George Constable
Eine tierische Erbschaft
Inhaltsangabe Lake Stevenson, Verleger und Werbetexter, ist so ziemlich pl...
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George Constable
Eine tierische Erbschaft
Inhaltsangabe Lake Stevenson, Verleger und Werbetexter, ist so ziemlich pleite. Da kommt es ihm gerade recht, daß er von seiner verstorbenen Tante eine Riesenvilla in einer der exklusivsten Wohngegenden Philadelphias erben soll. Doch die schrullige alte Dame hat die Erbschaft an zwei Bedingungen geknüpft: Lake darf die Villa nicht verkaufen – und er muß Randall, dem treuen Hund der Tante, bis an dessen Lebensende Wohnrecht gewähren. Schließlich soll er die Villa selbst bewohnen und sich höchstpersönlich um den Hund kümmern! Lake betrachtet die sonderbare Erbschaft zunächst als Strafe und versucht sich des Hundes und des Hauses zu entledigen. Doch Randall entpuppt sich als äußerst zutraulich, und schon bald schließt Lake den Hund mehr und mehr ins Herz, als ihm lieb ist. Auch an die Villa binden ihn mehr und mehr Gefühle, mit denen er nicht gerechnet hat. Der Gedanke, das Haus doch noch zu verkaufen, rückt in immer weitere Ferne. Vor allem, als er die Bekanntschaft der Maklerin Jennifer Dee macht, die sein ohnehin aus den Fugen geratenes Leben nun völlig auf den Kopf stellt …
Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel ›Where You Are‹ bei Doubleday Dell, New York Aus dem Amerikanischen von Liselotte Prugger Portobello Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Einmalige Sonderausgabe Juni 2001
Copyright © der Originalausgabe 1996 by George Constable Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: TIB/Pardo Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 55.229 RM Herstellung: Schröder Made in Germany ISBN 3-442-55229-X www.portobello-verlag.de 1 3 5 7 9 10 8 6 4 2 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
1 »Sie hat dir was vererbt?« fragte Ellen. »Ein Haus«, antwortete er. »Nur ihr Haus?« »Eines ihrer Häuser. In Chestnut Hill. Das Sommerhaus in Maine hat meine Schwester gekriegt.« »Was ist das für ein Haus?« »Ein massives Steinhaus. Ziemlich groß.« »Es war bestimmt auch 'ne Menge Geld da«, sagte Ellen. Lake schwieg. Er dachte an seinen letzten Be such im Haus vor ein paar Wochen: Tante Ilsa auf dem Sofa neben der Krankenschwester, die im Haus wohnte. Früher eine so starke Frau, saß sie nun stumm und zitternd da, zerschmet tert von mehreren Schlaganfällen. Die Kran kenschwester hatte ununterbrochen palavert, eine Stunde lang Frohsinn verströmt; wie ein Wasserfall war ihr Geschwätz den Abhang des Nachmittags hinuntergeplätschert. »Was ist nun mit ihrem Geld?« fragte Ellen, nachdem der Kellner den Hauptgang serviert hatte. »Das meiste davon ist an Tierschutzorganisa
tionen gegangen«, sagte Lake. »Für dich ist nichts geblieben?« »Auf jeden Fall reicht es für den Unterhalt des Hauses. Wie ich sie kenne, hat sie den Betrag bestimmt ganz genau ausgerechnet.« »Wieviel?« »Ausreichend.« »Und was ist mit deinem Vater?« »Was soll mit ihm sein?« »Was hat sie ihm vererbt?« »Bestimmt nichts.« »Wie das?« »Die beiden waren wie Hund und Katze«, sag te Lake. »Er ist nicht mal zu ihrem Begräbnis gekommen.« »Der muß ja ganz schön stinkig sein, daß er nichts abgekriegt hat.« »Das bezweifle ich.« »Aber er ist doch der nächste Verwandte.« »Es war von vornherein klar, daß sie ihm nichts hinterlassen würde. Einmal – da war ich acht Jahre alt – habe ich im Wohnzimmer mit gehört, wie sie meiner Mutter erzählt hat, was für ein mieser, egoistischer Typ er ist und daß sie heilfroh sein kann, ihn endlich los zu sein. Das war Tante Lisas Art, meine Mutter zu trös ten, nachdem er abgehauen war.« »Und was hat deine Mutter geantwortet?«
»Sie hat geheult.« Ellen nippte an ihrem Wein. Lake aß etwas Brot. »Und sonst gibt es keine Verwandten?« »Nur mich und Karen.« »Ganz schön verrückt.« »Was meinst du damit?« »Es ist verrückt, dir ein Haus zu hinterlas sen.« »Vermutlich wollte sie, daß es in der Familie bleibt«, sagte Lake. Er hatte keine Lust, Ellen zu erzählen, was genau in dem Testament stand, und er sagte auch nichts von dem Brief, den Tante Ilsa ihrem letzten Willen beigelegt hatte. »Und wie steht deine Schwester dazu? Ich meine, du erbst dieses große Haus, und sie kriegt nur 'ne Hütte in Maine.« »Was soll Karen mit einem Haus in Philadel phia? Das Haus in Maine kann sie von sich aus bequem in zwei Stunden erreichen. Wahr scheinlich freut sie sich.« »Du hast mit ihr also noch nicht gesprochen?« »Nein.« Lake hatte diese Unterhaltung all mählich satt, aber Ellen kam gerade in Fahrt. »Und was willst du mit einem so großen Haus anfangen? Du hast ja nicht gerade dringenden Bedarf an viel Wohnfläche.«
»Ich werd's verkaufen«, sagte er. »Hast du deine Tante oft besucht?« fragte sie. »Karen und ich haben den Kontakt nie abrei ßen lassen. Immer, wenn Karen in Philadel phia war, ist sie zur Tante gefahren. Das war schon fast ein Ritual. Und im letzten Winter war ich auch ein paarmal dort.« »Davon hast du mir gar nichts erzählt«, mein te sie. »Da gab's auch nichts zu erzählen. Als Mama krank war, hat sich Tante Ilsa rührend um uns Kinder gekümmert. Ich war es ihr schuldig.« »Und jetzt hast du ein Haus.« »Ja.« »Und warum nicht auch ihr Geld?« Am liebsten wäre er ihr über den Mund gefah ren: Schluß jetzt, Ellen, Schluß jetzt! Aber bis jetzt war es ein so schöner Abend gewesen. »Vermutlich war Tante Ilsa der Meinung, daß Tiere ihr Geld eher verdient hätten als Men schen«, meinte er. »Es ist auch nicht wichtig. Wie schmeckt dein Hähnchen?« »Vielleicht war sie ja unzurechnungsfähig«, sagte Ellen. »Testamente werden manchmal angefochten, wenn Tiere zu Alleinerben einge setzt werden.« »Sie war durchaus zurechnungsfähig«, blaffte Lake sie an. »Die letzten paar Monate vielleicht
nicht mehr, aber auf jeden Fall war sie zu der Zeit, als sie das Testament geschrieben hat, noch mächtig auf Draht.« »Woher willst du das wissen?« »Ich weiß es eben.« »Wieviel hat sie den Tierschützern hinterlas sen?« »Was weiß ich.« Er ließ sie spüren, daß sie ihm gewaltig auf die Nerven ging. Das zeigte Wirkung. Nach einer Weile fragte er: »Wie war dein Tag heute?« »Es hat schon bessere gegeben.« »War wieder was mit Bob?« »Heute hat er mich gefragt, ob ich in der Schule eigentlich Mathematik gehabt hätte.« »Wie ist er denn darauf gekommen?« »Mir ist ein Fehler passiert, als ich ein Spe senkonto überprüft habe.« »Aha.« »Ein völlig belangloser Fehler.« »Du hättest ihm sagen sollen, daß Einstein auch eine Niete in Arithmetik war.« »Falls du es genau wissen willst: Ich bin sogar sehr gut in Arithmetik. Das war das erste Mal, daß mir ein Fehler passiert ist.« »Dann soll er sich nicht so aufblasen.« »Mathematik hatten wir in der Schule sogar als Hauptfach.« Sie plauderten über ihre Kolle
gen im Büro, darüber, wie angenehm der Frühling in Philadelphia sein kann, und über das Essen. Die Spannung löste sich, und zärtli che Gefühle regten sich in ihm, als sie eine Ver käuferin nachäffte, die ihr in einem Super markt ein Make-up andrehen wollte. Er gab ein großzügiges Trinkgeld. Draußen flitzte ein Vollmond durch die Wolken, er hatte es eilig, ein unbestimmtes Ziel zu erreichen. Hingeris sen nahm er die Farben der Verkehrsampeln, die Geräusche der Stadt, den Hauch der war men Nachtluft auf. Ellen blieb vor einem Schaufenster mit Abendkleidern stehen. Die Schaufensterpuppen standen vor einem ver spiegelten Hintergrund. Lake betrachtete nachdenklich ihr beider Spiegelbild: ein glück liches, hübsches junges Paar. Später sahen sie in ihrem Schlafzimmer fern. Dann hatte er keine Lust mehr, in die Röhre zu schauen. »Was tust du da?« fragte sie, wäh rend ein Studioauditorium losbrüllte. Was er tat? Mit der Nase an ihrem Hals schnüffeln, mit den Fingerspitzen die Einbuchtung ihrer Taille nachzeichnen, die Wölbung ihrer Hüfte neu entdecken – ein seit Urzeiten bekanntes Spiel, das nie langweilig wurde, jeden einzel nen seiner Gedanken beanspruchte und weite re Berührungen geradezu herausforderte.
Zufriedenheit strömte durch seine Träume und sickerte am nächsten Morgen beim Aufwa chen träge in sein Bewußtsein. Ein arbeitsrei cher Tag lag vor ihm. Er hatte in Baltimore einen Termin mit dem stellvertretenden Ge schäftsführer einer Firma für Gartenzubehör, den er als neuen Kunden gewinnen wollte. Verkaufen gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, aber heute freute er sich fast darauf. Vielleicht war ja Tante Ilsas unverhofftes Geschenk der Grund für seine gute Laune, aber er zog es vor, das Wetter oder Ellen dafür verantwortlich zu machen. Sie, mit den Gedanken schon ganz bei der Arbeit, zog sich gerade fürs Büro an. Er fuhr kurz in seine Wohnung, um sich um zuziehen, rief Mary an, sagte ihr, daß er gegen Mittag ins Büro kommen würde, und legte In struX-Muster in seinen Aktenkoffer. Dann lief er die Treppe hinunter und hinaus in eine ihm wohlgesinnte Welt. Vor dem Haus war seine Vermieterin gerade dabei, rötlich-orangefar bene Blumen in einen Holztrog zu pflanzen. »Guten Morgen, Mrs. Reardon«, rief er. »Guten Morgen, Mr. Stevenson.« »Der Frühling ist gekommen«, sagte er fröh lich und deutete auf die Blumen. »Was sind das für welche?«
»Begonien.« »Hübsch. Fast die gleiche Farbe wie die Zie gel. Eine geradezu vibrierende Kombination.« Sie stand auf und betrachtete stirnrunzelnd die Blumen. Lake hatte sich schon öfter über ihren Sinn für seltsame Farbzusammenstel lungen gewundert, aber sie war eine nette Ver mieterin, die das Haus gut in Schuß hielt. Ge gen nichts auf der Welt würde er sie und seine Wohnung im oberen Stockwerk eintauschen – und schon gar nicht gegen Tante Ilsas mauso leummäßigen Steinhaufen. »Ich fahre nach Baltimore zu einem Kunden, der Gartengeräte herstellt«, sagte er. »Kann ich Ihnen etwas mitbringen? Brauchen Sie et was für Ihren Garten?« Sie starrte noch immer stumm auf die orange farbenen Begonien. Lake versuchte seinen re spektlosen Kommentar von vorhin abzumil dern. »Wird bestimmt gut aussehen«, sagte er. »Ein echter Blickfang.« Der Morgen schwelgte in sattem Grün und Sonnenlicht. Nachdem er sich in den Verkehr auf der I-95 eingefädelt hatte, öffnete er die Autofenster und fuhr in seiner eigenen Privat brise nach Süden. Die Autobahn schlängelte sich um das heruntergekommene Chester her um, eilte an Wilmington vorbei und fegte als
langgezogener, kalligraphischer Betonstrich über die Hügel von Maryland. Zum ersten Mal nahm Lake die Häuser links und rechts von der Autobahn bewußt wahr. Manche lagen weit entfernt inmitten von Scheunen und Nebenge bäuden. Andere duckten sich in Talsenken oder standen im Wasser. Wieder andere drängten sich an Kreuzungspunkten von Land straßen zu kleinen Gruppen zusammen. Als Training für die bevorstehende Immobilien transaktion versuchte Lake die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Häuser festzustellen. Kein leichtes Unterfangen, ein Haus nur als Objekt zu sehen. Bei Wohnhäusern spielen oft Gefühle mit, wenngleich er das in seinem Fall getrost ausschließen konnte. Die Büros seines Kunden lagen in einem ele ganten Gebäudekomplex, umgeben von einem perfekt gepflegten, samtweichen Rasen, der fast unecht aussah. Die Empfangsdame führte ihn in das Büro des stellvertretenden Ge schäftsführers Derek Kast, einem Mann um die Vierzig, mit Schnurrbart und umgeben von einer Aura von Ungeduld. Lake reichte ihm seine Karte: InstruX Asso ciates, Lake Stevenson, Geschäftsführer. »Ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, des halb werde ich mich kurz fassen«, begann er.
Er öffnete den Aktenkoffer und holte einige Muster heraus. »Diese hier möchte ich Ihnen da lassen. Sie sprechen eigentlich für sich.« Derek Kast warf einen Blick auf seine Arm banduhr. »Wie ich schon am Telefon sagte«, fuhr Lake fort, »befassen wir uns mit der Herstellung von Anleitungen. Betriebsanleitungen, Benut zeranleitungen, kurz und gut, sämtlichen Do kumentationen, die den Endverbraucher bei Montage und Anwendung von Produkten oder Verfahren begleiten und ihm Tipps an die Hand geben, wenn etwas einmal nicht so funk tioniert, wie es sollte. Wir haben Kunden in al len Branchen, und wir würden gerne auch Sie als neuen Kunden gewinnen.« »Wir machen unsere Anleitungen selbst«, schnarrte Derek Kast. »Sie könnten besser sein.« Kasts Augen verengten sich. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, daß die Qualität der Betriebsan leitungen die Qualität eines Unternehmens und seiner Erzeugnisse widerspiegeln sollte«, gab Lake zur Antwort. »Sie verkaufen hoch wertige Ware, erstklassige Ware, aber ich be zweifle, daß Ihre Kunden von Ihrer Dokumen tation dasselbe sagen.« Er hielt sein
Beweisstück hoch, ein eng beschriebenes, un verständliches Blatt mit Bedienungshinweisen für einen programmierbaren Sprinkler. Eine Freundin, Charlotte, hatte Lake die Anleitung gegeben, nachdem es ihr nicht gelungen war, ihren Sprinkler in Betrieb zu setzen. »Sie wollen also behaupten, daß unsere Anlei tungen schlecht sind?« »Jedenfalls können sie Ihrem Sprinkler nicht das Wasser reichen«, sagte Lake. »Haben schon Kunden bei Ihnen reklamiert, weil sie nicht damit zurechtgekommen sind?« »Eher selten.« »Kommen manchmal Geräte zurück, die schon bei der Inbetriebnahme versagt haben?« »Eigentlich kaum.« »Sie kennen Ihr Geschäft selbst am besten«, fuhr Lake fort. »Ich lasse Ihnen diese Arbeits muster hier. Ich bitte Sie nur, sie mit Ihren An leitungen zu vergleichen.« »Das ist ja eine merkwürdige Marktnische, die Sie da aufgetan haben. Betriebsanleitun gen, so was.« »Auf jeden Fall sind wir in eine Marktlücke gestoßen«, sagte Lake. »Gute Instruktionen helfen einem Unternehmen nicht nur, Geld zu sparen, sie bringen ihm auch Geld ein, weil sie großen Anteil am Aufbau eines Corporate
Image haben. Aber sie sind schwieriger herzu stellen, als man meinen möchte. Einerseits müssen Bedienungsanleitungen so einfach wie möglich sein, damit der Kunde sie überhaupt zur Hand nimmt, andererseits müssen sie klar gegliedert sein und vollständige Informationen enthalten. Wenn die Anleitung gut ist, hat der Kunde keine Chance, den Faden zu verlieren. Es ist fast unmöglich, gute Instruktionen zu missachten.« »Zu missachten?« wiederholte Kast. »Ja, darauf läuft es letztendlich hinaus«, be stätigte Lake. »Sie meinen wohl ›falsch interpretieren‹ und nicht ›missachten‹.« »Wie man das Kind nennt, ist letztlich nicht so wichtig«, erklärte Lake, »aber der Punkt ist doch, daß man dem Kunden keine Gelegenheit geben möchte, etwas falsch zu machen. Und das heißt, kein Fachchinesisch, gute Illustra tionen und was sonst noch alles dazugehört.« »Ja, sicher.« »Ein geschultes Auge erkennt mögliche Pro bleme schon im Ansatz.« »Normalerweise testet meine Frau die Anlei tungen für ein neues Produkt«, sagte Kast. »Vielleicht möchte sie Ihnen nicht ins Gesicht sagen, was sie wirklich davon hält«, meinte
Lake, »oder vielleicht erkennt sie zwar ein Pro blem, weiß aber nicht, wie sie es lösen kann.« »Möglich.« Lake legte seine Muster auf den Schreibtisch. Kast blätterte sie flüchtig durch. Ein kurzer Blick auf eine Montageanleitung für Möbel, eine Betriebsanleitung für einen Mixer und ein Spielzeugauto; dann – sein Interesse war of fenbar geweckt – zog Lake einen achtseitigen Leitfaden für Hobbygärtner heraus, den In struX zwei Jahre zuvor als Werbebroschüre für eine Samenhandlung gemacht hatte. Er be obachtete Derek Kast, der die Broschüre auf merksam studierte, und freute sich, daß er ge rade diesen Prospekt mitgenommen hatte: typographisch lebendig gestaltet, klare, über sichtlich gegliederte Aussagen, gute Fotos. Ein Meisterwerk. »Unsere Stärken sind Übersicht lichkeit und klare, vollständige Aussagen«, be kräftigte Lake. Nachdem er Lake auf dem Firmengelände herumgeführt hatte, begleitete Derek Kast sei nen Besucher zum Hauptausgang, schüttelte ihm die Hand und bemerkte nebenbei: »Wir entwickeln im Moment gerade eine elektrische Heckenschere. Ein recht anspruchsvolles Pro dukt.« »Vielleicht könnten wir dabei mit Ihnen zu
sammenarbeiten.« »Nun ja, ich hatte mir schon überlegt, diese Dokumentation noch anschaulicher als sonst zu gestalten.« »Da sind Sie bei uns an der richtigen Adresse«, sagte Lake. »Rufen Sie mich in ein, zwei Tagen an.« »Sehr gerne«, freute sich Lake. »Ihr Rasen ist übrigens eine wahre Augenweide! Ich wünsch te, meiner würde auch so aussehen.« Er ver suchte sich Tante Ilsas Rasen vorzustellen. Er hatte nie darauf geachtet. Als Lake sich zum Gehen wandte, fragte Kast: »Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, sich ausgerechnet mit Dokumentationen zu be schäftigen?« »Ich wollte schon immer meine eigene Firma haben«, erklärte Lake. »Ein paar Jahre lang hatte ich einen Verlag, und irgendwann war es für mich nur logisch, auch Dokumentationen anzubieten.« Kast war damit offenbar noch nicht zufrieden, also setzte Lake hinzu: »Viel leicht entspricht das auch meiner inneren Na tur.« ***
Als er das Büro betrat, waren alle in ihre Ar beit vertieft. Er setzte sich an den Schreibtisch
und schaute eine Weile zum Fenster hinaus, dachte über Kantenschneider, über Scheren und über Rasensprenger nach und überschlug das Auftragsvolumen, das sich InstruX von De rek Kast erhoffen durfte. »Deine Schwester hat angerufen«, sagte Mary. »Hat sie etwas gesagt?« »Sie wollte nur, daß du sie zurückrufst.« Lake hatte keine Lust dazu. Er machte sich daran, die Bildunterschriften zu redigieren, die Danny für den Zusammenbau eines kom plizierten Regalsystems entworfen hatte. Mit frisch gespitztem Bleistift, Nr. 2, strich er überflüssige Worte durch, rottete passive Ver ben aus und setzte Kommas zwischen Halbsät ze, die Danny nicht als solche erkannt hatte. Das war Arbeit, die er schätzte; eine ähnliche Befriedigung mußte ein Gärtner beim Un krautjäten empfinden – und das brachte ihn auf den Gedanken, sich ein Buch über Garten kunde zuzulegen. Auf einen Notizzettel kritzel te er: Gart.Bch. Auch mußte er sich näher mit dem Thema Hunde befassen. »Mary«, fragte er, »hatten wir nicht vor ein paar Jahren mal etwas über Haustiere? Gibt es etwas über Hunde?« Mary ging an die Registratur und begann zu suchen. Sie fand eine Broschüre: Die richtige
Pflege von Goldfischen. »Das ist das einzige, was wir über Haustiere haben«, sagte sie. »Ei gentlich haben wir es auch nicht selbst ge macht, sondern nur ein bißchen aktualisiert.« »Warum weiß ich nichts von dem Auftrag?« »Damals warst du gerade in Urlaub. Danny hat das gemacht, gleich nachdem er bei uns an gefangen hat.« Lake begann zu lesen: Goldfische sind sehr alte Haustiere, deren Geschichte mehr als tau send Jahre zurückreicht. Wie bitte? Wen interessiert denn so etwas? Die Schwimmblase Ihres Goldfisches funktio niert wie der Ballasttank eines Unterseeboo tes. Die Schwimmblase ermöglicht es ihm, im Wasser aufzusteigen oder abzusinken, ganz wie es ihm beliebt. Wie? Tankt der Fisch Wasser? Tankt er Luft? Entscheiden sich Fische ›nach Belieben‹? In einem anderen Abschnitt ging es darum, den Kies zu reinigen, bevor er ins Aquarium gefüllt wird. Dazu können Sie den Kies in unbenutzte Blu mentöpfe schütten. Weshalb? Damit das Wasser unten aus dem Topf läuft? Wie viele Besitzer von Zierfischen besitzen überhaupt Blumentöpfe? Was ist mit Alternativen?
Lake warf das Handbuch für Goldfische in eine Ecke und machte sich wieder an Dannys Texte für das Regalsystem, zerpflückte sie und kritzelte hartherzige Notizen an den Seiten rand: ›Direkter formul.‹, ›Ausdruck!‹, ›Unklar!‹ ***
Als er an diesem Abend nach Hause kam und den Anrufbeantworter abhörte, sagte Karens Stimme: »Lake, ruf mich bitte noch heute Abend an. Ich kann's nicht glauben!« Er hatte noch immer keine Lösung gefunden, wie er die Geschichte mit dem Haus und die damit zusammenhängenden Probleme am bes ten anpacken sollte. Zunächst einmal ent schloß er sich, strategisch vorzugehen: Er legte die nötigen Unterlagen fein säuberlich neben einander auf den Schreibtisch und sondierte die Rechtslage. Zunächst Tante Ilsas Testa ment: Für den Fall, daß mein Neffe Lake Steven son mich überlebt, vermache ich ihm mein Haus samt Grundstück in der Peal Avenue Nr. 73, Philadelphia, Pennsylvania, ein schließlich des gesamten Mobiliars und der Ausstattung mit der Maßgabe, daß er sich
meinem persönlichen Vertreter gegenüber bereit erklärt, meinen Hund Randall auf und in dem obengenannten Anwesen auf seine Kosten zu versorgen, zu pflegen und zu be treuen, bis Randall eines natürlichen Todes stirbt. Ausgenommen hiervon ist die Zeit, in der Randall auf meinem Besitz Pinecroft, York Harbor, Maine weilt … Die Bedingungen waren eindeutig. Um an das Haus zu kommen, mußte er den Hund neh men. Weiter verlangte sie von ihm, das Haus so lange zu behalten, bis der Hund an Alters schwäche gestorben war; Verkaufen war also nicht drin. Dann, auf den anderen Seiten des Testa ments, ging es hauptsächlich um Geld; das war ihm alles recht. Sein einziges Problem war die Hundeklausel. Der Testamentsvollstrecker, Billington Vere, hatte schon eine Einverständ niserklärung vorbereitet, die Lake unterschrei ben sollte. Ich akzeptiere das Haus zu den genannten Bedingungen und erkläre mich bereit, den Hund im Haus zu betreuen. Als nächstes nahm er sich den persönlichen Brief vor, den er von Vere zusammen mit den anderen Unterlagen bekommen hatte. Diesen
Brief hatte seine Tante am fünfzehnten Febru ar des vergangenen Jahres verfasst, kurz nach dem Karen und er bei ihr zu Besuch gewesen waren. Ungefähr eine Stunde hatten sie mit ihr über alte Zeiten geplaudert – ein ganz gewöhn licher Besuch, nichts Besonderes, aber ver mutlich war ihr damals die Idee gekommen, ihnen beiden die Vormundschaft für den Hund anzuhängen. Sie hatte recht gebrechlich ge wirkt. Lieber Lake! Ich schreibe Dir diesen Brief, um Dir von meinem wunderschönen Springer-Spaniel Randall zu erzählen. Er stammt aus einer hervorragenden Zucht, wovon Du Dich an hand der Papiere, die ich beigefügt habe, selbst überzeugen kannst. Er ist mir ein Freund und Lebensgefährte von höchster Loyalität und Zuneigung. Zu diesen Charak terzügen gesellen sich Sanftmut, ein zurück haltender Spieltrieb und eine natürliche Nei gung zu gutem Benehmen, was bei seiner Rasse keineswegs selbstverständlich ist und ein einzigartiges Licht auf seinen Charakter wirft. Randall hat sein ganzes Leben bei mir verbracht. Wenn ich einmal von ihm gehen muß, zweifle ich nicht daran, daß er be drückt sein wird. Ich habe mir gründlich
überlegt, wie ich ihn am besten vor solchen Gefühlen schützen kann. Dir ist möglicher weise nicht bekannt, daß Hunde eine ebenso enge – wenn nicht sogar eine noch engere – Bindung an ihr Zuhause haben wie Men schen. Randalls Zuhause ist dieses Haus und Pinecroft. Ich wünsche, daß es so bleibt. Aus diesem Grund beabsichtige ich, dieses Haus Dir zu vermachen und Pinecroft Deiner rei zenden Schwester Karen. Ich kenne Karen als junge Dame mit untadeligen Manieren und erfreulichen Charakteranlagen. Sie er innert mich so sehr an Eure liebe Mutter, die ihr schweres Leben mit einer bewunderns werten Würde ertrug. Es ist mein Wunsch, daß dieses Haus Randalls Heim und auch das Deine sein soll und daß Randall seine Sommerferien in Pinecroft verbringt. Jedes Jahr am ersten Juli reiste ich nach Pinecroft und kehrte Ende August nach Philadelphia zurück. Ich denke, Randall würde es sehr schätzen, wenn dieser Zeitplan auch in Zu kunft beibehalten werden könnte. Eine sol che Vereinbarung wurde zwar in meinem Testament festgehalten, aber ich möchte, daß Du sie als Familienangelegenheit und nicht als rechtliche Konstruktion betrach test. Natürlich hoffe ich, daß Du in diesem
Haus glücklich sein wirst. Ich denke, daß es gegenüber Deinen derzeitigen Lebensum ständen eine beträchtliche Verbesserung darstellen wird, und es bietet bestimmt ge nügend Platz, wenn Du einmal heiraten und eine Familie gründen solltest. Ich möchte Dir eindringlich raten, bei Deiner Braut schau mit größtmöglicher Sorgfalt und Be dachtsamkeit vorzugehen. Vereinbarkeit der Temperamente ist die erste Voraussetzung für häusliches Glück, und daß eine falsche Partnerwahl mit viel Elend und Kummer be zahlt werden muß, brauche ich ausgerech net Dir nicht zu sagen. Ich setze allergrößtes Vertrauen in Deinen gesunden Menschen verstand. Ich freue mich, sagen zu können, daß Du die Anlagen Deiner Mutter geerbt hast. Wenn es für Dich an der Zeit ist, zu hei raten und Kinder großzuziehen, wird Ran dall vermutlich schon ein älterer Herr sein. Kinder sind ihrem Naturell entsprechend oft ungestüm. Es liegt in ihrem Wesen, wird aber allzu oft nicht in die rechten Bahnen ge lenkt. Ich bitte Dich daher, die Kinder nur in denjenigen Räumen des Hauses herumtoben zu lassen, die Randall nicht bevorzugt. So bald Du ihn näher kennst, wirst Du feststel len, daß Randall Lärm unerträglich findet.
Dies sind meine Wünsche. Ich werde sie Ka ren in einem eigenen Brief erläutern. Ich denke, daß die Sache mit dem Lärm in ihrem Fall eine etwas heiklere ist, da sie bereits über die Privilegien der Mutterschaft ver fügt. Falls Du feststellen solltest, daß in Pi necroft der Trubel zu einem Problem wird, bitte ich Dich sehr herzlich, dieses Thema mit Deiner Schwester zu erörtern und für Abhilfe zu sorgen. Deine Dich liebende Tante Ilsa Ein recht eloquenter Brief, auf irrsinnige Wei se eloquent. Er warf einen Blick auf das Doku ment, das Randalls vorgeblich hohe Herkunft bescheinigte, und las, daß der Hund noch nicht ganz sechs Jahre alt war. Die Chancen standen ziemlich schlecht, daß er in naher Zukunft ohne äußere Einwirkung hinscheiden würde. Andererseits aber könnten durchaus unvor hergesehene Ereignisse eintreten. In dieser ge fährlichen Welt kann die Existenz eines Hun des niemals als gesichert gelten. Er rief seine Schwester an. »Ist das denn zu glauben?« zeterte Karen. »Was?« »Ich kriege ein Haus als Sommerresidenz für
einen Hund«, jammerte sie. »Tante Ilsa hat mich zu ihrem Hundemädchen bestimmt!« »Aber wenigstens nur zwei Monate im Jahr. Ich hab den Köter die übrigen zehn Monate am Hals.« »Ich denke, das ist ein geringer Preis für ein großes Haus.« »Ich will aber kein Haus«, sagte Lake. »Du mußt zugeben, daß das sehr großzügig von ihr war.« »Karen, es geht doch gar nicht um uns. Merkst du denn nicht, was sie getan hat? Sie hat ihre Häuser dem Hund vermacht, ihrem gottverdammten Randall.« »Aber für uns auch.« »Ja und nein. Sieh mal«, erklärte er, »was braucht denn ein Hund außer einem Haus? Ein Hund braucht ein Herrchen. Also hat sie ihr Testament so verfasst, daß ihr Hund beides kriegt: ein Haus und ein Herrchen. In unserem Fall zwei Häuser und zwei Herrchen. Das ist doch außerordentlich clever, das Werk einer wahren Hundenärrin.« »Das sehe ich nicht so.« »Trotzdem habe ich recht.« »Du wirst das Erbe doch nicht ausschlagen, oder?« »Ich werde das Haus verkaufen.«
»Das kannst du nicht«, sagte Karen. »Das werden wir schon sehen.« »Ich habe auch ein Problem«, bemerkte sie. »Wir können diesen Sommer nicht nach Maine fahren. Wir haben uns für Juli schon ein Feri enhaus in Martha's Vineyard gemietet.« »Ich bin sicher, daß Randall nichts dagegen hat, dieses eine Mal in Martha's Vineyard an statt in Maine Urlaub zu machen. Ich meine, er muß solche Dinge pragmatisch sehen.« »Wir können ihn aber nicht mitnehmen. Im Mietvertrag gibt es 'ne Klausel, nach der keine Haustiere gestattet sind. Könntest du ihn nicht diesen Sommer über behalten? Oder zumin dest den Juli über?« »Das wird vielleicht gar nicht nötig sein«, gab Lake zur Antwort. »Hast du übrigens die Er klärung unterschrieben, daß du mit den Bedin gungen des letzten Willens einverstanden bist?« »Noch nicht.« »Wir werden aber unterschreiben müssen«, meinte Lake. »Gestern hat mich dieser Vere, der Testamentsvollstrecker, angerufen. Er ist ein glühender Fan von Tante Ilsa. Ein Mann von allerhöchster Gesinnung.« »So ein Testament ist mir noch nicht unterge kommen. Vielleicht ist die Klausel mit dem
Hund ja rechtswidrig.« »Sie ist rechtens, das kannst du mir glauben, aber ich bin mir fast sicher, daß sie nicht durchgesetzt werden kann. Soweit kenne ich mich mit Gesetzen aus. Für den Fall der Zuwi derhandlung wird keine Strafe angedroht. Al les ist eher vage gehalten. Hier geht es um nichts als ein Ehrenwort.« »Hört sich aber recht eindeutig an«, sagte sie. »Karen, das ist ein Verfahren, nach dem wir handeln sollen, nicht aber ein Verfahren, nach dem wir handeln müssen. Das ist ein großer Unterschied. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe mit solchen Sachen tagtäg lich zu tun. Und abgesehen davon ist Tante Il sas Brief ja mehr oder weniger eine Bestäti gung dafür, daß es sich um eine ehrenwörtliche Abmachung handelt. Wenn sie die Geschichte hätte wasserdicht machen kön nen, hätte sie's bestimmt getan.« »Ich würde zu gern wissen, ob sie Daddy was hinterlassen hat.« »Machst du Witze?« »Na ja, vermutlich nicht.« »Vere möchte, daß ich sofort einziehe«, sagte Lake. »Im Moment kümmert sich eine Haus hälterin um den Hund.« »Und was machst du jetzt?« fragte sie.
»Ich krieg das schon geregelt. Das Wichtigste ist, die unangenehmen Seiten der Geschichte zu minimieren. Als erstes werden wir den Hund pro forma akzeptieren. Aber ich bin mir sicher, daß ich demnächst etwas deichseln kann.« »Was zum Beispiel, Lake?« fragte sie. Aus ih rer Stimme sprach Missfallen, das er aber überhörte. »Hunde wechseln ihre Herrchen. So etwas passiert jeden Tag.« Sie schwieg. »Lass mich nur machen«, sagte er. »Sprich bitte mit niemandem darüber. Wenn jemand fragt: Wir haben uns noch nicht über den Hund unterhalten.« »Okay.« »Ich melde mich in ein paar Tagen wieder bei dir«, versprach er. Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er die Vereinbarung lange an. Es war ein Knebelver trag, ein Dokument, das ihn zum Sklaven eines Hundes herabwürdigte. Aber er setzte seine Unterschrift darunter. Jede Verzögerung wür de möglicherweise Verdacht erregen. Außer dem gab es einen weiteren guten Grund zu un terschreiben. Hindernisse hatten ihn schon immer gereizt. Wie der große Houdini würde
er sich aus Tante Ilsas Fallstricken befreien. ***
Am nächsten Tag fuhr er in der Mittagspause zum Haus hinaus. Als er sich dem Gebäude nä herte, schaltete er seinen Kopf auf Leerlauf; er wollte das Haus mit den Augen eines potentiel len Käufers sehen. Es war beeindruckend. Es hatte Würde, Gewicht, Präsenz; die Steinfassa de und das Schieferdach stammten aus einer Zeit, in der noch massiv gebaut wurde. Um das Anwesen herum lief eine niedrige Steinmauer mit einem schmiedeeisernen Zaun, der mit de korativen, aber gefährlich aussehenden Speer spitzen die Privatsphäre sicherte. Eine alte, sorgfältig getrimmte Eiche überspannte den Rasen vor dem Haus; im Garten wuchsen ver streut dekorative Hartriegelgewächse. Buchss träucher flankierten den vorderen Treppen aufgang, und der Rasen war perfekt gepflegt. Weitere Häuser desselben Baustils grenzten an das Anwesen; jedes von ihnen vermittelte die gleiche gesellschaftliche Botschaft. Die Straße war absolut ruhig, bar jeglicher städtischen Lärmbelästigung. Lake schätzte, daß Tante Il sas Haus eine Menge Geld einbringen würde. Er drückte auf die Klingel. Nach langer Zeit öffnete sich die Tür einen Spalt, und ein sauer
töpfisches Gesicht spähte heraus. »Ja?« »Ich bin Lake Stevenson, der Neffe von Mrs. Grinnell. Wer sind Sie bitte?« »Mrs. Lundquist.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Lund quist.« Sie öffnete die Tür. Lake trat in die Eingangs halle. Im Haus war es düster; er nahm sich vor, überall Licht einzuschalten, wenn er Kauf interessenten herumführte. Aber auch ohne Licht gab es genügend zu entdecken: ein Per serteppich auf dem Fußboden, ein großer, goldgerahmter Spiegel an der Wand, ein Tisch mit Marmorplatte, auf dem eine Famille-VerteVase stand, eine wunderschöne Hängelampe. »Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen«, sagte er. »Ach so.« Ausdruckslos beobachtete sie ihn hinter ihren Brillengläsern. Sie war eine Sym phonie in Grau, graues Kleid, graues Haar, graue Augen. Ihre Haut war ungewöhnlich blass, fast transparent, durchzogen von feinen Linien. »Mr. Vere meinte, ich sollte mich hier mal umsehen«, sagte er. »Ja, er sagte, daß Sie kommen wollten«, gab sie zur Antwort. »Und wie geht es hier so?«
»Meinen Sie Mrs. Grinnells Hund?« »Nein. Ich meinte, ob hier im Haus alles in Ordnung ist und ob Sie etwas brauchen.« »Mr. Vere hat dafür gesorgt, daß ich alles habe, was ich brauche.« »Kommen Sie jeden Tag?« »Ja, ich komme um acht Uhr dreißig und gehe um sechzehn Uhr dreißig.« »Und was geschieht mit dem Hund an den Wochenenden?« »Ich gebe ihn in die Hundepension an der Daymond Street. Ich bringe ihn mit dem Taxi hin. Mr. Vere hat alles arrangiert.« »Ach so. Mr. Vere war vermutlich ein Freund meiner Tante?« »Ja, ich glaube.« »Und wo ist der Hund heute?« »In der Küche. Er mag es nicht, wenn Leute kommen.« »Wer ist denn gekommen?« »Nur der Postbote und der Lieferwagen von Stieblers. Mrs. Grinnell hat bei Stieblers im mer Lebensmittel und alles Nötige für den Haushalt bestellt. Mr. Vere wollte, daß diese Regelung beibehalten wird. Natürlich hat Ada immer die Bestellungen durchgegeben.« »Ada?« »Die Köchin von Mrs. Grinnell.«
»Ich habe eine Köchin?« »Nein. Ada gehört nicht mehr zum Haushalt. Mr. Vere hat sie entlassen.« Lake fiel auf, wie sie das Wort ›Haushalt‹ be tonte; als wäre für sie dieser Job quasi institu tionalisiert. »Offensichtlich ist alles perfekt organisiert«, sagte Lake. »Mr. Vere hat an alles gedacht.« »Haben Sie schon lange für meine Tante, äh, für den Haushalt gearbeitet?« »Fast zwei Jahre.« »Ich verstehe. Sie war wirklich ein wunderba rer Mensch.« »Ja.« »Ein bißchen streng vielleicht, finden Sie nicht?« »Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen.« »Bestimmt war sie streng. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe? Kümmern Sie sich nicht um mich, ich finde mich schon zurecht.« Sie verschwand durch eine Tür am hinteren Ende der Eingangshalle. Er schlenderte ins Wohnzimmer. Hier war ihm alles vertraut; seit seiner Kindheit hatte sich kaum etwas verän dert: der Tisch mit den Messingbeschlägen, das Chintzsofa und die plüschbezogenen Stüh
le; der riesige Kaminbock aus Messing hinter dem Kaminschirm; das Porträt von Onkel Paul über dem Kaminsims, der wie ein silberhaari ger Raubvogel aussah; die Seidenvorhänge; die Lampen, der Teewagen und die Queen-AnneKerzenhalter – alles war noch da: Tante Ilsas Welt, beladen mit Zeit und Erinnerungen. Auf dem großen Tisch vor dem Fenster stand eine Sammlung von gerahmten Fotos, manche zeig ten Tante Ilsa und Onkel Paul, andere Men schen und Orte, die ihm unbekannt waren. Lake nahm eines der Fotos zur Hand. Es zeigte einen Springer-Spaniel, der auf einem Kissen neben dem Ruderstand eines großen Segelboo tes thronte und sehr selbstzufrieden wirkte. Der geheiligte Randall, der Sommerfrische in Maine frönend. Er sank in einen Sessel. An eines erinnerte er sich aus seiner Kindheit besonders lebhaft, wenn er in diesem Haus zu Besuch war: Immer wollte er diesem Wohnzimmer so schnell wie möglich entfliehen. Er und Karen waren oft ausgebüxt und hatten unter dem Dach gespielt, während sich die Erwachsenen im Wohnzim mer unterhielten: zwei kleine Kinder, leicht und ausdehnungsfähig, erhoben sich aus ei nem dichteren Medium und schwebten him melwärts. Selbst jetzt, nach so vielen Jahren,
verspürte er noch denselben Drang, sich hin auf in die Abgeschiedenheit des Dachbodens zu flüchten und ein Wiedersehen mit den ver staubten Schätzen zu feiern – den ramponier ten Möbeln und den Schachteln mit allem mög lichen Krimskrams. Tante Ilsa war vermutlich nie hinaufgegangen; bestimmt hatte sie nicht gewußt, daß sich in diesem Haus Gegenstände verbargen, die man zu einem Palast oder ei nem Fort zusammenbauen konnte, insbeson dere dann, wenn man eine kleine Schwester hatte, die einem nicht nur assistierte, sondern das schöpferische Genie des Bruders auch noch gebührend lobte. Er kehrte dem Wohnzimmer den Rücken und ging weiter auf Entdeckungsreise. Überall fand er Anzeichen vorübergehend eingestellter häuslicher Rituale – Kerzen auf dem Esstisch, die darauf warteten, angezündet zu werden, ein Fernseher in der Bibliothek, der darauf wartete, eingeschaltet zu werden, ein Brieföff ner auf dem Schreibtisch, der auf Post wartete. Er ging nach oben und inspizierte die Schlaf zimmer, die Ankleideräume und die Bäder. Die Schränke waren leer: Wenigstens die Kleider der Tante waren fortgeschafft worden. Dann hielt er es für angebracht, Randall in der Küche aufzusuchen. Als er die Schwingtür
aufstieß, erhob sich der Hund steifbeinig von seinem Lager und schenkte ihm ein paar lust lose Schwanzbewegungen. Er war braun-weiß gefleckt, mit Hängeohren, braunen Augen, ei ner großen, rosigen Nase und einem kummer vollen Gesichtsausdruck. »Hallo, Randall«, begrüßte ihn Lake freund lich. Die Antwort war ein oberflächliches Schwan zwedeln. »Hast'n Nickerchen gemacht?« Der Hund tappte herüber und schnüffelte an Lakes Hosenbeinen. Dann machte er kehrt, wackelte zu seinem Platz zurück und legte sich hin. Dieses Verhalten war ganz nach Lakes Ge schmack. Randall war kein geselliger Hund, nicht einmal ein liebenswerter Hund. Definitiv aber ein entsorgbarer Hund. Er schaute in den Kühlschrank. Er war leer. Er öffnete eine Schranktür und entdeckte einen riesigen Sack Hundefutter – Proviant für viele Monate. »Pech für dich, Randall«, sagte er. Der Hund machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu heben, aber er verfolgte Lake mit den Augen, beobachtete die Situation mit gelang weilter Miene. Lake hielt es für besser, in An betracht der ungewissen Zukunft des Hundes
die Kommunikation mit ihm auf ein Minimum zu beschränken, drehte sich um, ließ die Kü chentür hinter sich zufallen, ging durch An richtezimmer und Esszimmer in die Eingangs halle und rief Mrs. Lundquist. Sie erschien auf dem oberen Treppenabsatz. »Ja?« fragte sie. »Ich gehe jetzt, Mrs. Lundquist. Wahrschein lich komme ich an diesem Wochenende noch mal vorbei.« »Soll ich den Hund dann hier lassen?« »Nein, bringen Sie ihn wie gewohnt in die Pension. Ich weiß noch nicht genau, ob ich es schaffe.« Er dachte einen Moment lang nach. »Was hat Mr. Vere zu Ihnen wegen des Hundes gesagt?« »Er sagte mir, daß Sie den Hund entspre chend Mrs. Grinnells Verfügung hier im Haus behalten werden.« »Ja. Ja, das ist richtig. Aber ich weiß noch nicht, wann ich hier einziehen werde. Bitte machen Sie also vorläufig so weiter wie bisher, das wäre das beste.« »Gut.« »Ich bin sicher, daß wir uns hier alle wohl fühlen werden«, sagte er und dachte bei sich: Vorläufig jedenfalls.
2 Am Samstagnachmittag fuhr er mit Ellen wie der zum Haus hinaus, parkte das Auto in der Garage und eskortierte sie zum Vorderein gang, um ihr einen angemessenen Auftritt zu verschaffen. »Mann o Mann«, rief sie, als sie auf die vorde re Treppe zugingen. »Eine Zeitreise in die Vergangenheit.« Stocksteif, wie ein Jagdhund auf der Pirsch, stand Ellen in der Halle; dann steuerte sie auf das Wohnzimmer zu. Er folgte ihr. Mit den Au gen machte sie Inventur, berührte die Vorhän ge mit einer Fingerspitze, wie um ihr Gewicht zu prüfen, strich im Vorbeigehen mit einer Hand über eine Stuhllehne und spähte aus ei nem Fenster. Es kam ihm so vor, als paßte sie ihre Eindrücke in irgendein kompliziertes geistiges Modell ein, das sich seinem Verständ nis allerdings schon im Ansatz entzog. »Typisch Tante«, sagte er. »Nicht gerade typisch für dich.« »Ganz bestimmt nicht.« »Wer ist das?« Sie deutete auf das Porträt über dem Kamin. »Der Mann meiner Tante, Onkel Paul. Ich habe ihn kaum gekannt. Er war viel älter als sie. Es war seine zweite Ehe.«
»Schaut wie ein Industriekapitän aus.« »Er war Bankier.« »Käpt'n Paul«, sagte sie. »War er es, der das ganze Geld mit in die Ehe gebracht hat?« »Mehr oder weniger.« »Der hat ja richtige Killeraugen.« »Ich würde sagen, daß sein Killerinstinkt eher unterentwickelt war«, sagte Lake. Der nächste Raum in Ellens Besichtigungs programm war die Bibliothek. Sie probierte einen Ledersessel aus, nahm auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz und zog eine Schublade auf. Lake sah, daß sie ein paar Blät ter Papier in der Hand hielt. Vielleicht war es nur unbeschriebenes Papier, aber plötzlich kam ihm der Gedanke, daß es klüger gewesen wäre, das Haus zunächst allein unter die Lupe zu nehmen und erst dann Ellen mitzunehmen. Sie öffnete eine weitere Schublade. »Die Eigentumsübergabe hat noch nicht statt gefunden«, bemerkte er. Ellen hob den Kopf. »Von Rechts wegen bin ich erst dann Eigentü mer, wenn der Nachlass abgewickelt ist, und das kann noch ein paar Wochen dauern.« »Aber du hast doch gesagt, daß du vielleicht sofort hier einziehen willst.« »Das stellt sich jedenfalls der Testamentsvoll
strecker so vor, dieser Billington Vere. Das Haus sollte bewohnt sein, sagte er. Obwohl ja ohnehin jemand da ist.« »Ich weiß.« »Wie, du weißt?« »Alles ist abgestaubt und blitzblank geputzt.« Das war ihm noch gar nicht aufgefallen. »Es gibt eine Haushälterin.« Ellen marschierte ins Anrichtezimmer und machte alle Sideboards und Schränke auf. Weiter ging es in die Küche. Sie inspizierte den Herd, trat auf das Fußpedal des Mülleimers und warf einen Blick in den Kühlschrank. »Wie oft kommt die Haushälterin?« erkundig te sie sich. »Täglich.« »Offenbar bringt sie ihr Essen selbst mit.« »Offenbar.« Ellen öffnete die Tür des Wandschranks und entdeckte den Sack mit dem Hundefutter. »Was ist das denn?« »Es gibt einen Hund. Er gehörte meiner Tan te.« »Und was passiert jetzt mit dem Hund?« »Das steht noch nicht fest.« »Ich finde, er sollte ins Tierheim. Wo ist er im Moment?« »In einer Hundepension nicht weit von hier.«
»Vielleicht wissen die ja jemanden, der ihn nimmt.« »Darum kümmere ich mich schon.« Sie gingen nach oben. Ellen machte das Ganze Spaß, das war nicht zu übersehen. Im Schlaf zimmer seiner Tante sah er im Spiegel ihr Haar fliegen, als sie eine Pirouette drehte; das Bett sah einladend aus, aber im Moment stand ihm nicht der Sinn danach. »Möchtest du dir den Garten ansehen?« »Sicher.« Sie gingen die Treppe hinunter und traten durch die Terrassentür in den Garten hinaus. »Mann«, rief sie. »Klasse!« »Sieht nach viel Arbeit aus. Komm, gehen wir.« »Bleiben wir doch noch ein bißchen.« »Ich habe keine Lust, hier rumzuhängen.« »Ich aber.« Sie nahm seinen Arm. Also schau te er mit ihr eine Weile in den Garten hinaus. Bis er kribbelig wurde, sich umdrehte und in der Bibliothek die Fernsehnachrichten ein schaltete. Anschließend fragte er: »Hast du nicht allmählich Hunger? Komm, lass uns ge hen.« »Bestellen wir uns doch eine Pizza.« Nach der Pizza plauderten sie noch eine Wei le, während sich draußen vor dem Fenster die
Farbe aus dem Himmel stahl, es allmählich still wurde und die Blätter in der einsetzenden Dunkelheit reglos an den Zweigen hingen. Ein Flugzeug schleppte sein monotones Brummen über das Haus und hinterließ eine noch tiefere Stille. Lake saß an dem einen und Ellen am an deren Ende des Sofas. »Kann es sein, daß ich auf einigen Fotos auf dem Tisch in dem anderen Zimmer deine Tan te gesehen habe?« fragte sie. »Sehr dünn und sehr elegant.« »Das ist sie«, bestätigte er. »Sie war eine in teressante Persönlichkeit.« »Wie war sie denn so?« »Eigensinnig.« »Sonst nichts?« »Sie war eine Frau, die wußte, was sie wollte, und die dafür gesorgt hat, daß die anderen das auch wußten. Aber wir sind ganz gut miteinan der ausgekommen.« »Du hast gesagt, daß sie mit deinem Vater nicht gut ausgekommen ist.« »Ja.« »Wie das?« »Er ist aus der Reihe getanzt.« »Wieso sprichst du eigentlich nie über ihn? Was hat er denn gemacht? Was war denn so verwerflich?«
»Er tut ausschließlich das, wozu er gerade Lust hat. Frauengeschichten eingeschlossen.« »Haben sich deine Eltern deshalb getrennt?« »Er hat sich mit der Frau seines besten Freun des eingelassen. Das hat einen ziemlichen Skandal gegeben.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte sie. »Als er nach Greenwich gezogen ist, wurde es auch nicht besser. Er kann es anscheinend nicht lassen. Im Moment will er mal wieder heiraten.« Ellen schwieg. »Woran denkst du?« fragte er. »An nichts. An die Arbeit.« »Das Haus hier trägt nicht gerade zur Ent spannung bei«, sagte er. »Ich bin entspannt.« »Ich werde mich erst entspannt fühlen, wenn es verkauft ist.« Sie schwieg. »Und was beschäftigt dich genau?« fragte er. »Gestern haben wir erfahren, daß es eine grö ßere Umorganisation gegeben hat. Bob ist be fördert worden. Er ist jetzt in einer anderen Abteilung. Ich arbeite neuerdings für Harry McQueen. Er hat Bobs Job als Controller über nommen.« »Na ja, dann bist du Bob ja endlich los.«
»Mhm.« »Eigentlich solltest du froh darüber sein.« »Harry McQueen ist ein Arschloch.« »Aber immer noch besser, als einen Sadisten als Boss zu haben«, sagte Lake. »Trotzdem.« »Trotzdem was?« »Bob hat mich schon mal die eine oder andere Finanzanalyse selbständig machen lassen. Wahrscheinlich hatte er Größeres mit mir vor und wollte mich testen. Ich glaube, er hat mei ne Arbeit geschätzt.« »Hat er dir das jemals gesagt?« »Ja.« »Tatsächlich?« »Er hat gesagt, daß ich gute Arbeit leiste.« »Wann war das?« »Vor ein paar Wochen bei der Mitarbeiterbe urteilung. Er sagte, daß ich vielversprechende Anlagen hätte. Jedenfalls dachte ich bis jetzt immer, daß er wenigstens ehrlich ist.« »Und jetzt denkst du das nicht mehr?« »Gestern haben sich ein paar Leute über ihn unterhalten. Edith sagte, daß sie nicht verste hen kann, wie jemand eine so positive Beurtei lung abgeben kann und die restliche Zeit nur herummeckert. Er hat's nicht mal der Mühe wert gefunden, uns auch nur ein Sterbenswört
chen davon zu sagen, daß er die ControllingAbteilung verlassen wird. Es war ein etwas plötzlicher Abschied. Zack. Macht's gut, Leute. Die Rakete hebt ab, aber leider ist auf unserer Reise kein Platz mehr für euch frei.« »Bob ist es nicht wert, gehasst zu werden«, meinte Lake. ***
Die nächsten beiden Wochen war er zu be schäftigt, um sich größere Gedanken über das Haus zu machen. Ein Benutzerhandbuch für eine Anwendersoftware mußte noch ein letztes Mal korrigiert und das Layout nachgebessert werden. Danny hatte sich hingebungsvoll um dieses Projekt gekümmert, bis spät in die Nacht hinein gearbeitet und tagelang mit den Programmierern telefoniert. »Wo hast du diesen Fachjargon eigentlich ge lernt, Danny?« fragte Lake. »Ach, im Lauf der Zeit eignet man sich so et was automatisch an. Es ist reine Logik.« »Hiermit ernenne ich dich zum verantwortli chen Direktor der Abteilung Logik.« »Ist das eine Beförderung?« »Es ist nichts als ein Titel.« »Hört sich aber wie eine Beförderung an.« »Weißt du, was dein Problem ist? Du stürzt
dich immer auf logische Schlussfolgerungen. Aber das zieht bei mir nicht, weil ich nämlich der verantwortliche Direktor der Abteilung Unlogik bin. Ich bin spezialisiert auf logische Mängel.« »Und was ist in diesem Fall der Mangel?« »Ich bin der Geschäftsführer.« Mary mischte sich ein: »Er ist nicht wirklich geisteskrank, Danny. Er ist nur pervers.« ***
An einem Mittwochmorgen opferte Lake eine halbe Stunde, um eine Broschüre über Arbeits sicherheit auf einem Holzlagerplatz durchzu sehen. Ein Mitarbeiter des Holzunternehmens hatte das Pamphlet verfasst, und es war durch und durch misslungen – rätselhafte Warnhin weise, anklagender Ton, nachträgliche Ergän zungen. Irgendwo stand ein Satz, der offenbar höhere Bezahlung mit schnellerer Arbeit ver band – ein gefundenes Fressen für einen Ar beitsrechtler. Sein Telefon klingelte, und Mary sagte: »Ein gewisser Mr. Vere.« Lake hob den Hörer ab. »Guten Morgen, Mr. Vere.« »Guten Morgen, Mr. Stevenson.« Veres Stim me klang altersbedingt leicht zittrig, hatte aber
einen entschlossenen Unterton. »Ich wollte mich nur vergewissern, daß es keine Schwie rigkeiten gibt.« »Aber überhaupt keine«, gab Lake zur Ant wort. »Ich war schon ein paarmal im Haus. Im Moment wächst mir hier im Büro allerdings die Arbeit über den Kopf.« »Natürlich.« »Ach, übrigens, besten Dank nochmals, daß Sie alles so perfekt organisiert haben.« »Ich denke, Mrs. Lundquist ist eine fähige Haushälterin«, sagte Vere. »Ich darf doch an nehmen, daß der Hund gut versorgt ist?« »Ja, Randall geht es gut. Er ist recht ver gnügt – in Anbetracht der besonderen Umstän de.« »Es muß für einen Hund ein schreckliches Trauma sein, seine Bezugsperson zu verlie ren.« »Er scheint es ganz gut zu verkraften«, meinte Lake. »Das ist allerdings nicht mir zu verdan ken. Ich habe mich bis jetzt leider noch nicht so um ihn kümmern können, wie ich es möch te.« »Ihre Tante hegte tiefe Gefühle für Hunde.« »Ich weiß.« »Sie schätzte deren Loyalität.« »Ja, es ist unübersehbar, daß Randall eine
treue Seele ist«, sagte Lake. »Aber es ist typisch für Ihre Tante, daß diese Beziehung auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war eine bemerkenswerte Frau. Wir waren gute Freunde, wissen Sie.« »Das hatte ich mir schon gedacht. Ja, sie war wirklich etwas Besonderes.« »Sie hatte ein ganz außergewöhnliches Gefühl für Recht und Unrecht.« »Richtig«, antwortete Lake einfältig. »Ich werde nie vergessen, was sie zu Laura nach ihrem Autounfall gesagt hat. Laura ist meine Frau. Sie sagte: ›Sobald du wieder auf den Beinen bist, fahren wir beide so oft über diese Kreuzung, bis du eingesehen hast, daß es nicht deine Schuld war.‹ Sie hatte wirklich kei ne Schuld daran. Man hatte die Ampelphase verändert.« »Ich verstehe.« »Das ist jetzt etwas über ein Jahr her.« »Man hätte ja einen Hinweis anbringen kön nen.« »Das war ein typisches Beispiel für die Her zensgüte Ihrer Tante. Aber ich schweife ab. Ich wollte nur hören, ob es Probleme gibt oder ob Sie irgendwelche Fragen haben. Dieser Nach lass war wirklich ungewöhnlich problemlos, und ich bin froh, daß wir ihn so schnell abwi
ckeln konnten. Nächste Woche sollten wir dann die letzten Details ausarbeiten. Beabsich tigen Sie, schon bald umzuziehen?« »Sobald ich es schaffe«, gab Lake zur Ant wort. »Und Ihrer Schwester geht es gut?« »Ja.« »Ich muß sie auch anrufen. Übrigens freue ich mich, daß wir Nachbarn sein werden.« »Wie bitte?« »Ich wohne auch in Chestnut Hill.« »Ach.« »Falls Sie Hilfe oder Rat brauchen, können Sie sich immer an mich wenden. Als Nachbar.« »Das ist sehr freundlich. Darauf werde ich be stimmt zurückkommen.« »Ich melde mich dann nächste Woche wie der.« »Ja, und vielen Dank für Ihren Anruf«, sagte Lake. Beim Auflegen wäre ihm der Hörer bei nahe aus der schweißnassen Hand gerutscht. Er hatte die Angelegenheit schleifen lassen. Er brauchte dringend einen Aktionsplan für das Haus und den Hund. Mary fragte: »Soll ich ein Mittagessen kom men lassen?« »Ja. Nein. Ich gehe vielleicht noch ein bißchen vors Haus und vertrete mir die Beine.«
»Was jetzt? Mittagessen oder kein Mittages sen?« »Mittagessen, aber ich gehe vielleicht zuerst noch ein bißchen vors Haus, vertrete mir die Beine und esse dann etwas.« »Ich bestelle Thunfisch. Ja oder nein?« »Ja.« »Weißer Toast oder kein weißer Toast?« »Lass gut sein, Mary. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.« Er setzte sich und begann, einen Ansatz zur Lösung des Hundeproblems zu formulieren. Punkt eins: Er mußte sich alle Fakten beschaffen. Sollte er einen Anwalt fra gen, ob das Testament anfechtbar war? Das konnte er sich schenken. Es war bestimmt nicht anfechtbar. Dagegen müßte er mit einem Gerichtsverfahren wegen arglistiger Täu schung rechnen, falls er das Haus verkaufen wollte. Und eines war sicher: Vere würde sich seinem Standpunkt niemals anschließen. Den ganzen Trouble konnte er sich sparen. Der ge radlinige, einfache Weg, die Probleme mit dem Hund aus dem Weg zu räumen, war, den Hund selbst aus dem Weg zu räumen. Punkt zwei: Geheimhaltung. Um das Vorha ben nicht zu gefährden, mußte er ganz ver deckt arbeiten und durfte nirgendwo etwas durchsickern lassen. Unglücklicherweise hatte
er Karen gegenüber schon angedeutet, daß er in Sachen Randall etwas unternehmen wollte. Das war vielleicht ein Fehler gewesen, aber er konnte Karen vertrauen. Abgesehen davon hatte er sich nur vage geäußert. Abgesehen da von saßen beide im selben Boot. Punkt drei: Beachtung äußerer Einflußfakto ren. Machte sich Mrs. Lundquist etwas aus dem Hund? Vermutlich nicht, denn sie hielt ihn ja ständig in der Küche eingesperrt. Aber vielleicht fühlte sie sich für Recht und Ord nung im Haus zuständig. Also wäre es besser, sie irgendwie von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Und Vere? Vielleicht sollte er ihn besser kennenlernen. Obwohl es andererseits bestimmt ratsam war, diese Bekanntschaft nicht zu pflegen. Punkt vier: Die Frage des richtigen Timings. Er wollte das Haus so schnell wie möglich los werden, mußte aber so tun, als wollte er die Bedingungen des Testaments auf jeden Fall er füllen – im großen und ganzen wenigstens. Auf jeden Fall müßte er erst einmal eine Zeitlang im Haus wohnen, mindestens zwei oder drei Wochen zusammen mit dem Hund, und dann, nachdem der Hund verschwunden war, noch ein paar weitere Wochen – auf jeden Fall so lange, bis jede berechtigte Hoffnung auf eine
Rückkehr des Hundes aufgegeben werden konnte. Punkt fünf: die Schlüsselfrage: Wie wird man den Hund am besten los? Ein plötzlicher Tod war eine theoretische Möglichkeit, aber das brachte er nicht fertig, selbst in Anbetracht dessen, was ihm Tante Ilsa mit ihrem Testa ment angetan hatte. Andererseits hätte er kei ne Skrupel, den Hund zu verlieren. Viele Leute verlieren ihre Hunde. Das war nichts Unge wöhnliches. Das Leben ging trotzdem weiter. Es gab verschiedene Möglichkeiten, einen Hund zu verlieren: (1) den Hund in einem an deren Bezirk absetzen und davonfahren; (2) den Hund um vier Uhr früh an das Tor eines Tierheimes binden und davonfahren; (3) mit dem Hund Gassi gehen und ihn dabei verlie ren. Die Spazierengehen-Hund-verlieren-Variante gefiel Lake. Ein Spaziergang, der damit endet, daß der Hund futsch ist, entbehrt jeglichen kriminellen Beigeschmacks, ein böswilliger Vorsatz wäre nicht zu unterstellen. Ein Schicksalsschlag, mehr oder weniger jedenfalls. Ja, das war es. Randalls Schicksal wäre es, abhanden zu kom men. Jemand würde ihn finden, und alle Betei ligten wären glücklich und zufrieden.
Er hob den Kopf. Mary hatte auf eine ihrer be vorzugten Kommunikationstaktiken zurückge griffen: ein Lake-Schild. Sie saß bewegungslos an ihrem Schreibtisch, Ellbogen aufgestützt, Kinn in der Hand, und glotzte träumerisch ins All. In ihrer freien Hand hielt sie einen Blei stift, dessen Spitze ebenfalls ins All zeigte. Vor ihr stand ein Pappschild, das genau in Lakes Richtung zeigte. Darauf stand in großen, schwarzen Blockbuchstaben: LAKE DENKT. »Ist ja gut«, sagte Lake, »ich bin wieder an sprechbar.« Sie nahm das Schild weg und widmete sich wieder ihrem Computer. »Dieses Büro kommt mir wie eine einzige, un endliche Meuterei vor«, sagte er. »Nur gut, daß ich über so ausgeprägte Führungsqualitäten verfüge.« »Richtig«, kommentierte Mary, aber in liebe vollem Ton. ***
»Hat dich Vere eigentlich angerufen?« fragte er Karen, als er am selben Abend mit ihr tele fonierte. »Auf jeden Fall hatte er es vor.« »Ja, wir haben uns heute morgen lange mit einander unterhalten.« »Worüber?«
»Hauptsächlich über Tante Ilsa und was für ein besonderer Mensch sie war und wie sehr sie Tiere in ihr Herz geschlossen hatte. Ich glaube, daß er sie echt bewundert.« »Zweifellos.« »Er meint übrigens, daß es okay ist, wenn der Hund diesen Sommer nicht in Maine ver bringt«, berichtete Karen. »Ich hab ihm vom Ferienhaus in Martha's Vineyard erzählt. Er sagte, er könne sich denken, daß du Randall gerne den Sommer über betreuen würdest.« »Da hat er leider falsch gedacht.« »Er sagte, daß du den Hund offenbar magst.« »Der Hund ist debil.« »Was hast du vor?« »Ein neues Schicksal wird ihn ereilen.« »Lake.« »Was?« »Du wirst langsam komisch.« »Hör zu. Ich will das Haus nicht. Der Hund ist das einzige Verkaufshindernis, also wird der Hund aufhören müssen, ein Hindernis zu sein. Es gibt ein paar durchaus anständige Möglich keiten, das zu erreichen. Man muß nur aufpas sen, daß man allen Beteiligten gerecht wird. Übrigens, erzähl bloß niemandem etwas von dieser Geschichte!« »Komm, nerv mich bitte nicht! Ich hab dich
bereits beim ersten Mal verstanden.« »Gut.« »Aber ich würde gern mehr über dieses neue Schicksal wissen«, sagte sie. »Das ist noch nicht im Detail ausgearbeitet. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde Ran dall kein Härchen krümmen.« »Das will ich hoffen.« Er wechselte das Thema. »Was muß man tun, wenn man ein Haus verkaufen will? Du hast das doch schon mal gemacht. Ich habe noch nie ein Haus besessen.« »Ruf ein paar Immobilienmakler an und such dir dann einen aus.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, das Haus un ter der Hand zu verkaufen?« »Vielleicht kennt ein Makler ja einen maßge schneiderten Käufer. Aber so etwas kriegen die Leute früher oder später doch mit. Wenn ein Haus verkauft wird, steht es irgendwann in der Zeitung, ganz zu schweigen von dem Aufse hen, das Umzugsfirmen machen und so wei ter.« »Aber ist es denn grundsätzlich möglich, dis kret vorzugehen?« »Ich denke schon.« »Und wie finde ich einen guten Makler?« »Hör dich um.«
»Aber ich kann mich nicht umhören. Genau das kann ich eben nicht tun. Auf jeden Fall nicht im Moment.« »Ich kenne eine Immobilienmaklerin in Phil adelphia«, sagte Karen. »Die kennst du übri gens auch.« »Und wie heißt sie?« »Jennifer Dee. Wir sind zusammen zur Schu le gegangen. Kannst du dich nicht mehr an sie erinnern? Ich war mit ihr befreundet.« »Dunkle Haare?« »Ja.« »Wenn ihr in derselben Klasse wart, kann sie nicht viel Erfahrung im Immobiliengeschäft haben.« »Sie macht das jetzt seit drei Jahren. Wahr scheinlich ist sie sogar eine hervorragende Maklerin, und sie ist sehr nett.« »Möglich«, sagte er wenig überzeugt. »Egal, im Moment ist noch keine Eile geboten. Ich gehe damit jedenfalls auf Tauchstation. Denk dran, wir haben uns nie darüber unterhalten.« »Sieh lieber zu, daß du dem Hund nichts an tust«, sagte sie. Lake legte auf und grübelte: Sollte das eine Drohung gewesen sein? ***
An einem Donnerstag Ende Mai fuhr er nach Chestnut Hill hinaus, um sich vor seinem Um zug nochmals dort umzusehen. Inzwischen war er der rechtmäßige Besitzer der Peal Ave nue Nr. 73 einschließlich des gesamten Mobili ars und der gesamten Ausstattung geworden plus eines entbehrlichen Hundes. Er kam sich wohlhabend vor. InstruX florierte. Mit dem Reinerlös aus dem Verkauf des Hauses wäre seine Liquidität auf einen Schlag gesichert. Auf der Fahrt stellte er sich sein zukünftiges Ich im weichen Ledersitz einer großen flüsterleisen Mercedes-Limousine vor, mit Vivaldiklängen aus den Stereolautsprechern und einigen hun dert Pferdestärken unter dem Hintern. Auch etwas Sportlicheres – vielleicht ein Porsche, vielleicht rot – würde ihm gut zu Gesicht ste hen. Vielleicht sollte er mal wieder verreisen. Mit Ellen im kommenden Winter in Skiurlaub fahren; vielleicht wäre auch Sporttauchen in warmen Gewässern angesagt. Die Karibik winkte, durchflutet von Sonne und Rum. Bis es soweit war, würde er das Haus wie ein Unternehmen führen. Er beschloß, auf den Gärtner zu verzichten und den Rasen selbst zu mähen. Mrs. Lundquist würde er auf zwei Tage die Woche reduzieren; das würde reichen, um das Haus kosmetisch sauber zu halten. Folg
lich müßte hauptsächlich er sich um den Hund kümmern, aber sein zu erwartendes Intermez zo als Hundebesitzer würde ihm nicht allzu viel abverlangen. Hunde schlafen viel. Sind beim Fressen nicht wählerisch. Werden nicht krank. Wollen nur ein-, zweimal am Tag Gassi gehen. Und ein so begriffsstutziger, lethargi scher Hund wie Randall würde ihm schon überhaupt keine Scherereien machen. Mit seinem Schlüssel verschaffte er sich Zu tritt zum Haus. »Mrs. Lundquist?« rief er. Im Haus war es still und kalt. Nach einer Weile hörte er Schritte, die sich dem oberen Treppenabsatz näherten. Mrs. Lundquist linste herunter. »Ja?« Lake hätte zu gern gewußt, was sie da oben machte. Warum hielt sie sich ständig oben auf? »Wie geht es Ihnen?« fragte er leutselig. »Mir geht es gut, danke.« »Hätten Sie einen Augenblick Zeit?« »Ja.« Sie kam die Treppe herunter. »Wo ist Randall? Wie üblich in der Küche?« »Ja.« »Vielleicht gehe ich mit ihm spazieren. Mor gen werde ich endgültig einziehen, Mrs. Lund quist. Fürs erste bringe ich nur meine Garde robe mit. Wahrscheinlich werde ich einen Architekten kommen lassen, der sich das Haus
ansehen soll, bevor ich meine Möbel herschaf fe. Ich habe eventuell vor, hier einiges zu ver ändern.« »Ach so.« »Ich möchte mit Ihnen aber über ein anderes Thema sprechen. Ich werde Sie keine fünf Tage die Woche brauchen. Tut mir leid, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, aber ich halte nichts davon, um den heißen Brei herumzureden.« Er beobachtete sie aufmerksam. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich führe ein viel selbständige res Leben als meine Tante. Das werden Sie si cher verstehen. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, daß Sie während der Übergangszeit täglich hier waren, aber ich denke, daß von jetzt ab zwei Tage die Woche reichen werden. Sagen wir Montag und Freitag. Ab nächster Woche. Die nächsten zwei Wochen bekommen Sie aber trotzdem noch Ihr volles Gehalt. Was halten Sie davon?« »Ach so.« »Ach so, was?« »Ich muß darüber nachdenken.« »Wann können Sie mir Bescheid geben?« fragte er. »Falls Sie nicht damit einverstanden sind, würde ich es natürlich verstehen.« »Vielleicht möchten Sie lieber jemand ande ren.«
»Nein, nein, das ist es nicht – Sie sind wirk lich perfekt. Ich bin sicher, daß Sie ausgezeich net arbeiten. Das ist ja auch nicht zu überse hen. Aber ich führe ein anderes Leben als meine Tante.« Und damit sie es nicht falsch auffassen konnte, setzte er hinzu: »Ich bin dar an gewöhnt, für mich zu sein. Ab und zu macht mir ein bißchen Saubermachen sogar Spaß. Es ist eine schöne Abwechslung.« Sie starrte ihn an. »Wenn ich mich tüchtig ins Zeug lege«, sagte er, »sollten zwei Tage die Woche eigentlich rei chen.« »Dies ist ein großes Haus.« »Denken Sie darüber nach und geben Sie mir Bescheid. Ich bin heute nachmittag und mor gen im Büro. Vermutlich werden Sie ja morgen kommen, oder?« Sie antwortete nicht. »Hier ist meine Karte.« Mit spitzen Fingern nahm sie die InstruXKarte entgegen – offenbar vermutete sie Sprengladungen oder winzige Rasierklingen, Curare oder Botschaften vom Antichristen auf dem Karton. »Ich gehe jetzt mit Randall spazieren«, sagte er. »Wohin gehen Sie normalerweise mit ihm?«
»Ich lasse ihn in den Hof hinaus.« »Weiter kommt er gar nicht?« »Nein.« »Und wie lange lassen Sie ihn draußen?« »Zwanzig Minuten am Morgen und zwanzig Minuten, bevor ich gehe.« Aha, dachte Lake. Das Hundeproblem ließe sich vielleicht ganz schnell lösen: Tor auf und Randall in die Außenwelt entlassen. Ein harm loses Versehen, das jedem unerfahrenen Hun debesitzer leicht unterlaufen kann. »Vielen Dank, Mrs. Lundquist. Sie waren sehr verständnisvoll.« Er ging in die Küche. »Hallo, Randall«, sagte er. Der Hund lag auf dem Fußboden, versun ken in seiner üblichen Apathie. Er machte sich nicht einmal die Mühe, mit dem Schwanz zu wedeln. »Wir haben ein Problem, Randall, und das Problem bist du«, sagte Lake. »Unsere ge meinsame Zeit wird nur von kurzer Dauer sein.« Um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, tätschelte er Randalls Kopf. Der Schädel war ziemlich klein, viel Platz fürs Gehirn gab es nicht. Vielleicht neun Zehntel der Gehirnmas se dienen der Analyse von Gerüchen. Das ver bleibende eine Zehntel muß für alle anderen Sinne und eventuell vorhandene logische
Funktionen herhalten. Lake schätzte, daß nur etwa ein Hundertstel des Gehirnvolumens der Pflege von Beziehungen zu anderen Kreaturen, beispielsweise Menschen, zugeordnet werden konnte. In Anbetracht des Fassungsvermögens von Randalls Schädel war sein goldfischähnli ches Verhalten wahrlich nicht überraschend. »Komm«, sagte er. Randall folgte ihm zur Haustür und trottete die Treppe hinunter auf den Rasen. »Denk dran«, mahnte ihn Lake, »die Freiheit ist ein kostbares Geschenk.« Randall hob das Bein an einem Buchsstrauch, drehte sich um, beschnüffelte das Gras und be trachtete die Gegend. Ab der vorderen Treppe hatte er bislang eine Strecke von ungefähr zwei Metern zurückgelegt. Lässig spazierte Lake auf das Gitter zu, öffnete es und trat zur Seite. Randall nahm von dem Tor zur Freiheit kei nerlei Notiz. Seine Begriffsstutzigkeit war ein Problem. Randall widmete sich der Untersuchung der Büsche an der rechten Seite des Hauses, entzif ferte durch zielsichere Nasenarbeit die Bot schaften auf Blättern und Erdreich. Inzwi schen inspizierte Lake die Umgebung des Anwesens, suchte nach Schwachstellen im Zaun, nach irgend etwas, das dem Verschwin den eines Hundes förderlich sein könnte,
selbst wenn sich Randall kaum aus eigener Kraft aus dem Staub machen würde. Der Zaun war absolut intakt. Im Garten standen kleine Büsche und blühen de gelbe und rosa Dinger, auch ein paar große blaue Dinger, die Beete waren sorgfältig be grenzt und gejätet. Eine wahre Augenweide. Er setzte sich auf die Terrasse, stellte sich vor, wie seine Tante sich den Nachmittag mit einem Buch vertrieb, an ihrem Tee nippte und ab und zu ein freundliches Wort an den Springer-Spa niel richtete, der zu ihren Füßen ruhte. Er sah das Bild in Mezzotintomanier, eine Szene aus längst vergangenen Zeiten. Der wahrschein lichste und passendste Käufer dieses Hauses dürfte ein älteres Semester sein, ein bißchen müde, schon abgekehrt vom Trubel der Welt. Was ihn selbst betraf, würde er einen mehr oder weniger flüchtigen Moment in der Ge schichte dieses Hauses markieren, eine Art Ka talysator, der in dem Moment entschwand, in dem die Peal Avenue Nr. 73 in adäquate Hände fällt. Genau von diesem Standpunkt aus mußte man es betrachten, dachte er; der Verkauf des Hauses würde die natürliche Ordnung der Din ge wiederherstellen. Nach einer Weile holte er Randall ins Haus. Er hörte ein leises Klingeln und beugte sich
zum Hund hinunter, um das Geräusch zu or ten. Vom Halsband des Hundes baumelte eine Plakette: RANDALL Mrs. Ilsa Grinnell, Peal Avenue Nr. 73, Philadelphia PA 19.118. Die Pla kette mußte verschwinden. Bevor er die Kü chentür schloß, sagte er: »Bald wirst du ganz lange Gassi gehen können, Randall.« Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Lakes nächstes Ziel war ein Eisenwarenladen, der Rasenmäher im Angebot hatte. Die Aus wahl war größer als vermutet, und die Preis schilder versetzten Lake in ehrfürchtiges Stau nen. Während er die lange Reihe der ausgestellten Geräte abschritt, näherte sich ein Verkäufer. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich brauche einen Rasenmäher.« »Wie groß ist denn Ihr Rasen?« »So um die zweitausend Quadratmeter.« »Dieser Traktor hier ist ein echter Verkaufs schlager.« »Ich brauche keinen Traktor.« »Dann einen motorgetriebenen Rasenmäher«, schlug der Verkäufer vor. »Die ser hier hat einen sehr leistungsfähigen Mo tor.« Er deutete auf einen robusten, roten Ra senmäher mit Auffangkorb für das gemähte Gras.
»Haben Sie denn keine normalen Rasenmä her, so Dinger, die man vor sich herschiebt?« erkundigte sich Lake. »Einen mechanischen Mäher?« fragte der Verkäufer indigniert. »Die gibt's in einer ande ren Abteilung. Aber so etwas wird für Ihren Rasen kaum reichen.« »Ich schaff das schon.« Fünf Minuten später war Lake stolzer Besitzer eines mechanischen Rasenmähers, der weni ger gekostet hatte als ein einziger Einsatz des Gärtners, umweltfreundlich war und dem An wender noch dazu ein kostenloses Fitnesstrai ning bescheren würde. Er fuhr zurück in die Peal Avenue, packte den Mäher in der Garage aus, schraubte den Griff an und trug das Gerät zum Testmähen in den Garten. Das sanfte, schleifende Geräusch der Schermesser klang wie Musik in seinen Ohren. Er freute sich dar über, wie das Gras in die Luft geschleudert wurde, während die Räder über den Rasen rollten und die Messerklingen rotierten. Ein richtiger Test war das noch nicht, weil der Ra sen erst vor zwei Tagen gemäht worden war, aber er hatte genug gesehen, um überzeugt zu sein, ein Gerät mit ausgefeilter Technik ge kauft zu haben. Allerdings schaffte der Rasenmäher keine
sehr breiten Bahnen. Lake hatte entlang der Kante eines Blumenbeetes und wieder zurück gemäht und die Überlappung falsch einge schätzt; zwischen den gemähten Bahnen blieb ein Streifen zurück, nicht unähnlich einer Iro kesenfrisur. Er mähte den Streifen ab, und nach ein paar weiteren Bahnen war sein Hemd durchgeschwitzt. Ein rascher Blick auf die noch ungemähte Grasfläche – den Rasen vor dem Haus noch nicht mitgerechnet – über zeugte ihn davon, daß es ein schlechter Schachzug wäre, auf den Gärtner zu verzich ten. In der Garage stellte er den Mäher in eine Ecke, machte sich auf den Weg ins Büro und tröstete sich damit, daß kleinere Fehlkalkula tionen bei allen größeren Kampagnen passie ren können. Was allein zählt, sind die großen Entscheidungen. ***
An diesem Nachmittag rief Mrs. Lundquist nicht an. Am nächsten Morgen fuhr Lake in die Peal Avenue, um Randall zu füttern für den Fall, daß sie es vorgezogen hatte, nicht zu er scheinen. Aber als er die Tür aufsperrte, war sie gerade dabei, im Wohnzimmer Staub zu wi schen. »Guten Morgen«, sagte er.
»Guten Morgen.« »Ich hatte gehofft, daß Sie sich melden wür den.« »Ich wollte Ihnen eine Nachricht hinterlas sen.« »Was wird auf der Nachricht stehen?« »Ich werde am Montag da sein.« »Gut. Freitag auch?« »Ja.« »Gut.« »Ich habe mit Mr. Vere gesprochen«, sagte sie. »Weshalb?« fragte Lake. »Vere ist jetzt nicht mehr von Belang. Er hat nichts mehr mit die sem Haus zu tun.« »Er ist sehr rücksichtsvoll.« »Das weiß ich, aber er hat hier nichts mehr zu sagen. Dies ist eine Angelegenheit zwischen Ih nen und mir.« »Mr. Vere hat mich vor ein paar Wochen an gesprochen. Er bat mich, ihn anzurufen, falls sich an meiner Arbeit hier etwas ändern sollte. Mrs. Vere hätte gerne eine zusätzliche Haus haltshilfe.« »Was hat Mrs. Vere damit zu tun?« »Ich werde dienstags, mittwochs und don nerstags bei ihr arbeiten.« »Sie werden für die Veres arbeiten?«
»Dienstags, mittwochs und donnerstags.« Er versuchte diese unglaubliche Neuigkeit zu verdauen. Vere hatte seine Haushälterin besto chen. Er hatte sie angestellt und würde sich über Lake auf dem laufenden halten können, ohne auch nur einmal den Telefonhörer in die Hand nehmen zu müssen. Einen Augenblick lang dachte er daran, Mrs. Lundquist auf der Stelle zu feuern, aber was hätte er schon für Gründe? Illoyalität konnte er ihr nicht vorwer fen. Auch konnte er ihr kaum damit kommen, daß er sich entschlossen hätte, das Haus nun doch eigenhändig sauberzumachen. »Das ist sehr nett«, sagte er. »Mrs. Vere hat Probleme mit den Beinen. Sie hatte einen Autounfall.« »Davon habe ich gehört.« »Bekomme ich für die nächste Woche noch mein volles Gehalt?« »Volles Gehalt?« »Sie hatten gesagt, daß Sie mir in der nächs ten Woche auch die drei Tage, die Sie mich nicht benötigen, zahlen würden.« »Ach so, ja.« »Und ich brauche noch Bohnerwachs und Spülmittel.« »Ich werde es besorgen. Schreiben Sie auf, was fehlt. Ich kaufe es am Wochenende ein.«
Sie widmete sich wieder ihrem Staubwedel. Lake ging, ohne nach Randall zu sehen. Er hat te eine solche Wut im Bauch, daß er versucht war, die Spazierengehen-und-Hund-verlierenVariante fallenzulassen und auf einen Plan umzuschwenken, der mit Gewalt zu tun hatte. Er war geneigt, schon bald zuzuschlagen.
3 An diesem Tag klappte rein gar nichts. Vor Lake lag der vom Kunden gelieferte Entwurf einer Montageanleitung für ein Gartengrillge rät. Das Rohr der Rohrverzweigung sollte in die rechte vordere Aussparung gleiten, die Zünd drähte hängen dabei lose unter dem Brenner (falls zutreffend). Wütend starrte er auf den Text. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als Danny zum Kunden zu schicken, um den Kern dieser kryp tischen Aussage zu erforschen. Anmerkung: Der vordere Flansch sollte von unten an der Kante des Pfostens hervorste hen, wenn er gedreht wird, um in den hinte ren Flansch einzurasten. Das Problem waren nicht die Reisekosten,
denn die würde er dem Kunden aufbrummen, aber Lake hätte Danny gern im Büro gehabt, solange das Computerprojekt noch nicht abge schlossen war. Wie die Dinge lagen, würden die Verhandlungen mit den Softwareingenieu ren an Lake hängenbleiben. Er beschloß, alle Telefongespräche mit ihnen aufzuzeichnen; Danny würde sie später interpretieren müs sen. Dichten Sie die Verbindungen mit einer Mas se ab, die gegen flüssige Petroleumgase oder andere chemische Bestandteile der Gase resis tent ist. Genervt schob er den Entwurf zur Seite; er hatte drängendere Probleme, mit denen er sich herumschlagen mußte. Die Lundquist-Vere-Al lianz erwies sich als ernsthafte Komplikation. Für Mrs. Lundquist wäre es ein leichtes, Vere regelmäßig mit Informationen über Lakes Ak tivitäten zu füttern – wie er den Hund behan delte, ob er tatsächlich im Haus wohnte oder nur so tat als ob –, nichts würde verborgen bleiben. Zweimal die Woche, montags und frei tags, hätte Lake eine Viper im Haus, die über all herumschlängelte, züngelte; nichts würde ihr entgehen. Dreimal die Woche würde die Vi per mit haarsträubenden Geschichten zu den Veres hinüberschleichen. Hatte Vere dieses
Manöver etwa von vornherein geplant? Nein, für so gerissen hielt er den Testamentsvollstre cker nun doch nicht. Er rief Ellen an. »Hallo! Viel zu tun?« »Ziemlich.« »Mußt du heute wieder länger arbeiten?« »Viel länger.« »Ruf mich später an, wenn du kannst. Ich bin heut Abend in Tantes Haus.« »Du meinst wohl, in deinem Haus.« »Ich meine, in meinem Haus.« »Ich versteh immer noch nicht, warum es dich dorthin zieht, wo du es doch ohnehin ver kaufst.« »Ich will wissen, was ich verkaufe. Ein Ende ist ja abzusehen.« »Am Ende verliebst du dich noch ins Haus.« »Bestimmt nicht.« »Ich find's irre.« »Um so schneller wird es sich verkaufen las sen.« »Ich muß wieder an die Arbeit«, sagte Ellen. »Tschüs. Ach, Moment noch.« Er wartete einen Moment, hoffte, daß sie es sich überlegt hatte. »Mir ist gerade 'ne Idee gekommen«, sagte sie. »Sehr gut«, meinte er.
»Nein – nicht, was du glaubst. Hör zu: Du hast ein Haus. Du ziehst dort ein. Das gehört doch eingeweiht.« »Wie, eingeweiht?« »Na, mit 'ner Party.« »Ich will keine Party.« »Wir geben eine Party in deinem neuen Haus.« »Ellen, nein!« »So, jetzt muß ich aber Schluß machen.« »Keine Party«, sagte er. »Es wäre pietätlos. Vielleicht in ein paar Monaten, aber jetzt nicht. Keine Party.« »Denk darüber nach«, meinte sie. ***
Als er die Haustür aufschloss, war seine Lau ne so im Keller, daß er keine Lust mehr hatte, nach Randall zu sehen. Er schaute sich im Fernsehen die Nachrichten an, die Bespre chungen der neuesten Filme und die lokalen Meldungen. Nach einer Weile tat ihm der Hund doch leid, und sein schlechtes Gewissen vermieste ihm den berechtigten Zorn auf Mrs. Lundquist, Vere und selbst auf Ellen. Er ging in die Küche, ließ Randall ohne ein Wort der Be grüßung heraus und setzte sich wieder in die Bibliothek. Randall tappte hinter ihm her, leg
te sich vor Lakes Füße, rollte sich ein und klappte die Augen zu. »Mach dir's nur nicht zu gemütlich«, sagte Lake. Er nestelte an Randalls Halsband, drehte die Hundemarke ab und steckte sie in die Hosentasche. »So. Jetzt ge hörst du niemandem«, sagte er. »Du bist der Hund vom Niemand.« Später stöberte er aus purer Langeweile in den Schränken unter dem Bücherregal herum. Er fand säuberlich etikettierte Mappen und Schuhkartons – Tante Ilsas Archiv. Einige ent hielten Steuer- und Finanzunterlagen, die er sich irgendwann mal zu Gemüte führen wollte; heute hatte er keine Lust dazu. In einem ande ren Karton hatte sie ausführliche Reiselitera tur über so unwirtliche Landstriche wie Grön land und die Färöer-Inseln gesammelt, Reiseziele, die Tantes Temperament allerdings durchaus entsprachen. In einem anderen Kar ton stapelten sich Monatshefte eines Garten vereins. Er blätterte in Mappen mit Informati onsmaterial von Tierheimen und in Schnellheftern mit Zeitungsausschnitten, in denen es hauptsächlich um das Verhalten von Hunden ging. Die Ränder der einzelnen Artikel hatte Tante Ilsa mit Kommentaren bekritzelt: Genau oder blödsinnige Schlussfolgerung oder Springer viel besser.
In vielen Kartons lag Korrespondenz – haupt sächlich Briefe von Freunden, alles chronolo gisch geordnet. Nette Belanglosigkeiten, nicht besonders interessant. Einer der Kartons war etikettiert mit: »Institut für das Verständnis von Tieren.« Das klang schon vielversprechen der: Er holte den Karton heraus und setzte sich damit an den Schreibtisch. Als Absender stand auf den Briefen: Institut für das Verständnis von Tieren, und sie waren von einem Mann na mens Ernest Jeffords unterschrieben – offen sichtlich der Direktor dieser Organisation. Lake begann zu lesen: Liebe Mrs. Grinnell, erlauben Sie mir zunächst, Ihnen meinen aufrichtigen Dank für Ihre überaus großzü gige Zuwendung zugunsten unserer diver sen Forschungsvorhaben auszusprechen. Wir wissen Ihre Unterstützung unserer Ar beit außerordentlich zu schätzen. Die For schung auf dem Gebiet der Kommunikation mit Tieren hat inzwischen eine überaus fruchtbare Stufe erreicht, und wir vertrau en – wie Sie wissen – uneingeschränkt auf die Mitarbeit von Dr. Stapleton. Ihre Spende wird einen bedeutenden Beitrag dazu leis ten, uns seiner Bemühungen auch weiterhin versichern zu können.
Lassen Sie mich sagen, daß das Institut Ihre Anregungen über die Intelligenz von Tieren für überaus wertvoll erachtet, ein Thema, das gemeinhin unterschätzt wird. Was Ihre eigene Wertschätzung angeht, so sind Sie viel zu bescheiden. Viele wichtige Fortschritte in unserem Verständnis der Na tur wurden von Menschen erzielt, die keine wissenschaftliche Ausbildung genossen. Der britische Physiker Michael Faraday, der im neunzehnten Jahrhundert lebte, ist ein sol ches Beispiel. Wie Sie zweifellos wissen, hob er den Schleier von vielen elektrischen und magnetischen Phänomenen. Er besaß so gut wie keine formelle mathematische Ausbil dung, aber seine intuitiven Fähigkeiten machten dieses Defizit bei weitem wett. Wes halb sollte es sich auf Ihrem Forschungsge biet nicht ähnlich verhalten? Ich war fasziniert, als ich las, worauf Sie achten, wenn Sie ein neues Hundebaby aus wählen. Einen Wurf von sechs Wochen alten Welpen zu beobachten und irgendwie ›ein fach zu wissen‹, was aus diesem oder jenem Welpen einmal wird, ist, wie ich meine, eine Erfahrung, die viele von uns schon gemacht haben, ohne sie jemals zufriedenstellend er klären zu können. Recht ungewöhnlich ist
es, daß Sie diesem intuitiven Prozess so großes Gewicht beimessen. Bis jetzt war mir nicht bekannt gewesen, daß Sie es vorzie hen, immer nur einen einzigen Hund zum Lebensgefährten zu wählen. Daher muß die Auswahl eines einzelnen Welpen aus einem Wurf eine außerordentlich intensive Erfah rung für Sie sein, zumal so viel davon ab hängt. (Ich selbst habe vier Hunde unter schiedlicher Rassen; der älteste ist mittlerweile zwölf, der jüngste ein Jahr alt.) Ich bin erfreut über Ihre Aussage, daß Sie sich noch nie geirrt haben. Was mich be trifft, so muß ich gestehen, daß ich mich mehr als nur einmal geirrt habe, aller Wahr scheinlichkeit nach deshalb, weil ich mir nicht zugestand, »es einfach zu wissen«, son dern, ohne zu wollen, den Verstand einschal tete, das Für und Wider abwog und ähnli ches mehr. Sie beschreiben die Auswahl eines Welpen als ›gegenseitiges Erkennen‹, als ›Signal‹. Ich würde von Ihnen gern mehr über dieses Thema hören. Wir wissen, daß sich Tiere und Menschen auf eine Weise verstehen, die fast schon als telepathisch bezeichnet wer den darf. Ihre These vom ›Erkennen‹ ist tat sächlich atemberaubend. Nicht ganz ver
standen habe ich Ihre Aussage zu einem ähnlichen ›Erkennen‹, als Sie Ihr Sommer haus in Maine erwarben. Wollten Sie damit ausdrücken, daß Sie immer dann ›Signale‹ spüren, wenn Sie für Ihr Leben wichtige Ent scheidungen zu treffen haben? Mit größtem Vergnügen würde ich von Ih nen in aller Ausführlichkeit hören, ob Sie tatsächlich mit dieser Gabe gesegnet sind. Niemand würde es mehr verdienen als Sie. Natürlich werde ich Sie stets über die Aktivi täten des Instituts und insbesondere über die Fortschritte von Dr. Stapleton auf dem laufenden halten. In der Zwischenzeit darf ich Ihnen nochmals sehr herzlich für Ihre Großzügigkeit danken und auch dafür, daß Sie unsere Sache so freundlich und so uner schütterlich unterstützen. Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords Dieser Mann, vermutete Lake, war geradezu süchtig nach Tantes Geld. Was würde er nicht alles tun, um den Geldfluß in seine Richtung zu lenken! Der nächste Brief datierte einen Monat später. Liebe Mrs. Grinnell, entschuldigen Sie bitte die verspätete Ant
wort auf Ihren Brief. Eine Erklärung dafür ist die regelmäßige Arbeitsüberlastung in dieser Jahreszeit und eine andere, daß ich mich zunächst ausführlich mit Ihren weite ren Anmerkungen zum Thema ›Signal‹ oder ›Erkennung‹ auseinandersetzen wollte. Ich muß gestehen, daß diese Themen den Rah men meiner üblichen Studien sprengen. Dennoch fühle ich mich geschmeichelt, daß Sie der Ansicht sind, ich könnte etwas dazu beitragen. Vorbehaltlich Ihrer Richtigstel lung will ich den von Ihnen geschilderten Ablauf der Geschehnisse aus meiner Sicht zusammenfassen: Sie und Ihr Ehemann verbrachten bereits seit mehreren Jahren den Sommer in Maine, und in dieser Zeit wurde Ihr Interesse an der Geschichte dieses Landes geweckt, insbeson dere an seiner frühen Geschichte. Eines Ta ges – Sie unternahmen gerade einen Spa ziergang auf einer Landzunge – »spürten« Sie ein Signal. (Sehr interessant übrigens, daß Sie dafür das Wort spürten wählten.) Sie spürten also, daß etwas auf diesem Land war, eine ›Präsenz‹. Danach fanden Sie her aus, daß dieses Anwesen zum Verkauf stand, und Sie erwarben es in dem Bewußtsein, daß dieses Grundstück für niemand anderen als
Sie selbst bestimmt war. Möglicherweise habe ich die einzelnen Be gebenheiten etwas durcheinandergebracht, denn Ihr Brief weist einen ganz besonderen Stil auf – ich möchte sogar sagen, es ist ein Brief voller Poesie, natürlich im besten Sin ne dieses Wortes. Ich war mir zum Beispiel nicht sicher, was Sie mit einem ›Feld verbor genen Lebens‹ meinten, obwohl Sie mit Ihrer Bemerkung natürlich völlig richtig liegen, daß Michael Faraday ebenfalls unsichtbare Felder studiert hatte – elektrische in diesem Fall. Auch verstand ich Ihren Bezug zu dem Begriff ›Pinecroft‹ nicht recht. Steht ›Pine croft‹ vielleicht in irgendeinem Zusammen hang mit der Küste? Ist es ein Haus? Sie mutmaßen richtig, daß ich mich für his torische Dinge interessiere. Die Geschichte von Maine ist in der Tat faszinierend, nicht zuletzt deshalb, weil die frühesten Kapitel so von Geheimnissen umwittert sind. Ich halte es für denkbar, daß mit diesem Flecken Erde ein indianischer Zauber verknüpft sein könnte. In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht eine Reise irischer Mönche erwäh nen, die angeblich lange Zeit vor Kolumbus, angeführt von St. Brendan, den Atlantik überquerten. Nach der Legende fuhren sie in
einem kleinen Boot weit auf den Nordatlan tik hinaus und strandeten an einer unbe kannten Küste. Wenn ich mich recht erinne re, war ihr Abenteuer von vielen magischen Begebenheiten mit eher keltischem Ein schlag begleitet, obwohl die Mönche natür lich Katholiken waren. Vielleicht gingen sie damals ja in Maine an Land. Und vielleicht liegt ja noch ein Hauch dieser Magie über der Küste, an der sie vor so vielen Jahren strandeten. Wer weiß? Vielleicht haben Sie diese Magie Jahrhunderte danach noch ge spürt. Diese Geschichte geht in eine ganz andere Richtung als unsere Forschungsarbeiten am Institut, aber das Phänomen des ›Erken nens‹ scheint tatsächlich auf Tiere anwend bar zu sein, wie Sie selbst schon in Ihrem sehr interessanten Brief über die Auswahl von Welpen darlegten. Ich hatte sogar den Eindruck, daß Ihre Gedanken zur Auswahl eines Haustieres vielleicht auf ein For schungsprogramm hinzielen, welches das Institut ins Leben rufen und unterstützen könnte. Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords
Der nächste Brief folgte schon ein paar Tage später: Liebe Mrs. Grinnell, ich kann nicht verhehlen, daß mich der Ton Ihres kürzlich eingegangenen Briefes sehr getroffen hat, und ich muß mich gegen Ihre Anschuldigung verwahren, daß (1) ich der Meinung sei, Sie wären römisch-katholi schen Glaubens; (2) ich Ihnen unterstellen wollte, daß Ihre Vorfahren Iren waren. Es war nicht meine Absicht, eine Verbindung zwischen Ihnen und St. Brendan herzustel len. Vielmehr hatte ich über einen möglichen spirituellen oder sogar übernatürlichen Aspekt der frühen Geschichte Maines nach gedacht. Daher bitte ich Sie, die vielleicht et was unglückliche Formulierung zu entschul digen. Um nichts in der Welt würde ich jemanden brüskieren wollen, der so großzü gig und so unerschütterlich zu unserer Sa che steht und dessen Ideen mich immer schon stimuliert haben. Daß Sie stolz auf Ihre norwegischen Vorfahren sind, verstehe ich durchaus. Wußten Sie übrigens, daß sich im ersten Jahrtausend unserer Zeitrech nung Skandinavier in Irland niedergelassen haben? Dublin war ursprünglich eine Wikin gergemeinde. Wer wollte behaupten, daß in
den Adern dieser kühnen Mönche, die über den Nordatlantik zu unbekannten Küsten se gelten, kein norwegisches Blut floss? Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords Lake las weiter. Liebe Mrs. Grinnell, ich schreibe Ihnen in großer Eile, da ich im Begriff bin, für zwei Wochen nach Kaliforni en zu fahren. Nein, es tut mir leid: Die Rasse der Springer-Spaniels stammt nicht aus Norwegen und auch nicht von den Wikin gern, die sich in Irland niederließen. Alle Ex perten sind sich offensichtlich darüber einig, daß diese Rasse ihren Ursprung im mittelal terlichen Spanien hat. Freundlichen Gruß Ernest Jeffords Die folgenden Briefe waren verzweifelte Ver suche, das verlorene Wohlwollen wiederzuer langen, ein Unterfangen, das offenbar Erfolg hatte, denn Tante Ilsa erkundigte sich bei Jef fords nach der Möglichkeit einer Reinkarnati on von Hunden, und er versprach ihr, daß sein Institut diese sehr interessante These in ein Forschungsthema einbinden würde – mit ihrer
finanziellen Unterstützung selbstredend. Kopfschüttelnd schloß Lake den Karton. ***
In derselben Nacht wurde Lake von Träumen verfolgt. Der schrecklichste Traum handelte von einer surrealen Stadt. Im Traum sah er Pferde, Häuser, Straßen, Torbögen; aber sie hatten für Menschen keinerlei Bedeutung. Es war eine Hundewelt: voller Gerüche, voller Ge fahren und voll von jagdbaren Sachen. Er zwang sich aufzuwachen, um diesem Traum zu entfliehen. Er starrte in die Dunkelheit und wußte, daß er sich auf fremdem Terrain befand. Die Tentakel des Traumes streckten sich wieder nach ihm aus. Er stieg aus dem Bett, wollte sich im Bade zimmer kaltes Wasser übers Gesicht laufen lassen. Nach ein paar Schritten knallte er mit dem Kopf gegen die Wand. Dann erst fiel ihm ein, daß er in Tante Ilsas Schlafzimmer war. Wo lag das Badezimmer? Wo das Bett, von dem er gerade aufgestanden war? Ohne sich zu bewegen, versuchte er sich seine Umgebung zu vergegenwärtigen. Allmählich fügten sich die einzelnen Elemente zusammen: Das Bett stand hinter ihm. Das Badezimmer lag auf der ande ren Seite des Bettes – alles genau seitenver
kehrt zum Schlafzimmer in seiner Wohnung. Alles war verkehrt. Aber der Schlag gegen den Kopf hatte immer hin den Traum abgewehrt; er schlief bis zum Morgen durch und stand erst um acht Uhr auf. Ein Insekten- und Vogelkonzert erfüllte die Morgenluft. Er zog die Vorhänge zurück. Son nenlicht flutete an ihm vorbei in jeden Winkel des Zimmers, klatschte von der Glasplatte der Frisierkommode zurück, brandete in der Tiefe des Spiegels. Nicht einmal an den sonnigsten Tagen konnte seine Wohnung mit einer sol chen Fülle von Licht aufwarten. Er ging die Treppe hinunter und kramte in den Küchenschränken nach Kaffee. Gähnende Leere. Überraschend war das nicht, ärgerlich aber trotzdem. Er machte sich auf die Suche nach Randall und fand ihn in der Bibliothek, wo er seinen zehnstündigen nächtlichen Schlaf noch um ein kleines Morgennickerchen erweiterte. Lake ging an die Haustür, stieß sie auf, scheuchte Randall hinaus, schloß die Tür hinter ihm und ging wieder nach oben, um sich anzuziehen. Er fuhr zur Tankstelle, kaufte englische Muffins, Instantkaffeepulver und eine Zeitung. Als er zurückkam, stand Randall an einem Azaleen strauch, damit beschäftigt, den Boden mit sei
ner Nase staubzusaugen. Lake brühte sich eine Tasse Kaffee auf, röstete das Muffin und setzte sich mit der Zeitung auf die Terrasse. Randall kam herüber und setzte sich erwartungsvoll vor ihn hin. »Was gibt's?« fragte Lake. Randalls Blick durchbohrte Lake wie ein La serstrahl. »Was möchtest du?« Als Antwort reicherte Randall seinen Blick mit Hoffnung und Verlangen an, mit durch schlagendem Erfolg. Lake brach ein Stück von seinem englischen Muffin ab und gab es Ran dall. Der Hund verschlang es und wartete auf einen Nachschlag. »Schluß jetzt«, sagte Lake und schob die Zei tung zwischen sich und die flehenden Augen. Lake schlug den Immobilienteil der Samstags ausgabe auf. Er suchte nach einer Anzeige, die auf Chestnut Hill paßte, aber er fand überwie gend Angebote für neue Häuser, mit ebenso schwülstigen wie verführerischen Texten. Die Häuser überboten sich mit ihrer exklusiven Lage, großzügigen Foyers, Ballsälen von Wohnzimmern, fürstlichen Speisezimmern, großzügigen Treppenhäusern und luxuriösen Schlafsuiten. Und über dieser Phantasmagorie von Adjektiven schwelgten Federzeichnungen
kuscheliger Eigenheime, ahornbeschatteter Kolonialhäuser und säulenbestandener, geor gianischer Villen mit zahllosen Zimmerfluch ten. Die Grundstücksflächen rings um diese Juwelen präsentierten sich den Anzeigen zu folge als vornehme Außenanlagen, schier end lose Rasenflächen mit Zugang zu grenzenlosen Parklandschaften, Aussichten auf Gewässer, Verheißungen unangreifbarer Privatsphäre. Die Vision eines Wohnhimmels auf Erden. Aus den unergründlichen Tiefen seiner Erin nerung stieg ein Satz in Lakes Bewußtsein, den seine Vorschullehrerin einmal gesagt hatte. Lake sah sie vor sich: eine freundliche Frau mit sanfter Stimme. Sie hatte den Kindern er zählt, daß der Himmel ein glückliches Land wäre, wo jeder in einem großen Haus wohnen durfte. Einer aus der Klasse hatte die Lehrerin gefragt, wie viele Leute wohl in den Himmel passen mochten. »Alle«, hatte sie geantwortet, »aber nur, wenn sie artig sind.« Eine Zeitlang beobachtete er Randall. Der hat te sich inzwischen den Stamm einer riesigen Buche vorgenommen und konzentrierte sich auf seine Schnüffelarbeit. Lake nippte an sei nem Kaffee, las den Sportteil, betrachtete die Blumen und ließ die Gedanken schweifen. Al les an dem Haus war verkehrt, aber es strahlte
Frieden aus. Vielleicht sollte er nicht so oft herkommen. Frieden hat etwas Heimtücki sches an sich. Friede ist das Gegenteil von Akti on. Ein Mann der Tat muß darauf achten, sich vom Frieden zu distanzieren. Lake beschloß, den Hund den ganzen Tag im Garten zu lassen. Ein bißchen Überlebenstrai ning in der Wildnis könnte Randall nicht scha den, falls bei seiner Entsorgung etwas schiefge hen sollte. Er ging nach oben, um das Bett zu machen, falls er heute Abend mit Ellen noch mals ins Haus kommen sollte. Aber warum sollten sie herkommen? Er würde viel lieber zu ihr nach Hause gehen. Er war gern in ihrer Wohnung. Aber sicherheitshalber machte er doch das Bett. Anschließend suchte er in den anderen Zim mern nach dem tragbaren Fernseher, den er irgendwo beim Rundgang durchs Haus gese hen hatte. Im allerletzten Zimmer am Ende des Flurs fand er ihn. Vermutlich hatte hier die Krankenschwester gewohnt, die seine Tante zuletzt gepflegt hatte. Vor dem Fernseher stand ein Lehnsessel. Das erklärte, weshalb Mrs. Lundquist so häufig hier oben zugange war. Er hätte wetten können, daß der einge stellte Kanal auf Seifenopern spezialisiert war. Aber sicherheitshalber wollte er in der Pro
grammzeitschrift nachsehen. Die Frau war nicht dumm, aber er würde schon mit ihr fer tig werden und mit ihrem Auftraggeber auch. Das Schlüsselwort hieß Fehlinformation – Fehlinformation und eine natürliche Entwick lung der Gefühle. Er würde sie und Vere davon überzeugen, daß er die Peal Avenue Nr. 73 als sein endgültiges Domizil betrachtete. Mrs. Lundquist würde reichlich Gelegenheit bekom men, seine Freundlichkeiten gegenüber Ran dall zu registrieren – Freundlichkeiten, die all mählich zu wahrer Zuneigung würden. Und nach dem Verschwinden des Hundes würde sie Lakes Verzweiflung hautnah miterleben dür fen. Diese Tragödie wäre ein nur allzu ver ständliches Argument dafür, daß Lake das Haus schnellstens verkaufen wollte. Selbst Vere würde einsehen, daß die Peal Avenue Nr. 73 – nachdem das Schicksal Tante Ilsas Wün sche demontiert hatte – nur noch ein Ort trau riger Erinnerungen sein könnte. Als ersten Schritt zur Vortäuschung eines be reits erfolgten Umzugs fuhr er zum Super markt, packte im Vorbeigehen Dosensuppen, Limonaden, Aufschnitt, Frühstücksflocken, Müllsäcke, Geschirrspülmittel und eine Anzahl anderer Lebensmittel und Haushaltswaren ein, die in keiner funktionsfähigen Küche feh
len durften. Er lud zwei Einkaufswagen voll, genug, um einen langfristigen Aufenthalt zu suggerieren. Und zusätzlich zu dem ohnehin schon vorhandenen Vorrat an Hundefutter kaufte er noch einen weiteren, riesigen Sack, um jeden Zweifel an seinen lauteren Absichten auszuschließen. Zehn Flaschen Putzmittel soll ten Mrs. Lundquist das beruhigende Gefühl ge ben, daß Lake mit ihrer Mitarbeit bis ins hohe Alter rechnete. Die Anschaffungskosten belie fen sich auf mehr als hundert Dollar, aber die se Ausgabe betrachtete er als gute Investition: Mrs. Lundquists Rapport würde von einem jungen Mann berichten, dessen hauswirt schaftliche Instinkte einen bemerkenswert sanften Übergang von einer kleinen Wohnung in ein großes Haus ermöglicht hatten. Nachdem Lake die Einkaufstüten ausgeladen hatte, fuhr er in seine Wohnung. Er packte ge rade so viel Kleidung ein, wie nötig war, um die verwaisten Schränke und Kommoden im Schlafzimmer seiner Tante ihrer ursprüngli chen Bestimmung zuzuführen. Bis er zum Haus zurückgefahren war und alles einge räumt hatte, war es drei Uhr nachmittags. Er sah Randall draußen herumschnüffeln und machte sich auf die Suche nach einer Leine. Zeit, das Gelände zu erkunden.
Am unverfänglichsten würde es vermutlich sein, Randall während eines ganz normalen Spazierganges zu verlieren. Hund und Herr chen würden Spazierengehen, im Einklang mit sich und der Welt; Herrchen läßt Hund von der Leine, um ihm eine Freude zu machen; Hund jagt hinter einem Tier her oder folgt ei ner Fährte, während Herrchen gerade nicht hinsieht; sobald Hund außer Sicht, macht sich Herrchen aus dem Staub, geräuscharm, aber flink wie ein Wiesel; Herrchen kommt nach Hause zurück, Leine in der Hand, besorgten Ausdruck im Gesicht; hundemarkenloser Hund sucht sich neues Herrchen und lebt mit diesem glücklich und zufrieden bis an sein Le bensende. Natürlich mußte er darauf achten, die Leine weit genug vom Haus entfernt auszuklinken, damit der Hund nicht mehr zurückfand. Lake hatte keine Ahnung, was weit genug war, ob wohl die Entfernung angesichts Randalls nied rigem Intelligenzquotienten und seiner Le thargie bestimmt nicht groß sein mußte. Ziellos wanderte er mit dem Hund eine Viertel stunde lang durch die Gegend, um Randall kei ne Chance zu geben, sich den Weg einzuprä gen. Aber der hatte mit Navigation ohnehin nichts am Hut; er erlebte gerade eine Reihe
von Abenteuern – ein Eichhörnchen, einen Hund, der ihn anbellte, die spannende Lektüre der einen oder anderen Geruchsbotschaft. An etlichen Punkten entlang des Weges fügte er seinem persönlichen Revier nach Lust und Laune weitere Territorien hinzu. Sie kamen an einen kleinen Park, und Lake erkannte sofort, daß dies der geeignete Platz war, an dem sich die Wege von Herrchen und Hund trennen sollten. Am hinteren Ende des Parks, hinter einer großen Wiese, lag ein Wäldchen: ideales, unübersichtliches Gelände. Hier könnte sich Herrchen unbemerkt davon stehlen. Und das Beste überhaupt: dieser Park wurde von vielen Hundebesitzern frequentiert, was bedeutete, daß das Fehlen von Randalls Herrchen bestimmt schnell bemerkt und ent sprechende Schutzmaßnahmen eingeleitet werden würden. Mitten auf der Wiese stand ein Mann mittle ren Alters mit zwei Mädchen, die wie College schülerinnen aussahen. Ihre Hunde tobten um die Gruppe herum. Plötzlich riß Randall sich mit einem Ruck los und lief, die Leine hinter sich herziehend, auf einen großen, hellgelben Hund zu. Lake ließ ihm seinen Willen und ge sellte sich zu den dreien. Er wollte herausfin den, ob jemand von ihnen Randall oder Tante
Ilsa gekannt hatten. »Hi«, begrüßten ihn die Mädchen. Der Mann nickte Lake zu, warf einen Blick auf Randall und fragte: »Wie alt ist er?« Lake vermutete hinter dieser Frage eine für Hundebesitzer typische Gesprächseinleitung. »Fünf, fast sechs«, gab er zur Antwort. »Und wie alt ist Ihrer?« »Der ist schon ein alter Haudegen«, sagte der Mann und betrachtete liebevoll seinen Hund, ein großes Tier mit rötlichem Fell, durchsetzt mit silbrigen Fäden. »Fast zwölf.« »Ganz schön alt«, bemerkte Lake. »Aber noch immer gut auf den Beinen«, sagte der Mann, als müßte er sich rechtfertigen. »Läufst immer noch gern, was, Alter?« Lake konnte beim besten Willen nicht erkennen, daß der Hund die Ansicht seines Herrn teilte. Er rührte sich nicht vom Fleck, als ihm der Mann den ergrauten Kopf kraulte. Eines der Mädchen fragte: »Wie heißt Ihr Hund?« Das rote T-Shirt stand ihr ausgezeich net. »Randall. Und Ihrer?« »Chloe.« Chloe war der hellblonde Hund, der es Ran dall offenbar angetan hatte und den er im Mo ment ungeniert beschnüffelte.
»Hübscher Name«, meinte Lake. »Was für eine Rasse ist das?« »Gelber Labrador«, erklärte sie in einem Ton, der ihm klarmachte, daß dies für jemanden, der sich Hundebesitzer nannte, eine ziemlich dämliche Frage war. »Ich kenne mich mit Hunden nicht so gut aus«, bekannte Lake. »Ihr Springer ist ein wunderschönes Tier.« »Ja, geht so. Ich hab ihn momentan zur Pfle ge. Haben Sie ihn in diesem Park schon mal ge sehen?« »Kann mich nicht erinnern«, sagte sie. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Lake wollte sich gerade wieder verabschie den, als sie sagte: »Ich bin Holly. Und das ist Tina. Wir wohnen zusammen.« »Ich heiße Luke.« Holly war freundlich, vorlaut und diejenige, die das große Wort führte. »Der Park hier ist wirklich ideal für Hunde«, schwärmte sie. »Ich bin so gut wie immer da.« »Auch an den Wochenenden?« »Über zu wenig Freizeit kann ich mich nicht beklagen. Ich bin Aerobic-Instrukteurin. Ob wohl ich mir überlege, vielleicht nächstes Jahr wieder auf die Schule zu gehen.«
»Ich mach auch so was Ähnliches.« »Hab ich dich schon mal im Fitneßclub in Wyndmoor gesehen?« »Nein. Ich will damit nur sagen, daß ich mich ebenfalls mit Instruktionen beschäftige. Ich mache Betriebsanleitungen. Für allen mögli chen Kram.« »Was für Kram?« »Ach, alles mögliche«, sagte er. In Anbetracht seines zukünftigen Vorhabens hielt er es für besser, nicht über sich selbst zu sprechen. »Wie alt ist Chloe?« fragte er. »Etwas über zwei.« Er warf einen Blick zu den Hunden hinüber und sah, daß Randall seine Frühlingsgefühle schamlos an der Hündin auszuleben versuch te. »Ich muß mich für seine schlechten Manie ren entschuldigen. Er hat ein ungestümes Temperament.« »Ist schon gut. Mein Hund kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.« Im selben Moment fuhr Chloe herum und stürzte sich knurrend auf Randall. Er hopste aus dem Weg, nur um sich gleich darauf wieder an sie heranzumachen. »Habt ihr hier schon mal streunende Hunde gesehen?« fragte er. »Das Gelände ist ja ziem lich weitläufig.« »Wie meinst du das?«
»Na, ob der eine oder andere seinem Herr chen schon mal abhanden gekommen ist – ich meine, ob so ein Hund im Wald herumstreu nen und die Orientierung verlieren könnte?« »Nee, so was hab ich noch nie gehört, ich könnt's mir allerdings gut vorstellen. Einmal ist Sable abgehauen – Tinas Hund.« »Aber er war nur eine Stunde weg«, mischte sich Tina ein. »Er ist hinter 'nem anderen Hund hergerannt. Ich hab mit dem Auto die ganze Gegend abgesucht. Ich hab ihn entdeckt, als er gerade hinter 'nem Supermarkt ver schwinden wollte.« »Hat er denn nicht versucht, nach Hause zu finden?« »Ich glaub, er hat die Panik gekriegt. Ich war vielleicht fertig! Sable ist nämlich mein kleiner Süßer, nicht wahr, Sable?« Sable war schwarz und wild, mit Raubtieraugen. »Keine Ahnung, was Randall in so einem Fall machen würde«, murmelte er. »Er trägt doch eine Hundemarke, oder?« er kundigte sich Holly. »Noch nicht. Ich muß ihm erst eine besorgen.« »Er ist wirklich ein besonders schöner Hund. Sieh zu, daß du dir schleunigst 'ne Marke zu legst. Bestimmt wären viele Leute scharf auf so
'nen Hund.« »Willst du damit sagen, daß sie vielleicht gar nicht nach dem Besitzer suchen würden?« »Vielleicht«, sagte Holly. »Aber sie würden doch bestimmt alles tun, damit sich der Hund wohl fühlt, oder?« Holly warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Tina sagte: »Am meisten Angst hatte ich davor, daß ihn ein Auto überfährt.« »Ich würde Randall nicht gerade als hochin telligenten Hund bezeichnen«, sagte er, »aber Autos kennt er.« Er bemerkte, daß andere Hundebesitzer sich näherten. »So, jetzt muß ich aber los. Komm, Randall.« Er packte die Leine und zerrte den Hund von Chloe fort. »Tschüs, Luke.« »Tschüs, Holly. Tschüs, Tina.« Auf dem Heimweg ließ er die Unterhaltung nochmals Revue passieren und kam zu dem Schluß, die Befreiungsaktion an einem Wo chenende stattfinden zu lassen, wenn viele Leute im Park unterwegs wären. Im schlimms ten Fall würde Randall in einem Tierheim lan den, wo er mit Sicherheit Adoptiveltern finden würde. Aber vielleicht würde ihn auch einer der Hundebesitzer mitnehmen. Ein so wertvol ler Rassehund ohne Hundemarke hätte be
stimmt keine Probleme, ein neues Herrchen zu finden. Alle Fakten deuteten auf eine schnelle Eingewöhnung in ein neues Zuhause, eine ins gesamt liebevollere Umgebung, in der man sei ne Anwesenheit als Glücksfall betrachten wür de. ***
Später in der Bibliothek plagten Lake Gewis sensbisse. Wenn er den Hund im Park aussetz te, schwanden seine Chancen, ein hübsches Haus im Himmel zu ergattern; so viel war si cher. Und er mußte immer damit rechnen, daß Randall irgend etwas Dummes anstellte und sich dabei verletzte. Natürlich war Tante Ilsa schuld an dieser verfahrenen Situation. Da durch, daß sie Hunde über Menschen stellte, hatte sie eine unmögliche Bindung geschaffen. Während Lake die moralischen Aspekte er wog, tappte Randall zum Ledersessel hinüber und stellte sich davor. Über die Schulter warf er Lake einen spekulativen Blick zu. Dann schaute er wieder den Sessel an. Dann wieder Lake; offensichtlich überlegte er etwas. Faszi niert beobachtete Lake den Hund. Plötzlich hopste Randall auf den Sessel, rollte sich zu sammen und schloß die Augen, als wollte er – obwohl er gerade direkt unter den Augen der
Gesetzeshüter ein Verbrechen begangen hat te – damit klarstellen, daß jeglicher Protest sinnlos war und er den Fall als abgeschlossen betrachtete. Lake bewunderte Randalls Nerven. Unter Tante Ilsas strengem Regiment war die Be schlagnahme eines Sessels bestimmt ein Ver brechen gewesen. Randall hatte den neuen Be sitzer als liberaler eingestuft. Der Hund hatte erstaunlichen Scharfsinn bewiesen. Während Lake über die Strenge seiner Tante reflektierte, lichtete sich allmählich der mora lische Nebel. Randall war im Haus wie ein Ge fangener behandelt worden. Lebenslänglich ans Haus gefesselt – verhätschelt, vielleicht so gar abgöttisch geliebt, aber ohne die Möglich keit, sich auszuleben. Nie war ihm erlaubt wor den, zu jagen, zu erforschen. Er hatte nichts als Vorschriften, Langeweile und Gefangenschaft gekannt. Fünf Jahre lang war er einen schlei chenden emotionalen Hungertod gestorben. Vor die Wahl gestellt, hätte er ein solches Le ben sicher strikt abgelehnt. Diese Gedanken veränderten die moralische Landschaft. Man könnte das Thema durchaus auch von einer anderen Seite angehen. Lake würde Randall die Wahl lassen. Er würde mit Randall in den Park gehen, ihn nach Lust und
Laune herumtollen lassen, ihm zu verstehen geben, daß es außer der Peal Avenue noch wei tere Alternativen gab. Dann würde Lake vor den Augen des Hundes, ohne jede Hinterlist, den Heimweg antreten. Das wäre der Moment, in dem Randall sich entscheiden müßte, ob er ihm folgen wollte oder nicht. Das Geschenk wäre Freiheit in ihrem wahrsten, ursprüng lichsten Sinn: die Freiheit der Wahl. Er war ziemlich sicher, welche Entscheidung Randall treffen würde. Nach seinem heutigen Verhalten im Park zu schließen, würde der Hund die Freiheit favorisieren. Das Wichtigste aber war: Die Entscheidung würde der Hund allein treffen. Falls Randall aber seinem Herrn nach Hause folgen sollte, würde Lake für aus wärtige Unterbringung sorgen. Er würde Ran dall so lange in einem weit entfernten Tier heim unterbringen, bis er für ihn Adoptiveltern gefunden hatte. Lake überdachte diese Vorgehensweise, wäh rend Randall im Ledersessel ein Nickerchen machte. Er kam zu dem Schluß, daß diese Lö sung unter den gegebenen Umständen ethisch einwandfrei war – eine Form hundemäßiger Selbstbestimmung, wenn man es vom richtigen Standpunkt aus betrachtete.
4 »Na, womit hast du heute deinen Tag ver bracht?« fragte Ellen auf der Fahrt zum Re staurant, wo sie mit den Aliens verabredet wa ren. Nachdem er ihr nichts von seinen morali schen Überlegungen zum Problem Hund er zählen wollte, sagte er: »Ich habe einiges im Haus erledigt. Es ist einfach idiotisch, so viel Platz zum Wohnen zu haben.« »Platz ist schön.« »Überleg mal, was allein an Energie für Be leuchtung und Beheizung von Räumen drauf geht, in denen du dich pro Tag nicht mehr als zwei Minuten aufhältst.« »Zu viel Platz kann man gar nicht haben.« »Wenn alle so dächten wie du, hätten wir ernste Probleme«, sagte er. »Du bist ja heute besonders gut aufgelegt.« Lake suchte nach einer schlagfertigen Ant wort, war aber nicht in der Stimmung dazu. »Ich hätte nie gedacht, daß die Sache mit dem Haus so kompliziert wird«, sagte er. »Du machst sie kompliziert.« »Was heißt das?« »Du hast 'ne merkwürdige Einstellung dazu.« »Ach, ich weiß nicht, mir ist das alles einfach zu viel.«
»Was alles?« fragte sie. Er dachte: Das alles: das Problem mit dem Hund, der Rasen, der zu groß ist, um ihn ohne Traktor mähen zu können; das Badezimmer, das an der falschen Seite des Bettes liegt; El len, die in dem Haus mehr sieht als nur einen unverhofften Geldsegen. Die Einweihungspar ty hatte sie zwar noch nicht erwähnt, würde aber bestimmt noch darauf zu sprechen kom men. So schlecht war die Idee mit der Einwei hungsparty vielleicht gar nicht, überlegte er. Damit würde er Mrs. Lundquist und Vere überzeugen, daß er sein neues Domizil akzep tiert hatte. Aber was für ein Fest könnte man in einem Haus wie diesem wohl feiern? »Vielleicht werde ich mir diesen Sommer einen längeren Urlaub genehmigen«, sagte er. »Es wäre doch ganz schön, eine oder zwei Wo chen im Juli oder August in Nantucket zu ver bringen. Mal sehen, ob wir noch 'ne Ferien wohnung bekommen.« »Das geht nicht.« »Was soll das heißen?« »Du hast wohl vergessen, daß wir den vierten Juli mit Susan und Charlie feiern wollten.« »Ich hab eher an die letzte Juliwoche und die erste Augustwoche gedacht.« »Da kann ich vielleicht nicht.«
»Warum? Habt ihr Steuertermine?« »Nein, aber vielleicht hab ich da Schule.« »Schule«, wiederholte er verdutzt. »Ich will mich weiterbilden.« »Mitten im Sommer?« »Sommeranfang. In ungefähr drei Wochen.« »Ach, und was willst du machen?« »Betriebswirtschaft studieren.« »Was willst du?« »Betriebswirtschaft studieren.« »Ich weiß, was Betriebswirtschaft ist. Und warum willst du ausgerechnet das studieren?« »Warum nicht?« »Betriebswirtschaft ist ein ziemlich langes Studium.« »Fünf oder sechs Jahre in Abendkursen.« »Sechs Jahre?« fragte er. Er verstand die Welt nicht mehr. »Oder fünf.« »Wann hast du dich denn dazu entschlossen?« »Vor zwei Tagen. Allerdings trag ich mich schon länger mit dem Gedanken.« »Und du hast echt vor, Betriebswirtin zu wer den? Ich meine, du arbeitest doch im Control ling. Dazu brauchst du doch nicht Betriebs wirtschaft zu studieren.« »Lake.«
»Und wann sind die Kurse?« »Dienstags und donnerstags.« »Um welche Zeit?« »So um zehn. Und dann gibt's natürlich jede Menge Hausaufgaben.« »Sechs Jahre.« Schweigend setzten sie ihre Fahrt fort. Schließlich sagte Lake: »Du bist also fest ent schlossen.« »Angemeldet hab ich mich noch nicht, aber ich werd's demnächst tun. Was stört dich ei gentlich daran?« »Ach, ich weiß auch nicht. Wenn du's dir vor genommen hast, mußt du's auch durchziehen.« Sie schaute stur geradeaus. »Du hast nicht ein einziges Mal davon gespro chen«, sagte er. »Nicht ein einziges Wort hast du darüber verloren.« »Jetzt weißt du's ja.« »Soll das heißen, daß es mich nichts angeht?« »Nein. Das soll nur heißen, daß es um meine Zukunft geht. Um meine Karriere. Du fragst mich ja auch nicht, wie du dein Geschäft füh ren sollst.« »Ich unterhalte mich immer mit dir darüber.« »Tust du nicht.« »Tu ich doch.«
»Du glaubst nur, daß du's tust«, sagte sie. »Okay«, meinte er resigniert, »am Ende wirst du den ganzen Laden schmeißen.« »Das will ich gar nicht.« »Ich dachte, das wäre dein Ziel.« »Mit einem Titel in der Tasche stehen einem viele Türen offen.« »Hast du dann überhaupt noch Freizeit?« »Klar. Zwischen den Trimestern.« »Vielleicht sollten wir unseren Urlaub dann in die Trimesterferien legen.« »Vielleicht solltest du allein in Urlaub fahren«, sagte sie. Und in freundlicherem Ton: »Ich könnte übers Wochenende zu Besuch kommen.« »Das bringt doch nichts.« »Du sollst aber fahren. Du machst nie Ur laub.« »Ich mag aber nicht. Und schon gar nicht al lein.« »Vielleicht probierst du's einfach mal.« »Was sagst du?« »Nichts. Nur, daß du's vielleicht mal auspro bieren sollst.« »Vielleicht hast du recht«, gab er zur Antwort. Düstere Gefühle regten sich in ihm – namenlo se, tintenschwarze Gedanken. »Sag mal, warum streiten wir uns eigentlich? Schluß da
mit! Hör zu, vielleicht hab ich ja falsch rea giert.« »Ich kann es nicht ausstehen, wenn du so'n Scheiß von dir gibst wie ›Ich fahr bestimmt nicht allein‹. Ich hasse das.« »Aber es stimmt doch.« »Weiß ich«, sagte sie. »Ich sehe nicht, was daran falsch sein soll.« »Weiß ich.« »Du glaubst, es hört sich egoistisch an.« »Und was meinst du, wie es sich anhört?« »Keine Ahnung«, gab er zur Antwort. »Ich werde Bob nach dem Studienplan fragen«, sagte sie. »Hab ich dir eigentlich schon erzählt, daß er mich zum Mittagessen eingeladen hat?« »Nein.« »Am Freitag hat er angerufen, einfach so, und mich zum Mittagessen eingeladen. Ich find das unglaublich nett.« »Und warum will er mit dir zum Mittagessen gehen?« »Ach, um sich auf dem laufenden zu halten.« »Und, hast du zugesagt?« »Natürlich.« »Ich hab gar nicht gewußt, daß Bob ein so freundlicher Mensch ist.« »Es geht nicht darum, ob er ein freundlicher
Mensch ist, aber wir sind Freunde. Solange er noch mein Chef war, hätte er mich nie zum Mittagessen eingeladen. Das ist typisch für ihn.« »Du willst damit also sagen, daß es freundlich war, wie er dich damals behandelt hat?« »Auf jeden Fall nicht unfreundlich.« »Dann muß ich mich wohl verhört haben«, bemerkte Lake. »Ich hab nie behauptet, daß er unfreundlich war. Er verlangt sehr viel, ist aber nie gemein oder so.« »Aha.« »Ich hab viel bei ihm gelernt.« »Hast du nicht gesagt, daß sein Privatleben ziemlich chaotisch verläuft?« »Ich hab nur gesagt, daß er und seine Frau sich getrennt haben. Aber das ist inzwischen alles geregelt. Er geht jetzt mit einer geschiede nen Frau, einer Anwältin. Sie heißt Marion. Ich glaube, er kennt sie schon ziemlich lange.« »Wann hat er dir das alles erzählt?« »Als er noch mein Chef war. Er ist nämlich ein guter Mensch.« Lake gab keine Antwort. Als sie die Tür zum Restaurant aufstießen, sa ßen Charlie und Susan schon am Tisch und nippten an ihren Drinks. »Hi.«
»Hallo.« »Hi.« »Hi.« Freundlich lächelnd setzte sich Lake an den Tisch, unglücklich über sich selbst und al les. »Na, wie geht's euch?« grinste Charlie. Susan schaute Ellen an. »Bestens«, sagte Lake. »Hübsche Krawatte«, stellte Charlie fest. »Danke«, antwortete Lake. »Gemütlich hier«, meinte Charlie. »Wie seid ihr auf dieses Lokal gekommen?« »Wir haben's einfach mal ausprobiert. Was hast du da für einen grünen Fleck an der Hand?« »Ich habe heute das Badezimmer gestrichen«, erklärte Charlie. »Farbe«, sagte Susan. »Ich dachte, ihr wolltet euch nach einer ande ren Wohnung umsehen«, meinte Ellen. »Stimmt auch. Aber ich konnte dieses Bade zimmer einfach nicht mehr ertragen.« »Gerade haben wir uns über dieses Thema unterhalten«, sagte Lake. »Darüber, wieviel Raum der Mensch zum Leben braucht.« »Du meinst wohl, wie viele Räume«, berich tigte ihn Charlie. »Richtig.«
»So viele wie möglich«, antwortete Charlie. »Das hat Ellen auch gesagt. Aber wozu soll es gut sein, mehr Räume zu haben, als man braucht?« Charlie schwieg. Ellen und Susan unterhielten sich über eine Kunstausstellung. Lake hatte das Gefühl, daß Ellen Susan vom Haus seiner Tante erzählt hatte. »Hab ich euch schon er zählt, daß mir meine Tante ein Haus vererbt hat?« fragte er Charlie. Charlie tat überrascht: »Phantastisch!« ***
Als das Dessert kam, hatte sich Lakes Ruhelo sigkeit gelegt. Sie unterhielten sich über Base ball und Filme, über Schlaglöcher in den Stra ßen und das Wochenende vom vierten Juli. Die Kellnerin verteilte den restlichen Wein auf die Gläser. Ellen und Susan lachten, weil Charlie aus Versehen auch einen seiner Schuhe mit an gestrichen hatte. Lake dachte über Farbe nach; er bemerkte, wie Ellens honigblonde Haare schimmerten. »Ellen wird wieder zur Schule gehen.« »Ach, wirklich?« sagte Susan. »Abendschule«, meinte Ellen. »Betriebswirt schaft.« »Super«, freute sich Susan.
»Wird 'ne Weile dauern.« »Aber das ist doch super«, rief Susan. »Vielleicht sollte ich auch damit anfangen«, sagte Lake. »Ich kann mir dich beim besten Willen nicht als Betriebswirtschaftler vorstellen«, meinte Charlie. »Hab ich auch nicht vor. Aber irgendwelche Kurse belegen. Als Gehirntraining.« »Was zum Beispiel?« fragte Susan. »Philosophie vielleicht. Ich mag Philosophie.« Das entsprach auch durchaus der Wahrheit. Philosophie war schon während seines Studi ums eines seiner Lieblingsfächer gewesen. Ja, ein Philosophiekurs wäre nicht schlecht. Er stellte sich vor, wie er mit einem Ethik-Profes sor eine These diskutierte. Der Professor sag te: Wirklich scharfsinnig, Mr. Stevenson. Die anderen Studenten hörten andächtig zu. Charlie warf einen Blick auf seine Armband uhr. »Wir müssen los«, drängte er. »Es fängt in zehn Minuten an.« Lake sagte: »Ellen und ich möchten im Haus meiner Tante eine Einweihungsparty geben.« »Super Idee«, rief Susan, als hätte sie es schon gewußt. Ellen warf Lake einen Blick zu, ihre Augen verengten sich kaum merklich. Sobald sie wie
der allein waren, wollte er sich nochmals we gen seiner Reaktion auf das Betriebswirt schaftsstudium entschuldigen. »Ich war ein Narr«, würde er sagen oder etwas ähnlich Büh nenreifes. Es würde ihm schon etwas Passen des einfallen. Als sie vor Ellens Wohnung vorfuhren, sagte er: »Hör zu, vorhin war ich nicht gerade sehr zartfühlend.« »Mach dir deswegen keine Sorgen.« »Ich war ein Narr.« »Wovon sprichst du eigentlich?« »Ich war ein Narr, diesen Film vorzuschla gen.« »Übertreibst du nicht ein bißchen?« »Das war der schlechteste Film aller Zeiten, vielleicht mal abgesehen von dem Schrott, den sie in Bombay produzieren.« »So schlecht war er nun auch wieder nicht.« »Ich war ein Narr.« Er küsste sie mit verwirr ten Gefühlen. Sie war nicht die einzige, die keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Er wußte es auch nicht. ***
Am darauffolgenden Wochenende hatten sich die Wogen fast wieder geglättet. Am Freitag
nach dem Abendessen fuhren sie in die Peal Avenue und schliefen in Tantes Bett miteinan der, verspielt, gelöst, ließen sich von ihrer Lust und den Gefühlen treiben. Dann spürte er plötzlich, daß sie nicht allein waren; er drehte sich von ihrem warmen Körper weg und warf einen Blick über die Bettkante. Auf dem Tep pich lag der Hund; die Vorgänge über ihm schienen ihn überhaupt nicht zu interessieren. Am nächsten Morgen unterhielten sie sich über die Party. Lake wollte sie gleich für den darauffolgenden Samstag ansetzen. »Sponta neität«, dozierte er, »ist der Garant für eine lo ckere und lustige Atmosphäre.« Er wollte die ses Fest so schnell wie möglich hinter sich bringen und dann seine Pläne in die Tat umset zen, aber davon sagte er Ellen nichts. »Zu früh«, gab sie zur Antwort. »Frühestens heute in zwei Wochen.« »Mir wäre ein spontanes Fest lieber. Keine großen Vorbereitungen. Nichts Prätentiöses.« »Was hast du dir denn vorgestellt?« »Sechs oder acht Leute. Bei schönem Wetter könnten wir auf der Terrasse essen. Einen ru higen Abend genießen, ganz im Geist dieses Hauses.« »Ein Haus hat keinen Geist. Du bist es, der dem Haus den Geist einhaucht.«
»Ist ja gut. Dann vielleicht zehn Leute, aber ganz ungezwungen.« Aber es war ihm klar, daß sie schließlich ihren Willen durchsetzen würde. Sie würde ihn zwingen, etwas zu feiern, was er möglichst schnell aus seinem Leben verbannen wollte. Am Ende standen mehr als dreißig Leute auf der Gästeliste. Dann sagte Ellen: »Wir könnten auch Bob einladen. Und Marion.« »Bob? Den Bob aus deinem Büro?« »Na klar. Er wird dir gefallen. Wenn wir dei nen Freund Bill einladen, sehe ich nicht ein, warum wir nicht auch Bob und Marion einla den sollten.« »Marion ist die Anwältin, mit der er zusam menlebt?« »Er trifft sie ab und zu.« »Und wo siehst du den Zusammenhang mit Bill?« »Du hast mit ihm in der Werbeagentur gear beitet. Und nur deshalb kennst du ihn. Er ist ein Geschäftsfreund.« »Er ist ein persönlicher Freund.« »Bob auch«, sagte sie. »Ich frag ihn mal.« »Mach, was du willst.« »Wahrscheinlich kommt er ohnehin nicht.« »Ich würde ihn gern kennenlernen«, sagte Lake.
Dann unterhielten sie sich über das Essen. »Wir werden einen Partyservice beauftragen«, sagte Lake. »Die kümmern sich um alles.« »Das können wir doch alles selbst organisie ren. Ich mach ein paar Pasteten und so.« »Ich will aber lieber 'nen Partyservice haben. Dann brauchen wir uns um nichts zu küm mern. Und können das Fest voll genießen.« »Ich mach's aber gern.« »Überleg doch mal«, sagte er, »so ein Party service schafft alles heran – Teller, Gläser, Ga beln –, und die Leute machen die ganze Arbeit. Und hinterher müssen wir nicht einmal auf räumen.« »Du willst, daß die alles komplett liefern? Hast du eigentlich 'ne Ahnung, wieviel Porzel langeschirr und Silber hier herumliegt?« Er wußte es. Er hatte eine grobe Inventur ge macht, weil er alles versteigern lassen wollte; aber er zog es vor, ihr nichts davon zu verra ten, also schüttelte er den Kopf. »Dann komm mal mit.« Sie führte ihn in das Anrichtezimmer und öffnete einen Schrank nach dem anderen. »Hier«, sagte sie. Sein Blick schweifte über Stapel von Tellern, unzäh lige, auf Haken aufgereihte Tassen, über Ser vierplatten und Terrinen, über funkelnde Spa liere von Weingläsern, Champagnergläsern,
Sherrygläsern, Wassergläsern, Whiskygläsern. »Das gehört dir«, sagte sie. Sie holte einen goldgerahmten Eßteller aus dem Schrank und hielt ihn ihm vor die Nase. »Gehört dir.« Behutsam faßte er mit beiden Händen den Teller an. »Aber wir werden keine bombasti sche Party geben«, sagte er. »Es soll einfach ein netter Abend mit ein paar netten Leuten sein. Dazu ist das Equipment des Partyservice gut genug. Es geht nichts Wertvolles zu Bruch, und wir brauchen nicht aufzuräumen.« »Vergiß den Partyservice.« »Wenn ich das Haus verkaufen will, möchte ich hier nicht allzu viel durcheinander brin gen.« »Ich sag dir was: Vergiß die Party.« »Ich will's uns ja nur einfacher machen.« »Das hier ist kein Museum. Was glaubst du ei gentlich? Daß die Leute dein Haus in Schutt und Asche legen? Daß sie das Porzellan zer hauen? Komm, gib her.« Sie riß ihm den Teller aus der Hand und stellte ihn zurück. »Natürlich nicht. Aber das hier ist doch 'ne vorübergehende Geschichte. Das weißt du.« »Warum gibst du dann kein vorübergehendes Einweihungsfest in einem Hotel?« »Außerdem ist es ja keine richtige Einwei hung, weil ich nicht lang hier wohnen werde.
Es ist schlicht und einfach 'ne Party.« »Vergiß die Party.« »Will ich aber nicht.« »Vergiß sie.« »Also, noch mal von vorn«, sagte er. »Verges sen wir einfach, worüber wir uns eben gestrit ten haben. Fangen wir noch mal ganz von vor ne an. Wir geben eine Party. Es wird eine nette Party sein. Kein Partyservice wird auch nur eine Nasenspitze in dieses Haus stecken. Wir werden alles selbst machen, und es wird ein gelungenes Fest werden.« »Das bezweifle ich.« »Vertrau mir«, sagte er. »Warum sollte ich dir vertrauen?« »Ellen, ständig liegen wir uns in den Haaren.« »Das hab ich auch schon gemerkt.« »Ich hab keine Lust mehr, mich mit dir zu streiten.« Sie starrte ihn an. Dann sagte sie: »Gut.« Aber den ganzen Vormittag über verbreitete sie schlechte Laune. ***
Am Montag – er war gerade dabei, den Ent wurf der Bedienungsanleitung für die neue elektrische Heckenschere zu redigieren – durchzuckte ihn der Gedanke, daß ihm die Er
eignisse allmählich aus der Hand glitten. Viel leicht war das die Erklärung für seine gedrück te Stimmung in letzter Zeit. Mrs. Lundquist würde sich schon bald fragen, weshalb er noch immer keine Möbel aus seiner Wohnung ins Haus geschafft hatte; der Hund entwickelte all mählich eine plumpe Vertraulichkeit; und zu allem Überfluss luden er und Ellen zu einer Einweihungsparty in ein Haus ein, das mit sei nem Leben rein gar nichts zu tun hatte. Er mußte seine Pläne zielstrebig in die Tat umset zen, um nicht alles noch schlimmer zu ma chen. Zumindest war es jetzt an der Zeit, die Weichen für den Verkauf des Hauses zu stel len. Er rief Karen an. »Hi, ich bin's, Lake.« »Wie geht es dem Hund?« fragte sie. »An sich wollte ich nur mal guten Tag sagen.« »Bestimmt nicht. Du rufst nie an, um nur gu ten Tag zu sagen. Was hast du mit dem Hund gemacht?« »Nichts. Randall geht's gut.« »Hast du's dir anders überlegt?« »Was überlegt? Soviel ich weiß, haben wir uns vage und nebenbei über den Hund unterhal ten. Sei bitte so lieb, und leg mir nichts in den Mund.« »Und du paß lieber auf, daß du dem Hund
nichts antust.« »Das Geheimnis deiner Mitwisserschaft liegt bei mir in sicheren Händen«, sagte er. »Ich meine es ernst.« »Wie heißt der Immobilienladen, in dem dei ne Freundin arbeitet?« »Jennifer? Moment mal, ich glaub, ich hab ihre Büronummer. Wart einen Augenblick.« Während er wartete, studierte Lake die Kon struktionszeichnung der Heckenschere. Sie sah aus wie der Rachen eines weißen Hals, der darauf lauerte, Menschen zu verschlingen. Er würde Derek Kast davon überzeugen müssen, sämtliche Graphiken von InstruX machen zu lassen. Karen kam wieder ans Telefon und gab ihm die Nummer. »Vielleicht sollte ich mit jemand anderem in der Firma verhandeln«, meinte er. »Warum das? Sie ist ganz bestimmt gut.« »Freunde sollte man in solchen Angelegenhei ten besser außen vor lassen«, sagte er. Plötz lich fiel ihm auf, wie verschwörerisch sich das anhörte, und er fügte schnell hinzu: »Hast ja recht. Ich werd sie selbst anrufen. Eigentlich spricht ja nichts dagegen.« »Hoffentlich nicht.« »Kann sie schweigen? Im Moment will ich auf jeden Fall verhindern, daß irgend jemand
Wind von dem Verkauf kriegt.« »Frag sie selbst.« »Wenn ich mich recht erinnere, war sie frü her ziemlich geschwätzig.« »Keine Vorurteile, Lake!« »Nein, nein. Wer weiß, vielleicht rufe ich sie ja auch überhaupt nicht an. Vielleicht suche ich mir 'nen Makler aus den Gelben Seiten.« »Wie du willst.« »Übrigens könnte es sein, daß ich im Sommer in der Nähe von Martha's Vineyard bin. Viel leicht komm ich euch besuchen.« »Ja, mach das«, sagte sie ausgesprochen kühl. ***
Lake wählte die Nummer der Immobilienfir ma. Eigentlich wollte er den Geschäftsführer verlangen. Aber dann spürte er Karens boh renden Blick im Genick und sagte: »Jennifer Dee, bitte.« »Sehr gern. Ich sehe nach, ob sie im Büro ist.« Gleich darauf hörte er einen Anrufbeantwor ter: »Hier spricht Jennifer Dee. Heute Vormit tag habe ich leider auswärts zu tun. Ich werde aber gegen vierzehn Uhr wieder im Büro sein. Bitte nennen Sie den Grund Ihres Anrufes und Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie dann zu rück.«
Lake legte den Hörer auf. Er dachte über die Stimme nach, versuchte sie einzuschätzen. Sie klang einigermaßen professionell. Um halb drei versuchte er es nochmals. Dies mal war sie selbst am Telefon. »Hallo«, sagte er. »Hier spricht Lake Steven son. Karens Bruder.« »Hallo.« »Sie erinnern sich bestimmt nicht mehr an mich. Ich war derjenige, der immer oben Mu sik gespielt hat.« »Wie geht's Karen?« »Gut.« »Ich habe sie lange nicht mehr gesehen.« »Ja. Hören Sie. Ich trage mich mit dem Ge danken, ein Haus zu verkaufen.« »Ach ja?« »Es liegt in Chestnut Hill. Betreut Ihre Agen tur dieses Gebiet?« »Ja.« »Ich möchte mich beraten lassen, was man al les bei einem Verkauf beachten muß und so weiter.« »Gern.« »Kann ich eine vertrauliche Beratung bekom men?« »Natürlich.« Sie hörte sich ehrlich an, aber es konnte si
cher nicht schaden, die Sache etwas vage zu halten. »Also, bis jetzt habe ich noch keine endgültige Entscheidung getroffen«, begann er. »Vielleicht werde ich auch im Haus wohnen bleiben. Eigentlich ist es das Haus meiner Tan te. Sie hat es mir vererbt.« »Ach so.« »An und für sich würde ich schon gern dort wohnen, aber irgendwie ist es zu groß für mich.« »Mhm.« »Auf dem Immobilienmarkt ist momentan nicht gerade viel los, wie ich gehört habe.« »Es ist ein wenig ruhig«, sagte sie, »aber all mählich kommt wieder Bewegung in die Ge schichte. Wie viele Zimmer hat das Haus?« »Keine Ahnung, 'ne ganze Menge.« »Der Markt für Immobilien der oberen Preis klasse ist immer noch gut.« »Ach ja? Mein Haus liegt sicher auch in der oberen Preisklasse. Wie ermitteln Sie eigent lich den Verkaufspreis für ein solches Objekt?« »Wir würden uns das Haus ansehen und Ih nen dann einen Vorschlag machen. Vielleicht haben Sie ja schon selbst eine Preis Vorstel lung?« »Wer ist wir?« »Meine Partner und ich.«
»Ich möchte nicht, daß ein Haufen Leute da mit zu tun haben.« »Wir sind nicht viele. Ich könnte selbst vor beikommen und es mir ansehen, wenn Sie möchten.« »Ja, das wäre mir lieber. Könnten Sie es rela tiv schnell verkaufen?« »Das hängt von verschiedenen Voraussetzun gen ab. Die wichtigste Voraussetzung ist der Preis.« »Sie meinen, je niedriger der Preis, desto schneller verkauft es sich?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, daß sich ein Haus nicht verkaufen läßt, wenn ein zu hoher Preis angesetzt wird.« »Mir ist es wichtig, daß es schnell verkauft wird«, meinte er. Sie schwieg. »Und dann möchte ich nicht, daß die Nach barschaft durch Verkaufsschilder und durch Leute aufgeschreckt wird, die im Haus ein und aus gehen.« »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Das hörte sich alles sehr gut an. Eine taktische Variante fiel ihm ein: Vielleicht könnte er das Haus ja verkaufen, ohne daß Mrs. Lundquist und Vere Wind davon bekamen. Hinterher
könnten sie protestieren, soviel sie wollten. Ja, das war es. Er würde Mrs. Lundquist behalten, damit sie bezeugen könnte, wie sehr er unter dem Verlust seines Hundes litt, aber das Haus würde er heimlich verkaufen. Ein ausgezeich neter Plan, fand er, und völlig stressfrei. »Bitte beachten Sie auch«, sagte er, »daß das Haus montags und freitags nicht besichtigt werden darf. An diesen Tagen ist eine Haushäl terin da, und ich will sie auf keinen Fall beun ruhigen. Sie ist schon eine ältere Dame.« »Auch das dürfte kein Problem sein.« »Können Sie dafür sorgen, daß andere Agen turen nichts davon erfahren?« »Die Listen werden normalerweise über den Computer gestreut. Aber wir können in Ihrem Fall eine Ausnahme machen.« »Darum würde ich Sie sehr bitten.« Sie schwieg. Dann sagte sie: »Gibt es sonst noch etwas?« »Nur, daß ich die ganze Angelegenheit so dis kret wie möglich behandelt haben möchte. Das ist auch im Sinn meiner Nachbarn, die größten Wert darauf legen, daß ihre Privatsphäre nicht gestört wird. Es geht darum, das Andenken an meine Tante zu respektieren. Sie ist erst vor zwei Monaten gestorben.« »Ich verstehe«, sagte sie.
»Betrachten Sie dieses Gespräch bitte als rein informativ.« »Vielleicht möchten Sie noch mit anderen Maklern sprechen?« fragte sie. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht inter essiert sind?« »Keineswegs«, gab sie zur Antwort. »Sie ha ben mich um meinen Rat gefragt. Ich halte es für wichtig, daß der Makler, den Sie mit dem Verkauf Ihres Hauses beauftragen, und auch der Verkaufspreis Ihren Vorstellungen ent spricht.« »Okay. Ich werde mich umhören. Es ist ein großes Haus«, sagte er. »Mit lauter schönen Möbeln. Ich bin überzeugt davon, daß es sofort einen Käufer finden wird. Wann werden Sie es sich ansehen?« »Diese Woche könnte ich es noch einrichten.« »Wie sieht es mit morgen aus?« »Morgen habe ich ziemlich viel Termine. Ich könnte gegen sechzehn Uhr vorbeischauen.« »Gut«, sagte er. »Die Adresse ist Peal Avenue Nr. 73. Es ist ein Ziegelbau mit grünen Fenster läden und einem schmiedeeisernen Zaun.« »Wie war noch der Name Ihrer Tante?« fragte sie. Weshalb wollte sie das wissen? Würde sie durchsickern lassen, daß Ilsa Grinnells Haus
zum Verkauf stand? »Ilsa«, sagte er. »Ich wollte ihren Nachnamen wissen.« »Stevenson«, sagte er. Und das war nicht ein mal ganz gelogen: Stevenson war ihr Mädchen name gewesen. Er hatte das Gefühl, daß Jenni fer sich etwas notierte – vermutlich fertigte sie eine Gesprächsnotiz an. Er mußte auf der Hut sein. »Ich verpflichte mich im Moment zu gar nichts«, sagte er. »Im Moment ist alles noch völlig hypothetisch.« »Ich verstehe.« »Bis morgen dann.« Er legte den Hörer auf. Die Geschichte war so gut wie unter Dach und Fach, außer sie hatte vor, den Preis zu drücken. Jetzt mußte er sich nur noch darum kümmern, den Hund zu entsorgen, damit er vorm Gesetz sauber dastand; aber das war mehr oder weniger eine Formsache. Nach dem Gespräch mit Jennifer Dee war er so aufgekratzt, daß ihn Dannys witzige Formu lierungen in einem Layout der Montageanlei tung für das Gartengrillgerät nur peripher ver drossen. Danny hatte eine Schraube abgebildet, die in die Brennkammer einge dreht wird, um den Griff zu befestigen. Die Bildunterschrift lautete: Ein Dreh am Ritzel,
dann die Schraube einrichten, ist das gelun gen, können Sie auf Klebstoff verzichten. »Danny.« Danny kam herüber. Lake deutete auf die Bildunterschrift. »Ja, da schau her«, sagte Danny. »Da muß wohl der Poet mit mir durchgegangen sein.« »Lass solche Scherze bitte. Sonst geht so was am Ende noch in Druck, nur weil du vergessen hast, es zu korrigieren.« »Schau dir mal die Graphik an«, sagte Danny. »Irgendwas kommt mir daran komisch vor.« Lake schaute sich die Zeichnung genauer an. Ihm fiel nichts auf. »Irgend etwas ist mit der Schraube.« Lake schaute genauer hin. Das Gewinde war verkehrt herum gezeichnet. »Paul.« Der Konstrukteur kam mit unschuldigem Ge sicht herüber. »Mach das nicht noch mal«, schimpfte Lake und deutete auf die Schraube. »Ich mag es nicht, wenn ihr solchen Unfug macht. Das ist gefährlich.« Mit einer Geste entließ er Paul. »Siehst du das da?« fragte er Danny. Er deute te auf eine Bildunterschrift in einem anderen Layout, die er blau eingekreist hatte: Vor der ersten Benutzung drehen Sie den Heizungs regler auf höchste Stufe, um den Grill anzu
wärmen. »Auf höchste Stufe drehen, wie lange?« fragte Lake. »Dreißig Sekunden lang? Einen Tag lang? Bis er schmilzt?« »Fünfzehn Minuten«, gab Danny zur Antwort. »Tut mir leid. Meine Schuld. Das ist ein Satz fehler. Eigentlich sollte die Zeit drin stehen.« Lake hielt eine Standpauke für angebracht. »Du mußt alles ganz genau durchlesen. Alles«, sagte er. »Jeden einzelnen Bedienungsschritt mußt du aufmerksam lesen. Sonst verliert der Benutzer sofort die Fährte. Ich weiß, ich habe das schon tausendmal gepredigt, aber ich sage es jetzt noch einmal, weil das nämlich der Kern unseres Geschäfts ist: Wenn du einem Benut zer nur die geringste Gelegenheit bietest, Mist zu bauen, wird er diese Gelegenheit todsicher ergreifen.« Mit zerknirschtem Gesicht machte sich Danny an den Rückzug. »Weißt du auch, warum?« Danny schüttelte den Kopf. »Weil er es so will«, sagte Lake. »Er will es?« »Tief in seinem Inneren will er es falsch ma chen. Er will nicht gehorchen. Das ist die menschliche Natur. Die Hälfte der Leute, die diese Anweisung liest, würde den Grill sicher
heitshalber nicht länger als zwei Minuten auf höchster Stufe vorheizen. Ein Viertel davon würde ihn auf höchster Stufe brennen lassen, bis der Propangastank leer oder das Haus nie dergebrannt ist. Die übrigen würden den Grill ein Jahr lang anstarren und sich fragen, was sie machen sollen. Kein einziger würde ihn fünfzehn Minuten lang anheizen. Nicht ein ein ziger.« »Hab verstanden. Tut mir leid.« »Ist schon gut«, sagte Lake. »Hör zu, du hast gute Arbeit geleistet. Im Ernst. Ich habe mir das Material angesehen, das du als Vorgabe be kommen hast.« »Vielen Dank.« »In der zweiten Zeile hast du allerdings das Versmaß nicht ganz hingekriegt.« ***
Am nächsten Tag stellte Lake um fünfzehn Uhr fünfundvierzig zwei Schüsseln unters Dach – eine mit Wasser, die andere mit Hun defutter. Der Dachboden kam ihm viel kleiner vor als damals, als er und Karen als Kinder dort gespielt hatten, aber ansonsten war alles unverändert – ein Sammelsurium von Schach teln, Truhen, Möbeln, alten Radierungen, Tep pichen. Ein mit einem Laken abgedeckter
Stuhl stand immer noch da; den hatten sie da mals als Thron zweckentfremdet. Auch der Kampfergeruch hing noch in der Luft. Wie da mals fiel schwaches Licht durch ein rundes Fenster am anderen Ende des Dachbodens. Der ideale Platz, um einen Hund von der Bild fläche verschwinden zu lassen. Es zeugte von Umsicht, daß er daran gedacht hatte, den Hund vor Jennifer Dee zu verstecken; schließ lich ließ seine Existenz nicht einmal den Ge danken an einen Verkauf des Hauses zu. »Komm, Randall«, rief er. Stille. Er ging hin unter in den ersten Stock. Randall lag am Fuß der Treppe. »Komm«, lockte ihn Lake und klatschte ermutigend in die Hände. Randall rührte sich nicht von der Stelle. Offenbar ge hörte der Dachboden nicht zu seinem Revier. Lake hob ihn auf. »Ist schon in Ordnung, Alter«, beruhigte er ihn. Er trug den zappeln den Hund nach oben und setzte ihn neben den Futternapf. Randall schnüffelte hektisch in der Luft herum. Lake entdeckte einen kleinen Tep pich und breitete ihn vor Randall auf den Fuß boden aus. Lakes Uhr zeigte fünf vor vier. »Brav sein«, ermahnte er den Hund. Er ging hinaus, schloß die Tür hinter sich, nahm zwei Treppen auf einmal zur Küche hinunter, griff sich eine Pa
ckung Schinkenscheiben aus dem Kühlschrank und hetzte wieder auf den Dachboden. Oben angekommen, hörte er schon das leise Läuten der Türklingel. Randall bellte. Lake ließ den Schinken in die Hundeschüssel fallen, sperrte die Dachbodentür zu und schlich sich auf Ze henspitzen hinunter. Er schloß die Tür am Fuß der Dachbodentreppe. Durch den doppelten Schallschutz würde das Geheimnis Randall ein Geheimnis bleiben. Er eilte zur Eingangstür. Er hatte erwartet, sie wiederzuerkennen, was auch stimmte, wenngleich die Ähnlichkeit zu früher eher vage war. Jennifer war sehr hübsch – dunkles Haar, feingeschnittenes Ge sicht, fast französisch. »Hallo«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Jetzt erinnerte er sich wieder daran, wie sie vor langer Zeit in Haverford mit Karen ums Haus gerannt war. »Kommen Sie herein«, sag te er, noch keuchend vom Treppenlaufen. »Ich hab gerade ein paar Sachen in den Garten ge schafft«, murmelte er entschuldigend. Mit dem Arm machte er eine weit ausladende Geste. »Also, das ist es.« »Es ist wunderschön«, sagte sie. »Mhm.« Sie wartete. »Wie sollen wir am besten beginnen?« fragte
er. »Erst einmal muß ich wissen, was Sie vorha ben«, begann sie. »Sie möchten das Haus über uns verkaufen. Richtig?« »Richtig.« »Sie haben noch nicht an einen bestimmten Preis gedacht.« »Nein.« »Gut. Dann werden wir Ihnen zunächst ein mal einen Preis vorschlagen. Ich würde auch empfehlen, daß Sie mit uns einen Exklusivver trag abschließen. Das heißt: Wir arbeiten eine bestimmte Zeit für Sie und Sie bezahlen uns bei Abschluß des Kaufvertrages eine Provision von sechs Prozent. Während der vereinbarten Laufzeit dürfen Sie das Objekt nur über uns verkaufen.« »In Ordnung.« »Sie würden einen Maklervertrag unter schreiben.« »Okay«, sagte er. »Aber wenn wir uns einig werden, möchte ich mit Ihnen über ein paar spezielle Vertragsklauseln sprechen.« »Gut.« »Über Vertraulichkeit.« »Ich möchte mich gern mal umsehen.« »Soll ich mitkommen?« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Es ist ein großes Haus«, sagte er und führte sie zuerst in das Wohnzimmer. »Das Mobiliar ist noch von meiner Tante. Ich habe nichts an gerührt, aber das sehen Sie wahrscheinlich selbst.« Sie gab keine Antwort. Weshalb hatte er sie nur als Tratschtante in Erinnerung? Sofern sie überhaupt etwas sagte, war es rein geschäft lich. »Ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt«, sagte er. »Es ist ja auch schon ziemlich lange her.« Sie nickte. »Aber vermutlich geht es Ihnen nicht anders«, sagte er. »Sie und Karen sehen sich sehr ähnlich«, be merkte sie. »Ja, das sagen viele.« »Wie hoch sind die Abgaben?« »Keine Ahnung. Das kann ich aber feststel len.« »Ich kann selbst nachsehen«, sagte sie. Er hatte völlig vergessen, daß es kommunale Unterlagen über das Anwesen gab. »Was ich noch sagen wollte«, begann er langsam, das Problem einkreisend. »Gestern sagte ich, daß meine Tante Stevenson heißt. Eigentlich wollte ich Grinnell sagen, Ilsa Grinnell. Ihr Mädchen name war Stevenson.« Er führte sie in die Bi
bliothek, ins Esszimmer, ins Anrichtezimmer und in die Küche. Plötzlich fielen ihm die Sä cke mit dem Hundefutter im Schrank ein. Er lehnte sich lässig gegen die Schranktür, aber sie machte keinerlei Anstalten, eine der Türen zu öffnen. Ihre Augen huschten über Wände, über die Einrichtung, so schnell, daß er nicht erkennen konnte, ob ihr gefiel, was sie sah. »Gibt es noch etwas, was Sie wissen möchten?« fragte er. »Hier wird mit Öl geheizt. Der Brenner ist fast neu. Das Haus ist in sehr gutem Zustand. Haben Sie das Dach gesehen? Schiefer.« »Ja.« »Alle Dachrinnen und die Fallrohre sind aus Kupfer.« »Mhm.« »Ich weiß, das macht man heute nicht mehr.« »Es ist wunderschön.« »Aber die elektrischen Leitungen und Fallroh re sind ziemlich neu. Das sind doch gute Ver kaufsargumente, oder?« »Ja, das ist nicht von Nachteil.« »Und wie arbeitet es sich in der Immobilien branche?« »Mir macht's Spaß.« »Sie sind aber erst seit ein paar Jahren dabei, oder?«
»Drei Jahre.« »Meine Tante hat Karen ihr Sommerhaus in Maine vererbt, hab ich Ihnen das eigentlich schon gesagt?« »Ich würde jetzt gern nach oben gehen.« »Sie wird es behalten.« Sie wanderten durch die Zimmer im ersten Stockwerk. Als sie gerade das Zimmer der Krankenschwester am anderen Ende des Flurs verließen, hörte er von oben einen dumpfen Schlag. Sie blieb stehen, lauschte. Lake hörte ein klackendes Geräusch wie Hundekrallen, die über Holz trappeln. »Vermutlich sind Eichhörnchen in der Dachtraufe«, versuchte er zu erklären. »Ich muß mal jemanden kommen lassen, der das abstellt. Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt den Keller. Der Brenner ist so gut wie neu, und dort können Sie sich auch die Falleitungen an sehen.« Er drängte sie die Treppe hinunter. Nachdem sie Keller, Garten und Garage durchwandert hatten, gingen sie um das Haus herum zur vorderen Zufahrt. Die Besichtigung war offenbar beendet. Sie blieb in der Zufahrt stehen und drehte sich zu ihm um. »Könnte ich Ihre Telefonnummer haben?« Lake kramte nach einer Visitenkarte. Er ver suchte ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Er
war neutral, wenn nicht gar indifferent. »Ein merkwürdiger Job, sich ständig Häuser anzusehen«, sagte er. »Ich finde es interessant.« »Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Immo bilienmaklerin zu werden?« »Ein Freund brachte mich dazu. Und womit beschäftigen Sie sich?« »Ich stelle Betriebsanleitungen her.« »Interessant. Ich melde mich am Donnerstag oder Freitag wieder bei Ihnen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er schüttelte sie. Als sie gegangen war, spürte er noch eine Weile, wie sich ihre Hand in der seinen angefühlt hat te, spürte die einzelnen Fingerknochen. Als nächstes mußte er sicherstellen, daß Jen nifer den Preis nicht zu niedrig ansetzte, nur um das Haus schnell verkaufen zu können. Er hätte sich zwar bei Vere erkundigen können, wie hoch das Anwesen für die Erbschaftssteuer geschätzt worden war, aber eine solche Frage würde den Feind mißtrauisch machen. Indi rekte Methoden mußten ergriffen werden. Er suchte sich aus den Gelben Seiten ein großes Maklerbüro heraus, das sich auf Wohnhäuser spezialisiert hatte, und rief dort an. »Ich möch te ein Haus kaufen«, erzählte er der Dame am Telefon.
Sie verband ihn. Eine andere Stimme sagte: »Ich bin Mrs. Evans. Wie kann ich Ihnen hel fen?« »Ich denke daran, ein Haus in Chestnut Hill zu kaufen. Gibt es einen einfachen Weg, wie ich mich über das Preisniveau in dieser Ge gend informieren könnte? Ich möchte mich erst mal orientieren, bevor ich mich entschei de, ob so etwas für mich überhaupt in Frage kommt.« »Ich könnte Ihnen einige aktuelle Angebote zusammenstellen.« »Mit Bildern?« »Ja, das wäre vielleicht im Moment am ein fachsten, Mr. …« »Stevenson.« »Das erledigen wir gern für Sie, Mr. Steven son. Wie schreibt man Ihren Namen bitte?« Auf der Stelle bereute Lake seine Ehrlichkeit. Selbst die nur mittelbar mit dem Hausverkauf zusammenhängenden Aktivitäten verlangten nach einer Verfälschung der Tatsachen. »S-t-ep-h-e-n-s-o-n«, buchstabierte er. »Ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch neh men, weil ich noch nicht genau weiß, ob ich wirklich etwas kaufen werde. Ich würde nur gern einen kurzen Blick auf die Angebote wer fen, damit ich eine Vorstellung habe, ob ich
mir so etwas überhaupt leisten kann.« »Wohnen Sie im Moment in Philadelphia?« »Ich bin hierher versetzt worden«, sagte er. »Könnte ich heute in Ihrem Büro vorbeikom men? Es dauert nur ein paar Minuten. Nur zur Orientierung.« »Paßt Ihnen fünfzehn Uhr?« »Ja.« »Ich heiße Margaret Evans. Wie groß soll das Haus denn sein?« »Groß.« »Haben Sie Kinder? Ich möchte Sie nicht aus fragen, aber so kann ich etwas heraussuchen, was genau auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.« »Ein Kind, aber er braucht nicht viel Platz zum Spielen. Er ist ein ziemlich ruhiges Kerl chen.« »Ich werde Ihnen etwas zusammenstellen.« ***
»Oh«, sagte sie, als er ihr Büro betrat. »Sie sind jünger, als ich dachte.« Er machte ein unverbindliches Gesicht, um ihr die Lust auf weiteren Smalltalk zu nehmen. Sie war eine füllige Frau, und sie war zappelig. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Schreibtisch und begann die photokopierten
Exposés durchzublättern, die sie für ihn zu sammengestellt hatte. »Dürfte ich Sie fragen, an welchen Preisrah men Sie gedacht haben?« fragte sie. Lake war voll damit beschäftigt, sich die Zah len zu merken. Einige Preise waren geradezu astronomisch; die Nullen erstreckten sich bis in die Unendlichkeit. Zwei Häuser sahen unge fähr wie das seine aus. Er überflog Fakten und Zahlen, runzelte äußerlich die Stirn und frohlockte innerlich. Ein solcher Preis würde ihm einen lebenslangen Tauchunterricht in der Karibik finanzieren oder – noch besser – InstruX den Weg ins Videogeschäft und andere Wachstumsbranchen öffnen. »Wie bitte?« fragte er. »Ich wollte wissen, welche Preiskategorie Sie sich vorgestellt hatten.« »Diese hier werde ich mir nicht leisten kön nen, fürchte ich.« »Von woher sind Sie versetzt worden?« »Alaska.« »Soviel ich weiß, sind Immobilien in Alaska auch nicht gerade billig.« »Nicht dort, wo ich wohne.« »Chestnut Hill ist eine unserer teuersten Adressen. Vielleicht dürfte ich Ihnen eine an dere Gegend vorschlagen.«
»Ich muß mir das Ganze noch mal durch den Kopf gehen lassen. Vielen Dank, Mrs. Evans. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, wo ich stehe. Soll te ich mich zum Kauf entschließen, werde ich Sie anrufen. Aber vermutlich werde ich mir zu nächst mal etwas mieten. Sehr wahrscheinlich sogar.« Sie machte Anstalten, ihm ihre Hilfe bei der Anmietung eines Hauses anzubieten. Er dank te ihr nochmals und machte, daß er wegkam, schuldbewusst, weil er gelogen hatte, aber be ruhigt wegen der vielen Nullen. ***
Jennifer rief am Donnerstag nicht an. Am Abend, als er Randall Gassi führte, grübelte er nach, weshalb sie nichts von sich hören ließ. Vielleicht war sie als Maklerin nicht aggressiv genug. Vielleicht täuschte sie ihm mangelndes Interesse vor, um ihn auf ein niedriges Gebot einzustimmen. Vielleicht gehörte die Hinhalte taktik aber einfach zur üblichen Dramaturgie von Immobilienmaklern. Er wußte nicht, wor an er bei ihr war. Am nächsten Tag, Schlag halb neun, erschien Mrs. Lundquist, als er gerade mit Randall von einem Spaziergang um den Block zurückkam. »Wir waren schön lange spazieren«, sagte er,
als er sich ihr mit müden Schritten näherte, um zu suggerieren, er sei kilometerweit gelau fen. »Waren Sie diese Woche bei den Veres?« »Ja.« »Wie geht es Mr. Vere?« »Ich habe ihn nicht gesehen.« »Richten Sie ihm das nächste Mal schöne Grü ße von mir aus und sagen Sie ihm, daß es uns hier gutgeht. Randall gewöhnt sich offenbar ganz gut an mich.« »Ja.« »Lassen Sie ihn heute bitte länger als sonst im Garten, Mrs. Lundquist. Frische Luft tut ihm bestimmt gut.« Er klinkte die Leine aus. Ran dall trottete davon. Lake ging zu seinem Auto. ***
Am gleichen Nachmittag verkündete Mary: »Eine Jennifer Dee will dich sprechen.« Lake hob den Hörer ab. »Hallo«, sagte er. »Wir haben jetzt einen Richtpreis kalkuliert.« Er hielt die Luft an. Sie nannte den Betrag, fast hunderttausend Dollar mehr, als er erwartet hatte. »Ja, das scheint im Rahmen zu liegen«, sagte er. »Wenn Sie sich dazu entschließen, mit uns zu sammenzuarbeiten, bereite ich einen Exklusiv vertrag vor. Wenn Sie wollen, verpflichten wir
uns auch dazu, Ihr Angebot nicht auf die Com puterlisten zu setzen.« »Soweit bin ich noch nicht. Und ich möchte noch ein paar zusätzliche Vertragsklauseln mit Ihnen besprechen, bevor wir etwas schriftlich abmachen. Das hatte ich ja schon angedeutet.« »Darüber können wir uns natürlich noch un terhalten.« »Glauben Sie, daß wir das Haus zu diesem Preis verkaufen können?« »Ja.« »Soll ich mich noch bei anderen Maklern er kundigen?« »Ehrlich gesagt, bin ich der Meinung, daß Sie sich für uns entscheiden sollten.« »Aber vor zwei Tagen haben Sie mir noch empfohlen, mich auch woanders umzusehen.« »Vor zwei Tagen haben wir uns nur unver bindlich unterhalten. Aber jetzt möchte ich Ihr Haus verkaufen.« Aus unerfindlichen Gründen störten ihn ihre Worte. »Sprechen wir über den Vertrag«, sagte er. »Mein Problem ist, daß ich alles so ver schwiegen wie möglich abgewickelt haben möchte. Mir wäre es am liebsten, wenn nie mand erfährt, daß das Haus zum Verkauf steht – vorausgesetzt, ich entschließe mich dazu, es zu verkaufen. Also keine Werbetafeln
und keine Anzeigen.« »Das können wir in den Vertrag aufnehmen.« »Ich möchte die Vereinbarung auch jederzeit kündigen können.« »Das ist allerdings ein Problem.« »Das ist eine sehr delikate Angelegenheit, und ich möchte zurücktreten können, wenn ich es für nötig halte.« »Warum?« »Das Andenken an meine Tante und so wei ter. Es könnte sein, daß ich ihre Freunde vor den Kopf stoße, wenn ich das Haus schon jetzt verkaufe. Ich kann es Ihnen nicht im Detail er klären, aber bei dieser Geschichte spielen Ge fühle eine große Rolle. Ich werde mich nicht zum Verkauf entschließen, wenn ich nicht alles stoppen kann, falls ich es für nötig halte. Ich habe es zwar nicht vor, möchte aber die Mög lichkeit dazu haben.« »In anderen Worten, Sie erwarten von uns, daß wir unsere Zeit und unsere Arbeitskraft investieren, um einen Käufer zu finden, aber wenn wir einen gefunden haben, der alle Vor aussetzungen erfüllt und den Preis zahlen will, möchten Sie die Freiheit haben zu sagen, daß Sie nicht mehr an einem Verkauf interessiert sind. Für uns ist das eine sehr schwierige Si tuation.«
»Es ist ja nur als Vorsichtsmaßnahme ge dacht.« »Ich muß das erst mit meinen Partnern be sprechen.« Eine Stunde später rief sie an. »Okay«, sagte sie. »Es ist zwar nicht üblich, aber wir sind ein verstanden.« Dieses Zugeständnis war für Lake der Beweis, daß sie das Haus für einen Verkaufsschlager hielt; ganz bestimmt hatte er recht. Sein Plan entwickelte sich wunderbar, und nun hatte er sogar einen vertraglich abgesicherten Notaus gang, falls sich die Situation aus irgendwel chen Gründen zuspitzen sollte. »Setzen Sie bit te den Vertrag auf und schicken Sie ihn mir zu«, sagte er. Dann fiel ihm ein, daß Mrs. Lun dquist vielleicht Lunte riechen könnte, falls sie in der Post einen Umschlag von einer Immobi lienfirma entdecken sollte. »Schicken Sie ihn an mein Büro. Wundern Sie sich nicht, wenn ich ihn nicht sofort zurückschicke. Ich muß vorher noch einiges klären.« »Okay.« »Ich muß Ihnen eine etwas dumme Frage stel len«, sagte er. »Kennen Sie einen guten Party service?« »Wofür?« »Für ein kaltes Buffet, nichts Großes.«
Sie gab ihm eine Adresse. Er hoffte immer noch, Ellen umstimmen zu können, obwohl ihm klar war, daß er die Frage des Partyservice nicht nochmals direkt ansprechen durfte. Sie mußte selbst einsehen, daß das die bessere Lö sung war.
5 Am selben Abend fand er zwischen Rechnun gen und den üblichen Werbebriefen, die ihm Mrs. Lundquist auf den Tisch in der Eingangs halle gelegt hatte, eine Einladung: Cocktail bei den Veres, 20. Juni; u.A.zv.g. Er studierte die Einladung: Aus welchem Grund sollten ihn die Veres zum Cocktail bit ten? Vielleicht hatten sie ja schon Verdacht ge schöpft, und Vere wollte die Gelegenheit nut zen, ihn einem Verhör zu unterziehen. Er würde absagen, sich mit seinem übervollen Terminkalender entschuldigen, eine Wochen endreise nach China vorschieben, um die Wer betrommel für eine neue Serie von Betriebsan leitungen auf Mandarin zu rühren. Andererseits sollte er vielleicht doch hinge hen. Dann hätte er Gelegenheit, ihnen vom Haus vorzuschwärmen und seine wachsende
Zuneigung zu Randall zu proklamieren. Ja, das wäre genau der richtige Schachzug. Das Haus übertrifft meine kühnsten Erwartungen, wür de er sagen. Plus: Ich kann's immer noch nicht glauben, wie schnell einem so ein Hund ans Herz wachsen kann. Er ging ans Telefon. »Mrs. Vere, bitte«, sagte er, als er eine weibliche Stimme hörte. »Am Apparat.« »Hier spricht Lake Stevenson, Mrs. Vere. Vie len Dank für Ihre Einladung am zwanzigsten Juni. Ich komme sehr gerne.« »Das freut mich. Ihre Tante war eine so gute Freundin von uns. Ich bin wirklich froh, daß Sie das Haus geerbt haben.« »Ich kann mein Glück immer noch nicht fas sen«, sagte er. »Und dann noch Randall quasi als Bonus.« »Randall?« »Der Hund von Tante Ilsa.« »Ach ja, natürlich. Ich freue mich wirklich, daß Sie kommen können. Außer Ihnen haben wir noch ein paar Nachbarn eingeladen. Bil lington meinte, daß Sie vielleicht ein paar von ihnen kennenlernen möchten. Keine Angst, es sind nicht nur alte Knacker, ein paar junge Leute sind auch dabei.« »Bitte grüßen Sie Mr. Vere. Und danke übri
gens, daß Sie Mrs. Lundquist übernommen ha ben. Hier im Haus habe ich wirklich nicht ge nügend Arbeit für sie.« »Sie ist eine große Hilfe«, sagte Mrs. Vere. Lake dachte: Sie ist eine Informantin, das ist sie. Aber Mrs. Vere hatte bestimmt keine Ah nung davon. »Bis zum zwanzigsten also«, ver abschiedete er sich. ***
Dazwischen lag seine eigene Party und Ellens hartnäckige Weigerung, die Logik eines Party service einzusehen. Er versuchte, sie in die richtige Richtung zu stupsen. Eines Abends zeigte er auf ein schön arrangiertes Foto in ei ner Kochzeitschrift – ein Tisch mit einem knusprigen Braten, einem riesigen Salatbuffet, Käse, Brot und anderen Versuchungen, alles in Szene gesetzt mit unzähligen Kerzen und üppi gem Blumenschmuck. »Das war bestimmt 'ne Menge Arbeit«, kommentierte er das Bild. »Nicht gerade aus dem Leben gegriffen«, sag te Ellen. »In dem Artikel steht, daß es bei jemandem zu Hause aufgenommen worden ist.« »Es ist ein gestelltes Foto. Um das zu machen, karren sie ein ganzes Team an.« »So etwas wie 'nen Partyservice, oder?«
Sie gab keine Antwort. Dann sagte sie: »Das Tischtuch gefällt mir. Vielleicht hat deine Tan te ja ein Spitzentischtuch, das wir hernehmen können.« »Das bezweifle ich.« »Ich finde bestimmt eins«, sagte sie. Lake legte die Zeitschrift beiseite. Als Ellen im Haus das Abendessen zubereite te, um ein Gefühl für die Küche zu bekommen, probierte er es mit einem anderen Trick. Er half ihr beim Kochen, räumte so viele Schüs seln, Messbecher, Töpfe und Pfannen wie mög lich heraus; machte so viele Schneebesen, Kochlöffel, Messer und Suppenkellen schmut zig, wie er nur konnte, und stapelte alles in den zwei Spülbecken übereinander. »Schau dir die sen Saustall an«, sagte er. »Das muß doch auch anders gehen.« »Das geht auch anders, wenn du zwischen durch immer wieder saubermachst.« Anschließend stellte sie ihm eine Einkaufslis te für die Party zusammen. Sie war zwei Seiten lang. »Das werde ich zeitlich vielleicht gar nicht schaffen«, sagte er. »Offenbar haben wir uns doch ein bißchen viel zugemutet.« »Dann nimm dir die Zeit«, antwortete sie. Er überlegte, ob er den Herd außer Betrieb
setzen sollte. Ohne Herd würde ihr nichts an deres übrigbleiben, als einen Partyservice zu beauftragen. Aber so weit wollte er dann doch nicht gehen. Sie beobachtete ihn. »Was hast du eigentlich für ein Problem?« fragte sie. »Was meinst du mit Problem?« »Du widersetzt dich schlicht allem, was mit der Party zu tun hat.« Er gab auf. »Ich habe keine Beziehung zu die sem Haus«, sagte er. »Und warum versuchst du's nicht?« »Kannst du dir vorstellen, daß ich hier woh ne?« Sie sagte nichts. Sie schaute ihn an, aber in Wirklichkeit betrachtete sie etwas hinter ihm. Sie formte einen Gedanken. »Ist schon gut«, sagte er. »Mach dir keine Mühe.« ***
Als der Tag der Party gekommen war, zeigte sich Ellens Organisationstalent mit voller Wucht. Ihre Energie riß ihn mit und schwappte ihn zu den verschiedenen Besorgungen, die noch zu erledigen waren. Er holte Eis, spülte Gläser, stellte in der Bibliothek einen Tisch für die Drinks auf, rückte Bilder zurecht, wählte
die Musik aus. Er wusch Salat, schnitt Brot für die Croutons, spülte Schüsseln, die sie nicht mehr brauchte. Randall lief ständig hinter ihm her, denn es duftete überall verführerisch nach Fressbarem. Ellen schickte Lake erneut los, um Sahne und Thymian zu besorgen. Als er aus dem Super markt kam, sprach ihn der Junge an, der ihm half, die Einkäufe ins Auto zu laden. »Ey, Mann, heut waren Sie aber schon oft da.« »Wir geben 'ne Party.« »Super, Mann! Partys am Sonnabend sind Klasse.« »Mal sehen«, sagte Lake. »Letzte Woche ist bei mir 'ne Fete gestiegen, aber die Bullen ham irgendwann dazwischen gefunkt.« »Wie das?« »Zuviel Krach.« »Ach so.« »Also, ich hab denen gesagt, daß wir ganz lei se sind.« »Und dann?« »Dann sind se wieder abgehauen.« »Eigentlich sind sie bei solchen Sachen ziem lich human«, sagte Lake. »Man kann den Leu ten doch nicht verbieten, Feste zu feiern.« »Schön war's. Am Ende ham se uns endgültig
den Saft abgedreht.« »Im Ernst?« »Mein Bruder hat mit aufs Revier gemusst.« »Mann, das muß euch ja einen ganz schönen Dämpfer gegeben haben.« »Ey, Mann, darauf können Sie einen lassen.« »Zu uns kommen vermutlich eher ruhige Leu te«, sagte Lake. »Sehen Sie zu, Mann, daß die Fenster zu sind. Und die Türen auch.« »Mach ich. Und außerdem habe ich einen Hund, der gegen Lärm allergisch ist.« »Muß 'n Polizeihund sein.« »Nein. Dafür ist er zu kurz geraten. Sie sind übrigens nicht zufällig an einem Hund interes siert?« »Was soll ich mit 'nem Köter?« »Also, ich muß jetzt los.« »Viel Spaß dann heut bei Ihrer Fete. Falls je mand bei Ihnen anklopft, sagen Sie einfach: Falsche Baustelle, Leute. Alles unter Kontrol le.« Diese Unterhaltung erinnerte Lake daran, daß an diesem Abend Randalls Anwesenheit ent behrlich war. Je weniger Menschen von seiner Existenz wußten, desto besser. »Ich sperre den Hund dann oben ein«, sagte er zu Ellen, als er zurückkam.
»Er stört doch nicht.« »Er ist sehr lärmempfindlich.« »Bitte schäl das mal, ja?« Er schälte und wusch und schleppte und hol te. Auf dem Herd und im Ofen brodelte und brutzelte es. Ein Salat nahm Gestalt an. Auf ei ner Platte mit Goldrand formten sich hauch dünne Schinkenscheiben zu einer Irisblüte. Von irgendwoher zauberte Ellen Blumenkohl röschen und ein Dressing. In einer runden Form lag ein Kuchen, garniert mit Kiwi und Pfirsichen. Durch das Haus zogen köstliche Düfte. Aus den Schränken und Schubladen im An richtezimmer förderte sie zarte Dessertschüs selchen aus Glas zutage, die leise sangen, wenn man sie berührte, reich ziselierte Salzfässchen mit Rändern aus Kobaltglas, einen ganzen Schatz silberner Teller und Servierplatten, Sta pel von Leinendecken, unzähliges Porzellange schirr. Lake verbrachte fünfundvierzig Minu ten damit, das Silber zu polieren, und überschlug spaßeshalber, was das Silber bei ei ner Auktion wohl einbringen würde. Natürlich fand Ellen ein Tischtuch aus Spitze, mit dem sie den Tisch im Esszimmer deckte. Dann ging sie ins Wohnzimmer und revidierte sein wohl durchdachtes Möbelarrangement; aber es war
ihm egal. Im Handumdrehen war der Nachmittag vor über, und das leuchtende Blau des Himmels verblasste. Er ging in den Garten und lauschte dem Vogelgesang. Er fühlte sich wohl. Ellen war oben und zog sich um. Vielleicht würde der heutige Abend ja die Risse in ihrer Bezie hung wieder kitten. Dann war es halb acht, Randall war im Dach boden weggesperrt, und leise Musik rieselte durch die Räume. Es läutete an der Tür, und die ersten Gäste trudelten ein: zunächst Ed Sparkman und seine Frau, dann Ellens Freun din Ruthie mit jemandem, den sie ihm als Mor gan oder Morton vorstellte, dann weitere Leu te, und nach acht erschien Bob mit seiner angeblichen Freundin Marion – Bob sah aus wie einem Modemagazin entstiegen; großge wachsen, dunkles, welliges Haar, distanziertes Lächeln, gestreiftes Hemd, keine Krawatte, Jackett mit breiten Aufschlägen, auffallende Kordsamthosen; an den Füßen trug er schwar ze italienische Trotteurs aus dem Leder einer vermutlich fast ausgestorbenen Eidechsenart. Bob sah absolut nicht wie jemand aus, der in einer Steuerkanzlei arbeitet, absolut nicht. Doch Lake registrierte nur die Fakten. Ein Glas Sauvignon Blanc hatte ihm inzwischen die nö
tige Gelassenheit verschafft; er schwebte quasi über den Dingen und er gab sich dem üblichen Small talk hin. ***
»Julia, Ed, schön, euch zu sehen!« »Kommen wir zu früh?« »Nein, nein, überhaupt nicht. Kommt herein.« »Wir sind zu früh.« »Aber nein.« »Er ist immer so überpünktlich.« »Wenn zu mir jemand halb acht sagt, soll ich da vielleicht annehmen, daß er lügt?« »Kommt doch herein.« »O Gott, schau dir das an! Jesus, Maria! Lake, das ist ja unglaublich!« »Nun ja.« »Es ist unglaublich.« »Es ist das Haus meiner Tante. Ich bin gerade erst eingezogen.« »Ach, ist der Teppich schön.« »Sie ist vor ein paar Monaten gestorben.« »Der Spiegel da. Ist der antik?« »Möglich.« »Bestimmt. Schau dir nur das Glas an. Er ist antik.« »Kommt weiter. Ihr nehmt doch bestimmt
einen Drink. Julia, was möchtest du?« »O Gott!« »Ellen kommt gleich herunter.« »Ich hab's doch gewußt! Wir sind zu früh, Ed.« »Bestimmt nicht.« »Wer ist das?« »Mein Onkel Paul.« »Du siehst ihm ähnlich.« »Wir waren nicht verwandt.« »Er hat den gleichen Gesichtsausdruck. Die selben Augen.« »Er ist erst durch Heirat mein Onkel gewor den.« »Läßt du ihn da oben hängen?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Warum?« »Reine Neugierde. Er paßt genau da hin.« »Vielleicht Lass ich ihn hängen. Ich hab mich noch nicht entschieden.« »Hi, ihr beiden.« »Ellen, dein Kleid ist traumhaft.« »Vielen Dank.« »Dieses Haus ist einfach unglaublich.« »Lake hat's geerbt.« »Weiß ich. Hab ich schon gehört.« »Susan, soll ich dir einen Drink holen?«
»Also das ist das Haus.« »Ja.« »Ellen hat es mir schon beschrieben. Es ist wunderschön.« »Cleverer Monopoly-Zug, Lake.« »Danke, Charlie.« »Du siehst aus, als würdest du dich hier schon richtig zu Hause fühlen.« »Ich hole euch noch Wein.« »Danke. Weißt du, was mir zutiefst zuwider ist?« »Was?« »Niedrige Zimmerdecken.« »Meine alte Wohnung hatte eine niedrige De cke. Find ich gar nicht so schlecht. Mit der Zeit gewöhnt man sich dran.« »Der Raum hier ist bestimmt dreieinhalb, wenn nicht sogar vier Meter hoch.« »Ja, ziemlich hoch.« »Ich bin Innenarchitektin.« »Bist du mit Steve gekommen?« »Mit Bill. Weißt du, wie der Bezugsstoff auf diesem Sessel heißt?« »Nein.« »Clarence House. Todsicher. Hast du vor, dich anders einzurichten?« »Vermutlich.« »Ruf mich an, wenn du Unterstützung
brauchst.« »Gern.« »Du möchtest doch bestimmt etwas mit die sen Vorhängen machen.« »Ich möchte …?« »Ja, um das Zimmer aufzuhellen.« »Meinst du, die sind zu dunkel?« »Bestimmt.« »Du hast recht. Ich werde sie wegnehmen.« »Und die Lampen da?« »Ich verstehe, was du meinst. Ziemlich altmo disch.« »Wir können vieles hier wieder verwerten.« »Vielleicht sollte man am besten alles raus schmeißen.« »Du würdest dich wundern, was man nur mit Farben und Stoffen alles zaubern kann.« »Ich würde am liebsten alles rausschmeißen.« »Ellen sieht einfach toll aus.« »Wie geht's dir, Ruthie?« »Sie sieht so glücklich aus.« »Ja.« »Mit wem unterhält sich Ellen gerade?« »Sie heißt Marion. Sie ist zusammen mit Bob gekommen, dem Typ aus ihrem Büro.« »Ach so, Bob.« »Kennst du Bob?« »Kann sein, daß ich ihn schon mal gesehen
habe.« »Und wo?« »Bei Ellen im Büro, glaube ich.« »Und er hat in ihrem Büro rumgehangen?« »Nein. Ich meine, er war einfach nur da.« »Weißt du, daß sich Ellen für eine Abendschu le angemeldet hat?« »Sie ist so intelligent.« »Das war doch Bobs Vorschlag, oder?« »Ja, ich glaub, er hat sie dazu ermutigt.« »Gut für ihn.« »Sie hat schon länger damit geliebäugelt, weißt du?« »Guter Typ, dieser Bob. So ermutigend.« »Was meinst du damit?« »Was macht Morgan?« »Morton.« »Was macht Morton?« »Er arbeitet im Anzeigenverkauf eines VideoJournals.« »Ich muß mich mit ihm über Videos unterhal ten.« »Lake, sag den Leuten bitte, daß sie in fünf Minuten ins Esszimmer gehen sollen.« »Kann ich was helfen?« »Sieh einfach zu, daß die Leute in fünf Minu ten ins Esszimmer gehen.« »Ich werde sie ermutigen, sich dorthin zu be
wegen.« »Hast du getrunken?« »Ein oder zwei Gläser.« »Keinen Wein mehr.« »Keinen einzigen Tropfen.« »Kümmere dich um Ruthie. Sie kann den Typ nicht ausstehen, mit dem sie gekommen ist.« »Er ist ein guter Mann. Er ist im Video-Ge schäft.« »Fünf Minuten.« »Lake, kann ich mich mal kurz oben umse hen?« »Klar.« »Am liebsten würde ich mir das ganze Haus anschauen.« »Schau dich nur überall um, Charlotte.« »Liebst du das Haus?« »Liebe ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort.« »Du bist bestimmt begeistert. Du mußt doch jeden Morgen mit dem Gefühl aufwachen, zu träumen.« »Vielleicht hat es sich bei mir noch nicht ge setzt.« »Ich wäre komplett aus dem Häuschen!« »Dieses Haus würde in deine Garage passen, Charlotte.« »Ich hasse mein Haus.«
»Ich würde dir dieses anbieten, aber ich glau be kaum, daß Frank damit einverstanden wäre.« »Bob, geht's dir gut?« »Lake.« »Richtig.« »Nett hier. Ist vermutlich aus den zwanziger Jahren.« »Keine Ahnung.« »Bestimmt.« »Woher weißt du das?« »Ist doch offensichtlich.« »Du arbeitest also mit Ellen zusammen?« »Ja, früher einmal. Du hast da was auf dei nem Jackett.« »Ein verirrtes Fusilli.« »Ellen ist eine gute Köchin.« »Woher weißt du, daß sie das gekocht hat?« »Sie hat es mir gesagt.« »Aber vielleicht war es ja auch naheliegend.« »Und was machst du beruflich, Lake?« »Ich stelle Betriebsanleitungen her. Ich habe eine Firma; sie heißt InstruX.« »Familienunternehmen?« »Ich habe sie gegründet. Was meinst du, soll ich das auf meine Visitenkarte schreiben? Fir mengründer und Geschäftsführer?« »Das würde ich nicht tun.«
»Ich weiß nicht. Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, wer der Firmengründer ist.« »Und wie sind deine Verkaufszahlen?« »Wir verkaufen Dienstleistungen.« »Ich meine, dein Umsatz. Wie hoch ist dein Umsatz?« »Ach so. So um die fünfzig Millionen, viel leicht auch einundfünfzig. War nur Spaß, et was weniger ist es schon. Im Moment sind wir zu viert. Was weißt du über Bedienungsanlei tungen für Video?« »Rein gar nichts.« »Vielleicht wird das bei Steuerleuten auch nicht gebraucht.« »Nein.« »Besonders dann nicht, wenn du 'ne Betriebs wirtin hast.« »Wer ist der auf dem Bild da?« »Nur ein Banker. Der Banker meiner Tante. Ihr Mann.« »Welche Bank?« »Keine Ahnung.« »Mir gefällt seine Taschenuhr.« »Ja, diese Serie sollte man wieder neu aufle gen.« »Hallo, Charlotte, schöne Frau. Hast du dich umgesehen?« »Du bist noch nicht eingezogen. Es ist noch
nichts von deinen Sachen da.« »Die Möbelpacker sind für nächste Woche be stellt.« »So ein Umzug macht abartig viel Arbeit.« »Na ja, vielleicht überleg ich's mir ja auch noch anders.« »Lake, hast du was verloren?« »Was ist das?« »Ein Brief oder so was Ähnliches.« »Wo hast du den gefunden?« »Auf dem Stuhl, unter dem Sitzkissen. Mir sind ein paar Münzen aus der Tasche ge rutscht. Und wie ich das Sitzkissen hochhebe, liegt es da. Wer ist Randall?« »Der Hund meiner Tante.« »Ganz schön schwer zu entziffern. Irgendwas über den Stuhl und Randall. Hat sie das ge schrieben?« »Ja.« »Schau dir bloß diese Handschrift an! Als sie das geschrieben hat, war sie bestimmt nicht gut drauf.« »Stimmt.« »Und du hast den Brief nie vorher gesehen?« »Nein.« »Vermutlich hat sie ihn selber druntergescho ben.« »Vielleicht war das ihre Art, ihn an mich zu
schicken. Zu der Zeit war sie zu nichts ande rem mehr in der Lage.« »Das da sieht aus wie ›nicht vertrauenswür dig‹.« »Stimmt.« »Du kannst das lesen?« »Ganz und gar.« »Na gut, ich bin ja auch nur der Postbote.« »Ich sollte wohl mal 'nen Rundgang durchs Haus machen. Vielleicht gibt's ja noch mehr von diesen Briefen.« »Gute Nacht, Charlotte, schöne Frau.« »Nacht, Lake.« »Grüß Frank.« »Wo ist Ellen? Ich möchte mich auch noch von ihr verabschieden.« »Hab sie nicht gesehen.« »Ach, da ist sie ja! Gute Nacht, Lake, mein Schöner.« »Vielen Dank, Lake. Ich finde dein Haus ein fach Klasse.« »Gute Nacht, Ruthie. Bis dann, Morgan. Ich ruf dich an.« »Was?« »Wir müssen uns über Videos unterhalten. Ich ruf dich an.« »Super Party.« »Wird nicht die letzte sein.«
»Noch 'n Ende.« »Was?« »Nächstes Wochenende. Sonntag, bei den Phillies, hast du's schon vergessen? Baseball!« »Tschüs.« »Lake?« »Tschüs.« »Mit wem sprichst du?« »Ach, Ellen.« »Mit wem hast du gerade gesprochen?« »Mit mir selbst. Hab die Akustik gecheckt.« »Bist du betrunken?« »Bestimmt nicht.« ***
Ohne auf die Uhr zu sehen – er wußte, daß es spät war und vielleicht sogar schon zu spät –, sammelte er Gläser, Servietten und Teller ein und trug sie in die Küche, wo Ellen die Arme bis über die Ellbogen im Spülwasser hatte. Ein Teller rutschte ihm aus der Hand und fiel auf den Fußboden. Winzige Scherben weißen Por zellans mit Goldrand schepperten über den Küchenboden und bestätigten seine Meinung über den Partyservice; das wäre sonst nie pas siert, weder wäre etwas zerbrochen, noch hät te man hinterher alles aufräumen müssen, und
man hätte sich um nichts kümmern müssen. Jetzt mußte er alle Scherben mühsam zusam menklauben. Ellen sagte: »Geh ins Bett, Lake.« Er ging ins Bett.
6 Als er am nächsten Morgen die Augen auf schlug, war das Bett neben ihm leer, und in sei nem Schädel hatte sich ein Gehirn breitge macht, das fürchterlich schmerzte und folglich nicht ihm gehören konnte, denn er hatte nie Kopfschmerzen. Aber andererseits trank er normalerweise auch nicht so viel, also war es vielleicht doch seins. Und zu allem Überfluss strafte es ihn mit einem haargenauen Playback all dessen, was er am Vorabend von sich gege ben hatte. Er stellte sich unter die Dusche und ließ heißes Wasser auf sich niederprasseln. Anschließend sah er sich den zerknautschten Brief an, den Steve unter dem Sitzkissen im Wohnzimmer gefunden hatte. Es war das ge prägte Briefpapier seiner Tante, die Hand schrift stammte zweifellos von ihr – eine kra kelige, fehlerbehaftete Version des Briefes, den sie ihrem letzten Willen beigelegt hatte.
Sie mußte diese Notiz nach ihrem ersten oder zweiten Schlaganfall geschrieben haben, als sie noch in der Lage war, sich eigenständig fortzu bewegen und, mehr schlecht als recht zwar, aber immerhin noch denken konnte. Er las: Mein lieber Lake, Du darfst Randall nicht erlauben, auf Stüh le zu springen. Einmal habe ich ihn auf die sem Stuhl schlafend vorgefunden. Ich habe ihn bestraft und geglaubt, es ihm ausgetrie ben zu haben. Aber seither habe ich des öfte ren feststellen müssen, daß die Kissen einge drückt waren. Randall ist ansonsten durchaus vertrauenswürdig, aber vielleicht hat er es nicht ganz verstanden. Wenn Du ihn auf diesem Stuhl vorfinden solltest, kannst Du davon ausgehen, daß er weiß, daß er es nicht darf. Der Brief stimmte Lake traurig; er stellte sich vor, wie sie sich abmühte, diese Worte zu Pa pier zu bringen, um ihm von Randall zu erzäh len. Er legte den Brief in die oberste Schublade der Kommode unter seine Socken. Ellen war in der Küche und stellte auf der Theke Gläser in einer Reihe auf. »Komm, ich helf dir.« »Ich bin schon fast fertig.«
»Wie lange bist du schon hier unten?« »Etwa eine Stunde.« »Du hättest auf mich warten sollen.« »Kein Problem.« »Mach Schluß. Ich kümmere mich um den Rest.« »Du kannst die Teller abtrocknen helfen.« »Gestern habe ich einen zerbrochen.« »Stimmt.« »Ich war gar nicht richtig betrunken.« »Nein.« »Ich hab mich blöd benommen.« »Ich hab nichts bemerkt.« »Ich hab den ganzen Abend idiotische Sachen von mir gegeben.« »Mach dir darüber keine Sorgen. Du warst schon okay. Allen hat es gefallen.« »Ja, wirklich?« »Es war eine gelungene Party«, sagte Ellen. »Meinst du?« »Mir hat's gefallen.« »Vielleicht sollten wir das öfter machen«, sag te er. »Lake.« »Was?« »Ich finde, wir sollten uns eine Zeitlang nicht mehr sehen.« »Ich wußte, daß du das sagen würdest.«
»Du bist also auch dieser Meinung. Egal, wir werden es jedenfalls tun.« »Ich hätte dir mehr helfen sollen.« »Das hat nichts mit der Party zu tun. Die Par ty war okay.« »Komm, setzen wir uns in den Garten und ru hen uns etwas aus.« »Nein. Ich möchte, daß du mich nach Hause fährst, wenn wir hier fertig sind. Ich hab noch einiges zu erledigen.« Auch er hatte einiges zu erledigen, obwohl er zunächst nicht genau wußte, was. Er las die Zeitung, kommentierte Layouts für das Softwa reprojekt, schaute sich ein Baseballmatch im Fernsehen an, dachte über Ellen, Bob, Ruthie und Charlotte nach und darüber, wie gern er unstrukturierte Tage mochte, vorausgesetzt, jemand teilte sie mit ihm. Aber er hatte nie manden und wollte auch niemanden. Randall schien zu spüren, daß etwas in der Luft lag, und wich nicht von seiner Seite. Viel später, im großen, leeren Haus, betrachtete Lake den Hund, und plötzlich kam ihm ein Ge danke, gebieterisch, unwiderstehlich. Er dach te: Randall, wir sollten uns eine Zeitlang nicht mehr sehen. Und er dachte: Auf der Stelle. Er würde Randall nicht die Wahl seines Schick sals überlassen. Das Leben läßt einem manch
mal keine Wahl. Um elf an diesem Abend ging er mit Randall zum vorderen Gartentor. Er schob ihn hinaus und schloß es hinter ihm. »Viel Glück, Alter«, sagte er. Er ging wieder ins Haus und setzte sich in die Bibliothek. Es war ganz einfach ge wesen; er kam sich überhaupt nicht schäbig vor. Während die Minuten verstrichen, konzen trierte er sich darauf, was er Mrs. Lundquist am nächsten Morgen sagen wollte. »Er ist weg gelaufen«, könnte er sagen. »Irgendwie hat er es geschafft, durch den Zaun zu kriechen. Die halbe Nacht lang habe ich nach ihm gesucht.« Er könnte zwischendurch immer wieder rufen: »Randall! Hierher, Randall! Komm zu Herr chen, Alter!« Er könnte sagen: »Ich fahre noch mal los und suche die Nachbarschaft ab.« Ja, das könnte er sagen. Aber natürlich würde er wie üblich zur Arbeit fahren. Und am Nachmit tag oder am nächsten Tag oder spätestens am Mittwoch würde er Jennifer Dee anrufen und sie bitten, sich klammheimlich um den Ver kauf des Hauses zu kümmern. Wenn er Glück hatte, war alles innerhalb von ein paar Wo chen abgewickelt. Aber selbst während er sich überlegte, was er Mrs. Lundquist sagen sollte, lauschte er immer
wieder in die Dunkelheit hinaus, fragte sich, wo der Hund im Moment wohl sein mochte, ob Randall dämlich genug war, vor ein Auto zu laufen, sah ihn vor sich, von Scheinwerfern ge blendet oder benommen durch dunkle Gassen tappen. Randalls Chancen zu lernen, wie er sich aus Mülltonnen bedienen konnte, waren gleich Null. Das einzige, was gegen seinen Tod sprach, war sein gutes Aussehen; aber schon nach wenigen Tagen oder sogar Stunden wür de sich Randall so struppig und traurig präsen tieren, daß ihn keiner mehr haben wollte. »Mein Gott«, würden die Leute sagen, wenn sie seinen Kadaver fänden, »was muß das für ei ner sein, der einem Hund so etwas antut?« Ein anderer würde antworten: »Eine Bestie von Mensch. Ohne einen Funken Gewissen. Kaum vorstellbar, daß sich so einer noch selbst in die Augen sehen kann.« Es war ihm klar, daß selbst berechtigter Zorn kein Grund dafür war, einen Hund mitten in der Nacht vor die Tür zu setzen. Er würde sich auf die Suche nach Randall machen. Vielleicht streunte der Hund ja noch irgendwo in der Nachbarschaft herum, bevor er sich in die un bekannte Welt hinauswagte. In dem Augenblick, in dem Lake erkannte, daß er das Geschehene ungeschehen machen
mußte, hörte er ein Bellen – ein einziges, bei läufiges Bellen, typisch Randall. Es klang ganz nah. Lake ging ins Wohnzimmer, schaltete das Licht aus und linste in die Dunkelheit. Randall stand vorm Tor und schaute ihm direkt ins Ge sicht. Er hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Sein völliger Mangel an Initiati ve hatte ihn gerettet. Lake ging zu ihm. »Sehr clever, Randall«, lob te er. Der Hund spazierte triumphierend die Zufahrt zum Haus hinauf, und später folgte er Lake ins Schlafzimmer, wo er sich auf seiner Decke ausstreckte, als wäre rein gar nichts ge schehen. Immerhin war der Kampf nun ausgefochten. Von jetzt an, beschloß Lake, wird nur noch fair gekämpft. Keine erzwungene Verbannung mehr, dafür die Wiederaufnahme seines Plans, Randall über seine Zukunft selbst entscheiden zu lassen. Ort: der Park. Vorgehen: Lake wür de einfach gehen, und der Hund konnte im Park bleiben oder auch nicht, wie es ihm be liebte. Tag: der kommende Samstag, ein Tag, an dem sich viele Hundebesitzer im Park tum melten, die Randalls Rettung sicherstellen würden. Zeit: der Vormittag, damit Randall den ganzen Tag zur Verfügung hatte, seine Ar rangements zu treffen. Ersatzplan: Randalls
Spur verliert sich in einem weit entfernten Tierheim, falls er die Chance auf einen Neube ginn seines Lebens nicht wahrnehmen sollte. Doch wieder zogen Zweifel wie Nebelschwa den auf und verschleierten die moralische Landschaft. Um sie abzuschütteln und wieder klarer zu sehen, dachte er über Knebelverträge und Sklaverei nach und an Tantes felsenfeste Überzeugung, jeder sei käuflich. Aber danach sah er auch nicht klarer. Inzwischen fuhr Randall schwere Geschütze auf. Jeden Morgen saß er an Lakes Seite und wartete auf sein Stück getoastetes English Muf fin. Lake erkannte durchaus, daß Randall mit seiner Masche auf eine seit vielen Hundegene rationen bewährte Methode, Bindungen zu fes tigen, zurückgriff, und trotzdem konnte er Randalls höflichem Benehmen und seiner auf richtigen Wertschätzung des Gebäcks nicht wi derstehen. Damit nicht genug, führte Randall ein ähnliches Ritual auch beim Abendessen ein. Lake versuchte ihm klarzumachen, daß das Abendessen eine unpassende Gelegenheit war zu teilen, aber erneut mußte er vor dem drängenden Blick dieser Augen kapitulieren. Lake mußte einräumen, daß er Randalls Ge sellschaft schätzte. Es gefiel ihm, wenn ihn Randall mit wildem Schwanzwedeln begrüßte,
wenn er Abends nach Hause kam. Eines Abends, mitten in der Woche, brachte Randall Lake dazu, ihm Stöckchen zu werfen. Eine halbe Stunde lang jagte Lake den Hund auf dem Anwesen herum. Am nächsten Tag hielt er an einem Geschäft für Tierbedarf und kaufte eine Frisbeescheibe. Im Geschäft ent deckte er auch ein Buch über Springer-Spani els, das er ebenfalls mitnahm in der Hoffnung, daraus einige neue Erkenntnisse zu gewinnen. Nach einer Runde mit dem Frisbee zog er sich mit Randall in die Bibliothek zurück. Lake blätterte im Buch. Der erste Teil war gespickt mit schwülstigen Kommentaren zur Rasse, den er überblätterte und sich schließlich in einem Kapitel festlas, das von den Gefahren für her umstreunende Hunde handelte. Ist Ihnen bewußt, daß sich ein Hund, der im Wald oder auf Feldern herumstreunt, mit den verschiedensten Parasiten infizieren kann? Dazu genügt es schon, mit einem klei nen Beutetier, einem Kaninchen beispiels weise, das solchen Parasiten als Wirtstier dient, herumzuspielen oder es anzufressen. Die Wahrscheinlichkeit, daß Randall ein Ka ninchen fangen sollte, war gering. Er las wei ter:
Grundsätzlich ist der Springer-Spaniel ein Hund, der nicht im Haus gehalten werden muß. Über Generationen hinweg wurde er für die Jagd gezüchtet und hält sich gerne im Freien auf Feldern, in Wäldern und an Flüssen auf. Und weiter: Springer sind sehr robust und widerstehen selbst widrigsten Wetterbedingungen. Lake war beruhigt. Wenn selbst die Fachwelt die Meinung vertrat, daß Springer-Spaniels das physische Rüstzeug besitzen, um in der Wildnis zu überleben, war sein Entsorgungs plan so verwerflich nicht. ***
Am nächsten Tag unterhielt er sich beim Mit tagessen mit Bill über die Idee, Bücher über Haustiere herauszugeben. Ein riesiger Markt, wie Bill sagte. »Vor kurzem habe ich mir so ein Buch angese hen«, sagte Lake. »Sehr wenig Information. Hauptsächlich Lobhudeleien über diese einzig artige Rasse.« »Ja, so sind fast alle Bücher aufgebaut.« »In dem besagten Buch war übrigens vom fröhlichen Schwanz des Hundes die Rede, der seine Begeisterung signalisiert. Ich zitiere:
›Sein fröhlicher Schwanz‹.« »Um welche Hunderasse ging es dabei?« frag te Bill. »Eine mit langhaarigem Fell.« »Welche Farbe?« »Weiß ich nicht mehr.« »Vielleicht überlegst du dir etwas anderes als Tierbücher. Das ist nicht dein Ding.« »InstruX würde einen völlig anderen Ansatz wählen. Keine Sentimentalitäten. Nichts als Fakten.« »Das entspricht aber nicht dem, was der Markt fordert.« »Hör zu. Weshalb soll ein klares Verfahren und eine klare Technik nicht verkäuflich sein? Dein Hund, deine Katze oder dein Fisch müs sen gefüttert werden. Dein Hund oder dein Vo gel muß gebadet werden. Du mußt ihm die Flü gel schneiden oder das Tier auf Krankheiten untersuchen. Manche Leute wären dankbar für konkrete Fakten.« »Vögel badet man nicht.« »Egal. Dann die Katze.« »Katzen badet man auch nicht.« »Dann dein Pferd, verdammt noch mal!« »Keines davon wird gebadet.« »Ich weiß aber, daß man Pferde badet. Man spritzt sie mit einem Schlauch ab.«
»Das möchte ich bezweifeln.« »Ich hab schon mal dabei zugeschaut. Im Zoo. Vielleicht war es auch kein Pferd, sondern ein Elefant, aber die Sache an sich ist die gleiche.« Bill zuckte die Achseln. »Wie geht's Ellen?« »Gut.« »Auf eurer Party hatte ich nicht viel Gelegen heit, mich mit ihr zu unterhalten.« »Na ja, sie hat sich dafür anderweitig ganz gut unterhalten«, sagte Lake. »Ellen und ich haben uns getrennt.« »Und ich dachte immer, ihr beide paßt gut zu sammen«, meinte Bill. »Wir haben uns auseinandergelebt, wie man so schön sagt.« Bill nickte. »Vermutlich lag das Problem eher bei mir. Ich habe zugelassen, daß es passiert. Ich weiß nicht, warum, ich weiß nur, daß es so war.« »Meistens liegt es nicht nur an einem allein«, sagte Bill. »Wie geht es Sarah? Sie wollte mein Haus neu einrichten.« »Was hast du mit dem Haus vor?« »Vielleicht will ich es loswerden.« »Behalt es«, sagte Bill. »Warum?« »Du und das Haus, ihr paßt gut zusammen.«
»Du spinnst wohl.« »Im Ernst.« »Wir passen überhaupt nicht zusammen. Das ist der größte Wohnung-Mensch-Unterschied in der Geschichte der Menschheit, den man sich nur vorstellen kann.« »Vielleicht ist er gar nicht so groß, wie du denkst.« »Komm, reden wir übers Geschäft. Was wür de es kosten, dich für InstruX einzukaufen? Wir vergrößern uns. Wir wollen verschiedene neue Sachen anleiern.« »Mir gefällt es da, wo ich bin.« »Stell dir doch einfach mal vor, was dich dazu bringen könnte, zu uns zu kommen. Egal, was. Lass mal deine Phantasie spielen.« »Gib mir das dreifache Gehalt. Überlass mir die Hälfte des Geschäftskapitals.« Lake war zufrieden. Bill war gewillt, seine Phantasie einzusetzen. ***
An diesem Abend beschloß Lake nach einem Frisbeematch mit Randall und einem brüder lich geteilten Hamburger, weitere Nachrichten von Tante Ilsa zu suchen, denn er war über zeugt, daß die zerknitterte Notiz über Randalls Vorliebe für Stühle nur Teil einer größeren
Kommunikationsstrategie war. Schließlich war sie eine Stevenson, und die Stevensons waren bekannt für ihre Hartnäckigkeit und ihren lan gen Atem. Er hatte keine Ahnung, wo er suchen sollte. Wer ist schon in der Lage, die Postverteilungs strategie einer Frau vorauszusagen, die eine Notiz unter ein Stuhlkissen legt? Er beschloß, im Keller zu beginnen und sich dann hochzu arbeiten. Schon bald stieß er auf eine ergiebige Ader. In einem Karton mit Weihnachtskram lag oben auf ein roter Socken aus Samt, aus dem ein Stück Papier lugte – Tante Ilsas cremefarbenes Briefpapier. Ihre Handschrift wütete über das Papier, als hätte sie einen elektrischen Sturm in ihrem Gehirn zu Papier gebracht. Auf dem Blatt stand: Das ist Randalls Socke. Eines mußte er einräumen: Sie hatte Weit sicht. Sie wollte sicherstellen, daß Lake an Weihnachten Randalls Socke auch wirklich an den Kamin hängte. Leider Gottes würde Santa Claus dieses Jahr aber keinen Randall vorfin den. In einem Wandschrank im Erdgeschoß ent deckte Lake einen kleinen Korb, gefüllt mit Hundespielzeug – ein Knochen aus Stoff, ein Ball mit einer Klingel darin, Lederstöckchen
zum Kauen. Vermutlich war Tante Ilsa der An sicht, daß diese Dinge für sich selbst sprachen, denn er fand keine Notiz darunter. Er schaute unter alle Sitzkissen auf Stühlen und Sofas, nicht nur im Wohnzimmer, son dern auch in der Bibliothek, fand aber nichts. Dann sah er ein Fitzelchen eines cremefarbe nen Etwas hinter dem Verstärker der Hi-Fi-An lage. Er versuchte sich vorzustellen, was dar auf stand. Vermutlich: »Bitte in der Nacht keine Musik spielen.« Weit gefehlt: Randall mag Mozart. Bei Beethoven wird er unruhig. Er durchsuchte den Schreibtisch. In der mitt leren Schublade gab es wiederum einen Zettel: Lake Green Grove Mr. Witter. Von allen Notizen war diese die schwierigste. Tante Ilsa hatte die Worte mit fahrigen, un kontrollierten Strichen quer über die Seite ge krakelt. Wohl schaffte er es, die Worte zu ent ziffern, daraus schlau wurde er aber nicht. ›Lake Green Grove Mr. Witter‹ ergab keinen Sinn, außer vielleicht als Beweis für die Ver gänglichkeit des Fleisches. Er durchsuchte das Esszimmer, das Anrichte zimmer und die Küche, fand aber nichts. Er setzte die Suche im ersten Stockwerk fort, be gann an dem einen Ende des langen Flurs und arbeitete sich bis zum anderen Ende durch,
vergaß kein Schlafzimmer, kein Badezimmer, kein Ankleidezimmer, keine Kammer. Nichts. Nach ›Lake Green Grove Mr. Witter‹ hatten ihre Kräfte sie verlassen. ***
Der Samstag rückte näher – der Augenblick der Wahrheit für Randall. Um sich moralische Unterstützung zu holen, studierte Lake das Porträt von Onkel Paul über dem Kaminsims. Es fiel ihm ein, daß er sich Tante Ilsa immer untergeordnet hatte und still dabeigesessen war, während sie sich mit Lakes Mutter unter hielt. Trotz seiner raubvogelartigen Erschei nung hatte der Mann einen Mangel an Rück grat. Lake nahm sich vor, am Samstag über Onkel Pauls Schwächen zu meditieren. Unabhängig davon, wie sich Randalls Schick sal entscheiden sollte, war Lake entschlossen, das Haus loszuwerden. Am Donnerstag rief er Jennifer an. »Ich möchte das Haus in der nächsten Woche zum Verkauf freigeben.« »Haben Sie den Vertrag unterschrieben?« »Ich werde ihn heute Abend unterschreiben und auf kommenden Dienstag datieren.« »Soll ich ihn abholen?« »Ich schicke ihn mit der Post. Bitte denken Sie daran, daß die ganze Angelegenheit wirk
lich streng vertraulich behandelt werden muß.« »Das verstehe ich. Ich kann Ihnen aber keine absolute Geheimhaltung garantieren. Schließ lich muß das Haus besichtigt werden.« »Ich verlange nur Diskretion.« ***
Es wurde Freitag. Nach dem Frühstück erwar tete er die Ankunft von Mrs. Lundquist, ent schlossen, das Fundament für seinen Schmerz über den Verlust von Randall zu legen. Durch das Wohnzimmerfenster sah er sie die Zufahrt heraufkommen. Er ging zur Tür und öffnete. »Guten Morgen, Mrs. Lundquist«, sagte er fröhlich. »Guten Morgen.« »Was für ein schöner Tag«, freute er sich. »Ja.« »Wenn Sie heute in der Küche zu tun haben, werden Sie bestimmt bemerken, daß ich Ran dall ein größeres Frühstück hingestellt habe als gewöhnlich. Seit ein paar Tagen ist er so energiegeladen.« Sie gab keine Antwort. »Wenn Sie nur sehen könnten, wie er andau ernd in der Luft herumschnüffelt«, sagte Lake. »Irgend etwas beunruhigt ihn.«
»Um diese Jahreszeit fuhr Mrs. Grinnell im mer mit ihm nach Maine.« »Vielleicht hat ihn schon das Fernweh ge packt.« »Ich dachte, Sie würden ihn zu Ihrer Schwes ter bringen.« »Das hat sich erledigt. Randall bleibt gottlob bei uns. Was ich noch sagen wollte, Mrs. Lund quist: Nachdem Sie ja besonders gern im ers ten Stockwerk saubermachen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß mein Schlaf zimmer bestimmt voller Hundehaare ist. Ran dall schläft jetzt immer dort. Es ist schon er staunlich, wie sich Hunde an einen neuen Herrn gewöhnen.« »Ja.« »Und umgekehrt genauso«, sagte Lake. Er spürte, daß sie mißtrauisch wurde, und wech selte das Thema. »Haben Sie übrigens irgend wo im Haus Notizen gefunden? Während mei ne Tante krank war und nicht sprechen konnte, hat sie Notizen gemacht. Damals war ihre Handschrift aber schon schwer zu lesen.« »Ich habe einen oder zwei Zettel gefunden.« »Und was stand darauf?« »Sie waren kaum zu entziffern. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie von Bedeutung waren.« »Wo haben Sie die Zettel gefunden?«
»Einer lag in diesem Wandschrank da.« »In dem Korb mit den Hundespielsachen?« »Kann sein. Ja, ich glaube schon.« »Falls Sie noch welche finden, heben Sie die Notizen bitte für mich auf. Die meisten betref fen ja Randall, und schon allein deshalb inter essieren sie mich.« »Gut.« »Haben Sie schon mal den Namen Mr. Witter oder Green Grove gehört?« »Ich glaube nicht.« »Macht nichts.« »Mr. Stevenson, am Montag fiel mir auf, daß die Marke vom Hundehalsband verschwunden ist.« »Nächste Woche besorg ich eine neue«, sagte Lake. Augen wie ein Luchs hat dieses Luder, dachte Lake, aber die Tatsache, daß ihr die feh lende Marke aufgefallen war, könnte sich für ihn als durchaus vorteilhaft erweisen. Vere und Mrs. Lundquist würden einsehen, daß der abhanden gekommene Hund mangels Marke seinem Besitzer auch nicht zurückgebracht werden kann. Folglich müßte Randall für tot erklärt werden. ***
Schließlich war es Samstag – ein heißer Tag
mit unzähligen Federwolken am Himmel und erfüllt von sommerlichen Düften. Lake begann den Tag damit, daß er sich vor Onkel Pauls Porträt stellte und über die Defizite dieses Mannes grübelte. Dann machte er sich mit Randall auf den Weg in den Park. Lake wollte unvoreingenommen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Er war überrascht, daß einige Hunde mit ih ren Herrchen bereits die Bühne betreten hat ten. Auch Holly und ihr Labrador waren da. »Hi, Luke«, rief sie ihm entgegen. »Hallo, Holly.« Sie trug einen Jogginganzug und hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Wie geht's Chloe?« »Ach, du weißt noch, wie sie heißt?« »Klar.« Sie lächelte ihn an, ein zerstreutes Lächeln. »Schon ziemlich viel los hier«, sagte er. »Ja«, murmelte sie. Aber sie war mit ihren Gedanken woanders. »Was macht dein Aerobic?« fragte er. »Geht so.« »Und wie geht's Tina?« »Gut.« Als Lake schon weitergehen wollte, ging ihm plötzlich auf, daß mit Holly irgend etwas nicht stimmte. »Ist mit Tina wirklich alles in Ord
nung?« fragte er. »Entschuldige«, sagte sie. »Tina geht's wirk lich gut. Ich bin nur ein bißchen gestresst.« »Wie das?« »Ach, die Familie.« »Hoffentlich nichts Ernstes.« »Meine Eltern«, antwortete sie mit einem Achselzucken. »Was ist mit ihnen?« »Ich habe gerade mit ihnen telefoniert. Das war ungefähr der zehnte Anruf in zwei Tagen. Aber das interessiert dich bestimmt nicht.« »Interessiert mich doch«, sagte er. »Sie wollten wieder nach Missouri zurück. Und jetzt erwarten sie von mir, daß ich hier al les aufgebe, irgendwohin in die Pampa ziehe und mir dort 'ne Arbeit suche. Meine Mutter hat mir angeboten, im Laden meines Stiefva ters zu arbeiten. Das Dorf hat knapp vierhun dert Einwohner. Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle.« »Sag ihnen doch einfach, daß du nicht mit gehst. Du hast doch einen Beruf.« »Sie finden, daß Aerobic-Trainerin kein Beruf ist.« Sie wandte ihren Blick ab, sah Missouri. »Das ist doch lächerlich.« »Du hast ja keine Ahnung, was ich den beiden schon alles erklärt habe.«
»Holly, tu's einfach nicht. Glaub mir, auf dem Gebiet kenn ich mich aus. Du mußt dich auch überhaupt nicht dafür rechtfertigen.« Sie machte ein verlegenes Gesicht, während sie zu den anderen Hundebesitzern hinüber schlenderten. »So, jetzt muß ich Randall ein bißchen bewegen«, sagte er. »Es wäre schön, wenn du öfter in den Park kämst.« Er konnte ihr schlecht sagen, daß seine Park besuche mit dem heutigen Tage beendet sein würden. Aber diese Unterhaltung hatte ihn der letzten Möglichkeit beraubt, Randall einfach zurück zulassen. Holly tat ihm leid, weil eine so unsi chere Zukunft auf sie wartete. Er konnte Ran dall nicht das gleiche antun. Es gab nur noch eine Lösung, und die war, Randall in einem Tierheim unterzubringen, bis das Haus ver kauft war. Danach würde er Randall zu sich in seine Wohnung holen. Sie würden zusammen bleiben. Nachdem Lake nun schon so viel mentale Energie in seinen Plan investiert hatte, hätte er doch gerne gewußt, wie Randall auf die Alter native zwischen Park und Haus reagieren wür de. Diese Frage beschäftigte ihn schon aus rein wissenschaftlichen Motiven. »Komm,
Randall«, sagte er. Er ging mit ihm ans andere Ende des Parks und spielte mit ihm eine Zeit lang Frisbee. Randall schaute immer wieder zu den anderen Hunden hinüber. Immer, wenn er sich zu ihnen gesellen wollte, sagte Lake: »Nein.« Als Randall keine Lust mehr hatte, das Frisbee zu apportieren, ging Lake an den Waldrand und setzte sich ins Gras. Randall setzte sich neben ihn und schaute sehnsüchtig zu den anderen Hunden hinüber. Lake tät schelte ihm den Kopf. Dann war der Zeitpunkt für den Test gekommen. »Randall«, sagte er. »Ich werde jetzt gehen. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Es liegt ganz bei dir.« Er stand auf. Randall legte sich hin, erschöpft vom Frisbeespiel. Lake entfernte sich zehn Schritte. Randall schloß die Augen. »Ich gehe jetzt, Randall. Komm, wenn du willst, oder bleib hier. Du hast die Wahl. Paß auf dich auf.« Randall war eingenickt. Lake ging zum Hund zurück und stupste ihn mit der Fußspitze an. »Du bist wirklich zum Weinen«, sagte er. Randall stand auf und trot tete hinter ihm her. ***
Dennoch mußte der Zeitplan eingehalten wer
den. Wenn Mrs. Lundquist am Montag kam, mußte der Hund weg sein. Am Dienstag würde das Haus zum Verkauf stehen. Zu Hause blät terte Lake in den Gelben Seiten nach Tierhei men. Es gab etwa ein Dutzend Anzeigen. Die Heime warben mit bewaldetem Gelände, fach männischer Pflege, eigenen Tierärzten, Trai ningsprogrammen und klimatisierten Zwin gern. Ein Anbieter bezeichnete sich als Country Club. Ein anderer als Ranch. Er kon zentrierte sich auf die Anzeige des Valley View Pet Hotel, das augenscheinlich keine Wünsche offenließ und zu einem Informationsbesuch einlud. »Bringen Sie Ihren besten Freund mit, damit er sich selbst ein Bild von uns machen kann«, stand da. Lake rief an und ließ sich eine Wegbeschreibung geben. Eine halbe Stunde lang fuhren sie durch den Sommermorgen. Randall saß auf dem Vorder sitz und beobachtete, wie die Stadt allmählich in eine Welt ausgedehnter Wiesen und einge zäunter Felder überging. Eine Landstraße führte über eine schmale Brücke und eine An höhe hinauf, um dann in ein Tal mit weit ver streuten Bauernhöfen abzufallen. Ein Schild wies auf das ›Valley View Pet Hotel‹ hin. Lake fuhr die Zufahrt hinauf und hielt vor einem niedrigen weißen, blitzsauberen Gebäude, vor
dem einige Autos parkten. Lake nahm den Hund an die Leine. »Ist das nicht eine tolle Aussicht, Alter?« sagte er zu Randall. Aber irgendwie stand die Sache von Anfang an unter einem schlechten Stern. Als sie sich dem Gebäude näherten, stemmte Randall die Beine gegen den Boden; er schien sich vor etwas zu fürchten. Lake zerrte ihn durch die Tür. Von irgendwoher drang gedämpftes Jaulen, Bellen, Winseln und Heulen an sein Ohr. Damit Ran dall sich wieder beruhigen konnte, blieb er an einer Pinnwand stehen, die mit Postkarten und Briefen vollgepflastert war. Auf einer da von stand: Liebe Bimi, hoffentlich geht es Dir im Tierhotel gut. Ich hoffe, Du bist ein braves Hündchen. Gestern war ich am Strand und bin in den Wellen ge schwommen. Heute gehe ich mit Daddy zum Fischen. Sei ein liebes Hündchen und iss schön brav, sonst kriegst Du Ärger mit mir. Eine Frau hinter dem Tresen sprach ihn an: »Kann ich Ihnen helfen?« Lake schleifte den Hund an die Rezeption. »Die Postkarte auf der Pinnwand an diesen Bimi ist ja wirklich rührend«, sagte er. »Hat sich sein kleines Herrchen doch tatsächlich um
ihn gesorgt. Was für eine Rasse war Bimi denn?« »Wir haben so viele Hunde hier. Das weiß ich wirklich nicht mehr.« Lake spürte, wie sich die Leine spannte. Ran dall zog mit aller Kraft in Richtung Tür. »Ich wäre daran interessiert, meinen Hund hier un terzubringen«, sagte er. »Für längere Zeit wahrscheinlich.« »Natürlich. Wie sind Sie auf Valley View ge kommen?« »Durch die Gelben Seiten.« »Darf ich Sie über unsere Sonderprogramme informieren? Wir bieten Wander- und Spiel programme an und Sportstunden. Natürlich übernehmen wir auch die Pflege der Tiere. Steht alles in dieser Broschüre, auch die Prei se.« »Sie bieten Wanderungen für Hunde an?« »Natürlich.« »Ist das etwas anderes, als sie hier herumlau fen zu lassen?« »Sie wandern mit einem Trekkingführer.« »Hast du das gehört, Randall?« fragte er. »Trekkingführer.« Aber Randalls Schwanz hing schlaff nach unten und seine Augen wa ren voller Panik. »Vermutlich hat ihn das Ge bell eingeschüchtert«, sagte Lake. »Was ist
hinter dem Haus?« »Die Zwinger. Jeder Hund hat sein eigenes Gelände, auf dem er sich bewegen kann. Zwei mal täglich wird es gereinigt.« »Kann ich mir das mal ansehen?« »Natürlich.« Sie öffnete eine Tür hinter der Rezeption. Das Gebell, Gejaule und Geheule steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo. Vor ihm erstreckte sich eine lange Reihe von Käfigen, die mit Hunden aller Rassen besetzt waren, manche von ihnen klebten förmlich an den Drahtzäunen, andere liefen hektisch im Kreis herum, wieder andere verhielten sich eher ka tatonisch. »Sehr sauber«, bekannte Lake. »Der Pflegeraum ist dort drüben.« Lake achtete nicht darauf. Er hatte alle Hände voll zu tun, Randall hinter sich herzuschlep pen, dessen Füße über den Linoleumboden schleiften, während er mit aller Gewalt ver suchte, diesem Ort zu entfliehen. »Mein Hund fühlt sich hier nicht sehr wohl«, sagte Lake. »Manchmal fühlen sie sich durch die Anwe senheit der vielen anderen Hunde gestört«, sagte die Frau. »Sie gewöhnen sich aber dar an.« »Vielleicht ist er noch nicht soweit. Wir über
legen es uns noch einmal«, sagte Lake. Aber sein Urteil war gefällt. Randall zerrte Lake zur Tür hinaus und den Weg hinunter zum Auto, daß die Muskeln an seinen Beinen hervortra ten. Er zog so heftig an der Leine, daß ihm das Halsband fast die Luft abschnürte. »Ist ja gut«, sagte Lake. »Das hier ist nichts für einen Hund.«
7 Auf dem Heimweg fiel ihm ein, daß er am Abend zum Cocktail bei den Veres eingeladen war. Die Aussicht darauf reizte ihn weniger denn je, und er überlegte sich, ob er anrufen und sagen sollte, er wäre plötzlich krank ge worden oder mit einer Autopanne unterwegs liegengeblieben. Nach einigem Hin und Her entschied er schließlich, sich in die Höhle des Löwen zu wagen. Warum auch nicht? Grund für ein schlechtes Gewissen gab es nicht mehr, nachdem inzwischen klar war, daß er Randall behalten würde. Randalls Zuhause wäre zwar nicht der Ort, den Tante Ilsa für ihn bestimmt hatte, aber das ging Vere letztendlich nichts an. Das war ausschließlich eine Angelegenheit zwischen den Stevensons.
Dennoch stellte sich nach wie vor die Frage, wie er den Hund verschwinden lassen konnte. Den ganzen Nachmittag über wartete er verge bens auf einen Geistesblitz. Auf der Fahrt zu den Veres entschloß er sich zu einer temporä ren Taktik: An den Tagen, an denen Mrs. Lund quist in der Peal Avenue Nr. 73 zu tun hatte, würde er den Hund in seiner Wohnung verste cken. Am Sonntagabend würde er Randall in die Wohnung fahren und am Montag, sobald die Luft rein war, wieder abholen. Freitags würde er genauso verfahren. Das wäre zwar umständlich, aber effektiv: Für Mrs. Lundquist und Vere würde der Hund aufgehört haben zu existieren. Das Haus der Veres sah dem Haus von Tante Ilsa ähnlich, nur war es noch größer, die Zu fahrt kreisförmig, und es hatte so viele Schorn steine auf dem Dach, daß man davon ausgehen konnte, daß die Besitzer für den Schutz der Wälder allenfalls marginales Interesse auf brachten. Eine Asiatin öffnete die Tür und führte ihn in den Salon. Er tauchte in ein Stim menmeer ein, entdeckte auf der anderen Seite des Raumes einen Barkeeper in weißem Jackett und steuerte zielsicher auf ihn zu. Ein Tablett schwebte an ihm vorüber. Er pflückte ein kleines, tortenähnliches Teilchen vom Ta
blett und arbeitete sich weiter durch die Men schenmenge. Soweit er feststellen konnte, kannte er hier niemanden, nicht eine Men schenseele in diesem quasselnden Haufen. Aber vielleicht war das gut so. »Weißwein, bit te«, sagte er zum Barkeeper, als er an die Rei he kam. Der Barkeeper schenkte großzügig ein; Lake registrierte es mit Dankbarkeit. Er sah sich nach Vere um, versuchte, sich das zerfurchte Adlergesicht mit dem kalten Blick vorzustellen, das er auf dem Begräbnis gese hen hatte. Eine Frau um die Vierzig berührte ihn am Arm. »Sind Sie Peter McClellan?« »Nein, ich bin Lake Stevenson.« »Ich suche Peter.« »Kenn ich nicht«, sagte Lake. »Wir sprachen gerade über England«, sagte sie zu ihrer Begleiterin, einer elegant gekleide ten Frau mit gelangweiltem Blick. »Diese Prei se! Schrecklich. Ich weiß wirklich nicht, wie man dort leben kann. Waren Sie kürzlich mal dort?« »Nein«, sagte Lake. »Schrecklich, Marjorie«, erklärte sie der ge langweilten Frau und gab Lake mit einer un willigen Schulterbewegung zu verstehen, daß sie seinen Beitrag an der Unterhaltung für be endet betrachtete.
Er bewegte sich vorsichtig durch die Men schenmenge und nippte an seinem Glas. Je mand rempelte ihn an. »Pardon«, entschuldig te sich ein grauhaariger Mann. »Keine Ursache. Ich bin Lake Stevenson.« »Perry McClellan«, stellte sich der Mann vor. »Lake Stevensonja? Bestimmt bist du der Sohn des alten Stevenson.« »Richtig.« »Habe deinen Vater schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Hoffentlich benimmt er sich an ständig.« Er betrachtete Lake und strich sich übers Kinn; vermutlich war ihm etwas einge fallen. »Ich sehe ihn auch nicht oft«, sagte Lake. »Soviel ich gehört habe, wohnt er jetzt in Greenwich, stimmt's?« »Ja.« »Irgendeiner hat mir etwas über ihn erzählt«, sinnierte McClellan. »Kann mich nur nicht mehr erinnern, was es war. Ganz schöner Ca sanova, dein Vater, was?« Er zwinkerte Lake zu. »Möglich.« »Möchte wetten, daß du's auch faustdick hin ter den Ohren hast, eh?« »Eher nicht«, sagte Lake. Der Mann ging ihm auf die Nerven. »Sie sind mit Ihrem Sohn hier,
oder?« fragte er, um das Thema zu wechseln. »Ja, mit Peter. Kennst du ihn?« »Nein.« »Dort drüben steht er.« Er zeigte in eine Rich tung. Peter McClellan stand in einer Gruppe von Männern mittleren Alters. Er selbst war Ende Zwanzig, mit Schildpattbrille und glatt zurück gekämmten Haaren. Als die Gruppe in Geläch ter ausbrach, lachte er am lautesten und längs ten von allen. Lake machte auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Rich tung davon. Er hörte, wie sich zwei Männer über Immobi lien unterhielten, und gesellte sich zu ihnen. »… fünf Millionen verpulvert«, erzählte der eine. »Mehr«, korrigierte ihn der andere. »Hallo, ich bin Lake Stevenson.« »Hallo.« »Sie unterhalten sich gerade über Immobili en?« fragte Lake. »Sind Sie im Immobiliengeschäft tätig?« »In gewisser Weise, ja. Hauptsächlich Wohn häuser«, sagte Lake. In diesem Moment kam eine weißhaarige Frau auf ihn zu. »Sie müssen Lake Stevenson sein.«
»Stimmt.« »Ich bin Laura Vere. Ich freue mich sehr, daß Sie kommen konnten.« »Vielen Dank nochmals für die Einladung.« »Ihre Tante war eine sehr gute Freundin von uns. Sie fehlt uns schrecklich. Sind Sie glück lich im Haus?« »Ich wohne zwar noch nicht lange da, aber ich glaube, es wird mir gefallen«, sagte Lake. »Ich freue mich wirklich. Kennen Sie David Dugan? Er ist auch erst kürzlich in Chestnut Hill eingezogen.« »Nein.« »Dann darf ich Sie beide bekannt machen.« Sie führte ihn in die Mitte des Raumes. »David, das hier ist Lake Stevenson. Sie beide sind praktisch Nachbarn.« David Dugan war um die Fünfzig, Orthopäde. Von Lakes Fragen ermutigt, hielt er ihm einen zehnminütigen Vortrag über Hüftoperationen. Dann erschien Mrs. Vere wieder und zog Lake mit sich, um ihn jemand anderem vorzustel len. Allmählich verschwammen die Gesichter vor seinen Augen. Er vertiefte sich in eine Kon versation über die beklagenswerten politi schen Zustände in Philadelphia, wanderte zwi schen den Gästen umher, verlor hier ein Wort und da ein Wort. Und wieder unterbrach ihn
Mrs. Vere. Er wollte ihr gerade sagen, daß er leider schon gehen müsse, daß ihm die Party sehr gefallen hätte, gute Nacht, vielen Dank, aber sie kam ihm zuvor. »Billington, das ist Lake Stevenson«, sagte sie. »Hallo, Mr. Vere«, sagte Lake. »Schön, daß Sie gekommen sind«, näselte Vere. Er wirkte ebenso bieder wie überheblich; Typ Moralapostel. Lake suchte nach Worten. »Meine Nachbarn habe ich schon kennengelernt«, sagte er. »Net ter Haufen.« Vere taxierte ihn. »Man fühlt sich sofort akzeptiert«, sagte Lake. »Ja, Nachbarschaft bedeutet hier noch etwas.« »Kommt einem fast vor, als würde man heim kehren.« »Haben Sie als Kind hier gelebt?« »Nein, in Haverford.« »Dachte ich mir.« »Aber Tante Ilsas Haus steckt voller Erinne rungen. Manchmal drohen sie mich zu über wältigen.« »Ach ja?« fragte Vere. »Ja, es kommt mir immer noch so vor, als wäre sie noch da«, sagte Lake. »Die ganzen Möbel, ihre Sachen. Ich habe bis jetzt alles un
verändert gelassen. Jede Veränderung gäbe mir das Gefühl, sie aus dem Haus zu treiben.« »Ja, Mrs. Lundquist erzählte meiner Frau schon, daß Sie nicht viel verändert haben«, sagte Vere. »Aber Sie werden sich bestimmt bald heimisch fühlen.« So ist das also, dachte Lake. Er hatte richtig vermutet. Mrs. Lundquist war ein Spitzel. »Wenn man in das Haus eines anderen Men schen zieht, kommt es einem fast vor, als müs se man eine psychologische Hürde überwin den«, dozierte Lake. »Gewissermaßen eine Eigentümerhürde. Aber ich denke doch, daß ich es schaffen werde. Im Moment bin ich so zusagen gerade in der Mitte der Hürde ange langt.« Die Hürden-Metapher gefiel ihm. Sollte Vere erfahren, daß das Haus verkauft war, würde er vielleicht Lakes empfindliches mentales Gleichgewicht berücksichtigen und erkennen, daß der Verlust eines Hundes einem Menschen mit labilem Gemütszustand einen doppelt schweren Schlag versetzen mußte. Aber Vere hatte sich auf die Herstellung nach barschaftlicher Beziehungen kapriziert. »Ha ben Sie Peter McClellan schon kennengelernt?« fragte er. »Er ist etwa in Ih rem Alter, glaube ich.«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.« »Ein netter junger Mann.« »Er lacht gern«, sagte Lake. »Wie bitte?« »Er scheint viel Humor zu haben.« »Ach so. Bestimmt geht es Ihrer Schwester gut.« »Bestimmt«, sagte Lake. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Jetzt muß ich aber ge hen, Mr. Vere. Vielen Dank nochmals für die Einladung. Ich werde die Hürde mit dem Haus ganz bestimmt noch schaffen.« »Vielleicht treffen wir uns bald wieder ein mal.« »Das hoffe ich auch«, sagte Lake. Er ging auf die Suche nach Mrs. Vere, dankte ihr nochmals für die Einladung und steuerte auf die Haustür zu. Aber bevor er sie erreicht hatte, entdeckte er Jennifer. Er war verblüfft, sie hier zu sehen, und ver sucht, sich ohne Begrüßung an ihr vorbeizu stehlen. Schließlich hatte er seine Mission erle digt und die Cocktailparty mit Bravour hinter sich gebracht. Aber andererseits waren er und Jennifer gewissermaßen Verbündete. Und ab gesehen davon war sie ein erfreulicher An blick. Und außerdem mochte er sie. Darüber
hatte er bisher noch nicht nachgedacht, aber es stimmte schon: Er mochte sie wirklich. Sie unterhielt sich gerade mit einer älteren Dame, lächelte ihm aber zu, als er auf sie zu steuerte. »Ich bin Lake Stevenson«, stellte sich Lake der Frau vor. »Eleanor Winter«, sagte die Frau. »Jennifer, ich sehe mal nach, wo Charles abgeblieben ist.« »Wie geht es Ihnen?« fragte er Jennifer. »Ich habe den Vertrag erhalten.« »Den höchst vertraulichen Vertrag«, sagte Lake, »den Vertrag, der sozusagen ein AnwaltMandanten-Verhältnis schafft.« »Richtig.« »Wie kommt es, daß ich Sie hier treffe?« »Ich bin mit einem Cousin gekommen. Dort drüben steht er.« Sie deutete auf ein paar Leu te, die sich um Mrs. Vere geschart hatten. »Im Immobiliengeschäft ist es sicher wichtig, so viele Leute wie möglich kennenzulernen, hab ich recht? Gesellschaftliche Kontakte sind in Ihrem Beruf bestimmt ein Muß, oder?« »Auf jeden Fall schadet es nicht.« »Hübschen Schal haben Sie.« »Vielen Dank.« »Rot«, sagte er; er brachte kaum noch einen
Ton heraus. »Ja.« »Und Gold.« »Auch Gold.« Lake fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Aus unerfindlichen Gründen hatte sein Hirn die Arbeit eingestellt. Schließlich erkundigte er sich: »Wohnen Sie eigentlich auch in Chestnut Hill? Ich habe Sie nie danach gefragt.« »Nein. Ich wohne mit ein paar Leuten in ei nem Haus in Merion. Wir sind zu sechst.« »Da ist sicher immer was los.« »Langweilig ist es bestimmt nicht.« »Ich bin eher ein Einzelgänger«, bemerkte er. »Zwei meiner Mitbewohner ziehen gerade aus«, sagte sie. »Sie heiraten.« »Waren sie schon früher zusammen, oder ha ben sie sich erst in Ihrem Haus kennengelernt?« Sie verzog den Mund zum Lachen, tat es dann aber doch nicht. »Ich frage nur aus Neugier.« »Ich verspreche Ihnen, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Sie ist Anwältin.« »Und wovon leben die anderen?« »Eine macht eine Ausbildung zur Börsenmak lerin, eine andere ist in der Werbung. Und wen haben wir dann noch? Ach ja, einen Studenten
im höheren Semester und einen, der einen Job sucht.« »Das ist ja fast 'ne Stadt im Miniaturformat«, lächelte er. »Da mögen Sie recht haben. Von dieser Warte aus hab ich's noch gar nicht betrachtet.« Lake musterte ihr dunkles Haar, die Form ih rer Lippen, den schönen Schwung ihrer Au genbrauen, all die strukturellen Besonderhei ten, die Gott den Frauen geschenkt hat, um die Köpfe der Männer zu verdrehen. Ihre Stimme klang ernst, mit leicht amüsiertem Unterton. Er hatte den Faden verloren, also fing er noch mals von vorn an. »Jetzt haben Sie also mehr Platz«, sagte er. »Ja, aber vermutlich werden wir ihn nicht nutzen.« »Ich habe eine Wohnung in der Stadt, erste Etage. Besser gesagt, ich hatte eine. Naja, ei gentlich habe ich sie noch immer.« »Werden Sie wieder in Ihre Wohnung einzie hen?« »Ja.« »Dann wird ja alles glatt über die Bühne ge hen«, meinte sie. »Ich habe vor, zwei Wochen nach Nantucket zu fahren«, sagte er völlig zusammenhanglos. »Können Sie mir eine Telefonnummer dalas
sen? Vielleicht muß ich Sie erreichen.« »Ich würde gerne auf dem laufenden bleiben«, sagte er. Und nachdem das etwas merkwürdig klang, setzte er hinzu: »Nette Par ty, nicht?« »Ich bin froh, daß ich gekommen bin«, sagte Jennifer. »Meine Großmutter sieht schon viel besser aus.« »Ihre Großmutter?« »Sie hatte einen Verkehrsunfall. Sie ist noch immer nicht ganz wiederhergestellt.« Eine Ahnung stieg in ihm auf – finster, wild, beunruhigend. »Wer ist denn Ihre Großmutter?« fragte er. »Mrs. Vere.« »Mrs. Vere ist Ihre Großmutter?« »Ja.« »Und Vere ist Ihr Großvater? Äh, Mr. Vere.« »Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht lüge«, lä chelte Jennifer. Offenbar hatte er etwas Komi sches gesagt. »Das sind ja Neuigkeiten«, sagte er. »Das mit den Veres, meine ich.« »Sie sind offenbar überrascht.« »Ach, überhaupt nicht. Ich wußte es nur nicht.« Sie beobachtete ihn. »Ich muß jetzt gehen«, meinte er. »Übrigens,
um noch mal auf unser Gespräch von vorhin zurückzukommen: Ich kann gar nicht genug betonen, wie sehr ich mit Ihrer Vertraulichkeit rechne. Wirklich, ausnahmslos. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich so darauf herumreite. Ich lege nur großen Wert darauf, die Gefühle bestimmter Menschen nicht zu verletzen und so weiter.« Sie nickte. »Bis dann also«, sagte er. »Tschüs.« Auf dem Heimweg schwirrte ihm der Kopf. Diese neueste Vere-Connection war schlimmer als die Lundquist-Schiene. Er kam sich verra ten vor, obgleich er nicht genau wußte, wem er die Schuld dafür in die Schuhe schieben sollte. Mit derartigen Situationen muß in jedem Krieg gerechnet werden, fiel ihm später ein. Das Wichtigste war, Ruhe zu bewahren und den eingeschlagenen Kurs beizubehalten. Einen absurden, leichtsinnigen Moment lang hatte er bei den Veres daran gedacht, Jennifer um ein Rendezvous zu bitten. Er plauderte gern mit ihr, wenngleich es ihm in ihrer Ge genwart eher die Sprache verschlug. Aber das wäre kein kluger Schritt, insbesondere ange sichts der bestehenden Familienbande. Alles, was mit dem Hausverkauf zu tun hatte, mußte
auf rein geschäftlicher Ebene abgewickelt wer den. In diesem Stadium war mönchisches Ver halten gefragt. ***
Am nächsten Nachmittag erlebte er die Phil lies als siegreiches Baseballteam; sie kamen von hinten und erzielten zwei Walks, ein Sin gle und ein Double im neunten. »Idiotisch, ihn drin zu lassen«, ereiferte sich Steve. »Das sieht doch ein Blinder, daß der völlig überfordert war.« Aber Lake war mit seinen Gedanken nicht beim Spiel. Das Gebrüll der zwanzigtau send begeisterten Fans empfand er als beklem mend, und sein Unterbewusstsein registrierte den leeren Platz neben sich, auf dem sonst im mer Ellen gesessen hatte. Am selben Abend spielte er mit Randall lange Frisbee. Er schüttete Hundefutter in einen Müllsack und fuhr mit Randall zu seiner Woh nung. Am darauffolgenden Morgen würde er Mrs. Lundquist wie geplant den Verlust des Hundes bekanntgeben. Wie ein Kronprinz thronte Randall auf dem Beifahrersitz. Lake parkte vorm Haus und spazierte mit Randall einmal kurz den Gehweg auf und ab, um den Hund mit der Gegend vertraut zu ma chen. Randall schnüffelte an dem Efeu, den
Mrs. Reardon anstelle der Begonien in den Holztrog gepflanzt hatte. Nachdem er die wich tigsten Reviergrenzen abgesteckt hatte, gingen sie nach oben. »Fühl dich wie zu Hause«, sagte Lake und machte die Wohnungstür weit auf. Randall tappte hinter ihm her in die Küche. Lake fühlte sich beengt in seiner Wohnung. Er hatte sie immer für beeindruckend groß gehal ten, aber nach den überdimensionierten Räumlichkeiten in der Peal Avenue wirkte hier alles zusammengepfercht, wenn nicht sogar et was trist. Die Kaufhausmöbel sahen wie Kauf hausmöbel aus. Die Poster waren Allerwelts bilder. Nicht einmal seinen alten Fotos von verschiedenen Stillleben konnte er etwas Posi tives abringen – geometrische Aufnahmen von Maschinen, altertümlichem Tischlerwerkzeug und Schrottplatzobjekten, die er mit sechzehn geknipst hatte. Das passiert eben, wenn man einige Zeit woanders gewohnt hat, dachte er. Abwesenheit verändert den Blickwinkel. Aber sobald er wieder hier wohnen würde, würde sich der alte Stolz auf seine vier Wände schon wieder einstellen. Und Randall würde die Wohnung ohnehin mit Leben erfüllen. Er beschloß, ein paar schöne Stücke von der Peal Avenue hierher zu schaffen, sobald das Haus verkauft war. Bevor er die restlichen Mö
bel und sonstigen Einrichtungsgegenstände versteigern lassen würde, könnte sich Karen noch das eine oder andere Stück aussuchen. Aber der Schreibtisch aus der Bibliothek und ein paar Stühle würden sich hier bestimmt gut machen; auch die Bilder seiner Tante mochte er. Vielleicht sollte er einen Teil der Möbel vor läufig einlagern, falls er doch einmal in eine größere Wohnung ziehen sollte. Es klopfte an der Tür. Als er aufmachte, stand Mrs. Reardon vor ihm und machte ein gries grämiges Gesicht. »Mr. Stevenson«, fragte sie, »habe ich richtig gesehen, daß Sie mit einem Hund gekommen sind?« »Ja. Keine Angst, er beißt nicht.« »Ich nehme an, Sie wissen, daß in diesem Haus keine Hunde gestattet sind.« »Was soll ich wissen?« »Wenn Sie Ihren Mietvertrag aufmerksam le sen, werden Sie feststellen, daß Sie hier keinen Hund halten dürfen.« »Es ist aber ein sehr zivilisierter Hund. Er wird niemanden stören.« »Mr. Stevenson, lesen Sie einfach Ihren Miet vertrag.« »Als ich unterschrieben habe, habe ich diese Klausel nicht gesehen. Dann müssen wir eben neu verhandeln. Er wird hier wohnen.«
»Ich habe eine Hundeallergie.« »Ich werde aufpassen, daß er Ihnen nicht über den Weg läuft.« »Auf der Stelle schaffen Sie den Hund aus die sem Haus. Sofort!« »Das geht nicht. Der Hund kann nirgendwo anders hin.« »Das ist nicht mein Problem, Mr. Stevenson.« Sie nieste vernehmlich. Lake wertete dies als dramaturgische Einlage, ganz sicher war er sich allerdings nicht. »Ich bestehe darauf, daß dieses Tier auf der Stelle verschwindet«, sagte sie. »Das ist ein sehr wertvoller Hund«, entgegne te Lake. »Jeder Angriff auf sein Wohlbefinden, wie ihn zum Beispiel auf die Straße zu setzen, zieht beträchtliche finanzielle Folgen nach sich; dessen sollten Sie sich bewußt sein.« »Raus hier, auf der Stelle!« »Nehmen Sie denn keine Tabletten gegen Ihre Allergie?« »Hinaus!« Sie nieste. »Es ist aber kein sehr großer Hund«, sagte Lake. »Wenn der Hund nicht in spätestens fünf Mi nuten aus dem Haus ist, werden Sie Schwierig keiten bekommen, Mr. Stevenson.« »Die Schwierigkeiten habe ich schon, Mrs.
Reardon. Das betrübt mich wirklich. Ich frage mich ernsthaft, was das hier für ein Haus sein soll, in dem kein Platz für Hunde ist. Hunde sind seit Abertausenden von Jahren – was sage ich: seit Millionen von Jahren – treue Begleiter des Menschen.« »Fünf Minuten.« Sie rauschte ab. »Komm, Randall«, sagte er. »Wir sitzen ganz schön in der Patsche.« ***
»Er ist weg«, sagte Lake zu Mrs. Lundquist, als sie Montag früh zur Arbeit kam. »Ich kann's noch immer nicht fassen. Randall ist verschwunden.« Er schaute angestrengt an ihr vorbei, als suche er den Horizont nach Anzei chen von Braun und Weiß ab, die das Glück in seine Welt zurückbringen würden. »Wo ist er denn hingelaufen?« »Ich weiß nicht, wie's passiert ist. Er war draußen. Das Tor war zu. Ich weiß, daß es zu war.« »Vielleicht kommt er ja wieder. Er wird Hun ger bekommen.« »Mrs. Lundquist, ich suche schon seit fast vierundzwanzig Stunden nach ihm. Ich fürch te, es gibt keine Hoffnung mehr. Und ich bin noch nicht dazu gekommen, ihm eine neue
Hundemarke zu kaufen. Ich hatte es diese Wo che vor.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er es ge schafft haben soll, das Tor selbst aufzuma chen«, sagte sie. »Natürlich nicht. Ich habe das Tor oft genug persönlich überprüft.« »Immer, wenn er draußen war, hatte ich ein Auge auf ihn«, sagte sie. »Das weiß ich, Mrs. Lundquist. Sie haben vor bildlich auf Randall aufgepaßt. Aber ich wollte, daß er häufiger an die frische Luft kommt. Ich dachte, das täte ihm gut.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Hund ohne Grund davonläuft.« »Sie haben bestimmt recht«, sagte er. »Dann hat ihn jemand mitgenommen. Vermutlich ist er gestohlen worden, als ich gestern das Früh stück gemacht habe. Er hat keinen Ton von sich gegeben. Ich hatte keine Ahnung, daß er in Gefahr war.« »Jemand soll ihn mitgenommen haben?« »Was sonst?« Offenbar wog sie die Wahrscheinlichkeit ei ner Entführung ab und kam zu einem negati ven Ergebnis. »Ich bin sicher, daß er wieder auftaucht, Mr. Stevenson«, sagte sie. Ihre Wor te klangen merkwürdig pointiert.
»Bitte seien Sie wachsam, Mrs. Lundquist. Lassen Sie das Tor offen.« »Gut.« »Ich werde es natürlich der Polizei melden.« »Gute Idee.« Lake gefiel ihr Kommentar ganz und gar nicht. Er steuerte auf die Garage zu. Randall erwartete ihn auf seinem Thron, dem Beifah rersitz, allzeit bereit für ein Abenteuer. »Platz, Randall«, sagte er. »Mach bloß kein Aufsehen!« ***
»Was ist das?« fragte Mary. »Das ist ein Hund«, klärte Lake sie auf. »Das weiß ich, aber was macht er hier?« »Er wird den Tag bei uns verbringen. Und, um genau zu sein, er wird eine Zeitlang hier woh nen.« »Ich wußte nicht, daß du einen Hund hast.« »Es ist auch nicht unbedingt mein Hund.« »Wem gehört der Hund?« »Betrachte seinen Status einfach als unbe stimmt. Betrachte ihn schlicht als herrenlos.« »Dafür, daß er herrenlos ist, sieht er aber sehr gut aus.« »Ja, er ist recht hübsch.« Randall tappte zu ihr hinüber, um sich mit ihr
anzufreunden; er schaute Mary in die Augen, während sie ihm den Kopf kraulte. »So ein lie ber Hund«, sagte sie. »Wie heißt er?« Auf diese Frage war er vorbereitet. Am Abend zuvor hatte er verschiedene, ähnlich klingende Namen durchgespielt und sie laut ausgespro chen, um deren Wirkung auf Randall zu testen. Der Name Ralph zeitigte keinerlei Reaktion. Der Name Bongo war eine Niete. Dann, nach weiteren Versuchen, hatte Lake einen Trumpf gelandet – einen phonetisch ähnlich klingen den Namen, den Randall ersatzweise akzep tierte. »Renard«, sagte er mit französischem Akzent, denn dieser Name hatte beim Probelauf vom Vorabend die besten Ergebnisse erzielt. »Renard? Wie ein Fuchs?« »Genau.« »Du bist aber kein Fuchs«, nuschelte Mary mit Kinderstimmchen und kraulte ihm immer noch den Kopf. »Du bist ein Hund, ein wunder schöner Hund.« »Er hat aber ziemlich viel von einem Fuchs an sich«, sagte Lake. Mary gab gurrende Laute von sich. »Er ist nur zu Besuch«, sagte Lake. »Vielleicht trägt er zu etwas mehr Menschlichkeit im Büro bei.«
Eine halbe Stunde später erschien ein ver schlafener Danny. Er tätschelte Randall. »Wie so hast du deinen Hund mitgebracht, Mary?« fragte er. »Es ist Lakes Hund.« »Seid doch bitte so lieb«, flehte Lake, »lassen wir diese kleinkarierten Diskussionen, wem er nun gehört oder nicht. Er ist ein Bürohund.« Im Verlauf des Tages entwickelte sich Randall als geradezu idealer Bürohund. Er hatte es sich neben Lakes Stuhl bequem gemacht und ver schlief die meiste Zeit, erhob sich nur gelegent lich, um in den Papierkörben herumzuschnüf feln oder Danny oder Paul eine Stippvisite abzustatten. Besonders Mary schien ihm zu ge fallen, denn sie kraulte ihn immer am Kopf und lockte ihn mit gurrenden Lauten. Lake fand, daß sich beide ziemlich kindisch verhiel ten. »Stört dich der Hund, Mary?« erkundigte er sich. »Hat Renard schon etwas zu fressen bekom men?« fragte Mary. »Ich könnte ihm aus der Mittagspause 'ne Dose Hundefutter mitbrin gen.« »Er kriegt Trockenfutter.« »Soll ich dann Trockenfutter kaufen?« fragte sie. »Er bekommt mittags nichts zu fressen.«
»Er sieht aber hungrig aus.« »Ist er aber nicht. Ich kenne seine Freßge wohnheiten sehr gut.« »Bist du hungrig, Renard?« gluckte Mary. »Hierher, Renard«, sagte Lake. »Ich könnte mit ihm Gassi gehen.« »Ich werde das tun«, sagte Lake bestimmt. Einen Augenblick später hörte er das charak teristische Hüsteln, das üblicherweise ein neu es Lake-Schild ankündigte. Er schaute zu ih rem Schreibtisch hinüber. Sie war in der Pose eines menschenfressenden Ungeheuers er starrt, mit gebleckten Zähnen, die Finger kral lenartig gespreizt. Die Blockbuchstaben auf dem Schild bildeten die Worte: LAKE DER GRAUSAME. Er ignorierte den Hinweis, und die Geschäfts beziehungen mit dem Hund pendelten sich schließlich auf ein stabiles Niveau ein; Randall machte gelegentlich die Runde, um Streichel einheiten zu kassieren und Kostproben aus der Trickkiste ›Vertiefen der Hund-Mensch-Bin dung‹ zu liefern. Aus den Augenwinkeln beob achtete Lake mögliche negative Einflüsse auf die Produktivität seiner Mitarbeiter. Kein Nachlassen war festzustellen, im Gegenteil: die Arbeitsmoral hatte sich sogar gebessert. Jennifer rief um drei an. »Meine Partner wer
den das Haus morgen um zehn Uhr besichti gen, wenn Ihnen dieser Termin paßt.« »Wissen Ihre Partner, daß alles streng ver traulich ist?« »Ja«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob Sie über unsere Firma informiert sind, aber Sie haben mit uns genau ins Schwarze getroffen.« »Gut.« »Im Anschluss daran werde ich es einem In teressenten zeigen. Diese Dame ist schon seit längerem unsere Kundin. Sie sucht genau so ein Haus wie Ihres.« »Könnte man ihr irgendwie beibringen, daß das Haus nur an und für sich zu verkaufen ist, ich meine, daß es zwar verkauft werden könn te, aber nicht ganz offiziell?« »Entweder ist es zu verkaufen, oder es ist nicht zu verkaufen«, sagte sie. »Sie müssen sich schon entscheiden.« »Also gut, es ist zu verkaufen.« »Gut.« »Rufen Sie mich bitte gleich danach an. Ich möchte wissen, wie es gelaufen ist.« »Gut.« »Oder ich könnte Sie anrufen.« »Ich werde Sie anrufen«, sagte sie. ***
Am selben Abend machte er einen Rundgang durchs Haus, um sich davon zu überzeugen, daß alles in bester Ordnung war. Soweit er es beurteilen konnte, erledigte Mrs. Lundquist trotz der reduzierten Arbeitszeit ihre Aufgaben tadellos. Er hatte selbst von Zeit zu Zeit die Hundehaare weggesaugt, die Mrs. Lundquist Randalls nächtliche Anwesenheit hätten verra ten können, und dafür gesorgt, daß die Futter näpfe unbenutzt aussahen. Lake fragte sich, ob Randall wußte, daß er auf der Flucht war. Für ihn war das Leben hektisch geworden: zuerst der Abstecher ins Tierheim, dann das kurze In termezzo in der Wohnung, tagsüber in einem Büro und Nachts in der Peal Avenue; am Mon tag morgen hinausgeschmuggelt und am Abend heimlich wieder nach Hause gebracht. Auf seinem Rundgang durch das Haus stellte Lake fest, daß auf dem tragbaren Fernsehgerät im ersten Stockwerk ein anderer Kanal einge stellt war – Beweis dafür, daß die Reinigungs arbeiten für Mrs. Lundquist nach wie vor nicht in Stress ausarteten. Er schlug in der Fernseh zeitschrift nach, welche Sendungen auf diesem Kanal liefen: Seifenopern satt. An und für sich war es ihm egal, denn bald würde sie aus sei nem Leben verschwunden sein, aber als leise Warnung stellte er einen anderen Kanal ein.
Als der Tag sich zu Ende neigte, setzte er sich auf die Terrasse und beobachtete ein paar Rot kehlchen und eine Spottdrossel, die auf der Wiese umherhüpften. Das Gras war gerade ge mäht worden und verbreitete einen frischen, feuchten Duft. Ein paar langstielige helle Blu men standen friedlich im Abendlicht – wahr scheinlich Lilien, oder waren es Iris? Auf jeden Fall fand er die Dinger schön. Er blieb eine hal be Stunde auf der Terrasse sitzen, ging dann zum Musikhören in die Bibliothek und legte für Randall ein Klarinettenquintett von Mozart auf. Am nächsten Tag im Büro schweiften seine Gedanken regelmäßig zum Haus ab. Er stellte sich vor, wie Jennifers Partner das Haus durchstreiften und vielleicht gerade darüber sprachen, wie sie den Preis drücken konnten. Er stellte sich vor, daß Jennifer zu ihrer Kun din sagte: Ich weiß, das ist hier alles ein biß chen altmodisch, aber ich kann Ihnen versi chern, daß wenigstens die Bausubstanz in Ordnung ist. Derek Kast rief am Nachmittag an. »Ich bin mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden«, sagte er. »Das hatte ich gehofft.« »Die graphischen Darstellungen sind wirklich gelungen.«
»Ja, unsere Designabteilung leistet erstklassi ge Arbeit«, sagte Lake und versuchte, sich eine ganze Armee von Designern und Graphikern vorzustellen, und nicht nur Paul, den Einzel kämpfer mit seinem Ohrring und seiner Kol lektion verrückter T-Shirts. »An einigen Stellen ist der Ton für meinen Ge schmack allerdings etwas zu forsch.« »Wir legen großen Wert darauf, alles auf den Punkt zu bringen«, erklärte Lake. »Das ist ei nes unserer Grundprinzipien.« »Ja, ich finde es wirklich gut. Ich würde mich gern mit Ihnen über weitere Projekte unterhal ten.« »Sehr gern.« »Die nächsten zwei Wochen bin ich verreist. Könnten Sie in der dritten Juliwoche vorbei kommen? Ich nehme an, daß ich dann wieder in Philadelphia sein werde. Dann könnten wir das weitere Vorgehen besprechen.« »Sehr gern«, sagte Lake. Sie einigten sich auf den fünfundzwanzigsten Juli. Lake, beflügelt von diesem kräftigen fi nanziellen Aufwind, überlegte sich, ob er mit InstruX vielleicht in repräsentativere Räume umziehen sollte. Das wäre bestimmt eine gute Idee, falls sich das Geschäft mit den Videos konkretisieren und Bill sich zu einer Mitarbeit
entschließen sollte. Um fünf Uhr rief Jennifer an. »Sie wollten meinen Bericht«, sagte sie. »Wie ist es gelaufen?« fragte Lake. »Sehr gut. Meine Partner sind begeistert. Die Frau, der ich das Haus am Nachmittag gezeigt habe, sagte nicht viel, aber das ist typisch für sie. Ich glaube, sie ist interessiert.« »Sie sagte nicht viel? Sie muß doch etwas ge sagt haben! Es ist doch nicht möglich, dieses Haus zu besichtigen und sich überhaupt nicht zu äußern. Was sagte sie? Sie fand es bestimmt abscheulich.« »Überhaupt nicht.« »Sie verbergen etwas vor mir.« »Ihr Haus war eines von dreien, die ich ihr heute gezeigt habe.« »Hat sie wenigstens eine Wertung abgegeben? Wie hat mein Haus dabei abgeschnitten?« »Nein, sie hat keine Wertung abgegeben«, sagte Jennifer. »Und was ist mit Ihren Partnern?« »Sie meinen, daß der Preis stimmt.« »Ach so. Ihre Partner sind also kurz durch das Haus gegangen, wieder herausgekommen und haben festgestellt, daß der Preis stimmt. Ich verstehe euch Makler nicht. Ich muß schon sagen, daß Sie auch nicht anders sind als ande
re Ihrer Branche. Sie selbst waren gerade mal fünf Minuten im Haus, haben sich so gut wie gar nichts angesehen, und ein paar Tage später haben Sie Ihren Kommentar abgeliefert, der, wenn ich mich recht erinnere, ein Preis war. Aber vermutlich ist das alles, was man braucht, um im Immobiliengeschäft erfolg reich zu sein.« »Nein.« »Nein was?« »Nein, das ist nicht alles, was man braucht. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzäh len würde, daß die Tapete in der Eingangshalle gräßlich ist?« »Was soll daran gräßlich sein? Ich finde, daß die Tapete sogar ganz außergewöhnlich ist. Mir gefällt sie sehr gut. Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, daß sie gräßlich ist?« »Ist sie ja auch nicht«, sagte sie. »Sie ist wirk lich sehr hübsch. Aber verstehen Sie jetzt, warum ich nichts davon halte, Ihnen alles zu erzählen, was die Leute von sich geben?« »Ach so.« »Für morgen haben wir noch keine Termine vereinbart. Falls sich daran etwas ändern soll te, werde ich Sie anrufen.« »Ich habe noch eine Frage. Wieso haben Sie eigentlich nicht darauf bestanden, daß Ihre
Partner das Haus besichtigen, bevor Sie mir einen Preis nennen? Ist das nicht der übliche Weg?« »Normalerweise schon. Aber ich habe sie da von überzeugt, eine Ausnahme zu machen.« »Warum?« »War nur so ein Gefühl von mir.« »Was für ein Gefühl?« »Instinkt«, sagte sie. Sie zögerte und setzte dann hinzu: »Ihnen liegt die Vertraulichkeit dieser Angelegenheit sehr am Herzen.« »Aber Sie verstehen doch meine Gründe.« »Nicht ganz«, bemerkte sie. »Aber das ist nicht relevant.« »Das finde ich schon. Ich möchte, daß Sie es verstehen.« »Dann erklären Sie es mir bitte noch einmal.« Lake holte in Gedanken weit aus, um mit ei ner überzeugenden Rede vom Andenken an seine Tante, von Respekt und Pietät loszule gen. Aber er brachte kein Wort hervor. Er räusperte sich. Sie wartete. »Ich werde es Ih nen später einmal erklären«, sagte er schließ lich. »Im Moment ist es ziemlich kompliziert.« Nach einem Augenblick des Schweigens sagte sie: »Ein Haus wie dieses zu verkaufen ist nicht ganz einfach.« »Da haben Sie recht.«
»Ich rufe Sie wieder an, wenn es etwas Neues gibt«, sagte sie. »Tut mir leid, daß ich Ihnen vorhin so zuge setzt habe. Das Haus macht mich ganz nervös.« »Das ist normal«, beruhigte sie ihn. »Über Besichtigungstermine brauchen Sie mich nicht zu informieren. Die können Sie ganz nach Belieben vereinbaren. Ich brauche nicht alle Einzelheiten zu wissen. Wichtig ist nur, daß es verkauft wird.« »Ich rufe Sie an«, sagte sie. »Ich werde mich beruhigen«, sagte er. ***
Am Donnerstag Nachmittag rief sie wieder an. »Hallo, hier spricht Jennifer«, sagte sie. Sie hörte sich gutgelaunt an. »Na, wie läuft's?« fragte er. »Ganz gut, glaube ich. Wir haben das Haus zehn oder zwölf Leuten gezeigt. Es besteht kon kretes Interesse.« »Sie waren aber fleißig! Was ist das für 'n Lärm im Hintergrund?« »Ich rufe Sie aus dem Auto an.« »Sie haben ein Autotelefon?« »In diesem Geschäft ist das ein absolutes Muß.«
»Vielleicht sollte ich mir auch ein Autotelefon zulegen. Ganz bestimmt sogar. Dann könnten Sie mich auch in meinem Auto anrufen, und wir wären einander ebenbürtig. Ich hab's nicht gern, wenn jemand mobiler ist als ich.« »Warum nicht?« »Laufen war schon immer mein Lieblings sport«, sagte er. »Auf der Highschool und am College bin ich immer die Meile gelaufen. Die mobilste Person gewinnt.« »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich am Samstag Vormittag um zehn gern mit zwei In teressenten vorbeikommen würde. Es ist die Frau, die das Haus schon einmal besichtigt hat, und ihr Mann. Leider hat ihr Mann nur am Samstag Zeit. Nebenbei bemerkt, ist es das erste Mal, daß sie ihn darum gebeten hat, sich ein Haus anzusehen.« »Und das ist ein gutes Zeichen?« »Vielleicht.« »Sie sagen, daß Sie schon lange für diese Kun din arbeiten?« »Ja, aber eigentlich ist nicht sie die Kundin. Sie sind unser Kunde. Wir vertreten Sie.« »Hört sich gut an.« »Also dann, Samstag Vormittag um zehn?« »Ich werde da sein«, sagte er. »Ist Ihnen das recht?«
»Mir ist es durchaus recht, wenn es Ihnen recht ist.« »Ich habe übrigens Besuch.« »Ich kann den Termin noch verlegen«, sagte sie. »Sie werden bestimmt nichts gegen diesen Be sucher einzuwenden haben.« »Also dann um zehn Uhr.« ***
Am Freitag in der Mittagspause ging er in eine Drogerie und stellte sich vor das Regal mit Haarfärbemitteln. Er griff sich eine Schachtel Kastanienbraun, die versprach: »Natürliche Wirkung. Überdeckt graue Haare.« Genau das Richtige für Randall, die weißen Flecken in sei nem Fell waren bestimmt mit menschlichen grauen Haaren vergleichbar. Am Abend zog sich Lake ein altes Unterhemd, Bluejeans und Gummihandschuhe an, lockte Randall in ein Badezimmer in der oberen Etage, schloß die Tür ab und machte sich ans Werk. Er füllte die Applikationsflasche, verteilte die Farbpaste über den weißen Streifen auf Ran dalls Kopf und paßte höllisch auf, daß nichts davon in seine Augen kam. Dann verteilte er etwas auf der weißen Brust und einer Schulter. Er hielt Randall in der Armbeuge fest, wäh
rend er das Fell einschäumte. Anfangs ver suchte Randall, sich aus seinem Arm zu win den, aber nach einer Weile gab er auf. »Keine Angst«, beruhigte ihn Lake, »du wirst sensatio nell aussehen.« Vierzig Minuten lang blieben sie sitzen und warteten. Lake hielt nur durch, weil er sich sagte, daß er eine wahre Meister leistung vollbracht hatte. Leider hatte er nicht daran gedacht, den tragbaren Fernseher ins Badezimmer zu stellen, um sich die Zeit zu ver treiben. In der Anleitung für das Färbemittel hätte sich ein Tip zur Überwindung der Lange weile nicht schlecht gemacht, fand er. Tip: Denken Sie daran, während der Einwir kungszeit des Mittels etwas gegen die Lange weile zu unternehmen. Wir empfehlen ein kleines, tragbares Fernsehgerät, falls die Um stände es nicht zulassen, die Seiten eines Bu ches umzublättern. Mit dem abschließenden Spülvorgang in der Badewanne erklärte Randall seine bisherige Zusammenarbeit heftig strampelnd als been det. Als Lake später sein Werk betrachtete, stellte er fest, daß Randalls dunkle Stellen im Fell sich nun zweifarbig präsentierten und das Kastanienbraun seiner einstmals weißen Brust merkwürdig fleckig wirkte. Dennoch wertete er die Behandlung insgesamt als Erfolg: Nie
mand konnte diesen Hund mehr mit seinem Vorgänger verwechseln. »Du siehst um Jahre jünger aus«, sagte er. Während Randall trocknete, rief Lake seine Schwester in Martha's Vineyard an. »Ganz be stimmt geht es dir gut«, sagte er zur Begrü ßung. »Wie bitte?« »Ich gebe nur eine Frage von Vere weiter. ›Be stimmt geht es Ihrer Schwester gut‹, hat er ge sagt. Ich war letztes Wochenende auf einer Cocktailparty bei ihm eingeladen.« »Und was hast du ihm geantwortet?« »Ich habe gesagt, daß ich auch sicher bin, daß es dir bestimmt gutgeht. Hör zu, ich bin in un gefähr zwei Wochen in Nantucket. Kann ich bei euch auf einen Besuch vorbeikommen?« »Ja. Aber ruf vorher bitte kurz an.« »Ich habe das Haus zum Verkauf gegeben. Nicht öffentlich, übrigens. Es ist eher eine ver deckte Operation.« »Du gehst ja ganz schön ran. Was hast du mit dem Hund gemacht?« »Ich gebe dir meine persönliche Garantie, daß es dem Hund gutgeht. Randall weilt zwar nicht mehr unter uns, aber dem Hund geht es gut, und es wird ihm auch weiterhin gutgehen.« »Ich glaube nicht, daß ich etwas davon hören
will.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Obwohl, ein Problem habe ich: Jennifer ist die Maklerin.« »Und warum ist das ein Problem?« »Vere ist ihr Großvater.« »Nein. O nein! Ich wußte, ich hatte etwas ver gessen.« »Ich habe es gerade erst herausgekriegt.« »Ich hätte sie dir nie vorschlagen sollen«, jammerte Karen. »Wer hätte das denn ahnen können? Dich trifft keine Schuld.« »Such dir 'nen anderen Makler, Lake. Mr. Vere wird ernstlich böse, wenn er herausfin det, daß du das Haus verkauft hast.« »Da kann ich ihm auch nicht helfen. Er hätte nicht zulassen sollen, daß Tante Ilsa einen so verrückten letzten Willen verfasst.« »Und was glaubst du, wie er reagieren wird, wenn er herausfindet, daß Jennifer darin ver wickelt ist? Er wird bestimmt denken, daß sie von Anfang an mit dir unter einer Decke ge steckt hat.« »Aber das stimmt ja gar nicht.« »Das läuft so nicht«, sagte Karen. »Du solltest dir wirklich einen anderen Makler suchen. Wenigstens das solltest du machen.«
»Kann ich nicht. Ich habe einen Vertrag un terschrieben.« »Dann erzähl Jennifer von dem Testament. Sag ihr, daß ihr Großvater der Testamentsvoll strecker ist. Dann soll sie selbst entscheiden, was sie tun will.« »Und wenn sie mit ihm darüber spricht, ras tet er vollkommen aus.« »Erzähl's ihr. Du mußt es ihr sagen.« Lake dachte darüber nach. Das wäre das Dümmste, was er tun könnte. Selbst wenn Jen nifer ihrem Großvater nicht reinen Wein ein schenken sollte, könnte sie den Vertrag kündi gen; außerdem würde sie Lake wegen seiner Unaufrichtigkeit verachten. »Und du glaubst wirklich, was du sagst, ja?« fragte er. »Aber natürlich.« »Es gibt keine andere Möglichkeit?« »Keine«, sagte sie. »Daß gerade mir das passieren muß!« »Du mußt es tun.« »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er. »Da wir gerade beim Thema sind, habe ich noch eine andere Frage: Hat Jennifer eigent lich einen festen Freund? Ich meine, geht sie mit jemandem? Weißt du das zufällig?« Sekunden verstrichen, während Karen seine Frage verdaute. Er spürte, wie Wellen von Arg
wohn mit Lichtgeschwindigkeit von Martha's Vineyard nach Philadelphia rasten. Schließ lich: »Weshalb fragst du?« »Ich möchte es nur gern wissen.« »Deshalb hast du also angerufen, oder?« frag te Karen. »Ich habe dich nur um eine ganz normale Auskunft gebeten.« »Klar.« »Und, hat sie einen Freund?« »Das sag ich dir, wenn du ihr von dem Testa ment erzählt hast.« »Ich verspreche dir, ich werde sie nur aus der Entfernung anbeten. Im Ernst. Ich bin nur neugierig.« »Sie hatte eine Zeitlang einen«, sagte Karen, »aber der ist nach Kalifornien gegangen. Aber es wäre ohnehin nichts geworden.« »Sie wohnt mit ein paar Leuten in einem Haus«, sagte Lake. »Ich hätte dir Jennifer niemals empfehlen sollen.« »Doch. Es war ein guter Vorschlag, wenn man von der Geschichte mit ihrem Großvater ab sieht, aber das konnte ja keiner wissen. Keine Angst, mein Leben ist ausschließlich der Arbeit gewidmet.« »Sehr gut.«
»Nie glaubst du mir«, klagte Lake. »Ich glaube dir fast immer, aber nur weil ich weiß, wann ich dir nicht glauben darf.« Diese Antwort gefiel ihm überhaupt nicht, aber er mußte zugeben, daß sie eine gute Schwester war. »Ich werde mir überlegen, wie ich ihr das mit dem Testament am schonends ten beibringe. Aber im Moment habe ich noch kein richtiges Rezept.« »Erzähl's ihr.« ***
Am Samstag Vormittag um Punkt zehn läutete es. Randall begleitete Lake an die Tür. Er machte sie weit auf, um seine Gäste hereinzu bitten. Jennifer warf einen überraschten Blick auf den Hund und sprach Lake mit rein ge schäftlichem Ton an. »Ich hoffe, wir stören nicht.« Hinter ihr stand ein Mann in Tweed und eine Frau in Tweed. »Mr. und Mrs. Dank myer«, sagte sie, »Mr. Stevenson.« »Guten Morgen. Kommen Sie doch bitte her ein«, sagte Lake. Das Paar folgte Jennifer über die Türschwel le. Ihr Auftreten war distanziert, als wollten sie ihm zu verstehen geben, daß das Haus in zwischen ein nicht definiertes Territorium war, es war das ihre ebensogut wie das seine.
»Ich bin im Garten«, sagte Lake. »Sehen Sie sich nur gründlich um.« Eine halbe Stunde lang las er im Garten Zei tung. Dann stand er auf und folgte Randall ins Haus, weil er vermutete, seine Besucher wären bereits gegangen. Jennifer stand mit ver schränkten Armen mitten im Wohnzimmer. »Sie sind also noch da«, sagte er. »Sie sind oben.« »Ich dachte, sie wären schon fort.« »Soll ich ihnen sagen, daß sie sich beeilen sol len?« »Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie sehr interessiert waren.« »Ihn kann ich nicht einschätzen, aber sie ist bestimmt interessiert. Ganz sicher.« »Mir wäre das nicht aufgefallen«, sagte Lake. Sie standen sich schweigend gegenüber. Er zermarterte sein Gehirn, wie er ihr die Ge schichte mit der Beziehung ihres Großvaters zu seiner Tante und zu diesem Haus am besten erzählen konnte. Damit müßte er beginnen, al les weitere würde sich dann ergeben. Er würde ihr die Geschichte in Etappen erzählen, damit sie sah, daß er keine andere Wahl hatte – er würde sagen, daß das Testament eigentlich ein Knebelvertrag war, möglicherweise sogar ver
fassungswidrig, ein Bruch von Artikel vierzehn der amerikanischen Verfassung. »Ich wußte nicht, daß Sie einen Hund haben«, sagte Jennifer. »Ich habe ihn momentan in Pflege. Er ist der Besuch, von dem ich Ihnen erzählt hatte.« »Ach so.« Er wartete auf ihre Frage, wem der Hund ge höre, aber sie sagte nichts. Er entschloß sich, ihrer Frage zuvorzukommen. Dazu mußte er sich einer letzten, winzigen Lüge bedienen, ob wohl es eigentlich gar keine richtige Lüge war, eher eine Metapher: »Meine Tante hatte einen Hund wie diesen hier«, sagte er. »Er hieß Ran dall.« Er ging zum Tisch am Fenster und nahm das Foto von Randall, das ihn in Maine auf ei nem Segelboot zeigte. Er ließ sie einen Blick darauf werfen. »Das ist ihr Hund. Der hier heißt Renard. Gleiche Rasse, nur daß Renard ein dunkleres Fell hat.« »Hallo, Renard«, sagte sie und beugte sich hinunter, um ihn zu streicheln. »Mögen Sie Hunde?« fragte Lake. Sie nickte. »Hatten Sie als Kind einen?« »Einen Labrador.« »Springer-Spaniels sind tolle Hunde. Sehr einfallsreich.«
»Sie sollten sich einen anschaffen«, sagte sie. »Ich hab schon einen.« »Ich dachte, daß Sie diesen Hund nur in Pfle ge haben.« »Vielleicht werde ich ihn behalten.« Sie schwieg. »Stört es Sie, daß er im Haus ist, wenn Sie mit Interessenten kommen?« »Nein.« »Vielleicht ist es sogar von Vorteil. Das Haus sieht dann irgendwie bewohnter aus. Aber lie ber wäre es Ihnen schon, wenn er nicht hier wäre, oder?« »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete sie. »Es spielt wirklich keine Rolle. Der Hund ist Teil des großen Geheimnisses.« Lake blinzelte. »Wie meinen Sie das?« »Vergessen Sie, was ich gesagt habe.« »Okay«, sagte Lake. »Ich weiß, was Sie mei nen.« Er stellte das Foto wieder auf den Tisch und rückte es zurecht. Von oben hörte er Stim men. Die Dankmyers würden bald herunter kommen. Während er das Foto betrachtete, spürte er, wie ihm die Schamröte ins Gesicht stieg. Er dachte: Warum gerade jetzt? Warum jetzt, nachdem ich schon wochenlang wie wild herummanövriere? Aber das Gefühl war so stark, daß er wußte, es hatte sich schon die
ganze Zeit in ihm versteckt. Jennifer wandte sich zum Gehen. Lake sagte: »Ich würde mich gern mit Ihnen über diese Geschichte unterhalten. Das Ge heimnis, Sie wissen schon.« »Natürlich.« »Eigentlich gibt es gar kein Geheimnis. Es ist, besser gesagt, eine Verpflichtung, und ich weiß nicht genau, wie ich damit umgehen soll.« Sie beobachtete ihn. »Es wäre gut.« »Was wäre gut?« »Darüber zu reden.« Offenbar wußte sie nicht, was sie sagen sollte. Dann blinkte eine Alarmlampe in seinem Kopf. Er wollte seine Worte unterdrücken – zu spät. »Könnten wir uns vielleicht bei einem Abendessen darüber unterhalten?« »Ich glaube nicht.« »Ich würde mich sehr darüber freuen.« »Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist.« »Sie haben recht«, sagte er. »Vielleicht haben Sie recht.« Ihr Haar war leicht zerzaust; ihr Gesichtsaus druck verriet Unwillen und vielleicht auch et was Traurigkeit. Lake ließ seine Scham zu. Gnadenlos brannte sie in seinem Gesicht. Er bückte sich und streichelte Randall, damit sie
sein Gesicht nicht sehen konnte. Jennifer ging zur Haustür. Als sie fort war, ließ das Gefühl nach, ver schwand aber nicht. Er packte einen Koffer, hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeant worter im Büro und verließ mit Randall Chest nut Hill in Richtung Norden – Nantucket, wenn möglich, aber auf jeden Fall fort von die sem Haus, von dieser Vorstellung, die er abge geben hatte. An der ersten Autobahnraststätte hielt er an und telefonierte. Nach mehreren Anrufen und ebenso vielen Diskussionen über Haustiere hatte er einen Platz gefunden. Am späten Nachmittag stellte er sein Auto auf dem Parkplatz vor dem Fähranleger am Cape Cod ab und kaufte sich eine einfache Fahrkarte zur Insel. Er setzte sich auf das Oberdeck der Fäh re. Die großen Dieselmotoren erwachten brummend zum Leben und steuerten über den Nantucket Sound aufs Meer hinaus. Möwen se gelten über ihm in der Luft und stießen kräch zende Schreie aus. Randall beobachtete sie bei ihren Flugmanövern, wie sie sich näherten, wieder in die Lüfte schwangen und erneut her abstießen. Und auch sie beobachteten ihn mit ihren gelben Augen.
8 »Sie hatten Glück, daß wir noch ein Zimmer frei hatten«, sagte Mrs. Hayes. »Normalerwei se sind wir um diese Jahreszeit ausgebucht. Aber gestern hat jemand seine Reservierung storniert.« »Glück ist sozusagen mein zweiter Vorname«, sage Lake. Auf der Stelle bedauerte er diesen überflüssigen Kommentar: Seit zwanzig Minu ten saß er im Salon der Pension und plauderte ungezwungen mit seiner Vermieterin, wäh rend sie strickte. »Eigentlich ist mein zweiter Vorname Drew«, sagte er. »Drew.« »Ein Verwandter mütterlicherseits. Aber ei ner, der tatsächlich vom Glück verfolgt ist. Ich halte Sie doch hoffentlich nicht vom Zubettge hen ab?« »Aber nein. Meine Schlafenszeit ist um Punkt zwölf.« »Gemütlich haben Sie's hier.« »Freut mich, daß es Ihnen gefällt.« Randall winselte im Schlaf, zuckte immer wie der, offenbar war er auf der Jagd nach einem Traumtier. Mrs. Hayes bemerkte: »Sie haben einen hübschen Hund.« »Im Moment scheint er etwas desorientiert zu sein.«
»Mein Rory ist letztes Jahr gestorben. Bis jetzt habe ich mich noch nicht zu einem neuen Hund durchringen können.« »Das tut mir leid.« »Er war ein stattlicher alter Herr.« »Sie sollten sich wieder einen Hund anschaf fen. Was für eine Rasse war er?« »Ein Neufundländer.« »Ich glaube, daß ein Springer-Spaniel gut zu Ihnen passen würde. Ich habe das Gefühl, daß diese Hunde das Meer lieben. Renard war schon öfter beim Segeln.« »Haben Sie selbst die Absicht, hier zu segeln?« »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekom men. Bestünde denn die Möglichkeit?« »Ja. Sie können ein Segelboot mieten. Kennen Sie Nantucket?« »Nur von einem Reiseartikel. Ich habe mich spontan entschlossen, hier Urlaub zu machen. Vielleicht werden wir auch nur Spazierenge hen.« »Sie können den Hund gern bei mir lassen, so oft Sie möchten. Er scheint ja sehr gut erzogen zu sein.« »Vielen Dank«, sagte Lake. »Heute Abend bleiben wir zu Hause. Es war ein langer Tag.« Sie zog sich in ihre eigene Gedankenwelt zu
rück. Die Stricknadeln klapperten wie ein Me tronom. »Dürfte ich Ihnen bitte eine persönliche Frage stellen?« fragte er. »Mir geht gerade etwas durch den Kopf.« Er mußte einfach darüber sprechen. »Aber sicher.« »Hätten Sie wirklich nichts dagegen?« »Ich weiß ja noch nicht, was es ist.« »Also, ich möchte Sie folgendes fragen: Haben Sie in Ihrem Leben einmal jemanden gekannt, dem Sie anfangs nicht getraut haben, später aber dann doch? Ich würde gern die Ansicht ei ner Frau hören.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihre Frage richtig ver standen habe«, sagte sie und beobachtete ihn über ihre Brille hinweg. Sie legte ihr Strick zeug zur Seite. »Es ist schwer zu erklären. Ich meine, jemand tritt gleich von Anfang an voll ins Fettnäpf chen. Ein Mann. Er macht ein paar blöde Feh ler. Täuscht irgendwas vor. Aber vielleicht fan den Sie dann heraus, daß er gar nicht so schlecht war, wie es den Anschein hatte.« »Das passiert in Beziehungen doch häufig.« »Ja, vielleicht. Leider sprechen wir gerade über mich.« »Aha.«
»Keine wirklich großen Fehler; eigentlich weiß die betreffende Person nicht einmal ge nau, welche Fehler es sind. Sie ahnt nur, daß etwas nicht stimmt.« »Mögen Sie diese Person?« »Irgendwie schon. Ich meine, es könnte sich entwickeln. Aber es ist noch völlig vage. Ei gentlich ist es eher so, daß ich ihr unsympa thisch bin. Und das möchte ich ändern.« »Kennen Sie sie schon lange?« »Ein paar Wochen.« »Oft heilt die Zeit die Wunden.« »Ich hoffe, Sie haben recht, Mrs. Hayes.« »Das ist dabei natürlich ein besonders wichti ger Aspekt.« »Was, bitte?« »Hoffnung. Sich Gedanken machen.« »Ich habe nicht allzu viel Hoffnung. Ich glau be, ich stehe auf verlorenem Posten.« Ein paar Minuten lang herrschte Stille im Raum. »Bitte sagen Sie, wie Sie das meinen, daß Zeit die Wunden heilt, Mrs. Hayes.« »Also, ein typisches Beispiel ist Alfred – mein Mann.« »Ging es dabei auch um mangelndes Vertrau en?« »Ja.«
»Ich möchte keine Details wissen, aber erzäh len Sie mir doch bitte, wie es war, als er Sie zum ersten Mal um ein Rendezvous bat. Was antworteten Sie ihm?« »Ich lehnte ab.« »Genau. Das entspricht genau meiner Erfah rung. Aber offensichtlich gab er sich ja nicht mit Ihrer Antwort zufrieden, nachdem Sie jetzt mit ihm verheiratet sind.« »Ich lehnte mehrmals ab.« »Wie lange?« »Zwei Jahre.« »Zwei Jahre?« sagte Lake. »Ja. Vielleicht war es auch etwas weniger.« »Darf ich Sie fragen, warum? Ich möchte nicht neugierig sein, aber hatten Sie dafür einen bestimmten Grund?« »Ich dachte, daß er mit Amelia Roberts ging. Auf jeden Fall dachte sie das.« »Sie hatten also das Gefühl, daß er unehrlich war?« »Ja, allerdings.« »Vielleicht war es nicht ganz so einfach. Viel leicht hatte er sich in etwas hineinmanövriert.« »So könnte man es auch sehen.« »Bei Ihnen hat sich am Ende alles geregelt. Al fred hat alles klargestellt, oder? Nach diesen
zwei Jahren fragte er Sie also nochmals und Sie sagten ja. War danach alles in Ordnung? Offensichtlich schon, oder?« »Nein, keineswegs.« »Ach. Und was ist passiert?« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das alles erzäh len soll.« »Nur wie die Geschichte ausgegangen ist; bis Sie mit ihm ins reine gekommen sind, bitte.« »Nun ja, es hat eine Weile gedauert. Alfred hatte damals manchmal Probleme mit der Wahrheit. Er legte nicht so viel Wert darauf, wie nötig gewesen wäre.« »Aber Sie haben ihn geheiratet.« »Drei Jahre später.« »Drei Jahre«, sagte er. »Wie lange sind Sie schon verheiratet?« »Siebenundvierzig Jahre.« »Es hat also zwei Jahre gedauert, bis Sie mit ihm ausgegangen sind, drei weitere Jahre, bis alle Missverständnisse geklärt waren, und dann noch siebenundvierzig Jahre? Das ist gar kein so schlechtes Zeitverhältnis, wenn man es genau betrachtet, wenn man es langfristig sieht.« »Alfred war ein guter Mann. Aber er hat mir ganz schön zu schaffen gemacht.« »Aber es hat sich schließlich gelohnt«, sagte
Lake. »Manchmal lohnt es sich.« Sie packte ihr Strickzeug ein. »Von acht bis zehn gibt's Früh stück.« »Ich werde früh aufstehen. Immer auf Achse.« ***
Geduld. Vielleicht entsprach diese Tugend nicht gerade seinem Temperament, aber einen Versuch war es wert. Als Mitternacht vorüber und er gerade dabei war, wegzudämmern, traf er eine Entscheidung: Das nächste Mal würde er Jennifer am elften Juli um ein Rendezvous bitten, genau in einem Jahr, gerechnet ab heu te. Alfred und Mrs. Hayes' nordische Zurück haltung war nicht geboten. Philadelphia lag in einer wärmeren Klimazone als Nantucket; das Leben dort hatte einen schnelleren Rhythmus. Eine einjährige Wartezeit war ein guter Vor satz, ein geduldiger Vorsatz. Wenn Jennifer in der Zwischenzeit jemand anderen kennenler nen sollte, hatte er eben Pech gehabt. Nichts im Leben ist ohne Risiko. Die Träume streckten ihre Fühler nach ihm aus, aber er hielt sie noch auf Abstand und überdachte sein Vorhaben. Selbst ein Jahr er schien ihm als zu lang. Er änderte den Zeit
plan: Das nächste Mal würde er Jennifer am elften Oktober um ein Rendezvous bitten, ge nau in drei Monaten. Bis dahin hätten sich alle Probleme in Zusammenhang mit dem Haus von selbst erledigt, und alle seine Ausweichma növer wären in Vergessenheit geraten. Drei Monate, ja, das war ein besserer Zeitraum. Aber der gesunde Menschenverstand gebot es, die dreimonatige Wartezeit schon ab dem Vortag, dem zehnten Juli, gelten zu lassen, da dies der Tag war, an dem er sie zum ersten Mal um ein Rendezvous gebeten hatte. Dadurch hätte er einen Tag gewonnen. Aber nachdem er sie schon am frühen Morgen gefragt hatte und seither Reue zeigte, sollte auch der Vortag schon in die Wartezeit einge rechnet werden. Demnach wäre der neunte Oktober der Tag, an dem er es nochmals versu chen wollte – falls er Lust dazu hatte. Er schlief ein. Am nächsten Morgen nahm er Randall an die Leine und ging mit ihm in die Stadt. Er setzte sich auf eine Bank und beobachtete die Men schen, die an ihm vorbeiströmten. Eine Horde Kids auf aufgemotzten Mountain Bikes sauste in sein Blickfeld, schoß einen Hügel hinauf und aus dem Blickfeld hinaus. Randalls Nase kräu selte sich, denn er sog den Duft von Kaffee und
Doughnuts ein. Später schlenderte Lake zum Hafenviertel hinunter, vertrieb sich die Zeit in einer kleinen Kunstgalerie, die Bilder von Bauernhäusern mit rosaroten Dächern ausgestellt hatte, und spazierte dann durch die Marina – eine Was serstadt mit einem Gewirr von Masten, Ruder booten und Funkantennen. Die Bewohner der schwimmenden Häuser waren wie Tiere in ei nem Zoo der Öffentlichkeit preisgegeben, nah men ihre Mahlzeiten ein, spielten Karten oder saßen vor dem Fernseher. Neben einem bulli gen Mann, der am Heck eines großen Motor bootes stand, blieb er stehen; auf dem Heck spiegel stand der Name: Herz-Klopfen. »Guten Morgen«, sagte Lake. »Witziger Name für ein Boot. Motoren klopfen doch auch, rich tig?« Der Mann paffte seine Zigarre und zuckte gleichgültig die Schultern. »Wieso haben Sie das Wort mit Bindestrich geschrieben?« »Was weiß ich.« Der Anblick der vielen Ruderboote brachte Lake auf eine Idee. Er entdeckte ein Anglerge schäft, lieh sich eine Wurfleine, kaufte ein paar Köder und fragte nach dem nächstgelegenen Strand hinter dem Hafen.
»Dort werden Sie aber nicht viel fangen«, sag te der Mann in dem Laden. »Ich mach's ja nur zur Entspannung.« Nach einem viertelstündigen Spaziergang hat te er die Treppe erreicht, die steil zum Strand hinunter führte. Dahinter dehnte sich eine Wasserwelt aus, glitzernd und vom Wind ge kräuselt, mit einer langgezogenen Brandung, die gemächlich vom Horizont heranrollte. Er spürte förmlich die Wölbung des Planeten. Er erahnte das Flüstern von Stürmen, die tausend Meilen entfernt tobten, den felsigen Kontinen talschelf, der in die Dunkelheit hinabtauchte, das Klappern der Hummerscheren und die Echogeräusche der Wale. Es war richtig, daß er hierhergekommen war. Jennifer hatte nicht das Monopol auf Instinkte. Den ganzen Vormittag warf er seine Angel nach Bluefish aus, der gerade woanders schwamm. Er zog seine Turnschuhe aus, rollte die Hosenbeine hoch und watete bis zu den Knien ins Wasser, um den Rhythmus des Mee res zu spüren. Manchmal wurde die Leine zu seinem verlängerten Arm, und er konnte sie in weitem Bogen der Sonne entgegenschleudern; der Haken schwang sich in einer Kurve in den blauen Himmel, produzierte bei der Landung eine kleine Wasserfontäne und tanzte zu ihm
zurück, wenn er an der Spule drehte. Randall rollte sich auf dem Sand zusammen und schlief die meiste Zeit. Zwischendurch tappte er herum, schnüffelte an Seegras, ange schwemmtem Holz und anderem interessan ten Strandgut. Eine Frau und ein kleiner Junge kamen zum Strand herunter. Sie lockte den Hund, und der Junge streichelte vorsichtig sei nen Kopf. Ein joggendes Pärchen blieb kurz stehen, um ihn zu tätscheln. Lake angelte. Sei ne Lippen schmeckten salzig. Seine Augen wa ren vom Sonnenlicht geblendet. Wieder und wieder hüpfte der Haken zurück, fischlos – aber er angelte nicht der Fische wegen. Er fühl te sich dem Boden unter sich verbunden, fest verankert mit der terrestrischen Materie, war wunschlos glücklich. Dann wurde er hungrig. Er verstaute sein An gelzeug, zog die Schuhe an, rief nach Randall und stieg die Treppe hinauf, während hinter ihm das Rollen der Brandung abebbte. Oben angelangt, schaute er auf die Uhr. Es war fast halb zwei. Die Datumsanzeige auf dem Ziffer blatt zeigte den elften Juli. Der neunte Oktober schien nicht mehr weit entfernt – kaum länger als ein Wimpernschlag für jemanden, der in langen Zeiträumen rechnete.
***
Körperliche Anstrengung war genau das, was er brauchte. Am Nachmittag joggte er mit Ran dall meilenweit zur Südküste, Lake schwamm im Ozean, während Randall am Ufer Wache hielt. Als die Sonne schon fast den Horizont berührte, kehrten sie um, trödelten nach Hau se. Später ging Lake allein auf Entdeckungsrei se. Er lauschte der Gitarre eines Straßenmusi kers, schlenderte nochmals zur Marina hinunter und beobachtete, wie sich die Schiffs eigner auf ihren Motoryachten den Abend ver trieben, trank ein Bier in einer Bar und kehrte dann zu seiner Frühstückspension zurück, wo er auf seinem Bett einen schlafenden Randall vorfand, erschöpft von den Anstrengungen des Tages. Lake scheuchte ihn vom Bett herunter, aber liebevoll. Am nächsten Morgen begrüßte ihn ein klarer, sonniger Tag mit einem Lüftchen, gerade stark genug, um die Fahnen zum Flattern zu brin gen. Lake trug seinen Kaffee zu einem Schau kelstuhl im Innenhof und betrachtete den Tag. Möwen zogen über den Himmel, Kletterrosen neigten sich an einer Schindelwand. Mary war bestimmt schon im Büro. Er überlegte sich, sie anzurufen, um sich auf dem laufenden zu hal
ten, aber eigentlich interessierte es ihn nicht. Statt dessen spazierte er mit Randall zum Leuchtturm hinaus, der am Ende des Hafens auf sandigem Grund stand. Dort verlief der Ka nal nahe der Küste, und eine bunte Mischung von Wasserfahrzeugen paradierte an ihm vor bei – Boote mit Außenbordmotoren, eine brummende Motoryacht, spitz wie ein Messer, Segelyachten, die beim Vorüberrauschen ihre Antifoulingfarbe präsentierten, ein verrosteter Trawler, ein Surfbrett, das sich gegen den Wind stemmte und über die Wellenköpfe don nerte. Eine halbe Stunde später hatte er einen Segelbootverleih ausgekundschaftet. Seine Segelerfahrung beschränkte sich auf einen Ausflug vor fünf Jahren mit Freunden, mit denen er auf einem Boot herumgealbert hatte, aber er glaubte, daß genaue Beobach tung ihm das nötige nautische Wissen ver schaffen würde. Er stand in einiger Entfernung vom Schwimmdock, über das die Leihjollen zu Wasser gelassen wurden. Der Wind blies be ständig und genau ablandig, in Richtung der Flotte von großen Yachten, die im Hafen an Bojen lagen. Vom Land wegzukommen wäre kein Problem – einfach das einzige Segel der Jolle ausfahren und sich vom Wind hinaustrei ben lassen. Um zurückzukommen, würde er
kreuzen müssen. Wie das technisch vor sich gehen sollte, wußte er nicht, wohl aber, daß das Segel ganz dicht gefahren werden mußte. In diesem Moment gingen ein Mann und ein kleiner Junge auf eine der festgebundenen Jol len zu, machten sie los, hüpften an Bord, zogen das Segel auf, stießen sich ab und legten die Pinne auf die andere Seite um. Das Boot drehte sich, und sie glitten davon. Lake beobachtete jede Bewegung mit Argusaugen und prägte sich die Abfolge genau ein; er war überzeugt davon, nun alle Handgriffe nachmachen zu können. Ein paar Minuten später lieferte eine weitere Mietjolle die notwendige Lektion für das Einlaufen in den Hafen. Ein sonnenge bräuntes Mädchen segelte das Boot allein. Sie fuhr ein paar Mal im Zickzack, und als das Boot die letzten Meter zur Pier zurücklegte, ließ sie das Segel flattern. Auch hier merkte sich Lake jedes winzige Detail. Er näherte sich dem Bootsverleiher. »Ich möchte für ein paar Stunden ein Boot mieten«, sagte er. »Können Sie segeln?« »Klar.« »Sind Sie schon einmal gesegelt?« »Natürlich.« »Wie gut können Sie segeln?« »Über dem Durchschnitt, würde ich sagen.«
»Sie müssen mir ein Pfand oder Ihre Kredit kartennummer dalassen.« »Gern.« »Sie müssen eine Schwimmweste anziehen.« »Das ist nicht nötig.« »Es wird aber verlangt. Das Ding müssen Sie immer anbehalten.« »Na gut. Und wie sieht's mit einer Schwimm weste für meinen Hund aus?« »Die Küstenwache kümmert sich nicht um Hunde.« »Kein Problem, er ist ein erfahrener Segler«, sagte Lake. »Ich nehme dieses hier.« Er zeigte auf das Boot, mit dem das Mädchen gerade hereingekommen war. Das Segel war noch auf getakelt, also könnte er sich die Peinlichkeit ersparen, unter den Augen des Bootsverleihers nach dem richtigen Seil zum Hochziehen zu su chen. Er hob Randall auf den Glasfasersitz, der direkt an eine Kiste mit einem Schlitz grenzte. Aber Randall hatte seine eigene Vorstellung davon, wo er sitzen wollte, und suchte sich einen Platz ganz unten im Bootsrumpf. Unter genauer Beachtung des soeben Gelern ten löste Lake die Festmacherleine, stieg ein und legte die Pinne auf die andere Seite um. Unter dem Winddruck glitt das Boot zurück und drehte sich. Das Segel schwenkte von al
lein hinaus. Er packte das Seil, das am Baum festgemacht war. Er legte die Pinne zur Mitte des Boots und bewegte sie ein paar Mal hin und her, um ein Gefühl für dieses flotte, kleine Gefährt zu bekommen. Die Jolle sauste los, mit schäumender Welle hinten und unbekanntem Ziel vorn. Er fand, daß er ein außergewöhnlich elegantes Ablegemanöver hingelegt hatte. Randall fühlte sich offensichtlich nicht wohl. Lake beschloß, eine Zeitlang nicht zu experi mentieren, zumindest so lange nicht, bis sich Randall beruhigt hatte und er den skeptischen Bootsverleiher weit achteraus gelassen hatte. Er legte einen Arm lässig an das Waschbord des Bootes und reckte sein Gesicht in die Son ne. Als er einen Augenblick später die Augen öffnete, stellte er fest, daß er vom Kurs abge kommen war. Schnell korrigierte er die Rich tung. Offensichtlich war permanente Aufmerk samkeit unverzichtbar, aber bald schon würde er die Kräfte des Windes und der Wellen meis tern können. Eine solche Herausforderung liebte er. Improvisation, ›learning by doing‹ – da spürte man, daß Leben in einem steckte. Sie hielten auf den Rand des Bojenfeldes zu. Um in sicherem Abstand vorbeizusegeln, drückte er die Pinne auf die andere Seite. Plötzlich ereignete sich Merkwürdiges. Der
Baum hob sich. Das Segel bauschte sich. Der Baum schwang wie eine große Sense quer über das Boot und verfehlte Lakes Kopf, der sich geistesgegenwärtig geduckt hatte, nur um Zen timeter. Das Boot drehte sich im Kreis, schwankte beängstigend. Das Segel rauschte auf die andere Seite und knatterte ohrenbetäu bend. Während er noch damit beschäftigt war, sich diese Vorgänge zu erklären, sah Lake, daß Randall sich auf den Boden des Bootes gekau ert hatte. »Kein Problem«, sagte Lake. Die nächsten Sekunden vergingen ohne weite re Vorkommnisse. Lake zog das Seil an, das den Baum unter Kontrolle hielt. Das Segel füll te sich und das Boot nahm wieder Fahrt auf. Er konzentrierte sich darauf, einen geraden Kurs zu steuern, und bald hatten sie die Yachten hinter sich gelassen, und vor dem Bug lagen keine Hindernisse mehr. Einige Zeit später kam er zu dem Schluß, daß der Wind das Segel deshalb auf die andere Sei te geworfen hatte, weil er die Pinne in die falsche Richtung gelegt hatte. Ganz vorsichtig drückte er die Pinne gegen das Segel und zog gleichzeitig das Seil am Baum an, genau wie es das sonnengebräunte Mädchen getan hatte. Nun fuhr das Boot in eine andere Richtung, etwa seitwärts zum Wind. Dennoch segelte er
eher mit dem Wind als zum Hafen zurück. Sollte das Boot etwa kaputt sein und er deshalb nicht mehr kreuzen können? Er drückte die Pinne weiter in die andere Richtung und trimmte das Segel. Die Jolle fuhr weiterhin quer zum Wind oder aber mit dem Wind und ließ sich nur noch schwer steuern. Er ging wie der auf seinen ursprünglichen Kurs zurück. Offenbar segelte das Boot ständig mit dem Wind, egal, was er tat. Er schaute sich nach einer Betriebsanleitung um. Es war keine da. Oberflächlich betrachtet, war es ein geradezu idyllisches Segeln: Mit Leichtigkeit tanzte das Boot über die Wellen. Aber wenn er es nicht schaffte, einen anderen Kurs zu fahren, könnte dieser Ausflug unge wöhnlich lang werden. Ein Handbuch wäre sehr hilfreich gewesen. Wichtig: Decken Sie sich vor jedem Segeltörn mit Proviant ein, auch wenn Sie nur einen kurzen Ausflug machen. Das Meer ist unbere chenbar. Er spähte voraus. Noch immer befand er sich im Hafen. Randall sah Lake unverwandt an. Zu beiden Seiten der Jolle glitten Sand und niedrige Hügel vorüber – möglicherweise in Reichweite, wenn er nur gewußt hätte, wie man das Segel anders setzt oder einen anderen
Kurs steuert. Mit hoher Geschwindigkeit nä herte sich ein Boot mit Außenbordmotor. Er wedelte mit beiden Armen, das Boot verlang samte seine Fahrt und kam heran. Vier Kids, Teenager, mit nackten Oberkörpern, schauten zu ihm herüber. »Was ist los?« fragte einer von ihnen. Lake zeigte auf Vorwindkurs. »Was liegt ei gentlich in dieser Richtung?« fragte er. »Wauwinet«, antwortete der Junge, der am Steuerhebel saß. »Was ist Wauwinet?« »Eine Stadt.« »Wie weit?« »'n paar Meilen.« »Das Boot hier segelt nur in eine Richtung.« »Ist das Schwert ausgefahren?« »Keine Ahnung. Glaub nicht.« Der Junge warf seinen Freunden einen Blick zu. »Hören Sie zu«, sagte er, »wir würden Sie ja abschleppen, aber leider haben wir keine Zeit. Wenn Sie möchten, kann ich Sie ans Ufer schleppen, aber entscheiden Sie sich schnell.« Lake winkte ab. »Ich wollte mir Wauwinet schon immer mal ansehen.« Der Junge drückte den Gashebel durch, und das Boot schoß davon, bis es nur noch ein klei ner Punkt am Horizont war. Lake und Randall
segelten ins Ungewisse. Eine halbe Stunde später lockte das Ende der Reise. Die Jolle steuerte auf Wauwinet zu, das Segel bauschte sich und das Seil zerrte an La kes rechter Hand. Die Stadt bestand offenbar nur aus einer Handvoll am Ufer aufgereihter Häuser. Einige Boote schwojten um ihre Bo jen, und eine lange Pier streckte sich von einer Art Hafenkneipe ins Meer. Er steuerte auf die linke Seite der Pier zu, suchte eine Lücke zwi schen den Booten. Er wollte direkt auf den Strand segeln. Sobald er wieder sicheren Bo den unter den Füßen hätte, würde er sich einen Jeep und einen Hänger mieten und die Jolle zum Ausgangspunkt seiner Reise zurück bringen. Während er über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, die sich ihm boten, trieb das Boot seitwärts ab und weigerte sich, dem nach links eingeschlagenen Kurs zu ge horchen. Er hielt genau auf die Pier zu und war nahe daran, sie zu rammen. Er warf die Pinne herum. Das Segel bauschte sich auf die inzwi schen bekannte Weise. Der Baum stieg hoch und wischte haarscharf an seinem Kopf vorbei. Das Seil verfing sich irgendwo, und das Segel füllte sich wieder. Wie von einer Riesenhand gepackt schlingerte die Jolle, tauchte mit der Nase unter Wasser und schaukelte furchterre
gend. Wasser floss über das Waschbord. Lake suchte nach einem Halt, fand keinen und fiel verdattert über Bord. Als er wieder zur Jolle hinübersah, trieb sie kieloben, das Segel lag im Wasser. Er sah keinen Hund. »Verdammt, verdammt!« Er wirbelte im Was ser herum und suchte nach ihm. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß sich Randall vielleicht unter dem Segel verfangen haben könnte. Er versuchte zu tauchen, aber die Schwimmweste hielt ihn an der Oberfläche. Er riß sie sich vom Leib und tauchte unter das Segel auf der Suche nach einem Hundekörper. Schließlich mußte er zum Luftholen an die Oberfläche. Als er ge rade wieder tauchen wollte, warf er einen Blick ans weniger als dreißig Meter entfernte Ufer. Dort stand ein Hund und beobachtete ihn. Lake richtete das Boot auf, packte die Festma cherleine und schwamm los. Bald ertasteten seine Füße festen Grund, und fünf Minuten später waren er und das klatschnasse Boot an Land. Er stand am Ufer und rang nach Luft. Ein Mann in Arbeitskleidung näherte sich. »Sie haben ganz offensichtlich ein Problem.« Lake hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. »Das kommt darauf an, von welcher Warte aus Sie es betrachten.« »Woher kommen Sie?«
»Nantucket.« »Und wie wollen Sie zurückkommen?« »Per Hubschrauber.« »Ich könnte Sie hinschleppen.« Er deutete auf einen verbeulten, weißen Kahn. »Das ist mein Boot.« »Ach, das wäre nett von Ihnen.« »Für fünfzig Dollar.« »Zehn«, versuchte Lake entrüstet zu handeln. »Nein, fünfzig.« »Ich habe einen Freund, der mich abschlep pen kann.« »Nun, vielleicht wäre ich mit fünfundzwanzig zufrieden, aber keinen Cent weniger.« »Okay«, willigte Lake ein. »Mein Hund hier ist vielleicht etwas mitgenommen. Ich sollte ihn besser nach Hause bringen.« »Mitgenommen?« »Ich war mir nicht sicher, ob er schwimmen kann«, sagte Lake. »Mann, das ist ein Spaniel. Der könnte um die ganze Insel schwimmen, wenn er wollte. Der war in weniger als zehn Sekunden vom Boot runter und am Ufer.« »Typisch.« »Sind Sie schon oft gesegelt?« »Hin und wieder.« »Wieso ist eigentlich das Schwert nicht her
untergelassen? Nicht gerade ideal, wenn man kreuzen will.« »Ach.« ***
Als er in die Pension zurückkam, rief er Karen an. »Was hältst du davon, wenn ich euch heute besuche?« fragte er. »Wann?« »In ein paar Stunden.« »Wo bist du?« »In Nantucket.« »Warum bist du jetzt schon da? Du wolltest doch erst in zwei Wochen kommen.« »Ich bin eben meiner Zeit voraus.« »Eigentlich paßt es mir nicht. Bleibst du län ger hier? Stephen kommt am Freitag. Komm doch am Wochenende.« »Ich möchte aber jetzt kommen.« »Ist irgend etwas los?« »Eigentlich nicht, aber ich möchte dich kurz besuchen.« »Na, dann komm.« Lake bedankte sich bei Mrs. Hayes, hetzte in die Stadt und erwischte gerade noch die Fähre nach Oak Bluffs. Von dort fuhr er mit dem Taxi quer über die Insel. Randall saß neben ihm. Das Taxi hielt an einem alten, mit Schindeln
gedeckten weißen Haus inmitten eines großen Rasens. Er läutete. Karen öffnete die Tür und lächelte. Dann sah sie Randall. »Du hast den Hund mitgebracht.« »Natürlich. Wo ich hingehe, da geht auch er hin.« »Du hast dich also entschlossen, ihn zu behal ten.« »Das ist nicht Randall«, sagte Lake. »Das ist Renard. Eine Art Ersatz.« »Du hast dir einen anderen Hund ange schafft?« »Um den leeren Platz in meinem Herzen zu füllen.« »Du kannst ihn nicht hereinbringen. Wir dür fen hier keine Haustiere haben. Bring ihn in ein Tierheim.« »Wir kommen herein.« »Bring ihn in die Garage.« »Wir kommen herein.« »Na, dann beeil dich, bevor die Nachbarn den Hund sehen.« Lake folgte ihr ins Haus. Drinnen war es luftig und hell; überall lag Kinderspielzeug herum, an den Wänden hingen Bilder mit Schiffsmoti ven. »Nett hast du's hier«, sagte er. »Wie ge fällt dir übrigens das Haus von Tante Ilsa in Maine?«
»Sehr gut«, sagte sie. Sie betrachtete Randall. »Er ist verfilzt.« »Mir gefällt das. Sieht lässig aus, finde ich.« »Was ist mit seinem Fell passiert?« »Er hatte einen Bootsunfall.« »Da, auf dem Kopf – diese zwei Brauntöne.« »Vermutlich war einer seiner Vorfahren ein Cockerspaniel.« Sie inspizierte das Fell und teilte es mit den Fingern. »Nein, ich glaub's nicht«, sagte sie. »Paß auf, du verletzt seine Gefühle.« »Du hast ihm das Fell gefärbt«, prustete sie. »Ach, woher denn! Das ist Renard.« Sie ließ sich in einen Stuhl fallen und schaute Lake entgeistert an. »Du bist völlig verrückt.« »Das ist Renard«, sagte er. »Okay, das ist Renard.« »Wo sind die Kinder?« »In der Küche.« Lake ging in die Küche. Emily saß im Pyjama an einem Tisch und spielte mit einem Löffel und einer Gabel ein Mutter-und-Vater-Spiel. Steebie thronte auf einem Babystuhl und ließ sich ohne Begeisterung von einem Babysitter füttern. Kinn und Lätzchen waren vollgekle ckert. »Hallo, ich bin Lake«, sagte er zu dem Mäd chen.
»Hallo.« »Der kleckert ganz schön rum, was?« »Er ist nicht gerade kooperativ.« Karen kam herein. »Margaret, das ist mein Bruder Lake. Emily, sag guten Tag zu deinem Onkel.« »Hallo, Onkalake«, sagte Emily, ohne von ih rem Spiel aufzusehen. Lake war froh, daß er gekommen war. Als die Kinder später im Bett lagen und der Babysitter nach Hause gegangen war, setzte er sich mit Karen ins Wohnzimmer. »Manchmal meine ich, daß ich geradezu auf Katastrophen programmiert bin«, sagte er. »Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.« »Ach wo«, sagte Karen. »Obwohl, einen Unterschied gibt es: Dad macht immer das, wozu er gerade Lust hat, und gibt sich nicht mal die Mühe, es zu verber gen. Ich mache auch, wozu ich gerade Lust habe, aber ich verberge es. Angst vor negativen Reaktionen, denke ich.« »Ihr beide seid sehr unterschiedlich, Lake.« »Manchmal wünschte ich, Tante Ilsa hätte mir ihr Haus nicht vermacht. Seitdem steht bei mir alles köpf.« »Hast du Jennifer über das Testament und ih ren Großvater aufgeklärt?«
»Nein.« »Das mußt du aber. Vielleicht ist es ihr ja egal, vielleicht sieht sie aber auch eine andere Mög lichkeit. Auf alle Fälle mußt du es ihr sagen.« »Das hatte ich auch vor. Aber ich bin's nicht richtig angegangen.« »Wie meinst du das?« »Ich hab sie zum Abendessen eingeladen. Ich wollte in gelöster Atmosphäre mit ihr spre chen. Ich dachte, daß es mir dann leichter fällt.« »Ich hab's gewußt.« Er zuckte die Achseln. »Das war wirklich bescheuert von dir«, sagte Karen aufgebracht. »Sie verkauft dein Haus. Sie ist die Maklerin. Sie zum Abendessen ein zuladen bringt sie, rein geschäftlich gesehen, in eine prekäre Situation – ganz abgesehen von der schon vorhandenen prekären Situation, von der sie ja noch nicht einmal etwas weiß.« »Sie hat schon was gemerkt.« »Daran bist du selbst schuld, Lake.« »Vielleicht denkt sie in drei Monaten anders. Bei solchen Sachen muß man sich in Geduld üben«, sagte er. Karen schwieg. »Ich habe ohnehin im Büro jede Menge zu tun.«
»Du magst sie.« »Ja, ich mag sie.« »Sie ist nicht dein Typ.« »Und wer ist mein Typ?« »Du warst beispielsweise in Charlotte ver knallt. Sie ist das genaue Gegenteil von Jenni fer, sie wuselt überall herum und will alles und jeden organisieren, kurz gesagt: ein Elefant im Porzellanladen.« »Charlotte ist in Ordnung. Sie brennt nur ein bißchen heller als die meisten anderen.« »Du bist auf sie abgefahren.« »Es war nie wirklich ernst«, sagte er. »Und außerdem ist sie jetzt eine Ehefrau.« »Wenn du das eine Ehe nennen willst, bitte. Frank Sibley ist das letzte Arschloch.« »Wir sprachen aber über Jennifer und nicht über Charlotte.« »Jennifer ist nicht die Art Frau, die du benut zen kannst«, sagte Karen. »Du meinst also, ich benutze sie?« »Etwa nicht?« »So hab ich's noch gar nicht gesehen.« »Es gibt niemanden, der andere Menschen nicht benutzt, selbst wenn er meint, es wäre anders«, sagte Karen. »Aber Jennifer würde das sofort merken. Sie hat einen wachen Ver stand, Lake.«
»Das kann ich leider nur bestätigen.« Sie schwiegen. Lake befürchtete, daß die Un terhaltung beendet war. Er würde zu Bett ge hen und am nächsten Morgen nach Philadel phia zurückfahren, ohne schlauer geworden zu sein. »Findest du, daß ich Jennifers Typ bin?« frag te er. »Ich meine, falls ich sie nicht benutzen würde.« Karen schüttelte den Kopf. »Ich habe es befürchtet«, sagte er. »Egal, ich werde sie jetzt ohnehin eine Weile nicht mehr sehen.« »Gute Idee.« Er schaute in die Dunkelheit hinaus. »Ich habe es versaut«, sagte er. »Komplett versaut.« »Vielleicht solltest du mit ihrem Großvater sprechen. Vielleicht könnte man die Bedingun gen ja etwas flexibel gestalten. Oder ich könnte mit ihm sprechen. Ihn aushorchen.« »Danke, das ist lieb von dir«, sagte er. »Aber mit diesem Problem muß ich selbst fertigwer den.« »Ich bin froh, daß du den Hund behalten hast.« »Der Hund macht nichts als Probleme«, sagte Lake. Er ging nach oben. Hinter ihm sagte Ka ren leise: »Vielleicht ist sie doch dein Typ,
Lake.«
9 Vielleicht würde die Zeit Jennifers Erinne rung an seine Unaufrichtigkeit auslöschen, al lerdings nur dann, wenn er den eingeschlage nen Weg nicht weiter verfolgte. Er würde das Haus nicht über sie verkaufen. Vielleicht wür de er es irgendwann später verkaufen – über einen anderen Makler –, aber sie würde damit nichts mehr zu tun haben. Falls er sie noch mals um ein Treffen bitten sollte und sie ihn näher kennen gelernt hätte, würde er ihr alles erzählen. Es war gut, daß er sie eine Weile nicht mehr sehen würde. Er hatte noch keine Vorstellung, wie er ihr alles erklären sollte. Am nächsten Morgen kämpfte er sich aus ei nem geträumten Meer mit schwimmenden Hunden, mit Steebie im Babystuhl und einem Motorboot, das dauernd im Kreis herumfuhr. Nachdem Karen, der Babysitter und die Kinder an den Strand gegangen waren, setzte sich Lake im Wohnzimmer neben das Telefon. Ver mutlich würde ihm dieser Anruf vom Autotele fon aus leichter fallen: die Worte würden nur so von seinen Lippen sprudeln.
Er wählte die Nummer von Jennifers Büro, bereit aufzuhängen, falls sich ihr Anrufbeant worter melden sollte. Aber sie hob selbst ab. »Jennifer Dee.« »Ich bin's, Lake.« »Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme klang unver bindlich. »Wie geht es Ihnen?« »Gut.« »Das freut mich. Hören Sie: Ich möchte Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Es sind nur zwei Dinge, die ich Ihnen sagen muß, möchte aber gleich betonen, daß das eine nichts mit dem anderen zu tun hat.« »Einen Moment bitte, ja?« sagte sie. Sie legte die Hand auf die Sprechmuschel. Er hörte, wie sie mit einer anderen Frau sprach, verstand aber nicht, was sie sagte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie dann in den Hörer. »Was sagten Sie gerade?« »Daß ich Ihnen zwei Dinge sagen muß.« »Einen Moment bitte.« Sie legte wieder die Hand auf die Sprechmuschel. Er hörte ein ge dämpftes Wort, das wie ›Gegenangebot‹ klang. Dann war sie wieder da. »Tut mir leid«, erklär te sie. »Ich bin mitten in einer Krisensitzung.« »Und daß sie nichts miteinander zu tun ha ben.«
»Wie bitte?« »In keiner bestimmten Rangfolge. Sie sind …« Wieder hörte er die Stimme der anderen Frau im Hintergrund. Jennifer sagte: »Kann ich Sie zurückrufen?« »Es dauert nur eine Minute«, sagte er. »Gut. Was hat nichts miteinander zu tun?« »Sie haben absolut nichts miteinander zu tun.« »Und was hat absolut nichts miteinander zu tun? Ich bin übrigens froh, daß Sie angerufen haben. Ich wollte Ihnen ohnehin berichten.« »In beliebiger Reihenfolge handelt es sich um die folgenden Dinge: Erstens – wegen ges tern … ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, Sie zum Essen einzuladen. Das hätte ich nicht tun sollen, und dafür möchte ich mich ent schuldigen. Es tut mir vorübergehend leid, wirklich. Ich wünschte, ich hätte es nicht ge sagt. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.« »Es tut Ihnen vorübergehend leid?« »Ja.« »Das verstehe ich nicht.« »Was verstehen Sie nicht?« »Was meinen Sie mit ›vorübergehend‹?« »Ach, nichts. Ich versuche nur, zwei einfache Sachen so ehrlich zu sagen, wie ich nur kann. Die zweite Sache ist die, daß ich das Haus aus
dem Angebot nehmen möchte. Ich muß es tun. Ich bin noch nicht bereit, es zu verkaufen.« »Sind Sie absolut sicher?« »Nichts ist absolut, aber ich bin sicher.« »Erinnern Sie sich noch an die Dankmyers, die Leute, die sich das Haus am Samstag ange sehen haben?« »Ja.« »Ich glaube, sie werden ein Gebot abgeben. Ich kann es Ihnen nicht garantieren, aber ich habe so ein Gefühl. Wenn Sie das Haus jetzt zurückziehen, haben wir sie als potentielle Käufer verloren. Ein Haus aus dem Angebot zu nehmen und es später wieder anzubieten geht nie ganz reibungslos über die Bühne.« »Es bleibt mir nichts anderes übrig.« »Können wir uns darüber unterhalten?« frag te sie. »Haben Sie morgen schon eine Verabre dung zum Mittagessen?« »Ich bin in Martha's Vineyard«, sagte er. »Was machen Sie da?« »Ich besuche Karen.« »Ich dachte, Sie wollten erst in zwei Wochen nach Nantucket?« »Ich hab's mir anders überlegt.« »Ach so.« »A propos, Mittagessen«, sagte er. »Vielleicht kann ich Sie später anrufen?«
fragte Jennifer. »Würden Sie mir Ihre Num mer geben?« »Fragen Sie mich doch noch einmal wegen des Mittagessens.« »Wenn Sie auf Vineyard sind, können wir kaum zusammen zum Mittagessen gehen. Ich könnte Sie morgen anrufen.« »Ich bin am Mittwoch wieder in Philadel phia.« »Können wir uns dann darüber unterhalten?« fragte sie. »Wie war das noch mit dem Mittagessen?« »Haben Sie am Mittwoch Zeit?« »Ja. Aber ich werde das Haus trotzdem aus dem Angebot nehmen.« »Ich möchte Ihnen nur klarmachen, was auf dem Spiel steht.« »Mir wird allmählich klar, was auf dem Spiel steht.« ***
Das Telefon in seinem Büro klingelte gerade in dem Augenblick, als er zum Treffen mit Jen nifer losfahren wollte. Es war ein Ingenieur, der ihm lang und breit die Funktion des Ven tils auf einem Propangastank erläuterte, aber Lake war zu zerstreut, um ihm richtig zuzuhö ren. Als er im Restaurant eintraf, saß Jennifer
schon an einem Tisch an der Längswand, wirk te cool und professionell und nippte an ihrem Eistee. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte er. »Einer unserer Kunden hatte Angst, daß wir unschuldige Anwender massenhaft einäschern wollen.« »Wie war Ihre Reise?« fragte sie. »Gut. Ich war ein bißchen segeln, aber allzu erfolgreich war ich nicht.« »Was ist passiert?« »Ich bin abgesoffen.« »Das hört sich ja schlimm an.« »So schlimm war's gar nicht.« »Hatten Sie schönes Wetter?« »Wunderschönes. Und wie war es hier?« »Den ganzen Montag über war's schlecht; erst gestern Nachmittag ist es schöner geworden.« »Der Garten könnte etwas Regen gebrauchen«, sagte Lake. »Wie geht's Karen?« »Gut. Arbeiten Sie gern im Garten?« »Ich habe keinen Garten.« »Aber angenommen, Sie hätten einen?« »Vielleicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich wird es heute Nachmittag regnen«, sagte er. »Ja, sieht ganz so aus.«
»Was halten Sie eigentlich von einem Gemü segarten? Vielleicht sollte ich in meinem Gar ten zwischen die Blumen Gemüse pflanzen – dann hätte ich wenigstens was davon.« »Sprechen wir über das Haus«, sagte sie. »Das tun wir doch schon.« »Ich meine, über die Möglichkeit, es noch eine Zeitlang im Angebot zu lassen.« »Über die Unmöglichkeit.« »Können Sie mir sagen, weshalb Sie es gerade jetzt zurückziehen möchten?« »Lieber nicht.« »Ist es schon durchgedrungen, daß es ver kauft werden soll? Wir waren wirklich sehr diskret.« »Das glaube ich Ihnen.« »Sie wissen, daß Sie uns schriftlich davon in Kenntnis setzen müssen, wenn Sie es aus dem Angebot nehmen möchten.« »Heute Nachmittag werde ich den Brief an Sie schicken.« Er erwartete, daß sie aufstand und ging. Aber sie blieb sitzen. »Jennifer, ich kann es im Mo ment einfach nicht verkaufen. Ich habe ein Problem.« »Ist es ein großes Problem?« »Ich weiß nicht recht. Ob Sie es glauben oder nicht, es hat etwas mit einem Hund zu tun.
Aber mehr will ich dazu nicht sagen.« »Das hört sich ja nicht gerade nach einem großen Problem an.« Er gab keine Antwort und spielte mit dem Be steck herum. Ihm fiel Emily ein, die mit einem Löffel und einer Gabel Familie gespielt hatte – ein Spiel, das niemals schief gehen konnte. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte sie dann. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Wir werden das Anwesen niemandem mehr zeigen. Wenn die Dankmyers es kaufen wollen, werde ich Sie darüber informieren. Die Dankmyers sind so weit, daß sie ein Gebot abgeben möch ten. Sie brauchen nur zuzuhören. Dann kön nen Sie nein sagen, wenn Sie möchten. Wenn Sie aber der Meinung sind, daß es ein gutes Ge bot ist, und glauben, daß Ihr Problem aus der Welt geschafft werden könnte, wären Sie viel leicht bereit, dem Verkauf zuzustimmen. Da mit wäre der Vertrag automatisch reaktiviert. Wir würden unsere Provision bekommen und Sie Ihr Haus verkaufen.« »Ich finde das den Dankmyers gegenüber un fair, weil ich bestimmt nein sagen werde.« »Sie verlieren nichts dabei, wenn Sie zuhören, und in diesem Stadium verlieren auch die
Dankmyers nichts. Deren Meinung steht fest. Ich habe ihnen gestern noch einmal das Haus gezeigt.« »Sie meinen, daß ich, egal, wie hoch das Ge bot ist, einfach nein sagen kann?« »Außer, Sie wollen ja sagen oder weiter ver handeln.« »Rechnen Sie damit, daß ich nicht nein sagen werde?« »Manchmal ändern Menschen ihre Meinung, wenn sie ein gutes Angebot bekommen. Die Dankmyers geben sich keinen Illusionen hin. Ich habe ihnen schon angedeutet, daß Sie dar an denken, das Haus aus dem Angebot zu neh men.« »Und wie haben sie es aufgenommen?« »Ich glaube, sie vermuteten, daß Sie damit schon im Vorfeld den Preis hochtreiben woll ten.« »Ich werde die Methoden in der Immobilien branche nie verstehen. Es kommt mir vor wie ein Spiegelkabinett.« »Ein wichtiger Aspekt unseres Berufes ist es tatsächlich, die Leute bei der Stange zu halten. Den Dialog nicht abreißen zulassen.« »Was mir dabei gefällt, ist der Dialog.« »Gut«, sagte sie. »Es ist eine Art, auf Zeit zu spielen, oder?«
»Gewissermaßen.« »Ich halte viel davon, auf Zeit zu spielen«, sag te er. »Den Dankmyers gefällt das Haus?« »Sehr gut.« »Und wie finden Sie es? Ich meine, nicht als Maklerin, sondern als normaler Mensch.« In diesem Moment erschien der Kellner, um die Bestellung aufzunehmen. »Dieses Restau rant ist bekannt für frischen Fisch«, sagte Lake. »Ich nehme einen Salat«, sagte sie. »Sie haben heute Bluefish auf der Speisekar te.« »Salat bitte.« »Bluefish läßt sich nur schwer fangen«, sagte er. »Man muß enorm viel Geduld aufbringen.« »Salat braucht lange zum Wachsen.« Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hat ten, unterhielten sie sich über Segelboote, und sie erklärte ihm, wie man richtig kreuzt. »Ich persönlich mag Motorboote lieber«, sagte er. Er beschrieb ihr Karens Ferienhaus auf Vi neyard – zu ungenau, wie sie fand. Sie wollte genaue Informationen über Zimmer, Quadrat meter und Ausstattung. Weder konnte er ihr sagen, wo die Waschmaschine und der Trock ner standen, noch, ob so etwas überhaupt im Haus war.
Als sie mit dem Essen fast fertig waren, fragte er: »Finden Sie, daß mein Haus ein Mausole um ist?« »Überhaupt nicht. Es ist etwas ganz Besonde res.« »Was ich eigentlich wissen wollte, ist: Finden Sie es verrückt, daß jemand wie ich in einem Haus wie diesem wohnt?« »Ich kenne Sie nicht sehr gut. Aber ich halte es nicht für verrückt.« »Im großen und ganzen bin ich derjenige, der ich zu sein scheine«, sagte er. »Mit ein paar Macken, aber ich bemühe mich, sie auszubü geln. Wissen Sie, was ich herausgefunden habe? Mir gefallen viktorianische Gemälde. Ob Sie's glauben oder nicht, sie gefallen mir wirk lich. Tante Ilsa hatte einen guten Geschmack.« Stille senkte sich über den Tisch. »Schmeckt Ihnen Ihr Salat?« fragte er schließlich. »Sehr gut.« »Wie geht es Ihrem Großvater?« »Sie meinen, meiner Großmutter?« »Richtig, Ihrer Großmutter. Wie geht es ihr?« »Gut, glaube ich.« »In Nantucket habe ich eine ältere Frau ken nen gelernt. Mrs. Hayes. Sie ist um die Siebzig. Sie rechnet in sehr langen Zeiträumen, irgend wie scheint sie ein völlig anderes Zeitmaß zu
haben.« »Vielleicht ist das normal, wenn man älter wird.« »Sie war aber schon so, als sie noch jung war. Sie hat mir erzählt, wie es war, bevor sie ihren Mann Alfred heiratete. Er hatte ihr vorher fünf Jahre lang den Hof gemacht.« »Vielleicht waren sie nicht sicher, ob sie zu einander passen«, sagte Jennifer. »Alfred war sich sicher.« »Wissen Sie das genau?« fragte Jennifer. »Nun ja, er hat jedenfalls nicht lockergelas sen.« »Auch das ist keine Garantie für tiefe Gefühle«, sagte sie. »Manche Menschen mei nen, daß ihnen am anderen etwas liegt, aber ihre Gefühle halten da oft nicht mit.« »Ist Ihnen so etwas schon einmal passiert?« fragte Lake. »Ja.« »Mir auch«, sagte Lake. Nach einer Pause sagte er: »Eigentlich wollte ich nicht über so ernste Dinge sprechen.« »Ist schon in Ordnung.« »Möchten Sie Kaffee?« »Nein danke.« Sie dachte über etwas nach. »Ich war übrigens damals am Samstag ziem lich grob zu Ihnen«, sagte sie.
»Nein, waren Sie nicht.« »Ich hätte anders reagieren sollen.« »Das sollten Sie nicht sagen.« Plötzlich fühlte er sich merkwürdig verstimmt oder merkwür dig irgendwas. »Sie haben genau richtig rea giert.« Sie schüttelte den Kopf. Er überlegte, die gewonnenen Punkte bei Jen nifer zu konsolidieren. Dieses Mittagessen hat te zarte Bande einer freundschaftlichen Bezie hung zwischen ihnen geknüpft. Er sollte es vorerst dabei belassen. Es war genug. Viel leicht würde nie mehr daraus werden, obwohl er hoffte, daß eines Tages doch mehr daraus werden könnte; er spürte, daß sie viele Ge meinsamkeiten hatten, Resonanzpunkte sozu sagen. Sie hatte die Augen niedergeschlagen, war mit ihren Gedanken woanders. Er fühlte sich schwach. Die Schwäche breitete sich über sei nen ganzen Körper aus. Er sagte sich: Tu's nicht. Aber er würde es doch tun; er würde sie um ein Rendezvous bitten. »Jennifer«, sagte er. »Ich habe mir geschwo ren, es nicht zu tun, aber ich tu's doch. Darf ich Sie mal zum Abendessen einladen?« Schon während er es sagte, war ihm klar, daß er ihre Überraschung und ihre Entrüstung nicht wür
de ertragen können. »Am neunten Oktober«, sagte er. »In drei Monaten. Ach, vergessen Sie's einfach. Ich bin etwas von der Rolle. Nie mand plant so weit voraus. Sagen Sie, sind Sie satt? Ein Salat ist ja nicht gerade eine üppige Mahlzeit.« »Mal sehen«, murmelte sie. Sie zog einen le dergebundenen Terminkalender aus der Handtasche und blätterte, bis sie den Oktober gefunden hatte. »Sieht so aus, als hätte ich da noch nichts vor.« Sie zückte einen Füllfeder halter und notierte: Lake Stevenson. »Ich hole Sie um acht Uhr ab«, sagte er. Sie notierte sich die Zeit. »Ich hatte mir geschworen, Sie erst an diesem Tag zum Essen einzuladen«, sagte Lake. »Das hatte ich vorhin gemeint, als ich sagte, es täte mir vorübergehend leid.« »Ach so.« »Aber würden Sie vielleicht irgendwann frü her mit mir essen gehen? Vielleicht könnten wir ins Kino gehen.« »Okay.« »Tatsächlich?« »Ja.« »Morgen?« »Gut.« Sie trank ihren Eistee aus. Dann standen sie
vor dem Restaurant. »Und wir sind uns in allen Punkten einig?« »Vielleicht nicht in allen.« »Aber Sie waren damit einverstanden, sich das Gebot der Dankmyers anzuhören, falls sie in den nächsten Tagen eines abgeben sollten.« »Ich bin fest entschlossen«, sagte er. »Vielleicht doch nicht so ganz«, sagte sie. »Und wann kann ich wieder fest entschlossen sein?« »Bald«, sagte sie. ***
Als er an ihrer Haustür in Merion klingelte, öffnete ein kraushaariger Typ die Tür. »Ist Jennifer da?« fragte Lake. »Jennifer!« rief der Typ. Dann: »Komm rein. Ich bin Mike. Nimm Platz.« Er deutete auf ein abgewetztes Sofa und verließ den Raum. Lake warf einen kurzen Blick auf die Zeitschriften und Kataloge, die kreuz und quer auf dem Couchtisch lagen. Eine Dose Coca-Cola stand neben dem Telefon. Jennifer kam herunter. Sie trug einen dunklen Rock und eine blaue, ärmellose Sei denbluse. Er stand auf. Er dachte: Du bist schöner als irgend etwas anderes auf der gan zen Welt.
»Können wir gehen?« fragte sie. Er hielt ihr die Tür auf. »Das war Mike Rankin«, sagte sie auf dem Weg zum Auto. »Wie viele Leute, sagten Sie, wohnen im Haus?« »Sechs, aber zwei davon heiraten bald. Ich glaube nicht, daß es wieder sechs sein werden. Ganz schönes Chaos bei uns, nicht?« »Geht so.« »Für dieses Wochenende ist Hausputz ange sagt. Ich bin für die Küche zuständig.« »Wohnen Sie gern mit anderen Leuten zu sammen?« »Meistens schon. Wir kommen ganz gut mit einander aus, aber manchmal ist's ziemlich chaotisch.« »In meinem Haus ist das genaue Gegenteil der Fall. Nur ich und der Hund.« »Reynolds heißt er, oder?« »Renard.« »Aber er ist doch nicht Ihr Hund, oder?« »Momentan ist er mein Hund.« Er öffnete ihr die Autotür. »Sie sagten doch, Sie hätten kein Autotelefon«, sagte sie. »Ich war auf Ihres eifersüchtig.« Sie lachte. Er stellte sich vor, wie schön es
sein würde, neben ihr im Kino zu sitzen. »Ge hen wir doch zuerst ins Kino und danach zum Abendessen.« »Okay.« ***
Während eine wilde Autojagd über die Lein wand tobte und der Kinosaal erfüllt war vom Geräusch quietschender Reifen, berstenden Blechs und den Schreien entsetzter Fußgänger, war Lake mit seinen Gedanken ganz woanders. Er genoß es, neben ihr zu sitzen; ihr nackter Arm war ihm so nah, daß er sich gut vorstellen konnte, wie winzige Partikel zwischen ihr und ihm Quantensprünge vollführten. Als sie später im Restaurant saßen, sagte er: »Ich kann mich noch an Sie erinnern, da wa ren Sie so um die Dreizehn.« »Ich erinnere mich auch noch an Sie«, sagte sie. »Leben Ihre Eltern in Haverford? Vielleicht waren wir ja Nachbarn.« »Vor ein paar Jahren sind sie nach Florida ge zogen.« »Sie haben aber Verwandte in Philadelphia.« »Nur eine Tante, einen Onkel und ein paar Cousins. Und meine Großeltern.« »Haben Sie sich mit Karen noch oft getroffen,
nachdem sie nach Greenwich umgezogen ist?« »Wir sind immer in Verbindung geblieben«, sagte sie. »Sie sind nicht nach Greenwich mit gezogen, stimmt's?« »Dazu ist es nicht mehr gekommen. Als meine Mutter starb, war ich sozusagen auf dem Weg ins College.« »Das muß damals schwer für Sie gewesen sein.« »Das ist wahr«, gab er zu. »Karen sagte mir, daß sie damals das Gefühl hatte, die ganze Familie würde sich auflösen.« »Ich konnte einfach nicht bei meinem Vater wohnen. Karen schon, aber ich nicht. Mir hat es schon gereicht, wenn ich zu Besuch war. Aber ich hatte keine Ahnung, daß Karen es da mals als so schlimm empfunden hat. Ich mei ne, das Gefühl, daß sich die Familie auflöst.« »Das dachte sie wirklich.« »Das hätte ich damals gerne gewußt.« »Und was haben Sie nach dem College ge macht?« »Bei einer Werbeagentur gearbeitet. Bis ich meine eigene Firma gegründet habe.« »Ihre Arbeit gefällt Ihnen, oder?« »Sehr gut.« »Sie waren Fotograf. Einmal sind Karen und ich heimlich in Ihre Dunkelkammer geschli
chen. Als die Tür auf war, hatten wir ziemli chen Bammel, daß wir die Fotos ruiniert hat ten.« »Vermutlich war das auch so.« Sie lächelte schelmisch. »Sie waren damals eine ziemliche Schnatter liese. Daran kann ich mich noch erinnern«, sagte er. »Stimmt gar nicht.« »Andauernd haben Sie geplappert.« »Ich war noch nie eine Schnatterliese.« »Und jetzt sind Sie eine Sphinx.« »Stimmt gar nicht.« »Und, was sind Sie dann Ihrer Meinung nach?« »Ich befinde mich im seelischen Gleichge wicht«, sagte sie. »Obwohl das im Moment auch nicht ganz stimmt.« »Inwiefern?« fragte er. »Das verrate ich Ihnen besser nicht.« »Ich plaudere gern mit Ihnen«, sagte Lake. »Warum?« »Nur so.« Sie unterhielten sich über die Leute in ihrem Büro – über eine Frau namens Binky, deren Sohn Schwierigkeiten in der Schule hatte, eine Freundin namens Harriet, die ihr beruflich sehr geholfen hatte, einen Mann, der nach der
höchsten Position in der Firma strebte. »Wie heißt er?« fragte Lake. »Robert Tinley.« »Bob. Hätte ich mir denken können.« »Er ist sehr gut.« »Hüten Sie sich vor Menschen, die Bob hei ßen«, sagte er. »Sprechen Sie aus Erfahrung?« »Nicht direkt.« »Was hat Bob in Ihrem Fall angestellt?« fragte sie. »Das weiß ich eigentlich nicht so genau, aber ich bin sicher, daß er nicht alle Gebote Gottes achtet. Und außerdem legt er zu viel Wert auf Kleidung.« »Robert Tinley sieht immer wie aus dem Ei gepellt aus.« »Da haben wir's: Sie sind alle gleich.« »Ich hatte mal einen Freund, der Bob hieß.« »War er wie die anderen?« »Nein.« »War es eine ernste Geschichte?« »Eine Zeitlang schon. Dann stellte sich die Frage, ob eine ernste oder keine ernste Bezie hung daraus wird. Jetzt lebt er in Kalifornien.« Lake wartete. »Aber Ihre Bob-Theorie stimmt nicht«, sagte sie.
»Das ist normalerweise mit allen meinen Theorien so.« »Aber bei Leuten, die Amanda heißen, ist es allerdings etwas anderes. Vor denen muß man sich hüten.« »Und, ist keine ernste Beziehung daraus ge worden?« fragte er. »Woraus?« »Mit Bob. Mit dem, der nach Kalifornien ge gangen ist.« »Ach, mit dem ist überhaupt nichts gewor den.« Lake sah ihr an, daß sie die Wahrheit sagte. »Ich kenne eine Amanda«, meinte er. »Nicht gerade eine auffallende Erscheinung, aber trotzdem könnten Sie mit Ihrer Amanda-Theo rie recht haben.« Später meinte er: »Offenbar waren Sie nicht besonders von meiner Idee angetan, Gemüse zwischen die Blumen zu pflanzen.« »Da haben Sie recht.« »Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, aber was spricht dagegen?« »Was spricht dafür? Sie haben einen wunder schönen Garten.« »Ich könnte beispielsweise Salat anpflanzen.« »Oder sich im Supermarkt welchen kaufen«, sagte sie.
»Gemüse zieht Wildtiere an. Ich habe viel Zeit damit verbracht herauszufinden, was im hinte ren Bereich meines Gartens abgeht. Zum Bei spiel habe ich eine Spottdrossel, die immer Re den schwingt. Allerdings weiß ich nicht, wer ihr Publikum ist.« »Sie schützt ihr Revier.« »Vor wem?« »Vor anderen Spottdrosseln.« »Ach so.« »Haben Sie in der Nähe Ihrer Wohnung einen Park oder einen begrünten Hinterhof oder et was Ähnliches?« fragte sie. »Wir haben zwar einen Hinterhof, haben aber leider noch nichts daraus gemacht.« »Ich werde meine Wohnung aufgeben. Aber ich wäre ohnehin nicht mehr dorthin zurück gegangen, selbst wenn ich das Haus verkauft hätte. Es ist kein sehr gastliches Haus.« »Und wenn Sie umziehen, wo werden Sie dann wohnen?« fragte sie. »Weiß ich noch nicht.« »Werden Sie wieder eine Wohnung suchen?« »Ein Haus. Aber ich habe nicht vor, umzuzie hen.« Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Denken Sie gerade über ein Haus nach, das zu mir paßt?« fragte er.
»Ich versuch's wenigstens.« »Wie würde so ein Haus aussehen?« »Im Moment kann ich mir gar nichts vorstel len.« »Es muß doch etwas geben, was mir ent spricht«, sagte er, »erfinden Sie eins für mich.« »Wozu? Mein Hirn ist andersherum program miert.« »Meines nicht. Erfundenes kann durchaus zur Belebung beitragen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.« »Zum Beispiel?« »Nun ja, ich denke zum Beispiel an die Cock tailparty bei Ihren Großeltern. Eine Frau er zählte von ihrer Reise nach England und fragte mich von oben herab, ob ich vielleicht kürzlich dort gewesen wäre. Ich sagte nein. Aber ich hätte ihr auch sagen können, daß ich gerade erst aus London zurückgekommen bin. Dann hätte sich daraus vielleicht ein interessantes Gespräch ergeben.« »Aber dann hätten Sie immer weiterlügen müssen.« »Nun ja, sagen wir mal, korrigieren. Wenn sie mich gefragt hätte, in welchem Hotel ich abge stiegen bin, hätte ich irgendwas erfinden kön nen, den ›Grünen Ochsen‹ zum Beispiel oder
so was Ähnliches. Und falls sie wirklich nach gebohrt hätte, wäre mir bestimmt ein elegan ter Rückzug eingefallen. Nichts wäre passiert.« »Das hört sich ja schrecklich an«, sagte sie. Er merkte, daß er sich in eine peinliche Lage gebracht hatte. »Aber so etwas mache ich kaum noch«, rechtfertigte er sich. »Weshalb machen Sie es überhaupt?« »Weiß ich nicht«, sagte er. »Aber ich bin da bei, es mir abzugewöhnen. Ich habe es mir schon abgewöhnt. Ich würde Ihnen nicht ein mal die kleinste Lüge erzählen.« »Woher soll ich wissen, daß das wirklich stimmt?« Wie recht sie hatte! »Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll.« Sie schwieg. »Muß ich darauf antworten?« fragte er. »Nein.« »Schlechte Angewohnheit«, sagte er. »Schwer abzulegen.« »So schwer ist es auch wieder nicht. Nicht, wenn Sie es wirklich wollen.« »Mir kommt es aber schwer vor.« »Ist es aber nicht.« »Sie sind sehr nett, Jennifer.« »Und Sie sind netter, als Sie glauben.« Er fühlte sich in die Enge getrieben, also
wechselte er schnell das Thema und fragte sie, welche Sportarten sie mochte. Sie gab zur Ant wort, daß sie gern Tennis spiele; er fragte sie, ob sie Baseball mochte, und sie sagte, daß sie keine Ahnung davon habe; er fragte sie, was sie täte, wenn sie tun könne, was sie wolle, und sie sagte, daß sie dann viel lesen würde. Das The ma Wahrheitsliebe war fürs erste ad acta ge legt. Sie plauderten über ihre Lieblingsstädte, darüber, ob sie wärmere oder kältere Klimazo nen bevorzugten, über ihre Fahrradtour in Ka nada, die besten Mountain Bikes, welche Ge fühle Berge in ihnen weckten, über die Psychologie von Bergsteigern. »Ich habe mich mit Hundepsychologie beschäftigt«, sagte er. »Hunde betrachten sich als unverzichtbar. Sie halten sich für die begnadetsten Geschöpfe, die es gibt.« »Das muß ein schönes Gefühl sein.« »Ich habe den Verdacht, daß sie für Menschen sogar so etwas wie Verachtung empfinden.« »Sprechen Sie über Renard?« »Vielleicht nicht gerade Verachtung«, sagte er. »Aber sie sind völlig unabhängige Denker. Und sehr scharfsinnig. Man muß bei Renard höllisch aufpassen. Glauben Sie eigentlich, daß Hunde leiden, wenn sie umziehen müssen?« »Mit oder ohne ihren Besitzer?«
»Mit oder ohne. Sowohl als auch.« »Ich glaube, daß Hunde an ihrem Besitzer hängen und nicht an dem Ort, an dem sie le ben.« »Aber Hunde hängen sehr an ihrem Revier.« »Ihr Revier ist dort, wo ihr Besitzer ist.« »Vielleicht ist es ja wirklich so einfach, wie Sie sagen«, meinte er. Sie unterhielten sich über die Vorzüge von Schieferdächern und die Qualitäten des Bür germeisters. Bis er merkte, daß sie ein Gähnen unterdrückte. »Sie sind müde«, sagte er. »Ein bißchen. Es war ein langer Tag.« Er winkte den Kellner heran und bezahlte. »Das Essen war ausgezeichnet.« Sie gingen schweigend zum Auto. Er hatte kein Bedürfnis mehr, sich zu unterhalten. Vor dem heutigen Abend hatte er in ihrer Gegen wart nie die richtigen Worte gefunden. Und jetzt schien sich ein geradezu unerschöpflicher Vorrat in ihm anzusammeln. »Es war ein sehr schöner Abend«, sagte sie. »Ja, das finde ich auch.« Auf dem Rückweg schaltete er einen Sender mit klassischer Musik ein. »Wir sind da«, sagte er, als er vor ihrem Haus anhielt. An der Haustür sagte sie zu ihm: »Vielen Dank nochmals. Es war ein sehr schöner
Abend.« »Fand ich auch«, antwortete er. »Gute Nacht.« »Gute Nacht.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie wa ren Freunde.
10 Am nächsten Tag rief Jennifer am späten Nachmittag an. »Lake, ich muß Ihnen etwas sagen.« »Ja?« »Gerade hat mich Lydia Dankmyer angerufen. Ihr Mann ist noch einmal zu Ihrem Haus ge fahren. Sie hat mich angerufen, weil sie ihr schlechtes Gewissen plagt.« »Sagen Sie das noch mal, bitte.« »Sie hat mir erzählt, daß ihr Mann heute Mor gen zu Ihrem Haus gefahren ist. Um es sich nochmals von außen anzusehen. Sie hatten vor, ein Gebot abzugeben, und er wollte sich nochmals den Zustand der Fensterläden – sie war sich nicht sicher, ob es das oder etwas an deres war – ansehen. Also ist er noch ein letz tes Mal hingefahren. Die Dankmyers haben ge wußt, daß das Haus freitags nicht besichtigt
werden kann. Das hatte ich ihnen schon vor mehreren Wochen gesagt, aber er ist trotzdem hingefahren.« »Natürlich«, sagte er. »Was meinen Sie damit?« »Was haben Sie den Leuten wegen Freitag ge sagt?« »Daß der Eigentümer nicht möchte, daß das Haus an Montagen oder Freitagen besichtigt wird.« »Dann ist alles klar. Es war unvermeidlich, daß er an einem Montag oder Freitag hinfährt. Ich bin überrascht, daß er nicht an beiden Ta gen dort war.« »Das verstehe ich nicht.« »Das ist mein Spezialgebiet. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Für jeden Bedie nungsschritt ist es unbedingt notwendig, die Regeln genauestens zu formulieren, um keinen Platz für andere Auslegungen zu lassen. Dem nach hätte man sagen müssen: ›Sie dürfen un ter keinen Umständen, aus keinerlei Gründen, egal, welcher Natur, an Montagen oder Freita gen sich dem Haus nähern, geschweige denn es betreten; sollten Sie es dennoch tun, wird das Haus nicht mehr verkauft werden!‹ Wenn man nicht jede Möglichkeit des Ungehorsams sank tioniert, hält sich keiner an die Vorgabe. Das
ist ein Gesetz der menschlichen Natur.« »Er hat das Haus nicht betreten.« »Nun, dann ist ja vielleicht noch einmal alles gut gegangen.« »Aber Ihre Haushälterin ist herausgekom men.« »Ach so.« »Sie hat gesehen, wie er ums Haus ging, ist herausgekommen und hat ihn gefragt, was er will.« »Und, was hat er gesagt?« »Das weiß Lydia nicht genau. Aber ich glaube, daß ihr Mann der Haushälterin gesagt hat, er überlege, das Haus zu kaufen, und es sich des wegen nochmals ansehen wollte.« »In anderen Worten, er sagte ihr, daß es zum Verkauf steht.« »Offenbar.« »Da haben wir es«, sagte Lake. »Ich hätte nie im Traum gedacht, daß er so et was tun könnte.« »Sie trifft keine Schuld.« »Ich hoffe, daß Ihre Haushälterin sich jetzt keine Sorgen macht.« »Ich werde es ihr schon irgendwie erklären«, sagte er. Er versuchte, sich eine passende Ge schichte zusammenzureimen. Vielleicht konn te er sie davon überzeugen, daß Dankmyer ein
gerissener Finanzbeamter war, der den Wert des Hauses schätzen wollte; schließlich hatte Lake es beinahe geschafft, Mary weiszuma chen, daß er Randalls Fell gefärbt hatte, um ein kosmetisches Experiment mit ihm durch zuführen. Aber er war sicher, daß das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Mrs. Lund quist hatte Vere vermutlich gleich Bericht er stattet, nachdem Dankmyer gegangen war. »Das tut mir sehr leid, Lake. Ich werde mit Mr. Dankmyer sprechen.« »Ach, machen Sie sich keine Umstände. Er hat nur getan, womit wir ohnehin haben rechnen müssen. Ich werd das schon irgendwie ausbü geln.« »Lydia Dankmyer hat angekündigt, daß sie morgen ein Gebot abgeben wollen.« »Es ist sinnlos.« »Aber Sie werden es sich doch anhören?« »Ja, das sagte ich schon. Aber meine Antwort wird nein sein.« »Hören Sie es sich einfach an. Mehr brauchen Sie nicht zu tun.« »Gehen Sie morgen mit mir zum Mittagessen? Ich kenne ein sehr nettes Restaurant auf dem Land. Mit ausgezeichneten Salaten.« »Morgen habe ich den ganzen Tag zu tun. An den Wochenenden ist immer am meisten los.
Schade, aber es geht wirklich nicht.« »Na ja, dann ein andermal.« »Auf Wiedersehen.« ***
Am nächsten Morgen saß er mit Randall auf der Terrasse, als das Telefon klingelte. Eine Hummel schwirrte zwischen den Blumen her um, und kleine Schattenflecken wanderten über den Rasen. Beim fünften Läuten hob er den Hörer ab. »Ich bin's, Jennifer«, sagte sie. »Ich bin draußen in der Sonne gesessen.« »Ich hab jetzt ein Gebot von den Dankmyers.« »Ich höre es mir an, aber mein Entschluß steht fest.« »Ich möchte es Ihnen persönlich sagen. Es könnte ja sein, daß Sie noch Fragen haben.« »Legen Makler Angebote immer persönlich vor?« »Ja, normalerweise schon. Es ist oft von Vor teil.« »Gefällt mir, diese Politik.« »Wann wäre es Ihnen recht?« fragte sie. »Am besten jetzt gleich.« Er ging wieder auf die Terrasse, streckte sich im Liegestuhl aus, schloß die Augen und warte te auf ihren Besuch. Nach einer Weile läutete
wieder das Telefon. Er stürzte ins Haus, hoffte, daß sie ihre Meinung nicht geändert hatte. »Mr. Stevenson?« fragte eine schnarrende Stimme. »Ja.« »Hier spricht Billington Vere.« »Guten Morgen, Mr. Vere.« »Soeben erhielt meine Frau einen sehr ver wirrenden Anruf von Mrs. Lundquist. Sie frag te, ob sie vielleicht an jedem Wochentag bei uns arbeiten könnte. Sie könnte Vollzeit arbei ten, da Sie das Haus verkaufen.« »Ach so.« »Verkaufen Sie das Haus, Mr. Stevenson?« »Nein. Ich hab zwar mit dem Gedanken ge spielt, aber im Moment verkaufe ich das Haus nicht.« »Sie wissen aber noch, daß das Anwesen nur unter einer bestimmten Bedingung in Ihren Besitz überging? Diese Bedingung war, daß Sie das Haus als Heim für den Hund Ihrer Tante behalten und pflegen, bis der Hund eines na türlichen Todes stirbt. Muß ich Sie wirklich daran erinnern?« »Hat Ihnen Mrs. Lundquist nicht erzählt, daß Randall verschwunden ist? Hat sie Ihnen nicht davon berichtet?« »Randall ist der Hund?«
»War der Hund.« »Ich unterhalte mich mit Mrs. Lundquist nicht über Hunde, Mr. Stevenson, und im übri gen auch nicht über etwas anderes. Das geht sie nichts an. Sie sagen, der Hund sei ver schwunden?« »Leider ja.« In diesem Moment klingelte es. Randall bell te. »Mr. Stevenson.« »Ja?« »War das soeben ein Hund, der gebellt hat?« »Vielleicht. Aber nicht der Hund, an den Sie denken.« »Ich komme jetzt zu Ihnen hinüber, Mr. Ste venson. Bleiben Sie, wo Sie sind. Und ich möchte, daß der Hund ebenfalls anwesend ist, wenn ich komme.« Er legte auf. Lake stand da und dachte nach. Jetzt war sein ganzes Genie gefordert; jetzt war sein bestes Rückzugsgefecht aller Zeiten gefragt. Er könn te sich Randall greifen, zusammen mit ihm flüchten und erst nach ein paar Tagen wieder zurückkommen. Er könnte den Hund den Dankmyers zusammen mit dem Haus verkau fen und so den Geist des letzten Willens seiner Tante erfüllen. Er könnte … Es läutete an der Tür. Er ging in die Eingangs
halle und warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Die Person, die er sah, machte einen aufrichtigen Eindruck – etwas gestresst viel leicht, sah aber bestimmt nicht aus wie ein Kri mineller. Er öffnete die Tür. Jennifer lächelte ihn an und hielt ihm einen braunen Umschlag vor die Nase – zweifellos das Gebot der Dankmyers. »Sie müssen leider wieder gehen«, sagte er. »Es hat sich herausgestellt, daß es mir im Mo ment wirklich überhaupt nicht paßt.« »Was ist los?« »Ein kleines Problem hat sich ergeben. Könn ten Sie in einer halben Stunde noch einmal vorbeikommen?« Ihre Gesichtszüge verdüsterten sich. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Er hörte ein Auto heranfahren. »Schnell, kommen Sie herein«, sagte er und zog sie durch die Tür. Er wollte sie hinten hinaus lassen oder sie im Dachboden verstecken – wußte aber die ganze Zeit über, daß es diesmal kein Entrinnen gab, daß er sich diesmal nicht aus der Affäre würde ziehen können. Es läutete wieder an der Tür. Randall bellte. Lake öffnete die Tür und wurde von Veres an klagendem Blick festgenagelt. Um Zeit zu ge winnen, sagte er: »Ich hoffe, es geht Ihnen
gut?« Kurze Zeit ignorierte ihn Vere. »Jennifer, was machst du hier?« fragte er. »Hallo, Großpapa«, sagte sie. »Ich bin ge schäftlich hier.« »Ach, so ist das«, sagte er. Er dachte einen Moment nach. »Steht deine Anwesenheit in ir gendeinem Zusammenhang mit dem Verkauf dieses Hauses?« Jennifer drehte sich zu Lake um. »Das Haus steht nicht zum Verkauf, Mr. Vere«, sagte Lake. »Aber Sie dachten daran, es zu verkaufen«, bemerkte Vere kühl. »Nach dem, was Mrs. Lundquist mir berichtete, denkt ein Mann, den sie gestern hier angetroffen hat, daran, es zu kaufen.« »Aber jetzt steht es nicht mehr zum Verkauf.« »Das ist sehr interessant«, sagte Vere. »Jenni fer, wusstest du, daß Mr. Stevensons Tante ihm dieses Haus unter der Bedingung hinter lassen hat, daß er es so lange behält, bis der Hund eines natürlichen Todes stirbt?« »Nein«, sagte sie. »Sie haben dieser Bedingung doch zuge stimmt, oder etwa nicht, Mr. Stevenson?« »Ja, stimmt. Und ich muß sagen, daß ich Tan te Ilsas Konzept bewundere. Sie war eine ver
wegene Denkerin.« »Sie haben dem, was Sie ihr ›Konzept‹ nen nen, jedenfalls zugestimmt«, sagte Vere, »und ich muß nun feststellen, daß Sie Schritte er griffen haben, das Haus zu verkaufen, wäh rend der Hund noch sehr lebendig ist.« »Ach, Sie glauben, dieser Hund sei Randall. Nein, das hier ist Renard.« »Ich denke, das ist der Hund Ihrer Tante.« »Ich kann Ihnen beweisen, daß er es nicht ist. Im Wohnzimmer steht ein Foto von Randall.« »Und was macht dieser Hund hier?« »Er ist ein Ersatz für Randall.« »Hatten Sie vielleicht Angst, jemand könnte herausfinden, daß Sie es geschafft haben, den Hund Ihrer Tante, nachdem er gerade ein paar Wochen unter Ihrer Aufsicht stand, zu verlie ren? Ich möchte gar nicht wissen, welche Sorg losigkeit oder Gedankenlosigkeit dazu geführt hat. Ein Hund, dessen Wohlbefinden ihr so am Herzen lag. Ein Hund, für den sie diese Mühe auf sich genommen hat, nur um ihn versorgt zu wissen. Ich möchte gar nicht wissen, wie Sie Ihre Pflichten auf so schändliche Weise so schnell vernachlässigen konnten. Aber ich kann Ihnen sagen, daß Sie gute Gründe hatten, sich davor zu fürchten, daß man es herausfin den könnte.«
»Solche Sachen passieren eben, Mr. Vere.« »Sie haben also einen anderen Hund.« »Er ist so gut wie der alte. Meine Tante hätte ihn gemocht.« »Zweifellos«, sagte Vere. »Obwohl sie viel leicht das Original vorgezogen hätte.« »Das kann man nie wissen.« »Und was das Haus betrifft, das sie Ihnen so großzügig hinterlassen hat, nebst einer Geld summe, die Ihre Ausgaben mehr als nur deckt, beschlossen Sie, hier ebenfalls eine Verände rung vorzunehmen.« »Ich sagte, daß ich mit dem Gedanken gespielt hatte. Es war nichts Konkretes.« »Ganz recht! Und jetzt erfahre ich, daß Sie nicht nur über meine Enkelin das Haus ver kaufen, sondern daß Sie ihr auch noch wichti ge Fakten in diesem Zusammenhang ver schwiegen haben. Fakten, die ich als schockierend bezeichnen möchte.« Lake brachte es nicht fertig, Jennifer anzuse hen. »Das ist richtig. Ich habe sie ihr ver schwiegen, Mr. Vere.« »Werden Sie diesen Hund auch so mir nichts, dir nichts verlieren, wenn es Ihnen in den Kram paßt?« »Nein, aber er kann selbst wählen, was er möchte. Wir glauben in diesem Haus an die
freie Willensentscheidung.« »Das kommt Ihnen sehr entgegen, nicht wahr?« »Ich glaube nicht, daß ein Hund zwischen ei nem Menschen und dessen Wunsch stehen kann, über seinen Besitz nach Gutdünken zu verfügen«, sagte Lake. »Nein, aber das Ehrgefühl kann dazwischen stehen.« Lake gab keine Antwort. Er wußte, daß er schon zu weit gegangen war; er hatte dem offe nen Schlagabtausch einfach nicht widerstehen können. »Ich habe Ihre Tante gewarnt, ihren letzten Willen so zu formulieren«, sagte Vere. »Ich habe ihr empfohlen, für den Hund einen Treu händer einzusetzen. Aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie sagte, sie kenne Sie gut. Sie sagte, Sie würden schon das Richtige tun. Mir scheint, daß Ihre Tante Sie nicht gut genug ge kannt hat.« »Vermutlich nicht«, sagte Lake betreten. Vere sagte: »Weiß Ihre Schwester davon?« Das war der Punkt. Das war das Ende. Vere wußte genau, wie er ihn packen konnte. »Nein«, sagte Lake. »Nein, sie weiß nichts da von.« Wut stieg in ihm hoch. »Aber ich möchte eines klarstellen, Mr. Vere: Ich mache mit mei
nem Haus, was ich möchte.« »Gegen den Wunsch Ihrer Tante.« »Meine Tante ist tot.« Vere wandte sich wütend zum Gehen. Er hätte gern zu ihm gesagt: Mr. Vere, die Stevensons sind wie Vishnu – wir verfügen über eine Zer störungskraft, die Sie sich nicht einmal im Traum vorstellen können. Dann war Vere gegangen. Jennifer stand noch da. »Was nun?« fragte Lake. »Sie treffen hier doch die Entscheidungen«, sagte sie. »Richtig, ich treffe die Entscheidungen.« Sie schleuderte den Umschlag auf den Tisch der Eingangshalle. »Machen Sie damit, was Sie wollen«, sagte sie. »Aber von jetzt ab müssen Sie mit meinen Partnern verhandeln. Ich möchte mit diesem Haus nichts mehr zu tun haben.« Dann war auch sie gegangen, und er stand zwischen den Ruinen; riesenhaft und gewaltig in seinem Zorn; daß alles um ihn herum in Trümmern lag, scherte ihn nicht. ***
Am Montag früh – seine Laune hatte sich noch immer nicht gebessert – paßte er Mrs.
Lundquist an der Haustür ab, sagte ihr, daß er sie nicht mehr brauche, und gab ihr das Geld für die nächsten zwei Wochen. »Einen Moment noch, Mrs. Lundquist«, sagte er, als sie schon gehen wollte. »Ich habe noch etwas für Sie.« Er ging zum Tisch in der Eingangshalle und kehr te mit dem tragbaren Fernsehgerät zurück, das er für sie bereitgestellt hatte. »Nehmen Sie das als Abschiedsgeschenk von meiner Tante«, sagte er. Sie zuckte zurück. »Nein, nein, nehmen Sie nur«, sagte er. »Es gibt niemanden, der ihn sich mehr verdient hätte als Sie.« »Danke.« »Ist doch nicht der Rede wert. Auf Wiederse hen.« Im Büro stürzte er sich verbissen in die Ar beit. Vor der Mittagspause fragte Mary: »Was ist los, Lake?« »Alles.« »Kann ich irgend etwas tun?« »Du könntest mich erschießen.« »So schlimm kann es gar nicht sein.« »Es ist noch schlimmer. Erschießen wäre ein zu gnädiger Tod.« »Soll ich dir etwas zum Mittagessen holen? Vielleicht vom Chinesen, das magst du doch so
gern?« »Mary, tu mir bitte einen Gefallen: Sei bloß nicht nett zu mir. Ich bin es nicht wert. Es ist reine Vergeudung.« Also vertieften sich alle mit grimmiger Miene in die Arbeit, ohne das sonst übliche Geplän kel, und die Stunden schleppten sich dahin. ***
Am nächsten Morgen rief ihn jemand von Jennifers Büro an. »Mr. Stevenson, hier spricht Binky Foster«, sagte eine Frau mit schwungvoller Stimme. »Ich rufe wegen des Gebotes der Dankmyers für Ihr Haus in Chest nut Hill an.« »Das Angebot liegt mir vor.« »Die Dankmyers hatten gehofft, daß Sie dar auf reagieren würden. Wir haben natürlich Ih ren Brief erhalten, demzufolge Sie von einem Verkauf absehen möchten. Aber mir wurde ge sagt, daß Sie ein Angebot der Dankmyers in Be tracht ziehen würden.« »Ich ziehe es in Betracht.« »Wir halten es für ein sehr gutes Angebot.« »Wer ist ›wir‹?« »Wir bei Mayhew, Foster.« »Ich ziehe es in Betracht.« »Wissen Sie schon, wann Sie sich entscheiden
könnten?« »Sehr bald.« »Ich werde es den Dankmyers ausrichten. Sie warten ungeduldig auf eine Reaktion. Darf ich Ihnen wegen des Gebotes ein paar Fragen stel len?« »Keine Fragen. Ich rufe Sie irgendwann im Lauf der Woche an, sobald ich mich entschie den habe.« Er legte auf. Er schaute zum Fenster hinaus. Er mußte nur noch ja sagen. Er wußte nicht, weshalb er zö gerte, nachdem er sich bereits dazu entschlos sen hatte, das Angebot zu akzeptieren. Es war besser, als er sich hätte träumen lassen, und ohne jede Einschränkung. Jennifer würde eine so hohe Provision bekommen, daß sie zumin dest vom finanziellen Standpunkt aus nicht denken konnte, daß er der schlechteste Mensch war, der ihr jemals untergekommen war. Er würde einfach sein früheres Leben wiederaufnehmen. Er hatte sich noch nicht überlegt, wo er wohnen wollte. Vielleicht nä her am Büro. Er könnte sich alles leisten und hätte noch genügend Geld übrig, um InstruX zu vergrößern. Er überlegte, ob er Karen anrufen sollte. Er wollte ihr vorschlagen, sich vom Silber und vom Porzellan etwas auszusuchen. Es sollte in
der Familie bleiben. Aber im Moment konnte er sich nicht einmal vorstellen, mit Karen zu sprechen, der einzigen Person, die vielleicht Verständnis für ihn aufbrächte. ***
In der Nacht besuchte ihn Jesus. Lake war im Büro einer Vollstreckungsbehörde, und Jesus erschien, lautlos. Er hatte langes Haar. Er war in eine weiße Robe gekleidet und trug eine Dornenkrone. Er trat in den Raum, starrte Lake nachdenklich an und schüttelte den Kopf, womit er zu verstehen gab, daß Vergebung au ßer Frage stand. Im Traum schien die Zusam menarbeit zwischen Jesus und dem FBI eine ganz natürliche Sache zu sein, aber es wurde kein Wort gesprochen. Am nächsten Tag nieselte es. Am Abend hatte er keine Lust, sich in der Küche etwas zu essen zu holen oder die Siebenuhrnachrichten einzu schalten. Er ging in den Garten, wanderte zwi schen den Blumenbeeten herum und prägte sich ihre Anordnung und ihre Farben ein. An seinem nächsten Wohnort wollte er einen klei nen Blumengarten anlegen. Blumen waren gut, eine sanfte Transaktion zwischen den Menschen und der Erde. Kleine Tropfen hingen an den Blüten und an
den Blättern, und die Bienen gingen unver drossen ihrer Arbeit nach. Die blauen Blumen, die wie Glocken aussahen, gefielen ihm. Die großen, weißen Dinger gefielen ihm. Alle Blu men gefielen ihm. Während er mit Randall, der hinter ihm herlief, über den Rasen spazier te, fiel ihm auf, daß die Tage allmählich kürzer wurden, und er beschloß, so schnell wie mög lich auszuziehen, selbst wenn die Dankmyers nicht sofort einziehen wollten. In der Bibliothek legte er Bach auf, um einen klaren Kopf zu bekommen, und öffnete dann die Post. Einer der Briefe war an Mrs. Grinnell adressiert. Der Absender war: Green Grove Memorial Park, Haverford, Pennsylvania. Er hatte die fast unleserliche Notiz schon beinahe vergessen, die Tante Ilsa in ihre Schreibtisch schublade gesteckt hatte: Lake Green Grove Mr. Witter. In dem Brief lag ein einzelnes Blatt mit einer kurzen Nachricht, geschrieben auf einer me chanischen Schreibmaschine: Sehr geehrte Mrs. Grinnell, wir möchten Sie daran erinnern, daß wir noch auf Ihre Anweisungen bezüglich des Steins warten. Mit freundlichen Grüßen
Louis Witter Ein Friedhof. Ein Stein. Ein Stein, mit dem of fensichtlich ein Versprechen oder eine Ver pflichtung verbunden war. Er legte den Zettel zur Seite, müde der Komplikationen, desinter essiert an den bizarren Gedankengängen sei ner Tante. Erneut nahm er alle Kraft zusammen, Karen anzurufen. Er wußte nicht, worüber er mit ihr sprechen sollte. Vielleicht würde er sie fragen, wie es damals war, als sie das Gefühl hatte, daß ihre Familie sich allmählich auflöste. Vielleicht würde sie ihm gern davon erzählen, wenn er sie fragte. Aber er rief nicht an. ***
Am nächsten Tag im Büro las er die erste Ein tragung in seinem Terminkalender: Binky Fos ter anrufen. Aber er rief nicht an. Um den Anruf hinauszuschieben, schlug er im Telefonbuch die Nummer des Green Grove Me morial Park nach. Eine ältere, männliche Stim me war am Apparat: »Green Grove. Louis Wit ter.« »Mr. Witter, ich bin Mrs. Grinnells Neffe. Ich habe Ihren Brief erhalten. Mein Name ist Lake Stevenson.«
»Soso«, sagte er. »Sie hüten also den Sommer über das Haus?« »Meine Tante ist gestorben, Mr. Witter. Ich wohne jetzt in ihrem Haus.« Am anderen Ende der Leitung war es still. Schließlich sagte Mr. Witter: »Es tut mir leid, das zu hören.« »Sie starb Anfang April.« »Das tut mir wirklich leid.« »Sie erwähnten einen Stein.« »Ja, Ihre Tante bestellte ihn im Februar. Sie sagte, sie würde mir noch genauere Anweisun gen geben, aber dann hörte ich nichts mehr von ihr.« »Was für ein Stein ist es?« »Marmor. Der beste. Extra in Georgia ange fertigt.« »Es handelt sich um einen Grabstein?« »Richtig.« »Mr. Witter, was für ein Friedhof ist Green Grove eigentlich?« »Ein Haustierfriedhof.« »Hat sie erwähnt, was sie damit vorhatte?« »Ich meine mich erinnern zu können, daß sie mit jemandem über den Stein sprechen wollte. Ich hatte Probleme, sie zu verstehen, als sie den Stein in Auftrag gab. Sie hörte sich nicht gesund an. Sogar sehr schlecht, wenn ich das
sagen darf.« »Sie hatte mehrere Schlaganfälle.« »Tut mir leid, daß sie entschlafen ist. Ich kannte sie sehr lange. Sie war eine sehr gute Bekannte.« »Könnte ich wohl zu Ihnen hinaus kommen?« »Natürlich.« »Am liebsten sofort, wenn es Ihnen recht ist.« Er ließ sich die Wegbeschreibung geben. Dann sagte er zu Mary: »Ich bin ungefähr für eine Stunde weg. Wenn eine Binky Foster anruft, sag ihr bitte, daß ich sie am Nachmittag zu rückrufen werde. Komm, Renard.« »Du kannst Renard hier lassen, wenn du möchtest.« »Ich nehme ihn mit. Ich brauche Gesell schaft.« ***
Green Grove war überraschend klein – ein grasbewachsenes Gelände im Schatten von Bäumen, umgeben von einem schmiedeeiser nen Zaun. Er parkte auf dem gekiesten Park platz neben dem Bürogebäude. Anstatt hinein zugehen, schlenderte er über einen kurvigen Pfad durch den Friedhof. Randall beobachtete ihn vom Vordersitz des Wagens aus. Überall standen Grabplatten und Monumen
te, Hunderte an der Zahl. Manche Gräber zier ten Blumen, Opfergaben in Form von Hunde futter und kleine amerikanische Flaggen. Ne ben einem Grab lag ein zerfledderter Snoopy. An manchen Stellen drehten sich PlastikWindmühlen munter im Wind. Lake las die In schriften: Lisalee 1970-1982 Unser kleiner Liebling Familie McNair Donny Bis wir uns wiedersehen Anna Strong Jinx 1951-1965 Mein bester Freund in dieser selbstsüchtigen Welt Auf Wiedersehen Joe Trinket Schlaf gut, mein Engel Mami Tiger 1985-1986 Unsere Liebe währet in alle Ewigkeit Gottes Wille geschehe
Familie Beardsley Auf der Grabplatte von Tiger klebte das in Kunststoff eingeschweißte Foto eines wusche ligen weißen Hundes mit leuchtenden Augen und einer schwarzen Knopfnase. Viele der Gräber waren als Familiengräber angelegt. Anna Strong hatte drei Hunde Seite an Seite begraben. Joe hatte drei Jinxes begra ben. Lake machte sich auf die Suche nach dem Namen seiner Tante. Er wußte, daß er ihn fin den würde, und da war er. Unter einer Eiche waren fünf Grabplatten nebeneinander aufge reiht. Die erste war eine einfache Messingtafel. Rudy 1927-1939 Geliebter Hund von Ilsa Stevenson Die zweite war geringfügig größer, auch aus Messing. Risa 1939-1951 Mein Liebling Ilsa Stevenson Alle anderen waren aus Marmor und unda tiert. Roland
Mein geliebter Freund Ilsa Grinnell Rima Meine geliebte Freundin Ilsa Grinnell Rosy Meine geliebte Freundin Ilsa Grinnell Lake blieb eine Weile stehen. Dann ging er auf das Bürogebäude zu und stieß die Glastür auf. Ein alter Mann saß hinter einem Schreibtisch, auf dem sich jede Menge Papier türmte. »Ich bin Lake Stevenson, Mr. Witter«, sagte Lake. »Ah, Mrs. Grinnells Neffe, wie Sie sagten.« »Alle ihre Hunde sind hier begraben.« »Jeder einzelne«, sagte Mr. Witter. »Sie muß noch ganz jung gewesen sein, als sie ihren ersten hier begraben hat.« »Sie war noch ein Mädchen. Noch nicht mal erwachsen. Ich kann mich noch genau an sie erinnern, weil sie eine meiner ersten Kundin nen war. Sie war noch ein Kind, und sie kam allein. Sie wußte, was sie wollte, und hatte ihr Geld dafür gespart.« Er sah aus, als hätte er geweint, aber vielleicht war es nur das Alter. »Sie war eine sehr gute
Freundin von mir«, sagte er. »Sie half mir ein mal aus der Klemme. Und sie brachte jeden ih rer Hunde zu mir. Ich glaube, sie wäre am liebsten auch hier begraben worden.« »Das glaube ich auch.« »Ich bringe Ihnen den Stein«, sagte er. Er ging ins Hinterzimmer und kam mit einem rechte ckigen Paket heraus. »Gut, daß Sie gekommen sind«, sagte er. Er entfernte das braune Pack papier und reichte ihm die rosafarbene Mar morplatte. Darauf stand: Randall Unser geliebter Freund Ilsa Grinnell Lake Stevenson Lake sah sich den Stein lange an. Schließlich sagte Mr. Witter: »Ist ihr Hund jetzt bei Ihnen?« »Ja.« »Also, das hier ist der Stein.« »Lassen Sie ihn bitte hier in Green Grove, Mr. Witter. Ist er bezahlt? Darf ich Ihnen die La gergebühren bezahlen?« »Nein, nein. Das kostet nichts.« »Wenn es soweit ist, werde ich ihn hier begra ben lassen.« »Das freut mich.«
Lake streckte ihm die Hand hin. Mr. Witter schüttelte sie. »Danke, Mr. Witter«, sagte Lake. ***
Vom Autotelefon aus wählte er die Nummer des Maklerbüros, während er an einer roten Ampel warten mußte. Als Binky Foster sich meldete, sagte er: »Hallo, hier spricht Lake Stevenson. Ich bin zu einem Entschluß gekom men. Ich werde das Haus nicht verkaufen. Bit te sagen Sie den Dankmyers, daß ich ihr Ange bot nicht annehmen kann.« »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.« »Besteht die Möglichkeit, daß Sie Ihren Ent schluß doch noch mal überdenken? Die Dank myers wären sicher zu Zugeständnissen be reit.« »Nein. Aber es war ein sehr gutes Angebot.« »Ich werde es ihnen ausrichten.« »Könnten Sie mich bitte mit Jennifer Dee ver binden?« »Tut mir leid, sie ist nicht im Büro.« »Wo ist sie?« »Sie bat mich, diesen Vorgang zu bearbeiten, Mr. Stevenson.« »Ich möchte mit ihr nicht über das Haus spre
chen. Es geht um etwas anderes, und zwar um etwas sehr Wichtiges.« »Ich werde ihr sagen, daß Sie mit ihr spre chen möchten.« »Wo ist sie im Moment? Verstehen Sie bitte, ich muß ihr etwas sagen. Es ist eine persönli che Angelegenheit.« »Sie ist gerade auf dem Weg nach Merion. Ich glaube nicht, daß es dort ein Telefon gibt. Ich werde ihr sagen, daß sie Sie anrufen soll.« »Könnte ich bitte ihre Autotelefonnummer haben?« »Sie wird Sie anrufen.« »Bitte«, sagte er. »Es ist wichtig.« Er hörte es rascheln. Sie gab ihm die Num mer. Während er fuhr, wählte er die Nummer. »Ja?« sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich muß Ihnen unbedingt etwas sagen.« Sie gab keine Antwort. »Weshalb ich das Haus verkaufen wollte. Und dann noch etwas.« »Sie müssen mir gar nichts erklären.« »Möchte ich aber.« »Also gut, machen Sie schnell.« »Ich bin ganz in Ihrer Nähe. Ich sitze im Auto. Komisch, sich von Auto zu Auto zu unterhal ten. Sie bewegen sich fort, ich bewege mich fort. Alles bewegt sich zu schnell.«
»Was wollten Sie mir sagen?« »Die eine Sache ist, daß ich meine Tante miß verstanden habe«, sagte er. »In ihrem letzten Willen stand, daß ich das Haus nur bekomme, wenn ich auch den Hund nehme.« »Das ist mir bekannt.« »Ich habe nicht verstanden, was sie damit ei gentlich beabsichtigt hatte. Ich dachte, es ginge ausschließlich um sie – ihren Hund, ihr Haus – und daß sie alles so arrangiert hatte, daß sich die Welt auch nach ihrem Tod noch nach ihren Wünschen weiterdreht. Aber ich habe falsch gedacht. Sie wollte mit mir teilen, was ihr am meisten ans Herz gewachsen war.« »Und was war das?« »Ihr Hund. Das habe ich eben erst herausge funden.« »Herausgefunden?« Verwirrung sprach aus ihrer Stimme. »Sie wollte, daß er auch dort begraben wird, wo alle ihre Hunde begraben sind, und sie wollte, daß ihr Name zur Erinnerung auf die sem Grabstein stand. Sie hat schon einen Grabstein für ihn anfertigen lassen. Aber sie hat nicht nur ihren, sondern auch meinen Na men darauf setzen lassen und damit wohl aus drücken wollen, daß er unser beider Hund war. Ich habe den Grabstein gesehen. Deshalb
denke ich jetzt anders.« »Lake, ich bin schon fast angekommen, wo ich hinwollte.« »Könnten Sie noch eine Minute sitzen blei ben, bitte? Ich muß Ihnen noch etwas sagen.« »Aber nur eine Minute.« »Ich werde mich kurz fassen. Daß ich mich in ihr geirrt habe, ist nicht das Wichtigste, was ich Ihnen sagen wollte.« »Und was wäre das Wichtigste?« Er schaffte es einfach nicht, das Thema Lügen auszusprechen. »Sind Sie noch da?« »Ja.« »Was ist das Wichtigste?« Schließlich sagte er: »Jetzt weiß ich, weshalb Makler gern Angebote persönlich überrei chen.« »Warum?« »Um deren Wichtigkeit zu unterstreichen.« Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende. Dann sagte sie: »Wollen Sie da mit sagen, daß Sie es mir persönlich sagen wol len?« »Ja«, gab er zur Antwort, während ihm Trä nen in die Augen stiegen. »Wo sind Sie?« »Ich glaube, auf der Jansen Street«, sagte er.
»Ich parke gerade.« »Ich bin in der 3214 Highfield Avenue. Ich sit ze in meinem Auto vor dem Haus. Aber ich muß bald hineingehen.« »Danke«, sagte er. Drei Minuten später hielt er hinter ihrem Auto, stieg aus und setzte sich neben sie auf den Beifahrersitz. »Ich werde mein Autotele fon wieder abmelden«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht überfallen. Ich mußte mit Ihnen spre chen, aber eigentlich nicht auf diese Art.« »Ist schon gut.« »Ich habe Binky Foster angerufen und ihr ge sagt, daß ich das Angebot nicht annehmen kann.« »Gut«, sagte sie. »Es war wirklich ein gutes Angebot. Sie haben erstklassige Arbeit geleistet. Ich glaube, Sie hatten die Dankmyers von Anfang an im Vi sier.« »Stimmt.« »Tut mir leid um Ihre Provision.« Sie zuckte die Achseln. »Haben Sie seit letztem Samstag mit Ihrem Großvater gesprochen?« »Er hat mich angerufen.« »Was hat er gesagt?« »Daß ich mich aus künftigen Verhandlungen
mit Ihnen heraushalten sollte. Aber das hatte ich ja schon vorher beschlossen.« »Sprach er mit Ihnen über Ehre?« »Ja.« »Er hat recht«, sagte Lake. »Ich wollte Ihnen von dem Testament erzählen, aber ich hatte Angst davor, daß Sie schlecht von mir denken könnten.« »Sie sind ja nicht allein schuld daran«, sagte sie. »Sie wollten das Haus ja aus dem Angebot nehmen. Ich habe Sie immer gedrängt. Ich dachte, daß Sie vielleicht Ihre Meinung än dern, wenn Sie das Angebot der Dankmyers se hen. Ich wußte, daß es ein gutes Angebot sein würde.« »Ich muß Ihnen von noch einer Lüge berich ten, Jennifer. Die letzte allerdings.« »Okay, schießen Sie los.« »Ihren Großvater wird es vielleicht beruhi gen, aber ich bin einfach nicht in der Lage, mit ihm zu sprechen.« Sie wartete. »Sehen Sie den Hund in Ihrem Rückspiegel?« Sie schaute hinein und nickte. Er sagte: »Das ist der Hund meiner Tante. Er heißt nicht Renard, das ist eine Erfindung von mir. Er heißt Randall.« »Das hab ich mir schon gedacht.«
»Das Bild, das meine Tante im Boot von ihm gemacht hat, hat mich auf diese Idee gebracht. Damals, als die Fotografiererei noch mein Hobby war, hab ich viel retuschiert. Und da hab ich Randall retuschiert.« »Ich verstehe.« »Ziemlich dämlich von mir.« »Ziemlich.« »Das ist alles«, sagte er. »Danke, daß Sie mir zugehört haben.« »Danke, daß Sie es mir persönlich gesagt ha ben.« »Es reinigt die Luft.« »Stimmt«, sagte sie. Dann, weil die Luft gereinigt war: »Ich möch te Sie wieder einmal anrufen.« »Gut.« »Aber nicht übers Autotelefon.« »Nein.« Er stieg aus; das Nein hallte in seinen Ohren.
11 Es war zu spät im Jahr, um noch Salat anzu bauen, aber einem Buch für Hobbygärtner ent nahm er, daß Kohl noch gepflanzt werden konnte. Jeder, der gern Salat aß, würde auch
gern Coleslaw essen, folgerte er; vielleicht würde er also seine herbstlichen Aktivitäten im Garten der Kultivierung von Kohl widmen. Inzwischen rollten im Büro die Aufträge wie eine Springflut herein. Derek Kast bombar dierte Lake mit einem nicht enden wollenden Strom von Anfragen. Er wünschte sich eine vierfarbige Ausgabe einer alten Schwarzweiß anleitung für eine Baumschere; er wollte seine Sprinklermodelle, von denen nur dürftige Dia gramme vorlagen, vor dem Hintergrund einer ausgesuchten Landschaft präsentieren; er wollte eine bebilderte Schritt-für-Schritt-An leitung, wie ein Blumenbeet anzulegen ist; er wünschte sich ein völlig neues Image. Ein Fahrradhersteller, der neu im Geschäft war, fragte an, ob InstruX Interesse hätte, sämtli che Verkaufsunterlagen zu erstellen. Dannys Arbeit für das Softwareprojekt zog die Anfrage einer Firma aus Texas nach sich. Allmählich erstreckten sich die Arbeitstage bis in den Abend hinein. Lake mußte seine Mitarbeiter bitten, einen Sonntag anzuhängen, aber selbst dann schafften sie es nicht, der Arbeit Herr zu werden. Ende Juli erschien ein Bekannter von Paul im Büro – mager, aufgeweckt, ganz in Schwarz, mit Stahlrandbrille. Paul ging zu Lake und
fragte in seiner üblichen, kryptischen Art: »Hast 'ne Minute Zeit?« »Klar.« Paul verzog sich wieder. Sein Freund sagte: »Ich wäre an einem Job interessiert. Paul hat erzählt, daß Sie vielleicht 'nen neuen Mitarbei ter suchen.« »Das stimmt zwar nicht, aber das könnte sich in nächster Zeit ändern«, sagte Lake. »Sind Sie Designer?« »Texter.« »Und was texten Sie?« »Theaterstücke. Experimentelles Theater. Bis jetzt ist allerdings noch nichts davon produ ziert worden.« »Unsere Texte sind eine ziemlich trockene Angelegenheit. Ich bin übrigens Lake Steven son.« »Robert Dickey.« »Und Ihre Freunde nennen Sie Bob, oder?« »Rob.« »Sehr gut«, sagte Lake. »Ich könnte Ihnen gleich einen Text geben, wenn Sie möchten. Als Test. Damit Sie einen ersten Eindruck bekom men, womit wir uns beschäftigen.« »Gern.« Lake suchte in seinem Schreibtisch nach der Betriebsanleitung für seine neue Digitalarm
banduhr. Er gab Rob das Heftchen zusammen mit der Uhr. »Gestern Abend habe ich ver sucht, die Zeit einzustellen«, sagte er. »Diese Anleitung ist ein typisches Beispiel für das, was wir üblicherweise hereinbekommen. Redi gieren Sie ein, zwei Absätze und sehen Sie zu, ob Sie noch etwas verbessern können. Sie kön nen sich dort drüben hinsetzen.« Rob nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz, fummelte an der Uhr herum und machte sich auf einem Block, den Mary ihm gegeben hatte, Notizen. Nach einer Weile gab er Lake die Uhr nebst der ursprünglichen Anleitung und einer korrigierten Fassung zurück. Aus dem Text: Wenn der Funktionsstatus der Uhr auf nor maler Uhrzeit steht (das Display zeigt ent weder AM oder PM), blinken nach Drücken des Einstellknopfes 4 die Sekunden. Durch Drücken des Einstellknopfes 3 blinken die Stunden. Durch Drücken des Knopfes 1 wer den die Stunden weitergezählt. Durch erneu tes Drücken des Knopfes 3 blinken die Minu ten. Durch Drücken des Knopfes 1 werden die Minuten weitergezählt. Durch Drücken des Einstellknopfes 4 kehrt der Funktions status wieder auf normale Uhrzeit zurück.
war folgendes entstanden: Ihre Uhr zeigt die normale Zeit an, wenn die Buchstaben PM oder AM neben den Zif fern für Stunden, Minuten und Sekunden er scheinen. Um den Modus für normale Zeit einzustellen, drücken Sie Knopf 1. Um die Uhrzeit einzustellen, drücken Sie zunächst Knopf 4; die Sekunden beginnen zu blinken: das bedeutet, daß Sie jetzt mit dem Einstel len beginnen können. Um die Stunden einzu stellen, drücken Sie zunächst Knopf 3; die Ziffern für die Stunden beginnen zu blinken. Drücken Sie so oft auf Knopf 1, bis die Stun den richtig eingestellt sind. Um die Minuten einzustellen, drücken Sie wieder Knopf 3; die Ziffern für die Minuten beginnen zu blinken. Drücken Sie nun Knopf 1 so oft, bis die Minu ten richtig eingestellt sind. Wenn Sie nun Knopf 4 drücken, kehren Sie wieder zum Mo dus für normale Uhrzeit zurück. Damit ist Ihre Uhr eingestellt. »Worum geht es in Ihren Theaterstücken?« fragte Lake. »Gerade bin ich mit einem fertig geworden, das in einer bemannten Raumkapsel spielt, die nach Ausfall der Navigationsmstrumente aus dem Sonnensystem trudelt.«
»Hört sich ja schrecklich an.« »Die Charaktere sind ein Astronaut und ein Computer. Nur daß der Computer auch etwas abbekommen hat, eine Art Sprachbehinde rung. Sobald der Astronaut etwas in der Ge genwartsform oder der Vergangenheitsform sagt, beginnt der Computer, verschlüsselt zu sprechen. Er unterhält sich mit dem Astronau ten nur in der Zukunftsform.« Lake nickte und überlegte sich, ob es wohl einen Zusammenhang gab zwischen dem Schreiben experimenteller Theaterstücke und der Fähigkeit, gute Betriebsanleitungen zu tex ten. »Das, was Sie hier gemacht haben, ist gut«, sagte er. »Eigentlich ist es besser als gut. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich gebe Ih nen einen Teil eines Projektes, an dem wir ar beiten, und Sie bringen mir Ihre Korrektur, so bald sie fertig ist, zusammen mit Ihrer Rechnung.« »Übrigens habe ich Ihre Uhr um eine Minute vorgestellt«, sagte Rob. »Sie ging nach.« Ende der Woche hatte Rob einen festen Ar beitsvertrag in der Tasche. Die Produktivität schnellte in die Höhe. Randall hörte wieder auf seinen alten Namen. Als Lake ihr erklärt hatte, daß es sich um einen Fall von Personenver wechslung handelte, hatte Mary die Augen
brauen hochgezogen, die Angelegenheit aber nicht weiter verfolgt. Bill rief an. »Was macht der Leitfaden für Haustiere?« fragte er. »Die Idee mit den Videos hab ich noch immer nicht fallengelassen«, sagte Lake, »aber im Mo ment weiß ich vor Arbeit nicht, wo mir der Kopf steht. Übrigens ist der Posten des Haupt abteilungsleiters noch immer frei. Gute Bezah lung. Viele Sozialleistungen.« »Vielleicht sollten wir uns mal darüber unter halten.« Lake entnahm Bills Worten, daß er es ernst meinte. Er schloß mit sich selbst eine Wette ab, daß Bill noch vor Jahresende bei InstruX ein steigen würde. Aber ansonsten lag die Zukunft eher im dun keln. Immer, wenn er daran dachte, Jennifer anzurufen, überlegte er es sich wieder anders, fand, daß er vielleicht noch ein paar Wochen oder Monate verstreichen lassen sollte. Sein Anruf vom Autotelefon aus mußte ihr wie ein Überfall vorgekommen sein, obwohl er es ei gentlich nicht beabsichtigt hatte. Die Geschich te war ihm auf eine Art peinlich, die er nicht definieren konnte. Die Tage vergingen, und seine Arbeitstage wurden immer länger. Es stellte sich heraus, daß Randall Geschmack an
chinesischem Essen fand. Als Lake am Montag nach Hause kam und den Anrufbeantworter in der Bibliothek abhörte, sagte Steves Stimme: »Trivial Pursuit Match bei mir zu Hause am Freitag um acht. Ich rech ne mit dir. Bring Ellen mit.« Er rief Steve an. »Freitag paßt gut«, sagte er, »aber ohne Ellen.« »Ich hab mir schon so was gedacht.« »Warum?« »Letzte Woche hab ich sie gesehen. Sie war mit 'nem Typ beim Mittagessen«, sagte Steve. »So, wie die beiden miteinander umgegangen sind, war offensichtlich, daß mehr dahinter steckt.« »Sieht er aus wie ein italienischer Filmstar?« »Genau.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Lake. »Aber ich habe ein anderes Problem. Ich wür de gern jemand anders mitbringen, falls sie Zeit hat.« »Gern«, sagte Steve. »Solange sie keine Dr. phil. ist.« Er rief Jennifer an. Zwei Leute meldeten sich zur gleichen Zeit. »Ich übernehme das Ge spräch«, sagte Jennifer, und nach einem Kli cken: »Hallo.« »Ich wollte mal fragen, ob Sie am Freitag
Abend Zeit hätten. Ein Freund von mir veran staltet regelmäßig Trivial-Pursuit-Abende, und die sind immer recht lustig.« »Ja, gern.« »Ich hole Sie um acht ab.« »Gut.« »Sie sind nicht zufällig eine Dr. phil. oder?« »Nein.« »Sehr gut.« ***
In der Kategorie Kunst und Freizeit war sie unschlagbar. »Woher wissen Sie das alles?« fragte er, als sie auf dem Heimweg waren. »Ich lese gern. Und woher haben Sie Ihre geo graphischen Kenntnisse?« »Ich beschäftige mich gern mit Landkarten.« »Sie wußten, wie die Hauptstadt von Finnland heißt, und Sie waren der Beste in der Katego rie Wissenschaften«, sagte sie. »Es hat mir Spaß gemacht. Steve ist sehr nett.« »Wir sind zusammen aufgewachsen.« Das Auto rollte durch den Abend, folgte fast wie von selbst den geologischen Unebenheiten der Landschaft. Insekten umschwirrten die Straßenlaternen. Eine Reihe Bäume auf einer Hügelkette wanderte nach links aus dem Bild, eine graue Kamelkarawane im Mondlicht.
Worte und Schweigen flossen federleicht in einander. Vor ihrem Haus hielt er an, doch sie blieben noch im Auto sitzen. »Haben Sie Geschwister?« »Nein, warum?« »Sie sind so selbstsicher.« »Bestimmt nicht so selbstsicher wie Sie.« »Nein, nein«, sagte er. »Ich bin berüchtigt für Fehlverhalten – aber das wissen Sie ja.« »Das heißt nicht, daß Sie nicht selbstsicher sind. Möchten Sie noch auf einen Sprung her einkommen?« Ein paar Minuten später trudelten zwei ihrer Mitbewohner ein. »Mike, du kennst Lake ja schon«, sagte sie. »Lake, das ist Terry.« Mit leuchtenden Augen berichteten die beiden von dem Softballmatch, das sie am Abend ge spielt hatten. Jennifer hörte ihnen aufmerk sam zu. Lake spüre, daß in diesem Haus Kame radschaft einen hohen Stellenwert besaß. Dann zogen sich Mike und Terry in die Küche zurück, um dort ihre Unterhaltung fortzuset zen. Lake bemerkte: »Verglichen mit hier herrscht in meinem Haus geradezu Grabesstil le.« »Langweilig ist es hier bestimmt nicht«, sagte sie. »Und nächste Woche zieht noch jemand
ein.« »Ich dachte, Sie wollten niemanden mehr ins Haus nehmen.« »Es ist ein Freund von Terry. Terry ist der Hauptmieter hier.« Mike kam herein. »Entschuldigung, ich will nicht lange stören. Wie hieß noch gleich der berühmte Typ, der bei den Baltimore Orioles der Pitcher war?« »Hoyt Wilhelm«, sagte Lake. »Genau«, sagte Mike. »Hoyt Wilhelm. Ich ar beite an dem gleichen Trick, mit dem er immer geglänzt hat.« »Stell ihm doch mal 'ne Frage in Geographie«, sagte Jennifer. »Wo liegt Belize?« »In Mittelamerika«, sagte Lake. »Da staunst du, was?« sagte Jennifer zufrie den. Mike ging wieder in die Küche, um seine Un terhaltung mit Terry weiterzuführen, aber Lake hatte trotzdem nicht das Gefühl, mit Jen nifer allein zu sein. Nach einer Weile stand er auf: »Versprechen Sie mir, daß Sie mein regel mäßiger Trivial-Pursuit-Partner sein werden?« »Versprochen.« ***
Den folgenden Mittwoch verbrachte er allein mit ihr. Sie gingen zum Abendessen in ein Bistro. Als ersten Gang bestellte sie Salat. »Mö gen Sie eigentlich Coleslaw?« fragte er. »Sehr gern. Warum?« »Das dachte ich mir. Übrigens, habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, daß ich eine Reini gungsfirma engagiert habe? Jeden Freitag kommen drei Leute. Die gehen die ganze Ge schichte fast militärisch an.« »Ist die Haushälterin nicht mehr da?« »Nein. Sie gehörte zu den schlechten, alten Zeiten.« »Lake«, sagte sie nach einer Pause, »ich sage das nur noch einmal, nur damit Sie es wissen, und dann werde ich nie mehr darauf zurück kommen. Die Dankmyers wollen das Haus nach wie vor. Lydia Dankmyer bat mich, Ihnen zu sagen, daß sie noch immer sehr interessiert sind, falls Sie es sich mit dem Verkauf jemals anders überlegen sollten.« »Ich habe es mir nicht anders überlegt.« »Ich übermittle nur die Botschaft«, sagte sie. »Ich spiele mit dem Gedanken, einen Innen architekten kommen zu lassen. Kennen Sie Sa rah Beasley?« »Nein.« »Sie ist die Freundin eines Bekannten. Ich
habe das Gefühl, daß sie, wenn es nach ihr gin ge, alles auf den Kopf stellen würde. Glauben Sie, daß das Haus eine Generalüberholung nö tig hätte?« »Das müssen Sie schon selbst entscheiden.« »Was die Innenausstattung anbelangt, habe ich überhaupt keine Meinung.« »Manchmal muß man einfach eine Zeitlang ir gendwo gewohnt haben.« »Vermutlich«, sagte er. Sie sagte nichts. »Es gefällt mir, wie Sie schweigen«, sagte er. »Sie können auf sehr nette Art schweigen.« Er schaute aus dem Fenster. »Der Sommer verab schiedet sich allmählich. Es ist schon fast dun kel draußen.« »Nächste Woche fahre ich für drei Wochen weg«, sagte sie. »Ich bin nach Labor Day wie der zurück.« Er nickte und beobachtete sie. »Verwandte von mir haben ein Haus in den Adirondacks, und sie haben mich eingeladen. Normalerweise bin ich jeden Sommer dort.« »Und was machen Sie da?« »Kanu fahren, wandern, alles mögliche. Es liegt direkt an einem See.« »Hört sich großartig an«, sagte er. Hört sich auch weit weg an. Als er sie später nach Hause
brachte, begleitete er sie bis zur Haustür. Durch ein Fenster sah er, daß der Fernseher lief und zwei Leute davor saßen. »Möchten Sie noch hereinkommen?« fragte sie. »Heute nicht, vielen Dank«, sagte er. Er nahm ihre Hand, hob sie an den Mund und küsste ihre Finger, dann nahm er sie unvermittelt in die Arme und küsste sie. Er ließ sie wieder los. »Muß morgen schon früh aus den Federn«, sagte er. »Ich rufe dich an.« »Gute Nacht«, sagte sie. ***
»Wann geht dein Flugzeug?« fragte er, als er am nächsten Tag mit ihr telefonierte. »Sonntag früh.« »Kann ich dich noch mal sehen, bevor du fliegst? Wie wär's Samstag zum Abendessen?« »Ich glaub nicht, daß ich das schaffe, Lake. Ich muß noch einkaufen gehen und packen. Außerdem hab ich im Büro noch jede Menge zu erledigen, und vor allem am Samstag wird der Teufel los sein.« »Schickst du mir 'ne Postkarte?« fragte er. »Natürlich. Eine mit Bergen drauf.« »Warum ausgerechnet mit Bergen?« »Wir haben uns doch einmal über Bergsteiger
unterhalten, und du hast gesagt, daß sie ver mutlich dem Verständnis für die Erde am nächsten kommen. Das hat mir gefallen. Weißt du noch?« Er erinnerte sich noch daran, aber viel wichti ger war die Tatsache, daß sie es nicht verges sen hatte. »Aber sei bitte nicht enttäuscht, wenn sie mit Kiefern bewachsen sind«, sagte sie. »Die Adi rondacks sind nicht gerade alpines Gelände. Nun ja, vielleicht sind Kiefern auch typischer für diese Gegend. Also schicke ich dir vermut lich Kiefern.« »Ich freu mich schon darauf.« ***
Er versuchte sich auf ihre Abwesenheit einzu stellen. Aber am Samstag am späten Vormittag rief sie ihn zu Hause an und verkündete: »Eine meiner Verabredungen ist geplatzt. Hättest du Lust, heut nachmittag Tennis zu spielen? Mag gie und Bruce kommen auch. Nur eine Stunde lang.« »Ich habe aber schon länger nicht mehr ge spielt.« »Macht nichts. Maggie auch nicht.« »Hast du alle Einkäufe erledigt? Hast du schon gepackt?«
»Noch nicht alles«, sagte sie, »aber Maggie und Bruce möchten Tennis spielen, und Mike und Terry haben heut keine Zeit. Ich hab ihnen gesagt, daß ich einspringe, falls du mitkommst. Kannst du's einrichten? Der Tennisplatz ist ganz in deiner Nähe. Wir könnten dich abho len.« »Wer ist Bruce?« »Bruce McClellan. Er ist letzte Woche bei uns eingezogen. Seine Eltern haben einen Tennis platz.« »Hat er einen Bruder, der Peter heißt?« »Ja, kennst du ihn?« »Eigentlich nicht«, sagte Lake. Er wollte schon fragen: Lacht Bruce auch so laut? »Na, wie sieht's aus?« fragte sie. »Die Bespannung an meinem Racket ist hin über.« »Ach, wir finden schon 'nen Schläger für dich.« ***
Schlag drei hupte es, drei Gestalten saßen in einem Cherokee, Bruce am Steuer mit der glei chen Frisur wie sein Bruder Peter. Der Platz neben Jennifer war frei. »Lake, das ist Maggie und das ist Bruce«, sagte sie, als er einstieg. »Ich hoffe, daß ihr nachsichtig mit mir seid«,
sagte er. »Ich bin etwas eingerostet.« »Du spielst mit Jennifer«, sagte Bruce. »Ich weiß, wie sie spielt. Wohnst du in diesem großen Haus ganz allein?« »Ja.« »Wow!« »Plus einem Hund«, sagte Lake. »Jennifer sagte, daß du ihn ebenfalls geerbt hast. Wie ist es so?« »Was?« »Na, hier zu wohnen.« »Schön. Ich mag viel Platz.« Er wandte sich an Jennifer. »Ich werde die Gartenmöbel weiß streichen. Ich war gerade dabei, als du angeru fen hast. Sieht gut aus.« »Welche Farbe hatten sie früher?« fragte Maggie. Sie hatte rundliche, fast babyhafte Züge und sehr feines, blondes, mit einem Samtband zusammengefasstes Haar. Ihr Ten nisoutfit war perfekt, weiß, mit Frotteeband ums Handgelenk. Jennifer trug ein gelbes TShirt und einen Tennisrock. »Schmutziggrün«, sagte er. »Die weiße Farbe macht alles viel freundlicher.« »An weißen Möbeln sieht man schneller den Schimmel«, sagte Maggie. »Macht nichts. Ich habe jede Menge Farbe im Keller.«
»Hier ist es«, sagte Bruce und bog in die Ein fahrt zu einer Tudor-Villa ein. »Meine Eltern sind verreist, und alles ist verrammelt. Ich kann euch also leider nicht hineinbitten. Es ist ihnen aber sehr recht, wenn ich den Tennis court benutze. Das schreckt Einbrecher ab. Ich kann dir ein Racket leihen, Lake. Mittlere Grö ße, fünf achtel Inch Griff. Wirst du damit spie len können?« »Aber klar.« Lake wußte, was passieren würde – er wußte, daß Bruce ein guter Spieler war und Maggie besser als angekündigt. Aber es machte ihm nichts aus, weil er mit Jennifer spielen würde. Als sie ums Haus zum Court gingen, klopfte er auf die Bespannung seines Rackets und sagte: »Und mit dem hier muß man den Ball treffen, richtig?« Sie schaute ihn verdutzt an. Er sagte: »Ich muß versuchen, mein Manko mit Körper kraft zu kompensieren.« Bruce spielte sehr gut, mit langen, weichen Schlägen und sehr guter Technik am Netz. Beim Einschlagen zielte Lake tief auf seine Rückhand, und Bruce retournierte den Ball problemlos mit einem starken Topspin. Die hohen Bälle beherrschte er meisterhaft, und die Volleys nahm er wie eine Maschine. Aber Lake stellte auch fest, daß Jennifers Spiel fast
ebenso ausgefeilt war und daß Maggie so gut wie keine Rückhand beherrschte. Sobald das Match begonnen hatte, entwickelte es sich zu einem Schlagabtausch zwischen Bru ce und Jennifer. Bruce schlug ihr die meisten Bälle zu, und sie retournierte sie fast immer auf seine Seite – sie hatten beide Spaß an har ten Grundschlägen, geschickten Lobs und an geschnittenen Volleys. Lake konzentrierte sich nur darauf, einen Ball zurückzubringen, wenn er zufällig in seine Richtung flog. Von der Grundlinie aus ein Spiel gegen Bruce zu gewin nen war fast aussichtslos, und Maggie war so frustriert, daß er ihre Probleme nicht noch vergrößern wollte. Als sie nach dem dritten Spiel die Seiten wechselten, sagte Bruce zu ihm: »Du spielst gut.« Was er meinte, war: Du spielst nicht in unserer Liga. Aber Lake war schnell, und die sen Vorteil nutzte er nun aus. In der Mitte des ersten Satzes sprintete er bei jeder Gelegenheit ans Netz und schlug alles in seiner Reichweite zurück, war selbst überrascht von seinen Er folgen. Fasziniert beobachtete er Jennifer. Sie war gnadenlos aggressiv, wenn nicht sogar rück sichtslos. Bei 4:5 lief sie ans Netz und donnerte einen Ball aus nächster Nähe genau auf Bruces
Körper. Er retournierte mit einer Reflexbewe gung zum Satzgewinn und grinste. Nach dem Match ruhten sie sich eine Weile auf den Stühlen neben dem Court aus. »Du bist schnell«, sagte Jennifer zu Lake. »Du bist unglaublich.« »Ich hab in letzter Zeit viel gespielt.« Als sie Lake eine halbe Stunde später zu Hau se ablieferten, sagte er zu Bruce und Maggie: »Vielen Dank. Hat Spaß gemacht.« Und zu Jen nifer: »Gute Reise.« »Tschüs«, sagte sie. Er ging die Zufahrt hinauf und dachte über den letzten Punkt des Matches nach, als er sich nach einem Vorhand-Passierball von Bruce ge streckt hatte und Jennifer aus dem Nichts ge kommen war und den Ball flach über das Netz gedroschen hatte; diese Bewegung war perfekt gewesen, einer Skulptur würdig. ***
Der Sommer bäumte sich ein letztes Mal auf, die Augustsonne zog über einen bleichen Him mel, die Straßen und der Boden atmeten die Hitze – es war zu heiß, um Kohl anzupflanzen, so heiß, daß Randall hechelnd im Schatten lag. Die Hitze hielt bis in die Abendstunden an, und er spürte sie immer noch, wenn er am Morgen
aufwachte, den zwitschernden Vögeln zuhörte und wieder einschlief. Sie war weit weg, an ei nem kühlen Ort, ohne ihn, vielleicht dachte sie nicht einmal an ihn. In den Augenblicken zwischen Wachsein und Schlaf stellte er sich manchmal die Nächte an ihrem See im Norden vor – die Wasseroberflä che wie ein geriffelter Spiegel, Mondlicht, das durch die Dunkelheit tanzte und ins Auge stach. Der Schrei der Eulen. Sie schlief in einer Hütte, weiche Umrisse zeichneten sich unter der Decke ab. Ihr Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen. Er betrachtete sie. Manchmal stellte er sich ihre Tage in den Adi rondacks vor – grüne Berge und hohe Wolken, ein langes, glitzerndes V hinter einem Kanu, kleine Cousins, die über eine Wiese tollten. Sie saß am Wasser und las. Sie balancierte barfuss auf den Steinen. Er betrachtete sie. Manchmal sehnte er sich nach ihr, dachte daran, wie sie vor ihrer Haustür standen, wie er sie küsste, spürte den leichten Druck ihres Körpers gegen den seinen, so unendlich sinn lich. Er fragte sich, was mit ihm los war. Aber er wußte es, er wußte es. Manchmal sah er sie auf dem Tennisplatz, wie sie einem gefühlvollen Lob hinterherlief und ihn über die mit den Armen fuchtelnde Maggie
zurückschlug, wie sie einen Passierball an Bru ce vorbeidonnerte, wie sich alle am Ende die Hände schüttelten. Er dachte an sie, wie sie im Auto saß, als sie von Steve kamen oder aus ei nem Restaurant, wie ihre Unterhaltung Ab schnitte ihres Lebens durchwanderte, so unge zwungen, fast wie Kinder, die in der Dunkelheit miteinander flüstern. Einmal waren sie in einen Streit geschlittert. Im Bistro hatte er den Kellner um die Wein karte gebeten, es sich dann anders überlegt und gesagt: »Nein, doch nicht.« »Warum?« sagte sie. »Such dir einen aus.« »Hättest du denn gern Wein?« »Ich möchte ein Mineralwasser.« »Keinen Wein«, sagte er zum Kellner, der wieder verschwand. »Wie kommst du darauf, daß ich keinen Wein wollte«, fragte sie aufgebracht. »Du magst keinen Wein.« »Aber weshalb nimmst du das an? Ich habe es nie gesagt. Woher willst du wissen, ob ich Wein mag oder nicht?« »Ich weiß es nicht.« »Hat dir Karen etwas erzählt?« »Nein.« »Warum hast du es also angenommen?« »Weil du auf der Cocktailparty deiner Großel
tern Wasser getrunken hast, und als wir zu sammen abends essen waren, hast du den Wein kaum angerührt, und bei Steve hast du Ginger Ale getrunken. Aber ich hätte es nicht voraussetzen sollen.« »Nein.« Allmählich legte sich ihr Zorn. »Wir hatten damit ein Problem zu Hause, Lake«, sagte sie schließlich. »Ich weiß, wie das ist«, sagte er. »Meine Mutter hatte damit eine Zeitlang Schwierigkeiten. Manchmal stört mich schon allein der Gedanke ans Trinken. Ich weiß, das ist dumm, aber es ist so.« »Sag das nicht. Vielleicht hast du ja recht.« »Vielleicht möchte ich doch etwas Wein.« »Gut.« Damals war sie nicht näher darauf eingegan gen, aber er hatte das Gefühl, daß sie später darüber sprechen würden, wenn das Vertrau en zueinander gewachsen war. Aber jetzt lag eine ganze Welt zwischen ihr und ihm. Hier Hitze und feuchte Luft, dort sei ne Vorstellung von ihren sternenübersäten Nächten, kristallklaren Tagen und dem beißen den Geruch brennenden Holzes. Dann kam eine Postkarte und stellte die Verbindung her. Auf der Vorderseite prangte die Luftaufnahme
eines Sees inmitten endloser Kiefernwälder. Auf der Rückseite las er ihre Handschrift, si cher und flüssig: Lieber Lake, seit einer Woche regnet es nun fast unun terbrochen, und wir sind alle erkältet, aber trotzdem geht es mir sehr gut. Ich habe zwei Bücher gelesen, eines mit 700 Seiten über das Leben im Mittelalter, das grausiger war, als ich vermutet hatte, besonders was das Essen anbelangt. Morgen machen wir eine Wanderung, mindestens 10 Meilen, und ich hoffe, daß mich der Regen nicht von den Ber gen spült. Mein Onkel John ist gerade von Philadelphia gekommen und sagt, daß es bei Euch sehr heiß ist. Auf der Postkarte ist auch unser Camp zu sehen. Es ist die Häusergrup pe in der oberen rechten Ecke. Du fehlst mir. Jennifer. Er fehlte ihr. Es stand da, in ihrer eigenen Handschrift, ein blauer Schriftzug aus ihrem Füllfederhalter, eigenhändig vollzogen. Er nahm die Postkarte am nächsten Tag mit ins Büro und warf immer wieder einen verstohle nen Blick darauf. Bis Mary auffiel, daß er ei nem heimlichen Vergnügen nachging, und er die Karte weglegte, um sie nur noch in Gedan
ken zu lesen. Charlotte rief an. »Lake«, sagte sie, »kann eure Firma auch Regeln schreiben? Spielre geln, zum Beispiel? Ich brauche ein paar Spiel anleitungen. Es reicht, wenn du sie auf ein Stück Papier schreibst.« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Ich gebe eine Poolparty, und das Thema ist Fischen. Ich dachte, daß es vielleicht ganz lus tig wäre, ein paar einschlägige Spiele zu veran stalten.« »Frank fällt dazu bestimmt mehr ein als mir«, sagte Lake. »Er weiß alles über Fischen. Ich habe nur wenig Ahnung davon.« »Die Party gebe ich eigentlich für Frank«, sag te sie. »Ich habe mir das folgendermaßen ge dacht: Frank hat ein paar Angeln, die wir für das Spiel hernehmen könnten, und außerdem liegen irgendwo noch 'n paar alte Fischerstiefel rum. Vielleicht war es ganz witzig, 'nen Wett bewerb in Zielwerfen zu machen. Also, man muß einen Gegenstand im Pool treffen, und der Sieger gewinnt ein Glas Champagner. Ir gend so was. Und wenn man fünfmal hinter einander danebenwirft, muß man zur Strafe die Fischerstiefel anziehen.« »Hört sich ziemlich einfach an«, sagte er. »Hältst du es nicht für übertrieben, dafür extra
Spielregeln zu drucken? Warum sagst du den Leuten nicht einfach, worum es geht?« »Ja, aber ich hab mir überlegt, daß man die Regeln auf einer Art Angelschein präsentieren könnte. Jeder, der mitspielen will, kriegt einen Schein. So was braucht man doch auch fürs wirkliche Fischen.« »Die Idee ist nicht schlecht«, sagte Lake. »Natürlich kannst du mir eine Rechnung schi cken.« »Vergiß es. Ich schulde dir ohnehin einen Ge fallen. Du hast mir doch mal von dieser grau samen Betriebsanleitung deines programmier ten Sprinklers erzählt. Die Firma, die diesen Sprinkler herstellt, ist inzwischen mein Kun de.« »Das freut mich«, sagte sie. »Ich mach einen Entwurf und melde mich dann wieder. Obwohl ich auf Haken verzichten würde. Vielleicht kannst du ja einen Korken oder irgendwas aus Plastik an die Schnur hän gen.« »Frank hat jede Menge Angelkram rumliegen«, sagte sie. »Ich werd schon was ohne Haken finden.« Am Nachmittag opferte Lake zehn Minuten für einen Entwurf: ANGELSCHEIN
ausgestellt vom Department of Game and Fis heries; gültig für den Pool von Sibley; nicht gültig für andere Gewässer in Pennsylvania. Die Angelsaison wird um (Uhrzeit von Charlot te geben lassen) eröffnet. Geltungsdauer: ein Tag. Die glitzernden Flüsse und quellfrischen Seen von Pennsylvania bieten wohl die schönsten Angelgründe in Nordamerika. Der Fang, der aus dem Pool von Sibley geangelt werden kann, zeichnet sich durch perlende Schönheit aus, ist begehrt von Angler/inne/n aus aller Welt, erfordert aber spezielle, ausgeklügelte Fangtechniken: Ausrüstung: Angelleine Schwimmer. Ziel ist Schwimmreifen, der im schwimmt.
und ein Pool
Regeln: Pro Runde hat jede/r Ang ler/in 3 Versuche, den Schwimmer in den Reifen zu werfen. Preis: Ein erfolgreicher Wurf des Schwimmers in das Ziel berechtigt den/die Angler/in zu einem Glas Cham pagner oder einem anderen Getränk seiner/ihrer Wahl.
Strafe: Der/die Angler/in, der/die erfolglos wirft, muß Fischerstiefel an ziehen und diese so lange tragen, bis das gleiche Schicksal eine/n andere/n Angler/in ereilt. Die Eigentümer behalten sich vor, den Fang eine/s/r jeden Angler/s/in zu beschränken, um das natürliche Gleichgewicht im Pool von Si bley zu bewahren. ***
Es war nicht berauschend, und Lake war sich ohnehin sicher, daß Frank nichts von dieser Idee hielt. Angeln war für ihn ein geheiligter Sport schlechthin. Frank würde sich über die ses Spiel nur ärgern. Er zeigte Paul seinen Entwurf. »Das ist für eine Party gedacht«, sagte er. »Es sollte wie ein Angelschein aufgemacht sein. Könntest du 'nen Rahmen dafür entwerfen, der einigerma ßen offiziell aussieht? Aber verplempere nicht zu viel Zeit damit.« Kommentarlos nahm Paul den Entwurf entge gen und setzte sich an seinen Computer. Eine Viertelstunde später winkte er Lake zu sich herüber; der Rahmen erinnerte an die kunst voll gestaltete Umrandung eines Wertpapiers,
nur daß sich in diesem Fall springende Fische darauf tummelten. »Perfekt«, lobte ihn Lake. »Ich werde das den Leuten vorlegen, und dann drucken wir die paar Exemplare, die sie brauchen. Ich bin ih nen einen Gefallen schuldig.« Paul machte sich wieder an seine Arbeit, ohne ein einziges Wort verloren zu haben. ***
Als das Softwaremanual endlich gedruckt, ge bunden und versandt war, versprach Lake sei nen Mitarbeitern zur Belohnung ein chinesi sches Mittagessen. Um Punkt halb eins am vereinbarten Tag legten alle die Arbeit nieder und bereiteten sich auf den Abmarsch vor. Lake schaute ihnen zu. Keiner von ihnen ließ es sich nehmen, jeder auf seine Weise gebüh rend Abschied von Randall zu nehmen, der die ihm bezeugte Reverenz gnädig über sich erge hen ließ. Ein jeder hatte ein paar nette Worte und ein paar Streicheleinheiten für ihn übrig. Paul im Ton eines Terminators: »Ich komme wieder.« Danny: »Okay, Randall, du bist jetzt der Chef hier.« Rob: »Schön brav sein, Ran dall.« Mary, die ständig Keile zwischen Randall und seinen Herrn zu treiben wußte: »Ich finde es nicht fair, daß du nicht mitkommen darfst.
Ich bring dir was Gutes mit.« Menschen rasten leicht aus, wenn es um Hun de geht, dachte Lake. Die Erwartungen eines Hundes an Zuwendung und Liebe waren so ab solut, daß niemand widerstehen konnte. Es grenzte fast schon an Gehirnwäsche. Ein Hund braucht einen nur anzusehen, und plötzlich fühlt man sich verpflichtet, ihn zu streicheln oder ihm etwas Nettes zu sagen. Lake ging zu Randall und tätschelte seinen Kopf. »Damit du's weißt: Ich mach das unter Protest.« Ran dall wedelte mit dem Schwanz. Beim Mittagessen unterhielten sie sich über die Projekte, die InstruX in den vergangenen Monaten durchgezogen hatte. Sie sprachen über die Möglichkeit, einige Freiberufler zu engagieren, um Mehrarbeit in Stoßzeiten abzu fangen; auch wollten sie sich nach ein paar neuen Fotografen umsehen. Paul brauchte einen neuen Computer; er wollte die Möglich keiten von Anleitungen mit Animation erkun den. Mary regte an, über Veränderungen in der Buchhaltung nachzudenken. Danny wollte eine Reise nach Texas genehmigt bekommen, um dort einen potentiellen Kunden zu besu chen. Lake stimmte allen Vorschlägen zu. Die Leute waren für ihn wie eine Familie, selbst Rob war inzwischen unverzichtbarer Bestand
teil der Crew geworden; von allen hatte er das meiste Talent. »Nächstes Jahr wird ein Jahr der Veränderungen sein, glaube ich«, sagte Lake. Sie sahen ihn an. »Ich weiß nicht, was sich verändern wird«, sagte er. »Aber es werden positive, konstrukti ve Veränderungen sein. Wir brauchen mehr Platz.« Allmählich schweifte das Gespräch von der Arbeit ab. »Wie gefällt dir dein neues Haus, Lake?« fragte Mary. »Es ist sehr ruhig.« »Schreib jede Einzelheit auf, die du im Haus machst«, schlug Danny vor. »Wir könnten einen InstruX-Leitfaden für frischgebackene Hausbesitzer herausgeben. Wie man bei der Küchenplanung an die richtigen Handwerker kommt – Problembewältigung und so weiter.« »Es gibt nicht viel, worüber ich Notizen ma chen könnte«, sagte er. »Im Moment herrscht eine eher statische Situation.« »Fehlt dir deine alte Wohnung?« fragte Mary. »Ich kann mich kaum noch an sie erinnern.« »Die schwindende Vergangenheit, die un sichtbare Zukunft, die weglose Gegenwart«, murmelte Rob. »Wie bitte?« fragte Lake.
»Das ist eine Zeile aus meinem Theaterstück.« »Meinst du das Stück, in dem der Computer mit dem Astronauten in der Zukunftsform spricht?« »Der Astronaut sagt das. Aber eine Freundin von mir hält es für prätentiös. Sie ist Schau spielerin, also hat sie vielleicht recht.« »Gefällt mir gut«, sagte Lake. »Vielleicht häng ich noch einen Akt an. Das Raumschiff kollidiert mit interstellarem Müll, und plötzlich spricht der Computer nur noch in der Vergangenheitsform.« »Jetzt hab ich's kapiert«, sagte Danny. »Der Astronaut sagt: ›Ich sehe, daß wir uns einem Planeten nähern. Computer, wird seine Atmo sphäre erdähnliches Leben ermöglichen?‹ Und der Computer sagt: ›Nein, sie hat es nicht er möglicht.‹ Und der Astronaut sagt: ›Wird sie es denn ermöglichen?‹ Und der Computer sagt: ›Diese Frage macht keinen Sinn.‹« »Hat keinen Sinn gemacht«, korrigierte Rob. Lake füllte noch einmal seinen Teller und fragte sich, wer wohl jetzt in seiner Wohnung wohnte. Dann dachte er über die weglose Ge genwart nach. Sie könnte überallhin führen. ***
Eine zweite Ansichtskarte flatterte ins Haus,
diesmal mit Bergen in leuchtendem Herbst laub. Lieber Lake, endlich ist die Sonne herausgekommen, und es ist einfach super hier. Jackie (Kusine) und ich sind schon um den ganzen See ge paddelt. Ich spüre meine Arme kaum noch, aber es hat riesigen Spaß gemacht, alles war so friedlich und schön. Wir sind erst nach Sonnenuntergang zurückgekommen. Am liebsten würde ich für immer hier bleiben, aber vermutlich bin ich früher zu Hause als diese Karte. Außerdem ist es im Winter lau sig kalt, und die Blätter verfärben sich all mählich. J. Immer wieder las er die Postkarte. Nichts dar über, daß sie ihn vermißte. Es stand nur da, daß sie die Adirondacks vermissen würde. Die se Karte hätte sie ebensogut an einen x-beliebi gen Bekannten schicken können. Vielleicht sah sie das auch so. Er las daraus: Wir sind Post kartenfreunde. In zwei Tagen, wenn sie wieder in Philadel phia wäre, würde sie ihn bestimmt nicht anru fen. Vielleicht nach einer Woche: Du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Arbeit liegenge blieben ist, würde sie sagen. Leider bin ich erst
jetzt dazugekommen, dich anzurufen. Wie war's bei dir? Wie geht's Randall? Vielleicht hast du ja Lust, wieder mal Tennis zu spielen. Hast du es dir mit dem Haus inzwischen an ders überlegt? Oder vielleicht würde er sie anrufen. Ich woll te nur mal hallo sagen, würde er beginnen. Danke für die Ansichtskarten. Im Büro war der Teufel los. Vielleicht treffen wir uns ja wieder einmal. Und während er das sagen würde, würde er denken, was er wirklich empfand: Du hast mir gefehlt; ich habe täglich tausendmal an dich gedacht; ich träume von dir; ich möchte stän dig mit dir Zusammensein. Aber nichts davon könnte er ihr sagen. Also würde er sie nicht an rufen. ***
Es kam das Wochenende des Labor Day, und es wurde noch heißer. Am Sonntag ging er mit Randall in den Park, um dessen Eignung für einen Haustierleitfaden auf Video zu testen. Sie arbeiteten mit Basisbefehlen: Sitz, Platz, Komm, Halt. Schon bald langweilte sich Ran dall; er weigerte sich zu sitzen, weigerte sich zu liegen und weigerte sich schließlich, ihm über haupt zuzuhören.
»Hi, Luke«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um. »Hallo, Holly, hallo, Tina.« »Was machst du da?« fragte Holly. »Ich teste ihn gerade für Probeaufnahmen. Er wird es allerdings nicht schaffen, auf die Beset zungsliste zu kommen. Ich dachte daran, ihn in einem Video mitspielen zu lassen, aber er ignoriert den Regisseur.« »Was ist mit seinem Fell passiert?« »Er ist an eine dilettantische Kosmetikerin ge raten.« Randall und Chloe näherten sich einander. Sie gestattete seine Aufmerksamkeiten gnädig, vielleicht sogar mit einer Spur von Interesse. Tina warf für Sable einen Tennisball. »Ich hab dich hier schon lang nicht mehr ge sehen«, sagte Holly. »Stimmt. Ich hatte viel zu tun.« »Ich hab übrigens deinen Rat beherzigt. Ich werde nicht nach Missouri gehen.« »Sehr gut, Holly.« »Es gefällt mir hier. Ich könnte nicht mehr zu rückgehen.« Lake freute sich für sie. Sie schien glücklich zu sein. Sie trug ihr Haar kürzer als zu Som meranfang, und sie war braungebrannt. Die goldene Halskette stand ihr ausgezeichnet. »Bist du am Meer gewesen?« fragte er.
»Fast jedes Wochenende. An diesem Wochen ende ist mir allerdings zu viel Verkehr. Und du?« »Ich war im Juli in Nantucket.« »Soll schön sein dort.« »Ist es auch.« »Und was hast du gemacht?« fragte sie. »Meistens rumgehangen. Ich sollte mich viel leicht mehr bewegen.« »Du solltest Mitglied in meinem Fitneßclub werden.« »Mhm.« »Er heißt Skyvane und ist in der Germantown Avenue«, sagte sie. »Da gibt es wirklich alles, und es ist nicht teuer.« »Mal sehen«, sagte er. »Schau dir die beiden an«, sagte sie und zeigte auf Randall und Chloe, die sich nun gegenseitig die Schnauzen leckten. Lake mußte lächeln, als er es sah. »Vielleicht wollte ich ihn für das falsche Video besetzen«, sagte er. »Die sind ja süß«, begeisterte sich Holly. »Randall tendiert dazu, sein Glück herauszu fordern.« »Wohnst du hier in der Nähe?« fragte sie. »Eine Viertelstunde zu Fuß.« »Tina und ich wohnen dort drüben.« Sie zeig
te auf ein Gebäude auf der anderen Parkseite. »Wir wohnen ebenerdig.« »Da ist der Park ja geradezu ideal für euch.« »Ja, aber du solltest wirklich öfter herkom men. Die Leute hier sind wirklich super.« »Ja, vielleicht hast du recht.« »Ich werde heut nachmittag wieder hier sein«, sagte sie. »Dann wird's allerdings ziem lich laut, weil alle hier Picknick machen und Fußball spielen, aber drüben am Waldrand kann man schön in der Sonne liegen. Das mach ich immer. Ideal, wenn man braun werden will.« »Ich muß heute nachmittag zu einer Poolpar ty«, sagte er. Er rief Randall. »Na dann, viel Spaß«, sagte Holly. »Dir auch.« ***
Anstatt zur Party zu gehen, nahm er sich vor, die liegen gebliebenen Fachzeitschriften zu le sen. Charlottes Einladung war unverbindlich gewesen – »ein Sommerabschlußfest«, hatte sie es genannt: »Halb Amerika ist im Urlaub.« Er saß im Garten und arbeitete sich durch eine Reihe von Artikeln, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er war ver schwitzt. Die Fahrt zu Charlotte würde sich
schon allein für ein kurzes Bad im Pool lohnen. Abgesehen davon würde die Zeit schneller ver gehen. Er griff sich ein Jackett und eine Bade hose und fuhr zur Sibley's Farm hinaus. Als er in die lange, baumbestandene Zufahrt bog, verstand er wie so oft nicht, daß es Char lotte hierher verschlagen hatte. Welcher Zufall hatte sie auf dieses Anwesen gebracht, in die ses riesige, verschachtelte Gebäude, die Felder und Holzzäune, dazu angetan, die Nachbarn auf Distanz zu halten; mitten aufs Land mit ei nem Ehemann, der zwanzig Jahre älter war als sie, berühmt für seine Grobschlächtigkeit und seinen Hang zum anderen Geschlecht. Sie lieb te Geld, aber es mußte mehr gewesen sein, et was, das Lake nicht ganz kapierte. Einmal hat te sie zu ihm gesagt: »Ihm ist völlig egal, was ich denke.« Vielleicht war das Teil der Anzie hungskraft. Mehr als ein Dutzend Autos parkten entlang der Auffahrt. Als er ausstieg, wehte das Krei schen einer weiblichen Stimme zu ihm her über. Er ging den Geräuschen nach bis zum Pool. Die Party war in vollem Gange – die Gäs te aßen an Tischen, standen mit ihren Drinks am Rand des Pools, räkelten sich auf Liege stühlen, ein paar von ihnen planschten im Wasser, alle plauderten und amüsierten sich.
Und in das Geplapper mischten sich brasiliani sche Klänge. Ein dickbäuchiger Mann hüpfte vom Sprungbrett und klatschte, Wanst voraus, auf die Wasseroberfläche, daß das Wasser nur so spritzte. »Fünf Komma neun«, schrie einer. Ein anderer, der in Lakes Nähe stand, murmel te: »Zwei Komma eins, du Fettsack.« Er entdeckte Charlotte. Über ihrem Badean zug trug sie eine hauchdünne offene Robe; silbrig glänzend, mit Schuppenmuster. Sie hielt ein leeres Champagnerglas in der Hand und unterhielt sich mit ein paar weiblichen Gästen, die Lake nicht kannte; nur wenige Ge sichter waren ihm vertraut. Mehrere Zettel lagen auf dem breiten Becken rand verstreut; seine Angelscheine, benutzt und weggeworfen. Ein Paar Fischerstiefel – die Strafe für erfolgloses Werfen – stand neben dem Sprungbrett. Die Schwimmreifen trieben noch immer im Pool. Er beobachtete die Szene. Auf dem Rasen in der Nähe des seichten Pools stand eine Bar, be wacht von einem Barkeeper mit ausdruckslo ser Miene und Sonnenbrille; ein orangefarbe nes Fischernetz lag als Tischtuch über der Bartheke, und ein Paar gekreuzter Ruderblät ter sorgte für den nötigen maritimen Touch. Eine Frau in gestärktem, blauem Kleid stand
hinter einem langen Buffet mit den Überresten eines riesigen Lachses. Charlotte hatte hart an ihrem Thema gearbeitet. Zwei kurze Hochsee angelruten mit glitzernden Messingrollen steckten wie Fahnenstangen an jeder Seite des Buffets; große, graue, aufblasbare Fische – Kinderspielzeug – hingen von den Spitzen der Angelruten. Aufblasbare Schildkröten, an den Schwänzen mit Angelleine aneinandergebun den, bildeten einen dekorativen Bogen über dem Tisch. Am Pool war eine Art Anschlag brett, auf dem ›FISHING CAMP‹ stand. Eine von Franks ausgestopften Trophäen, ein großer, schimmernder Marlin, war darunter angebracht worden, sozusagen als Beweis für die Richtigkeit der Aussage. Am Weg zum Haus hatte Charlotte ihr gelun genstes Dekorationsstück ausgestellt: eine männliche Schaufensterpuppe, die in einem kleinen Aluminiumboot mit flachem Bug saß. Die Schaufensterpuppe trug sämtliche Insigni en eines richtigen Fischers – Stiefel, schwere Khakihosen, ein Flanellhemd und eine Weste mit unzähligen Taschen sowie einen Stoffhut, übersät mit Blinkern und künstlichen Fliegen. In der rechten Hand hielt die Schaufenster puppe eine Angelrute zum Lachsfischen. Lake sah sich diese Komposition aus der Nähe an.
Im Heck lag eine offene Box mit Angelzubehör. Unter den diversen Ködern lag auf der obers ten Etage eine Packung Kondome. Zu Füßen der Schaufensterpuppe waren Plastikfische und eine leere Flasche Whiskey arrangiert. Ein Stück Papier prangte am Hut der Puppe: »Frank«. Eine Frau kreischte, fiel rückwärts in den Pool, und ein Mann sprang hinterher. Ein Pär chen tanzte neben dem Badehaus. Lake zog sein Jackett aus und ging zu Charlotte hinüber. »Eine Forelle, wie ich annehmen darf«, sagte er. Sie wandte sich von den Damen ab, mit denen sie gerade gesprochen hatte, schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihre Wange an sein Gesicht. »Ich bin der Fang des Tages«, sagte sie. »Komm, zieh deine Klamotten aus. Du gehst jetzt mit mir fischen.« »Wo ist Frank?« fragte er. »Wo ist Frank immer?« »Kein Frank?« »Frank ist beim Angeln. Frank ist selbstver ständlich in Kanada. Oder war es Alaska? Hof fentlich fressen ihn die Mücken auf. Aber was er kann, können wir schon lange. Wir können unsere eigene Fischerparty feiern. Das ist eine so genannte Konkurrenzveranstaltung.«
»Das sehe ich.« »Gefällt es dir?« fragte sie und deutete auf das Boot und die Schaufensterpuppe. »Sie ist Frank wie aus dem Gesicht geschnit ten«, sagte er. »O nein, wo denkst du hin! Frank sieht wirk lich nicht so gut aus. Was meinst du? Soll ich ein Foto davon machen und es ihm zeigen?« »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.« »Kann sein, obwohl ich gute Lust dazu hätte.« »Wo hast du all diese Gummifische bloß auf getrieben?« fragte Lake, weil ihm nichts ande res einfiel. »Ich hab 'nen Laden aufgekauft«, sagte sie. »Zieh deine Badehose an. Du siehst aus, als ob du gleich schmilzt.« »Ja, gleich. Wie ist dein Angelspiel gelaufen?« »Oh, das war sehr lustig. Sally Emmett hat die Stiefel fast die ganze Zeit tragen müssen, weil alle anderen ziemlich gut geworfen haben. Du kannst dir sicher vorstellen, wie begeistert sie war. Ein paar Leute haben pro Runde zweioder dreimal ins Ziel geworfen. Leider haben wir uns nicht einigen können, ob man nach den Regeln einen Drink pro Runde oder einen für jeden Treffer bekommt. Also habe ich ent scheiden müssen.« »Und wie hast du entschieden?«
»Ein Drink pro Runde.« »Kluges Kind.« »Aber diese Verrückten haben die Angelruten zerbrochen. Sie haben ein paar von den auf blasbaren Fischen an die Leinen gebunden und auf die Fische gezielt. Die haben die ganzen Angeln ruiniert, die Blödmänner. Was das für einen Sinn hatte, weiß ich nicht. Sogar mir ist bekannt, daß man nicht mit Fischen wirft.« »Die Regeln waren nicht eindeutig genug«, sagte er. »Ich hätte wissen müssen, daß den Leuten einfallen könnte, auf Fische zu werfen. Ich hätte eine weitere Strafe einbauen müs sen.« »Aber es hat riesig Spaß gemacht«, sagte Charlotte, »und jetzt holst du dir einen Drink und etwas zu essen und ziehst deine Badehose an. Der Tag ist noch jung. Ich glaube, wir wer den zum Nachtfischen gehen.« »Ich wollte eigentlich nur auf einen Sprung in den Pool vorbeikommen und ein paar Leute festnehmen«, sagte er. »Als Hüter von Recht und Ordnung.« Der ballonbäuchige Johnnie platschte in den Pool. Charlotte hüpfte zurück. »Arschloch«, sagte sie. »Vielleicht meint er, er fischt mit Dynamit«, sagte Lake.
Charlotte zog ihre Forellenrobe aus und un tersuchte, wo er sie angespritzt hatte. Lake ging zum Badehaus, um sich umzuziehen. Am Beckenrand blieb er kurz stehen. Am Grund des Pools lagen die beiden Angelruten vom An gelscheinspiel; die aufblasbaren Fische hingen immer noch an der Leine. Beide Angelruten waren im oberen Drittel gebrochen; nicht mehr zu reparieren. Es waren Fliegenruten aus gesplittetem Bambus – empfindlich, alt, schön, zweifellos ein paar tausend Dollar wert. Aber es war passiert, und vermutlich würde noch mehr passieren, bevor dieser spezielle Angelausflug zu Ende war. Er würde schnell in den Pool springen und sich dann verkrümeln.
12 Als er am Dienstagabend in der Bibliothek saß und zuschaute, wie das Tageslicht verblasste, verblassten auch die unbedeutenden Gedan ken und hinterließen eine einzige, übermächti ge Tatsache: Sie ist wieder zurück. Sie ist hier. Irgendwo. Immer wieder hatte er ihre Postkar te gelesen und wußte, daß es nur eine Schluss folgerung gab: Es wird nichts daraus; er hatte zugelassen, daß sich seine Gefühle vertieften,
er hatte jeden Bezug zur Realität verloren; er hatte sich alles nur eingebildet. Sie war wieder da, ein paar Kilometer getrennt von ihm, mit Menschen zusammen, aber nicht mit ihm. Oder vielleicht war sie auch allein, jedenfalls nicht mit ihm. Am liebsten würde ich für immer hier blei ben, aber vermutlich bin ich früher zu Hause als diese Karte. Außerdem ist es im Winter lausig kalt, und die Blätter verfärben sich allmählich. J. Robs Theaterstück über den Astronauten und den Computer fiel ihm ein. Wenn alles in der Zukunftsform bleibt, kann einen nichts berüh ren; das war die Essenz von Robs Idee. Man könnte sich Sorgen machen, man könnte einen Grund haben, depressiv zu sein, aber man würde keine Wunden lecken und würde nie enttäuscht werden. Er testete das Konzept, in dem er in Gedanken einen Kurzfilm aus der Zukunft ablaufen ließ: Lake wird in ein Stadt haus umziehen. Seine Wohnung wird im Dach geschoß und die Büros von InstruX werden in den unteren Etagen liegen; Bill wird sich ent schließen mitzumachen und Lake dadurch Ge legenheit geben, ausgiebig Urlaub in der Kari bik und in Europa zu machen, wo er die Frau
kennenlernen wird, die er heiraten wird, eine ehemalige Skirennläuferin aus Belgien, Olym piateilnehmerin, mit einem bezaubernden Ak zent. Jennifer wird nach Kalifornien ziehen, ihren Bob heiraten und sich in der Immobili enbranche eine goldene Nase verdienen; sie wird zwei Kinder haben, Bob und Jennifer; viele Jahre später werden sich Jennifer und Lake zufällig in Los Angeles treffen; sie wird sagen: »Ich kenne Sie doch von irgendwoher«; er wird sagen: »Ja, das stimmt«; sie wird sa gen: »Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor, aber ich weiß nicht, wo ich es hintun soll«; er wird sagen: »Philadelphia, im Sommer, vor vielen Jahren. Sie wollten mein Haus verkau fen«; »Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Blake, richtig? Was für eine nette Überraschung! Nett, dich mal wieder zu sehen, Blake. Übri gens bin ich sehr glücklich verheiratet.« Es tat überhaupt nicht weh. Man mußte nur in der Zukunft bleiben, denn in der Gegenwart war nichts davon passiert, schon gar nicht die unangenehmen Sachen. Aber er wußte, daß er sie anrufen würde. Um seine Nerven zu stärken, pilgerte er in das Wohnzimmer und stellte sich vor das Porträt von Onkel Paul. Rückwirkend keimte Verach tung in ihm auf. Er ging ans Telefon.
Beim ersten Versuch hörte er das Besetztzei chen, auch beim zweiten. Als er schließlich durchkam, war jemand am Apparat, der nach Mike klang. Im Hintergrund sprachen mehrere Leute. Er fragte: »Ist Jennifer da?« »Jennifer! Jennifer!« rief Mike. »Telefon für dich. Nein. Richtig. Okay. Jemand will dich sprechen.« Nach einer Weile kam Jennifer ans Telefon. »Hallo?« meldete sie sich. »Hallo, ich bin's, Lake.« »Oh, hallo, Lake«, sagte sie fröhlich. »Bist du gerade zurückgekommen? Störe ich gerade?« »Ich bin heute Nachmittag zurückgekommen«, sagte sie. »Am Flughafen war der Teufel los. Einer meiner Koffer ist nicht mitgekommen.« »Na ja, vermutlich bringen sie ihn dir heut Abend nach.« »Bestimmt«, sagte sie. »Nach Hause zu kommen muß ja ein richtiger Klimaschock für dich gewesen sein, oder?« »Irgendwie bin ich ein bißchen orientierungs los.« »Hattest du 'nen schönen Urlaub?« »Ja, wunderschön. Aber ich bin von dem vie len Regen ganz durchweicht. Wie geht's dir?«
»Ausgezeichnet. Wunderbar. Sehr beschäf tigt. Hab nur gearbeitet.« »Ich mag gar nicht an die Arbeit morgen den ken.« »Feiert ihr gerade etwas?« »'ne kleine Wiedersehensfeier. Maggie und Terry sind auch gerade erst eingetrudelt.« »Es geht doch nichts über ein Essen am heimi schen Herd.« »Bruce kocht. Er macht Pasta Primavera.« »Hoffentlich mit Salat«, sagte Lake. »Kein Salat. Der ist in der Pasta.« Lake dachte daran, Lebensregeln aufzustel len: Regel Nr. 1: Traue dir niemals selbst. Folgerung aus Regel Nr. 1: Schenke vor allem deinen Empfindungen kein Vertrauen. Nichts ist so, wie es scheint. »Hast du meine Karten bekommen?« erkun digte sie sich. »Ja. Die Adirondacks sehen wie richtige Wild nis aus.« »Ich habe ein paar Fotos gemacht«, sagte sie, »obwohl du sie bestimmt schlecht finden wirst.« »Ich würde sie mir gern mal ansehen«, sagte er. »Eigentlich möchte ich aber dich gern se hen.« Er hörte, wie jemand im Hintergrund et
was rief. Dann schrie jemand eine Antwort. Er überlegte, ob es angebracht sein könnte, die Unterhaltung in Zukunftsform zu führen. Ich werde dich bitten, mich zu treffen, wenn du es auch wollen wirst; ja, wir werden zusammen zum Abendessen gehen, falls du damit einver standen sein wirst. Aber er sagte: »Hast du Lust, morgen Abend mit mir zum Abendessen zu gehen?« »Sehr gern.« »Dann hole ich dich um acht ab, wenn's dir recht ist.« »Sehr recht sogar.« ***
Als er sie sah, durchrieselte ihn Frieden – al lein ihre physische Anwesenheit löste auf wun derbare Weise jede Anspannung. »Du bist ja richtig braungebrannt«, stellte sie fest. Er dachte: Du bist das Gesicht, das ich seit drei Wochen gesehen habe. Du bist die Stim me, die ich gehört habe. »Letztes Wochenende war ich häufig in der Sonne.« »Und ich bin im Regen blass geblieben«, sagte sie. »Stimmt gar nicht.« »Schau, was für Muskeln ich vom Rudern ge
kriegt habe«, sagte sie und spannte ihren Bi zeps. »Wow!« Als sie zum Auto gingen, sagte er: »Du hast mir gefehlt.« »Du mir auch.« Bevor er den Motor anließ, beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie wortlos, weil er nicht anders konnte und weil sie sich freute, ihn zu sehen. Als sie im Restaurant saßen, ver tiefte sich der Frieden, und bald schon hatten sie wieder dorthin zurückgefunden, wo sie vor her schon gewesen waren – sie unterhielten sich, ohne zu denken, eingehüllt in einen ge meinsamen Kokon. Er erzählte ihr von der Arbeit und von Rob, dem neuen Mitarbeiter, der mühelos jede Un klarheit beseitigte. »Eigentlich sollte ich sein Mitarbeiter sein und nicht umgekehrt«, sagte Lake. »Obwohl er erst seit einem Monat bei uns ist, habe ich größte Angst davor, ihn zu verlieren.« »Befürchtest du denn, daß er nicht bleiben könnte?« »Er ist ein Künstler.« »Alle anderen sind geblieben«, sagte sie. »Du hast mir erzählt, daß alle quasi von Anfang an dabei sind. Vielleicht verläßt man deine Firma
einfach nicht.« »Hoffentlich«, sagte er. »Und du? Denkst du auch so ähnlich über deine Firma? Könntest du dir vorstellen, in zehn Jahren noch dort zu arbeiten?« »Keine Ahnung. Manchmal glaube ich, daß ich eine Veränderung bräuchte.« »Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte Lake. Dann kehrte sich der Gedanke um. »Ich habe dich vor zehn Jahren kennen gelernt.« »Elf.« »Ganz schön lang her«, meinte er. »Ganz schön lang her«, meinte sie. »Ist schon merkwürdig.« Sie sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, den er nicht deuten konnte. »Ich habe dich da mals richtig niedlich gefunden«, sagte sie. »Wie bitte?« »Mit dreizehn.« »Niedlich?« »Ja, schon.« »Und wie findest du mich jetzt?« Aber sie war mit ihren Gedanken woanders. Nach einer Weile sagte sie: »Du bist anders als damals.« »Gott sei Dank! Ich möchte nicht unbedingt für niedlich gehalten werden.« »Auch anders als vor ein paar Monaten.«
Darauf wußte er keine Antwort. Als er sie vor ihrer Tür absetzen wollte, sagte sie: »Im Fernsehen läuft heute ein guter Film. Hast du Lust?« »Klar.« Sie holte aus der Küche Kartoffelchips und machte es sich neben ihm auf dem Sofa be quem. Er legte einen Arm um sie. Von oben waren Schritte zu hören. »Wer ist das?« fragte er. »Maggie.« Sie sahen sich die zweite Hälfte des Films an. Als der Film fast zu Ende war, kam Mike nach Hause, winkte ihnen zu und ging nach oben. Dann setzten Violinklänge ein, die Kamera fuhr zurück, bis der Held nur noch ein Fliegen schiss auf dem Bildschirm war, aber bis zur letzten Einstellung ein Gentleman. Lake sagte: »Ich muß gehen.« Sie nickte. An der Haustür gab er ihr einen zarten Kuss. »Gute Nacht«, sagte sie. ***
Ein weiterer Abend: Abendessen; sie unter hielten sich über ihre Kusine Jackie, unterhiel ten sich über Karen, unterhielten sich über nichts, hatten das Gefühl, zu zweit auf einem Floß zu schwimmen. Dann ein weiterer Abend:
Abendessen, Kino. Zehn Minuten einer Ge schichte über einen mordlustigen Teenager und seine hirngeschädigte Mutter, dann flüs terte er: »Schrecklicher Film.« »Finde ich auch.« »Gehen wir?« »Ja.« Vor dem Kino sagte er: »Wir könnten zu mir gehen.« »Gut.« »Wenn es dir lieber ist, könnten wir auch zu dir gehen. Oder in einen Jazzkeller, in dem ich schon mal war. Zu dir ist es am nächsten.« »Gehen wir zu dir.« An der Haustür begrüßte sie Randall. »Siehst du, er erinnert sich noch an dich«, sagte Lake. »Eigentlich erinnert er sich an fast alles. Aber nur, wenn er will. Wenn ich ihm sage, daß er nicht aufs Bett darf, erinnert er sich bestimmt nicht dran.« Lake führte sie in das Wohnzimmer und schaltete dann überall die Lampen ein. Er schaltete das Licht über dem Porträt von Onkel Paul ein. Dann ging er ins Esszimmer und schaltete dort die Beleuchtung ein. »Entschul dige bitte. Hier ist es überall so dunkel«, sagte er. »Ich benutze diese Räume eigentlich nie.« »Wo hältst du dich am liebsten auf?«
»Der Dachboden ist schön.« »Ich meine hier unten.« »In der Bibliothek und der Küche. Die ande ren Zimmer benutze ich nie.« »Sind sie dir zu unpersönlich?« »Keine Ahnung. Ich fühl mich einfach noch nicht wohl darin.« »Dann schalt das Licht doch wieder aus«, sag te sie. »Aber dann spüre ich die große Leere.« »Dann schließ die Türen. Oder schließ die Tür zum Wohnzimmer. Wenn du in die Küche willst, mußt du durch das Esszimmer und das Anrichtezimmer. Aber du gehst ja nur durch.« »Die Tür schließen?« fragte er verdattert. »Bis du das Gefühl hast, du möchtest sie wie der aufmachen.« »Und du würdest das tun?« »Du tust ja nichts anderes, als das Licht aus schalten und die Türen schließen«, sagte sie. »Du reißt ja keine Wände ein, obwohl du das natürlich auch machen könntest.« »Die Dinge müssen sich entwickeln, hast du einmal gesagt.« »Richtig.« »Geduld«, sagte er. »Es ist schwer, ein Haus vom ersten Augen blick an zu begreifen. Manchmal ist es falsch,
sofort aktiv zu werden.« Er ging in die Eingangshalle zurück. Zögernd zog er probeweise die Wohnzimmertür zu. Das Schloß rastete mit lautem Klicken ein. Der Raum war weg. »Und wie fühlst du dich jetzt?« fragte sie. »Nicht schlecht. Sogar recht gut.« »Na siehst du.« Er machte die Tür wieder auf, schaltete die Lampe im Wohnzimmer aus und machte die Tür wieder zu. »Möchtest du etwas essen oder trinken?« fragte er. »Nein, vielen Dank.« Er schloß die Tür zum Wohnzimmer. »Jetzt bleibt noch die Bibliothek«, sagte er. »Wir nä hern uns allmählich dem Minimum.« »Und was hältst du von der Bibliothek?« frag te sie. »Sehr viel.« Er führte sie hinein. »Der da ge hört Randall«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. Wie auf Befehl tappte Randall herein, hopste auf den Lederstuhl und rollte sich zu ei ner Kugel zusammen. »Möchtest du fernsehen?« fragte er. »Ich weiß aber nicht, was läuft.« »Was machst du normalerweise, wenn du hier bist?«
»Musik hören, wenn ich nicht gerade lese oder arbeite.« »Dann würde ich gern Musik hören«, sagte sie. Lake wählte ein Klavierkonzert von Mozart, gerade so laut, daß sie sich noch ungestört un terhalten konnten. Sie kuschelte sich an ihn. »Erzähl mir, wie es ist, Kanu zu fahren«, bat er. »Es ist einfach schön.« »Und jetzt erzähl mir bitte, was für ein Gefühl es ist, wenn das Paddel ins Wasser taucht.« »Es ist einfach schön.« »Und jetzt erzähl mir doch bitte, was das Kanu für ein Geräusch macht, wenn es durch das Wasser pflügt.« »Ein schönes Geräusch.« Er küsste ihr Haar, ließ sich ins Kissen sin ken, und die Gedanken an das Kanu vermisch ten sich mit Mozart. Mitten im zweiten Satz schlief sie ein, ihr Kopf lag an seiner Schulter, und ihre Lippen hatte sie leicht geöffnet. Er verhielt sich ganz ruhig, Zufriedenheit umgab ihn – alles außer ihm schlief. Die Gegenwart war nicht weglos: Der Weg schlief an seiner Schulter. Nach einer Weile bewegte sie sich. »Schläfst du?« fragte er sie.
»Nein.« Sie kuschelte sich an ihn. Das Verlangen überrollte ihn wie eine Lawi ne. Sie lag in seinen Armen, hielt sich an ihm fest; er verlor sich im Geschmack ihrer Haut, dem Geräusch ihres Atems, konnte nicht genug von ihr bekommen, begehrte sie unendlich. Er konnte kaum sprechen, flüsterte nur: »Komm mit nach oben.« Auf der Treppe blieben sie ste hen, tauschten Küsse, die nicht warten konn ten, standen benommen voreinander und fühl ten, wie das Universum um sie herum rauschte. Sie setzten sich aufs Bett. Sie sanken in eine unvorstellbare Tiefe, hielten einander fest, lie ßen sich davontragen, vereinigten sich zu einer Reise, schöner als alles, wovon er die ganze Zeit in seiner Sehnsucht geträumt hatte. ***
Die Tage eines neuen Lebens verstrichen, al les veränderte sich: die Luft, die Erde, auch er selbst. Die Hitze war abgeklungen, der Himmel hatte sich in ein reines Blau verwandelt, und einmal beobachtete er eine schwankende For mation von Gänsen, die über ihn hinweg schaukelte. Dann wieder segelte eine Armada von Kumuluswolken vorüber – unerschütterli che, silbrigweiße Haufen, die auf einem nicht
spürbaren Wind dahinritten. Die Blätter der Hartriegelbäume verfärbten sich wie reifende Äpfel. Einzelne Ahornblätter vergilbten an den Astspitzen, einige davon tanzten zu Boden. Ei cheln und Bucheckern fielen von den Bäumen. Er kaufte einen Rechen. Das Gras war so üppig und so grün, daß er es sauber halten wollte. Das Zirpen der Grillen verebbte, und die Vö gel unterhielten sich seltener, die Blumen welkten, aber er genoß diesen Niedergang als Eintritt in eine Ruhepause, lauschte den Ver änderungen wie einer Musik. »Was ist los mit dir, Lake?« fragte Mary eines Tages. »Den ganzen Morgen schon grinst du wie ein Honigkuchenpferd.« »Ach, ich träume nur.« Sie nickte. Ein paar Minuten später hörte er ein Hüsteln und schaute zu ihr hinüber. Er wußte schon, daß es wieder ein Lake-Schild gab. Sie hatte die Hände gefaltet und ihre Au gen in Verzückung gen Himmel erhoben. Auf dem Schild vor ihr standen keine Worte, son dern nur:
Sie entspannte sich, lächelte ihn liebevoll an und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Es ist dir aufgefallen, Mary, wollte er sagen. Du hast
recht. Mit jedem Tag vertieften sich seine Gefühle, wuchsen unter dem Eindruck der winzigsten Begebenheiten. An einem Sonntag kam sie zu ihm nach Hause, bevor er ins Büro ging, und sie bereiteten gemeinsam einen Brunch vor. Er verquirlte Milch, Eier und Mehl miteinander und versprach perfekt zubereitete Pfannku chen. »Perfekte Pfannkuchen gibt es nicht«, sagte sie. »Schau her«, sagte er. »Wie groß möchtest du deinen Pfannkuchen?« »Mittel.« Lake goss Teig in die Pfanne. »Zu klein«, sagte sie. Lake goss noch eine kleine Menge dazu. Sie betrachtete den Pfannkuchen mit prüfendem Blick. »Noch immer zu klein«, stellte sie fest. Er schüttete noch etwas Teig in die Pfanne. »Er ist nicht rund«, sagte sie. »Er muß perfekt rund sein.« Er wendete den Kuchen mit einem Pfannen heber. »Ein bißchen dicker sollte er sein«, sagte sie. »Außerdem muß er an beiden Seiten die genau gleiche Farbe haben.« »Man kann ihn essen, oder wie siehst du
das?« »Ja.« »Essbarkeit ist der Maßstab«, sagte Lake. »Das hier ist ein perfekter Pfannkuchen.« Dann machte sie einen Pfannkuchen, der ei nem vierblättrigen Kleeblatt ähnelte. »Das hier ist ein Glückspfannkuchen«, sagte sie, und er wußte, daß sie ihn und sich damit meinte. Manchmal, wenn er und Jennifer miteinan der schliefen, hatte er das Gefühl, in Lust zu ertrinken. Einmal sagte sie: »Lake ist ein komi scher Name. Hört sich wie ›lecken‹ an« und leckte sein Ohr, seine Wange, seinen Hals und trieb ihn damit fast zum Wahnsinn. Manchmal drifteten sie unendlich sanft auf ihr Ziel zu. Manchmal lagen sie nur nebeneinander und unterhielten sich leise. Er wollte ihr nicht sa gen, wieviel sie ihm bedeutete – noch nicht. In dieser Hinsicht waren sie beide schüchtern. Aber das würde noch kommen. Dann war es Zeit für Jennifer, nach Hause zu gehen. Er wünschte sich, daß sie bliebe, damit er mit ihr gemeinsam das Zwitschern der Vö gel beim Aufwachen erleben konnte, aber sie sagte immer: »Ich muß nach Hause.« Die Fahrt von Chestnut Hill nach Merion – achtzehn Ki lometer und zwanzig Minuten quer durch die Stadt – machte ihm nichts aus. Die Fahrt nach
Hause war es, die ihm schwer fiel. Er fragte sich, wann er zu ihr würde sagen können: »Ich bringe dich morgen früh nach Hause«, oder »ich würde gerne mit dir hier zusammen woh nen«. Es war nur ein kleiner Schatten, so wie es auch ein kleiner Schatten war, daß sie an den Wochenenden arbeiten mußte. An solchen Ta gen ging er wieder in den Park. An einem Sonntag entdeckte er Holly, die in der Nähe der Bäume auf einem Badetuch saß und Zei tung las. Chloe saß neben ihr. Holly trug ein weißes Herrenhemd und ein Bikinihöschen. Als sie ihm zuwinkte, ging er zu ihr. »Na, was gibt's Interessantes auf der Welt?« fragte er und deutete auf die Zeitung. »Überhaupt nichts. Tina hat gesagt, daß du gestern mit Randall hier trainiert hast.« »Ach, das ist vergebene Liebesmüh. Er macht nur, was er will.« »Lass es mich mal versuchen«, sagte sie und sprang auf. Sie ging zu Randall, beugte sich zu ihm hinunter, schaute ihm in die Augen und sagte: »Sitz.« Auf der Stelle setzte sich Randall. Aufmerksam erwartete er ihren nächsten Be fehl. »Ich glaub's einfach nicht«, sagte Lake. »Du mußt ihm klarmachen, daß du meinst,
was du sagst«, erklärte sie. »Verdammt noch mal, Randall, was für ein Hund bist du eigentlich?« schimpfte Lake. »Soll ich ihn für dich trainieren?« fragte Hol ly. »Nun ja, er und ich haben uns auf eine ganz besondere Art von Beziehung geeinigt«, erklär te Lake. »Alles geschieht auf absolut freiwilli ger Basis. Das möchte ich eigentlich nicht än dern. Und außerdem hab ich noch 'nen Trumpf in der Hand. Für Essbares macht er alles. Inso weit steht er voll unter meiner Fuchtel.« »Soll ich mit ihm Frisbee spielen?« »Wenn du willst.« Er beobachtete sie. Ihre Technik war ausge feilt. Zum Schluß kraulte sie ihn am ganzen Körper. Er aalte sich geradezu in ihren Gunst bezeugungen, streckte den Hals, damit sie nur ja nicht die bevorzugten Stellen unter dem Kinn oder um die Ohren herum vergaß. »Das gefällt dir, Kleiner, was?« sagte sie. »Ja, das magst du, das gefällt dir. Uns Menschen gefällt das auch, Randall.« Sie hob das Frisbee auf und gab es Lake zu rück. Als sie zu ihrer Zeitung zurückging, streifte sie seinen Arm. »Willst du auch ein Stück von der Zeitung?« fragte sie. »Ich muß gleich weg«, sagte er. Er überlegte,
ob er so nebenbei Jennifer erwähnen sollte, tat es aber dann doch nicht. Die Natur verfügte vermutlich über zartfühlendere Methoden, derartige Komplikationen aus dem Weg zu räumen. »Tschüs, Randall«, sagte Holly. »Chloe, komm, sag auch tschüs.« ***
Dann senkte sich ein weiterer Schatten über ihn. »Lake, dein Vater«, sagte Mary eines Mor gens. Lake nahm den Hörer ab: »Hallo, Dad.« »Einen Moment bitte«, sagte eine Sekretärin. Nach einer Weile kam sein Vater an den Ap parat: »Hallo, Lake. Geht's dir gut?« »Ja.« »Gut. Hör zu. Ich mach dir einen Vorschlag. Ich werde zum Harvard-Penn-Match gehen und würde dich bei dieser Gelegenheit gern treffen. Es ist der zweite Sonntag im Oktober, der neunte.« »Ich bin zu Hause.« »Ich komme mit Philippa. Kennst du Philippa schon?« »Nein.« »Sie und ich sind seit einiger Zeit zusammen.
Na ja, du hast ja von meinem jetzigen Leben recht wenig mitbekommen. Das ist übrigens ei ner der Gründe, weshalb ich dich sehen möch te. Sie ist schon gespannt darauf, dich kennen zulernen. Familie und so 'n Kram, weißt du.« »Ich würde sie auch gern kennenlernen. Und ich möchte dir auch jemanden vorstellen.« »Sie hat einen elfjährigen Sohn. Richie. Er ist auch ein Grund, warum ich komme. Philippa möchte ihn für Football interessieren. Sie macht sich Sorgen um ihn, und deswegen möchten wir ihn ein bißchen Stadionluft schnuppern lassen.« »Hört sich gut an.« »Manchmal muß man sich einfach aufraffen«, sagte er. »Wie sie die Footballtermine rausge kriegt hat, ist mir schleierhaft. Wie du siehst, ist sie eine einfallsreiche Frau. Wir könnten uns nach dem Spiel im Racquet Club treffen. Um halb fünf vielleicht. Genau das Richtige, um sich ein paar Minuten zu unterhalten.« »Ich bin kein Clubmitglied.« »Dann solltest du zusehen, daß du eins wirst. Ist sehr nützlich. Macht aber nichts, ich darf einen Gast empfangen.« »Was hältst du denn davon«, sagte Lake spon tan, »nach dem Spiel zu mir zu fahren? Hier ist es nicht ganz so förmlich. Und es gibt jeman
den, den ich dir auch vorstellen möchte.« »Sprichst du von Tante Ilsas Haus?« »Ja, da redet es sich leichter.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen am anderen Ende, dann sagte er: »Ja, vielleicht wäre das eine Möglichkeit, aber wir können nicht lange bleiben. Wer ist dieser Jemand?« »Jennifer Dee.« »Von früher kenne ich ein paar Dees. Ich hof fe, du denkst nicht daran, etwas Unüberlegtes zu tun.« »Ich möchte, daß du sie kennen lernst.« »Weil wir gerade davon sprechen«, sagte sein Vater. »Ich möchte dir etwas anvertrauen, da mit du weißt, wie der Hase läuft, wie man so schön sagt. Philippa und ich sind vielleicht nicht ganz so … also nicht ganz so eng verbun den, wie sie vielleicht denkt. Sie hat gewisse Vorstellungen, aber in letzter Zeit ist einiges nicht so gut gelaufen.« »Ich verstehe.« »Aber sie hat ihre guten Seiten. Also gut, tref fen wir uns bei Ilsa. Gib mir die Adresse.« »Peal Avenue Nummer dreiundsiebzig.« »Karen hat mir erzählt, daß du das Haus so lange behalten mußt, bis der Hund stirbt.« »Richtig.« »Außergewöhnlich. Aber durchaus typisch für
Ilsa. Es hat ihr immer schon gefallen, die Leute an die Leine zu legen.« »Ich glaube nicht, daß sie das wirklich so ge sehen hat.« »Na gut, so bekommt Philippa wenigstens einen Einblick in die Familie. Wenn es ihr denn so wichtig ist. Gut, also am neunten Okto ber dann, irgendwann vor fünf.« »Tschüs, Dad.« Nachdem er aufgelegt hatte, regten sich Zwei fel in ihm: sein Vater, das Haus, Familie – Fa milienbruchstücke wie driftende Kontinente, zernarbt von vergangenen Kollisionen und Trennungen. Ob er anrufen und ihm vorschla gen sollte, sich doch lieber im Racquet Club zu treffen? Aber vielleicht würde mit Jennifer die Gleichung aufgehen, und die Bruchstücke wür den sich zu einem neuen Muster zusammenfü gen. Das Datum erinnerte ihn an etwas. Dann fiel es ihm ein. Er erreichte Jennifer im Büro. »Gerade hat mich mein Vater angerufen«, sagte er. »Er kommt am neunten Oktober mit einer Freun din und ihrem Sohn zu einem Footballmatch herunter und will nach dem Spiel kurz bei mir vorbeischauen. Hättest du Lust, dazuzukom men? Ich möchte gern, daß du ihn kennen
lernst.« »Das ist ein Samstag«, sagte sie. »Richtig.« »Samstag nachmittags ist es immer schlecht«, sagte sie. »Ich könnte frühestens um fünf kom men.« »Ausgezeichnet! Außerdem haben wir ohne hin am selben Abend um acht 'ne Verabredung zum Abendessen.« »Ach ja?« »Sag bloß nicht, du hast es vergessen«, sagte er. »Hast du deinen Terminkalender mit dem roten Ledereinband bei der Hand?« »Ja.« »Dann schau mal nach, was am neunten Okto ber steht.« Blätter raschelten. »Was ist das denn?« sagte sie überrascht. »Ach, jetzt weiß ich's wieder. Das war dein Scherz, als du aus Nantucket zu rückgekommen bist.« »Das war kein Scherz. Es ist ein ganz besonde rer Tag. An diesem Tag wird Schluß damit sein, daß es mir vorübergehend leid tut. Danach werde ich nur noch ein reines Gewissen ha ben.« Er beschloß, nicht an den Besuch seines Va ters zu denken, aber er fühlte die innerliche Anspannung. Er kaufte ein paar Spirituosen,
Käse, Cracker, Pâté. Er rückte die Möbel im Wohnzimmer zurecht. Er ging nochmals in den Schnapsladen und kaufte Sherry. Viel leicht stand Philippa ja auf Sherry. Er machte einen Abstecher in den Supermarkt, holte Tee; vielleicht mochte sie ja Tee. Er kaufte CocaCola für Richie. Dann, nachdem er sich vorge stellt hatte, wie das arme Kind im Wohnzim mer bei den Erwachsenen saß, kaufte er ein neues Profi-Frisbee, mit dem Richie und Ran dall spielen konnten. Selbst Jennifer blieb von seiner seelischen Anspannung und seiner Zerstreutheit nicht verschont. Er sagte eine Verabredung ab, weil er länger arbeiten wollte; dann sagte sie eine ab. Es war noch nicht zu spät, das Treffen auf das neutrale Terrain des Racquet Clubs zu verle gen. Er erwog es gerade wieder einmal, als Charlotte ihn am Samstag anrief. »Lake«, sagte sie und hörte sich gestresst an. »Ich bin in der Stadt. Kann ich schnell vorbei kommen?« »Klar.« »Ich bin in einer Viertelstunde da.« Pünktlich zur angekündigten Zeit fuhr sie in ihrem Mercedes-Sportwagen vor. In ihrem strahlend gelben Leinenkostüm sah sie wie
eine Löwin aus, geschmeidig und sprungbereit. Sie gab ihm einen Kuss und sagte: »Hallo, mein Liebster.« »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe«, gab Lake zur Antwort, »warst du ein Fisch.« Ihre Gesichtszüge erstarrten. Er hatte es scherzhaft gemeint und setzte schnell hinzu: »Eine sehr schöne Forelle übrigens.« »Erinnere mich bloß nicht daran! Deshalb bin ich übrigens hier.« »Komm herein. Setzen wir uns in den Gar ten.« »Was ist das denn?« »Was ist was?« »Warum ist diese Tür zu?« »Ich halte mich nie im Wohnzimmer auf. Ich fühle mich dort nicht wohl. Vielleicht ändert sich das ja eines Tages.« »Eines Tages«, sagte sie, als wäre er ein alber nes Kind. »Lake, du Trottel! Das hier ist ein wunderschönes Haus. Du kannst die Türen nicht einfach zumachen.« »Warum nicht?« »Weil du es nicht kannst. Wie willst du dich jemals in einem Zimmer zu Hause fühlen, wenn du es nicht benutzt? Türen zumachen ist wirklich der falsche Weg.« »Komm, gehen wir in den Garten.«
»Wir gehen ins Wohnzimmer«, sagte sie und öffnete die Tür. Sie zerrte ihn in das Zimmer und drückte ihn auf einen der Stühle. Sie setz te sich auf einen anderen Stuhl. »So«, sagte sie. »Das ist schon viel besser. Es ist sehr gemüt lich.« Lake wartete. Sie fuhr sich immer wieder mit den Fingern durch die Haare, warf den Kopf herum, scheinbar um einen Blick auf die Bil der und die Möbel zu werfen. »Charlotte …«, begann er. »Wir haben keine Geheimnisse voreinander, Lake.« »Natürlich haben wir welche«, sagte er, »aber nicht zu viele, hoffe ich.« »Wir kennen uns doch ziemlich gut«, meinte sie. »Wir wissen, was der andere meint, wenn er etwas sagt.« »Ich denke schon«, bestätigte er. »Ich möchte, daß du mir einen kleinen Gefal len tust«, sagte sie. »Komm hinaus in den Garten«, bat er. Er führte sie nach draußen, und sie nahmen auf den weißen Stühlen Platz. »Es ist nichts Großes«, erklärte sie. »Erin nerst du dich noch an die Geschichte mit dem Angelschein?« »Ja.«
»Das war ein Witz. Die ganze Party war ein Witz. Nichts als ein Witz.« »Ist die Party später etwas entglitten?« »Das könnte man so sagen«, preßte sie zwi schen den Zähnen hervor. »Schlimm?« »Na ja, Jungs und Mädels spielen gern. Auf je den Fall war es an dem Tag ein richtig verspiel ter Haufen, das kann ich dir sagen. Auch Frank würde es verstehen, daß der Mensch ab und zu spielen muß. Niemand weiß das besser als er.« Lake wartete. »Nicky Turnbull ist allerdings etwas zu sehr aus der Rolle gefallen. Er war sturzbesoffen. Ich hätte ihn nie einladen sollen. Ich kann ihn nicht ausstehen.« »Und was würde Frank nicht verstehen?« fragte Lake. »Die Sache mit der Frank-Puppe«, sagte sie. »Das war mein Fehler. Anscheinend darf man seinen Mann vor versammelter Mannschaft nicht lächerlich machen, egal, wie sehr er es verdient hat.« »Hat ihm jemand etwas davon erzählt?« »Ja, und es ging sogar noch weiter, als ich ge plant hatte. Die Schaufensterpuppe war ein Spaß, aber manche haben es einfach zu weit getrieben. Das Blondchen, das mit Nicky ge
kommen ist, hatte vor längerer Zeit mal 'ne Af färe mit Frank. Sie beschloß, die Schaufenster puppe nach Hause mitzunehmen. Sie trompe tete überall herum, daß sie und Nicky sich zu Hause ein bißchen vergnügen wollten und Frank dabei zusehen sollte.« »O Gott!« »Anscheinend hat Frank sie damals betrogen. Und das war ihre Rache. Die beiden waren so voll, daß sie die Puppe kaum noch tragen konnten.« Lake versuchte, sich die Situation vorzustel len – ausgelassene, torkelnde Menschen, und Charlotte, eine stolze Walküre, hoch über dem Schlachtfeld thronend, für das sie verantwort lich war. Und dann die Gerüchte, die bis zu Frank gedrungen waren. »Zweifelsohne ist von großer Bedeutung, wie das Ganze ursprünglich gedacht war«, sagte Charlotte. »Das ist zumindest ein Punkt.« »Lake, wenn dich jemand nach dem Angel schein oder dem Anlass für die Party fragen sollte, sagst du einfach, es sollte nur eine Gau di sein. Ich meine, wenn dich beispielsweise ein Anwalt fragen sollte – oder was weiß ich. Behaupte, daß ich dir gesagt hätte, daß es ein fach ein Scherz sein sollte, nur ein Spaß.«
»Mach ich.« »Danke. Mit Frank, diesem Arschloch, werde ich schon fertig, keine Sorge.« Ihr Gesicht leuchtete: Das Gesicht der Kriegsgöttin. Sie stand auf und ging ins Haus; er folgte ihr. Sie betrachtete die offene Tür zum Wohnzimmer und schien über etwas nachzudenken. Dann sagte sie: »Und was ist mit oben?« »Was soll damit sein?« »Hast du die Türen oben auch zugemacht?« »Vielleicht.« »Das seh ich mir mal an.« Sie ging nach oben. Er folgte ihr in einigem Abstand. Oben ange kommen, kriegte sie einen Lachanfall und sag te: »Genauso hab ich's mir vorgestellt.« Er schaute ihr zu, wie sie durch den Flur ging und methodisch alle Türen öffnete, die er ge schlossen hatte. Sie kam an seinem Schlafzim mer vorbei und warf einen Blick hinein. Er sagte: »Diese Tür ist bereits offen, Charlot te.« »Das sehe ich.« Sie ging hinein. Er blieb an der Türschwelle stehen und beobachtete sie. Sie stellte sich ans Fenster und schaute hinaus, ließ ihren Blick zufrieden über den vorderen Rasen schweifen. Dann spazierte sie im Zim mer herum, als wäre sie hier zu Hause. Etwas auf der Frisierkommode erweckte ihre Auf
merksamkeit. Er sah, daß Jennifer dort ein Paar goldene Ohrringe liegengelassen hatte. Charlotte hob einen hoch und inspizierte ihn. Sie drehte sich grinsend zu ihm um. »Und du sagst, daß du keine Geheimnisse vor mir hast«, sagte sie. »Keine, die du nicht wissen darfst.« »Du bist süß, Lake. Du bist mein Freund.« ***
Die Schatten wurden größer. Er und Jennifer gingen am Montag in eines ihrer Lieblingsre staurants, aber sie war von Anfang an reser viert und schien ihm nach einiger Zeit nicht einmal mehr zuzuhören. »Wie ist es?« fragte er. »Was?« »Dein Rindergulasch?« »Ganz gut, danke«, sagte sie. »Das Lammgulasch, meine ich.« »Die Bedienung ist ziemlich nachlässig«, sag te sie. Bevor das Dessert kam, eröffnete sie ihm, daß sie früh nach Hause wollte. »Viel gearbeitet heute?« fragte er. »Eigentlich nicht.« Als er sie zur Haustür brachte, bat sie ihn nicht hinein. Da wußte er, daß etwas im Busch
war. Sie rief ihn noch am selben Abend an. Ohne Einleitung oder Begrüßung platzte sie heraus: »Ich muß dich etwas fragen.« »Frag mich.« »Weshalb war Charlotte Sibley am Samstag bei dir?« »Woher weißt du das?« »Ich weiß es einfach. Das muß reichen. Woher ich es weiß, spielt keine Rolle.« Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg, und er stellte sich selbst Fragen: Wer konnte gese hen haben, daß Charlotte zu Besuch war? Wer hatte sich verpflichtet gefühlt, es Jennifer un bedingt sagen zu müssen? »Ich kann mir vorstellen, woher du das weißt«, sagte er. »Lass mich mal raten: Dein Großvater hat Charlotte gesehen.« »Lake«, sagte sie. »Ich wünschte, ich hätte dich nicht angerufen. Nein, es war nicht mein Großvater.« »Aber du hast angerufen, und ich habe den Eindruck, daß du mir etwas vorwirfst, also rate ich noch einmal. Es war Bruce.« Sie gab keine Antwort. »Bruce war es, oder?« »Ja, es war Bruce«, sagte sie. »Beobachtet Bruce neuerdings mein Haus?« »Er war auf dem Weg zum Tenniscourt seiner
Eltern. Er hat ihr Auto gesehen. Bruce kennt sie.« »Mit wem hat er Tennis gespielt?« »Warum hat dich Charlotte Sibley besucht?« fragte sie. »Mit wem hat Bruce Tennis gespielt?« »Ich glaube, mit Terry. Warum hat dich Char lotte Sibley besucht?« »Sie ist eine gute Bekannte von mir«, sagte Lake. »Sie war im ersten Stock. Bruce hat sie am Fenster gesehen.« »Ich bin von Bruces detektivischen Qualitäten mächtig beeindruckt. Er ist wirklich gut«, sag te Lake. »Und was, wenn Charlotte im ersten Stock war? Sie wollte sich umsehen. Ihr paßt es nicht, daß ich alle Türen schließe.« »Du warst doch auf ihrer Party, oder? Auf ih rer berühmten Angelparty.« »Woher weißt du das schon wieder?« »Viele Leute wissen von dieser Party, Lake.« »Soll ich dir davon erzählen?« begann er. Dann hörte er den schneidenden Ton in seiner Stimme. »Jennifer, ich kann nicht glauben, daß wir uns über so etwas streiten.« Aber die Frage zu Charlottes Besuch hing zwi schen ihnen. Lake wußte, daß sie nicht noch mals fragen würde.
Innerlich hatte er eine Stinkwut auf Bruce. Er stellte sich vor, was er zu ihr gesagt hatte: Jen nifer, ich glaube, du solltest wissen, was für ein Mensch Lake ist. Das ist in dieser Familie gang und gäbe. Lake konnte fast hören, wie er es ihr sagte – diese hilfreichen Andeutungen, die vä terliche Vergangenheit, die Bruce vielleicht von seinem eigenen Vater her kannte. Er erin nerte sich an die Begegnung mit Bruces Vater auf der Cocktailparty bei den Veres. Perry Mc Clellans augenzwinkernde Anspielungen auf seinen Vater, den Weiberhelden. »Charlotte hatte mich gebeten, einen Angel schein zu entwerfen für ein Partyspiel«, sagte er. »Ich habe es ihr zuliebe gemacht. Ich bin auch auf der Party gewesen, aber nur kurz. Es tut mir leid, daß dieses Fest inzwischen die Runde macht. Aber du solltest Charlotte nicht danach beurteilen.« »Warum nicht?« »Du kennst sie nicht, Jennifer.« Sie gab keine Antwort. Eine halbe Minute lang war es stumm in der Leitung – sie war über einen unsichtbaren Faden mit ihm verbunden. Er sagte: »Als ich zuletzt schweigend telefo niert habe, war ich sechzehn gewesen. Macht eigentlich Spaß.« »Ich habe am letzten Wochenende mit Bruce
Tennis gespielt, aber nicht bei seinen Eltern«, sagte Jennifer. Lake dachte darüber nach. Er fragte: »Und wer hat gewonnen?« »Bruce. Obwohl ich ihn beinahe geschlagen hätte.« »Er ist nicht unschlagbar«, sagte Lake. ***
Der Argwohn blieb. Er spürte ihn, als er sie am nächsten Abend besuchte. Sie war allein zu Hause. »Setzen wir uns kurz«, schlug er vor und deutete auf das Sofa. Sie setzte sich ans andere Ende. »Haben wir gestern alles geklärt?« fragte er. »Ich denke schon.« »Ich verstehe nicht, wie es passieren konnte, daß wir uns auf diese Art streiten.« »Lake, wir kennen uns noch immer nicht sehr gut.« »Doch.« »Wir haben uns lange Zeit aus den Augen ver loren.« »Meinst du, daß ich schwer zu durchschauen bin?« »Ein bißchen.« »Aber du machst Fortschritte, oder?« fragte er.
»Ja.« »Das ist gut. Ich bin zu jeder Zusammenarbeit bereit.« Sie lächelte, und Lake entspannte sich. »Mir gefällt dieses Haus«, sagte er. »Es ist freund lich.« »Ich glaube, daß Jackie einziehen wird«, sagte Jennifer. »Sie bricht ihr Jurastudium ab.« Lake dachte: Du solltest mit mir zusammen wohnen und nicht mit deiner Kusine oder mit diesen anderen Leuten. Aber er sagte nichts. Später am Abend erinnerte er sie an den Be such ihres Vaters am Samstag. »Am Nachmittag hab ich einen sehr wichtigen Termin in Paoli«, sagte sie. »Er ist schon zwei mal verlegt worden.« Er sagte nichts. Es war offensichtlich, daß sie nicht kommen wollte. »Aber ich versuch's«, sagte sie. ***
Der Besuch rückte immer näher. Dann war es Samstag. Um zehn Uhr ging er mit Randall in den Park. Es waren viele Leute da – Hunde jag ten hintereinander her, Stöcke und Bälle flo gen durch die Luft, alle waren in Wochenend stimmung. Holly schälte sich aus der Menschenmenge.
»Hallo, Luke«, rief sie. Er wollte ihr sagen, daß er eigentlich Lake hieß. Aber er hatte keine Lust, sich Ausreden auszudenken, weshalb er sie angelogen hatte. »Rat mal«, sagte sie. »Ich gehe wieder auf die Schule. Teilzeit.« »Super, Holly.« »Meine Eltern werden nicht dafür aufkom men, also muß ich weiterhin arbeiten. Ich hab keinen Draht mehr zu ihnen. Sie verstehen mich einfach nicht.« Als er nicht auf das Thema einging, sagte sie: »Heute abend steigt 'ne Party bei Tina und mir.« Er nickte. »Komm doch vorbei, wenn du Zeit hast«, sag te sie. »Es ist ganz ungezwungen. Du weißt ja, wo ich wohne.« Sie deutete auf das Haus. »Im Erdgeschoß. Auf der Türklingel steht H. Baker. Kommst du? Sag ja.« »Heut Abend kann ich nicht. Aber danke für die Einladung, Holly.« »Schade. Aber das nächste Mal kriegen wir dich. Ich hätte dich ja angerufen. Aber ich weiß deinen Nachnamen nicht.« »Ich heiße Stevenson. Eigentlich Lake Steven son, aber manche Leute nennen mich Luke.« »Lake.«
»Oder Luke.« »Mir gefällt Lake.« »Es ist egal. Ich glaube, ich hab ein Identifika tionsproblem.« »Du siehst müde aus.« »Ich scheine momentan auch so etwas wie ein Missouri-Problem zu haben«, sagte er. »Denk dran, was du mir geraten hast: Sag ein fach nein.« »Daran hab ich auch schon gedacht«, sagte er. »Vor langer Zeit.« ***
»Sie müssen Lake sein«, sagte Philippa. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Sie sah gut aus, sorgfältig frisiert, ganz offensichtlich für einen Landausflug gekleidet, aber mit viel Schmuck behangen. »Stimmt«, sagte Lake. »Kommt herein. Hallo, Richie. Wie war das Spiel?« »Wir haben verloren«, sagte Richie standhaft. »Es war ein aufregendes Spiel«, erzählte Phil ippa. »Wir hätten vielleicht gewonnen, wenn der Schiri nicht zum Schluß ein Stürmerfoul gegeben hätte.« »Der Schiedsrichter«, berichtigte Lakes Va ter. »Und nicht Stürmerfoul, sondern Abseits.« Er war älter geworden – immer noch auf die
ihm arrogante Art imposant, aber auf jeden Fall älter. Lake hörte einen leicht genervten Ton aus seiner Stimme. Er fragte sich, ob heute etwas zwischen Philippa und ihm vorgefallen war. Sie hatte einen roten Kopf. Sie ging an Lake vorbei und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. »Ilsa hat dir also das alles vermacht«, sagte sein Vater. »Gut, gut, gut. Ich habe mir dich hier nie vorstellen können. Niemals.« »Wo hättest du dir mich denn vorstellen kön nen?« »Philippa«, sagte er mit lustloser Stimme und schaute an ihr vorbei, »darf ich dir meinen Sohn vorstellen? Du hast sicher schon selbst bemerkt, daß er um eine schlagfertige Antwort nie verlegen ist. Also, wo hätte ich mir dich vorstellen können? Soweit ich mich überhaupt in all deinen Jahren der Undefinierbarkeit ein Bild von dir habe machen können, hätte ich mir dich vielleicht im Auswärtigen Dienst vor stellen können, als Schlichter internationaler Streitigkeiten, ein Schlichter auf höchstem Ni veau.« »Das Haus gefällt mir sehr gut«, sagte Philip pa, die sich wieder vom Spiegel abgewandt hat te. »Es sieht fast aus wie meins.« »Ich lebe mich allmählich ein«, sagte Lake.
»Hoffentlich bekommen wir dich in Green wich öfter zu sehen«, sagte sie. »Wir müssen uns über Thanksgiving unterhalten. Puh, bin ich erledigt!« »Kommt herein und ruht euch aus«, sagte Lake. Er führte sie in das Wohnzimmer. »Ich hole euch etwas zu trinken.« »Philippa trinkt Tee«, sagte sein Vater. »Ich nehme einen Scotch mit etwas Wasser, kein Eis. Wir können nicht lange bleiben.« »Richie, wo bist du?« rief Philippa. »Komm her.« Aber er war fort. »Typisch Jungs«, sagte sie zu Lake. »Obwohl, das Match hat ihm offen bar gefallen.« »Er hat ja nicht mal hingesehen«, sagte sein Vater. »Er mußte ja dauernd quasseln.« »Na ja«, sagte sie zu Lake. »Ich freue mich, daß wir es endlich geschafft haben, uns kennen zu lernen. Sicher hat dir dein Vater schon die große Neuigkeit erzählt.« Sein Vater schien nicht zuzuhören; er bürste te einen Flusen von seinem Ärmel. Lake sagte: »Er ist nicht ins Detail gegangen.« »Wir haben uns noch für keinen bestimmten Termin entschieden«, sagte sie, »aber es wird bald sein.« »Philippa spricht vom Heiraten«, sagte sein Vater.
»Wir werden in meinem Haus in Greenwich wohnen. Es ist dort viel gemütlicher. Wir ha ben viel Platz für Besuch. Und du hast bei uns dein eigenes Zimmer; du kannst also kommen, wann immer du Lust hast. Karen hat uns letz tes Frühjahr mit ihren hübschen Kindern be sucht. Ich bin mir vorgekommen wie eine Großmutter, obwohl Richie ja auch erst elf ist.« »Reif fürs Internat«, sagte sein Vater. »Sag das bitte nicht, Schatz. Er könnte dich hören. Er ist viel zu jung fürs Internat.« »Dafür ist man nie zu jung.« »Ich hatte dich gebeten, nicht so etwas zu sa gen, Schatz. Dein Vater neckt mich immer«, sagte sie zu Lake. »War er schon immer so?« »Vermutlich.« »Ich gewöhne mich ja allmählich daran, aber Richie könnte es falsch verstehen, obwohl er ein sehr intelligenter Junge ist.« »Ein begnadetes Kind«, bemerkte Lakes Va ter. »Na, vielleicht nicht gerade ›begnadet‹«, sagte sie, »aber er ist ein außerordentlich guter Schüler. Er hat einen höchst bemerkenswerten Aufsatz über einen Baum geschrieben, wie er aus einem Samen entsteht, alt wird und …« »Ein brillanter Junge«, stellte Lakes Vater
fest. »Besonders die Antike interessiert ihn. Er hat mir erzählt, daß der Name Philippa aus der Fa milie Alexanders des Großen stammt. Das ist doch außergewöhnlich, oder?« »Blaublütige Vorfahren. Jedes Internat würde sich die Finger nach ihm lecken.« »Ich hole jetzt die Drinks«, sagte Lake. »Tee für Philippa«, sagte sein Vater. Lake ging in die Küche und setzte Wasser auf. Er entdeckte Richie und Randall auf dem hin teren Rasen, brachte ihnen das neue Frisbee und mixte dann den Drink für seinen Vater. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, sagte sein Vater gerade etwas über Tante Ilsa. »Stimmt es, daß Ihnen Ihre Tante auch ihren Hund hinterlassen hat?« fragte Philippa. »Das war ja wohl an Blödheit nicht zu über bieten«, sagte sein Vater. »Typisch Ilsa.« »Sie hat sehr an dem Hund gehangen«, ant wortete Lake. »Das ist die haarsträubendste, idiotischste Idee, von der ich je gehört habe. Wer, natür lich abgesehen von Ilsa, würde wohl darauf be stehen, daß du den Hund zusammen mit dem Haus übernimmst? Aber so war sie schon im mer. Ich habe sie nie verstanden. Die hat schon immer einen sturen Kopf gehabt. Ich könnte
dir Geschichten erzählen …« »War das ihr Mann?« fragte Philippa und zeigte auf das Porträt. »Ja«, sagte Lake. »Onkel Paul.« »Ich habe nie verstanden, was ein Mann an ihr finden konnte«, sagte sein Vater. »Du bist vielleicht ein hartherziger Bruder«, sagte Philippa. »Bestimmt war sie nicht so schlecht, wie du sie hinstellst.« »Sie war großartig«, sagte Lake. Seine Ge sichtsmuskeln verhärteten sich. Sein Vater sah ihn mit leicht verengten Augen an; er erinnerte an einen Chirurgen, der sich überlegte, wo und wie tief er den ersten Schnitt machen sollte. »Und wie macht sich dein klei ner Laden, Lake?« fragte er. »Nicht schlecht«, sagte Lake. »Und wie geht's bei dir so?« »Du nennst ihn doch ›Instructions‹, oder?« »InstruX.« »Lake hat eine Firma, die den Leuten sagt, was sie zu tun haben«, erklärte er Philippa. »Das weiß ich.« »Das ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf«, sagte sein Vater. »Was?« »Na, allen zu sagen, was sie zu tun haben. Da muß man doch immer recht haben, oder? Aber
manche Leute sind stark genug, diese Last zu tragen. Ilsa gehörte dazu.« »Erinnerst du dich noch an einen der Hunde aus deiner Kindheit?« »Nein.« »Was war mit Rudy? Der war der erste, von dem ich weiß. Damals warst du vielleicht fünf. Oder Risa. Risa war der nächste.« »Wenn es einen Rudy oder eine Risa gegeben haben sollte, dann waren es Ilsas Hunde.« »Dieser Meinung war sie offenbar auch. Sie waren ihre geliebten Hunde. So steht es auf den Grabplatten. Komisch, in den meisten Fa milien gehören die Hunde allen Familienmit gliedern.« »Was soll das werden? Eine Schlussfolgerung? Offenbar versuchst du dir daraus einen Reim zu bilden.« »Eigentlich nicht«, sagte Lake. Er wandte sich an Philippa: »Wie ist das Footballmatch denn ausgegangen?« »Zwei Touchdowns zu drei, glaube ich. Wie viele Punkte gibt das?« »Denk mal scharf nach«, sagte sein Vater. Es läutete. »Das wird Jennifer sein«, sagte Lake. »Ich habe sie gebeten, vorbeizukom men.« Sein Vater und Philippa sahen sich an. Philip
pa hob die Augenbrauen. Lake ging an die Tür. »Hallo«, sagte Jennifer, als er öffnete. »Ich bin doch früher fertig geworden.« »Sie sind im Wohnzimmer«, sagte er. »Richie ist mit Randall im Garten.« Er führte sie hin ein. »Philippa, das ist Jennifer Dee. Jennifer, das ist mein Vater.« Jennifer schüttelte beiden die Hände. »Er hat schon immer einen Blick für schöne Frauen gehabt«, sagte sein Vater. Lake dachte: Woher willst du das wissen? »Also, Jennifer, sagen Sie mal«, begann sein Vater, »ist Ihr Vater Reggie Dee?« »Ja.« »Ich habe ihn vor vielen Jahren mal gekannt. Ein wunderbarer Tennisspieler, immer war er Club Champion. Spielen Sie Tennis?« »Ja.« »Dann müssen Sie aber viel üben«, sagte Phil ippa. »Übung ist so unglaublich wichtig. Lake – Lakes Vater – hat mit meinem Sohn Richie Football geworfen …« »Football gespielt«, sagte sein Vater. »… und inzwischen spielt Richie ihn sogar noch weiter als er, obwohl das natürlich auch eine Frage des Alters ist. Aber selbst in mei nem Alter schaffe ich es praktisch nicht, den Ball zu spielen. Ich bin sportlich eine absolute
Niete.« »Aber ganz im Gegenteil«, sagte sein Vater. »Du bist eine exzellente Crocketspielerin.« »Ja, Crocket kann ich ganz gut«, sagte sie. »Darin bin ich sogar ziemlich gut. Aber, unter uns gesagt, es ist ja auch nicht so schwer, oder? Man schwingt einfach den Schläger und der Ball rollt fast immer in die richtige Richtung. Lange Schläge gelingen mir am besten. Mein erster Mann hat versucht, mir Golf beizubrin gen, aber ich war ein hoffnungsloser Fall. Ei gentlich könnte man meinen, daß sich die bei den Sportarten sehr ähnlich sind …« »Du hattest nur einen Ehemann, meine Liebe«, sagte sein Vater. »Natürlich rechne ich dich mit.« »Die Hochzeit droht«, klärte sein Vater Jenni fer auf. »An diesem heutigen Tage beschlossen. In der Halbzeit. Bei Hot dogs, während Richie auf dem Klo war.« »Gratuliere«, sagte Jennifer. »Jetzt müssen Sie mir aber alles über sich und Lake erzählen«, bat Philippa. »Philippa«, sagte Lake, »Jennifer ist nur vor beigekommen, um guten Tag zu sagen. Sie ist eine Freundin von Karen.« »Arbeiten Sie, Jennifer?« »Ich bin Immobilienmaklerin.«
»An so etwas hatte ich auch schon gedacht. Alle sagen, daß ich das sicher gut könnte. Es liegt mir irgendwie im Blut. Aber ich habe so viel anderes zu tun. Alle wollen, daß ich in die sem oder jenem Komitee mitarbeite, und es fällt mir schwer, nein zu sagen, wenn es die Sa che wert ist, was meistens natürlich der Fall ist.« »Ich hole den Tee«, sagte Lake. »Kennen Sie und Lake sich schon lange?« fragte Philippa, als er hinausging. Lake blieb so lange weg, wie er konnte – län ger, als er hätte wegbleiben sollen, fast zehn Minuten, denn dieser Raum strahlte für ihn eine merkwürdige Hoffnungslosigkeit aus. Während der Tee zog, ging er nach draußen. Richie hatte gerade das Frisbee mit voller Wucht gegen den Stamm der großen Eiche ge worfen; er versuchte sich offenbar im Ziel schießen. »Na, wie läuft's?« fragte er Richie. »Gut.« »Magst du eine Cola?« »Nein.« »Wo ist Randall?« »Er hatte keine Lust, das Frisbee zu fangen.« »Ja, er langweilt sich schnell. Magst du fern sehen?« »Nein.«
»Der Fernseher steht dort drüben, falls du es dir anders überlegst. Du könntest auch den Dachboden erforschen.« »Was gibt's dort?« »Jede Menge toller Sachen.« »Dachböden stinken«, sagte er. Er warf das Frisbee erneut gegen den Baum, verfehlte ihn aber. Als Lake mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam, unterhielten sie sich noch immer über Immobilien. »Ich kann Häuser mit alten Bade zimmern nicht ausstehen«, sagte Philippa. »Ich muß einfach schöne Badezimmer und große Wandschränke um mich haben. Es gibt nichts Schlimmeres als zu wenig Platz in den Schränken.« »Ich möchte anmerken, daß Philippa gerade zu riesige Schränke ihr eigen nennt«, sagte La kes Vater gedehnt. »Dafür solltest du dankbar sein«, sagte Philip pa. »In deinen winzigen Schränken werden alle Klamotten schon verknittert. Aber Jenni fer kann dir sicher einiges über Wandschränke erzählen. Die sind ja momentan ziemlich im Kommen, oder? Nachträgliche Einbauten sind zwar teuer, aber sie lohnen sich auf jeden Fall. Finden Sie nicht auch?« »Das ist durchaus möglich«, gab Jennifer zur
Antwort. Lake stellte das Tablett mit dem Tee ab. »Jen nifer, ich habe ganz vergessen, dich zu fragen, ob du auch etwas möchtest.« »Nur Tee.« »Ach, ist das Teeservice hübsch«, rief Philip pa. »War das auch im Haus?« »Ja.« »Praktisch die Mitgift«, sagte sein Vater. »Wie bitte?« fragte Lake. »Für den Hund.« »Der Hund ist ein Rüde«, sagte Lake. »Dann eben eine Stiftung«, sagte sein Vater. »Genau, eine Stiftung.« »Mein vom Glück begünstigter Sohn.« »Der Hund scheint ja ganz in Ordnung zu sein«, sagte Philippa. »Aber wichtiger ist doch: Gefällt es Ihnen hier, Jennifer?« Mit weit aus ladender Geste bezog sie das gesamte Haus in ihre Frage mit ein. Sein Vater intervenierte eilig: »Was genau stand eigentlich in Ilsas Testament, Lake? Es muß doch eine Möglichkeit geben, dieses Haus zu verkaufen.« »Vielleicht möchten die beiden ja hier woh nen, Schatz«, sagte Philippa. »Sie hat nicht …«, begann Lake. Sein Vater unterbrach ihn. »Du hast nicht zu
gehört, Philippa.« Er wandte sich wieder an Lake. »Ist es eine Art Treuhänderschaft?« »So war es nicht abgefasst.« »Wenn der Hund zufällig verschwindet, kannst du machen, was du willst«, sagte sein Vater. »Vielleicht kann Jennifer ja das Haus für dich verkaufen. Bringt 'ne schöne Provisi on.« Jennifers Augen wanderten unruhig von La kes Vater zu Lake und wieder zurück; offenbar stellte sie eine Verbindung her. »Das ist ein sehr unpassender Vorschlag, den du ganz bestimmt nicht so gemeint hast«, sagte Philippa. »Ich bin überrascht, daß du deinem Sohn so etwas vorschlagen kannst. Aber ver mutlich machst du nur wieder Spaß.« Die Hoffnungslosigkeit griff auf Lake über. Er beschloß, die Wahrheit zu sagen, komme, was da wolle. »Ich habe schon daran gedacht«, sag te er. »Ich bin sicher, daß du nicht eine Sekunde lang mit diesem Gedanken gespielt hast«, sagte Philippa. »Ich habe ungefähr einen Monat lang mit die sem Gedanken gespielt«, sagte Lake. »Offenbar produzieren gleiche Gene auch gleiche Gedan ken.« »Das ist doch albern«, sagte Philippa. »Ihr
Männer kommt wirklich auf die lächerlichsten Ideen. Nur gut, daß ihr uns Frauen habt.« »Gott sei's gedankt«, sagte Lakes Vater. »Wer weiß, was wir sonst tun würden?« Philippa fummelte an ihren Ringen, offenbar freute sie sich über etwas. »Sei dankbar«, sagte sie. Ihre Augen schweiften durchs Zimmer. »Ich glaube wirklich, daß wir eine sehr attrak tive Familie abgeben«, sagte sie. Als ihr niemand antwortete, sagte sie: »Jenni fer, Sie haben meine Frage noch nicht beant wortet.« »Welche Frage?« »Gefällt es Ihnen hier?« Jennifer saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. »Hier. Das da«, erklärte Philippa. »Aber na türlich gefällt es Ihnen.« »Nein«, sagte Jennifer. Sie warf Lake einen schnellen Blick zu. Er sah Traurigkeit, aber keine Unsicherheit. Philippa starrte sie an. »Nein, tut mir leid, aber es gefällt mir hier nicht«, sagte Jennifer entschlossen. Lakes Vater beugte sich vor. Sein Mund ver zerrte sich zu einem dünnen, verkniffenen Strich. Er brach das Schweigen. »Alle Achtung. Ein ehrliches Wort«, sagte er. Lake hatte sich in sich selbst zurückgezogen, alles war für ihn meilenweit entfernt. Mehr als
alles andere hätte er wissen wollen, was Jenni fer von einer Zukunft mit ihm in diesem Haus hielt. Er hatte niemals erwartet, dies auf solch schreckliche Weise erfahren zu müssen. Aber früher oder später wäre der Augenblick der Wahrheit doch gekommen. Sein Vater hatte mit ihrer Ehrlichkeit recht gehabt. Sie würde einer direkten Frage niemals ausweichen. »Nun«, sagte sein Vater. »Es war ein inter essanter und ereignisreicher Tag. Wir würden gerne noch bleiben und uns ein wenig mit euch unterhalten, aber wir haben eine lange Heim fahrt vor uns. Wir müssen los. Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Jennifer.« Jennifer nickte. »Ich hole Richie, und du trinkst inzwischen deinen Tee aus, Philippa. Vielleicht kann ich ja noch einige Wunder entdecken, die meinem Sohn widerfahren sind. Ilsa hatte ein Auge für Kunst. Wer weiß, was es draußen noch alles gibt. Vielleicht ein großes Tierheim hinten im Garten?« Er verschwand nach draußen. Philippa trank ihren Tee aus. »Denk dran«, sagte sie zu Lake, als sie aufstand, »ich erwar te, daß du uns besuchst. Denk dran, was ich dir über dein eigenes Zimmer gesagt habe. Ich hoffe, daß wir dich an Thanksgiving zu sehen bekommen.«
»Sicher«, sagte Lake. »Auf Wiedersehen«, sagte sie zu Jennifer. »Meistens regelt sich alles zur Zufriedenheit.« ***
Nachdem sein Vater, Philippa und Richie ge gangen waren, standen sie noch in der Ein gangshalle. Lake fühlte sich hilflos, ausgelaugt. Er dachte daran, wie zerbrechlich Träume wa ren. Ein Wort kann sie in tausend Stücke zer brechen, ein einziges, unbedachtes Wort. Er zwang sich, zu sprechen. »Ein Tag der Wahr heit«, sagte er. »Was meinst du damit?« »Was du zu Philippa gesagt hast.« »Sie hatte getrunken. Sie ist wie alle Trinker. Sie zerstören.« »Das stimmt.« »Erwartest du von mir, daß ich sie mag?« fragte sie kühl. »Erwartest du, daß ich deinen Vater mag?« »Nein, das erwarte ich nicht«, sagte er. »Er ist ein bösartiger Mann. Es macht ihm Spaß.« »In diesem Haus zu sein machte ihn bösartig«, meinte Lake. »Er war hier nie will kommen.« »Tut mir leid, daß ich so direkt war. Ich wollte
dich nicht verletzen, aber sie hat so gebohrt.« »Es war mein Fehler. Keiner von uns war dar auf vorbereitet.« »Möchtest du darüber sprechen?« »Nein.« Er würde ihre Erläuterungen, wes halb sie mit diesem Haus nichts am Hut hatte, nicht ertragen. Er wollte nicht, daß sie ihm ex plizit sagte, was es war – Vertrauensprobleme, Verhaltensprobleme, Probleme mit Beziehun gen und Verbindungen, Probleme mit einem Haus, das wie ein Klotz an seinem Bein hing. Er dachte an die Zeit, als er in der Highschool eine Meile gelaufen war. Während eines Ren nens mußte man immer genau wissen, wo man war. Den schlimmsten Fehler, den ein Läufer machen konnte, war, das Gleichgewicht zwi schen Vergangenheit und Zukunft falsch einzu schätzen. Genau das hatte er getan, und jetzt gab es nur noch Vergangenheit. Er schaffte es nicht, sich von ihr zu verab schieden. »Ich rufe dich morgen an«, sagte er. »Ich muß noch aufräumen.« Er ging in die Kü che, ohne zu sehen, wohin er ging. Als er in der Küche stand, beschloß er, daß es besser wäre, jetzt gleich die Wahrheit heraus zufinden als später, wenn es noch mehr schmerzen würde. Er hatte es kommen se hen – dieses Auseinanderdriften, die Abnut
zung der früheren Gelöstheit, der Nähe. Sie hatte die ganze Zeit ihre Vorbehalte deutlich gemacht, sich vom Haus distanziert, nie eine Nacht hier verbracht, hatte immer darauf ge achtet, ihre Bindung an ihr eigenes Haus zu si gnalisieren. Sie hatte ihn niemals in die Irre geführt. ***
Er ging mit Randall spazieren. Sie schlugen den Weg zum Park ein. Auf halbem Weg stol perten seine Gedanken über etwas Unsichtba res – vielleicht war es dieses Unsichtbare, wes wegen Familien sterben oder weswegen sie manchmal nicht einmal geboren werden –, und sein Mund verzog sich wie bei einem Kind. Aber er würde sich diesen Gefühlen nicht erge ben. Er bog um die nächste Ecke. Randall trot tete munter neben ihm her. Lake stellte sich vor, wie er im Winter durch einen Schnee sturm wandern würde. Falls Schneeflocken auf ihm landen sollten, würden sie nicht schmel zen. Dann würden die Menschen die Kälte sei nes Charakters erkennen, all die, die davon nichts gewußt hatten. Er kam an dem Haus vorbei, in dem Holly wohnte. Musik dröhnte nach draußen. Er ging an der Haustür vorüber, zögerte nicht einmal,
und es wurde ihm bewußt, daß er zu einer an deren, längst vergangenen Zeit nach einem derart verpfuschten Tag vermutlich hineinge gangen wäre, mitgefeiert und vielleicht die Nacht mit Holly verbracht hätte, um für kurze Zeit alles zu vergessen, sich hinter einer ver schlossenen Tür zu verlieren, hinter der Musik hämmerte. Lebensregel: Bürde deine eigenen Sorgen keinem anderen auf. Der Park lag vergessen da, ein Loch im Lich termeer der Stadt. Er spazierte auf die Wiese und schaute in einen sternenübersäten Him mel. Als Kind hatte er einmal versucht, die Sterne zu zählen, aber damit aufgehört, noch bevor er die Tausend erreicht hatte. Damals hatte ihn ihre unermessliche Zahl geängstigt. Jetzt beruhigte sie ihn. Unter einem solchen Überfluss von Welten waren alle Menschen einsam. Jemanden zu verlieren, den man gern mochte, Worte zu hören, die man nicht hören wollte – angesichts Milliarden von Sternen über einem schrumpften diese Dinge zur Be langlosigkeit. Und die Worte, die nicht ausge sprochen wurden – der Vater, der ging, ohne zu sagen, daß es ihm schwer fiel zu gehen, der Sohn, der ihn nicht bitten konnte zu bleiben, die Worte wahrer Liebe, die ein Mann und eine
Frau einander sagten, wenn sie wußten, daß sie zusammengehörten – all diese Worte, selbst wenn sie gesprochen worden wären: ge gen den Ruf der Sterne versänken sie in Be deutungslosigkeit. Das beruhigte ihn. Er saß im feuchten Gras und schaute mit großen Augen in den Sternen himmel. Randall wanderte im schwachen Ster nenlicht herum, ein undeutlicher Schatten. Lake fragte sich, wo Jennifer jetzt sein mochte. Bei dem Gedanken an sie roch er den Duft ih rer Haut, spürte, wie sehr sie sein Leben be stimmte. Tränen liefen ihm über die Wangen, er ließ sie laufen, er hatte ja die Sterne, die ihm beistanden. Menschen würden diese Sterne besuchen. Sie würden sich in die Schwärze stürzen und auf einen Lichtpunkt zufliegen, viele Lebensalter weit entfernt, dann zum nächsten und wieder zum nächsten, würden versuchen, sie zu be herrschen, so wie er sie durch Abzählen zu be herrschen versucht hatte. In seiner Hoffnungs losigkeit war das ein tapferer Versuch gewesen. Randall kam und setzte sich neben ihn. Lake überlegte, was er Jennifer am nächsten Mor gen sagen wollte. Er würde sich für Philippa und ihre Anmaßung entschuldigen, aber nicht
für seinen Vater. Er würde seinen Vater nicht verleugnen. Er und Jennifer könnten Freunde bleiben. Diesen Gedanken ertrug er nicht. Er lag im Gras und weinte lange Zeit still vor sich hin. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er schaffte es nicht einmal, die Sterne an sich her anzulassen. Danach lief er noch lange weiter, und er wäre noch viel weiter gelaufen, wäre Randall nicht allmählich müde geworden. Sie kehrten nach Hause zurück; Lake setzte sich auf die Terrasse und betrachtete den dunklen Garten. Vielleicht würde er jetzt doch nie mehr die Namen der Blumen lernen. Am nächsten Morgen rief er sie an. »Ich glau be, wir sollten uns eine Weile nicht mehr se hen«, sagte Lake. »Meinst du nicht, daß wir miteinander reden sollten, Lake?« »Du hast gesagt, was du gedacht hast.« »Ja«, sagte sie. »Das ist immer das beste.« »Wir könnten zusammen zum Mittagessen ge hen«, sagte sie, »wir könnten uns irgendwo treffen.« Sie hatten sich wieder auf gemeinsame Mit tagessen verlegt. In einem einzigen Tag waren
sie drei Monate rückwärts gegangen. Aber rückwärts zu gehen war keine Antwort. »Heute geht es leider nicht«, sagte er. Es war nicht ge logen. Ein Mittagessen mit ihr hätte er nicht durchgestanden.
13 Thanksgiving rückte näher, und Lake bereite te sich auf das Familientreffen in Greenwich vor, das Philippa organisiert hatte. Ein Nein würde sie nicht akzeptieren, hatte sie betont; Karen habe auch zugesagt, und mit ihm wäre die Familie komplett. Die Einladung hatte wie eine Aufforderung geklungen, so als hätte das Festessen in ihrem Haus eine lange Familien tradition. Er hatte zu erscheinen; es wurde er wartet. Lake sagte zu. Er mußte aus dem Haus, egal, wohin. Das Haus existierte kaum noch für ihn. Fast immer arbeitete er bis spät in den Abend hin ein und ging auch an den Wochenenden ins Büro. In seiner spärlichen freien Zeit, wenn er sich mit Randall zwangsläufig in der Peal Ave nue Nr. 73 aufhalten mußte, wohnten sie in der Bibliothek, in der Küche und im Schlafzimmer.
Diese drei Zimmer waren für ihn mehr als ge nug. Manchmal schlief er auf dem Sofa in der Bibliothek ein, aber dann stieß ihn eine feuch te Schnauze ins Gesicht und drängte ihn nach oben. Randall paßte es offenbar nicht, daß er auf dem Sofa schlief; er wünschte, die Nacht, wie es sich gehörte, im Schlafzimmer zu ver bringen. Gelegentliche Ausflüge in andere Zimmer lie ßen Lake die Übermacht seines Gefängnisses immer wieder aufs neue spüren. Das alte Re gime war noch intakt. Möbel, Gardinen, Teppi che, Bücher, Lampen, all die kleinen Gegen stände und Dekorationsobjekte – sie waren noch da und widersetzten sich stumm jedem Versuch, sie auszuquartieren. Wohnzimmer und Esszimmer wehrten sich mit ihrem Chip pendale- und Plüschmief, dem düsteren Maha goni und den Darstellungen europäischer Städte und Küstenlandschaften früherer Jahr hunderte erfolgreich dagegen, daß er sich dort einnistete. In diesen Räumen setzte die Däm merung im Winter schon früh ein und hing auch tagsüber in allen Ritzen. Wenn er das Licht einschaltete, flammte das Blattgold, das Messing und das Silber auf, und nachdem das Feuer erloschen war, blieb eine Gruft zurück. Manchmal versuchte er, einen neuen Weg
durch die Welt zu finden. Ende Oktober fuhr er nach Cape May, denn er hatte gehört, daß man dort besonders gut Vögel beobachten konnte. Aber Randall und er liefen den ganzen Tag am Strand entlang, neben sich ein grauer Ozean. Holly rief an und lud ihn zu einer anderen Par ty ein, aber er bedauerte: Er könne nicht kom men, weil er auf Geschäftsreise wäre. Bei Steve unterhielt er sich einen halben Abend lang mit einem Mädchen, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte. Sie hatte sich brennend für das Thema Emotionen interessiert. Offenbar vertrat sie die Ansicht, daß die Einsamkeit der heutigen Zeit eine Erfindung der Franzosen war. Lake trank und nickte. Gut möglich, sagte er; sehr interessant. Aber könnte sie nicht auch von Hollywood erfunden worden sein? regte er an. Im Verlauf der Unterhaltung do zierte er, daß Einsamkeit gemeinhin mit Leere assoziiert wird, dabei sei sie doch eher eine Kompression. Sie preßt einen in einen immer kleiner werdenden Raum. Sie stürzt einen in ein schwarzes Loch. Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist die Flucht in ein anderes Universum. Sehr interessant, sagte sie; eine gute Meta pher. Sie tranken und nickten. Nach einer Wei le war sie gegangen. Dann unterhielt sich Lake mit Megan, Steves Freundin. Sie erkundigte
sich nach dem Haus. Es wird schon werden, gab Lake zur Antwort. Du kannst es ja noch im mer verkaufen, sagte Megan. Er zuckte die Achseln. Er mochte Megan, aber er konnte ihr nicht sagen, was der Verkauf des Hauses be weisen würde: daß er immer noch derselbe war wie vorher. Er bemühte sich, nicht an Jennifer zu denken. Dazu wandte er einen Trick an: Er versuchte jeden Gedanken an sie schon im Keim zu ersti cken und in eine andere Richtung zu zwingen – auf sein Vorhaben, ein anderes Büro zu mie ten, oder die Frage, wohin zum Mittagessen ge hen, oder auf irgendein anderes Thema. Das funktionierte zwar normalerweise nicht, aber in dem Maß, in dem die Wochen vergingen, verlagerte sich das Gefühl, einen Verlust bekla gen zu müssen, in ein Gefühl, das eher Bedau ern ausdrückte. Als dann Philippa immer wie der anrief, glaubte er, Thanksgiving in Greenwich irgendwie durchstehen zu können. Am Mittwochabend waren die Ausfallstraßen von Philadelphia hoffnungslos verstopft. Ein Unfall auf der Schnellstraße führte zu einem enormen Stau. Auf der George Washington Bridge herrschte kilometerweit Stop-and-goVerkehr. Als er schließlich nach elf in Green wich ankam, lag Philippas Haus schon im Dun
keln. Aber sie öffnete ihm selbst und begrüßte ihn herzlich. »Alle außer deinem Vater sind schon im Bett«, sagte sie. Sie führte ihn in einen großen, holzgetäfelten Raum, wo sein Vater sich die Nachrichten anschaute. »Hallo, Dad«, sagte er. Sein Vater grunzte. Er hievte sich aus dem Stuhl und schüttelte Lake die Hand. »Schön, daß du gekommen bist, Lake.« Fast klang es, als hätte er es so gemeint, und Lake schöpfte Hoffnung, daß sie Thanksgiving ohne Streit hinter sich bringen könnten. »Wo soll der Hund hin?« fragte sein Vater. »Er schläft bei mir.« Sein Vater grunzte erneut und bemerkte: »Mach dir etwas zu trinken. Und du, Philippa, gehst ins Bett. Du hast morgen einen anstren genden Tag.« »Ich zeige Lake noch sein Zimmer«, sagte sie. »Dann könnt ihr beide euch ungestört unter halten.« »Ich glaube, ich werde auch gleich ins Bett ge hen«, sagte Lake. »Die Fahrt war ziemlich an strengend.« Philippa führte ihn nach oben und durch den Flur in ein Zimmer mit einem riesigen Him melbett. Sie wünschte ihm eine gute Nacht. Berge von Kissen bedeckten fast ein Drittel des
Bettes; Lake warf alle Kissen bis auf eines in eine Ecke, verfrachtete die rosafarbene Patchworkdecke auf einen Stuhl und legte sich hin. Er starrte in den Himmel und kam sich vor, als schliefe er in einer Hütte. Zum Frühstück waren alle im Esszimmer ver sammelt: Philippa und sein Vater, Richie brav und höflich, Stephen herzlich und gesprächig, Karen zerstreut, weil sie dauernd Emily und Steebie ermahnen mußte. Karen war diejenige, die er sehen wollte; sie war seine Familie. Nach dem Frühstück fand er sie im Wohnzim mer, wo sie in einer Zeitschrift blätterte, wäh rend Emily auf dem Teppich spielte. »Wie geht's so?« fragte er. »Es ist nett von dir, daß du gekommen bist«, sagte sie. »Es bedeutet Philippa sehr viel.« »Was ist mit ihrer Hochzeit?« »Dauert nicht mehr lange, glaube ich.« »Philippa scheint ihn ja ganz schön zu bear beiten.« »Er braucht jemanden wie sie«, sagte Karen. »Und wie geht's dir?« »Nicht schlecht. Viel Arbeit.« Er beobachtete Emily, eine Karen in Miniatur ausgabe. Sie spielte mit ein paar Plastikfigu ren – unterschiedlich eingefärbte Zylinder mit Kugeln obenauf als Köpfe. Er streckte sich auf
dem Teppich neben ihr aus. »Darf ich mit dir spielen, Em?« fragte er. »Ja.« Er berührte eine der Plastikfiguren: »Wer ist das?« »Das ist Mami.« »Und wer ist das?« »Das ist Daddy.« »Wer ist das?« »Das ist die Krankenschwester.« »Wozu brauchst du eine Krankenschwester?« »Das Baby wird erstochen.« »Erstochen? Wer ersticht es denn?« »Nein, das Baby wird gestochen.« »Ach so. Aber das wird dem Baby gar nicht ge fallen.« »Mit einer Nadel.« »Darf ich das Baby spielen?« »Ja.« »Ich spiele auch den Daddy«, sagte er. Mit dieser Arbeitsteilung war sie einverstan den. Emily schob ihm zwei der Figuren hin, und sie begannen zu spielen. Nach einer Weile fragte Karen: »Lake, wie geht's dir wirklich?« »Hab ich doch gesagt: gut.« »Etwas macht dir zu schaffen. Das sehe ich doch«, sagte sie.
»Ich glaube, daß ich einen guten Daddy abge be. Und auch ein gutes Baby.« »Ja.« Ihre Feststellung versetzte ihm einen Stich. Aber er hatte Vertrauen zu Karen und sagte: »Es ist eine Herzensangelegenheit.« »Wer?« »Jennifer.« »Dacht ich's mir doch. Sie hat mich im Sep tember angerufen und gefragt, wann du Ge burtstag hast.« »Im März«, sagte er, »zu spät.« »Warum?« »Weil wir uns getrennt haben. Wir waren in einer Sackgasse angelangt.« »Und das hast du entschieden?« fragte Kate. »Nein, sie. Ich werde schon darüber hinweg kommen.« Karen sagte nichts. Er lächelte sie an, fühlte sich ein wenig geborgen. Er wandte sich wie der seinem Spiel mit Emily zu: »Was ist pas siert, während ich nicht da war?« fragte er sie. »Das Baby ist jetzt im Spielzeuggeschäft«, in formierte ihn Emily. »Daddy wird dem Baby ein Spielzeug kaufen«, sagte er. ***
Das Thanksgiving-Abendessen war zeremoni ell und ausgedehnt, und Emily verschwand früh. Randall erschien im Türrahmen, bereit für den Truthahn, aber er erinnerte sich der Manieren, die ihm Tante Ilsa beigebracht hat te, und blieb jenseits der Türschwelle stehen. Auch Lakes Vater hatte zur Feier des Tages sein bestes Benehmen rausgekramt, erzählte Geschichten von bunten Vögeln aus der Wall Street und neckte Karen mit ihrer Mutterliebe. Philippa hielt einen Vortrag über die Ursprün ge der Vereinigten Staaten und behauptete steif und fest, daß viele ihrer Vorfahren mit der Mayflower gekommen waren. Dann sagte sie zu Lake: »Armer Randall. Er sieht so trau rig aus.« »Das ist nicht Traurigkeit«, sagte Lake. »Das ist Angst, die gegen Gier ankämpft.« »Wir heben ihm etwas vom Truthahn auf«, sagte sie. Lake stand auf, hob das Glas und sagte: »Phil ippa, wenn ich für die Zugereisten in dieser Fa milie einschließlich Randall sprechen darf, möchte ich sagen, daß wir gerne auch in Zu kunft jeden Weg auf uns nehmen, egal, wie weit er ist, um so ausgezeichnet essen zu dür fen. Aber was wirklich zählt, ist, daß wir alle zusammengekommen sind. Wir danken dir da
für, daß du uns alle zusammengebracht hast, und danken dir auch für die beste Füllung, die einem Truthahn jemals zuteil geworden ist.« Philippa strahlte, Stephen applaudierte und Karen strahlte: »Ach, ist das schön, Philippa.« Lake nahm wieder Platz und dachte an Jenni fer und an die Veres, vereint und festlich ge stimmt, tief im Süden des Landes. Er bemerkte neue Ohrringe an Karen, anmu tige Spiralen mit winzigen Smaragden und Dia manten. Später sprach er sie darauf an: »Die sind wunderschön. Hast du die von Stephen bekommen?« »Die sind von Tante Ilsa. Sie hat mir viel Schmuck vererbt.« »Die sind wirklich schön.« »Danke«, sagte sie und berührte sie mit den Fingern. ***
Eine Woche später kam ein Paket aus Boston. In dem Paket lag ein kleines Schmuckkäst chen, und in dem Kästchen lagen die spiralför migen Ohrringe. Auf einem Zettel stand: »Gib sie jemandem.« Am selben Abend rief er sie an. »Karen«, sag te er, »ich hatte nicht die Absicht, dir deine Ohrringe abzuschwatzen.«
»Ich möchte, daß du sie nimmst.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Sag danke, liebe Karen, wie ein braver Jun ge.« »Danke, liebe Karen. Vielen herzlichen Dank.« »Keine Ursache«, sagte sie liebevoll. Steebie krähte im Hintergrund. »Ich muß jetzt Schluß machen«, sagte sie. ***
Er schüttete sich wieder mit Arbeit zu. In struX florierte. Danny sprach von einer eige nen Softwareabteilung; auf seinem Schreib tisch stand eine Karte: STELLV. GESCHÄFTSFÜHRER IN SPE. Rob war pro duktiver denn je. Scheinbar mühelos brachte er fast poetische Texte zu Papier. Lösen Sie die Bremse. Lassen Sie die Spule frei laufen. Oder: Extreme Temperaturen schwächen die Ver bindung. Vermeiden Sie nicht nur Hitze, son dern auch Kälte. Eines Tages bemerkte Lake, daß Rob und Mary gemeinsam in die Mittagspause gingen. Er dachte sich nichts dabei, aber im Lauf der Woche geschah es mehrmals. Danach achtete
er darauf und entdeckte winzige Signale – Bli cke, die über den Raum schweiften und sich auf dem anderen wie ein Schmetterling auf ei ner Blume niederließen. Wortlos legte Rob Mary einen Zettel auf den Tisch, Mary zupfte geistesabwesend etwas von seinem Ärmel, als er zufällig in ihrer Nähe stand. Die beiden wa ren ein ungleiches Pärchen: Rob mager, dun kel und konzentriert; Mary, großgewachsen, mit roten, wuscheligen Haaren. Aber sie hat ten die gleiche Lebenslust und das gleiche Selbstvertrauen. Lake freute sich für Mary: Bisher hatte sie sich immer für Männer inter essiert, die sie am Ende verachtete. Er lud Rob zum Mittagessen in das chinesi sche Restaurant ein. »Wie kommst du mit dei nem Stück voran?« fragte er, nachdem sie Platz genommen hatten. »Das mit dem Astro nauten und dem Computer.« »Es ist nichts daraus geworden.« »Schade. Die Idee hat mir sehr gefallen. Machst du etwas Neues?« »Im Moment nicht.« Lake beschloß, gleich zur Sache zu kommen. »Wie gefällt es dir bei InstruX?« fragte er. »Besser als erwartet.« »InstruX ist sehr mit dir zufrieden«, sagte Lake.
»Soll das vielleicht eine Beurteilung sein? Ich habe bisher noch nie 'ne Beurteilung gekriegt.« »Nein. Es ist eine Anerkennung. Du machst ausgezeichnete Arbeit. Ab heute kriegst du eine Gehaltserhöhung von fünfzig Prozent. Vor dir liegt eine große Zukunft, Rob. Ich hoffe, du bleibst uns erhalten.« Ganz offensichtlich hatte er nicht damit ge rechnet. »Danke«, sagte er. Dann unterhielten sie sich eine Weile über Politik. Und plötzlich, als hätte er es schon lan ge mit sich herumgetragen, sagte Rob: »Lake, das Wichtigste für mich ist immer noch das Theater. Das ist immer noch die Nummer eins.« »Das ist doch in Ordnung. InstruX braucht Mitarbeiter, deren Leben im Gleichgewicht ist.« Rob war sichtlich erleichtert. »Und was ist mit dir?« fragte er. »Wie läuft's bei dir?« »Recht gut.« »Wohnst du noch immer im Haus deiner Tan te?« »Noch immer«, sagte Lake. »Und dort werde ich auch für absehbare Zeit bleiben.« »Aber eigentlich hast du keine Lust dazu?« »Meine Tante wäre eine gute Drehbuchauto rin geworden«, sagte Lake. »Sie hat meine
Wohnsituation für die Zukunft festgeschrie ben.« »Ich hätte nichts gegen eine solche Tante«, sagte Rob. »Sie hatte auch Vorstellungskraft. Sagen wir mal, sie hat sich Dinge vorgestellt. Sie hat ge glaubt, psychische Macht zu besitzen. Aber of fenbar bezog sich diese Macht nicht auf Men schen.« »Worauf bezog sie sich dann?« »Auf Hunde«, sagte Lake. »Sie verließ sich im mer auf eine innere Stimme, wenn sie aus ei nem ganzen Wurf ihren Hund ausgewählt hat. Ich weiß das, weil mir im vorigen Sommer ein Karton mit Briefen in die Hände gefallen ist, die ihr der Vorsitzende einer Organisation ge schrieben hat, die sich ›Institut für das Ver ständnis von Tieren‹ nennt. Der Mann heißt übrigens Ernest Jeffords. Er war scharf auf ihr Geld. Keine Idee war Ernest Jeffords zu ver rückt, solange sie den Geldfluß an sein Institut sicherte.« »Zum Beispiel?« »Tante Ilsa hat auch über psychische Kräfte in Verbindung mit Häusern verfügt. Sie hat Jef fords erzählt, daß sie ihr Sommerhaus in Mai ne deshalb gekauft habe, weil sie den Ruf von Geistern gehört hätte. Jeffords hatte damit
kein Problem. Er hatte sogar einige Vorschläge parat, welche Geister es hätten sein können. Er erzählte ihr, daß sie möglicherweise aus Irland gekommen wären und noch vor Kolumbus amerikanischen Boden betreten hätten. Ein irischer Mönch namens St. Brendan hat ver mutlich zu dieser Zeit den Atlantik überquert – er und noch ein paar andere Mönche –, und bei ihrer Landung sollen alle möglichen magi schen Sachen passiert sein.« »Katholiken glauben doch nicht an Geister«, sagte Rob. »Außer an den Heiligen Geist.« »Vielleicht sind damals auch ein paar kelti sche Geister als blinde Passagiere mitgereist«, sagte Lake. »In Maine sind sie dann an Land gegangen und haben nach einem Eichenwäld chen gesucht.« Lake hatte das im Scherz gesagt, aber Rob wurde plötzlich ernst. Er nickte und klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Das ist interessant«, sagte er. »Das ist sogar sehr in teressant.« »Ich würde sagen, daß es bescheuert ist.« »Es birgt viele Möglichkeiten«, sagte Rob. »Ich könnte ein Stück daraus machen. Hör zu: Mal angenommen, in dem Boot haben sich Druiden versteckt. Mal angenommen, einer der Mönche war ein verkleideter Druide. Das
Christentum bringt die alte keltische Magie aus Irland heraus, und dieser Druide schaut sich nach einem Ort um, wo er einen neuen Anfang machen könnte. Also gibt er sich als Mönch aus und ergattert eine Schiffspassage nach Ameri ka.« »Woher will er wissen, daß auf der anderen Seite Amerika liegt?« sagte Lake. »Das weiß er nicht. Aber er ist sicher, daß sie irgendwo neues Land entdecken werden.« »Es könnte ein kahler Felsen sein, übersät mit Vogelscheiße. Keine Eichen.« Rob ignorierte ihn. »Auf dem Ozean sprechen die Mönche christliche Gebete, bekreuzigen sich und so weiter, nur dieser eine Mönch murmelt fremdartige Formeln, die die anderen nicht verstehen. Es sind keltische Zaubersprü che, aber das wissen die anderen nicht.« »Richtig«, sagte Lake, um einen neutralen Ton bemüht. »Und nun passiert folgendes«, fuhr Rob fort. »Sie landen. Der Druide glaubt, daß Amerika jungfräuliches Territorium ist. Er holt mit sei nen Zaubersprüchen eine kleine Armee kelti scher Geister herbei. Der Druide plant, den ganzen Kontinent mit keltischen Geistern zu füllen. Was er nicht weiß, ist, daß Amerika be reits besetzt ist. Indianische Geister leben zwi
schen den Felsen und in den Wäldern, und sie haben nicht vor, sich vertreiben zu lassen. Das Ergebnis ist ein Krieg der Geister. Die kelti schen Geister versuchen sich vom Brücken kopf Maine freizukämpfen, aber sie sitzen in der Falle, weil die indianischen Geister in der Überzahl sind. Sie können nicht mehr nach Ir land zurück, aber sie können auch nicht weiter ins Landesinnere vordringen.« »Du willst also sagen, daß demnach immer noch eine kleine keltische Kolonie an der Küs te existiert.« »Richtig«, sagte Rob. »Empfindsame Men schen, wie deine Tante zum Beispiel, nehmen sie wahr, aber für die meisten Menschen sind sie nicht erreichbar.« »Wie das?« »Sie existieren außerhalb der normalen Zeit wie alle Geister. Sie haben ihre eigene Zeit.« »Aha«, sagte Lake. »Kann ich mal einen Blick in die Briefe deiner Tante werfen?« »Klar.« »Super«, sagte Rob. »Damit kann ich be stimmt was anfangen.« ***
Am selben Abend holte Lake die Schuhschach
tel mit den Briefen des Instituts für das Ver ständnis von Tieren heraus. Er wählte die Brie fe aus, in denen Tante Ilsa von ihrer inneren Stimme schrieb, und legte sie für Rob zur Sei te. Er las ein paar andere Briefe und stellte fest, daß Ernest Jeffords es geschafft hatte, in jedem einzelnen Brief einen kleinen Tip für fi nanzielle Zuwendungen unterzubringen. Er suchte seinen letzten Brief, weil er neugierig war, ob er bis zu Tante Ilsas Ende versucht hat te, Geld aus ihr herauszuholen. Er hatte. Sehr verehrte Mrs. Grinnell, ich bin sehr bestürzt zu hören, daß Sie sich um Ihre Gesundheit Gedanken machen. Ich vertraue darauf, daß Ihre Sorgen sich schon bald als unbegründet herausstellen werden. Dem, was Sie über die Zerbrechlichkeit des Lebens schreiben, ist nicht zu widerspre chen, aber ich glaube, daß jedem von uns eine bestimmte Art von Unsterblichkeit ge geben ist. Wenn jeder von uns einen Teil sei ner Mittel dem ständigen Bemühen nach Wissen zur Verfügung stellt, haben wir et was Dauerhaftes geschaffen. Wofür wir letztlich etwas geben, ist nicht wichtig: Die jenigen, die mit ihren großzügigen finanziel len Zuwendungen kontinuierliche For schung ermöglichen, haben nicht weniger
Verdienste erworben als die Forscher selbst. Aber das war Ihnen ja schon immer be kannt. Es entspricht voll und ganz Ihrem Charak ter, daß Sie sich zu einer Zeit, da Ihnen Ihre Gesundheit Sorgen bereitet, um das Wohlbe finden Ihres Hundes sorgen. Ich hoffe, Sie verstehen mich richtig, wenn ich zu Ihrem Plan, den Sie für Ihre Nichte und Ihren Nef fen ausgearbeitet haben, eine Meinung äu ßere, wenngleich ich der Auffassung bin, daß Sie noch lange nicht an eine solche Mög lichkeit denken müssen. Aber nachdem Sie mich nach meiner Meinung fragen, muß ich Ihnen antworten. Meine Ansichten stimmen völlig mit den Ihren überein. Ich stimme Ih nen zu, daß es in dem undenkbaren Fall, daß Sie Ihren Hund Randall verlassen müssen, ideal für ihn wäre, wenn er seinen derzeiti gen Aufenthaltsort beibehalten könnte. Natürlich sind Ideale manchmal unerreich bar. Es ist ein Segen, daß Sie eine Nichte und einen Neffen haben, die eine solche Vorsorge begrüßen würden – die, wie ich meine, völlig unnötig ist, aber schon allein dadurch, daß Sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen, ist Ihr einzigartiges und wunderbares Empfin den für Tiere für mich wieder einmal unter
Beweis gestellt. Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords Lake las den Brief nochmals. Dieser habgieri ge Parasit hatte kräftig dabei mitgewirkt, Lake fünf, sechs oder sieben Jahre in einem Gefäng nis aus Stein zu kasernieren. Ohne Jeffords Er mutigung hätte Tante Ilsa diese Idee vielleicht fallengelassen. Dann dachte Lake an Vere. Als Freund Tante Ilsas und als ihr Rechtsberater hätte er es ihr ausreden können. Er hätte sie daran hindern können, ein solches Testament aufzusetzen, hatte es aber nicht getan. Und nicht nur das, er war auch später nicht geneigt, das Arrange ment zu ändern. Er hatte Lake mit Prinzipien geknebelt. Er hatte gesagt: Entweder man hat Ehre im Leib oder nicht. Und Jennifer war da bei gewesen. Lake betrachtete den Brief und dachte über Jeffords und Vere nach, einer links und einer rechts neben seiner Tante: Komplizen. Eine Ahnung stieg in ihm auf. Er überlegte. Es war extrem weit hergeholt, aber doch einen Versuch wert. Zum ersten Mal seit Wochen spürte er ein Aufflammen seiner Leidenschaft am Kräftemessen.
***
Am nächsten Tag im Büro – die anderen wa ren in der Mittagspause – wählte Lake die Nummer des Instituts für das Verständnis von Tieren. Eine quäkende Stimme meldete sich: »Ernest Jeffords.« »Mr. Jeffords, mein Name ist Lake Stevenson. Ich bin der Neffe von Ilsa Grinnell, der verstor benen Ilsa Grinnell.« »Ja?« »Ich bin ihr Erbe«, sagte Lake. »Ah, ich verstehe. Ja, ich verstehe. Mrs. Grin nell war eine unserer besten … sie war unse rem Institut stets in großer Freundschaft ver bunden.« »Ich weiß, weshalb.« »Wie meinen Sie das, Mr. …« »Stevenson.« »Wie meinen Sie das, Mr. Stevenson?« »Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihre Briefe an meine Tante zu lesen. Es ist klar, wie viel Ihre Organisation meiner Tante bedeutet hat. Und Ihr Rat.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« »Ich gehe davon aus, daß das Institut aus ih rem Vermögen ein Vermächtnis erhalten hat.« »Ja. Ein sehr großzügiges.«
»So war sie. Ich rufe Sie an, weil ich hoffe, daß Sie mich über die Aktivitäten Ihres Institu tes weiterhin auf dem laufenden halten.« »Aber gerne. Mit dem größten Vergnügen.« »Ich wohne in ihrem Haus in Chestnut Hill.« »Noch heute werde ich einige Unterlagen zur Post geben. Das Institut unterstützt im Mo ment einige viel versprechende Forschungs vorhaben. Ich bin sicher, daß Mrs. Grinnell größtes Interesse daran gehabt hätte.« »Ich bin schon sehr gespannt auf die Informa tionen. Da wir gerade von dem Haus in Chest nut Hill sprechen, fällt mir etwas ein. Dazu würde ich gern Ihren Rat hören. Ich habe fol gendes Problem: Ich bin nicht verheiratet und habe keine Familie. Man könnte also durchaus sagen, daß ich eigentlich zu jung bin, um in ei nem Haus wie diesem zu wohnen. Wie Sie wis sen, wollte meine Tante vermeiden, daß ihrem Hund nach ihrem Tod zu viele Veränderungen aufgebürdet werden. Das Haus wurde mir mit der Maßgabe hinterlassen, daß es so lange das Zuhause des Hundes sein sollte, bis er eines natürlichen Todes stirbt.« »Ja. Ich weiß, daß sie das gewünscht hat. Ich schrieb ihr meine Meinung zu … nun, zur Selbstlosigkeit dieser Entscheidung.« »Ich habe Ihren Brief gelesen und sehr be
wundert. Sie haben sie offenbar in ihrer An sicht bestärkt, daß es das Wichtigste sei, Ran dall weiterhin die Fürsorge und Liebe zuteil werden zu lassen, die er von Tante Ilsa emp fangen hat.« »Ja, gewiß.« »Ich würde mir niemals anmaßen, mich mit Tante Ilsa zu vergleichen, wenn es um die Für sorge für einen Hund geht, wohl aber, was die Liebe betrifft. Ich hoffe, daß ich ihr in dieser Hinsicht das Wasser reichen kann.« »Natürlich.« »Randall ist mir sehr ans Herz gewachsen.« »Das freut mich zu hören.« »Und nun hätte ich gerne Ihren Rat – und auch Ihre Hilfe. Ich glaube, wir stimmen darin überein, daß die Fürsorge und die Liebe zum Hund an erster Stelle stehen und daß das Haus von sekundärer Bedeutung ist. Ich gehe sogar noch weiter: Ich würde behaupten, daß ein Hund in dem Haus am glücklichsten ist, das seinen Herrn am glücklichsten macht. Daraus folgt: Fühlt sich das Herrchen nicht wohl, fühlt sich auch der Hund nicht wohl.« »Sehr richtig.« »Die einzige Schwierigkeit besteht darin, daß der Testamentsvollstrecker von mir erwartet, in diesem Haus wohnen zu bleiben. Er heißt
Billington Vere.« »Bestimmt wünscht er sich auch, daß der Hund glücklich ist.« »Das meinen Sie, Mr. Jeffords. Ich habe dage gen den Eindruck, daß er den derzeitigen Sta tus beibehalten möchte. Er sieht die Sache aus dem Blickwinkel eines Rechtsanwalts. Er käme niemals auf die Idee, daß es Randall besser ge hen würde, wenn ich woandershin ziehe.« »Nein. Ein Rechtsanwalt würde es bestimmt nicht aus der Sicht eines Hundes sehen.« »Und deswegen möchte ich Sie um folgenden Gefallen bitten: Sie sind eine Autorität auf dem Gebiet der Tierforschung, also würde Mr. Vere auf Ihre Meinung hören. Ich wäre Ihnen wirk lich sehr verbunden, wenn Sie ihm schreiben könnten. Ich gebe Ihnen seine Adresse. Sie könnten ihm schreiben, daß Sie nichts dagegen einzuwenden hätten, wenn ich das Haus ver kaufe. Vielleicht erwähnen Sie sogar, daß dies eine wünschenswerte Lösung sei. Sie könnten ihm schreiben, daß meine Tante Sie über viele Jahre in Angelegenheiten ihres Hundes kon sultiert hat.« »Ich denke, daß sie in diesen Angelegenheiten meine Meinung schätzte.« »Davon bin ich überzeugt. Und ich zweifle auch nicht daran, daß Mr. Vere ebenso denken
wird.« »Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Stevenson, daß Sie das sagen.« »Meinen Sie, daß Sie ihm schreiben könnten?« »Ja, ich denke schon.« »Sie könnten vielleicht erwähnen, daß ich Sie angerufen habe, um Ihren Rat zu erbitten, wie es meine Tante früher so oft getan hat.« »Ja.« »Sagen Sie einfach, daß dieses Thema im Ver lauf des Gespräches angeschnitten wurde. Sie hätten die Situation mit mir erörtert und wä ren zu der Ansicht gelangt, daß Sie sich in An betracht Ihrer langjährigen Beziehung zu mei ner Tante nun dazu äußern sollten. Der Umzug in ein kleineres Haus wäre durchaus in Ran dalls Interesse. Genau das hätte meine Tante gewollt, wenn sie alle Fakten hätte berücksich tigen können, die sich inzwischen ergeben ha ben.« »Ich werde den Brief gerne für Sie schreiben.« »Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe wirklich dank bar, Mr. Jeffords. Würden Sie bitte Mr. Vere auch noch darum bitten, mich zu informieren, ob er mit Ihrem Rat einverstanden ist?« »Natürlich. Ich werde Mr. Vere noch heute
schreiben.« »Und denken Sie bitte daran, mir die Unterla gen über Ihr Institut zuzusenden. Ich möchte alles über Ihre laufenden Projekte wissen. Mei ne Tante und ich hatten viele gemeinsame In teressen.« Ein paar Tage später flatterte mit der Post eine Nachricht ins Haus. Sehr geehrter Mr. Stevenson, kürzlich erhielt ich einen verblüffenden Brief von einem Mr. Ernest Jeffords. Ich habe den Eindruck, daß er für Sie tätig ist, obwohl er verschiedene Presseartikel über Delphine und Schimpansen beifügte und mich offenbar als Tierschutzaktivisten be trachtet. Bitte teilen Sie ihm mit, daß ich kei nerlei Interesse daran habe, seiner Organi sation etwas zu spenden. Mr. Jeffords hatte die Frechheit, mich zu bitten, Ihnen die Erlaubnis zu erteilen, das Haus zu verkaufen, das Ihnen Ihre verstor bene Tante so großzügigerweise hinterließ. Ich will mich in dieser Angelegenheit auf die Gesetzeslage beschränken. So gesehen gibt es nichts, was Sie davon abhalten könnte. Die einzig möglichen Hindernisse wären Ihr Ehrgefühl, Ihr Respekt vor den Wünschen Ihrer Tante und die Tatsache, daß Sie Ihr
Wort gegeben haben. Vielleicht hat das für Sie keinen hohen Stellenwert. Wie dem auch sei, wie Sie sich entscheiden, liegt voll und ganz bei Ihnen. Hochachtungsvoll Billington Vere Vere war eine harte Nuss, aber ein würdiger Feind. Lake klebte den Brief an die Kühl schranktür, damit er ihn jeden Tag ansehen konnte. Es hatte eine gewisse Faszination, Tag für Tag sein Todesurteil zu lesen. Dann rief ihn Charlotte im Büro an: »Lake«, sagte sie, »ich finde, du solltest wissen, daß wir uns trennen, Frank und ich.« »Das tut mir leid, Charlotte.« »Das braucht dir nicht leid zu tun. Im Gegen teil.« »Was wirst du jetzt tun? Ich meine, was hast du vor?« »Ich fange wieder zu leben an.« »Sag mir, wenn du was brauchst. Zieht Frank aus?« »Die Farm gehört Frank. Und abgesehen da von kann ich sie ohnehin nicht leiden. Ich bin ein Stadtmensch. Ich miete mir wahrschein lich zunächst mal was. Eigentlich habe ich an Chestnut Hill gedacht.«
»Das kann ich dir nicht empfehlen.« »Hast du dich immer noch nicht eingewöhnt?« »Eigentlich nicht.« »Nun, deshalb rufe ich eigentlich an, Lake. Ich dachte mir schon, daß du deine Meinung über das Haus noch nicht geändert hast. Könn test du dir vorstellen, es mir zu vermieten?« »Vermieten?« »Vermiet mir dein Haus, Lake. Komplett mö bliert. Ich finde es Klasse. Es ist perfekt für mich.« »Das geht leider nicht.« »Warum nicht? Du rennst dauernd herum und machst die Türen zu. Du wärst woanders viel glücklicher.« »Ich muß hier wohnen«, sagte er. »Ich ver miete es dir in fünf Jahren, vielleicht auch erst in sechs.« »Und du überlegst es dir nicht anders?« »Mein Ehrgefühl verbietet es mir«, sagte er. ***
Weihnachten rückte näher, und er arbeitete weiterhin bis in den späten Abend. Der Vertrag für das neue Bürogebäude war unterzeichnet. Im Januar würde InstruX in ein großes Haus umziehen, das einen Konferenzraum, ein Foto
studio und viel zusätzlichen Raum für eine spätere Expansion bot. Lake nahm an, daß In struX innerhalb des kommenden Jahres enorm wachsen würde. Er würde in Arbeit er trinken; das Leben würde einfacher werden. Er beobachtete mit Wohlgefallen, wie Rob und Mary sich verstohlen umkreisten. Eines Tages sprach ihn Rob an: »Ich muß mich noch mals für die Druiden-Geschichte bedanken. Ich komme mit dem Stück gut voran.« »Wie sieht die erste Szene aus?« »Die Mönche stellen ein Kreuz an der Stelle auf, wo sie in Maine an Land gingen, aber der Druide hält sich im Hintergrund. Es erklingt indianische Musik, die sich in die Gesänge der Mönche mischt.« »Wie wird die Geschichte ausgehen?« fragte Lake. »Ich denke an eine Art Friedensvertrag zwi schen den keltischen und den indianischen Geistern. Ein magisches Appomattox sozusa gen.« »Nicht schlecht«, sagte Lake. »Ich werde Er nest Jeffords eine Eintrittskarte schicken.« Am selben Tag kaufte Lake Weihnachtsge schenke: Einen Arztkoffer für Emily, einen kleinen ausgestopften Bären für Steebie, Bü cher für Karen, Stephen, Philippa und seinen
Vater, ein Dartspiel für Richie. Er schickte die Pakete in den Norden. Auf dem Heimweg hielt er an einem Zoofachgeschäft und suchte auch für Randall ein paar Geschenke aus, verschie dene Hundeleckereien. Es war ihm klar, daß es besser wäre, die Weihnachtsfeiertage in möglichst großer Ent fernung von Chestnut Hill zu verbringen. Aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Rei se zu planen, und nun war es zu spät. Er be schloß, einfach jeden Tag ins Büro zu gehen; das lange Weihnachtswochenende würde er schöpferisch nutzen. Am Dienstag fielen fast fünfzehn Zentimeter Schnee. Draußen fuhren Lastwagen vorbei, räumten die Straßen und streuten Salz. Er ar beitete bis zehn Uhr abends, fuhr dann nach Hause und sah sich bis Mitternacht eine Talks how an. Am nächsten Tag fuhr er früh ins Büro und vertiefte sich in die Arbeit. Randall lang weilte sich, wanderte ziellos umher, auf der Suche nach Abwechslung. Schließlich legte er sich zu Marys Füßen schlafen. Als er zu schnar chen begann, stieß sie ihn mit dem Fuß an. Da nach war als einziges Geräusch im Büro nur noch das Klicken der Computertasten zu hö ren. Gegen halb elf klingelte sein Telefon. Mary
nahm den Anruf entgegen. Lake hörte, wie sie sagte: »Mayhew, Foster? Einen Moment bitte.« Sie schaute zu Lake hinüber, zögerte, ahnte et was, obwohl er ihr gegenüber nichts von sei nen Problemen erwähnt hatte. Fast traurig sagte sie: »Für dich.« Er dachte: Bitte, lass es Jennifer sein! Bitte. Er nahm den Hörer ab. »Hier spricht Binky Foster von Mayhew, Foster, Mr. Stevenson«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Wir ha ben vor vier Monaten miteinander gespro chen.« »Ja, ich weiß«, sagte Lake. »Sie haben mir die Nummer von Jennifers Autotelefon gegeben. Bitte nennen Sie mich nicht Mr. Stevenson. Ich heiße Lake.« »Gut, Lake. Hätten Sie einen Augenblick Zeit?« »Ja.« »Ich weiß, es hört sich wie ein Überfall an«, sagte sie. »Und es ist auch wirklich etwas unge wöhnlich, aber vielleicht kommt es Ihnen ja ge legen. Erinnern Sie sich noch an die Dank myers, die Leute, die Ihr Haus kaufen wollten?« »Sicher.« »Also, falls Sie es sich inzwischen anders überlegt haben sollten, wollte ich Ihnen nur sa
gen, daß die Dankmyers nach wie vor sehr in teressiert sind. Ich glaube sogar, daß sie den vollen Preis bezahlen möchten.« »Mein Haus scheint ja wirklich sehr begehrt zu sein«, sagte Lake. »Gerade erst wollte es je mand mieten.« »Es ist eben etwas Besonderes«, sagte sie. »Es ist genau das, was die Dankmyers suchen. Sie haben sich geradezu in das Haus verliebt.« »Leider ist meine Antwort noch immer diesel be, Binky. Es steht nicht zum Verkauf. Viel leicht in fünf oder sechs Jahren. Das hängt von einem Hund ab, und der ist nicht sehr koope rativ.« »Ich verstehe. Ich hoffe, Sie nehmen es mir trotzdem nicht übel, daß ich gefragt habe.« »Überhaupt nicht.« Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Lake aus dem Fenster. Es war nicht die Art von Mayhew, Foster, Leute anzusprechen, die kein Interesse bekundet hatten, ihr Haus zu verkaufen. Er rief sie nochmals an. »Binky«, sagte er, »gibt es einen speziellen Grund, der Sie darauf gebracht haben könnte, daß dieses Haus viel leicht doch zu verkaufen sei?« »Wir arbeiten immer noch für die Dank myers«, sagte sie. »Aber Sie hätten mich bestimmt nicht angeru
fen, wenn Sie nicht glauben würden, daß ich meine Meinung geändert haben könnte.« Sie zögerte. »Das ist richtig«, sagte sie. »Nor malerweise würde ich das nicht tun.« »Und was brachte Sie darauf zu glauben, daß ich mich anders entschieden hätte?« »Ich muß mich entschuldigen, Lake. Das war sicher ein Versehen.« »Entschuldigen Sie sich nicht«, sagte er. »Es ist schon in Ordnung. Eigentlich lagen Sie ja auch gar nicht so falsch damit. Eine Zeitlang war ich tatsächlich am Überlegen. Vielleicht können Sie ja Gedanken lesen.« »Nein.« »Nein, das ist mir klar«, sagte er. »Ist Jenni fer da?« »Ja.« »Ich muß dringend mit ihr sprechen.« Jennifer kam an den Apparat. »Hallo«, sagte sie vorsichtig. »Hallo«, sagt er. »Ich würde gern etwas wis sen, und ich könnte mir vorstellen, daß du es mir sagen kannst.« »Was ist es?« »Warum hat mich Binky Foster gefragt, ob ich das Haus den Dankmyers nicht doch verkaufen möchte?« »Nachfassen gehört zum Geschäft von Immo
bilienmaklern.« »Das stimmt nicht«, sagte er. »Zumindest macht eure Firma es nicht so. Sie dachte, ich wäre interessiert. Was hat sie dazu gebracht?« »Ich habe ihr gesagt, daß es vielleicht so sein könnte.« »Ich höre«, sagte er. »Ich war übers Wochenende bei den Großel tern«, sagte sie. »Mein Großvater hat mir den Brief von einem Tierforscher gezeigt. Dieser Mann hat geschrieben, daß du mit ihm über das Haus gesprochen hast. Daß du es verkau fen wolltest.« »Das habe ich mir gedacht.« »Mein Großvater sagte, daß er dir gleich nach Erhalt dieses Briefes geschrieben hat.« »Hat er dir gesagt, was er geschrieben hat?« »Daß es deine Entscheidung sei, ob du das Haus verkaufen willst oder nicht.« »Und daß es eine Frage der Ehre, des Ehren wortes und des Respekts gegenüber dem Wunsch meiner Tante sei?« »Alles«, sagte sie. »Wie kommt dein Großvater dazu, so etwas mit dir zu besprechen?« »Nun, er weiß, daß ich mit dir befreundet war«, sagte sie. Sie zögerte und fügte dann hin zu: »Es war eine seiner Moralpredigten. Er
nutzt die kleinste Chance, jedem in der Familie moralische Lektionen zu erteilen.« »Ich verstehe.« »Er sagte, er sei sicher, daß du das Haus ver kaufen würdest. Er hätte keinen Zweifel dar an.« »Deswegen hast du Binky gebeten, mich anzu rufen, damit sie die Provision einstreichen kann?« »Nicht unbedingt«, sagte sie. Lake vernahm einen merkwürdigen Ton in ihrer Stimme. »Was heißt, nicht unbedingt?« »Es ist nicht wichtig.« »Es ist schon wichtig«, sagte er. »Ich habe meinem Großvater gesagt, daß er unrecht hat.« »Das hast du ihm gesagt? Du hast ihm gesagt, ich würde nicht verkaufen?« »Ich sagte, ich glaube nicht, daß du ver kaufst.« »Aber du warst dir nicht sicher.« »Ich habe mit ihm gewettet.« »Um wieviel?« »Fünf Dollar.« »Ein nicht gerade hoher Einsatz«, sagte Lake. »Du kennst meinen Großvater nicht«, sagte sie. »Für ihn sind fünf Dollar ein sehr hoher Einsatz.«
»Etwas verstehe ich nicht. Wenn du nicht er wartet hast, daß ich verkaufe, warum hast du Binky anrufen lassen?« »Ich wollte wissen, ob ich meine Wette gewin ne«, sagte sie. Lake ertrank förmlich in ihrer Stimme. Er sagte: »Du hast nicht gerade viel Geduld bewie sen, oder?« »Eigentlich nicht.« »Das grenzt ja schon fast an Skrupellosigkeit.« »Das ist mir egal.« Er lauschte ins Telefon, versuchte, die Bedeu tung ihrer Worte zu erfassen. Dann erblühte die Antwort plötzlich strahlend und überwälti gend und füllte den leeren Raum zwischen ih nen: Was ich mache, interessiert sie. Er wußte, daß sie ebenfalls versuchte, die Be deutung seiner Worte zu erfassen. »A propos, Mittagessen«, sagte er. »Was für ein Mittagessen?« »Wir hatten uns zum Mittagessen verabredet. Im Oktober übrigens, aber da hab ich's leider nicht geschafft. Aber jetzt hätte ich Zeit.« »Wann?« »Jetzt. Sofort.« »Lake, es ist noch nicht mal elf.« »Dann um zwölf.«
»Ich habe um Viertel vor eins einen Termin, auf den ich mich noch vorbereiten muß.« »Wir gehen in den McDonald's, bei deinem Büro um die Ecke. Von zwölf bis halb eins. Von zwölf bis Viertel nach zwölf.« »Gut.« ***
Als sie sich an den Tisch setzte, wirkte sie ver legen. Er war nervös. Sie gingen an die Theke, um sich ihr Essen zu holen, und standen wort los nebeneinander. Als sie wieder am Tisch sa ßen, schob er sein Essen zur Seite. Er wußte nicht, wie er beginnen sollte. Er schaute zum Fenster hinaus. Eine verirrte Schneeflocke flog vorbei. »Wir werden weiße Weihnachten krie gen«, sagte er. Dann: »Was machst du an Weihnachten? Florida?« »Ich gehe mit Jackie und ihren Eltern zum Skifahren. Sie haben in Sun Valley eine Hütte. Und was machst du?« Er konnte nicht sagen, daß er arbeiten wollte; das würde pathetisch klingen. »Philippa hat mich nach Greenwich eingeladen«, sagte er. Das war nicht einmal gelogen. Sie hatte ihn wirklich eingeladen. Jennifer nickte. »Du erinnerst dich doch noch an Philippa«,
sagte er. »Ja.« »Aber bestimmt hast du keine Lust, darüber zu sprechen«, meinte er. »Willst du denn darüber sprechen?« Er wollte nicht, aber es gab kein Entrinnen. »Dieser Besuch damals war eine einzige Kata strophe«, sagte er. »Ich hätte dich nicht in die se Situation bringen dürfen. Ich hatte unsere Beziehung falsch eingeschätzt.« Sie beobachtete ihn, gewappnet und distan ziert. Lake verließ der Mut. Er sagte: »Wo mein Vater ist, gibt's Schwierigkeiten.« Aber er wußte, daß sein Vater und Philippa nur Statisten waren: Jennifer hatte sich ihre Meinung über ihn gebildet, bevor sie an die sem Tag geklingelt hatte. »Ich war blind«, sag te er. »Ich habe nicht gemerkt, was los war. Als du Philippa erzählt hast, daß du für uns keine Zukunft siehst, ist eine Welt für mich zusam mengebrochen. Aber ich möchte es noch ein mal versuchen, wenn du mich läßt.« »Was hab ich gesagt?« »Daß es mit uns zu nichts führt. Du warst ja nur ehrlich.« »Wovon sprichst du eigentlich?« fragte sie. Er sah sie an. »Doch, hast du«, sagte er.
»Was genau, glaubst du, habe ich zu ihr ge sagt?« fragte Jennifer. »Du kannst dich doch noch daran erinnern«, sagte er. »Philippa war der Meinung, daß wir Pläne schmiedeten – vermutlich, weil sie selbst Pläne schmiedete –, und sie hat dich nach dem Haus gefragt. Ob es dir zusagen würde.« »Ich habe überhaupt nichts zu dem Haus ge sagt.« »Sie hat die Frage ganz direkt gestellt. Es ging sie überhaupt nichts an. Ich fand es unglaub lich anmaßend, daß sie dich danach gefragt hat.« »Ich glaub's einfach nicht«, sagte Jennifer. »Sie hat mich gefragt, wie es mir gefällt. Sie hat gesagt, ach, ist es nicht nett, alle zusammen, ist es nicht unglaublich nett hier? Das hat sie ge sagt. Und sie war halb betrunken, und dein Va ter war absolut destruktiv. Das alles war mir zuwider. Ich habe so etwas zu oft erlebt. Bei meiner eigenen Mutter. Ich wollte nicht dabei sein. Das habe ich gesagt.« »Du mußt deine Worte nicht zurücknehmen. Ich bitte dich nicht darum, sie zurückzuneh men.« »Ich habe nie etwas über das Haus oder über uns gesagt. Wie kannst du nur so etwas glau ben, Lake?«
Er merkte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. »Aber ich konnte es«, sagte er. »Ich hab es ge glaubt. Ich hätte doch nie im Leben so reagiert, wenn das alles war, was du gesagt hast?« »Ich habe gesagt, daß dein Vater bösartig ist«, sagte sie. »Du kannst über ihn alles sagen, was du möchtest. Du weißt ja kaum etwas.« Aber er spürte, daß da noch etwas war. Sie saß aufrecht auf ihrem Stuhl. Ihre Augen ver düsterten sich. »Später habe ich mir dann ge dacht, daß vielleicht etwas anderes dahinter steckte«, sagte sie. »Etwas anderes?« Nach kurzem Zögern sagte sie: »Ich dachte, daß du dich von mir trennen möchtest und daß es dir nach diesem Tag einfach leichter gefal len ist, es durchzuziehen.« »Jennifer, aber weshalb sollte ich das gewollt haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum? Warum?« »Ich muß jetzt los.« Er wollte ihre Hand fassen, aber sie entzog sie ihm. Draußen stauten sich die Autos; Menschen strömten in das Restaurant. Er wußte plötzlich
die Antwort: »Charlotte«, sagte er. »Du hast geglaubt, daß ich etwas mit Charlotte habe. Du dachtest, ich hätte dich angelogen.« Sie war aufgestanden, ging auf den Ausgang zu. »Ich hatte nichts mit ihr«, sagte er, als er auf stand. Er lief ihr nach, blieb dicht an ihrer Seite, als sie über den Parkplatz ging. Sie hatten ihr Auto erreicht. Sie sah ihn nicht an. Er legte die Arme um sie. »Ich habe dich nicht angelogen. Ich würde dich niemals anlügen.« »Sag bitte nichts, sag bitte nichts«, sagte sie. Er hielt sie einen Augenblick lang fest in sei nen Armen. Dann hielt er ihr die Tür auf und schaute ihr nach, als sie wegfuhr. Er dachte: Wir fangen noch mal von vorn an, und dann wird es nie mehr aufhören. ***
In diesem Augenblick beschloß er, sich ein schönes Weihnachtsfest zu machen. In seinen Gedanken war es schon Januar und Jennifer aus dem Skiurlaub zurück. Auf dem Heimweg kaufte er einen großen Lebensmittelvorrat für das lange Wochenende ein. In derselben Nacht unternahm er wiederholte Ausflüge zu Tante Ilsas Brennholzlager in der Garage. Er zündete
ein Feuer im Kamin an und stapelte reichlich Holzscheite daneben. Er rückte einen Stuhl an den Kamin. Er und Randall würden jeden Abend vor einem prasselnden Kaminfeuer sit zen, und das Haus würde von Chorälen erfüllt sein. Er breitete die Geschenke von Philippa und Karen auf dem Wohnzimmertisch aus. Er holte Randalls Strumpf aus dem Keller und hängte ihn an den Kaminschirm. Randall be obachtete ihn interessiert; er erkannte den Strumpf als einen Behälter guter Sachen. Der Donnerstag begrüßte ihn mit einem blei ernen Himmel. Er war mit dem neuen Vermie ter verabredet und hatte sich entsprechend in Schale geworfen, aber der Mann rief an und sagte den Termin ab. Nachdem Lake den Hörer aufgelegt hatte, erklärte er die Ferien offiziell für eröffnet. Paul verteilte computergefertigte Weih nachtskarten, Absender: Randall, signiert mit einem Pfotenabdruck. Danny spielte ein Band ab, die Melodie war ›Jingle Bells‹, der Text Hundegebell. Zur Mittagszeit öffnete Lake eine Flasche Champagner und wünschte allen fröh liche Weihnachten. Es begann zu schneien. »Seht euch das an«, sagte Mary, und alle schauten hinaus und freuten sich. Sie bestellten ein nobles Mittagessen und
aßen und redeten. Um halb zwei verabschiede te sich Danny, weil er noch einkaufen wollte. Nach einer Weile folgten Rob und Mary. Paul saß an seinem Computer. »Geh nach Hause«, sagte Lake. »Wir haben geschlossen.« »Und was ist mit dir?« fragte Paul. »Ich geh auch in ein paar Minuten.« »Ich gehe, wenn du gehst«, sagte Paul. »Ich bleib nicht mehr lange«, sagte Lake. »Komm, hau ab.« »Ich gehe nicht, bevor du nicht gehst«, sagte Paul. »Ich hab meine Anweisungen.« »Von wem?« fragte Lake. »Von allen.« Lake blieb nichts anderes übrig als zu gehen. Es hatte zu schneien aufgehört, aber der Him mel war düsterer denn je. Er nahm sich Zeit auf dem Nachhauseweg, er genoß es, die Leute zu beobachten, die noch schnell Besorgungen machten, sichtlich in Ferienstimmung. Selbst Chestnut Hill verbreitete auf seine Weise Fest stimmung, mit Girlanden und Lichterketten und dem Lastwagen eines Partyservice vor ei ner Villa. Sein Haus sah aus wie auf einer An sichtskarte, die wuchtige Steinfassade vom Schnee veredelt. Drinnen war es lausig kalt, und er wollte einen Blick auf den Thermostaten werfen.
Aber so weit kam er nicht. Auf dem Tisch in der Eingangshalle lagen zwei Pakete, beide in rotes Papier eingewickelt und mit einem grü nen Band verknotet. Er schlich um den Tisch herum und überlegte. Nur der Reinigungsservice hatte einen Schlüs sel zum Haus. Vielleicht gehörte das Verteilen von Geschenken zu ihrer Werbestrategie. Ob wohl es nicht danach aussah. Es waren zwei Geschenke. Er trat an den Tisch und schaute sich die Kar ten an, die von den Bändern hingen. »Für Lake in Liebe Jennifer.« Auf der anderen stand: »Für Randall Fröhliche Weihnachten.« In Liebe, stand auf seiner Karte. Lake ging in die Bibliothek und setzte sich hin. Er las die Karte. Noch immer stand ›in Liebe‹ darauf. Er rief bei Jennifer in Merion an. Maggie war am Apparat: »Hallo, Lake«, sagte sie. »Jenni fer ist nicht da.« »Ist sie schon in Skiurlaub gefahren?« »Nein. Erst morgen. Sie arbeitet noch, aber sie müßte so gegen fünf zu Hause sein.« »Okay«, sagte er. »Ich möchte nur schnell et was vorbeibringen. Ich bin in ungefähr einer halben Stunde da.« »Fahr vorsichtig«, sagte Maggie.
Er rannte nach oben, fummelte unter seinen Socken in der obersten Schublade des Schreib tisches und zog die kleine Box mit den Ohrrin gen hervor. Im Keller fand er Geschenkpapier und ein passendes Band und in der Bibliothek eine Schere. Randall schaute ihm zu, während er die Schachtel einpackte. »Kommst du mit?« fragte Lake. Randall wedelte mit dem Schwanz und folgte ihm in die Garage. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und der Wind blies durch seinen Mantel. Mit Kennermiene schnüffelte Randall in der Luft. Es war viel los auf den Straßen, der Feiertags verkehr hatte bereits eingesetzt, und die Autos krochen unter den tanzenden Schneeflocken dahin. Geschlagene zwanzig Minuten stand er in einem Stau, während die Scheibenwischer gegen die Schneeflocken ankämpften. Weiter ging es; die Bremslichter blinkten auf und erlo schen wieder, wenn die Autos wieder zum Ste hen kamen, anfuhren und wieder bremsten. Schließlich war er durch den Stau durch und trat aufs Gas, wenngleich ein übervorsichtiges Wohnwagengespann ihn weiter aufhielt. All mählich wurde es dunkel. Die Wischer produ zierten leuchtende Schlieren an der Scheibe. Eine Verkehrsampel flammte in der Dämme
rung grün, gelb und wieder rot; bei jeder Am pelphase schafften es nur wenige Autos durch zukommen. An einer anderen Kreuzung, fünf Autos vor ihm, drehten beim Anfahren die Räder eines Wagens durch. Zwei junge Männer sprangen aus dem Fahrzeug und schoben es über den leichten Anstieg hinauf. Das Auto schlitterte, der Motor heulte, und schließlich fassten die Reifen wieder. Die Jungs sprangen triumphie rend ins Auto. Während er wartete, bis es wieder weiterging, schaute Lake das kleine Päckchen an und stell te sich vor, wie Jennifer die Ohrringe anlegte. Vielleicht war es ein unpassendes Geschenk; vielleicht war es ihr peinlich, wenn sie es in ei ner Wohnung in Idaho vor der ganzen VereClique öffnete; wenigstens wußte keiner von ihnen, wer es ihr geschenkt hatte. Es war nicht wichtig. Er sah, wie sie ihren Kopf neigte, wäh rend sie die Ohrringe befestigte. Er sah ihr ver stohlenes Lächeln. Um Viertel vor fünf erreichte er die Vororte von Merion, bog von der Hauptverkehrsstraße ab in eine Seitenstraße, die er manchmal als Abkürzung wählte. Ein Windstoß wirbelte eine Schneewolke vor ihm auf. Als er die Bremse antippte, schlitterte der Wagen leicht, fing sich
aber gleich wieder. Er fuhr einen Abhang hin unter und gab Gas, als die Straße wieder an stieg. Keine Reifenspur störte die schneebe deckte Straße. Jungfräulich. Hinter den wirbelnden Schneeflocken tauch ten plötzlich Scheinwerfer auf. Sie kamen auf ihn zu; zu schnell; der Fahrer hatte nicht er wartet, auf dieser Straße einem anderen Auto zu begegnen. Er sah die Scheinwerfer schwan ken. Dann leuchteten sie in eine andere Rich tung, der herannahende Wagen lag beängsti gend schräg auf der Straße und rutschte ihm in Zeitlupe mit blockierten Rädern entgegen. Kurz erhaschte er das angstverzerrte Gesicht einer Frau. Im letzten Moment vor dem Zu sammenstoß riß er das Steuer herum. Sein Auto sprang über die Bordsteinkante und durch einen niedrigen Schneehaufen, den der Pflug zurückgelassen hatte, dann stand er: mit den Vorderreifen auf einem fremden Rasen. Das andere Auto glitt in völliger Stille, immer noch seitlich zur Straße, an ihm vorbei. Lake drehte sich um und schaute ihm nach. Die Frau schaffte es, das Auto wieder in ihre Ge walt zu bekommen, bevor sie die Anhöhe hin ter sich gebracht hatte. Ohne anzuhalten fuhr sie weiter. Randall war vom Sitz gefallen, kletterte aber
gleich wieder hoch und war offensichtlich nicht nachhaltig beeindruckt. Lake streichelte ihn und sagte: »Immer anschnallen.« Er legte den Rückwärtsgang ein. Die Vorder räder drehten sich, aber das Auto rührte sich kaum von der Stelle. Er versuchte es mit dem Vorwärtsgang; das half auch nichts. Er wippte vor und zurück, und das Auto arbeitete sich ein paar Zentimeter durch den Schneehaufen hin ter den Vorderrädern; dann saß er wieder fest. Er stieg aus, um die Lage zu peilen. Das Pro blem war nicht groß: Das Vorderteil des Autos saß auf dem Schneehaufen. Wenn er etwas Schnee unter dem Motor wegräumen würde, konnte er rückwärts rausfahren. Aber dazu hatte er jetzt keine Zeit. Er schaute auf die Uhr: Sechzehn Uhr achtundvierzig. »Komm, Randall«, sagte er, und Randall sprang aus dem Auto. Lake nahm das kleine Päckchen und steckte es ein. Er überlegte: Jennifer wohnte noch etwa eine Meile entfernt. Sie würde gegen fünf nach Hause kommen. Er wollte ihr das Geschenk so überreichen, wie sie es getan hatte – klamm heimlich, mit einem liebevollen, schriftlichen Gruß. Er konnte es schaffen, vor ihr da zu sein und wieder weg. Er konnte und er würde es schaffen. Aber er würde laufen müssen, und
Lake war ein Läufer. Ein Gedanke kam ihm, als er seinen Mantel zuknöpfte. Vielleicht war Ge schwindigkeit seine natürliche Charakterei genschaft. Vielleicht war das eine Erklärung dafür, warum er so wenig Geduld hatte. In seinem Kopf knallte ein Startschuss, und er rannte los. Seine Sportschuhe waren auf dem frischgefallenen Schnee fast nutzlos, aber nach einer Weile waren seine Schritte und sein Atem gleichmäßig. Der Schnee blies ihm ins Gesicht und schmolz auf der Haut. Er hatte die Anhöhe erreicht. Die Straße verlief in einer leichten Linkskurve den Abhang hinunter. Er lief in der Mitte der Straße, und seine Schritte wurden länger. Die einzigen Geräusche waren sein Atem und seine Schritte. Es war genau wie viele Jahre früher: Selbst mit dieser Kleidung, selbst mit diesen Schuhen war er jemand, der Zeit und Distanz meisterte. Er warf einen Blick zurück über die Schulter. Randall galoppierte leichtfüßig hinter ihm her; er zeigte den voll konzentrierten Blick eines Läufers. Lake sah es und war stolz auf ihn. Alles kam wieder. Dies war sein Tempo, das Tempo des Läufers über eine Meile, weich, ge fühlvoll und getragen von einer inneren Strö mung. Sie trug ihn an einer unscharfen Welt vorbei, spülte ihn um die Kurven und die Gera
den entlang, Beine und Arme wie Metronome, die Bahn spulte sich vor ihm ab, Runde um Runde, eine nach der anderen. Während die weiße Straße ihm den Weg wies, erinnerte er sich an die Rennen, die er gelaufen war. In der letzten Runde war er nahe an die Führenden herangekommen, leichtfüßig, hatte abgewar tet. Dann hatte er zu überholen begonnen. Die Gruppe der Läufer teilte sich, manche fielen weit zurück. Aber in der letzten Kurve war nor malerweise immer noch mindestens ein Läufer vor ihm. Lake mobilisierte erst dann die letz ten Kräfte, die er sich für diesen Zeitpunkt auf gespart hatte. Sie waren gespeichert, hatten auf ihn gewartet und trieben ihn nun vorwärts. Der Führende spürte ihn hinter sich und kämpfte noch verbissener. Sie fegten um die Kurve. Auf der letzten Geraden lagen sie gleichauf. Lake versuchte noch etwas mehr aus sich herauszuholen. Mit einem Seitenblick stellte er fest, wie sich der andere quälte. Er ließ nicht locker – gab alles, bis zur Ziellinie. Und dann hatte er sie erreicht, er streckte sich, und wie im Rausch flog er über die Linie. Die Straße führte über eine Steinbrücke und mündete in einen dunklen Waldabschnitt, die Flocken rieselten auf ihn herab. Er warf einen Blick über die Schulter. Randall war zurückge
fallen, etwa zwanzig Meter, und mühte sich of fenbar. »Komm«, rief er. Er sah, wie Randall seine Reserven mobilisierte und zu ihm auf holte. Das erfüllte Lake mit Freude. Der Hund verfügte über den wahren Geist eines Läufers. Sie setzten ihren Weg fort, der Schnee spritzte unter ihren Füßen weg, und der Wald rauschte an ihnen vorüber. Lake konzentrierte sich auf seinen Körper und dachte über den Geist eines Läufers nach. Er erinnerte sich daran, daß ihm schon früh aufgefallen war – er war damals sieben oder acht Jahre alt –, daß niemand ihn erwischen konnte, wenn er sich nicht erwi schen lassen wollte. Er war schneller als alle anderen; er konnte schweben; er konnte flie gen. Später hatte er bei Wettkämpfen dasselbe Gefühl gehabt – ein grenzenloser Optimismus, das Herz eines Geparden, eine animalische Lust. Aber das Laufen hatte ihn auch gelehrt, daß Geschwindigkeit allein nicht ausreichte. In je dem Augenblick mußte man wissen, wo man war, was hinter einem geschah, was vor einem lag. Das war eine Lektion, die er nie vergessen durfte. Jeder Atemzug schmerzte, obwohl die Beine immer noch Kraft hatten. Der Wald öffnete sich zu einer Häusergruppe. Zur Rechten hörte
er Hundegebell. Ein schwarzer Hund kam auf sie zugerannt, stemmte sich mit gespreizten Beinen gegen den Boden, bereit zum Kampf, und giftete die Eindringlinge an. Randall dreh te sich um, wurde aber nicht langsamer. Sie liefen weiter. Er warf einen Blick auf seine Uhr: fünf Minuten vor fünf. Sie würden es schaffen. Er trieb sich zur Eile. Er atmete schwer. Aber er wußte, daß er noch eine letzte Kraftreserve hatte, den letzten Kick. Er warf einen Blick über die Schulter. Randall war ver schwunden. Dann sah er ihn – fünfzig Meter hinter sich; er schnüffelte am Straßenrand. Lake bremste ab, rutschte. »Randall!« rief er. »Komm.« Randall schaute kurz hoch, schnüffelte wei ter. Offenbar betrachtete er das Rennen für sich als gelaufen. Lake schaute auf die Uhr: Sechzehn Uhr sechsundfünfzig. Das Haus lag direkt hinter der Kurve. Es war unglaublich; das war nun wirklich nicht der Geist eines Läufers. »Komm, lauf, lauf«, rief er. Randall schaute auf, erwog seine Alternativen und schnüffelte weiter. Lake rannte zurück. »Du verpfuschst alles, Randall«, sagte er, als er ihn erreicht hatte. Randall schenkte ihm keine Beachtung. »Okay, du hast es so gewollt.« Er packte den
Hund um den Brustkorb und hob ihn hoch. Randall wollte sich freikämpfen, aber Lake hielt ihn mit eisernem Griff umklammert. Er begann zu laufen, aber mit diesem Gewicht war das unmöglich. Er verlegte sich auf eine schnelle Gangart. Er keuchte, spürte seine Füße nicht mehr, sei ne Schuhe waren voller Schnee, und die Kraft in seinen Armen ließ nach. Er nahm die letzte Kurve. Er stellte sich den vorderen Zugang zum Haus als Ziellinie vor. Zehn Meter davor beschleunigte er zu einem schwerfälligen Lauf schritt. Er überquerte die imaginäre Linie, streckte sich elegant und ließ Randall hinter der Linie fallen. Seine Uhr zeigte sechzehn Uhr achtundfünfzig Minuten und dreiunddreißig Sekunden. Technisch hatte er einen Sieg er rungen – aber Jennifers Auto stand in der Zu fahrt. Mit geschlossenen Augen stemmte er die Hän de gegen die Knie, sein Kopf war völlig klar, die Brust hob und senkte sich. Nach einer Wei le atmete er ruhiger. Er bürstete sich den Schnee vom Mantel, stellte sich auf ein Bein und leerte den Schnee aus dem anderen Schuh. Dann war er bereit. Er würde nur eine Minute bleiben, nicht länger. Ein Gedanke nahm Gestalt an. »Komm her,
Randall«, sagte er. Randall näherte sich miß trauisch. Lake kniete sich hin und löste Ran dalls Halsband. Er holte die kleine Schachtel aus der Manteltasche, streifte das Geschenk band um den Lederriemen und machte mit ge fühllosen Fingern die Schnalle wieder zu. Er trat zurück, um sein Werk zu betrachten. Es sah gut aus. Randall sah einem Miniaturbern hardiner auf Rettungsmission in den Alpen täuschend ähnlich. Er klingelte. Jennifer öffnete die Tür. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht«, sagte sie. »Maggie sagt, sie hätte dich schon vor einer Stunde erwartet.« »Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten«, sagte er und warf einen anklagen den Blick auf Randall. »Gib mir deinen Mantel«, sagte sie. Er blieb in der Tür stehen. »Eigentlich wollte ich gleich wieder gehen«, sagte er. »Ich möchte nur etwas abgeben.« »Du bist ja völlig verfroren.« »Ach, überhaupt nicht«, sagte er. Er deutete auf Randall. »Der hier, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ist ein kleiner Bern hardiner.« »Was hat er denn am Hals?« Er griff hinunter und löste Randalls Hals
band. Seine Hände waren geschwollen und rot, seine Finger verweigerten ihm beinahe den Dienst. Er kriegte das Päckchen trotzdem ab und gab es Jennifer. »Frohe Weihnachten«, sagte er zärtlich. »Warum ist Randall voller Schnee?« fragte sie. »Es schneit ziemlich.« »Hast du Schwierigkeiten gehabt, herzukom men?« »Eigentlich nicht«, sagte er. »Zieh deinen Mantel aus. Schau dir deine Hände an.« Er versteckte sie in den Manteltaschen. Er spürte Eisklumpen an den Augenbrauen und in den Haaren und versuchte sie abzuwischen. »Ich mach dir einen heißen Kakao«, schlug sie vor. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht blei ben«, sagte er. »Die Straßen werden bald un passierbar sein.« Er lächelte sie liebevoll an. Trotz seiner Vorsätze und obwohl Maggie ih nen zusah und Mike gerade mit einem Bier aus der Küche kam, nahm er sie in die Arme und drückte sein Gesicht in ihr Haar, erlaubte sich einen Augenblick lang, sie festzuhalten – einen Augenblick nur, gerade so lange, um ihm über die Zeit hinwegzuhelfen, bis er sie wieder fest
halten konnte. Sie berührte sein Gesicht mit ihrer Hand. »Du bist ja halb erfroren«, sagte sie. »Setz dich.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast bestimmt noch jede Menge zu packen. Und ich muß auch noch einiges erledigen.« Er rief ins Haus hin ein: »Fröhliche Weihnachten.« »Fröhliche Weihnachten«, sagten Maggie und Mike. Lake beugte sich zu Randall hinunter und leg te ihm das Halsband wieder an. Während er sich noch damit abmühte, verschwand Jenni fer. Schließlich saß das Halsband wieder fest. Zu Maggie sagte er: »Ich glaube fast, daß Ran dall ein südländischer Typ ist. Jedenfalls hat er spanische Vorfahren.« Jennifer kam zurück. Sie hatte sich einen Par ka übergezogen. »Was hast du vor?« fragte er. »Ich begleite dich zum Auto.« »Es ist zu kalt«, sagte er. »Bleib hier, wo's warm ist.« »Ich möchte mit dir sprechen.« »Okay«, sagte er und wartete. »Allein«, sagte sie. Sie öffnete die Haustür und ging in das Schneetreiben hinaus. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Randall trottete hinterher.
In der Zufahrt sagte sie: »Wo ist dein Auto?« »Geh wieder ins Haus«, sagte er. »Du rui nierst dir deine Schuhe. Ich ruf dich heut Abend an. Gib mir deine Nummer in Sun Val ley.« »Wir unterhalten uns in deinem Auto. Wo steht es?« »Ich wünsche mir auch ein paar Ansichtskar ten«, sagte er. »Mit Bergen.« »In welcher Richtung steht dein Auto?« Er machte eine vage Geste und meinte: »Es ist zu kalt. Geh wieder hinein.« Sie hakte sich bei ihm unter und begleitete ihn. Der Schnee fiel inzwischen in großen, schweren Flocken vom Himmel. Auf dem Geh weg blieb er stehen und drängte sie: »Du mußt zurückgehen.« »Warum?« »Das Auto steht ein paar Minuten weiter weg von hier.« »Warum?« »Randall und ich wollten uns sportlich betäti gen.« »Was ist mit dem Auto passiert, Lake?« »Nicht viel.« Sie wartete. »Es steckt fest«, meinte er. »Aber ich kriege es problemlos wieder flott. Das dauert nur ein
paar Minuten.« »Ich helfe dir. Mike kann auch helfen.« »Es geht schon. Mir geht es schon wieder gut, abgesehen davon, daß wir im Moment in ver schiedene Richtungen gehen. Ich hätte das gern endlich hinter mir.« »Deine Richtung ist Greenwich?« »Der häusliche Herd«, sagte er. »Wo genau ist dieser häusliche Herd?« »Eigentlich hat Philippa ziemlich viele Her de.« »Wirst du Weihnachten bei Philippa verbrin gen?« Er zuckte die Achseln. »Greenwich ist sicher hübsch, wenn es verschneit ist«, sagte er. »Du fährst nicht nach Greenwich«, sagte sie. »Wie kommst du darauf?« »Das will ich dir sagen: Als ich heut in deinem Haus war, hab ich den Weihnachtsstrumpf und das Brennholz gesehen. Und in der Küche die ganzen Lebensmittel. Ich hab mir die Ver fallsdaten angesehen. Du hast die Sachen gera de erst gekauft. Du fährst nicht nach Green wich.« »Ja, ich hab's mir anders überlegt.« »Du hattest nie vor, nach Greenwich zu ge hen«, stellte sie fest. »Zuviel Arbeit im Büro«, murmelte er.
»Wir holen dein Auto morgen früh«, sagte sie. Sie packte ihn am Arm und zog ihn zum Haus zurück. Ihre Füße rutschten auf dem Schnee. »Das kannst du nicht machen«, protestierte er. »Kann ich doch.« Er versuchte sich loszumachen. Seine Füße rutschten weg. Sie ließ seinen Arm los, und er fiel in einer weißen Schneewolke auf den Ra sen. Schnell war er wieder auf den Beinen. »Bin nur ausgerutscht, das zählt nicht«, erklär te er. Aber bevor er sich umdrehen konnte, war sie bei ihm und hatte seinen Arm gepackt. »Ich hab nicht gelogen«, sagte er. »Ich hab nie ausdrücklich gesagt, daß ich nach Greenwich fahre. Ganz bestimmt habe ich das nie gesagt.« »Sei still.« ***
Viel später führte sie ihn in ihr Schlafzimmer. Bauschige Kissen, Bücher auf einem Tisch, drei Trophäen, das Foto eines Tennisspielers, der ihr Vater sein mußte, ein Foto von ihr mit einer Frau, die Jackie sein mußte, ein Druck von Monet, ein kleines Sofa mit orange-grü nem Stoffbezug, ein Schreibtisch aus abgelaug tem Holz, geblümte Gardinen, ein braun-beige gemusterter Teppich. Er erfuhr ihr Zimmer mit den Augen.
Als sie das Licht gelöscht hatte und sie in ih rem schmalen Bett lagen, sagte er: »Ich würde gerne wissen, wann genau du vom Skifahren zurückkommst. Gib mir die Flugnummer.« »Ich gehe nicht zum Skifahren«, sagte sie. »Ich hab den Flug vor einer Stunde storniert, als du dich in der Küche mit Maggie unterhal ten hast.« »Jennifer«, sagte er. »Ich bleibe lieber hier.« »Wie bist du in das Haus gekommen?« fragte er. »Ich hatte noch einen Schlüssel von damals, als du das Haus noch verkaufen wolltest«, sag te sie. »Er liegt schon seit letztem Sommer in meinem Schreibtisch. Ich hätte ihn zurückge ben sollen. Vielleicht wußte ich, daß ich ihn ir gendwann mal brauchen werde.« ***
Eines Abends – es war Ende Februar – saßen sie in dem Fischrestaurant, in das sie so gern gingen. Lake sagte: »Letzten Sommer hab ich dich dazu überredet, mich hierher zum Mit tagessen einzuladen, als ich dich von Marthas Vineyard angerufen habe.« »Ich glaube, damals war es meine Idee, zum Mittagessen zu gehen«, meinte sie.
»Ich habe es dir leichtgemacht.« »Wie?« »Du hast mich zum Mittagessen eingeladen, um mich zu überreden, das Haus doch zu ver kaufen.« »Also war's meine Idee«, sagte sie. »Aber du hast nicht darauf bestanden«, ant wortete er. »Ich habe dich dazu verleitet, mich noch mal zu fragen. Ich hätte dich nicht fragen können, weil ich mir geschworen hatte, daß ich es nicht tun würde – auf jeden Fall nicht die nächsten drei Monate.« »War's schwer?« »Was?« »Mich dazu zu verleiten, dich noch mal zu fra gen?« Er versuchte sich daran zu erinnern. Es schi en Ewigkeiten her zu sein. Er wußte noch, daß er Angst hatte, sie könnte ihn unsympathisch finden. Er wußte noch, daß er auf eine zweite Chance gehofft hatte. Als sie vom Mittagessen gesprochen und ihren Vorschlag dann fallen gelassen hatte, hatte er immer wieder gesagt: »A propos, Mittagessen, a propos, Mittagessen« und hatte versucht, ihr über die Distanz die telepathische Nachricht zu schi cken: Frag mich doch, frag mich doch. »Ich weiß nicht«, sagte er.
»Es war nicht schwer«, meinte sie. »Wie meinst du das?« »Ich wollte dich ja fragen.« Sie schwiegen. Er beobachtete sie beim Essen. Wie hübsch sie war, wie lieb, wieviel sie ihm bedeutete! Während er seinen Gedanken nach hing, schaute sie von ihrem Salat auf, blickte ihm in die Augen und errötete. Dann plauder ten sie noch eine Weile – über Krokusse, dar über, wann das Gras wieder grün werden wür de. Dann saßen sie schweigend beieinander. Nach dem Dessert streckte er seinen Arm über den Tisch und nahm ihre Hand. Sein Kopf war von dem einzigen Gedanken beseelt, sie zu berühren. Nur ihre Hand zu halten – mehr wollte er nicht. Nur den Arm ausstrecken und spüren, daß sie da war. Ihm wurde bewußt, daß diese Stille anders war, unendlich tief, nicht die Abwesenheit von Worten erzeugte sie, sondern eine Präsenz, fast hörbar, wenn auch nur fast. Robs Vorstel lung von Geistern fiel ihm ein, Geister, die ver borgen zwischen Felsen und Bäumen an der Küste von Maine leben. Sie existieren in einer anderen Zeit, hatte Rob gesagt. Deshalb siehst du sie nicht und hörst sie auch nicht, obwohl du weißt, daß sie da sind.
Diese Stille war etwas Ähnliches. Fast konnte er Geschehnisse hören, die noch nicht gesche hen waren. Sie lagen vor ihm, warteten auf ihn. Die Rechnung kam. Selbst im Auto hielt die Stille an. Lake dachte an die Magie, die über einen Ozean gebracht wurde, auf der Suche nach ei ner neuen Heimat. Auch er hatte einen weiten Weg zurückgelegt. Er war noch immer auf der Reise, er und Jennifer reisten durch die Nacht von Philadelphia, durch stille Straßen, durch Lichtkegel hindurch, vorbei an Spuren alten Schnees. Dann war es Zeit, anzuhalten. Er war so er füllt von Gefühlen, daß er nicht weiterfahren konnte. Er bog in eine dunkle Straße, deren Namen er nicht kannte, und fuhr an den Rand stein. Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie kam ihm bereits entgegen. »Heirate mich«, bat er. »Bitte heirate mich.« Und sie sagte ja. Sie sagte ja.