2006 digitalisiert by Manni Hesse
Über den Eis-Ozean nach Fernost Die Geschichte des nördlichsten Seeweges der Erde is...
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2006 digitalisiert by Manni Hesse
Über den Eis-Ozean nach Fernost Die Geschichte des nördlichsten Seeweges der Erde ist ungemein aufschlußreich, erregend zugleich durch viele abenteuerliche Ereignisse. Seit den Zeiten der Wikinger, die aui kühnen Fangexpeditionen in die Polarwelt eindrangen, bis in unsere Zeit der Eisbrecher - Karawanen versuchten immer wieder wagnisirohe Männer, von der Nordküste Europas her durch das sibirische Eismeer bis zum Stillen Ozean vorzustoßen. Denn die Seeroute quer durch das Arktische Meer längs der Eisküsten Asiens ist die kürzeste Schiffahrtsstraße zu den Ländern des lernen Ostens und zur Ostküste des nordamerikanischen Festlandes. Diese Meerstraße, der Nordost-Seeweg, auch Sibirische Seestraße, Nördlicher Seeweg, nordöstliche Durchfahrt, Nordostpassage genannt, ist viele Tausende Kilometer lang, aber nur im Sommer während weniger Monate schiffbar; und selbst dann nur unter Einatz von Eisbrechern, Flugzeugen, Funk- und Wetterdienststationen und des modernen Rüstzeugs der Navigation. Gemessen an den heute zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln der Seefahrt sind die Hillsmittel der frühesten Passagesucher erbärmlich zu nennen. Und dennoch trieb es immer wieder verwegene Abenteurer, handelsuchende Kaulleute und entsagungsvolle Wissenschaftler in die große weiße Einsamkeit des Arktischen Meeres, weil die Kunde von den sagenhalten Reichtümern der Wunderländer des Ostens von jeher die Menschen Europas erregte. Von den Land- und Seestraßen, die in diese lockenden Fernen führten, war die Nordostpassage die zuletzt belahrene und am schwersten erkämpfte.
Starthafen der Nordexpeditionen Abweisend schroff zeigt sich dem Seefahrer die MurmanKüste Nordsaum der Halbinsel Kola. Nur spärlich vegetieren auf der ewig gefrorenen Erde Büschel zähen Grases oder kümmerliche Flechten und Moospolster, dort wo der beständig wehende Wind in einer Felsspalte Erdkrumen zusammenwehte. Struppiges Strauchwerk der Kriechweide und der Zwergbirke klammert sich an den Fels. Beißend scharf peitschen die eiskalten Stürme aus der Zentralarktis über das flachhügelige Küstenland. Unversehens nimmt oft die klirrende Kälte ab — und weißlichgräue Nebel umhüllen alles, Land und Meer, mit einem einzigen milchigen Schleier von gefährlicher Undurchsichtigkeit. Hier nämlich bestimmt noch der Nordkap-Arm des Golfstromes das Klima und damit den beständigen Wechsel und alles Leben (vergleiche hierzu die Karte auf Seite 16/17). Noch eintöniger ist das Gesicht der östlicher gelegenen Küsten des weiten Rußland, die an den Nördlichen Ozean grenzen. Denn hier verliert alsbald der Golfstrom seine wärmende und schmelzende Kraft. Einzig die todesstarre Kälte und das Eis des Meeres beherrschen in ewigem Wechsel von winterlicher Polarnacht zum sommerlichen Eintag alles Dasein. Von der norwegisch-russischen Grenze bis zum Kap Deschnew, der Nordostspitze Asiens an der Bering-Straße, sind es in der Luftlinie rund 6000 Kilometer. Man käme auf ein Mehrfaches, wollte man genau jedem Winkel, jedem Landvorsprung, jeder Bucht der Küste folgen. In ungeheurem Halbrund umspannen die russischen Nordküsten fast die Hälfte der gesamten Nordpolarwelt. Gemessen an der Gesamtausdehnung der sibirischen Küste ist es nur ein kurzer Küstenstreifen, den der warme atlantische Meeresstrom am Nordsaum Rußlands gnädig freihält vom arktischen Eis. Hier hat Rußland seinen einzigen, das ganze Jahr über eisfreien Weltmeerzugang. An der Nordküste der Halbinsel Kola reicht der Kola-Fjord sechzig Kilometer tief ins Land — ein vorzüglicher, auch im Winter nie eisblockierter Hafen. Die große moderne Stadt in dieser arktischen Zone, von der aus allsommerlich die Expeditionen der Schiffskarawanen auslaufen, ist Murmansk. Seit etwa anderthalb Jahrzehnten ist diese Kola-Bucht Ausgangspunkt für die Bezwingung des nördlichen Seeweges.
Aulbruch der E i s k a r a w a n e Von der Mündung des Kola-Fjordes führt der von Nordwest jagende Wind niedrige Wolken gegen die Kais von Murmansk. Feuchtkalt ist in diesen Vorsommertagen die Luft über der zerrissenen, grauen Schneehülle, die vom Winter her noch die Landschaft überzieht. Von den Werften und Werkstätten hallt geschäftiger Lärm bis zu den hochbordigen Schiffen, die an den Kais festgemacht haben. Die Besatzungen sind eifrig bei der Arbeit. Lade-Krane heben mächtige Packen Kisten und Fässer von hohen Stapeln auf, greifen geräumige Netze mit prall gefüllten Säcken und ganze Bündel Bauholz und fahren sie über die großen Ladeluken, in denen sie verschwinden. Man ist bei den Vorbereitungen zu einem großen Unternehmen. Für eine Weile reißt die Wolkendecke, und der blanke Himmel schickt helles Licht herunter. Inmitten des Schwarmes der Frachter werden die Konturen eines gedrungen gebauten Schiffskolosses sichtbar. Er ist von völlig anderer Form als die übrigen Fahrzeuge, die sich fast schmächtig gegen ihn ausnehmen. Der Starke ist der geleitende Eisbrecher, der die dies* jährige Schiffskarawane auf dem Nordischen Seeweg führen wird. Zu dieser Fahrt wird die Flotte auf der Hauptwerft der Eismeerschiffahrt ausgerüstet. Auf der hohen Kommandobrücke steht Sergej, der EisbrecherKapitän, überwacht die Arbeiten und gibt durch den Lautsprecher seine Anweisungen. Er ist verantwortlich dafür, daß auch nicht das Geringste von den tausenderlei Dingen vergessen wird, die auf ein Jahr zur Ausrüstung und Versorgung der zahlreichen Polarstationen längs des Seeweges dienen. Ein paar hundert Stationen sind mit all ihren Bedürfnissen auf den umfangreichen Listen verzeichnet. Die Maschinenausrüstungen für neue Häfen und Werke, wertvolle Präzisionsinstrumente für die einsamen Stationsmänner, Frischgemüse, lebendes Vieh für alle Überwinterer dürfen nicht fehlen; denn alles und jedes muß mit den Schiffen in diese weltentlegenen ödmark-Zonen gebracht werden. Zwei Flieger melden sich beim Kapitän. Das Bordflugzeug ist in Murmansk überholt worden und steht zur Übernahme auf die Katapultanlage des Eisbrechers bereit. „Tja —" sagt Sergej zu Pawel, dem älteren Piloten, „war doch damals anders, als wir nach dem ersten Weltkrieg die wenigen Stationen ver4
Arktis-Eisbrecher mit Schraube am Heck und am Bug. Die Schilfe sind mit ihrem abgerundeten Bug in der Lage, aui die Eisdecke aufzulaufen und sie mit ihrem Gewicht und mit ihrem Stoß zu zerbrechen. Dicht angebrachte Spanten im Vorschiff, verdoppelte Außenhautplatten und eine große Zahl von wasserdichten Schotten erhöhen die Sicherheit des Schilfes. Die Schraube unterhalb des Bugs dient dazu, die brechende Kraft des auflaufenden Eisbrechers zu unterstützen. Sie beginnt sich •zu drehen, sobald das Schilf auf die Eisdecke aufgefahren ist. Wie eine Saugpumpe saugt sie das Wasser unter dem Eise fort und entzieht ihm so die Unterlage. Am Heck sind die Eisbrecher oit breit ausladend gebaut, um das Eis bequem beiseite drücken zu können. sorgten. Da gab es noch keine Flugzeuge auf dem g u t e n Eisbrecher ,Jermak', Gott h a b ihn selig, den alten Kasten!" Der Kapitän verläßt einen Augenblick die Brücke, um in der Bordfunkstation die n e u e s t e n M e l d u n g e n ü b e r die Eislage in der Karischen See entgegenzunehmen. Von den Küstenstationen wird gefunkt, daß sich das Packeis seit dem letzten Bericht kaum merklich geändert h a b e . Die K a r a w a n e wird also hart kämpfen müssen. Einige starke Eisbrecher sind schon v o r a u s gefahren und arbeiten an den besonders schwierigen Stellen. Sie e r w a r t e n dort den großen Geleitzug und w e r d e n den Frachtschiffen behilflich sein. Auch v o n den Piloten der Bordflugzeuge, die ihre ersten Beobachtungsflüge hinter sich haben, kommen Funkberichte nach Murmansk. Kapitän Sergej macht kein freundliches Gesicht, als er die Lage überdenkt. Als alles W e r t v o l l e im Innern der Schiffe verstaut ist, erhält jeder Frachter noch eine g u t e Decklast Bunkerkohle für die 5
lange Reise. Die neuen Stationsbesatzungen für das kommende Uberwinterungsjahr haben sich mit Sack und Pack eingefunden. Manches Schiff mutet mit seiner Fracht von Menschen und Tieren wie eine „Arche Noah" an. Der Konvoi-Eisbrecher gibt mit seiner alles übertönenden Sirene das Signal, löst sich vom Kai und setzt sich ab. Dann werfen auch die Frachter die Trossen los und werden von kleinen breitbrüstigen Schleppern ins freie Wasser hinausmanövriert. Langsam gleitet der massige, schwarze Stahlriese vorauf in die weite Bucht. In langer Kiellinie folgen ihm unter dem ohrenbetäubenden Abschiedsgeheul aller Sirenen mit weithin wehenden Rauchfahnen die Fahrzeuge. Das große Abenteuer der Eisfahrt nimmt seinen Anfang . .. Als der Geleitzug unter Führung des Eisbrechers die KolaEinfahrt passiert hat, pflügen die schwer beladenen Schiffe mit östlichem Kurs stampfend und rollend die wildbewegte Barents-See. Unterwegs stoßen, aus dem Weißen Meer, von Archangelsk herkommend, noch- etliche Nordfahrer dazu. Der Expeditionsführer hat nun alle sechzehn Schiffe seiner Karawane beisammen. In der Barents-See, dem Randmieer des Arktischen Ozeans, ist zu dieser Jahreszeit kein Eis aus dem Inneren des Polarbeckens zu erwarten. Hier wirkt noch die „Fernheizung" des Golfstroms, dessen 8 ° warmes Wasser genug Kraft besitzt, um eine ungeheure, bis gegen Spitzbergen sich wölbende Bucht in das zentralpolare Eis hmeinzuschmelzen. Nirgends sonst im weiten Rund um den Pol springt die Grenze der „freien Schiffahrt" — bis zu der auch einfache Seeschiffe ohne Gefahr fahren können — so weit nach Norden vor wie zwischen Grönland im Westen und Nowaja Semlja im Osten. Die natürliche Barriere dieses Doppel-InselUandes lenkt die Ausläufer des Golfstromes fast völlig nach Norden ab. Der Warmstrom taucht schließlich unter die kalten Polarströme; aber noch am Nordool sind Ausläufer dieser Warmströmung tief unter der Oberfläche der Eispackungen festgestellt worden.
Im Eiskessel der Kara-See „Karische Straße zwischen der Südinsel Nowaja Semljas und der Waigatsch-Insel frei von Eis!" Die Wetterwarte an der fi
wichtigen Durchgangspforte gibt diese Meldung an das Führungsschiff. Der ostwärts der Straße wartende Eisbrecher funkt für die Kara-See selber starke Bewegung der Treibeism'assen und vereinzelte Packeisfelder; sein Katapultflugzeug halte sie jedoch unter dauernder Beobachtung. Aus alledem ergibt sich für den Expeditionsführer, daß er ohne die Hilfe des Stationseisbrechers die Frachter schwerlich durch den berüchtigten „Eiskessel" des Karischen Meeres hindurchbekommt. Er weist den Kapitän des Eisbrechers an, sich seiner Expedition anzuschließen. In fanger Linie dampft die Schiffskarawane, zunächst noch ohne Behinderung, aus der Karischen Straße gen Osten. Kapitän Sergej freut sich, daß er diese meist schlimme Etappe hinter sich hat. Oft genug staut sich schweres Packeis weithin vor der Karischen oder der Jugor'schen Straße, die das Festland von der Insel Waigatsch trennt-, dann müssen die Schiffe versuchen, weiter nördlich durch die Matotschkin-Straße (zwischen dem Nord- und Südteil Nowaja Semljas) hindurchzukommen oder gar die Nordinsel zu umrunden. Als Sergej noch als Matrose im Eismeer fuhr, war das immer ein riskantes Unternehmen. Jetzt aber qibt es am Matotschkin-Schar und iam Nordkap Nowaja Semljas Funkstellen und erprobte Erkundungsflieger. Der Stationseisbrecher von der Karischen Pforte, der sich der Karawane beigesellt, ist keiner von den ganz neuen, sondern ein bejahrter Veteran, aber ein wohlbewährter aus den ersten Zeiten des Ringens um die Nordost-Passage, noch vor dem ersten Weltkriege. Die hohe Sommersonne steht über der grünschwarzen, vom Nordwestwind aufgerauhten Weite der Kara-See. Hier geht sie schon gar nicht mehr unter um Mitternacht; so weit nördlich ist man, so nahe dem Mittsommertag. Funkmeldungen der nächsten Stationen gehen ein. Station Mora Säle auf Jalrmal, der die Kara-See nach Südosten 'abschließenden Samojeden-Halbinsel, und die Station Port Dickson, die Zentrale des Wetter- und Eisdienstes längs des Nord-Seeweges, melden für diesen Raum starke Eisstauungen. Dröhnend zieht das auf Erkundung ausgeflogene Bordflugzeug auf den Geleitzug zu und stößt auf den Eisbrecher herunter. Eine Kapsel fliegt, zielsicher geworfen, dem Kapitän auf der Brücke fast genau vor die Füße. Sie unterrichtet über die weitere Lage: Nach ein paar Stunden wird man auf das erste Eis stoßen! Nun gilt es, sich zu beweisen, wie man 7
es immer wieder aufs neue tun muß auf dieser Straße des Eismeeres. Der Karawanenführer trifft seine Anordnungen. Im „Krähennest", hoch am Vormast, steht der erste Offizier des Eisbrechers. Bei der klaren Sicht dieses strahlenden Tages kann er von seinem Ausguck mindestens dreißig Kilometer weit sehen. Unablässig schaut er durch sein Glas ostwärts, wo ein heller Widerschein am Horizont den „Eisblink", den Grenzbereich zwischen Treibeis und offener See, anzeigt. Für den erfahrenen Eis-Schiffer steht die Karte der Eisbedingungen sozusagen an dien Himmel geschrieben, über offenem Wasser ist der Schein dunkel, dagegen aufgehellt oder strahlend, wenn sich dort ein großes ebenes Eisfeld oder Eis in gepackter Masse befindet. Die Flugzeuge der beiden Eisbrecher, die hier zugleich die Rolle der Eislotsen haben und die Übersicht über die Eis Verhältnisse um ein Vielfaches erweitern, melden laufen durch das Bordtelefon, wo sich Rinnen öffnen, die gute Mö lichkeit zum Durchkommen bieten, und welchen Kurs d Geleit .zu fahren hat. Der hinzugekommene Eisbrecher hä sich zumeist seitlich der hart aufschließenden Frachter, di in langer Linie hinter dem schwarzen Riesen herziehen. Bald zeigen sich die ersten Vorboten des treibenden Eise vereinzielte Schollen zunächst, dann größere Eisbänke un Tafeln; und dann liegen vor dem breiten, hochgezogene Löffelbug <Ses stählernen Rammbären dichte, endlose Eisfelder. Zwei Meter ist dieses Eis stark. Je nach der herrschenden Windrichtung und je nach den Strömungen befindet es sich in ständiger Bewegung. Mühelos bricht der Konvoiführer den Weg frei für die nachfolgenden Fahrzeuge. Ein paar Stunden geht es gut voran; wo eines der Schiffe zurückbleibt, eilt der Veteran zu Hilfe, um Luft zu schaffen. Aber dann trifft man auf Pakkungen, denen der Geleitzug nicht ausweichen kann. Ein ziemlich breiter Gürtel ist zu durchbrechen. Wind und Strömungen haben die Eisfelder vor der Nordspitze Jalmals und vor der Weißen Insel, ihrem Vorposten, zusammengeballt. Ein mächtiger Sturm tat ein übriges; er zersplitterte die Riesenfelder zu Platten und türmte sie zu viele Meter hohen Hügeln und Wällen, die sich als lange, bizarr geformte Bänder hinziehen. Der Karawanenführer ist ein sogenannter „Übereisbrecher" neuester Bauart, der sich oft schon in den schwierigsten fi
lagen bewährt hat. Mit voller Fahrt durch eine lange Spalte im Eis anlaufend, rennt der stahlumrandete Koloß mit der ganzen Wucht seiner 11000 Tonnen und seiner 10 000 PS gegen die erste Barre an. Mit donnerndem Getöse, krachend und splitternd, schlägt der Eisbrecher eine Bresche in das Hindernis, breit genug auch für den Größten in seinem Gefolge. Denn Eisbrecher sind breit gebaut, das Verhältnis ihrer Länge zur Breite beträgt etwa 4 : 1 , während ein normales Handelsschiff das Verhältnis 8 : 1 aufweist. So bahnt sich das Führungsschiff, immer von neuem anrennend, den Weg. Die Hauptarbeit liegt bei ihm. Der zweite Eisbrecher hilft den maschinenschwächeren Schiffen, wenn sie im Eisbrei steckenbleiben, der sich schnell in den Rinnen bildet. Pausenlos rammt der rundgewölbte Bug gegen die wildgepackten Eisbarren, schiebt sich hinauf, zermalmt mit der ungeheuren Kraft der Stahlmassen die splitternden Türme und Schollen und drückt die Trümmer beiseite. Ein moderner Eisbrecher „schneidet" ja eigentlich das Eis nicht; das besorgt höchstens seine „Eissäge". Dieses Hilfsmittels bedient man sich, wenn die Eispackungen sich nicht mehr bezwingen lassen, weil sie einfach zu dick sind. Dann wird der „Strahlschneider" in Tätigkeit treten; unter dem messerscharfen Druck von 60 Atmosphären zersägt ein Wasserstrahl die dicksten Eisbrocken. Schließlich bleibt als letztes, wirksamstes Mittel — Dynamit! In immer schnellerer Folge treffen die Eismeldungen ein, geben kreisende Flieger ihre Nachrichten durch und werfen Lagekarten ab. Nur noch eine einzige schwierige Meile — läßt der Geleitführer an die Fahrzeuge weitergeben — dann habe man den Eiskessel der Kara-See für dieses Mal überwunden. Eine breite Rinne wird sich alsbald öffnen — weithin gegen das Mündungsdelta des Ob, wohin ein Teil des Geleits beordert ist. Doch liegt die Rinne beängstigend nahe unter Land. Dort ist das Fahrwasser zuweilen recht seicht, und auf die Seekarten dieser Gegend kann man sich nicht verlassen. So wird das Echolot in Tätigkeit treten, das laufend registriert, wieviel Wasser noch unter dem Kiel ist. Da'' Funkpeilgerät wird durch Einpeilen auf bekannte landfeste Stationen zusätzliche Kurssicherung bieten. Ohne Eisbrecher, ohne Flugzeuge und die ständig unterhaltenen Polarstationen gäbe es keine Seefahrt in den vereisten Gebieten der Arktis. 9
S e e b a u e r Ottar und s e i n e Nachfolger Wir wollen nun für einige Augenblicke die Karawane der Arktisschiffe verlassen und einen Blick zurückwerfen in die interessante Geschichte dieser nördlichen Schiffahrtsstraße. Der erste, der sich in diese Regionen des treibenden Polareises vorwagt, ist gegen Ende des 9. Jahrhunderts n. Chr. jener sagenhafte Seebauer Ottar von Haalogaland aus Nordnorwegen. Er steuert sein Drachenboot um das bis dahin von keinem Europäer umfahrene Nordkap Europas; er dringt in die Barents-See und in das Weiße Meer ein. Als erster schaut er dort die treibende Front des ewig lastenden Meereises und wendet, überwältigt von seiner Gewalt, den Kiel wieder seiner norwegischen Heimat zu. Nach der Entdeckerfahrt des Nordwikingers Ottar, dem man den Beinamen „Der Kühne" gegeben hat, ist die Eiswelt vor den Nordküsten Europas für ein gutes halbes Jahrtausend in das Dunkel völliger Vergessenheit geraten. Da baut der Nürnberger Martin Behaim im Jahre 1492, heimgekehrt von weiten Reisen, eine Nachbildung der Erde in Kugelgestalt, was seit der Zeit der Griechen kein Kosmograph mehr gewagt hatte; denn die Erkennntnis von der kugelförmigen Erde hatte erst in jenen Jahrzehnten des ausgehenden 15. Jahrhunderts die mittelalterliche Vorstellung von der Flächengestalt der Erde abzulösen begonnen. Die Kugel lieferte den handgreiflichen Beweis, daß es zum Stillen Ozean und in das Wunderland China viel nähere Seewege geben mußtse als die Seestraße um das Kap der Guten Hoffnung, die als erster der portugiesische Seefahrer Bartholomeu Diaz befahren hatte. Die großen Entdeckerfahrten, die nun allmählich das wahre Bild der Erde enthüllten, die Auffindung Amerikas und die Umsegelung der Südspitze des südamerikanischen Festlandes durch Magellan ließen neue Möglichkeiten der Verbindung zwischen westlicher und östlicher Hälfte des Erdballes erkennen. Hatte man bereits aus Behaims metallenem „Apfel" den kühnen Schluß gezogen, daß der Kurs durch das nördliche Polarmeer oder gar über den Pol .selbst gelegt werden könnte, so beschäftigte man sich nun mit Plänen einer n o r d w e s t l i c h e n Durchfahrt nach China, die den Nordküsten Amerikas folgt, und einer n o r d ö s t l i c h e n längs des Nordrandes Europas und Asiens. Besonders die in
Um das Jahr 1500, als sich die Ober zeugung durchsetzte, daß die Erde eine Kugel sei, ergaben sich bei der Betrachtung des Globus vier mögliche Seewege nach China, Indien und die Ost- und Nordostküste Nordamerikas. Den ersten Weg (s. Abb. 1) um die Sädspitze Airikas (Kap der guten Holtnung, Kap der Stürme) erötineie der portugiesische Seelahrer Barlholomeu Diaz im Jahre 1487. Der zweite Weg (2) iührt durch die 600 km lange Straße zwischen dem südamerikanischen Festland und Feuerland. Sie wurde durch den Portugiesen Fernao de Magellan am 28. Nov. 1520 erstmals durchlasen (Magellan-Straße). Der dritte Seeweg (3) in den Stillen Ozean Iührt um Nordeuropa längs der Nordküste Rußlands zur BeringstraBe, die 75 —• 100 km breit zwischen Kap Deschnew und Kap Prince ot Wales Asien und Nordamerika trennt. Als erster beiuhr der Schwede Nordenskjöld im Jahre 1878/79 diesen kürzesten Weg von Europa zum Stillen Ozean. Die vierte Wasserstraße (4) geht am Nordrand des amerikanischen Festlandes entlang. Diese nordwestliche Durchiahrt (NordwestPasage) wurde aber bis heute zu Schill noch nicht bezwungen. Im 19.120. Jahrhundert kamen die Wasserstraßen durch den Suez-Kanal und durch den Panama-Kanal als iüntter und sechster Seeweg hinzu.
neu entstehenden Seiefahrer-Nationen England und Holland n e h m e n w a g e m u t i g die G e d a n k e n auf, da die ü b e r l e g e n e n Seemächte Spanien und Portugal die Benutzung aller b e k a n n t e n Ozeanstraßen für ihre eigenen Handelsflotten beanspruchen. Briten und N i e d e r l ä n d e r sind gegen Mitte des 16. J a h r h u n d e r t s die ersten auf der Suche nach den NordDurchfahrten. Doch n u r auf der Nordostpassage, die an den Eismeerküsten Europas u n d Asiens entlang führt, kommt schließlich der g e w a l t i g e Einsatz zu einem gewissen Erfolg. Wahrscheinlich h a b e n schon vor den Briten und Niederländern sibirische N o r d b e w o h n e r mit winzigen Booten Eismeerschiffahrt über die Kara-See bis zum Ob und Jenissei betrieben. J a g d und Fang und der H a n d e l mit d e n samojedischen Jägern und Rentier-Nomaden lockten sie wohl. Leider !I
„„„ »Kontpnerlichen ist uns fast nichts von- jdiesen a b e n t e u e r n d Vorstößen in die Treibeismeere überliefert. H l l l 1 , n n versuchen, Manche, so der kühne Engländer Henry Hudson, J ef ^ m e n , den Weg nach Fern-Ost über den Nordpol z u ^ ^ ' Sie mußten scheitern, da das Meer um den Pol keineswegs — wie man früher angenommen hatte — offenes Fahrwasser bietet. Keinem Schiff, auch keinem „Übereisbrecher , ist es bisher gelungen, die gigantische Eispackung, die den Pol umgibt, zu durchbrechen. So lassen die Chinafahrer schon bald von diesen Versuchen ab. Britische und niederländische Kapitäne stoßen also über die Barents-See nach Osten vor. Sir Hugh Willoughby ist der erste, den im Jahre 1553 der gefährliche Eiskessel der Kara-See zum Rückzug zwingt. Er ist auch der erste, der dann an der Küste Kolas mit seinem „Flaggschiff", das sage und schreibe 150 Tonnen groß ist, überwintern muß und dabei zusammen mit seiner Mannschaft das Leben einbüßt. 1594 sind es Niederländer, denen das Packeis der Kara-See ostwärts Nowaja Semlja Halt gebietet, über das Karische Meer kommen sie nicht hinaus. Aber ein kleines Eiland dicht vor der Insel Waigatsch scheint sie für alle aufgewandte Mühe zu entschädigen. Die Männer, die an Land gegangen sind, finden goldschüssiges Gestein, gelbblinkende Adern inmitten der Kiesischichten. Sie packen so viel davon in ihre Frachter, wie die Laderäume fassen, und segeln heimwärts. Doch die geheimnisvolle Arktis narrte sie. Was sie für Gold gehalten hatten, war nichts als wertloser Schwefelkies. Mit Ingrimm hören die Enttäuschten daheim das Gutachten der Alchimisten, denen sie das „Gold" zur Prüfung vorgelegt. Andere niederländische Polarfahrer folgen im Kielwasser jener ersten Nordost-Segler. Freilich wagen auch sie sich mit ihren gebrechlichen, hölzernen Segelschiffen nur in den kurzen Sommermonaten in die gefährlichen Zangen arktischen Meereises. Willem Barents, Jakob van Heemskerk;, Linschoten, Jan Cornelius Rijp sind die Namen dieser Nordost-Passagesucher. Barents ist so tollkühn, nicht durch das „Karische Tor", die Straße von Waigatsch, in die Kara-See einzudringen. Er versucht, Nowaja Semlja an der Nordküste entlang zu umrunden. Aber sein Schiff setzt sich fest, und so sehen sie sich gezwungen, auf der Insel zu überwintern. Eine aus Treibholz gezimmerte Hütte bietet ihnen Schutz gegen die grausige Kälte. Im Frühjahr machen sie den Segler wieder flott und brechen zur Rückfahrt auf. Die 16 Mann !?
Im Jahre 1879 — dreihundert Jahre nach dem tragischen Untergang des holländischen Passagesuchers Barents — iand man die unversehrte Vberwinterungshütte seiner Expedition von J576 im Eis der Nordmeerinsel Nowaja Semlja. Der eingehende Bericht, den Barents über den Verlauf seiner Fahrt niedergelegt hatte, wurde in einem Puiverhorn im Kamin der Hütte entdeckt. Die Hütte wurde nach Europa gebracht und steht heute wiederaufgebaut im Rijks-Museum zu Amsterdam.
seiner Besatzung kommen durch, Barents selber wird ein Opfer des furchtbaren Skorbuts. Es ist jene typische Polarkrankheit, der „Scharbock" des Mittelalters, erzeugt durch den Mangel an Vitaminen im Salzfleisch und Hartbrot dies Schiffsproviants. Eine gräßliche Krankheit, die mit Entzündungen der Zähne, mit Blutungen, Geschwüren und allgemeiner Entkräftung einhergeht. Barents hinterläßt einen ergreifenden Bericht von seiner Ostfahrt. 300 Jahre später findet man seirie Papiere mitsamt der Uberwinterungshütte unversehrt, wie ihre Bewohner sie im Jahre 1637 verlassen haben. Mit all ihrer Einrichtung ist sie der Nachwelt in dem berühmten Rijksmuseum zu Amsterdam erhalten geblieben. Unternehmungsfreudige niederländische Kaufleute senden immer neue Expeditionen nordostwärts, um über das Karische 13
Vorroeer hinauszukommen. Es gelingt den Seglern schließlich, bis an die Westküste der Halbinsel Jalmal vorzudringen. Hier tauschen sie mit Russen und sibirischen Eingeborenen ihre Waren gegen kostbare Zobelfelle und anderes begehrtes Pelzwerk vorteilhaft ein. An dieser Stelle, am Ausgang des Ob-Golfes, wächst der Handelsplatz Mangeseya auf; aus Inner-Asien, China und Indien bringen Karawanen auf alten und neuen Straßen Gewürze und ander« in Europa hochgeschätzte Handelsgüter bis zu diesem Hafen, und die Kauffahrtteisegler tragen dann die kostbaren Frachten zu der niederländischen Küste. Im Jahre 1620 untersagt der russische Zar den unkontrollierbaren und deshalb höchst unerwünschten Handel an der Nordküste seines Reiches und befiehlt seinen eigenen Landsleuten, selber die riesig ausgedehnten Nordsäume Sibiriens zu erforschen. Auch diese abenteuerfrohen Männer Alt-Rußlands setzen ihren eisernen Willen und ihre sehr primitiven Hilfsmittel gegen die Macht des Eises ein. Aber keinem von ihnen gelingt es, die ganze Nordstraße zu durchfahren. Das mag im Zeitalter des Flugzeugs, des Funks und der dieselelektrisch getriebenen Mammuteisbrecher nicht sehr verwundern. Um so größer ist die Achtung vor dem oft an Tollkühnheit grenzenden Entdeckermut jener Männer. Erst im Jahre 1736 gelingt es den Russen Malygin und Skuratow, von Archangelsk aus über die Kara-See die Einfahrt in das tiefe und breite Mündungsdelta des Ob zu gewinnen. Fast eineinhalb Jahrhunderte vergehen wieder, bis die nächsten Versuche zur Bezwingung des Sibirischen Seeweges unternommen werden. Diesmal ist es der norwegische Fangschiffer Mack aus Tromsö, der — welch ein unerhörtes Glück! — in eisfreiem Fahrwasser bis in die Gegend östlich der Jenissei-Mündung vordringt (1871). Drei Jahre später führt der britische Kapitän J. Wiggins den ersten Handelsdampfer in die Mündung des Ob. 1878 erreicht das erste Dampfschiff den ostsibirischen Riesenstrom. Lena und befährt ihn landein bis Jakutsk. Ein Bremer Frachter ist noch im gleichen Jahre das erste Seeschiff, das vom Atlantik her den Jenissei erreicht und 1800 Kilometer stromauf bis zur Stadt Jenisseisk dampft. Dort tauscht der deutsche Kapitän Dallmann seine Ladung gegen sibirische Erzeugnisse aus und erreicht glücklich wieder den Heimathafen an der Wesermündung. Durch diese Pionierfahrten ist die Erschließung der ge14
waltigen Naturreichtümer Nordasiens von der Nordost-Passage her eingeleitet. Dank der hochentwickelten Technik hat der Mensch schließlich über die Macht des arktischen Eises gesiegt. So hat es zumindest den Anschein. Dieser Erfolg ist nicht zuletzt auch einem überraschenden „Entgegenkommen" der Natur selber zu danken. In der Arktis ist es nämlich seit etwa einem halben Jahrhundert erheblich wärmer geworden. Das Meereis ist um ein Viertel weniger stark als in den Jahren 1893/96, da Fridtjof Nansen mit seiner „Fram" durch ,,Nacht und Eis" driftete. Auch die Gletscher auf den arktischen Inseln gingen in den letzten Jahrzehnten merklich zurück; um etwa 15 Prozent nahm in dieser Zeit die feste Eisbedeckung der Arktis ab. Die Waldgrenze schob sich weiter nach Norden vor. Niemand vermag indes zu sagen, ob nicht eine „Kälte-Periode" die Periode der Erwärmung schon bald wieder ablösen wird. Erst dann wird man erfahren, ob die Entwicklung der technischen Hilfsmittel sich auch unter ungünstigeren klimatischen Verhältnissen den Gewalten des Eises überlegen erweist.
Nordenskjöld b e z w i n g t Nordost-Durchfahrt Als der schwedische Freiherr Adolf Erik von Nordenskjöld im Polarsommer 1878 auf seiner berühmten „Vega'-Expedition in den berüchtigten Eiskessel der Kara-See vorstößt, hat die Erwärmungsperiode freilich noch nicht eingesetzt. Nordenskjöld vertraut den Erfahrungen, die er als Polarforscher bereits auf früheren Passagefahrten gesammelt hat. Mehrmals hatte der Schwede den Kiel seines Schiffes durch die treibenden Eisfelder des Karischen Meeres bis in das Mündungsgebiet des Jenissei gesteuert; die Besatzung seines Fahrzeugs ist zu polarerprobten Seebären erzogen. Nun will Nordenskjöld mit diesen Männern in einem einzigen Anlauf die Riesenstrecke bis in den Stillen Ozean erkämpfen. Dem wagemutigen Schweden steht in der „Vega" für sein wohldurchdachtes und vorbildlich ausgestattetes Unternehmen ein vortreffliches Schiff zur Verfügung, das neben seiner Takelung als Bark (einem dreimastigen Segelschiff) auch eine Dampfmaschine führt. Die „Vega" war 1872/73 auf einer Bremerhavener Werft eigens für den Wal- und Seehundfang im Nördlichen Eismeer gebaut worden. Das Schiff hat sich dann 15
Zeichenerklärung ungefähre Grenze des zentral-polaren Meereises (Treibeis). Wetterwarten, Funkstationen für Eismeldung, wissenschaftliche Stützpunkte. Orte, an denen zur Zeit der sommerlichen Schiffahrt Eisbrecher zur Hilfeleistung stationiert
Nordost-Passage mit Abzweigungen.
Barents-See hat Fernheizung vom Golfstrom. Daher zum Teil eisfrei. Nördlichste Wetterstation der Welt, 800 km vom Pol ent-
Eine stets gefährliche Stelle für die Schiffahrt, Hauptk&mpfgebiet der Eisbrecher. Didcson-Radio „macht" das Wetter dei gesamten rassischen Arktis. Die Funkmeldungen von mindestens 150 Stationen kommen hier zusammen. Größter Umschlag- und Verarbeitungsplatz für sibirisches Holz. Gefährliche Stelle für die Schiffahrt. Auch im Sommer oft schwere Packeisbarriere. Kältester Ort der Erde. Hier werden —78 Grad Celsius gemesser».
auch glänzend bewährt. Sein Kapitän L. Palander trägt durch seine umsichtige Führung viel zum Gelingen dieser Expedition bei, die zu den großen Entdeckungsreisen der Weltgeschichte zählt. Ende Juli 1878 geht die „Vega"-Expedition von Tromsö aus in See. Drei Fahrzeuge, die kleinen Segler „Fräser" und „Expreß" und das stählerne Dampfboot „Lena" haben sich angeschlossen; sie sind nach Sibirien bestimmt und haben Tauschwaren zu Handelszwecken und Proviant und Kohle für die „Vega" an Bord. Am 1. August schon gewinnt die Flottille durch die Jugor'sche Straße die Einfahrt in das Karische Meer. Fast völlig frei von behinderndem Eis liegt die verrufene See. Kaum acht Tage später steht die „Vega" mit ihrem Gefolge in der Brandung der Dickson-Insel, die vor dem Auslauf des Jenissei liegt. Von hier gehen die Begleitschiffe „Fräser" und „Expreß" alsbald stromauf an ihre Bestimmungsorte. „Vega" und „Lena" dampfen weiter in Richtung Nordost. Am 19. August ist ein seit Jahrhunderten erstrebtes Ziel erreicht: zum ersten Male gehen aus Europa kommende Schiffe vor Kap Tscheljuskin vor Anker. Es ist mit 77° 29' nördl. Breite der am weitesten gegen den Pol vorspringende Festlandspunkt der Welt; Kap Tscheljuskin liegt rund 700 Kilometer nördlicher als Fort Roß, das Nordkap Amerikas auf der Halbinsel Boothia Felix. Es war ein seltener Glücksfall, daß diese auch heute noch gefürchtete Landspitze auf der weit vorspringenden Taimyr-Halbinsel keinerlei Schwierigkeiten machte, denn die gewaltigen Eisstauungen vor diesem Kap sind fast in jedem Jahre furchtbare Sperren. Nach der Überwindung von Kap Tscheljuskin liegen aber immer noch zwei Drittel eines fast völlig unbekannten Seewegs vor den „Vega"-Leuten. Dem gewissenhaften schwedischen Forscher und seinen Mitarbeitern geht es nicht so sehr um eine Rekordfahrt; ihre vernehmlichste Aufgabe ist es, diese Meeresgebiete wissenschaftlich zu erforschen. Ein Stab von Fachleuten ist an Bord. Neue Karten entstehen, und die unzulänglichen und fehlerhaften Meeres- und Landkarten werden korrigiert. Mit dem Schleppnetz holen sie Getier und Pflanzen vom Meeresgrund herauf, sie rudern an die Küsten und auf die zahlreichen Inseln, suchen Verbindung mit den wenigen Bewohnern, die sie antreffen, treiben Sprachstudien und sammeln geographische und
volkskundliche Bobachtungen. Wertvoll sind die ozeanographischen und meteorologischen Messungen. Eigentlich ist die „Vega" eine kleine, schwimmende naturwissenschaftliche Universität, die den Vorzug hat, sich mitten in ihrem besonderen Studiengebiet zu bewegen. Am 27. August, einen Monat nach dem Aufbruch in Tromsö, kreuzen die beiden Fahrzeuge bereits vor dem riesig breiten Mündungsdelta der Lena; hier trennt sich der Dampfer „Lena" von der „Vega", um in den Fluß einzubieaen. Einen Monat später gehen die Männer der „Lena" in Jakutsk, 1100 Kilometer Luftlinie von der Mündung entfernt, an Land. Auf dem gewaltigen Wildstrom Sibiriens ist die Reise unter dem norwegischen Walfängerkapitän Johannsen eine seemännische Leistung von Rang und in der Geschichte der Schiffahrt ein denkwürdiges Ereignis. In einer fast unbehelligten Fahrt kommt indes auch die „Vega" Nordenskjölds gut vorwärts. Die letzte Strecke bis zur Beringstraße ist kein unbefahrener Kurs mehr. Vom Stillen Ozean her sind schon mehrmals kühne Seefahrer in diesen Teil des Nördlichen Eismeeres vorgedrungen. So dürfen die mutigen Passagefahrer der „Vega" hoffen, daß sie noch vor dem Eintritt des Winters die Ostspitze Asiens und damit die Einfahrt in den Großen Ozean gewinnen. Am 10. September ist dieser Punkt fast erreicht. Das Alttreibeis, das sich gegen den Vordersteven des Schiffes schiebt, braucht keine Sorge zu machen, der kräftige Schiffskörper bricht mit Leichtigkeit Kanäle in die treibenden Schollen. Keiner der Männer zweifelt daran, daß die NordostPassage nun sturmreif ist. Seemeile um Seemeile wird überwunden. Nur in den Nächten, wenn das Neueis die Fahrt der „Vega" bremst, wird Nordenskjöld unsicher. Am 28. September 1878, als er eben den Bug nach Süden wenden lassen will, setzt plötzlich noch stärkeres Eis ein, und ein Packeisfeld versperrt der „Vega" den Weg. Der Dreimaster sitzt fest — lächerliche 200 Kilometer vor dem Ziel. Auch die Dampfmaschine kommt gegen das Neueis und das Packeis nicht mehr an. An einem Grundeisstock geht die „Vega", eingeschlossen von riesigen Brocken, vor Anker. Mit den niederrasselnden Ankerketten versinkt auch der erträumte Ruhm, die noch von niemandem bewältigte Nordost-Passage in zwei Monaten erzwungen zu haben.
Die Schweden finden sich mit der Tatsache ab, daß sie zum überwintern festliegen. Nordenskjölds Tagebuch verzeichnet hierzu: „Dieses Mißgeschick war um so schwerer mit Gleichmut zu ertragen, als es klar war, daß wir demselben entgangen sein würden, wenn wir nur einige Stunden früher an die östliche Seite der Koljutschin-Bucht gekommen wären. Es hatte während des vorhergehenden Teiles der Reise zahlreiche Gelegenheiten gegeben, diese Stunden zu sparen." Erst am 18. Juli des nächsten Jahres gelingt es der „Vega", wieder freizukommen. Zwei Tage später ist die Passage endlich gelungen, schwimmt die „Vega" frei in der Meerenge, die Asien von der Neuen Welt, von Amerika, trennt. — Der Bezwinger dieser arktischen Meeresstraße, die nach dem dänischen Seefahrer Vitus Bering benannt ist, mag selbst die Eindrücke schildern, die ihn und seine Mannschaft in diesem denkwürdigen Augenblick erfüllten: „Der Nebel hielt sich, so daß wir nicht das Geringste mehl vom Lande wahrzunehmen vermochten, bis am Morgen des 20. Juli 1879 endlich wieder dunkle Höhen am Horizonte auftauchten. Es waren die Gipfel der Berge der östlichsten Spitze Asiens, des O s t k a p s. Der Name Ostkap ist meiner Ansicht nach eine wenig passende Benennung für diese Spitze, weswegen ich ihn auf der Karte gegen den Namen Kap Deschnew ausgetauscht habe. Ich wählte den Namen nach dem kühnen Kosaken, der vor 230 Jahren das genannte Kap zum ersten Male umsegelte. Um 11 Uhr vormittags waren wir mitten in der Meeresenge, die das Nördliche Eismeer mit dem Stillen Ozean verbindet und begrüßten von der „Vega" mit Flaggen und schwedischem Salut die Alte und die Neue Welt. Endlich war also das Ziel erreicht, nach dem so viele Nationen gestrebt hatten, seitdem Sir Kugh Willoughby unter Kanonensalut und den Hurrarufen seiner festlich gekleideten Matrosen und in Gegenwart einer jubelnden Menschenmenge im Jahre 1553 siegesgewiß die lange Reihe der Nordostfahrten eingeleitet hatte. Aber alle auf jene Expeditionen gesetzten Hoffnungen wurden grausam getäuscht. Sir Hugh und seine sämtlichen Begleiter kamen um als Bahnbrecher für Englands Seefahrt und als Vorkämpfer für weitere Expeditionen in die eisbedeckten Meere, die Europa und Asien im Norden begrenzen. 20
Unzählige andere Expeditionen haben seitdem diesen Weg betreten, nie aber mit Erfolg und oftmals mit Aufopferung von Fahrzeugen, von Leben und Gesundheit so mancher mutigen Seeleute. Erst jetzt, nach Verlauf von 336 Jahren, und obwohl die meisten mit den Verhältnissen der Seefahrt im Eis vertrauten und erfahrenen Männer dieses Unternehmen für unausführbar erklärt haben, ist die Nordost-Passage bezwungen worden. Und dies ist, dank der Tüchtigkeit der Leute unserer Marine und des Ordnungssinnes ihres Befehlshabers, ohne Krankheiten unter den Teilnehmern dieser Expedition, ohne die geringste Beschädigung des Schiffes und unter Umständen erreicht worden, die zeigen, daß dieselbe Fahrt in den meisten, ja vielleicht in allen Jahren in nur wenigen Wochen wieder zu machen ist. Unter solchen Verhältnissen dürfte es auch wohl verzeihlich sein, daß wir mit Stolz die blaugelbe Kreuzflagge zur Mastspitze hinaufgleiten sahen und den schwedischen Salut auf der Meerenge hörten, über die hinweg die Alte und die Neue Welt sich die Hände reichen. Es war dieser und der vorausgegangenen schwedischen Expedition vergönnt, der Schiffahrt einen Ozean zu eröffnen und nahezu der Hälfte eines Erdteils die Möglichkeit einer Fernverbindung mit dem Weltmeere zu schenken." Vier Jahrzehnte vergehen nach der kühnen Entdeckerfahrt Nordenskjölds, bis Amundsen, der berühmte Nordmann, als zweiter die Nordost-Passage von West nach Ost, jedoch in viel längerer Zeit, mit vier Überwinterungen (1918/1922) bezwingt. So kann das Glück wechseln! oder — richtiger — so verschieden können sich die Eisverhältnisse in der Arktis den Passagefahrern darbieten. Nie wird die nordöstliche Durchfahrt ohne Risiko sein.
Jonas Lied — ein moderner Wikinger Gegen Ende des 19. Jahrhunderts greifen nach Nordenskjölds erster Umsegelung der Alten Welt unternehmungskühne Kaufleute die Verbindung über das Nördliche Meer wieder auf. Jetzt versteht man, eisfeste Dampfer aus Stahl mit riesenstarken Maschinen zu bauen. Sie sind nicht mehr wie die winzigen hölzernen Segler der frühen Arktisfahrer von vielerlei Zufälligkeiten, von Eis, Nebel, Wind und Strömung, abhängig. Das Ziel dieser Handelsfrachter ist zunächst 21
auf das Küstengebiet zwischen Archangelsk und Jenissei begrenzt. Die Dampfer fahren nach Westsibirien, um dort in den Mündungen von Ob und Jenissei Waren zu löschen und Landesprodukte zu laden, die aus dem Inneren des Landes auf dem Stromwege herangeführt werden. 1893/94 benutzt die russische Regierung diesen „Westlichen Trakt", die „KaraseeRoute" zum Transport von Baumaterial für die Transsibirische Bahn, die das europäische Rußland mit dem Stillen Ozean verbindet. Später unternimmt der britische Kapitän Wiggins im Auftrag großer Handelsherren mehrere Fahrten zum Ob und zum Jenissei. 1897 und 1898 erreichen 14 große Dampfer, vollbeladen mit den Industrieerzeugnissen Europas, die Jenisseimündung. Doch dann folgt ein Rückschlag. Schwierige Eisverhältnisse machen in den nächsten Jahren das Herankommen an die Küste wieder unmöglich. Da geben die Engländer das gefahrenreiche Geschäft auf. Wikingerhafter Fernendrang und kühner Unternehmermut lassen den Norweger Jonas Lied viele Jahre später, kurz vor dem ersten Weltkriege, zu einem der bedeutendsten Sibirienpioniere werden. Sein Landsmann, der Polarforscher Fridtjof Nansen, ist nach seiner Kundfahrt auf einem der Lied'schen Schiffe von den ungeahnten Möglichkeiten des unerschlossenen Erdteils Sibiriens gebannt. Nansen ist überzeugt, daß ein reger sommerlicher Schiffsverkehr, zum mindesten im westlichen Teil des Nordischen Seeweges, durchaus möglich ist. Nansen hat wohl als erster der Weltöffentlichkeit die Erschließung der natürlichen sibirischen Reichtümer über diese Route aufgezeigt. Jonas Lied hat seiner 1912 in Oslo gegründeten Gesellschaft — der „Siberian Steamship, Manufacturing and Trading Company" — folgende großartige Aufgabe gestellt: Erschließung der Rohstoffe Nordsibiriens vom Nördlichen Ozean her und ihr Export auf dem Seeweg zu den Weltmärkten. Von der damaligen russischen Regierung erhält er freie Hand; ihm soll der gesamte Verkehr auf den Riesenströmen Ob und Jenissei unterstehen. Rechte auf die Ausnutzung großer Waldgebiete werden ihm gegeben. Die Stämme sollen geflößt und an den Unterläufen in neuen Sägewerken weiterverarbeitet werden; man erhofft daraus gute Erträge. Mustergüter, Wasserkraftwerke, Konservenfabriken und andere industrielle Anlagen werden geplant und zum Teil schon vor dem Beginn des ersten Weltkrieges in Betrieb genommen. Alsbald 22
zählt die Flußflotte Jonas Lieds 60 Dampfe, i.nri I7n I astkähne. Mehr als 30 Millionen Goldmark b e t r ä g t d - J Karital dieses Unternehmens. Im Sommer 1916 führt die Gesellschaft sibirische Butter im Werte von sieben Millionen Goldmark und viele andere Güter in einem Geleitzug aus mehreren Schiffen nach England. Ein Großunternehmen, das die Tatkraft eines Einzelnen ins Leben rief, ist erfolgreich eingeleitet. Wahrhaft ein Weltunternehmen, das in nichts den berühmt gewordenen Handelskompanien nachzustehen braucht, die einst Geschichte machten — der heute noch bestehenden Hudson Bay Company im Hohen Norden Amerikas und der Holländisch-Ostindischen Kompanie. Mit dem Wechsel der politischen Verhältnisse in Rußland verliert der Norweger jedoch mit einem Schlage alles, was er geschaffen hat. Neue Gesellschaften übernehmen sein Werk.
Eisbrecher „Sibiriakoff" fährt Rekord! Erst 1916, achtundzwanzig Jahre nach Nordenskjölds „Vega"Expedition gelingt es wieder einer aus zwei Schiffen — „Waigatsch" und „Taimyr" — bestehenden russischen Eisbrechergruppe unter Wilkitzki, die gesamte Nordostroute zu befahren, dieses Mal in umgekehrter Richtung, nämlich von Ost nach West. Dieser russische Marinekapitän war drei Jahre vorher durch einen Zufall berühmt geworden. Er entdeckte auf einer Forschungsexpedition die große Inselgruppe Sewernaja Semlja (Nordland), die gar nicht weit vom Kap Tscheljuskin liegt und nicht einmal viel kleiner als Nowaja Semlja ist. Niemand hatte bislang von ihrer Existenz etwas gewußt, ein Beweis dafür, wie wenig zu dieser Zeit (1913), in der man in den Eismeergebieten noch keine Flugzeuge benutzte, die arktischen Meere erforscht waren. 1927 feiert auch die gute alte „Lena", die Nordenskjölds Expedition begleitet und auf dem Riesenstrom der Lena den Flußverkehr mit Dampfschiffen eröffnet hatte, einen Triumph: in einem einzigen Sommer unternimmt sie erstmals die Reise von Wladiwostok, dem fernöstlichen Endhaifen des Nördlichen Steeweges, bis zur Lena u n d zurück. Fast ein halbes Jahrhundert nach Nordenskjöld und zehn Jahre nach Amundsen befährt dann wieder ein Passage23
fahrer die Durchfahrt in Richtung von West nach Ost. Et bezwingt die Strecke in einer einzigen sommerlichen Schifffahrtsperiode: Als im Sommer 1932 die in dem Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg immer zahlreicher gewordenen Funkstationen längs des Sibirischen Seeweges melden, daß die Eisverhältnisse die Eröffnung des diesjährigen Schiffsverkehrs längs der nordrussischen Küsten gestatten, geht auf dem 2600 Tonnen großen Eisbrecher „Sibiriakoff" der Maschinentelegraf auf „Fahrt". Wieder einmal soll der Versuch einer Bezwingung der Eisbarrieren auf dem Nord-Seeweg unternommen werden. Professor Otto J. Schmidt, ein Veteran der Arktisforschung, ist der Expeditionsleiter. „Sibiriakoff" hat in Archangelsk an Kohle geladen, was Bunker, Lastraum und Deck zu fassen imstande sind; denn der Weg bis zum Reiseziel Wladiwostok ist 11 900 km weit, und Kohle ist unterwegs nicht mehr zu beschaffen. Im Eis braucht man zudem oft die mehrfache Menge für die gleiche Entfernung als auf der offenen See. Zwar gibt es in Nordsibirien gewaltige Lager vorzüglicher Bunkerkohle ; aber man hat in jener Zeit noch nicht mit ihrer Ausbeutung begonnen, und zum Teil sind sie überhaupt noch nicht entdeckt. Eisbrecher „Sibiriakoff macht Geschichte! Er fährt unverhofft schnell durch das Karische Meer, das sich in den vorhergehenden Sommern als überaus feindlich erwiesen hat. Unaufhaltsam schiebt der Koloß seinen gewölbten Löffelbug in das labyrinthähnliche Wakennetz des Großen Eissees, drängt sich, geschickt navigierend, hindurch und boxt das getürmte Packeis auseinander, wo er es nicht umgehen kann. Das Glück ist dem Schiff zunächst unerwartet hold; fast ohne Mühe bezwingt es das sonst so gefürchtete Eisbollwerk vor Kap Tscheljuskin und erreicht ohne Schäden den östlichen Trakt des Nördlichen Seeweges. Im Tschuktschen Meer aber trifft es den Eisbrecher schwer. Im Vorschiff klafft ein Leck; Schraubenwelle und Schraube sind gebrochen. Fast zwei Wochen treibt „Sibiriakoff" unter Wind und Eisdrift hilflos umher. Zum Glück hat man Radio an Bord und funkt schließlich einen Fischdampfer heran, der den Eisbrecher nach Yokohama in die Werft bugsiert. Keine besonders glückhafte Fahrt eigentlich, wenn man an die schweren Beschädigungen denkt. Und doch ein Rekord: In einer e i n z i g e n Schiffahrtsperiode hat ein russisches ?4
Moderner Eisbrecher bricht eine Fahrrinne durch das Treibeis für die folgenden Schilfe seines Konvois. Eisbrecher sind sehr gedrungen gebaut, so entstehen genügend breite Durchlässe durch die Eisfelder. Polarschiff den gesamten Nördlichen Seeweg durchfahren, was noch keinem vor ihm gelang. Dieser Erfolg war nicht zuletzt den Flugzeugen zu verdanken, die die Eisverhältnisse erkundeten und als Lotsen dienten. Die Bahn scheint nun frei; die weitgespannten Pläne zur Erschließung des Hohen Nordens vom Wasser, von der See her, bekommen neuen Auftrieb. Man ist davon überzeugt, daß die polar-sibirische Küste regelmäßig im Sommer befahren werden kann. 1934 schafft der Eisbrecher „Lütke" die Reise von Wladiwostok bis nach Archangelsk in der bisher unerreichten Zeit von nur 83 Tagen! Sie wird in den folgenden Jahren noch unterboten von ganz normalen, also nicht einmal eisverstärkten Dampfern. Erst Flugzeug und Funk als modernste Mittel raumüberwindender Technik ermöglichten diese auffälligen Erfolge wider die eisige Front des Nordens. Nicht ohne Verluste und Rückschläge werden die Durchfahrten erkauft. 1934 verliert die russische Polarflotte in der 25
Eisumklammerung der Bering-Straße den „Tscheljuskin", einen eisverstärkten Frachter, als man schon glaubte, in dter Sicherheit des freien Fahrwassers zu sein. Polarflieger retten die gesamte Besatzung in verlustlosen Flügen vom sicheren Eistod. Im Sommer 1937, als zahlreiche Schiffe im Arktischen Ozean unterweegs isinti, machen die Eisverhältnisse so unerwartete Schwierigkeiten, wie man es seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hat. So fährt sich fast der gesamte arktische Schiffspark der Russen hoffnungslos im Eise fest. Die Fahrzeuge geraten ins Treiben; sie werden zum Teil willenlos nach Norden entführt. Dem eben erst in Dienst gestellten Übereisbrecher mit seinen „Strahlschneidern", mit Dynamit, Flugzeugen und dauernden Funkverbindungen gelingt es dann im. nächsten Sommer, die Schiffe wieder freizumachen. So lehrt die eisesstarre Welt der Arktis, daß der Mensch den Naturgewalten der Polargebiete immer noch nicht hundertprozentig gewachsen ist. Doch nun zurück zu der Eisbnecher-Karawane des Kapitäns Sergej!
Port Dickson „ m a c h t das W e t t e r " Eismeer-Kapitän Sergej steht nun mit seinem Geschwader vor der viele Kilometer breiten Bucht, in die der Ob mündet Von der Ausgucktonne ist nirgendwo der berüchtigte „Eisblink" zu sehen, überall zeigt die Bucht freies Fahrwasser. Ein Teil der Schiffe wird hier aus dem Verband entlassen. Unverzüglich dampfen sie nach Süden, dem neuen großen Hafen Nowyj Port und andere neu entstandenen Anlegestellen obaufwärts entgegen. Die übrigen ziehen unter Führung des Eisbrechers weiter nach Osten. Eisbrecher Nr. II geht wieder zu seiner Station an die Karische Pforte zurück. Ohne Zwischenfälle erreicht Sergejs Geleit Port Dickson auf der gleichnamigen Insel in der Mündung des Jenissei, der nächsten großen Wasserstraße. Die meisten Handelsdampfei wenden von hier landeinwärts, nach Dudinka, wo sie Kohle aus den in der Nähe gelegenen Bergwerken übernehmen, und nach Igarka. Dieser größte Umschlaghafen Nordsibiriens liegt 750 Kilometer stromauf. Welch ein gewaltiger Strom ist doch dieser Jenissei, daß selbst tiefgehende Ozeanschiffe bis hierhin gelangen können! In Igarka wird allsommerlich Holz aus den Wäldern Sibiriens — gesägte Ware und •wertvolle 2fi
Edelhölzer — verladen, das in gewaltigen Flößen herangeschwemmt wurde. Die Expedition hat hier die Aufgabe, die Polarstation Port Dickson zu versorgen. Ausrüstung, Proviant, vielerlei Dinge, die der Stationsleiter auf dem Funkwege bei der Hauptverwaltung des Nördlichen Seeweges bestellt hat, kommen an Land. Für die alte Besatzung rücken die neu angekommenen Männer ein. Jene kehrt nun — nach mindestens einjähriger Überwinterung — in die Heimat zurück. Port Dickson-Radio ist sozusagen das Nervenzentrum des dichtmaschig gewordenen Netzes von Polarstationen in der sibirischen Arktis. Nicht weniger als sechs Sender, darunter zwei, die über den ganzen Erdball reichen, sind hier in Betrieb. Tag und Nacht laufen von einigen hundert Stationen (von denen die nördlichste 800 Kilometer vom Pol entfernt ist) die Wettermeldungen zusammen. Sie werden sofort bearbeitet und, zusammengefaßt, allen Nationen zugefunkt. Diese Polarstation ist zugleich einer der Hauptstützpunkte für die Eisschiffahrt längst des großen Nördlichen Seeweges. Ein leistungsfähiger Kai mit Kohleverladeeinrichtungen und einer Tankstation (für die modernen Schiffe mit ölfeuerung und Dieselmaschinen) ist dort entstanden. Die Kohle, die zu Beginn der Nordnassaaen aus dem Innern Rußlands oder von Spitzbergen herantransportiert werden mußte, kommt nunmehr aus dem Eisnorden des Riesenreiches selber, aus dem Petschora-Revier, nahe dem nördlichen Ural, aus Norilsk, wohin eine Bahn von Dudirka arr Jenissei durch die Tundra führt, und von der Taimyr-Halbinsel. Alles muß schnell gehen, weil Sergej noch einiges vor sich hat. Der Geleitzugführer treibt zur Eile .Die Gefolgschaft ist schwn viel kleiner geworden. Nur noch wenige Schiffe — es sind zugleich die stärksten — brechen mit ihm auf, zunächst längs det Westküste der Taimyr-Halbinsel zum Kap Tscheljuskin, das seit ie das große Kampfgebiet der Eisbrecher ist. Hier können selbst Übereisbrecher von der größten Klasse, wie der von Sergej geführte, mit einem Frachtergeleit zuweilen arg in Bedrängnis kommen. Doch Sergej ist guten Mutes. Station Taimyr-Nord und der vorausgeflogene Bord-Pilot funken, daß die Eissperre vor dem Kap heuer nicht gar so schlimm sei. Jedenfalls braucht man nicht weit nordwärts auszuweichen, um offene Fahrrinnen zu finden; der gewöhnliche Kurs näher der Küste ist passierbar. -?'!
Eine „Stadt" 'wächst aus dem Eisboden Ohne viel Aufenthalt erreicht die Schiffskarawane die Mündung der Chatanga, eines kleineren sibirischen Flusses ostwärts der Taimyr-Halbinsel. Vor den sibirischen Flüssen und an den benachbarten Küsten trifft man sommerüber stets weithin offenes Fahrwasser, denn die Flüsse führen warmes Wasser, das das Meereis schmilzt. Eismeer und Ströme liegen in einem beständigem Kampf miteinander, in dem je nach der Jahreszeit jenes oder diese obsiegen. Sergej läßt Kurs auf Kap Nordwik an der gleichnamigen Meeresbucht ostwärts des Chatanga-Auslaufs setzen. Hierhin sind die wenigen übriggebliebenen Schiffe bestimmt, die in Archangelsk eine ganz besondere Laduno übernehmen mußten. Die Expedition soll an dieser Stelle der Küste eine „Poljarnaja Stantsia", eine Polarstation, aus der vereisten Erde stampfen. Die Frachter haben eine vollständige „Stadt" an Bord, winterfeste, zerlegbare Holzhäuser, eine Radiostation, Proviant, Ausrüstung für die Überwinterung, Material für eine Krankenstation und Maschinen, um die Förderung von öl und Salz einzuleiten. Und schließlich auch die Menschen für diese Stadt: sechshundert arktisfeste Leute. An dieser Nordwik-Bucht hat man neben reichen Braunkohlen- und öllagern auch Steinsalz gefunden, sehr große Vorkommen sogar. Wie es heißt, reichen sie, um den gesamten östlichen Teil der Arktisstraße bis zum Stillen Ozean auf hundert Jahre zu versorgen. Hier also entsteht eine arktische Salz- und ölstadt. Nun kann das unentbehrliche Salz zum unerschöpflichen Fischreichtum des Nordmeeres und der sibirischen Ströme kommen. Alle Möglichkeiten zu einer Fischkonservenindustrie von großem Ausmaß sind gegeben: Fische, Salz und Kohle. Ihr Abtransport geht einzig über den Großen Seeweg des Nordens.
Drei „Expeditionen" auf 11300 Kilometer Kapitän Sergej hat mit der Landung der „Poljarnaja Stantsia" Nordwik seine auf der Expedition dieses Jahres am weitesten östlich gelegene Aufgabe durchgeführt. Nun wendet er den Bug wieder westwärts. Unterwegs versorgt er noch eine Reihe fester Stationen an der Küste und nimmt die Gruppen der in 28
den westsibirischen Flüssen befrachteten Dampfer auf. Sein Geleitdienst ist beendet, als die Fahrzeuge des Konvois noch zeitig im Sommer vollzählig aus der Karischen Pforte in die Barents-See und dann heimwärts steuern.
* Die Bedienung der zahlreichen Stationen zwischen Nowaja Semlja im Westen und der Tschuktschen-Hialbinsel, die nach Nordosten in die Bering-Straße vorspringt, geschieht allsommerlich durch die drei sogenannten „Expeditionen". Der „Karischen Expedition", der wir auf dem Eisbrecher Sergejs folgten, obliegt der „Westliche Trakt" von Murmansk (Archangelsk) bis zum Jenisei. An diese schließt sich die „Lena-Expedition" an, die bis zu Station und irnaien Port Tiksi (östlich des Mündungsdeltas der Lena) alles versorgt. Den fernöstlichen Zweig („östlicher Trakt") mit dem Flußgebiet der Kolyma von Osten, von Wladiwostok her, bis Port Tiksi, bedient die „Kolyma-Expedition". Sie hat ihren gefährlichsten Punkt im Ostsibirischen Meer zwischen den Wrangel-Inseln und dem Festland, wo sich in der De-Long-Stnaße gefährliche PackeisSperren zu bilden pflegen. Hier saß schon manches Schiff fest und wurde zum überwintern gezwungen, überstand es die Eispressungen, mußte es zumeist im nächsten Sommer von einem Eisbrecher befreit werden. Die wichtigste unter den drei Expeditionen ist die Karische, weil sie die am besten erreichbaren Stromsysteme des Ob und Jenissei zu bedienen hat. 1939 kamen aliein in den Geleiten dieser Expedition nicht weniger als 104 Seeschiffe unversehrt an ihre Bestimmungsorte, übrigens brauchen Schiffe aus Nordseehäfen — bei günstiger Eislage — kaum mehr als zwei Wochen für die Fahrt bis zum Ob-Hafen Nowyj Port; vier Tage länger ist die Reise nach Igarka, dem größten Binnenhafen Sibiriens. Auf der ganzen Erde findet sich kein Schiffahrtsweg mehr, dessen Befahrung mit gleich großen Schwierigkeiten verbunden ist. Keinen auch gibt es, der seit Beginn seiner Erschließung in einem solchen Maße das Höchste an seemännischen Fähigkeiten verlangt wie diese Meeresstraße. Daher war dieser Weg seit je anziehend für alle seefahrenden Männer. * Imponierend sind die Längen dieser arktischen Meeresstraße. Vom Kola-Fjord bis nach Wladiwostok hat ein Schiff 29
rund ein Viertel des Erdumfanges (am Äquator gemessen] zurückzulegen (11 300 km); von Archangelsk aus sind es etwa 200 km mehr. Der schwierigste Teil der Nordost-Passage ist das mittlere Stück zwischen Nowaja Senuja bis zur ßermg-Straße (4 270 km). Trotzdem spart man durch die Nordfahrt einen erheblichen Teil des Weges, der früher zurückgelegt werden mußte. Auf dem Globus sieht man es gane deutlich: ein Schiff, das von Murmansk nach Wladiwostok bestimmt ist, hat auf dem Nördlichen Seeweg etliche Tausend Kilometer weniger zu fahren, als wenn es die vor der Aufschließung der Nordpassage einzig mögliche Route über Mittelmeer-SuezKanal—Indischer Ozean wählte. Aber es hat nur in den wenigen Sommermonaten von etwa Anfang Juli bis Ende September die Möglichkeit einer ungehinderten Durchfahrt. ZEITTAFEL der wichtigsten Ereignisse im Ringen um die Nordost-Passage Um 850 Ottar von Haalogaland umsegelt das Nordkap und entdeckt die Barents-See und das Weiße Meer 1553 Sir Hugh Willoughby eröffnet als erster die lange Reihe der Expeditionen zur Auffindung der Nordost-Durchfahrt 1735 Malygin und Skuratow erreichen von Archangelsk aus als erste auf dem Seeweg den Ob 1742 Tscheljuskin erreicht auf dem Landwege den nördlichsten Festlandspunkt der Welt (Kap Tscheljuskin) 1871 Fangschiffer Mack aus Tromsö segelt in offenem Fahrwasser in die Gegend östlich der Jenissei-Mündung 1874 Erste Reise eines westeuropäischen Handelsdampfers unter dem britischen Kapitän Wiggins in die Obmündung 1877 Erste Fahrt eines am Jenissei gebauten Seeschiffes mit Warenladung von der Stadt Jenisseisk nach Westeuropa 1878 Dampfer „Lena" erreicht als erstes Fahrzeug vom Atlantik her die Lena und fährt stromauf bis Jakutsk Dampfer „Moskwa" (Bremen) fährt unter Kapitän Dalimann mit Ladung 1800 km (Luftlinie) Jenissei aufwärts und nimmt sibirische Waren mit 1878/79 Freiherr A. E. von Nordenskjöld bezwingt die Sibirische Seeroute mit „Vega" (Kapitän Palander) und umrundet damit als erster die Alte Welt über den Norden 1905 Russische Regierung kauft in England eine Fluß-Flotte von 22 Schiffen für den Jenissei. Sämtliche Fahrzeuge erreichen ihren Bestimmungsort 1911 Erste Handelsdampferrouten zwischen Wladiwostok und den Mündungen der sibirischen Ströme Lena und Kolyma eingeleitet 1912/27 Rußland entsendet 130 wissenschaftliche Expeditionen in die arktischen Gewässer vor seinen Nordküsten. Die ersten Funkwetterwarten länya des Sibirischen Seeweges entstehen
1916 1918/22 1927 1932 1934
1936 1937
1940 1942
Den Eisbrechern „Waigatsch" und „Taimyr" gelingt unter Kapitän Wilkitzki zum ersten Mal die Befahrung der Nordost-Passage von Ost nach West Amundsen braucht vier Überwinterungen für seine Befahrung des Nord-Seewegs von West nach Ost (zweiter nach Nordenskjöld) Dampfer „Lena" führt die Reise von Wladiwostok zur Lena und zurück in einer einzigen Schiffahrtsperiode durch Nordost-Durchfahrt zum ersteh Mal in einem einzigen Sommer bezwungen („Sibiriakoff"). Einleitung eines regelmäßigen Sommerverkehrs auf dem Nord-Seeweg Eisbrecher „Lütke" bezwingt den Sibirischen Seeweg von Fernosi nach West in der Rekordzeit von 83 Tagen Vier Frachtdampfer befahren die ganze Trasse des Nord-Seeweges in einer einzigen sommerlichen Periode Zehn Frachter erreichen ihre Ziele, teils von West nach Ost, teils umgekehrt, über die gesamte Länge des Nord-Seeweges Katastrophe auf dem Nördlichen Seeweg infolge unerwartet schwerer Eisverhäitnisse und starker Stürme. 42 Schiffe werden „vom Eis besetzt". Nur zwei Frachter befahren den ganzen Seeweg ohne Zwischenfälle. Keine Schiffs Verluste Hilfskreuzer „Komet" befährt die Nordostpassage in einer einzigen Periode von West nach Ost 44 Schiffe gehen von Alaska auf dem arktischen Seeweg zu sibirischen Häfen und nach Archangelsk
EMPFEHLENSWERTE BÜCHER über den Nordöstlichen Seeweg und die Arktis Lied, Jonas, Prospector in Siberia, Oxford University Press New York, 1945 Nansen, Fridtjof, Sibirien — ein Zukunftsland, Leipzig, 1919 Nordenskjöld, A. E.( Die Umsegelung Europas und Asiens auf der „Vega", Leipzig, 1881 Pantenburg, Vitalis, „Arktis — Erdteil der Zukunft", Düsseldorf, 1949
Diesen
Lesebogen
schrieb
Vitalis
Pantenburg
Umschlagzeichnung Karlheinz Dobsky. Bild auf Seite 2: Wegebau im Eis
Lux-Lesebogen
Nr.
65
/
Heftpreis
20
Pfg.
Natur- und kulturkundliche Hefte. Verlag Sebastian Lux, Murnau-München. Bestellungen (Vierteljahrlieh 6 Hefte zu DM 1,20) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. Druck: Buchdruckerei Hans Holzmann, Bad Wörishofen.