den Arsch zu verpassen. Auf die Weise kann ich ihn festhalten, falls er versucht, um sich zu schlagen oder zu schreien.« »Klingt gut.« Dabei war Huddy das Bild, das sich ihm aufdrängte, eher unangenehm. Es war eine Sache, eine Geheimaktion in Gang zu bringen, um eine tote Chemiehalde zu säubern, und eine ganz andere, ein menschliches Wesen gegen seinen Willen zu entführen. Nur zu, sag's nur! befahl er sich. Kidnapping. Kid-napping. War ja eigentlich gar nicht so schwierig, oder? Nicht daß er Pickett gegenüber so offen sein würde. Es gab tausend Ausreden, die er verwenden konnte, falls der alte Mann Erklärungen haben wollte. Notwendig für seine Gesundheit und dergleichen. Persönlich hätte er es vorgezogen, diese Operation aus der Ferne zu dirigieren, so wie bei der Säuberung der Abraumhalde. Unglücklicherweise konnte er aber niemandem hinreichend vertrauen, dies richtig zu machen. Drew und Idanha waren ihm direkt verantwortlich, und er mußte dabei sein, um sicherzustellen, daß alles genau plangemäß ablief. Das war nicht dasselbe, wie wenn man Fässer mit Abfall nach Niederkalifornien verschickte. Er hatte vor, den alten Mann persönlich zu Dr. Navis zu bringen. Er hatte sich sogar Ausreden für den Fall zurechtgelegt, daß irgend etwas völlig schiefging und ihnen die ganze Operation um die Ohren flog. Vielleicht würde die Polizei die Ambulanz aus irgendeinem unerklärlichen Grund aufhalten. Tut mir leid, Officer, dieser Mann ist krank, wir müssen ihn in ein Krankenhaus schaffen. Nein, wir brauchen keine Eskorte, vielen Dank. So kritisch ist der Fall nicht. Dann fahren wir jetzt weiter. Vielen Dank noch mal. Er glaubte nicht, daß es dazu kommen würde. Jedenfalls 115
sollte es das nicht. Er hatte sich minutiös vorbereitet. Selbst die alte Ambulanz war zweimal darauf überprüft worden, ob die Bremslichter funktionierten und dergleichen. Jetzt ging es nur noch darum, einen müden alten Mann für ein paar Tage Untersuchung in die Praxis eines Arztes zu schaffen. Eineinhalb Stunden Fahrt, und dann konnte er alles Dr. Navis übergeben und sich wieder seiner eigenen Arbeit zuwenden. Gegen all die Vorkehrungen, die Huddy getroffen hatte, konnte Jake Pickett nicht viel ausrichten, soviel stand fest. »Und wenn er wegzurennen versucht, ehe ich mich hinter ihn stellen kann, Mr. Huddy, was dann?« »Das wird er nicht«, beruhigte ihn Huddy. »Ich weiß nicht. Ich hab' schon so alte Knacker gesehen, die noch ganz gut auf den Beinen waren, wenn es darauf ankam.« Huddy gab sich Mühe, einen verzweifelten Blick zu unterdrücken. Drew hatte den Verstand eines ungebildeten Teenagers. Pack ihn nicht so hart an, dachte Huddy, du brauchst den Mann. Er ist auch nicht besser oder schlimmer als die anderen seines Schlages. »Der kann nicht wegrennen. Der hat ein schwaches Herz, erinnern Sie sich nicht?« »O ja.« Drew runzelte leicht die Stirn. »Das hatt' ich einen Augenblick lang vergessen. Nee, Sie haben schon recht. Der rennt uns nicht weg.« »Schlimmstenfalls«, fuhr Huddy fort, »weigert er sich mitzukommen und protestiert. Aber darauf sind wir ja vorbereitet. Sie schaffen es doch, ihn zu tragen, oder?« »Machen Sie Witze, Mr. Huddy?« Drew lachte, ein kurzes, scharfes Lachen. »Ihn und Sie beide schaff ich. In jedem Arm einen. Ich hab' mich schon mit Typen abgeben müssen, die viel größer waren als der.« Das kleine Haus lag still da, und im vorderen Garten stand ein Rasensprenger, auf dem der Morgentau hing. Huddy bedeutete Drew mit einer Handbewegung, etwas zur Seite zu treten, damit man ihn vom Haus nicht sehen konnte, während er die Türklingel betätigte. Als sich nichts 116
rührte, drückte er den Knopf ein zweites Mal und klopfte dann an die Tür. »Es ist noch recht früh, Mr. Huddy«, sagte Drew nachdenklich. »Vielleicht schläft er noch?« »Vielleicht.« Huddy hatte die Stirn gerunzelt. Sie gingen um das Haus herum. Die Vorhänge vor den Schlafzimmerfenstern waren zugezogen. »Da sieht man ja nichts.« Er klopfte ein paarmal ans Glas. Immer noch keine Reaktion von drinnen.
»Alte Leute haben manchmal einen tiefen Schlaf«, meinte Drew. »Das weiß ich, Sie Idiot.« Huddy fing an unruhig zu werden. Das Haus hatte eine Hintertür, aus der man auf das jetzt gesäuberte Höllenloch hinunterblickte, wo die giftigen Chemikalien gelagert hatten. Huddy klopfte einmal und versuchte dann den Türknopf; er wollt sich nicht drehen. Doch von einem Riegel war keine Spur zu sehen. Er trat zur Seite und gab seinem Begleiter ein Zeichen. Drew trat lautlos an die Tür, holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und betätigte sich etwa zwei Minuten lang an dem Schloß, bis es schließlich nachgab. Er trat zurück, lächelte und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Nach Ihnen, Mr. Huddy.« Huddys einzige Antwort darauf war ein dünnes Lächeln, während er die Tür aufschob. Sie führte ins Wohnzimmer. »Mr. Pickett? Jake? Ich bin's, Benjamin-Huddy.« Das einzige Geräusch im Haus war das Ticken einer Uhr. »Vielleicht hatte der alte Knabe seinen Herzanfall schon«, meinte Drew grinsend, der über Huddys Schulter spähte. »War' doch komisch, wie, wo wir mit einer Ambulanz auf ihn warten.« »Sie sind wirklich das Allerletzte, Drew. Mich wundert bloß, daß Sie noch nicht in Las Vegas aufgetreten sind.« »Bin ich doch, aber nicht mit Witzen«, sagte Drew achselzuckend. »Gehen wir hinein?« Huddy nickte und ging voraus. Er brauchte nicht lange, 117
um das kleine Haus gründlich zu durchsuchen. Jake Pickett war nicht da, weder lebend noch tot. Er lag nicht im Bett und versteckte sich auch nicht darunter. Er lag nicht schlaff in der Badewanne oder über den Küchentisch gesunken. Sie untersuchten die Schubladen im Schlafzimmer, aber Huddy konnte nicht sagen, ob irgendwelche Kleidung fehlte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie die Garderobe des alten Mannes normalerweise aussah, nur war er ziemlich sicher, daß sie nicht sehr umfangreich war. Als Huddy schließlich mit der Inspektion des Wäscheschranks fertig war, erwartete ihn Drew in der Nähe der hinteren Tür. Sie hatten den halben Speicher durchsucht und außer Wespennestern und alten Zeitungen nichts gefunden. »Was nun, Mr. Huddy?« »Ich denke nach, verdammt noch mal! Zurück zur Ambulanz!« Sie eilten den Weg hinunter. I Der Fahrer blickte neugierig auf. Drew warf ihm einen Blick zu und sagte: »Der alte Mann ist abgehauen.« »Das wissen wir noch nicht«, wandte Huddy ein. »Vielleicht macht er nur einen Besuch irgendwo. Ich sehe seinen . Wagen nicht, aber der könnte ja in irgendeiner Garage stehen. Schlimmstenfalls ist er vielleicht einkaufen gegangen.« »Ich erinnere mich aber, wie Sie gesagt haben, daß das die Leute hier für ihn erledigen«, sagte Drew. »Aber doch ganz bestimmt nicht immer. Sehen wir zuerst bei den Nachbarn nach. Die wissen, wenn wir kommen, also sollten sie es auch sehen, wenn Pickett we22eht.« »Erst im dritten Haus fanden sie jemanden, der zu Hause war. Die dickliche, dunkelhaarige Frau hatte in einer Hand einen Teller, in der anderen einen Lappen. Sie starrte sie erwartungsvoll an und wunderte sich sichtlich über die weißen Mäntel. Ein kleines Mädchen, das höchstens vier oder fünf Jahre alt war, klammerte sich an das Kleid seiner Mutter. Das Kind hatte den Daumen im Mund und starrte die Fremden aus geweiteten Augen an. Es war splitternackt. »Bitte, entschuldigen Sie uns, Senora«, sagte Huddy 118
freundlich. »Wir suchen Jake Pickett.« Keine Antwort. »Pickett?« Er trat einen Schritt zurück, wieder aus der Tür hinaus und deutete die Straße hinauf. Die Frau lächelte verstehend. »Ah, Senor Pickett, si, dio mio ... Ich hab' ihn gestern morgen gesehen.« »Gestern«, murmelte Huddy. »Könnten Sie uns bitte sagen, wo er hingegangen ist?« »Warum wollen Sie das wissen?« fragte die Frau argwöhnisch. »Ich bin einer seiner Ärzte.« Huddy dehnte sein Lächeln aus und versuchte verständnisvoll zu blicken. »Er hatte Probleme mit dem Herzen.« Er tippte sich an die Brust. »Wir sollten ihn zur Beobachtung ins Krankenhaus bringen.« Die Frau runzelte die Stirn. »Das ist komisch. Mein Mann hat ihn gestern gesehen, als er zur Arbeit fuhr. Es war recht früh, und er hat gefragt, weil Senor Pickett nie viel fortging.« »Ich weiß.« Huddy zwang sich, ruhig zu bleiben. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo er hingegangen ist?« »Mein Mann hat mir gestern abend gesagt, daß Senor Pickett gesagt habe, er wolle fischen gehen.« »Fischen.« Huddy mußte sich mit dem Wort abplagen, als ob es seiner Zunge fremd wäre. »Si. Das macht er manchmal. Manchmal mit anderen alten Leuten aus dem Bürgerzentrum, manchmal mit Leuten aus dem Krankenhaus und manchmal ganz alleine.« »Wissen Sie zufällig, wo er immer zum Fischen hingeht?« fragte Huddy verzweifelt. »Sicher«, sagte die Frau. »Sierra Nevada.« »Sierra Nevada«, wiederholte Huddy halb benommen. »Hat er zufälligerweise gesagt, wo in der Sierra Nevada?« Die Frau runzelte die Stirn und dachte nach. »Nein, das hat mein Mann nicht gesagt. Also hat es Senor Pickett wahrscheinlich auch nicht gesagt.« Plötzlich war sie besorgt. »He, Senor Pickett ist doch nicht etwa schlimm
krank, wie? Er ist ein so netter Mann. Wissen Sie, er hat einen Oran119
genbaum im Hof. Jedes Jahr, wenn die Orangen reif sind, dann darf jeder in der Nachbarschaft sich davon nehmen. Ein so netter Mann.« »Ja, ich weiß, daß er ein Heiliger ist«, sagte Huddy eindringlich. »Bitte, Sie müssen jetzt versuchen, nachzudenken, Senora! Wissen Sie ganz sicher nicht, wo er zum Fischen hingehen wollte?« »Nein, sonst würde ich mich erinnern. Wenn er wieder krank ist, dann hoff ich nur, daß Sie ihn finden. Vielleicht hat er vergessen, daß Sie ihn holen wollten?« »Ja, so sieht's aus. Keine Sorge, Senora. Wir werden ihn schon finden.« Er zögerte und reichte der Frau dann eine seiner Geschäftskarten. »Hören Sie, das ist nicht meine Nummer im Krankenhaus, aber man kann mich hier erreichen. Wenn Senor Pickett auftaucht, würden Sie mich dann bitte anrufen und mir Bescheid sagen? Ich heiße Benjamin Huddy.« »Huudy?« Sie starrte die Karte an. Er nickte. »Bitte, rufen Sie mich an. Aber sagen Sie Senor Pickett nichts davon.« Wieder lächelte er. »Ich möchte nicht, daß er sich Sorgen macht. Er hat wirklich nichts für Ärzte und Krankenhäuser übrig.« »Si, ich bin auch so, Senor Huudy. Aber das geht nicht gegen Sie persönlich.« »Ich weiß. Vielen Dank, Senora. Sie waren sehr liebenswürdig. Wiederseh'n!« »Vaya con dios, Senor.« Sie schloß die Tür. Huddy stand auf der Schwelle und dachte nach. Dann drehte er sich um und strebte der wartenden Ambulanz zu. »Was kommt jetzt, Mr. Huddy?« fragte Drew, der wie ein Hund neben ihm herging. »Glauben Sie, der riecht etwas?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber komisch ist es schon, daß er plötzlich einfach so verschwindet.« »Vielleicht hatte er die ganze Zeit schon vor, fischen zu gehen«, meinte Drew. »Vielleicht hat er deshalb die Untersuchung abgesagt. Weil ihm das Fischen wichtiger war.« 120
»Vielleicht«, murmelte Huddy. »Aber wenn das der Fall wäre, begreife ich nicht, warum er uns nichts gesagt hat. Ich weiß, er könnte es vergessen haben, aber senil schien er mir eigentlich nicht. Nein, hier stinkt etwas, Drew.« Sie zwängten sich wieder in die Ambulanz. Der Fahrer warf seinem Partner noch einen kurzen Blick zu. »Nun, Mann?« »Der alte Knabe ist wirklich fischen gegangen, in die Sierras.« »Oh, Mann!« Begeistert klang das nicht. Der Fahrer konnte sich in etwa vorstellen, was jetzt kommen würde. »Das ist eine Menge zum Absuchen, Mr. Huddy. Sind Sie ganz sicher, daß wir nicht einfach hier warten sollten, bis er zurückkommt?« »Er hat vielleicht nicht vor, zurückzukommen. Verdammt!« Huddy schlug ärgerlich mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Ich versteh' einfach nicht, wie der uns dahintergekommen ist!« »Vielleicht ist es wirklich so, wie diese fette taco gesagt hat«, murmelte Drew. »Vielleicht machen ihn Ärzte und Krankenhäuser wirklich nervös.« »Ja, das wett' ich«, pflichtete Huddy ihm bei. »Aber das heißt noch lange nicht, daß man fischen gehen muß, bloß um einen Termin nicht wahrzunehmen. Er hat gesagt, er würde über die Untersuchung nachdenken. Ich versteh' einfach nicht, daß der einfach seine Sachen gepackt hat und verschwunden ist, bloß um sich nicht untersuchen zu lassen. Er hatte doch nicht den geringsten Anlaß zu glauben, daß wir ihm das aufzwingen würden.« »Und was jetzt?« wollte der Fahrer wissen. »Fangen wir an, die Sierras nach ihm abzukämmen?« »Wir fangen an, nach ihm zu suchen, ja«, erwiderte Huddy. »Aber nicht indem wir sämtliche Berge in den Sierras durchsuchen, und ganz bestimmt nicht in dieser Blechkiste. Erinnern Sie sich an die Tankstelle, an der wir vorbeigekommen sind, als wir den Berg herauffuhren?« Der Fahrer nickte und drehte den Schlüssel im Zündschloß. Die Ambu121
lanz polterte die mit Schlaglöchern übersäte Straße hinunter. Als Somerset sich meldete, kam er sofort zur Sache. Jetzt war nicht die Zeit für munteres Plaudern. »Ich bin's Benjamin. Pickett ist verschwunden.« »Was soll das heißen - verschwunden?« fragte die verwirrte Stimme am anderen Ende. »Verschwunden, weg, nicht da, verdunstet. Glaubst du jetzt wenigstens, daß er etwas zu verbergen hat?« »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Die ganze Sache kommt mir immer noch eher phantastisch als wahrscheinlich vor. Aber wenn er wirklich irgendwohin verschwunden ist...« »Eine Nachbarin von ihm sagt«, fuhr Huddy fort, »ihr Mann hätte ihn gestern gesehen, und Pickett wollte zum Fischen in die Sierras. Ich kann mir zwar einfach nicht vorstellen, daß der mit seiner alten Klapperkiste dort hinauffährt -aber jedenfalls ist die auch verschwunden.« »Weißt du, was er für einen Wagen hat?« »Genau hab' ich ihn mir nie angesehen. Er hat ihn mir einmal gezeigt, aber da parkte er ein ziemliches Stück von seinem Haus entfernt. Ich dachte einfach nicht, daß es notwendig sein würde, ihn mir genau anzusehen.«
»Nun, das hat nichts zu sagen. Ich werd' mich drum kümmern.« »Vom Büro aus?« Huddy war nur leicht überrascht. Nichts, was Somerset tat, überraschte ihn wirklich. »Wie wirst du das denn anpacken?« »Überlaß es mir, mir darüber den Kopf zu zerbrechen! Du siehst nur zu, daß du möglichst schnell hierher kommst. Ich werde nicht nur herausfinden, was für eine Art von Wagen er besitzt, sondern auch, wohin er damit gefahren ist. Du kannst ganz ruhig sein, Benjy. Alles ist unter Kontrolle. Das ist nur ein kurzer Rückschlag. Überlaß das ruhig mir!« Huddy ertappte sich dabei, wie er die Ambulanz anstarrte. Drew und sein Partner waren inzwischen wieder aus der Tankstelle herausgekommen. Jeder hielt eine riesige Eiswaffel in der Hand und leckte schlürfend daran. Der Anblick 122
war ebenso verblüffend, als wenn er Bozo den Clown mit einer abgesägten Schrotflinte gesehen hätte. Das grenzte an das Surreale. Aber das konnte man eigentlich von diesem ganzen Morgen sagen. »Ich möchte bloß wissen, was ihn argwöhnisch gemacht hat«, sagte Somerset gerade. »Ich verstehe diesen plötzlichen Meinungswechsel nicht.« »Na ja, ich auch nicht«, sagte Huddy. »Vielleicht mag er einfach Untersuchungen nicht, war aber zu macho, um es zuzugeben. Auf die Weise braucht er mir nicht persönlich zu sagen, daß er Angst hat. Aber ich glaube nicht, daß es das ist. Mir gefällt das alles ganz und gar nicht, Süße.« »Bist du ganz sicher, daß du das letztemal nichts gesagt hast, das ihn argwöhnisch gemacht haben könnte, Benjy -ich meine einen Hinweis auf den wirklichen Grund, weshalb du willst, daß er sich untersuchen läßt?« »Ich kann mir nicht vorstellen, was ich gesagt haben könnte«, meinte Huddy ehrlich. »Ich habe überhaupt keine Anspielungen auf seine Zaubertricks gemacht. Ich weiß nicht, weshalb er an meinen Motiven zweifeln sollte.« »Dann«, sagte Somerset am anderen Ende, »ist er vielleicht wirklich fischen gegangen.« »Vielleicht«, sagte Huddy widerstrebend. »Aber das hat nichts zu sagen. Wir werden ihn jedenfalls aufspüren. Wenn er fischen gefahren ist, wird es sogar noch leichter sein.« »Und wenn das der Fall ist?« »Dann warten wir auf ihn, bis sein Urlaub zu Ende ist, bis er genügend gefangen hat - oder was auch sonst - und bis er wieder nach Hause kommt. Ich weiß, daß du voll Ungeduld bist und Dr. Navis lieber heute als morgen an ihm beginnen lassen möchtest, Benjy, aber vielleicht wäre es besser zu warten.« »Nein, das wäre es nicht«, beharrte Huddy. »Wenn er jetzt am Ufer eines verlassenen Sees irgendwo oben in den Bergen sitzt, dann hätte ich jetzt gute Lust, die Boys zu ihm zu schicken, damit sie ihn schnappen.« Seine Stimmung 123
besserte sich ein wenig. »Wenn ich es richtig überlege, wäre das sogar noch einfacher als das, was wir heute vorhatten. Ja, vielleicht hat uns der alte Knabe sogar einen Gefallen getan, selbst wenn es kurzfristig lästig ist.« »Wie du meinst, Benjy. Das ist deine Sache. Ich werde herausfinden, wo er ist. Wenn wir Glück haben, kann ich dir das bereits sagen, bis du dich umgezogen und dich in deinem Büro umgesehen hast.« »Gut.« Er fragte sie nicht weiter, wie sie das anstellen würde. Er hatte gelernt, Somerset zu vertrauen. Wenn sie versprach, etwas zu tun, dann tat sie das gewöhnlich auch. Ruth Somerset legte den Hörer auf und zog sich den Träger ihres BH zurecht, der sie schon den ganzen Morgen ge- { ärgert hatte; dabei versuchte sie fieberhaft, sich den neuen Umständen anzupassen. Der alte Mann war fischen gegangen. Der alte Mann war j nicht fischen gegangen. Nur eines stand fest: Er war weg. Und er war offenbar in aller Eile abgefahren. Benjamin zufolge hatte er bei Benjys letzten beiden Besuchen in Riverside nichts von einem bevorstehenden Ausflug dieser Art j erwähnt. Vielleicht hatte er das nur übersehen, aber das glaubte sie nicht. Nach dem, was Benjamin sagte, hatte der Alte zwar ein schwaches Herz, aber alles andere an ihm funktionierte einwandfrei, der Verstand eingeschlossen. Obwohl sie es eigentlich hätte besser wissen müssen, fing sie an, sich zu fragen, ob das, was ihr Liebhaber da jagte, vielleicht doch eine Gans war, die am Ende die goldenen Eier legen würde. »Miss Somerset, könnten Sie sich bitte diese Zahlen ansehen?« »Was?« Sie riß sich aus ihren Betrachtungen und sah einen jungen Mann vor ihrem Schreibtisch stehen. Adrett gekleidet, guter Arbeiter. Sein Name kam ihr in den Sinn: Olson. Er war jetzt seit fast einem Jahr in ihrer Gruppe tätig. Seine Zähne blitzten, und ein Hauch von Kölnisch ging von I ihm aus. Auch sonst roch er gut. 124
Ihre Gedanken waren nur halb bei der Arbeit, die er ihr reichte, aber das genügte, um die Zeilen zu überprüfen. »Sieht recht gut aus, John.« Sie reichte ihm die Papiere mit einem blitzenden Lächeln zurück. »Danke, Miss Somerset.« Er erwiderte das Lächeln etwas unsicher, da er nicht wußte, wie persönlich er es nehmen sollte, und trat dann etwas nervös den Rückzug an. Nettes, kleines Hündchen, dachte sie. Bedauerlicherweise mußte sie ihn aus ihren Gedanken verdrängen. Es gab nur zwei Erklärungen, die einen Sinn abgaben: Die erste war, daß Pickett immer noch nichts argwöhnte, daß er wirklich nur ein vergeßlicher, alter Mann war, der tatsächlich hatte für ein paar Tage zum Fischen fahren wollen. Die zweite Erklärung war, daß er Benjamins Motiven nicht traute, obwohl Benjy ihr versichert hatte, daß
nichts geschehen war, um einen solchen Argwohn zu provozieren. Oder es gab vielleicht etwas anderes, das ihn in bezug auf die Untersuchung nervös gemacht hatte, und er war aus bis jetzt noch unerklärlichen Gründen geflohen. Doch ihn zu verstehen, hatte zweite Priorität, sagte sie sich. Zunächst kam es darauf an, ihn zu finden. Die ersten offenkundigen Nachforschungen stellte sie selbst an. Nein, weder in Riverside oder in San Bernadino hatte man in einem der Büros von Trailways oder Greyhound ein Ticket an einen Jake Pickett verkauft. Da auch sein Wagen fehlte, hatte sie eigentlich auch nicht damit gerechnet. Sie schob eine private Diskette in ein Minilaufwerk, aktivierte einen Bildschirm und fand einen Namen mit der dazugehörigen Telefonnummer, die die Maschine dann gleich selbsttätig wählte. »Hallo? Lieutenant Puteney?« »Ja? Wer ist denn da?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verblüfft. »Hier spricht Ruth Somerset von den Consolidated Chemical and Mining. Sie werden mich doch nicht etwa schon vergessen haben, Lieutenant?« Der Tonfall veränderte sich sofort. »Ruth Somerset! Ganz 125
sicher nicht! Natürlich erinnere ich mich an Sie! Wie geht's denn?« »Einigermaßen zufriedenstellend«, teilte sie mit. »Und Ihnen, Don?« »Ach, immer dasselbe, die üblichen Axtmorde und Ertrunkenen, Brandstiftung und Körperverletzung. He, wann sehen wir uns denn einmal wieder?« Der Eifer, der aus seiner Stimme klang, erheiterte sie, aber sie nahm sich zusammen. »Sie wissen ja, daß das nicht so einfach ist, Don. Außerdem, was würde denn Ihre Frau denken?« »He, langsam - das hier ist eine Dienstleitung! Jemand könnte sich einschalten.« »Hat aber keiner«, versicherte sie ihm nach einem kurzen Blick auf die leere LED-Anzeige über ihrem Telefon. »Woher wollen Sie das so sicher wissen?« »Das sagt mir mein kleiner Wanzentöter.« »Oh, ein sicheres Telefon, hm?« »Genau richtig, Don. Das ist mein Büro. Wir lassen bei CCM keine Industriespionage zu.« »Sie haben auch wahrscheinlich mehr, was das Stehlen lohnt als die LAPD*«, erwiderte er und lachte dabei glucksend. »Kommen Sie schon, Ruth, wir können uns doch treffen. Ich kann das hier arrangieren.« »Nun, wenn das so ist, dann vielleicht in den nächsten zwei Monaten. Ich hab' 'ne ganze Menge zu tun.« »Zwei Monate? « Seine Enttäuschung war nicht zu überhören. Ihr bereitete die kleine Neckerei am Telefon Vergnügen. Sie hatte Lieutenant Donald Puteney kennengelernt, als sie mit den Sicherheitsvorkehrungen für eine Konferenz der Firma im Century Plaza betraut gewesen war. Solche Veranstaltungen boten den Männern in Blau eine bequeme Möglichkeit, ihr Einkommen aufzubessern, und das einzige, was sie sich da unter Umständen einfangen konnten, war ein * LAPD = Los Angeles Police Department - Anm. d. Ubers. 126
Glas Bier über die Uniform. Besser als eine Kugel draußen auf der Straße. Puteney hatte es sogar noch besser gemacht: Er hatte es fertiggebracht, Ruth Somerset einzufangen, obwohl das hauptsächlich ihrer Initiative zuzuschreiben war. Sie hatte ihn einigermaßen attraktiv gefunden, wobei ihr Hauptinteresse freilich darin bestanden hatte, sich einen potentiell wertvollen Kontakt zu verschaffen. Und jetzt war sie dabei, diesen Kontakt zu nutzen. »Früher, wenn ich es schaffe, Don. Aber zuerst müssen Sie mir einen kleinen Gefallen tun.« »Aha, jetzt kommt's!« »Ganz ruhig bleiben!« sagte sie und schmollte am Telefon. »Sie haben ja noch gar nicht gehört, was es ist. Und ohne den Gefallen gibt es auch kein Rendezvous.« »Das haben Sie mir ja auch noch gar nicht versprochen.« »Richtig, das hab' ich nicht, oder?« Sie machte eine Pause und ließ ihn im eigenen Saft schmoren. »Okay, ich will's versuchen, Ruth. Kommt drauf an, was das für eine Gefälligkeit ist.« »Jake Pickett.« Sie buchstabierte den Namen. »Mit zwei T. Einundsiebzig Jahre alt. Wohnt in ...« - Sie drückte einen Knopf an einem der Terminals, die ihren Schreibtisch säumten - »dreitausend Hermosa Lane. Das liegt außerhalb der Stadtgrenzen von Riverside, im Osten.« »Und was ist mit ihm?« wollte Puteney wissen. »Ich brauche eine Beschreibung seines Wagens und muß wissen, wo der Wagen im Augenblick ist. Er ist damit unterwegs.« »Sie wollen also, daß ich ein Fahndungsersuchen für diesen Burschen hinausschicke?« fragte Puteney neugierig. »Was interessiert Sie denn an ihm?« »Eine Firmen Angelegenheit.« »Daß es nicht privat ist, hab' ich mir schon selbst gedacht. Einundsiebzig.« »Wir müssen ihn ausfindig machen«, fuhr sie fort und fügte dann mit nachdenklich wirkender Stimme hinzu: »In 127
seinem eigenen Interesse. Wir haben Grund zu der Annahme, daß er mit gefährlichen Chemikalien in Berührung gekommen ist und daher in Gefahr sein könnte. Die Firma will, daß es in aller Stille abläuft, Sie verstehen doch?« »Sicher. Gefährliche Chemikalien. Hm, ja. Damit kann ich mich decken, wenn es Ärger geben sollte. Das dürfte kein Problem sein. Wollen Sie, daß ich ihn festnehmen lasse?« »Nein«, sagte sie schnell. »Das wird nicht nötig sein. Er stellt für andere keine Gefahr dar.« Sie gab ihm ihre Büronummer. »Sobald Sie ihn ausfindig gemacht haben, lassen Sie mich wissen, wo er hingefahren ist, ja? Den Rest kann ich von hier aus erledigen.« »Wieso sind Sie so sicher, daß dieser alte Knabe seinen Wagen bei sich hat?« fragte Puteney. »Das wird er. Er scheint ein ziemlich konservativer Typ zu sein, nicht die Art, die einfach einen Wagen irgendwo stehenläßt.« »Wenn Sie mir eine bessere Beschreibung von ihm liefern könnten, dann könnten wir nach ihm und seinem Wagen Ausschau halten.« »Das ist schon in Ordnung. Finden Sie einfach den Wagen, dann wird er dabeisein. Können Sie das gleich in Angriff nehmen?« »Ob ich das kann?« Sie konnte sein Grinsen am Telefon förmlich sehen und war fest entschlossen, das Zusammentreffen so weit wie möglich hinauszuschieben. »Ich werde die Anforderung sofort nach Sacramento weitergeben. Wie lange es dauern wird, kann ich nicht sagen. Das hängt davon ab, wie schnell die Information durchkommt und wo er hingefahren ist.« »Ich bin sicher, daß Sie nicht lang brauchen werden, Don.« Sie flötete förmlich ins Telefon. »Wenn Sie wollen, können Sie sehr schnell sein.« »So schnell Sie wollen«, versicherte er ihr vertraulich. »Wie wär's, wenn wir jetzt schon den Ort und die Zeit festlegen würden?« 128
»Sobald Sie den Wagen gefunden haben. Bis bald, Don!« Sie legte auf. Es war immer nett, wenn man Freunde hatte, dachte sie. Wenigstens war der hier nicht irgend so ein krankhafter Typ wie manche andere, die sie schon in der Vergangenheit benutzt hatte. Wenn sie Zugang zum Computer der Highway Patrouille gehabt hätte, hätte sie Picketts Wagen selbst lokalisieren können. Aber zu den amtlichen Akten wie den Autoregistern hatten Unautorisierte gewöhnlich keinen Zugang, und deshalb mußte sie solche Dinge Bekannten wie Puteney überlassen. Daß er ihr helfen würde, hatte sie nie bezweifelt. Falls die Aussicht auf ein weiteres Zusammentreffen mit ihr nicht ausgereicht hätte, ihn dazu zu veranlassen, hätte sie eben andeuten müssen, daß sie dann ihr kleines Plauderstündchen mit Mrs. Puteney verbringen würde. Aber sie war froh, daß es so gelaufen war. Sie hatte nicht gern Ungelegenheiten. Außerdem war durchaus möglich, daß sie wieder einmal Lieutenant Puteneys Dienste benötigen würde. Mit Honig fing man Fliegen. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Es gab noch genügend zu tun. Und wann Benjamin ins Büro zurückkehren mochte, wußte sie ebensowenig, wie sie eine Ahnung hatte, wann der Lieutenant vielleicht zurückrufen würde. Wenigstens war heute ein Wochentag, überlegte sie. Nicht daß die Polizeibehörde an Wochenenden geschlossen hatte; aber es würde einfacher sein, vom Büro aus mit Puteney zu sprechen, wo sie Zugang zu computergespeicherten Informationen hatte und außerdem plausible Ausreden, um nicht zu lange mit ihm sprechen zu müssen. Die Arbeit mit Computern machte ihr Spaß, und so war sie fast automatisch zu ihrem Beruf gekommen. Sie reagierten immer so verläßlich, dachte sie; vorhersehbar, nie von Gefühlen geleitet oder gefährlich. Nicht wie Männer. In jener beweglicheren und einen manchmal zur Verzweiflung bringenden Gruppe hatte sie Benjamin Huddy mit Abstand am interessantesten und verläßlichsten gefunden. Eines Ta129
ges könnte es sich natürlich als notwendig erweisen, ihm den Laufpaß zu geben. Sie hatte gehofft, daß es nicht so weit kommen würde. Sie mochte Benjamin wirklich gern, und er empfand offensichtlich ihr gegenüber dasselbe. Es gab zwischen ihnen eine eindeutige Affinität. Nichts so Entnervendes wie Liebe, eher gegenseitige Bewunderung und den Wunsch, zusammenzuarbeiten, um beiderseits erwünschte Ziele zu erreichen - in vielerlei Hinsicht. Jetzt war sie damit beschäftigt, eine lange Reihe von Statistiken zu untersuchen, die gerade auf einem grünen Bildschirm vor ihr abliefen. Der Teil eines Berichts, den sie über die afrikanischen Geschäfte der CCM zusammenstellte. Sie griff nach einer Kassette und entnahm ihr eine Diskette, die sie in ein leeres Laufwerk einschob. Männer waren eigentlich wie Software, wenn man genauer darüber nachdachte. Sie hatte Spaß daran, sie wie Disketten in ihr Leben einzuschieben und wieder zu entnehmen. Benjamin, Benjamin, sang sie für sich halblaut, worauf bist du da gestoßen? Seine Begeisterung hatte sie beinahe überzeugt, obwohl ihr die ganze Geschichte immer noch zu absurd erschien, um sie zu glauben. - Telekinese! Das war etwas für alberne Horrorfilme, und wenn er noch soviel wissenschaftlichen Unsinn vorgebracht hatte, um das Ganze plausibler zu machen. Vernünftelei war das Ganze, sonst gar nichts. Freilich war er der einzige gewesen, der die wundersamen Demonstrationen des alten Mannes gesehen hatte. Das war schade. Kronenkorken, die von Bierflaschen heruntersprangen; Schmutz, der von der Unterseite eines
Wagens verschwand - nicht gerade etwas, worauf man eine große Karriere aufbauen konnte. Bis jetzt hatte sie diese Albernheiten mitgemacht, weil Benjamin stets Chancen sah, wo andere nichts zu erkennen vermochten. Wenn er der Ansicht war, daß es sich lohnte, diese Angelegenheit zu verfolgen, dann war sie auch bereit, bis zum Ende mitzumachen. Und was das für ein Ende war, war ihr im Augenblick noch recht gleichgültig. 130
Aber warum war der alte Mann verschwunden? Ihr konnte es ja nicht schaden, bei dem Projekt zu bleiben, um das herauszufinden. Sie war nicht so direkt in die Sache verwickelt, wie Benjamin das war. Ihre Maschinen lieferten ihr Distanz und Schutzraum. So brauchte sie zum Beispiel nichts mit Leuten zu schaffen zu haben wie diesen zwei schrecklichen Männern, die Benjamin gezwungen war zu beschäftigen. Drew hieß der eine. An den anderen Namen konnte sie sich nicht erinnern. Es war viel besser, den Umgang mit solchen Typen Benjamin zu überlassen; das war die beunruhigende Seite an der ganzen Sache. Vierschrötige, brutale, ungepflegte Individuen mit viel Muskeln und wenig Hirn. Unter ihrem raffiniert geschnittenen gelben Kleid rieben sich ihre Schenkel aneinander. »So geht das nicht«, murmelte sie und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. »Es ist Arbeit zu erledigen.« 131
8 Den Rest des Morgens und einen großen Teil des Nachmittags verbrachte sie abwechselnd mit Arbeit und der Beantwortung von Huddys neugierigen Fragen. Er rief jede Viertelstunde an. »Nein, Benjy«, erklärte sie ihm immer wieder. »Es ist noch nichts hereingekommen.« Sie konnte ihn sich lebhaft vorstellen, wie er in seinem Büro über ihr wartete und unfähig war, irgendeine Arbeit zu verrichten. Er hatte nicht die innere Disziplin, die sie besaß. Endlich ein Anruf, diesmal nicht von ihm, sondern über die Außenleitung ihrer Sekretärin. »Miss Somerset? Da ist ein Lieutenant Donald Puteney von der LAPD am Apparat.« »Danke, Sandy. Stellen Sie ihn durch!« Eine kurze Pause, und dann: »'Tag, Schönheit.« »'Tag. Haben Sie was für mich?« Er gestattete sich ein feixendes Haha, ehe er zur Sache kam. »Dieser Pickett fährt einen 1961er blauweißen Ford Galaxie, Zulassungsnummer AD sechs, vier, zwo, F.« Ihre rechte Hand griff automatisch nach dem Bleistift und notierte das Durchgesagte. »Neu im Oktober '61 gekauft bei ...« »Ja, lassen Sie nur!« unterbrach sie ungeduldig. »Wo ist er jetzt?« »Die Highway-Patrouille hat ihn ausfindig gemacht. Er fährt in östlicher Richtung hinter Blythe. Er ist an der Grenzstation identifiziert worden, und da mein Büro das Fahndungsersuchen durchgegeben hat, hat man mich ver132
ständigt. Sie haben gesagt, Sie wollen nicht, daß man ihn aufhält, also haben die ihn durchgelassen.« »Ja, so wollte ich es.« Sie versuchte sich eine Landkarte von Südkalifornien vorzustellen. Sie fuhr selten aus Los Angeles heraus. »In östlicher Richtung hinter Blythe, haben Sie gesagt?« »Richtig. Auf der Interstate Zehn.« »Danke, Don. Das war es, was ich wissen mußte.« »He, Augenblick! Was ist ...?« »Ich ruf Sie wieder an.« Sie legte auf und wählte schnell die Nummer von Benjamins Büro. Er erschien in Rekordzeit. Inzwischen nahm sie schnell Nachhilfestunden in Geographie. »Blythe«, murmelte er, als er durch die Tür hereinkam, »östlich von Blythe.« Er nahm ihr gegenüber Platz. »Das liegt ein gutes Stück südlich von den Sierras. Selbst für jemanden, der gern einen Umweg macht.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, der haut ab, Ruth, und zwar nicht in die Sierras.« »Was ist östlich von Blythe?« fragte sie. »Nichts. Überhaupt nichts. Bis Phoenix nichts. Und danach kommt auf der 1-10 Tucson und dann wieder nichts bis ...« Seine Augen weiteten sich etwas. »Texas! - Erinnerst du dich?« Er lehnte sich über ihren Schreibtisch. »Seine einzigen Verwandten, die Nichte und die Großnichte in der Nähe von Houston?« »Das ist eine verdammt weite Fahrt«, stellte sie fest. »Noch dazu für einen alten Mann mit einem schwachen Herzen, der das solo in einem alten Wagen versucht.« »Aber warum sollte er sonst in die Richtung fahren?« »Vielleicht kennt er in Phoenix jemanden, den wir nicht in den Akten haben«, murmelte er. »Vielleicht ist er irgendwohin unterwegs, was uns überhaupt nicht in den Sinn gekommen ist.« »Nun, ich werd' jedenfalls nicht abwarten, bis ich das herausfinde. Verdammt, wenn ich nur wüßte, womit ich seinen Argwohn erweckt habe!« 133
»Dafür ist es jetzt zu spät«, erklärte sie. »Was wirst du tun?« »Ihn schnappen lassen natürlich. Wen haben wir denn in der Umgebung von Blythe?« »Die Firma, meinst du?« Ihre Augenbrauen schoben sich in die Höhe, und sie ließ ihren Drehstuhl kreisen. Ihre Finger tanzten über eine Tastatur. Gleich darauf schüttelte sie entmutigend den Kopf.
»Bloß ein Büro in Perris. Das liegt praktisch Tür an Tür mit Riverside. In der Nähe der Grenze nichts.« »Nichts in Blythe selbst?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nicht einmal eine Drugstore.« »Ich kenne Leute in Vegas«, sagte er leise. Aber selbst das ist zu weit. Und die Straßen dort sind zum Kotzen.« »Und was ist mit dem Bereich von Phoenix und Tucson?« Wieder wanderten ihre Finger über die Tastatur. »Da. Region Phoenix Südwest, die Fabrik in Eutheria.« »Was machen wir denn dort?« »Größtenteils Pottasche. Ein paar Borate. Der Chef dort heißt Frank Lasenby.« »In Ordnung. Hol mir diesen Lasenby an die Leitung!« »Hol ihn dir doch selbst«, sagte sie. »Ich bin nicht deine Sekretärin, Benjamin.« »Komm schon, Ruth!« sagte er müde. »Nicht jetzt, bitte!« »Ich wollte dich ja bloß erinnern.« Sie instruierte ihre eigene Sekretärin, die Verbindung herzustellen. »Was haben wir denn über diesen Lasenby?« »Einundzwanzig Jahre bei der Firma«, las sie vom Bildschirm ab. »Familie. Keine Hinweise auf Fehlverhalten. Keine Bestechungsgeschichten. Ein ziemlich geradliniger Typ, wie es scheint.« Sie betätigte ein paar Tasten, löste damit einen Code aus und hob damit eine Sperre im System auf. Jetzt erschienen auf dem Bildschirm Informationen, die nicht in den allgemeinen Personalakten enthalten waren. »Da haben wir es!« Sie rutschte in ihrem Sessel her134
um. »Verdacht auf homosexuelle Beziehungen. In wenigstens zwei Fällen. Der eine Fall liegt noch in seiner Collegezeit.« »Das müßte genügen«, sagte Huddy, und seine Stimme klang zufrieden. »Hoffentlich müssen wir das nicht benutzen.« »Hoffentlich«, pflichtete sie ihm bei. »Trotzdem ist es immer nett, wenn man von jemandem etwas braucht und man hat ein Messer in der Hand, mit der man nicht gerade die seine schüttelt.« »Genau! Dieser Lasenby wird uns helfen, diesen Pickett zu schnappen, ehe er nach Phoenix kommt. Ich hab' keine Lust, mich dort mit ihm abzuplagen. Das ist nicht unser Territorium, und wir wissen dort nicht Bescheid.« »Nicht nur das«, sagte sie. »Aber ich kenne auch in Phoenix niemanden. Diese Information über Pickett ist über einen Gewährsmann in Kalifornien hereingekommen, und in dem Bereich befindet er sich jetzt nicht mehr. Wir könnten vielleicht mit seinen Kontakten in Arizona etwas ausrichten, aber ich möchte mich darauf nicht verlassen müssen. Außerdem weiß ich nicht, ob ich diese Quelle noch einmal einschalten möchte.« Sie dachte an den enttäuschten Lieutenant. »Von jetzt an werden wir Pickett aus eigener Kraft weiter verfolgen müssen.« »Das ist kein Problem. In ein paar Stunden haben wir ihn in Gewahrsam. Es gibt nur eine Interstate-Straße, die von Blythe nach Phoenix durchführt.« »Ich hab' mir die Karte angesehen«, erklärte sie. »Wenn er nach Texas will, braucht er nicht über Phoenix zu fahren. Die Interstate ist noch nicht ganz bis ins Stadtzentrum hinein fertiggestellt. Es gibt da eine Abzweigung, die durch die Stadt Gila Bend führt und dann hinüber nach Tucson, wo sie wieder in die Zehn einmündet. Er ist ein alter Mann in einem alten Wagen, und dort draußen ist es heiß. Ich wette mit dir, daß er nicht durch Phoenix fährt.« »Und wo ist die beste Stelle, um ihn aufzuhalten, ehe er die Abzweigung erreicht?« 135
»Nach der Landkarte ist die Abzweigung nach Gila Bend in der Nähe einer Stadt, die sich Buckeye nennt.« »Ich wußte gar nicht, daß du in Geographie so beschlagen bist, Süße«, meinte er. »Das habe ich mir auch erst vor ein paar Minuten angeeignet. « »Gut. Ich werd' diesem Lasenby und seinen Leuten sagen, daß sie in Buckeye nach Picketts Wagen Ausschau halten sollen. So weit ist er bestimmt noch nicht.« Somerset schüttelte den Kopf und lächelte. »In Blythe ist er um ...« - sie sah auf einen Bildschirm. - »halb elf gesichtet worden. Angenommen, er behält sein Tempo von Blythe nach Buckeye bei, dann trifft er erst in einer guten Stunde dort ein. Das sollte diesem Lasenby ausreichen, um das Nötige zu organisieren.« »Ich wünschte nur, daß dieser Pickett nicht so schwächlich wäre. Langsam bin ich es leid, den Kerl mit Glacehandschuhen anzufassen.« »Laß dich nicht verrückt machen, Benjy! Du solltest deine eigentlichen Ziele im Auge behalten. Du wirst darauf angewiesen sein, daß dieser alte Mann gutwillig mitmacht.« »Nein«, sagte er. »Ich möchte, daß er das tut. Angewiesen bin ich nach Navis' Ansicht nicht darauf.« Dann verstummte er, und man sah ihm an, daß er überlegte. »Ist noch etwas, Benjamin?« »In dem Teil von Arizona gibt es eine Menge Feldwege und Landstraßen, die bloß von den Farmern benutzt werden. Wir können nicht mit Gewißheit davon ausgehen, daß wir ihn nicht irgendwo verpaßt haben oder daß Lasenbys Leute ihn nicht finden. Ich glaube, wir müssen uns auf diese Möglichkeit vorbereiten.« »Benjy, jetzt übertreibst du wieder wie gewöhnlich.« »Ich weiß. Dadurch bin ich so weit gekommen, wie ich bin. Das Leben ist wie ein Raumschiff, Süße. Du mußt immer Reserveaggregate bereithalten, die du dann einschalten kannst, wenn die anderen Reserveaggregate
ausfallen.« Er musterte sie prüfend. 136
»Komm schon, Benjamin, heraus damit!« »Er fährt in Richtung Texas, stimmt's? Eine gewisse Chance, daß er es schafft, besteht in jedem Fall. Sein Wagen könnte den Geist aufgeben, und dann muß er einen Bus oder ein Flugzeug nehmen, und wir verlieren ihn völlig aus den Augen. Diese Möglichkeit müssen wir in Betracht ziehen.« »Ich weiß nicht, ob mir gefällt, wie du da jetzt gerade >wir< gesagt hast. Was hast du denn im Sinn?« »CCM hat eine größere Anlage südlich von Houston. Ganz in der Nähe des Ortes, wo seine Nichte wohnt, in Port Lavaca. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn du einmal die Computereinrichtungen dort unten inspizieren würdest.« »Nein, Benjamin, nicht Südtexas.« »Es ist Spätsommer, fast schon Herbst«, meinte er. »Das Wetter wird nicht so schlimm sein.« »Nein, da werd' ich einfach schmelzen. Es sei denn, ein Hurrikan bläst mich weg.« »Bitte, Süßes! Ich muß hierbleiben, um die Dinge im Auge zu behalten. Wenn dieser Pickett im Haus seiner Verwandten auftauchen sollte, falls wir ihn irgendwie verpassen sollten, müssen wir das sofort wissen, um die nötigen Schritte zu unternehmen. Ich weiß, es ist höchst unwahrscheinlich, daß er unseren Leuten in Phoenix entgeht, aber wir müssen auf jede Eventualität vorbereitet sein.« »Also schön«, sagte sie und gab mit einem Seufzen nach. »Wenn du wirklich glaubst, daß es so wichtig ist, Benjy.« »Ja, das glaube ich«, sagte er überzeugt. Sie wußte, wie er sein konnte, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Vielleicht wird es mir guttun, einmal für eine Weile aus dem Büro herauszukommen. Und damit wäre ich dann gleich näher bei den Bahamas.« »Wenn du eine Anforderung meiner Abteilung brauchst«, begann er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin unabhängig genug. Hier wird man mich ein paar Tage nicht vermissen, insbesonde137
re, wo ich ja in Firmenangelegenheiten verreise. Ich finde immer etwas, was es irgendwo zu inspizieren gibt. Das wird in Houston auch nicht anders sein.« Sie drohte ihm neckisch mit dem Finger. »Aber wenn die ihn schnappen, sagst du mir Bescheid.« »Ich verständige dich sofort im Hotel«, versprach er ihr. »Wenn es in der Nähe von Port Lavaca überhaupt ein Hotel gibt.« »Das ist Küstenland. Dort wimmelt es wahrscheinlich von Motels und Raststätten. Und was die Überwachung der Familie dieser Nichte angeht, so haben wir genügend Leute in Houston, die das übernehmen können. Du brauchst nur Anweisungen zu erteilen, dir die köstlichsten Meeresfrüchte servieren lassen und darauf warten, bis ich mich melde.« »Wenn das New York wäre, würde es mir mehr Spaß machen«, seufzte sie. Er stand auf. »Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, Süßes. Ich weiß, daß du das gut machen wirst. Ich habe sehr viel Vertrauen zu dir.« »Vielleicht ebenso wie ich in dich, Benjy?« Sie schob ihren Sessel zurück und ging auf ihn zu, in seine ausgestreckten Arme. »Wir sollten uns gegenseitig vertrauen, denn wenn jemand in der Firma von dem Wind bekommt, was wir vorhaben, und es Ärger gibt, dann werden wir alles Vertrauen brauchen, das wir aufbringen können.« »Mach dir darüber keine Sorgen, Süßes.« Er küßte sie. »Das wird alles gutgehen. Pickett hat die Dinge nur um ein oder zwei Tage verzögert, sonst gar nichts. Aber das ist sehr wichtig für mich. Es könnte verdammt wichtig für uns sein.« »Ich weiß«, murmelte sie. »Ich weiß, wie wichtig es für dich ist, sonst würde ich mich nicht darauf einlassen.« Seine Hände streichelten ihren Rücken. Sie lehnte sich zurück, lächelte ihn an. »Mach nur weiter, dann sperr ich die Tür zu.« Er ließ sie widerstrebend los. Aber er brauchte nicht lange auf sie zu warten. 138
»AD6 42F.« Royrader lehnte sich im Führersitz des kleinen Lastwagens zurück und sah seine Begleiter an. In das Fahrerhäuschen zwängten sich drei Männer, so daß sie sich kaum bewegen konnten. Der in der Mitte, Archer, zog einen Papierfetzen aus der linken Hemdtasche und starrte darauf. »Ja, das ist er. Ein Einundsechziger Galaxie, blauweiß lackiert. Jetzt haben wir unseren Mann.« Royrader starrte den Wagen an, der zwischen all den anderen auf dem staubigen Parkplatz stand. »Zum Teufel, das war nicht schwer. Was, meinst du wohl, hat die Firma mit ihm vor?« Der Fahrer zuckte gleichgültig die Achseln. »Nicht unsere Angelegenheit.« In seiner Brusttasche wartete eine mit einem Korken geschützte Spritze. Sie war auf ihre Art um nichts tödlicher als das Papier, das Archer in der Hand hielt. »Was machen wir jetzt, Ed?« Archer faltete das Papier zusammen und steckte es wieder ein. »Jetzt ist Essenszeit.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Restaurant. »Dort wimmelt's jetzt von Arbeitern von den Baumwollfeldern. Wir können nicht einfach hineingehen und ihn herauszerren, ob er nun bei Bewußtsein ist
oder nicht.« »Ich hab' eine Idee.« Der Fahrer lenkte den Lastwagen so dicht an den Galaxie heran, wie er das konnte, und versperrte damit den Zugang. Dann verließen die drei ihren Wagen. Sie mußten einen Augenblick warten, weil gerade ein älteres Ehepaar aus dem Restaurant kam und in seinen Wagen stieg. Als sie den Parkplatz verlassen hatten, holte Royrader einen Schlüssel aus der Tasche und verpaßte der Fahrertür des alten Wagens einen langen Kratzer. »So, das sollte genügen.« Er trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu bewundern. »Wir können dem alten Knaben sagen, daß wir uns die Nummer von dem Burschen verschafft haben, der ihm seine Kiste verkratzt hat. Während wir uns alle den Schaden anstarren, sollten wir es schaffen, ihm die Spritze zu verpassen und ihn uns zu schnappen, ehe jemand kommt, der uns Fragen stellt.« Er sah zum Eingang des Restaurants hinüber. 139
»Ja, so machen wir's. Schließlich hab' ich noch was anderes zu tun.« »Genau, ich auch«, brummte Snyder, das letzte Mitglied des Trios. Das Cafe hatte zwei Türen hintereinander, etwas, was man in Arizona häufig als Sperre gegen die Hitze vorfand. Drinnen war das Dröhnen der Straße kaum zu hören; nur die Klimaanlage summte leise. Archer hatte in bezug auf die Baumwollarbeiter recht gehabt: Das Cafe war gerammelt voll, von den Tischen in der Mitte bis zu den Nischen weiter hinten. Der größte Teil der Gäste waren Männer mit grobschlächtigen, von der Sonne dunkelbraun gegerbten Gesichtern. Sie trugen Stiefel und Jeans und Cowboyhüte, nicht etwa aus Rücksicht auf die augenblickliche Mode, sondern weil das die praktischste Arbeitskleidung für die harte Feldarbeit war, die diese Männer leisten mußten. Sie fuhren Erntemaschinen, reparierten Zäune, beseitigten Unkraut und sorgten für die Tausende von Hektar Baumwolle, die meilenweit östlich und südlich der Stadt in dem Wüstenland wuchsen. Kellnerinnen huschten zwischen den Tischen hin und her, wie Zeckenvögel, die eine Herde von Flußpferden betreuen, holten und brachten Teller und Gläser und ließen sich nur selten auf Gespräche ein; und diese Gespräche waren immer kurz und befaßten sich mit Frauen, Geld und der Ernte, nicht notwendigerweise in der Reihenfolge. »Da ist er«, sagte Archer überzeugt. Sie hatten sich alle mit der Beschreibung ihres Opfers befaßt und keiner widersprach ihm. »Das muß Pickett sein.« Er saß ganz alleine in einer Ecke. Es gab noch weitere ältere Männer in dem Cafe, aber sie befanden sich alle in Gesellschaft von Freunden oder ihrer Frauen. Außerdem trug dieser alte Mann keinen Hut, und es war auch keiner an einem Haken zu sehen; das wies ihn sofort als Fremden aus. Auch seine Fußbekleidung bestätigte Archers Vermutung. Der alte Mann trug Halbschuhe; damit war er, abgesehen von zwei jüngeren Touristen, der einzige Gast in dem Re140
staurant, der nicht abgewetzte, dreckverkrustete Stiefel trug. »Ja, das ist er bestimmt«, murmelte Snyder. Er setzte sich in Richtung auf Picketts Tisch in Bewegung. Royrader hielt ihn mit einer Handbewegung auf. »Langsam! Langsam! Wir haben es nicht eilig. Jetzt haben wir den Burschen gefunden. Warten wir doch, bis es ein wenig leerer geworden ist. Außerdem weiß ich nicht, wie es mit euch steht, aber mich hat das Suchen nach diesem Vogel ganz schön durstig gemacht.« »Ich könnte auch ein Bier vertragen«, gestand Snyder. »Fein.« Sie fanden einen leeren Tisch und setzten sich. Eine müde aussehende Kellnerin, die sich das Haar hoch über dem Kopf aufgetürmt hatte, daß es wie ein Korb aus Redwood-Spänen aussah, trat an ihren Tisch und wartete geduldig auf ihre Bestellung. »Was gibt's denn bei Ihnen vom Faß?« fragte Royrader. »Budweiser und Michelob.« »Drei Michelobs«, bestellte Royrader. »Ja, für mich auch drei«, sagte Snyder. Die Bedienung lächelte höflich. »Das wäre alles«, sagte Royrader. »Nichts zu essen? Keinen Hunger?« »Doch, den hätten wir schon«, sagte Royrader, »aber wir haben zuerst noch etwas zu erledigen.« Sie steckte ihren Block ein. »Okay.« Dann verschluckte die Menge sie wieder. »Netter Arsch«, sagte Snyder und blickte ihr lüstern nach. »Behalt den Kopf bei der Sache, Frank!« ermahnte ihn Royrader. Archer konnte den alten Mann am besten sehen. »Anscheinend ißt er ein Club-Sandwich.« Er warf Royrader einen Blick zu. »Bist du auch sicher, daß wir nicht Zeit zum Mittagessen haben, ehe wir ihn uns schnappen?« Der ältere lächelte. »Wir sollten nichts riskieren. Jetzt haben wir den Knaben gefunden, wie man von uns verlangt hat. Essen können wir später. Sobald wir unser Bier ausge141
trunken haben, gehen wir mit ihm hinaus und erzählen ihm die Story von dem Kratzer. Dann schnappen wir ihn uns und fahren ihn ins Werk. Und anschließend ist Lasenby dran, und wir haben genügend Zeit zum Essen.« »Ich möchte bloß wissen, was die von dem wollen«, widerholte Snyder. »Sieht ja recht unbedarft aus.« »Das tun so alte Knaben immer«, sagte Royrader. »Auf die Weise achtet keiner auf sie. Vielleicht hat er etwas
unterschlagen oder so etwas.« Er warf ihrem Opfer einen Blick über die Schulter zu. »Hört zu, Leute, Lasenby hat mir überhaupt nichts gesagt. Er hat mich in sein Büro geholt, mir die Story von diesem alten Knaben erzählt und mir gesagt, ich sollte mir ein paar Leute mitnehmen, ihn mir schnappen und zu ihm bringen. Und dann hat er mir diesen Umschlag über den Tisch geschoben.« Die anderen wußten, was in dem Umschlag war. Er enthielt dreitausend Dollar in schönen, neuen HundertDollar-Scheinen und steckte jetzt in einer von Royraders Taschen. Tausend für jeden, sobald sie Lasenby diesen Pickett übergaben. Und deshalb hatten sie nicht zu viele Fragen gestellt. »Verdammt!« murmelte Snyder und spähte über die Köpfe der anderen Gäste zu Pickett hinüber. »Wenn die so scharf auf ihn sind, warum sind sie dann nicht selber losgezogen und haben ihn sich geschnappt? Ein alter Knacker wie den würde doch Lasenby oder sonst einem keine Schwierigkeiten machen. Irgendwas muß den ganz schön unruhig machen.« »Ja, nun, aber denkt daran, daß das uns nichts angeht, klar? Wir tun das, was man uns gesagt hat, und vergessen dann das Ganze.« »Ich weiß«, sagte Snyder ein wenig beleidigt. »Ich hätte bloß gern gewußt, was hier vorgeht, das ist alles.« »Ich auch, Frank, ich auch«, sagte Royrader. »Aber wir werden es wahrscheinlich nicht rauskriegen, also zerbrechen wir uns besser nicht den Kopf darüber, okay?« Das Bier wurde ihnen serviert, und das Gespräch wandte 142
sich dem Thema Football zu, insbesondere der Frage, wie die Bears es fertiggebracht hatten, wieder zu verlieren. Snyder stammte aus Chicago, so daß das Gespräch für ihn mehr als nur akademisches Interesse hatte. Auf der anderen Seite des Restaurants hatte Jake Pickett inzwischen mit der zweiten Hälfte seines ClubSandwichs begonnen. Die drei waren ihm in dem Augenblick aufgefallen, als sie das Lokal betreten hatten, und er hatte sie dabei beobachtet, wie sie ihn anstarrten, ganz besonders der Kleine in der Mitte. Nun war an Jake Picketts Äußerem nichts, was besondere Aufmerksamkeit verdient hatte. Mit Ausnahme seiner Schuhe gab es nichts, was ihn unter den anderen Gästen besonders hervorhob; und deshalb gab es auch keinen Grund, weshalb drei völlig Fremde so viel Zeit darauf verwenden sollten, ihn anzuglotzen. Außerdem stellte er fest, daß die Neuankömmlinge wesentlich sauberer waren als der Rest der Männer im Cafe. Sie hatten also nicht Stunden auf den Feldern verbracht. Allem Anschein nach hatten sie sich auch nichts zu essen bestellt, nur Bier. Sie wechselten sich weiter darin ab, zu ihm herüberzusehen, und hatten allem Anschein nach nicht bemerkt, daß ihm ihr Interesse aufgefallen war. Aber da sie sich damit zufriedenzugeben schienen, dazusitzen und zu trinken, dachte Jake, daß er ebensogut zu Ende essen konnte. Er rechnete nicht damit, daß sie etwas versuchen würden, zumindest nicht in dem überfüllten Cafe. In dem Fall hätten sie es sonst sicherlich schon lange getan. Diese drei Männer bestätigten Amandas Argwohn. Seine liebe, argwöhnische kleine Mandy, dem Himmel sei Dank für sie, dachte er. Nicht daß Jake nicht auch Huddys Motive beargwöhnt hätte; schließlich hatte er genug Fernsehspiele gesehen. Er war nur ein so netter junger Mann und schien ernsthaft um Jakes Gesundheit besorgt. Auch nach Amandas Ansicht war er um Jakes Gesundheitszustand besorgt, aber nicht in 143
der Art und Weise, wie er es angedeutet hatte oder wie Jake das gehofft hatte. Und jetzt war Huddy offenbar sogar so weit gegangen, Leute hinter Jake herzuschicken, um ihn zurückzuholen. Wozu? Für eine >Untersuchung<. Die Vorstellungen, die das in Jakes Gedanken heraufbeschwor, waren nicht sonderlich einladend und ganz gewiß nicht gesund. Er fragte sich, wie es Huddy wohl gelungen sein mochte, ihn aufzuspüren. Nicht daß das jetzt etwas zu bedeuten gehabt hätte. Was hatte jetzt eigentlich etwas zu bedeuten? Seine Gedanken drehten sich im Kreise. Normalerweise war das Komplizierteste, womit er sich befassen mußte, die Gebrauchsanweisung für Tiefkühlkost. Aber er würde ganz sicherlich nicht einfach wieder in seinen Wagen steigen und nach Gila Bend weiterfahren können. Nein, das erste, worauf es ankam, war, hier ganz schnell und leise zu verschwinden. Er würde seine Fahrtroute ändern müssen. Die Straße zwischen hier und Gila Bend war ziemlich überfüllt, aber immerhin nur eine Landstraße. Sobald er freilich Phoenix erreicht hatte, sollte es nicht schwerfallen, diese Leute abzuschütteln. Schließlich war das nicht die CIA, die sich auf seine Spur gesetzt hatte, nur die gekauften Handlanger eines fanatischen jungen Firmenangestellten. Er warf den drei Männern verstohlene Blicke zu. Besonders intelligent wirkten sie nicht. Nein, es sollte nicht schwer sein, sie loszuwerden. Er nahm noch einen Bissen von seinem Sandwich, stand auf und wischte sich den Mund. Als er das tat, sah er, daß zwei von ihnen sich umdrehten, neugierig in seine Richtung blickten, sich dann aber gleich wieder abwandten. Gleichzeitig trat ihre Kellnerin mit einer zweiten Runde Bier an ihren Tisch. Das würde sie vielleicht noch ein paar weitere Minuten aufhalten, dachte er. Indem er sich die eine Hand recht dramatisch gegen den Leib preßte, drehte er sich um und ging langsam auf die Tür mit der Aufschrift Toiletten zu. Ein paar von den kleinen goldenen Klebebuchstaben waren heruntergefallen. Die 144
Männer am Tisch lockerten sich wieder und wandten sich dem frischgezapften Bier zu.
In der Toilette wartete Jake, bis deren anderer Insasse fertig war, sich den Reißverschluß hochgezogen hatte und gegangen war. Dann schob er den primitiven Riegel an der Tür vor. An der Hinterseite war das übliche Fenster. Es war offen, aber ein dünnes Fliegengitter sorgte dafür, daß Arizonas geflügelte Fauna draußenblieb. Jake inspizierte das Gitter schnell und stellte fest, daß es nur mit einem Schnappverschluß befestigt war. Er zerrte daran und mußte sich überzeugen, daß er doch sein Taschenmesser brauchte, dem das Fenster freilich nicht lange gewachsen war. Er stieß mit der einen Hand zu und griff mit der anderen nach und schaffte es, den Gitterrahmen zu fangen, ehe er auf den Boden fiel; nicht daß jemand in dem überfüllten Cafe etwas hätte hören können, aber er wollte kein unnötig ges Risiko eingehen. Er ließ den Rahmen vorsichtig fallen, worauf der lautlos draußen landete. Indem er einen Fuß auf das Urinal an der Wand setzte, packte er mit beiden Händen den Fenstersims, zog sich daran in die Höhe und schlüpfte hinaus. Vor zwanzig Jahren wäre das alles einfacher gewesen; jetzt behinderte ihn sein Bauch einen Augenblick lang. Er hatte sein ganzes Leben lang hart gearbeitet, und so bereitete es ihm keine zu großen Schwierigkeiten, sich durch die Öffnung zu zwängen. Eine Minute später stand er neben dem Gebäude und dankte im stillen dem Architekten, daß er der Vorschrift Folge geleistet hatte, die eine Toilettenentlüftung vorschrieb. Im größten Teil der Gebäude des südlichen Arizona waren Fenster überflüssig; sie störten nur die Klimatisierung. Also gab es keine im Restaurant, und niemand drinnen konnte ihn um den Bau herum und zum Parkplatz rennen sehen. Er schob sich hinter das Steuer des Galaxie und machte sich an der Zündung zu schaffen; dabei huschte sein Blick 145
ständig zwischen dem Schlüsselloch und dem Eingang des Cafes hin und her. Den Kratzer an der Seite bemerkte er nicht. Er drehte den Schlüssel herum, und der Motor gab ein Geräusch wie ein müder Rasenmäher von sich. Kein Aufheulen von Energie unter der Motorhaube! Phoenix, dachte er verzweifelt. Bring mich nur bis Phoenix, alte Kiste, dann können wir beide ausruhen! Aber nicht hier! Du darfst mir jetzt hier nicht absterben! »He, Ed!« Archer deutete zum hinteren Teil des Restaurants. Zwei Landarbeiter standen vor der Tür zur Herrentoilette. Einer hatte versucht, die Tür zu öffnen, nahm aber jetzt die Hand vom Türknopf und fing an, gegen die Türfüllung zu hämmern. Royrader stand auf und ging seinen Begleitern voran. Die halbvollen Biergläser waren bereits vergessen. »Was ist denn los?« fragte er den verstimmten Landarbeiter. »Verdammt! Keine Ahnung.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür. »So ein Witzbold ist jetzt da schon zehn Minuten drin. Er hat die Tür versperrt, und ich muß dringend pinkeln.« Er wandte sich von Royrader ab und fing wieder an, gegen die Tür zu hämmern. »He, Mann, kommen Sie schon raus! Sie haben jetzt lang genug Zeit gehabt!« Royrader wechselte mit Archer und Snyder Blicke. Letzterer schob den verstimmten Landarbeiter beiseite und trat heftig zu. Andere Gäste blickten auf, und aus der Umgebung der Registrierkasse war ein leiser Protest zu hören, den die drei Männer aber ignorierten. »He, Partner, so dringend muß ich auch nicht«, sagte der erschreckte Arbeiter. Die Tür flog krachend nach innen. Snyder hetzte als erster hinein, dicht gefolgt von Royrader und Archer. Sie sahen das gähnende Fenster sofort. »Verdammt!« murmelte Royrader halblaut. Sie rannten wieder hinaus, zurück ins Cafe, ignorierten die Rufe der an146
deren Gäste und den Protest der Frau an der Registrierkasse. Dann waren sie wieder draußen, orientierten sich mit zusammengekniffenen Augen im grellen Schein der späten Sommersonne. Der Galaxie war verschwunden. Archer deutete nach links, die Straße hinauf. »Da fährt er!« »Herrgott!« stieß Royrader aus, während sie auf ihren Lastwagen zurannten. »Wenn der sich in den LkwVerkehr einreiht, kriegen wir ihn nie.« Von Buckeye bis zu der Stelle, wo der Verkehr von Los Angeles und Phoenix dichter wurde, waren es wenigstens zehn Meilen. Sobald er in den Verkehrsstrom eingereiht war, würde der alte Mann von Achtachsern und Touristen umgeben sein, ganz zu schweigen von den allgegenwärtigen Wagen der Highway-Patrouille. Aber einen Vorteil hatten sie zumindest, dachte Royrader, als sie sich wieder in die Fahrerkabine zwängten: Als sie sich den Wagen des alten Mannes angesehen hatten, hatten sie sich davon überzeugen können, daß er nicht über CB-Radio verfügte. Um Hilfe rufen konnte er also auf der Straße nicht. Ihr Motor heulte auf, so daß Kies und Ameisen davonflogen, während sie aus dem Parkplatz polterten und zur Straße hinausstoben. »Ganz ruhig, Ed!« riet Archer. »Wir fangen ihn schon.« »Klar«, sagte Snyder und lehnte sich zum gegenüberliegenden Fenster hinaus, so daß er die Augen gegen den Fahrtwind zusammenkneifen mußte. »Einen Rennwagen fährt er ja nicht gerade.« »Das ist es nicht.« Royrader blickte finster, während seine Hände sich um das Steuerrad krampften. »Ich mag es bloß nicht, wenn man mich für dumm verkauft, besonders nicht, wenn ein blöder, alter Knacker aus L.A. das
probiert.« »Jetzt dreh bloß nicht durch!« riet Archer. Er starrte durch die staubige Windschutzscheibe und versuchte sich zu orientieren. »In einer Minute haben wir ihn. Denk bloß an den Umschlag und die netten kleinen Scheinchen.« 147
»Klar, der Umschlag.« Der Gedanke an das Geld machte ihn augenblicklich zuversichtlicher. Er hatte den lausigen Job eines Vorarbeiters in der dritten Schicht und verbrachte seine Tage mit einem Schutzhelm und in Overalls zwischen weißem Zeug. Aber wenn das auch schmutzige Arbeit war, so doch bei weitem nicht so schmutzig wie das, auf das er sich jetzt eingelassen hatte. Zum Teufel damit! Für solche Gedanken war es jetzt zu spät. Wenn Lasenby nicht ihn und seine Kumpels ausgesucht hätte, dann hätte er sich drei andere für den Job suchen können, und zwar in weniger als fünf Minuten. Die Zeiten waren hart. Er versuchte alle derartigen Gedanken zu verdrängen, bloß an den dicken Umschlag zu denken, der in seiner Brusttasche steckte. 148 9
Jake drückte das Gaspedal bis zum Boden durch, aber der alte Ford reagierte darauf nicht so wie früher einmal. Daß man ihm wirklich Tempo abgefordert hatte, lag lange zurück. Jake verstand nicht viel von Autos, aber daß man einer Maschine keine Energie abverlangen konnte, für die ihre Kräfte nicht mehr ausreichten, war ihm bewußt. Er konnte den Kleinlaster im Rückspiegel schnell herannahen sehen. Die grellen Reflexe im Glas ließen ihn zwar nicht erkennen, wer in der Fahrerkabine saß, aber es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich auszumalen, wer es wohl sein mochte. Sie hatten seinen Trick in der Toilette entdeckt. Das war nicht schlimm; schlimm war nur, daß sie ihn etwa zehn Minuten zu früh entdeckt hatten. Er suchte den Straßenrand nach einer möglichen Zuflucht ab. Da war nichts. Keine Tankstelle, in die man fahren konnte, kein Motel - nichts, außer Sträuchern und Asphalt. Er war auf einer Wüstenstraße gefangen, nur wenige Meilen von der Sicherheit entfernt, die der Großstadtverkehr ihm bot. Von der Hauptstraße zweigten ein paar Feldwege und schmale Seitenstraßen ab, die zu den sauberen kleinen Häusern oder weiter entfernten Baumwollfeldern führten. Er konnte sich gut vorstellen, was ihm widerfahren würde, wenn er in eine dieser Straßen einbog. Seine einzige Hoffnung lag darin, im Verkehr unterzutauchen starkem Verkehr. Auf einen Streifenwagen der Highway-Patrouille zu hoffen wagte er erst gar nicht. Einen Augenblick lang tanzten hinter seiner Netzhaut 149
winzige Feuerblitze, und er zuckte zusammen. Die kleinen Männer waren wieder in seiner Brust am Werk und klopften dort mit ihren Meißeln und Hämmern herum. Aber er konnte jetzt nicht die Hand vom Steuer nehmen, um die Flasche mit den Nitro-Pastillen aus der Brusttasche zu holen. Seine morgendliche Dosis hatte bis jetzt ihre Wirkung getan, aber sie war nicht darauf abgestimmt, ihn vor der Art von Streß zu schützen, der er Körper und Geist jetzt aussetzte. Mit dem Fuß drückte er das Gaspedal fest nieder, die Augen richtete er auf die Straße vor sich und klammerte sich grimmig an das Steuer und versuchte den Schmerz auszusperren. So sehr sich auch der alte Galaxie Mühe gab, der Laster ragte doch immer größer im Rückspiegel auf. Immer näher rückte er, und schließlich rollte er neben ihm dahin. Der Mann, der sich aus dem Seitenfenster beugte und Jake zurief, gab sich Mühe, ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern. Aber das gelang ihm nur teilweise. »He, Alter, halten Sie an!« Jake gab keine Antwort, sah ihn nicht an und fuhr fort, entschlossen gerade nach vorne zu starren. Wo war die Polizei? Wo die Highway-Patrouille? Jake dachte nicht einmal darüber nach, was für eine Geschichte er ihnen erzählen würde. Wenn sie ihn verhafteten, dann war das immer noch besser, als wenn er jetzt nachgab und auf den Seitenstreifen fuhr. Aber war das wirklich so? Schließlich konnte man auch die Bullen manipulieren. Er hatte genügend über alles das gelesen, wozu manche von den großen Firmen fähig waren. Wie weit reichte die Hand des jungen Huddy? »Kommen Sie schon, Alter!« schrie der Mann beharrlich. »Halten Sie an! Wir wollen doch bloß mit Ihnen reden, sonst nichts.« »Gehen Sie weg!« schrie Jake zu seinem halb geöffneten Fenster hinaus. »Verschwinden Sie und lassen Sie mich in Ruhe! Ich hab' euch nichts getan!« In seiner Brust hatte ein weiches Pochen angefangen; das war eine Warnung, war 150
das pulsierende Geräusch einer inneren Sirene, ein Signal an einem Bahnübergang. Nicht gefährlich, sagte das Signal, noch nicht, aber du mußt jetzt langsamer werden, vorsichtig sein, dich beruhigen. Und ausgerechnet das konnte er im Augenblick nicht. »Hören Sie, Alter!« schrie der Mann, der sich aus dem Fenster des Lasters lehnte. »Da sind ein paar Leute, die mit Ihnen reden wollen, okay? Wir wissen nicht einmal, wer diese Leute sind. Halten Sie an, dann reden wir darüber, okay?« »Verschwinden Sie!« schrie Jake und kurbelte sein Fenster ganz hinauf. Der Mann, der ihm zugerufen hatte, gab
auf und verschwand im Inneren des Fahrerhäuschens. Er warf dem Fahrer einen bedeutsamen Blick zu. Royrader musterte die Straße vor ihnen. Vier Spuren, auf der Gegenseite gelegentlich ein Wagen, ansonsten weitgehend leer. Er sah auf das Tachometer. Sie fuhren mit fünfundsiebzig Meilen. Entweder war der Wagen des alten Mannes einfach nicht schneller, oder er wollte nicht riskieren, daß er die Kontrolle über ihn verlor. Aber schnell genug war das. Wenn sie das gegenwärtige Tempo beibehielten, würden sie die nächsten paar Minuten auf Verkehr stoßen. »Festhalten!« warnte er seine Freunde. »Was hast du vor?« wollte Archer wissen. Royrader funkelte ihn an. »Ihn von der Straße drängen was denkst du denn? Wir können nicht die ganze Zeit bloß neben dem Arsch herfahren.« »Dabei könnte der alte Ford umkippen«, stellte Snyder fest. »Schlimm. Aber tun müssen wir etwas.« Er drehte das Steuer nach rechts. Die Vorderkante des Lastwagens schob sich gegen den Galaxie. Gummi von den großen Vorderreifen quietschte am blauen Stahl, Lacksplitter wirbelten davon. Die werden es tun, dachte Jake verzweifelt und spürte, wie der Galaxie auf den Seitenstreifen zu gedrängt wurde. Die machen es tatsächlich! Der Lastwagen war doppelt so 151
schwer wie sein alter Ford. Der Seitenstreifen war mit Sand bedeckt, und Gestrüpp und Salbei wuchsen darauf und dazwischen Ocotillo und ein paar vereinzelte Kakteen. Er würde von Glück reden können, wenn sein Wagen nicht umkippte; aber das würde das Ende sein. Sie würden ihn herauszerren und an irgendeinen Ort bringen, den man ihnen genannt hatte. Jake wußte, wohin ihn das zu guter Letzt führen würde: in Huddys Klauen, an den Operationstisch eines Arztes geschnallt. Und dann würden kleine Metallstückchen an ihm herumtasten, und jemand würde dünne Drähte an seinem Kopf befestigen. Nein, nein! Warum bin ich nicht aufs College gegangen? fragte er sich. Die Chance hatte ich. Vielleicht würde ich dann jetzt mehr über mich wissen; über das, was ich bin, und wie ich mich schützen kann, selbst wenn Amanda darauf besteht, daß sonst niemand etwas über das weiß, was ich tue. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Fünfzig Jahre zu spät. Kronenkorken und Dreck und verblüffte Kinder. Etwas anderes hatte er nie versucht, hatte nie den Versuch unternommen, irgend etwas schlupft zu machen. Das Ganze war für ihn nur ein Spiel, ein Trick, um Kinder zum Lachen zu bringen. Und das war alles, und mehr wollte er auch nicht. Aber dieser Huddy dachte anders darüber. Mandy hatte sich die größte Mühe gegeben, um ihn zu warnen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Zu spät. Er wußte nicht, was er jetzt tun sollte. »Sag mir, was ich tun soll, Mandy!« dachte er verzweifelt. »Sag mir, was ich tun soll!« Aber Amanda konnte ihm nicht helfen. Sie sprach jetzt nicht mit ihm, und sie war diejenige, die die Verbindung herstellen mußte. Das Telefon klingelte stets auf seiner Seite. Lastwagen. Muß den Lastwagen anhalten. Aber er wollte niemandem weh tun. Diese Notwendigkeit war ihm sogar während des Krieges erspart geblieben. Er hatte die ganze Zeit als Schweißer in Los Angeles gearbeitet beim Bau von Liberty- Schiff en. 152
Wieder prallte der Laster gegen ihn. Ein oder zwei Sekunden lang wühlten die rechten Reifen des Galaxie den Sand auf. Der Ford schlitterte, und sein Heck hüpfte wild auf und ab wie eine Go-go-Tänzerin. Dann war er wieder auf dem Asphalt, und der Laster setzte zum nächsten Angriff an. Das Steuerrad ... Was war mit dem Steuerrad? Das war doch so ähnlich wie ein Kronenkorken - oder nicht? Nein, in Wirklichkeit nicht, und die würden dann die Kontrolle über ihren Wagen verlieren und irgendwo aufprallen, und das Ganze würde dann seine Schuld sein. Er wollte niemandem weh tun, nicht einmal ein klein wenig. Womit war er vertraut? Was konnte er ganz sicher tun? Was war so wie ein Kronenkorken? Wieder bewegte sich das große rechte Vorderrad auf die Motorhaube seines Ford zu, und plötzlich wußte er es. Als er es versuchte, war es irgendwie komisch. Es war, als ob die ganze Zeit ein alter Freund dagewesen wäre. Ein wirklich guter, enger, intimer Freund; einer von der Art, die man alle fünf Jahre anrufen und fragen kann, >Wie geht's denn?<, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was man eigentlich mit ihm reden sollte, oder sich zu entschuldigen, warum man nicht geschrieben hat. Bis jetzt hatte er nie versucht, seinen Freund zu gebrauchen, weil er nie Anlaß dazu gehabt hatte. Aber jetzt hatte er Anlaß, jetzt brauchte er ihn. Es war wirklich nicht anders, als wenn man Kronenkorken schlupft machte, obwohl er innerlich ein komisches Gefühl dabei hatte; nicht im Herzen, das sich immer irgendwie komisch anfühlte und jetzt anfing, mit quälender Wucht gegen seine Rippen zu schlagen. Irgendwo anders. In seinem Kopf; und der tat ihm jetzt auch ein wenig weh. Es tat immer ein wenig weh, wenn er Dinge schlupft machte; aber diesmal tat es mehr weh als sonst. Aber es war nicht anders als mit den Kronenkorken! 153
»Jesus Christus!« brüllte Archer und riß beide Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen. Snyder entrang sich ein leises Stöhnen, während er sich reflexartig an der Fensterkante festhielt. Royrader mußte alle Kraft aufwenden, um das plötzlich zum Berserker gewordene Steuer unter Kontrolle zu bekommen. Die Luft um ihn herum war voll von Funken, Asphaltstücken und Staub. Die Fahrerkabine war mit dem Geruch von etwas Brennendem angefüllt und einem schrecklichen Kreischen, das ihre Flüche übertönte.
Irgendwie schaffte es Royrader, den Wagen in der Gewalt zu behalten, bis sie endlich mit einem mahlenden Geräusch zum Stehen kamen. »Jesus Christus!« murmelte Archer immer wieder. »Jesus Christus!« »Ist schon gut!« sagte Royrader. Er hielt das Steuerrad so fest umfaßt, daß seine Finger bis zu den Knöcheln weiß waren; so konnte er immerhin verhindern, daß sein restlicher Körper zitterte. »Jetzt ist es schon in Ordnung. Wir stehen. Alles ist okay.« Vor ihnen war die schwache Silhouette des alten Ford bereits in der Ferne verschwunden. »Was, zum Teufel, ist passiert?« fragte Snyder mit zitternder Stimme. »Ich weiß nicht.« Royrader ließ die schnelle Sequenz von Ereignissen noch einmal an sich vorbeiziehen, stieß aber dabei auf keine Erklärung. »Ich weiß es nicht. Ich hab' die Kontrolle verloren, das ist alles. Die Kiste ist einfach plötzlich verrückt geworden.« Er riß am Türgriff, versuchte die Tür aufzustoßen, aber die bewegte sich nicht. Indem er den Griff niedergedrückt hielt, rammte er die Schulter gegen die Tür und genoß den Schmerz, der seinen Arm hinaufschoß. Die Tür gab nach, öffnete sich ächzend. Halb trat, halb stolperte er aus dem Fahrerhäuschen auf die Straße. Andere Wagen verlangsamten jetzt ihre Fahrt, als sie sich von hinten dem Laster näherten. Ihre Insassen starrten mit aufgerissenem Mund zu ihnen herüber, aber niemand hielt an, um zu helfen. Royrader war das ganz recht. Er war in dem Augenblick ganz sicherlich nicht in der 154
Stimmung, Fragen zu beantworten. Er überlegte bereits, wie er Lasenby ihr Versagen erklären sollte. Und schlimmer als das war noch das Bild von schönen, neuen Hundert-Dollar-Noten, die jetzt in der Wüstenluft davonsegelten. Langsam ging er zum hinteren Ende ihres Wagens. Einer der Hinterreifen war ein Stück entfernt zu sehen, wie er in den Busch rollte. Er stieß gegen einen Saguaro, kippte um und blieb schließlich liegen, wie eine Münze, die man auf einen Tisch wirft. Royraders Begleiter brauchten etwas länger, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Schließlich arbeiteten sich Snyder und Archer ins Freie. Der Staub und der Schmutz rings um sie herum hatte sich inzwischen fast gelegt. »Ich dachte, du hättest diese Kiste einigermaßen in Form«, sagte Archer anklagend, nachdem er einen Blick auf das Fahrgestell geworfen hatte. »Das erste Mal, daß ich je Ärger damit hatte«, sagte Royrader abwesend. Er war ganz in die Betrachtung der Hinterachse versunken. »Und so etwas habe ich ganz sicher noch nie erlebt.« »Verdammt!« Snyder blickte die Straße hinunter, in die Richtung, in der der Ford verschwunden war. »So etwas hab' ich noch nie gesehen.« Er wandte sich wieder seinem Vorgesetzten und Trinkkumpan zu. »Hast du nicht das Gefühl, Ed, daß an diesem kleinen Job vielleicht etwas war, wovon Lasenby uns nichts gesagt hat?« »Ich weiß nicht.« Royrader wußte nicht, was er denken sollte. Er war verwirrt und wütend und hatte Angst, ziemlich große Angst. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Kommt, wir sammeln jetzt diesen Mist ein, und dann wollen wir sehen, ob wir die Kiste wieder zusammenkriegen.« Sie ließen den Laster auf seinen Kotflügeln und Achsen stehen und machten sich auf den Weg. Die vier großen Geländereifen waren gleichzeitig von den Achsen gerutscht. Für Royrader gab das einfach keinen Sinn. Dieser Wagen war sein Baby, hatte ihn auf unzähligen Fisch- und Jagdexpeditionen begleitet. Er war damit quer über Wildbäche und 155
durch Lavaschluchten gefahren und hatte noch nie ein Rad verloren. Und jetzt hatte er alle vier gleichzeitig verloren. Er wußte immer noch nicht, wie er es geschafft hatte, dabei nicht umzukippen. Und genau das wäre nämlich passiert, wenn sich nicht alle vier Räder in exakt demselben Augenblick gelöst hätten. Die drei Männer brauchten den Rest des Nachmittags dazu, um die vier Räder zu finden und sie zurückzurollen. Den Rest des Abends brauchten sie, um alle zweiunddreißig Muttern zu finden. Sie waren über Seitenstreifen und Straße verteilt. Zum Glück schienen sie alle unversehrt. Snyder inspizierte sie nacheinander, während Royrader und Archer sich mit dem Wagenheber abmühten. Snyder konnte durchaus verstehen, daß man eine Mutter verlor, vielleicht auch zwei, ja selbst daß sich ein ganzes Rad löste, so wie sie den Wagen des alten Mannes gerammt hatten. Aber zweiunddreißig Muttern von zweiunddreißig Schrauben, und das gleichzeitig? Das war schlimmer als bloß verrückt. Eine Scheißangst konnte einem das machen. Plötzlich schien es gar nicht mehr so schrecklich, die tausend Dollar zu verlieren, die man ihm versprochen hatte. Plötzlich verspürte er nur den einen Wunsch, in Willy's Bar zu gehen und sich zu betrinken und dann morgen wieder zur Arbeit zu gehen. Plötzlich verspürte er überhaupt keine Lust mehr, diesen alten Mann im Leben noch einmal zu sehen. »Sagen Sie Mr. Huddy noch einmal genau, was passiert ist«, wies Lasenby Royrader an. »Hören Sie, Mr. Lasenby«, sagte der Fahrer zu seinem Chef, »ich hab' Ihnen doch schon gesagt, wie es war.« Er warf seinen zwei Kollegen, die hinter ihm saßen, einen Blick zu als könnten die moralische Unterstützung liefern. »Wir hatten diesen alten Knaben. Wir hatten ihn! Aber er wollte nicht anhalten, wollte nicht auf den Randstreifen fahren. Und Sie hatten gesagt, wir sollen tun, was nötig ist, um ihn herzuholen. Also fingen wir an,
ihn auf den Randstreifen zu 156
drängen, ganz sanft. Und plötzlich sackt mein Laster einfach zusammen, alle vier Räder gleichzeitig! Mann, ich hab' noch nie von so etwas gehört, nicht einmal bei einem Geländerennen. Und Sie wollen wissen, wie das war? Das würden ich und die Boys auch gerne wissen.« Huddy saß ein Stück hinter dem Schreibtisch des Fabrikleiters. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und die Finger wie ein Dach zusammengelegt, während er aufmerksam zuhörte. Es kostete ihn große Mühe, seine Enttäuschung und zugleich auch seine Erregung zu verbergen. Zugegeben, sie hatten Pickett für eine Weile aus den Augen verloren, aber es sollte nicht zu schwierig sein, ihn wieder ausfindig zu machen. Und das nächstemal würden sie genau den richtigen Zeitpunkt abwarten, ehe sie versuchten, ihn in ihre Gewalt zu bekommen. Diesmal würde er richtige Profis einsetzen und nicht Leute wie diese, die zufällig zur Verfügung standen. Die Verzögerung enttäuschte ihn nicht einmal, weil der Mißerfolg dieser Männer ihm etwas geliefert hatte, was fast ebenso wertvoll wie Pickett selbst war: einen Beweis. Er wußte, was dem Lastwagen dieser Männer widerfahren war, weil er sich an die Kronenkorken erinnerte. Er sah sie noch ebenso deutlich von den Flaschen hüpfen, als ob der alte Mann ihm erst gestern sein Kunststück vorgemacht hätte. Nur daß das viel besser als Kronenkorken war. Viel besser. Ob Pickett so etwas wohl auch beispielsweise mit den Zahnrädern schaffen würde, die die Ketten eines Panzers festhielten, oder vielleicht mit den Bolzen, mit denen die Tragfläche eines Flugzeugs festgeschraubt war? Mit ihrem Mißerfolg hatten diese drei Bauernlümmel ihm ein ganzes Universum wundersamer Möglichkeiten eröffnet, und jede dieser Möglichkeiten trug denselben Namen: Jake Pickett. Aus diesem Grund, ebenso wie aus Gründen der Sicherheit, war er geneigt, freundlich zu ihnen zu sein. »Es ist schon gut. Ihr habt euer Bestes getan. Es war ein Unfall, sonst nichts.« 157
»Unfall - Teufel!« sagte Royrader. »Das war kein Unfall.« »Und zur Entschädigung«, fuhr Huddy ungerührt fort, »finde ich, ist es nur fair, daß ihr die versprochene Prämie trotzdem bekommt, weil ihr euch ja schließlich bemüht habt.« »Entschuldigen Sie, Mr. Huddy«, fing Lasenby an, »aber sind Sie auch ganz sicher, daß Sie ...?« »Ich sorge dafür, daß mein Büro Ihnen die Anweisung schickt, wenn Sie das vorziehen, Frank.« »Ganz wie Sie meinen, Mr. Huddy.« Der Fabrikchef war verwirrt und beneidete seine drei Angestellten sogar ein wenig. Als Royrader Huddys Worte hörte, war sein Ärger sofort verflogen, wenn auch die Verwirrung blieb. »Danke, Sir. Hören Sie, wenn es geht, würden wir wirklich gern wissen, ob ... nun, äh ... ob da etwas ist, was wir erfahren sollten. Ich meine das, was uns da draußen passiert ist, war schon sehr merkwürdig, und ...« »Sie sollen Ihre Prämie bekommen, Mr. Royrader«, sagte Huddy leise. »Ja, schon. Aber ...« Royrader verstummte, als Snyder auf ihn zutrat und seinem Freund die Hand auf die Schulter legte. Snyder schenkte dem elegant gekleideten Mann aus Los Angeles ein dünnes Lächeln und blickte dann auf seinen Freund hinunter. »Du hast doch gehört, was der Mann gesagt hat, Ed. Verschwinden wir hier, hm? Wir haben genügend Arbeit.« »Sicher. Aber wir sollten ...« »Ja, verschwinden wir«, sagte Archer und strebte der Tür zu. »Es ist schon so, wie der Mann gesagt hat: Wir haben unser Bestes getan und Mist gebaut. Jetzt ist das doch erledigt, stimmt's?« Gemeinsam schoben er und Snyder ihren etwas widerstrebenden Kollegen aus dem Büro hinaus und schlössen die Tür hinter sich. Lasenby ahnte den Grund hinter Huddys unerwarteter Großzügigkeit. »Sie glauben, daß die den Mund halten werden?« 158
»Ich denke schon, Frank. Das Geld sollte das schaffen. Aber selbst wenn sie sich betrinken und anfangen, in irgendeiner Bar etwas zu erzählen, dann wird denen keiner ein Wort glauben.« »Aber ich würde wirklich gern wissen, was dort draußen vorgefallen ist, Sir«, sagte der Fabrikchef. »Das gehört zu einem CCM-Experiment, das ein wenig schiefgelaufen ist.« Huddy sprach, als würde er dem anderen ein wichtiges Geheimnis anvertrauen. »Wir hatten schon ein paar Probleme damit, nichts Schlimmes freilich. Ein Teil davon ist darauf zurückzuführen, daß ein paar widerspenstige Angestellte ihre Vertragsbedingungen nicht erfüllen.« »So wie dieser alte Mann vielleicht?« Huddy blieb stumm und überließ es dem anderen, seine harmlosen und ungenauen Schlüsse zu ziehen. »Nun«, meinte der nach einer Weile, »wenn ich noch etwas für Sie tun kann, Sir, dann müssen Sie mir das sagen. Sie wissen, daß Sie sich auf Frank Lasenby verlassen können.« »Das haben Sie mir bewiesen, Frank.« Huddy stand auf, und Lasenby beeilte sich, es ihm gleichzutun. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. »Ich werde die Zentrale wissen lassen, wie hilfsbereit Sie waren.« »Danke, Mr. Huddy.« Lasenby geleitete ihn aus seinem Büro hinaus und ging dann durch die Fabrik mit ihm zu dem draußen wartenden Wagen. Erst nachdem Huddy durch das Fabriktor verschwunden war, fing Lasenby an, ernsthaft über den Bericht seiner Angestellten nachzudenken. Einen Augenblick lang dachte er daran, sie noch
einmal zu rufen und sie in Abwesenheit des respektgebietenden Besuchers von der Westküste ein weiteres Mal auszufragen. Dann zuckte er die Achseln und entschied sich dagegen. Schließlich galt es auch, seine eigene Prämie in Betracht zu ziehen, ganz zu schweigen von der Belobigung, die Huddy ihm in Aussicht gestellt hatte. Und in der Fabrik war auch genug zu tun. So vergaß er den Zwischenfall sehr schnell. 159
Während Huddy nach Phoenix zurückfuhr, konnte er seine Erregung kaum unter Kontrolle halten. Und er konnte sich auch nicht davon abhalten, jeden entgegenkommenden Wagen daraufhin anzusehen, ob er nicht zufällig ein blauweiß lackierter Einundsechziger Ford Galaxie war. Er gab sich die Schuld für den Mißerfolg und beglückwünschte sich doch gleichzeitig zu dem, was er daraus gelernt hatte. Er war bei dem Versuch, Pickett zurückzuholen, zu hastig vorgegangen, weil er geglaubt hatte, daß es leicht sein würde. Das nächstemal würde er sorgfältiger planen. Es war natürlich nicht völlig ausgeschlossen, daß die drei Männer die ganze Geschichte erfunden hatten, um ihren Mißerfolg zu tarnen; aber die Möglichkeit hatte Huddy schon sehr früh ausgeschlossen. Dazu war die Geschichte zu phantastisch und zu unglaublich. Außerdem waren die drei nicht intelligent genug, um etwas so Unglaubliches zu erfinden. In Gedanken verneigte er sich vor Jake Pickett, wo auch immer der im Augenblick sein mochte. Es war nett von ihm, daß er das bestätigt hatte, was bis zur Stunde nur eine Vermutung Huddys gewesen war. Und der Respekt, den er Huddy jetzt eingeflößt hatte, würde ihn dazu veranlassen, diesmal dafür zu sorgen, daß der alte Mann unauffällig und professionell aufgespürt wurde. Vielleicht würde er sogar Drew aus Los Angeles einfliegen lassen. Sie hatten genug Zeit, um keine weiteren Fehler mehr zu machen, und er würde sich viel wohler fühlen, wenn ihm persönlich bekannte Leute eingesetzt waren. Die würden so geschickt vorgehen, daß Pickett diesmal keine Chance bekam, ein zweitesmal einen solchen Trick wie den mit den Rädern vorzuführen. Man konnte dem alten Mann gut ein oder zwei Tage Zeit lassen, um ihn in Sicherheit wiegen, um ihn glauben zu machen, daß seine Flucht gelungen war. Sollte er sich doch ein wenig beruhigen. Vielleicht würde er nicht einmal eine Verbindung zwischen den Männern in dem Lastwagen und CCM herstellen. Pickett kam ihm nicht wie ein besonders 160
guter Schachspieler vor. Seine anderen Talente waren mehr als Ausgleich für diesen Mann, Und diese Talente wollte Huddy zu seinem persönlichen Nutzen einsetzen. »Die haben versucht, mich zu erwischen, Mandy.« Jake lag auf seinem Motelbett und versuchte seiner Großnichte seine Angst zu übermitteln. »Die haben versucht, mich von der Straße zu drängen.« »Oh, Onkel Jake!« flüsterte die Stimme mitfühlend in seinem Kopf. »Das tut mir sehr leid. Aber ich hab' dich gewarnt.« »Ich weiß schon, Mandy. Aber jetzt wird alles gut sein. Ich hab' sie abgehängt. Ihnen ein wenig Angst gemacht, denke ich. Ich hab' versucht, niemanden zu verletzen, und ich glaube, es ist ihnen auch nichts passiert. Und wenn wir dann beisammen sind, wird alles besser sein. Zu zweit werden wir uns etwas einfallen lassen.« »Ja, das werden wir ganz bestimmt, Onkel Jake. Wie bist du ihnen entkommen?« »Ich hab' nicht gewußt, was ich tun soll, Mandy. Sie waren zu dritt und hatten einen großen Pickup. Mir wollte einfach nichts einfallen. Zuerst hab' ich versucht, gar nicht auf sie zu achten, und dann haben die versucht, mich von der Straße zu drängen. Und dann fiel mir der Trick mit den Kronenkorken ein - du weißt schon, der, wo ich die Kapseln schlupft mache. Und das hab' ich mit den Muttern gemacht, die ihre Räder festhalten. Die haben sich gelöst, und ich bin ihnen entkommen. Und die verfolgen mich auch nicht mehr, da hab' ich nachgesehen. Ein paarmal hab' ich mich umgedreht, ehe ich dieses Motel fand.« »Beruhige dich, Onkel Jake! Es ist gut, daß du ihnen entkommen bist. Wo bist du jetzt?« »In einem Motel. Oh, du meinst, in welcher Stadt. Ich bin in Phoenix. Ich fahre gleich morgen früh hier weg. Wenn die noch einmal versuchen, mich zu belästigen, dann kann ich den Trick mit den Rädern wiederholen. Das nächstemal wird es leichter sein, weil ich es jetzt schon einmal gemacht 161
habe. Mandy, es war so einfach, aber es hat mir ein wenig wehgetan. Im Kopf. In zwei Tagen bin ich in Port Lavaca, wenn die alte Kiste so lange zusammenhält.« »Onkel Jake?« »Was ist denn, Mandy?« »Ich hab' viel darüber nachgedacht, Onkel Jake. Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn wir uns nicht hier treffen. Port Lavaca ist so klein und ruhig. Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns irgendwo treffen, wo viele Leute sind. Erinnerst du dich, was ich dir von unserem Urlaub letztes Jahr erzählt habe?« Jake gab sich im Halbschlaf Mühe, sich daran zu erinnern, und wälzte sich unruhig in den Laken. »Das war ... in Dallas, nicht wahr?« »Nein, nein, Onkel Jake, das war im Jahr vorher. Erinnerst du dich nicht: Wir haben meinen Bruder Marty besucht und sind eine Zeitlang bei ihm geblieben?« »Ah, ja, das war in Martys College, stimmt's?« »Vielleicht sollten wir versuchen, uns dort zu treffen, Onkel Jake. Nur um sicher zu sein.« »Ganz wie du meinst, Mandy. Das liegt bei dir.«
»Laß mich Mom und Dad ein wenig bearbeiten, dann sag' ich dir Bescheid.« »Okay, Mandy. Du brauchst mich bloß wissen zu lassen, was ich tun soll.« »Das werd' ich, Onkel Jake. Gute Nacht!« »Gute Nacht, Mandy.« Er entspannte sich und wälzte sich im Bett zur Seite. Tausend Meilen entfernt sank auch Amanda Rae in den Schlaf, mehr um ihren Onkel Jake besorgt als um sich selbst. »Mom?« Wendy Ramirez war eine fröhliche, etwas füllige Frau Mitte Dreißig; immer noch blond, immer noch attraktiv, aber bei weitem nicht so schön wie ihre Tochter. Wendy Ramirez bedauerte zutiefst, daß Rollstuhlinsassen nicht an Schönheitswettbewerben teilnehmen konnten. Amanda stellte 162
selbst im Sitzen alle anderen Mädchen des kleinen Städtchens in den Schatten. »Was ist denn, Kleines?« Amanda kam in die Küche gerollt. Es war eine hübsche, große Landküche, der Raum im ganzen Haus, den sie am meisten mochte. Er ließ ihr genügend Platz, um ihren Stuhl zu bewegen, und sie konnte ihrer Mutter an dem Küchenblock in der Mitte beim Vorbereiten der Mahlzeiten helfen, nachdem man den Block ebenso wie den Küchentisch etwas abgeändert hatte, um Platz für ihren Rollstuhl zu schaffen. »Mom, warum machen wir nicht mal Ferien?« »Ferien?« Wendy runzelte die Stirn. »Amanda, es ist doch bald Herbst.« »Ich weiß, Mom, aber wir könnten wieder mal Marty in College Station besuchen. Bloß auf ein paar Tage. Ich vermisse ihn so.« »Ich weiß schon, Liebes.« Wendy stellte eine Schüssel ins Abtropfregal. »Dein Vater und ich vermissen ihn auch. Aber in ein paar Monaten kommt er ja zu den Feiertagen nach Hause, und er ist doch gerade erst in die Schule zurückgefahren. Wenn wir jetzt dort auftauchen, bringt ihn das am Semesteranfang nur durcheinander.« »Gerade das ist es ja, Mom«, beharrte Amanda. »Bis zu den Feiertagen ist es noch so lang. Könnten wir nicht hinfahren, nur auf ein paar Tage? Nur übers Wochenende. Vielleicht dieses Wochenende! Das war' doch eine wunderschöne Überraschung für ihn.« »Sicher war' es das. Aber jetzt ist dafür nicht gerade die beste Zeit«, meinte Wendy. »Der Hurrikan letzte Woche hat viel kaputt gemacht im Hafen, dein Dad hat eine Menge am Boot zu tun.« »Die geh'n doch jetzt nicht auf Krabben, Mom.« »Das weiß ich schon, Mandy. Du weißt auch, warum. Jetzt ist für die die Zeit, das Boot herzurichten, damit es dann bereit ist, wenn sie auf Krabben gehen. Außerdem hat mir dein Vater erst gestern gesagt, daß er und die Sanchez-Jungs und Jim Grissom vorhaben, auf Heilbutt zu gehen. 163
Jim meint, daß er eine Stelle weiß, dann könnten sie mit dem Schleppnetz ein wenig zusätzliches Geld verdienen.« »Oh, Mom, das ist doch kein echtes Fischen. Die raten doch bloß herum. In Wirklichkeit wollen sie hinausfahren, um Bier zu trinken und ihren Spaß zu haben.« »In gewissem Maße auch«, räumte Wendy lächelnd ein. »Aber wenn Jim diesmal nicht bloß den Mund aufreißt, dann bringen sie vielleicht doch ein wenig Geld rein. Das verschafft ihnen das Gefühl, daß sie außerhalb der Saison etwas leisten, und die Kosten dafür kann man absetzen, auch dann, wenn sie die meiste Zeit bloß große Reden schwingen und Lone Star trinken.« »Es wäre doch nur ein Wochenende, Mom«, sagte Amanda und versuchte es mit Schmollen, nachdem sie ihre Mutter mit ihrer Begeisterung nicht hatte mitreißen können. »Ich will dir was sagen: Ich seh' mal, was Vater heute abend sagt, einverstanden?« »Oh, Mom, das würdest du tun?« Sie rollte näher heran und streckte beide Arme nach oben. Wendy beugte sich über sie und umarmte ihre Tochter und sah ihr dann dabei zu, wie sie mit dem Rollstuhl elegant kehrtmachte und aus der Küche fuhr. Es fiel ihr so schwer, Amanda etwas abzuschlagen. Sie war ein so braves Mädchen und beklagte sich kaum je darüber, daß sie kein normales Leben führen konnte. Natürlich hatte sie ihre Freunde und Freundinnen, die sie immer wieder besuchten, und sie konnte auch mit dem Rollstuhl ein paar Straßen weit fahren und ihrerseits Besuche machen. Und ihre Leistungen in der Schule waren wirklich außergewöhnlich. Ihre Klassenleiterin, Mrs. Moreno, hatte ihr und Arri praktisch versprochen, daß Amanda, wenn ihre Leistungen nicht nachließen, nicht nur die Abschlußrede würde halten dürfen, sondern praktisch die Garantie für ein Stipendium in der Tasche hatte. Unglücklicherweise würde Martin, bis sie ins College kommen würde, dort bereits seine Examina abgelegt haben. Aber vielleicht würde er noch ein Semester zulegen, und dann konnten er und sie wenigstens ein halbes Jahr ge164
meinsam auf der Universität verbringen, und er würde sie ein wenig herumreichen können. Das würde gut für sie sein. Ihr Bruder fehlte ihr wirklich. »Was meinst du, Arri?« fragte Wendy, als sie und ihr Mann zusammen im Bett lagen. »Ich weiß nicht, Querida.« Arriaga Ramirez wälzte sich zur Seite und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus. »Ich frage mich, warum sie so plötzlich fahren möchte. Sie hat Martin doch gerade erst gesehen.
Die Ferien sind doch erst vor einem Monat um gewesen.« »Du weißt ja, wie Amanda ist.« Wendy genoß die kühle Luft, die ihr über den Körper strich. Die Feuchtigkeit hatte nachgelassen, und vom Golf wehten die ersten Vorboten des Herbstes herüber. »Sie ist manchmal eben impulsiv.« »Nein, das ist sie gewöhnlich nicht«, wandte Arriaga ein. »Meistens überlegt sie sich alles sehr sorgfältig, viel mehr als du oder ich, und deshalb bin ich so überrascht. Sie weiß, daß ich am Boot zu tun habe.« »Aber es war' doch nett, Martin zu besuchen.« »Sicher wäre es das«, räumte er ein. »Telefongespräche und Briefe können einem den Sohn nicht ersetzen.« »Und wir könnten einmal auf dem Campus zu Mittag essen und vielleicht auf der Rückfahrt in Austin Station machen und einkaufen.« »Ich weiß nicht«, sagte er nachdenklich. »Ich hab' dir doch von der Stelle erzählt, die Grissom gefunden hat.« »Der Heilbutt? Wenn das für sie so wichtig ist, können doch die Sanchez-Jungs und Jim ohne dich Heilbutt fangen.« »Sicher. Und verkaufen können sie ihn auch ohne mich.« »Aber, Arri«, sagte sie, »manchmal darf man nicht nur an Geld denken.« »Ich wünschte, die Bank würde das auch so sehen. Unglücklicherweise wollen die ihre Hypothekenraten rechtzeitig. Was hast du denn zu Amanda gesagt?« »Bloß daß ich es mit dir besprechen würde. Sie wird dich 165
morgen damit überfallen, ehe du aus dem Haus gehst, das weiß ich.« »Ich weiß. Ist schon ein Klassemädchen, unsere Amanda Rae.« »Das ist sie. Und du bist ein Klassemann.« »Das reicht jetzt wohl an Komplimenten, es verdad?« Sie lachten beide. »Okay, hör zu!« meinte er dann, wieder ernst geworden. »Ich will darüber nachdenken. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Grissom plant das schon seit Wochen. Er meint, in dem Canyon, den er gefunden hat, gibt es genügend Heilbutt, daß jeder von uns ein paar Tausender damit verdienen kann. Das würde sich schon lohnen.« »Dagegen sag' ich ja nichts, Arri. Ich würde das Geld ebenso gern auf der Bank haben wie du. Aber können die nicht ein paar Tage warten? Wenigstens bis dieses Wochende vorbei ist? Dann hätten sie auch mehr Zeit, das Boot fertigzumachen.« »Freilich«, räumte Arriaga ein. »Aber es wäre auch eine Woche näher am Winter.« »Seit wann hat denn dich und deine Kumpel das Wetter je gestört? Die meiste Zeit seid ihr alle doch so betrunken, daß ihr es nicht einmal merken würdet, wenn ihr mitten im Hurrikan hinausfahrt.« »Okay, okay, ich seh' schon, ich muß mir das die ganze Nacht lang anhören.« Sie lächelte und nickte. »Na, prima. Also gut, ich werde morgen mit Grissom und den Sanchez-Jungs reden und sehen, ob ich sie dazu bewegen kann, daß sie die Expedition um eine Woche aufschieben.« Sie wälzte sich gegen ihn, so daß er aufstöhnte. »Danke, Arri, danke!« sie kraulte seine Brust. »Dank mir lieber noch nicht. Ich hab' mich noch nicht entschieden, und die anderen haben das auch nicht. Wenn Jim darauf besteht, daß wir hinausfahren - er ist immerhin der Mehrheitsgesellschafter an der Grouper, dann müssen wir fahren. Aber ich werd' mir Mühe geben. Mehr kann ich dir nicht versprechen. Aber das Boot könnte weiß Gott noch etwas Arbeit vertragen. Die neue Winde ist noch nicht 166
überprüft, und vorher wollen wir nicht hinausfahren, denn wenn auf See daran etwas schiefgeht, dann wird der alte Paxton sagen, daß es unsere Schuld ist, und die Garantie ablehnen »Willst du meine Garantie überprüfen?« Sie kuschelte sich noch etwas enger an ihn, was er physisch für unmöglich gehalten hätte. Aber es war nicht nur möglich, es war durch und durch entzückend. 167
10 Der Mann, der vor der Tür zu Ruth Somersets Zimmer im Best Western Hotel stand, sagte kein Wort; er reichte ihr einfach stumm ein Päckchen mit Kassetten. Während er auf sie wartete, rieb er sich die Augen; sie waren infolge zu wenig Schlafes gerötet. Solange er auch schon in seinem ganz speziellen und höchst ungewöhnlichen Geschäft tätig war, hatte er sich doch nie an lange Nachtarbeit gewöhnen können. Aber dafür wurde er bezahlt. So müde waren seine Augen nicht, daß er sie nicht auf den ansehnlichen Busenansatz konzentrieren konnte, der sich ihm im Dekollete ihres Negliges so anmutig darbot. »Das übliche Zeug?« fragte sie. »Diesmal nicht, Miss.« Er war klein und muskulös und ließ die intellektuelle Bandbreite eines Kastendrachens erwarten, dachte sie. Aber auf seine Arbeit verstand er sich. »Überhaupt nicht das Übliche, denke ich.« Er deutete auf den Stapel Kassetten, die mit Gummiband zusammengehalten waren. »Sehen Sie sich die erste Seite des zweiten Bandes an. Darauf ist etwas, was Sie interessieren könnte. Ich habe natürlich keine Ahnung, ob es etwas zu bedeuten hat. Schließlich weiß ich ja nicht, was Sie suchen.« »Das stimmt, Max, das wissen Sie nicht«, sagte sie mit süßer Stimme. »Gute Nacht.« Sie beugte sich vor, um sich den Pantoffel zurechtzuziehen, und verschaffte ihm damit genügend Ausblick auf das, nach was er so gerne
gegrapscht hätte, um ihn den Rest des Morgens wach und unruhig zu halten. Das war häßlich von mir, dachte sie. Aber so etwas 168
machte ihr gelegentlich Spaß. Tatsächlich war das ein Ersatz für Benjamin. Er fehlte ihr mehr, als sie für möglich gehalten hätte. Eigentlich waren das ohnehin keine richtigen Ferien. Natürlich waren das auch gar keine richtigen Ferien. Das sollte Arbeit sein, und genau als das erwies es sich auch. Sie schloß die Tür hinter Max ab. Die sommerliche Feriensaison war vorbei, und das Motel war fast leer. Sie hatte beinahe das ganze obere Stockwerk für sich alleine. Das Zimmer bot einen schönen Ausblick auf die Bucht von Lavaca und die Brücke, die in nördlicher Richtung nach Houston hinüberführte. Weiter im Süden auf Corpus Christi zu gab es bessere Plätze; aber sie war mit der Begründung hier, daß sie die Programmierungsarbeiten in der Cracker-Anlage von Matagorda überwachen wollte, und hätte wohl kaum rechtfertigen können, sich noch weiter davon entfernt aufzuhalten. Außerdem konnte sie hier die Fiktion aufrechterhalten und gleichzeitig dem eigentlichen Anlaß ihrer Anwesenheit an diesem isolierten Küstenstück nachgehen. Zumindest das Motelrestaurant war gut, besser als sie das erwartet hatte; insbesondere die Meeresfrüchte. Trotzdem hätte sie eine Woche in New York vorgezogen. Der Techniker hatte recht. Das zweite Band enthielt etwas Bedeutsames. Ärger. Nicht gerade eine Krise, aber es würde sicher nicht dazu beitragen, Huddys Stimmung zu heben. Sie ließ das Band zurücklaufen und griff nach dem Telefon. »Das gefällt mir gar nicht«, murmelte Huddy, nachdem sie ihm die Stelle vorgespielt hatte. »Ich möchte die Großnichte und ihre Familie in Reichweite haben.« »Wir können sie ja auch im Auge behalten, wenn sie diese Universität aufsuchen, Benjy«, wandte Somerset ein. »Ja. Aber falls es sich als notwendig erweisen sollte, etwas zu unternehmen ...« Er führte den etwas finsteren Gedanken nicht zu Ende. »Zum Teufel, jetzt mach' ich mir wieder unnötige Sorgen. Überwache einfach das Haus weiter. Daß es keinen Kontakt zwischen Pickett und der Familie gegeben hat, weißt du mit Bestimmtheit?« 169
»Keines der Tonbänder enthält irgendeinen Hinweis darauf«, versicherte sie ihm und sah dabei die Kassetten an. »Über Telefon ist nichts gelaufen. Und wenn sie einen Brief bekommen haben, dann hat niemand etwas davon gesagt. Pickett ist in dem täglichen Familiengeplauder nicht erwähnt.« »Trotzdem würde ich mir wünschen, daß sie dortbleiben. Ich würde lieber in einer Kleinstadt arbeiten.« »Wo die Bullen verschlafen sind und es sich leicht lebt?« spottete sie. »Hör auf, Ruth, das ist ernst!« »Ich bin immer ernst, Benjy, das weißt du. Ich kann nur deine unbegründete Besorgnis nicht ernstnehmen.« »Das kann ich dir nicht verübeln. Aber ich werde erst dann wieder ruhig sein, wenn wir Pickett in unserem Gewahrsam haben und ich ihn an Dr. Navis in Los Angeles übergeben habe.« »Je früher, desto besser, Benjy. Die ewigen Krevetten gehen mir auf die Nerven.« »Ich dachte, du magst Meeresfrüchte.« »Tu ich auch. Ich hatte nur nicht vor, mein ganzes Leben lang nichts anderes mehr zu essen.« »Bald, meine Süße. Wir haben das bald hinter uns.« »Wie willst du ihn denn diesmal schnappen? Du hast doch nicht vor, weitere Räder zu verlieren.« Sie schüttelte den Kopf, als sie sich an die Geschichte erinnerte, die er ihr hastig und voll Erregung erzählt hatte. »Ich kann mir immer noch nicht zusammenreimen, wie das passieren konnte.« »Warum kannst du es nicht glauben, Ruth? All diese Beweise - und du glaubst es immer noch nicht. Zuerst die Kronenkorken und der Dreck an meinem Wagen, und jetzt ...« »Und jetzt was?« fiel sie ihm ins Wort. »Bloß weil ein paar Tölpel von Fabrikarbeitern dir etwas erzählt haben, denen einfach der Wagen auf der Verfolgungsjagd zusammengebrochen ist?« Sie lehnte sich gegen das Kopfbrett ihres Bet170 tes und klemmte den Telefonhörer mit der Schulter fest. »Du bist es, der mir fehlt, Benjy, nicht irgendwelche Beweise in bezug auf Jake Pickett.« »Du fehlst mir auch, Süßes. Ich hab' mir die drei Männer persönlich vorgenommen. Was die erzählen, stimmt.« »Ich gebe ja zu, daß es komisch ist, daß sich gleichzeitig alle vier Räder lösen.« »Komisch? Verdammt phantastisch ist das!« beharrte Benjamin. »Das beweist den Verdacht, den ich hinsichtlich Pickett hatte.« »Ich wünschte, ich könnte auch so leichtgläubig sein, Benjy.« »Das ist keine Frage von Leichtgläubigkeit, Süße, sondern eine der Beobachtung. Du wirst das bald selbst zu sehen bekommen. Wir schnappen ihn uns morgen in der Nähe von Tucson.« »Dann ist meine Anwesenheit hier nicht länger erforderlich?« »Du mußt noch dortbleiben, bis wir ihn haben«, sagte er bestimmt. »Trotz aller Vorbereitungen besteht immer noch die Chance, daß wir weitere Räder verlieren. Vergiß nicht: Wir haben es hier mit einer unbekannten Größe zu tun, obwohl ich glaube, daß Pickett inzwischen seine Grenze erreicht hat. Ich verspreche dir: Sobald wir ihn haben, rufe ich dich an. Dann kannst du deine >Inspektion< der Anlage in Houston beenden und zurückfliegen.
Vielleicht können wir dann sogar den Urlaub nehmen, von dem du immer sprichst.« »So bald?« sagte sie überrascht. »So wie du dich aufregst, hätte ich gedacht, daß du dabeisein möchtest, während Navis seine Tests durchführt.« »Das Team wird mich verständigen, wenn sie etwas wissen«, erklärte Huddy. »Ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Entschluß gekommen, daß es für mich vielleicht besser ist, wenn ich nicht in der Stadt bin, für den Fall, daß der alte Mann abkratzt - denk an sein schwaches Herz! -und jemand anfängt, Fragen zu stellen.« 171 »Dem will ich nicht widersprechen, Benjy. Bis bald!« Sie hauchte einen Kuß ins Telefon. »Wiederseh'n, Süßes! Wir seh'n uns dann in ein paar Tagen.« Sie legte den Hörer auf. In dem Hotelzimmer war es still. Das Hotel war genügend weit von der Fernstraße entfernt, daß man den Verkehr nicht hörte. Das Wetter war ruhig, und den Wellenschlag am Ufer konnte man nur hören, wenn man auf die kleine Veranda hinausging. Sie starrte die Stehlampen an, die kunststoffbezogenen Sessel, den Fernseher, der am Tisch festgeschraubt war, und hätte am liebsten laut geschrieen. Aber Benjamin dachte, daß ihre Anwesenheit hier notwendig war, zumindest bis sie morgen den alten Mann in ihrer Gewalt hatten. Und dann würde all dieser Unsinn ein Ende haben, und sie konnte nach Hause zurückkehren, in ihre Wohnung, zu ihrem Liebhaber und zu vernünftiger Arbeit. Was würde sich wohl inzwischen in ihrem Büro aufgetürmt haben? Aber während sie sich zur Seite drehte und überlegte, was sie sich zum Frühstück bestellen sollte, mußte sie wieder an die Geschichte denken, die Benjamin ihr erzählt hatte: von dem Lastwagen und den drei Männern und den vier Rädern, die sich gleichzeitig gelöst hatten. Und sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick immer wieder zu dem von Vorhängen bedeckten Fenster zurückkehrte, so als wäre dort etwas, das zu ihr hereinspähte; etwas, das man besser in Frieden ließ ... Arriaga Amirez hatte normalerweise eine sehr hohe Meinung von seiner Tochter. Gewöhnlich hatte Amanda einen klaren Kopf, und wenn sie sich etwas vornahm, dann dachte sie es zu Ende. Aber an dem Morgen war sie ein wenig in Panik geraten; schließlich war sie erst sechzehn Jahre alt, und der Anblick der Wanze hatte sie stärker beunruhigt, als er vielleicht einen Erwachsenen beunruhigt hätte. Zumindest dachte sie, daß es sich um eine Wanze handelte. Die Beine waren aus Metall, und der Körper war aus Pla172
stik und nicht aus Chitin, und die Botschaften, die er aussandte, basierten auf viel komplizierteren Methoden als nur dem Aneinanderreihen der Hinterbeine. Sie hätte die Wanze überhaupt nicht gesehen, wenn sie das Telefon nicht versehentlich von der Gabel gestoßen hätte, als sie danach griff. Sie hatte vor gehabt, Nancy Sue ein paar Häuser weiter anzurufen und nachzufragen, ob sie vielleicht rüberkommen und sich mit ihr unterhalten und gemeinsam die Hausaufgaben machen wolle. Amanda bekam dieselben Hausaufgaben wie die anderen Kinder. Es war ihr freigestellt, ob sie zur Schule kam oder zu Hause arbeitete. Die letzten paar Schultage hatte sie sich dafür entschieden, zu Hause zu bleiben, und hatte Müdigkeit vorgeschützt. Als sie nach dem Telefon griff und es ihr aus der Hand gefallen war, hatte sich ein Teil der Plastikverschalung gelöst, so daß man den kleinen, grauen Plastikstreifen hatte sehen können. Als sie sich näher darüberbeugte, hatte sie sehen können, wo man ihn hinter dem Telefon an der Wand befestigt hatte, hatte ganz deutlich die winzigen Drähtchen erkennen können, die von dem Plastikstreifen wegführten. Sie wußte, daß das nichts mit dem Telefonsystem zu tun hatte. Sie wußte es, weil sie den grauen Plastikstreifen heute das erstemal sah. Es gab noch zwei weitere Telefone im Haus, und als sie auch dort den Plastikstreifen und die Drähte fand, fing sie an, wirklich unruhig zu werden. Ihre Mutter war einkaufen gegangen, und ihr Dad arbeitete am Boot. Sie war ganz alleine im Haus; einem Haus, das plötzlich mit häßlichen, kleinen, grauen Spionen angefüllt war. Das Haus grenzte hinten an einen Seitenarm der Bucht und vorne an eine ruhige, von Bäumen gesäumte Straße. Zu beiden Seiten lagen leere Grundstücke, und bis zum nächsten bewohnten Haus, das Mr. und Mrs. Coxley gehörte, war es ein gutes Stück Weg. Bisher hatte es ihr nie etwas ausgemacht, alleine zu sein. In Port Lavaca gab es etwa ebenso viele Verbrechen wie mitten in der Bucht. Aber die zwei Polizisten fuhren nicht be173
sonders oft Streife, vor allem dann nicht, wenn es draußen heiß war. Und wenn sie ihre Runden drehten, so im wesentlichen in dem Geschäftsviertel draußen an der Fernstraße. Jeder wußte, was in einer kleinen Stadt wie Port Lavaca vor sich ging, aber das bedeutete keineswegs, daß sie es auch dann wissen würden, wenn etwa ein paar Fremde durch eine unversperrte Hintertür ins Haus kamen oder durch ein offenes Fenster. Und sie befand sich in dem Haus wie in einer Falle, konnte nicht um Hilfe rufen, ohne daß ein geheimnisvoller Jemand es sofort erfuhr - wegen der allgegenwärtigen grauen Wanzen ... Beruhige dich! befahl sie sich. Du regst dich über nichts und wieder nichts auf. Da kroch niemand durchs Fenster, um ihr etwas Böses zu tun. Da erschien auch keine Hand an der Küchentür und richtete eine Pistole auf sie. Sie wußten nicht, was sie wußte. Sie überprüfte den Rest des Hauses gründlich. Außer den angezapften Telefonen fand sie noch Ableger der grauen Wanzen im Schlafzimmer ihrer Eltern unter dem Bett und im Speisezimmer unter der Lampe. Sie achtete sorgfältig darauf, nur hinzusehen und nichts zu berühren. Jede Störung könnte denjenigen alarmieren,
der die Geräte angebracht hatte. Und sie wollte sie nicht alarmieren. Ihre Mutter und ihr Vater waren häufig gleichzeitig abwesend, aber sie war fast immer zu Hause. Trotzdem hatte sich jemand eingeschlichen und die Wanzen angebracht. Bei dem Gedanken lief es ihr eisig über den Rücken. Jemand hatte ihren ganz persönlichen Zufluchtsort betreten und etwas Illegales getan, ohne daß sie irgend etwas bemerkt hatte. Jemand hatte sich in die Privatsphäre ihrer Familie hineingedrängt. Und was noch schlimmer war: Sie wußte, wenn jemand sich Zugang verschaffen konnte, um sich an Telefonen und Beleuchtungskörpern zu schaffen zu machen, dann konnte dieser Jemand sich auch Zugang verschaffen, um etwas anderes zu tun. Aber warum sollte das jemand wollen? Ihr Vater war Fischer. Ihre Mutter arbeitete halbtags in einer Modeboutique. 174
Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich zusammenzureimen, daß das alles etwas mit Onkel Jake zu tun hatte. Diese Leute, die ihn untersuchen wollen, müssen also auch über seine Familie informiert sein, schloß sie. Über uns. Sie müssen darüber beunruhigt sein, daß er hierherkommt, und deshalb versuchen sie jetzt etwas zu erfahren. Aber was konnte sie dagegen unternehmen? Nicht das geringste. 'Tränen standen ihr in den Augenwinkeln. Was konnte sie tun? Für Onkel Jake gab es keinen anderen Ort, an dem er Zuflucht finden konnte. Sie und ihre Eltern waren alles, was er an Familie hatte. Sie hatte recht gehabt, als sie ihm den Vorschlag gemacht hatte, sich mit ihm in College Station zu treffen. Aber wenn sie das Haus beobachteten, würden sie sehen, wie sie mit Mom und Dad wegfuhr, und dann würden sie ihnen folgen, und dann lief alles auf dasselbe hinaus. Ob sie ihren Eltern erklären sollte, was sie wußte? Vielleicht würden sie ihr glauben; wenigstens soweit, um den Sheriff zu verständigen. Aber würde das diesen Leuten etwas ausmachen, bei all der Macht, die sie zu haben schienen? Komm einfach her, Onkel Jake! dachte sie. Sobald wir zusammen sind, lassen wir uns etwas einfallen. Ich weiß, daß wir das können. Sie liebte ihren Onkel Jake wie einen zweiten Vater, und er liebte sie wie die Tochter, die er nie gehabt hatte. Sie würde nicht zulassen, daß diese gemeinen Leute ihm wehtaten, ganz gleich, wie allmächtig sie auch scheinen mochten. Solange sie auch nur einen Funken Kraft hatte, würden sie das nicht bekommen, was sie wollten. Onkel Jake hatte nicht mehr lang zu leben. Er wußte das und versuchte auch gar nicht, es vor ihr zu verbergen. Das schätzte sie an ihm: seine Ehrlichkeit. Sie schätzte alles an ihm. Sie würde nicht dabeistehen und zusehen, wie jemand ein Versuchskaninchen aus ihm machte, noch dazu am Abend seines Lebens. Später in der Nacht sagte sie ihm das. 175
»Was meinst du damit«, dachte er zu ihr, »euer Haus ist verwanzt?« »Hast du nie einen Spionagefilm gesehen, Onkel Jake? Du weißt schon - Wanzen. Lauschgeräte. Sie sind an allen unseren Telefonen und überall im Haus. Wahrscheinlich hab' ich nicht einmal alle gefunden. Jemand überwacht unser Haus.« »Ich seh' mir keine Spionagefilme an, Mandy. Aber die Nachrichten. Ich weiß, was Wanzen sind. Ich will nur ... Es ist einfach schwer zu glauben.« Warum sollte es das eigentlich sein? fragte er sich. Diese Geschichte außerhalb Phoenix, die er vor einer Weile erlebt hatte, war auch schwer zu glauben. Und daß er seine Verfolger so aufgehalten hatte, wie er das getan hatte, war noch schwerer zu glauben. Aber es war geschehen. »Mach dir keine Sorgen, Mandy«, meinte er. »Ich weiß jetzt, wie ich sie davon abhalten kann, mich zu belästigen.« In ihrer Antwort klang Verzweiflung mit. »Onkel Jake, so einfach ist das nicht. Diese Leute sind nicht dumm. Sie haben Geld und wollen dich haben. Und du bist nur ein einziger Mann.« »Ich werde von jedem Wagen, den die hinter mir herschicken, die Räder abmontieren.« Er schien recht stolz auf sich. »Hör mir zu, Onkel Jake! Du hast mir nicht zugehört. Diese Leute, die da hinter dir her sind, sind clever. Die werden sich zurechtreimen, daß du etwas mit ihrem Wagen gemacht hast, und werden dir keine Chance lassen, es wieder zu tun.« »Wie sollen sie mich dann fangen?« »Sie werden das nächstemal viel schlauer vorgehen, Onkel Jake. Jetzt, wo sie wissen, daß sie deinen Wagen nicht von der Straße abdrängen können, werden sie es auch gar nicht mehr versuchen.« Das Summen von Wagen, die über die nahegelegene Interstate-Straße rollten, drang schwach an sein Ohr, als er in 176
dem Motelzimmer im Bett lag. »Was kann ich denn sonst tun, Mandy?« »Zuallererst mußt du den Wagen loswerden, den du jetzt benutzt, Onkel Jake.« »Meinen Galaxie? Mandy, den Wagen hab' ich jetzt seit über zwanzig Jahren. Ich kann ihn nicht einfach irgendwo stehenlassen. Außerdem, wenn ich den Wagen los bin, wie soll ich dann ...?« »Du mußt ihn loswerden, Onkel Jake! So haben sie dich das erstemal entdeckt.« »Nun, ich weiß nicht, Mandy. Ich versteh' schon, was du meinst, wenn du sagst, sie würden mir keine zweite
Chance geben, den Rädertrick einzusetzen. Aber ich habe den Wagen doch schon so lange.« »Bitte, Onkel Jake! Du hast früher auch immer auf meinen Rat gehört.« »Ich weiß, Mandy. Aber zwanzig Jahre - dieser Wagen ist ein Stück von mir. Ich kann ihn doch nicht einfach aufgeben!« »Was jammert er denn?« Der große Mann, der an der Außenwand seines Motelzimmers stand, versuchte das Stöhnen des alten Mannes zu deuten, während sein Partner sich am Fenster zu schaffen machte. »Keine Ahnung«, sagte sein Partner. »Aber denk an das, was Drew gesagt hat. Dieser Bursche hat nicht alle Tassen im Schrank. Du mußt das einfach nicht beachten.« »Mir soll's recht sein.« Der andere sah auf die Uhr. »Jetzt holen wir ihn heraus und liefern ihn den Leuten aus Kalifornien aus. Ich verspäte mich nicht gern.« »He, ich hab' das verdammte Gitter schließlich nicht angebracht. Ich möchte nur wissen, wozu die den alten Knaben haben wollen.« Der Große zuckte die Achseln und sah zu, wie sein Partner vorsichtig das Gitter entfernte, und schob dann sachte das Schiebefenster an. Einen Augenblick lang rührte es sich nicht von der Stelle, dann glitt es widerstrebend auf seiner Schiene dahin. 177
»Hör dir das Geplapper an!« Der kleinere Mann hieß Degrasse. »Klingt so, als ob er getrunken hätte. Das sollte es leichter machen. Wir haben ihn in einer Minute hier draußen. Wie geht's der Frau und den Kindern?« »Okay«, sagte Nichols. »Marva ist jetzt im Durchschnitt auf einssiebzig. Und deine?« »Julia hat zur Zeit etwas Probleme. Eine Frauensache. Nichts Ernsthaftes.« »Das ist schlimm.« »Ja.« Sie schlüpften beide ins Badezimmer, und ihre schaumgummibesohlten Schuhe erzeugten keinen Laut auf den Kunststofffliesen. Dort warteten sie geduldig, bis ihre Augen sich an das schwache Licht in dem Raum gewöhnt hatten. Im Schlafzimmer draußen war es dunkel. Jetzt verständigten sie sich mit Gesten statt Worten, indem der eine deutete und der andere nickte. Sie verließen das Bad. Das Murmeln von dem einen Bett war jetzt lauter geworden. Sie ignorierten es und konzentrierten sich ganz auf ihr Vorhaben. Jake hatte Amanda gute Nacht gesagt. Jetzt lag er auf dem Bett und dachte über seinen Kummer nach. Das Leben sollte nicht so verwirrend sein. Als er in Ruhestand gegangen war, hatte er gedacht, er würde alle Verwirrung hinter sich lassen. Da gab es natürlich diese komplizierten Schriftstücke, die regelmäßig von der Pensionskasse und der Fürsorgeabteilung kamen; aber die warf er meistens in den Abfall. Damit hatte er nie Ärger bekommen. Und jetzt das! Sein ganzes Leben lang hatte er es geschafft, ohne Leiden durchzukommen. Wegen seines Alters und seiner beruflichen Fähigkeiten als Schweißer hatte er es sogar fertiggebracht, um die Teilnahme in beiden Kriegen herumzukommen. Und jetzt - völlig unerwartet - befand er sich auf der Flucht aus seinem warmen, vertrauten, kleinen Zuhause. Er war verwirrt, unsicher und verängstigt und fand sich plötzlich auf die Hilfe eines anderen Menschen angewiesen. Um mit einer gleichgültigen, kalten Welt zurechtzukommen, brauchte er den Rat seiner gelähmten Groß178
nichte. Und alles das wegen ein paar alberner Zaubertricks. Sie zögerte, ihn zu verlassen. Ihre Präsenz war immer noch da: warm, Behaglichkeit ausstrahlend, liebevoll. »Ich muß jetzt gehen, Onkel Jake. Ich fange an müde zu werden.« »Schon gut, Mandy. Ich verstehe das.« Seltsam, daß ihre Gespräche sie so viel mehr belasteten als sein gebrechliches Selbst. Natürlich tat sie auch den größten Teil der Arbeit. »Aber du mußt auf das achten, was ich dir jetzt gesagt habe, Onkel Jake. Sei vorsichtig und hör auf meinen Rat!« »Ich bin immer noch nicht sicher, was ich wirklich tun werde, Mandy. Aber ich werde gründlich darüber nachdenken.« »Gut, Onkel Jake. Gute Nacht.« »Gute Nacht, Mandy.« Degrasse sah verwirrt zu seinem Kollegen hinüber und flüsterte: »Mit wem, zum Teufel, redet er denn?« »Er spricht im Schlaf.« »Betrunken, wie ich sagte.« Er legte Nichols die Hand auf den Arm. »Und daß mir ja nichts schiefgeht. Denk an das, was die uns über die Pumpe von diesem alten Knacker gesagt haben. Wir müssen ganz vorsichtig sein. Und daß du mir ja nichts zerbrichst. Und dann paß auf, daß er sich nicht zu sehr aufregt.« Nichols nickte kurz. Sie hatten das alles schon ein paarmal besprochen. Degrasse holte die Flasche und das Tuch aus dem Mantel, entkorkte die Flasche und goß ihren Inhalt auf das dicke Stück Tuch. Er achtete sorgsam darauf, die aufsteigenden Dämpfe nicht einzuatmen. Das war eine alte Methode: bewährt, schnell und wirksam. Außerdem war im Dunkeln viel besser damit umzugehen als mit einer Spritze. Er mochte Spritzen nicht. Er war kein Arzt. Seine Spezialität lag auf der anderen Seite des hygienischen Spektrums. Nichols trat zur Seite und duckte sich. Sie hatten jetzt zu beiden Seiten des Bettes Position bezogen. Das war auch gut so, weil der alte Mann allem Anschein
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nach gar nicht so betrunken oder schläfrig war, wie sie zuerst gedacht hatten. Er schickte sich an, sich aufzusetzen, und starrte Nichols an. »He, wer seid ihr denn? Was habt ihr in meinem Zimmer verloren?« Probleme mit dem Herzen mochte der alte Mann ja haben, aber an seinen Augen war allem Anschein nach nichts auszusetzen. Nichols legte dem alten Mann hastig die zwei mächtigen Pranken auf die Schultern und drückte ihn gegen die Matratze. Degrasse preßte den mit Äther vollgesogenen Lappen über Picketts Gesicht. Was ist da los, was passiert mit mir? dachte Jake benommen. Die Dämpfe von dem Lappen. Wo bist du, Mandy? Er fing bereits an die Besinnung zu verlieren. Sie würden ihn wegholen, das wußte er, ihn nach Kalifornien zurückschaffen, zur Untersuchung ... Nein! Er versuchte um sich zu schlagen, trat zu. Der Mann, der ihn festhielt, war jung und stark, und der andere hatte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Jakes Brust gestützt, während er ihm den Lappen über Mund und Nase preßte. Und so schlug Jake heftig mit der einzigen anderen Waffe zu, die er besaß. Halb bewußtlos, war die Reaktion mehr instinktiv als geplant; eher ein Reflex als überlegt. Er war nicht einmal sicher, was er getan hatte; aber plötzlich war das eigenartige, schwächende Aroma, das an dem Lappen hing, verschwunden. Und der Lappen auch. Er nieste, als sich ein paar Fasern in seine Nase stahlen. »Verdammte Scheiße!« Der Mann, der Jake den Lappen auf den Mund gepreßt hatte, starrte verblüfft seine offene Hand an, die voll loser Fäden war, und wich hastig vom Bett zurück, gerade als ob plötzlich etwas Langes, Schwarzes, Tödliches in seiner Handfläche aufgetaucht wäre. Nichols, der keine Ahnung hatte, was geschehen war, wich ebenfalls zurück. Jake setzte sich in der Dunkelheit auf und spuckte Fasern. »Verschwindet hier und laßt mich in Frieden!« Er war immer noch angezogen und dankbar dafür. 180
Der große Mann hatte sich gleich wieder im Griff. »Was, zum Teufel, ist da passiert?« Er war auf sich selbst böse, weil er wie ein dummer Junge bei seinem ersten Einsatz reagiert hatte. Jetzt würden sie den alten Mann festhalten müssen und es noch einmal versuchen. Degrasse stand immer noch unter Schock. »Keine Ahnung.« Er war nicht dumm, aber andererseits war keiner der beiden Kandidat für ein Stipendium. Er stand am Fußende des Bettes und starrte seine geöffnete Hand an, als hätten seine eigenen Finger irgendwie den Rest seines Körpers verraten. »Der Lappen hat sich aufgelöst. Und den Äther riech' ich auch nicht mehr. Der Lappen hat sich aufgelöst. Er ist weg.« »Scheiße!« Nichols griff unter seine Jacke. »Dann machen wir es auf die harte Tour.« »He, nein!« Degrasse packte die Hand seines Partners, wurde aber weggeschoben. Nichols richtete die .38 auf den alten Mann, der sich im Bett aufgesetzt hatte. »Hören Sie, das ist wichtig für uns! Das geht nicht gegen Sie. Wir wollen keinen Ärger mit Ihnen, Kumpel. Und wenn Sie hübsch ruhig mitkommen, dann tun wir Ihnen auch nicht weh.« »Niemand will mir weh tun«, sagte Jake, der von dem Äther immer noch etwas benommen war. »Warum versucht ihr eigentlich dauernd, mich irgendwo wegzuholen?« »Was meinen Sie damit - >dauernd« fragte Nichols mit gerunzelter Stirn. Jake kam in den Sinn, daß diese beiden vielleicht gar nichts von dem wußten, was sich auf der anderen Seite von Phoenix auf dem Highway abgespielt hatte. Warum sollten sie auch? Schließlich ist das ein riesengroßer Ameisenhaufen, und die Ameisen auf der einen Seite brauchen nicht zu wissen, was die Ameisen auf der anderen Seite machen, selbst wenn sie auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Er starrte den Revolver an. Er sah nicht wie ein Spielzeug aus. Er machte ihm Angst. »Ganz ruhig!« Degrasse legte seinem Partner die Hand 181
auf den Arm. »Du darfst ihn nicht aufregen. Wir wollen nicht, daß er einen Herzanfall bekommt.« Er drehte sich um und bemühte sich, auf den zitternden alten Mann auf dem Bett freundlich zu wirken. In der schwachen Beleuchtung war er so blaß wie ein Gespenst. »Er sieht gar nicht gut aus«, pflichtete Nichols ihm bei. »Hör zu, warum verpaß ich ihm nicht einfach ein Ding auf den Hinterkopf, ganz sachte, und dann schleppen wir ihn hier raus.« »Ich weiß nicht«, sagte Degrasse. »Wenn ihn das ärgert ...« »Scheiße, ich bin es jetzt langsam leid, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, was aus dem wird«, knurrte Nichols. »Wir sind schon viel zu lange hier drin.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Eingangstür. »Die werden jetzt langsam ungeduldig werden dort draußen.« »Schon gut, schon gut«, meinte Degrasse, »dann mach schon, aber schlag nicht zu kräftig zu!« Nichols setzte sich auf das Bett zu in Bewegung, wobei er schief grinste. »Ich hab' noch nie zu fest zugeschlagen, Phil, das weißt du doch.« »Lassen Sie mich in Ruhe«, jammerte Jake. »Sie sollen mich in Ruhe lassen!« »Ganz ruhig, alter Mann!« Nichols war bemüht, beruhigend zu klingen. »Es dauert nur eine Sekunde. Dann können Sie schlafen.« Der Revolver kam näher. Er blähte sich auf, bis er den ganzen Raum erfüllte. Jake konnte nichts anderes sehen. Er war dunkel und schwarz, und sein glänzender, gähnender Schlund war direkt auf seine Brust gerichtet.
Zwei, drei klopfende Geräusche waren zu hören, wie Ratten, die vom Bett herunterspringen. Nichols erstarrte, sah zu Boden. Der Zylinder des Revolvers war unter das Bett gerollt, der Lauf lag in der Nähe seiner Schuhspitzen, der Abzugsmechanismus ein Stück rechts davon und der Hammer neben dem Tischchen. Die Plastikgriffschalen waren vom Kolben abgesprungen und lagen auf dem Boden, 182
wie die beiden Hälften einer leeren Auster. Von den Kugeln war keine Spur zu sehen. Der .38 hatte sich in seiner Faust aufgelöst, wie das Zusammensetzspiel eines Kindes, das man plötzlich angestoßen hat. »Du lieber Gott!« flüsterte der große Mann. Dann schluckte er kräftig. Sein Gesichtsausdruck, der erst vor einer Sekunde noch völlig zuversichtlich gewirkt hatte, hatte eine Metamorphose in etwas völlig anderes durchgemacht. Langsam zog er sich von dem Bett zurück. Jake starrte ihn an und staunte über den abrupten Wandel, der sich da vor seinen Augen vollzogen hatte. Dabei hatte er kaum etwas gemacht, nur die Waffe ein wenig schlupft gemacht. Degrasse starrte die einzelnen Teile des Revolver-Puzzles an, die auf dem Teppich lagen. »So wie der Lappen«, murmelte er heiser. »Die Waffe ist in Stücke gegangen - so wie der Lappen.« Nichols hatte sich zurückgezogen und stand jetzt dicht neben ihm. »Deine Waffe. Nimm deine Waffe, Phil!« »Den Teufel werd' ich! Die rühr' ich nicht an!« »Was tun wir jetzt?« »Ich weiß nicht, wie du darüber denkst«, sagte Degrasse und schob sich hinter seinen größeren Kollegen, »aber davon haben die nichts gesagt. Das hat nicht zu dem Job gehört. Mir ist scheißegal, was Drew sagt.« »Die werden ärgerlich sein.« Nichols Stimme klang weich. Dabei ließ sein Blick die ganze Zeit die plötzlich schemenhafte Gestalt nicht los, die sich jetzt in der Dunkelheit im Bett aufgesetzt hatte. »Die können mich mal«, flüsterte Degrasse. Er machte sich an der Sperrkette an der Tür zu schaffen. »Ich sag' dir, das war in dem Job nicht drin. Und wenn etwas passiert, das nicht zu dem Job gehört, dann muß man sich neue Anweisungen holen, stimmt's?« »Ja. Ja, das stimmt.« Nichols drängte seinen Kollegen. »Beeil dich!« »Ich will bloß, daß man mich in Frieden läßt«, sagte Jake mit klagender Stimme und schickte sich an, vom Bett aufzu183
stehen. Ein leises Stöhnen kam aus Nichols Kehle. Er griff nach dem Türknopf und riß die Tür in seiner Hand fast aus den Angeln, als Degrasse die Sperrkette gelöst hatte. Und dann hetzten die beiden Männer durch die offene Tür nach draußen und wären dabei fast zu Boden gestürzt. Und Jake starrte plötzlich in die nackte Nacht von Arizona hinaus. 184 11
Langsam wichen seine Angst und seine Sorge der Verwirrung und dann noch prosaischeren Sorgen. Er wußte, daß er das Zimmer verlassen mußte und das Motel auch, und das alles sehr schnell. Er erinnerte sich daran, daß der verängstigte große Mann etwas von anderen gemurmelt hatte, die draußen auf sie warteten. Er wühlte kurz in seinem Koffer herum und nahm nur sein Rasierzeug, seine Zahnbürste und die Pillen heraus. Dann schnappte er sich seine Brieftasche vom Tisch und überlegte, in welche Richtung er gehen sollte. Er erinnerte sich undeutlich daran, daß die dunklen Schatten aus der Umgebung des Badezimmers gekommen waren. Er schloß die Zimmertür und versperrte sie und ging in die Toilette. Durch das offene Fenster wehte warme Luft herein. Wenigstens das hatte er schon geübt, dachte er belustigt. Indem er den Toilettensitz als Stufe benutzte, zog er sich auf den Fenstersims hinauf und zwängte sich durch das Fenster. Dann stand er keuchend draußen und bemühte sich, wieder ruhig zu atmen. Ein kurzer Blick nach rechts und links zeigte ihm einen vom Mondlicht bestrahlten freien Platz, der voll mit altem Unkraut und ein paar Maisstauden war. Er entschied sich schnell und trabte an der hinteren Mauer des Motels entlang. Das Lied der Grillen begleitete ihn. Es war ein langes Gebäude. Das Motel gehörte einer der großen Ketten. Sein Herz grollte warnend, als er um die Ecke bog. Das Büro bildete ein hellbeleuchtetes Rechteck am ent185
fernten Ende des Gebäudes, wie der Kopf eines riesigen nächtlichen Insekts. Jake sah den Summer, mit dem man den Nachtpförtner herbeirufen konnte. Durch die Glastür und die hohen Fenster konnte er auch ein paar Wagen erkennen, die rings um seinen alten Ford standen. Männer waren daneben zu sehen; sie redeten leise miteinander und blickten gelegentlich in Richtung auf sein Zimmer. Sie waren ein gutes Stück entfernt, aber das Mondlicht und die Parkplatzbeleuchtung des Motels reichten aus, daß er die beiden Männer erkennen konnte, die in seinem Zimmer gewesen waren. Sie redeten mit den anderen, und gelegentlich konnte man sehen, wie der eine oder der andere gestikulierend zu dem Gebäude hinüberzeigte. An die Mauer gelehnt, verschaffte er sich hastig Überblick über seine Umgebung. Er könnte ins Büro rennen und den Nachtpförtner bitten, die Polizei zu alarmieren. Aber würde sie schnell genug kommen? Das hier war eine Kleinstadt. Und welche Gründe hatte er anzuführen, die für einen Kleinstadtpolizisten einen Sinn abgeben würden? Er stand da und versuchte sich eine Lösung auszudenken. Dann nahm ihm ein Geräusch wie ein
überanstrengter Kaffeetopf die Entscheidung ab. Der große Greyhound-Bus brummelte im Leerlauf auf dem Parkplatz des Restaurants nebenan vor sich hin. Das Restaurant grenzte an die Hinterseite eines wesentlich teureren Motels als das, welches Jake sich ausgewählt hatte. Er stieß sich von der Mauer ab und strebte auf den Bus zu, wobei er sich bemühte, sich in den Schatten zwischen den beiden Hotels zu halten. Sein Blick war starr auf die offene Tür des Busses gerichtet. Sie konnte jeden Augenblick zuklappen, das wußte er, und dann würde er hier draußen im Freien sozusagen stranden. Die beiden Männer, die man hineingeschickt hatte, um ihn herauszuholen, waren von seinem kleinen Trick noch sichtlich benommen. Er argwöhnte, daß weder sie noch ihre zahlreichen Kollegen sich ein zweites Mal so leicht würden überraschen lassen. Der Schmerz in seiner Brust hatte sich 186
jetzt zu einem gleichmäßigen Stechen verstärkt, wenn auch das heftige Klopfen noch nicht eingesetzt hatte. Er zwang sich, langsamer zu gehen, während er sich dem Bus näherte; zwang sich, sich nicht über die Schulter umzusehen, nach der schweren Hand, die jeden Augenblick nach ihm greifen mochte. Aber nichts packte ihn am Hemd. Und inzwischen war er bereits so nahe bei dem Bus, daß es Zeugen geben würde - wenn nicht alle Insassen schliefen. Er stieg die stählerne Treppe hinauf. Die einzelnen Stufen schienen ihm sechs Fuß hoch. Und dann war er im Innern des Busses, einem warmen Kokon aus Metall. Eine Hand tippte ihn am Rücken an, und er fuhr heftig herum, sah sich dem Gesicht des Busfahrers gegenüber. »He, Partner, was ist denn?« »Nichts.« Er blickte dankbar die Uniform an, das Emblem auf der Mütze des Fahrers. Er war sein ganzes Leben lang noch nie so glücklich über das Bild eines Hundes gewesen. »Ich habe nur eine lange Nacht hinter mir, sonst gar nichts.« »Ja, geht uns ja schließlich allen so. Suchen Sie sich einen Platz aus! Wir fahren.« Der Fahrer schob sich an ihm vorbei und nahm auf dem Fahrersitz Platz. »Wie heißt die nächste Haltestelle?« fragte ihn Jake und erlaubte sich einen schnellen Blick zum Fenster hinaus, nach hinten, auf sein Motel zu. Aber da waren immer noch keine Männer in Anzügen zu sehen, die über den Asphalt auf den Bus zurannten. Die überlegten offenbar noch, was sie unternehmen sollten. Er konnte seine Tür nicht sehen, konnte sich aber gut vorstellen, wie einige von ihnen sich an dem Schloß zu schaffen machten. Eigentlich erstaunlich, wie man zwei erwachsenen Männern mit einem so albernen kleinen Trick solche Angst einjagen konnte! Ihn erstaunte es. Der Trick war nicht schlecht, und er würde ihn sich merken müssen für den Fall, daß er sich wieder einmal einer Schußwaffe gegenübersah. Aber es war schwierig, sich daran zu erinnern. Er hatte nie etwas so Kompliziertes wie einen Revolver schlupft gemacht oder so viel geschlupft. Dennoch war er ziemlich sicher, daß er es 187
ein zweites Mal würde tun können. Anscheinend mußte er es nur einmal machen, und dann war es leicht. »Lordsburg«, sagte der Fahrer. »Was? Oh, die nächste Station, ja. Lordsburg.« Jake wußte, daß er keinen Ort passiert hatte, der Lordsburg hieß. »New Mexico«, fügte der Fahrer hilfreich hinzu und kritzelte etwas in sein Fahrtbuch. »Dort will ich hin«, erklärte Jake. »In Ordnung. Nun, Sie können den Angestellten dort bezahlen, wenn wir ankommen. Ich glaube schon, daß Sie okay sind, und ich habe jetzt keine Zeit mehr. Hab' mich sowieso schon verspätet.« »Danke!« Jake ging nach hinten und fand einen leeren Platz am Mittelgang. Im Bus befanden sich acht weitere Passagiere, und so hatte er ziemlich viel Platz, wofür er sehr dankbar war. Er hatte in letzter Zeit meist nicht so viel Platz gehabt. Als allererstes holte er das kleine Röhrchen aus der Hemdtasche. Es war eine frische Flasche, und er löste das Siegel sorgfältig. Dann schluckte er zwei der Nitropillen und fügte noch eine Kalziumpille hinzu, obwohl er wußte, daß er damit vielleicht seinen Kreislauf zu sehr belastete. Dann lehnte er sich in dem dick gepolsterten Sitz zurück und versuchte sich zu entspannen. Die Luftdruckbremsen lösten sich mit einem schmatzenden Zischen, dann rollte der schwere Bus von dem Parkplatz hinaus auf die Hauptstraße. Jake blickte durch die Heckscheibe. Die Straße war verlassen. Niemand hetzte verzweifelt hinter dem abfahrenden Bus her. Es fiel ihm immer noch schwer, seiner Erinnerung zu glauben; aber dann hatten die von ihm auch das Bild eines alten, hinfälligen Mannes mit Herzschwäche. Wenn sie keinen Kontakt mit den Männern gehabt hatten, die mit dem Kleinlaster hinter ihm hergewesen waren, dann würden sie sich vielleicht gar nicht vorstellen können, daß er sich durch das Badfenster gezwängt und entkommen war. So verängstigt wie die beiden Männer schienen, die in sein Zimmer ge188
kommen waren, würden sie möglicherweise sogar zu erwähnen vergessen, daß sie das Badfenster offen gelassen hatten. Und wenn er auch nur ein bißchen Glück hatte, würden sie alle ein paar Stunden damit verbringen, das Gelände um das Hotel abzusuchen, ehe jemand an den Bus dachte, der auf dem Parkplatz nebenan gewartet hatte. Und mit noch etwas mehr Glück würden sie vielleicht überhaupt nicht an den Bus denken. Das Nitroglycerin tat seine Wirkung. Das Kalzium würde etwas länger brauchen, würde ihn aber jedenfalls bis
morgen früh schützen. Die Herzschmerzen hatten bereits etwas nachgelassen, und auch die allgemeine Schwäche begann zu weichen. Er war froh, daß es Nacht und finster war; froh, daß seine Mitreisenden nicht sehen konnten, wie das Feuer in seiner Brust seine Gesichtszüge verzerrte. Er legte sich beide Arme über die Rippen und drückte zu; das nützte seinem Herzen nichts, half ihm aber in seinem Bewußtsein. Mandy, Mandy, dachte er müde, was soll ich tun? Wie wirst du deinem Onkel Jake da jetzt heraushelfen? Im Augenblick freilich schienen endgültige Lösungen nicht halb so wichtig, als nach Port Lavaca zu kommen. Bloß Mandy wiederzusehen und seine Großnichte in den Armen zu halten, war schon genügend Ansporn und Rechtfertigung für all die Mühen, die er hatte erdulden müssen. Für ihn war sie fast wie ein eigenes Kind, das er doch nie gehabt hatte. Vielleicht würden ihn diese schrecklichen Leute so lange jagen, bis sein Herz schließlich nachgab. Aber wenigstens würde er seine Mandy ein letztes Mal sehen. Und Wendy auch und den netten Burschen, den sie geheiratet hatte, diesen Arriaga, und vielleicht seinen Großneffen Martin. Es würde großartig sein, sie alle wiederzusehen, selbst wenn man ihn dazu gezwungen hatte. Sein Herzschlag ging jetzt wieder regelmäßiger. Er mühte sich mit dem Hebel ab, mit dem man die Sitzlehne verstellen konnte, und kuschelte sich, so gut es ging, in die Polster. Beim Verlassen des Zimmers hatte er sich noch sein Jackett geschnappt, aber das brauchte er nicht. Im Bus war es angenehm warm. 189
Wirklich ein netter Trick war das, sagte er sich selbstgefällig. Den Revolver so schlupft zu machen. Und den Lappen auch. Und dann lullte ihn das sanfte Vibrieren des Busses und das gleichmäßige Dröhnen des Motors in den Schlaf. Daß der beste Trick der gewesen war, den kräftigen Geruch des Äthers verschwinden zu lassen, kam ihm dabei überhaupt nicht in den Sinn. »Ich geh' dort nicht wieder hinein«, erklärte Degrasse entschieden. »Hören Sie!« sagte der gutgekleidete Mann, der an dem Lincoln Continental lehnte. »Sie und Nichols machen jetzt, daß Sie wieder dort hineinkommen, und sehen nach, was mit diesem alten Mann los ist! Es gibt da ein paar sehr wichtige Leute, die ihn sehen wollen, und ich werde dieses Kaff nicht ohne ihn verlassen. Klar, worauf ich hinauswill?« »Ja, kann man wohl sagen«, meinte Degrasse. »Und ist Ihnen klar, wie lang wir schon solche Jobs für CCM erledigen? Sehr lang.« Drew nickte geduldig. »Und haben Sie schon mal gehört, daß wir vor etwas Angst gehabt hätten? Daß wir jemals einen Auftrag nicht übernommen hätten?« »Man lobt Sie überall«, räumte Drew ein. »Aber im Augenblick hab' ich davon gar nichts.« »Nun, das sollten Sie aber«, sagte Degrasse, »weil wir ...« »Schnauze!« herrschte Drew ihn an. »Bißchen leise gefälligst! Schließlich sind noch andere Leute in diesem Motel.« Er stieß sich von dem Wagen ab. »Wenn man Sie nicht überall so lobte, würde mich das, was ich jetzt von Ihnen höre, auch nicht so überraschen.« »Sie hätten in dem Zimmer sein sollen«, erklärte ihm Degrasse. »Dann wären Sie nicht so überrascht.« »Hören Sie!« sagte Drew besänftigend. »Ich weiß nicht, was ihr euch einbildet, dort gesehen zu haben, aber ...« »Was wir uns einbilden?« Degrasse sah zu seinem Kollegen hinauf. »Komm, zeigen wir ihm doch deine Kanone!« 190
»Oh, dann seid ihr also bereit, dort wieder hineinzugehen?« »Sicher sind wir das ... wenn Sie und ein paar von den anderen mitkommen.« Er deutete auf das halbe Dutzend Schlägertypen, die sich über dem Parkplatz verteilt hatten. Zwei saßen auf dem Rücksitz des Ford Galaxie und warteten auf einen Fahrer, der nicht erschien. »Ein richtig harter Brocken, dieser kranke, alte Mann, was?« forderte Drew sie heraus. »Jetzt hören Sie auf damit, Mann! Sehen Sie ihn sich an!« »Also schön.« Drews Stimme klang drohend. Er winkte den anderen zu, worauf alle auf den Continental zustrebten. Dann setzte sich die kleine Armee in Richtung auf Zimmer dreiundzwanzig in Bewegung. Die abgesperrte Tür zu öffnen, kostete nur eine Minute. Ein leeres Zimmer erwartete sie. Jake Pickett war schon lange verschwunden. Ein Diesel-Schutzengel trug ihn mit fünfundsechzig Meilen die Stunde in die Freiheit. Sie fanden einen offenen Koffer, ein paar Toilettengegenstände und ein zerwühltes Bett. Außerdem stellten sie die Bestandteile einer .38 Spezial sicher sowie eine Handvoll loser Fäden, die einmal einen Lappen dargestellt haben mochten. In einer Beziehung unterschied sich Drew von Degrasse und Nichols und den Männern, die nach draußen eilten, um das Kornfeld zu durchsuchen. Er war intelligent genug, um die Wichtigkeit von etwas zu begreifen, das er nicht verstand; sensibel genug, um zu wissen, daß jemand anders würde kommen müssen, um die fehlenden Antworten ausfindig zu machen. Und deshalb ließ er die Revolverstücke und die Fäden einsammeln und in Plastiktüten verschließen. Er war bereits dabei, die Nachricht zu formulieren, die er an seinen Auftraggeber würde senden müssen. Huddy würde sehr zornig sein. Drew hatte schon mehrfach Gelegenheit gehabt, Huddys Reaktion auf Enttäuschungen mitzuerleben, und wußte daher, was bevorstand. Ein paar Pla191
stikbeutel waren ein lausiger Ersatz für den alten Mann. Huddy hatte Drew nie die Gründe für sein Interesse an dem alten Mann erklärt, und Drew hatte ihn auch nicht danach gefragt; das stand ihm nicht zu. Wenn man freilich von dem ausging, was diese zwei Schlägertypen behaupteten, und nach dem Inhalt der Plastikbeutel zu schließen, fing Drew langsam an, einiges zu ahnen. Aber er vergeudete nicht viel Zeit darauf, darüber nachzudenken, weil es einfach keinen Sinn ergab. Aber das hatte nichts zu besagen. Sie würden diesen Pickett schon kriegen. Selbst wenn Huddy anfing unschlüssig zu werden, würden sie Pickett kriegen. Für Drew fing die Sache an, persönliche Dimensionen anzunehmen. »Ich weiß, daß ihr Bruder ihr fehlt.« Arriaga Ramirez stand neben der Spüle und trocknete Teller ab. Eines Tages würden sie vielleicht genug Geld verdienen, um sich eine Spülmaschine leisten zu können. Das Bild, das er hier bot, wie er in der Küche stand und mit seinen großen Händen Teller abtrocknete, paßte nicht recht zu ihm. Aber niemand hätte es gewagt, darüber Witze zu machen. Dabei war er nicht etwa großgewachsen; höchstens einen Meter vierundsiebzig, dafür aber wie ein Berufsringer gebaut. Im Verein mit seinem grobgeschnittenen, fast brutalen Gesicht wirkte er dadurch unverdientermaßen drohend. Dabei hätte Arriaga Ramirez nicht einmal einer Fliege etwas zuleide getan. In seiner Umgebung, unter seinen Freunden und seinen Fischerkollegen genoß er stillen Respekt. Er war tief religiös, bescheiden und ging ganz in seiner Familie auf und wünschte sich nichts mehr, als in Frieden gelassen zu werden, um seine Arbeit zu tun und sich an seinen Freunden und seiner Familie zu erfreuen. Die Wünsche, die er an das Leben hatte, waren einfach und unkompliziert, und so wurde er nur selten enttäuscht und staunte immer wieder über die Überraschungen, die das Leben ihm bereitete. Im Augenblick gab er sich Mühe, eine jener Überraschungen zu begreifen. 192 »Es ist einfach nicht die richtige Zeit, um plötzlich wegzufahren.« »Aber das müßte doch gehen«, wandte Wendy ein. »Im Augenblick ist keine Saison.« »Du weißt, was ich meine.« Er war gerade mit einem weiteren Teller fertig geworden und stellte ihn auf den Stapel im Schrank. »Du weißt doch, was Heilbutt heutzutage einbringt.« »Der Heilbutt wird auch noch da sein, wenn wir zurückkommen.« »Ich weiß. Aber das Wetter vielleicht nicht mehr. Das hab' ich dir doch schon einmal erklärt.« »Ach, komm, Arri! Bis November ist's noch so lang.« »Der Golf hat seine eigenen Jahreszeiten«, wandte er ein. »Du weißt doch, wie kapriziös das Wetter sein kann.« >Kapriziös< war diese Woche Arriagas Lieblingswort. Er lernte von seiner Tochter neue Worte. Arriaga war in seiner Jugend nicht viel zur Schule gegangen, aber das hieß noch lange nicht, daß er vor den Freunden und Freundinnen seiner Tochter unwissend erscheinen wollte. Und so nickte er immer wissend, wenn Amanda Rae ein Wort gebrauchte, das er nicht kannte, und schlich sich dann nachts weg, um es im Wörterbuch nachzusehen. Und dann gebrauchte er es, bis er mit ihm vertraut war. Amanda wußte natürlich, was ihr Vater tat, aber sie behielt ihr Geheimnis, und er das seine. Auf diese Weise erzog die Tochter den Vater, ohne seinem Ego zu schaden. Das Ganze war ein kleines Spiel voll geheimer Liebe. »Das hilft ihr trotzdem nicht dabei, ihren Bruder zu vergessen.« Wendy schrubbte an einer Pfanne. Sie hätte Gott weiß was für ein paar Töpfe und Pfannen mit Teflon-Beschichtung gegeben. Aber dafür hatte sie noch nicht genug Rabattmarken gesammelt. Und manchmal dachte sie, daß die Inflation die Preise schneller in die Höhe trieb, als sie sparen konnte. Trotzdem waren ihre Töpfe und Pfannen besser als die, mit denen ihre Mutter hatte kochen müssen, erinnerte sie sich. Sie schrubbte noch heftiger. 193
»Mir fehlt er auch«, gestand Arriaga. Er war in gleicher Weise auf seinen Sohn und seine Tochter stolz. Sie würden trotz der Behinderung ihrer Tochter bald mit den Vorbereitungen beginnen, um Amanda auf das College zu schicken. Daß sie ein Stipendium bekommen würde, schien außer Frage zu stehen. Martin war nicht ganz so begabt, aber er hatte sich qualifiziert, und so hatten sie es geschafft. Keiner der anderen Fischer hatte einen Jungen auf dem College, geschweige denn eine Tochter, die sich anschickte, es ihm gleichzutun. »Wir werden das zusätzliche Geld brauchen, das wir mit dem Heilbutt verdienen - für Amanda.« »Falls du Heilbutt fängst«, wandte Wendy ein. »In dem Fall brauchst du vielleicht die Rabattmarken nicht für dein neues Geschirr herzugeben.« »Die Töpfe und Pfannen können noch eine Weile warten«, sagte sie und zuckte zusammen, als sie mit einem Fingerknöchel an den Pfannenboden geriet. »Mir ist wichtiger, daß Amanda glücklich ist.« »Ihr beiden seid wirklich fest entschlossen, wie?« »Amanda ist entschlossen. Und wenn Amanda zu etwas entschlossen ist, dann bin ich das auch, Arri.« »Dann werde ich mich wohl irgendwie mit den Sanchez und Grissom einigen müssen, oder?« Sie stellte die Pfanne weg und legte die Arme um ihn. »Ich denke schon. Der Heilbutt wird warten müssen.« »Man sagt, etwas Gutes ist wert, daß man darauf wartet.« Entschieden desinteressiert an so plebejischen Gesprächen über Haushaltsglück, seufzte Ruth Somerset und schaltete den Rekorder ab. Diese Leute waren wirklich langweilig, und sie war es müde, sich deren lächerliche Sorgen und Probleme anzuhören. Sie wartete einen Augenblick und wählte dann eine bestimmte Nummer. »Benjamin?«
»'Tag, Süßes. Was gibt's denn?« »Es scheint so, als hätte die Familie der Großnichte be194
schlössen, sich das kommende Wochenende Freizunehmen. Sie haben einen Jungen auf der Texas-Universität, und die Großnichte ist fest entschlossen, ihn zu besuchen.« »Ach, zum Teufel!« murmelte Huddy. »Warum muß das ausgerechnet dieses Wochende sein? Das paßt verdammt schlecht.« »Macht das einen Unterschied? Haben deine Leute sich den alten Mann nicht letzte Nacht geschnappt?« »Nein.« »Verdammt noch mal! Wie konnte das wieder passieren?« Ihr wäre das ganz bestimmt nicht passiert, das wußte sie. Sie hätte ihn inzwischen fest in der Hand, während Huddy in diesem Loch hockte und sich Bänder anhörte. Aber ihre Position erlaubte es ihr noch nicht, das auszusprechen ... noch nicht. »Das weiß ich noch nicht genau.« Zumindest war er genauso angewidert über die neuerliche Schlappe, wie ihr zumute war. »Ich krieg' das aus Drew einfach nicht heraus. Du erinnerst dich doch an ihn: Das ist der Bursche, den ich aus L.A. habe kommen lassen, um die Dinge hier in die Hand zu nehmen. Er konnte mir bloß sagen, daß irgend etwas die zwei hiesigen Schläger unsicher gemacht hat, die Pickett aus seinem Hotelzimmer hatten holen sollen. Und als er dann die Sache wieder unter Kontrolle hatte, war der alte Mann verschwunden. Bis jetzt haben sie ihn nicht wiedergefunden. Aber das werden sie schon. Ist ja eine Kleinstadt. Aber mir gefällt das nicht, was dort abläuft. Wie es scheint, können die beiden, die sich Pickett vornehmen wollten, immer noch nicht zusammenhängend reden. So stellt Drew es mir wenigstens dar.« »Hat er denn wieder seinen Rädertrick vorgeführt?« fragte sie. »Nein. Nichts dergleichen. Es hat sich alles in Picketts Motelzimmer abgespielt. Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Ich werd' jetzt selbst hinfahren. Das ist jetzt die zweite Panne, und ich bin diese Ausreden leid. Drew ist ein guter 195
Mann, für einen Affen recht intelligent. Aber ich sehe schon, daß ich diese Operation selbst leiten muß.« »Aber wenn du nicht weißt, wo er ist ...?« »Ich sage doch, das hier ist eine Kleinstadt. Es gibt hier nicht so viele Möglichkeiten für einen alten Mann, um sich zu verstecken. Schlimmstenfalls kriegen wir heraus, in welche Richtung er unterwegs ist.« »Du meinst, wir denken, in welcher Richtung er unterwegs ist.« »Deshalb hältst du ja am anderen Ende dieser hypothetischen Linie die Stellung, meine Süße. Nimm nur einmal diese plötzliche Sehnsucht, der Großnichte einen Besuch zu machen. Nach allem, was du mir gesagt hast, gibt das Ganze keinen Sinn, nicht einmal ihre Eltern verstehen das. Bist du ganz sicher, daß die Großnichte von dem alten Mann nicht doch einen Anruf bekommen hat?« »Ganz sicher, Liebster. Schließlich haben wir jedes Telefon und jedes Zimmer in diesem Haus angezapft. Alles kommt laut und deutlich durch. Möglich wäre natürlich, daß sie vom Telefon einer Freundin aus mit ihm gesprochen hat. Die Großnichte rollt in der Umgebung herum und besucht Freundinnen. Mir kommt das nur unwahrscheinlich vor. Pickett würde schließlich nicht wissen, welche Freundin er anrufen soll. Und die Großnichte andererseits kann nicht wissen, wo oder wie sie ihn erreichen kann.« »Du hast recht. Hör zu! Ich möchte, daß diese Familie dort festgehalten wird, bis wir ihn uns geschnappt haben. Ich möchte nicht, daß die sich in irgendeiner überfüllten Universitätsstadt herumtreiben. Ich weiß, das ist weit hergeholt; aber wenn die Großnichte mit Pickett gesprochen hat, dann könnte es sein, daß sie versuchen, außerhalb ihrer Heimatstadt eine Zusammenkunft zu organisieren. Sorge dafür, daß sie noch eine Woche zu Hause bleiben.« »Du machst dir immer noch Sorgen, daß er es bis hierher schaffen könnte?« Sie gab sich keine Mühe, ihre Überraschung zu verbergen. »So wie die Dinge bis jetzt gelaufen sind, würde mich 196
überhaupt nichts mehr überraschen. Ich baue nur für alle Eventualitäten vor, Süßes. Du kennst mich.« »Ja. Ich kenn' dich, Benjamin. Also gut. Ich werde dafür sorgen, daß sie dieses Wochenende zu Hause verbringen. Wieweit soll ich gehen, um das sicherzustellen?« »Soweit wie nötig. Übertreibe es nur nicht. Du mußt ortsansässige Leute einsetzen. Houston sollte dir helfen können.« Somersets Antwort klang etwas gereizt. »Ich glaube, ich weiß schon, wie man so was anpackt.« »Das hab' ich nie bezweifelt. Bis bald, Liebes.« »Wiederseh'n, Benjy.« Sie legte abwesend auf, und ihre Gedanken waren ganz woanders. Wendy Ramirez wälzte sich im Bett zur Seite und sah mit gerunzelter Stirn in die Finsternis. Eigenartige, hämmernde Geräusche hatten sie geweckt, und diese Geräusche waren nicht etwa von den Wellen der Bucht verursacht, die gegen die Kaimauer hinter dem Haus schlugen; sie kamen von irgendwo vorne. Sie setzte sich im Bett auf, auf einen Ellbogen gestützt, und lauschte. Vielleicht war das wieder ein Hund aus der Nachbarschaft, der sich an den Mülltonnen zu schaffen machte; nur daß morgen nicht der Tag war, an dem der Müll eingesammelt wurde; die Tonnen waren noch in der Garage. Irgendein Kind vielleicht, das Schabernack
trieb. Aber ... Sie stieß ihren Mann an. »Arri?« »Hm? Was ist denn?« »Arri«, flüsterte sie, »ich hör' jemanden vor dem Haus.« »Ach was! Du hörst immer irgend etwas, und dann war's nichts«, murmelte er. »Nein, ich glaube, diesmal habe ich recht. Da ist wirklich jemand.« Sie schüttelte ihn, um ihn daran zu hindern, wieder einzuschlafen. »Bitte, Arri! Sieh nach, was es ist!« Er ächzte, während er sich auf den Rücken drehte, und blinzelte sie in der fast undurchdringlichen Dunkelheit an. 197
»Na schön. Wie kommt das bloß, daß Frauen immer nächtliche Geräusche hören?« »Das war schon in der Steinzeit so«, meinte sie. »Sei froh, daß es kein Säbelzahntiger ist.« Er lächelte ihr zu, und seine Zähne blitzten weiß im Halbdunkel. »Wahrscheinlich ein paar Kätzchen mit Milchzähnen.« Er sah zur Uhr hinüber. »Drei Uhr früh.« Er fügte einen halblauten spanischen Fluch hinzu und schlüpfte aus dem Bett. Seine Beine fuhren in die Unterhosen und die Jeans und die Füße in ein Paar Sandalen. Wendy hatte sich aufgesetzt. Sie war jetzt hellwach und beobachtete ihn. Er verließ das Schlafzimmer, tappte ins Wohnzimmer und kratzte sich den Kopf. Ein Blick durch das vordere Fenster zeigte ihm nichts ... Nein, Augenblick! Er kniff die Augen zusammen und sah zur Einfahrt hinüber; dort bewegte sich etwas. Port Lavaca war zu klein, als daß es dort solche Großstadtkrankheiten wie Autodiebstahl gegeben hätte; aber Arriaga hielt auch nichts von den etwas naiven Kleinstadtidyllen, an die manche Landbewohner glaubten. Für alles gab es ein erstes Mal. Er griff unter die Couch und tastete nach dem Stahlrohr, das er dort aufbewahrte, und öffnete leise die Haustür. Der Mond lieferte gerade genug Licht, daß er über den Rasen zu den Bäumen hinübersehen konnte, die die lange Einfahrt säumten. Ja, da war jemand, der sich an dem Lieferwagen zu schaffen machte. Der Wagen hatte Arriaga die Einkünfte einer halben Saison gekostet, weil er mit einem Lift für den Rollstuhl und ein paar anderen Vorrichtungen ausgestattet war, die Amanda brauchte. »He!« rief er. Die Bewegung hörte sofort auf, und die klopfenden Geräusche verstummten. »He, du! Mann! Ich rate dir gut, verschwinde hier, comprende? « Keine Spur von Aktivität oder Flucht. Das Leben am Wasser bestand nicht nur aus Männerfreundschaft und Fischergeschichten. Arriaga hatte in jungen Jahren gelernt, auf sich aufzupassen. Jetzt setzte er sich langsam in Richtung auf die Einfahrt in Bewegung. 198
»Hör zu, Mann! Ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie hier tun. Aber Sie haben fünf Sekunden Zeit, abzuhauen, sonst ruf ich die Bullen, und dann ...« Etwas traf ihn von hinten. Er taumelte, ging aber nicht zu Boden. Als er sich umdrehte, sah er, wie das Montiereisen ein zweites Mal auf ihn zukam, und er schlug blindlings mit dem Rohr zu, während er nach hinten umkippte. Das Rohrende kam mit etwas in Kontakt, das nachgab, und ein unterdrückter Schmerzensschrei erfüllte die Nacht. Etwas Feuchtes spritzte ihm ins Gesicht, warm und salzig. Blut, aber nicht meines, dachte er, während er zusammensank und zur Seite rollte. Er bemühte sich, die Augen offenzuhalten, aber da traf ihn wieder etwas, diesmal nicht so kräftig wie beim ersten Mal, aber kräftig genug. Stimmen wie aus einem Traum drangen an sein Ohr. »Verschwinden wir hier!« Dann Dunkelheit. Das Mitgefühl des Sheriffs war nicht aufgesetzt, nicht professionell gespielt. Schließlich kannte er Arriaga und Wendy Ramirez schon lange Zeit. »Und Sie haben die Burschen nicht gesehen?« »Nein.« Arriaga saß auf der Couch im Wohnzimmer. Das Rohr, das er letzte Nacht benutzt hatte, lag vor ihm auf dem Tisch. Wendy saß neben ihm, besorgt und aufmerksam. Eine kalte Kompresse zierte den Nacken ihres Mannes. Der Sheriff lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich kapier' das einfach nicht, Arri. Was sollten denn ein paar Jungs ...« »Das waren keine Jungs«, meinte Arriaga in knappen Worten. »Woher wollen Sie das denn wissen, wo Sie sie doch nicht gesehen haben? Sie dürfen das nicht persönlich nehmen, Arri. Ich verhöre Sie nicht etwa. Aber Sie müssen das aus meiner Perspektive sehen.« »Hören Sie, Benbrook, das war kein Junge, der mich niedergeschlagen hat. Jungs wären in dem Moment wegge199
rannt, als ich aus der Tür kam. Diese Leute sind nicht weggelaufen.« »Jungs könnten auch vor Schreck erstarren, wenn man ihnen genügend Angst macht«, wandte der Sheriff ein. »Ich sag's Ihnen noch mal, Benbrook: Das waren keine Jungs. Es waren zwei, vielleicht drei Männer.« »Nun, wer auch immer sie waren, sie haben jedenfalls nichts mitgenommen. Offengestanden, ich glaube auch nicht, daß sie etwas stehlen wollten. Deshalb neige ich ja zu der Ansicht, daß es ein paar Jungs waren, Arri. Ich wüßte nicht, warum ein paar erwachsene Männer sich die Mühe machen sollten, deinen Lieferwagen kaputtzumachen.« »Aber Jungs aus der Umgebung hier würden doch so etwas nicht tun«, murmelte Arriaga. »Das wissen Sie doch, Benbrook.«
»Sicher weiß ich das. Ich versuche ja nur die Geschichte zu begreifen, ganz genau wie Sie, und Sie helfen mir nicht sehr dabei.« »Tut mir leid. Que lästima.« Er zuckte zusammen und griff sich mit einer Hand an die Kompresse. Wendy legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Was ist mit Ihnen, Wendy?« fragte der Sheriff. »Haben Sie etwas gesehen?« »Nichts«, gestand sie. »Ich hab' das Schlafzimmer erst verlassen, als Arri nicht zurückkam. Ich fing an, mir Sorgen zu machen, und ging hinaus und ...« - sie zögerte - »fand ihn neben dem Wagen liegen. Einen Augenblick dachte ich, er sei tot.« »So hab' ich mich auch gefühlt.« Arriaga deutete auf das Stück Rohr. »Einen von denen hab' ich erwischt. Im Gesicht denke ich. Ich hoffe nur, daß ich ihm die Nase geplättet habe.« »Wenn es nicht grober Unfug war«, sagte der Sheriff nachdenklich, »dann hatten sie es vielleicht auf die Batterie oder so abgesehen. In dem Fall waren es Amateure, denn die haben unter der Motorhaube wirklich einiges angerichtet. Professionelle Diebe wären nicht so schlampig gewesen. 200
Alle möglichen Drähte abgeschnitten. Der Verteiler ist hin. Vielleicht wollten sie ihn herausreißen.« »Vielleicht«, sagte Arriaga ohne besonderes Interesse. »Wendy, Arri, wir kümmern uns sofort um diese Geschichte. Ich werde die ganze Küste informieren.« Er stand auf. »Aber ohne eine Beschreibung dieser Burschen ...« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich Auswärtige, die irgend etwas mitnehmen wollten. Ihr ganz persönliches Pech, daß die es gerade auf Ihren Wagen abgesehen hatten.« »Ja«, sagte Arriaga. »Hätte viel schlimmer kommen können, Arri. Als Sie den Lärm hörten, hätten Sie im Haus bleiben und uns anrufen sollen.« »Ich habe das gleiche gedacht wie Sie, Benbrook: daß es bloß ein paar Jungs sind, die ich verscheuchen kann. Außerdem, wenn ich Sie angerufen hätte, wären die wahrscheinlich schon längst weg gewesen, bis einer von euch gekommen wäre. Aber das geht nicht gegen Sie persönlich, Benbrook.« »Ich versteh' schon, Arri. Ich hab' zwei Mitarbeiter und ein riesiges Territorium. Tut mir wirklich leid, daß die solchen Schaden angerichtet haben.« »Das ist kein Problem. Die Versicherung wird ja dafür aufkommen. Bloß Amanda tut mir leid.« »Amanda?« Der Sheriff runzelte die Stirn. Er kannte die Tochter der Ramirez. In Port Lavaca kannte jeder jeden. »Wir hatten uns entschlossen, uns das Wochenende freizunehmen und ihren Bruder zu besuchen.« »Und das geht jetzt nicht mehr?« »Eigentlich nicht.« Arriaga schüttelte den Kopf, aber nur leicht, weil ihm in dem Augenblick ein stechender Schmerz durch den Nacken fuhr. »Zum einen ist mir im Moment gar nicht nach Fahren zumute. Aber was viel wichtiger ist, es ist praktisch unmöglich, ihren Rollstuhl und all das Zeug hinten in den VW hineinzustopfen. Auf die Weise würde das ein recht unbequemes Wochenende werden, für uns ebenso wie für Amanda. Außerdem hat mir der Arzt für ein paar 201
Tage das Fahren verboten. Das Fischen auch, aber ich kann wenigstens am Boot arbeiten, wenn ich mich dabei nicht zu sehr bewegen muß.« Er warf seiner Frau einen nachsichtheischenden Blick zu. »Tut mir leid, Querida.« »Das ist schon in Ordnung, Arri. Amanda wird das verstehen. Wichtig ist jetzt nur, daß du wieder gesund wirst und daß der Sheriff diese schrecklichen Leute erwischt, ehe sie noch mehr Unheil anrichten.« »Wir werden unser Bestes tun, Wendy, das wissen Sie.« »Das weiß ich, Benbrook. Wollen Sie auch ganz bestimmt nicht noch auf eine Tasse Kaffee bleiben?« »Glauben Sie mir, das würd' ich gerne.« Der Sheriff zuckte die Achseln. »Aber was soll's - warum eigentlich nicht?« Während sie in die Küche gingen, rollte Amanda hastig ihren Rollstuhl vom Korridor in ihr Zimmer. Sie war jetzt mehr als beunruhigt. Zuerst hatte sie um ihren Vater Angst gehabt. Jetzt galt ihre Angst nicht nur ihm, sondern auch ihrer Mutter und sich selbst. Wenn ihr Vater recht hatte und die Leute, die sich letzte Nacht am Wagen zu schaffen gemacht hatten, keine Jungs waren, dann konnte sie sich recht gut vorstellen, woher sie gekommen waren. Wieder drängte sich ihr das Bild der Wanzen und Lauschgeräte auf, die sie entdeckt hatte. Die Leute am anderen Ende wußten alles, was im Haushalt der Ramirez vor sich ging. Sie wußten von dem Plan, nach College Station zu fahren, um ihren Bruder zu besuchen. Ihr war jetzt klar, daß sie irgendeinen Zusammenhang zwischen ihr und ihrem Onkel argwöhnten oder zumindest seine einzigen Verwandten an einem Ort festhalten wollten, wo sie sie im Auge behalten konnten. Ja, das gab Sinn. Seine einzigen Verwandten ... Sie hatte eine Unmenge von Spionageromanen gelesen. Verwandte konnte man benutzen, um jemanden zu etwas zu zwingen, was er nicht tun wollte. Drohungen ... Das Ganze wurde immer komplizierter. Sie hatte nie daran gedacht, daß sie und ihre Familie seitens der Leute, die hinter ihrem Onkel Jake her wa202
ren, in Gefahr wären. Alles änderte sich so schnell, und sie hatte keine Zeit, sich daran anzupassen ...
Ihre Zuversicht begann zu sinken, ihre Entschlossenheit schwankte. Schließlich war sie erst sechzehn. Vielleicht reichte das, was sie in Büchern gelesen oder im Kino gesehen hatte, nicht aus, um sich mit der Art von Leuten anzulegen, mit denen sie zu tun hatte. Vielleicht steckte das Leben voll viel häßlicheren Überraschungen, als sie für möglich gehalten hatte. Die letzte Nacht war dafür ein gutes Beispiel. Sie saß in ihrem Rollstuhl und lauschte auf die leisen Gesprächsfetzen, die von ihren Eltern und dem Sheriff zu ihr herüberklangen, und kaute besorgt an ihrer Unterlippe. Sie mußte ihrem Onkel Jake sagen, was geschehen war. Aber das wollte sie nicht, weil ihn das nur noch mehr beunruhigen würde. Aber er sollte es wissen, mußte es wissen ... Einige Passagiere drehten sich um und blickten im Bus nach hinten. Der alte Mann in der letzten Reihe stöhnte im Schlaf, redete mit jemand Unsichtbarem. Aber so etwas war in Überlandbussen nichts Ungewöhnliches. Die Passagiere wandten sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu. Es sah nicht so aus, als würde der alte Mann gewalttätig werden, und ein Trinker war er offenbar auch nicht. Der Fahrer vorne nahm von alledem nichts wahr, er konzentrierte sich auf die Straße. Das Motel war nicht so einfach zugänglich wie die Pottaschefabrik außerhalb Phoenix, aber Huddy bestand darauf, den Ort zu sehen, wo Pickett seinen Leuten das zweite Mal entschlüpft war. Huddy fühlte sich für den Mißerfolg verantwortlich. Weitere Mißerfolge würde es nicht geben. Der Motelmanager starrte durch sein Fensterchen zu der Versammlung bei Zimmer dreiundzwanzig hinüber. Als einer der gut gekleideten, ernst blickenden Männer, die sich dort versammelt hatten, ihm einen warnenden Blick zuwarf, wandte er sich wieder seinem Fernsehapparat zu. Er er203
innerte sich undeutlich an den letzten Bewohner des Zimmers, das so viel ungewöhnliche Aufmerksamkeit auf sich zog: ein alter Mann mit Stirnglatze, freundlich und angenehm. Was mochte er getan haben, um die Aufmerksamkeit solcher Leute zu erwecken? Nun, ihn ging es nichts an, und Neugierde würde ihm ganz bestimmt nur Ärger einbringen. Und so wandte er sich wieder dem Geschehen auf dem Bildschirm zu. Bei seiner Inspektion fand Huddy an dem Hotelzimmer nichts Ungewöhnliches. Da war das Bett, wo seine zwei Söldlinge Pickett gefunden hatten. Er inspizierte das Bad, das Fenster, durch das der alte Mann entkommen war, und das Kornfeld dahinter. Die beiden Schlägertypen, deren Auftrag gescheitert war, standen am Fußende des Bettes und warteten. Sie schienen hinreichend kompetent - bis Picketts Name erwähnt wurde; da wurden sie schweigsam. Mit einem leichten Gefühl der Verlegenheit, das er nicht recht zu deuten vermochte, setzte Huddy sich auf das zerwühlte Bett und hörte sich an, was Drew zu sagen hatte. »Ich habe die Stadt ein halbes Dutzend Mal durchsuchen lassen: Keine Spur von ihm. Niemand hat ihn gesehen.« »Und wie ist es mit den Motels von Tucson?« fragte Huddy. »Weiß ich nicht. Wenn er den Weg, den er gekommen ist, wieder zurückfährt, wird es schwer sein, ihn ausfindig zu machen. Unsere Leute dort sind auch nicht allmächtig, Mr. Huddy. Großstadtbullen werden argwöhnisch, wenn Fremde Fragen stellen, wie die Polizei sie gewöhnlich sich selbst vorbehält. Selbst hier mußten wir verdammt vorsichtig sein. Es ist also durchaus möglich, daß er noch hier in der Stadt ist.« »Okay, machen Sie weiter!« Huddy nickte und entließ damit Drew. Degrasse und Nichols schickten sich an, ihm zu folgen, aber Huddy hielt sie auf. »Ihr beiden nicht. Mit euch bin ich noch nicht fertig.« Sie warteten etwas gereizt. Huddy ließ sie stehen und im eigenen Saft schmoren, während er seine Aufmerksamkeit 204
den beiden Badetüchern zuwandte, die auf dem Fußende des Bettes lagen. Auf dem einen war ein kleiner Berg aus Fäden aufgetürmt, der freilich Huddy bei weitem nicht so beschäftigte wie der zerlegte .38 Spezial, der auf dem anderen Handtuch ausgebreitet war. Die Teile sahen aus, als hätte sie ein Waffenexperte zerlegt. Die Patronen hatten sie immer noch nicht gefunden. Er tippte an den Lauf. »Und die Kanone ist einfach auseinandergefallen, sagen Sie?« Die zwei Schläger wechselten Blicke. Huddy drängte sie. »Los, raus mit der Sprache, Leute! Ich weiß 'ne ganze Menge mehr über diesen alten Mann und was hier wirklich gespielt wird als Drew. Ich neige viel eher dazu, das zu glauben, was ihr sagt, als er. Alles mögliche.« Nichols zögerte und sagte dann schnell: »Daran gibt es gar keinen Zweifel, Sir. Die Kanone fiel einfach auseinander. Er hat das getan. Der alte Mann. Ich weiß nicht, wie er es getan hat - aber getan hat er es. Ich bin nicht einmal sicher, daß ich es wissen möchte.« Er sah die Kissen an, als könnte Picketts Geist plötzlich materialisieren, um ihnen eine weitere Demonstration zu liefern. »Und dann habt ihr durchgedreht.« »He, hören Sie ...«, fing Degrasse an zu protestieren. Huddy hob beruhigend die Hand. »Ich kritisiere Sie nicht, ich versuche nur die Reihenfolge der Ereignisse klarzustellen. Die Kanone ist in Stücke gegangen, und ihr habt durchgedreht.« »Okay, dann haben wir eben durchgedreht.« Degrasse war immer noch ein wenig beleidigt. »Ihnen war' das genauso gegangen, wenn Sie dagewesen wären.« Huddy sagte nichts.
»Entschuldigen Sie.« Ein sehr dünner junger Mann beugte sich durch die offene Tür. »Was ist denn?« fragte Huddy, über die Störung gereizt. »Nun, Sir, es ist nur ... Sie sind der Mann aus Kalifornien, nicht wahr?« »Ja, ja. Spucken Sie's aus, Mann!« 205
Er trat ein und sah die beiden anderen Männer etwas unsicher an. »Ich hatte letzte Nacht am anderen Ende es Motels Dienst, als das alles passierte. Drüben im Büro des Managers.« »Und?« Huddy mochte es nicht, wenn Leute ihm die Zeit stahlen, ganz besonders nicht, wo er keine Zeit zu vergeuden hatte. »Es ist nicht etwa so, daß ich tatsächlich gesehen hätte, wie der alte Mann in den Bus stieg, aber ich ...« Huddy vergaß die Pistole und die Fäden sofort. »Augenblick! Was für ein Bus?« »Drüben am Ramada Inn, nebenan, stand ein Greyhound. Ich hab' das nachgeprüft, Sir. Der macht dort Station.« »Das ist es!« sagte Huddy mit grimmiger Zufriedenheit. »Das muß es sein! Der alte Mann hat ein schwaches Herz. Der ist nicht in der Kondition für einen Marathonlauf. Daß irgendwelche Touristen den mitten in der Nacht mitnehmen, kann ich mir auch nicht vorstellen. Das ist es. Wie heißen Sie denn, Junge?« »Jason, Sir.« »Nun, Jason, dann rennen sie mal ganz schnell zum Ramada Inn hinüber und schnappen Sie sich dort einen Greyhound-Fahrplan. Dann stellen Sie fest, wo dieser Bus herkam, der letzte Nacht hier anhielt, und wo er hingefahren ist. Und ihr beiden ...« - Degrasse und Nichols nahmen fast Haltung an und schienen erleichtert, wieder Befehle zu hören anstatt Fragen, auf die es keine Antwort gab - »ihr beiden seht euch sämtliche Städte an der Interstate Highway an, wo dieser Bus seit gestern nacht angehalten hat. Das sind alles höchstens Kleinstädte zwischen hier und Texas.« Huddys Verstand arbeitete auf Hochtouren. Natürlich konnte der alte Mann einiges tun, um seine Spuren zu verwischen. Er konnte irgendwo aussteigen; konnte den Bus wechseln, einen Umweg einschlagen; nur daß er Pickett nicht so viel Phantasie zutraute. Der alte Mann hatte auf Huddy von Anfang an den Eindruck eines einfachen, un206
komplizierten Typs gemacht. Für den Augenblick jedenfalls würden sie von dieser Annahme ausgehen. »Wenn er noch im selben Bus sitzt, haben wir ihn.« »Ja, Sir.« Degrasse und Nichols folgten dem jungen Mann nach draußen. Sie waren froh, diesen naseweisen Angeber von der Westküste los zu sein. Darauf war Huddy allein im Zimmer und lehnte sich auf dem Bett zurück. Sicher, Pickett hatte sich letzte Nacht in den Bus geschlichen. Kein Wunder, daß Drews Leute ihn nicht hatten finden können. Nächstes Mal würden sie nicht am frühen Abend zuschlagen; sie würden warten, bis sie ganz sicher waren, daß er schlief. Und im Schlaf würde er seine kleinen Tricks ganz bestimmt nicht ausführen können. Und wo war der beste Ort, ihn zu schnappen? In seiner Jackentasche steckten ein paar Landkarten. Er fand die, die er brauchte, nach kurzem Suchen: eine Landkarte, die den Südwesten der Vereinigten Staaten darstellte. Auf ihr waren ein paar Städte rot eingekreist, und neben den roten Kreisen standen Codebezeichnungen. Die Karte, die Huddy studierte, zeigte das Amerika der Consolidated Chemical and Mining. In den Städten mit den roten Kreisen gab es Fabriken oder Büros von CCM. Er fuhr die Route eines Überlandbusses nach; sie würde möglicherweise nach Süden abbiegen, auf Houston zu, oder nach Dallas führen. Wenn die Route in Houston endete, würde sie durch diese Stadt führen, die also ... Fort Stockton, entschied er. Eine mittelgroße Stadt in Zentraltexas, wo die CCM ein kleines Lagerhaus unterhielt. Die Anlage dort war gerade groß genug, um die Leute zu haben, die er brauchen würde, und doch klein genug, die Angelegenheit anonym durchziehen zu können. Ein guter Ort, um Pickett zu stellen. Er würde Picketts Bus vorausfliegen und die notwendigen Vorbereitungen vom Regionalbüro der CCM in San Antonio aus treffen. Ruth konnte sich ihm dort anschließen; das sollte ihr gefallen. Sie hatte ihn ja schon seit Tagen bedrängt, endlich diese Küstenstadt verlassen zu dürfen. Ja, 207
sie würde an Drews Stelle treten können, und er konnte den Großen dann nach Houston schicken, um dort eine Weile ihre Zuständigkeit zu übernehmen. Sollte sich doch der Neandertaler die albernen Haushaltsgespräche anhören. Sie könnte zurückkehren und ihre >Inspektion< in Matagorda zu Ende bringen, sobald die Sache mit Pickett erledigt war. Und dann die Bahamas. Somerset und er, an einem verlassenen Strand, nackt und alleine. Schon der Gedanke daran verschaffte ihm eine Erektion. Er nahm es Pickett übel, daß er dieses Vergnügen aufs neue hinausschieben mußte. Seine Sympathien für den alten Mann waren inzwischen ziemlich auf den Nullpunkt gesunken. Ein wertvoller alter Mann, trotz alledem, erinnerte er sich. Ja, Ruth würde mitten in Texas eine bessere Gesellschaft sein als Drew. Er brauchte den großen Mann aus L. A. nicht mehr. Er würde selbst auf die Szene treten. Es würde keinen Fehler mehr geben. 208
12 Wie stets, drehten sich auch diesmal viele Köpfe nach Somerset um, als sie den Korridor im Bürogebäude der CCM in San Antonio hinunterschritt. Sie ignorierte die unvermeidlichen Blicke und die geflüsterten Bemerkungen. Selbst wenn sie die Neigung verspürt hätte, auf die Tölpel einzugehen, die sie bewunderten, war sie zu glücklich, jenes verdammte Motel hinter sich gelassen zu haben, um an den obszönen Bemerkungen Anstoß zu nehmen. San Antonio war nicht New York oder London; aber verglichen mit der Umgebung, in der sie die letzte Woche verbracht hatte, das Paradies. Die Überwachung des Ramirez-Haushaltes wurde ohne sie fortgesetzt; Huddys dressierter Affe Drew war jetzt dafür verantwortlich. Jetzt, wo die Familie praktisch festsaß, war ihre Anwesenheit nicht erforderlich. Huddy zu finden, erwies sich als zeitraubender, als sie angenommen hatte. Schließlich entdeckte sie ihn vor dem Kellerlabor des Gebäudes. Das Büro, das den Raum davor einnahm, war ihr vertraut. Unter dem CCM-Gebäude in Los Angeles gab es eines, das ganz ähnlich aussah. Er saß auf einer Couch und paffte geistesabwesend an einer dieser albernen kleinen Zigarren, die er so mochte. »Hallo, Benji!« Sie eilte auf ihn zu und setzte sich auf seinen Schoß. Er brummte und reagierte bestenfalls halbherzig. Sie wich zurück und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Was ist denn? Freust du dich denn nicht, mich wiederzusehen?« 209 »Das ist eine rhetorische Frage, und das weißt du auch ganz genau. Natürlich freu' ich mich, dich zu sehen, Süßes.« »Das seh' ich«, sagte sie ausdruckslos. »Ich weiß gar nicht, wie ich daran hätte zweifeln können. Wahrscheinlich hat mich deine überschwengliche Begrüßung einfach überwältigt.« »Tut mir leid.« Er brachte ein kleines Lächeln zuwege. »Ich freue mich wirklich, dich zu sehen, selbst wenn ich das nicht so zeige. Was gibt's bei dir Neues?« »Nichts, was du nicht schon weißt. Du hast mir gesagt, ich solle dafür sorgen, daß die Nichte der Familie in Port Lavaca festgehalten wird. Dort sind sie jetzt, und dort werden sie wenigstens eine Woche bleiben. Drew kann sie jetzt überwachen. Wir hatten etwas Ärger. Hast du davon gehört?« »Keine Einzelheiten.« Sie seufzte. »Der Vater hat sich entschlossen, den Helden zu spielen. Einer unserer Houstoner Leute hat ein paar Zähne verloren und eine leichte Gehirnerschütterung erlitten. Nichts, was man nicht reparieren könnte. Sie waren mit ihrer Arbeit fertig, ehe der große Held auftauchte. Der Kombi wird eine Weile nicht nach College Station fahren und auch sonst nirgendwohin.« »Die haben nur den Kombi unbrauchbar gemacht? Ich dachte, du hättest gesagt, daß die Familie zwei Wagen hat?« »Ist auch so. Aber der andere ist ein VW-Käfer. In den paßt die Großnichte mit ihrem Rollstuhl nicht. Nur der Kombi hat einen Rollstuhllift und andere Spezialeinrichtun gen für sie.« »Und du sagst, sie würden eine Woche dort festsitzen?« »Mehr oder weniger. Genau kann man das nicht sagen. Wenn die Garage dort die Einzelteile früher bekommt, dann läßt sich das natürlich auch schneller richten. Aber so sieht es nicht aus.« »Die Bullen dort denken, es handle sich um den schiefgelaufenen Versuch von ein paar Jungs aus der Stadt, die die 210
Batterie klauen wollten.« Ihr Ausdruck veränderte sich. »Aber jetzt haben wir ein anderes Problem.« »Ist ja großartig!« Er strich sich das Haar zurück. »Was denn?« »Ich war eine Weile oben und hab' in meinem Büro nachgefragt, was es Neues gibt. Kennst du Hank Moorhead?« Huddy nickte. Moorhead war ein Vizepräsident der Gesellschaft und für die Verwaltung des Abschnittes Westküste zuständig; etwa fünf oder sechs Jahre älter als Huddy, geradlinig, phantasielos, aber hartnäckig. Wie die anderen jüngeren leitenden Angestellten der CCM West hatte er recht mürrisch auf all das Lob reagiert, das Huddy und Somerset nach der erfolgreichen Säuberungsaktion in Riverside eingeheimst hatten. »Was hat der faule Sack denn angerichtet?« »Wir beide waren in letzter Zeit ziemlich viel unterwegs. Ganz besonders du, Benjamin. Für mich war es ziemlich leicht, meine Reise zu tarnen. Ich mußte mir ja die Einrichtung in Houston ansehen und überprüfen, erinnerst du dich? Du hast das ja selbst vorgeschlagen. Aber du bist zu viel hin und her gehüpft. Zuerst nach Riverside und wieder zurück, dann Phoenix, dann eine Kleinstadt im südlichen Arizona ... wie, zum Teufel, heißt sie doch gleich?« »Benson«, erinnerte sie Huddy. »Richtig, Benson. Und jetzt hier. Jedenfalls hat Moorhead seine Nase reingesteckt, und beginnt etwas zu riechen. Ich kann ihn nicht davon abhalten, weil mein Bereich mit dem seinen nichts zu tun hat. Er hat seine eigene Computer-Abteilung.« »Fängst jetzt du an, dir Sorgen zu machen?« meinte Huddy kühl. »Mach dir wegen Moorhead keine Sorgen. Mit dem komm' ich klar.« »Natürlich, Benjy.« Ich möchte nur wissen, warum er so gereizt ist, fragte sie sich. »Da ist doch etwas, das dich
beunruhigt. Sag es Mama, Benjamin. Ich kenne dich zu gut.« »Zu gut - wofür?« » 211
»Mach mir nichts vor, Liebster, und versuch auch nicht, das Thema zu wechseln. Dein Mund sagt das eine und dein Verhalten etwas ganz anderes.« Plötzlich kam ihr ein beunruhigender Gedanke. »Jetzt sag mir bloß nicht, daß du plötzlich zu dem Schluß gekommen bist, daß all die Mühe umsonst war; daß der alte Knacker bloß ein verhinderter Zauberkünstler ist und daß an deinem ganzen Argwohn nichts dran ist!« Ihre ganze ursprüngliche Skepsis überkam sie wieder. »Oh, an meinem Argwohn ist schon etwas - keine Frage«, versicherte ihr Huddy. »Aber in dem Punkt hast du recht, daß der Alte nicht genau das ist, was ich dachte. Wenigstens denke ich das.« »Jetzt machst du mich konfus, Benjy. Und Konfusion mag ich nicht.« Wie schon einige Male zuvor, fragte sie sich kurz, ob sie sich bei der CCM nicht vielleicht mit dem falschen Mann eingelassen hatte, trotz seiner offensichtlichen Intelligenz und seines guten Aussehens. »Ich bin einfach unsicher geworden«, murmelte er. »Ganz besonders in bezug auf den alten Pickett.« Er stand auf und wandte sich von der Couch ab. »Du läßt dich doch nicht etwa von ihm verrückt machen, Benjy? Ich bin der einzige Paranoiker, der hier zulässig ist.« Er lächelte nicht über die Bemerkung. »Und besonders gut aussehen tust du auch nicht, Liebster.« »Ich fühl' mich auch nicht so besonders.« Er deutete auf eine Tür. »Komm mit herein!« Sie brauchten zweimal ihre Firmenausweiskarten, mußten sie in Schlitze neben den Türen schieben, um zum Labor selbst Zugang zu bekommen. Die meisten Gebäude von CCM standen über solchen unterirdischen Laborkomplexen. Indem sie ihre Labors unter der Erde vergruben, konnte die Firma sowohl die Geheimhaltung sicherstellen als auch etwaige gefährliche Explosionen oder chemische Lecks besser im Griff behalten. Ein besonders ausgedehnter Forschungskomplex lag außerhalb der Stadtgrenze von Madison, Wisconsin, unter der 212
Erde. Die Anlage war wie ein Eisberg gebaut, mit neun Zehnteln ihres Volumens im Untergrund. Die CCM arbeitete dort für das Pentagon an chemischen und bakteriologischen Waffensystemen. Die Tatsache war nicht allgemein bekannt; denn wenn die dortigen Bauern, die sich hauptsächlich der Milchwirtschaft widmeten, gewußt hätten, was da vor ihrer Nase geschah, hätten sie in Washington wahrscheinlich ein höllisches Spektakel gemacht. »Hallo, Mr. Huddy.« Ein etwas weichlich wirkender Mann in einem weißen Laborkittel kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Er sah Somerset fragend an, aber Huddy ignorierte die unausgesprochene Aufforderung, sie vorzustellen. »Wo ist das Material, Monsey?« »Hier drüben, Sir. Wir haben die Sachen nur eine Weile beiseitegelegt. Im Augenblick sind wir mit einer grafischen Analyse beschäftigt.« Er fuhr fort, Somerset anzustarren, bis Huddy ihn einfach nicht mehr ignorieren konnte. »Monsey, das ist Ruth Somerset aus dem Büro in Los Angeles. Ruth, das ist Kendall Monsey.« »Hallo, Miss!« »'n Morgen.« Der Wissenschaftler war ihr auf den ersten Blick unsympathisch. Viele Männer zogen sie manchmal bewußt und manchmal unbewußt mit den Augen aus. Es machte ihr nichts aus, bewundert zu werden; aber es gab andere Dinge, die man mit den Augen und mit dem Gesicht tun konnte. Benjamin sah sie bewundernd an. Dieser Monsey hatte kleine gierige Finger, die an seinen Augen hingen, und wenn er sie anstarrte, dann wanderten sie klebrig über ihren ganzen Körper. Er drehte sich um und führte sie einen makellos sauberen, breiten Gang zwischen zwei langen Labortischen hinunter. Angestellte arbeiteten an etwas weiter entfernten Tischen. Alle waren weiß gekleidet. »Haben Sie irgendwelche Fragen, Sir?« fragte er, als sie schließlich an der Mitte des Tisches stehenblieben. »Im Augenblick nicht, Monsey. Vielen Dank.« 213
»Bitte Sir. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, Miss, dann kann Mr. Huddy Ihnen mein Büro zeigen.« »Ich rufe Sie bald an«, versicherte sie ihm. Sie wartete, bis er außer Hörweite war. »Ein widerlicher Knirps, Benjamin.« »Ich mag ihn auch nicht. Aber er versteht sein Geschäft. Da, sieh dich um!« Sie wandte sich dem Labortisch zu. Auf der Kunststoffplatte waren sorgfältig die Bestandteile einer .38 Police Special ausgelegt. Daneben ruhten in Petrischalen die Überreste eines Lappens, die man aus Jake Picketts Motelzimmer in Benson mitgenommen hatte. Sie erkannte sie sofort. »Du hast mir doch gesagt, was in dem Motel geschehen ist. Warum zeigst du mir das jetzt? Soll ich daraus Schlüsse ziehen? Mir sagt das überhaupt nichts.« »Das hat niemandem etwas gesagt, bis Monsey und seine Leute sich das Zeug aus der Nähe angesehen haben. Wirklich aus der Nähe. Ich habe nie daran gedacht, den Lastwagen in Phoenix näher untersuchen zu lassen. Zuallererst einmal war es ein Firmenwagen. Außerdem - was hätte man da untersuchen sollen? Die Muttern der
Radaufhängungen haben sich gelöst, das ist alles. Nur daß es nicht alles ist.« »Diesmal dachte ich, es könnte eine gute Idee sein, wenn sich jemand die Gegenstände ansieht, die Pickett ...« er zögerte - »manipuliert hat. Ich dachte, wir könnten vielleicht etwas in Erfahrung bringen. Nun, wir haben etwas in Erfahrung gebracht. Möglicherweise. Du mußt genauer hinsehen, Ruth.« Sie beugte sich über den Tisch und sah mit zusammengekniffenen Augen hin. Der Revolver schien von einem Experten zerlegt worden zu sein. Die Stofffragmente hätten von jedem Stück Stoff stammen können, das sich aufgelöst hatte. »Was den Revolver angeht, kann ich nichts sagen«, sagte sie schließlich und richtete sich auf. »Was die Fäden betrifft, so könnte der Fetzen, den deine Leute benutzt haben, alt 214
und brüchig gewesen sein. Vielleicht wurde er in einem Handgemenge zerfetzt.« »Er wurde zerfetzt, das stimmt schon, aber nicht in einem Handgemenge«, erklärte er. »Und auch nicht so, wie ich das gedacht hätte.« Seine Stimme war weich, sein Tonfall gleichgültig. Er drehte sich wieder um und starrte die Teile auf dem Tisch an; seine Gedanken schienen weit entfernt. Sie konnte seinen Ausdruck nicht deuten. Warum war er so erregt? Wenn Pickett diese Dinge so getan hatte, wie die Augenzeugen sie beschrieben, dann schienen die Ereignisse alle Vermutungen bezüglich der seltsamen Fähigkeiten des alten Mannes zu bestätigen, die Huddy von Anfang an gehegt hatte. Er hätte also entzückt sein sollen. Und in dem Augenblick traf sie die Entscheidung, ihn in dem Moment fallen zu lassen, wo sich die Gelegenheit dafür bot. Sobald sie sauber aus dieser Geschichte ausgestiegen war, würde sie anfangen, etwas Distanz zwischen ihn und sich zu legen. Wenn er jedesmal, wenn etwas passierte, was er nicht geplant hatte, in Depressionen versank, dann wollte sie ihn nicht bei sich haben, wenn der Zeitpunkt kam, schnelle, für die Karriere wichtige Entscheidungen zu treffen. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Wenn sie gut aufpaßte und sorgfältig genug vorging, um ihn keinen Argwohn schöpfen zu lassen, würde sie es vielleicht schaffen, daß man ihr alle nützlichen Erkenntnisse aus dieser PickettGeschichte zuschrieb. Wenn die Aktion andererseits scheiterte, sollte sie imstande sein, sich von den Konsequenzen zu lösen, ohne daß ihr etwas angehängt werden konnte. Ja, das sollte gehen, dachte sie. Und damit wandten ihre Gedanken sich wieder der eigenen Zukunft zu. Hank Moorhead war bei weitem nicht so dumm, wie Huddy das immer behauptete. Besonders intelligent war er vielleicht nicht, dafür aber solide. Falls er zu der Meinung gelangte, daß er die geringste Chance hätte, etwas zu erfahren, was Huddy oder Somerset schadete, dann würde er wie ein Maulwurf wühlen, um das zu finden. Huddy war natürlich 215
das fettere Ziel von ihnen beiden, also würde er eher in seine Richtung wühlen. Ja, Moorhead konnte ihr Feind oder Verbündeter sein. Sie überlegte, wie sie am besten an ihn herankommen könnte, sobald sie nach L.A. zurückgekehrt war, als Huddy sagte: »Jake Pickett ist kein Telekinet, Ruth, wie ich ursprünglich dachte. Wie ich sogar hoffte. Er ist... etwas anderes.« »Hm? Tut mir leid, Benjy, ich hab' gerade nicht zugehört. Du warst gerade völlig weggetreten, und ich hatte darauf gewartet, daß du wieder in die Welt zurückkehrst.« »Komm hierher!« Er griff nach ihrem Arm und führte sie an das äußere Ende des Tisches. Im untersten Regal stand ein Ständer mit großen Reagenzgläsern. In jedem Glaszylinder befand sich jeweils anders gefärbter Puder. Es handelte sich um sehr kleine Mengen. »Was glaubst du, was das ist?« fragte er sie. »Wirklich, Benjy«, schalt sie ihn, »du weißt genau, daß ich nicht der Typ für zwanzig Fragen bin.« »Wir haben sämtliche Bestandteile des Revolvers und sämtliche Fäden des Lappens gefunden. Was wir nicht gleich fanden, waren die Patronen, die in der Waffe waren, als sie in Stücke ging.« Er deutete auf die Reagenzgläser. »Das ist der Grund, weshalb wir so lange brauchten, um sie zu finden. Wir mußten den Teppich absaugen.« Sie blickte erneut verständnislos auf die Reagenzgläser. »Also hat man sie zur Untersuchung zermahlen. Was soll uns das sagen, Benjy?« »Nein, du verstehst nicht«, korrigierte er sie geduldig. »Wir haben sie nicht zermahlen - nicht zur Untersuchung und auch nicht für sonst etwas. Pickett hat sie zermahlen.« Hank Moorhead und alle internen Firmenintrigen waren abrupt vergessen. »Wenn das ein Witz sein soll, Benjy, dann kann ich dir nur sagen, daß das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist. Ich habe - ich weiß nicht wie viele - Tage absoluter Langeweile in einem Hinterwäldlerhotel verbracht, weil du dich in diesen alten Mann verliebt hast.« 216
»Das ist kein Witz, Ruth.« »Nun, wenn du herausbringen willst, wie leicht man mir Angst einjagen ...« »Ruth, ich wünschte, das wäre nur ein schlechter Witz. Und ich hab' auch nicht vor, dir Angst zu machen, wenigstens nicht mit Absicht. Was mich betrifft, so hab' ich die Hosen bereits gestrichen voll.« Er drückte einen verborgenen Schalter unter der Tischplatte. Eine Schublade glitt summend heraus, die einen dicken Papierstapel
enthielt. »Da! Damit solltest du etwas anfangen können.« Er reichte ihr die Computerausdrucke. »Analyse des Puders in diesen Reagenzgläsern. Als wir den Staub aus dem Motelteppich herausholten, war er durcheinandergemischt. Siehst du, was das ist?« Er tippte das Papier an. »Blei, Schwefel, Kupfer ... die Proportionen stimmen bis hinunter zu den Messing-Patronenhülsen. Richtig zusammengesetzt, bekommst du sechs Patronen für eine .38 Spezial. Und in diesen Reagenzgläsern sind keine pulverisierten Legierungen - nur Elemente.« Sie reichte ihm die Papiere zurück und wartete geduldig darauf, den Rest zu hören. »Ich will dir sagen, was meiner Meinung nach in dem Motel passiert ist«, erklärte Huddy leise, während er die Ausdrucke in die Schublade zurücklegte und sie zuschob. »Unsere beiden Männer haben Picketts Zimmer wie geplant betreten. Das ist nicht schwierig zu rekonstruieren, das weißt du ja. Einer von ihnen hat dem alten Mann den mit Äther durchtränkten Lappen übers Gesicht gelegt. Picketts Was-immer-sie-auch-sein-mag-Fähigkeit hat den Lappen aufgelöst; hat wahrscheinlich auch den Äther in seine Elemente zerlegt, denn einer der Männer besteht darauf, daß der Äthergeruch verschwand, als der Fetzen sich auflöste.« »Ich weiß immer noch nicht, was du meinst, wenn du sagst >aufgelöst<, Benjy ...« »Laß mich ausreden, Ruth! Pickett hat bewirkt, daß der Fetzen sich auflöste. Dann haben unsere Leute improvisiert, soweit ihre geistigen Fähigkeiten das zuließen. Einer von 217
ihnen hat die Waffe gezogen und ist auf Pickett zugegangen, in der Absicht, ihn k.o. zu schlagen. Also mußte Pickett zum zweiten Mal reagieren, so wie er das außerhalb von Phoenix getan hat. Nur daß er diesmal weiterging als in Phoenix - viel weiter. Er hat das, was ihn bedrohte, nicht einfach demontiert, so wie er die Räder von diesem Lastwagen demontiert hat; er sorgte mit absoluter Sicherheit dafür, daß der drohendste Teil des auf ihn zukommenden Gegenstandes harmlos gemacht wurde - in dem Fall waren das die Kugeln in der Waffe. Er stellte sicher, daß sie, selbst wenn sie die Waffe wieder zusammensetzten, nicht wieder gegen ihn eingesetzt werden konnten.« Er führte sie auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, und nahm eine der Griffschalen des Revolvers. »Siehst du das?« Er legte die Griffschale gegen den Metallteil des Kolbens. »Das paßt nicht mehr. Wir haben versucht, den Revolver wieder zusammenzusetzen; das erfordert engere Toleranzen als beispielsweise Räder, die man wieder auf eine Achse schiebt. Kein Teil dieser .38 paßt mehr richtig. Monsey und seine Leute haben die Teile unter dem Mikroskop betrachtet. Weißt du, was sie gefunden haben? Eine winzige Schicht von dem Stahl und von dem Plastik ist verschwunden. Diese Schicht ist nur ein paar Micron dick, aber sie fehlt. Überall an dem Revolver. Pickett kann nicht nur veranlassen, daß Dinge auseinanderfallen; das wäre das, was ein Telekinet tut. Pickett, der ...« Huddy schüttelte den Kopf, und seine Augen wirkten plötzlich glasig. »Es gibt für das, was er tun kann, noch keine Bezeichnung.« Er deutete auf den Labortisch. »Monsey versteht das auch nicht. Er hat keine Ahnung, was diese Kugeln in ihre Grundelemente zerlegt hat, oder wie man diesen Revolver sozusagen ... ah ... >abgehäutet< hat. Aber ich schon. Ich weiß nur nicht, wie man das nennen soll. Vielleicht könnte man sagen, daß Jake Pickett eine Art Molekular-Zerleger ist.« 218
Jetzt war Somerset an der Reihe, glasig zu blicken. Sie wußte, was die Worte bedeuteten, aber sie hatte sie noch nie in diesem Zusammenhang gehört - und ganz bestimmt nicht im Zusammenhang mit einem menschlichen Wesen. »Was das meiner Meinung nach zu bedeuten hat«, erklärte Huddy und lehnte sich wieder an die Theke, »ist, daß Pickett nicht einfach die Kugel aus der Patrone hebt oder den Lauf aus einem Revolver. Außerdem ist ganz offenkundig, daß er ebensowenig Ahnung davon hat, wie er das tut, wie wir. In der Beziehung ist er völlig unschuldig. Wenn er seine Fähigkeit benutzt, wenn er sie projiziert, dann löst er einen chemischen Vorgang in dem, worauf er sich konzentriert, aus. Die Tatsache, daß der Revolver beispielsweise zufälligerweise in Stücke geht, wo er normalerweise zusammengefügt ist, ist offenbar eine Widerspiegelung von Picketts Denken. Wenn er sich Mühe gäbe, könnte er ebenso leicht dafür sorgen, daß der Lauf in der Mitte auseinanderfällt.« »Und was ist mit den Kugeln?« fragte sie leise. »Das weiß ich nicht genau. Dort könnte zweierlei geschehen sein: Entweder war er so von Angst geblendet, daß er auf sie nicht so einging wie auf den Revolver und den Lappen - oder, was das betrifft, auf die Räder an dem Lastwagen oder die Kronenkorken - oder seine Fähigkeit wird durch dauernden Gebrauch stärker und hat sich an diesen Kugeln das erstemal deutlich manifestiert. Pickett besitzt die Fähigkeit, die molekularen Bindekräfte zu zerstören, die in chemischen Verbindungen die Elemente zusammenhalten. Atomare Valenzen kann er nicht beeinträchtigen - zumindest glaube ich nicht, daß er das kann, weil die elementare Zusammensetzung der aufgelösten Kugel normal ist. Weißt du, was das für uns bedeutet?« »Ich kann es mir recht gut vorstellen«, erwiderte sie. »Es bedeutet, daß es dir verdammt schwerfallen wird, ihn zur Untersuchung zu schnappen.« »Oh, den kriegen wir schon.« Huddy klang sehr überzeugt. »Zugegeben, er besitzt diese besondere Fähigkeit, 219
aber er weiß nicht, wie sie funktioniert, und ist auch nicht ganz sicher, wie oder wann er sie einsetzen soll. Zu guter Letzt ist er trotzdem bloß ein alter Mann mit einem schwachen Herzen. Aber natürlich auch der wertvollste alte Mann auf der ganzen Welt.« Er redete immer schneller, und seine Stimme ließ auf seine Erregung schließen. »Begreifst du nicht, was das alles bedeutet, Ruth? Was hier auf dem Spiel steht, geht weit über das hinaus, was ich mir je erträumt habe. Über alles, was sich irgend jemand je erträumt hat. Wenn Pickett das tun kann« - und dabei wies er gestikulierend auf die Reagenzgläser - »wenn er das mit einer Handvoll Revolverkugeln tun kann, dann stell dir doch mal vor, was er mit einem Bomber im Flug machen könnte! Oder einer Kernkraftanlage in feindlichem Territorium.« In Benjamin Huddys Augen leuchtete jetzt etwas viel Extremeres als bloßer Ehrgeiz; etwas, das nur wenige Menschen je in Reichweite sehen, etwas, dem nur Heilige widerstehen können. »Wir müssen dafür sorgen, daß niemand davon etwas erfährt, Süßes. Ich meine, wirklich niemand. Außer uns weiß nur Dr. Navis in L.A., was wirklich vorgeht, und er kennt die letzten Entwicklungen nicht.« Er wies mit einer fahrigen Bewegung auf eine Anzahl Männer und Frauen in weißen Kitteln, die auf der anderen Seite des Labors leise miteinander redeten. »Monsey argwöhnt etwas, aber im Augenblick kann er nur raten. Seine Helfer argwöhnen nicht einmal etwas. Ich glaube, wir können Monsey im unklaren lassen.« Er lachte, ein kurzes, nervöses, heiser klingendes Lachen. »Ohne sichtbare Beweise, was Pickett wirklich tun kann, würde das auch niemand glauben.« »Zugegeben«, meinte sie etwas säuerlich. »Ich kann mir bloß nicht vorstellen, wie du dir den alten Mann schnappen willst.« »Da kommt es nur darauf an, den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort dafür zu finden. Sobald wir ihn unter 220
Drogen gesetzt haben, sollte es nicht schwer sein, mit ihm klarzukommen. Das Problem der beiden Versuche in Phoenix und Benson war, daß er die Angreifer sah und Zeit zum Reagieren hatte. Also müssen wir ihn im Schlaf überrumpeln. Aber es wird die Mühe wert sein, wenn du auch nur einen Augenblick über das nachdenkst, was wir hier haben.« Etwas sehr Gefährliches, dachte sie. Ja, die Möglichkeiten, die Jake Picketts wundersame Fähigkeiten ahnen ließen, begannen sie in Versuchung zu führen. Ja, jetzt stand viel mehr als Geld und eine Beförderung auf dem Spiel. Viel mehr! Dem erschöpften Jake Pickett fiel es nicht schwer, etwas zu schlafen. Die ruhige Fahrt und die Gelegenheit, sich zu entspannen, waren ein herrlicher Luxus für ihn. Jedesmal, wenn der Bus anhielt, suchte er besorgt die Plattform draußen nach Spuren von Männern in Straßenanzügen ab, die feuchte Lappen in der Hand hielten. Aber als die Meilen dann an ihm vorbeizogen und solche Männer nicht auftauchten, begann die Spannung langsam nachzulassen. Vielleicht hatte er es endlich doch geschafft, sie zu entmutigen, überlegte er. Vielleicht hatten sie ihn aufgegeben oder ihn einfach aus den Augen verloren und suchten jetzt in Utah oder Mexiko nach ihm. Amanda war da nicht so ruhig. »Du machst dir etwas vor, wenn du glaubst, sie hätten dich schon aufgegeben, Onkel Jake. Das sind nicht die Leute, die etwas aufgeben, was sie haben wollen. Die wollen dich jetzt nur in einem Gefühl falscher Sicherheit wiegen, damit sie dich überraschen können, sobald du sie vergessen hast.« »Aber ich kann doch nichts dagegen tun, Mandy.« Eine dicke Frau, die in der Mitte des Busses saß, drehte sich um und sah ihn mit gerunzelter Stirn an, als sie ihn flüstern hörte, sagte aber nichts. »Vielleicht gibt es doch etwas, Onkel Jake. Das wäre mein 221
Vorschlag. Die Wanzen sind immer noch hier im Haus, also vermute ich, daß sie immer noch besorgt sind, du könntest hierher kommen. Es gibt ja auch keinen anderen Grund für dich, nach Texas zu reisen.« »Die können doch nicht wissen, daß ich diese Reise mache, um dich zu besuchen.« »Nein, wissen können sie es nicht, und wir werden auch etwas tun, um diese Überlegung etwas ins Wanken zu bringen. Vielleicht lassen sie uns in Frieden, und wir können doch irgendwie in die Universität fahren, wo die ganze Zeit Leute um uns herum sein werden.« »Was schlägst du vor, Mandy?« »Onkel Jake, die waren, seit du Kalifornien verlassen hast, immer hinter dir her und manchmal sogar vor dir.« »Das ist richtig«, räumte er widerstrebend ein. »Aber außerhalb von Tucson hab' ich sie abgeschüttelt.« »Onkel Jake«, sagte sie und seufzte, »das war nur kurzzeitig. Und wenn du das nicht glaubst, machst du dir etwas vor. Aber du mußt sie davon abhalten, daß sie dich wieder stellen. Du mußt den Bus verlassen. Und nimm auch keinen anderen Bus. Wenn sie dich bis jetzt nicht in dem Bus gesehen haben, können sie auch nicht sicher sein, daß du in ihm sitzt. Du hast immer noch eine Chance, sie wirklich loszuwerden.« Sie hielt inne, und er nahm das Bild wahr, daß sie mit etwas raschelte. Dieses Etwas war voll von Strichen und Farben: eine Landkarte. »Der Interstate Highway gabelt sich vor einer kleinen Stadt, die Kent heißt. Die Zwanzig führt in nordöstlicher Richtung nach Dallas, die Zehn nach Houston. Verlaß den Bus in Kent. Ich weiß nicht, ob es dort eine Haltestelle gibt. Es ist eine ziemlich kleine Ortschaft, aber ich bin sicher, daß der Fahrer dich aussteigen läßt. Geh nicht nach Houston! Geh nach Nordosten und komm dann von Dallas herunter! Auf die Weise dauert es
zwar etwas länger, aber das sollte sie verwirren.« Jake überlegte eine Weile und nickte dann, wenn sie das auch nicht sehen konnte. »Das ist eine gute Idee, Mandy. Ja, 222
genau das werde ich tun.« Er sank mit zufriedenem Lächeln in den Schlaf. In der Mitte des Busses wandte sich die dicke Frau ihrer Sitznachbarin zu. »Diese alten Säufer«, murmelte sie angewidert. »So etwas sollte man nicht in den Bus lassen.« 223
13 »Und Sie wollen auch ganz sicher hier aussteigen, Mister?« »Ganz sicher, junger Mann.« Der Fahrer zuckte die Achseln und brachte den Bus am Straßenrand zum Stehen. Die Tür öffnete sich zischend. Jake kletterte die Stufen hinunter und drehte sich um, als er unten angelangt war. »Ich hab' Freunde, die mich hier abholen sollen«, sagte Jake vergnügt. Er deutete mit einer Kopfbewegung in südliche Richtung. »Die haben nicht weit von hier eine Ranch. Hier ist es für sie näher als die Stadt. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Die erwarten mich.« »He, hören Sie!« sagte eine gereizte Stimme aus dem hinteren Teil des Busses. »Wir sind schon zehn Minuten zu spät dran. Ich muß den Anschlußbus nach Odessa erreichen.« »Werden Sie nicht gleich nervös«, meinte der Fahrer, zu dem besorgten Passagier gewandt. Ihn ging es ja nichts an, wo der alte Mann aussteigen wollte. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl dabei, als er wieder auf die Interstate hinausbog. Das war hier eine ziemlich einsame Gegend. Er ließ die Gestalt nicht aus den Augen, bis sie in der Ferne aus seinem Rückspiegel verschwunden war. Als der Horizont das Dröhnen des Busses verschluckt hatte, drehte Jake sich um, und musterte seine Umgebung. Außerhalb der Stadt auszusteigen, war seine eigene Idee gewesen. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, die Mandy sicher gebilligt hätte. Diese Gegend gehörte den wilden Feldhasen, vermutete 224
er, und den Kojoten und Füchsen und Geiern. Drei Bussarde kreisten ein Stück nördlich von ihm am Himmel; wahrscheinlich gab es dort Aas. Nicht gerade ein besonders freundlicher Willkommensgruß, dachte er. Die Landschaft war nach allen Richtungen Bretteben, eine endlose graue Ebene aus Kies, armseligem Buschwerk und gelegentlich einem einsamen Mesquitestrauch. Selbst die Straße sah schmutzig aus; das ließ den blauen Himmel um so attraktiver erscheinen. Es war warm, aber nicht zu heiß, und eine leichte Brise wehte, aber es war nicht windig. In ein oder zwei Monaten würde sich diese unfruchtbare Wüste in ein Gobi-ähnliches Plateau mit Temperaturen unter Null und eisigen Böen verwandeln. Aber die Trostlosigkeit machte ihm eigentlich nichts aus. Jake hatte schon immer offenes Land gemocht. Sein Haus hatte viele Jahre lang zwischen kahlen, sanften Hügeln gestanden. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Riverside sich ausdehnte und seinen kleinen Hügel einschloß, das wußte er. Und dann würde sein Haus von modularen Wohnungen (wie die Wohnwagenleute ihre Behausungen euphemistisch nannten) Eigentumswohnungen und Industrie->Parks< umgeben sein. Ganz besonders jetzt, wo die Abraumhalde gereinigt worden war. Er wunderte sich etwas über den Stacheldrahtzaun zu beiden Seiten der Fernstraße. Als ob es hier draußen etwas gäbe, das man schützen mußte. Hin und wieder tauchte ein Personenwagen oder ein großer Laster aus dem scheinbar endlos fernen Punkt am einen oder anderen Ende der Interstate auf und schoß in ineinander verschwimmenden Bündeln aus Farbe, Stahl und Fiberglas an ihm vorbei. Sie alle hatten es eilig, von einem Ort zum anderen zu kommen. Die ostwärts Fahrenden schienen sich alle verschworen zu haben, nicht auf seinen ausgestreckten Daumen zu achten. Die Vorstellung, die Nacht am Straßenrand verbringen zu müssen, bereitete ihm keine große Freude. Hier draußen konnte sich das Wetter ganz plötzlich ändern. Aber wenig225 stens würde sich niemand an ihn heranschleichen können. Am Nachmittag verlangsamte dann ein großer, klobig aussehender Geländewagen seine Fahrt und hielt neben ihm an, ein Bronco oder ein Blazer oder so ähnlich. Jake kannte sich in den Modellbezeichnungen nicht besonders aus, schon seit den Fünfzigerjahren nicht mehr. Das junge Paar in dem Wagen sah müde aus, aber die junge Frau lehnte sich heraus und begrüßte Jake vergnügt. Sie hatte rabenschwarzes Haar und Wangenknochen, die wie ein Gebirge unter ihren Augen aufragten. Indianerblut, dachte Jake; aber wieviel und von welchem Stamm, wußte er nicht. »'ne Wagenpanne gehabt, Alter?« Er schüttelte den Kopf und ging auf den Geländewagen zu. »Hab' keinen Wagen. Bin mit dem Bus gefahren.« »Nun, in dem hätten sie bleiben sollen.« Der Mann saß etwas steif hinter dem Steuer und hörte interessiert zu. Der Motor des Geländewagens grummelte im Leerlauf. »Wie, zum Teufel, haben Sie es nur fertiggebracht, daß die Sie hier draußen raussetzten?« ■
»Bißchen Pech gehabt«, erklärte Jake, froh, daß er nicht lügen mußte. »Und mit dem Fahrer gab's 'ne kleine Auseinandersetzung.« »Das ist Pech. Wo wollen Sie denn hin?« Jake zögerte nur kurze Zeit. Wenn diese beiden im Sold jener standen, die so begierig nach ihm suchten, dann würden sie sich jetzt nicht die Mühe machen, dieses kleine freundliche Gespräch mit ihm zu führen. In dem Fall hätten sie schon lange versucht, ihn in den Wagen zu zerren. »Osten«, sagte er lakonisch. »Wir wollen nach Fort Worth. Vielleicht kann Jim dort einen Job kriegen. Sie können ja hinten reinsteigen, wenn's Ihnen nichts ausmacht, zwischen dem Gepäck, dem Dreck und unserem Werkzeug ein bißchen rumgestoßen zu werden.« »Im Sturm ist jeder Hafen recht«, sagte er dankbar. Sie 226
rutschte auf ihrem Sitz nach vorne und zog die Rücklehne zu sich her, so daß er einsteigen konnte. Er kletterte in den Wagen. Zwei Koffer lieferten ihm eine brauchbare, wenn auch harte Rückenstütze; aber der Platz reichte dazu aus, daß er sich ausstrecken konnte. »Ich würde mich gern am Benzin beteiligen.« Der Motor des Geländewagens heulte auf, als der Mann den Gang einlegte und sie wieder auf den Highway rollten. Er sah sich um. Die Straße war nach beiden Richtungen leer. Niemand hatte ihn einsteigen sehen. »Danke«, sagte die junge Frau und wandte den Kopf, um ihm zuzulächeln. »Wir kommen mit dem Geld schon klar. Jim hat auf den meisten Ölfeldern zwischen Van Hörn und Beaumont gearbeitet. Und wenn wir Schwierigkeiten haben, dann biegen wir einfach von der Straße ab und holen uns ein wenig vom Überlauf.« Pickett runzelte die Stirn. »Überlauf - was ist das?« Sie lachte. »Erklär es ihm, Honey!« Der Fahrer begann Jake über das aufzuklären, was im westlichen Texas aus dem Boden fließt und wozu man es gebrauchen kann. Er war ein leiser, ruhiger Typ, und Jake mochte ihn vom ersten Augenblick an. Beide mochte er. Huddy rieb sich zuerst das linke und dann das rechte Auge, gähnte dann und ging zu dem Getränkeautomaten hinüber. Nachdem er eine Weile die Schilder mit den einzelnen Aufschriften gelesen hatte, drehte er sich um und ging wieder weg. Er war zu dem Schluß gelangt, daß er bei weitem nicht so durstig wie ungeduldig war. Jetzt kam Bewegung in die Männer um ihn. Auf der anderen Straßenseite rollte ein Bus in die Station von Fort Stockton: ein Bus der Trailways-Gesellschaft. Er blickte wieder zu dem Getränkeautomaten hinüber und sah dann auf die Uhr. Vor der Stadt gab es eine weitere Station, und die wurde ebenfalls überwacht. Aber wenn Pickett ausstieg, um sich etwas zu essen zu besorgen oder auch nur die Beine zu ver227
treten, dann, nahm Huddy an, würde er das hier in der Stadt tun. Er hatte Ruth nach Houston zurückgeschickt, um dort auf weitere Anweisungen von ihm zu warten und sich um die Familie der Nichte zu kümmern. Aber in Wirklichkeit wollte er sie nur hier weghaben. Sie störte das Team, das er zusammengestellt hatte. Und er wollte keine Störungen, wenn sie wieder mit Pickett Kontakt bekamen. Diesmal würden sie ihm gegenüber nicht in Erscheinung treten. Im Menschengewühl in der Station waren zwei Männer, die aufgezogene Spritzen in der Tasche trugen. Einer der beiden würde sich unauffällig von hinten an Pickett heranschleichen und ihm die Injektion verpassen, ehe ihm überhaupt klar wurde, daß ihn jemand angriff. Alles sollte eigentlich in wenigen Sekunden vorbei sein. Die Flüssigkeit in der Spritze war sehr wirksam. Huddy hatte das Gefühl, als wären Stunden vergangen, aber in Wirklichkeit rollte Picketts Bus nur wenige Minuten später in die Station. Huddy überprüfte die Nummer an der Seitenwand des Busses. Ja, das war der, den sie von Benson bis hierher verfolgt hatten. Die Männer, die über die Station verteilt waren, bereiteten sich gewissenhaft auf ihre Aufgabe vor. Huddys Muskeln spannten sich, als die Passagiere sich anschickten, auszusteigen: eine übergewichtige schwarze Frau mit zwei höchst lebendigen Kindern, ein älteres Paar, junge Männer und Frauen mit Rucksäcken und leerem Gesichtsausdruck, ein Touristenpaar, das, wie Huddy ihrem Akzent nach schloß, aus Irland stammen mußte. Dann der Fahrer. Soweit Huddy das feststellen konnte, war der Bus jetzt leer. Von Jake Pickett keine Spur. Einer seiner Leute kletterte auf die hintere Stoßstange und sah in die Toilette ganz hinten. Er schüttelte den Kopf. Dort hielt er sich nicht versteckt. Der Rest des Teams beobachtete ihn erwartungsvoll und wartete auf eine Andeutung, was jetzt zu tun sei. Huddy 228
ging schnell nach vorne und trat auf den Fahrer zu, ehe er das Stationsgebäude betrat. »Entschuldigen Sie bitte.« »He, ich hab' hier nur zehn Minuten Pause. Ich würd' wirklich gern 'nen Kaffee trinken.« Huddy griff in die Tasche, holte die Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Zwanziger. »Ich lad' Sie zu dem Kaffee ein.« Er reichte dem ungläubigen Fahrer den Geldschein. So etwas passiert doch nur im Kino, dachte dieser, nicht im wirklichen Leben. Aber der Zwanziger war echt. »Ich suche einen alten Mann«, erklärte Huddy, als sie das Stationsgebäude betraten und auf die Cafeteria
zustrebten. »Etwas über mittelgroß, kleiner Bauch, tiefe Stimme. Er redet knapp und kurz. Nicht besonders schlau.« Der Fahrer dachte einen Augenblick lang nach und sagte dann: »Den kenn' ich. Der war aber nicht mehr bei uns.« Huddys Augenbrauen schoben sich in die Höhe. »Was meinen Sie mit >nicht mehr bei uns« »Naja, der ist unterwegs ausgestiegen. Schon vor Stunden.« »Wo denn?« »Das ist komisch, wissen Sie, deshalb erinnere ich mich auch so deutlich an ihn.« Er betrat die Cafeteria und hielt seinem Wohltäter die Pendeltür auf. »'Tag, Marge!« sagte er zu der Kellnerin, die ihm zuwinkte, als sie ihn erkannte und automatisch nach der Kaffeekanne griff. »Ein Stück hinter Kent, denke ich. Oder vielleicht auch vor Kent. Irgendwo dort in der Nähe. Ich hab' ihn am Straßenrand aussteigen lassen. Mitten im leeren Land, Mister.« »Er ist nicht in der Stadt ausgestiegen?« »Nee. Er sagte, jemand würde ihn abholen.« Huddy versuchte dieser völlig unerwarteten neuen Entwicklung einen Sinn abzugewinnen. »Kann natürlich sein, daß er gelogen hat. Geht ja mich nichts an, warum er dort aussteigen wollte. Vielleicht war sein Ticket abgelaufen, und er wollte keinen Ärger mit dem Kontrolleur am Ende der Strecke. Von mir hätte er nichts zu 229
befürchten brauchen. Netter alter Knabe, wirklich. Aber er wollte aussteigen, also hab' ich ihn rausgelassen.« »Scheiße!« sagte Huddy verstimmt. Er drehte sich um und eilte hinaus. »He!« rief ihm der Fahrer nach. »Wollen Sie denn keinen Kaffee?« Die Kellnerin füllte die Tasse vor dem Busfahrer. »Was hat Ihr Freund denn gewollt?« Der Fahrer zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, Marge. Leute gibt's - du weißt schon. Bist du immer noch verheiratet?« Huddy zwang sich langsamer zu werden, während er auf seinen Kommandoposten zustrebte. Die Mitglieder seines Teams musterten ihn neugierig. Aber Huddy ignorierte sie. Langsam wünschte er, er hätte nie von Jake Pickett gehört. Was, zum Teufel, hatte den alten Mann dazu veranlaßt, mitten im Wüstenland aus dem Bus zu steigen? Weil es dort keine Zeugen gab natürlich. Niemand, der ihn dabei beobachtete, wie er einen anderen Bus anhielt oder sich sonst wie mitnehmen ließ. Vielleicht war der alte Knacker schlauer, als sie alle angenommen hatten. Das war ein beunruhigender Gedanke. Ein Jake Pickett ohne viel Grips war schon bedrohlich genug. Langsam sammelten sich seine Leute um ihn. Sie stellten keine Fragen. Ihre Aufgabe war es, Befehle entgegenzunehmen. Das gefiel Huddy an ihnen. Jetzt mußte er entscheiden, was er mit ihnen tun sollte. Sie waren alle für diesen Auftrag aus San Antonio heraufgekommen. Aber hier gab es nichts zu tun. Trotzdem mußte jeder bezahlt werden. Huddy ertappte sich dabei, wie er anfing, Jake Pickett zu hassen. Wenn er bis jetzt Skrupel gehabt hatte, dem alten Mann ein Leid zuzufügen, so waren diese Skrupel inzwischen schon lange verflogen. Jake wachte auf. Das schwache Vibrieren des Geländewagens hatte sich verändert, war weicher und doch ein wenig 230
rauher geworden. Sie waren im Begriff, den Interstate Highway zu verlassen, und befanden sich auf der Rampe in eine mittelgroße Ortschaft. Er blinzelte. Die Sonne war vom Himmel verschwunden, und der Halbmond stand beinahe im Zenit. »Wo sind wir?« »Abilene«, sagte die junge Frau. »Sie sind eingeschlafen. Schon mal hier gewesen?« Jake schüttelte den Kopf. »Die Stadt ist mächtig gewachsen, seit Jim und ich das letztemal durchgekommen sind«, fuhr die junge Frau fort. »Das öl. An der Hauptstraße, auf der anderen Seite der Stadt, ist ein Motel Six.« Sie warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu und sah dann wieder Jake an. »Die haben in jedem Zimmer zwei Doppelbetten. Sie können gern eins haben.« »Nein«, widersprach er. »Nein, Sie beide sind ohnehin schon zu gut zu mir gewesen.« »Nun, Sie können gerne bis Fort Worth mitkommen, aber wir können die Zeit nicht erübrigen, um Sie wieder ausfindig zu machen.« »Ich nehme mir ein Zimmer in der Nähe«, erklärte Jake. »Dafür hab' ich genug Geld. Nicht daß ich so viel Ruhe brauchen würde. Ich hab' hier hinten die meiste Zeit geschlafen.« »Was - in dem Ding?« »Ich kann überall schlafen«, erwiderte Jake. »Das hab' ich mir im Krieg auf den Werften angewöhnt.« »Ich wünschte, das könnte ich auch«, sagte sie seufzend. »Jim kann es. Das kommt daher, weil er auf den Ölfeldern meistens die Nachtschicht übernimmt.« »Noch etwas«, sagte Jake. »Ich möcht' Sie beide zum Abendessen einladen.« »He, das ist nicht nötig«, sagte der Fahrer.
»Das weiß ich schon«, sagte Jake. »Deshalb würde es mir ja Freude machen. Okay?« »Wenn Sie darauf bestehen«, sagte die junge Frau. 231
In seinem Bauch rumorte es. »Dann wäre das geklärt. Kennen Sie hier ein anständiges Lokal?« »Anständige Lokale gibt es genug.« Sie schnitt ein Gesicht. »Der Trick ist, eines zu finden, das auch vernünftige Preise hat. Essen Sie gern mexikanisch?« »Ich komme aus Südkalifornien«, sagte er. »Was hatten Sie denn im Sinn?« »Kommt darauf an, ob es das Lokal noch gibt, an das ich mich erinnere. In diesen ölkaffs kommen und gehen die Kneipen ziemlich schnell.« Sie fuhren in südlicher Richtung und bogen bald darauf auf der Hauptstraße nach Osten ein. In der Stadt gab es immer noch Eisenbahngleise, die durch die Stadtmitte führten. Die Hauptstraße war ein wirres Durcheinander aus Neon-Tafeln, Schnellimbiß-Restaurants und Tankstellen. Ein paar Minuten vergingen, bis die junge Frau einen kleinen Schrei ausstieß und sie in einen grell beleuchteten Parkplatz unter einer riesigen alten Tafel einbogen, auf der irgend etwas stand. Jake machte es Freude, ihnen beim Bestellen zuzusehen, entzückt darüber, daß jemand anders die Rechnung bezahlen würde; das würde ihnen die Freude an der Mahlzeit verdoppeln. Das Essen, das ihnen schließlich gebracht wurde, war typisch für diesen Teil des Landes: riesige, scharf gewürzte Portionen und dazu Halblitergläser mit Eistee. Jake machte sich mit ebensoviel Freude wie seine jüngeren Tischgenossen darüber her. Die Frau, die auf der anderen Seite des Lokals saß, bemerkte keiner von ihnen. Sie hatte sie seit dem Betreten des Lokals angestarrt. Aber sie dachte nicht an ihre Mahlzeit, sondern an etwas ganz anderes: an die Prämie, die sie zusätzlich zu ihrem normalen Gehalt verdienen würde. Viele hatten den Auftrag erhalten, sich nach einem alten Mann umzusehen, der so aussah wie der Alte am Nebentisch. Und eine Telefonnummer hatte man ihr gegeben. »Sind Sie auch sicher, daß er es ist?« fragte der Mann am anderen Ende der Telefonleitung. 232
»Ganz sicher.« Die Frau leckte sich scharfe Soße von der Oberlippe und lehnte sich aus der Telefonzelle hinaus, um das Lokal besser überblicken zu können. Der Mann, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, war immer noch da und gerade mit einem gebratenen Burrito beschäftigt. »Hab' mir schließlich sein Bild lang genug angesehen. Aber er ist nicht alleine, er hat ein junges Paar bei sich.« Huddy runzelte die Stirn. Er wußte, daß die Ramirez immer noch in Port Lavaca waren. Blieb also nur eine Alternative, die einigermaßen wahrscheinlich war: Das junge Paar hatte ihn auf der Straße mitgenommen, und er hielt sich jetzt an sie. Es war spät. Das bedeutete nicht, daß Picketts Wohltäter nicht die Absicht hatten, den Rest der Nacht weiterzufahren. Er würde schnell arbeiten müssen. Vielleicht würde er diesmal ausnahmsweise Glück haben. Zeit dafür war es. Er gab der Frau am anderen Ende eine Nummer, die sie anrufen sollte, um sich ihre Belohnung zu sichern. Dann führte er selbst ein paar Telefonate. Ja, es ließ sich einrichten. Ja, es würde teuer sein. Die besten Leute würden so kurzfristig nicht zur Verfügung stehen; sie würden sich mit dem begnügen müssen, was in der Gegend zur Verfügung stand. Ja, sie würden auch bereit sein, ihnen nachzufahren, wenn sie weiterfuhren. Eine halbe Stunde später erhielt Huddy einen Rückruf. Er kam in dem Augenblick, als er im Begriff war, zur Tür hinauszugehen. Sie hatten sich Motelzimmer genommen und beabsichtigten offenbar, in Abilene zu übernachten. Huddy lächelte. Endlich begannen die Dinge sich zu seinen Gunsten zu entwickeln. War auch Zeit. »Sind Sie auch ganz sicher, daß Sie nicht mit uns in unserem Zimmer bleiben wollen?« fragte ihn die junge Frau. »Nein. Das andere nebenan ist besser für mich«, versicherte Jake. »Ich möchte für mich allein sein.« »Dann sehen wir uns morgen früh.« »Ich werd' auf sein, keine Sorge.« Er schüttelte beiden 233
die Hand. »Und vielen Dank, Leute. Vielen herzlichen Dank.« Er drehte sich um und ging durch die Tür, die die beiden Zimmer miteinander verband, schloß die auf der Seite der jungen Leute hinter sich und schloß dann auch die seine und sperrte sie ab. Anschließend überprüfte er die Eingangstür zu seinem Zimmer und vergewisserte sich, daß sie sicher verschlossen war. >Zweihundertsechsundzwanzig< stand in erhabenen Lettern auf seinem Zimmerschlüssel. Sie hatten keine Schwierigkeiten gehabt, aneinander grenzende Zimmer zu bekommen; das würde es am Morgen einfacher machen. Er warf den Schlüssel auf das zweite Bett. Es würde nett sein, zur Abwechslung einmal wieder auf einer echten Matratze zu schlafen. Der Bus war zu seinem Rücken nicht gerade freundlich gewesen. Draußen vor dem Motel wurde die Information weitergereicht. Der hochgewachsene Mann, der den Einsatz leitete, fluchte, als man ihm schilderte, wie die Schlafplätze eingeteilt worden waren. Man hatte ihn aus dem Bett geholt -hatte ihm befohlen zu kommen, und er war nicht gerade in aufgeräumter Stimmung. Dann hatten sie stundenlang vor dem verdammten Motel gewartet, bis man ihnen die aufgezogenen Spritzen brachte, damit sie überhaupt etwas unternehmen konnten. Nun wurde die Situation dadurch kompliziert, daß diese beiden jungen
Leute im Zimmer des alten Mannes nächtigten. »Er teilt sich also das Zimmer mit ihnen«, sagte einer seiner Kollegen. »Das sollte es auch nicht wesentlich erschweren.« »Hör zu, das ist Entführung, Sanford, nicht einfache Gewaltanwendung oder eine kleine Brandstiftung, nichts von unserem gewöhnlichen Repertoire. Und verpatzen dürfen wir die Geschichte nicht, weil die Anweisung aus Houston kommt. Von irgend so einem Bonzen von ganz oben. Ich hab' versucht, denen klarzumachen, daß wir uns mit solchen Sachen nicht abgeben, aber davon wollten die nichts 234
hören. Die haben gesagt, sie hätten keine Zeit, mehr als ein oder zwei von ihren eigenen Leuten herzuschicken, und wüßten auch nicht, ob die rechtzeitig kommen würden. Also müssen wir das selbst übernehmen - du und ich und Wallace und der Rest der Jungs. Aber vielleicht ist das auch ganz gut für uns.« »In dem Zimmer wird es dunkel sein, und wir verschaffen uns erst am frühen Morgen Zugang«, meinte Sanford. »Genau. Aber diese jungen Leute könnten uns sehen.« »Das stimmt.« Sanford zuckte die Achseln. Wenn er das tat, sah er wie einer dieser alten Hampelmänner aus, bei denen man unten an einem Schnürchen zieht, worauf die Arme und Beine zu flattern anfangen. Sanford schien ganz aus dürren Armen und Beinen und Boshaftigkeit zu bestehen. »Wenn das passiert, dann müssen wir einfach dafür sorgen, daß die niemandem davon erzählen - oder nicht?« Seinem Chef war bei dem Gedanken nicht ganz wohl. »Das kompliziert die Sache. Ich fürchte, du hast recht. Aber vielleicht klappt es ohne Gewalt. Vielleicht können wir uns in der Dunkelheit hineinschleichen und wieder verschwinden, ohne daß uns jemand sieht.« Er drehte sich um und blickte zum oberen Stockwerk des Motels, wartete darauf, daß das Licht in Zwei-zwei-vier ausging. Ein leises pochendes Geräusch, das von seinem Kissen gedämpft wurde, so daß es klang, als käme es aus weiter Ferne, weckte Jake. Er rollte sich im Bett zur Seite und sah blinzelnd auf die Uhr, die am Nachttisch festgeschraubt war. Es war irgendwo halb vier Uhr morgens. Er hörte das Geräusch wieder und schob sich an dem Kopfbrett in die Höhe. Es kam von der anderen Seite der Wand, aus dem Zimmer der jungen Leute. Einen Augenblick lang dachte er, es könnte etwas Intimes sein, und das war ihm für einen kurzen Moment peinlich; aber als dann ein halberstickter Schrei durch die Wand drang, war er sofort hellwach. Und dann verstummten die Geräusche abrupt. Ein Klic235
ken war zu hören, als die Verbindungstür von der anderen Seite aus geöffnet wurde. Dann versuchte jemand die Tür auf seiner Seite zu öffnen. Als das nicht ging, wurde der Versuch nicht wiederholt. Kein Pochen war zu hören, kein Hämmern. Aber das würde gleich kommen, das wußte Jake. Er stieg aus dem Bett und fuhr im Halbdunkel in seine Kleider, wagte nicht Licht zu machen, aus Furcht, die Leute zu alarmieren, die sicherlich das ganze Hotel beobachteten. Medizin, Brieftasche - er hatte alles. Dann nahm er sich eine hektische Minute lang Zeit, das Bett zu machen. Wenn jemand das Zimmer überprüfte, würde er vielleicht nicht sehen, daß es bewohnt gewesen war, und sich nicht die Mühe machen, es gründlich zu inspizieren. Er ging auf die Eingangstür zu. Und dann blieb er abrupt stehen, als er sich an das Motel erinnerte, das er kürzlich verlassen hatte. Es gab ein Fenster, das nach hinten führte. Die Tatsache, daß er sich im ersten Stock befand, machte ihm nichts aus. Er hatte keine andere Wahl und mußte den Fluchtweg einschlagen, der sich ihm darbot. Er schob das Glas beiseite und drückte kräftig gegen das Gitter. Es fiel hinaus, prallte von etwas ab, segelte wie ein schwarzer Drachen in die Nacht hinaus und landete hinter dem Gebäude auf dem Boden. Er beugte sich hinaus und blickte in die Tiefe. Jetzt sah er, wovon das Gitter abgeprallt war: ein Betonsims, der vielleicht einen Fuß breit war und eine Regenrinne trug. Ich könnte auf so etwas verzichten, dachte er, während er vorsichtig auf den Sims hinaustrat. Er schloß das Fenster und hoffte, daß das fehlende Gitter nicht auffallen würde, wenn jemand in sein Zimmer kam. Bleib ganz ruhig und überleg dir alles ganz gründlich! sagte er sich, während er auf dem schmalen Mauervorsprung stand. Er versuchte, nicht an das zu denken, was in dem Zimmer nebenan geschehen sein mochte, obwohl seine Phantasie ihn mit schauerlichen Bildern bedrängte. Und es war seine Schuld. Jemand hatte ihn entdeckt und die Leute verständigt, die ihn jagten. Sie hatten seine Spur bis zu dem 236
Motel verfolgt, wo jemand gesehen hatte, wie er das Zimmer des jungen Paares betrat. Da er nicht aus jenem Zimmer herausgekommen war, mußten sie natürlich annehmen, daß er den Raum mit ihnen teilte. Es wunderte ihn, daß sie ihn wieder so schnell aufgespürt hatten. Amanda würde das nicht überraschen. Er wünschte, er könnte jetzt mit ihr sprechen. Dieser junge Bursche, dieser Huddy, mußte schon verdammt interessiert an ihm sein. Gegen die Wand gepreßt und darauf bedacht, nicht nach unten zu sehen, arbeitete er sich an dem Sims entlang, bis er gegen etwas Kaltes stieß, das nicht nachgab: eine Feuerleiter, fest mit der Wand verschraubt. Nachdem er einen Augenblick lang überlegt hatte, stieg er auf die Sprossen und kletterte nach oben statt nach unten. Das Dach war flach und mit loser Dachpappe und vorgefertigten Schindeln bedeckt. Als er die andere Seite erreicht hatte, ging er auf die Knie und legte sich schließlich auf den Bauch. Zuviel Bauch für so etwas,
dachte er, als er sich langsam auf die Kante zuschob. Er blickte über den Rand und spähte nach unten auf den Parkplatz. Neben einem großen Wagen, der mitten auf dem Platz parkte, standen einige Männer. Alle, mit Ausnahme eines einzigen, trugen sie Hüte, wie man sie im Mittelwesten zu tragen pflegte. Schritte hallten von einer der Metalltreppen herüber. Ein halbes Dutzend Männer erschienen auf der rechten Seite und rannten auf jene zu, die bei dem Wagen warteten. Beide Gruppen begannen eine heftige Diskussion und fuchtelten mit den Händen herum. Jake hätte gerne gehört, was sie sagten, aber sie waren zu weit entfernt, und seine Ohren waren auch nicht mehr die besten. Die beiden Gruppen teilten sich in mehrere kleinere auf und zwängten sich in vier oder fünf Personen- und Lastwagen, die mit quietschenden Reifen auf die Hauptstraße hinausschössen. Frierend, aber wachsam lag Jake in der Dunkelheit auf dem Dach, bis er überzeugt war, daß alle, die auf 237
dem Parkplatz versammelt gewesen waren, ihn wieder verlassen hatten. Etwas stieß gegen ein Lüftungsrohr, und er wäre fast über die Dachkante gesprungen; aber es waren nur zwei aufgescheuchte Tauben, die es sich wieder in ihrem Nest bequem machten. Eine halbe Stunde verstrich, ehe er sich sicher genug fühlte, um den Weg über die Feuerleiter zurückzugehen und dann auf dem Sims entlang und in sein leeres Zimmer. Zuerst konnte er nicht sagen, ob jemand dort nach ihm gesucht hatte. Die Eingangstür war immer noch versperrt und die Sicherheitskette befestigt. Aber die Verbindungstür, die nach Zimmer Zwei-zwei-vier hinüberführte, stand einen Spalt breit offen. Ein schneller Blick zeigte ihm, daß das Schloß aufgebrochen war. Sie hatten daran gedacht, das Nebenzimmer zu überprüfen. Vorsichtig zog er die Tür auf und trat über die Schwelle. Es war dunkel, und in dem Raum herrschte ein eigenartiger Geruch, den er nicht erkannte. Er schaltete die Badezimmerbeleuchtung ein und hoffte, daß man sie vom Parkplatz aus nicht sehen würde. Das erste, was er deutlich sah, war das Gesicht der jungen Frau, die angeboten hatte, ihn mitzunehmen. Sie lag halb auf, halb neben dem Bett. Ihre Hand hing zu Boden, und sie starrte irgend etwas Unsichtbares an. Ein Bein war nackt auf dem Bett zu erkennen, und ein Arm lag schlaff wie eine bleiche Schlange auf dem Boden. Von irgendwo war ein gleichmäßiges Tröpfeln zu hören, und Jake war froh, daß er es nicht sehen konnte. Blut rann an ihrem Arm herunter und sammelte sich auf dem Teppich in einer Pfütze, die sowohl das Geräusch als auch den Geruch erklärte. Ihr Mann lag in der Nähe auf dem Boden, nackt und in den vollbekleideten Körper eines Mannes verschlungen, den Jake nicht erkannte. Der Kopf des Fremden hing in einem unnatürlichen Winkel herunter. Der junge Ehemann blutete am Rücken. Jake sah tiefe Schnittwunden: gerade, sauber, häßlich, wo das Fleisch aufgeschlitzt war. Er stand mit zitterndem Mund da und versuchte dem, was er sah, ei238
nen Sinn abzugewinnen. Nach allem, was in dieser vergangenen Woche geschehen war, nach all den Versuchen, die man angestellt hatte, um ihn einzufangen, begann er schließlich zu begreifen, wie weit Huddy und seine Leute gehen würden, um ihn zurückzuholen. Und das gab noch viel weniger Sinn als alles andere. Keine Zeugen. Sie wollten keine Zeugen, dachte er benommen. Entweder das, oder sie waren in Panik geraten, als sie ihn nicht in dem Zimmer gefunden hatten. Offensichtlich hatte der junge Mann unerwartet heftigen Widerstand geleistet. Nicht daß es ihm viel genutzt hatte. Diese armen jungen Leute. Und es war seine Schuld, sagte er sich erbittert. Aber wer hätte gedacht, daß es soweit kommen würde. Er zog sich langsam rückwärts aus dem Zimmer zurück. Nur weil sie so nett und freundlich zu ihm gewesen waren und ihn mitgenommen hatten. Meine Schuld, dachte er immer wieder. Das ist meine Schuld. Ich hätte nicht so dicht bei ihnen bleiben dürfen, hätte niemanden hineinziehen dürfen. Ich hätte nicht ... Etwas schrie in seinem Gehirn, fern und doch nah. Weit entfernt und doch ganz in der Nähe. Amanda! Sie sprach nicht so zu ihm, wie sie das gewöhnlich tat; sie sandte blindlings ihre Not aus. Jemand - da war jemand in ihrem Zimmer, nicht ihre Mutter, nicht ihr Vater. Jemand, der durch das Fenster hereingekommen war, das auf die Bucht hinausging; ein Fenster, das Jake gut kannte, obwohl er es seit vielen Jahren nicht gesehen hatte. Er stolperte rückwärts und stürzte gegen den Frisiertisch. Eine Lampe flog herunter, barst an der Wand. Er fuhr in der Finsternis herum und hielt sich den Kopf, der wie eine überhitzte Maschine pochte und dröhnte. Amanda, Amanda! Sie konnte nicht antworten. Er hatte das Gefühl, daß sie laut zu schreien versuchte. Jener erste Ruf war ein stummer Ruf gewesen, eine instinktive Reaktion auf das, was sie bedrohte, was immer es auch sein mochte. Jetzt versuchte sie ihre Eltern zu alarmieren, sie zu 239
wecken, Hilfe herbeizurufen - und konnte es nicht. Sie konnte es nicht, weil man dabei war, ihr einen Knebel in den Mund zu stopfen. Etwas schnitt ihr den Atem ab, und sie konnte keinen Laut hervorbringen. Nicht in ihrem Zimmer; aber mit ihrem Bewußtsein konnte sie immer noch heulen. Nur ein einziges menschliches Wesen konnte jene Schreie hören, und er war Hunderte von Meilen davon entfernt, ihr helfen zu können.
Er konnte spüren, wie der Knebel ihren Mund füllte, konnte dunkle Gestalten sehen, die sich rings um sie bewegten. Und dann wurde ihm selbst das genommen, als man ihr etwas über die Augen preßte und es festband. Dann wurde sie hochgehoben und weggetragen, versuchte mit den Armen dagegen anzukämpfen, konnte sich mit ihren nutzlosen Beinen nicht wehren. Der Rollstuhl blieb zurück; man trug sie aus dem Schlafzimmer. Jake sank auf den Teppich, fiel gegen das Bett und fand sich plötzlich ausgestreckt auf dem Boden liegen. Langsam löste er die zitternden Finger von seinem Schädel. Das Pochen wurde schwächer, entfernte sich. Und dann war Amanda verschwunden. Einfach ... verschwunden. Es war ganz und gar nicht so, wie wenn sie ihre privaten Gespräche beendeten - ganz und gar nicht so. Wenn sie das taten, verließ sie ihn immer behutsam, zärtlich. Diesmal war ihr geistiges Ich mit brutaler Plötzlichkeit abgeschnitten worden. Er lag mit angewinkelten Beinen da und starrte ins Leere. Er konnte nicht sagen, ob Amanda schlief oder ob sie unter Drogen stand oder ob sie tot war; nur daß sie bewußtlos war. Jemand war ungeduldig geworden. Jemand hatte die Entscheidung getroffen, daß es jetzt Zeit war, nicht mehr mit ihrem Opfer zu spielen; Zeit, echte Hebelkraft einzusetzen; Zeit, ernst zu machen. Also hatten sie Amanda mitgenommen. Er tastete nach seiner Hemdtasche. Mit zitternder Hand holte er die kleine Flasche heraus und schluckte drei von 240
den Pillen. Es war schlimm, wenn er drei brauchte; nicht verzweifelt schlimm, aber schlimm genug, um ihm Angst einzujagen. Das Pochen unter seinen Rippen wurde langsamer; das Feuer wich aus seiner Brust. Du mußt diese Stadt verlassen! befahl ihm eine Stimme im Innern seines Schädels. Du darfst nicht hierbleiben. Die kommen ganz bestimmt wieder zurück und sehen nach. Und wenn sie das nicht tun, dann liegen immer noch drei Leichen im Zimmer nebenan. Wenn die Polizei dich festnimmt, wird Huddy irgendeine Möglichkeit finden, dich ihnen wegzunehmen. Das weißt du. Und es gab keine Amanda mehr, die ihm helfen konnte. Keine brillante Großnichte, die zu seinem gesunden Menschenverstand ihre Intelligenz fügen konnte. Er war jetzt ganz auf sich gestellt. Wieder benutzte er das hintere Fenster, obwohl der Parkplatz keine Spuren von Aktivität zeigte. Er kletterte die Leiter nach unten. Mandy, dachte er, was haben sie mit dir gemacht, Mandy? Er weinte fast. Er hatte schon lange nicht mehr geweint, obwohl alte Männer häufig zu solchen Gefühlsregungen neigen. Aber nicht Jake Pickett. Bis heute nicht. Doch nun war er aus Sorge und Furcht den Tränen nahe. Als er am anderen Ende des Motels angelangt war, zögerte er kurz. Der frühmorgendliche Verkehr war noch dünn. Sicherlich würde niemand versuchen, ihn vom Bürgersteig weg zu entführen, wenn Autos unterwegs waren. Außerdem wußte er nicht, was er sonst hätte tun sollen. Er war verwirrt und verängstigt, mehr wegen Amanda als wegen sich selbst. Die Busstationen würden von Huddys Häschern wimmeln; die würden ihn ganz bestimmt nicht in einen Überlandbus lassen. Er setzte sich in Bewegung, ging über die Asphaltfläche und war bemüht, so weit wie möglich im Schatten zu bleiben. Dann stand er unter einer Straßenlaterne am Randstein, mit ausgestrecktem Daumen und hochgestelltem Kragen. 241
In der Nähe gab es eine Tankstelle, die die ganze Nacht über geöffnet hatte; auf die ging er nun zu. Das Licht war dort besser, und der neugierige Tankwart bemerkte ihn sofort. Es war gut, jemanden zu haben, der ihn beobachtete, wie er am Randstein stand. Er hoffte verzweifelt darauf, daß jemand ihn mitnehme. »Das ist er.« Die Frau drehte sich zu ihrem Begleiter um und reichte ihm den Feldstecher. Der Mann schob sich den Hut aus der Stirn und lehnte sich gegen die Motorhaube des Wagens, während er die Straße hinunterspähte und heftig auf andere Fahrzeuge fluchte, die zwischen ihm und dem Gegenstand seiner Aufmerksamkeit hindurchfuhren. »Ja, das ist er.« Er griff durch die offene Tür des Wagens und holte sich das CB-Gerät heraus. »Masterson, hier Checkpoint Zwei - wiederhole: Checkpoint Zwei. Bitte kommen, Masterson!« Eine Stimme knatterte aus dem Lautsprecher: »Was haben Sie denn, Stroud?« »Der alte Mann steht vor einer Whiting-Tankstelle und versucht mitgenommen zu werden. Ich weiß nicht, wo er sich versteckt hatte, aber er ist es ganz sicher. Sollen wir ihn uns schnappen?« »Diesen alten Mann schnappt man sich nicht einfach«, sagte die Stimme. »Wo ist er? Auf der First Street?« »Ja, verdammt! Hier ist nicht so viel Verkehr, als daß das riskant wäre. Wir können ihn uns holen.« »Ein Zuschauer, der den Helden spielen will, reicht schon aus, um die Sache platzen zu lassen, Stroud. Wie diese Armleuchter im Motel. Außerdem packen wir diesen Burschen mit Samthandschuhen an, klar?« »Verdammt noch mal, Masterson, dann soll sich wohl ein anderer mit unserer Arbeit brüsten?« »Alicia, sind Sie da?« Die Frau nahm ihrem Begleiter das CB weg und funkelte ihn an. Der schnitt eine Grimasse, drehte sich um und setzte seine Beobachtung durch den Feldstecher fort. 242
»Masterson, hier Alicia. Wir werden tun, was Sie verlangen, aber ich zumindest glaub' den Scheiß nicht, den Houston uns über diesen alten Sack vormachen will. Er steht dort draußen und friert sich den Arsch ab, wie jeder
andere auch.« »Trotzdem, befolgen Sie unsere Anweisungen, Alicia! Behalten Sie ihn im Auge! Ich schicke jetzt sofort ein Team aus. Die Leute werden in fünf Minuten dort sein. Sie werden in die Tankstelle einbiegen und so tun, als würden sie Benzin kaufen, und dann schnappen sie ihn sich. Sie kriegen Ihr Geld schon, keine Sorge.« »Die hab' ich mir auch nicht gemacht.« Sie legte das CB-Gerät in den Wagen zurück und lehnte sich zu ihrem Mann hinüber. »Mit jemandem wie Masterson solltest du dich nicht anlegen, Schatz. Wir kriegen das, was uns zusteht, schon, keine Sorge.« »Dieses verdammte Arschloch hält sich für besonders schlau«, murmelte der Mann, ohne den Feldstecher von den Augen zu nehmen. Nördlich der Innenstadt parkte ein blauweiß lackierter Lieferwagen auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Drin legte der Mann namens Masterson ein CB-Gerät beiseite und wählte am Telefon des Lieferwagens eine Nummer. Das Telefon klingelte lang, aber er legte nicht auf. Es war früh am Morgen. Schließlich war am anderen Ende ein Klicken zu hören. »Benjamin Huddy?« »Ja. Sind Sie das wieder, Masterson?« »Ja, ich bin es. Wir haben ihn wiedergefunden.« »So schnell? Nun, das ist schon etwas. Als Sie bei dem Motel Mist gebaut hatten, dachte ich schon, wir müßten wieder anfangen, Busstationen abzusuchen.« Masterson ignorierte die Kritik. »Er steht draußen und versucht mitgenommen zu werden. Ich weiß nicht, wo er sich versteckt hatte, als wir das Motel durchsuchten, aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Worauf es ankommt, ist, daß wir ihn unter Überwachung haben.« Er sah auf die Uhr. 243
»Meine Leute sind bereits unterwegs. In zehn Minuten haben wir ihn.« Er zögerte. »Ich glaube, ich hab' Ihnen nicht von dem Ärger erzählt, den wir in dem Motel hatten. Aber ich denke, Sie sollten das wissen.« »Vorher haben Sie mir bloß gesagt, daß Sie sein Zimmer aufgebrochen hätten und er nicht dort war. Was für Ärger?« »Zwei von meinen Leuten sind überängstlich geworden. Sie haben unklug gehandelt. Sie waren zu nervös - Sie wissen schon, wie das ist. All die Geschichten über diesen Burschen haben sich ja schließlich herumgesprochen. Jedenfalls sind da jetzt drei Leute tot und ...« »Tot?!« Huddys Erschütterung überstieg seinen Zorn. »Was soll das heißen - tot? Herrgott, ihr verdammten Texaner!« »Ruhig bleiben, Mr. Huddy! Was wollen Sie denn überhaupt von meinen Leuten? Wenn Sie so schlau sind, warum haben Sie sich dann den alten Knacker nicht schon vor Tagen geschnappt?« »Wir hatten selbst Probleme. Schon gut, lassen wir das! Was werden Sie unternehmen?« »Ist nicht das erstemal, daß ich mit so etwas zu tun habe. Es wird keine Komplikationen geben, Mr. Huddy. Die Bullen werden erst auftauchen, wenn die Zimmermädchen anfangen, die Zimmer sauberzumachen. Vielleicht erst heute nachmittag. Meine Leute haben die Wertgegenstände mitgenommen - Sie wissen schon: Ringe, Brieftaschen und dergleichen.« »Ich bin sicher, daß ihnen das sehr viel Mühe bereitet hat«, sagte Huddy sarkastisch. »Die Bullen werden glauben, das Ganze sei ein verpatzter Raubüberfall gewesen«, versicherte ihm Masterson. »Es wird keinen Anlaß geben, irgendwelche Verbindungen herzustellen, zu allerletzt zur Firma; also machen Sie sich deshalb keine Sorgen, okay?« »Geht in Ordnung. Im Augenblick mach' ich mir bloß um den alten Mann Sorgen. Wie haben Sie vor, ihn zu schnappen?« 244
»Zwei meiner besten Leute sind zu ihm unterwegs. Sie haben das Tranquilizer-Gewehr, das meiner Gruppe zugeteilt ist. Sie werden an der Tankstelle, wo er steht, anhalten, um zu tanken, und ihm vom Wagen aus eine Nadel in den Arsch blasen. Vielleicht ein Zeuge, haben mir meine Leute gesagt. Damit kommen wir klar.« »Das hoffe ich.« Masterson zögerte. »Hören Sie, ich hab' die Geschichten gehört, Mr. Huddy. Die ganze Sache klingt für mich verrückt. Sind Sie auch ganz sicher, daß das alles nötig ist? Das Tranquilizer-Gewehr und alles das, meine ich? Warum laß ich nicht einfach zwei Leute von hinten anschleichen und ihm eins über die Birne geben? Er ist doch bloß ein alter Mann.« »Dieser alte Mann«, erklärte Huddy trocken, »ist wahrscheinlich das gefährlichste Individuum im ganzen Land, um so mehr, weil er es selbst nicht weiß. Sie holen ihn sich so, wie man Sie instruiert hat.« »Wenn Sie darauf bestehen, Mr. Huddy. Ich bin trotzdem der Meinung, daß wir uns die ganze Sache unnötig erschweren.« »Dann tun Sie's mir zuliebe!« Huddy legte auf. Masterson legte den Hörer auf die Gabel zurück und schüttelte den Kopf. So etwas Verrücktes war ihm noch nie untergekommen. All die Mühe, bloß um einen müden, alten Mann festzuhalten. Leute, die die ganze Stadt absicherten. Zum Teufel, den ganzen Staat. Trotzdem, ihn ging das Ganze nichts an. Er brauchte am Ende bloß die Hand aufzuhalten und sein Geld einzusammeln.
Das CB summte, und er griff nach dem Mikrofon. »Stroud hier. Bitte kommen, Masterson!« »Was ist denn, Stroud?« Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm die Zeit: vier Uhr morgens. Die Männer mit dem T-Gewehr sollten jetzt jeden Augenblick die Tankstelle erreichen. »Ärger. Anscheinend nimmt einer den alten Knaben mit.« Stroud stützte sich mit dem Oberkörper auf die Mo245
torhaube, den Feldstecher in der einen, das CB in der anderen Hand. »Ja, jetzt fahren sie weg. Ein Vierundsiebziger Ford Pickup, vielleicht auch ein Fünfundsiebziger. Zulassungsnummer sechs, sechs, sieben DRF. Hellblau mit roten, schwarzen und gelben Streifen. Vier Punkte an der Fahrerkabine.« »Verdammt!« murmelte Masterson. Nun, dann würden sie eben ihren Plan ändern müssen. Er sprach lauter: »Rote, blaue und gelbe Streifen an einem blauen Ford Pickup. Verstanden. Schwer zu verfehlen.« Er dachte an das unglückliche junge Paar, das mit dem alten Mann das Zimmer geteilt hatte. Solchen Ärger wollte er nicht noch einmal. Ekelhaft. »Wer ist denn bei ihm?« »Scheint ein junger Mann zu sein«, meldete Stroud. »Collegealter. Nee, wenn ich mir's noch mal überlege: Sah eigentlich nicht so aus. Jetzt kann ich ihn fast nicht mehr sehen. Immer noch auf der First Street in östlicher Richtung.« Seine Frau wartete hinter dem Steuer ihres Wagens, die Hand am Zündschlüssel. »Sollen wir ihnen folgen?« »Ja. Bleiben Sie dicht dran, aber bedräng' sie nicht!« befahl Masterson. »Behaltet sie im Auge! Masterson Ende.« Stroud zwängte sich in den Wagen. Seine Frau nickte, sagte knapp: »Hab's gehört«, und ließ den Motor an. Sie bogen in die fast verlassene Straße ein. Masterson überlegte einen Augenblick lang und drückte dann ein paar Schalter, ehe er wieder das CB-Gerät in die Hand nahm. »Hier Zentrale. Spähposten Vier, Sechs und Neun. Objekt bewegt sich jetzt in östlicher Richtung auf der First Street in einem Ford Pickup blau mit roten, schwarzen und gelben Streifen. Einige Suchscheinwerfer auf der Fahrerkabine. Zulassungsnummer sechs, sechs, sieben DRF. Junger Mann am Steuer. Position auf First Street vor Interstate-Auffahrt einnehmen. Der Junge ist wahrscheinlich nach Hause unterwegs und hat in der Stadt einen draufgemacht. Vielleicht haben wir Glück und er ist zu voll, um viel zu sehen. Einheit Sechs, ihr habt genügend Zeit, auf der Brücke 246
Position zu beziehen. Verpaßt dem Jungen auch eins, wenn ihr freies Ziel habt. Ich bin in ein paar Minuten dort.« Er schob das Mikrofon in seine Klemme zurück und eilte nach vorn. Der Motor des Lieferwagens gab ein zufriedenstellendes Brausen von sich, und Masterson trat aufs Gas, daß die Reifen quietschten, während er in südöstlicher Richtung davonraste. Vielleicht würde er noch rechtzeitig ankommen, um die Aktion selbst zu sehen. Vieles hing davon ab, wie schnell der Junge fuhr. Er mußte zuerst noch den Kreisverkehr passieren. Gewöhnlich saß dort ein Bulle und paßte auf, ob irgendwelche Leute auf dem Weg aus der Stadt Stopschilder überfuhren. Das sollte ihn etwas aufhalten. Außerhalb der Ostflanke von Abilene lag eine große Industriezone mit baumbestandenen leeren Grundstücken dazwischen; das würde ein guter Ort sein, um sich den alten Mann zu schnappen. Um diese frühe Morgenstunde gab es dort draußen wenig Verkehr. Alles würde ganz schnell und sauber ablaufen. Er würde froh sein, wenn er das Ganze hinter sich hatte. Während er gezwungen war, mit diesem alten Sack herumzualbern, gab es eine ganze Menge wichtige Geschäfte, die er nicht überwachen konnte. Während er die Zubringerstraße hinunterraste, überlegte er, was die ganze Aufregung eigentlich zu bedeuten hatte. 14
»Ich versteh' das immer noch nicht, Mister.« Der Junge hielt das Steuer nur locker mit den Daumen und ließ beide Hände herunterhängen. »Was machen Sie mitten in der Nacht hier draußen? Wie ein Trinker sehen Sie ja nicht aus, sonst hätt' ich sie nämlich nicht mitgenommen.« »Ich trinke nicht viel, junger Mann.« Jake entspannte sich etwas und sah nur noch gelegentlich in den Rückspiegel, der vor seinem Fenster angebracht war. Von Verfolgung war keine Spur zu erkennen, nur die Lichter der Stadt, die in der Ferne verblaßten. Draußen wurde es schnell dunkler. Lagerhäuser und Fabrikgebäude ragten mächtig vor dem Nachthimmel auf. Die weit auseinanderstehenden Straßenlaternen wirkten auf der dunklen Straße wie Inseln aus Licht. »Also nur ganz gewöhnliches Pech gehabt«, sagte der Fahrer. Jake studierte ihn. Viel älter als achtzehn war ei ganz bestimmt nicht. Er überlegte, was der junge Man wohl so spät unterwegs zu schaffen hatte, und kam dann zu dem Schluß, daß ihn das nichts anging. Der Junge hatte starke Akne, die sich mit seinen Sommersprossen vermischte. Im Verein mit einer Sonnenbräune, wie sie einem nur Westtexas verschaffte, verlieh das seinem Gesicht das Aussehen einer Landsat-Fehlfarbenfotografie. Der Cowboyhut, den er trug, war für seinen Kopf ein wenig zu groß, und er mußte ihn immer wieder aus der Stirn schieben. Irgendeine unglückliche Klapperschlange hatte für sein Hutband das Leben lassen müssen. 248
Sein Kleinlaster war ebenso bequem, wie sein Fahrer verlegen war. Jake begann die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, wieder zu schlafen. »Verdammt, jeder hat schließlich Geldsorgen«, sagte der Junge jetzt. Seine Worte waren von beträchtlichem Bierdunst begleitet, aber er steuerte seinen Laster langsam und gleichmäßig um einen Verkehrskreisel herum. »Netten Abend gehabt?« murmelte Jake, um Konversation zu machen. »Kann man wohl sagen«, verkündete der Junge stolz. »Weiß Ihre Familie, wo Sie sind?« Der Junge lachte. »Ach, Scheiße! Mal wissen die nicht, wo ich bin, und mal ist's ihnen egal. Ich steh' auf eigenen Füßen. Hab' kein besonderes Glück bei den Weibern gehabt, aber nicht, daß ich's nicht probiert hätte.« Er lachte wieder, und das verstärkte seine Ähnlichkeit mit einem unter Akne leidenden Huckleberry Finn. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich frage: Was für'n Pech haben Sie denn gehabt?« Jake überlegte einen Augenblick lang und sagte dann: »Ich hab' ein paar Leuten, die ein wenig reizbar waren, Ärger bereitet.« »Den Bullen? Sind die hinter Ihnen her, Mister?« Der Junge wirkte eher erregt als verängstigt; anders als zu meiner Zeit, dachte Jake ein wenig mißmutig. »Nein.« Das schien den Fahrer zu enttäuschen. »Ich weiß nicht so recht, vor wem ich davonlaufe, junger Mann, aber anständige Leute sind das nicht.« Wieder dachte er an das ermordete junge Paar in dem Motel, dessen Pech darin bestanden hatte, ihm zu helfen. Es machte ihn zornig. Jetzt setzte das Stechen in seinem Herzen wieder ein, Zorn und Anspannung waren nicht gut für ihn, aber das kümmerte ihn im Augenblick nicht. Für das, was in dem Motel passiert war, sollte jemand zahlen müssen, das wußte er. Es war einfach nicht richtig, daß so etwas unbestraft blieb. 249
Der Junge lehnte sich vor, bis sein Kinn praktisch auf dem Steuer ruhte. »Das ist aber komisch.« Sie näherten sich der alten Stahlbrücke, die den Clear Fork des Brazos im Osten der Stadt überspannte. »Das da vorne sieht wie eine Straßensperre aus.« Jake spähte mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe. Seine Augen waren alt, aber er konnte die zwei Wagen deutlich erkennen, die Motorhaube an Motorhaube so aufgestellt waren, daß sie auf der anderen Seite der Brücke beide Fahrspuren blockierten. Und in dem Augenblick verkündete ein plötzliches Motorendröhnen das Auftauchen von zwei weiteren Wagen. Sie materialisierten einfach aus einem Parkplatz heraus, den eine Baumgruppe verdeckt hatte, und beschleunigten, bis sie dicht hinter dem Kleinlaster waren. Vor den zwei parkenden Fahrzeugen konnte man jetzt ein paar Gestalten erkennen. »Jetzt bin ich aber neugierig, was da los ist«, murmelte der Junge. »Schon seltsam, soviel Betrieb so früh am Morgen.« Er warf seinem Passagier einen scharfen Blick zu. »He, und Sie sind ganz sicher, daß Sie sich nicht mit den Bullen angelegt haben, Mister?« Jake hörte ihn gar nicht. Das, was hier geschah, war klar. Sie würden ihn auf der Brücke in die Zange nehmen. Diesmal würde es kein Entkommen geben; kein freundliches Hinterfenster, durch das man schlüpfen konnte; kein vertrauter alter Wagen, der einen in die Sicherheit fuhr. Der Junge verlangsamte seine Fahrt. »Mal sehen, was die wollen.« Sein jugendlicher Überschwang schien schnell dahinzuschwinden, und seine Stimme klang etwas verängstigt und unsicher. Bier gibt nur eine lausige Krücke ab. »Verdammt sollen die sein!« flüsterte Jake zu sich, und wieder plagte ihn das Bild der zwei jungen Leute, die ihm geholfen hatten und jetzt tot waren. »Verdammt sollen sie alle sein, und der Teufel soll sie holen!« Sein Herz hämmerte wie wild, und der Schmerz raubte ihm fast den Atem. Die Angst des Augenblicks, sein Zorn, ein überwältigendes Ge250
fühl der Hilflosigkeit angesichts nicht nachlassenden Drucks, die Tatsache, daß es diesmal keinen Ausweg gab das alles vereinte sich in ihm. Vielleicht war es all das, und vielleicht war es nichts anderes als die erzwungene Wiederholung - jedenfalls wußte Jake zum allerersten Mal in seinem Leben plötzlich, wie er Dinge schlupft machte. Komisch, nach all den Jahren, dachte ein entferntes Stück seines Wesens. Wie seltsam: all die Limonadenflaschen, die er für die Kinder aufgemacht hatte, all die Radiergummis, die auf so geheimnisvolle Weise von ihren Bleistiften gefallen waren; all die Kartenkunststücke, die er so geschickt vorgeführt hatte, ohne die Gebrauchsanweisung lesen zu müssen. Kronenkorken und Radiergummis und Räder und Lumpen. Plötzlich war ihm ganz egal, was geschah. Zwanzig Jahre hatte er sein krankes Herz geschont, aber nun war das nicht mehr wichtig. Es konnte ohnehin jeden Augenblick Schluß sein, ob er nun auf sich aufpaßte oder nicht. Aber wenn Schluß war, dann nicht, weil diese Leute es wollten. Und sie sollten auch das nicht kriegen, was sie von ihm wollten. Und er würde jetzt herausbekommen, was sie seiner geliebten Amanda angetan hatten. »Anhalten!« schrie jemand. Die Stimme kam aus einem der Fahrzeuge, die sich hinter sie gesetzt hatten. Es fuhr jetzt in der falschen Spur, parallel zu ihnen. »Komm schon, Junge, fahr an den Rand! Jetzt gleich!« Der Mann gestikulierte mit einer Pistole. »Ja, Sir, puuh!« rief der junge Mann. »Hätf nie gedacht, daß man wegen ein paar Drinks solchen Ärger kriegt.« Sein rechter Fuß ging vom Gaspedal und näherte sich der Bremse. Der Kleinlaster wurde langsamer. Jake fuhr
aus seiner Benommenheit auf und trat mit dem linken Fuß zu. Das Gaspedal senkte sich wieder. »Jesus! Mister!« schrie der Junge. »Lassen Sie das!« Er stellte seinen Fuß auf den Jakes, aber das verstärkte den Druck aufs Gaspedal nur noch mehr. Er versuchte Jakes Bein beiseite zu treten, aber der alte Mann beugte sich reso251
lut mit seinem ganzen Gewicht hinüber und hielt das Gaspedal niedergedrückt. Der Kleinlaster reagierte mit bewundernswertem Tempo. Er machte einen Satz nach vorne und ließ den parallel zu ihm fahrenden Wagen zurück, so daß dessen Fahrer nur mit Mühe das Steuer herumreißen konnte. Jake griff sich mit der Hand an die Stirn, als etwas geschah. Hinter dem Kleinlaster steigerte der Verfolger sein Tempo - als die hintere Hälfte der Stahlbrücke ächzte und zusammenzubrechen begann. Niemand sah, wie sich die Bolzen, die die einzelnen Träger zusammenhielten, in Pulver verwandelten. Die Männer in den Wagen schrien, als sie über den Brückenrand flogen. Hinter ihnen quietschte der zweite Wagen, der aus dem versteckten Parkplatz herausgeschossen war, als der Fahrer verzweifelt auf die Bremse trat. Die Hinterhälfte des Wagens rutschte zur Seite, und sie kamen am Rande des Abgrundes zum Stehen. Das Knirschen der zusammenknickenden Stahlträger und das Krachen der riesigen Betonbrocken, die ins Flußbett stürzten, hallten durch die Nacht. Von dem ersten Wagen war nichts mehr zu sehen. »Du lieber Gott!« stöhnte der Junge und kämpfte darum, die Gewalt über das Steuer nicht zu verlieren. »Wir werden sterben - sterben werden wir! Bitte, Mister, Sie bringen uns beide um!« Jake sagte nichts, hielt den Fuß fest auf dem Gaspedal und ließ die Straßensperre nicht aus den Augen, der sie sich näherten. Die Männer, die aus ihren Fahrzeugen gesprungen und auf die Brücke zugegangen waren, waren stehengeblieben, als die hintere Hälfte des Brückenbogens zusammengebrochen war. Jetzt stoben sie auseinander, als der Laster auf sie zuraste. »Aus dem Weg!« hörte Jake sich schreien. »Ich will keinem weh tun! Aus dem Weg!« Hinter dem Laster sank einer der mächtigen Träger zur Seite und zog den mittleren Brückenabschnitt mit sich in die Tiefe. Wie ein stürzender Baumriese fiel die Stahlmasse auf das Kraftwerk unten am Fluß252
ufer. Der Träger und der Brückenabschnitt zerfetzten den Zaun und zerdrückten Transformatoren wie Popcorn. Ozon und ein knisterndes, knatterndes Geräusch wie Speck in der Bratpfanne erfüllte die Luft. Blaue Funken und kleine Feuerbälle erhellten die Nacht. »Ich will keinem weh tun!« schrie Jake und übertönte damit den Donner, der ihnen folgte. Sein Fuß preßte immer noch das Gaspedal nieder, und sein Bein war so starr, daß keine zwei Männer es hätten bewegen können. Er schrie immer noch seine nutzlosen Warnungen hinaus. Einer der Wagen, die ihnen den Weg versperrten, machte WUUMM! und verstreute sich über die ganze Straße. Der zweite schloß sich den Bruchteil einer Sekunde später an, explodierte nach rückwärts in die Bäume. Etwas in ihren Benzintanks war schlupft. Doch dort hörte die Auflösung nicht auf. Motoren und Sitze, ja sogar Scheinwerfer demontierten sich explosiv in der Luft, so daß Metall und Glassplitter wie Schrapnells nach allen Richtungen davonschossen. Einige der benommenen Insassen der beiden Fahrzeuge, die mit nichts Schwierigerem gerechnet hatten als der Aufgabe, einen alten Mann in ihre Gewalt zu bringen, waren so geistesgegenwärtig, sich Deckung suchend hinzuwerfen. Die anderen, die körperlich oder geistig zu träge dazu gewesen waren, wurden von den Schrapnells zerfetzt. Auch den Kleinlaster traf die Wolke aus tödlichen Fragmenten; aber aus irgendeinem Grund traf ihn nur Staub, Partikel, die zu winzig waren, um auch nur einen Kratzer auf der Windschutzscheibe zu hinterlassen. Dann raste der Kleinlaster durch die Stelle, wo noch vor Sekunden die Straßensperre gewesen war. Männer lagen stöhnend und blutend auf der Straße und im Gras. Einer hielt sich den blutenden Armstumpf und starrte entsetzt seinen Arm an, der neben ihm lag. Zwei von den Männern, die sich in den Büschen versteckt hatten, sprangen in den Fluß, ohne daran zu denken, wie tief er war oder ob es vielleicht Felsen gab. Andere verschwanden im Unterholz. Einer war so geistesgegenwärtig, 253
seinen Revolver herauszuziehen und auf den fliehenden Laster zu schießen. Jake sah ihn am Straßenrand stehen und mit beiden Händen zielen. Einige Schüsse wurden abgefeuert, aber sie erreichten nie ihr Ziel. Dann explodierte die Waffe in seinen Händen und zerfetzte den Mann zu einer blutigen Masse. Was von dem Tranquilizer-Gewehr und seiner Munition übrig geblieben war, verbrannte in einem der zerstörten Wagen. Der Kleinlaster raste ungehindert die Straße hinunter auf die Rampe zu, die zur Interstate führte, und trug einen schrecklich verängstigten jungen Mann und einen schluchzenden, fluchenden älteren, der nichts weniger wollte, als jemandem weh zu tun, in Sicherheit ... Somerset hatte Huddy nie mit so müder Stimme reden hören. Aber das, was ihn quälte, war nicht nur Schlafmangel. Seine Stimme trug einen Unterton der Niederlage in sich, der an ihm völlig fremdartig wirkte. »Reiß dich zusammen, Benjamin!« sagte sie ins Telefon. »Du warst nicht dabei, Ruth«, sagte er mit kläglicher Stimme. »Du hast das nicht gesehen, was da passiert ist.« »Aber du doch auch nicht, Benjamin?«
»Nein. Aber ich hab' gesehen, was dabei herausgekommen ist, und habe mit den Männern gesprochen, die es gesehen haben, und das ging mir nahe genug. Was macht die Großnichte?« »Die ist unverletzt und mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt«, erklärte sie. »Meine Leute haben sie ohne Mühe aus dem Haus herausgeholt.« »Das ist zur Abwechslung einmal eine erfreuliche Nachricht«, murmelte Huddy. »Sie hatte keine Chance, ans Telefon zu kommen, nicht einmal Zeit, nach ihren Eltern zu rufen.« Sie konnte fast sehen, wie er am anderen Ende der Leitung zustimmend nickte. »So hätten wir es von vornherein machen sollen«, murmelte Huddy. »Aber wer hat das denn gewußt? Wer denn?« 254
»Als du mich anriefst und mir sagtest, daß die ihn in dem Motel in Abilene nicht erwischt hatten, hatte ich das Gefühl, daß wir an die ganze Geschichte zu vorsichtig herangingen«, erklärte sie mit fester Stimme. »Und da habe ich beschlossen, die Sache auf meine Art anzugehen.« »Ich bin froh, daß du das getan hast, Ruth. Ich weiß jetzt nicht mehr weiter.« »Komm schon, Benjy!« schalt sie ihn, bemüht, seine Stimmung wieder hochzubringen. »Ich weiß, daß das ein weiterer Rückschlag ist, aber dabei braucht es ja nicht zu bleiben. Jetzt, wo wir die Großnichte haben, können wir uns von Pickett zurückziehen, und er wird genau das tun, was wir von ihm verlangen. Ich weiß, daß das ein recht extremes Vorgehen ist, aber er hat uns ja dazu gezwungen.« »Ein Rückschlag? Ruth, diese Geschichte entgleitet uns. Ich habe nie erwartet, daß das so weit gehen würde. Ich habe nie erwartet, daß Pickett...« Er zögerte, hielt inne und fing dann von neuem an. »Ruth, überall liegen Tote herum, und weitere Leute liegen in den Krankenhäusern und verstecken sich hinter jämmerlichen Erklärungen, die die Polizei über kurz oder lang durchschauen wird. Und jetzt eine weitere Entführung, ein unschuldiges, hilfloses Mädchen im Rollstuhl. Ich kann einfach nicht ...« »Jetzt werd mir bloß nicht weich, Benjamin!« sagte sie scharf, bemüht, den Zorn und den Ekel nicht durchklingen zu lassen. »Jetzt ist nicht der Moment aufzugeben!« »Das hab' ich nicht gesagt«, erwiderte er defensiv. »Dafür wäre es auch viel zu spät, selbst wenn wir das wollten. Dafür habe ich viel zuviel Verantwortung übernommen. Wir müssen diese Geschichte bis zum Ende durchstehen.« Er gab sich Mühe, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen, aber das gelang ihm nur teilweise. »Man hat denjenigen von unseren Leuten, die überlebten, gesagt, daß ein Kraftwerk in die Luft geflogen wäre. Das stimmt auch. Aber es war kein Unfall. In Picketts Umgebung gibt es keine Unfälle. Aber es klingt logisch, und bis zur Stunde geben sich die lokalen Behörden damit zufrie255
den. Warum sollten sie auch nicht? Andere Erklärungen gibt es nicht. Aber ich weiß nicht, wie lange ich die Sache noch im Griff halten kann. Einige von diesen Burschen haben dort draußen Dinge gesehen, die man nicht mit einem Kraftwerksausfall erklären kann. Und am Ende werden sie anfangen, sich Fragen zu stellen, und werden reden.« »Hat irgendeiner von ihnen den alten Mann unmittelbar in Verdacht?« »Das glaube ich nicht. Masterson vielleicht. Er hatte die Leitung der Operation. Vor Ort. Aber er war nicht dabei, als Pickett durchbrach, also hat er nichts gesehen. Ich kann dafür sorgen, daß er ruhig bleibt. Das ist nur eine Frage von Geld. Ich hätte selbst dort sein sollen, Ruth.« »Dafür hattest du keine Zeit, Benjamin«, sagte sie besänftigend. »Keiner von uns hätte es rechtzeitig bis dorthin schaffen können. Und jetzt hör mir zu! Wir haben ein paar Fehler gemacht. Wir hatten ein paar Probleme. Aber deshalb brauchen wir doch nicht die ganze Schuld auf uns zu nehmen. Wir hatten ja schließlich keine Ahnung, daß der alte Mann ein solches Potential hat. Offengestanden glaube ich nicht einmal, daß er es selbst wußte. Sobald er erfährt, daß seine Großnichte verschwunden ist, wird er ganz gefügig und kooperativ werden, das wirst du sehen. Ich weiß, daß ich einen extremen Schritt getan habe, aber etwas anderes als extreme Schritte bleiben uns ja nicht mehr übrig. Der wird uns nicht mehr mit weiteren unerwarteten - wie nennst du das? - Auflösungen? - überraschen. Ich glaube, von jetzt an wird er ganz nett sein. Eigentlich solltest du froh sein. Ich bin jetzt auch überzeugt, daß deine Vermutungen in bezug auf ihn richtig waren.« »Das ist schon etwas«, gab er zu. »Du hast recht, Ruth. Wir brauchen uns jetzt keine Sorgen mehr zu machen.« Jetzt klang wieder sein altes arrogantes Selbstbewußtsein aus seiner Stimme. »Tut mir leid, wenn ich etwas mutlos gewirkt habe. Ich habe nur einfach nicht erwartet, daß das so weit gehen würde.« 256
»Wie konntest du auch? Oh, du bist doch auf diese Sache in Abilene hin nicht in Gefahr, oder?« »Meinst du die Konfrontation mit Pickett oder diese unglückselige Sache in seinem Motel?« »Beides.« »Ich denke nein. Ich war ja nicht in der Nähe, als das passierte.« Daß er an der Entführung der Großnichte ebenfalls unschuldig war, fügte er nicht hinzu. »Weißt du«, fuhr sie fort, »das, was wir getan haben, ist im Vergleich mit dem Schaden, den Pickett verursacht hat, gar nichts.« »Nicht daß uns das nützen würde.« Er lachte, ein kurzes, wohlklingendes, aber bitteres Lachen. »Kannst du dir
vorstellen, wie es sein würde, wenn du vor Gericht versuchen würdest, den Beweis dafür anzutreten, daß er für all diese Toten und Verletzten verantwortlich ist? >Euer Ehren, dieser Mann - der mit dem schwachen Herzen, der dort drüben sitzt - ist dafür verantwortlich, daß zwanzig jüngere, gesündere, bewaffnete Männer getötet oder verletzt wurden. <« Jetzt veränderte sich seine Stimme, und er versuchte die Stentorstimme eines Richters nachzuäffen. >»Und wie hat der Angeklagte diese Orgie der Vernichtung bewerkstelligt, Mr. Huddy?< >Nun, Euer Ehren, er hat sie angesehene« Wieder das humorlose Lachen, und dann: »Wo hast du denn die Großnichte versteckt?« »Im Matagorda-Komplex der CCM«, erklärte sie. »Der Chef dort ist eine fette Kröte namens Barker und steht fünf Jahre vor der Pensionierung. Das einzige, was ihm im Augenblick noch Sorgen bereitet, ist seine Pension. Er ist von der Sache gar nicht begeistert, aber ich habe ihm versichert, daß man ihn heraushalten wird. Wenn nötig, können wir ihn natürlich hineinziehen, aber das weiß er nicht. Die einzigen Drohungen, die ich ihm gegenüber gebraucht habe, waren indirekt, aber er hat schon kapiert. Er wird uns keine Schwierigkeiten machen.« »Und was ist mit den Leuten weiter unten?« 257
»Die sind dort alle voll beschäftigt. Die Verbindung nach außen wird von einem meiner Leute wahrgenommen, und wer für die Dinge innerhalb verantwortlich ist, weißt du ja. Keiner der Angstellten hat gesehen, wie das Mädchen hineingebracht wurde. Sie ist in dem Apartment in der Verwaltung, das die Fabrik für VIPs von auswärts bereithält. Du kannst wirklich ganz ruhig sein, Benjy. Alles ist unter Kontrolle.« »So mag ich mein Mädchen«, sagte er bewundernd. »Ich sollte mir öfter von dir helfen lassen, wenn ich Probleme habe.« »Genau das solltest du!« Insgeheim machte sie sich Huddys wegen noch Sorgen. Er wirkte jetzt wieder normal, aber je länger sich diese Pickett-Geschichte hinzog, desto mehr schien er in Stücke zu gehen. Jammerschade, wenn das passieren würde. Es würde ihr wirklich leid tun, ihn zu verlieren, sowohl als Liebhaber als auch als Mitverschwörer innerhalb der Firmenhierarchie. Er war wichtig für ihre Zukunft. Aber von nun an würde sie ihn beobachten müssen. Sie hatte keineswegs die Absicht, mit seinem Schiff unterzugehen. »Eines macht mir Sorge«, sagte er. »Ich frage mich, ob Pickett uns glauben wird, wenn wir ihm sagen, daß wir die Leute sind, die seine Großnichte haben.« »Oh, ich denke schon, daß er das wird, Benjy. Er hat ja bereits gesehen, daß wir keine Scheu vor extremen Maßnahmen haben. Wenn nötig, können wir ihn ja mit ihr telefonieren lassen. Sei ganz ruhig! Noch ein paar Tage, und wir zwei sitzen in der Maschine nach L.A.« »Das hoffe ich. Okay, dann wäre also alles klar. Ich bin in ein paar Stunden bei dir, sobald ich hier eine Chartermaschine bekomme. Dann brauchen wir nur noch abzuwarten, bis Pickett am Haus seiner Nichte auftaucht, von der Entführung hört und wir mit ihm Verbindung aufgenommen haben.« »Richtig.« Ihre Stimme wurde weicher. »Du hast mir gefehlt, Benjamin.« 258
»Du mir auch, Süßes. Sind die Wanzen im Haus der Nichte alle noch an Ort und Stelle?« »Kein Problem. Die Bullen hier unten würden eine Wanze nicht mal dann erkennen, wenn sie ihnen über die Schulter kriechen und ins Ohr beißen würde. Bis bald!« Das Telefon klickte. Sie behielt den Hörer in der Hand, überlegte und beschloß schließlich Matagorda anzurufen. Es konnte ja nicht schaden, wenn sie sich noch einmal vergewisserte, daß dort oben alles glattging. Nicht daß sie irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Mädchen erwartet hätte; selbst wenn sie aufwachte, konnte sie ja nicht gut einfach wegrennen. Sie wählte die Privatnummer. Es paßte ihr nicht ganz, daß sie Drew die Aufgabe hatte übertragen müssen, die Großnichte zu bewachen; aber er war praktisch von Anfang an in diese Pickett-Sache eingeschaltet gewesen. Das war sicherer, als einen Ortsansässigen zu beauftragen. Und Benjamin hatte stets großes Vertrauen zu ihm gehabt. Aber sie brauchte sich wenigstens nicht viel persönlich mit ihm abzugeben. Die Art und Weise, wie er sie ansah, gefiel ihr nicht. Aber Barker konnte er einschüchtern, und es war immer nützlich, einen solchen Mann in der Nähe zu haben. Manchmal war ein warnendes Brummen wirklich die beste Antwort auf eine peinliche Frage. Das gehäkelte Deckchen, das gewöhnlich auf dem Kaffeetischchen lag, löste sich in Wendy Ramirez' Händen langsam in seine Bestandteile auf, weil sie dauernd geistesabwesend daran herumzerrte. Sie brauchte etwas, woran sie sich festhalten konnte, etwas Greifbares; etwas, das ihrer Tochter gehörte. Dieses Deckchen, das Amanda für die Schule gehäkelt hatte, war da freilich nicht viel. Ihr Mann schritt in der Nähe unruhig auf und ab. Seine großen, narbigen Hände, die schon so oft mit Fischhaken Bekanntschaft gemacht hatten, spannten und entspannten sich gefährlich. Sein normalerweise freundlichvergnügtes Wesen war verflogen. Die Ereignisse hatten ihn benommen gemacht, zu hilfloser, wütender Schweigsamkeit verurteilt. 259
Sheriff Benbrook sah erschöpft aus; viel erschöpfter als an jenem Tag, als er bei ihnen gewesen war und über den beschädigten Kombi gesprochen hatte. Benbrook arbeitete gerne in Port Lavaca. Man lernte dort jeden kennen, und jeder kannte einen selbst, und das war eine Situation, in der man Verbrechen einfach dadurch
aufklärte, daß man ein wenig herumfragte. Aber jetzt hatte eine andere Art von Verbrechen Einzug in Port Lavaca gehalten, und darüber war er verdammt unglücklich. Der Mann, der Wendy gegenübersaß, trug einen Anzug mit Weste, eine Brille und eine schmale, schon längst aus der Mode gekommene Krawatte. Er war viel kleiner und schmächtiger als der Sheriff oder Arriaga Ramirez, aber er war trotzdem viel eindrucksvoller. Die Ramirez hatten mit Unterstützung durch Sheriff Benbrook zuerst ein ziemlich lautes Geschrei erheben müssen, bis sie schließlich das FBI überzeugt hatten, daß möglicherweise in der verschlafenen Küstenstadt eine Entführung stattgefunden hatte. Am Ende hatten sie schließlich einen Agenten namens Roeland aus dem Büro in Houston geschickt, um ihre Aussage entgegenzunehmen. Trotz des Zögerns seines Büros schien Roeland selbst äußerst mitfühlend und bemüht, ihnen zu helfen. Wendy fühlte sich deshalb ein wenig besser. Viel besser, als sie sich während ihres letzten Gesprächs mit seinem Büro gefühlt hatte, als sie hatte erklären müssen, daß ihre Tochter ganz sicherlich nicht einfach weggegangen war, weil sie ganz einfach nicht imstande war, irgendwohin zu gehen. Jetzt saß Wendy da und sah zu, wie Arriaga auf die Bitte des Agenten hin in ihr Schlafzimmer ging und mit dem Bild Amandas zurückkam, das der Mann verlangt hatte. Aber mit dem Foto war es nicht getan. Er schrieb sich jede nur gerade vorstellbare Einzelheit, die Amanda betraf, auf, angefangen mit der Farbe und dem Muster des Nachthemds, das sie vor ihrem Verschwinden getragen hatte, bis hin zur Farbe der Lidschatten, die sie gewöhnlich benutzte. Als sie 260
fertig waren, klappte er sein kleines Notizbuch zu; das war das einzige Geräusch in dem Wohnzimmer. Roeland steckte den Kugelschreiber in seine Brusttasche zurück und schob den Metallclip vorsichtig über die Klappe, damit er nicht herausrutschen konnte. »Daß Sie mit dem Büro solche Schwierigkeiten hatten, tut mir schrecklich leid, Mrs. Ramirez«, sagte er. »Die Frau am Telefon wollte ganz bestimmt nicht unfreundlich sein. Aber Sie müssen verstehen, daß wir jeden Monat hunderte unsinniger Anrufe bekommen. Nur bei sehr wenigen steht eine echte Entführung dahinter.« Er lächelte auf eine Art, die, wie er hoffte, beruhigend auf die Ramirez wirken würde. »Ich weiß, daß Sie tief beunruhigt sind und uns nicht leichtfertig angerufen haben. Aber es könnte trotzdem sein, daß keine Entführung vorliegt.« »Was hätte ihr denn sonst passieren können?« Wendy fiel es schwer, zusammenhängend zu sprechen. Ein Klumpen saß ihr in der Kehle, und man sah ihr an, daß sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. »Was hätte ihr denn sonst passieren können? Ihre Freundinnen würden sich doch keinen solchen schlechten Spaß erlauben. Die wissen doch alle, daß sie uns nur Angst und Sorgen bereiten würden.« »Ich möchte bloß wissen, wer dahintersteckt«, polterte Arriaga und blieb einen Augenblick lang stehen. Er funkelte zuerst den Sheriff und dann den FBI-Mann an. »Bloß fünf Minuten, wenn ich mit dem alleine war' mehr brauchte es gar nicht.« »Glauben Sie mir, das Büro teilt Ihre Besorgnis, Mr. Ramirez. Wirklich.« Der Agent wandte sich wieder Wendy zu. »Ich weiß, daß es Ihnen im Augenblick unvorstellbar ist, es könnte für das, was Ihrer Tochter widerfahren ist eine andere Erklärung geben, Mrs. Ramirez. Aber wir erleben oft ganz überraschende Lösungen für scheinbar eindeutige Fälle. Es muß Ihnen zum Beispiel aufgefallen sein, daß es keine Lösegeldforderung gibt.« Arriaga stieß ein kurzes, sarkastisches Lachen aus, und 261
Wendy sagte leise: »Wir haben kein Geld. Es gibt andere ... Gründe, jemanden zu entführen. Ganz besonders ein junges Mädchen.« »Aber gewöhnlich nicht aus dem eigenen Schlafzimmer, Mrs. Ramirez. Ich glaube, in der Beziehung können Sie ganz beruhigt sein. Außerdem haben wir festgestellt, daß aus ihrem Zimmer nichts fehlt, also ist das Motiv auch nicht Raub. Wenn man alle Informationen in Betracht zieht, so gibt es nur einen einzigen weiteren Grund für eine Entführung, den ich mir vorstellen könnte. Zumindest nur einen, der einen Sinn ergibt. Aber Sie müssen verstehen, daß das nur eine vorläufige Hypothese meinerseits ist.« Ramirez blieb stehen, als ob ihn eine Kugel getroffen hätte, und bezog hinter der Couch Position. Seine Hände lagen auf den Schultern seiner Frau. Wendy starrte den FBI-Agenten ängstlich an, während der Sheriff neugierig wartete. Benbrook war immer bereit, etwas Neues zu lernen. »Der Sheriff hat erwähnt, daß es vor einigen Tagen einen kleinen Zwischenfall vor Ihrem Haus gegeben hat, Mr. Ramirez. Sie haben dabei ein paar Diebe überrascht, die sich an Ihrem Kombi zu schaffen machten?« Arriaga nickte langsam. Wendy blickte zu ihm auf, griff nach einer seiner Hände und drückte sie fest. Der FBI-Agent fuhr fort: »Es ist möglich, daß diese Leute sich über die Störung geärgert haben und daß sie beschlossen haben, zurückzukommen und sich zu rächen. Sheriff Benbrook sagt, er sei ziemlich sicher, daß es sich nicht um hiesige Leute handelt. Städtische Profis hingegen wären geneigter, das Risiko einzugehen, zum Schauplatz ihres Verbrechens zurückzukehren, um etwas Derartiges zu versuchen. Ganz besonders nachdem, wie der Sheriff mir sagte, Sie einen der Männer anscheinend ziemlich schwer verletzt haben.« »Ich glaub', ich hab' ihm die Nase gebrochen«, murmelte Arriaga. »Den Schädel hätt' ich ihm einschlagen sollen.«
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Roeland nickte verstehend. Er sieht so aus, als wäre er meiner Meinung, dachte Arriaga. Er hatte nie gedacht, daß der Agent sich als so mitfühlend erweisen würde. Hart, professionell, kühl und berechnend, ja - aber nicht mitfühlend. Aber vielleicht hatte dieser Bursche auch eine Frau und eine Tochter zu Hause. Wenn es um solche Verbrechen ging, reagierten alle ziemlich gleich, begann er zu begreifen. Der Agent stand auf, um zu gehen. Wendy hielt ihn auf. »Was glauben Sie, Mr. Roeland? Ich meine, wann glauben Sie, werden Sie etwas wissen?« Die letzten Konsequenzen der Theorie des Agenten verdrängte sie aus ihrer Vorstellung. Wenn jemand die arme Amanda entführt hatte, um Rache zu nehmen, dann könnte es sein, daß sie sie nicht mehr finden würden ... sie nicht mehr finden würden ... Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Arriaga war gleich zur Stelle, nahm sie in die Arme, beruhigte sie. Der Agent wartete respektvoll, bis das Schluchzen aufgehört hatte. »Ich habe keine Ahnung, Mrs. Ramirez. Ich wünschte, ich könne Ihnen mehr sagen. Aber Sie müssen begreifen, daß man mich diesem Fall gerade erst zugeteilt hat und ich soeben erst hier eingetroffen bin. Ich habe meine Arbeit eigentlich noch gar nicht angefangen. Zu allererst werde ich jetzt Houston davon verständigen, daß meiner Meinung nach hier wirklich eine Entführung vorliegt. Die Beschreibung Ihrer Tochter wird in allen Bundesstaaten verbreitet, auch wenn sich unsere besonderen Bemühungen selbstverständlich auf dieses Gebiet konzentrieren werden. Wir arbeiten eng mit allen lokalen Polizeibehörden zusammen, wie Ihnen Sheriff Benbrook bestätigen kann. Hoffentlich werden wir bald etwas haben. Sobald wir etwas wissen, werden Sie sofort verständigt.« Er sah Arriaga an und griff dann nach Wendys rechter Hand und tätschelte sie. »Bitte, denken Sie daran, daß wir noch nicht wissen, wer Ihre Tochter entführt hat und warum er das getan hat, ja nicht einmal, ob tatsächlich eine Entführung vorliegt. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Sie haben also gar kei263
nen Anlaß, sich irgendwelche schrecklichen Vorstellungen zu machen, bis wir etwas Genaueres wissen. Wenn sie entführt worden ist, könnte es sein, daß die Täter betrunken waren und nicht etwa kalt berechnend gehandelt haben. Vielleicht sind sie inzwischen wieder nüchtern geworden und haben erkannt, worauf sie sich eingelassen haben, und haben sie schnell und unverletzt irgendwo abgesetzt. Für Ihre Tochter ist es ... schwierig, sich zu bewegen. Wenn man sie in einer ländlichen Gegend abgesetzt hat, könnte sie lange dazu brauchen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder zu einer befahrenen Straße zu gelangen. Vielleicht sitzt sie im Augenblick in einer Tankstelle oder versucht sich eine Münze auszuleihen, um damit zu telefonieren. Oder sie ist zu einem Krankenhaus unterwegs, um dort erste Hilfe zu bekommen.« Er deutete auf das Telefon. »Das beste, was Sie jetzt für sie tun können, ist hierzubleiben und abzuwarten, bis sie oder meine Leute sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Falls die Entführer sich mit Ihnen in Verbindung setzen sollten, sollten Sie ruhig bleiben und ihnen sagen, daß Sie alles tun werden, was sie von Ihnen verlangen. Und dann sollten Sie mich anrufen. Ich werde alles weitere erledigen. Aber bitte bedenken Sie auch, daß dies nicht der erste Fall dieser Art ist, den man mir übertragen hat, Mrs. Ramirez. Die Erfolgsrate des Büros in Entführungsfällen ist sehr hoch, viel besser als die Medien das normalerweise behaupten. Sie können mich über das Büro des Sheriffs erreichen.« Arriaga nickte und begleitete die beiden Männer zur Tür. Wendy ging hinterher, wobei sie immer noch das Häkeldeckchen zwischen den Fingern zerknüllte. Dann standen sie unter der Tür und sahen zu, wie Benbrook und der Agent in den Wagen des Sheriffs stiegen und zur Straße hinausrollten. 264
15 Jake wartete bis zum letzten Augenblick, ehe er den Bus verließ. Aber bis jetzt hatte sich keine seiner Befürchtungen bewahrheitet. Vor dem Dairy Queen* standen keine interessiert wirkenden Männer, die auf ihn warteten. Port Lavaca war der Bevölkerungszahl nach eine Kleinstadt, aber was die Fläche betraf ziemlich ausgedehnt. Nachdem er sich orientiert hatte, mußte er sich zweimal von Autofahrern mitnehmen lassen, ehe er glaubte, nahe genug beim Haus seiner Nichte zu sein, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Solange er auf sich aufpaßte und ein langsames Schrittempo anschlug, machte ihm sein Herz keine Schwierigkeiten. Obwohl er das Haus seit Jahren nicht mehr aufgesucht hatte, war es nicht so schwierig, es wieder aufzufinden, wie das vielleicht für einen Fremden den Anschein gehabt hätte. Man brauchte nur die Gegend an der Bucht zu erreichen und dann die Straße entlangzugehen, die parallel zum Wasser verlief. Das war einer der Vorteile, den man hatte, wenn man älter wurde, dachte er, als er unter den Eichen und Weiden die Straße entlangschlenderte man wurde schneller mitgenommen. Die Aussicht darauf, seine Nichte wiederzusehen, hätte ihn in Hochstimmung versetzen können. Statt dessen war er fast krank vor Sorge, weil er seit einigen Tagen nichts * Dairy Queen. Amerikanische Schnellimbißkette, in der hauptsächlich Milchprodukte verkauft werden. - Anm. d. Übers. 265
mehr von Amanda gehört hatte. Das paßte überhaupt nicht zu ihr, ganz besonders nicht unter den augenblicklichen Umständen. Entweder war sie aus Gründen, die er nicht ahnen konnte, außerstande, ihn zu erreichen, oder sie war ... Er weigerte sich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Als er den Wagen des Sheriffs vom Haus seiner Nichte wegrollen sah, trug das nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Wendy wollte gerade wieder hineingehen, als sie etwas zögern ließ und sie veranlaßte, die Straße hinunterzublicken. Sie kniff die Augen zusammen, um in der Nachmittagssonne besser sehen zu können. Da winkte ihr die Gestalt zu, und ihre Augen weiteten sich. »Arri?« murmelte sie unsicher. »Hm?« Er war bereits ins Haus zurückgegangen und noch ganz mit den letzten Worten des FBI-Mannes beschäftigt. Sie trat einen Schritt von der Veranda. »Arri!« So etwas wie Erregung trat an die Stelle ihrer Furcht. »Ich glaube, dieser Mann dort hinten auf der Straße ... ich glaube, das ist Onkel Jake!« Ramirez kam auf die Veranda zurück und sah die Straße hinunter. Er hatte den Onkel seiner Frau erst zweimal zu Gesicht bekommen, wenn sie auch häufig miteinander telefoniert hatten. Die Gestalt, die Wendys Interesse erweckt hatte, war inzwischen nähergekommen. Ja, das konnte er sein; schmalere Schultern vielleicht und etwas dicker um die Taille, aber derselbe Mann, an den er sich vom letzten Besuch erinnerte. Wendy war bereits die Treppe hinunter auf die Straße geeilt. Arriaga wartete und sah zu, wie Nichte und Onkel einander liebevoll umarmten. Der Fischer war verwirrt und beunruhigt und nicht sicher, ob er Picketts Ankunft als willkommen oder als eine Störung betrachten sollte. Nein, das ist nicht fair, sagte er sich. Der alte Mann weiß ja nicht, was passiert ist. Trotzdem - er hätte sich keinen traurigeren Zeitpunkt aussuchen können, um sie mit seinem Besuch zu überraschen. 266
Andererseits schien sein unerwartetes Erscheinen Wendys Stimmung gebessert zu haben, wenn auch nur für den Augenblick; dafür war Arriaga dankbar. Sie konnten sich gegenseitig eine Stütze sein. Und dann standen beide neben ihm auf der Veranda, und er schüttelte dem alten Mann die Hand. Er sieht müde aus, dachte Arriaga. Aber das war ja kein Wunder, wenn man sein Alter bedachte und die lange Reise. Ein wenig überraschte Arriaga das Fehlen jeglichen Gepäcks, aber andererseits pflegten alte Leute oft mit leichtem Gepäck zu reisen. »Hello, Jake! Ist ja lange her, daß wir uns gesehen haben.« »Como 'sta, Arri? Que pasa?« Arriaga zwang sich zu einem Lächeln. »Eine ganze Menge, muß ich leider sagen.« Das Lächeln hielt nicht lange an. »Komm rein! Ich fürchte, wir haben schlechte Nachrichten für dich.« Jake hatte schon auf den Lippen, >Es ist wegen Amanda, ich weiß<, zu sagen, verkniff es sich aber. Er und seine Großnichte hatten ihr kleines Geheimnis schon zu lange bewahrt, als daß er es jetzt hätte preisgeben wollen. So wartete er trotz seiner Besorgnis, bis sie ihm alles erklärt hatten. Sie hätten ihm ohnehin nicht geglaubt. Wendy nötigte ihn, auf der Couch im Wohnzimmer Platz zu nehmen, und machte sich in der Küche zu schaffen, goß ihm eine Limonade ein und überlegte, was sie zum Abendessen bereiten sollte. Arriaga war es überlassen, ihrem Onkel die schlechten Nachrichten zu übermitteln. Der Fischer saß auf dem Sessel gegenüber der Couch und knetete nervös seine Hände ineinander. »... Wir sind also noch nicht sicher. Aber die Polizei meint, daß Amanda vielleicht entführt worden ist«, schloß er. Arriaga wartete auf die Reaktion des alten Mannes und war überrascht, als keine kam. Das mußte man dem alten Knaben lassen, dachte er, als er geendet hatte. Er nahm es mit Fassung auf. Es war schwer, 267 sich das vorzustellen; aber alte Leute verstehen sich manchmal recht gut darauf, ihre Gefühle vor anderen zu verbergen. Nach allem, was Wendy ihm erzählt hatte, war Pickett ein zäher alter Knabe. Hätte einen guten Fischer abgegeben. Und so meinte er etwas lahm in das Schweigen hinein, das sich seiner Enthüllung anschloß: »Und wie steht's mit dir, Jake? Wie geht's dir denn so?« »Das hat ja jetzt wohl nicht viel zu bedeuten, oder? Ich hatte schon das Gefühl, daß etwas nicht stimmte.« »Wirklich?« »Ja. Man hat es Wendy am Gesicht angesehen, als sie mir entgegenkam, um mich zu begrüßen. Amanda entführt?« Er schüttelte langsam und betrübt den Kopf. »Das gibt einfach keinen Sinn. Und die Polizei hat keine Ahnung, wer es getan hat oder warum?« Jake kannte die Antwort auf seine eigene Frage recht gut, war aber neugierig, wie die Behörden die Situation einschätzten. »Keiner weiß irgend etwas.« Arriaga konnte nicht länger stillsitzen; er stand auf und begann wieder auf und ab zu gehen. »Niemand hat etwas gesehen, niemand hat etwas gehört. Wir gingen am Morgen in ihr Zimmer, und sie war nicht mehr da. Sie war einfach aus ihrem Bett heraus verschwunden.« Er fuhr fort, die Theorie des FBIAgenten zu erklären, und schilderte auch den Zwischenfall an ihrem Kombiwagen. Jake hörte nur mit halbem Ohr hin und erinnerte sich an einige der letzten Nächte, wo er fast aus seinem Bett verschwunden wäre. Aber welche Veranlassung hätten die Leute, die sich für ihn interessierten, seine Großnichte zu entführen? Sie konnten doch unmöglich ihre besondere Fähigkeit entdeckt haben. Er dachte an all die Krimis,
die er im Fernsehen gesehen hatte. Das war eine recht primitive Ausbildung in Kriminologie, aber eine, die wenigstens ein bißchen weiterhalf. Er brauchte nicht lange, um sich zusammenzureimen, daß sie sie entführt hatten, um an ihn heranzukommen. 268
»Und niemand ist wegen eines Lösegelds oder so etwas an euch herangetreten?« »Nein«, sagte Arriaga. »Wäre ja auch beinahe komisch, daß jemand ausgerechnet uns eine Lösegeldforderung schicken würde. Wenn dieser Mann aus Houston recht hat, daß das dieselben Schweine sind, die versucht haben, unseren Kombi zu klauen, und die sie dann aus Rache mitgenommen haben, dann sollte es auch keine Lösegeldforderung geben. Bis dahin hat er recht.« »Dann hat also bisher niemand mit euch Kontakt aufgenommen?« Arriaga schüttelte kurz und zornig den Kopf. Jake konnte die Wut des Mannes fühlen, seinen Schmerz mit ihm teilen, und wie er, fühlte auch er sich völlig hilflos. Nein, völlig hilflos war er nicht. Vor seinem geistigen Auge blitzte die Erinnerung an explodierende Autos und fliehende Männer mit Revolvern auf. Die Erinnerung war unwirklich: wie ein Fernsehfilm, der in seinem Gehirn ablief. Etwas anderes hatte diese Autos veranlaßt zu explodieren; etwas anderes hatte die alte Brücke zusammenbrechen lassen, nicht er. Er war das nicht gewesen. Nicht der arme, alte, müde Jake Pickett. Wenigstens in seinem eigenen Bewußtsein versuchte er vor der Wahrheit zu fliehen; aber die Wahrheit holte ihn immer wieder ein. Die Erinnerungen wollten nicht verschwinden. Da war das erschreckte Gesicht des Jungen, der den Kleinlaster die Straße hinuntersteuerte, und Jakes Fuß auf dem Gaspedal. Und da war die Straßensperre vor ihnen - und die plötzliche Verwandlung in brennendes Metall. Und da war er selbst inmitten all des Geschehens und der Schmerz in seinem Hinterkopf, als die Dinge rings um ihn schlupft wurden und sich in Chaos auflösten. Und was nützte ihm das alles jetzt? Wenn nur seine liebe Amanda, die ihm so wichtig war, mit ihm in Verbindung treten könnte, auch wenn sie ihr Geheimnis nicht länger hüten konnten. Alles andere war für ihn jetzt bedeutungslos. Sag mir nur, wo die dich hingebracht haben, Mandy, dachte er wütend. Gib mir einen Hinweis, daß du noch lebst, eine 269
Andeutung, wo du dich befindest, und ich komme dich holen und werde nicht zulassen, daß jemand dir weh tut! Dein Onkel Jake wird nicht zulassen, daß jemand dir weh tut! Aber trotz seines stummen Flehens war da nichts - nur das gleiche, wahnsinnig machende, höhnische Schweigen in seinem Kopf; ein Schweigen, das er als viel beredter empfand, als Arriaga oder Wendy sich das vorstellen konnten. Er studierte das Gesicht von Wendys Vater, und dessen Ausdruck verstärkte seine Besorgnis. Diese Leute waren alles, was er an Familie hatte. Obwohl Amanda für ihn mit Abstand der wichtigste Mensch auf der Welt war, liebte er auch Wendy und diesen wortkargen Bullen von einem Mann, den sie sich ausgesucht hatte. Er hörte seine Nichte in der Küche rumoren, ahnte, wie sie mit den Tränen kämpfte, und sah, wie der hünenhafte Arriaga sich dagegen anstemmte, nicht einfach wie ein kleines Kind zu heulen. Nur er, als einziger in dem kleinen Haus, empfand kein Bedürfnis zu weinen, vielleicht weil er seit dem Tod seiner Schwester Catherine aufgehört hatte, so tiefe Gefühle zu empfinden. Aber vielleicht war es etwas anderes. Vielleicht war er zu zornig, um echte Sorge zu fühlen, weil er, im Gegensatz zu Amandas Eltern, wußte, wo die Schuld für diese Qual lag, und weil er sich recht gut vorstellen konnte, wer dahintersteckte. Arriaga hatte nichts, nur leere Ängste und seine eigene Phantasie und die Hypothesen des FBI-Agenten, und die reichten nicht aus, um sich an ihnen festzuhalten. »Mach dir keine Sorgen, Arri«, sagte er beschwichtigend zu dem Vater. »Das wird schon gut werden. Sie wird schon wieder auftauchen, wirst sehen.« »Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht«, antwortete der Fischer. »Alle versuchen das so positiv zu sehen: du, der Sheriff, der FBI-Agent. Alle sind sie so optimistisch, aber keiner weiß wirklich irgend etwas.« Er versetzte einem unsichtbaren Gegner einen Boxhieb und fing die Faust mit der anderen Hand auf. Unter dem Zorn und der Furcht lag ein 270
Anflug von Hysterie; einer Hysterie, die er gerade noch unter Kontrolle hielt. Jake war es ernst mit dem, was er gesagt hatte. Sie würden Amanda finden. Aber die Polizei hatte nicht die leiseste Ahnung von dem, was hier wirklich passiert war. Nur er wußte das. Also kam es ihm zu, sie zu finden. Und wenn er sie fand, würden die ihre Strafe finden, die das getan hatten. Er hatte sein ganzes Leben lang noch nie daran gedacht, einem anderen menschlichen Wesen Schaden zuzufügen, nicht einmal im Zweiten Weltkrieg, als der Feind bekannt und greifbar war. Wegen seiner Arbeit auf der Werft war er vom Dienst mit der Waffe befreit, und das hatte ihm die Notwendigkeit erspart, herauszufinden, wozu er fähig gewesen wäre. Er hatte sich nie etwas anderes gewünscht, als in Frieden gelassen zu werden und sein Leben in dem Haus auf dem Bergkamm zu verbringen und gut zu anderen Leuten zu sein, wie zu den Kindern in der Nachbarschaft, für die er seine Tricks vorführte. Und jetzt, wo das Ende seines Lebens nahte, änderte sich das alles. Er haßte diese Veränderung, diese Veränderung, die ihm von anderen aufgezwungen wurde. Für all das Böse gab es keinen Grund, und auch nicht dafür, daß man unschuldige Leute wie Arriaga und Wendy einer solchen Hölle aussetzte. Und es gab keinen Grund für die Dinge, die diese Leute während seiner Flucht versucht hatten ihm anzutun.
Und jetzt waren sie so weit gegangen, ein völlig hilfloses, unschuldiges junges Mädchen zu entführen. Ja, Jake war dabei zu entdecken, daß es ihm durchaus möglich war, echten Zorn zu empfinden. Der Zorn war noch klein, noch unter Kontrolle. Er war ganz anders als Arriagas kaum unterdrückte Wut, aber nichtsdestoweniger Zorn. Und wie er so dasaß und überlegte, was er als nächstes tun sollte, und zusah, wie sich Arriagas Gesicht in Sorge und Gram verzerrte, wuchs dieser Zorn immer weiter. 271 Somerset schaltete den Kassettenrekorder ab. Sie trug einen gelben Morgenrock mit orangefarbenem Saum. Er war bis hinunter zu ihrem Nabel offen und bot atemberaubende Perspektiven. Nur ein dünnes orangefarbenes Band hielt ihn in Hüfthöhe zusammen. Huddy lag im Slip auf dem Bett, und seine Gedanken befaßten sich mit dem Inhalt des Morgenrocks. Blick auf den Grand Canyon vom Toroweep Point aus, dachte er und grunzte selbstgefällig. »Das ist die letzte Aufnahme«, sagte sie zu ihm. »Wir hätten ihn in Abilene schnappen sollen«, murmelte Huddy. »Oder in Benson. Oder außerhalb von Phoenix. Alles wird immer komplizierter. Dabei schien es am Anfang so einfach, so leicht. Wir wollten ihn doch bloß schnappen und Navis zur Untersuchung übergeben.« Er lachte sarkastisch. Sie saß neben ihm auf dem Bett. »Es scheint dir richtig gutzutun, dir Sorgen zu machen, Benjy. Dabei ist doch alles unter Kontrolle. Du hast's doch gehört. Die Bullen haben nicht die leiseste Ahnung, was mit ihr geschehen ist.« »Ja. Aber jetzt das FBI ...« »Bullen, die Anzug und Krawatte tragen«, sagte sie beruhigend, fuhr mit ihrer schmalen Hand in seinen Slip und streichelte sein Glied. »Überlaß das nur Mama Somerset«, sagte sie beruhigend und spürte, wie seine Erregung wuchs. Sie war ein wenig verstimmt, daß ihm Pickett gar nicht aus dem Kopf gehen wollte, besonders wo sie einander seit Tagen nicht mehr gesehen hatten. »Und wenn sie jetzt die Wanzen finden, die wir den Ramirez ins Haus gepackt haben?« »Jetzt sag mir bloß, warum in aller Welt die nachsehen sollten, ob die Telefone angezapft sind!« sagte sie gereizt und zog ihre Hand zurück. »Du hast doch gehört, was sich der FBI-Agent für eine Theorie aufgebaut hat. Die suchen nach Autodieben außerhalb der Stadt.« »Pickett muß doch wenigstens ahnen, daß wir hinter allem stehen.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Du hast mir doch selbst 272
gesagt, daß der alte Mann nicht besonders intelligent ist. Nicht daß es darauf ankäme.« Sie legte ihm die Arme um den Hals und drängte sich an ihn. Er vergrub sein Gesicht in ihren Brüsten. »Morgen früh werden wir uns irgend etwas einfallen lassen, um Pickett von der Familie des Mädchens zu isolieren«, sagte sie. »Und dann nehmen wir mit ihm Verbindung auf. Das einzige, was du zu tun brauchst, ist, die Großnichte zu erwähnen, und dann wird er tun, was wir von ihm verlangen. Verstehst du denn nicht - es ist vorbei, erledigt. Ich gebe ja zu, es hat mehr Mühe gekostet, als wir erwartet haben. Aber das alles hat am Ende nichts zu bedeuten, solange wir nur Erfolg haben. Und Erfolg haben wir gehabt. Du wirst ihn holen, ihn zum Flughafen begleiten und mit ihm zurück nach L.A. fliegen und ihn dort deinem zahmen, verrückten Wissenschaftler übergeben. Und dann haben wir das, was wir wollen. Und was die Großnichte angeht, die werden wir einfach laufen lassen. Die ist so mit Drogen vollgepumpt, daß sie nie jemandem wird sagen können, wer sie aus ihrem Zimmer herausgeholt hat oder warum. Und da ihr kein Leid geschehen ist«, meinte Somerset und zuckte die Achseln, »bin ich sicher, daß ihre Familie die ganze Geschichte so schnell wie möglich wird vergessen wollen. Für das FBI und die Bullen von Port Lavaca wird der Fall damit abgeschlossen sein. Niemand ist geschädigt, es gibt keine Hinweise, die Eltern werden froh sein, daß sie ihre Tochter wiederhaben, und damit wird alles in die Akten wandern und vergessen werden. Und wenn Navis dann herausfinden kann, wie der alte Mann das macht, dann werden wir neuen Höhen zustreben, und im Vergleich damit wird die Präsidentschaft von CCM wie ein Trostpreis beim Abschlußball einer Phi-Delta-Verbindung aussehen.« »Hm«, grunzte Huddy. Er fühlte sich schon viel besser. Somerset schaffte es immer, daß er sich besser fühlte. »Wir werden das, was wir brauchen, aus ihm herausholen. Ich habe Navis keinerlei Einschränkungen auferlegt.« Er drehte 273
sich auf den Rücken und war endlich entspannt genug, um außer Jake Pickett auch noch an andere Dinge denken zu können. »Diesen Morgenrock hab' ich immer schon gemocht«, sagte er, zog das Band auf und öffnete ihn. »Was magst du denn daran am meisten?« Sie kniete über ihm und lächelte ihn an. »Daß man ihn ausziehen kann«, sagte er und griff nach ihren Brüsten. Sie zog ihm den Slip von den Hüften und ließ den Morgenrock von den Schultern gleiten. Der Traum kam ihr endlos vor. Er floß dahin, trüb und dunkel, und sie war sein Zentrum und schwebte in einem Meer des Nichts. Ein schwarzer Ozean trug sie, Sterne drängten auf sie ein, manchmal zu nahe. Es war warm und weich und irgendwie doch nicht sehr entspannend. Gelegentlich veränderten die Sterne ihren Ort, und einmal drängten sich riesige, verzerrte planetarische Körper
in den Traum und zermalmten ihn; Körper, die die Form menschlicher Gesichter annahmen. Diese kugelförmigen Gebilde schienen imstande zu sein, miteinander in irgendeinem planetarischen Ton zu sprechen. Aber das, was sie sagten, blieb ihr unverständlich. Zum Glück blieben sie nicht lange und ließen sie wieder in die Tiefen ihrer verschwommenen, unruhigen Träume sinken; ließen sie allein auf dem Rücken stützender Leere dahintreiben. Und dann begannen die Sterne am Traumhimmel plötzlich zu verblassen, begann der schwarze Ozean zu verdunsten. Jetzt waren da keine dunklen Wellen mehr, die sich sanft unter ihr bewegten, obwohl da immer noch etwas Weiches, Behagliches war, das sie stützte. Die Wellen verschwanden ganz, und nun bekam sie Angst, der leere Himmel könnte sie verschlingen. Und dann begann auch er sich zu bewegen, fiel zurück, verwandelte sich in ein schärfer werdendes Bild. Dann leuchtete der Himmel auf, wurde 274
zu einer Decke, und sie wußte, daß die Sterne nur eine Illusion auf ihrer Netzhaut gewesen waren. Langsam drehte sie sich zur Seite und bewegte sich fast ebenso behäbig wie die tiefen Stimmen, die über ihr hohle, würdevolle Laute erzeugt hatten. Das Bett, auf dem sie lag, war nicht ihr Bett und die Decke über ihr nicht die Decke ihres Schlafzimmers. Dort, wo das Fenster hingehörte, das ihr den Ausblick über die Bucht von Lavaca bot, glänzte statt dessen das große, unwissende Auge eines Fernsehers. Sie versuchte sich auf die Ellbogen zu stützen; aber das erwies sich als wesentlich schwieriger, als sich zur Seite zu wälzen. Und so begnügte sie sich damit, den Kopf einen Augenblick anzuheben, um den Rest ihrer Umgebung zu inspizieren. Das brachte den Himmel wieder zum Schwimmen, aber am Ende nahm er wieder seine Identität als Zimmerdecke an. Sie versuchte sich zu orientieren. Das war nicht einfach, weil sie das Gefühl hatte, daß der sie umgebende Raum jeden Augenblick wieder schmelzen und zusammenfließen könnte und sie damit in jene fälschlich sichere, homogene Traumwelt zurücksinken würde, der sie gerade erst entronnen war. Das Bett, auf dem sie lag, schien enorm groß; zum Teil war das die Folge ihres von Drogen herbeigeführten Zustandes und ihrer verzerrten Wahrnehmungen, aber groß war es dennoch. In der Nähe seines Fußbretts stand ein teuer aussehender Ankleidetisch, ein paar aufwendige Sessel und darüber hing ein Beleuchtungskörper, der Tränen aus Kristall zu weinen schien. Das einzige Fenster im Raum bot Ausblick auf den Himmel. Sie konnte die Sterne sehen, aber es waren nicht dieselben Sterne, die sie in ihrem Traum betrachtet hatte. Sie waren weit entfernt und echt. Das Licht im Raum kam von einem schwachen Nachtlicht, das in einer Steckdose in der Wand steckte. Alles war düster und gespenstisch. Das einzige helle Licht kam aus einer Fuge unter der Tür neben dem Frisiertisch. Und jetzt drängten die Erinnerungen in Windeseile auf sie ein. Die Leute in ihrem Schlafzimmer, ihrem wirklichen 275
Schlafzimmer: das war kein Traum gewesen, sondern nur zu wirklich. Ein Tuch, das man ihr auf Nase und Mund preßte, ein Sack über dem Kopf. Etwas, das sie in den Arm stach, und dann ... Die Anfänge des Traums, der über sie kroch und die Wirklichkeit beiseite schob. Sie, auf den Schultern von irgend jemandem, der sich schnell bewegte. Und dann noch schnellere Bewegung, aber viel glatter. Wie? In einem Flugzeug, einem Boot, einem Wagen? Wo war sie und warum? Mom und Dad mußten sich schreckliche Sorgen um sie machen. Das Telefon angezapft, Wanzen in der Lampe. Plötzlich wußte sie es. Sie wußte es. Diese Leute, die hinter ihrem Onkel Jake hergewesen waren, diese Leute hatten endlich beschlossen Ernstzumachen, nicht mehr herumzutändeln. Mit den Finessen war es jetzt vorbei; an ihre Stelle war brutale Kraft getreten. Sie schien sich in einem teuren Hotelzimmer zu befinden. In Port Lavaca jedenfalls gab es ganz bestimmt nichts so Prunkvolles. Houston vielleicht? Es war schwer zu sagen, weil sie keine Ahnung hatte, wie lange sie geträumt hatte. Jetzt konnte sie sich aufsetzen, etwas deutlicher sehen. Rechts vom Bett gab es eine weitere Tür, die ... ja, wohin führte? Sie wälzte sich zur Seite, griff mit den Händen nach dem Boden und stieß an den Bettsockel. Ihr Körper glitt schlangenhaft unter dem Laken hervor, und ihre Beine machten nur ein leises Geräusch, als sie auf den dicken Teppich fiel. Ein schwaches Murmeln kam unter der Tür durch, Stimmen, die sie einen verzweifelten Augenblick lang auf dem Boden erstarren ließen. Aber sie kamen nicht näher, und sie wagte wieder zu atmen. Die Anstrengung, die es ihr bereitet hatte, das Bett zu verlassen, hatte sie erschöpft. Sie wartete, bis das Zimmer zu schwimmen aufhörte, und bewegte sich dann auf die Tür neben dem Bett zu. Unter Einsatz ihrer Arme zog und schob sie sich über den Teppich, bis sie sich der Öffnung gegenüberfand. Badezimmer: eine außergewöhnlich große, ge276
schwungene Badewanne, eine separate Dusche etwas davon entfernt, ein Frisiertisch, Toilette und Bidet. Ein sehr elegantes Hotel, mutmaßte sie. Ein Telefon stand auf dem Nachttisch dicht neben dem Bett. Sie hatte es ignoriert, weil sie bezweifelte, daß die Menschen, die sie gefangen hatten, so dumm sein würden, ihr eine offene Leitung zur Welt draußen lassen würden. Es war schwieriger, sich über den Fliesenboden des Badezimmers zu schieben, aber sie schaffte es,
strebte auf die Badewanne zu. Über ihr war ein schmales Fenster, durch das sie den Mond sehen konnte. Die Badewanne stellte nur kurze Zeit ein Problem dar. Ihre Wand war schlüpfrig, aber ihre Arme waren wesentlich kräftiger als die eines durchschnittlichen sechzehnjährigen Mädchens. Sie stützte sich mit beiden Händen auf den Wannenrand und drückte nach unten, hob ihren Körper in die Höhe und drehte sich im letzten Augenblick, so daß ihre Hüften seitwärts schwangen. Das keramische Material fühlte sich durch ihr dünnes Nachthemd kalt an, als sie sich setzte und durchatmete. Sie ruhte für ein paar Augenblicke aus und sah zum Fenster hinaus. Aus einem Blumentopf auf der anderen Seite der Badewanne stiegen Pflanzen wie dünne Schatten auf, aber sie versperrten ihr nicht die ganze Sicht. Sie konnte freien Himmel sehen und den Mond - denselben Mond, der durch das Fenster ihres Schlafzimmers schien, nur daß sie keine Ahnung hatte, wie weit entfernt sie davon war. Mit Hilfe ihrer Hände schwang sie die gelähmten Beine in die Wanne. Indem sie die Handgriffe benutzte, die für ältere Gäste vorgesehen waren, schaffte sie es, sich bis zur anderen Seite der Wanne vorzuschieben. Wieder stemmte sie sich hoch, und dann saß sie auf dem Blumentopf, ohne auf die Pflanzen zu achten, die sie dabei zerdrückte. Ihr Gesicht preßte sie gegen das Fenster, und sie konnte nicht nur nach draußen, sondern auch nach unten sehen. Sie sah einen zweiten Mond, der Widerschein des ersten, der sich in einem unbekannten Gewässer spiegelte. Die 277
Bucht von Lavaca? Dieselbe Bucht, die sie von ihrem Fenster zu Hause aus sehen konnte? Oder hatte man sie weiter die Küste hinaufgebracht oder hinunter, in Richtung auf Corpus Christi zu? Jenseits der ein gutes Stück entfernten, schmalen, sandigen Landzunge, die sich nach Norden und Süden erstreckte, waren keine Landmarken zu erkennen. Das könnte die Halbinsel von Matagorda sein, dachte sie. Oder die Insel Matagorda. Oder Padre Island. Oder ein halbes Dutzend andere Formationen im Golf. Aber zumindest war sie noch an der Küste. Und sie war sicher, daß sie nicht lange genug besinnungslos gewesen war, um weit über Land gereist zu sein. Der Mond am Himmel schien auf Zypressen, Eichen und Mesquitesträucher herunter. Links von ihrem Gefängnis konnte sie zwei lange Docks erkennen, die sich ins Wasser hinaus erstreckten. An einem davon war ein kleines Frachtboot vertäut. Indem sie sich gegen die Glasscheibe preßte, versuchte sie nach unten zu sehen und wurde mit dem Anblick einiger mächtiger Röhren und Leitungen belohnt. Darunter war das Pflaster und ein Rattennest kleinerer Röhren und Kabel zu erkennen. Sie füllten ihr ganzes Gesichtsfeld und schickten Tentakel aus Metall auf die Docks zu und ins Wasser hinaus. Hinter einem gepflasterten Weg war ein schmaler Strand zu erkennen, der nur ein paar Meter breit war. Rechts von ihr war ein schmales, dünnes Dock, das neben seinen größeren kommerziellen Brüdern ärmlich wirkte. Ein paar private Motorboote schmiegten sich daran. Während sie hinausstarrte, sah sie einen Schlepper, der einen langen Frachtkahn zog. Sie blickte ihnen nach, bis die Boote verschwunden waren. Ein Blick auf den klaren Spätsommerhimmel zeigte vertraute Sterne an vertrauten Orten. Die Wasserstraße verlief nord-südlich. Daß dort draußen Lastkähne verkehrten, deutete auf einen geschützten Kanal. Das, was sie sah, war also ein Teil der hinter der Küste verlaufenden Wasserstraße von Texas, derselben Wasser-Fernstraße, die auch durch die Lavaca278
Bucht verlief. Das bestätigte ihre Vermutung in bezug auf ihren Aufenthaltsort noch mehr. Sie war mit ihrer Familie einige Male diese Küste hinauf- und hinuntergereist. Das Gebäude, in dem sie sich befand, war gute drei oder vier Stockwerke hoch. Und nur in Galveston oder Corpus Christi gab es so hohe Hotels am Wasser. Es sei denn, ihre erste Vermutung war falsch, und bei ihrem Gefängnis handelte es sich gar nicht um ein Hotel. Aber gab es denn andere Gebäude mit einem so luxuriösen Raum wie diesem, ein paar Stockwerke über dem Wasser? Von Galveston bis zur mexikanischen Grenze gab es nur isoliert stehende große Industrieanlagen. Corpus Christi lag an einer weit geschwungenen Bucht, und sie konnte weder im Norden noch im Süden etwas erkennen. Und in Galveston würde es Spaziergänger am Wasser geben, und davon waren keine zu sehen. Wahrscheinlich hatte man sie an einen viel isolierteren Ort gebracht. Doch das hatte nichts zu besagen. Es gab eine Person, die in jedem Fall imstande war, sie zu finden. Sie zögerte, überlegte gründlich, ehe sie ihn kontaktierte. Er war ein alter, müder Mann mit einem schwachen Herzen. Aber sie wußte nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Sie hatte Angst, und es war ja nicht so, daß er hilflos gewesen wäre. Schon lange nicht mehr. Sie schloß die Augen und griff, wie sie das ihr ganzes bewußtes Leben lang getan hatte, mit aller Kraft, derer sie fähig war, nach draußen. »ONKEL JAKE!« Der Schrei weckte Pickett auf, als hätte er einen Schock erlitten. Er schickte sich instinktiv an, aus dem Bett zu steigen, beruhigte sich aber dann und stellte sich auf das Lauschen ein. »Bist du das, Mandy?« »Ja, ich bin's, Onkel Jake. Bei dir alles in Ordnung? Wo bist du?« »Mir geht's gut, Mandy. Ich bin bei deinen Eltern. Alle glauben, ein paar zornig gewordene Autodiebe hätten dich 279
entführt. Sie denken, man hätte dich mitgenommen, aus Rache für die Leute, die dein Dad verprügelt hat.« »Ich bin entführt worden, aber nicht von denen. Von ...« »Ich weiß, von wem«, sagte er wortlos und unterbrach damit ihren Gedanken. »Ich habe es gleich gewußt. Bist du auch ganz sicher, daß dir nichts fehlt? Du klingst so seltsam.« »Die haben mich unter Drogen gesetzt, Onkel Jake. Sie haben mich weggeholt und mir Drogen gegeben. Ich bin gerade erst aufgewacht, und ich weiß nicht, wieviel Zeit ich habe, ehe sie hereinkommen und mir wieder Drogen verpassen.« Sie beobachtete jetzt die Badezimmertür und nicht mehr das Bild, das sich ihr vor dem Fenster bot. »Ich weiß nicht einmal, wie lange ich geschlafen habe.« »Die haben dich letzte Nacht geholt, Prinzessin. Ich bin erst heute hier angekommen.« »Also war ich nur einen Tag weg. Dann bin ich sicher, daß ich nicht weit von zu Hause weg bin!« »Wo bist du, Mandy? Sag mir nur, wo du bist, dann komm' ich und hol' dich. Ich bringe jeden Polizisten mit, den ich zwischen hier und dort, wo du bist, finden kann.« »Nein, Onkel Jake. Ich ... ich habe vor dem Angst, was passieren könnte, wenn diese Leute glauben, daß sie ihre letzte Chance verloren hätten, dich zu manipulieren. Wenn sie ein Rudel Polizeiwagen heranfahren sehen, könnten sie mich woanders hinbringen oder ... oder vielleicht etwas anderes tun. Du mußt alleine kommen und mich holen, Onkel Jake! Du mußt es versuchen! Ich glaube auch, daß du es kannst. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.« »Wenn du meinst, daß das das Beste ist, Mandy, dann werde ich es tun. Und jetzt sag mir endlich, wie ich zu dir komme!« »Das kann ich dir nicht genau sagen, Onkel Jake. Ich bin irgendwo an der Küste, in einem Badezimmer, drei oder vier Stockwerke über der Erde. Das Fenster geht auf den Inlandskanal hinaus, du weißt schon: den Schiffskanal. Es ist ein sehr luxuriöses Zimmer, aber ich glaube nicht, daß es ein 280
Hotel ist. Ich kann das Wasser sehen und den Mond und Schiffe, die sich bewegen. Es gibt hier eine Menge große Rohre und Leitungen und riesige Docks mit einem Frachtschiff. Es muß irgendeine Art von Fabrikanlage sein. Und so, wie du dich anfühlst, bist du nicht weit von mir entfernt, Onkel Jake.« »Du auch nicht, Prinzessin. Mach dir keine Sorgen, ich hol' dich dort raus. Und dann schicken wir diesen Leuten die Polizei. Aber erst wenn du in Sicherheit bist.« »Sei sehr vorsichtig, Onkel Jake!« »Das werd' ich sein, Mandy. Die werden mich nicht erwarten. Ich wette, die haben vor, am Morgen mit mir Verbindung aufzunehmen und mir zu sagen, daß sie dich haben. Und dann werden sie sagen, daß ich jetzt tun müßte, was sie von mir verlangen. Ich muß jetzt kommen und dich holen, ehe die herausfinden, daß ich nicht mehr hier bin. Ich bin sicher, die wissen, daß ich hier bin.« Er zog sich leise an, schlüpfte in seine ausgebeulten Socken und band sich die Schuhe zu. »Das ist richtig, das hätt' ich fast vergessen. Die haben das Haus verwanzt, Onkel Jake, also haben sie auch ganz bestimmt jemanden, der es beobachtet.« »Ich werde durchs hintere Fenster hinausklettern«, sagte er. »Das Fenster kenne ich gut. Du hast mir die letzten zehn Jahre oft geholfen, durch dieses Fenster nach draußen zu sehen.« Er lächelte und fragte sich, ob sie wohl auch seine Gefühle wahrnehmen konnte. »Ich habe in letzter Zeit gelernt, wie man durch Fenster klettert.« »Wenn du es schaffst, das Haus zu verlassen, ohne daß dich jemand sieht, dann sollte alles in Ordnung sein, Onkel Jake. Dann kannst du hierher kommen und mich holen, und dann schleichen wir uns hier hinaus und gehen zur Polizei. Wir ... wir werden ihnen alles sagen müssen, Onkel Jake. Über dich und mich, meine ich, sonst glauben die uns nie.« »Ich weiß, Prinzessin. Ich hab' auch nie gedacht, daß wir unser Geheimnis immer für uns behalten können.« 281
»Wie geht's Mom und Dad?« Das waren jetzt Gedanken und Gefühle, wie sie ein kleines Mädchen hat, und die Furcht begann nun, die Oberhand über den sonst so vernünftigen Teenager zu gewinnen. »Die ängstigen sich um dich, das kannst du dir ja denken«, dachte er zu ihr zurück. »Sie wissen nicht, was mit dir passiert ist, oder warum es passiert ist, und ich kann sie ja schlecht aufwecken und es ihnen sagen, oder?« »Nein. Komm jetzt und hol mich hier heraus, Onkel Jake! Dann gehen wir zur Polizei, und dann wird wieder alles gut sein. Selbst wenn wir unser Geheimnis preisgeben müssen.« »Ich kann das Haus verlassen, ohne daß die mich sehen«, sagte er, während er sich das Hemd zuknöpfte. »Aber wie komm' ich zu dir? Die werden die Busstation und die Straße beobachten, bis sie mich haben. Den Wagen deiner Eltern kann ich nicht nehmen, denn da würden die mich sofort entdecken. Und wenn sie die Straßen beobachten, kann ich mich auch nicht von irgend jemandem mitnehmen lassen. Prinzessin, ich kann ... ich kann fühlen, wo du bist, aber das ist viel zu weit entfernt von hier, um zu Fuß zu gehen.« »Ich weiß, Onkel Jake. Ich bin dicht am Kanal. Geh hinter das Haus und bieg nach Norden ab! Ein paar Straßen weiter die Seemauer hinauf gibt es ein kleines schwimmendes Dock, wo alle Leute in der Umgebung ihre Privatboote untergebracht haben. Praktisch alle Leute, die wir kennen, haben ein Ruderboot oder so etwas ähnliches, um damit zu fischen. Nur Dad nicht. Er fischt nicht gerne zum Spaß. Vielleicht findest du eines, das du anlassen kannst. Das mußt du, Onkel Jake!« »Mach dir keine Sorgen, kleines Mädchen«, dachte er. »Ich werd' schon etwas finden. Ist 'ne ganze Weile her,
daß ich das letzte Mal eine Zündung kurzgeschlossen habe.« »Vielleicht brauchst du das gar nicht, Onkel Jake. Das hier ist nicht Los Angeles. Die Leute hier schließen ihre Sachen nicht ab, wie sie das in den Großstädten tun.« »Ich hoffe, du hast recht, Prinzessin. Ich bin jetzt fertig.« 282
Er stand in dem dunklen Zimmer, verarbeitete ihre Gedanken und orientierte sich an etwas Unerklärlichem und doch schrecklich Realem. Aber so schwierig war das gar nicht. Er hatte sein Bewußtsein viele Jahre lang an dem ihren orientiert. Sie war ... in der Richtung. Er trat ans Fenster; das Fenster, durch das er so oft hinausgeblickt hatte, während er in Riverside im Bett lag. Es ließ sich leicht öffnen, und er sah sich vorsichtig in dem schmalen Hinterhof um und blickte zur Seemauer dahinter. Niemand war zu sehen. Wenn freilich dort draußen jemand war, der so etwas berufsmäßig tat, und wenn dieser Jemand sich nicht sehen lassen wollte, dann war es unwahrscheinlich, daß Jake ihn entdecken würde. Aber du mußt Opitmist sein, nicht Pessimist, sagte er sich. Eine leichte Brise wehte von der Bucht herein und kühlte die Luft. Über den Korridor hörte er den gleichmäßigen Atem von Wendy und Arriaga, die in ihren Betten lagen und schliefen. Er schwang ein Bein über den Fenstersims, dann das andere und stieß sich ab. Niemand hielt ihn auf, als er im Schutz von Büschen und Bäumen auf die Seemauer zukroch. Wenn ich in der Armee gewesen wäre statt auf der Schiffswerft, wüßte ich jetzt, wie man das macht, dachte er. Aber sie hatten keinen Anlaß, die Hinterseite des Hauses zu bewachen; keinen Anlaß, damit zu rechnen, daß Jake sich mitten in der Nacht davonschlich. Er erreichte die Mauer, warf einen letzten Blick auf das Haus zurück und kletterte dankbar die Felsen hinunter. Bis jetzt machte ihm sein Herz keine Schwierigkeiten. Im Augenblick gab es für ihn auch viel zuviel nachzudenken, um irgendwie in einen gefährlichen Spannungszustand zu geraten. Solange er keinen Hundertmetersprint hinlegen mußte, sollte ihm eigentlich nichts fehlen. Und wenn doch, dann hatte er seine Medizin in der Brusttasche, und die würde dann schon ihr Zauberwerk tun. Im Schutz der Seemauer bewegte er sich in nördlicher Richtung auf dem meterbreiten Streifen aus Sand und Kies. Die Mauer bot ihm völligen Sichtschutz vor irgendwelchen 283
Beobachtern auf der Landseite. Zehn Minuten später erreichte er das Dock, das Amanda ihm beschrieben hatte; ein flaches Rechteck aus alten Planken und Balken. Es war außen mit alten Autoreifen behängt, und zahlreiche Boote tanzten daran auf und ab wie Ferkel, die an den Zitzen einer Muttersau hängen. Das Klatschen der Wellen gegen die Bootsrümpfe war ein beruhigendes Geräusch in der Nacht. Die ersten zwei Boote, die er untersuchte, waren ebenso gut gesichert wie ein Wagen in einer Seitenstraße in Los Angeles. Aber im dritten lagen die Schlüssel vor dem Steuersitz auf dem Boden. Er hatte bisher noch nie ein Boot gelenkt; aber nachdem er die Kontrollen und die Instrumente sorgfältig inspiziert hatte, fand er nichts Unverständliches daran und war überzeugt, daß er damit zurande kommen würde. Tatsächlich bereitete es ihm viel größere Schwierigkeiten, die Leinen aufzuknüpfen, die das Boot am Dock festhielten, als dann den Motor anzulassen. Er hoffte nur, daß das große Haus in der Nähe nicht ausgerechnet dem Besitzer des Bootes gehörte. Der Diesel erwachte polternd zum Leben, als er den Schlüssel im Schloß drehte. Das war auch nicht viel anders als einen Wagen zu steuern, wenn er auch zweimal gegen das Dock stieß, ehe er herausgefunden hatte, wie man den Rückwärtsgang einlegte. Noch einen Augenblick, und dann kroch er in die Bucht hinaus. Das Wasser war ruhig, und die neue Empfindung war angenehm. Nicht die leiseste Andeutung von Seekrankheit; bis jetzt jedenfalls nicht. Nach einigem Experimentieren mit den verschiedenen Schaltern schaffte er es, die Fahrtlichter und einen kräftigen, nach vorne gerichteten Suchscheinwerfer einzuschalten. »So ist's gut, Onkel Jake.« Amanda hatte ihn nie ganz verlassen. Sie hatte nur, während er sich auf das Boot zugearbeitet hatte, alberne, unsinnige Gedanken gedacht. »Ich kann fühlen, wo du bist. Das ist jetzt viel leichter als damals, als du in Kalifornien warst.« »Ich bin auch viel näher bei dir, Prinzessin.« 284
»Du mußt jetzt einen großen Bogen machen. Nach Norden zu und dann eine Kurve zurück nach Süden.« »Wenn du meinst, Mandy.« Er drehte das Steuer und wurde immer zuversichtlicher, je länger er das Boot lenkte. Wenn die Umstände, die zu diesem nächtlichen Ausflug geführt hatten, nicht so schlimm gewesen wären, hätte er sogar Spaß machen können. »Nein, warte! Jetzt stimmt's nicht mehr«, flüsterte sie ihm zu. »Halt dich nach Norden!« Gehorsam schwang er das Steuer herum und genoß es, wie das Boot darauf reagierte. »So ist's besser, viel besser. Du kommst auf mich zu, Onkel Jake. Das spüre ich. Ich werde ... ich werde auf deiner Backbord ... deiner linken Seite sein.« »Ich weiß, wo backbord ist«, dachte er zu ihr zurück. Ich mag vielleicht noch nie ein Boot gesteuert haben, aber Schiffe gebaut hab' ich genug.« Sie wandte sich wieder den monotonen Reimen zu, mit denen sie nicht mit ihm kommunizierte, sondern ihn nur lenkte. Das sind die Drogen, dachte er. Kein Wunder, daß sie die letzten Tage nicht mit ihm hatte in Verbindung treten können. Je mehr er von den Leuten wußte, die aus ihm ein Versuchskaninchen machen wollten, desto
weniger Mitgefühl brachte er für sie auf. Wie seltsam, einmal zur Abwechslung echten Haß zu empfinden! Vielleicht war er sein ganzes Leben lang zu nett gewesen. Er seufzte. Ein wenig spät, kehrtzumachen und siebzig Jahre Entscheidungen zu verändern. Jetzt wollte er nur noch eines: Er wollte diese Leute ein für allemal los sein und sicherstellen, daß sie seine Großnichte oder ihre Familie nie mehr belästigten. Um sich selbst war er nicht so besorgt. Wenn jemand anderer ein paar Tests an ihm durchführen wollte, die Regierung zum Beispiel, dann würde er das vielleicht sogar zulassen. Aber nicht diese Leute, nein. Nicht nach dem, was sie ihm und anderen Menschen angetan hatten. Aber Mandy tat ihm leid. Wenn sie den Behörden ihr Geheimnis enthüllten, war sie diejenige, die sich ein Leben 285
lang Tests würde gefallen lassen müssen. Aber wie sie schon gesagt hatte: Es gab wohl keinen anderen Weg. Er wollte ein paar Möwen sehen. Amanda hatte sie ihm so oft gezeigt. Aber diese vernünftigen Vögel schliefen tief in ihren unsichtbaren Nestern. So konnte er nur hin und wieder einen Kranich sehen, der zwischen der Bucht und dem Mond flog und in die Nacht hinausschrie. Abgesehen von solchen vereinzelten Weggenossen, herrschte mit Ausnahme des stetigen Dröhnens der Maschine und dem Klatschen des Wassers gegen die Bootsflanken, Stille. Einmal mußte er nach steuerbord lenken, um einem kleinen Frachtschiff auszuweichen, das den Kanal herunter auf ihn zukam; aber dafür hatte er genügend Platz. Er war für die klare Nacht und den hell leuchtenden Mond dankbar. Durch Dunkelheit und Nebel zu steuern, wäre selbst mit Amandas Hilfe unmöglich gewesen. Die Nadel der Tankanzeige deutete auf voll; er brauchte sich also keine Sorgen zu machen, daß ihm der Treibstoff ausgehen würde. Hoffentlich hatte Amanda recht, und sie war nicht zu weit entfernt. Aber die Entführer hatten dazu keinen Anlaß, weil sie doch damit rechnen konnten, ihn in ihre Kontrolle zu bekommen, sobald sie ihm sagten, daß sie seine Großnichte hatten. Böse, gemeine Leute. Seine knorrigen Finger krampften sich um das Steuer. »Mach dir keine Sorgen, Prinzessin«, dachte er in die Nacht hinaus, während er über den Bug spähte. »Dein Onkel Jake wird dich herausholen und dich an einen Ort bringen, wo du sicher bist. Und keiner von diesen Leuten wird dich jemals wieder belästigen. Warte nur!« Zu seiner Linken sah er die Lichter einzelner Farmen. »Ich warte, Onkel Jake«, dachte sie zurück. »Ich weiß, daß du mich holen kommst. Ich spüre, daß du die ganze Zeit näherkommst. Es tut mir leid, daß ich dir solche Mühe mache.« »Warum sollte es dir leid tun? Ich bin doch schuld. Wenn ich nicht wäre, würdest du jetzt zu Hause in deinem eigenen Bett liegen, warm und behaglich. Aber mach dir keine 286
Sorgen, Prinzessin! Morgen nacht wirst du wieder dort schlafen.« Er konzentrierte sich grimmig auf ihre mentalen Rufe und versuchte mit seinen eigenen Gedanken die Resonanz herzustellen, während er das Ufer nach den Gebäuden absuchte, die sie ihm beschrieben hatte. 287
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»Und vergiß nicht«, sagte Huddy, während er die Tür öffnete und aus dem Fahrersitz glitt. »Wir wollen ihn nur herausholen. Es kann sein, daß er sich am Anfang ein wenig sträubt, ganz besonders wenn er mich erkennt. Ich werde die Eltern etwas beiseite nehmen, und dann flüsterst du ihm zu, daß wir die Großnichte haben. Inzwischen sollte er über sie Bescheid wissen. Die hatten ja die ganze Nacht Zeit, es ihm zu sagen. Und sobald er das hört, wird er ganz bestimmt ruhig und friedlich mitkommen.« »Mach dir um mich keine Sorgen.« Somerset stieg auf der gegenüberliegenden Seite aus. So hätte man das von Anfang an anpacken müssen, dachte sie. Wir hätten uns die Großnichte in dem Augenblick holen sollen, als der alte Mann Kalifornien verließ. Sie konnte Huddy zwar sein Widerstreben gegenüber so extremen Maßnahmen nachfühlen, aber der Zweck heiligt die Mittel. Und Picketts jetzt in vollem Maß enthüllte Fähigkeit rechtfertigte ganz sicher die Entführung des Mädchens. In einigen Dingen hatte Benjamin unrecht gehabt; aber in bezug auf Pickett nicht. Und auch in einem anderen Punkt hatte er recht gehabt: Dieses Projekt bot wirklich grenzenlose Chancen. Es gab überhaupt keine Grenzen. Niemand konnte sagen, was Pickett ihnen einbringen würde. Der Morgen stellte sich mit Wolken und Feuchtigkeit ein; nicht gerade Hurrikan-Wetter, aber typisch für die Sommergewitter, die die Küste von Südtexas heimzusuchen pflegten. Dicke, schwere Tropfen klatschten auf die Wind288 schutzscheibe des Mietwagens, als sie in die von Bäumen gesäumte Straße einbogen. Huddy eilte die Stufen zur Veranda hinauf. Ein untersetzter, muskulöser Latino öffnete die Tür und musterte seine Besucher neugierig. Huddy war ein wenig überrascht. Es war das erstemal, daß er Arriaga Ramirez zu Gesicht bekam. Nach dem Bericht der Männer, die die Sache mit dem Kombi verpatzt hatten, hatte er mit einem viel größeren Mann gerechnet. Wenn er auf jemanden herabblicken konnte, erzeugte das in ihm ein Gefühl der Überlegenheit. »Hallo!« sagte Ramirez höflich. »Was kann ich für Sie tun?« »Wir sind vom Büro«, erklärte Huddy. Wenn Ramirez eine weitergehende Identifizierung verlangte, würden sie
gezwungen sein, ihm ihre gefälschten FBI-Ausweise zu zeigen. Aber Ramirez gab sich damit zufrieden, und Huddys Atem ging etwas leichter. Sie hatten sich ohnehin schon einiger Übertretungen schuldig gemacht; aber sich als FBI-Beamte auszugeben, gehörte bis jetzt noch nicht dazu. Aber die Welt war voll von Büros. Der Fischer runzelte die Stirn und trat zur Seite, um sie einzulassen. Dabei blickte er an ihnen beiden vorbei auf den Wagen, der am Randstein parkte. »Wo ist Roeland? Der Agent, der gestern hier war?« »Der kommt später», sagte Huddy beruhigend. »Wir sind von einer anderen Abteilung.« Das schien Ramirez zu befriedigen. »Haben Sie schon etwas über meine Tochter in Erfahrung gebracht?« fragte er. »Bis jetzt noch nicht, Sir«, sagte Somerset. »Wir geben uns große Mühe.« Während sie ins Wohnzimmer gingen, machte sie ihm ein Kompliment über sein Haus. Armselige, kleine Hütte, dachte sie. Wendy Ramirez kam aus der Küche. Sie trug eine Schürze, die nicht richtig gebunden war. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet und geschwollen. 289
»Es tut mir leid«, fing Somerset an. »Wir haben Ihrem Mann gerade gesagt ...« »Sie wissen nichts Neues«, sagte Arriaga mit bedrückter Stimme zu seiner Frau. Er schob sich an ihnen vorbei, um den Fernseher auszuschalten. »Wir sind eigentlich gekommen, um noch ein paar Fragen zu stellen«, erklärte Huddy. »Ich wüßte nicht, was wir Ihnen noch sagen könnten und nicht schon neulich Ihrem Compadre Roeland gesagt haben«, antwortete Arriaga. »Wir wollen diese Fragen nicht Ihnen stellen«, erklärte Somerset. »Man hat uns informiert, daß ein Verwandter von Ihnen, ein gewisser Jake Pickett aus Kalifornien, bei Ihnen zu Besuch ist. Mit ihm wollen wir sprechen.« »Onkel Jake?« Wendys Blick wanderte zwischen den beiden Besuchern hin und her. »Er mag Amanda schrecklich gern, aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß er Ihnen behilflich sein könnte. Er ist erst gestern hier eingetroffen.« »Das wissen wir.« Huddy lächelte. »Deshalb würden wir ihn gerne befragen. Man kann ja nie wissen, was er auf dem Weg in die Stadt vielleicht gesehen oder gehört hat.« »Wenn er etwas gesehen oder gehört hat, dann hat er uns gegenüber davon nichts erwähnt«, meinte Arriaga. »Manchmal bleiben wichtige Einzelheiten unbemerkt, bis man sie aus einem Zeugen herausholt«, sagte Huddy. »Wir möchten so gründlich wie möglich sein. Es dauert ja nur ein paar Minuten.« »Ich bin sicher, daß Onkel Jake Ihnen gerne helfen wird.« Wendy warf ihrem Mann einen Blick zu, und der zuckte gleichgültig die Achseln. »Ich glaube nicht, daß das schaden könnte. Aber versuchen Sie ihn nicht aufzuregen. Er hat ein schwaches Herz. Ich geh' ihn holen.« Ein etwas unbehagliches Schweigen machte sich breit. Schließlich brach Arriaga es, indem er mit zu Boden gerichtetem Blick sagte: »Ich kann immer noch nicht verstehen, warum jemand so etwas tut. Amanda hat in ihrem ganzen 290 Leben nie jemandem etwas getan. Das Leben ist unfair zu ihr gewesen. Wenn diese Leute sich rächen wollen, dann sollen sie doch zu mir kommen. Warum sich ein unschuldiges, körperbehindertes Mädchen aussuchen? Manchmal... manchmal denke ich wirklich, die Welt wird verrückt.« »Mr. Ramirez, wir begreifen, was Sie durchmachen«, sagte Somerset besänftigend. »Wir haben Grund zu der Annahme, daß man Ihnen Ihre Tochter in aller Kürze zurückgeben wird und daß ihr das, was sie erlebt hat, keinen Schaden zugefügt haben wird.« Huddy warf ihr einen warnenden Blick zu, aber sie ignorierte ihn. Ramirez' Kopf fuhr in die Höhe; plötzlich war er wachsam. »So? Aber der andere Agent hat gesagt...« »Wir hatten zu bestimmten Informationen Zugang. Seien Sie nicht überrascht, wenn Ihnen Ihre Tochter vielleicht schon morgen zurückgegeben wird.« »Können Sie das versprechen?« »Wir können gar nichts versprechen«, warnte ihn Somerset. »Es gibt immer noch eine Anzahl von Variablen, die die Dinge komplizieren könnten. Aber ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß alles sich zum Besseren wendet. Sie sollten versuchen, sich nicht so viele Sorgen zu machen.« »Es ist gut, sie so reden zu hören«, sagte Arriaga, »weil wir ...« Er verstummte, als er den Blick sah, den seine Frau ihm zuwarf, als sie wieder ins Wohnzimmer kam. »Arri, hat Jake heute morgen einen Spaziergang gemacht? Du weißt ja, daß er gerne herumläuft. Ich dachte, er sei vielleicht weggegangen, ohne es mir zu sagen.« Arriaga schüttelte den Kopf. »Ich hab' ihn seit gestern abend nicht mehr gesehen.« Damit war für Ruth Somerset das Zeichen gegeben, ihre guten Manieren zu vergessen. Sie eilte an Wendy Ramirez vorbei. Doch da war niemand - weder im Gästeschlafzimmer, noch im Badezimmer oder im Schlafzimmer des Mädchens oder irgendwo sonst im hinteren Teil des Hauses. Eine Minute später war sie wieder im Wohnzimmer. »Er ist 291 weg!« herrschte sie Huddy an und wandte sich - jetzt alles andere als betulich freundlich - Wendy zu. »Sind Sie auch ganz sicher, daß Sie Ihren Onkel nicht haben hinausgehen sehen und auch nicht wissen, wo er sein könnte,
Mrs. Ramirez?« »Ja, ganz sicher. Ich nehme an, er macht einen seiner üblichen Morgenspaziergänge. Er wird bald zurückkommen. Wenn Sie auf ihn warten möchten, dann mach' ich uns Kaffee.« »Ein andermal. Danke.« Huddy war bereits halb zur Haustür draußen und ließ ein durch und durch verwirrtes Ehepaar zurück. Er konnte nur mit Mühe mit Somerset Schritt halten, als sie zum Wagen rannte. »Wo mag der alte Bastard wohl sein?« »Das fragst du mich?« knurrte Somerset ihn an. »Niemand hat ihn hinausgehen sehen. Auf den Bändern von gestern abend ist nichts, wie du wohl weißt, also kann er unmöglich mit dem Mädchen in Verbindung gewesen sein, selbst wenn sie es irgendwie geschafft hat, an ein Telefon zu kommen.« Huddy ließ den Motor aufheulen, und die Reifen des Wagens quietschten, als er die Straße hinunter davonschoß. Arriaga und Wendy Ramirez standen auf der Veranda und blickten ihnen nach, wie der Wagen mit quietschenden Reifen um die nächste Ecke bog. »Das ist doch verrückt!« murmelte Arriaga. »Verrückt! Noch vor einem Augenblick war diese Frau so zuversichtlich. Und jetzt drehen sie plötzlich durch, weil Onkel Jake einen Spaziergang macht. Ich versteh' das nicht.« Wendy Ramirez lehnte sich an die Schulter ihres Mannes und sagte nichts. Der kurze, merkwürdige Besuch hatte ihre Gefühle aufgewühlt. Jetzt hielt sie sich an dem einzig stabilen Teil ihres Lebens fest und versuchte ihr Zittern zu unterdrücken. Somerset und Huddy sparten es sich, in das Motelzimmer zurückzukehren. Huddy raste auf den Parkplatz eines Ho292
ward Johnson's und trat das Bremspedal ruckartig durch. Somerset hatte die Tür offen, ehe der Wagen ganz zum Stehen gekommen war. Ihr verblüffend gutes Gedächtnis lieferte ihr die Nummer, und so brauchte sie nur Sekunden, um mit der VIP-Suite in der Raffinerie verbunden zu sein. Der junge Angestellte hinter der Verkaufstheke blickte neugierig auf den im Leerlauf vor sich hingrummelnden Wagen und die elegante Frau in der Telefonzelle. Drew nahm den Hörer ab und wunderte sich darüber, daß schon so früh ein Anruf kam. Er trug nur Sporthosen, ein weißes Hemd mit offenem Kragen und eine .45 in einem Schulterhalfter. Er ließ das Telefon dreimal klingeln, ehe er abnahm, und hielt das Magazin, in dem er gerade las, mit der anderen Hand. »Hier Drew«, sagte er mit leiser Stimme. Drew war immer leise. Es war nahezu unmöglich, ihn aus der Fassung zu bringen, was einer der Gründe war, weshalb seine Dienste so geschätzt wurden. In seiner Tätigkeit war Unauffälligkeit eine Tugend. »Drew, hier Somerset. Ich komme jetzt in die Fabrik.« Als keine Antwort kam, fügte sie hinzu: »Ruth Somerset, die Partnerin von Benjamin Huddy.« »Ich kenne den Namen, Lady. Wo ist Mr. Huddy?« »Im Wagen. Er wird mit mir kommen.« »Warum der Anruf? Ich dachte, heute würde alles erledigt werden.« »Das dachten wir auch. Wir waren im Haus der Eltern. Der alte Mann ist nicht da, und sie wissen nicht, wohin er gegangen ist.« »Nun, hier ist er jedenfalls nicht aufgetaucht«, teilte Drew ihr mit. »In diesem Stockwerk habe ich nur die normale Empfangssekretärin gesehen und den Jungen, der das Essen aus der Küche bringt. Sonst niemanden. Ich war die ganze Zeit hier.« »Was ist mit dem Mädchen? Ist sie immer noch dort, wo sie hingehört?« »Sofern sie nicht im Schlaf fliegen gelernt hat«, sagte 293
Drew ein wenig sarkastisch. Als Ruth Somerset todernst antwortete, war er etwas überrascht. »Gehen Sie nachsehen und vergewissern Sie sich, daß sie noch da ist! Ich warte hier.« »Wie Sie wünschen, Ma'am.« Verblüfft schüttelte er den Kopf, drückte einen Knopf an der Telefonkonsole und legte den Hörer ab. Typisch, dachte er. Macht ihr wohl Spaß, Befehle zu erteilen, bloß um zu sehen, daß man ihr gehorcht. Arrogantes Biest. Nun, das gehörte eben mit zu dem Job. Er sperrte die Tür auf, die das Schlafzimmer vom Wohnzimmer trennte, und trat ein. Als er das leere Bett sah, versetzte ihm das einen gewaltigen Schock; aber Drew war nicht der Typ, der in Panik geriet, wenn er mit dem Unerwarteten konfrontiert wurde. Dazu war er schon mit zu vielen schwierigen Situationen fertig geworden. Das Mädchen war also nicht im Bett. Sie war aus ihrem Drogenschlaf erwacht und kroch irgendwo herum. Das war nicht gut, aber keineswegs bedrohlich. Und da war sie auch - im Badezimmer; sie saß auf dem Rand der Badewanne und starrte zum Fenster hinaus. »Gefällt dir der Ausblick?« Als sie seine Stimme hörte, zuckte sie zusammen, wandte den Kopf und funkelte ihn an. Er war mindestens eine Minute lang dagestanden, ehe sie ihn bemerkt hatte, und das bedeutete, daß sie immer noch unter Drogeneinwirkung stand. Und vor dem Fenster war nichts Sehenswertes, nur Sonne und Wasser und unerreichbare Freiheit.
»Du hättest mich rufen können, wenn du so dringend gemußt hast«, sagte er mit einem unangenehmen Grinsen. »Ich hätte dich gern getragen.« »Gehen Sie hinaus!« sagte sie gepreßt. »Gehen Sie hinaus und lassen Sie mich allein!« »Aber sicher. Warum auch nicht?« Er machte kehrt und verließ das Badezimmer. Als er wieder im Wohnzimmer zurück war, hob er den Hörer auf und drückte den Knopf, um die Verbindung wiederherzustellen. »Somerset?« 294
»Ja?« »Sie ist hier. Ist ins Klo gekrochen. Die Wirkung von dem Zeug, das Sie mir geschickt haben, muß nachgelassen haben. Ich werd' ihr eine neue Dosis verpassen und sie wieder ins Bett schaffen, sobald wir ausgeredet haben.« Er wartete geduldig und konnte hören, wie sie mit jemand anderem sprach. Wahrscheinlich Huddy. Dann sagte sie in den Apparat: »Wir wissen nicht, wo der alte Mann ist. Er kann natürlich nicht wissen, wo das Mädchen ist. Sie hatte doch nicht etwa Zugang zu einem Telefon oder so etwas?« »Was denn - Sie sind wohl verrückt! Sie wissen doch, daß im Schlafzimmer keine Leitung ist, und ich bin an dem Apparat hier gesessen, seit man sie hergebracht hat. Außerdem ist sie bis jetzt im Land der Träume gewesen. Glauben Sie, sie ist zum Fenster hinausgekrochen, um von einem anderen Zimmer aus zu telefonieren?« »Nein. Nein, natürlich nicht«, sagte Somerset, die sich inzwischen wieder etwas wohler fühlte. Wahrscheinlich war Pickett tatsächlich nur spazieren gegangen. Sie würden im Laufe des Nachmittags zum Haus seiner Nichte zurückkehren, um ihn abzuholen. Jetzt ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie so ängstlich reagiert hatte. Aber Drew war ein ganz anderes Problem. Seit Huddy ihn eingeschaltet hatte, hatte sie ihm gegenüber eine instinktive Abneigung empfunden. Aber an seiner Diskretion und seinen Fähigkeiten bestand kein Zweifel; sie würde also seine Unverschämtheit wohl noch eine Weile hinnehmen müssen. »Es gibt eine entfernte Chance, daß der alte Mann vielleicht herausgefunden hat, wo das Mädchen festgehalten wird.« »Ich wüßte nicht, wie«, antwortete Drew knapp, »es sei denn, auf Ihrer Seite ist jemand nicht dicht gewesen.« Somersets Nackenhaare sträubten sich bei der Andeutung, aber sie hielt ihr Temperament im Zaum. Morgen würden sie den Mann nicht mehr brauchen. 295
»Über Schuldzuweisungen reden wir später, falls das nötig sein sollte. Im Augenblick müssen wir unsere Leute ausschicken, damit sie sich nach Pickett umsehen. Ich bin sicher, daß er über kurz oder lang in das Haus der Nichte zurückkehren wird. Es gibt sonst keinen Ort, an den er gehen kann. Vielleicht sitzt er irgendwo und meditiert, wer weiß? Wahrscheinlich werden wir ihn in der Stadt ausfindig machen.« »Sicher. Vielleicht trinkt er irgendwo eine Tasse Kaffee«, pflichtete Drew ihr bei. »Kein Grund, nervös zu werden, Ma'am.« »Ich bin nicht nervös«, erwiderte Somerset keineswegs überzeugend. Verdammt, wie sie diesen arroganten Schläger verachtete! »Behalten Sie nur das Mädchen im Auge. Falls der alte Mann doch dort auftauchen sollte, drücken Sie ihr den Revolver gegen den Kopf und halten den Mann fest, bis wir kommen, verstanden? Tun Sie ihm nicht weh, und versuchen Sie ja nicht, ihn selbst zu packen. Halten Sie ihn hin, bis wir kommen. Vergessen Sie nicht, daß er gefährlich ist.« »Das behaupten alle die ganze Zeit«, seufzte Drew und schaffte es, dabei gelangweilt zu klingen. »Sie hätten in Abilene dabei sein sollen.« »Ja, davon hab' ich gehört. Die haben dort alle durchgedreht und ihn entwischen lassen ... erneut entwischen lassen. Wenn er hier auftaucht, dann sorge ich dafür, daß Sie ihn hübsch verpackt hier abholen können, Ma'am.« »Denken Sie daran, Sie halten ihn am besten im Schach, indem Sie das Mädchen bedrohen!« »Wie Sie meinen, Miss Somerset«, sagte Drew mit leicht spöttischem Unterton. »Wir sind gleich bei Ihnen. Tun Sie, was man Ihnen gesagt hat!« Sie hängte auf. Drew war danach, ins Telefon zu spucken, aber er hielt nicht viel von überflüssigen Gesten. Und so begnügte er sich damit, darüber nachzudenken, was er mit diesem arroganten Miststück anfangen würde, wenn er je die Gelegen296 heit dazu bekäme. Er legte den Telefonhörer auf und überlegte, was als nächstes zu tun war. Das Mädchen hätte nicht im Badezimmer sein dürfen. Die Drogendosis hätte ausreichen sollen, um sie bewegungsunfähig zu halten. Aber Drew konnte sich nicht vorstellen, daß irgend etwas passiert war. Jedenfalls ersparte ihm das die Mühe, die Bettlaken zu wechseln. Das war ein weiterer Teil seiner Arbeit. Nicht daß es ihm etwas ausmachte. Er wurde reichlich bezahlt, und es gab schmutzigere Arbeit, als Bettlaken zu wechseln. Aber er mußte sie wieder ins Bett bringen. Leute in ihrer Situation fühlten sich manchmal veranlaßt, unsinnige Dinge zu tun, zum Beispiel aus einem Fenster zu springen. Falls das Mädchen auf die Idee kam und man sie draußen vom Pflaster wischen mußte, dann würde das bei seinen Auftraggebern keinen besonders guten Eindruck machen und seinem beachtlichen Ruf sehr schaden. Da war es einfacher, sie wieder schlafen zu legen; einfacher für ihn und einfacher für sie. Nicht daß letzteres für ihn besondere Bedeutung hatte. Er ging wieder ins Schlafzimmer und sperrte die Tür hinter sich ab. Sie saß
immer noch auf dem Wannenrand und starrte zum Fenster hinaus in die Bucht unter ihr. »Also, kleine Lady. Für heute hatten Sie Ihren kleinen Ausflug. Zeit, wieder in die Heia zu geh'n.« »Rühren Sie mich nicht an!« Ihr Protest war so jämmerlich, daß er nicht einmal lachen konnte. Er trat einfach vor und nahm sie mit seinen mächtigen Armen auf. Sie schlug vergeblich mit den Fäusten auf ihn ein. Aber er wandte einfach den Kopf ab und ignorierte ihre Schläge. Der Transport vom Badezimmer ins Schlafzimmer war, wenn auch kurz, nicht gerade unangenehm. Seine Hände strichen über ihren Körper, als würde er ein Möbelstück betasten. Fast widerstrebte es ihm etwas, sie auf das große Bett zurückzulegen. Nachdem er sie dort abgesetzt hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück und holte ein kleines Plastiketui aus einer 297 Schreibtischschublade. Sie enthielt ein paar glitzernde Injektionsspritzen und einige kleine Flaschen mit dünnen Deckeln. Er setzte eine saubere Nadel auf eine der Spritzen, stach sie durch den Membranverschluß eines Fläschchens und zog die Spritze langsam auf. Dann verschloß er das Etui, legte es in die Schublade zurück und ging wieder ins Schlafzimmer. Als Amanda die Nadel sah, hörte sie auf zu schreien und ihn zu beschimpfen. Sie preßte sich ins Bett und wimmerte. Drew bereitete das ungeheures Vergnügen. Er richtete die Nadel nach oben und spritzte ein wenig von der klaren Flüssigkeit in die Luft. »Du bist ein sehr unartiges Mädchen gewesen, Amanda. So heißt du doch, haben die mir gesagt: Amanda? Du müßtest viel ruhen, hat man mir gesagt.« »Nein, bitte!« Sie wich an das andere Ende des Bettes zurück. »Sie brauchen mir keine Spritze mehr zu geben. Ich werde schlafen, wenn Sie das wollen. Ich werde im Bett bleiben.« »So? Wirst du das?« Es machte ihm Freude, mit ihr zu spielen. Dieser Auftrag hatte sich als ganz besonders langweilig erwiesen, und demzufolge war jede Ablenkung willkommen. Als er sie zum Bett zurückgetragen hatte, hatte er ihre Wärme gespürt, und seine Hände prickelten immer noch davon. Sie war ein verdammt hübsches Ding, wenn man von den Beinen absah. Aber seine Anweisungen waren eindeutig: Dem Mädchen durfte kein Schaden widerfahren. Drew hatte immer seinen Stolz dareingesetzt, daß er seine Anweisungen befolgt hatte, ganz gleich, wie schwierig sie auch gewesen waren, und zwar auf den Buchstaben genau. Aber wie er so dastand und sie studierte, überlegte er, daß es viele Möglichkeiten gab, den Begriff Schaden zu beschreiben. Er konnte das doch immer auf ein Mißverständnis schieben. Ja, so würde man das wohl auslegen können. Körperlicher Schaden - nun, solange das Mädchen keinen offensichtlichen Schaden erlitt ... 298
Oh, Somerset und Huddy würden ein großes Geschrei veranstalten, wenn sie ihm draufkamen; aber mit Geschrei allein würde er schon zurechtkommen. Es war ja nicht so, daß er sich in offensichtlichen Widerspruch zu seinen Anweisungen setzen würde; er hatte einfach einen Teil davon falsch interpretiert. Und wenn das Mädchen nachher wieder genügend Beruhigungsmittel verpaßt bekam, dann würden Somerset und Huddy wahrscheinlich gar nichts davon erfahren. Außerdem war er es nun verdammt leid, in diesem winzigen Wohnzimmer herumzuhocken und die Angestellten wegzuschicken, die gelegentlich auftauchten und die Fragen des Raffinerieleiters ausweichend zu beantworten. Barker war ein wichtigtuerischer, unglücklicher kleiner Mann, der seine ganze Frustration an Drew ausließ. Aber Drew hörte ihm zu, anstatt ihm den Hals zu brechen, weil das zu seinen Obliegenheiten gehörte. Ja, er hatte sich wirklich eine kleine Zusatzprämie verdient. Während er das alles im Geiste abwog, ruhte sein Blick wie hypnotisiert auf dem schlaffen Körper des Mädchens. Der untere Teil ihrer Beine war dünn, ja geradezu verkümmert; aber von den Schenkeln aufwärts war sie genau richtig. Nein, er würde sie nicht verletzen; nicht physisch jedenfalls; nicht so, daß man es sehen konnte. Vorsichtig legte er die Spritze beiseite. »Weißt du, was ich glaube, Kleine? Ich glaube, die Bettmitte ist genau der richtige Platz für dich. Da du so brav bist und hierbleiben wirst, denke ich, werde ich dir jetzt keine Spritze verpassen.« Das würde wirklich Spaß machen, dachte er. Einen Riesenspaß. Nicht nur, daß das VIP-Apartment absolut offlimits und völlig schalldicht war, würde er zur Abwechslung hier einmal jemanden zum Spielen haben, der sich nicht wehren konnte. Er setzte sich in Richtung Bett in Bewegung. Amanda beobachtete ihn. Er mußte den Mut, der in ihrem Schweigen zum Ausdruck kam, bewundern. Seine Intentionen waren 299
sicherlich unverkennbar. Dann zuckte er die Achseln. Sie würde früh genug zu schreien anfangen. Was er nicht wußte, war, daß sie längst heftig, ja verzweifelt schrie, und daß die einzige Person auf der Welt, die sie hören konnte, ihren Schrei vernahm. Jake gab sich Mühe, sich zu beeilen, während er das Motorboot in das Dock unter der Raffinerie lenkte. Er sah die Aufschrift Consolidated Chemical and Mining auf dem Lagerhaus neben dem großen Dock, wo der Frachter vertäut war. Der Anblick des Namens versetzte ihn nicht in Erstaunen; er hatte ihn erwartet. Was mochte wohl hier raffiniert werden? Die Anlage war wesentlich größer, als er erwartet hatte. Da er noch nie ein Boot am Dock angelegt hatte, mußte er sich damit begnügen, den Motor abzuschalten und das
Boot auf den schmalen, mit Sand und Kies bedeckten Strandstreifen laufen zu lassen. Dann sprang er ins seichte Wasser, holte das Tau aus dem Boot und schlang es ungeschickt um eine der Pflöcke, die er am Dockende vorfand. Während er noch damit beschäftigt war, hallten Amandas verzweifelte Schreie durch sein Bewußtsein: urtümliche, wortlose Schreie. Sie ähnelten den Schreien, die er manchmal mitanhörte, wenn sie ein heftiger Alptraum quälte. Danach pflegte sie sich aus dem fernen Texas bei ihm zu entschuldigen, und sie beide schliefen dann wieder ein. Aber jetzt war sie nicht weit entfernt und wurde von einem Alptraum mit einer Eindringlichkeit heimgesucht, die ihm Schrecken einjagte. Er hastete ein paar Betonstufen hinauf und fand sich auf einem gepflasterten Weg, der in ein Labyrinth von Rohren und Bauwerken hineinführte. Amanda, die seine Verwirrung und seine Unsicherheit fühlte, unterdrückte ihre Panik so weit, um ihn weiterzulenken. Während sie sich abmühte, mit ihrem Verstand ihren Onkel zu dirigieren, benutzte sie ihre Stimme, um damit ihren Bewacher aufzuhalten. Er saß am Bettrand. Seine schwielige rechte Hand strich über ihren Schenkel. Und bei jeder dieser lieblosen Liebko300
sungen forschten seine Finger ein wenig höher. Das Schlimmste daran war, daß sie die Finger nicht spüren konnte. Wenn sie anfing, sie zu spüren, würde sie noch mehr Grund zum Schreien haben. Er grinste sie an; ein schiefes, kaltes Grinsen. »Bitte!« flüsterte sie. »Wenn Sie das schon tun müssen, warum geben Sie mir dann nicht jetzt die Spritze?« »Warum sollte ich denn das tun wollen?« sagte Drew mit weicher Stimme. »Ich glaube, es wird mir mehr Spaß machen, wenn du bei Bewußtsein bist.« »Ich werde schreien, so laut ich kann.« »Nur zu! Schrei so viel du willst! Wir befinden uns hier weit über dem Teil der Anlage, wo gearbeitet wird. Und außerdem ist dieser Raum schalldicht. Das hat man gemacht, damit wichtige Gäste nicht durch den Lärm der Raffinerie gestört werden. Aber jetzt wird das dafür sorgen, daß andere nicht durch deine Schreie gestört werden.« Sein Grinsen wurde breiter. »Mich werden sie nicht stören. Aber warum willst du denn so häßlich sein? Ich würde viel lieber nett zu dir sein. Meinst du nicht, daß das eine viel bessere Idee wäre?« Sie zwang sich, ihn anzulächeln; das war das Schwierigste, was sie je getan hatte. »Vielleicht ... aber Sie müssen sich mehr Zeit lassen. Sie ... Sie machen das alles viel zu schnell für mich. Wenn ... wenn Sie sich Zeit lassen, dann will ich ... dann will ich versuchen, ein bißchen nett zu Ihnen zu sein.« »Nein, das wirst du nicht«, erklärte er entschieden. »Dazu bist du nicht der Typ. Nach allem, was man mir gesagt hat, bist du ein richtiger Schlaukopf, eine, die alles besser weiß. Viel zuviel Hirn für so ein hübsches Gesicht. Ich glaube, du hast genausowenig vor, nett zu mir zu sein, wie ich nicht vorhabe, nett zu dir zu sein.« »Aber Sie haben doch gerade gesagt ...« »Da hab' ich gelogen. Ich wollte bloß sehen, wie du reagieren würdest. Außerdem, warum sollte ich mir denn die Mühe machen, dir die Beruhigungsspritze zu geben? Zur 301
Hälfte bist du ja ohnehin dauerhaft ruhiggestellt.« Ein Lachen platzte aus ihm heraus, so gut gefiel ihm sein Witz. Eine Hand senkte sich auf Jakes Schulter. Er fuhr herum und sah sich einem ernst blickenden jungen Mann im Schutzhelm gegenüber. »He, Alter, wie sind Sie denn hier reingekommen? Das hier ist Sperrgebiet. Besucher haben hier keinen Zutritt. Sie könnten verletzt werden.« Jake überlegte fieberhaft; dabei arbeitete sein Verstand so langsam, so verdammt langsam! Er beneidete Amanda um ihre Schnelligkeit. »Ich will nur einen Freund besuchen. Dort drüben.« Er deutete auf das Verwaltungsgebäude in der Ferne. Der junge Mann überlegte einen Augenblick. »Dann sind Sie aber ganz schön vom Weg abgekommen. Okay, zeigen Sie mir Ihren Passierschein!« Jake tat so, als würde er in seinen Hemd- und Hosentaschen suchen. Dann sah er den jungen Mann ausdruckslos an. »Den muß ich irgendwo verloren haben. Ich lauf oft mit den Händen in den Taschen herum. Wahrscheinlich ist er mir dabei rausgefallen.« »Soso. Ich will Ihnen was sagen, Alter: Sie sagen mir jetzt, wenn Sie besuchen wollen, und ich besorg' Ihnen einen neuen Passierschein. Wie war' das?« Seine Hand ruhte dabei immer noch auf Jakes Schulter. »Oh, das ist schon in Ordnung.« Jake versuchte sich der Hand zu entziehen, aber das gelang ihm nicht. Der Griff, mit dem der junge Mann ihn festhielt, war nicht abzuschütteln. »Ich find' den Weg schon.« »Nein, ich glaube, es ist besser, wir besorgen Ihnen einen neuen Passierschein. Ihrem Freund macht es ganz bestimmt nichts aus, wenn er ein paar Minuten warten muß.« Sein Tonfall klang jetzt so, als wolle er sich entschuldigen. »Sehen Sie, wenn ich Sie ohne Passierschein reinlasse und jemand das erfährt, dann reißen die mir den Kopf ab. Woher weiß ich denn, daß Sie nicht einer aus der Zentrale sind, den 302
man geschickt hat, um unsere Wachsamkeit zu überprüfen? Die Firma ist sehr sicherheitsbewußt. Die machen
die ganze Zeit solche Tests.« Er schickte sich an, Jake mit sich zu ziehen. Jake wußte nicht recht, was er machen sollte, und so ging er mit. Das Verwaltungsgebäude begann hinter ihm zu versinken, verschlungen von einem Dschungel weißer Rohre. »He, Stan!« rief der junge Mann einem anderen Arbeiter zu. Der ältere Kollege schloß sich ihnen an und beäugte Jake neugierig. »Dieser alte Mann hier sagt, er sei hier, um jemanden in der Verwaltung zu besuchen. Er will seinen Passierschein verloren haben. Was meinst du? Sollte ich ihn hineinlassen?« Der Schutzhelm des älteren Arbeiters war rot, und nicht orange wie der des Mannes, der Jake festhielt. »Wen wollen Sie denn besuchen?« fragte er Jake. Das ging alles viel zu schnell für Jake. Sein Herz begann warnend gegen seine Rippen zu pochen. »Einfach einen Freund«, erwiderte er schwächlich. Der Mann ihm gegenüber lächelte nicht. »So, einfach einen Freund, wie? Einen Namen hat Ihr Freund wohl nicht?« »Sicher hat er einen. Es ist nur ...« Jake sah sich verzweifelt um. Hinter den beiden Männern ragte eine gigantische Stahlkugel ein paar Stockwerke hoch in den Himmel. Rohre und Schläuche gingen von der Kugel aus, wie Fäden von einem weißen Garnknäuel. Er fing an, sich auf die Kugel zu konzentrieren, und dachte über ihr Inneres nach. Da dies eine Raffinerie war, enthielt die Kugel ohne Zweifel irgendeine Flüssigkeit, wahrscheinlich irgend etwas, das man aus Petroleum machte. Es war schwer, etwas, das man nicht sehen konnte, schlupft zu machen, dachte er schmerzerfüllt; schwer, aber nicht unmöglich. Plötzlich ertönte auf dem Laufgang, der über ihnen durch die Luft führte, ein Alarm. Ebensoschnell wandte sich die Aufmerksamkeit beider Männer der Metallkugel zu. »Oh, du große Scheiße!« sagte der alte Mann überrascht. »Was, zum Teufel, hat sich denn da überhitzt?« 303
Jemand schrie von einem anderen Laufgang zu ihnen herunter: »Nummer drei! Drei ist auf zweihundert!« »Du großer Gott!« murmelte der ältere der beiden Arbeiter. »Ich hab' denen schon tausendmal gesagt, daß die zuviel einfüllen.« Er rannte auf eine Leiter zu. »He, wart mal, Stan!« schrie der jüngere. »Was mach' ich denn mit ihm da?« Er deutete mit dem Daumen auf Jake. »Bring ihn zur Sicherheitsabteilung, Bob!« Er hatte die Leiter zu dem obersten Laufsteg schon halb erklettert. Rings um sie tauchten jetzt Männer und Frauen aus verschiedenen Bereichen der Fabrik auf. Die Alarmglocke schrillte unablässig durch die morgendliche Stille. »Sie haben gehört, was Stan gesagt hat, Alter.« Der junge Arbeiter war jetzt nicht mehr besonders freundlich. »Kommen Sie, gehen wir!« Er zerrte an Jakes Hemd. Der Eimer, der den Arbeiter traf, war nicht groß, aber er war halb voll Feuersand und fiel aus genügend großer Höhe, um ihn zu veranlassen, Jake loszulassen. Seine Hand griff nach dem Kopf, während er benommen rückwärts taumelte. Er starrte Jake noch einen Augenblick lang mit glasigen Augen an, dann stürzte er zu Boden. Sein Schutzhelm schützte seinen Schädel, aber nicht sein Bewußtsein. An der Wand über ihnen, dicht an dem zweiten Laufgang, hatte sich ein Haken gelöst. Der Haken hatte den Eimer festgehalten, der auf den Laufgang gefallen war, dessen Mittelstück sich aufgelöst hatte, so daß der Eimer durchfallen und den Kopf des jungen Mannes treffen konnte. Jake nahm sich nicht die Zeit, über diese neueste Manifestation seiner lang verborgenen Fähigkeit nachzudenken. Er war unendlich weit über die Fähigkeit hinausgewachsen, Kronenkorken zu lösen. Jetzt rannte er, so schnell er konnte, auf das Verwaltungsgebäude zu. Sein Verstand drängte ihn zur Eile, sein Herz verlangte, daß er langsamer wurde. Diesmal behielt sein Verstand die Oberhand. Männer rannten an ihm vorbei, ignorierten ihn aber, weil sie auf die Stelle zustrebten, wo immer noch die Alarm304
glocke schrillte. Niemand blieb stehen, um ihn fragen, wo er hinwollte, Niemand hielt ihn auf, als er durch die Empfangshalle des Verwaltungsgebäudes eilte und in einen der Aufzüge stieg. Er fand vier Knöpfe an der Wand: die Stockwerke eins bis drei und darüber der letzte Knopf mit der Aufschrift PH. Er drückte ihn mit dem Daumen. Die Türen öffneten sich in einen Korridor, der wie der Eingang zu einem teuren Restaurant eingerichtet war. Rechts saß eine Frau hinter einem Schreibtisch. Amanda war jetzt sehr nahe, das wußte er. Er spürte es. Er schickte sich an, an dem Schreibtisch vorbeizugehen. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte die adrett gekleidete junge Frau, »aber ohne Sondergenehmigung dürfen Sie hier nicht vorbei.« »Ich muß«, sagte Jake gehetzt. »Meine Großnichte ist dort hinten. Und wenn ich nicht zu ihr gehe, wird ihr etwas Schreckliches passieren.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir.« Das freundliche, professionelle Lächeln der jungen Frau verschwand von einem Augenblick zum anderen. »Aber eines weiß ich: Hier dürfen Sie nicht durch!« Jake ging einfach weiter. Die Frau griff in eine Schublade ihres Schreibtische, zog eine eindrucksvoll große Pistole heraus und richtete sie auf Jakes Brust. »Wirklich, Sir, ich muß leider darauf bestehen, daß Sie jetzt sofort stehen bleiben!« Ihre andere Hand griff nach dem Telefon. »Wenn Sie bitte einen Augenblick warten
würden.« Jake starrte den Korridor hinunter und hörte sie kaum. Eigentlich wirkte sie recht nett auf ihn. Vermutlich war sie für das, was nur ein paar Meter von ihr entfernt gerade vor sich ging, nicht verantwortlich. Er wollte ihr nicht weh tun. Und so blieb die Pistole, die sie in der Hand hielt, intakt; nur mit ihren Kleidern geschah das, was mit dem Lappen in dem Motel in Benson geschehen war. Die junge Frau starrte verblüfft den Haufen farbiger Fäden an, die plötzlich zu ihren Füßen lagen, und vergaß den alten Mann völlig. Ein seltsames kleines Geräusch entrang sich ihrer Kehle. Dann 305
versuchte sie vergebens, ihre Blöße zu bedecken, und rannte, die Pistole immer noch in der Hand, an den Aufzügen vorbei auf die Damentoilette. Jake eilte den Korridor hinunter, vorbei an einer Tür, einer zweiten und hielt schließlich an der am Ende des Gangs inne. Der Türknopf leistete keinen Widerstand, weil das Schloß plötzlich zu einem Häufchen grauen Staubes geworden war. Die Tür führte in einen kleinen, wohnzimmerähnlichen Raum, der elegant mit einer Couch, zwei Sesseln, einem Tisch, einem Fernseher und anderem imitierten französischen Mobiliar eingerichtet war. An der Wand war eine wohlbestückte Bar zu erkennen. Er rannte durch den Raum, stieß eine Tür auf und trat in das dahinterliegende Zimmer. 306
17 Verblüfft blickte Drew vom Bett auf. Er hatte sich auf Amanda gewälzt, hielt mit einer Hand ihre Hände fest, während er mit der anderen an seiner Gürtelschnalle fummelte und mit den Knien die Beine des Mädchens auseinanderdrückte. Jetzt ließ er die Gürtelschnalle los, drehte sich langsam um und bewegte sich von dem Mädchen weg, bis er auf der Bettkante saß. Die beiden Männer musterten einander prüfend. Das also ist der alte Mann, dachte er ruhig. Wie er es nur geschafft hat, so weit zu kommen? Er erinnerte sich an die ständigen Warnungen Huddys und Somersets. Jetzt, wo er sich dem Mann gegenübersah, dem diese Warnungen galten, fiel es schwer, sie Ernstzunehmen. Drew konnte sich nicht erinnern, je ein weniger drohend wirkendes Individuum zu Gesicht bekommen zu haben. Der Atem des alten Mannes ging keuchend, sein Gesicht war gerötet, und hin und wieder zuckte er sichtlich unter einem inneren Schmerz zusammen. Er sah nicht so aus, als würde er irgend jemand außer sich selbst gefährlich werden können. Und dennoch ... jener Teil von Drews Bewußtsein, der ihn oft aus Situationen gerettet hatte, die für weniger vorsichtige Männer den Tod bedeutet hatten, veranlaßte ihn, über das nachzudenken, was bekannt war und nicht nur über das, was sich seinen Augen darbot. Er empfand tiefen Abscheu vor Somerset und Huddy, aber gleichzeitig auch Respekt. Schwachköpfe waren sie ganz sicher nicht. Und 307
deshalb bestand immerhin eine entfernte Möglichkeit, daß dieser Mann gefährlicher war, als er aussah. Drew hatte Benson nicht vergessen. Und so blieb er ganz nahe bei dem Mädchen, streckte die Hand aus und legte sie sanft, aber besitzergreifend auf ihre Kehle. Amanda holte scharf Luft, leistete aber keinen Widerstand. Kluges Mädchen, dachte er. »An Ihrer Stelle würde ich nicht näher kommen, alter Mann«, sagte er leise. »Ich weiß immer noch nicht genau, was Sie tun können und was nicht. Aber ich brauche nur mit meinen Fingern ein wenig kräftiger zu drücken, und dann ist mit dieser kleinen Lady hier Schluß. Das wollen Sie nicht, und ich will es auch nicht. Tun Sie also nichts, was mich nervös machen könnte, okay?« Jake wußte nicht, was er tun sollte, und stand verwirrt da. Amanda starrte ihn flehentlich an, regte sich aber nicht. »Versetze ihn nicht in Panik Onkel Jake!« dachte sie zu ihm. »Bedränge ihn nicht! Wir werden uns etwas überlegen, aber du darfst diesen Mann nicht unter Druck setzen. Er würde mich wirklich töten.« Sein Herz schlug wie ein Dampfhammer gegen seine Rippen. Aber jetzt war nicht die Zeit, eine Medizin einzunehmen. Außerdem bestand durchaus die Möglichkeit, daß der Mann auf dem Bett einen Griff in die Hemdtasche auf gefährliche Weise mißverstehen könnte. So starrten sie einander an; Jake, unfähig zu entscheiden, was er tun sollte, und Drew, der überlegte, wie er am besten andere über seine Situation informieren könnte. Doch dies sollte sich schnell als überflüssig erweisen, weil in dem Augenblick Huddy atemlos ins Zimmer platzte, dicht gefolgt von der ebenfalls beunruhigten Somerset. Jake Pickett überkam eine seltsame Ruhe, als er dem jungen Mann in die Augen sah und seinem Blick standhielt. »Mr. Huddy. Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen, aber Ihre Anwesenheit habe ich oft verspürt. Sie sind wirklich sehr daran interessiert, daß ich mich diesen Untersuchungen unterziehe, nicht wahr?« 308
»Ganz ruhig, Jake«, sagte Huddy. Sie hatten ihn, dachte er erleichtert! Endlich hatten sie ihn! Das wichtigste war jetzt, ihn dazu zu bringen, daß er sich beruhigte. »Regen Sie sich nicht auf! Dazu gibt es keinen Anlaß. Vergessen Sie Ihr Herz nicht!«
»Komisch, aber das bedeutet mir gar nichts mehr«, murmelte Jake leise. »Im Augenblick tut es weh, aber irgendwie macht es mir nichts aus.« Er stellte fest, daß er beinahe lächeln konnte. »Jake«, sagte Huddy und lächelte ebenfalls, sein breites, eingeübtes, zähnefletschendes, falsches Managerlächeln, »ich bin überzeugt, daß wir uns einigen können. Ich weiß, daß es die letzte Woche ziemlich übel ausgesehen hat, aber das lag nur an ein paar übereifrigen Leuten, die im Widerspruch zu meinen Anweisungen ihre Befugnisse überschritten haben. Ich habe bereits veranlaßt, daß sie angemessen bestraft werden. Sie und ich, wir haben doch damit nichts zu tun, oder?« Er streckte die rechte Hand aus und trat einen Schritt vor. »Keinen Schritt weiter, Mr. Huddy!« sagte Jake mit eisiger Stimme. »Haben Sie gehört? Keinen Schritt!« Huddy erstarrte. Er war sich der Decke über seinem Kopf und des Bodens unter seinen Füßen eindringlich bewußt. Sie hatten jetzt eine wesentlich bessere Vorstellung von dem, wozu Pickett imstande war. Wenn er fähig war, Revolver und Wagen und Brückenpfeiler in ihre Bestandteile aufzulösen, dann gab es für ihn keinen Zweifel, daß er das gleiche auch mit Böden und Decken machen konnte. Also wich er den einen Schritt wieder zurück, ganz langsam und vorsichtig, immer noch das leere Grinsen im Gesicht, als wäre es dort eingefroren. »Sagen Sie ihm da - diesem Mann«, fuhr Jake fort und deutete mit einem zitternden Finger auf Drew, »daß er Amanda loslassen soll!« »Das kann ich nicht tun, Jake«, sagte Huddy traurig, »bis Sie und ich eine Übereinkunft über diese Geschichte mit den Untersuchungen getroffen haben.« 309 »Ich werde das, was Sie wollen, nicht tun«, sagte Jake bestimmt. »Dann kann ich meinen Freund Drew nicht gut darum bitten, daß er die Hand vom Hals Ihrer Großnichte nimmt, oder?« »Das sollten Sie aber«, sagte Pickett. »Mr. Pickett«, fing Somerset an und trat vor, »Sie kennen mich nicht. Wir sind uns noch nie begegnet. Aber ich will ganz bestimmt nicht, daß Ihrer Großnichte oder Ihnen ein Leid geschieht. Ich will überhaupt nicht, daß irgend jemandem ein Leid geschieht.« »Ich auch nicht«, gestand Jake. »Aber ihr beiden wollt etwas, und es ist euch ziemlich egal, was ihr tun müßt, um es zu bekommen. Das ist das Ärgerliche an Leuten wie euch. Ihr wollt nur immer etwas. Eure Habgier ist grenzenlos, und ihr schreckt dabei vor nichts zurück.« »Was, zum Teufel, soll dieser Zirkus hier?« sagte eine neue, völlig unerwartete Stimme. Alle drehten sich zur Tür um. Der Mann, der das Zimmer betrat, hatte schütteres weißes Haar und war größer als Huddy und Drew. Sein Anzug und seine Krawatte waren aus Seide und seine Schuhe aus allerfeinstem Leder. Er war beinahe so alt wie Jake Pickett. Die beiden Männer, die links und rechts von ihm standen, waren wesentlich jünger. Sie versuchten gar nicht erst die Pistolen zu verbergen, die sie in den Fäusten hielten. Huddys Unterkiefer fiel herunter. »Mr. Rutherford!« »Wer ist denn dieser Bursche?« fragte Drew unbeeindruckt. Die hochgewachsene Gestalt warf ihm einen Blick zu. »Ah, der bemerkenswerte Mr. Drew! Man hat mir gesagt, daß Sie gute Arbeit leisten. Und so scheint es auch.« Drew gab keine Antwort; er wartete, was als nächstes geschehen würde. Der Neuankömmling trat ins Schlafzimmer, darauf bedacht, Distanz zu Jake zu halten. Seine jüngere Begleiter wichen ihm nicht von der Seite. 310
»Erlauben Sie mir, mich vorzustellen, Mister ... ah ... Pickett, nicht wahr?« Jake nickte und musterte argwöhnisch dieses neue Problem und die beiden Revolvermänner, die ihn begleiteten. »Ich bin Charleton Rutherford, Aufsichtsratsvorsitzender der Consolidated Chemicals and Mining.« Er machte eine knappe Verbeugung, da ihm schien, daß ihm die Vertraulichkeit eines Händedrucks versagt werden würde. »Diese zwei ungestümen und nicht besonders intelligenten jungen Leute ...« - dabei deutete er mit einer beiläufigen Handbewegung auf Huddy und Somerset - »sind Angestellte von mir - unbedeutende Angestellte. Ich bedaure, daß Sie in der vergangenen Woche mit ihnen zu tun hatten, aber ich hielt es für das beste, mich selbst im Hintergrund zu halten. Als ich freilich davon verständigt wurde, daß sich die Ereignisse hier unten zuspitzten und daß diese beiden allem Anschein nach unfähig waren, sie in befriedigender Weise zu lösen, sah ich mich gezwungen, von New York hierherzufliegen, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin froh, daß ich es geschafft habe, rechtzeitig einzugreifen.« Er schenkte Huddy ein dünnes Lächeln. »Wirklich, junger Mann: Entführung eines unschuldigen, körperbehinderten Mädchens, unsinnig und unnötig. Daß Sie versuchen, einen älteren Herrn wie diesen Mr. Pickett in einem Motelzimmer zu schnappen, ist eine Sache; aber das FBI in die Sache hineinzuziehen, ist eine ganz andere. Und dann eine Einrichtung der CCM dafür zu benutzen, um die Entführte festzuhalten ...« Er schüttelte langsam und bedauernd den Kopf. »Unverzeihlich dumm.« »Mr. Rutherford«, begann Somerset lahm, »wir hatten keine Ahnung, daß es notwendig sein würde ...« »Daß was notwendig sein würde? - So weit zu gehen? Diese Entscheidung zu treffen? Leute von beschränkter Intelligenz sehen selten alle Möglichkeiten, die sich bieten. Jetzt haben Sie mich gezwungen, mich persönlich
einzuschalten.« Er sah ihre verblüfften Gesichter und hätte fast laut gelacht. 311
»Oh, wirklich, Sie können sich doch unmöglich immer noch fragen, was ich hier tue. Dachten Sie denn wirklich, daß Sie beide Ihre kleinen Spielchen insgeheim treiben und dabei die Einrichtungen der Firma benutzen könnten? Glauben Sie ich weiß nicht, was in meiner eigenen Firma vor sich geht? Daß ich keine Leute habe, die meine Angestellten beobachten? Glauben Sie nicht, daß die CCM Vorkehrungen getroffen hat, um sich ebenso gegen interne wie gegen externe Industriesabotage und -Spionage zu schützen?« Er wandte sich von ihnen ab. »Ich muß gestehen, daß ich zuerst meine Zweifel bezüglich der Berichte hatte, die mir meine Leute nach New York lieferten. Aber Sie, Mr. Pickett, haben mehr als genug Beweise für diese Geschichten geliefert. Dafür und dafür allein ...« - er warf Huddy einen verächtlichen Blick zu -»muß ich Ihnen dankbar sein, junger Mann. Die Tatsache, daß Sie im Anschluß an Ihre Entdeckung aber alles, was Sie versucht haben, gründlich verpatzt haben, ist unverzeihlich .« »Mr. Rutherford, es tut mir leid, wenn wir ...« »Halten Sie den Mund! sagte der Aufsichtsratsvorsitzende brüsk. »Ich habe Ihre ungeschickten Versuche verfolgt, mit denen Sie Mr. Pickett überzeugen wollten, sich zum Nutzen der Firma einer parapsychologischen Untersuchung zu unterziehen. Von Anfang an habe ich Sie beobachtet, seit Sie überall im Südwesten unbefugt Personal angefordert haben. Sie haben eine unübersehbare Spur hinterlassen, Huddy. Und Sie auch, Somerset. Unbefugter Einsatz von Computerzeit und Anlagen. Illegale Manipulation eines Polizeibeamten.« Einen Augenblick lang sah sie ihn verständnislos an, und er fügte hinzu: »Ihr ehemaliger Freund, Lieutenant Puteney, war sehr zornig, als Sie nicht mit ihm schlafen wollten.« Er machte glucksende Geräusche mit der Zunge. »Ihr beide werdet euch für eine ganze Menge verantworten müssen.« »Aber alles wird sich zum Guten wenden, Mr. Ruther312
ford, Sir«, sagte Somerset ungerührt. »Ich weiß, daß wir einige Fehler gemacht haben, aber es hat sich doch gelohnt.« Sie deutete auf Pickett, der stumm danebenstand und zuhörte. »Er wird dafür sorgen, daß sich das alles lohnt.« »Mag sein«, räumte Rutherford ein. »Vielleicht könnte in diesem Fall der Zweck die Mittel rechtfertigen. Wir werden sehen. Sie sollten beide darum beten, daß es so ist.« Er sah zu dem alten Mann hinüber, der Gegenstand ihrer Diskussion war. »Es tut mir wahrhaftig leid, Mr. Pickett, daß man Sie in den letzten paar Tagen schlecht behandelt hat. Die Geschichte mit Ihrer Großnichte ...« - er deutete mit einer Handbewegung zum Bett hinüber - »ist höchst bedauerlich. Ich hätte die Dinge ganz anders in die Hand genommen, wenn ich von Anfang an eingeschaltet gewesen wäre. Aber ich bin ein sehr beschäftigter Mann, und es gibt viele Leute und Ereignisse, die meine Aufmerksamkeit erfordern. Ich bin sicher, daß Sie Verständnis dafür haben, wenn ich mich nicht in jeden geschäftlichen Vorgang meiner Firma einschalten kann, solange nicht eindeutig klar ist, daß meine persönliche Aufmerksamkeit absolut notwendig, geschweige denn gerechtfertigt ist.« Er lächelte freundlich. »Aber jetzt, wo ich hier bin, werden Sie und Ihre Verwandten keinen weiteren Pöbeleien mehr ausgesetzt sein, und wir können diese ganze Angelegenheit wie zwei intelligente, reife Männer erledigen.« Vom Bett ein plötzlicher, besorgter Gedanke: »Onkel Jake, vertrau ihm nicht!« »Sicher, reden können wir«, sagte Jake leise. »Aber sorgen Sie zuerst dafür, daß er Amanda losläßt.« Er deutete auf das Bett. »Ah, das ist nun freilich ein kleines Problem«, sagte Rutherford nachdenklich. »Immerhin tut Mr. Drews das, was man ihm aufgetragen hat.« Drew grinste dem Vorsitzenden und anschließend Pickett zu. Seine Hand hatte Amandas Hals nicht losgelassen. »Wenn ich jetzt Mr. Drew auffordern würde, Ihre Groß313
nichte loszulassen, dann bin ich sicher, daß er das tun würde, weil er ein guter Angestellter ist. Aber wenn er das täte, würden wir Ihr Handeln in keiner Weise mehr beeinflussen können, Jake. Nach allem, was man mir über Sie gesagt hat, ist es notwendig, daß wir diese Kontrolle noch kurze Zeit behalten. Sobald wir diesen Raum verlassen und einige Papiere unterzeichnet haben und Sie sich damit einverstanden erklärt haben, daß man Ihnen eine Beruhigungsspritze gibt und Sie eine kleine Reise antreten, verspreche ich Ihnen, daß man Ihre Großnichte sicher und unversehrt nach Hause zurückbringen wird.« »Ich bin ein alter Mann«, erklärte ihm Jake. »Ich will niemandem weh tun. Das habe ich nie gewollt. Aber Amanda sagt, daß ich nicht mit Ihnen gehen soll, und alle bedrängen mich dauernd. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Seine Verzweiflung war fast körperlich spürbar. Rutherford warf Huddy einen prüfenden Blick zu und runzelte die Stirn. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, daß es keinen Kontakt zwischen ihm und dem Mädchen gegeben hat.« »Hat es auch nicht«, sagte Huddy langsam. Was sich hinter Picketts unbewußt enthüllender Bemerkung verbarg, hatte er noch nicht begriffen. »Niemand wird Sie unter Druck setzen, Jake«, sagte Rutherford und bemühte sich um eine möglichst freundliche Miene. »Man wird Sie mit aller Sorgfalt behandeln, der größten Sorgfalt, deren Ärzte fähig sind. Das verspreche ich Ihnen.«
»Sie wollen, daß ich mit ihm zurückfahre, nicht wahr?« stammelte Pickett und deutete auf Huddy. »Sie wollen, daß ich mit ihm nach Los Angeles zurückgehe, damit Sie ein paar sogenannte Ärzte mir im Kopf herumstochern lassen können, um zu sehen, wie ich Dinge schlupft mache.« »Wie auch immer Sie das nennen, Jake - ja, auf das läuft es ungefähr hinaus. Sie sind ein erwachsener Mann. Sie können Ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie brauchen doch kein sechzehnjähriges Kind dazu, um zu wissen, was 314
für Ihre Zukunft das Beste ist, geschweige denn Ihre Gegenwart. Es wird sonst niemand davon wissen. Und was das betrifft, daß Sie mit Mr. Huddy reisen, so wird das nicht notwendig sein. Ich weiß, daß Sie auf seine Gesellschaft keinen großen Wert legen, und kann das auch verstehen. Also gut, Sie brauchen nicht mit ihm zurückzufahren. Ich werde Sie persönlich begleiten, wenn Sie das wünschen.« Huddy ließ das Gehörte auf sich einwirken und begann, sich unauffällig auf die Tür zuzubewegen. Als er sie erreicht hatte, fing er zu rennen an. Einer von Rutherfords Leibwächtern ging zur Tür und gab mit gelangweilter Miene einen Schuß ab. Es gab eine heftige Explosion, die durch die Schalldämmung der Suite etwas gedämpft wurde. Huddys Hand krallte sich um die Klinke der Korridortür, dann ging ein krampfartiges Zucken durch seinen Körper, und er krachte mit dem Rücken gegen die Wand. Dort stand er, hielt immer noch den Türgriff fest und starrte mit verblüfftem Gesicht ins Leere. Das war ganz und gar nicht die Entwicklung, die er erwartet hatte. Dann begann er in kleinen Rucken zu Boden zu rutschen. Als er schließlich auf dem Teppich lag, waren Benjamin Huddys grandiose Pläne bedeutungslos geworden. Der Leibwächter wandte sich um und versperrte mit seinem Körper die Tür, um damit weitere sinnlose Gesten zu verhindern. »Bitte!« Rutherford hörte die Stimme und wandte den Kopf, um Ruth Somerset anzusehen. Sie kauerte in der Ecke gegenüber von Pickett, und ihre ganze Selbstsicherheit war verflogen. »Bitte töten Sie mich nicht!« flüsterte sie angsterfüllt. »Das war von Anfang an sein Plan. Er hat mich hineingezerrt. Ich wollte nicht mitmachen, aber er hat mich bedroht. Ich hatte keine Wahl. Er hat gesagt, wenn ich ihm nicht helfen würde, dann ...« »Seien Sie still!« sagte Rutherford angeekelt. »Niemand hat die Absicht, Sie zu töten, wenn Sie einfach da bleiben, wo Sie sind, und sich vernünftig benehmen.« Er deutete ins 315
Wohnzimmer. »Wenn er nicht in Panik geraten wäre, wäre ihm nichts passiert. Sie werden doch nicht in Panik geraten, oder?« Somerset schüttelte schnell den Kopf. »Das hab' ich mir gedacht. So mag ich meine Angestellten.« Er wandte sich wieder Pickett zu. »Das war unglücklich, und es tut mir leid, daß Sie das sehen mußten. Ich verliere nicht gern potentiell wertvolles Personal. Aber jemand, der in Panik gerät, anstatt seinen Verstand zu gebrauchen, ist nur von sehr zweifelhaftem Wert. Hoffentlich gibt es keine weiteren unnötigen dramatischen Unterbrechungen, während wir darüber entscheiden, was wir mit Ihnen machen, Mr. Pickett. Sie müssen begreifen, daß ich Ihre Großnichte so lange nicht gehen lassen kann, bis ich ganz sicher bin, daß Sie kooperieren werden. Mir ist klar, daß Sie mich auch bedrohen können. Ich habe die Berichte gesehen und habe eine gewisse Vorstellung davon, wozu dieses eigenartige Talent fähig ist, das Sie haben. Aber ich bezweifle ernsthaft, daß Sie mit uns allen gleichzeitig fertigwerden können.« Wie auf einen Wink hin, richtete der andere Leibwächter jetzt seine Waffe auf Jake. Auch Drew zog seine Waffe, während seine andere Hand Amandas Hals keinen Augenblick lang losließ. Nun waren drei Pistolen auf den alten Mann gerichtet. »Sie können ein oder zwei dieser Waffen >demontieren^ wie es der verblichene Mr. Huddy, glaube ich, bezeichnet hat, und einige der Kugeln auch, Jake. Aber ich glaube nicht, daß Sie alle gleichzeitig schaffen. Sie müssen sich auf eine nach der anderen konzentrieren, nicht wahr?« Jake Pickett gab keine Antwort. »Ich werde Sie jetzt bitten, daß Sie sich entspannen und nichts unternehmen. Im Nebenzimmer ist ein Beruhigungsmittel, das Mr. Drew benutzt hat, um sich der Kooperation Ihrer Großnichte zu vesichern. Wenn Sie einem meiner Assistenten hier gestatten, Ihnen davon eine bescheidene Dosis zu injizieren, dann verspreche ich Ihnen, daß 316
Ihre Großnichte in dem Augenblick auf den Weg nach Hause gebracht wird, wo die Droge zu wirken beginnt. Ihre Großnichte hier sollte Ihnen als Beweis genügen, daß es sich bei dem Mittel lediglich um ein kräftiges Schlafmittel handelt. Sobald das geschehen ist, können wir in aller Ruhe und ohne Einsatz von Waffen eine vernünftige Lösung finden. Was halten Sie davon, Jake? Sie haben diesen Leuten bis jetzt ein hübsches Rennen geliefert, aber jetzt ist es Zeit, daß Profis ans Werk gehen. Es gibt keine Motels mehr, in die Sie fliehen können, keine Orte, an denen Sie sich verstecken können. Es ist Zeit, die Kinder ins Bett zu bringen, damit die Erwachsenen die Entscheidungen treffen können. Nach allem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte, Jake, sind Sie ein nicht besonders gebildeter, aber sehr
vernünftiger Mann. In diesem Sinn bitte ich Sie um Ihre Kooperation. Wenn nicht, dann würden wir uns gezwungen sehen, Sie zu töten, so sehr ich es auch bedauern würde, damit die Chance einer gründlichen Untersuchung zu verlieren. Das bedeutet, daß das Mädchen auch sterben müßte. Wir können ja nicht gut zulassen, daß das Mädchen oder Sie zur Polizei gehen, um das zu berichten, was Sie in den letzten Tagen erlebt haben.« Jake stand da und hörte sich diesen völlig selbstsicheren Fremden an. Ihm war, als würde jemand mit einer schweren Faust auf seine Brust drücken. Er sah die drei Pistolen, die auf ihn zielten, sah Drews häßliche Hand an der zarten Kehle seiner Großnichte. Er wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als daß das alles vorüber wäre, ganz gleich, was Amanda dachte. Das wichtigste war jetzt, sie nach Hause zu bringen, zurück zu ihrer Mutter und ihrem Vater; nach Hause, wo sie vor diesen schrecklichen Leuten sicher war. Um sich selbst machte er sich in diesem Augenblick überhaupt keine Gedanken. Vielleicht sah Amanda den Wandel, den ihr Onkel durchmachte. Vielleicht sah sie es an seinem Gesichtsausdruck, vielleicht las sie es in seinen Gedanken. Aber was 317
auch immer der Grund sein mochte, sie richtete sich plötzlich im Bett auf und schob Drews Hand zurück. »Tu es nicht, Onkel Jake! Geh nicht mit ihnen! Die werden mich nie gehen lassen, weil ich der Polizei sagen kann, was ...« Drews Hand löste sich von ihrem Hals, um ihr ins Gesicht zu schlagen. Ihr Kopf fuhr ins Kissen zurück, prallte davon ab, und Blut strömte ihr aus der Nase. Jake trat instinktiv einen Schritt auf das Bett zu. Blinde, sinnlose Wut verdrängte seine Unsicherheit. »Drew, Pickett - keine Bewegung!« Jake erstarrte und funkelte Drew an, der seinen Blick einfach mit einem Grinsen erwiderte. Der ist wirklich nicht gefährlich, dachte Drew. Diese Typen, die ihn in das Motel verfolgt haben, waren unbrauchbar. Irgend etwas mußte in Abilene schiefgegangen sein. Dieser alte Knabe ist völlig ungefährlich. Seine Hand preßte den Hals des Mädchens zu. Er hatte jetzt keine Angst mehr. Tatsächlich wirkte die ganze Szene fast belustigend auf ihn. »Das reicht jetzt, Mr. Drew«, warnte Rutherford. Drew zuckte gleichgültig die Achseln. »Bitte, Jake, Sie haben gesehen, was mit Mr. Huddy passiert ist, als er in Panik geriet. Ich weiß, daß Sie vernünftiger sind.« Er nickte dem Leibwächter zu seiner Rechten zu. Der Mann verschwand ins Wohnzimmer und tauchte im nächsten Augenblick wieder auf, in der einen Hand eine Pistole, in der anderen eine aufgezogene Spritze. »Sie sind bestimmt sehr erschöpft, Jake«, sagte Rutherford mitfühlend. »Diese Flucht muß für einen herzkranken Mann in Ihrem Alter eine schwere Belastung gewesen sein. Ich habe da selbst einige Probleme. Sie sehen, ich habe Verständnis für Sie und kann mit Ihnen mitfühlen.« Der Mann mit der Spritze bewegte sich vorsichtig auf Jake zu. »Für Sie ist es jetzt Zeit, sich zu entspannen. Sie haben sich das Ausruhen verdient. Ich weiß, daß Sie sich nichts mehr wünschen, als sich hinzulegen und alles das zu vergessen.« 318 Jake war wie durch ein Wunder plötzlich völlig entspannt. Es war gerade, als hätten ihm Rutherfords Worte die Erleichterung geliefert, die er sich so verzweifelt wünschte. Er wußte jetzt, was er tun würde. Er wollte es nicht tun, aber diese Leute schienen ihm keine Wahl lassen zu wollen. Er verspürte jetzt wieder den Kloß in seiner Kehle. Wenn sie ihm nur eine Wahl lassen würden. Aber das taten sie nicht. Die ganze Zeit setzten sie ihn unter Druck und zwangen ihn, Dinge zu tun, von denen er nie geträumt hatte; Dinge, die er nie tun wollte. Sein Herz machte ihm jetzt ziemliche Schwierigkeiten. Und es konnte jeden Augenblick schlimmer werden. Diese Leute würden es begrüßen, wenn er einen Anfall hätte; das würde ihnen die Mühe ersparen, die Spritze einsetzen zu müssen. Wenn er die Besinnung verlor oder einen leichten Schlaganfall hatte, würden sie alles bekommen, was sie wollten. Sie würden dann nicht einmal Amanda zurückzubringen brauchen. Aber Amanda war sicher, daß sie nicht die leiseste Absicht hatten, das zu tun, ob er nun lebte oder tot war, das tat, was sie wollten, oder nicht. Angst und Zorn hielten sich in ihm die Waage. Sein Kopf fing zu schmerzen an, so wie er das schon ein paarmal in der letzten Woche getan hatte, wenn er es auch wegen seiner schweren Angina pectoris kaum wahrgenommen hatte. Er hatte Angst, daß das wahr war, was der distinguiert wirkende Mann gesagt hatte: daß er all die Pistolen und Kugeln nicht gleichzeitig würde schlupft machen können. Also dachte er nicht an die Pistolen und die Kugeln. Ein seltsames Gurgeln kam von dem Mann, der die Spritze hielt. Sein Gesichtsausdruck wurde irgendwie starr, und dann war plötzlich das Gesicht verschwunden. Und ebenso war das Gesicht seines Kollegen verschwunden und das sadistische Gesicht von Mr. Drew, der gespannt auf dem Bett wartete. Alle hatten sie keine Gesichter mehr. Und von den Gesichtern breitete es sich aus, kroch in die Schädel und bewegte sich im Körper nach unten. Sie lösten 319 sich geräuschlos auf; es gab keine reißenden, fetzenden Geräusche, keine heftigen Ausbrüche von Blut und Fleisch. Sie schmolzen einfach dahin wie Kerzen, von oben nach unten. Schließlich besteht der menschliche Körper zum größten Teil aus Wasser. Und wenn man die Wasserkombinationen im Körper schlupft macht, so
wie Jake Pickett es instinktiv und angsterfüllt tat, dann bleibt nicht viel übrig, und das, was übrig bleibt, ist nicht sehr massiv. Und so standen alle im Raum wie gelähmt da, während drei Skelette in viel zu weiter Kleidung über einer roten, geleeartigen Masse in sich zusammenbrachen, bevor sie sich ebenfalls aufzulösen begannen. Amanda schrie. Der Aufsichtsratsvorsitzende stand allein an der Tür, und ein Leben der Selbstsicherheit löste sich ebenso schnell auf, wie sich seine Hände aufgelöst hatten. Er starrte ungläubig auf eine klebrige, kastanienfarbene Masse, die sich ziemlich schnell auf dem Boden ausbreitete, und das schleimige Gebilde, das neben Amanda auf dem Bett lag. »Hör auf, Onkel Jake! Das reicht jetzt! Hör auf!« Jake Pickett hörte sie nur undeutlich. Der stechende Schmerz in seiner Brust drohte ihn jetzt jeden Augenblick umzuwerfen; er war schlimmer als jeder Schmerz, an den er sich erinnern konnte. Trotzdem griff er nicht nach seinen Pillen. Sie waren noch nicht in Sicherheit, waren noch nicht frei. Die Agonie in seiner Brust hatte einen Punkt erreicht, wo ihm die Pillen wahrscheinlich ohnehin nichts mehr genützt hätten. Aber das war ihm gleichgültig. Das hatte jetzt nichts mehr zu bedeuten. Nur eines war wichtig: Er mußte sicherstellen, daß Amanda kein Leid geschah. Falls er gehört hatte, daß sie ihn aufgefordert hatte, aufzuhören, so reagierte er nicht darauf. Rutherford versuchte rückwärts durch die Tür zu entkommen, ohne dabei den alten Mann aus den Augen zu lassen. Pickett schien beträchtliche Schmerzen zu haben. Dann glitt sein Fuß auf etwas aus - auf einer feuchten, klebrigen, 320
schleimigen Masse. Er sah zu Boden, blickte auf das, was einmal sein persönlicher Leibwächter gewesen war; sein zum Teil aufgelöster Schädel grinste ihn an. Wo das rechte Auge gewesen war, war nur noch etwas Klebriges, Feuchtes zu sehen, das linke war nicht geschlupft, aber aus seiner Höhle gefallen. Jetzt hing es lose an einem organischen Faden über den Backenknochen. Rutherford ertappte sich dabei, wie er heftig zitterte. »Es tut mir leid ... Wir können das regeln. Ich gehe ja, sehen Sie das? Ich lasse Sie allein. Niemand wird Sie mehr belästigen, das schwöre ich. Hören Sie bloß auf...« Er streckte die Hand aus, versuchte sich vor etwas zu schützen, das er nicht sah. »Bitte, nicht ...« Er brachte den Satz nicht zu Ende; er löste sich in seiner Kehle auf, gemeinsam mit allem anderen. Rutherford schrie nicht, als er schlupfte. Keiner von ihnen hatte geschrien. Vielleicht tat es gar nicht weh. Bei dem Gedanken fühlte Jake sich etwas besser. Nein, der Aufsichtsratsvorsitzende der CCM schien keine Schmerzen zu erleiden, als sein Gesicht langsam von seinem Schädel schmolz; als die Hände, die sich ausgestreckt hatten, Skeletthände wurden; als das Fleisch schmolz und an den weißen Knochen herunterrann. Das, was einmal Rutherford gewesen war, glitt durch seine Kleider, sein Körper rann wie Pudding durch die Hosenbeine seines teuren Anzugs. Etwas bewegte sich hinter ihm. Jake drehte halb den Kopf. Pulver prickelte an seinen Wangen, und er blinzelte, als ein paar Stäubchen ihm in die Augen gerieten. Aber genug Gewalt, um seine Haut zu zerreißen, hatte die pulverisierte Kugel nicht. Unter der Tür starrte die Sekretärin, der Jake vor der Lifttür begegnet war, schreckensbleich auf ihre Waffe, als diese in ihren Händen schlupfte. Es war nicht so, wie es die anderen Male gewesen war; nicht wie in Benson oder Abilene, als die Trommeln aus ihren Halterungen gefallen waren und Abzugsmechanismen und Läufe sich von einander gelöst hatten; diesmal verwandelte sich die Pistole ebenso wie die 321
Kugeln einfach in Staub, der durch die Finger der Frau rieselte. Jake hatte sie gerade noch rechtzeitig entdeckt. Wo hat sie sich denn nur so rasch Kleidung besorgt? fragte er sich. Sie bemerkte die schleimigen Massen auf dem Boden, die einmal menschliche Wesen gewesen waren. Ihre Hand griff an den Mund, und sie wankte aus der Tür. Bald würden schrille Schreie durch den Korridor gellen, wenn sie ihre Stimme wiederfand. Jake wußte nicht, warum er sie nicht schlupft machte. Das lag wahrscheinlich an seiner ganzen Art, er war immer höflich zum anderen Geschlecht gewesen, sein ganzes Leben lang. Da fiel ihm die junge Frau ein ... Er wandte den Kopf, um den letzten seiner Quälgeister anzusehen. Ruth Somerset saß auf der anderen Seite des Zimmers auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wand. Sie weinte und lachte abwechselnd. Dann bemerkte sie, daß Jake sie anstarrte. Sie schrie nicht, bettelte nicht, aber in ihren Augen war eine Art von nacktem, hilflosem Schrecken, der Jake zusammenzucken ließ. Dafür war er verantwortlich, das wußte er, und das wollte er nicht. Er wollte nichts anderes, als in Ruhe gelassen werden; sein ganzes Leben hatte er nichts anderes gewollt. Er trat einen Schritt auf sie zu, hatte vor, sie zu beruhigen, aber es hatte eine völlig andere Wirkung. Ihre geweiteten Augen rollten nach oben, und sie fiel ohnmächtig zur Seite. Alarmglocken begannen zu schrillen, hallten laut durch das Gebäude und drangen durch die geöffnete Korridortür auch in das schallgedämpfte Apartment. Es klang so, als wäre überall im ganzen Fabrikkomplex Alarm ausgelöst worden. Dafür war die junge Frau vom Empfang verantwortlich, das wußte Jake. Vielleicht hätte er sie doch schlupft machen sollen. Doch dafür war es jetzt zu spät. Das wichtigste war jetzt, Amanda in Sicherheit zu bringen. Er wandte sich dem Bett zu und beugte sich darüber, als etwas glühendheiß durch seine Brust schoß. 322
»Onkel Jake?« Amanda saß auf der Bettkante und war immer noch damit beschäftigt, sich den blutigen Schleim
abzuwischen, der über ihre Beine geflossen war. Jake mühte sich ab, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen. »Es ist schon in Ordnung, Prinzessin. Alles ist okay. Komm, ich hol' dich jetzt hier raus!« Sie legte ihm die Hände um den Hals, als er nach ihr griff; die eine Hand um ihren Rücken gelegt, die andere unter ihre Schenkel. Er biß die Zähne zusammen und hob sie hoch. Sie ließ sich leicht aufheben, leichter, als sie aussah; das lag an ihren dünnen Beinen, und sie war ohnehin kein großes Mädchen. Plötzlich war in ihm eine Aufwallung echter Energie, und er fühlte, wie in seine Arme und Beine Kraft zurückfloß. Was er hier trug, war Amanda, und er würde eher sterben, als sie fallen lassen. Niemand stellte sich ihnen in den Weg, als sie in den Korridor hinaustraten. Von der Frau am Empfang war keine Spur zu sehen. Ihr Tisch war verlassen, ebenso der Korridor, der in die entgegengesetzte Richtung führte. Der Aufzug reagierte, als Jake den Knopf drückte. Und als die Kabine eintraf, war sie leer. Aber als sie im Erdgeschoß die Liftkabine verließen, entdeckten sie zwei Sicherheitsmänner. Der Anblick eines alten Mannes, der eine fast nackte junge Frau trug, erweckte sofort ihr Interesse. »He, wer sind Sie?« sagte einer von ihnen scharf. Beide Männer gingen auf sie zu. Jake zögerte, ehe er reagierte. Er erinnerte sich an den klebrigen Schleim, der oben den Schlafzimmerboden bedeckte. Die Erinnerung daran erzeugte in ihm ein Gefühl der Übelkeit. Sein Magen war auch nicht widerstandsfähiger als der anderer Leute. So löste er die beiden Wachen nicht auf, sondern wandte seine Aufmerksamkeit der Decke zu, worauf sich ein Stück davon in einen Schauer aus Holz und Gips verwandelte. Die beiden Männer gingen zu Boden, ohne ernstlich verletzt zu sein. 323
Was soll ich tun? dachte er besorgt, während er auf den Eingang zuging. Amanda klammerte sich an ihn, hatte die Arme um seinen Hals geschlungen. Ich habe so viele Menschen getötet. Sicher in Notwehr, aber trotzdem hatte er ihren Tod verursacht. Das belastete ihn. Wie würde er damit leben können? Dann hatten sie das Verwaltungsgebäude hinter sich gelassen, und er eilte einen Weg hinunter, der ihm einigermaßen vertraut war, die zarte Last auf seinen Armen. In seinen Ohren schrillten die Alarmsirenen. Durch das letzte Tor hinaus, auf den gepflasterten Weg, der an das blaue Wasser des Golfs grenzte. Wieder dieser Schmerz in seiner Brust. Er ertappte sich dabei, wie er sich im Laufen nach links lehnte. Das kleine Motorboot lag noch am Ufer. Er setzte Amanda hinein, und löste das Tau von dem Pfahl. Hinter ihm war ein Ruf zu hören, und er drehte sich um. Ruth Somerset stand am Eingang der Fabrikanlage; ihr Gesicht war von Haß und Furcht verzerrt. Die Maske ihrer gepflegten Eleganz war von ihr abgefallen. Es war mehr als das: Die Ereignisse, deren Zeugin sie in den letzten Minuten geworden war, hatten ihren Geist etwas verwirrt. Bewaffnete Sicherheitsleute scharten sich um sie. »Da ist er!« schrie sie und deutete zum Dock. »Da ist er! Tötet ihn! Um Himmels willen, tötet ihn!« Jake kletterte ins Boot und setzte sich auf den Sitz neben dem Steuer. Der Motor sprang sofort an, aber es kostete ein paar wertvolle Sekunden, bis das Boot sich aus dem Sand löste und in die Bucht hinausstrebte. Er zog es im weiten Bogen herum, schob den Fahrthebel nach vorn und blickte dabei über die Schulter. Somerset stand immer noch am Tor, das zum Strand herunterführte, aber die Männer in ihrer Begleitung rannten den Weg herunter und stürzten sich in die beiden anderen kleinen Boote, die am Dock vertäut gelegen hatten. Ein paar feuerten auf das sich entfernende Boot, das gerade außer Reichweite kam. 324
Sie würden ihn bis nach Port Lavaca verfolgen, dachte er erschöpft, vielleicht sogar bis zu Wendy und Arriagas Haus. Aber so weit würden sie es möglicherweise gar nicht schaffen. Er wußte nicht, wie schnell ihre Boote waren, und es bestand natürlich immer die Chance, daß eine verirrte Kugel ihn oder Amanda traf. Sie würden ihn verfolgen, bis sie beide tot waren. Und er war so müde. Deshalb griff er mit seiner Fähigkeit, die er nicht begriff, hinaus; mit seiner Fähigkeit, die zu begreifen er niemals eine Chance haben würde; griff zum letztenmal hinaus, mit etwas, das er immer nur gebraucht hatte, um Kinder zu erfreuen; mit etwas, das Leute, die er verachtete, gezwungen hatte, sich in einem beängstigenden Maße zu entwickeln. Es war weniger diszipliniert, weniger kontrolliert als alles, was er je getan hatte: der verzweifelte Schlag eines Mannes in den letzten Stadien hoffnungsloser Erschöpfung. Wenn er mehr Übung gehabt hätte, mehr Zeit, dann hätte er es vielleicht besser kontrollieren können. Ganz sicherlich war es jedenfalls nicht seine Absicht, eine solch heftige Schlupfung zu erzeugen. In den riesigen Lagertanks, die an die Raffinerie angrenzten, in der Cracker-Anlage der Raffinerie selbst, wurden bestimmte molekulare Bande zerrissen; vielleicht ein Dutzend neuer Verbindungen bildeten sich. Und was daraus entstand, erzeugte Zerstörung, denn einige dieser neuen Verbindungen waren flüchtig und instabil. Und in ein paar der mächtigen Tanks waren Explosionen die Folge. Die große Kugel, die neben dem Verwaltungsgebäude kauerte, die Kugel, unter der Jake dem Arbeiter begegnet war, war die erste. Lackierter Stahl, Laufstege und Röhren eruptierten himmelwärts, angetrieben von sich ausdehnenden Gasen und begleitet von orangefarbenen Flammen und schwarzem Rauch. Jake versuchte es aufzuhalten, als er erkannte, was er getan hatte, versuchte den Vorgang umzukehren; aber selbst wenn er die Ausbildung und die Erfahrung im Gebrauch seiner Fähigkeit besessen hätte, hätte er
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das, was bereits in Bewegung gesetzt war, nicht verhindern können. Röhren begannen sich aufzulösen, ätzende Verbindungen ergossen sich über das Pflaster und die anderen Gebäude. Risse taten sich auf, nicht nur in den Stegen, sondern auch in der Erde unter der Fabrik. Jake hatte mehr als nur ein paar Flüssigkeiten berührt. »Onkel Jake!« Jemand schüttelte ihn. »Onkel Jake, das reicht!« Er blinzelte, blickte nach rechts. Amanda schrie auf ihn ein, schüttelte ihn mit beiden Händen. »Das ist genug, Onkel Jake!« Benommen drehte er sich um und blickte zu der Raffinerie hinüber. Sie war dabei, in einem Flammenmeer zu verschwinden, ging in Stücke, während eine Explosion nach der anderen sie zerfetzte. Die Erschütterungen waren bis Galveston zu spüren. Während er noch benommen hinüberstarrte, kam es zu einer ganz besonders heftigen Eruption, die Onkel und Großnichte für einen Augenblick betäubte. Ein gigantischer orangeroter Feuerball stieg mitten aus dem petrochemischen Komplex in die Höhe, und Fragmente von Metall und Plastik und Menschen wurden aus der Mitte der Fabrik eine Meile hoch in die Luft geschleudert. Keiner von ihnen traf das fliehende Boot, wenn auch in seinem Umkreis eine ganze Menge herunterkam. Aber im Kielwasser des Bootes legte sich nur ein feiner Puder auf die Wellen. Plötzlich erfaßte Jakes Herz ein unsichtbares Feuer. Er lehnte sich in dem Sitz nach vorne und dann nach rückwärts, beide Arme fest um die Brust geschlungen. Irgendwie schaffte es Amanda, ihn beiseite zu schieben, während sie darum kämpfte, die Kontrolle über das Boot zu gewinnen. Tränen rannen ihr aus den Augen, und sie fror, weil sie nur mit dem dünnen Nachthemd bekleidet war. Sie verringerte die Geschwindigkeit, bis das Boot nur noch dahinkroch, und drehte das Steuer südwärts. Dann beugte sie sich über ihren Onkel. Sein Mund war weit aufgerissen, und aus seiner Kehle 326
drang ein seltsam blubberndes Geräusch. Sie legte das Ohr an seine Brust, hörte sein Herz wie wild arbeiten. Dann setzte es einen Augenblick lang aus, um gleich darauf wieder weiterzutoben. Schließlich wurde sein Herzschlag wieder gleichmäßiger. Jake sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, bis er wieder klar sehen konnte. Er hatte geschlafen oder so etwas. Immer noch erschütterten entfernte Explosionen den Uferstreifen hinter dem Boot, dazwischen waren die ersten schwachen Töne näherkommender Sirenen zu vernehmen, einer ganzen Menge Sirenen. Jake sah seine Großnichte, die ihn anstarrte, sah die Tränen, die ihr über die Wangen rollten. Schwächlich fing er an, an seinem Hemd herumzufummeln, nach dem Fläschchen zu suchen. Aber er wußte, daß in ihm etwas gebrochen war. Er schüttelte den Kopf. Draußen fing es an dunkel zu werden. Der Abend näherte sich schon am Mittag, der drohende Abend, den er so lange gefürchtet und zugleich erwartet hatte. »Zu spät«, flüsterte er ihr zu. Sie mußte sich ganz dicht über ihn beugen, um ihn zu verstehen. »Für Nitro ist es jetzt zu spät. Für alles ist es zu spät. Ich habe das nicht gewollt, das alles.« Es schien, als würden seine Halsmuskeln nicht arbeiten, und so mußte er das, was er meinte, dadurch andeuten, daß er mit den Augen nach hinten wies. »Dich wird jetzt niemand mehr belästigen, Mandy.« Er lächelte. Aber das verstärkte den Tränenstrom nur, und das war nicht seine Absicht gewesen. »Niemand wird dich jemals wieder belästigen.« »Das ist jetzt nicht wichtig, Onkel Jake. Nur du bist wichtig. Das wird gleich wieder besser. Du wirst wieder gesund werden. Das mußt du.« Das Oberteil ihres Nachthemds war von Tränen und Schweiß dunkel. »Wenn du das nicht wirst, werd' ich niemanden mehr haben, mit dem ich reden kann. Ich werde dann innen ganz leer sein.« »O nein, das wirst du nicht, Mandy. Solange es Leute gibt, die dich lieben, so wie deine Mom und dein Dad und 327
dein Bruder, gibt es keine Leere. Es tut mir leid, daß ich Marty nicht besucht habe. Er ist ein guter Junge, dein Bruder. Und ehe du es weißt, wird es jemand anderen geben, der die Leere füllt; jemand, der dich für immer lieben wird. Du wirst sehen, so ist es immer.« »Für dich war es auch nicht so, Onkel Take.« Er versuchte die Achseln zu zucken und entdeckte, daß er es nicht konnte. »Ich bin eben ein knurriger alter Junggeselle. Ich bin einfach nie dazu gekommen, Mandy. Wahrscheinlich bin ich nie der richtigen Frau begegnet. Aber da ist noch etwas anderes, das ich erledigen muß. Eines noch.« Er verstummte. Er hatte noch nie zuvor versucht, so etwas schlupft zu machen. Er war nicht sicher, daß er es schaffen würde. Nach allem, was geschehen war, wußte er immer noch nicht genau, wie er Dinge schlupft machte. Es war komisch, dachte er, geradezu albern. Er würde weggehen, ohne je zu wissen, was ihn dazu getrieben hatte. Vielleicht auf der anderen Seite, dachte er. Vielleicht konnte ihm auf dem anderen Ufer jemand sagen, wie das funktionierte. Das war ein hübscher Gedanke. Er freute sich darauf, Catherine wiederzusehen. Jetzt kam ihm in den Sinn, daß er dasselbe an sich hätte versuchen können; doch dafür war es jetzt zu spät. Er hätte das vor vielen Jahren tun müssen, bevor sich alles in ihm zu sehr abgenutzt hatte. Aber das war typisch. Vielleicht wäre alles besser gelaufen, wenn er zuerst an sich selbst gedacht hätte. Aber dafür war es jetzt zu spät. Zu spät, etwas zu tun. Nur an seine Großnichte konnte er noch denken und sich Mühe geben, etwas in ihr schlupft zu machen. Amanda zuckte zurück und stieß einen leisen Laut der Überraschung und des Schmerzes aus. Ihre Hände ließen ihren Onkel los und griffen an ihre Beine.
»Onkel Jake, das tut mir weh! Das tut weh!« Und dann begriff sie plötzlich, was dieser Schmerz bedeutete. Und dann tat es nicht mehr so weh, aber sie war von Schock und Staunen ganz betäubt. 328
Sie lehnte sich zurück und legte die Hand auf die Rückenlehne ihres Sitzes, um sich zu stützen. Sie drückte mit beiden Händen kräftig nach unten und tat etwas, was sie seit elf Jahren nicht getan hatte: Sie stand auf. Nur ein paar Sekunden lang, weil sie keine Muskeln besaß, um ihr Körpergewicht zu stützen. Sie sank gegen ihn zurück. Die Muskeln würden zurückkehren; dazu brauchte es nur ein wenig Therapie, ein bißchen harte Arbeit. Aber ihre Beine würden wieder brauchbar werden. Ihre Wirbelsäule pulsierte über ihren Hüften; ein Pulsieren, das langsam wieder aufhörte. Sie starrte ihren Onkel Jake an. Er erwiderte ihren Blick, lächelte, konnte nicht nicken, wohl aber seinen Erfolg wahrnehmen. »Ich dachte, ich würde vielleicht so etwas tun können«, sagte er mit weicher Stimme. »Es ist ganz so wie mit den Kronenkorken, nur ein bißchen komplizierter. Man muß nur wollen, daß die Dinge sich richtig anfühlen. Du hast dich nie richtig angefühlt, Mandy. Ich erinnere mich, was die Ärzte gesagt haben, damals vor vielen Jahren. Ich dachte, ich könnte so etwas tun.« »Onkel Jake ...«, fing sie an. »Du wirst eine Weile brauchen. Du wirst von neuem gehen lernen müssen. Aber ich glaube, das, was in deinem Rücken falsch war, wird jetzt richtig sein.« Er seufzte, und seine Brust rasselte wie eine Blechtrommel. »Ich glaube, jetzt wird alles in Ordnung sein.« Plötzlich krümmte er sich zusammen - einmal, zweimal; und dann sank er in den gepolsterten Sitz zurück. Atmete tief aus, aber er atmete nicht mehr ein. »Nein!« flüsterte Amanda. »Bitte, nein!« Die Sirenen waren sehr laut, und alle drängten sie sich hinter dem schwarzen Rauch und den Flammen zusammen. Amanda schlug auf die Brust ihres Onkels, drückte dagegen, blies Luft in seinen Mund, so wie sie es in den Büchern gelesen hatte. Aber es nützte nichts. Es nützte nichts, weil Jake nicht mehr da war. Sie wußte das auf eine Art und Weise, wie kein Arzt es wissen konnte, weil Jakes Bewußt329
sein, das für sie stets so aufnahmebereit und offen gewesen war, plötzlich ein finsterer, leerer Ort geworden war. Sie saß da und schluchzte, während das Boot mit ein paar Meilen in der Stunde südwärts tuckerte. Schließlich wischte sie sich das Gesicht ab und griff wieder nach dem Steuer. Er hätte erwartet, daß sie so reagierte, dachte sie. Er hätte erwartet, daß ich das tue. Das Boot wurde schneller, teilte das Wasser, während es auf die Bucht von Lavaca zuhielt. Gelegentlich gebrauchte Amanda ihre Beine an den Kontrollen; die Beine, die Onkel Jake ihr zurückgegeben hatte. Niemand mehr, mit dem sie reden konnte. Keine vertrauten, warmen Gedanken, an die man sich nachts im Bett ankuscheln konnte. Aber sie war ein kluges Mädchen. Alle redeten davon, wie klug sie war. Sie würde studieren und lernen und würde versuchen herauszufinden, was die bösen Leute so verzweifelt über ihren Onkel Jake hatten wissen wollen. Sie dachte über seine letzten Worte nach. Vielleicht würde sie jetzt ein paar Jungs kennenlernen. Vielleicht würde ihr Bruder ihr einige vorstellen können. Im College würden sie ganz sicher anders sein, ernsthafter, erwachsener. Sie würde schließlich doch noch ein echtes Leben haben - durch die letzte Tat von Onkel Jake. Sie würde heiraten, ja, das würde sie, und eine Familie haben. Und wenn sie einen Sohn bekommen würde, dann, das wußte sie heute schon, würde sie ihn Jake nennen. Zwei Söhne würde sie haben und ein Mädchen. Oder besser zwei Mädchen und einen Jungen. Sie würde ihnen alles über ihren wunderbaren Onkel Jake und seine seltsame Gabe erzählen. Bei dem Gedanken fühlte sie sich besser, das half ihr, die Tränen zurückzudrängen, während sie ihr Boot auf dem Inlandkanal nach Süden steuerte. Und während sie später am Nachmittag das Boot auf das mit Bäumen bestandene Ufer zu lenkte, auf den vertrauten Hof und das Haus zu, kam ihr nicht in den Sinn darüber nachzudenken, ob vielleicht das, was in ihren Genen ver330
borgen lag, was auch immer Jake Pickett in den seinen besessen hatte, vielleicht geduldig in ihrem Körper wartete -eine winzige, unbedeutende Windung in einer DNS-Spirale, die nur darauf wartete, an ein noch nicht empfangenes Kind weitergegeben zu werden. Vielleicht eine neue Windung.