Fritz Leiber
Eine tolle Zeit Science Fiction Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
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Fritz Leiber
Eine tolle Zeit Science Fiction Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Fischer Taschenbuch Verlag August 1974 Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›The Big Time‹ Erschienen bei Ace Books, New York Aus dem Amerikanischen übertragen von Thomas Schlück Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1974 © Ace Books, Inc., New York, 1961 Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany Scan by Brrazo 07/2011 ISBN 3 436 01950 x
Wann kommen wir drei uns wieder entgegen Im Blitz und Donner, oder im Regen? Wenn der Wirrwarr stille schweigt, Wer der Sieger ist, sich zeigt. Macbeth
1 Auftritt von Husaren Ich heiße Greta Forzane. Neunundzwanzig bin ich und Partymädchen, damit ist so ziemlich alles über mich gesagt. Ich wurde als Tochter skandinavischer Eltern in Chicago geboren, aber jetzt liegt mein Wirken hauptsächlich außerhalb von Raum und Zeit – weder im Himmel noch in der Hölle, wenn es solche Orte überhaupt gibt, aber auch nicht in dem Kosmos oder Universum Ihrer Vorstellung. Ich bin nicht so romantisch-überwältigend wie jener unsterbliche Filmstar mit meinem Vornamen, aber ich habe einen gewissen rauhen Charme. Den brauche ich auch, denn es ist mein Beruf, Soldaten gesundzupflegen und mit Schmerzen wieder zur Vernunft zu bringen – Soldaten, die im größten gerade laufenden Krieg einiges abbekommen haben. Dieser Krieg ist der Veränderungskrieg, ein Krieg der Zeitreisenden – tatsächlich nennen wir die Teilnahme an dem Krieg unter uns das Mitmachen in der Großen Zeit. Unsere Soldaten kämpfen, indem sie zurückreisen, um die Vergangenheit zu ändern, oder sogar weiter voraus, um die Zukunft zu verändern – und damit soll unserer Seite in einer Milliarde oder mehr Jahren zum endgültigen Sieg verholfen werden. Ein langwieriges, anstrengendes Geschäft, das können Sie mir glauben, die Große Zeit – eine tolle Zeit für alle, die mitmachen. 5
Sie haben natürlich keine Ahnung vom Veränderungskrieg, aber er beeinflußt Ihr Leben laufend, und vielleicht haben Sie bereits Auswirkungen oder Auseinandersetzungen verspürt, ohne sich dessen bewußt zu sein. Haben Sie sich schon einmal Gedanken über Ihr Gedächtnis gemacht, weil es Ihnen von einem Tag zum nächsten ein verändertes Bild der Vergangenheit zeichnet? Haben Sie je befürchtet, Ihre Persönlichkeit würde sich unter dem Einfluß ungeahnter und unkontrollierbarer Kräfte verändern? Haben Sie je das sichere Gefühl gehabt, der Tod könne Sie jeden Augenblick aus dem Nichts anfallen? Haben Sie schon Angst vor Geistern gehabt – nicht vor Gespenstern aus den Märchenbüchern, sondern vor den Milliarden von Wesen, die früher einmal ganz real und kräftig waren, so daß man sich nun kaum vorstellen kann, sie schliefen nur harmlos bis in alle Ewigkeit? Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht über jene Wesen, die man Teufel oder Dämonen nennen mag – Geister, die sich frei durch Zeit und Raum bewegen, durch die heißen Herzen von Sternen und das kalte Skelett des Weltalls zwischen den Galaxien? Haben Sie je den Eindruck gehabt, das ganze Universum könne ein einziger, verrückter Traum sein? Wenn dies alles zutrifft – dann haben Sie schon einen Hauch des Veränderungskrieges verspürt. Wie ich in diesen Krieg geraten bin, wie er geführt wird, von welchen Seiten er ausgefochten wird, warum Sie nicht bewußt davon wissen, was ich wirklich davon halte – das alles werden Sie zu gegebener Zeit erfahren. Den Ort außerhalb des Kosmos, wo ich und meine Freunde unsere Pflegearbeiten verrichten, nenne ich nur einfach Station. Ein Großteil der Pflege besteht darin, 6
Soldaten, die frisch von Zeit-Kommandounternehmen zurück sind, aufzuheitern und ihnen menschliche Wärme zu vermitteln. Mein gewöhnlicher Titel ist denn ja auch Gesellschafterin, und ich habe auch meine Schwächen, wie Sie noch feststellen werden. Meine Freunde sind zwei andere Mädchen und drei Burschen aus einem ziemlichen Sammelsurium von Zeiten und Orten. Wir bilden ein ziemlich gutes Team, und mit Sid als Boß betreiben wir eine ziemlich gute Erholungsstation, obwohl wir auch unsere Familiensorgen haben. Aber die größten Sorgen schneien uns mit den erschöpften Soldaten ins Haus, die gerade durch die Hölle gegangen sind und nun selbst ein bißchen Höllenzirkus veranstalten wollen. Genau genommen waren es drei frisch eingetroffene Soldaten, die das anfingen, wovon ich Ihnen erzählen will, diese Sache, die mir so einiges über mich selbst offenbarte und so. Als es anfing, war ich schon tausend Schlafperioden und zweitausend Alpträume lang in der Großen Zeit dabei und hatte vielleicht seit fünfhundert bis tausend in der Station gearbeitet. Diese Doppel-AlptraumRoutine, jedesmal wenn man den schwindligen kleinen Kopf hinlegt, ist hart, aber man tut, als gewöhnt man sich daran, weil es angeblich wert sein soll, wenn man in der Großen Zeit mitmacht. Die Station liegt in Größe und Atmosphäre so auf halbem Wege zwischen einem großen Nachtclub, in dem die Unterhaltungsdamen auch wohnen, und einem kleinen für eine Party ausgeschmückten Zeppelinhangar, wenn wir auch ausgerechnet einen Zeppelin hier noch nicht hatten. Man kann die Station auch verlassen, aber nicht oft, wenn man alle beisammen hat und wenn man Gesellschafterin ist wie ich; man kann in das kalte Licht eines Morgens wechseln, in dem sich alles herum7
treiben kann von frühen Dinosauriern bis zu späten Raumfahrern, die sich übrigens, abgesehen von der Größe, seltsam ähnlich sehen. Seit ich in der Station arbeite, habe ich auf Anweisung des Arztes sechsmal kosmischen Urlaub gehabt – das heißt, ich habe sechs kurze Ruhezeiten genossen, wenn man sie so nennen kann, denn Sie können mir glauben, bei dem, was andauernd in der Station los ist, ist Urlaub der reinste Hohn. Den letzten verbrachte ich im Rom der Renaissance, wo ich mich in Cesare Borgia verliebte, aber das habe ich überwunden. Ferien sind ohnehin für die Katz, da sie von den Spinnen in wichtige Operationen des Veränderungskrieges eingepaßt werden müssen, und Sie können sich vorstellen, wie erholsam das ist. »Sehen Sie die Soldaten dort, die die Vergangenheit ändern? Halten Sie sich in deren Nähe! Gehen Sie nicht zu weit nach vorn, aber verschwinden dürfen Sie auch nicht! Entspannen Sie sich, und viel Spaß!« Ha! Also, da ist es mit der Erholung, die die Soldaten hier in der Station genießen, schon viel besser bestellt, vergleichsweise luxuriös. Unterhaltung ist unser Geschäft, und wir verschaffen den Patienten eine Ruhepause und schicken sie fröhlich wieder zurück in den Kampf, obwohl ab und zu auch mal Sachen passieren, die die Party überschatten. In mancher Hinsicht ist nicht viel mit mir los – aber das sollte Ihnen nichts ausmachen –, in anderer Beziehung bin ich dafür um so lebhafter. Wenn Sie mir im Kosmos begegneten, würden Sie eher mit mir quasseln oder mich auflesen, als einen Bullen auffordern wollen, eben dies zu tun, oder einen Pater, mich mit heiligem Wasser zu überschütten, es sei den, Sie gehören zu diesen unverbesserlichen Reformertypen. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würden Sie mich im Kosmos 8
gar nicht anfinden, weil (abgesehen von der Basin Street und dem Prater) das Italien des 15. Jahrhunderts und das Rom unter Augustus – bis ich verdorben wurde – meine (ha!) Lieblingsferienorte sind, und wie ich schon sagte, ich bleibe so nahe wie möglich bei der Station. Es ist wirklich die schönste Station in der ganzen Veränderungswelt. Na, als diese Sache begann, saß ich gerade däumchendrehend auf der Couch beim Piano und dachte mir, daß es wohl zu spät war, noch die Fingernägel zu machen, und daß die Ankommenden wohl sowieso nicht darauf achten würden, wer da auch immer anrückte. In der Station herrschte Spannung, wie immer bei einer Annäherung, und der graue Samt der Leere ringsum war von unbestimmten Lichtern durchzogen, wie man sie auch sieht, wenn man im Dunkeln die Augen zumacht. Sid stimmte die Versorgungsgeräte auf den Empfang ein, und die rechte Schulter seines golddurchwirkten grauen Wamses war schweißfeucht, wo er sich mit schnellem Kopfrucken immer wieder das Gesicht abgewischt hatte. Beauregard beugte sich so dicht wie möglich über Sids andere Schulter, und sein weißbehostes Knie drückte sich sauber in den rosa Plüsch des Kontrolldiwans, und er verpaßte auch nicht die kleinste Bewegung von Sids erfahrenen Fingern an den Kontrollen; Beau ist nicht nur Kopilot, sondern auch Klavierspieler. Beaus Gesicht zeigte jenen leeren Ausdruck, den er auch damals aufgesetzt haben mußte, als jeder Golddollar, den er besaß, und größere Beträge, die ihm nicht gehörten, von der nächsten Karte abhingen – im Spielsalon eines dieser Zuckerguß-Dampfer auf dem Mississippi. 9
Doc war wie üblich besäuselt; er saß mit zurückgeschobenem Zylinder an der Bar und hatte seinen Strickschal eng um sich geschlungen, und seine weit aufgerissenen Augen sahen die Schrecken seines Lebens im nazibesetzten zaristischen Rußland, die eine Existenz als betrunkener Dämon in der Veränderungswelt noch verschlimmern können. Maud, die unsere Alte ist, und Lili – natürlich die Neue – starrten auf die Klunker ihrer identischen Perlenhalsbänder. Man könnte sagen, wir Gesellschafterinnen waren ein bißchen nervös; daß wir Dämonen sind, macht uns nicht automatisch mutig. Dann erlosch das rote Signallicht am Hauptversorger, und in der Leere vor Sid und Beau begann sich die Tür zu verdunkeln, und ich spürte den harten Stoß der Veränderungswinde, und mein Herz setzte einige Schläge lang aus, und als ich wieder hinsah, waren drei Soldaten aus dem Kosmos in die Station getreten, wobei sie mit den ersten drei Schritten, als sie Zeit und Gewicht veränderten, besonders schwer aufkamen. Sie waren als Husarenoffiziere gekleidet, wie man uns angekündigt hatte, und – gelobt sei Bonny Djö – ich erkannte in dem ersten Erich, meinen lieben kleinen Kommandanten, den Stolz der von Hohenwalds und Schrecken der Schlangen. Hinter ihm stand irgend so ein hartgesichtiger Römer, und neben Erich – ihn mit der Schulter anstoßend, als sie nun vortraten –, entdeckte ich einen Neuen, blond, mit einem Gesicht wie ein griechischer Gott, der eben durch eine christliche Hölle gegangen ist. Sie trugen identische schwarze Uniformen – Tschakos, pelzbesetzte Mäntel, Stiefel und so weiter – mit weißen Schädelemblemen auf den Tschakos. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, daß 10
Erich ein Rufgerät am Handgelenk hatte und der Neue links einen schwarzen Handschuh trug und das Gegenstück damit umfaßte, während seine rechte Hand wie die Erichs und des Römers unbekleidet war. »Ihr habt es geschafft, meine lieben Freunde!« dröhnte Sid ihnen entgegen, und Beau ließ ein Lächeln aufflackern und murmelte irgend etwas Höfliches, und Maud begann zu rufen: »Macht die Tür zu!«, und die Neue äffte sie nach, und ich fiel ebenfalls ein, denn die Veränderungswinde blasen wie verrückt, wenn die Tür offensteht, obwohl sie sich nie fest genug schließen läßt, um ein Durchsickern ganz zu verhindern. »Macht sie zu, ehe sie uns Falten in die Gesichter bläst!« rief Maud in ihrer Scherzstimme, um das Eis zu brechen. In dem engen, knielangen Kittel, den sie der Neuen abgeschaut hatte, wirkte sie wie ein dürrer Teenager. Aber die drei Soldaten achteten nicht auf sie. Der Römer – mir fiel ein, daß er Markus hieß – stolperte mit steifen Beinen vorwärts, als stimmte mit seinen Augen etwas nicht, während sich Erich und der Neue anbrüllten, wobei es um einen Jungen und um Einstein und um einen Sommerpalast und einen verdammten Handschuh und um die Schlangen ging, die St. Petersburg als Falle geplant hätten. Erich zeigte jenes angespannte, sadistische Lächeln, das er immer hat, wenn er mich schlagen möchte. Der Neue war fürchterlich in Wut. »Warum hast du uns so schnell zurückgenommen? Wir haben bei unserem Galopp den ganzen Newski-Prospekt in Stücke zerdonnert.« »Hast du denn ihre Lähmpistolen nicht gespürt, Dummkopf, als sie die Falle zuschnappen ließen – Gott sei Dank viel zu früh?« wollte Erich wissen. »Schon«, sagte der Neue. »Aber das reichte ja nicht 11
mal, um eine Katze zu lähmen. Warum hast du uns nicht kämpfen lassen?« »Halt den Mund. Ich bin dein Anführer. Ich zeige dir den Kampf schon noch!« »O nein. Du bist ein schmutziger Nazifeigling.« »Weibischer Engländer!« »Schlange!« Der Blonde verstand ausreichend Deutsch, um den letzten Ausruf zu verstehen. Er warf seinen zobelbesetzten Mantel zurück, um seinen Schwertarm freizumachen, und ging auf Abstand von Erich, was ihn mit Beau in Kollision brachte. Beim ersten Anzeichen der Auseinandersetzung war Beau schnell und stumm wie eine – nein, dieses Wort gebrauche ich nicht – vom Diwan aufgestanden und zu den Streithähnen hinübergeglitten. »Sirs, Sie vergessen sich!« sagte er heftig, aus dem Gleichgewicht gebracht, am erhobenen Arm des Neuen Halt suchend. »Sie sind hier in Sidney Lessinghams’ Gesellschafts- und Erholungsstation. Wir haben Damen …« Mit verächtlichem Schnauben stieß der Neue ihn zur Seite und griff mit der bloßen Hand nach seinem Säbel. Beau taumelte gegen den Diwan, der ihn an den Schienbeinen bremste, so daß er vornüber in Richtung Versorger fiel. Sid zerrte die Geräte aus dem Weg, als handele es sich um zwei Strandradios – in der Station ist nichts festgenagelt – und hatte sie längst auf dem Kaffeetisch stehen, als Beau den Boden berührte. Inzwischen hatte auch Erich seinen Säbel gezogen, den ersten wilden Hieb des Neuen pariert und bereits einen Gegenangriff gestartet, und ich hörte das Kreischen von Stahl und Schnurren seines Stiefels auf dem diamantbesetzten Boden. Beau rollte herum und rappelte sich auf, wobei er 12
zugleich aus den Falten seiner Hemdbrust einen Derringer zog, der aber meines Wissens eine andere Waffe barg – eine Lähmpistole oder sogar eine Atropos. Außer meiner Angst um Erich und die anderen machte mich das überhaupt ziemlich fertig: wir Gesellschafterinnen mußten wohl mit den Nerven ebenso am Ende sein wie die Soldaten, was wahrscheinlich damit zusammenhing, daß die Spinnen vor zwanzig Schlafperioden jeden kosmischen Urlaub strichen. Sid warf Beau seinen Befehlsblick zu und sagte knapp: »Ich erledige das, hitzköpfiger Hurensohn«, und wandte sich dem Nebenversorger zu. Ich bemerkte, daß das Leuchtsignal auf dem Hauptversorger wieder beruhigend rot leuchtete, und ich nahm mir einen Augenblick Zeit, Mamma Devi zu danken, daß die Tür wieder zu war. Maud sprang auf und nieder und feuerte die Kampfhähne an – ich weiß nicht, welchen von beiden sie unterstützte, sie sicher auch nicht, möchte ich wetten –, und die Neue war bleich, und ich sah, daß die Säbel nun nüchterner geschwungen wurden. Erichs Klinge zuckte, zuckte und zuckte erneut und zog dem Blonden einige Blutstropfen aus der Wange. Der Blonde griff wild an, Erich sprang zurück, und im nächsten Augenblick schwebten beide hilflos in der Luft, wanden sich dabei hin und her, als hätten sie plötzlich einen Krampf bekommen. Ich merkte natürlich sofort, daß Sid im Tür- und Lagersektor der Station die Schwerkraft abgeschaltet hatte, während wir im Erholungs- und Krankensektor auf den Füßen blieben. Die Station hat sektionsweise steuerbare Schwerkraft, um unseren außerirdischen Freunden entgegenzukommen – die verrückten AIs brechen manchmal mit ziemlich gemischten Gruppen über uns herein, um sich zu erholen. 13
Von seiner Station in der Mitte aus rief Sid freundlich, aber ohne sich auf eine Diskussion einzulassen: »So, Leute, euren Spaß habt ihr gehabt. Jetzt steckt die Schwerter ein!« Eine Sekunde lang trieben die beiden schwarzen Husaren dahin und krümmten sich, Erich lachte kurz auf, und gehorchte elegant – der Kommandant war an den freien Fall gewöhnt. Der Blonde krümmte sich nicht mehr und zögerte, während er Erich kopfüber anstarrte und schließlich seinen Säbel in die Scheide praktizierte, obwohl er dabei einen langsamen Salto vollführte. Dann schaltete Sid ihre Schwerkraft wieder ein, allerdings langsam, damit sie sich beim Landen nicht verletzten. Erich lachte etwas freier und trat mit schnellem Schritt auf uns zu. Er hielt kurz inne, um dem Neuen fest auf die Schulter zu klopfen und ihn direkt anzusehen. »Da hast du jetzt also eine schöne Narbe«, sagte er. Der andere wich nicht zurück, blickte aber auch nicht auf, und Erich ging weiter. Sid eilte auf den Neuen zu, und als Erich vorbeikam, ermahnte er ihn mit erhobenem Finger und sagte fröhlich: »Du Schelm.« Und schon verpaßte ich Erich meine »Mann, du bist zu Hause«-Umarmung, und er küßte mich und preßte mir die Rippen zusammen und sagte: »Liebchen! Doppelchen!« – was mir schon recht war, weil ich ihn liebe und ich eine gute Liebhaberin bin und ebensosehr Doppelgänger wie er. Wir hatten uns eben voneinander gelöst, um mal wieder Atem zu schöpfen – seine blauen Augen schauten süß aus seinem müden Gesicht –, als hinter uns ein dumpfer Laut ertönte. Bei der nachlassenden Spannung war Doc von seinem Barhocker gefallen, und der Hut war ihm über die Augen gerutscht. Als wir uns umdrehten und über ihn lachten, kreischte Maud plötzlich 14
auf, und wir sahen, daß der Römer geradewegs gegen die Leere gelaufen war und nun mit gleichmäßigen Schritten daran entlangmarschierte, ohne einen Zentimeter weiterzukommen, wie es nun mal so passiert, und seine schwarze Uniform verschmolz mit dem Tiefdrinnen-Grau der Leere. Maud und Beau eilten herbei, um ihn wieder herauszufischen, was schwierig sein kann. Der dünne Spieler war wieder ganz höfliche Tüchtigkeit. Sid überwachte die Aktion aus der Ferne. »Was ist los mit ihm?« fragte ich Erich. Er zuckte die Achseln. »Braucht dringend einen Veränderungsschock. Und er war den Lähmpistolen am nächsten. Auch hat ihn fast sein Pferd abgeworfen. Mein Gott, du hättest St. Petersburg sehen sollen, Liebchen: den Newski-Prospekt, die Kanäle, die wie lange Läufer aus blauem Himmelsstoff vorbeiflogen, ein Kavallerietrupp in Blau und Gold, der zufällig unseren Fluchtweg kreuzte, fünf Frauen in Pelzen und Straußenfedern, ein Mönch mit einem großen Stativ und dem Kopf unter einem Tuch – mir kam das Entsetzen, als all die Zombies vorbeihuschten und ich sah, wie sie mich auf ihre kranke, unerwachte Weise anstarrten, als ich erkannte, daß einige von ihnen, – etwa der Fotograf – Schlangen sein mochten.« Unsere Partei im Veränderungskrieg sind die Spinnen, die anderen sind die Schlangen, obwohl wir alle, Spinnen und Schlangen gleichermaßen – zugleich auch Doppelgänger und Dämonen sind, denn wir werden aus unseren Lebenslinien in den Kosmos hinausgerissen. Ihre Lebenslinie gehört von Geburt bis zum Tod ausschließlich Ihnen. Wir sind Doppelgänger, weil wir sowohl im Kosmos als auch außerhalb wirken können, und Dämonen, weil wir dabei einigermaßen lebendig tun – was den Geistern nicht gelingt. Gesellschafterin15
nen und Soldaten sind ausschließlich DämonenDoppelgänger, auf welcher Seite sie auch stehen – obwohl es heißt, die Stationen der Schlangen sind einfach entsetzlich. Zombies sind Tote, deren Lebenslinien in der sogenannten Vergangenheit liegen. »Was hast du vor dem Überfall in St. Petersburg getan?« fragte ich Erich. »Ich meine, wenn du darüber sprechen darfst.« »Warum nicht? Wir haben 1883 den Säugling Einstein von den Schlangen zurückgekidnappt. Ja, die Schlangen hatten ihn geschnappt, Liebchen, erst vor ein paar Schlafperioden, und brachten damit den ganzen Sieg des Westens über Rußland in Gefahr.« »… der deinem lieben kleinen Hitler für fünfzig Jahre die Welt auf einem Tablett servierte, wodurch ich von deinen wackeren Truppen bei der Befreiung Chikagos zu Tode geliebt wurde …« »… der aber auch zum Endsieg der Spinnen und des Westens über die Schlangen und den Kommunismus führt, Liebchen, vergiß das nicht. Naja, unsere Gegenentführung klappte nicht. Die Schlangen hatten Wächter aufgestellt – was höchst ungewöhnlich ist, so daß wir unvorbereitet waren. Das Ganze war ein schreckliches Durcheinander. Kein Wunder, daß Bruce den Kopf verlor – nicht daß er damit entschuldigt ist.« »Der Neue?« fragte ich. Sid hatte sich ihm noch nicht genähert, und er stand noch, von Erich zurückgelassen, mit verhülltem Blick an der selben Stelle, eine Säule der Scham und der Wut. »Ja, ein Lieutenant aus dem Ersten Weltkrieg. Engländer.« »Das habe ich schon mitbekommen«, sagte ich zu Erich. »Ist er denn wirklich weibisch?« »Weibisch?« Er lächelte. »Ich mußte doch irgend etwas sagen, um ihn als Feigling hinzustellen. Der gibt 16
noch mal einen guten Soldaten ab – muß nur noch etwas hingebogen werden.« »Ihr Männer seid so originell, wenn ihr euch angiftet.« Ich senkte die Stimme. »Aber du hättest nicht weitermachen und ihn Schlange nennen dürfen, mein lieber Erich.« »Schlange?« Sein Lächeln wurde schief. »Wer kann das wissen – bei jedem von uns? St. Petersburg hat mir gezeigt, daß die Spione der Schlangen schlauer vorgehen als die unseren.« Die blauen Augen hatten nun nichts Freundliches mehr. »Bist du, mein Liebchen, wirklich nur eine brave, loyale Spinne?« »Erich!« »Schon gut, ich bin zu weit gegangen – bei Bruce und auch bei dir. Wir alle sind gereizt in diesen Tagen, hängen wir doch mit einem Bein über dem bröckeligen Abgrund.« Maud und Beau führten den Römer zu einer Couch, wobei Maud die meiste Last damit hatte, während Sid weiter die Aufsicht führte und der Neue noch vor sich hin schmollte. Die Neue hätte sich natürlich um ihn kümmern müssen, aber ich konnte sie nirgendwo entdecken und kam zu dem Schluß, daß sie wahrscheinlich im Erfrischungsraum einen Nervenzusammenbruch erlitt, das kleine Ekel. »Mit dem Römer steht es ziemlich schlimm, Erich«, sagte ich. »Ach, Markus ist ein harter Brocken. Hat Tugend, wie es bei ihm heißt. Und unser kleines Raumschiffmädchen wird ihn schon schnell ins Leben zurückholen, wenn das überhaupt jemand vermag und …« »… wenn man das überhaupt Leben nennen kann«, fiel ich pflichtschuldig ein. Er hatte recht. Maud verfügte über fast fünfzig Jahre psychomedizinische Erfahrungen, noch dazu aus dem 17
23. Jahrhundert. Das wäre an sich Docs Aufgabe gewesen, aber so etwas lag fünfzig Besäufnisse zurück. »Maud und Markus, das wird ein interessantes Experiment«, sagte Erich. »Erinnert mich an Göring mit den eingefrorenen Männern und den nackten Zigeunermädchen.« »Du bist ein schmutziger Nazi. Wenn ich mich nicht irre, wird sie die Elektrophorese und Tiefensuggestion anwenden.« »Wie willst du das genau wissen, Liebchen, wenn sie die Couchvorhänge herabläßt, wie sie es anscheinend vorhat.« »Schmutziger Nazi, habe ich gesagt, und das stimmt.« »Genau.« Er ließ seine Absätze zusammenklicken und neigte den Kopf um einen Millimeter. »Erich Friedrich von Hohenwald, Oberleutnant in der Armee des Dritten Reiches. Gefallen bei Narwik, wo er von den Spinnen angeworben wurde. Lebenslinie verstärkt durch eine Große Veränderung nach seinem Tod und nach letztem Bericht Kommandant von Toronto, wo er ausgedehnte Babyfarmen unterhält, die ihn mit Frühstücksfleisch versorgen, wenn man den Handzetteln der Untergrund-voyageurs glauben will. Zu deinen Diensten.« »O Erich, das ist alles so blöd!« sagte ich, berührte seine Hand und dachte daran, daß er ja zu jenen Unglücklichen gehörte, die an einer Stelle ihrer Lebenslinie wiedererweckt worden waren, der weit vor ihrem Tod liegt – in seinem Falle, weil der Zeitpunkt seines Todes durch eine nach seiner Wiederauferstehung eintretende Große Veränderung weiter hinausgeschoben worden war. Und wie jeder Dämon feststellen muß, wenn er es sich nicht vorher schon vorstellen kann, ist es die reinste Hölle, sich an die eigene Zukunft zu er18
innern, und je kürzer die Zeit zwischen der Wiedererweckung und dem Tod drüben im Kosmos ist, desto besser. Meine Zukunft, gesegnet sei Bab-ed-Din, waren nur aktionsreiche zehn Minuten auf der North Clark Street. Erich legte seine andere Hand sanft auf die meine. »Die kleinen Vorteile des Veränderungskrieges, Liebchen. Wenigstens bin ich Soldat und erhalte manchmal Einsatzbefehle für die Zukunft – obwohl ich nicht ganz begreife, warum wir diese Zwangsvorstellungen über unsere künftige Persönlichkeit drüben haben. Die meine ist ein dummer Oberst, dünn wie Papier – und schrecklich entrüstet über die voyageurs! Aber es hilft mir ein wenig, ihn in der richtigen Perspektive zu sehen, und wenigstens komme ich ziemlich regelmäßig zurück in den Kosmos. Gott sei Dank damit bin ich also besser dran als ihr Gesellschafterinnen.« Ich sprach nicht aus, daß ein sich verändernder Kosmos schlimmer ist als keiner, aber ich sagte lieber dem Bonny Djö ein Gebet auf für meinen Vater, auf daß die Veränderungswinde die Lebenslinie Anton Forzanes nur sanft bestreichen mögen, der Professor der Physiologie gewesen war, geboren in Norwegen und begraben in Chicago. Der Woodlawn-Friedhof ist ein hübscher grauer Ort. »Schon gut, Erich«, sagte ich. »Bei den Gesellschafterinnen heißt es auch immer: Her mit uns!« Er drehte sich um und stirnrunzelte mich mißtrauisch an, als frage er sich, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. »Her mit uns?« fragte er. »Was meinst du?« »Na, das kannst du dir doch denken. Wie ich schon sagte: Herr mit uns.« Ein kränkliches Lächeln dämmerte auf seinem preußischen Gesicht. Er knurrte: »Her mit uns … Herr mit 19
uns …« und lachte leise. »Greta, ich weiß nicht, wie ich mit dir auskommen soll, wenn du wegen so billiger Lacheffekte eine große Sprache zerstückelst.« »Du mußt mich nehmen, wie ich bin«, sagte ich, »mit Herrn und allem, dank sei Bonny Djö …« und ich erklärte ihm hastig: »Das ist Französisch – le bon Dieu – der gute Gott – schlag mich nicht. Ich werde dir keine weiteren Geheimnisse von mir anvertrauen.« Er lachte schwach, als läge er im Sterben. »Kopf hoch«, sagte ich. »Ich werde nicht ewig hier sein, und es gibt schlimmere Orte als die Station.« Er nickte mürrisch und sah sich um. »Weißt du was, Greta, wenn du mir versprichst, keinen schlimmen Witz daraus zu machen: Wenn wir im Einsatz sind, rede ich mir manchmal ein, ich kann bald hinter der Bühne verschwinden, um der weltberühmten Ballerina Greta Forzane den Hof zu machen.« Mit der Bühne hatte er recht. Die Station ist ein richtiges Rundtheater mit der Leere als Publikum, wobei das Grau der Leere durch die Schirme, welche Krankenabteilung (brr!), Erholung und Lager abteilen, kaum beeinträchtigt wird. Zwischen den letzten beiden Sektoren liegen die Bar und die Küche und Beaus Klavier. Zwischen der Krankenabteilung und dem Sektor, wo gewöhnlich die Tür erscheint, befinden sich die Regale und Rahmen der Kunstgalerie. Der Kontrolldiwan bildet die Bühnenmitte. In angemessenem Abstand sind sechs große flache Couches darum angeordnet – von denen jetzt eine ihre Vorhänge im Grau verschwinden ließ – dazu einige kleine Tische. Das Ganze ist wie eine Ballettkulisse, und die verrückten Kostüme und Figuren, die hier auftreten, zerstören die Illusion nicht. Im Gegenteil, Diaghilew hätte die meisten auf der Stelle für das Ballett Russe engagiert, ohne zu fragen, ob sie überhaupt einen Takt halten konnten. 20
Letzte Woche in Babylon, Letzte Nacht in Rom Hodgson
2 Ein rechter Handschuh Beau war hinter die Bar getreten und unterhielt sich leise mit Doc, während sein Blick jedoch umherwanderte. Er wirkte sehr fahl und professionell in Weiß, und ich dachte – Damballa! – ich bin im französischen Viertel. Die Neue war verschwunden. Nach dem Durcheinander wegen Markus konnte sich Sid endlich um den Neuen kümmern. Er gab mir ein Zeichen, und ich machte mich, Erich im Schlepptau, näher heran. »Willkommen, süßer Bursche. Sidney Lessingham ist Ihr Gastgeber, ebenfalls Engländer. Geboren in King’s Lynn, 1564, in Cambridge erzogen, aber London war mein Leben und mein Tod, obwohl ich Bessie, Jimmy, Charlie und fast auch Ollie überlebte. Und was für ein Leben war das! Nacheinander Schreiber, Spion, Kuppler – diese beiden Berufe gehen Hand in Hand – unbedeutender Dichter, Bettler und ein Händler für Wiederauferstehungstrakte. Beau Lassiter, unsere Hälse sind trocken wie Stroh.« Beim Wort »Dichter« blickte der Neue auf, aber seltsam widerwillig, als wäre er durch einen Trick dazu gebracht worden. »Und um Ihren Hals fürs Trinken zu schonen, schöner Galan, bin ich jetzt so kühn und errate und beantworte eine Ihrer Fragen«, plauderte Sid weiter. »Ja, ich habe Will Shakespeare gekannt, wir waren ja eines Alters – und er war so ein bescheidener, in sich gekehrter Bursche, daß wir uns alle fragten, ob er die 21
Stücke wirklich selbst geschrieben hat. Verzeihen Sie, aber um den Kratzer sollte man sich kümmern.« Da sah ich, daß die Neue gar nicht den Kopf verloren hatte, sondern in die Krankenabteilung (brr!) gegangen war, um ein Erste-Hilfe-Tablett zu holen. Sie hob einen Wattebausch an die klebrige Wange des Neuen und sagte ziemlich schrill: »Wenn ich mal …« Sie hatte sich einen schlechten Moment ausgesucht. Sids letzte Worte und Erichs Annäherung hatten das Gesicht des jungen Soldaten dunkelrot werden lassen, und er fegte wütend ihren Arm zur Seite, ohne sie auch nur anzuschauen. Erich drückte meinen Arm. Das Tablett polterte zu Boden – und einer der Drinks, die Beau eben herbeibrachte, wäre fast den gleichen Weg gegangen. Seit der Ankunft des Neuen Mädchens hatte sich Beau eingebildet, sie fiele in seine Verantwortung, obwohl ich mir nicht denken kann, daß sich die beiden darüber schon einig geworden waren. Beau war in diesem Punkt besonders entschlossen, weil ich gerade mit Sid dicke war und Maud mit Doc, wo sie doch schwierige Fälle liebte. »Ruhig, Junge, bei meiner Lieb’!« donnerte Sid, und warf Beau seinen »Stop«-Blick zu. »Sie ist nur eine Heidin, die dich trösten will. Halte deine Galle im Zaum, du schwarzer Bösewicht, vielleicht wandelt sie sich zu Poesie! Ah, da hab ich dich getroffen, ja? Gesteh’s, du bist ein Dichter.« Sid entgeht selten etwas, obwohl ich eine Sekunde lang meine Psychologie vergaß und mich fragte, ob er wußte, was er mit seinen Erkenntnissen anstellte. »Ja, ich bin Dichter, genau«, sagte der Neue laut. »Ich bin Bruce Marchant, ihr verdammten Zombies. Ich bin Dichter in einer Welt, in der sogar Zitate von König James und von deinem kostbaren Will, die du als Pointen verwendest, nicht vor dem Schleim der 22
Schlange und den schmutzigen Beinen der Spinne sicher sind. Sie verändern unsere Geschichte, stehlen uns unsere Gewißheiten, stellen sich als verdammt allwissend und wohlwollend und tüchtig hin – und wohin führt das alles? Zu diesem verdammten SU-Handschuh!« Er hielt seine schwarzbehandschuhte Linke hoch, die noch immer den zweiten Handschuh hielt und schüttelte sie. »Was ist mit dem Spinnen-Uniform-Handschuh, mein lieber Junge?« wollte Sid wissen. »Bei unser Lieb’, sagen Sie es uns.« Und Erich lachte: »Sie können sich glücklich preisen, Kamerad. Markus und ich haben nicht einmal Handschuhe erhalten.« »Was damit los ist?« brüllte Bruce. »Die verdammten Dinger sind beide links!« Er schleuderte den Handschuh zu Boden. Wir alle brüllten los, wir konnten nicht anders. Er kehrte uns den Rücken und stampfte wild los, doch ich machte mir keine Sorgen, daß er in die Leere rennen würde. Erich drückte meinen Arm und sagte beim Luftholen: »Mein Gott, Liebchen, was habe ich dir immer über die Soldaten gesagt? Je größer der Kummer, desto geringer die Ursache! Unweigerlich!« Einer von uns lachte nicht. Seit die Neue den Namen Bruce Marchant gehört hatte, sah sie aus, als hätte sie das Sakrament erhalten. Ich freute mich, daß sie sich endlich für etwas interessierte, denn bisher hatte sie ziemlich hochnäsig und unbeteiligt getan, obwohl sie mit der Empfehlung in die Station gekommen war, in den Zwanzigern in London und New York eine ziemlich Swingerin gewesen zu sein. Sie blickte uns tadelnd an, als sie das Tablett und das andere Zeug auflas, ohne den Handschuh zu vergessen, den sie wie eine Reliquie in die Mitte des Tabletts legte. 23
Beau marschierte los und versuchte, das Wort an sie zu richten, aber sie schwebte an ihm vorbei, und wieder einmal konnte er wegen des Tabletts in seiner Hand nichts unternehmen. Er kam herüber und erledigte sich schnell der Drinks. Ich nahm sofort einen großen Schluck, weil ich die Neue durch den Schirm in die Krankenabteilung gehen sah und ich mich höchst ungern daran erinnern lasse und froh bin, daß Doc zu betrunken ist, um die Operationseinrichtung zu benutzen, wo doch einige der arachnoidischen Chirurgiepraktiken äußerst eklig sind, wie ich nur zu gut weiß aufgrund einer persönlichen Erfahrung, die auf meiner Liste der zu vergessenden Dinge ganz oben steht. Inzwischen hatte Bruce kehrt gemacht und sagte gepreßt: »Hör doch, es geht nicht um den verflixten Handschuh, wie ihr sehr wohl wißt, ihr heulenden Dämonen.« »Was ist es dann, nobler Freund?« fragte Sid, wobei sein ehrwürdiger grauer Bart die Wirkung unschuldiger Neugier noch steigerte. »Es geht um das Prinzip des Ganzen«, sagte Bruce und sah sich heftig um, doch niemand von uns lächelte. »Es geht um die elende Unfähigkeit und den Tod des Kosmos – und sagt mir nicht, das wäre nicht drin – in der Maske wohltätiger, allmächtiger Autorität. Die Spinnen – und wir wissen letztlich nicht, wer sich dahinter verbirgt; es handelt sich nur um einen Namen; wir sehen nur Helfershelfer wie uns selbst – die Spinnen zerren uns aus den ruhigen Gräbern unserer Lebenslinien …« »Ist das etwas Schlimmes, Junge?« murmelte Sid mit unschuldig-glattem Gesicht. »… und wiedererwecken uns, wenn sie können, und sagen uns dann, wir müssen eine andere zeitreisende Macht bekämpfen, die die Schlangen genannt wird – 24
ebenfalls nur ein Name – und die es darauf angelegt hat, den ganzen Kosmos zu pervertieren und zu versklaven – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.« »Und stimmt das nicht, Junge?« »Ehe wir wieder richtig wach sind, sind wir in die große Zeit rekrutiert und werden in Tunnel und Gruben außerhalb unserer Raumzeit gedrängt, in diese elenden Kammern, Schränke, Säcke und Höhlen – ich will diese Station nicht beleidigen –, die die Spinnen geschaffen haben, vielleicht durch gewaltige Implosionen, aber niemand weiß das genau, und dann werden wir zu allen möglichen Einsätzen in die Vergangenheit und Zukunft geschickt und sollen dabei die Geschichte so verändern, daß die Schlangen dran glauben müssen.« »Stimmt, Junge.« »Und von da an ist das Tempo derart hektisch und rücksichtslos, die Schocks kommen so schnell, unsere Gefühle werden dermaßen durcheinandergebracht, unsere äußere und innere Metaphysik wird so wahnsinnig verzerrt, der innerste Faden der Wirklichkeit, an den wir uns klammern, so fürchterlich verknotet, daß sich nichts wieder geradebiegen läßt.« »So haben wir uns alle mal gefühlt, Junge«, sagte Sid nüchtern; Beau nickte dazu mit seinem schmalen Totenschädel. »Du hättest mich sehen sollen, Kamerad, bei meinen ersten fünfzig Schlafperioden«, schaltete sich Erich ein, während ich hinzufügte: »Wir Mädchen auch, Bruce.« »Oh, ich weiß, daß ich mich daran gewöhne, und glaubt etwa nicht, daß ich das nicht könnte. Das ist es nicht«, sagte Bruce heftig. »Und das persönliche Durcheinander würde mir auch nichts ausmachen, der verwirrte Zustand; in dem meine Seele ist, es würde 25
mir nicht einmal etwas ausmachen, die Geschichte neu zu formen und dabei unbezahlbare, einst unvergänglich genannte Schönheiten der Vergangenheit zu zerstören, wenn ich das Gefühl hätte, es geschähe wirklich zum Besten aller Beteiligten. Die Spinnen versichern uns, es sei superwichtig, daß der Westen letztlich den Osten besiege, damit die Schlangen ausgelöscht werden. Aber was haben sie getan, um dieses Ziel zu erreichen? Ich will dir ein paar hübsche Beispiele nennen. Um die Macht in der frühen Mittelmeerwelt zu stabilisieren, haben sie Kreta auf Kosten Griechenlands aufgebaut und dabei Athen zur Geisterstadt und Plato zum trivialen Fabulierer gemacht und die ganze griechische Kultur abgewertet.« »Sie haben Zeit für Kultur?« hörte ich mich fragen, und klatschte mir sofort in sanftem Tadel mit der Hand auf den Mund. »Aber Sie erinnern sich doch an die Dialoge, Junge«, bemerkte Sid. »Und schimpfen Sie nicht über Kreta – ich habe eine liebe keftische Freundin.« »Wie lange werde ich mich noch an Platos Dialoge erinnern? Und wer nach mir?« fragte Bruce herausfordernd. »Hier ein anderes Beispiel. Die Spinnen wollen Rom mächtig sehen, und bis jetzt haben sie Rom so sehr geholfen, daß es wenige Jahre nach dem Tode Julius Cäsars im Feuer germanischer uns parthischer Invasionen untergegangen ist.« Jetzt schaltete sich Beau ein. Fast alle hier in der Station lieben diese harten Diskussionen. »Sie vergaßen zu erwähnen, Sir, daß Roms kürzlicher Niedergang direkt auf die abscheuliche Dreier-Allianz zurückzuführen ist, die die Schlangen zwischen der klassischen Welt des Ostens, der moslemisierten Christenheit und dem marxistischen Kommunismus geschmiedet haben, wobei die Fackel der Macht in Richtung Zukunft über 26
Byzanz und die Östliche Kirche weitergereicht werden soll, ohne daß sie je in die Hand des Westens und der Spinnen gerät. Das, Sir, ist der Dreitausendjahresplan der Schlangen, den wir bekämpfen, indem wir uns bemühen, Rom im alten Glanz wiedererstehen zu lassen.« »Bemühen ist das richtige Wort«, sagte Bruce heftig. »Und noch ein Beispiel. Um Rußland zu schlagen, haben die Spinnen England und Amerika aus dem Zweiten Weltkrieg herausgehalten und so für eine deutsche Invasion in der Neuen Welt gesorgt und ein Nazireich geschaffen, das sich von den Salzminen Sibiriens bis zu den Plantagen Iowas, von Nischnij Nowgorod bis nach Kansas City erstreckt!« Er hielt inne und meine Härchen begannen zu jucken. Hinter mir sang jemand mit unheimlicher, tonloser Stimme, wie Schritte in hartem Schnee. »Salz, Salz, bringe Salz. Kein ›Peitsch‹, gnädige Herren. Salz, Salz, Salz.« Ich wandte mich um, und da walzte Doc mit winzigen Schritten auf uns zu, vorgebeugt, so daß die Enden seines Schals den Boden berührten, den Kopf seitlich hochgereckt. Er blickte durch uns hindurch. Ich wußte sofort Bescheid, aber Erich sagte leise: »So hat er zu meinen Landsleuten gesprochen.« Doc hatte seine letzten Monate in einem von den Nazis betriebenen Salzbergwerk verbracht. Er sah uns und richtete sich auf, schob sorgsam seinen Hut zurecht. Er runzelte angestrengt die Stirn, während mein Herz ein halbes dutzendmal schlug. Dann erschlaffte sein Gesicht, er zuckte die Achseln und murmelte: »Nitschewo.« »Uns ist es egal, Sir«, übersetzte Beau und fuhr, zu Bruce gewandt, fort: »Es stimmt, durch den Veränderungskrieg sind große Zivilstationen geschrumpft oder 27
zerbrochen. Aber andere, die einmal im Aufkeimen zertreten wurden, sind seither aufgeblüht. In den 70er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts habe ich einen Mississippi bereist, der Grants Kanonenboote nicht kannte. Ich studierte Klavier, Sprachen und die Zufallsgesetze bei den größten europäischen Meistern an der Universität Vicksburg.« »Und sie meinen, Ihre dürftige Dampfboot-Kultur ist ein Ausgleich für …« begann Bruce, doch: »Ich bitt’ Sie, nichts davon, Junge«, unterbrach Sid hastig. »Nationen gleichen einander ebenso wie Wahnsinnige oder Säufer, und ich trinke alle unter den Tisch, der mir da widerspricht. Hören Sie auf die Stimme der Vernunft: Nationen sind nicht so winzig, daß sie beim ersten Betasten ihrer Vergangenheit gleich schrumpfen und verschwinden, nein, auch nicht beim zehnten. Nationen sind Ungeheuer, Junge, mit Gedärmen aus Eisen und Nerven aus Messing. Verschwenden Sie Ihr Mitleid nicht darauf.« »Das stimmt wirklich, Sir«, hakte Beau nach, der nach dem Angriff auf seinen großen Süden noch kühler und bissiger geworden war. »Die meisten von uns treten in die Veränderungswelt mit der falschen Vorstellung ein, daß die geringste Veränderung in der Vergangenheit – ein verschobenes Staubkorn – die ganz Zukunft verändern muß. Es dauert seine Zeit, bis wir seelisch und intellektuell das Gesetz der Bewahrung der Realität akzeptieren: daß nämlich bei einer Veränderung der Vergangenheit die Zukunft sich gerade nur soweit wie nötig verändert, gerade ausreichend, um die neuen Daten aufzunehmen. Die Veränderungswinde treffen stets auf höchsten Widerstand. Sonst hätte der allererste Einsatz in Babylon bereits New Orleans, Sheffield, Stuttgart und Maut Davis’ Geburtsort auf Ganymed ausgelöscht! 28
Überdenkt doch einmal, wie die durch Roms Zusammenbruch entstandene Lücke durch die imperialistischen und christianisierten Germanen ausgefüllt wurde. Nur ein erfahrener Dämonen-Historiker vermag in den meisten Zeitaltern den Unterschied zwischen der ehemaligen römisch- und der jetzigen gothischkatholischen Kirche zu benennen. Wie Sie selbst von Griechenland sagten, Sir – es ist, als würde eine alte Melodie in eine etwas andere Tonart versetzt. Im Kielwasser der Großen Veränderung werden Kulturen und Individuen transportiert, das stimmt, doch bleiben sie im Wesentlichen, was sie waren, abgesehen von der üblichen Zahl bedauerlicher, aber statistisch bedeutungsloser Unfälle.« »Also gut, ihr verdammten Gelehrten – vielleicht bin ich zu scharf rangegangen«, knurrte Bruce. »Aber wenn ihr mal etwas anders wollt, dann denkt doch einmal an die niederträchtigen Methoden, zu denen wir in unserem wunderbaren Veränderungskrieg greifen. Churchill und Cleopatra vergiftet. Einstein als Baby gekidnappt!« »Die Schlangen haben damit angefangen«, erinnerte ich ihn. »Ja, und wir haben’s ihnen nachgemacht. Wie erfindungsreich läßt uns das dastehen!« gab er mit fast weiblicher Logik zurück. »Wenn wir Einstein brauchen, warum lassen wir ihn dann nicht auferstehen, warum behandeln wir ihn nicht wie einen Menschen?« Beau trug seine Kultur noch etwas dicker auf, als er jetzt sagte: »Pardonnez-moi, aber wenn Sie Ihren Status als Doppelgänger einen soupçon länger genossen haben, werden Sie begreifen, daß große Männer selten wiedererweckt werden können. Ihr Wesen ist kristallisiert, ihre Lebenslinien sind zu festgelegt.« »Verzeihen Sie, aber ich halte das für Quatsch. Ich 29
glaube, daß die meisten bedeutenden Männer sich nicht auf einen Handel mit den Schlangen einlassen, auch nicht mit uns Spinnen. Für den Preis, der verlangt wird, schmähen sie die Wiederauferstehung.« »Mann, so groß sind die auch wieder nicht«, flüsterte ich, während Beau glattzüngig fortfuhr: »Wie das auch sein mag, Sie haben die Wiedererweckung akzeptiert, Sir, und sind damit eine Verpflichtung eingegangen, die Sie als Gentleman honorieren müssen.« »Ja, ich habe die Wiedererweckung akzeptiert«, sagte Bruce, und ein Leuchten trat in seine Augen. »Als sie mich zehn Minuten vor meinem Tod aus meiner Linie im Passionstal holten, griff ich nach dem Lebensangebot wie ein Säufer nach dem erstem Drink am Morgen danach. Aber schon damals glaubte ich an die Chance, Fehler der Geschichte ungeschehen zu machen und für den Frieden zu arbeiten.« Seine Stimme wurde immer erregter. Etwas außerhalb unseres Kreises, das bemerkte ich erst jetzt, beobachtete ihn die Neue hingebungsvoll. »Aber wozu brauchten mich die Spinnen wirklich? Um neue Kriege auszufechten, immer wieder, um sie grausamer und schlimmer zu machen, um mit jeder Großen Veränderung die Sense des Todes noch weiter ausschwingen zu lassen, um uns ein wenig näher an den Tod des Kosmos heranzuarbeiten.« Sid berührte mein Handgelenk, und während Bruce weiter wütete, flüsterte er mir zu: »Welches Mittel, meinst du, mag diesen feuersprühenden Vulkan erfreuen und zum Erlöschen bringen? Um unserer Liebe willen bitt’ ich dich, find’s heraus.« Ohne den Blick von Bruce zu nehmen, flüsterte ich: »Ich kenne jemanden, der überglücklich wäre, sich seiner anzunehmen, wenn er sie nur wahrnähme.« »Die Neue, Schätzelchen? Wohl denn. Der Bursche 30
redet wie ein aufgebrachter Engel. Das berührt mein Herz, und es gefällt mir nicht.« Bruce sagte heiser, aber deutlich: »Also werden wir zu Einsätzen in die Vergangenheit geschickt, und von jedem dieser Unternehmen wehen die Veränderungswinde in Richtung Zukunft, schnell oder langsam, je nach dem Widerstand, auf den sie treffen, manchmal wogen sie auch ineinander, und jeder Wind kann das Datum unseres eigenen Todes hinter das Datum unserer Wiedererweckung verschieben, so daß wir augenblicklich – sogar hier, außerhalb des Kosmos – vermodern oder verfaulen oder zu Staub zerfallen oder einfach verschwinden könnten. Der Wind, der unseren Namen trägt, mag durch die Tür zu uns hereinstreichen.« Bei dieser Bemerkung verhärteten sich die Gesichter, denn es gilt als unfein, den Veränderungstod zu erwähnen, und Erich brauste auch sofort auf: »Halt’s Maul, Kamerad! Es gibt immer eine neue Wiederauferstehung!« Aber Bruce hielt seinen Mund nicht. Er sagte: »O wirklich? Ich weiß, daß die Spinnen so etwas versprechen, aber selbst wenn sie zurückgehen und sich einen anderen Doppelgänger aus meiner Lebenslinie holen – bin ich das dann?« Er schlug sich mit der bloßen Hand vor die Brust. »Ich glaube es nicht. Und selbst wenn er wirklich mein Ich ist, mit einem lückenlos anschließenden Bewußtsein, warum ist er dann noch einmal wiedererweckt worden? Doch nur, um weitere Kriege zu kämpfen und sich erneut dem Veränderungstod auszusetzen, zum Wohle einer allgegenwärtigen Macht …« seine Stimme stieg einem Höhepunkt entgegen – »einer allgegenwärtigen Macht, die so verdammt machtlos ist, daß sie einem armen Soldaten aus dem Schlamm des Passionstals, einem elenden Veränderungskommando, 31
einem gottverlorenen Patienten nicht einmal eine vernünftige Ausrüstung mitgeben kann!« Und er streckte uns seine bloße Rechte entgegen, die Finger ein wenig ausgebreitet, als wäre diese Hand das erstaunlichste Objekt und der entrüsteten Sympathiekundgebungen in der ganzen Welt wert. Die Neue wählte genau den richtigen Augenblick. Sie glitt zwischen uns hindurch, und ehe er auch nur die Finger krümmen konnte, stülpte sie ihm einen schwarzen Handschuh darüber, und jeder konnte sehen, daß er wie angegossen paßte. Diesmal war unser Gelächter noch größer. Wir sanken atemlos zusammen und verschütteten unsere Getränke und schlugen einander auf den Rücken und begannen wieder von vorn. »Ach, der Handschuh, Liebchen! Woher hat sie ihn nur?« keuchte mir Erich ins Ohr. »Hat den anderen wahrscheinlich nur nach links gedreht – dadurch wird ein linker Handschuh zu einem rechten – ich habe das selbst schon gemacht«, sagte ich atemlos und brach bei der Vorstellung in neues Gelächter aus. »Dann wären aber die Nähte draußen«, wandte er ein. »Dann weiß ich es nicht«, sagte ich. »Wir haben allen möglichen Kram im Lager.« »Egal, Liebchen«, versicherte er mir. »Ach, der Handschuh!« Die ganze Zeit über stand Bruce wie festgenagelt da und bewunderte den Handschuh und bewegte ab und zu ein wenig die Finger, und die Neue beobachtete ihn, als äße er einen Kuchen, den sie gebacken hatte. Als wir uns etwas beruhigt hatten, blickte er mit breitem Lächeln zu ihr auf. »Wie heißen Sie doch gleich?« »Lili«, erwiderte sie, und Sie können mir glauben, 32
von dem Augenblick an war sie nur noch Lili für mich, wegen der Art und Weise, wie sie mit diesem Wahnsinnigen umgesprungen war. »Lilian Foster«, erklärte sie. »Ich bin auch aus England, Mr. Marchant. Ich habe Einfälle eines jungen Mannes unzählige Male gelesen.« »Wirklich? Schlechtes Zeug. Aus der düsteren Zeit – ich meine, aus meinen Cambridge-Tagen. In den Schützengräben habe ich an Gedichten gearbeitet, die um einiges besser waren.« »Das glaube ich nicht. Aber ich würde mich schrecklich freuen, die neuen zu hören. Oh, Mr. Marchant, es war so seltsam, daß Sie es Passionstal ausgesprochen haben.« »Warum, wenn ich fragen darf?« »Weil ich es selbst auch so nenne. Aber ich habe nachgesehen, und es müßte eher Pas-ksen-da-LE heißen.« »O ja! Alle Tommies haben den Ort Passionstal genannt, so wie sie auch Ypern Vipern nannten.« »Wie interessant. Wissen Sie, Mr. Marchant, ich möchte meinen, wir waren bei dem gleichen Einsatz 1917. Ich war als Rotkreuzschwester nach Frankreich gekommen, aber man stellte mein Alter fest und wollte mich zurückschicken.« »Wie alt waren Sie – sind Sie? Ist ja das gleiche, will ich sagen.« »Siebzehn.« »Siebzehn in 17«, murmelte Bruce, und seine blauen Augen hatten etwas Glasiges. Es war ein wirklich mieser Dialog, und ich konnte Erichs humorvollen Blick verstehen, als wollte er sagen: »Ist es nicht niedlich, Liebchen, Bruce und dieses dumme kleine englische Schulmädchen, das ihm zwischen den Einsätzen die Zeit vertreibt?« 33
Trotzdem, als ich Lili so beobachtete – mit ihrer schwarzen Ponyfrisur und ihrem Perlenhalsband und dem engen grauen Kleid, das ihr kaum bis zu den Knien reichte, den zärtlichen Bruce neben sich aufragend in schmucker Husarenaufmachung, da wußte ich, daß ich hier den Anfang von etwas miterlebte, das ich seit damals nicht mehr mitgemacht habe, als Dave im Kampf gegen Franco starb – Jahre, bevor ich in die Große Zeit geriet –, die Art Sache, die einen fast wünschen läßt, daß man in der Veränderungswelt Kinder haben könnte. Ich fragte mich, warum ich nie daran gedacht hatte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit auch David wiedererweckt wurde, und ich sagte mir: Nein, es hat sich alles geändert, ich habe mich verändert, es ist besser, die Veränderungswinde stören Dave nicht, sonst bekäm ich’s zu spüren. »Nein, ich bin nicht 1917 gestorben – ich wurde damals nur angeworben«, wandte sich Lili an Bruce. »Ich habe noch die ganzen zwanziger Jahre erlebt, wie du an meiner Kleidung erkennen kannst. Oh, Mr. Marchant, ob Sie sich wohl an eins von diesen Gedichten erinnern, die Sie in den Schützengräben begonnen haben? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie besser sind als Ihr Sonnett, das mit ›Der Zweig schwankt im Wind, die Nacht ist stumm; Schau zu den Sternen, kleiner Aff’ und wieg dich in Schlummer‹ abschließt.« Der Spruch hätte mich fast zum Aufschreien gebracht – was für Affen wir doch sind, dachte ich –, obwohl ich selbst davon überzeugt bin, daß man bei einem Dichter am weitesten kommt, wenn man ihm einen seiner eigenen Verse zitiert – sogar möglichst viele. Ich kam zu dem Schluß, daß ich unsere kleinen Briten für den Augenblick ruhig vergessen und mich um Erich kümmern konnte, oder wer mich sonst brauchte. 34
Die Hölle ist der richtige Platz für mich. In die Hölle gehen die feinen Kirchenleute und die guten Ritter, die beim Turnier oder in irgendeinem großen Krieg getötet werden, wir mutigen Soldaten und die galanten Edelleute. Mit ihnen will ich gehen. Auch gehen dorthin die blonden anmutigen Damen, die außer ihrem Herrn noch zwei oder drei Liebhaber haben. Dorthin gehen Gold und Silber, Zobel und Hermelin. Dorthin gehen die Harfinisten und die Sänger und die Könige der Erde. Aucassin
3 Neuner-Party Von einem Tablett, das Beau herumtrug, tauschte ich meinen Drink gegen einen neuen aus. Das Grau der Leere gewann nun ein wirklich angenehmes Aussehen, wie ein warmer dichter Nebel, in dem Millionen winziger Diamanten schwebten. Doc saß vornehm an der Bar, einen dampfenden Teetopf vor sich – ein Beigetränk, nehme ich an, da er gerade ein buntes Glas absetzte. Sid unterhielt sich mit Erich, wobei er lachte, und ich überlegte, daß es zwar wie eine Party auszusehen begann, daß da aber noch etwas fehle. Es hatte nichts mit dem Hauptversorger zu tun; die Anzeigen leuchteten gleichmäßig rot wie ein hübsches kleines Kaminfeuer inmitten des Sammelsuriums aus Anzeigelämpchen, das alle Kontrollen enthielt außer dem abseits befindlichen und erschreckenden Introversionsschalter, der nie berührt wurde. Da gingen Mauds Couchvorhänge zusammen, und sie und der Römer saßen still nebeneinander. 35
Er schaute hinab auf seine schimmernden Stiefel und seine sonstigen schwarzen Sachen, als wäre er eben erst erwacht und traute seinen Augen nicht, und er sagte: »Omnia mutantur, nos et mutamur in illis«, und ich blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zu Beau hinüber, der eben das Tablett zurückbrachte, und er machte dem alten Vicksburg Ehre, indem er übersetzte: »Alles verändert sich, und wir verändern uns mit.« Dann blickte Markus langsam in die Runde, und ich kann bezeugen, daß ein römisches Lächeln ebenso warm und freundlich ist, wie das Lächeln aus anderen Ländern, und er sagte schließlich: »Wir sind neun, die richtige Zahl für eine Party. Auch die Couches. Sehr gut.« Maud lachte stolz, und Erich brüllte: »Willkommen zurück aus der Leere, Kamerad!«, und dann, weil er ja Deutscher ist und die Meinung vertritt, alle Parties müßten laut und sartirisch-bombastisch sein, sprang er auf eine Couch und verkündete: »Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, Ihnen den nobelsten Römer aller Zeiten vorzustellen, Markus Vipsanius Niger, Legat des Nero Claudius (in einem früheren Zeitstrom Germanicus genannt), der im Jahre 763 A. U. C. (Richtung, Markus? Das ist 10 A. D. Ihr Klotzköpfe!) im mutigen Kampf gegen die Parther und die Schlangen in der Schlacht von Alexandria starb. Hoch, hoch, hoch!« Wir alle schwangen unsere Gläser und jubelten mit, und Sid brüllte Erich zu: »Füße von den Möbeln, du ungebildeter Kerl!« und grinste und dröhnte allen drei Husaren zu: »Vergnügt Euch, Patienten«, und Maud und Markus bekamen ihre Drinks, wobei der Römer Beau bekümmerte, indem er Scotch und Soda einem falernischen Wein vorzog, und im nächsten Augen36
blick redeten alle in Stundenkilometertempo durcheinander. Wir hatten auch allerlei nachzuholen. Das übliche Gerede über den Krieg – »Die Schlangen legen Minenfelder in der Leere.« – »Das glaube ich nicht, wie kann man ein Nichts verminen?« – und die Rationierungen – Bourbon, Haarspangen und Stabilitin, das Markus schneller wieder zu sich gebracht hätte – und was aus Leuten geworden war – »Marcia? Oh, sie ist nicht mehr bei uns.« (Sie war in einen Veränderungsstrom geraten und hatte sich innerhalb von Sekunden in ein grünes, stinkendes Etwas verwandelt, aber das würde ich nicht sagen) – und Markus mußte von Bruces Handschuh erfahren, was uns wieder in Lachkrämpfe stürzte – und der Römer erinnerte sich an einen Legionär, der eine Klage bis zu Oktavius getragen hatte, weil ihm durch Zufall der unvorstellbare Luxus eines Zuckerstücks anstelle des üblichen Salzes zuteil wurde –, und Erich fragte Sid, ob er ein neues Geistermädchen vorrätig habe, und Sid zupfte an seinem langen Bart wie der alte Ziegenbock, der er ja ist. »Fragst mich, geiler Allemand? Nay, wir haben da mehrere ausgesprochene Schönheiten, darunter eine österreichische Gräfin aus dem Straußschen Wien, und wenn wir nicht unser Schätzelchen hier hätten … Mnnn.« Ich stubste Erich mit dem Finger vor die Brust zwischen zwei hellschimmernde Totenkopfknöpfe. »Du, mein Kleiner von Hohenwald, bist für uns echte Mädchen eine Gefahr. Du hast es entschieden mit den unerwachten Geistern.« Er nannte mich seine kleine Dämonin und drückte mich ein wenig zu fest an sich, um mir zu beweisen, daß dies nicht so sei, dann schlug er vor, daß wir Bruce die Kunstgalerie zeigen sollten. Ich hielt das für eine brillante Idee, aber als ich sie ihm auszureden versuchte, 37
stellte er sich stur an. Bruce und Lili waren durchaus gewillt, sich einmal dort umzusehen. Der Säbelschnitt war nur noch eine dünne, rote Linie an seiner Wange; sie hatte das getrocknete Blut fortgewaschen. Allerdings geht einem die Galerie ziemlich an die Nieren. Sie enthält zahlreiche Gemälde und Plastiken und Absonderlichkeiten von Soldaten, die sich hier erholt haben, und schon das Material, aus dem viele der Gebilde bestehen, sagt so manches über den Veränderungskrieg aus – Messingpatronen, abgespaltener Feuerstein, Bruchstücke antiker Tonkunst, zu futuristischen Gebilden zusammengeleimt, eingestampftes Inkagold, von einem Marsianer neu gehämmert, Rollen aus perlartigem lunanischem Draht, ein Temperabild auf einem von Rissen überzogenen Quarzrund, das einmal das Bullauge eines Raumschiffes gefüllt hatte, eine sumerische Inschrift, in einem Ziegel aus einem Atomofen gemeißelt. Zahlreich sind die Stücke in der Galerie, und ich finde immer neue. Sie gehen einem an die Nieren, wie ich schon sagte, wenn man an die Burschen denkt, die das alles gemacht haben, und an ihre Gedanken, und die fernen Zeiten und Orte, von denen sie kommen, und wenn ich manchmal niedergeschlagen bin, komme ich rüber und sehe mich um, damit ich mich noch mieser fühle und den Ansporn bekomme, mir selbst einen Tritt in Richtung gute Laune zu geben. Die Galerie ist die einzige Geschichte der Station, die es gibt, und sie verändert sich kaum, weil die Objekte darin und die Gefühle, die hier Form angenommen haben, den Veränderungswinden besser widerstehen als alles andere. Jetzt rauschte Erichs witziger Vortrag an den großen Ohren vorbei, die ich unter meinem Pagenschnitt verberge, und ich überlegte, wie schlimm es doch für uns ist, daß es nicht nur Veränderungen, sondern Verände38
rungen gibt. Man kann keinen Augenblick sicher sein, ob die Stimmung oder Vorstellung, die man eben hat, wirklich neu ist oder nur gerade in einem aufsteigt, weil die Vergangenheit durch die Spinnen oder Schlangen verändert wurde. Veränderungswinde tragen nicht nur den Tod herbei, sondern auch alles weniger Schlimme, bis hin zur winzigsten Vorstellung. Sie wehen unzählige tausend mal schneller, als sich die Zeit bewegt, aber niemand kann festlegen, um wieviel schneller oder wie weit ein solcher Wind vordringt oder welchen Schaden er anrichten wird oder wie schnell er sich wieder verläuft. Die Große Zeit ist eben keine Kleinigkeit. Wir Dämonen haben dabei die Angst, daß unsere Persönlichkeit plötzlich untergeht, und daß jemand anders in den Führersitz steigt, ohne daß wir es merken. Natürlich sollen wir Dämonen in der Lage sein, uns über Veränderungen hinweg und trotz der Veränderungen zu erinnern; deshalb sind wir ja auch Dämonen und nicht Geister wie die anderen Doppelgänger oder bloß Zombies oder Ungeborene und weiter nichts; und wie Beau zutreffend sagte, es gibt keine großen Menschen bei uns, aber auch verflixt wenig Typen aus der großen Masse – wir sind eben eine eigene Sorte Mensch; und deshalb müssen die Spinnen uns anwerben, wo sie uns gerade finden, ohne sich um unser bisheriges Wissen und unseren Hintergrund zu kümmern, eine Fremdenlegion der Zeit, eine seltsame Sammlung Mensch, helle, doch immer im Hintergrund, mit einem eingebauten Sinn für Nostalgie und Zynismus, anpassungsfähig wie zentaurische Formwechsler, aber mit einem Gedächtnis so lang wie die sechs Arme eines Lunaners, eine Art Veränderungvolk, so könnte man sagen, die Creme der Verdammten. Aber manchmal frage ich mich auch, ob unser Ge39
dächtnis wirklich so gut ist wie wir meinen, ob die Vergangenheit nicht doch völlig anders war als unsere Erinnerung behauptet, ob wir nicht vielleicht vergessen haben, daß wir vergessen haben. Wie ich schon sagte, die Galerie bedrückt einen ziemlich, also spornte ich mich jetzt an: »Zurück zu deinem miesen kleinen Kommandanten, Mädchen«, und gab mir einen Ruck. Erich hielt eine grüne Schale mit goldenen Delphinen oder Raumschiffen in die Höhe und sagte: »Und für mich beweist das, daß sich die etruskische Kunst von der ägyptischen herleitet. Meinst du nicht auch, Bruce?« Bruce, der lächelnd auf Lili geschaut hatte, blickte auf und fragte: »Was war das, mein Lieber?« Erichs Stirn wurde dunkel wie die Tür, und ich war froh, daß die Husaren ihre Säbel und Tschakos abgelegt hatten, aber ehe auch nur ein Kraut-Fluch über seine Lippen dringen konnte, wehte Doc in seiner hochgezüchteten Betrunkenheit heran, als sei er hypnotisiert-nüchtern, bewegte sich wie auf einem kleinen Wagen, nahm Erich die Schale aus der Hand und sagte: »Ein herrliches Beispiel aus dem mittelsystemischen Venusianisch. Als 8H sie fertigstellte, sagte er mir, man könne sie nicht anschauen, ohne die Wellen der nordvenusianischen Untiefen um sich zu spüren. Aber invertiert sieht sie vielleicht noch besser aus. Ich weiß es nicht. Wer sind sie, junger Offizier? Nitschewo«, und sorgsam stellte er die Schale wieder in das Regal und schwebte weiter. Es ist wahr, daß Doc die Kunstgalerie hier besser kennt als wir alle, wirklich auswendig, zumal er auch der Dienstälteste in der Station ist, wenn er sich vielleicht auch einen schlechten Moment aussuchte, mit seinem Wissen zu prahlen. Erich wollte ihm nachset40
zen, aber ich sagte: »Nix, Kamerad, denk an Handschuhe und Zucker«, und er gab sich zufrieden mit der Klage: »Dieses Nitschewo ist so düster und hoffnungslos, so ungeheuerlich. Ich sage dir, die Spinnen sollten keine Russen für sich arbeiten lassen – nicht einmal als Gesellschafter.« Ich grinste ihn an und drückte seine Hand. »Doc ist letzthin kein großer Gesellschafter mehr gewesen, meinst du nicht auch?« Er grinste mich ein wenig dümmlich an, und sein Gesicht glättete sich, und seine blauen Augen schauten eine Sekunde lang wieder freundlich, und er sagte: »Ich sollte nicht so auf den Leuten herumhacken, Greta, aber manchmal bin ich eben ein eifersüchtiger alter Mann«, was nicht ganz stimmt, da er keinen Tag über dreiunddreißig ist, wenn sein Haar auch fast ganz weiß ist. Unser Liebespaar war ein paar Schritte weitergehuscht, bis es fast im Schirm zur Krankenabteilung verschwand. Das war der letzte Ort, den ich mir für die formellen Präliminarien für ein bißchen britisches Turteln ausgesucht hätte, aber Lili teilte meine Vorurteile offenbar nicht, obwohl sie mir, wie ich mich erinnerte, erzählt hatte, sie wäre einige Zeit in einem arachnoidischen Feldlazarett gewesen, ehe sie in die Station versetzt wurde. Aber sie konnte auch unmöglich Erfahrungen gesammelt haben, wie ich sie während meiner kurzen und verpfuschten Karriere als Krankenschwester bei den Spinnen mitgemacht hatte, wobei ich einmal völlig ausgeflippt war (jobmäßig, aber auch auf dem Boden), als ich einen Arzt einen Schalter betätigen sah, woraufhin sich ein Wesen – verletzt, aber ein Mensch – in eine lange Kette feuchtschimmernder, fremdartiger Früchte verwandelte – brr, der Gedanke daran bringt’s 41
mir immer noch hoch und wenn ich mir vorstelle, daß der gute alte Vati Anton seine kleine Greta zur Ärztin haben wollte! Naja, ich merkte bald, daß mich das nicht weiter brachte; schließlich hatten wir hier eine Party. In hektischem Tempo babbelte Doc auf Sid ein – und ich hoffte nur, er fühlte sich nicht bemüßigt, seine Tierimitationen zu machen, die sich ziemlich verrückt anhörten und einmal einen AI-Patienten ernsthaft beleidigten. Maud führte Markus einen Tanzschritt aus dem 23. Jahrhundert vor, und Beau setzte sich ans Klavier und improvisierte leise nach ihrem Rhythmus. Als ihm die tiefen, erholsamen Töne in den Ohren dröhnten, begann Erich zu strahlen, und zerrte mich fort. Im Nu hatte ich meine Füße vom diamantrauhen Boden hoch, den wir nicht auslegten, weil die meisten AIs, die Lieben, ihn hart mögen, und ich lehnte mich tief in die Couch beim Klavier, mit Kissen ringsum und einem frischen Drink in der Hand, während mein Nazifreund Anstalten machte, seinen Weltschmerz mit einem Lied abzuladen, was mich nicht allzu besorgt stimmte, weil sein Bariton ganz passabel ist. Alles lief wirklich gut – der Versorger arbeitete nur vor sich hin, um die Station am Leben zu erhalten; machte jetzt jedenfalls keine Anstrengungen, vollführte allenfalls einen gelegentlich faulen Paddelschlag. Zuweilen ist die Einsamkeit in der Station beglückend und schön. Beau blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zu Erich hinüber, der ihm zunickte, und schon stürzten sie sich in ein Lied, das wir alle kennen, obwohl ich nicht habe feststellen können, woher es eigentlich kommt. Ich mußte bei den Tönen an Lili denken, und ich fragte mich wieso – und wieso es in den Erholungsstationen 42
Tradition ist, die Neuen Lili zu nennen, obwohl es in diesem Falle ja ihr richtiger Name war. Auf der Schwelle zu All und Licht, wehen Veränderungswinde, aber berühren dich nicht. Du lächelst und flüsterst voll Gefühl: »Patient, komm doch zu mir; der Einsatz ist aus, tritt ein und schließ die Tür.«
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De Bailhache, Fresca, Mrs. Cammell, über Die Kreisbahn des bebenden Bären hinausgewirbelt In gespaltenen Atomen. Eliot
4 SOS aus dem Nichts Ich merkte plötzlich, daß Erich ohne Klavier weitermachen mußte, hob den Kopf und sah Beau, Maud und Sid auf den Kontrolldiwan zueilen. Der Hauptversorger blinkte in schnellem Alarm-Grün, aber der Rhythmus war so klar, daß selbst ich das Notrufsignal der Spinnen ausmachte, und eine Sekunde lang war mir schlicht übel. Dann ließ Erich in der Mitte von »Tür« seinen Reserveatem ab, und ich gab mir einen von den geistigen Tritten, die oft helfen, und wir eilten zusammen mit Markus den anderen nach, zur Stationsmitte. Das Blinken verging, als wir unser Ziel erreichten, und Sid wies uns an, stillzustehen, weil wir Schatten würfen. Er legte ein Auge an das Anzeigegerät, und wir verharrten starr wie Denkmäler, während er die Kontrollen streichelte, als sei er beim Liebesakt. Eine gefühlvolle Hand zuckte am Introversionsschalter vorbei zum Nebenversorger, und im nächsten Augenblick war die ganze Station schwarz wie unsere Seele und ich hatte nur noch Erichs Arm und die Erkenntnis, daß Sid ein grünes Licht päppelte, das ich nicht einmal sehen konnte, obwohl meine Augen ausreichend Zeit zur Anpassung hatten. Dann kehrte das grüne Licht sehr langsam zurück, und ich konnte das liebe, verläßliche alte Gesicht 44
erkennen – das grüngoldene Licht ließ ihn wie ein Meeresgott erscheinen –, und schließlich leuchtete das Signallicht ganz hell, und Sid schaltete die Stationsbeleuchtung wieder ein, und ich lehnte mich zurück. »Damit haben wir sie festgenagelt, wer immer das sein mag. Fertigmachen zum Empfang.« Beau, der ihm natürlich am nächsten stand, starrte ihn eindringlich an. Sid zuckte unsicher die Achseln. »Mir wollte zunächst scheinen, es stammte von unserem eigenen Globus, tausend Jahre vor unserem Herrn, aber das Licht flackerte und verging wie Hexenfeuer. So wie es jetzt aussieht, kommt der Ruf von einem Gebilde, das kleiner ist als die Station und das gewißlich außerhalb des Kosmos treibt. Mir wollte zwischendurch auch scheinen, als kannte ich den ersten Anrufer, einen antipodischen Atomwissenschaftler namens Benson-Carter – aber auch das veränderte sich.« Beau sagte: »Wir sind nicht in der richtigen Phase des Kosmos-Stations-Rhythmus für einen Empfang, oder, Sir?« Sid antwortete: »Eigentlich nicht, mein Junge.« Beau fuhr fort: »Ich hatte nicht den Eindruck, daß ein Empfang für uns vorgesehen war. Oder ein Noteinsatz.« Sid sagte: »Nein.« Markus’ Augen blitzten düster herüber. Er klopfte Erich auf die Schulter. »Einen oktavianischen Denarius gegen zehn Reichsmark, daß es sich um eine Falle der Schlangen handelt.« Erich bleckte beim Grinsen die Zähne. »Wenn es darum geht, wer beim nächsten Einsatz als erster durch die Tür muß, gilt die Wette.« 45
Ich wußte auch so, daß die Lage ernst war, auch brauchte ich mir nicht vorzustellen, daß es immer ein erstes Mal gibt, an etwas zu geraten, das wirklich von außerhalb des Kosmos kommt. Die Schlangen hatten jedenfalls unsere Kodevorschriften mehr als einmal durchlöchert. Wortlos teilte Maud Waffen aus, und Doc half ihr dabei. Nur Bruce und Lili hielten sich im Hintergrund. Aber sie sahen zu. Die Anzeigenlampe wurde heller. Sid griff nach dem Versorger und sagte: »Also gut, meine Lieben. Denkt daran, durch diese Tür treten die krummsten Hunde innerhalb und außerhalb des Kosmos.« Die Tür erschien ein wenig zu hoch und zu weit links von der Stelle, wo sie sein sollte, und verdunkelte sich viel zu schnell. Ein Hauch abgestandenen salzigen Seewindes, wenn es so etwas überhaupt gibt, wehte herein, aber, soweit ich spürte, kein beschleunigter Veränderungswind – und auf den war ich gerade gefaßt. Die Tür wurde tintenschwarz, und graue Pelzpeitschen zuckten, kupfernes Fleisch und etwas Metallisches blitzte, und etwas Dunkles und ein Hufetrommeln, und Erich zielte mit einer Lähmpistole über seinen linken Unterarm, und schon war die Tür wieder verschwunden, und ein tentakelbewehrter silbriger Lunaner und ein venusianischer Satyr kamen geradewegs auf uns zu. Der Lunaner hielt einen Stapel Kleidung und Waffen in den Armen. Der Satyr half einer wespentaillierten Frau beim Tragen einer schwer wirkenden Bronzetruhe. Die Frau trug einen kurzen Rock und ein Bolerojäckchen mit hohem Kragen – beides aus dunkelbraunem Leder, das fast schwarz wirkte. Sie hatte eine zweigehörnte Petsofa-Frisur und war hier und dort kühn vergoldet und trug Sandalen und kupferne Fuß- und Armringe – von denen einer ein kupferbeschlagenes Rufge46
rät war –, und an ihrem breiten Kupfergürtel hing eine kurzstielige Doppelaxt. Sie hatte eine dunkle Gesichtshaut, und ihre Stirn und ihr Kinn waren etwas fliehend, was durchaus keinen Effekt von Schwäche hatte; sie hatte ein Gesicht wie eine schöne Pfeilspitze – und mir auch noch vertraut, meine Güte! Ehe ich aber: »Kabysia Labrys!« sagen konnte, kam mir Maud schrill zuvor: »Kaby mit zwei Freunden. Taut ein paar Geistermädchen auf.« Und dann merkte ich, daß hier wirklich ein Wiedersehen gefeiert wurde, denn ich erkannte meinen lunanischen Freund Ilhilihis, und trotz all des Durcheinanders freute ich mich tatsächlich darüber, daß ich schon soweit war, die Eigenarten silberpelziger Schnauzen voneinander zu unterscheiden. Sie erreichten den Kontrolldiwan, und Illy warf seine Last hin, und die anderen setzten die Truhe ab, und Kaby taumelte, wehrte jedoch die beiden AIs ab, die ihr zu helfen versuchten, und durchbohrte Sid mit Blicken, als er ihrem Beispiel folgen wollte, obwohl sie seine »liebe keftische Freundin« ist, die er Bruce gegenüber erwähnt hatte. Sie stützte sich mit durchgedrückten Armen auf den Diwan und atmete zweimal tief durch, wobei sich die Erhebungen ihrer Wirbelsäule an der Hüfte unter ihrer braunen Haut abzeichneten, und warf den Kopf hoch und befahl: »Wein!« Während Beau loseilte, versuchte Sid erneut ihre Hand zu nehmen und sagte dabei: »Mein Schatz, ich habe dich noch nie rufen hören, und kannte diese hübsche kleine Faust noch nicht«, aber sie sagte heftig: »Spar deinen Trost für den Lunaner«, und ich blickte mich um und sah – beim Zeus! – daß einer von Ilhilihis’ sechs Tentakeln zur Hälfte abgehackt war. Darum mußte ich mich kümmern, und als ich vor 47
ihn hintrat, brachte er mich mit schnellen Worten aufs laufende: »Denk dran, er wiegt nur fünfzig Pfund, obwohl er zwei Meter groß ist, er mag keine tiefen Töne und läßt sich auch nicht fest anfassen; die beiden Beine sind keine Tentakel und werden auch nicht so benutzt; gebraucht sie für lange Wanderungen, Tentakel für Sprünge; verwendet Tentakel auch fürs Sehen auf kurze Entfernung und natürlich auch fürs Zupacken; sind sie ausgedehnt, ist er entspannt, hat er sie eingezogen, ist er wachsam oder nervös, schnell eingezogen, angewidert; als Begrüßung …« In diesem Augenblick schwebte einer der Tentakel wie ein süßduftender Federbausch über mein Gesicht, und ich sagte: »Illy, Mann, es ist viele Schlafperioden her« und fuhr ihm mit den Fingern über seine Schnauze. Ich mußte mich trotz allem zurückhalten, um ihn nicht zu umarmen, und langte ein wenig fürsorglich nach seinem abgehackten Tentakel, aber er schwenkte ihn von mir fort, und der kleine Stimmkasten, der an seiner Seite angegurtet ist, krächzte: »Ungezogen, ungezogen, Papa sorgt schon für seinen Korpus. GretaMädchen, hast du schon mal eine terranische Krake bandagiert?« Das hatte ich, ein intelligentes Muster aus einer Zeit etwa zweihundertundfünfzigtausend v. Chr., aber das sagte ich ihm nicht. Ich blieb stehen und ließ ihn mit einem seiner Tentakel in meine Handfläche reden – ich habe für die Federsprache nichts übrig, obwohl sie sich gut anfühlt und ich mich oft gefragt habe, wer ihm sein Englisch beigebracht hatte –, während er mit einigen anderen Armen einen lunanischen Erste-Hilfe-Kasten aus seinem Beutel holte und damit seine Wunde verschloß. Inzwischen kniete der Satyr über der Bronzekiste, die mit kleinen Totenköpfen und Kreuzen mit Schlei48
fen und Hakenkreuzen geschmückt war, allerdings viel älter aussah als Nazi, und der Satyr sagte zu Sid: »Mann, war fix gedacht, als Sie die Tür zu hoch reinkommen sahen und die Schwerkraft drunter ableimten, aber kann man jetz’ ma’ noch weniger Saft kriegn?« Sid griff nach dem Nebenversorger, und wir alle wurden sehr leicht, und mein Magen machte einen Salto, während der Satyr die Kleidung und Waffen, die Illy getragen hatte, auf die Truhe stapelte, damit abmarschierte und sie vorsichtig am Ende der Bar abstellte. Ich kam zu dem Schluß, daß auch der Englischlehrer des Satyr ein ziemlicher Typ gewesen sein mußte. Ich wünschte, ich hätte ihn-sie-es mal kennengelernt. Sid erkundigte sich fürsorglich bei Illy, ob er in einem Sektor Mondschwerkraft wünsche, aber mein Junge liebt es, in Gesellschaft zu sein, und da er selbst ein Federgewicht ist, macht ihm die Erdschwerkraft nichts aus. Wie er mich einmal fragte: »Würde die Jupiteranziehung einen Käfer stören?« Ich erkundigte mich bei Illy nach dem Satyr, und er krächzte, sein Name sei Siebensee, und er hätte ihn erst bei diesem Unternehmen kennengelernt. Ich wußte, daß die Satyre etwa eine Milliarde Jahre aus der Zukunft kamen, so wie die Lunies aus einer Zeit eine Milliarde Jahre vor uns stammen, und ich überlegte mir, daß es sich um eine wirklich große und dringende Mission gehandelt haben muß, wenn die Spinnen diese beiden Typen dafür einsetzten, eine Kluft von zwei Milliarden Jahren zwischen sich – einen Zeitunterschied, der einem eine Sekunde lang wirklich Ehrfurcht einflößen kann, müssen Sie wissen. Ich wollte eben Illy ausfragen, aber da kam Beau 49
von der Bar zurück, einen großen rotschwarzen irdenen Weinkrug in der Hand – wir bemühen uns, eine Vielzahl von Trinkgefäßen auf Lager zu haben, damit sich die Leute bei uns richtig wie zu Hause fühlen. Kaby riß ihm den Krug fort und trank einen großen Teil des Inhalts mit einem Zuge und zerschmetterte das Gefäß auf dem Boden. So etwas tut sie öfter, obwohl Sid schon versucht hat, ihr das auszutreiben. Dann starrte sie ein Weilchen auf die Dinge, die sie gerade bedachte, bis rings um ihre Augen das Weiße zu sehen war, und ihre Lippen die Zähne entblößten und sie ein ganzes Stückchen weniger menschlich wirkte als die beiden AIs, wie eine Furie. Nur ein Zeitreisender weiß, wie ähnlich manche Urzeitwesen den wilden Wandgemälden und Stichen tatsächlich sind. Das Haar sträubte sich mir bei dem schrillen Schrei, den sie nun ausstieß. Sie hämmerte mit einer Faust in den Diwan und schrie: »Göttin! Muß ich Kreta vernichtet, wiederauferstanden und nun erneut vernichtet sehen? Das ist zuviel für eure Dienerin!« Insgeheim war ich der Meinung, daß ihr einfach nichts zuviel werden konnte. Ihre Bemerkung über Kreta löste eine Flut von Fragen aus – auch ich stellte eine, denn die Nachricht erschreckte mich doch –, aber sie ließ schweigengebietend den Arm hochschießen, atmete tief ein und begann: »Der Kampf stand vor der Entscheidung. Wie schwarze Tausendfüßler rudernd, hielten die schwarzen dorischen Schiffe auf unsere zahlenmäßig unterlegene Flotte zu. Am hellen Ufer, geschützt durch Felsen, standen Siebensee und ich an der Nadelkanone, um den schwarzen Schiffsleibern lautlose Wunden beizubringen. Neben uns wartete Ilhilihis, als Seeungeheuer herausgeputzt. Aber dann … dann …« 50
Dann merkte ich, daß sie gar nicht so gefestigt war, wie ich dachte, denn ihre Stimme brach, und sie begann zu zittern und heftig zu schluchzen, obwohl ihr Gesicht noch immer eine Maske der Wut war, und dann kam ihr der Wein wieder hoch. Sid trat hinzu und beruhigte sie, was er wohl schon die ganze Zeit hatte tun wollen.
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Wenn ich eine Zeitung zur Hand nehme und sie lese, glaube ich Gespenster zwischen den Zeilen herumkriechen zu sehen. Es muß über all in der Welt Geister geben. Es will mir scheinen, als müßten sie so zahllos sein wie Sandkörner. Ibsen
5 Sid will Geistermädchen Mein elisabethanischer Freund stemmte die Fäuste in die Hüften und verkündete uns die Spielregeln, als seien wir ein Haufen nervöser Kinder, die zu intensiv gespielt hatten. »Hört, ihr Herren, dies ist eine Erholungsstation, und ich führe sie als solche. Zur Hölle mit allen Einsätzen! Mir ist egal, ob die Basis zerbricht oder die ganze Veränderungswelt in Schutt und Asche fällt – du, Kriegerin, wirst dich jedenfalls ausruhen und noch mehr Wein trinken, und zwar langsamer, ehe du deinen Bericht abgibst, und deine Kollegen werden Begleiterinnen erhalten. Keine Fragen, von keinem! Beau, bei unserer Lieb’, spiel uns ein aufmunterndes Lied.« Kaby entspannte sich ein wenig und ließ es zu, daß er vorsichtig die Hand auf ihren Rücken legte, zum Zeichen der Stütze, und sagte knurrig: »Na gut, Dickwanst.« Dann, ich kann’s nicht ändern, holten wir beim Klang des Muskrat Ramble, den ich Beau beigebracht hatte, für die beiden AIs zwei Mädchen und stellten alle zu Paaren zusammen, wie es sich gehörte. Ich möchte dabei gleich klarstellen, daß vieles, was 52
in der Veränderungswelt über Erholungsstationen geredet wird, einfach nicht stimmt – und außerdem werden stets neun Zehntel ausgelassen. Die Soldaten, die, die durch die Tür zu uns kommen, hoffen auf eine gute Zeit, gewiß, aber sie sind auch wirklich schlecht dran, jeder ohne Ausnahme tief drinnen in der Seele und im Herzen verletzt, wenn auch nicht immer am Körper oder so, wo man’s sofort sehen kann. Sie können mir glauben, ein temporaler Einsatz ist kein Witz, und überhaupt gibt’s unter hundert Leuten kaum einen, der es übersteht, aus seiner Lebenslinie gerissen werden und ein Leben als wirklich wacher Doppelgänger zu führen – das heißt, als Dämon –, geschweige denn als Soldat. Was braucht ein verwundetes und verwirrtes Wesen, das schwer gekämpft hat? Ein Individuum, das sich um ihn kümmert und für ihn fühlt und ihn zusammenflickt; und dabei hilft es, wenn diese Person vom anderen Geschlecht ist – das ist etwas, das bei anderen Spezies nicht anders ist als bei uns. Damit haben wir unsere Grundlage für die Station und die wilden Methoden, die dort angewendet werden – bei den meisten anderen Erholungsstationen oder Vergnügungsorten ist das nicht anders. Der Name Gesellschafterin kann irreführend sein, aber er gefällt mir. Sie muß weitaus mehr sein als ein gutes Partymädchen – oder Partyjunge –, obwohl sie das auch darstellen muß. Sie muß Krankenschwester und Psychologin und Schauspielerin und Mutter und erfahrene Ethnologin sein und allerlei mit längeren Namen – und ein verläßlicher Freund. Niemand von uns vereint alle diese Dinge zur Vollkommenheit in sich – oder kommt diesem Ideal auch nur nahe. Wir geben uns nur Mühe. Aber wenn der Ruf ergeht, müssen Gesellschafterinnen Kummer und Sor53
gen und Neidgefühle und Eifersüchteleien begraben – und vergessen Sie nicht, es sind lebende Menschen mit intensiven Gefühlen –, weil dann für nichts anderes mehr Zeit ist als zum Hilf, und frag nicht, wem! Und tief im Innern ist es einer guten Gesellschafterin auch gleichgültig, um wen es geht. Zum Beispiel diesmal. Es war mir ziemlich klar, daß ich eigentlich zu Illy wechseln müßte, obwohl ich insgeheim etwas besorgt darum war, Erich zu verlassen, aber der Lunaner war weit von zu Hause entfernt und Erich immerhin unter Menschen. Ilhilihis brauchte jemanden simpatico. Ich mag Illy, nicht nur weil er eine Art Kreuzung zwischen einem Spinnenaffen und einer persischen Katze ist – obwohl das, genau genommen, eine sehr schöne Mischung ist. Ich mag ihn um seiner selbst willen. Als er da also nach schlimmem Einsatz ganz zerschnitten und zittrig hereinkam, war ich die Richtige, mich um ihn zu kümmern. Jetzt habe ich meine kleine Rede gehalten, und die Ahnungslosen in der Veränderungswelt können ruhig ihre blöden Witze reißen. Aber ich frage Sie, wie könnte ein Arrangement zwischen Illy und mir anders als platonisch sein? Wir hatten vielleicht einige Krakenmädchen und Nymphen auf Lager – Sid hätte in die Liste schauen müssen, um das sicher zu wissen, aber Ilhilihis und Siebensee sprachen sich für richtige Menschen aus, und ich wußte, daß Sid mit ihnen da einer Meinung war. Maud drückte Markus’ Hand und ging zu Siebensee hinüber (»Scharfe Hufe hast du da, Mann« – sie hat sich meine Sprache angeeignet, wie fast alles), obwohl Beau vom Klavier stirnrunzelnd zu Lili schaute, um ihr wohl nahezubringen, daß sie den AI übernehmen müßte, da Markus ein richtiger Verwundeter war und lebendiger Pflege bedurfte. Aber außer Beau war allen 54
klar, daß Bruce und Lili eine große Sache miteinander hatten und am wenigsten gestört werden durften. Erich tat richtig gekränkt, als er mich verlor, aber ich wußte, daß das nicht stimmte. Er glaubt eine großartige Technik mit Geistermädchen zu haben und führt uns das gern vor, und er ist ja auch wirklich ziemlich draufgängerisch, wenn man so etwas mag, und – na ja! – wer tut das nicht von Zeit zu Zeit? Und als Sid formell die Gräfin aus dem Lager holte – eine blonde Augenweide in einem weißen engen Satinrock mit einer weißen Reiherfeder, die auf ihrem winzigen Hut wippte – Maud und Lili und mir weit voraus, was das Aussehen anging, wenn auch durchsichtig wie Zigarettenrauch – und als Erich mit den Absätzen klickte und sich über ihre Hand neigte und sie stolz zu einer Couch führte, schwarzer Tschako neben ihrem Filzhut, und ihr auf Deutsch Leben einzureden begann mit allerlei Kopfneigen und zähnefletschendem Lächeln und einer Sturzflut witziger Schmeicheleien, und als sie zurückzuflirten begann und der verträumte Augenausdruck hungrig wurde und sich auf ihn zu konzentrieren begann – nun, da wußte ich, daß Erich glücklich war und das Gefühl hatte, sich der Reichswehr würdig zu erweisen. Nein, in diesem Punkte machte mir mein kleiner Kommandant keine Sorgen. Markus hatte sich eine griechische Hetäre namens Phryne gezogen; wohl nicht das Mädchen, das damals in Athen den berühmten Gerichts-Striptease machte, und er weckte sie mit kleinen Schlucken seines Scotch und Soda, obwohl ich einigen seiner Blicke zu entnehmen glaubte, daß Kaby eigentlich eher sein Typ war. Sid beruhigte das kämpferische Mädchen, gab ihr nahrhaftes Brot und Oliven zum Wein zu essen, während Doc erstaunlicherweise in ein lebhaftes und ver55
nünftiges Gespräch mit Siebensee und Maud vertieft schien – vielleicht ein Informationsaustausch über die nordvenusianischen Untiefen –, und Beau hatte sich in den Panther Rag gestürzt, und Bruce und Lili lehnten auf dem Klavier und lächelten anerkennend, wobei sie aber lebhaft aufeinander einredeten. Illy, der die Runde inspiziert hatte, wandte sich wieder mir zu und krächzte: »Tiere mit Kleidung sind so erfrischend, Liebling! Als ob ihr alle Banner tragt!« Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht, obwohl meine Banner eher Aschermittwoch waren, ein kohlengrauer Sweater mit passendem Rock. Er schaute mir mit einem Tentakel auf den Mund, um zu sehen, wie ich lächelte, und quietschte leise: »Wirke ich langweilig und gewöhnlich auf dich, Greta-Mädchen, weil ich kein Banner trage? Nur so ein Zombie eine Milliarde Jahre aus deiner Vergangenheit, grau und leblos wie Luna heute ist, nicht wie damals, als er noch ein richtiger traumschöner Planet war und vor Luft und Wasser und Federwäldern schier platzte. Oder bin ich so exotisch interessant für dich wie du für mich – Mädchen aus meiner Zukunft, eine Milliarde Jahre!« »Illy, du bist süß«, sagte ich und tätschelte ihn sanft. Ich bemerkte, daß sein Fell noch nervös vibrierte, und beschloß, Sids Anordnungen in den Wind zu schlagen, ich wollte ihn darüber ausfragen, was er mit Kaby und dem Satyr gemacht hatte. Wo er nun schon eine Milliarde Jahre von Zuhause entfernt war, sollte er nicht auch noch schweigen müssen. Außerdem war ich neugierig.
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Jungfrau, Nymphe und Mutter sind die ewige königliche Dreieinigkeit der Insel, und die Göttin, die dort in jeder dieser Aspekte verehrt wird, als Neumond, Vollmond und ab nehmender Mond, ist die oberste Gottheit. Graves
6 Kreta, rund 1300 v. Chr. Kaby schob Sid ihren Nachschlag an Brot und Oliven hin, und als er seine buschigen Augenbrauen hob, nickte sie kurz zum Zeichen, daß sie schon wüßte, was sie tat. Sie stand auf und stellte sich gewissermaßen in Positur. Die Gespräche ringsum erstarben schnell, sogar die Turtelei zwischen Bruce und Lili. Kabys Gesicht und Stimme waren jetzt nicht mehr angespannt, aber auch noch nicht richtig gelöst. »Weh den Spinnen! Weh Kreta! Schlimm ist die Nachricht, die ich bringe. Nehmt sie hin mit der Kraft der Frauen. Als wir die Kanone aufgestellt hatten, hörte ich Algen zischen und brennen. Wir drei sprangen hinter die Felswand, sahen unsere eigene Kanone weiß wie Sonnenlicht werden – in einem Hitzestrahl der Schlangen. Ja, wir fürchteten zahlenmäßig unterlegen zu sein, und ich bediente mein Rufgerät.« Ich weiß nicht, wie sie das so elegant hinbekommt, aber sie schafft es – und dazu noch auf Englisch. Das heißt, wenn sie glaubt, etwas Wichtiges mitzuteilen zu haben, und vielleicht braucht sie ein wenig Zeit, um sich vorzubereiten. Beau behauptete, daß alle Alten ihr Denken nach genauen Kategorien ausrichten – so natürlich, wie wir 57
ein passendes Wort wählen, aber ich bin mir da nicht sicher, wie gut die Sprachabteilung von Vicksburg wirklich ist. Obwohl ich nicht weiß, wieso ich mir über so etwas Gedanken machen soll, wo ich doch nur Kaby vor mir habe, die solche Sachen heraussprudelt. »Aber gestorben bin ich davon nicht, Kinder. Ich hatte noch immer Hoffnung, den griechischen Schiffen zu schaden, vielleicht mit der Hitzewaffe der Schlangen. Also versuchte ich sie schnell zu umgehen. Meine beiden Kameraden krochen neben mir – es sind nur Männchen, aber sie haben Mut. Bald erspähten wir die Angreifer. Es waren Schlangen, viele an der Zahl, in der schmutzigen Verkleidung von Kretern.« Ein unwilliges Murmeln wurde bei diesen Worten laut, denn unser verbissener Veränderungskrieg hat auch seine Regeln, wie man von den Soldaten hört. Da ich Gesellschafterin war, brauchte ich meine Meinung nicht kundzutun. »Sie sahen uns im gleichen Moment«, fuhr Kaby eilig fort, »und ließen eine gefährliche Salve auf uns los. Hitze- und Messerstrahlen fielen in einem Sturm aus Wind und Feuer rings um uns ein, und der Lunaner verlor einen Fühler im Kampf um Kretas dreifache Göttin. Also duckten wir uns hinter einem Sandhügel und bewegten uns bei unserer Flucht auf das Wasser zu. Was wir dort sahen, war fürchterlich; Kretas kühne Schiffe waren untergegangen oder sanken noch, der blaue Himmel war vom Qualm ihres Todes befleckt. Wieder einmal hatten die Griechen uns hereingelegt – mit Hilfe der schmierigen Schlangen. Ihre schwarzen Schiffe huschten wie schwarze Käfer um unsere Wracks und nährten sich von ihrer Beute. Schmutz ist ihre Nahrung, und doch zehren sie in diesen Tagen von Helden. Am ruhigen, sonnenhellen Strand spürte ich einen Veränderungswind wehen, der 58
tief in meinem Inneren Veränderungen bewirkte, ein Ziehen und Schmerzen, die zu einem Fremden gehörten. Die Hälfte meiner Erinnerungen verdoppelte sich, meine halbe Lebenslinie krümmte sich, zog sich zusammen, drei neue Kerben an meiner Schwerthand. Göttin, Göttin, Dreifache Göttin …« Ihre Stimme zitterte, und Sid streckte eine Hand aus, doch sie richtete sich auf. »Dreifache Göttin, gib mir den Mut, alle Geschehnisse zu berichten. Wir liefen ins Wasser in der Hoffnung, tauchend zu entkommen. Kaum waren wir unter der Oberfläche, als die Hitzestrahlen über uns ihr Ziel fanden und die ganze kühle Wasserfläche in ein dröhnendes weißes Inferno verwandelten. Aber wie ich schon sagte, ich hatte mein Funkgerät aktiviert, und eine Tür öffnete sich jetzt für uns, tief unter den tödlichen Dampfwolken. Wir tauchten wir erschreckte Elritzen hinein und nahmen dabei eine Menge Wasser mit.« Vor Chicagos Goldküste hatte Dave mir einmal eine Tauchstunde gegeben, und als ich mich jetzt daran erinnerte, vermochte ich mir Kabys Tür in den dunklen Tiefen deutlich vorzustellen. »Einen Augenblick lang war alles nur Chaos. Dann knallte die Tür hinter uns zu. Wir waren im letzten Augenblick aufgenommen worden – von einem Expreß-Raum unserer Spinnen! Knietief standen wir im Wasser, und es war weitaus enger als hier in der Station. Die Besatzung bestand aus einem Zauberer, einem alten Knaben namens Benson-Carter. Er schaffte das Wasser schnell hinaus und gab über sein Rufgerät Bericht. Wir waren trocken und fühlten uns wieder wie Menschen, und Illy hier hatte seinen Tauchanzug abgelegt, als wir einen Blick auf den Versorger warfen. Der glühte bereits, veränderte sich, zerschmolz! Und als Benson59
Carter ihn berührte, taumelte er zurück – ihm steckte der Tod bereits in den Knochen. Dann begann sich die Leere zu verdunkeln, engte sich ein, schrumpfte zusammen, rückte überall näher heran, also rief ich mit meinem Rufgerät um Hilfe – ohne Zeit zu verschwenden, das kann ich euch sagen! Wir wissen nicht genau, was da langsam den schönen Expreß-Raum zerdrückte, aber wir befürchteten, die gemeinen Schlangen haben eine Möglichkeit gefunden, unsere Station aufzuspüren und sie außerhalb des Kosmos anzugreifen! Sie haben das Spinngewebe entdeckt, das uns im unangreifbaren grauen Nichts der Leere verbindet.« Diesmal kein Murmeln. Die Reaktion war echt; hier wurden wir an einem lebenswichtigen Nerv getroffen, und es war zu erkennen, daß die anderen ebenso verängstigt waren wie ich. Außer vielleicht Bruce und Lili, die noch immer Händchen hielten und vor sich hin strahlten. Ich kam zu dem Schluß, die beiden müßten wohl die Sorte Mensch sein, denen die Liebe Mut gibt – was mir nicht passieren kann. Ich hörte dann, daß Benson-Carter in der Tat so etwas gesagt habe, und daß er, Illy, leider nicht mehr darüber wisse. »Ich sehe, daß ihr unsere Gefühle versteht«, fuhr Kaby fort. »Der Vorgang versetzte uns einen gehörigen Schock. Wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir sogar den Versorger introvertiert, hätten alle Verbindungslinien unterbrochen, hätten ein Incommunicado gewagt. Aber der kleine alte Versorger war eine kochende weißrote Pfütze, voller Blasen, so groß wie Handbälle. Wir saßen starr da und sahen zu, wie die Leere näherrückte. Ich betätigte immer wieder mein Rufgerät.« Ich kniff die Augen zu, aber das erleichterte es mir, die drei zu sehen, wie die Leere auf sie eindrang. 60
(Benahm sich unsere noch anständig? Ja, Bibi Miriam.) Poesie oder nicht, das ging mir an die Nieren. »Auch Benson-Carter, der im Sterben lag, hielt die Schlangen für die Schuldigen. Und da er wußte, daß der Tod in ihm war, flüsterte er mir seine Mission zu und gab mir genaue Instruktionen: wie ich die sieben Totenköpfe drücken mußte, vom Schloß an im Gegenuhrzeigersinn – eins, drei, fünf, sechs, zwei, vier, sieben, dann hat man eine halbe Stunde Zeit; wenn man die sieben gedrückt hat, muß man die Knöpfe in Ruhe lassen, man muß schnell verschwinden und darf auf keinen Fall zögern.« Das verstand ich nun nicht mehr, und ich sah, daß es den anderen ebenso erging, obwohl Bruce mit Lili flüsterte. Ich erinnerte mich, daß ich Totenschädel auf der Bronzetruhe gesehen hatte. Ich sah Illy an, und er nickte mit einem Tentakel und breitete zwei weitere aus, wohl um mir zu bestätigen, daß Benson-Carter in der Tat so etwas gesagt habe, und daß er, Illy, leider nicht mehr darüber wisse. »All dies und anderes flüsterte er«, fuhr Kaby fort, »mit dem letzten Hinauskeuchen seiner Lebenskraft vertraute er mir all seine Geheimbefehle an – denn er war nicht unseretwegen ausgeschickt worden; als er meine SOS hörte, war er auf einer separaten Mission unterwegs. Sid, er sollte mit dir Kontakt aufnehmen, in der ersten Etappe seines Auftrages, er sollte von dir drei schwarze Husaren mitnehmen, Totenkopfdämonen, mutige Soldaten; anschließend sollte er warten, bis die Stationen das nächstemal im richtigen Rhythmus zum Kosmos standen – kaum zwei Mahlzeiten hätte das gedauert – und sich dann auf das nördliche Ägypten im Zeitalter des letzten Cäsar einstellen, im Jahre von Roms Niedergang, um dort bei einer Stadt, nach Thrakiens Alexander benannt, in eine Schlacht 61
einzugreifen und ihren Verlauf zu ändern, so daß die stinkenden Schlangen in den Himmel geblasen werden, alle ihre Agenten, alle ihre Zombies! Göttin, verzeih, jetzt begreife ich erst, wie du meinen kleinsten Schritt gelenkt hast, während ich noch dachte, du hättest mich im Stich gelassen – denn ich habe dein Drei-Narben-Signal übersehen. Wir haben Sids Station gefunden, das ist die erste Etappe, und ich sehe die drei schwarzen Husaren, und wir haben die Waffe und die parthischen Kostüme mitgebracht, die wir aus dem Expreß-Raum retteten, als eure Tür im letzten Augenblick erschien und der Raum ringsum enger wurde und uns hindurchspuckte, ehe er verschwand und die Leiche Benson-Carters mitnahm. Dreifache Göttin, nimm meine Milch schwärzesten Hasses! Rache werde den Schlangen, süße Rache in Nordägypten für deine Insel Kreta, Göttin! – und ein Sieg für die Spinnen. Göttin, Göttin – wir schaffen’s!« Das Brüllen, bei dessen Klang ich am liebsten die Schultern hochgezogen hätte, um meine Ohren zu verschließen, kam nicht von Kaby – sie hatte ihr Verslein aufgesagt –, sondern von Sid. Er war so rot im Gesicht, daß ich ihn gern daran erinnert hätte, wie leicht es ist, an hohem Blutdruck zu sterben, leicht wie der Tod in der Veränderungswelt. »Mir einen Einsatz anzuhängen! Bei den Geistern, ich dulde es nicht! Nächstens kommen Befehle noch aus Feldlazaretten! Kabysia Labrys, du bist verrückt, mir das vorzutragen! Und was soll das Gerede von Schlössern, Uhren und Totenköpfen, von Knöpfen und Schlangen? Das Gebrabbel, das Durcheinander, der Hokuspokus! Und wo ist diese Waffe, von der du prahlst? In dieser verruchten Bronzetruhe, nehme ich an.« Sie nickte, wobei sie ihn ausdruckslos und fast ein 62
wenig scheu ansah, als die poetische Wut von ihr wich. Ihre Antwort tönte wie ein nachhallendes Echo: »Es ist nur eine winzige taktische Atombombe.«
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Nachdem etwa 0,1 Millisekunde (ein Zehntausendstel einer Sekunde) vergangen ist, beträgt der Radius des Feuerballs etwa dreizehn Meter, und die Temperatur liegt in der Gegend von 300000 Grad Celsius. In diesem Augenblick ist die Helligkeit, aus einer Entfernung von 100 Kilometern beobachtet, rund hundertmal so groß wie die der Sonne, von der Erdoberfläche aus gesehen … der Feuerball dehnt sich sehr schnell auf seinen Maximalradius von 130 Metern aus – in weniger als einer Sekunde nach der Explosion. Los Alamos
7 Zeit zum Nachdenken Mann, das genügte, um alle außer Kaby und die beiden AIs zum Durcheinanderbrüllen zu bringen – ich eingeschlossen. Es mag seltsam erscheinen, daß erfahrene Veränderungsweltler, die durch Raum und Zeit sausen und sich außerhalb des Kosmos herumtreiben und zumindest vom Hörensagen über Waffen Bescheid wissen, die eine Milliarde Jahre später entstanden sind, wie etwa die Geisterbombe; daß solche Leute in Panik geraten, nur weil sie mit einem kleinen primitiven Dingelchen aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen eingeschlossen sind. Naja, denen ist eben genauso zumute wie Atomwissenschaftlern, denen plötzlich ein Bengaltiger ins Labor gebracht würde – nicht mehr und nicht weniger verängstigt. In Physik bin ich eine ziemliche Niete, aber ich weiß doch, daß der Feuerball größer ist als die Station. Vergessen Sie nicht, daß wir außer der Bombe vor kurzem eine Reihe anderer Ängste serviert bekommen 64
hatten, auf die wir uns noch nicht einstellen konnten, besonders die Sache mit den Schlangen, die es gelernt hatten, sich an unsere Stationen heranzumachen, die Versorger zerschmelzen zu lassen und die ganzen Gebilde zum Einsturz zu bringen. Ganz zu schweigen von dem allgemeinen Eindruck – zuerst St. Petersburg, dann Kreta –, daß sich der Veränderungskrieg zuungunsten der Spinnen entwickelte. Und doch war ich in einem freien Winkelchen meines Gehirns schockiert darüber, wie sehr wir alle in Panik gerieten. Das bestätigte mir etwas, was mir ganz und gar nicht gefiel: daß wir nämlich alle so ziemlich im selben Zustand waren wie Doc, nur daß unser Ausweg nicht die Flasche war. Und hatten wir auch unsere Trinkgewohnheiten letzthin so im Griff gehabt wie früher? Maud brüllte: »Werft sie über Bord!« und löste sich von ihrem Satyr und lief zur Bronzetruhe hinüber. Beau, der daran dachte, was die anderen im ExpreßRaum hatten tun wollen, als es bereits zu spät war, zischte: »Herrschaften, wir müssen introvertieren!«, sprang über die Klavierbank und hielt auf den Kontrolldiwan zu. Erich unterstützte ihn mit einem bleichen »Gott im Himmel, ja!«, neben der schmollenden, vergessenen Gräfin sitzend, die den schlanken Stiel eines leeren, rotgefleckten Weinglases hielt. Etwas protestierte in meinem Gehirn, denn eine Station zu introvertieren ist schlimmer als sich einzuigeln. Der Vorgang soll nicht nur die Tür fest schließen, sondern sie auch abdichten, so daß nicht einmal die Veränderungswinde hindurchkommen – so wird die Station ganz vom Kosmos gelöst. Ich habe noch mit keinem gesprochen, der aus einer introvertiert gewesenen Station kam. Markus stieß Phryne von seinem Schoß und lief hin65
ter Maud her. Das griechische Geistermädchen, inzwischen recht solide geworden, blickte sich in schläfriger Angst um und raffte ihr apfelgrünes Chitonkleid am Hals zusammen. Sie nahm meine Aufmerksamkeit für einen Augenblick völlig gefangen, und ich fragte mich unwillkürlich, ob die Person oder der Zombie drüben im Kosmos, aus deren Lebenslinie der Geist genommen worden war, nicht wenigstens seltsame Träume oder Gedanken hat, wenn so etwas passiert. Sid hielt Beau auf, obwohl er dabei fast von den Füßen gerissen wurde; er umfing den Spieler und zerrte ihn vom Versorger fort und bellte über seine Schulter: »Ich bitt’ euch, ihr Herren, seid ihr verrückt geworden? Habt ihr den Verstand verloren? Maud! Markus! Magdalene! Bei eurem Leben, laßt die Truhe los!« Maud hatte die Kleidungsstücke und Bögen und Köcher und sonstigen Dinge von der Kiste gefegt und zerrte sie nun von der Bar fort in Richtung Türsektor, wohl um sie hindurchzuwerfen, sobald eine Tür kam, während Markus so tat, als versuchte er ihr zu helfen und ihr die Kiste zugleich gewaltsam abzunehmen. Sie machten weiter, als hätten sie kein Wort von dem gehört, was Sid gesagt hatte, und Markus brüllte: »Laß los, meretrix! Hier liegt Roms Antwort auf Parthien!« Kaby beobachtete sie, als wollte sie Markus helfen, schämte sich aber, sich mit einem bloßen – naja, Markus hatte es wohl auf Lateinisch ausgesprochen – Callgirl herumzubalgen. Dann sah ich plötzlich oben auf der Bronzetruhe die sieben fiesen Schädel, die vom Verschluß ausgingen, sah sie plötzlich so deutlich, als lägen sie unter einem Vergrößerungsglas, obwohl sie auf diese Entfernung eigentlich nur einen vagen Kreis bilden konnten, und ich verlor die Beherrschung und wollte in die entgegengesetzte Richtung fortlaufen, aber Illy schlenkerte 66
sanft drei Tentakel um mich und quiekte: »Ruhig, Greta-Mädchen, fang du nicht auch noch an. Halt still, oder Papa vertrimmt dich. Meine Güte, ihr Zweibeiner könnt aber einen hübschen Wirbel machen, wenn euch danach ist.« Bei meiner Stampede hatte ich seinen federleichten Körper einige Meter mitgerissen, aber ich wurde doch aufgehalten und kam so halb wieder zu mir. »Laßt los!« wiederholte Sid, ohne damit etwas zu erreichen, und er ließ Beau frei, obwohl er eine Hand in der Nähe der Schulter des Spielers schweben ließ. Dann blickte mein dicker Freund aus Lynn Regis ehrlich bekümmert in die Leere und sagte heftig: »Beim Tode – glaubt ihr, ich würde gegen meine Herren meutern, die Spinnen im Stich lassen und mich wie ein erschöpfter Fuchs ins Loch verkriechen und es hinter mir versiegeln? Plage auf solche Feigheit! Wer schlägt das vor? Introversion ist keine letzte Notmaßnahme. Wenn sie nicht angeordnet, überwacht und sanktioniert ist, bedeutet sie das Ende. Und was wäre, wenn ich introvertiert hätte, ehe wir Kabys Notruf erhalten hätten, he?« Seine kriegerische Maid nickte zustimmend, und er bemerkte das und schüttelte seine freie Hand in ihre Richtung und tadelte sie: »Nicht daß ich deinen verrückten Plan um diesen Teufelssarg gutheiße, du halbbekleidete Torin. Und doch, das Ding über Bord werfen … Oh, ihr Götter, ihr Götter …« er wischte sich mit der Hand über das Gesicht – »gewährt mir eine Minute des Nachdenkens!« Dabei stand Denkzeit im Augenblick nicht mal auf der Liste der strikt rationierten Dinge, obwohl Siebensee, von Maud verlassen, düster auf seinen Schenkeln hockte und trocken einwarf: »Ja, gib’s ihn’, Kumpel!« 67
Da stand Doc an der Bar auf, richtete sich auf wie Abe Lincoln mit seinem Zylinder und Schal und alten Stiefeln und reckte ruhegebietend den Arm und sagte etwas, das sich wie: »Introversch, Inversch, Handsch« anhörte, und dann plötzlich wurde seine Aussprache überdeutlich: »Ich weiß mit absoluter Gewißheit, was wir tun müssen.« Es ist bezeichnend für unsere Schreckhaftigkeit, daß es in der Station kirchenstill wurde, daß wir innehielten und atemlos darauf warteten, daß ein armer Betrunkener uns sagte, wie wir uns retten konnten. Er sagte etwas wie: »Inversch … Kasch …« und schlug uns noch einen Augenblick in seinen Bann. Dann erlosch das Licht in seinen Augen, und er sabberte ein »Nitschewo« und ließ einen Arm an der Bar entlanggleiten, um nach einer Flasche zu greifen, und begann sich ihren Inhalt in den Hals zu gießen, ohne mit dem Gleiten aufzuhören. Ehe sein Sturz beendet war, in dem Sekundenbruchteil, da unsere Aufmerksamkeit noch auf der Bar ruhte, sprang Bruce so schnell, daß es fast den Anschein hatte, er sei aus dem Nichts heraufgesprungen, auf den Tresen, obwohl ich gesehen hatte, wie er sich hinter dem Klavier hervorbewegte. »Ich habe mal eine Frage. Hat hier jemand die Bombe ausgelöst?« fragte er mit sehr klarer und gerade ausreichend lauter Stimme. »Also kann sie nicht losgehen«, fuhr er nach einer eben richtig bemessenen Pause fort, wobei mich sein entspanntes Lächeln und sein nüchternes Gebahren von Sekunde zu Sekunde mehr aufmunterten. »Und weiter, selbst wenn sie ausgelöst wurde, hätten wir noch ein halbe Stunde Zeit. Sie haben doch wohl gesagt, daß sie eine so lange Zündungszeit hat?« Er ließ einen Finger in Kabys Richtung zucken. Sie nickte. 68
»Gut denn«, sagte er. »So lang muß sie auch sein, damit derjenige, der die Bombe im parthischen Lager unterbringt, entkommen kann. Damit hätten wir also einen weiteren Sicherheitsfaktor. Zweite Frage. Haben wir einen Schlosser im Haus?« Trotz seiner Gelöstheit beobachtete uns Bruce wie ein goldener Adler, und er fing Beaus und Mauds Zustimmung auf, ehe sie Gelegenheit hatten, ihre Reaktion zu erklären oder zu verschleiern, und er sagte: »Sehr gut. Unter gewissen Bedingungen wären Sie beide jetzt dran, die Truhe in Angriff zu nehmen. Aber ehe wir das bedenken, hier Frage drei: Ist jemand von Ihnen ein Atomtechniker?« Da war nun ein bißchen Palaver erforderlich, um eine klare Antwort zu bekommen, Illy mußte nämlich erläutern, daß die frühen Lunaner zwar die Atomkraft gekannt hatten – hatten sie nicht ihren Planeten damit verwüstet und all die Krater gemacht? –, daß er aber nicht eigentlich Techniker wäre, sondern ein »Dinger« (ich glaubte zuerst, sein Sprechkasten hätte die Konsonanten verwechselt); was denn ein Dinger sei? – Nun, ein Dinger sei jemand, der Dinge auf eine Weise manipuliere, die wirklich unmöglich zu beschreiben sei; aber nein, Atomkräfte könne man unmöglich dingen; die Vorstellung sei ganz lächerlich, er könne also kein Atomdinger sein; der Begriff sei mehr als ein Widerspruch, also wirklich! – Während Siebensee, seinen lunanischen Zweitausend-Jahrtausende-Vorteil ausnutzend, grunzte, seine Kultur benutzte gar keine Energie, sondern bewege nur Satyre und dergleichen, indem die Raumzeit herumgeschoben werde, »oder wir denkn’se ’rum, wenn wir wolln. In die Leere könn’ wir sie nicht denkn, nee. Dazu müssen wer … ich weiß nich’ was haben. Habn tun wer’s jedenfalls nich’.« »Also haben wir hier keinen A-Techniker«, faßte 69
Bruce zusammen, »womit es mehr als sinnlos und sogar gefährlich wäre, an der Truhe herumzuspielen. Wir wüßten nicht, was wir anfangen müßten, um ohne Katastrophe hineinzukommen. Noch eine Frage.« Er stellte sie Sid. »Wie lange noch, bis wir etwas über Bord werfen können?« Sid, der ein wenig eifersüchtig, aber zugleich auch sehr dankbar wirkte, daß Bruce seine Küken beruhigt hatte, wollte etwas erklären, aber Bruce gedachte anscheinend nicht das Risiko einzugehen, sein Publikum zu verlieren, und kaum war Sid bis zum Wort »Rhythmus« vorgedrungen, als er ihm die Antwort auch schon wieder fortnahm. »Kurz gesagt, erst wenn wir uns wieder effektiv auf den Kosmos einstimmen können. Ich danke Ihnen, Master Lessingham. Das wären mindestens fünf Stunden – zwei Mahlzeiten, wie es die kretische Offizierin ausgedrückt hat,« und er gönnte Kaby ein kurzes, soldatenhaftes Lächeln. »Also, ob die Bombe nun nach Ägypten oder sonstwohin kommt – in den nächsten fünf Stunden können wir nichts unternehmen. Na gut!« Sein Lächeln erlosch wie eine Lampe, und er machte einige Schritte auf der Bar hin und her, als messe er den Platz aus, der ihm zur Verfügung stand. Zwei oder drei Cocktailgläser wirbelten zu Boden und zerplatzten laut, aber er schien es nicht wahrzunehmen, und auch uns fiel kaum etwas auf. Es war unheimlich, wie er immer wieder von einem zum anderen starrte und dabei keinen ausließ. Wir mußten zu ihm aufschauen. Hinter seinem Gesicht, das von dem glatten goldenen Haar umspielt war, befand sich nur die Leere. »Also gut«, wiederholte er plötzlich. »Wir sind zwölf Spinnen und zwei Geister, und wir haben Zeit für ein bißchen Gerede, und wir sitzen alle im selben verdammten Boot, kämpfen denselben verdammten 70
Krieg – also wissen wir auch alle, wovon wir hier sprechen. Ich hatte das Thema schon vorhin mal angeschnitten, aber da regte ich mich über einen Handschuh auf, und es war alles ein großer Witz. Gut! Aber jetzt sind die Handschuhe ausgezogen!« Bruce zerrte sie aus seinem Gürtel, wo sie gesteckt hatten, und knallte sie auf die Bar, von wo sie bei seinem nächsten Hin- und Hermarschieren fortgetreten wurden, und das war kein Witz mehr. »Denn«, fuhr er eilig fort, »ich habe mir ein völlig neues Bild davon gemacht, was dieser Spinnenkrieg uns allen angetan hat. Oh, es ist ein hübscher Sport, im Raum und in der Zeit herumzusausen und dann, wenn der Einsatz vorbei ist, außerhalb der beiden Bereiche eine wilde kleine Party zu feiern. Es ist angenehm zu wissen, daß keine Spalte der Realität zu eng, keine Intimität zu groß oder zu heilig, keine Wand zu stark ist, als daß wir uns nicht noch hineinzwängen könnten. Wissen ist etwas Herrliches, süßer als die Lust oder die Gefräßigkeit oder die Leidenschaft des Kampfes und – alle drei beinhaltend – der letzte unstillbare Hunger, und es ist großartig, ein Faust zu sein, auch wenn man sich in einer Horde anderer Fausts bewegt. Es ist angenehm, mit der Realität herumzumanipulieren, das Leben eines Mannes oder einer Kultur zu verdrehen, seine oder ihre Vergangenheit auszulöschen und eine neue hinzukritzeln, der einzige zu sein, der Bescheid weiß, sich an den Veränderungen zu weiden – hah! Männer zu töten oder Frauen zu entführen ist nichts gegen dieses umfassende Machtgefühl. Es ist angenehm, die Veränderungswinde durch sich hindurchwehen zu spüren und die Vergangenheiten zu kennen, die es gegeben hat und die es gibt, und auch die Vergangenheiten, die es vielleicht noch geben wird. 71
Es ist angenehm, die Atropos zu schwingen, einen Zombie oder Ungeborenen aus seiner Lebenslinie zu nehmen und dem Doppelgänger ins Gesicht zu schauen, den Wiedererstehungsschimmer darin zu sehen und einen Bruder anzuwerben, einen neugeborenen MitDämonen in unseren Reihen willkommen zu heißen und zu entscheiden, ob er als Soldat oder als Unterhalter oder sonstwie am besten zu verwenden ist. Oder wenn er die Wiedererweckung nicht mag, versengt er oder erfriert er darin, und man muß entscheiden, ob er in seine Lebenslinie und seine Zombieträume zurückkehren soll, die dann allerdings noch grauer oder schrecklicher sein werden als zuvor, oder ob, wenn sie jenes unwiderstehliche Etwas hat, ihre Hülle mitgeführt werden soll als Geistermädchen – auch das ist angenehm. Es ist sogar angenehm, den Veränderungstod im Nacken zu spüren, zu wissen, daß die Vergangenheit nicht jenes kostbare unverrückbare Etwas ist, als das man dargestellt bekommen hat, zu wissen, daß es auch über die Zukunft keine Gewißheit gibt, ob es etwa überhaupt eine Zukunft geben wird, zu wissen, daß kein Teil der Wirklichkeit unantastbar ist, daß der Kosmos selbst jeden Augenblick verlöschen kann, wie von einem Schalter ausgeknipst, und daß Gott dann nicht existiert und nur ein Nichts zurückbleibt.« Er schwenkte die Arme in Richtung Leere. »Und wenn man all dies weiß, ist es doppelt angenehm, durch die Tür in die Station zu kommen und den schlimmsten Einflüssen der Veränderungswinde entkommen zu sein und wohlverdiente Erholung zu genießen und die Erinnerung an all diese Annehmlichkeiten, von denen ich eben gesprochen habe, mit anderen zu teilen und sich über all die faszinierenden Gefühle klar zu werden, die man drüben im Kosmos aufgestaut hat, eine schwarze Schicht nach der anderen, in Gesell72
schaft und mit Hilfe der besten verdammten kleinen Bande von Mit-Fausts und Faustinnen, die es überhaupt geben kann! Oh, es ist ein angenehmes Leben, jawohl, aber ich frage euch …« und wieder richteten sich seine Augen auf jeden von uns, schnell, herumruckend – »frage ich euch, was uns das getan hat. Ich habe ein völlig neues Bild davon gewonnen, das sagte ich schon, wie mein Leben war und wie es hätte sein können, wenn es darin Veränderungen von der Art gegeben hätte, die sogar wir Dämonen nicht bewirken können, und wie mein Leben tatsächlich aussieht. Ich habe verfolgt, wie wir alle vorhin reagiert haben auf die Neuigkeit über St. Petersburg und auf das, was der kretische Offizier uns mit schönen Worten sagte – nur war das, was sie zu sagen hatte, nicht so schön – und vor allen Dingen auf die verdammte Bombenkiste da. Und ich frage nun jeden von euch – was ist mit euch geschehen?« Er stoppte sein Hin und Her und hakte die Daumen in den Gürtel und schien auf die Rädchen zu lauschen, die in mindestens elf Köpfen kreisten – nur daß ich die meinen recht schnell stoppte, als Dave und Vater und die Vergewaltigung von Chicago aus der Dunkelheit aufstiegen, dichtauf gefolgt von Mutter und den Dünen in Indiana und Jazz Limited und von dem unvorstellbaren Etwas, das der Spinnenarzt entstehen ließ, als ich als Krankenschwester versagte; weil ich es nicht mag, wenn mir das von jemand anders als mir selbst angetan wird. Ich stoppte die Rädchen mit dem alten unfehlbaren Trick aller Gesellschafterinnen – mit einem schnellen Rundblick auf das Interessanteste, was es überhaupt gibt – die Sorgen anderer Leute. Auf den ersten Blick wirkte Beau als hätte er die größten Sorgen, war er doch von seinem Boß und auch 73
von seinem Mädchen beschämt worden, die ihr Herz einem Soldaten geschenkt hatte; er kämpfte stumm und für sich damit. Um die beiden AIs kümmerte ich mich nicht – sie sind zu schwer zu durchschauen – und auch nicht um Doc; niemand kann sagen, ob ein gefallener Säufer am dunklen oder hellen Ende seines Zyklus’ ist; man weiß nur, daß er zykelt. Maud mußte eigentlich ebenso leiden wie Beau, hatte man sie doch beschimpft und bei einer Panik erwischt, was ihr immer weh tut, weil sie über dreihundert Jahre mehr Zukunft hat als wir anderen und sich einbildet, sie müßte auch entsprechend klüger sein – was sie nicht immer ist – ganz zu schweigen davon, daß sie über fünfzig Jahre alt ist, obwohl die kosmetische Wissenschaft ihres Heimat-Jahrhunderts sie die meiste Zeit wie einen Teenager aussehen und handeln läßt. Sie war von der Bronzetruhe zurückgewichen, um nicht weiter aufzufallen, und jetzt trat Lili hinter dem Klavier hervor und stellte sich neben sie. Lili hatte ganz andere Sorgen, ein gewaltiges Gefühl für Bruce, stolz wie eine versprochene Prinzessin, die ihren Bräutigam beobachtete. Erich runzelte die Stirn, als er sie sah, denn auch er schien stolz zu sein, stolz auf die Art und Weise, wie sein Kamerad auf Führerart das Kommando über uns panische Häschen an sich gebracht hatte. Sid sah noch weitgehend dankbar aus und schien geneigt, Bruce weitersprechen zu lassen. Sogar Kaby und Markus, die beiden kampfwütigen Drachen, die schräg vor uns an der Bronzetruhe standen, als wären sie ihre Wächter, schienen zuhören zu wollen. Sie brachten mir einen Grund zu Bewußtsein, warum Sid Bruce weiterreden ließ, obwohl an dem Weg, auf den er uns mit seiner Rede führte, allerlei Gefahrensignale aufblitzten: Wenn er fertig war, gab es 74
da immer noch das Problem, was wir mit der Bombe tun sollten, und eine echte Opposition, die sich zwischen Soldaten und Gesellschaftern bildete, wobei Sid hoffte, daß sich inzwischen eine Lösung ergab oder er den bösen Moment wenigstens noch aufschieben konnte. Aber hinter all dem konnte ich an der Art und Weise erkennen, wie Sid seine brauenbeladenen Augen zusammenkniff und seine bebärteten Lippen kaute, daß er – wie wir übrigen – von Bruces Worten doch beeindruckt war. Dieser Neue hatte einen Griff in unsere Herzen getan und unsere Freude an der Sache so schön aufgezählt, besser als die meisten das vermocht hätten, und dann hatte er alles umgekehrt, so daß wir daran denken mußten, was für Fieslinge und Schurken und schwarze Seelen und verlorene Schafe wir doch waren – nun, wir wollten jedenfalls weiter zuhören.
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Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln. Archimedes
8 Ein fester Punkt Bruces Stimme klang wie von weit her, und er schaute nach links ins Leere, als er nun sagte: »Habt ihr euch je wirklich gefragt, warum die beiden Parteien dieses Krieges die Schlangen und die Spinnen genannt werden? Schlangen, das mag noch hingehen – man belegt den Feind ja gern mit beleidigenden Namen. Aber Spinnen – der Name für uns? Nimm mir nicht übel, Ilhilihis; ich weiß, daß kein Wesen von der Natur bewußt schmutzig oder bösartig erschaffen wird, aber hier geht es um menschliche Gefühle und Volksgewohnheiten. Ja, Markus, ich weiß, daß einige von euren Legionen Spitznamen wie Betrunkene Löwen und Schnecken haben, was etwa so beleidigend ist wie die Bezeichnung Alte Gemeine für das Britische Expeditionskorps. Nein, man muß sich schon in Banden wilder Jugendlicher in zum Untergang bestimmten Städten begeben, um eine Namensgebung wie die unsere zu finden, und selbst dort würde man das Negative noch etwas abmildern wollen. Aber einfach – Spinnen. Und Schlangen, denn das ist ja der Name, den sie sich selbst auch geben. Spinnen und Schlangen. Was sind unsere Herren, daß wir ihnen solche Namen geben?« Diese Frage ließ mir einen Schauder den Rücken hinablaufen und schickte meine Gedanken in ein Dutzend Richtungen, und ich konnte sie nicht im Zaum halten, obwohl das Zittern immer schlimmer wurde. 76
Also, Illy neben mir – ich hatte nie darüber nachgedacht, aber er hatte ja immerhin so etwas wie acht Beine, und ich erinnerte mich, daß ich ihn in Gedanken mit einem Spinnenaffen verglichen hatte, und hatten die Lunaner nicht längst das Wissen und die Atomkraft und eine Milliarde lang Zeit gehabt, den Veränderungskrieg in Gang zu bringen? Oder einmal angenommen, in der fernen Zukunft entwickelten Terras Spinnen Intelligenz und eine grausame kannibalistische Kultur. Sie wären in der Lage, ihre Existenz geheimzuhalten. Ich hatte keine Vorstellung, wer oder was sich zu Siebensees Zeiten auf der Erde herumtrieb, aber entspräche es nicht genau einer schwarzen, haarigen, vergifteten Spinnenmentalität, durch die Gedankenwelt und alle Sphären von Zeit und Raum verborgene Netze zu spinnen? Und Beau – hatte er nicht wirklich etwas Schlangenhaftes an sich, wie er immer herumschlich und so? Spinnen und Schlangen, wie Erich sie genannt hatte. S & S. Aber SS stand für die Schutzstaffel der Nazis, die Schwarzhemden, und wenn nun einige dieser grausamen, verrückten Jerries die Zeitreise entdeckt hätten und nun – ich gab mir einen Ruck und fragte mich: »Greta, wie durchgedreht kannst du noch werden?« Vom Fußboden vor der Bar aus, wobei die Bar sein Schallbrett war, kreischte Doc zu Bruce empor, als sei er ein Verdammter in der Grube: »Sag nichts gegen die Spinnen! Äußere keine Blasphemien! Sie können die Ungeborenen flüstern hören. Andere peitschen nur die Haut, aber sie peitschen das nackte Gehirn und Herz«, und Erich rief: »Das reicht jetzt, Bruce!« Aber Bruce gönnte ihm keinen Blick und sagte: »Aber was immer die Spinnen sind, und wie sehr sie sich auch bemühen, es ist klar wie das Anzeigelicht am 77
Versorger, daß der Veränderungskrieg sich nicht nur gegen sie wendet, sondern sich auch von ihnen entfernt. Verweilen wir einen Augenblick bei der derzeitigen Folge blödsinniger Trödeleien und verzweifelter Anachronismen, wo wir doch alle wissen, daß gerade Anachronismen die Veränderungswinde außer Kontrolle geraten lassen. Dieses unsinnige Herumhämmern auf dem kretisch-dorischen Krieg, als sei das der einzige in Gang befindliche Kampf und die einzige Möglichkeit, etwas zu schaffen. Konstantin mit einer Rakete von Britannien zum Bosporus zu holen, eine kleines UBoot in die Vergangenheit zu schicken, um mit der Armada gegen Drakes Holzschiffe zu segeln – ich möchte wetten, das wußtet ihr noch nicht. Und jetzt eine Atombombe, um Rom zu retten! Bei den Göttern, sie hätten Wunderkerzen oder sogar Dynamit verwenden können, aber eine Kernverschmelzung … Versucht euch mal vorzustellen, welche Lücken und Narben dadurch in die Überreste der Geschichte gerissen werden – der Untergang Griechenlands und das Verschwinden der Provence und die Troubadoure und die irische Papstfrage werden dann nicht mehr vorhanden sein!« Der Schnitt an seiner Wange hatte sich wieder geöffnet und blutete ein wenig, doch er kümmerte sich nicht darum, ebensowenig wie wir, als sich seine Lippen nun ironisch zusammenpreßten und er sagte: »Aber ich vergesse, daß dies ein kosmischer Krieg ist und daß die Spinnen Einsätze auf Milliarden und Billiarden von Planeten und bewohnten Gaswolken in Millionen von Zeitaltern lenken und daß wir nur eine kleine Welt von vielen sind – ein kleines Sonnensystem, Siebensee – und daß wir kaum erwarten können, daß unsere Herren bei all ihren dringenden Geschäften und ihrer weitreichenden Verantwortung im Umgang mit 78
unseren Lieblingsbüchern und -jahrhunderten, mit unseren bevorzugten Propheten und Perioden besonders zart sind oder sich ungebührlich um die Erhaltung solcher Kleinigkeiten bekümmern, die wir nun einmal zufällig hochschätzen. Vielleicht gibt es einige Sentimentale, die eher für immer sterben würden, als in einer Welt zu leben ohne die Summa, die Feldgleichungen, Process and Reality, Hamlet, Matthew, Keats und die Odyssee, aber unsere Herren sind praktische Wesen und sorgen für die Bedürfnisse jener widerstandsfähigen Seelen, wie die weiterleben möchten, komme, was da wolle.« Erichs ›Bruce, ich sage dir, das reicht jetzt‹ ging im schneller werdenden Wortschwall des Neuen unter. »Ich werde nicht viel Zeit an die Nebenerscheinungen unserer großen Katastrophe verschwenden – das Streichen des Urlaubs, die schärferen Rationierungen, der Verlust des Express-Raums, die Verwendung der Erholungsstationen für Einsätze und all das andere verzweifelte Flickwerk – beim vorletzten Unternehmen hing man uns drei Soldaten von außerhalb der Galaxis an, die uns kein bißchen nützten – was nicht ihr Fehler war. Solche Kleinigkeiten können in schlimmen Momenten jedes Krieges vorkommen und sind vielleicht nur örtlich bedingt. Aber wir haben auch etwas Großes.« Wieder hielt er inne, wohl um unsere Neugier zu steigern. Maud mußte sich in meine Nähe geschlichen haben, denn ich spürte ihre trockene kleine Hand auf meinem Arm, und sie flüsterte aus dem Mundwinkel: »Was machen wir jetzt?« »Wir hören zu«, gab ich auf gleichem Wege zurück. Ihr Bedürfnis, etwas tun zu müssen, machte mich ungeduldig. Sie hob eine goldbestäubte Augenbraue in meine Richtung und murmelte: »Du auch?« 79
Ich kam nicht dazu, sie zu fragen, was ich denn auch sei. In Bruce verliebt? Verrückt? – weil in diesem Augenblick Bruce wieder aus der Ferne herüberklang. »Habt ihr euch je gefragt, wie viele Einsätze das Gefüge der Geschichte noch aushalten kann, bis alles in Fetzen hängt, ob zuviel Veränderung eines Tages nicht die Vergangenheit überlastet? Und auch die Gegenwart und die Zukunft, die ganze verdammte Sache. Ist das Gesetz der Bewahrung der Realität mehr als nur eine magere Hoffnung mit langem Namen, ein Gebet von Theoretikern? Der Veränderungstod ist so real wie der Hitzetod und weitaus schneller. Nach jedem Einsatz ist die Wirklichkeit ein wenig körniger, ein wenig häßlicher, ein wenig mehr improvisiert, und gehörig ärmer an jenen Details und Gefühlen, die unser Erbe sind, wie eine grobe Bleistiftskizze auf der Leinwand, wenn man die Farbe abgekratzt hat. Wenn alles soweit geht, wird der Kosmos da nicht zu einem Schatten seiner selbst und schließlich ins Nichts zusammensinken? Wieviel Auszehrung kann die Wirklichkeit vertragen, wo immer mehr Doppelgänger aus ihr herausgetrennt werden? Und da ist noch eine Nebenwirkung der Einsätze – jede Mission weckt die Zombies ein wenig mehr auf, und wenn ihre Veränderungswinde ersterben, lassen sie sie ein wenig verstörter und alptraumbelasteter und zermürbter zurück. Jene von euch, die in sehr beharkten Zeitgegenden im Einsatz gewesen sind, wissen bestimmt, was ich meine – dieser Blick, den sie uns aus den Augenwinkeln zuwerfen, als wollten sie sagen: ›Ihr schon wieder? Um Himmels willen, verschwindet. Wir sind die Toten. Wir sind diejenigen, die nicht wieder aufwachen wollen, die keine Dämonen sein wollen und schon gar keine Geister. Quält uns nicht länger.« 80
Ich drehte mich um und blickte zu den Geistermädchen hinüber; ich konnte nicht anders. Sie hatten irgendwie auf dem Kontrolldiwan zueinander gefunden, sahen uns an, mit dem Rücken zu den Versorgungsgeräten. Die Gräfin hatte die Weinflasche mitgenommen, die Erich ihr vorhin besorgt hatte, und sie reichten sie hin und her. Die Gräfin hatte einen großen rosa Fleck auf den gekräuselten weißen Spitzen ihrer Bluse. Bruce sagte: »Es kommt der Tag, das alle Zombies und alle Ungeborenen erwachen und gemeinsam durchdrehen und – übertragen gesprochen – in endloser Horde auf uns zumarschieren und sagen: ›Wir haben jetzt genug!‹« Aber ich wandte mich nicht sofort wieder Bruce zu. Phrynes Chiton war von einer Schulter geglitten, und sie und die Gräfin saßen vornübergebeugt da, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Beine gespreizt – jedenfalls soweit der enge Rock der Gräfin das zuließ – und schwankten ein wenig zueinander. Sie waren noch überraschend fest, obwohl sich seit einer halben Stunde niemand direkt mehr um sie gekümmert hatte, und sie blickten mit halbgeschlossenen Augen über meinen Kopf in die Höhe und schienen tatsächlich Bruces Worten zu lauschen und vielleicht auch einiges zu verstehen. »Wir ziehen eine scharfe Trennungslinie zwischen Zombies und Ungeborenen, zwischen Wesen, die durch unsere Einsätze aufgestört wurden und deren Lebenslinien in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen. Aber gibt es da noch einen Unterschied? Können wir wirklich den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft festlegen? Können wir noch das Jetzt, das wirkliche Jetzt des Kosmos eindeutig bestimmen? Die Stationen haben ihre eigene Gegen81
wart, das Jetzt der Großen Zeit, die wir mitmachen, aber das ist etwas anderes und dient nicht dem wirklichen Leben. Die Spinnen reden uns ein, das wirkliche Jetzt liege irgendwo in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, was bedeuten müßte, daß einige von uns hier jetzt auch im Kosmos leben und Lebenslinien haben, an denen sich das Jetzt gerade entlangbewegt. Aber schluckt ihr diese Geschichte wirklich einfach so, Ilhilihis, Siebensee? Wie mutet das die Diener der Dreifachen Göttin an? Die Spinnen des oktavianischen Roms? Die Dämonen der guten Königin Bess? Die Zombie-Gentlemen des großen Südens? Bemannen die Ungeborenen die Sternschiffe, Maud? Die Spinnen reden uns auch ein, daß der Qualm des Kampfes es zwar schwierig mache, das Jetzt festzulegen, daß es aber mit der bedingungslosen Kapitulation der Schlangen zurückkehren und mit dem Beginn des kosmischen Friedens wieder erscheinen werde und sich dann majestätisch wie eh und jeh auf die Zukunft zubewegen und dabei das Kontinuum beleben werde. Glaubt ihr das wirklich? Oder glaubt ihr, wie ich es tue, daß wir die Zukunft längst aufgebraucht haben, ebenso wie die Vergangenheit; daß wir es zugelassen haben, daß das wirkliche Jetzt ausgelöscht, uns auf ewig gestohlen wurde – jenes kostbare Jetzt echten Wachstums, der Kindheitsaugenblick, in dem alles Leben vereint ist, der Augenblick wie ein neugeborenes Kind, der einzige Quell der Hoffnung überhaupt?« Er ließ das einen Augenblick auf uns hinwirken, machte dann einige schnelle Schritte und übertönte Erichs »Bruce, zum letztenmal …«, und eine Art Hoffnung aus seinen letzten Worten schöpfend, fuhr er fort: »Aber obwohl die Lage erschreckend düster aussieht, 82
bleibt doch eine Chance – eine winzige Chance, aber gleichwohl eine Chance –, daß wir den Kosmos vor dem Veränderungstod bewahren und die Fülle der Wirklichkeit zurückbringen und den Geistern einen guten Schlaf gönnen und vielleicht auch das wirkliche Jetzt wiedergewinnen. Wir haben die Mittel zur Hand. Was wäre, wenn die Macht der Zeitreise einmal nicht für Krieg und Vernichtung, sondern zur Heilung verwendet werden würde, zur gegenseitigen Anreicherung der Zeitalter, zu ruhiger Kommunikation für neues Wachstum, kurz, um eine Friedensbotschaft zu überbringen …« Aber mein kleiner Kommandant ist auch ein ziemlich guter Schauspieler und kennt sich aus, wenn es darum geht, jemandem die Schau zu stehlen, und er gedachte sich nicht von Bruce übertönen zu lassen, als sei er nur ein kleiner unwichtiger Statist in der Menge. Er huschte an uns vorbei, zwischen uns und der Bar, sprang aus dem Laufen heraus los und landete auf der verdammten Bombenkiste. Ein wenig später zeigte mir Maud wortlos den weißen Ring über ihrem Ellenbogen, wo ich sie gepackt hatte, und Illy zerrte drei seiner Tentakeln aus meiner anderen Hand und quietschte tadelnd: »Greta-Mädchen, tu das nicht noch einmal.« Erich stand auf der Truhe, und ich bemerkte, daß seine Stiefel das Rund der Totenschädel mieden, und ich hätte auch gleich wissen müssen, daß man sie kaum in der richtigen Reihenfolge drücken konnte, in dem man einfach draufsprang, und er deutete auf Bruce und sagte: »… und das bedeutete Meuterei, junger Herr. Um Gottes willen, Bruce, hör her und tritt ab, ehe du noch Schlimmeres sagst. Ich bin älter als du, Bruce. Markus ist älter. Vertrau auf deine Kameraden. Laß dich von ihrem Wissen lenken.« 83
Er hatte jetzt meine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber er war mir doch lieber, wenn er mir ein Veilchen verpaßte. »Du älter als ich?« Bruce grinste. »Als euer zwölfjähriger Vorsprung damit vertan wurde, das Wissen einer Rasse paranoid gewordener sadistischer Träumer aufzusaugen – in einer Welt, deren Gedankenstrom schon durch einen totalen Krieg durcheinandergebracht worden war! Markus älter als ich? Wo alle seine Ideen und Treuegefühle denen eines Wolfsrudels phantasieloser Faulpelze entsprechen, zweitausend Jahre jünger als ich? Jeder von euch älter, weil ihr beide mehr von jenem Tötungszynismus in euch habt, der alle Weisheit darstellt, die euch der Veränderungskrieg je vermittelt? Bringt mich nicht zum Lachen! Ich bin Engländer und komme aus einer Epoche, in der der totale Krieg noch eine Entweihung war und die Blüten und Knospen des Denkens noch nicht abgeschlagen oder infiziert wurden. Ich bin ein Dichter, und Dichter sind klüger als andere, weil sie die einzigen sind, die den Mut haben, zur gleichen Zeit zu denken und zu fühlen. Stimmt’s Sid? Wenn ich zu euch von einer Friedensbotschaft spreche, bedenkt dies bitte konkret in der Richtung, daß die Stationen dazu benutzt werden, Hilfe über die Berge der Zeit zu schaffen, wenn Hilfe wirklich nötig ist – dabei geht es nicht um Hilfe, die nicht verdient ist, oder um ein Wissen, das verfrüht oder vergiftend ist, manchmal darf man auch nichts bringen, sondern muß nur mit unendlicher Zärtlichkeit und Sorge überprüfen, daß alles sicher läuft und die Schönheiten des Universums sich entfalten, wie es hat sein sollen …« »Ja, du bist ein Dichter, Bruce«, schaltete sich Erich ein. »Du kannst rührend auf der Flöte spielen und uns Tränen vergießen lassen. Du kannst die großen Orgel84
pfeifen erschallen lassen, so daß wir zittern, als hörten wir Jehovas Schritt. In den letzten zwanzig Minuten hast du uns wirklich charmante Poesie vorgetragen. Aber was bist du? Gesellschafter? Oder bist du Soldat?« In diesem Augenblick – ich weiß nicht, was es war, vielleicht daß Sid sich räusperte – spürte ich, daß sich unsere Gefühle gegen Bruce zu wenden begannen. Ich hatte ein ganz komisches Gefühl der Realität, als ergriffe plötzlich die Wirklichkeit von uns Besitz, als verdunkelten sich helle Farben, als würden Träume zunichte. Und doch merkte ich erst dadurch, wie sehr Bruce uns berührt und vielleicht einige von uns sogar an den Rand der Meuterei getrieben hatte. Ich war böse auf Erich wegen seines Eingreifens, andererseits mußte ich seine Frechheit bewundern. Ich stand noch unter dem Eindruck von Bruces Worten und dem Mehr, das dahinter zu ahnen war, aber schon bewegte sich Erich ein wenig von der Stelle, und einer seiner Absätze kam neben den Totenköpfen auf, und ich wollte mit meinen Pfennigabsätzen auf jeden der Totenkopfknöpfe an seiner Uniform einhämmern. Ich wußte noch nicht genau, was ich eigentlich fühlte. »Ja, ich bin Soldat«, antwortete Bruce, »und ich hoffe, du wirst dir nie Gedanken um meinen Mut machen müssen, denn das alles wird mehr Mut erfordern als jeder Einsatz, den wir bisher geplant haben, den wir uns je erträumten; die Friedensbotschaft in die anderen Stationen zu tragen und zu den wunden Stellen des Kosmos. Vielleicht ist es ja eine kurze Sache, und wir werden erledigt, ehe wir auch nur einen Punkt sammeln konnten, aber wen schert das? Vielleicht sehen wir endlich mal unsere wirklichen Herren, wenn sie kommen, um uns zu zerschlagen, und für mich wird 85
das eine echte Befriedigung sein. Und vielleicht sind wir an dem Zerschlagen gar nicht mal so unbeteiligt!« »Du bist also Soldat«, sagte Erich und entblößte lächelnd die Zähne. »Bruce, ich gebe zu, daß du bei dem halben Dutzend Einsätzen, das du mitgemacht hast, ungestümer gewesen bist als jeder andere, den ich bei meinen ersten hundert Schlafperioden gezogen habe. In diesem Punkt spreche ich dir meine ehrliche Sympathie aus. Aber daß du dich in einem Zustand bringen läßt, in dem Liebe und ein Mädchen dich völlig umkrempeln und dich von Friedensbotschaften faseln lassen …« »Ja, bei Gott, die Liebe und ein Mädchen haben mich verändert!« brüllte Bruce zurück, und ich sah zu Lili hinüber, und ich dachte an Daves Worte: »Ich fahre nach Spanien«, und ich fragte mich, ob es etwas geben konnte, das je mein Gesicht so erröten lassen würde, wie das. »Oder sie haben mich jedenfalls dazu gebracht, für etwas einzustehen, was die ganze Zeit schon meine Überzeugung war. Sie haben mich veranlaßt …« »Wunderbar!« rief Erich und begann auf der Bombe einen kleinen Tanz vorzuführen, der mich zum Zähneknirschen brachte. Er drehte und wendete mit affektierten Gesten die Arme und ruckte mit den Hüften und neigte weibisch den Kopf und blinzelte in schnellem Rhythmus. »Lädst du mich zur Hochzeit ein, Bruce? Als Trauzeugen mußt du dir jemand anders aussuchen, ich mache das Blumenmädchen, und werfe den ehrenwerten Gästen kleine Blüten zu. Hier, Markus. Fang, Kaby. Eine für dich, Greta. Danke schön. Ach, zwei Herzen im Dreivierteltakt … ta-ta … ta-ta … ta-ta-tata-ta …« »Wofür, zum Teufel, hältst du eine Frau eigentlich?« wütete Bruce. »Für etwas, mit dem man in der Freizeit herumpfuscht?« 86
Erich summte weiter – wobei er im Rhythmus weiter zuckte, der Elende – und schenkte Bruce zwischendurch ein Nicken und ein »Genau«. Da wußte ich, wie ich dran war, aber das war mir nicht neu. »Also gut«, sagte Bruce, »soll sich doch dieser Braunhemd-maricón amüsieren, während wir zur Sache kommen. Ich mache euch allen einen Vorschlag, und ich brauche euch nicht zu sagen, wie ernst es ist oder wie ernst Lili und ich dies alles meinen. Wir müssen nicht nur andere Stationen unterwandern und bekehren – wobei die Stationen zum Glück wie dafür geschaffen sind – wir müssen auch mit den Schlangen Verbindung aufnehmen und die Zusammenarbeit mit ihren Dämonen suchen, das ist auf unserer Ebene einer der ersten Schritte.« Das setzte Erichs Hopserei ein plötzliches Ende und löste ein Aufstöhnen aus, das – obwohl es nur von einigen kam – so laut war, daß wir alle daran beteiligt schienen. Erich nutzte die Gelegenheit, einen schärferen Ton anzuschlagen. »Bruce! Wir haben diese Narretei nun lange genug geduldet. Du scheinst im Wahn zu leben, daß du, weil hier in der Station alles möglich ist – Duellfechten, Betrunkenheit und so weiter –, alles sagen kannst, was dir auf dem Herzen liegt und daß das im Kater untergehen wird. Aber das ist nicht so. Es stimmt, daß es in einer Gruppe von Ungeheuern und Freidenkern wie wir, die zudem noch als Geheimagenten arbeiten, nicht die offenkundige militärische Disziplin geben kann, die in einer terranischen Armee herrschen würde. Aber ich will dir eins sagen, Bruce, eindringlich sagen – Sid und Kaby und Markus werden mir das nachsehen, wo sie doch Offiziere im gleichen Rang sind –, daß die Befehlsstruktur der Spinnen auch durch diese Station führt – und das ist so gewiß wie die Tatsache, 87
daß der Führer Chicago beherrscht. Und wie ich dir nicht erst sagen müßte, Bruce, die Spinnen kennen Strafen, die meine Landsleute in Belsen und Buchenwald – nun, zum Erbleichen bringen würden. Also, während wir noch eine klitzekleine Chance haben, deine Bemerkungen als äußerst geschmacklose Clownereien zu interpretieren …« »Fasel ruhig weiter«, sagte Bruce und schwenkte gelassen die Hand in seine Richtung, ohne hinzuschauen. »Ich habe euch einen Vorschlag gemacht.« Er hielt inne. »Wie stehen Sie dazu, Sidney Lessingham?« Und da fühlte ich, wie meine Knie schwach wurden, denn Sid antwortete nicht sofort. Der alte Knabe schluckte schwer und begann in die Runde zu blicken. Dann wurde das Gefühl einer übermächtigen Wirklichkeit ganz schlimm, denn er sah sich nicht wirklich um, sondern straffte nur ein wenig die Schultern. In diesem Augenblick schaltete sich Markus hastig ein. »Es bekümmert mich, Bruce, aber ich glaube, du bist besessen. Erich, er muß gefangengesetzt werden.« Kaby nickte wie geistesabwesend. »Verhaftet oder tötet den Feigling, was immer einfacher ist, peitscht die Frau aus –, und dann ab in die ägyptische Schlacht.« »Ja«, sagte Markus. »Ich bin dabei ums Leben gekommen. Jetzt vielleicht nicht mehr.« Kaby sagte zu ihm: »Ich mag dich, Römer!« Bruce zeigte den Ansatz eines Lächelns, sein Blick wanderte herum, versuchte uns festzunageln. »Und Sie, Ilhilihis?« Illys Quietschkasten hatte mir nie mechanisch in den Ohren geklungen, doch jetzt zu erstenmal: »Ich stecke viel tiefer in der geborgten Zeit als ihr alle, tra-la-la, aber Papa liebt das Leben noch immer. Sie können höchst weitgehend nicht auf mich zählen.« »Miss Davies?« 88
Neben mir sagte Maud tonlos: »Halten Sie mich für eine Närrin?« Hinter ihr sah ich Lili stehen und dachte: »Mein Gott, wäre ich an ihrer Stelle, würde ich auch so stolz aussehen wie sie, aber bestimmt nicht so zuversichtlich.« Bruces Blick hatte sich noch nicht ganz auf Beau gerichtet, als der Spieler bereits das Wort ergriff. »Ich habe keinen Grund, Sie zu mögen, Sir, eher das Gegenteil. Aber die Station hat mich letzthin mehr gelangweilt als Boston, und es ist mir immer schwergefallen, einem riskanten Einsatz zu widerstehen. Einem sehr riskanten, fürchte ich. Ich mache mit, Sir.« Ein Schmerz machte sich in meiner Brust breit, und ein Dröhnen in meinen Ohren, und über diese Erscheinung hörte ich Siebensee knurren: »Krank machn mich diese verdammichten Spinn’! Auf die Liste mit mir!« Und dann taumelte Doc vor der Bar empor, und er hatte seinen Zylinder verloren, und sein Haar war zerzaust, und er packte eine leere Flasche am Hals und brach an der Barkante ihren Boden heraus und schwenkte die zackigen Reste und kreischte: »Ubivaytye Pauki – i Nymetzi!« Und ohne Atempause ließ Beau die Übersetzung ertönen: »Tötet die Spinnen – und die Deutschen!« Und Doc brach noch nicht zusammen, obwohl ich sehen konnte, daß er sich mit der anderen Hand verzweifelt an der Bar festhielt, und die Station wurde stiller, drinnen und draußen, stiller, als ich sie je erlebt hatte, und Bruces Augen richteten sich schließlich auf Sid. Aber sein Kopf machte vorher Halt, und ich hörte ihn fragen: »Miss Forzane?«, und ich dachte: »Das ist aber komisch« und wollte mich schon zur Gräfin umwenden, spürte aber alle Blicke auf mir und machte mir klar: »He, das bin ich ja! 89
Aber so etwas kann mir doch nicht passieren. Den anderen ja, aber nicht mir. Ich arbeite doch nur hier. Nein, nein Greta, nein, nein, nein!« Aber es war bereits geschehen, und die Blicke ließen mich nicht los, und die Stille und das Gefühl der Wirklichkeit waren überwältigend, und ich sagte mir: »Greta, du mußt etwas sagen, wenn’s auch nur ein Fluch ist«, und plötzlich wußte ich Bescheid wegen dieser Stille. Es war die Stille in einer großen Stadt, in der es eine Möglichkeit gab, alle Geräusche auf einmal abzuschalten. Es war wie Erichs Gesang, als die Klavierbegleitung plötzlich fortfiel. Es war, als könnten die Veränderungswinde völlig ersterben … und als ich mich zu ihnen umwandte, wußte ich schon, was geschehen war. Die Geistermädchen waren verschwunden. Der Hauptversorger war nicht nur auf Introversion geschaltet worden. Er war ebenfalls verschwunden.
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»Wir untersuchten das Moos zwischen den Ziegeln und fanden es unberührt.« »Sie haben natürlich zwischen D…s Papieren nachgeschaut und auch in den Büchern in der Bibliothek?« »Gewiß, wir haben jedes Päckchen und Paket geöffnet; wir haben nicht nur jedes Buch aufgeschlagen, sondern jedes einzelne Blatt in jedem Band umgewendet …« Poe
9 Ein verschlossener Raum Drei Stunden später fielen Sid und ich auf die Couch bei der Küche, obwohl ich viel zu müde war, um sofort etwas zu essen. Bei einer Suche, wie ich sie in dieser Genauigkeit nicht für möglich gehalten hatte, war uns klar geworden, daß der Versorger nicht in der Station war. Natürlich mußte er in der Station sein, wie wir uns in den ersten beiden Stunden immer wieder versichert hatten. Er mußte hier sein, wenn die Umstände und Theorien, nach denen wir im Veränderungskrieg lebten, überhaupt etwas bedeuten sollten. Ein Versorger ist ein Gerät, das eine Station versorgt. Der Nebenversorger kümmert sich um Sauerstoff, Temperaturen, Feuchtigkeit, Schwerkraft und andere kleine lebenserhaltende und Transportsysteme, aber es ist der Hauptversorger, der die Wände vor dem Eindrücken und die Decke vor dem Einsturz bewahrt. Er ist klein, o ja, aber er tut so viel. Er arbeitet nicht mit Drähten oder über Funk oder ähnlich kompliziert. Er schaltet sich nur direkt in die umgebende Raumzeit ein. 91
Man hat mir einmal gesagt, sein Inneres bestünde aus sehr widerstandsfähigen, sehr harten Riesenmolekülen, von denen jedes praktisch sein eigener Westentaschenkosmos ist. Von außen sieht er wie ein tragbares Radio aus mit ein paar Kontrollknöpfen und Anzeigelämpchen und Schaltern und Steckdosen für Kopfhörer und eine Menge anderem sensorischem Drumherum. Aber der Versorger war nun verschwunden, und die Leere war uns noch nicht nähergerückt. Allerdings war ich auch derart erschossen, daß es mir völlig egal war, ob sie sich einwärts wölbte oder nicht. Eins war sicher, der Versorger war auf Introversion geschaltet worden, ehe er fortgezaubert worden war, oder vielleicht führte sein Verschwinden auch automatisch die Introversion herbei, suchen Sie sich’s aus, denn wir waren einwandfrei introvertiert – ein wirklich unangenehmer schulmeisterlicher Einfluß der Wirklichkeit auf meine Gedanken, dem ich – das wußte ich, ohne es zu versuchen – auch mit Alkohol nicht entkommen würde. Kein Hauch von Veränderungswind, eine erdrückende Atmosphäre, während das Grau der Leere so sehr auch im Inneren meines Kopfes zu sein schien, daß ich wohl endlich etwas von dem begriff, was die Wissenschaftsknaben meinen, wenn sie mir erklären, daß die Station eine Art Verknüpfung des Materiellen und des Geistigen ist – eine Riesenmonade, so hat einer sie mal genannt. Jedenfalls sagte ich mir: »Greta, wenn das die Introversion ist, möchte ich nichts damit zu tun haben. Es ist nicht angenehm, vom Kosmos losgeschnitten zu sein und das auch noch zu wissen. Ein Rettungsboot in der Mitte des Pazifik und ein Raumschiff zwischen den Galaxien kennen nicht solche Einsamkeit.« Ich fragte mich, warum die Spinnen die Versorger 92
überhaupt mit Introversionsschaltern ausgestattet haben, wenn wir damit nicht trainieren konnten und sie ohnehin nur im äußersten Notfall benutzen durften, wenn uns nur noch das Introvertieren oder die Kapitulation vor den Schlangen blieb, und zu erstenmal kam ich auf die offenkundige Erklärung: Introversion muß eine Art Flucht sein; der Hauptzweck ist die Wahrung von Geheimnissen und Material vor dem Feind. Die Introversion versetzte eine Station in die Lage, aus der nicht einmal das Oberkommando der Spinnen sie erretten konnte und in der nichts weiter möglich war als in die Leere hinabzusinken (hinab? hinaus? hinauf?). Wenn das stimmte, waren unsere Rückkehrchancen etwa so groß wie die Chance, daß ich mal wieder Kind sein und in der Kleinen Zeit in meinen Dünen spielen würde. Ich rückte ein wenig näher an Sid heran und schob mich förmlich unter seine Schulter und rieb meine Wange an dem fleckigen golddurchwirkten grauen Samt. Er blickte auf mich herab, und ich sagte: »Ein weiter Weg bis Lynn Regis, was, Siddy?« »Süßer Schatz, Ihr redet wahrlich klug«, sagte er. Er weiß genau, was er anrichtet, wenn er seine Sprache so verdreht, der schlimme alte Schatz. »Siddy«, sagte ich, »Was soll all das Gold. Ohne wär’s viel glatter.« »Gemach, Männer müssen sich herausputzen, und weiß man’s denn, es hilft, wenn Metall drin ist.« »Und Mädchen kratzen sich daran.« Ich schnaubte ein wenig durch die Nase. »Aber stecke die Weste noch nicht in die Waschmaschine. Bis wir aus dem Gröbsten heraus sind, möchte ich möglichst viele Männer um mich haben.« »Ich frag’ dich, warum sollte ich?« fragte er ah93
nungslos, und ich glaube ehrlich, daß er es nicht wußte. Das Letzte, was Zeitreisende über sich herausfinden, ist, ob sie riechen oder nicht. Dann bewölkte sich sein Gesicht, und er schaute mich an, als wollte er sich an meiner Schulter verkriechen. »Aber sag, mein Schatz, dein Wald hat ein paar mehr Bäume als Sherwood.« »Ihr sagt es, Herr«, stimmte ich zu und wunderte mich über den Blick. Gerade jetzt hätte er sich nicht für meine Mädchenhaftigkeit interessieren sollen. Ich wußte, daß ich ziemlich schlimm aussah, aber er hatte sich während der Suche ziemlich in meiner Nähe gehalten, und man kann nie wissen. Dann fiel mir ein, daß er ja außer mir der einzige war, der sich nicht geäußert hatte, als Bruce seine entscheidende Frage stellte, und das machte wahrscheinlich seiner männlichen Eitelkeit zu schaffen, mir jedoch um so weniger – ich war dem Versorger immer noch dankbar, daß er mich aus meiner Klemme befreit hatte – auch wenn wir dadurch in eine ganz andere Klemme geraten waren. Das alles schien Jahre zurückzuliegen. Wir waren zu der Schlußfolgerung gekommen, daß sich die beiden Geistermädchen mit dem Versorger aus dem Staube gemacht hatten – ich weiß nicht, wohin oder warum, aber es sah jedenfalls so aus. Maud hatte zu jammern begonnen, daß sie Geistern sowieso nicht traute und immer gewußt hätte, daß solche Typen eines Tages eigene Ideen entwickeln würden, und Kaby hatte es sich fest in den Kopf gesetzt, geradewegs zwischen die Hörner, daß Phryne als Griechin die Anführerin war und uns alle in eine Katastrophe ziehen würde. Aber als wir den Lagersektor überprüften, fiel mir sofort auf, daß die Hüllen der Geistermädchen seltsam flach aussahen. Elektroplasma nimmt in zusammenge94
faltetem Zustand nicht viel Platz ein, aber ich hatte eine Hülle geöffnet, dann eine zweite und hatte schließlich um Hilfe gebeten. Jeder einzelne Umschlag war leer. Wir hatten über tausend Geistermädchen verloren, Sids ganzes Lager. Nun, wenigstens bewies das etwas, was niemand von uns gesehen oder praktisch miterlebt hatte: daß nämlich eine unheimliche Verbindung – eine Art Veränderungswindkontakt – zwischen einem Geist und seiner Lebenslinie besteht: und wenn die Nabelschnur, so habe ich’s nennen hören, durchtrennt wird, stirbt der Teil, der sich von der Lebenslinie entfernt hat. Interessant – aber was mir Sorgen bereitet hatte, war die Frage, ob wir Dämonen uns auch auflösen würden, weil wir doch ebenso Doppelgänger sind wie die Geister und unsere Schürzenzipfel nicht minder absolut durchgeschnitten worden waren. Wir sind natürlich verfestigter, aber das konnte doch nur bedeuten, daß es bei uns etwas länger dauern würde. Sehr logisch. Ich erinnere mich, wie ich zu Lili und Maud hinübergeschaut hatte – wir Mädchen hatten die Hüllen überprüft; das ist eines der Dinge, auf die wir achten, und überhaupt, wenn Männer es tun, kommt es unweigerlich zu dem alten Spruch über »Aufgußfrauen«, der mir wirklich zum Halse heraushängt, vielen Dank. Jedenfalls hatte ich aufgeschaut und gesagt: »Es war schön mit euch«, und Lili hatte gesagt: »Tra-la-la, adieu«, und Maud hatte gesagt: »Nichts für ungut«, und wir hatten uns die Hände geschüttelt. Wir überlegten, daß Phryne und die Gräfin bestimmt im gleichen Augenblick wie die anderen Geistermädchen verschwunden waren, aber ein Gedanke hatte sich bei mir festgesetzt, und ich fragte: »Siddy, was meinst du, ist es vielleicht doch möglich, daß die beiden Geistermädchen, während wir alle auf Bruce schauten, den 95
Versorger aktiviert und sich eine Tür gemacht haben und dann mit dem Ding von hier verduftet sind?« »Ihr raubt meine Gedanken, süße Maid. Alles spricht dagegen: Erstens, zu gut ist bekannt, daß Geister keine Pläne schmieden oder danach handeln können. Zwotens, die kurze Zeit spricht gegen eine Tür. Drittens – und hier liegt der Hase im Pfeffer – ohne Versorger bricht die Station zusammen. Viertens wäre es Wahnsinn, sich darauf zu verlassen, daß sich nicht einer von – wie vielen? zehn, elf? – in der Zeit umdreht, die sie gebraucht hätten, um …« »Ich habe mich einmal umgesehen, Siddy. Sie tranken und sie waren aus eigener Kraft bis zum Kontrolldiwan gekommen. Wann war das nur? O ja – als Bruce über Zombies sprach.« »Ja, holde Maid. Und ich war eben gewillt, meine Argumentation mit Fünftens abzuschließen, als du zu plappern begannest; ich könnte schwören, daß keiner den Versorger berühren konnte, geschweige denn ihn zu bedienen und zu stehlen, ohne gewisse Kenntnisse, über die ich verfüge. Und doch …« »Aber ja«, sagte ich zustimmend. Jemand mußte sich eine Tür verschafft haben und mit dem Ding hinausmarschiert sein. In der Station befand es sich jedenfalls nicht. Die Jagd danach war ein glatter Fehlschlag. Ein Gegenstand von der Größe einer Reiseschreibmaschine ist nicht so einfach zu verstecken, und wir hatten uns überall umgesehen – von Beaus Klavier bis zum neuesten Gerät im Erholungssektor. Wir hatten sogar jeden hinter ein Fluoroskop gestellt, obwohl Illy sich dabei wie ein Haufen Würmer gewunden hatte, wie er uns gleich ankündigte; er sagte, es kitzelte schrecklich, und ich beharrte darauf, hinterher mindestens fünf Minuten lang sein Fell zu 96
streicheln, obwohl er mir gegenüber ein wenig zurückhaltend war. Für einige Sektoren – etwa Bar, Küche und Lager – brauchten wir viel Zeit, aber dafür waren wir gründlich. Kaby half Doc bei der Überprüfung der Krankenabteilung: seit ihrem letzten Besuch in der Station war sie in einem Feldlazarett stationiert (wie es sich herausstellt, starten die Spinnen tatsächlich Einsätze von dort) und hat ein paar hübsche kleine Tricks gelernt. Doc leistete jedoch selbst ein ehrliches Stück Arbeit, obwohl natürlich jede Prüfung von mindestens drei Leuten beobachtet wurde, Bruce oder Lili ausgenommen. Als der Versorger verschwand, hatte sich Doc von seinem glasigen Zustand erholt – auf eine Weise, die mich überrascht hätte, wenn ich das nicht schon öfter bei ihm erlebt hätte –, aber als wir mit der Krankenabteilung fertig waren und uns der Kunstgalerie zuwandten, begann er zu schwanken, und ich sah, wie er seine Jacke lüpfte, den Kopf neigte und eine Flasche herauszerrte und einen Schluck nahm, und nun war er wieder auf dem besten Wege zum nächsten Höhepunkt. Die Kunstgalerie kostete uns ebenfalls Zeit, weil man dort ein Durcheinander der seltsamsten Dinge findet, und es brach mein Herz, aber Kaby nahm ihre Axt und schlug die schöne blaue Holzplastik einer venusianischen Medusa in Stücke, weil sie meinte, die Größe wäre gerade richtig, obwohl das Kunstwerk keinerlei Kratzer aufwies. Doc weinte ein wenig, und wir ließen ihn bei den Bruchstücken zurück, die er klagend wieder zusammenzusetzen versuchte. Nachdem wir alles andere durch hatten, bestand Markus darauf, daß wir uns auch um den Fußboden kümmerten. Beau und Sid versuchten ihm zu erklären, daß dies 97
eine einseitige Station sei, daß es nichts, wirklich nichts unter dem Fußboden gäbe, der nur wesentlich härter wäre als die Diamantenkruste, kaum das man ein paar Millimeter in ihn eindringe – er ist ja auch das solide Gegenstück zur Leere. Aber Markus stellte sich dickköpfig an (wie es alle Römer sind, versicherte mir Sid leise) und zerbrach vier Diamantbohrer, ehe er sich zufriedengab. Abgesehen von möglichen Trickverstecken blieb damit nur die Leere, aber wenn man etwas gegen die Leere wirft, verschwindet es nicht einfach – es zerschmilzt zur Hälfte und friert auf ewig darin fest, wenn man es nicht wieder herausfischen kann. Hinter dem Erholungssektor, etwa in Augenhöhe, befinden sich drei venusianische Kokosnüsse, während einer großen Keilerei von einem hetitischen Krieger geworfen. Ich versuchte nicht hinzusehen, da sie so sehr wie Hexenköpfe aussehen, daß mir immer ganz schwach wird. Die Teile der Station unmittelbar an der Leere haben seltsame räumliche Eigenheiten, die sich eines der Geräte in der Krankenabteilung zunutze macht, so daß mir immer ganz mies wird, aber das ist jetzt nebensächlich. Während der Suche hatten Kaby und Erich ihre Rufgeräte als Richtungssucher benutzt, um den Versorger aufzuspüren – so wie sie im Kosmos gebraucht werden, um die Tür festzulegen, und manchmal auch in den Großen Stationen, wie man mir erzählt hat. Aber die Rufgeräte wurden wild – wie eine Kompaßnadel, die sich ohne Halt im Kreise drehte – und niemand wußte zu sagen, was das bedeuten sollte. Die Trickverstecke mochten der Nebenversorger sein, ein hübscher Gedanke, aber er ist nicht größer als das Hauptgerät und hat ein eigenes geheimnisvolles Inneres und setzte seine Arbeit offenbar fort; aus meh98
reren Gründen kam das also nicht in Frage. Auch die Bombenkiste war eine Möglichkeit, obwohl es unmöglich schien, daß jemand sie geöffnet hatte, vorausgesetzt, man kannte das Geheimnis ihres Schlosses; und zwar noch ehe Erich darauf sprang und sie in den Brennpunkt des Interesses rückte. Aber wenn man alles andere ausgeschaltet hat, verändert das Wort »unmöglich« seine Bedeutung. Da die Zeitreise unser Geschäft ist, könnte man sich alle möglichen Tricks vorstellen, den Versorger etwa in die Vergangenheit oder Zukunft zu schicken, ständig oder vorübergehend. Aber die Station ist strikt in der Großen Zeit, und alle möglichen Leute, die es wissen müssen, behaupten immer wieder, daß eine Zeitreise innerhalb der Großen Zeit unmöglich ist. Etwa so: die Große Zeit ist ein Zug, und die Kleine Zeit ist die Landschaft, und wir befinden uns im Zug, es sei denn, wir gehen durch eine Tür, und wie Gertie Stein es ausdrücken könnte, man kann nicht in der Zeit zeitreisen, in der man zeitreist, wenn man zeitreist. Ich hatte mich auch mit dem Gedanken an ein phantastisch offenkundiges Versteck befaßt – vielleicht etwas, das mehrere Leute sich sogar gegenseitig zureichen mochten, was auf eine Verschwörung hindeuten konnte, und wenn man sich eine ausreichend große Verschwörung vorstellt, läßt sich alles erklären, einschließlich des Kosmos. Jedenfalls hatte ich so eine Trickspiel-Idee über die drei großen schwarzen Tschakos der Soldaten und gab mich erst zufrieden, als ich die drei zusammengerufen und in ihre Tschakos gleichzeitig hineingesehen hatte. »Wach auf, Greta, und iß was, ich kann nicht ewig warten.« Maud hatte uns ein Tablett mit herzhaften Bissen gebracht, und ich muß sagen, sie sahen vielverspre99
chend aus; sie legt sonst nur ein ziemlich mageres Hors d’Œuvre hin. Ich schaute auf dem Tablett herum und sagte: »Siddy, ich möchte einen Hot Dog.« »Und ich möchte Wildbret. Nichts da, du gezierte Kokette, du Wildfang, du launisches und tyrannisches Püppchen!« Ich griff mir eine Portion und kuschelte mich an ihn. »Los, gib mir noch andere Namen, Siddy«, bat ich ihn. »Richtige saftige.«
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Mein Traum, des Mord nur noch ein Hirngespinst, Erschüttert meine schwache Menschheit so, Dass jede Lebenskraft in Ahnung schwindet, Und nichts ist, als was nicht ist. Macbeth
10 Motive und Gelegenheiten Mein großer grummeliger Bursche aus King’s Lynn hatte das Tablett auf seine Knie gestellt und begann nun heißhungrig zu essen. Die anderen beendeten gerade ihre Mahlzeit. Erich, Markus und Kaby hatten eine gebändigt-lebhafte Auseinandersetzung, die ich vom Ende der Bar nahe der Bronzetruhe nicht mithören konnte, und Illy hatte sich wie ein echter Krake über das Klavier drapiert und lauschte interessiert. Beau und Siebensee marschierten dicht vor dem Kontrolldiwan auf und ab und warfen sich dann und wann ein Wort zu. Hinter ihnen saßen Bruce und Lili uns gegenüber auf der Couch und redeten ernsthaft über irgend etwas. Maud hatte sich am anderen Ende der Bar niedergelassen und strickte – das ist eine der Angewohnheiten wie das Schachspielen oder das heimliche Trinken oder der Sprachunterricht mit dem Sprechkasten, die wir hier aufgreifen, um in den langen Pausen zwischen den Parties die Zeit totzuschlagen. Doc fummelte in der Galerie herum, nahm Objekte zur Hand und stellte sie wieder fort, wobei er auf den Füßen blieb, was immerhin schon etwas war. Lili und Bruce standen auf, noch immer intensiv redend, und Illy begann mit seinen Tentakeln in den hohen Tönen eine kleine Melodie zu greifen, die sich absolut unirdisch anhörte. 101
»Woher haben sie nur all die Energie?« fragte ich mich. Aber kaum hatte ich diese Frage gestellt, wußte ich auch schon die Antwort und begann mich ebenso zu fühlen. Das war keine Energie; es waren schlicht und einfach die Nerven. Ich überlegte, daß die Veränderung wie eine Droge ist – man gewöhnt sich daran, daß die Tatsachen nicht unveränderlich sind und daß sich die Bilder der Vergangenheit und Zukunft in anderen Bildern auflösen, die vielleicht nicht wesentlich anders, aber doch immerhin anders sind. Man gewöhnt sich daran, daß der Geist ständig von seltsamen Stimmungen und Vorstellungen heimgesucht wird – wie Nachtclubbeleuchtungen aus sich verändernden Farben mit verrückten Schatten, Impressionen, die direkt ins Gehirn gehen. Das endlose Schwanken und Rütteln ist erholsam, wie etwa eine Zugreise. Die Bewegung sagt einem bald zu, und man braucht sie auch, ohne das zu wissen, und wenn sie plötzlich aufhört und man abrupt mit sich allein ist und die Tatsachen, denen das eigene Denken und Fühlen entspringt, die gleichen sind und bleiben – Mann, das ist hart, wie ich jetzt erkennen mußte. Im Augenblick unserer Introversion wurde alles, was gewöhnlich während Wachen und Schlafen in die Station dringt, abgestoppt, und wir waren nichts als wir selbst und was wir einander bedeuteten und was wir daraus machen konnten – eine schrecklich einsame, unangenehme Lage. Ich kam zu dem Schluß, daß mir zumute war wie einer Schwimmerin, die in einem Swimmingpool voller Zement geworfen und unter der Oberfläche festgehalten worden war, bis die Masse sich verhärtete. Ich konnte also verstehen, daß die anderen ein we102
nig herumzappelten. Ein Wunder, daß sie nicht in die Leere rasten. Maud schien bestens zurechtzukommen, vielleicht war sie durch ihre langen Wachen zwischen den Sternen ein wenig darauf vorbereitet; außerdem ist sie älter als wir alle, sogar älter als Sid. Die nervöse Suche nach dem Versorger hatte das Gefühl überlagert, aber jetzt begann es mit voller Kraft durchzuschlagen. Vor der Suche hatten Bruces Rede und Erichs Unterbrechungen ebenfalls einiges verschleiert. Ich versuchte mich an den Augenblick zu erinnern, da ich das Gefühl zum erstenmal spürte, und kam zu dem Schluß, daß es nach Erichs Sprung auf die Bombe gewesen sein mußte, etwa zu der Zeit, als er von Poesie sprach. Aber ich konnte mir dessen nicht sicher sein. Vielleicht war der Versorger schon vorher introvertiert worden, etwa als ich mich zu den Geistermädchen umsah. Ich hätte es nicht gemerkt. Also Quatsch! Glauben Sie mir, ich spürte den sich verhärtenden Zement an jedem Zentimeter meines Körpers. Ich erinnerte mich an Bruces herrliches Bild eines Universums ohne Große Veränderung, und kam zu dem Schluß, das müßte so etwa die schlimmste Vorstellung überhaupt sein. Ich aß also weiter, obwohl ich nicht mehr recht wußte, ob es ein so guter Gedanke war, bei Kräften zu bleiben. »Hat der Versorger eine Introversionsanzeige? Siddy!« »Gemach, Maid, und bei deiner Lieb’, sprich leiser. Ganz plötzlich ist mir nicht wohl, als hätte ich ein Faß Rheinwein ausgetrunken und darin geschlafen. Aber ja, blau. Ein kurzes Aufflackern, so heißt es im Handbuch. Was fragt Ihr?« »Ach, nichts. Gott, Siddy, was ich jetzt für einen Hauch Veränderungswind gäbe!« 103
»Das kannst du zweimal sagen«, stöhnte er. Ich schien ihm einen ziemlich elenden Eindruck zu machen, denn er legte den Arm um meine Schultern und flüsterte rauh: »Tröste dich, Holde, wenn wir auch leiden, können wir doch nicht den Veränderungstod erleiden.« »Was ist denn das?« fragte ich. Ich wollte nicht herumhippeln wie die anderen. Ich hatte so den Verdacht, daß mich das schnell aus der Fassung bringen würde. Um also nicht durchzudrehen, begann ich mich wieder mit der Frage zu befassen, wer was mit dem Versorger gemacht hatte. Während der Suche waren verschiedene verrückte Ideen über sein Verschwinden oder zumindest die Introversion aufgekommen: ein Zugriff der Schlangenwissenschaftler, der bereits an Hexerei grenzen müßte; das Oberkommando der Spinnen, das die Stationen von oben her abkapselte, vielleicht als Reaktion auf den Verlust des Express-Raumes, und zwar in solcher Eile, daß sie nicht einmal Zeit für eine Warnung gehabt hatten; das Einwirken der Alten Kosmiker, jene geheimnisvollen hypothetischen Wesen, die sich angeblich erfolgreich der Ausdehnung des Veränderungskrieges in die Zukunft über Siebensees Epoche hinaus widersetzt hatten – es sei denn, diese Alten Kosmiker waren jene Wesen, die den Veränderungskrieg überhaupt erst ausfochten. Worum alle unsere Vermutungen einen weiten Bogen gemacht hatten, war die Benennung von Verdächtigen aus unserem Kreis – ob nun als Schlangenspion, Beamter der Politischen Polizei der Spinnen, als Agent eines – wer kann das nach Bruce noch belächeln? – geheimen Veränderungsweltkomitees für Öffentliche Sicherheit oder als Angehöriger des revolutionären Untergrundes der Spinnen oder als Einzelgänger in 104
unserer Station. Ebensowenig war seit dem Abhandenkommen des Versorgers ein Wort über Erichs und Bruces Auffassungen verloren worden. Es war sicherlich gutes Gruppendenken, im Notfall Meinungsverschiedenheiten zu begraben, aber das hatte nichts mit meinen eigenen Gedanken zu tun. Wer wollte so dringend entkommen, daß er die Station introvertierte und jeden denkbaren wechselseitigen Kontakt mit dem Kosmos unterbrach und dabei das große Risiko einging, daß wir überhaupt nie wieder zum Kosmos zurückgelangten? Einmal abgesehen von den Geschehnissen, seit Bruce eingetroffen war und die Dinge in Bewegung gebracht hatte, schien eigentlich Doc das stärkste Motiv zu haben. Er wußte, daß Sid ihn nicht ewig decken konnte und daß – worauf Erich uns erneut aufmerksam gemacht hatte – die Strafmaßnahmen der Spinnen für Dienstvernachlässigung nicht die Form eines Exekutionskommandos haben. Aber Doc hatte seit dem Augenblick, da Bruce auf die Bar sprang, unmittelbar davor auf dem Boden gelegen, obwohl ich ihn natürlich nicht ständig im Auge behalten hatte. Beau? Beau hatte gesagt, er langweile sich in der Station – zu einem Zeitpunkt, da es auf seine Antwort ankam – also würde er sich kaum – womöglich für immer – darin einschließen, ganz zu schweigen, daß er Bruce mitnähme und das Mädchen, auf das er ein Auge geworfen hatte. Sid liebt die Wirklichkeit – ob sie sich nun verändert oder nicht – und jedes winzige Ding darin, besonders Menschen, mehr als jeder andere Mensch, den ich kenne – er ist wie ein Baby mit weit aufgerissenen Augen, das jeden Gegenstand anfassen und in den Mund stecken will; ich konnte mir kaum vorstellen, daß er sich je vom Kosmos losmachen würde. 105
Maud, Kaby, Mark und die beiden AIs? Keiner von ihnen hatte meines Wissens ein Motiv, obwohl die Tatsache, daß Siebensee aus der fernen Zukunft stammt, zu der Vorstellung von den Alten Kosmikern paßte und sich zwischen der Kreterin und dem Römer etwas entwickelte, daß dazu führen mochte, daß sie zusammen introvertiert sein wollten. »Halte dich an Tatsachen, Greta«, ermahnte ich mich mit einem unhörbaren Aufstöhnen. Also blieben noch Erich, Bruce, Lili und ich. Erich, dachte ich – jetzt kamen wir endlich weiter. Der kleine Kommandant hat die Nerven eines Kojoten und den Mut eines wildgewordenen Katers, und wenn er der Meinung war, er könne seinen Streit mit Bruce besser abwickeln, wenn er mit ihm eingeschlossen war, so würde er keine Sekunde zögern. Aber schon vor seinem Tanz auf der Bombe hatte Erich Bruce aus dem Publikum heraus angegriffen. Trotzdem mochte er zwischendurch Zeit gehabt haben, unbemerkt einige Schritte zurückzutreten, den Versorger zu introvertieren, und … nun, das war ja das Problem. Wenn ich die Schuldige war, nun, dann war ich verrückt, und das war so etwa die beste Erklärung überhaupt. Gr-r-r-! Bruces Motive lagen derart klar auf der Hand, besonders die Todesgefahr (oder war es eine Lebensgefahr?), in die er sich durch seine Aufwiegelung zur Meuterei begeben hatte, daß es eine Schande war, daß er so lange deutlich sichtbar auf der Bar gestanden hatte. Wäre der Versorger introvertiert worden, ehe er auf die Bar sprang, hätten wir bestimmt die blaublitzende Anzeigelampe bemerkt. Zumindest hätte ich sie gesehen, als ich mich zu den Geistermädchen umdrehte – wenn der Apparat wirklich so funktionierte, wie Sid behauptete, und er hatte ja auch gesagt, er 106
hätte den Mechanismus noch nicht arbeiten sehen, sondern nur im Handbuch darüber gelesen – ach, was soll’s! Aber Bruce selbst brauchte gar keine Gelegenheit zur Tat, wie mir die Männer in der Station sicherlich gleich versichert hätten, da er doch Lili hatte, die Sache für ihn zu tun, und sie hatte die gleiche Gelegenheit gehabt wie wir alle. Ich selbst habe ziemliche Bedenken gegen die Frau-ist-Lehm-in-der-Hand-des-Mannes-densie-wahnsinnig-liebt-Theorie, aber ich mußte zugeben, daß in diesem Fall einiges dafür sprach, und es war mir ganz natürlich vorgekommen, daß wir stillschweigend übereingekommen waren, weder Lilis noch Bruces Feststellungen bei der Suche nach dem Versorger ungeprüft durchgehen zu lassen. Damit waren wir alle abgehandelt. Übrig blieb nur der geheimnisvolle Fremde, der sich irgendwie durch eine Tür hereingeschlichen hatte (wie hatte er die ohne unseren Versorger errichtet?) oder aus einem unvorstellbaren Versteck oder unmittelbar aus der Leere. Ich wußte, daß letzteres unmöglich ist – nichts kann aus dem Nichts treten –, aber wenn je etwas danach ausgesehen hat, als sei es dazu geschaffen, uns schreckliche Erscheinungen auf den Hals zu schicken, dann die Leere – neblig, aufwallend, schleimig, grau … »Sekunde«, sagte ich mir, »einen Augenblick, Greta. Das hätte dir doch gleich auffallen müssen!« Was immer aus der Leere kam – oder um präziser zu sein – wer immer sich aus unserer Menge löste und zum Versorger ging, hätte im Blickfeld Bruces sein müssen. Er hatte die ganze Zeit über an uns vorbei auf den Versorger geschaut, und was immer geschehen war, er mußte es gesehen haben. Bei Erich war das etwas anderes; auch als er schon auf der Bombe stand, hatte er soviel Bühnenverstand 107
bewiesen, um Bruce die meiste Zeit anzusehen, damit er seine Rolle als Volkstribun aufbauen konnte. Aber Bruce mußte etwas gesehen haben – es sei denn, er hatte sich von seinen eigenen Worten derart hinreißen lassen … Nein, Kind, ein Dämon ist immer auch ein Schauspieler, wie sehr er auch selbst glauben mag, was er da äußert, und es hat noch keinen Schauspieler gegeben, der nicht sofort bemerkt, wenn jemand aus dem Publikum seiner großen Szene den Rücken kehrt. Also wußte Bruce Bescheid, was ihn als besseren Schauspieler hinstellte, als ich ihm hatte zubilligen wollen, da sich offenbar niemand sonst bisher überlegt hatte, was mir eben eingefallen war, oder er wäre längst damit konfrontiert worden. Aber ich tu’s nicht – ich bin nicht so. Außerdem fühlte ich mich dem nicht gewachsen – nervöse Anna, nimm’s mir nicht übel, aber mir war höllenmies. »Vielleicht«, munterte ich mich auf, »ist ja die Station die Hölle«, fügte aber hinzu: »Sei nicht kindisch, Greta – sei mal eine wirklich bodenlose, zügellose, rücksichtslose Neunundzwanzigjährige.«
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Das Sperrfeuer dröhnt. Schwer gebeugt von Bomben, Gewehren, Schaufeln und allerlei Kampfgerät Kriechen Männer dem wütenden Feuer entgegen. In grauen Reihen, murmelnd, angststarren Gesichts Verlassen sie die Schützengräben, wälzen sich hinan, Und geschäftig, gefühllos vertickt die Zeit an ihren Armen Sassoon
11 Die Westfront 1917 »Bitte nicht, Lili.« »Ich tu’s, mein Schatz.« »Maid, wach auf! Fröstelt dir?« Ich öffnete ein wenig die Augen und belog Siddy mit einem Lächeln, verschränkte fest die Hände und beobachtete Bruce und Lili, die sich nahe dem Kontrolldiwan anmutig stritten, und ich wünschte, auch ich hätte eine große Liebe, die meinen Kummer verdeckte und mir ein vernünftiger Ersatz für die Veränderungswinde wäre. So wie Lili den Kopf zurückwarf und sich mit stolzem, zärtlichen Lächeln aus seinen Armen befreite, war sie bei der Auseinandersetzung Sieger geblieben. Er trat einige Schritte zur Seite; zum Glück wandte er sich nicht achselzuckend an uns wie ein alter Ehemann, obwohl seine Nervosität offenkundig war und er mit der Introversion nicht so gut zurechtzukommen schien – wie etwa wer? 109
Lili legte eine Hand auf die Lehne des Kontrolldiwans, preßte die Lippen zusammen und blickte in die Runde, wobei sie fast nur die Augen bewegte. Sie hatte sich ein graues Seidentuch um ihren Pony gebunden. Ihr kurzes graues Seidenkleid, das glatt herabfiel, machte sie weniger zur Vogelscheuche, obwohl sie auch davon etwas hatte, sondern ließ sie eher wie ein kleines Mädchen aussehen, außer daß der Ausschnitt ziemlich tief kam und man sehen konnte, daß sie doch nicht mehr so klein war. Ihr Blick blieb schließlich an mir hängen, und ich hatte ein ganz komisches Gefühl der Leere, denn Frauen nehmen immer mich als Publikum. Außerdem waren Sid und ich die Mittelpartei in unserer brandneuen Stationspolitik. Sie machte einen tiefen Atemzug, reckte das Kinn vor und sagte mit einer Stimme, die ein wenig höher und britischer klang als gewöhnlich: »Wir Mädchen haben oft geschrien: ›Macht die Tür zu!‹ Aber jetzt ist die Tür verflixt nachhaltig geschlossen!« Ich wußte, daß ich richtig vermutet hatte, und vor Verlegenheit war mir ganz seltsam, weil ich doch Bescheid weiß mit diesen Liebesgefühlen, und wie man sich vorstellt, die andere Person zu sein und unbedingt ihr Leben führen möchte – und dessen Glanz für sich beanspruchen, obwohl man sich dessen nicht bewußt ist – und wie man die Fackel des anderen tragen möchte, und wie das alles verderben kann. Doch mußte ich zugeben, daß ihre Worte gar kein so schlechter Start waren – jedenfalls unangenehmerweise wohl die Wahrheit. »Mein Verlobter glaubt, daß wir die Tür vielleicht wieder öffnen können. Ich glaube das nicht. Er hält es für ein wenig verfrüht, die besondere Lage zu diskutieren, in der wir uns alle befinden. Ich bin da anderer Meinung.« 110
Heiseres Gelächter tönte von der Bar herüber. Die Militaristen meldeten sich. Erich trat vor, einen sehr glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht. »Jetzt müssen wir uns also redenschwingende Frauen anhören«, rief er. »Was ist das überhaupt hier für eine Station? Sidney Lessinghams Samstagabend-Nähkreis?« Beau und Siebensee, die ihr Hin- und Hermarschieren auf halbem Wege zwischen Bar und Kontrolldiwan aufgegeben hatten, wandten sich Erich zu, und Siebensee wirkte ein wenig stämmiger, war mehr als nur ein halbes Pferd, wie die Satyre in den Mythologiebüchern immer dargestellt werden. Er stampfte auf – mittelhart, würde ich sagen – und bemerkte: »Ach schießt doch in’ Wind.« Ich hatte festgestellt, daß er sein Englisch von einem Dämonen hatte, der Hafenarbeiter mit anarchistischen Neigungen gewesen war. Erich verstummte einen Augenblick und stand grinsend vor uns, die Hände in die Hüften gestemmt. Lili nickte dem Satyr zu und räusperte sich ein wenig erschreckt. Aber sie sagte nichts; ich spürte, daß sie etwas überlegte und fühlte, und ihr Gesicht wurde häßlich und ausgezehrt, als stünde sie in einem Veränderungswind, der mich noch nicht erreicht hatte, und ihr Mund verzog sich, wie um gegen Tränen anzukämpfen, doch einige schossen ihr in die Augen, und als sie schließlich das Wort ergriff, war ihre Stimme eine Oktave tiefer, und es war nicht nur London am Zug, sondern auch ein wenig New York. »Ich weiß nicht, wie sich die Wiedererweckung bei euch angefühlt hat, weil ich neu bin und ungern Fragen stelle, aber bei mir war’s ne reine Qual, und ich wünschte nur, ich hätte den Mut gehabt, Suzaku zu sagen: ›Ich möchte Zombie bleiben, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Die Alpträume sind mir lieber.‹ Aber ich nahm die Wiedererweckung hin, weil man mich 111
Höflichkeit gelehrt hatte, und weil in mir so ein unbegreiflicher Dämon steckt, der immer nur leben möchte, und ich stellte fest, daß ich mich immer noch wie ein Zombie fühlte, obwohl ich herumsausen konnte, und daß ich auch die Alpträume noch hatte, außer daß sie ein gutes Stück lebhafter geworden waren. Ich war wieder ein junges Mädchen, und wahrscheinlich wünscht sich jede Frau, siebzehn zu sein, aber innerlich war ich nicht siebzehn – ich war eine Frau, die 1929 in New York an der Brightschen Krankheit starb und die, weil eine Große Veränderungslinie meine Lebenslinie in eine neue Richtung blies, 1955 im nazibesetzten London an der gleichen Krankheit ein zweitesmal starb, weitaus langsamer, weil der Alkohol um einiges knapper war, wie ihr euch vorstellen könnt. Ich mußte mit beiden Erinnerungswelten leben, und die Veränderungswelt hat sie nicht ausgelöscht, wie sie das angeblich bei jedem Dämon tut; und sie drängte sie nicht einmal in den Hintergrund, was ich mir erhofft hatte. Wenn so ein Veränderungsknabe zu mir sagte: ›Hallo, Schönheit, wie wär’s mit einem Lächeln?‹ oder ›Das ist aber ein schmuckes Kleid, Kind‹ – schon lag ich wieder im Bellevue-Krankenhaus und schaute auf meinen geschwollenen Körper hinunter, und das Licht stach wie Eiszapfen auf mich ein, oder ich befand mich in dem miesen Schlafzimmer in Stepney, wo sich Phyllis neben mir zu Tode hustete, oder bestenfalls war ich eine Sekunde lang ein kleines Mädchen in Glamorgan, das die Straße der Römer betrachtete und an das wunderbare Leben dachte, das vor ihm lag.« Ich sah Erich an und erinnerte mich, daß auch er eine lange, unangenehme Zukunft vor sich hatte, drüben im Kosmos, und er lächelte ohnehin nicht, und ich dachte, vielleicht lernt er jetzt ein wenig Demut bei der 112
Erkenntnis, daß noch jemand zwei solche Zukunftslinien hat, aber ich bezweifelte das eigentlich. Lili fuhr gepreßt fort: »In allen drei Leben bin ich ein Mädchen gewesen, daß sich in einen großen jungen Dichter verliebte, den sie nie kennengelernt hatte, die Stimme der neuen Jugend und aller Jugend, und sie brachte ihre erste große Lüge vor, um in das Rote Kreuz und hinüber nach Frankreich zu kommen, damit sie näher bei ihm war, und das Ganze war Gefahr und dunkler Zauber und ein Ritter in schimmernder Rüstung, und sie stellte sich vor, wie sie ihn verwundet auffand, aber nicht ernsthaft verletzt, eine kleine Bandage um den Kopf, und sie wollte ihm eine Zigarette anzünden und leise lächeln, ohne ihn ihre wahren Gefühle ahnen zu lassen, sondern sie wollte sich nur im besseren Licht präsentieren und sehen, ob das bei ihm etwas auslöste …« Und dann zerfetzten ihn die Maschinengewehre der Boches bei Passchendaele, und die Bandagen reichten nicht aus, und das Mädchen blieb innerlich siebzehn und wurschtelte sich durch und versuchte lasterhaft zu sein, obwohl sie sich dabei nicht sehr geschickt anstellte, und versuchte zu trinken, und da war das Talent schon etwas größer, obwohl sich zu Tode zu trinken nicht annähernd so einfach ist, wie es sich anhört, auch nicht mit einer Nierenschwäche zur Unterstützung. Aber sie schaffte es. Dann kräht plötzlich ein Hahn. Sie erwacht zusammenfahrend aus den grauen Todesträumen, die ihre Lebenslinien erfüllen. Es ist ein kalter Morgen. Der Geruch eines französischen Bauerhofes. Sie betastet ihre Fußgelenke, und sie sind ganz und gar nicht wie Gummistiefel voller Wasser. Sie sind nicht im geringsten geschwollen. Es sind ganz junge Beine. Da ist ein kleines Fenster, und die Wipfel einer 113
Baumreihe, bei denen es sich um Pappeln handeln könnte, wenn da mehr Licht wäre; bei der geringen Helligkeit kann sie jedenfalls Liegen wie ihre eigene erkennen und Köpfe unter Decken, und Uniformen hängen da, die große Schatten werfen, und ein Mädchen schnarcht. Ein fernes Grollen ertönt, das ein wenig das Fenster erzittern läßt. Dann erinnert sie sich, daß sie Rotkreuz-Mädchen sind, viele, viele Kilometer von Passchendaele entfernt, und daß Bruce Marchant im Morgengrauen dieses Tages sterben wird. In wenigen Minuten wird er über den Hügel kommen, wo ein kurzgeschorener Maschinengewehrschütze zielt und seine Waffe ein wenig herumschwingt. Sie jedoch wird heute nicht sterben. Sie wird 1929 und 1955 sterben. Und als sie gerade durchdrehen will, ertönte ein Knacken, und in dem Schatten erscheint ein Japaner mit einer Frauenfrisur, undenkbar bleich und mit tiefschwarzen Augenbrauen. Er trägt einen rosafarbenen Umhang und eine schwarze Binde, die an seiner Hüfte zwei Samuraischwerter hält, doch in der Rechten führt er eine seltsame Silberpistole. Und er lächelt sie an, als wären sie Bruder und Schwester und Liebende zugleich, und er sagt: ›Voulez-vous vivre, mademoiselle?‹ und sie starrt ihn an und er schwenkt den Kopf auf und nieder und sagt: ›Missy will leben, ja, nein?‹ Sids Finger schlossen sich langsam um meine zitternden Hände. Es geht mir sehr an die Nieren, wenn ich von der Wiedererweckung anderer Leute höre, und obwohl meine weitaus verrückter vonstatten ging, hatten auch die Krauts damit zu tun. Ich hoffte, sie würde den Rest des Standardvorgangs übergehen, und das tat sie auch. »Fünf Minuten später ist er eine Treppe hinabgegangen, die eher wie eine Leiter aussieht, um unten zu warten, und sie kleidet sich in aller Hast an. Ihre Kleidung 114
leistet ein wenig Widerstand, als haftete sie am Haken und an der schmutzigen Wand, und sie berührt sie höchst ungern. Es wird heller, und ihre Liege sieht aus, als schliefe dort noch jemand, obwohl sie doch leer ist, und sie bringt es nicht über sich, ihre Hand darauf zu legen, auch wenn ihr neues Leben davon abhinge. Sie steigt hinab, und ihr langer Rock macht ihr nichts aus, denn sie weiß sich darin zu bewegen. Suzaku führt sie vorbei an einem Wächter, der sie nicht sieht, und an einem Bauern mit geschwollenem Gesicht, der sich fast umbringt vor Husten und Spucken. Sie gehen über den Hof, und er ist von einem rosa Licht erfüllt, und sie sieht, daß die Sonne aufgegangen ist, und sie weiß, daß Bruce Marchant eben verblutet ist. Ein leerer Tourenwagen steht dort, laut im Leerlauf vibrierend, auf jemanden wartend; er hat riesige schlammbespritzte Räder mit Holzspeichen und einem Messingkühler, auf dem ›Simplex‹ steht. Aber Suzaku führt sie daran vorbei auf einen Misthaufen zu und verbeugt sich entschuldigend, und sie tritt durch eine Tür.« An der Bar hörte ich Erich zu den anderen sagen: »Wie rührend! Soll ich euch jetzt mal von meiner Operation erzählen?« Aber einen großen Lacher erzielte er damit nicht. »So kam Lilian Foster in die Veränderungswelt mit ihren stählernen Alpträumen und ihrem tödlichen Tempo und den tödlichen Anstrengungen. Ich war lebendiger als je zuvor, aber es war eine Art Leben, wie sie eine Leiche von ständigen elektrischen Schocks gewinnen mag, und ich konnte keinen Lebenssinn und auch keine Hoffnung finden, und Bruce Marchant schien ferner denn je. Dann, kaum sechs Stunden ist das her, kam ein Soldat in schwarzer Uniform durch die Tür, und ich dachte: ›Das ist doch unmöglich, aber er sieht aus wie auf den 115
Photos‹, und dann glaubte ich jemanden den Namen Bruce sagen zu hören, und dann brüllte er, als sei die ganze Welt sein Publikum, daß er Bruce Marchant sei, und da wußte ich, daß es eine Wiedererweckung jenseits aller Wiedererweckung gibt, eine wirkliche Wiederauferstehung. O Bruce …« Sie sah ihn an, und er weinte und lächelte, und all die junge Schönheit kam wieder in ihr Gesicht geströmt, und ich dachte: »Es müssen die Veränderungswinde sein, aber das geht doch nicht. Reiß dich zusammen, Greta, und sieh der Tatsache ins Gesicht – es gibt etwas, das größere Wunder bewirkt als die Veränderung.« Und sie fuhr fort: »Und dann erstarben die Veränderungswinde, als die Schlangen den Versorger auflösten oder die Geistermädchen ihn introvertierten und alle drei so schnell und lautlos verschwanden, daß auch Bruce es nicht bemerkte – das sind die besten Erklärungen, die ich zusammenbekomme, und ich würde sagen, eine davon stimmt. Jedenfalls erstarben die Veränderungswinde, und meine Vergangenheit und meine beiden Zukunftslinien verwandelten sich in etwas, das ich leicht auf mich nehmen konnte, denn ich habe jemand, der sie mit mir teilt, und ich habe endlich eine richtige Zukunft, die sich vor mir erstreckt, eine unbekannte Zukunft, die ich schaffen werde, indem ich lebe. Oh, seht ihr denn nicht, daß wir sie alle nun haben, die großartige Gelegenheit?« »Hussa für Sidneys Suffragetten und die Frauenbefreiung!« ließ Erich hochleben. »Beau, spielst du uns ein Potpourri aus ›Herz und Blumen‹ und ›Vorwärts, Christliche Soldaten‹? Ich bin gerührt, Lili. Wo müssen wir anderen uns anstellen zur Großen Liebesaffäre des Jahrhunderts?«
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Das Jetzt ist eine ganz erträgliche Last. Was den Rücken krümmt, ist das zusätzliche Gewicht der Fehler der Vergangenheit und der Ängste vor der Zukunft. Ich musste es lernen, die Vordertür vor der Zukunft zu verschließen und die Hintertür vor dem Gestern und mich mit dem Hier und Jetzt einzurichten. ANONYM
12 Eine große Gelegenheit Niemand lachte über Erichs verquerem Sarkasmus. Trotzdem dachte ich: »Ja, ins Grab mit seinem hysterischen grauen Kopf, aber er hat halb recht – Lili hat eine große Sache laufen, und sie will sie uns anderen auf dem Tablett servieren, nur läßt sich Liebe nicht so aufbereiten und tranchieren.« Ihre Ideen über den Versorger waren dabei gar nicht mal übel, besonders die über die Geistermädchen als Verantwortliche für die Introversion – das erklärte, warum es kein Introversionstraining geben konnte, daß die Bemerkungen im Handbuch über das blaue Blitzen reine Täuscherei waren, und daß es durchaus unbemerkt bleiben konnte, wenn etwas ohne Bewegung oder Transition verschwindet – und ich nehme an, daß das den anderen nun auch zu denken gab, denn Erichs verzweifelte Bissigkeit blieb ohne Echo. Aber ich begriff ehrlich nicht, worin die große Gelegenheit bestehen sollte, wo wir doch hier in einem grauen Sack der Leere abgeschnitten waren, und ich begann zu überlegen und hatte ein ganz komisches Gefühl, und ich sagte mir: »Halt den Hut fest, Greta. Es ist die Hoffnung.« 117
»Das Schlimme an der Existenz als Dämon ist doch, daß man den ganzen Bereich der Zeit durchstreifen kann«, sagte Lili lächelnd. »Man kann niemals die Hintertür vor dem Gestern oder die Vordertür vor dem Morgen verschließen und einfach nur in der Gegenwart leben. Aber jetzt hat jemand eben das für uns getan: die Tür ist geschlossen, wir brauchen die Vergangenheit oder die Zukunft nie wieder ein zweitesmal durchzukauen. Die Spinnen und Schlangen können uns nie finden – oder hat schon mal jemand davon gehört, daß eine wirklich verlorengegangene Station gerettet wurde? Und Leute, die es wissen müssen, haben mir das gesagt. Die Introversion ist das Ende, was die Menschen draußen betrifft. Wir sind also in Sicherheit vor den Spinnen und den Schlangen, wir brauchen nie wieder Sklaven oder Feinde zu sein, und wir haben eine Station, in der wir unser neues Leben leben, der Ort, der seit Anbeginn für uns bereitet war.« Sie hielt inne. »Gewiß versteht ihr doch, was ich meine? Sidney und Beauregard und Dr. Pjeschkow sind es, die mir das erklärt haben. Die Station ist ein ausbalanciertes Aquarium – wie der Kosmos. Niemand weiß, wie viele Zeitalter der Großen Zeit sie schon in Gebrauch ist, ohne daß neues Material hinzugefügt wurde – nur Luxusartikel und Menschen – und ohne Ausstoß von Abfall. Niemand weiß, wie viele weitere Zeitalter sie das Leben noch schützt. Ich habe noch nie gehört, daß sich ein Nebenversorger erschöpft hätte. Wir haben all die Zukunft und all die Sicherheit, die man sich nur wünschen kann. Wir haben einen Ort, an dem wir zusammen leben können.« Wissen Sie, sie hatte ganz recht, und ich machte mir klar, daß ich die ganze Zeit im Unterbewußtsein überzeugt gewesen war, daß wir ersticken oder sonst etwas 118
erleiden würden, wenn wir nicht schnell eine Tür errichten konnten. Ich von allen hätte es besser wissen sollen, denn ich war einmal fast hundert Schlafperioden lang ohne Tür hier in der Station, weil wir eine Versteckperiode im Veränderungskrieg hatten, und wir hatten unsere Wiedergewinnungsanlage aktivieren müssen, und alles hatte geklappt. Und da mein Geist nun mal so arbeitet, begann ich mir auch in schnellen Bildern die Folgen unseres Zusammenlebens vorzustellen, wir alle, wie Lili gesagt hatte. Ich begann die Leute in Paaren aufzuteilen; es ging nicht anders. Also – vier Frauen, sechs Männer; zwei AIs. »Greta« sagte ich mir, »du wirst bestimmt Miss Polly Andry. Wir haben jeden Tag eine Zeitung und Volkstanzunterricht, wir schließen tagsüber die Bar, und Bruce wird eine gereimte Geschichte der Station schreiben.« Obwohl ich wußte, daß das mehr als blöd war, dachte ich auch an Schule und an Kinder. Ich fragte mich, wie Siddys Nachkommen aussehen würden oder die Kinder meines kleinen Kommandanten. »Geht nicht zu nahe an die Leere heran, meine Kleinen.« Natürlich würde es den beiden AIs besonders schwer fallen, aber zumindest Siebensee war ja gar nicht so andersartig, und die Genetik-Knaben hatten schon wunderbare Fortschritte gemacht, und Maud müßte darüber Bescheid wissen, und es gab da einige erstaunliche Geräte in der Krankenabteilung, wenn Doc erst mal ausgenüchtert war. Das Poltern kleiner Hufe … »Mein Verlobter hat davon gesprochen, eine Friedensbotschaft in den übrigen Kosmos zu tragen«, fügte Lili hinzu, »und der Großen Veränderung ein Ende zu bereiten und alle Wunden zu heilen, die in die Kleine Zeit gerissen wurden.« 119
Ich sah Bruce an. Sein Gesicht war verkniffen und angespannt, wie es auch den Besten ergeht, wenn das eigene Mädchen über die Angelegenheiten ihres Mannes zu reden beginnt, und ich weiß nicht, wieso, aber ich sagte mir: »Sie kreuzigt ihn, sie nagelt ihn an das Kreuz ihrer Absichten, wie es eine Frau so an sich hat, auch wenn das wie jetzt wenig sinnvoll ist.« Und Lili fuhr fort: »Das war zwar ein wunderbarer Gedanke, aber jetzt können wir keine Nachrichten empfangen oder aussenden, und ich meine, es wäre ohnehin zu spät, eine Friedensbotschaft könnte nichts mehr nützen. Der Kosmos ist viel zu zerfasert nach all der Veränderung, die Entwicklung ist zu weit fortgeschritten. Er wird sich auflösen, vergehen, spurlos. Wir sind die Überlebenden, die Fackel der Existenz ist uns in die Hand gegeben. Vielleicht sind wir schon die letzten Überreste des Kosmos, denn habt ihr schon einmal überlegt, daß die Veränderungswinde vielleicht bereits am Ausgangspunkt erstorben sind? Wir erreichen womöglich nie einen anderen Kosmos, wir treiben vielleicht ewig in der Leere, aber wer von uns ist schon einmal introvertiert gewesen und weiß also, was wir tun können und was nicht? Wir sind ein Same, aus dem eine neue Zukunft erwachsen kann. Vielleicht stoßen alle zum Untergang verdammten Universen Keime ab wie diese Station. Sie ist ein Same, ein Embryo, lassen wir sie wachsen.« Sie warf einen schnellen Blick in Bruces Richtung und dann zu Sid, und sie zitierte: »Kommt, meine Freunde, es ist nicht zu spät, eine neuere Welt zu suchen.« Ich drückte Sids Hand und wollte ihm etwas sagen, aber er hatte mich vergessen; er hörte Lili zu, wie sie Tennyson aufsagte, und seine Augen waren verzückt, 120
und sein Mund war geöffnet, als stellte er sich neue Dinge vor, die er hineinstecken könnte – o Siddy! Und dann merkte ich, daß die anderen sie ebenso anschauten. Ilhilihis sah schönere Federwälder, als es sie auf dem toten Mond je gegeben hatte. Das Gewächshauskind Maud Davies flog an Bord eines Raumschiffes, das auf eine andere Galaxis zuhielt, oder stellte sich vor, wie anders ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie auf den Planeten geblieben wäre und sich aus der Veränderungswelt herausgehalten hätte. Selbst Erich sah aus, als wollte er neue Universen erobern, die Markus befrieden könne, für einen achtbeinigen Führer. Beau beschwor sich einen breiteren Mississippi mit einem überlebensgroßen Raddampfer herauf. Und sogar ich – nun, ich träumte nicht von einem größeren Chicago. »Tun wir doch nicht so scharf auf solche Sachen«, sagte ich mir, aber ich blickte zur Leere hinauf, und ein Schauder lief mir über den Rücken, weil ich das Gefühl hatte, sie zöge sich zurück, und die Station begänne zu wachsen. »Ich habe das wirklich so gemeint, das mit dem Samen«, fuhr Lili langsam fort. »Wie uns allen ist mir bewußt, daß es in der Veränderungswelt keine Kinder gibt, daß es sie nicht geben kann, daß wir augenblicklich steril werden, daß wir Mädchen von etwas befreit werden, das ein Fluch geheißen wird, daß wir nicht mehr dem Rhythmus des Mondes unterliegen.« Na gut, da hatte sie recht – wenn es etwas gibt, das in der Veränderungswelt eine Million mal unter Beweis gestellt wurde, dann das. »Aber wir sind nicht mehr in der Veränderungswelt«, sagte Lili leise, »und ihre Beschränkungen dürften auf uns nicht mehr zutreffen, so auch nicht diese. Ich bin mir dessen recht sicher, aber …« sie sah sich langsam um – »wir sind hier vier Frauen, und ich denke mir, 121
daß eine von uns in diesem Punkt einen ganz besonderen klaren Anhaltspunkt hat.« Mein Blick folgte dem ihren, was ganz natürlich war. Tatsächlich schaute sich jeder um außer Maud, und sie trug einen Ausdruck dümmster Überraschung zur Schau und rutschte nun sehr vorsichtig von ihrem Barhocker, die Strickerei in der Hand. Sie betrachtete den halbfertigen rosa Büstenhalter, in dem die langen weißen Nadeln steckten, und die Augen traten ihr noch etwas weiter aus dem Kopf, als ob sie damit rechnete, daß sich das Kleidungsstück an Ort und Stelle in einen Babypullover verwandeln würde. Dann ging sie quer durch die Station zu Lili hinüber und stellte sich neben sie. Während des Gehens wurde der Ausdruck der Überraschung von einem stillen Lächeln abgelöst. Was sie noch tat, war ein minimales Straffen der Schultern. Eine Sekunde lang war ich eifersüchtig auf Maud, aber es war immerhin ein doppeltes Wunder für sie, wo sie doch so alt war, und ich konnte ihr das nicht neiden. Und um die Wahrheit zu sagen, ich hatte auch ein wenig Angst. Schon bei Dave hatte mir dieses Babykriegen immer Sorgen gemacht. Und doch stand ich zusammen mit Siddy auf – ich konnte mich nicht bremsen und er wohl auch nicht –, und Hand in Hand gingen wir zum Kontrolldiwan. Beau und Siebensee waren dort und natürlich auch Bruce, und dann, ehrlich, setzten sich unsere Soldaten bis in den Tod, Kaby und Markus, von der Bar her in Bewegung, und in ihren Augen entdeckte ich nichts mehr von dem großen Ruhm Kretas und Roms, sondern einen Ausdruck, der nur sie selbst anging, und gleich darauf löste sich auch Illy vom Klavier und folgte nach, seine Tentakel auf dem Boden hinter sich herziehend. 122
Ich konnte mir nicht recht vorstellen, daß er in dieser Gesellschaft auf kleine Illies hoffte, sofern die Witze über die Lunaner nicht doch stimmten, aber vielleicht war er wirklich uninteressiert, vielleicht aber auch nicht; vielleicht dachte er sich auch nur, daß Illy auf der Seite mit den größten Bataillonen stehen sollte. Ich hörte schlurfende Schritte hinter uns, und da kam Doc aus der Galerie und hielt mit verschränkten Armen eine abstrakte Plastik, von der Größe eines Neugeborenen. Sie war eine Anhäufung schimmernd grauer Kugeln groß wie Golfbälle, die so etwas wie ein großes Gehirn bildeten, in dem sich aber hier und dort Löcher auftaten. Er hielt uns das Ding entgegen wie ein Säugling, der bewundert werden sollte, und bewegte Lippen und Zunge, als ringe er verzweifelt um Worte, obwohl nichts Verständliches dabei herauskam, und ich dachte: »Maxim Alexejetisch mag ja stinkbesoffen sein und alle möglichen Löcher im Gehirn haben, aber seine Instinkte stimmen, gepriesen sei sein sentimentales kleines russisches Herz.« Wir alle drängten uns um den Kontrolldiwan wie eine Football-Mannschaft beim Köpfezusammenstecken. Friedensteam, so wollte es mir scheinen. Siebensee würde in der Verteidigung oder Mitte spielen und Illy als Linksaußen – was für ein Fänger! Auch die Kopfzahl stimmte! Erich war allein an der Bar, aber jetzt kam auch er – »O nein, das kann doch nicht sein«, dachte ich – sogar er kam jetzt auf uns zu. Dann sah ich, daß sein Gesicht ziemlich in Bewegung war, wie ich es noch nie gesehen hatte. Er blieb auf halbem Wege stehen und zwang sich zu einem Lächeln, aber auch das fiel fürchterlich aus. »So typisch mein kleiner Kommandant«, dachte ich. »Kein Teamgeist.« »Also haben Lili und Bruce – ja, und Großmütterchen Maud – jetzt ihr kleines Nest«, sagte er, und seine 123
Stimme war gar nicht weit von einem schrillen Mißklang entfernt. »Aber was sollen wir anderen sein – Vogelscheuchen?« Er krümmte den Hals und schlug die Hände auf und ab und krächzte: »Kuckuck! Kuckuck!« Und ich sagte mir: »Ich hab mir ja oft gedacht, daß du verrückt bist, jetzt weiß ich’s aber bestimmt.« »Teufelsdreck! – Ja! Aber ihr alle scheint von diesen Kinderträumen angesteckt zu sein. Seht ihr denn nicht, daß die Veränderungswelt das natürliche und richtige Ende der Evolution ist? – eine Periode des Genusses und des Abwiegens, ein letztes Zurechtrücken der Dinge, das die Frauen Vernichtung nennen – ›Hilfe, ich werde vergewaltigt!‹ – ›Oh, was tun sie meinen Kindern an?‹ – das die Männer aber als Erfüllung ansehen. Ihr habt in der Götterdämmerung hübsche Rollen zugeteilt bekommen, und ihr geht nun zum Autor hinüber und klopft ihm auf die Schulter und sagt: ›Entschuldigen Sie, Herr Wagner, aber dieses Stück ist ein bißchen zu morbid. Warum schreiben Sie mir keine Oper über die Kinder, die süßen kleinen, blauäugigen Lockenköpfchen? Handlung? Oh, Junge trifft Mädchen, und sie tun sich zusammen, um Nachkommen zu haben, etwas in der Art.‹ Ach was, Teufelsdreck! Habt ihr schon mal überlegt, wie das Leben sein muß ohne Tür, die man durchschreiten kann, um Freiheit und Abenteuer zu finden, um seinen Mut und seine Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen? Wollt ihr euch graue Bärte wachsen lassen und ewig in diesem ungestülpten Asteroiden herumschleichen? Wollt ihr bis ans Ende eurer Tage hier drinnen bleiben und über kleine Baby-Kosmen reden? – übrigens mit einer scharfen Bombe als Gesellschafter. Die Höhle, der Mutterleib, das kleine graue Nestheim – wollt ihr das? Es wird wachsen? O ja, wie die Stadt, 124
die den wilden Wald umschließt, ein Auswuchs von Kindern, Kirche, Küche – daß ich das noch erlebe! Frauen! – wie ich ihre schimmernden Augen hasse, wenn sie mich vom Kamin her ansehen, mit gebeugten Schultern, im Schaukelstuhl sitzend, glücklich über ihr Alter, wie sie sagen: ›Er wird schwach, er läßt nach, bald muß ich ihn ins Bett legen und jede Kleinigkeit für ihn tun.‹ Ihre schmutzige Dreifache Göttin, Kaby, Gebärende, Braut und Beerdigerin des Mannes! Frau, die Schwachmachende, die Kettenanlegende, die Verkrüppelnde! Frau! – und die lockigen kleinen Krebsgeschwüre, die sie haben will!« Er schwankte auf uns zu und deutete dabei auf Lili. »Ich habe keine erlebt, die einen Mann nicht zum Krüppel machen wollte, wenn man ihr die Chance gab. Mach ihn zum Krüppel, lege ihn in Windeln, beschneide seine Flügel, verarbeite ihn zu Wurst, damit ein anderer Mann daraus wird, ihr Mann, eine Marionette. Du hast den Versorger versteckt, du kleine Mutterhenne, damit du dein Nestchen und deinen Brucie bekommst!« Er hielt schweratmend inne, und ich erwartete jeden Augenblick, daß ihm jemand eins auf die Nase gab, und das erwartete er wohl auch. Ich wandte mich an Bruce, und er starrte ins Leere, ich weiß nicht wie – entschuldigend, schuldbewußt, besorgt, wütend, erschüttert, angeregt, dies alles zugleich, und ich wünschte, daß die Menschen manchmal einfache Reaktionen hätten wie in den Magazinen. Dann beging Erich den Fehler, wenn es ein Fehler war, sich Bruce zuzuwenden und langsam auf ihn zuzutaumeln und dabei mit den Händen durch die Luft zu fahren, als wollte er dem anderen im nächsten Augenblick in die Arme fallen, und er sagte: »Laß dich nicht von ihnen schnappen, Bruce. Laß dich nicht fesseln. 125
Laß dich nicht beschneiden – in Worten oder Taten. Du bist Soldat. Auch als du von der Friedensbotschaft sprachst, ging es doch wenigstens um etwas, das du selbst in die Hand nehmen und zerschlagen wolltest. Was du auch denkst oder fühlst, Bruce, wie sehr du auch lügst und wieviel du versteckst, du stehst nicht wirklich auf ihrer Seite.« Und das ließ das Faß überlaufen. Es geschah nicht im richtigen Augenblick oder wohl auch nicht im rechten Geiste, um mir zu gefallen, aber ich muß zugunsten von Bruce anführen, daß er nichts versaute, indem er etwa stolperte oder seinen Schlag im letzten Augenblick noch abschwächte. Er machte einen Schritt vorwärts, und seine Schultern fuhren herum, und seine Faust fand sauber und hübsch ihr Ziel. Dabei sagte er nur ein Wort: »Loki«, und ich will verdammt sein, wenn mich das nicht augenblicklich an ein Lagerfeuer in den Dünen von Indiana zurückversetzte, wo mir meine Mutter aus den Sagen von dem bösartigen, spöttischen allesverderbenden nordischen Gott erzählte und wie er, als die anderen Götter ihm in seinem Versteck am Fluß eine Falle stellen wollten, gerade ein geheimnisvolles Netz fertig knotete, das groß genug war, so hatte ich mir vorgestellt, um das ganze Universum darin zu fangen, und daß er das sicher auch getan hätte, wenn sie nur eine Minute später gekommen wären. Erich lag auf dem Boden ausgestreckt, den Kopf etwas angehoben, und er rieb sich das Kinn und funkelte Bruce an. Markus, der neben mir stand, bewegte sich ein wenig, und ich dachte schon, er wollte eingreifen, wollte vielleicht Bruce nach dem alten Motto »Das kannst du mit meinem Kumpel nicht machen« attackieren, aber er schüttelte nur den Kopf und sagte: »Omnia 126
vincit amor.« Ich stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite und fragte: »Und das bedeutet?«, und er sagte: »Liebe schlägt alles.« Das hätte ich von einem Römer nie erwartet, aber er hatte tatsächlich halb recht. Lili hatte ihren Sieg; indem sie den frauenhassenden Freund ihres Mannes herausforderte, der sicher den Versuch gemacht hätte, ihn abends mit auf Tour zu nehmen. In diesem Augenblick sehnte sich Bruce wohl mehr nach Lili und nach einem Leben mit ihr als nach einer Reform der Veränderungswelt. Ja, wir Frauen haben auch unsere kleinen Siege – jedenfalls bis die Legionen kommen, oder der kleine Corporal seine Artillerie auffährt, oder die Panzer die Straße herabrollen. Erich rappelte sich wieder auf und stand halb gebeugt, halb geduckt da, rieb sich noch immer das Kinn und starrte Bruce über seine Hand hinweg finster an, ohne jedoch Anstalten zu machen, den Kampf fortzusetzen, und ich musterte sein Gesicht und sagte mir: »Wenn er jetzt eine Pistole in die Hand kriegt, erschießt er sich, ich weiß es.« Bruce wollte etwas sagen und zögerte, wie ich’s an seiner Stelle auch getan hätte, und gerade in diesem Augenblick hatte Doc eine seiner überraschenden Inspirationen und schwankte mit seiner Plastik auf Erich zu, wobei er Taubstummengeräusche machte wie schon gehabt. Erich sah ihn an, als wollte er ihn umbringen, packte dann die Skulptur, schwang sie über den Kopf und schmetterte sie zu Boden, und es war ein Wunder, aber das Ding zersprang nicht. Es rutschte unversehrt über den Boden und blieb einige Zentimeter vor mir liegen. Daß das Ding nicht zerbrach, gab Erich den Rest. Ich könnte schwören, ich sah die rote Wut durch seine Augen zum Gehirn aufsteigen. Er wirbelte zum Lager127
sektor herum und legte die wenigen Schritte zur Bombenkiste zurück. Ab da lief für mich alles in Zeitlupe, obwohl ich mich gar nicht bewegte. Fast alle begannen Erich nachzusetzen. Nur Bruce nicht; und Siddy wandte sich nach der ersten Vorwärtsbewegung schnell um, während Illy sich zum Sprung duckte, und es war zwischen Siebensees haarigen Schenkeln und Beaus dahinschnellenden weißen Beinen, daß ich wieder den übermäßig vergrößert wirkenden Kreis von Totenköpfen sah und beobachtete, wie Erichs Finger die Knöpfe in der Reihenfolge drückten, die Kaby angegeben hatte: eins, drei, fünf, sechs zwei, vier, sieben. Ich vermochte siebenmal zu flehen, daß er doch einen Fehler machen möge. Er richtete sich auf. Illy war wie eine silberne Riesenspinne auf der Truhe gelandet, und seine Tentakel peitschten sinnlos über den Deckel hin. Die anderen wogten um die Truhe herum und kamen erschrocken zum Stillstand. Erich atmete schwer, aber seine Stimme war kühl und gesammelt, als er jetzt sagte: »Sie haben etwas davon gesagt, daß wir eine Zukunft hätten, Miss Foster. Jetzt können Sie das präzisieren. Wenn wir nicht in den Kosmos zurückgehen und diese Truhe loswerden oder einen A-Techniker der Spinnen finden oder das Hauptquartier wegen Anweisung zur Entschärfung der Bombe anrufen, haben wir eine Zukunft, die noch genau dreißig Minuten lang ist.«
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Aber woher er kam und welcher Leib ihn trug, Ob eines Tieres oder der Erde Schoß, ist ungehört, Gewiß jedoch hat Milch von Wolf und Tiger ihn genährt. Spencer
13 Der Tiger ist los Wenn mal wirklich der Knopf gedrückt oder der Hebel herumgelegt wird, oder wenn die Falle zuschnappt oder der Strahler aufblitzt oder sonstwas, dann wird man wohl doch nicht so leicht ohnmächtig oder verrückt oder sonst etwas Passendes. Ich tat’s jedenfalls nicht. Alles, alle, jedes Wort, das geäußert wurde, war schmerzlich real, als hätte tief in meinem Inneren eine Hand zugepackt und drehte etwas herum, und ich sah jedes winzige Detail wie unter einem Scheinwerfer und unheimlich vergrößert, wie schon die sieben Schädel. Erich stand hinter der Bombenkiste; ein Lächeln kräuselte in Wellen über seine Lippen. Ich hatte ihn noch nie so aktiv erlebt. Illy stand neben ihm, doch nicht etwa auf seiner Seite, Sie verstehen schon. Markus, Siebensee und Beau hielten sich auf dieser Seite nahe der Bombe auf. Beau hatte sich auf ein Knie gestützt und starrte aus wenigen Zentimetern Entfernung intensiv auf die Truhe, und das Entsetzen, das er unter Kontrolle hatte, trieb ihn ein wenig näher an sein Ziel heran, als für einen deutlichen Blick nötig war; zugleich hielt er die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wohl um den Impuls zu unterdrücken, jeden in Sichtweite befindlichen Knopf zu aktivieren, der die Bombe womöglich entschärfen konnte. 129
Doc lag mit dem Gesicht nach unten auf der nächsten Couch, völlig weggetreten, wie ich annahm. Wir vier Mädchen standen noch am Kontrolldiwan. In Kabys Fall überraschte mich das, weil sie ganz und gar nicht erschrocken und erstarrt wirkte, sondern fast so intensiv aufmerksam wie Erich. Sid hatte sich umgedreht, wie ich schon sagte, und hatte eine Hand in unsere Richtung ausgestreckt, ohne allerdings den Nebenversorger zu berühren, und auf seinem bärtigen Gesicht stand ein Ausdruck, als riefe er Tod und Vernichtung auf jeden versoffenen Schurken herab, der je von King’s Lynn nach Cambridge und London gezogen war, und ich machte mir auch den Grund klar: Wenn er eine Sekunde eher an den Nebenversorger gedacht hätte, hätte er Erich mit erhöhter Schwerkraft festnageln können, ehe er an die Knöpfe herankam. Bruce stützte eine Hand auf die Lehne des Kontrolldiwans und musterte die Gruppe um die Bombe, musterte Erich, wie ich mir dachte, als hätte er etwas Wunderbares für ihn getan, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, geschmeichelt zu sein, von jemanden zu einer Selbstmordparty eingeladen zu werden. Bruce wirkte alles in allem viel zu verträumt, Brahma nehme sich seiner an, für jemanden, der den gleichen schmerzenden Gedanken im Kopf haben mußte, den wir alle verspürten: daß die Station in neunundzwanzig Minuten oder so eine Minisonne sein würde. Erich war der erste, der zur Sache kam, wie ich gleich gewettet hätte. Er hatte uns in seinen Bann geschlagen und wollte das keineswegs aus der Hand geben. »Na, wann fangen wir an, Lili auszuquetschen, wo sie den Versorger versteckt hat? Sie muß es gewesen sein – denn sie war sich bei ihrer kleinen Rede zu si130
cher, daß er auf ewig verschwunden war. Und Bruce muß von der Bar aus gesehen haben, wer den Versorger nahm – und wen würde er schützen, außer seinem Mädchen?« Da machte er sich doch tatsächlich meine Gedanken zu eigen, aber ich war durchaus bereit, ihm das Urheberrecht daran zu überlassen, wenn er damit den richtigen Löscher fand für die Zeitbombe. Er warf einen Blick auf sein Handgelenk. »Nach meinem Rufgerät habt ihr neunundzwanzig und eine halbe Minute, einschließlich der Zeit, die wir brauchen, um eine Tür zu errichten und Verbindung zum Hauptquartier aufzunehmen. Wann beschäftigt ihr euch endlich mit dem Mädchen?« Bruce lachte ein wenig – abschätzend, tatsächlich – und ging auf ihn zu. »Hör mal, alter Knabe«, sagte er. »Es besteht kein Grund, Lili zu belästigen oder das Hauptquartier zu bemühen. Wirklich ganz und gar nicht. Ganz zu schweigen davon, daß deine Vermutungen überhaupt ziemlich unbegründet sind, alter Freund, und ich bin ein wenig überrascht, daß du sie überhaupt aussprichst. Aber das ist schon in Ordnung, weil ich Atomtechniker bin und schon mit dieser Bombe gearbeitet habe. Um sie zu entschärfen, muß man nur ein wenig an diesen Schaltern herumfummeln, an den geschwungenen kleinen Kreuzen. Hier, laß mich mal …« Allah il Allah, das schien nun auch den anderen zu dick aufgetragen, ein zu britisch-kühner Bluff, denn Erich brauchte gar nichts zu sagen; Markus und Siebensee griffen Bruces Arme, jeder auf einer Seite, als er sich über die Bronzetruhe beugte, und sie gingen nicht gerade sanft mit ihm um. Dann ergriff Erich das Wort. »O nein, Bruce. Es ist zwar sehr galant von dir, dein 131
Mädchen schützen zu wollen, aber wir lassen uns nicht achtundzwanzig Minuten zu früh in kleine Atomchen zerblasen, nur weil du an den Knöpfen herumpfuschst – eben das, wovor Benson-Carter gewarnt hat – und auf ein kleines Wunder hoffst. Deine Geschichte ist zu mager, Bruce, wo du doch aus dem Jahre 1917 kommst und kaum hundert Schlafperioden lang in der Großen Zeit mitmachst und noch vor ein paar Stunden selber nach einem A-Techniker geschrien hast. Viel zu mager ist das. Bruce, es wird etwas geschehen, das dir sicher nicht gefällt, aber du wirst dich damit abfinden müssen. Es sei denn, Miss Foster entschließt sich zur Einsicht.« »Also wirklich, Leute, nun laßt schon los«, verlangte Bruce und wehrte sich problemhalber ein wenig. »Ich weiß, das ist schwer zu begreifen, und als ich nach dem A-Techniker fragte, habe ich einen falschen Eindruck hervorgerufen. Aber vorhin, da wollte ich nur eure Aufmerksamkeit auf mich ziehen; ich brauchte ja gar nicht an der Bombe zu arbeiten. Wirklich, Erich, hätte man Benson-Carter Befehl gegeben, uns mitzunehmen, wenn nicht einer von uns A-Techniker wäre? Einer hätte bei dem Einsatz bestimmt dabei sein müssen.« »Wenn die allgemeine Taktik ohnehin nur noch Flickwerk ist?« zitierte ihn Erich grinsend. Kaby neben mir sagte: »Benson-Carter war ein Materiemagier, und er sollte den Einsatz als alte Frau verkleidet mitmachen. Wir haben den Umhang und die Haube mit und die anderen Kostüme«, und ich fragte mich, wie es sein konnte, daß dieses kalte Stück Offiziersfrau das gleiche Mädchen war, das noch vor zehn Minuten Markus verliebte Blicke geschenkt hatte. »Nun?« fragte Erich, blickte auf sein Rufgerät und ließ dann seinen Blick im Kreis wandern, als müßte hier doch etwas von der alten Wehrmachtshärte zu finden sein. Wir alle starrten unwillkürlich auf Lili, und 132
sie selbst wirkte so wach, so auf dem Sprunge, so gewieft, daß ich zumindest die feste Überzeugung gewann, Erichs Theorie über den Versorger stimmte auf jeden Fall. Bruce mußte gemerkt haben, in welche Richtung unsere Gedanken liefen, denn er begann sich ernsthaft zu wehren und rief zugleich: »Um Himmels willen, tut Lili nichts an! Laßt mich los, ihr Idioten. Was ich euch gesagt habe, stimmt – ich kann euch vor der Bombe retten. Siebensee, Sie haben sich gegen die Spinnen auf meine Seite gestellt; Sie haben nichts zu verlieren. Sid, Sie sind Engländer. Beau, Sie sind ein Gentleman, und Sie lieben sie auch – um Himmels willen, haltet sie auf!« Beau warf einen Blick über die Schulter auf Bruce und die anderen, die um ihn herumwimmelten, und er hatte sein Pokergesicht aufgesetzt. Bei Sid konnte ich erkennen, daß er wieder einmal durch die Hölle der Entscheidung ging. Beau kam als erster zu einem Entschluß, und ich mußte ihm bescheinigen, daß er schnell und klug danach handelte. Aus seiner knienden Position heraus, noch ehe er den Kopf wieder zurückgewandt hatte, sprang er Erich an. Aber im Kosmos können außer dem Menschen auch andere Wesen Entscheidungen treffen und schnell handeln. Beau hatte seine Bewegung noch nicht vollendet, als Illy schon auf ihm landete und seine Tentakel fest um ihn wickelte, und die beiden kreiselten herum wie eine besoffene weiß-silberne Friseurstange. Beau schaffte es, beide Hände um je einen Tentakel zu legen, doch gleichzeitig begann sein Gesicht pupurn anzulaufen, und ich stöhnte innerlich bei den Qualen, die die beiden da durchmachten. Vielleicht hatte auch Siebensee einen Huf in Sids Hölle, weil Bruce sich von dem Satyr freimachte und Markus niederzuschlagen versuchte, aber der Römer 133
drehte ihm den Arm herum und hinderte ihn daran, einen klaren Schlag zu landen. Erich machte keine Anstalten, in die Kämpfe einzugreifen, was mal wieder typisch für meinen kleinen Kommandanten ist. Seine Fäuste bei jemand anders zu gebrauchen als bei mir ist unter seiner Würde. Dann traf Sid seine Entscheidung, doch ich vermochte nicht zu sagen, wie sie ausgefallen war, denn als er nach dem Nebenversorger griff, riß Kaby ihm das Gerät verächtlich aus der Hand und hieb ihm ein Knie in den Bauch, daß mich aus Mitgefühl zusammenklappen ließ und ihn in die Knie schickte, wobei er auf die Kämpfenden zurutschte. Aus der gleichen Bewegung heraus versetzte sie Lili, die ebenfalls hatte zugreifen wollen, einen schnellen rückhändigen Schlag, der das Mädchen auf den Diwan trieb. Erichs Gesicht erhellte sich wie eine Leuchtreklame, und sein Blick blieb an Kaby haften. Sie duckte sich ein wenig, verlagerte ihr Gewicht auf die Fußballen, dabei hielt sie den Nebenversorger fest im linken Arm, wie der Kapitän einer Basketballmannschaft, der einen Angriff plante. Dann schwenkte sie ihre freie Hand entschlossen nach rechts. Ich begriff das nicht – im Gegensatz zu Erich und Markus; Erich sprang in den Erholungssektor, und Markus ließ Bruce los und folgte ihm, wobei er sich geschickt Siebensees Arm entzog, der sich wieder in den Kampf stürzte, ohne daß ich wußte, auf welcher Seite. Illy löste sich von Beau und tat es Erich und Markus mit einem großen Satz nach. Dann drehte Kaby einen Knopf bis zum Anschlag, und Bruce, Beau, Siebensee und der arme Siddy wurden zu Boden gerissen und von etwa acht Gravos festgenagelt. Zu uns herüber hätte es leichter sein müssen – ich 134
hoffte, daß das der Fall war, aber so wie Siddy da lag, ließ sich das nicht erkennen; er fiel flach aufs Gesicht, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, eine Hand in meine Richtung gestreckt, so daß ich sie hätte berühren (aber nicht wieder loslassen!) können, und sein Mund war geöffnet an den Boden gedrückt, und er atmete durch die Mundwinkel, und ich konnte sehen, wie sein Rückgrat durch den Körper zu sinken versuchte. Bruce schaffte es, Kopf und Schulter ein wenig anzuheben, und sie alle erinnerten mich an eine Doré-Zeichnung des Infernos, wo die Creme der Verdammten im innersten Kreis der Hölle bis zu den Hälsen im Eis festgefroren ist. Die Schwerkraft erreichte mich nicht, obwohl ich sie in meinem linken Arm noch zu spüren bekam. Ich war zum größten Teil im Erholungssektor, doch ich ließ mich ebenfalls hinfallen, zum Teil aus einem verrückten Mitleid heraus, gegen das ich mich nicht wehren kann, aber hauptsächlich weil ich nicht wollte, daß Kaby mich auch noch zu Fall bringen konnte. Erich, Markus und Illy hatten sich in Sicherheit gebracht und kamen jetzt auf uns zu. Maud suchte sich diesen Augenblick aus, um ihren Versuch zu starten; sie hatte da keine große Auswahl, wenn sie überhaupt etwas tun wollte. Man sah ihr zum erstenmal an, wie alt sie war, aber ich überlegte, daß der Gedanke an ihr Wunder und an die Furcht vor der Minisonne bei ihr einiges wiegen mochte, und es hat ihr auch wohl viel bedeutet, denn sie sprang blitzschnell vor, in der Absicht, Kaby in die erhöhte Schwerkraft zu stoßen und mit der anderen Hand den Nebenversorger zu schnappen.
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Wie Diamanten, werden wir mit unserem eigenen Staub geschliffen. Webster
14 »Machst du jetzt den Mund auf?« Kreter haben Augen im Hinterkopf, oder sagen wir’s ganz offen: Gesellschafterinnen sind eben keine Soldaten. Kaby wich zur Seite aus, ließ hilfsbereit die Hand vorschnellen, und die arme alte Maud endete dort, wohin sie Kaby hatte schicken wollen. Es machte mich krank zu sehen, wie die Schwerkraft nach ihr griff und sie abwärts zerrte. Ich hätte nun aufspringen und zum vierten Opfer für Kaby werden können, aber wenn es um Dinge wie mein Leben geht, bin ich ganz und gar nicht mutig. Lili machte Anstalten, sich aufzurichten, sie schien ein wenig durcheinander zu sein. Sanft drückte Kaby sie zurück und sagte leise: »Wo ist er?«, dann holte sie aus und versetzte ihr einen klatschenden Schlag ins Gesicht. Mich berührte besonders die nüchterne Art und Weise, wie Kaby das tat. Ich kann verstehen, wenn jemand wütend wird und jemanden eine verpaßt oder sich sogar absichtlich in eine aufbrausende Stimmung bringt, um etwas Fieses zu tun, aber bei dieser kaltblütigen Art dreht sich mir der Magen um. Lili sah aus, als würde gleich ihr halbes Gesicht zu bluten beginnen, aber den verträumten Ausdruck hatte sie nicht mehr, und sie preßte die Lippen zusammen. Kaby griff nach Lilis Perlenhalsband und drehte es ihr am Hals zusammen und zerriß es dabei, und die Perlen tanzten wie Tischtennisbälle herum. Also zerrte Kaby das graue Seidenband herab, das Lili im Haar hatte, 136
und legte ihr das um den Hals. Lili begann durch ihre zusammengepreßten Lippen zu keuchen. Erich, Markus und Illy waren nähergetreten und drängten sich heran, aber sie schienen zufrieden zu sein mit der Arbeit, die Kaby leistete. »Hör mal, du Flittchen«, sagte sie, »wir haben keine Zeit. Es gibt eine Krankenabteilung hier. Ich kenne mich mit den Geräten aus.« »Da hätten wir’s also«, dachte ich und wünschte, ich könnte ohnmächtig werden. Zu allem anderen, zu der Todesgefahr, in der wir schwebten, mußten sie auch noch meinen ganz persönlichen Alptraum heraufbeschwören, das Entsetzen, das meinen Namen trug. Ich durfte nicht einfach in Frieden zersprengt werden. Nein, mit einer A-Bombe gaben sie sich nicht zufrieden. Sie mußten auch noch meine persönliche Hölle ins Drehbuch schreiben. »Da hätten wir einen Apparat, der Inverter genannt wird«, sagte Kaby, wie ich’s nicht anders erwartet hatte, aber wie ich’s auch nicht wirklich hörte – eine geistige Spaltung, die ich gleich erklären will. »Der öffnet dich, so daß man dein Inneres heilen kann, ohne deine Haut zu zerschneiden oder dich irgendwo bluten zu lassen. Er kehrt die großen Teile deines Körpers von innen nach außen, nicht aber die Blutgefäße. Deine gesamte Haut – dazu Augen, Ohren, Nase, Zehen, das alles – wird zum Futter eines kleinen Loches, das zur Hälfte mit deinem Haar gefüllt ist. Inzwischen liegt dein Inneres bloß und bietet sich dem heilenden Zugriff dar. Du lebst eine Zeitlang von der Luft, die sich in dem Loch befindet. Zuerst gibt dir der Arzt Luft, die dich einschlafen läßt, oder du würdest nach etwa fünfzig Herzschlägen wahnsinnig. Wir werden sehen, was zehn Herzschläge bei dir anrichten, ohne die Schlafluft. Also, machst du jetzt den Mund auf?« 137
Ich hatte ihr allerdings nicht zugehört, nicht mein bewußtes Ich, oder ich wäre auch ohne die Behandlung sofort durchgedreht. Ich habe Doc einmal sagen hören, die eigene Leber wäre einem Menschen fremder und ferner als die Sterne, weil man zwar sein ganzes Leben mit ihr verbringt, man sie aber nie sieht oder es lernt, instinktiv darauf zu deuten, und der Gedanke, daß jemand mit diesem intimen, doch unbekannten Teil des Körpers herumpfuscht, ist einfach zuviel. Ich wußte, daß ich schnell etwas unternehmen mußte. Hölle, beim ersten Hinweis auf die Inversion, noch ehe Kaby überhaupt davon gesprochen hatte, war Illy schon zusammengezuckt und hatte seinen Tentakel zu dicken, federbestandenen Würsten zusammengezogen. Erich hatte ihn fragend angeschaut, aber der verdammte Lunie hatte sich bei mir noch unbeliebter gemacht, indem er quietschte: »Kümmert euch nicht um mich. Ich bin nur empfindlich. Macht mit dem Mädchen weiter. Sie muß reden.« Ja, ich wußte, ich mußte etwas tun, und hier auf dem Boden bedeutete das angestrengtes und fruchtbares Nachdenken über ein ganz anders Thema. Die verrückte Plastik, die Erich hatte zerschmettern wollen, lag einen Fuß vor meiner Nase, und ich sah eine schwache weiße Spur, wo sie über den Boden geglitten war. Ich streckte den Arm aus und berührte die Spur; es handelte sich um feinen Gries, fast wie pulverisiertes Glas. Ich legte die Skulptur auf die Seite, und die Flanke, auf der sie gerutscht war, wies keine Schramme auf, war nicht einmal matter als die übrigen Teile; die grauen Kugeln schimmerten so hell wie zuvor. Also wußte ich, daß es sich bei der Spur um Diamantstaub handeln mußte, der von den Diamanten im Boden losgeschrammt worden war – von etwas, das noch härter sein mußte. Das brachte mich darauf, daß die Skulptur etwas 138
ganz besonders sein mußte und daß Doc vielleicht eine ganz brauchbare Idee gehabt hatte, als er uns das Ding hinhielt und uns etwas mitteilen wollte. Damals hatte er nichts herausbekommen, aber etwas früher war er einen Spruch losgeworden, als er uns sagen wollte, was wir wegen der Bombe unternehmen mußten – und vielleicht gab es da einen Zusammenhang. Ich strengte mein Gedächtnis an und ließ es zurückwandern und holte ein »Iversch … Kasch …« hervor. Also wirklich – Kasch! Kasch mich, ich bin der Frühling, ob nun ein betrunkener Russki oder jemand sonst. Also versuchte ich den Gedächtnistrick ein zweitesmal, und diesmal erzielte ich »Handsch«, und dann zog ich scharf den Atem ein und mußte bald fast niesen wegen des Diamantstaubes, während ich sah, wie sich die Puzzlestücke in meinem Gehirn wie ein beschleunigter Film zusammenfügten. Alles drehte sich um den schwarzen rechten Husarenhandschuh, den Lili Bruce präsentiert hatte. Nur hätte sie so etwas nicht im Lager finden können, weil wir später jedes kleine Winkelchen durchsucht und keinen Handschuh gefunden hatten, nicht einmal den linken, der eigentlich dort hätte sein müssen. Also hatte Bruce zu Anfang zwei linke Handschuhe gehabt, und wir hatten die ganze Station durchgekämmt, und da waren nur die beiden schwarzen Handschuhe auf dem Boden gewesen, wohin Bruce sie von der Bar aus befördert hatte – nur diese beiden, keine anderen –, der linke, den er mitgebracht hatte, und der rechte Handschuh, den Lili für ihn produziert hatte. Also war ein linker Handschuh verschwunden – als ich ihn zum letztenmal sah, legte Lili ihn gerade auf ihr Tablett, und ein rechter Handschuh war aufgetaucht. Was nur eine Schlußfolgerung zuließ: Lili hatte den linken Handschuh in einen identischen rechten umge139
wandelt. Das hätte sie nicht tun können, indem sie ihn einfach umkehrte, weil dann die Nähte anders gewesen wären. Aber wie ich leider nur zu gut wußte, gab es eine außergewöhnliche Möglichkeit, Dinge von innen nach außen zu kehren, Dinge wie menschliche Wesen. Man mußte sie nur in der Krankenabteilung auf den Inverter legen und das Gerät auf volle Inversion schalten. Oder man konnte die teilweise Inversion wählen und etwas in ein vollkommen dreidimensionales Spiegelbild seiner selbst zu verwandeln – was eben ein rechter Handschuh im Vergleich zu seinem linken Gegenstück ist. Rotation durch die vierte Dimension, so nennen das die Wissenschaftsknaben; ich habe gehört, daß in der Medizin besonders bei den höchst asymmetrischen Marsianern davon Gebrauch gemacht wird und sogar bei Menschen, etwa um einen Mann, der den rechten Arm verloren hat, wieder eine einwandfreie rechte Hand zu verschaffen, indem man den ganzen Patienten einfach umkehrt. Gewöhnlich werden in der Medizin nur lebendige Dinge invertiert, und man käme gar nicht auf den Gedanken, Gegenstände dafür vorzusehen, ganz besonders nicht in einer Station, deren Doc säuft und deren Krankenabteilung nicht mehr in Gebrauch gewesen ist. Aber wenn man sich gerade verliebt hat, denkt man sich die wunderbarsten und verrücktesten Dinge aus. Trunken vor Liebe, hatte Lili Bruces überflüssigen linken Handschuh in die Krankenabteilung geschafft, ihn teilweise invertiert und somit einen rechten Handschuh gewonnen, den sie ihm schenken konnte. Was Doc mit seinem »Inversch … Kasch …« hatte sagen wollen war: »Invertiert den Kasten«, nämlich, daß wir die Bronzetruhe unter volle Inversion stellen sollten, um an die darin befindliche Bombe heranzu140
kommen und sie zu entschärfen. Auch Doc hatte das von Lilis Trick mit dem Handschuh abgeleitet. Wie eine nach außen gekehrte taktische Atombombe aussehen würde, konnte ich mir nicht vorstellen; auf den Anblick war ich auch nicht besonders scharf. Es blieb mir aber wahrscheinlich nicht erspart, überlegte ich. Doch der Film in meinem Kopf raste weiter. Später war Lili ebenso wie ich zu dem Schluß gekommen, daß ihr Liebster mit seiner Aufforderung zur Meuterei nicht durchkommen würde, es sei denn, sie konnte ihm ein wahrlich gefesseltes Publikum verschaffen – und vielleicht hatte sie auch gleich daran gedacht, ein Nest für Bruces Küken zu schaffen, und an … all die anderen Dinge, die wir eine Zeit lang angenommen hatten. Also hatte sie den Hauptversorger genommen, hatte sich an den Handschuh erinnert, und wenige Sekunden später hatte sie auf einem Regal in der Kunstgalerie einen Gegenstand abgesetzt, den niemand anzweifeln würde – außer jemand, der den Inhalt der Galerie auswendig kannte. Ich betrachtete die abstrakte Plastik, die wenige Zentimeter von mir entfernt lag, musterte den Haufen grauer Kugeln, die die Größe vom Golfbällen hatten. Ich hatte gewußt, daß das Innere des Versorgers aus widerstandsfähigen und sehr harten Riesenmolekülen bestand, aber so groß hatte ich sie mir doch nicht vorgestellt. Ich sagte mir: »Greta, du wirst dir eine schlimme Psychose einhandeln, aber du bist diejenige, die es tun muß, denn niemand wird deine Schlußfolgerungen hören wollen, denn alle leben praktisch schon auf Pump.« Ich stand so leise auf, als schliche ich mich aus einem Bett, in dem ich nicht hätte liegen dürfen – es gibt durchaus Dinge, auf die sich Gesellschafterinnen ver141
stehen –, und Kaby sagte gerade: »Oder du würdest nach etwa fünfzig Herzschlägen verrückt.« Alle, die stehen konnten, blickten auf Lili. Sid schien sich bewegt zu haben, aber ich hatte keine Zeit für ihn außer der Hoffnung, daß er nichts getan hatte, das die Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Ich ließ meine Schuhe stehen und ging schnell in den Krankensektor hinüber – etwas Gutes läßt sich über den superharten Boden doch sagen – er quietscht nicht. Ich ging durch den Schirm der Krankenabteilung, der wie eine Wand aus undurchsichtigem, farblosem Zigarettenrauch ist, und versuchte mich an meine Schwesternausbildung zu erinnern, und ehe Panik in mir aufsteigen konnte, hatte ich die Skulptur bereits auf den Tisch des Inverters gelegt. Ich erstarrte einen Augenblick, als ich nach dem Inversionsschalter griff, und dachte an damals und versuchte mich daran zu erinnern, was mich an dem nach außen gekehrten Gehirn, das größer war und keine Augen hatte, so gestört hatte, aber entweder streckte ich meinem Alptraum dann die Nase heraus oder trennte mich von meiner geistigen Gesundheit, ich weiß es nicht – jedenfalls drehte ich den Knopf bis zum Anschlag, und da hatte ich den Hauptversorger vor mir, etwa dreimal in der Sekunde blinkend, wie man sich’s gar nicht anders vorstellen konnte. Er muß während der Inversion die ganze Zeit glatt und ruhig gearbeitet haben, außer daß er, da er ja umgestülpt war, die Richtungsfinder durcheinandergebracht hatte.
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Schwarzbeinige Spinnen mit roten Höllenherzen MARQUIS
15 Spinne unser Herr »Jesus!« Ich wandte mich um, und Sids Gesicht ragte durch den Schirm wie ein farbiges Relief an einer grauen Wand, und ich hatte den Eindruck, als habe er unbemerkt durch einen Schlitz in einem Wandteppich in Königin Elizabeths Schlafzimmer gespäht. Ihm blieb keine Zeit, seine Eindrücke zu verarbeiten, selbst wenn er das gewollt hätte; ein Ellenbogen mit einem Kupferband darum drängte sich durch den Schirm und grub sich in seine Rippen, und Kaby führte Lili am Hals herein. Erich, Markus und Illy folgten dichtauf. Sie nahmen das blaue Blitzen war, blieben wie angewurzelt stehen und starrten auf den langgesuchten Gegenstand. Erich warf mir einen Blick zu, mit dem er wohl sagen wollte: »Ach, du bist das also gewesen, nicht daß es mir darauf ankommt!« Dann trat er vor und nahm das Gerät hoch und drückte es fest an das Doppelrechteck zwischen Fingern, Unterarm und linker Brustseite und griff mit einem Gesichtsausdruck, als öffne er eine Flasche Whisky, nach dem Introversionsschalter. Das blaue Licht erlosch, und Veränderungswinde trafen mich wie ein harter Drink, auf den ich lange, lange gewartet hatte, wie heißer Trompetenschall aus dem Nichts. Ich spürte, daß es auf die anderen ebenso wirkte. Sogar die angeschlagene, verkrampfte Lili schien zu sagen: »Ihr laßt mich das Zeug trinken, und ich hasse 143
euch deswegen, aber ich liebe es doch.« Wahrscheinlich hatten wir alle die leise Sorge gehabt daß wir, auch wenn wir den Versorger fanden und extrovertierten, nicht wieder in Kontakt mit dem Kosmos kommen und auch nicht jene Winde wieder spüren konnten, die wir zugleich hassen und lieben. Was schließlich unsere freudige Trance beendete, war nicht der Gedanke an die Bombe, obwohl auch der in wenigen Sekunden auf uns eingedrungen wäre, sondern Sids Stimme. Er stand noch immer im Schirm, außer daß nun sein Gesicht in die andere Richtung gewendet war und wir nur noch Stücke seines graubewamsten Rückens sehen konnten, aber natürlich tönte sein »Jesus!« durch den Schirm, als sei er gar nicht vorhanden. Zunächst konnte ich mir gar nicht denken, mit wem er da sprach, aber ich will schwören, daß ich seine Stimme noch nie so höflich-unterwürfig erlebt habe, so stark und doch so erfüllt von Ehrfurcht und einem Unterton von, ja, schierem Entsetzen. »Herr, ich bin von Kopf bis Fuß in Verwirrung gestürzt, daß Ihr meiner Station solche Ehre erweist«, sagte er. »Armselig sind meine Worte, wenn ich sage, daß ich Euch stets getreu gedient habe, ohne mir je zu erträumen, daß Ihr Euch herablassen würdet … und doch in dem Bewußtsein, daß Euer Auge gewißlich auf mir ruhte … obwohl ich nur ein armes Staubkorn zwischen den Sonnen bin … unterwerfe ich mich Eurer Fürsprache. Ich bitt’ Euch, wie kann ich Euch dienen, Sir? Ich weiß nicht einmal Euch angemessen anzureden, Herr … König … Imperator der Spinnen!« Ich hatte das Gefühl, sehr klein zu werden, aber leider nicht weniger sichtbar, und trotz der Veränderungs144
winde in mir, die mir Mut geben konnten, war mir das zuviel, zu allem anderen; es war einfach unfair. Zugleich machte ich mir klar, daß man natürlich annehmen mußte, die großen Bosse hätten uns seit der Introversion mit ihren lidlosen schwarzen Knopfaugen beobachtet, zum Zuschlagen bereit, kaum daß wir wieder zum Vorschein kamen. Ich versuchte mir vorzustellen, was sich auf der anderen Seite des Schirms befand, und dieses Bild behagte mir gar nicht. Obwohl ich so versteinert war, mußte ich an mich halten, um nicht loszukichern – wie ein Spaßmacher bei einer Prüfung – über die Art und Weise, wie die anderen hier in der Krankenabteilung darauf reagierten. Ich meine die Soldaten. Jeder von ihnen erstarrte, als hätten sie plötzlich einen Ladestock verschluckt, und ihre Gesichter nahmen einen gewichtigen Ausdruck an, und sie blickten einander an und zu Boden, ohne die Köpfe zu senken, als maßen sie die Entfernung zwischen ihren Füßen und zeichneten sich im Geiste Kreidemale auf den Boden, um sich danach zu bewegen. Die Art, wie Erich und Kaby Haupt- und Nebenversorger hielten, bekam etwas Formelles; wie sie ihre Rufgeräte überprüften und sich beruhigend zunickten, war entschieden vertraulich. Sogar Illy vermochte irgendwie den Eindruck zu erwecken, als sei er auf einer Parade. Dann tönte von der anderen Seite des Schirms ein Geräusch, das unter den gegebenen Umständen der schlimmste Laut war, den ich je gehört hatte, ein anscheinend unformuliertes leises Heulen und Klagen, mit einem Unterton von Drohung darin, der mich zittern ließ, obwohl auch eine unangenehme Vertrautheit mitschwang, die ich nicht zu deuten wußte. Sids Stimme fiel ein, laut, schnell, nervös. 145
»Euer Pardon, Herr, ich dachte nicht … gewiß, die Schwerkraft … ich kümmere mich sofort darum.« Da verschwand Sid völlig hinter dem Schirm, und das Heulen verging, und ich überlegte, daß ich lieber nicht in ein Gespräch mit einem Spinnenherrscher verwickelt werden wollte, wenn er seinen Ärger über eine zu hohe Schwerkraft auf solche Weise äußerte. Erich schürzte die Lippen und nickte den anderen Soldaten zu, und die vier marschierten durch den Schirm, als hätten sie ein Leben lang für diesen Augenblick trainiert. Ich hatte die wilde Ahnung, daß Erich mir vielleicht seinen Arm bieten würde, aber er schritt an mir vorbei, als wäre ich … eine Gesellschafterin. Da zögerte ich noch einen Augenblick, aber ich mußte doch sehen, was draußen geschah, selbst wenn ich später Prügel dafür bezog. Außerdem nagte der Gedanke an mir, daß dieser Spinnenherr bald feststellen würde, wie immun er gegenüber einer Atomexplosion war, wenn sich die Formalitäten noch irgendwie länger hinzogen. Gemeinsam mit Lili trat ich durch den Schirm. Die Soldaten waren wenige Schritte davor stehengeblieben. Ich blickte mich um, suchte nach dem Wesen, das der Spinnenherrscher sein mochte, bereit, einen Knicks zu machen oder sonst etwas, das von mir erwartet wurde. Ich hatte Mühe, das Ungeheuer auszumachen. Auch einige andere schienen in diesem Punkt Schwierigkeiten zu haben, Ich sah den Doc sinnlos am Kontrolldiwan herumtaumeln und entdeckte Bruce und Beau und Siebensee und Maud weiter hinten, und ich fragte mich schon, ob wir es hier etwa mit einem unsichtbaren Monstrum zu tun hätten. Dann blickte ich scharf nach links, wohin sich jetzt 146
alle übrigen wandten, sogar der glasig dreinschauende Doc, zum Türsektor, nur war da kein Monstrum und auch keine Tür zu sehen, sondern nur Siddy, der den Nebenversorger festhielt und ein Grinsen aufgesetzt hatte, wie er es tut, wenn er mich kitzeln will, nur noch wilder. »Keine Bewegung, die Herren!« rief er, und seine Augen zuckten hin und her, »oder ich nagele euch alle fest, und das schwör’ ich, ich tu’s. Ich bin entschlossen, eher die Station in die Luft fliegen zu lassen, als dieses Gerät wieder aus der Hand zu geben.« Mein erster Gedanke war: »Mann, was ist Siddy doch für ein Schauspieler! Egal, ob er nach Burbage bei niemandem mehr studiert hat oder nicht – das zeigt nur, wie Burbage ist.« »Beauregard!« rief Sid. »Geh zum Hauptversorger und ruf das Hauptquartier an. Aber lauf nicht durch den Türsektor, sondern durch die Erholungsabteilung. Ich will keinen Dämon von euch hier in diesem Sektor bei mir haben, bis einiges geklärt und beigelegt ist.« »Siddy, du bist wunderbar«, sagte ich und ging in seine Richtung. »Kaum hatte ich den Versorger umgekehrt und blickte mich um und sah dein süßes altes Gesicht …« »Zurück, gerissene Trickse! Keinen roten Fußnagelbreit näher, du Königin der Täuschung, Hohepriesterin des Betrugs!« bellte er. »Dir traue ich am wenigsten. Warum du den Versorger versteckt hast, weiß ich wahrlich nicht, aber du wirst mir die Wahrheit noch offenbaren!« Es war klar, daß da noch einiges zu klären war. Doc, wohl angeregt durch eine Handbewegung Sids in meine Richtung, legte den Kopf in den Nacken und ließ einen seiner schaurigen sibirischen Wolfsschreie vom Stapel, die er so gut kann. Sid winkte ihm heftig 147
zu, und er verstummte und bleckte dabei lächelnd die Zähne, aber jetzt wußte ich, wer für den unzufriedenen Spinnenschrei verantwortlich war, den Sid entweder erbeten oder eher als Zugabe der Götter erhalten und in seinen Sketch eingebaut hatte. Beau marschierte mit schnellen Schritten außen herum, und Erich schob ihm ohne große Umstände den Hauptversorger in die Hand. Die Soldaten wirkten nach dem Verlust des Vorteils ziemlich düster. Beau wischte einige Dinge von einem der haltbaren Regale der Kunstgalerie, stellte sorgsam den Hauptversorger ab, kniete schnell davor nieder, setzte hastig einen Kopfhörer auf und begann das Gerät einzustimmen. Wie er das tat, Inversionsvermutungen, daß ich sie ebensogut nie gehabt haben könnte, und wieder beherrschte einzig und allein die bronzene Bombenkiste meine Gedanken. Ich überlegte, ob ich vorschlagen sollte, das Ding zu invertieren, aber dann sagte ich mir: »Nein, nein, Greta, du hast ja kein Diplom vorzuweisen, und wahrscheinlich haben wir sowieso keine Zeit mehr zum Herumexperimentieren.« Dann tat Erich endlich einmal etwas, das ich von ihm erwartete und dessen Wirkung auf meine Nerven mir egal war; er blickte nämlich auf sein Rufgerät und sagte leise: »Noch neun Minuten, wenn die Stationszeit mit der kosmischen Zeit in Synch ist.« Beau blieb ganz ruhig und nahm derart feine Einstellungen vor, daß sich seine Finger überhaupt nicht mehr zu bewegen schienen. Am anderen Ende der Station machte Bruce plötzlich einige Schritte in unsere Richtung. Siebensee und Maud folgten ihm auf dem Fuße. Ich dachte daran, daß Bruce auch so ein Verrückter war, mit einem eigenen Programm zur Vernichtung der Station. »Sidney!« rief 148
er, und als Sid aufblickte, fuhr er fort: »Denken Sie daran Sidney, Sie und ich, wir sind beide von Peterhouse nach London gegangen.« Ich verstand das nicht. Dann schaute Bruce mit einem seltsamen Teufel-komm-raus-Blick in Erichs Richtung und sah zu Lili hinüber, als erbäte er Vergebung für irgend etwas. Ihren Ausdruck vermochte ich nicht zu deuten; am Hals hatte sie Druckstellen, und ihre Wange war geschwollen. Dann warf Bruce Erich erneut den herausfordernden Blick zu und fuhr herum und ergriff ein Handgelenk Siebensees und ließ einen Fuß vorschnellen – auch Halbpferde haben wenig Gefallen an Nahkämpfen, und der Satyr hatte durchaus das Recht, verwirrt zu sein wie ich – und ließ ihn gegen Maud taumeln, und die beiden gingen in einem Durcheinander aus haarigen Beinen und perlgrauem Stoff zu Boden. Bruce eilte zur Bombenkiste. Die meisten von uns brüllten: »Halt ihn auf, Sid, nagele ihn fest!« oder Ähnliches – ich jedenfalls sagte das, weil ich plötzlich sicher war, daß er Lili um Verzeihung gebeten hatte, weil er sich und sie nun in die Luft jagte – und uns auch. Sid hatte ihn die ganze Zeit beobachtet, und jetzt hob er eine Hand zum Nebenversorger, doch dann berührte er die Kontrollknöpfe nicht, sondern beobachtete nur und wartete ab, und ich dachte: »Der Teufel treffe uns! Will Siddy uns auch in den Tod treiben? Ist er nicht mehr zufrieden mit dem, was er über das Leben weiß?« Bruce hatte sich hingekniet und drehte an der Vorderseite der Kiste herum, und es war so hell, als hockte er unter einer Batterie Kriegscheinwerfer, und ich redete mir zu, daß ich ja gar nichts merken würde, wenn der Feuerball losging, ohne ein Wort davon zu glauben, 149
und Siebensee und Maud hatten sich aufgerappelt und setzten sich in Richtung Bruce in Bewegung, und wir übrigen brüllten auf Sid ein, außer daß Erich recht unglücklich zu Bruce hinüberblickte und Sid noch immer nichts unternahm, und es war unerträglich, außer das ich in diesem Augenblick spürte, wie die kleinen Arterien in meinem Gehirn wie eine Kette von Feuerwerkskörpern zu platzen begannen und die alte Aorta hopsging und, um die Sache rundzumachen, auch noch ein paar Ventile in meinem Ticker aus dem Takt gerieten, und ich dachte: »Da weiß ich jetzt also, wie es ist, an Herzversagen und hohem Blutdruck zu sterben.« und setzte ein letztes leises Lächeln auf, weil ich doch die Bombe um ihren Triumph gebracht hatte, als Bruce von der Truhe plötzlich aufsprang. »Geschafft!« verkündete er fröhlich. »Die Bombe ist jetzt so sicher wie die Bank von England!« Siebensee und Maud hielten sich gerade noch rechtzeitig davon zurück, ihn niederzuschlagen, und ich sagte mir: »He, beeilt euch! Ich dachte, Herzattacken gingen schnell.« Ehe jemand etwas sagen konnte, ergriff Beau das Wort. Er hatte sich vom Hauptversorger abgewendet und schob eine der Ohrmuscheln des Kopfhörers zur Seite. »Ich habe das Hauptquartier dran«, sagte er munter. »Man hat mir gesagt, wie die Bombe zu entschärfen ist. Was haben Sie gemacht, Sir« rief er Bruce zu. »Unmittelbar unter dem Schloß ist eine Reihe mit vier Hebeln. Den ersten von links dreht man ein Viertel nach rechts, den zweiten ein Viertel nach links, ebenso wie den vierten. Der dritte ist nicht anzufassen.« »Stimmt, Sir«, bestätigte Beau. Das lange Schweigen war zuviel für mich; ich hatte wohl die kürzeste Erholungsspanne von allen. Ich zog 150
etwas Nahrung aus meinen wiederhergestellten Arterien in die Gehirnzellen und brüllte: »Siddy, ich weiß, ich bin eine tricksige Maid, die Hohepriesterin aller Füchsinnen, aber was, zum Teufel, ist Peterhouse?« »Das älteste College in Cambridge«, erwiderte er kühl.
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Vertraut mit unendlichen Folgen von Universen und offenen vorausgesetzten Systemen? – die Vorstellung, dass alles möglich ist – und ich meine, alles – und dass alles eingetreten ist. Alles. Heinlein
15 Die Möglichkeitsbinder Eine Stunde später befaßte ich mich mit einem schwachen Highball und einem blauen Auge – in der Schlafzeit-Schwärze der Couch, die am weitesten vom Klavier entfernt war. Dabei beobachtete ich die lebhafte Party, die ringsum und an der Bar stattfand, während die Station auf ein Rendezvous mit Ägypten und der Schlacht von Alexandrien wartete. Sid hatte alle offenen Probleme zu einem großen Bündel verschnürt, und da er den Joker, nämlich den Nebenversorger, in der Hand hielt, hatte er sie alle schwungvoll gelöst, als ginge es um die Sorgen von Schulkindern. Es lief auf folgendes hinaus: Wir waren introvertiert gewesen, als die meisten schlimmen Dinge passierten – also wußten wahrscheinlich nur wir davon und steckten alle auf die eine oder andere Weise so tief drin, daß wir schon den Mund halten mußten, um unsere zarten Hälse zu retten. Nun, daß Erich die Bombe scharfgemacht hatte, wurde hübsch durch Bruces Aufforderung zur Meuterei aufgewogen, da war Docs Trinkerei, während jeder, der sich für die Friedensbotschaft ausgesprochen hatte, etwas zu verbergen hatte. Markus und Kaby hielt ich für unbedingt vertrauenswürdig. Maud erst recht, und 152
Erich in diesem besonderen Fall auch, verdammt soll er sein. Bei Illy war ich mir nicht so sicher, aber ich sagte mir, es muß immer ein Haar in der Suppe geben, auch wenn es diesmal ein verdammt pelziges war. Von seiner eigenen schmutzigen Wäsche sprach Sid nicht, aber er wußte, daß wir wußten, daß er als Boß der Station ziemlich versagt hatte und sich nur durch seinen verzweifelten Akt in letzter Minute behauptet hatte. Die Erinnerung an Sids Trick ließ mich einen Augenblick an die echten Spinnen denken. Kurz bevor ich mich aus der Krankenabteilung schlich, hatte ich eine wirklich lebhafte Vorstellung von ihnen gehabt, ein Bild, das ich jetzt aber nicht wieder heraufbeschwören konnte. Es bedrückte mich, daß ich mich nicht erinnern konnte – oh, ich bildete mir wahrscheinlich nur ein, so eine Vorstellung gehabt zu haben, wie ein Rauschgiftsüchtiger auf einer Trip-Jagd nach den Geheimnissen des Universums. Daß ich etwas über die Spinnen herausfinde? – außer den nervösen Einbildungen, die ich jetzt bei dem Durcheinander hatte? – was für ein Witz! Das Komischste (ha-ha!) war noch, daß ich jetzt als die Person dastand, der man am wenigsten traute. Sid gab mir keine Gelegenheit zu erklären, wie ich die Sache mit dem Versorger ausgetüftelt hatte, und als sich Lili meldete und gestand, daß sie das Gerät versteckt hatte, tat sie dabei so gelangweilt, daß ihr wohl keiner geglaubt hat – obwohl sie das realistische Detail beisteuerte, sie habe den Handschuh nicht teilweise invertiert; sie habe ihn vielmehr erst umgedreht, um ihn zu einem rechten Handschuh zu machen, und habe dann eine volle Inversion durchgeführt, um das Futter wieder nach innen zu kehren. Ich versuchte, Doc zu der Bestätigung zu bringen, daß er der Sache auf gleichem Wege auf die Spur gekommen war wie ich, aber er sagte nur, er wäre die 153
ganze Zeit hinüber gewesen, außer während des ersten Teils der Suche, und er wußte auch gar nicht mehr, daß Maud ihm zweimal in allen Einzelheiten die Geschehnisse erklären mußte. Ich kam zu dem Schluß, daß noch ein gutes Stück Arbeit nötig war, ehe mein Ruf als großer Detektiv gefestigt war. Ich blickte über den Rand der Couch und konnte im Halbdunkel schwach einen von Bruces Handschuhen erkennen. Jemand mußte ihn dort hingetreten haben. Ich fischte ihn auf. Es war der rechte. Mein großer Fingerzeig – ich hatte genug davon! Ich schleuderte ihn fort, und wie ein lauernder Krake ließ Illy von der Nebencouch, wo ich ihn gar nicht bemerkt hatte, einen Tentakel hochschnellen und schnappte den Handschuh, als sei es ein Stück Unrat, herab. Diese AIs wirken manchmal doch ziemlich unmenschlich. Ich dachte daran, was für eine kaltblütige, an sich selbst denkende Laus Illy gewesen war, und dachte an Sid und seinen leichten Verdacht und an Erich und mein blaues Auge und wie ich schließlich doch wieder allein gelassen worden war, typisch! Meine Männer! Bruce hatte uns erklärt, wie es kam, daß er ATechniker war. Wie viele von uns, hatte er in den ersten Wochen in der Veränderungswelt mehrere recht unterschiedliche Aufgaben gehabt, und dabei hatte er auch als Sekretär für eine Gruppe zweitrangiger Atomwissenschaftler aus den Tagen der ManhattanProjekt-Erdsatelliten gearbeitet. Ich vermute, daß er von denen auch einige seiner unangenehmen Ideen hatte. Ich war mir noch nicht recht schlüssig, welche Spezies heroischer Lumpen er angehörte, aber er war wieder ganz dicke mit Markus und Erich. Ach, Männer überhaupt! Sid brauchte sich mit keinem auseinanderzusetzen; alle wilden Zwänge und großen Entschlüsse waren nun 154
tot und gestorben, jedenfalls bis sie sich mal hübsch ausgeruht hatten. Ich selbst, das wußte ich, konnte eine Ruhepause auch sehr gut vertragen. Die Party am Klavier wurde lebhafter. Lili hatte oben auf dem Instrument getanzt, jetzt sprang sie in Sids und Siebensees Arme, wobei sie sich Zeit ließ. Sie hatte viel getrunken, und ihr kleines graues Kleid wirkte an ihr etwa so unschuldig wie Windeln an Nell Gwyn. Sie setzte ihren Tanz fort, wobei sie ihre Gunstbeweise gleichmäßig zwischen Sid, Erich und dem Satyr aufteilte. Beau machte das gar nichts aus; er hämmerte nur fröhlich »Heute abend ist was los!« – was sie ihm praktisch vor zwei Minuten erst zugebrüllt hatte. Ich freute mich, bei der Party nicht dabei zu sein. Wer kann es mit einer erfahrenen, äußerst desillusionierten Siebzehnjährigen aufnehmen, die sich zum erstenmal wirklich gehen läßt? Etwas berührte meine Hand. Illy hatte einen Tentakel zu einem pelzigen Draht ausgestreckt, um mir den schwarzen Handschuh zurückzugeben, obwohl er hätte wissen müssen, daß ich ihn gar nicht wollte. Ich stieß ihn fort, wobei ich Illy im Geiste eine geistesschwache Tarantel schalt, und sofort war mir ein wenig schuldbewußt zumute. Was für ein Recht hatte ich, Illy zu kritisieren? Würde sich mein eigener Charakter im besten Licht zeigen, wenn ich eine Milliarde Jahre entfernt mit elf Kraken eingeschlossen wäre? Und wo wir schon mal dabei waren – wie kam ich dazu, überhaupt jemanden kritisch anzusehen? Trotzdem war ich froh, Abstand von der Party zu haben, obwohl ich weiter zusah. Bruce trank allein an der Bar. Einmal war Sid zu ihm hinübergegangen, und sie hoben einen zusammen, und ich hatte Bruce Rupert Brookes absichtlich miese Zeilen zitieren hören: 155
»Denn England ist das einzige Land, mein Kind, wo Männer mit prächtigen Herzen willkommen sind; und Cambridgeshire in diesem Land, ist für Männer mit Verstand«; und mir fiel ein, daß auch Brooke ganz jung im Ersten Weltkrieg gestorben war, und meine Gedanken kamen da etwas durcheinander. Aber die meiste Zeit trank Bruce nur still vor sich hin. Ab und zu warf ihm Lili einen Blick zu und stockte beim Tanzen und lachte. Ich versuchte diese Sache mit Bruce-Lili-Erich zu deuten, soweit mir das möglich war. Lili hatte sich aus ganzem Herzen ihr Nestchen gewünscht, und nichts anderes würde sie je zufriedenstellen, und jetzt würde sie ihren eigenen Weg zur Hölle zurücklegen müssen und wahrscheinlich zum drittenmal an der Brightschen Krankheit sterben, diesmal in der Veränderungswelt. Bruce hatte das Nest oder Lili nicht so sehr gewollt wie die Veränderungswelt und ihre Chancen für soldatisches Ausleben und poetische Besäufnisse; Lilis Same war nicht sein Weg zur Heilung des Kosmos; vielleicht brach er eines Tages eine wirkliche Meuterei vom Zaun, aber vermutlich hielt er sich eher an Barprahlereien. Wie ranzig seine und Lilis Vernarrtheit in diesem Augenblick auch aussehen mochte – völlig ersterben würde sie nie. Der Aspekt wahrster Liebe mochte vergehen, aber die Veränderung ringsum würde den Aspekt der Romanze herausheben, und wenn sie sich einmal wiedersahen, mochte es ihnen wie die ganz große Sache vorkommen. Erich hatte seinen Kameraden gefunden, nach seiner Vorstellung geformt, der den Mut und die Klugheit aufgebracht hatte, die Bombe zu entschärfen, die auszulöschen er den Mut gehabt hatte. Man mußte es Erich lassen – er hatte den Nerv gehabt, uns alle in eine 156
Lage zu bringen, da wir entweder den Versorger finden mußten oder untergehen würden, aber was ich ihn am liebsten gelassen hätte, so etwas Unangenehmes gab es gar nicht. Ich hatte es vorhin einmal versucht. Ich war hinter ihn getreten und hatte gesagt: »He, wie geht es denn meinem schlimmen kleinen Kommandanten? Hast du dein Und so weiter vergessen!« und als er sich umdrehte, krümmte ich die Hand zur Kralle und kratzte ihm damit über die Wange. Damit hatte ich mir das blaue Auge eingefangen. Maud wollte es mit einem elektronischen Blutegel behandeln, aber ich steckte nur das altbewährte Taschentuch ins Eiswasser. Naja, jedenfalls hatte nun auch Erich Kratzer als Gegenstück zu Bruces, zwar nicht so tief, aber immerhin vier Stück, und ich überlegte, vielleicht würden sie sich entzünden – seit der Suche hatte ich mir nämlich nicht mehr die Hände gewaschen. Nicht, daß Erich etwas gegen Liebesnarben hätte. Markus half mir auf, als Erich mich niedergeschlagen hatte. »Haben Sie auch dafür ein Omnia?« fragte ich giftig. »Wofür?« fragte Markus. »Ach, für alles, was uns hier passiert ist«, sagte ich angewidert. Er schien tatsächlich einen Augenblick zu überlegen und sagte dann: »Omnia mutantur, nihil interit.« »Und das bedeutet?« fragte ich. Er sagte: »Alles verändert sich, aber nichts ist wirklich verloren.« Das wäre eine herrliche Philosophie, um sie in den Strom der Veränderungswinde zu halten. Auch verdammt dumm. Ich fragte mich, ob Markus wirklich daran glaubte. Ich wünschte, ich könnte es. Manchmal denke ich mir fast, es ist verdammt unsinnig, ein an157
ständiger Dämon sein zu wollen und sogar eine gute Gesellschafterin. Dann überlegte ich mir aber auch: »So ist eben das Leben, Greta. Du mußt dich irgendwie hindurchlieben.« Aber es gibt Zeiten, da es einem schwerfällt, einige von diesen Verrückten liebzuhaben. Wieder fuhr etwas über meinen Handballen. Es war Illys Tentakel, der die Stränge der Spitze zu einem Büschel gespreizt hatte. Ich wollte meine Hand schon fortziehen, doch dann machte ich mir klar, daß der Lunie nur einsam war. Ich überließ also meine Hand dem rhythmischen Druck der Federsprache. Sofort vernahm ich die Worte: »Fühlst du dich einsam, Greta-Mädchen?« Das haute mich fast um, lassen Sie sich’s gesagt sein. Hier saß ich und verstand die Federsprache, was doch glatt unmöglich war, und ich verstand sie auch noch auf Englisch, was überhaupt keinen Sinn ergab. Erst dachte ich, Illy müßte laut gesprochen haben, aber ich wußte auch, daß das nicht der Fall war, und dann bildete ich mir auch ein, er probierte Telepathie an mir aus und verwende die Federsprache nur als Anhalt. Doch dann kam ich der Wahrheit auf die Spur: er spielte Englisch in meiner Handfläche wie auf der Tastatur seines Quietschkastens, und da ich selbst auch auf diesem Kasten Englisch spielen kann, hatte mein Geist seine Impulse automatisch übersetzt. Diese Erkenntnis verschaffte mir fast so etwas wie Lampenfieber, aber ich war zu erschöpft, um mich nun auch noch von Verlegenheit heimsuchen zu lassen. So lehnte ich mich nur zurück und ließ die Gedanken auf mich einwirken. Es ist angenehm, wenn jemand auf einen einredet, auch wenn es sich um eine leichtgewichtige Krake handelt, und ohne die Quietscher hörte sich Illy gar nicht mal so blöd an; seine Formulierungen kamen nüchterner. 158
»Fühlst du dich traurig, Greta-Mädchen, weil du nie begreifen wirst, was mit uns allen geschieht?« fragte Illy. »Weil du nie etwas anders sein wirst als ein Schatten, der andere Schatten bekämpft – und weil du zwischen den Kämpfen versuchst, für solche Schatten Liebe aufzubringen. Es wird höchste Zeit zu begreifen, daß wir eigentlich gar keinen wirklichen Krieg führen, obwohl es so aussieht, sondern durch eine Art Evolution gehen, wenn auch nicht die Art Evolution, die Erich im Sinne hatte. Euer terranische Denken hat ein Wort und eine Theorie dafür – eine Theorie, die auf zahlreichen Welten anzutreffen ist. Sie betrifft die vier Ordnungen des Lebens: Pflanzen, Tiere, Menschen und Dämonen. Pflanzen sind Energiebinder – sie können sich nicht durch Raum und Zeit bewegen, sondern können nur Energie festhalten und umwandeln. Tiere sind Raumbinder – sie können sich durch den Raum bewegen. Der Mensch (Terraner oder AI, Lunaner oder NichtLunaner) ist ein Zeitbinder – er hat ein Gedächtnis. Dämonen stellen die vierte Ordnung der Evolution dar – sie sind Möglichkeitsbinder, sie können alles, was sein könnte, zu einem Teil dessen machen, was es tatsächlich gibt und das ist ihre evolutionäre Funktion. Die Wiedererweckung ist wie die Metamorphose einer Raupe in einen Schmetterling: ein Wesen dritter Ordnung bricht aus der Puppe ihrer Lebenslinie in das Leben vierter Ordnung durch. Der Sprung vom zerrissenen Kokon einer sich nicht verändernden Realität ist wie der Sprung des allerersten Tieres, das nicht mehr Pflanze ist, und die Veränderungswelt ist der eigentliche Kern der zahlreichen Mythen der Unsterblichkeit. Eine Evolution wirkt auf den ersten Blick wie ein Krieg – Achtfüßler gegen Zweifüßler, Säugetiere gegen Reptilien. 159
Und sie hat die erforderliche Dialektik: es muß eine These geben – wir nennen sie Schlange – und die Antithese – Spinne –, ehe es zur letzten Synthese kommen kann, wenn alle Möglichkeiten in einem höchsten Universum voll realisiert sind. Der Veränderungskrieg ist nicht die blinde Vernichtung, wie es den Anschein hat. Vergiß nicht, daß die Schlange euer Symbol der Weisheit und die Spinne euer Zeichen für die Geduld ist. Die beiden Namen sind sicher beängstigend für dich, denn jede Existenz in hoher Ordnung ist eine Mischung aus Schrecken und Freude. Und sei nicht überrascht, Greta-Mädchen, über die Weitläufigkeit meiner Worte und Gedanken; irgendwie habe ich ja eine Milliarde Jahre Zeit gehabt, Terra zu studieren und ihre Sprachen und Mythen zu lernen. Wer sind die wirklichen Spinnen und Schlangen, sprich, wer waren die ersten Möglichkeitsbinder? Wer war Adam, Greta-Mädchen? Wer Kain? Wer Eva und Lilith? Indem jede Möglichkeit gebunden wird, verbinden die Dämonen auch das Geistige mit dem Materiellen. Alle Wesen vierter Ordnung leben innerhalb und außerhalb aller Geister überall im ganzen Kosmos. Selbst diese Station ist auf ihre Weise ein Riesengehirn: ihr Fußboden der Schädel, die Grenze der Leere ist die graue Hirnrinde – ja, sogar der Haupt- und der Nebenversorger sind Entsprechungen für die Zirbeldrüse und die Hypophyse, die auf eine Weise alle Nervensysteme steuern. Da hast du die wirkliche Lage, Greta-Mädchen.« Die Federsprache verstummte, und Illys Tentakelspitzen verschmolzen zu einer sanften Rundung, auf die ich tastete: »Vielen Dank, Daddy Langbein.« Während ich im Geiste Illys Worte noch einmal durchging, schaute ich wieder zur Gruppe am Klavier 160
hinüber. Die Party schien langsam zu Ende zu gehen, jedenfalls liefen einige Leute schon davon. Sid war zum Kontrolldiwan gegangen und machte sich fertig, Ägypten anzupeilen. Markus und Kaby hatten ihn begleitet, voller Eifer und voller Visionen unzähliger Reihen berittener Zombie-Bogenschützen, die in einer Pilzwolke vergingen; ich dachte an Illys Worte und brachte ein Lächeln zustande – es scheint, wir müssen halt alle Schlachten mitmachen und gewinnen und verlieren, wie es gerade kommt. Markus hatte gerade sein parthisches Kostüm angelegt und klagte fröhlich: »Wieder mal Hosen!« und schritt unter einem Hut herum, der wie eine pelzbesetzte Eiskremtüte aussah, wobei ihm die Ärmel seines metallbesetzten Wamses über die Hände herabhingen. Er schwenkte ein kurzes Schwert mit herzförmigem Griffschutz in Bruces und Erichs Richtung und sagte ihnen, sie sollten sich beeilen. Kaby sollte den Einsatz in dem Greisinnen-Kostüm mitmachen, das für Benson-Carter bestimmt war. Es richtete mich doch etwas auf zu wissen, daß sie die Truhe beschützen und dazu humpeln mußte. Bruce und Erich nahmen noch keine Befehle von Markus entgegen. Erich ging zur Bar und sagte etwas zu Bruce, und der glitt von seinem Stuhl und trat mit Erich ans Klavier, und Erich klopfte Beau auf die Schulter und beugte sich vor und sagte etwas, und Beau nickte und spielte hastig den »Limehouse Blues« zu Ende und begann ein neues Stück, eine langsame und nostalgische Melodie. Erich und Bruce winkten Markus zu und lächelten, als wollten sie ihm zeigen, daß der Legat und der Leutnant und der Kommandant recht dicke miteinander waren, ob er sich nun zu ihnen stellte oder nicht. Und während Siebensee Lili mit einer Begeisterung umarmte, 161
die bei mir die Frage weckte, warum ich soviel Phantasie auf eine genetische Behandlung für ihn verschwendet hatte, sangen Erich und Bruce: »Den Legionen der Verlornen, den kohortenweis’ Verdammten, Unseren Brüdern in den Tunneln vor der Zeit, Singen drei Veränderungsharte Zombies, Tod- und Robotabgestammte: Hoch das Verbrechen in Ewigkeit! Drei blinde Mäuse sind wir, in die falsche Zeit gerückt, Husch – husch – husch! Haben unser Jetzt verloren, Können niemals mehr zurück, Husch – husch – husch! Die Zeitkommandos sind bereit, Verdammt in jeglicher Möglichkeit, Verabscheue uns nicht, o Geistermaid, Husch – husch – husch!« Und während sie sangen, blickte ich auf meinen grauen Rock hinab und zu Maud und Lili hinüber und dachte: »Drei Aufreißerinnen für drei schwarze Husaren, das ist unser Leben!« Nun, ich hätte mich nie als ganz besonders Fixe angesehen, die alle Rennen gewinnt – dabei konnte ich mich nicht wohlfühlen. Wenn man’s genau bedenkt, so wie der Kurs abgesteckt ist, müssen wir auf lange Sicht wohl alle Rennen verlieren und gewinnen. Ich fingerte Illy zu: »Ja, das die Lage, Spinnenjunge.«
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Sie entführen das Baby Einstein, versenken siegreiche dorische Schiffe, lassen die Nazis ein zaristisches Rußland besetzen, ändern ein wenig an den politischen Konstellationen im alten Rom und an denen auf Luna. Sie kämpfen in allen Epochen, Wesen aus allen Zeiten und allen Bereichen des Kosmos, geisterhafte Doppelgänger ihrer selbst, Zeitsoldaten im Dienste der SPINNEN. Ein fantastischer Science Fiction-Abenteuerroman, preisgekrönt mit dem HUGO-Award.