Eine Rose für Mary
Kurzgeschichte von Holger M. Pohl
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EINE ROSE FÜR MARY
David sah sich um. Niemand war zu sehen. ...
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Eine Rose für Mary
Kurzgeschichte von Holger M. Pohl
2
EINE ROSE FÜR MARY
David sah sich um. Niemand war zu sehen. Keiner der eisernen Wächter und auch keiner der Schwarzgekleideten, wie man sie drunten in den Straßen alle paar Augenblicke zu sehen bekam. Er schlich weiter. David war kein Feigling, dennoch wünschte er sich, er hätte Mary gegenüber keine so großen Worte gemacht. Aber versprochen war versprochen! Die Sonne stand am Himmel. Doch selbst hier, dreihundert Meter über der Erdoberfläche, schien sie wie durch einen Dunstvorhang. Natürlich war er nicht so dicht, wie drunten in den Straßen der Stadt, wo man die Sonne so gut wie nie sah. Vielleicht war das der Grund, nämlich daß man so hoch wie möglich hinaus mußte, daß man den einzigen Garten der Stadt auf dem höchsten Gebäude angelegt hatte. Dieser Garten war ein Erholungsort. Allerdings nur für die Mitglieder des regierenden Rates der Stadt. Und deren Angehörige natürlich. Doch das waren höchstens vier oder fünf Dutzend Personen. Und was war das im Vergleich zu den 25 Millionen Einwohnern der Stadt? Dort unten konnte man von den Dingen, die in diesem Garten wuchsen, nur träumen. Blumen, Gemüse, Obst, Bäume und andere Pflanzen, das gab es hier nicht nur auf Bildern oder in Filmen aus alten Tagen oder aus Kunststoff! Jeder in der Stadt wußte von diesem Garten, doch niemand sprach darüber, jedenfalls nicht laut!
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Dann und wann versuchte jemand, etwas aus diesem Garten zu stehlen, doch keiner, der aufgebrochen war, kam jemals zurück. Nie erfuhr man, was aus ihnen geworden war. Es gab Gerüchte, doch keine Gewißheit. David hatte immer wieder davon gesprochen, daß er eines Tages den Garten besuchen und seinen Freunden von dort etwas mitbringen würde. Schließlich hatte Mary heute abend, als sie wie üblich in "Dick´s Bar " herumhingen, gemeint, er wäre zu feige, um es jemals zu versuchen. Natürlich hatte David ihr widersprochen. Ein Wort gab das andere und letztlich hatte David gemeint, er würde es heute noch tun. Und er würde Mary eine Rose mitbringen! Und nun stand er hier am Rande des Gartens. Der Aufstieg war nicht gefährlich, aber anstrengend gewesen. Natürlich war es unmöglich, innerhalb des Hauses nach oben zu gelangen, deshalb war er einfach an der Fassade nach oben geklettert. Zahlreiche Vorsprünge hatten ihm geholfen und zudem hatte er sich ständig mit einem Seil gesichert. Vorsichtig betrat er eine grüne, weiche Fläche. Es war Gras, echtes, saftiges Gras! Nicht das künstliche Zeug, das drunten in den Parks auslag! Er ging auf die Knie und senkte seinen Kopf auf den Boden. Ein seltsamer Duft erreichte seine Nase. Ein wenig erinnerte er ihn an den Geruch, den man in so vielen Häusern der Stadt wahrnehmen konnte. Modrig und faulig. Aber hier war der Geruch gesund, so seltsam das auch klang. Früher einmal mußte es überall auf der Erde so ausgesehen und gerochen haben. Vielleicht sah es heute noch so aus, doch daß wußte
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außer dem Bürgermeister und seinen Gefolgsleuten keiner. Niemand durfte die Stadt verlassen. Niemand konnte die Stadt verlassen, denn ein tödliches Energiefeld umgab sie. Die Bewohner waren Gefangene , und das war so, seit der erste Bürgermeister der Neuen Zeit die Macht übernommen hatte. Und das war lange her! Er stand auf und ging weiter. Sein Blick entdeckte immer wieder neues. Nein, eigentlich nicht neues, sondern natürliches, echtes, lebendiges. In der Stadt drunten war alles künstlich und tot. Er sah vieles, was er kannte. Aber auch vieles, was ihm völlig fremd war. Und schließlich kam er an ein Beet, in dem ein paar Sträucher standen. Sie trugen grüne Knospen und hier und dort waren Blüten zu sehen: rote, gelbe und rosafarbene. Rosen! Vorsichtig trat er in das Beet hinein, sorgfältig darauf bedacht, keine der anderen Pflanzen zu beschädigen. Fasziniert blieb er vor den Rosenbüschen stehen. So etwas schönes hatte er noch nie gesehen! Er konnte sich nicht entscheiden, welche er für Mary mitbringen sollte. Die Rote dort - oder vielleicht doch eine Gelbe? Dann fiel sein Blick auf eine Blüte, die zwischen den anderen versteckt war, aber wenn man sie entdeckt hatte alle anderen an Schönheit überragte. Eine weiße Rose! Reines, klares gesundes weiß! Zögernd streckte er die Hand aus. Diese und keine andere! Nur diese Rose für Mary! Er zog das Messer aus der Tasche und schnitt die Blüte vorsichtig ab. Und ebenso vorsichtig wickelte er sie in ein Papier und steckte sie in seine Umhängetasche.
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Er warf einen letzten, fast traurigen Blick auf die Rosen, dann wandte er sich um und wollte gehen. "Na, junger Freund! Du willst Deiner Freundin wohl eine Rose schenken?" meinte der Mann und lächelte. Völlig unbemerkt war er herangekommen. Vor Schreck konnte David nur nicken. Kein Wort konnte sich seiner Kehle entringen ...
Der Mann behandelte ihn durchaus freundlich, als er den Jungen ins Innere des Hauses brachte. Ein Lift brachte sie ein paar Etagen tiefer und sie betraten schließlich ein Zimmer, in dem eine Liege, ein Tisch und ein Stuhl standen, mehr nicht. "Wir werden uns bald um Dich kümmern!" versprach der Mann und verließ den Raum. David hörte, wie das Schloß einrastete, nachdem die Türe geschlossen war. Er ließ sich auf die Liege nieder und versuchte nachzudenken, doch er konnte vor Entsetzen keinen klaren Gedanken fassen ...
Er mußte trotz seiner Furcht eingeschlafen sein, denn jemand rüttelte ihn unsanft wach. Verschlafen öffnete er die Augen. Ein Mann - nicht jener, der ihn hergebracht hatte - stand vor ihm und starrte ihn von oben herab unfreundlich an. "Los, steh´ auf!" befahl der Mann in einem barschen, herrischen Ton. David richtete sich langsam auf.
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Der Mann war groß und schlank und seine Miene zeigte die überheblichen, arroganten Züge wie David sie von den Polizisten der Stadt her kannte. Und der Mann war auch ein Polizist, wie man an seiner schwarzen Uniform erkennen konnte. Allerdings trug er Rangabzeichen, wie David sie noch nie gesehen hatte. Der Polizist faßte ihn hart am Arm und zog ihn hinter sich her.
"Wohin bringen Sie mich?" fragte er mit angsterfüllter Stimme. "Sei ruhig!" wurde er angeherrscht. David schwieg. Er rechnete mit dem Schlimmsten und seine Phantasie gaukelte ihm alle möglichen Grausamkeiten vor. Sie kamen an einen Lift und fuhren weiter in das Gebäude hinab. Bisher war ihnen niemand begegnet, doch das wunderte den Jungen nicht weiter. Das Haus war riesig und soviel er wußte lebten in den obersten Etagen nur der Bürgermeister und seine Mitarbeiter mit ihren Familien; höchstens sechzig Menschen. Unten, nahe an den Straßen der Stadt, war mehr los, denn dort befand sich die Verwaltung und - was jeder wußte und fürchtete - das Hauptquartier der Polizei. Sie blieben schließlich vor einer Tür stehen. Der Uniformierte drückte die Meldetaste. Sekunden später glitte die Tür zur Seite und sie betraten einen großen, gemütlich eingerichtetem Raum. David kam sich vor wie im Traum. Von solchem Luxus konnte man drunten nur träumen. Man kannte ihn höchstens aus Filmen und Büchern, doch niemand besaß ihn oder hatte ihn jemals mit eigenen Augen gesehen.
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Der Polizist führte ihn quer durch den Raum in ein anderes Zimmer, das von einem riesigen Schreibtisch beherrscht wurde. Der Tisch war übersät mit Knöpfen und Kontrollampen. Und hinter dem Tisch befand sich eine Wand mit mehr als einem Dutzend Monitoren. Zwei Männer hielten sich im Raum auf. Den einen kannte David; es war der, der ihn im Garten überrascht hatte. Er stand hinter dem Schreibtisch und lächelte freundlich. Der andere saß in einem Sessel und sah David ebenfalls an. Er war erheblich älter als der Mann hinter dem Schreibtisch und hatte schon weiße Haare. "Ich bringe den Gefangenen, Sir!" meinte der Polizist und blieb in respektvoller Entfernung stehen. "Ist gut, Leutnant, Sie können gehen!" meinte der alte Mann. Der Uniformierte drehte sich wortlos um und verließ den Raum. "Das ist also der kleine Dieb, von dem ich Ihnen erzählte, Mark!" meinte der jüngere. Der mit Mark angesprochene alte Mann nickte. "Es ist schon bewundernswert, daß immer wieder einer aus der Unterstadt den Mut findet, unseren Garten zu besuchen!" De Alte lächelte. "Obwohl es eigentlich genau das ist, was wir wollen!" Verständnislos blickte David von einem zum anderen. "Ich sehe, du verstehst nicht viel von dem, was um dich herum vorgeht. Aber mach´ dir keine Sorgen, mein Junge. Wenn du morgen früh aufwachst, wirst du vieles in einem anderen Licht sehen." meinte der Jüngere.
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David nickte zögernd. Was hatten sie mit ihm vor? "Darf ich dann zurück?" fragte er voll ängstlicher Hoffnung. Der Mann schüttelte den Kopf. "Es gibt kein zurück!" David wollte noch etwas sagen, doch er brachte kein Wort mehr heraus. Kein zurück? Mußte er sterben? Der Polizist kam zurück und führte ihn in einen Raum, der ähnlich eingerichtet war, wie sein letztes Gefängnis ...
Er mußte irgendwann eingeschlafen sein, trotz der Angst die er verspürte. Und als er nun aufwachte war alles anders - ganz anders. Sie hatten etwas mit ihm gemacht - aber was? Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, öffnete sich die Tür und der Polizist betrat den Raum. "Komm´ mit!" forderte er den Jungen auf. Klang seine Stimme freundlicher als am Vortag, oder kam David das nur so vor? Die Miene des Mannes war immer noch überheblich und arrogant. David folgte dem Uniformierten in den Raum mit dem Schreibtisch, wo wieder die beiden anderen Männer auf ihn warteten. "Nun, David, wie geht es dir?" fragte der Jüngere der beiden, von dem David noch nicht einmal den Namen kannte. "Besser, obwohl ich noch immer nicht verstehe!" gab David zu. Er war selbst überrascht, sich so frei sprechen zu hören, aber irgendwie hatte sich seit gestern alles geändert. "Das wird bald kommen!" meinte der alte Mann mit Namen Mark. "Doch nun wird es Zeit für dich. Du mußt gehen!" "Zurück?" fragte der Junge hoffnungsvoll.
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Der Mann schüttelte den Kopf. "Nicht zurück, junger Freund, vorwärts. Es gibt kein zurück, wie ich dir bereits Gestern sagte!" Resigniert ließ David den Kopf hängen. Der Polizist faßte ihn am Arm und zog ihn zur Tür. Dort drehte sich David noch einmal um und sah den jüngeren der beiden Männer an. "Könnten Sie mir einen Gefallen tun?" fragte er. "Welchen?" verlangte der Mann zu wissen. "Drunten in der Stadt lebt ein Mädchen. Sie heißt Mary! Wäre es möglich ihr, ihr eine weiße Rose zukommen zu lassen?" Der Mann nickte. "Ich werde dafür sorgen!" versprach er. Dann führte der Polizist den Jungen endgültig hinaus ...
Die beiden Männer schwiegen eine Zeit lang, dann meinte der Jüngere: "Ich finde es immer wieder furchtbar, einen dieser jungen, ahnungslosen Menschen in diese Hölle hinausschicken zu müssen. Ich kann es oft kaum noch ertragen, sie in den sicheren Tod zu schicken!" "Wollen Sie selbst gehen, Bürgermeister?" fragte der alte Mann. Der andere schüttelte den Kopf. Die wenigsten wußten, daß er der Bürgermeister der Stadt war. Und die, die es wußten würden ihn nie verraten. Nur so, durch fast absolute Unbekanntheit, war es ihm immer wieder möglich, sich in den Straßen der Unterstadt zu bewegen und ´sein´ Volk zu besuchen. Hätte man ihn erkannt, so wäre er getötet worden, denn er war der Inbegriff von Unfreiheit und Unterdrückung, von Gewalt und Willkür!
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"Obwohl ich mir manchmal wünsche, Mark! Aber ich weiß, daß ich jene Welt dort draußen noch weniger überleben würde, als die jungen Menschen, die wir hinausschicken!" Er trat an seinen Arbeitstisch und drückte einen Knopf. Ein großen Bild glitt zur Seite und enthüllte einen Monitor von enormer Größe. Eine öde, seltsam anmutende Landschaft war auf dem Schirm zu sehen. Pflanzen und Tiere waren zu erkennen. Aber was für monströse Gebilde es waren! Alle, ob einfache Insekten oder höherentwickelte Tiere, ob einfache Gräser oder Bäume, alles wirkte verdreht und anormal! Die harte UV-Strahlung, der dieses Leben seit der Zerstörung der abschirmenden und lebenserhaltenden Ozonschicht ausgesetzt war, hatte die Gene verändert und Mutationen hervorgebracht, die an einen schlimmen Alptraum erinnerten. "Eines Tages, Bürgermeister", meinte der alte Mann, "wird unser ganzes System zusammenstürzen wie ein Kartenhaus! Eines Tages wird es einem jungen Mann gelingen, für seine Angebetete ein Blume zu stehlen und sie in die Unterstadt zurückzubringen. Sie wird dann feststellen müssen, daß ihre Rose, ihre Orchidee oder was immer er stiehlt, ebenso falsch ist, wie die Blumen in ihren Parks." Er nickte. "Oh, ja, sie ist viel besser gearbeitet, ihr Duft ist fast echt. Aber sie ist ebenso ein künstliches Produkt wie die Pflanzen, die sie in ihren Parks haben. Nur der Glaube, daß in unserem Garten echte Blumen wachsen, bringt sie dazu, herauf kommen zu wollen!" Er sah den Bürgermeister an." Aber wenn sie merken, daß wir sie damit belügen, wird keiner mehr kommen! Und dann? Wer soll dann hinaus?"
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Der Bürgermeister hob die Schultern. "Ich weiß es nicht, Mark. Aber gebe Gott, daß es uns gelingt, unser Projekt zu beenden, bevor dieser Fall eintritt! Oder daß es einem unserer Wissenschaftler endlich gelingt, die Projektoren für die Energiefelder zumindest so weit zu verkleinern und zu vereinfachen, daß sie mit Fahrzeugen transportiert werden können und nicht in riesigen Gebäuden untergebracht werden müssen: unbeweglich, anfällig und gewaltig!" Er ging zum Schirm und blieb dicht davor stehen. "Oder wollen Sie den Menschen sagen, daß die paradiesische Welt in die wir, die totalitären, grausamen Herrscher der Stadt, sie nicht hinauslassen - die wir ihnen in unserem abgrundtiefen Sadismus immer wieder vorführen um sie zu quälen - und von der wir sie durch ein gemeines, tödliches Energiefeld abhalten, eigentlich nicht mehr ist als ein toter Haufen Schlacke, vor dessen tödlichen Gefahren wir sie in Wirklichkeit beschützen müssen?" Er drehte sich um und sah den Alten mit einem traurigen, bitteren Blick an. "Auch dann würde niemand mehr kommen. Und bis unsere Ingenieure endlich eine neue Art Schirmfeldprojektoren entwickelt haben, kann es zu spät sein!" Er lies das Bild zurück vor den Monitor gleiten. "Nein, Mark, wir müssen unsere ´Böse-Buben´-Rolle weiterspielen und hoffen, daß niemand herausfindet, wie schwach und menschlich wir wirklich sind!" Er trat zu dem alten Mann und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Und wir müssen darauf achten, daß eines Tages nicht jemand Bürgermeister wird, dem es wirklich gefällt, so zu sein wie die Rolle, die er spielt! Das wäre schlimmer als die kleine Lüge, die wir und unsere Vorgänger inszeniert haben ..."
12
David sah sich um. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er die Sonne richtig. Und er hatte verstanden! Das, was sie mit ihm gemacht hatten, und das, was sie von ihm wollten. Er wußte, warum er hier war. Er nahm den Beutel auf, den der Polizist ihm gegeben hatte und machte sich auf den Weg. In der Nähe würde ein Fahrzeug stehen, das ihn zu seinem Einsatzort bringen würde. Die Panzerung würde ihn eine gewisse Zeit schützen. Doch vor Ort würde er ungeschützt sein. Sein Leben zählte bestenfalls noch nach Tagen. Doch wenn er starb würde ein weiterer Teil des
Energiefeldprojektors,
der
eines
Tages
ein
riesiges
Gebiet
umspannen und schützen sollte, installiert sein. Er hatte verstanden und akzeptiert! Ein letzter Gedanke galt Mary und ihrer Rose ...
ENDE
© by HMP 1998