Jill Murphy
Eine lausige Hexe Aus dem Englischen von Ursula Kösters-Roth
Diogenes
Titel der 1974 bei Allison and Bu...
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Jill Murphy
Eine lausige Hexe Aus dem Englischen von Ursula Kösters-Roth
Diogenes
Titel der 1974 bei Allison and Busby, London, erschienenen Originalausgabe: ›The Worst Witch‹ Copyright © 1974 by Jill Murphy Für Reeney
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 2002 Diogenes Verlag AG Zürich www.diogenes.ch 40/02/6/2 ISBN 3 257 00873 2
Mildred, die kleine Hexe, und ihr Kätzchen Tapsi finden in Frau Grausteins Hexenakademie alles ganz fürchterlich schwierig. Doch mit Mauds Hilfe bestehen die beiden die Prüfungen am linde der ersten Klasse – und dürfen bleiben.
1
Die Hexenakademie von Frau Graustein lag auf dem Gipfel eines hohen Berges inmitten eines dichten Kiefernwaldes. Das Gebäude mit dem düsteren Gemäuer und den zahlreichen Ecktürmchen ähnelte eher einem Gefängnis als einer Schule. Hoch über der Mauer, die den Pausenhof begrenzte, konnte man manchmal die Schülerinnen wie Fledermäuse durch die Lüfte sausen sehen. Doch meist lag das Gebäude versteckt in dichtem Nebel. Und wer dann den Berggipfel zu erspähen versuchte, konnte nicht einmal erkennen, dass dort oben ein Haus stand. Alles an dieser Schule wirkte düster und geheimnisvoll: die langen, dunklen Flure, die verwinkelten Treppen und sogar die Mädchen in den langen, schwarzen Röcken, den schwarzen Strümpfen, den hohen, schwarzen Nagelschuhen und den grauen Blusen mit den schwarz-grauen Schulkrawatten. Selbst die Sommerkleider waren grau-schwarz kariert. Als einzige Abwechslung in diesem düsteren Einerlei stachen die farbigen Schärpen ins Auge, die sich die Mädchen um die
Taille banden – jedes Haus hatte eine eigene Farbe –, und natürlich das Schulwappen, eine schwarze Katze auf gelbem Mond. Zu besonderen Anlässen aber, wie zum Beispiel Feste, Preisverleihungen oder in der Walpurgisnacht, trugen die Mädchen ihr Festgewand, ein langes Kleid und einen hohen, spitz zulaufenden Hut. Aber die waren alle beide ebenfalls schwarz und änderten somit nichts an dieser düster geheimnisvollen Atmosphäre. Es gab hier so viele Regeln und Vorschriften, dass man nicht einmal den kleinen Finger rühren konnte, ohne mit einem Tadel oder einer Rüge rechnen zu müssen, und jede Woche wurden Tests und Arbeiten geschrieben. Mildred Hoppelt ging in die erste Klasse. Sie gehörte zu jenen Menschen, die ständig in irgendeinen Schlamassel gerieten. Nicht, dass sie absichtlich die Schulregeln brechen oder gar die Lehrer ärgern wollte, aber irgendwie schien sie das Unglück magisch anzuziehen. Bedenkenlos konnte man sein Vermögen darauf wetten, dass sie den Hut falsch herum aufgesetzt oder die Schnürsenkel nicht gebunden hatte. Nur selten gelangte Mildred ans Ende des Flurs, ohne dass jemand sie mahnend zur Ordnung rief, und fast jeden Abend musste sie Strafarbeiten machen oder stand unter Hausarrest. (Aber wo hätten die Mädchen eigentlich hingehen sollen?)
Dennoch hatte Mildred viele Freundinnen, die in der Hexenküche allerdings gerne möglichst großen Abstand zu ihr hielten. Ihre beste Freundin Maude aber ging mit ihr durch dick und dünn. Was immer auch geschah, sie hielt Mildred unverbrüchlich die Treue. Die beiden bildeten schon ein etwas seltsames Paar, denn Mildred war gertenschlank und hoch aufgeschossen. Das Haar hatte sie zu langen Zöpfen geflochten, auf deren Enden sie oft gedankenlos herumkaute. (Auch das trug ihr häufig Ärger ein.) Maude hingegen war ziemlich klein und pummelig. Sie trug eine runde Hornbrille und hatte das Haar zu Rattenschwänzen zusammengebunden. Am ersten Schultag erhält jede Schülerin einen Besen und Unterricht im Fliegen. Das dauert eine ganze Weile, denn mit dem Besen fliegen ist bei weitem nicht so einfach, wie es aussieht. Nach ungefähr einem halben Jahr bekommt dann jedes Mädchen eine schwarze Katze, der es beibringen muss, auf dem Besen mitzufliegen. Das hat keinen besonderen Sinn, sondern dient nur der Aufrechterhaltung einer alten Tradition. Andere Schulen haben zum Beispiel Eulen, das ist Geschmackssache. Frau Graustein ist eine recht altmodische Schulleiterin, die derlei neuartigen Unsinn nicht mag. Sie lehrt ihren jungen Hexen all jene Bräuche und Regeln, die sie selbst in ihrer Jugend gelernt hat.
Am Ende des ersten Schuljahres dann bekommt jede Schülerin Das Einmaleins der Hexensprüche, ein zehn Zentimeter dickes, in schwarzes Leder gebundenes Buch. Das war allerdings nicht für den täglichen Gebrauch gedacht, denn im Unterricht benutzten sie bereits die Taschenbuchausgabe, aber wie bei der Sache mit den Katzen ist auch das eine alte Tradition. Abgesehen von der alljährlichen Preisverleihung gibt es erst wieder in der fünften und letzten Klasse eine große Schulfeier, wenn die Schülerinnen ihre Hexendiplome offiziell überreicht bekommen. Allerdings schien es eher unwahrscheinlich, dass Mildred es jemals bis dahin schaffen würde. Bereits nach den ersten beiden Tagen in der Schule krachte sie mit ihrem Besen gegen die Schulhofmauer. Der Besen zerbrach in zwei Teile, und ihr Hut sah aus wie eine Ziehharmonika. Mildred reparierte den Besen
mit Leim und Klebeband. Glücklicherweise flog er noch immer. Aber an der Bruchstelle bildete das Klebeband einen ziemlich hässlichen Wulst, und manchmal fiel ihr das Steuern ausgesprochen schwer. Die Geschichte beginnt etwa zu der Zeit, als Mildred bereits die Hälfte des ersten Schuljahres hinter sich hatte, an jenem Abend, bevor sie die Katzenbabys bekommen sollten…
Es war schon fast Mitternacht, und das Internat war in völlige Finsternis gehüllt. Nur durch ein schmales Fenster drang der sanfte Schimmer einer brennenden Kerze. Es war Mildreds Zimmer. Sie saß aufrecht im Bett, im grau-schwarz gestreiften Schlafanzug. Alle
paar Minuten fielen ihr die Augen zu. Maude saß am Fußende, eingemummelt in ein graues Flanellnachthemd und ein schwarzes Wolltuch. Die Zimmer der Schülerinnen sahen alle gleich aus: Die Einrichtung beschränkte sich auf einen Schrank, ein eisernes Bettgestell, einen Tisch und einen Stuhl. Licht drang nur durch eine schmale, kleine Öffnung im Gemäuer, wie man sie von Burgen oder Festungen kennt. An der nackten Wand war eine Bilderleiste befestigt. Daran hing ein Tuch mit einer Stickerei aus Das Einmaleins der Hexensprüche – und tagsüber auch oft ein paar Fledermäuse. In Mildreds Zimmer wohnten drei Fledermäuse, kleine, gutmütige Tierchen mit flauschigem Fell. Mildred liebte Tiere, und sie konnte kaum noch den nächsten Tag erwarten, an dem sie endlich ihr eigenes Katzenbaby bekommen sollte. Alle freuten sich auf dieses große Ereignis und hatten den Abend dazu genutzt, die Festkleider zu bügeln und die Dellen aus ihren besten Hüten zu drücken. Maude war viel zu aufgeregt zum Schlafen. Darum hatte sie sich in Mildreds Zimmer geschlichen, um sich mit ihrer besten Freundin ein wenig zu unterhalten. »Wie wirst du deines nennen, Maude?«, erkundigte sich Mildred verschlafen. »Mitternacht«, antwortete Maude. »Das klingt ziemlich dramatisch, finde ich.« »Ich mache mir Sorgen«, bekannte Mildred und kaute auf ihrem Zopf. »Bestimmt wird mir wieder
irgendetwas Grässliches passieren. Wahrscheinlich trete ich ihm auf den Schwanz oder es springt aus dem Fenster, wenn es mich sieht. Irgendetwas wird wieder schief gehen, hundertprozentig.« »Spinn nicht herum«, wandte Maude ein. »Du weißt doch, dass du einen besonderen Draht zu Tieren hast. Und was das ›Auf-den-Schwanz-treten‹ angeht – die Katzenbabys sind alle im Korb und dürfen gar nicht herumlaufen. Frau Graustein legt es dir in den Arm, und das war’s dann. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.« Bevor Mildred antworten konnte, ging krachend die Tür auf. Vor ihnen stand Frau Harschmann, ihre Klassenlehrerin, eingehüllt in einen schwarzen Bademantel, mit einer Laterne in der Hand. Sie war eine große, furchteinflößende Frau mit einem knochig-hageren Gesicht. Das schwarze Haar hatte sie streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem so festen Knoten zusammengebunden, dass es aussah, als wolle sie auf diese Weise die Haut gründlich straff ziehen. »Reichlich spät, um noch auf zu sein, oder?«, erkundigte sie sich triumphierend. Die beiden Mädchen, die sich vor lauter Schreck aneinander geklammert hatten, als die Tür so plötzlich aufflog, rückten nun wieder voneinander ab und hielten die Augen gesenkt.
»Wenn ihr es natürlich vorzieht, morgen an den Feierlichkeiten nicht teilzunehmen, dann seid ihr genau auf dem richtigen Weg«, fuhr Frau Harschmann unbarmherzig fort. Mit einem vorwurfsvollen Blick auf Mildreds Kerze dirigierte sie Maude vor sich her aus dem Zimmer. Hastig blies Mildred die Kerze aus und kuschelte sich in die Bettdecke. Aber sie konnte nicht einschlafen. Draußen vor dem Fenster ertönte das ›Schuhuuuu‹ der Eulen, und irgendwo musste eine Tür offen stehen, die im Wind laut knarrend auf- und zuschlug. Um ehrlich zu sein, Mildred fürchtete sich im Dunkeln. Aber das muss natürlich ein Geheimnis bleiben. Denn wer hätte je von einer Hexe gehört, die Angst im Dunkeln hat?
2
Die Feier fand in der großen Aula statt, einem riesigen Saal mit kahlen Steinwänden. An dem einen Ende waren vor einer etwas erhöhten Bühne zahlreiche Reihen Holzbänke aufgebaut. Überall an den Wänden hingen Schilde und Porträts. Die ganze Schule hatte sich hier versammelt. Frau Graustein und Frau Harschmann standen auf der Bühne hinter einem Tisch mit einem großen Weidenkorb, aus dem vielstimmiges Maunzen und Wimmern drang. Zuerst sangen alle die Schulhymne: Vorwärts, vorwärts, hoch wir streben, auf ins weite Sternenzelt. Stolz reiten wir den Hexenbesen, uns gehört die ganze Welt! Unser Mühen, unser Streben gilt der hohen Zauberei. Heißa, das ist Hexenleben! Bald schon sind auch wir dabei!
Nieswurz, Krötenbein, Alruge mischen wir zum Zaubertrank! Schulzeit geht vorbei im Fluge Lehrerinnen, seid bedankt! Das war eine ganz gewöhnliche Schulhymne, aber Mildred fühlte sich nie besonders stolz, wenn sie auf dem Hexenbesen ritt. Sie hatte viel zu viel damit zu tun, nicht herunterzufallen! Als sie die letzte Strophe hinter sich gebracht hatten, ließ Frau Graustein die kleine Silberglocke ertönen, die vor ihr auf dem Tisch stand. Die Mädchen stellten sich in eine lange Reihe auf, um die Katzenbabys entgegenzunehmen. Mildred war die Letzte in der Reihe, und als sie den Tisch erreichte, holte Frau Graustein ein Kätzchen aus dem Korb hervor, das anders aussah als die der anderen. Es war kein pechschwarzes, kuscheliges Fellknäuel, sondern ein winziges, getigertes Kätzchen mit weißen Pfoten und so zerzaustem Fell, als hätte es die Nacht draußen in einem fürchterlichen Sturm verbracht. »Die Schwarzen sind uns leider ausgegangen«, entschuldigte sich Frau Graustein freundlich lächelnd. Frau Harschmann lächelte ebenfalls – höhnisch. Nach der Feier wollten alle Mildreds Katze sehen. »Bestimmt hatte H. F. da ihre Hand im Spiel«, erklärte Maude düster. (H. F. war der Spitzname für Frau Harschmann.)
»Irgendwie guckt sie ein bisschen begriffsstutzig«, stellte Mildred fest, während sie der Katze den Kopf kraulte. »Aber das ist mir egal. Ich muss mir nur einen anderen Namen für sie ausdenken – eigentlich wollte ich sie Blacky nennen. Komm, wir gehen mit ihnen nach unten in den Schulhof und testen mal, wie sie sich auf dem Besen machen.« Fast alle Erstklässler waren auf dem Hof und versuchten, den erstaunten Katzenbabys beizubringen, sich auf den Besen zu setzen. Ein paar klammerten sich schon mit ihren Pfoten daran fest, und ein Katzenbaby, das einer jungen, ziemlich eingebildeten Hexe namens Esther gehörte, saß kerzengerade auf dem Besen und leckte sich die Pfoten sauber, als wäre sie schon immer geflogen.
Auf dem Besen zu reiten ist kein Kinderspiel. Zuerst muss man dem Besen befehlen, in die Schwebeposition zu gehen. Wenn er dann in der richtigen Höhe schwebt, muss man sich darauf setzen, ihm einen kräftigen Klaps geben, und ab geht’s. Ist man erst einmal in der Luft, macht der Besen fast alles, was man ihm sagt. Er hört auf Kommandos wie ›Rechts! Links! Stopp! Ein bisschen tiefer!‹, und so weiter. Die Schwierigkeit besteht darin, das Gleichgewicht zu halten, denn wenn man sich ein wenig zu weit auf die Seite beugt, verliert man leicht die Balance und fällt entweder herunter oder hängt plötzlich verkehrt herum am Besenstiel. Wenn das passiert, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich festzuhalten und mit dem umgestülpten Rock über dem Gesicht auszuharren, bis Hilfe kommt. Wochenlang war Mildred von ihrem Besen gestürzt und hatte zahlreiche Blessuren davongetragen, bevor sie einigermaßen zu fliegen gelernt hatte. Und nun schien es so, als ob ihr Kätzchen ähnliche Probleme haben würde. Als sie es auf das Besenstielende setzte, plumpste es einfach herunter. Es hatte nicht einmal probiert, sich festzuhalten! Nach zahllosen Versuchen nahm Mildred das Kätzchen hoch und schüttelte es. »Hör zu«, sagte sie streng. »Ich fürchte, ich muss dich ›Tollpatsch‹ nennen. Du versuchst ja nicht einmal, dich festzuhalten. Nimm dir ein Beispiel an deinen Freunden! Sieh nur, die können es alle!«
Traurig blickte das Kätzchen sie an und schleckte mit der kleinen, rauen Zunge ihre Nase ab. »Komm schon«, lenkte Mildred besänftigt ein. »Ich bin dir ja gar nicht wirklich böse. Wir probieren es noch einmal.« Und wieder setzte sie das Kätzchen auf den Besen, und wieder fiel es mit einem leisen Plumps herunter. Maude hatte mehr Glück. Ihr Kätzchen klammerte sich verbissen am Besen fest – wenn auch verkehrt herum. »Immerhin ein Anfang«, lachte Maude.
»Meins lernt das nie!« Mildred gab sich geschlagen, setzte sich auf den Besen und legte eine Pause ein. »Mach dir nichts draus«, tröstete Maude sie. »Stell dir doch mal vor, wie schwierig es für das arme Ding sein muss, sich mit den Pfoten festzuhalten.« Plötzlich kam Mildred eine Idee. Eilig stürzte sie ins Schulhaus, während ihre Katze einem Blatt nachjagte, das der Wind über den Boden trieb. Der Besen wartete noch immer geduldig in Schwebeposition. Als Mildred wiederkam, trug sie ihren Ranzen in der Hand und band ihn hinten am Besen fest. Dann setzte sie das Kätzchen in den Ranzen, so dass nur noch das
kleine Köpfchen hervorlugte, und zog begeistert ein paar Runden über den Schulhof. »Guck mal, Maude!«, rief sie aus fünfzehn Meter Höhe. »Das gilt nicht!«, rief Maude zurück und deutete auf den Ranzen. Mildred landete glücklich lachend. »Ich glaube kaum, dass H. F. das gutheißt«, zweifelte Maude. »Da hast du absolut Recht«, ertönte eine eisige Stimme in ihrem Rücken. »Mildred, meine Liebe, möchtest du nicht vielleicht auch noch einen Lenker und einen Sattel?« Vor lauter Verlegenheit wurde Mildred knallrot. »Tut mir Leid, Frau Harschmann«, murmelte sie leise. »Es kann das Gleichgewicht nicht halten, und darum habe ich gedacht… vielleicht…« Unter Frau Harschmanns durchdringendem Blick versagte ihr die Stimme. Rasch band sie den Ranzen wieder vom Besen und setzte das verwirrte Kätzchen auf die Erde. »Mädchen!« Frau Harschmann klatschte in die Hände. »Bitte denkt daran! Morgen habt ihr eure Zaubertrankprüfung!« Und dann löste sie sich in Luft auf – wortwörtlich. »Ich wünschte, sie würde das nicht tun«, flüsterte Maude und starrte unbehaglich auf die Stelle, wo sich ihre Klassenlehrerin soeben noch befunden hatte. »Man weiß nie, ob sie wirklich weg ist.«
»Auch da hast du absolut Recht«, ertönte Frau Harschmanns Stimme aus dem Nichts. Maude schluckte und eilte zurück zu ihrem Kätzchen.
3 Esther – die junge Hexe, deren Kätzchen sofort beim ersten Flugversuch auf dem Besen saß, als wäre es schon tausend Mal geflogen – gehörte zu jenen glücklichen Menschen, denen auf Anhieb immer alles gelang. Sie hatte immer die beste Note von allen, ihre Zaubersprüche funktionierten tadellos, und nie hörte sie auch nur ein einziges Wort der Kritik aus dem Munde von Frau Harschmann. Darum benahm sich Esther den anderen Mädchen gegenüber oft recht überheblich. So hatte sie auch den Zwischenfall auf dem Schulhof mitbekommen und konnte es sich einfach nicht verkneifen, Mildred noch ein wenig zu ärgern. »Ich glaube, Frau Graustein hat dir absichtlich dieses Kätzchen zugeschustert«, höhnte Esther grinsend. »Es ist genauso ein Versager wie du!« »Ach, halt du nur den Mund!« Mildred versuchte, den aufsteigenden Zorn zu unterdrücken. »Mein Kätzchen ist kein Versager. Sie wird es schon noch lernen.«
»Ach ja? So wie du vielleicht?« Esther ließ nicht locker. »Bist du nicht erst letzte Woche in die Mülleimer gekracht?« »Ich warne dich, Esther! Wenn du nicht sofort still bist, dann, dann…« »Was dann?« »Dann werde ich dich in einen Frosch verwandeln – obwohl ich das eigentlich gar nicht will.« Esther brach in kreischendes Gelächter aus. »Das ist ein guter Witz!«, höhnte sie. »Du kriegst ja nicht einmal die Hexensprüche für Anfänger hin, wie willst du dann so einen schwierigen schaffen?« Mildred lief dunkelrot an und sah sehr unglücklich drein. »Na, mach schon!«, rief Esther. »Mach schon, verwandle mich doch in einen Frosch, wenn du kannst! Ich warte!« Ganz zufällig hatte Mildred eine ungefähre Ahnung, wie der Zauberspruch ging. (Sie hatte in der Bücherei darüber gelesen.) Inzwischen hatten sich die anderen Schülerinnen um sie geschart, gespannt abwartend, was weiter geschehen würde. Esther lachte Mildred noch immer aus. Es war nicht auszuhalten. Leise murmelte Mildred etwas vor sich hin – und Esther verschwand. Genau an der Stelle, wo sie eben noch gestanden war, grunzte nun ein kleines, rosagraues Ferkelchen. Schreie des Entsetzens hallten über den Schulhof: »O nein!«
»Jetzt ist es aus!« »Was hast du nur getan, Mildred?« Mildred war entsetzt. »O Esther«, jammerte sie kläglich. »Es tut mir ja so Leid, aber du hast selbst gesagt, dass ich es tun soll.« Wutentbrannt starrte das Schwein Mildred an. »Du gemeines Biest!«, grunzte es zornig. »Verwandle mich sofort zurück!« In diesem Augenblick tauchte Frau Harschmann plötzlich mitten auf dem Schulhof auf. »Wo ist Esther Edel? Frau Maus würde sie gerne wegen der zusätzlichen Gesangsstunden sprechen.« Ihr durchdringender Blick fiel auf das kleine Schwein, das leise vor ihren Füßen grunzte. »Was macht dieses Tier hier im Hof?«, erkundigte sie sich, ohne eine Miene zu verziehen. Alle starrten Mildred an. »Ich… habe es hereingelassen, Frau Harschmann«, erklärte Mildred zögernd. »Nun, dann lass es auch bitte wieder hinaus«, befahl Frau Harschmann. »Das geht nicht!«, wehrte Mildred unglücklich ab. »Kann ich nicht, ich meine, darf ich es als Haustier behalten?«
»Ich finde, du hast mit dir selbst und deiner Katze mehr als genug zu tun. Da musst du deine Probleme nicht unbedingt noch um ein Schwein vermehren.« Frau Harschmann starrte auf das getigerte Kätzchen, das sich hinter Mildreds Bein versteckt hatte und
vorsichtig dahinter hervorlugte. »Bring es sofort wieder raus. Und wo ist Esther?« Mildred kniete sich neben das kleine Schweinchen. »Liebe Esther, bitte«, flehte sie leise in das Schweineohr. »Bitte, komm mit, wenn ich dich hinausbringe. Ich lass dich auch sofort wieder rein. Bitte!« Menschen wie Esther um Hilfe zu bitten, ist absolut sinnlos. Sie fühlen sich dann nur umso mächtiger.
»Ich komme nicht mit!«, grunzte das Schwein so laut es konnte. »Frau Harschmann, Frau Harschmann. Ich bin’s, Esther. Mildred Hoppelt hat mich in ein Schwein verwandelt.«
Nichts brachte Frau Harschmann je aus der Fassung. Selbst diese überraschende Neuigkeit hatte nur das Hochziehen einer Augenbraue zur Folge. »Mildred? Da bin ich aber froh, dass du wenigstens etwas gelernt hast, seit du hier bist. Aber wie du vielleicht weißt, besagt der Hexenkodex Paragraph sieben Absatz zwei, dass derartige Zaubersprüche nicht gegen Mitschwestern eingesetzt werden dürfen. Bitte nimm den Spruch sofort zurück.« »Es tut mir Leid, aber ich weiß nicht, wie«, bekannte Mildred kleinlaut. Frau Harschmann starrte sie einen Augenblick lang durchdringend an. »Dann schlag es auf der Stelle in der Bibliothek nach«, befahl sie müde. »Nimm Esther mit, und informiert bitte auch Frau Maus darüber, dass Esther sich verspäten wird.« Mildred nahm ihr Kätzchen auf den Arm und eilte ins Haus, gefolgt von dem Schwein. Glücklicherweise war Frau Maus nicht in ihrem Zimmer. Mildred war die ganze Sache ausgesprochen peinlich. In der Bibliothek grunzte Esther absichtlich so laut, dass alle sie anstarrten. Am liebsten hätte sich Mildred vor lauter Scham unter dem Tisch verkrochen. »Beeil dich«, jammerte das Schwein. »Hör auf zu jammern«, wies Mildred Esther zurecht, während sie hastig das Das Einmaleins der Zaubersprüche durchblätterte. »Du bist selbst schuld.
Du hast schließlich gesagt, dass ich es tun soll. Warum beklagst du dich also?« »Du solltest mich in einen Frosch verwandeln, nicht in ein Schwein«, kehrte Esther die Pedantin heraus. »Nicht einmal das hast du richtig gemacht!«
Mildred ignorierte die grunzende Esther und suchte weiter. Sie brauchte eine halbe Stunde, bis sie endlich den richtigen Spruch gefunden hatte. Kurz darauf war Esther wieder ganz die Alte. Die anderen Mädchen in der Bibliothek guckten höchst erstaunt, als sich das Schwein plötzlich in eine vor Wut kochende Esther verwandelte.
»Reiß dich zusammen, Esther«, flüsterte Mildred. »Du weißt doch, in der Bibliothek darf nicht gesprochen werden…« Eilig flüchtete sie hinaus auf den Flur. »War das nicht schrecklich, Katze?« Das Kätzchen hatte sich in ihrer Strickjacke zusammengerollt. »Ich bringe dich jetzt besser auf mein Zimmer und bereite mich für die Zaubertrankprüfung morgen vor. Aber ärgere mir bitte nicht die Fledermäuse, ja?«
4
Am Morgen der Zaubertrankprüfung strömten die Mädchen in die Hexenküche. Alle machten sich große Sorgen, ob sie die richtigen Rezepturen gelernt hatten, außer Esther natürlich, die immer alles wusste und sich wegen solcher Dinge nie Gedanken machte. »Kommt bitte hierher, Mädchen! Immer zwei an einen Kessel!«, rief Frau Harschmann bellend. »Heute wollen wir einen Lachtrank brauen. Bücher sind nicht erlaubt – legst du wohl auf der Stelle das Heft weg, Mildred! Arbeitet leise, und wenn ihr fertig seid, trinkt ihr bitte einen kleinen Schluck, um euch zu vergewissern, dass ihr alles richtig gemacht habt. Ihr könnt anfangen.«
Maude und Mildred arbeiteten natürlich zusammen an einem Kessel, aber unglücklicherweise wusste keine von beiden die genaue Zusammensetzung dieses speziellen Zaubertranks. »Ich erinnere mich dunkel«, flüsterte Maude. »Zumindest teilweise.« Sie sah die verschiedenen Zutaten durch, die auf jedem Arbeitstisch bereitgestellt worden waren. Als sie ihr Gemisch im Kessel zum Kochen brachten, brodelte es in einem leuchtenden Rosa. Zweifelnd starrte Mildred auf das Gebräu. »Ich glaube, es müsste eigentlich grün sein«, überlegte sie laut. »Ja, ich bin mir sicher, dass noch eine Hand voll Mitternachtskraut fehlt.« »Weißt du das genau?« »Ja doch.« Das klang nicht sehr überzeugt. »Bist du dir wirklich sicher?«, fragte Maude darum noch mal nach. »Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist!« »Ich bin mir ziemlich sicher«, erwiderte Mildred. »Außerdem lag auf jedem Arbeitsplatz etwas von dem Kraut. Bestimmt muss es auch in den Topf.« »Na gut, dann tu’s halt rein«, willigte Maude ein. »Mach schon. Es kann nicht schaden.« Mildred griff nach dem Mitternachtskraut und ließ es in den Kessel fallen. Sie wechselten sich beim Rühren ab, und nach ein paar Minuten färbte sich der Kesselinhalt dunkelgrün. »Was für eine eklige Farbe!«, wunderte sich Maude.
»Seid ihr so weit, Mädchen?« Frau Harschmann klopfte auf ihr Pult. »Ihr solltet schon lange fertig sein. Im Notfall müsst ihr den Lachtrank sekundenschnell zubereiten können.« Esther war noch immer mit ihrem Kessel beschäftigt. Mildred stellte sich auf die Zehenspitzen, um heimlich einen Blick auf ihren Zaubertrank zu ergattern. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass er leuchtend rosa war. »O nein!«, seufzte Mildred niedergeschlagen. »Was haben wir da bloß zusammengebraut?« Frau Harschmann klopfte abermals auf das Pult. »Bitte probiert jetzt euren Zaubertrank«, befahl sie. »Aber bitte nur ganz vorsichtig. Wir wollen doch nicht, dass eine von euch in hysterische Lachkrämpfe ausbricht.« Jede der Schülerinnen füllte ein wenig Flüssigkeit aus den Kesseln in ein Reagenzglas und kostete davon. Sofort ertönten überall im Raum laute Lachsalven. Besonders laut lachten Esther und ihre Partnerin, die natürlich den besten Zaubertrank von allen zubereitet hatten. Sie lachten so sehr, dass ihnen schon Tränen die Wangen hinunter rollten. Nur Mildred und Maude lachten nicht. »O mein Gott«, flüsterte Maude. »Ich fühle mich ganz seltsam. Warum müssen wir denn nicht lachen, Mil?«
»Ich traue mich gar nicht, es dir zu sagen«, antwortete Mildred leise. »Ich furchte…« Aber bevor sie den Satz noch beenden konnte, waren die beiden Mädchen verschwunden.
»Kessel Nummer zwei!«, rief Frau Harschmann. »Offensichtlich habt ihr den falschen Zaubertrank gebraut.« »Das war mein Fehler«, ertönte Mildreds Stimme hinter dem Kessel. »Das glaube ich dir aufs Wort«, erklärte Frau Harschmann säuerlich. »Ihr beide setzt euch besser, bis ihr wieder sichtbar seid, und anschließend, liebe Mildred, ist für dich ein Besuch bei Frau Graustein fällig. Du kannst ihr selbst erklären, warum ich dich schon wieder zu ihr schicken musste.« Alle hatten die Hexenküche bereits verlassen, als die beiden jungen Hexen endlich weder ihre Gestalt annahmen. Das war eine ziemlich langwierige Prozedur. Erst tauchte nur der Kopf auf, doch schließlich auch nach und nach der übrige Körper. »Es tut mir Leid«, baten Mildreds Kopf und Schultern um Verzeihung. »Schon gut«, antwortete Maudes Kopf. »Hättest du doch lieber ein bisschen nachgedacht. Wir hatten den richtigen Zaubertrank, bevor wir das Mitternachtskraut zugegeben haben.« »Tut mir Leid«, murmelte Mildred wieder und begann dann zu lachen. »Meine Güte, Maude, siehst du lustig aus, nur mit Kopf und Schultern!« Maude fiel in ihr Lachen ein, und schon bald waren sie wieder die besten Freundinnen.
»Ich werde jetzt besser zur guten alten Graustein gehen«, erklärte Mildred schließlich, als sie wieder vollständig sichtbar waren. »Ich bringe dich bis zur Tür«, bot Maude an. Frau Graustein war eine kleine, ziemlich rundliche Frau mit halblangem grauen Haar und einer grünen Hornbrille, die sie höchst selten auf der Nase, sondern fast immer im Haar sitzen hatte. Sie war das genaue Gegenteil von Frau Harschmann und wirkte meist ein wenig abwesend, aber immer sehr freundlich. Die Mädchen hatten überhaupt keine Angst vor ihr, während ein einziges Wort von Frau Harschmann genügte, um sie in ein Häufchen Elend zu verwandeln. Frau Graustein hatte eine ganz andere Methode. Sie war immer sehr nett und zeigte sich höchst erfreut, wenn eine der Schülerinnen sie in
ihrem Büro aufsuchte. Das stürzte diese dann in größte Verlegenheit, wenn sie etwas Unangenehmes zu beichten hatte, was bei Mildred fast immer der Fall war. Mildred klopfte an Frau Grausteins Tür und hoffte, dass sie nicht im Zimmer war. Sie hatte kein Glück. »Herein!«, ertönte die vertraute Stimme. Mildred öffnete und ging hinein. Frau Graustein, die eifrig damit beschäftigt war, lange Listen auszufüllen, schaute auf und beäugte ihre Besucherin über den Rand der Brille, die ausnahmsweise einmal auf ihrer Nase saß. »Hallo, Mildred«, grüßte sie erfreut. »Komm herein, und setz dich, bitte. Ich muss nur noch eben diese Liste fertig machen.« Mildred schloss die Tür und setzte sich auf den Stuhl vor Frau Grausteins Schreibtisch. ›Wenn sie sich wenigstens nicht so sehr darüber freuen würde, mich zu sehen‹, dachte sie. Frau Graustein legte die Liste zur Seite und schob die Brille in die Haare. »Was kann ich für dich tun, Mildred?« Mildred spielte nervös mit den Fingern. »Nun ja, Frau Graustein«, begann sie zögerlich, »eigentlich hat mich Frau Harschmann zu Ihnen geschickt, weil ich schon wieder den falschen Zaubertrank gebraut habe.«
Das Lächeln auf dem Gesicht der Schulleiterin erstarb. Ein lauter Seufzer der Enttäuschung entfuhr ihr. Mildred fühlte sich ganz klein. »Wirklich, Mildred«, begann Frau Graustein müde, »ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll. Woche für Woche schickt dich einer deiner Lehrer hierher zu mir, und alles, was ich sage, scheint bei dir zum einen Ohr hinein- und durchs andere geradewegs wieder hinauszugehen. Du wirst niemals dein Hexendiplom bekommen, wenn sich dein Verhalten nicht deutlich bessert. Du musst die lausigste Hexe der gesamten Schule sein. Fast jedes Mal, wenn es Ärger gibt, hast du irgendwie deine Hände im Spiel gehabt. So kann es wirklich nicht weitergehen. Was hast du denn dieses Mal zu deiner Entschuldigung vorzubringen?« »Ich kann nichts dafür, Frau Graustein«, verteidigte sich Mildred leise. »Irgendwie geht alles, was ich tue, immer schief. Ich mache das wirklich nicht absichtlich!« »Das ist aber keine Entschuldigung«, wandte Frau Graustein ein. »Alle anderen kommen hier schließlich auch zurecht, ohne auf Schritt und Tritt in irgendeinen Schlamassel zu geraten. Du musst dich jetzt endlich ein wenig zusammenreißen, Mildred. Ich möchte dich hier bei mir so schnell nicht wieder sehen, hast du mich verstanden?« »Ja, Frau Graustein«, nickte Mildred reuevoll.
»Dann lauf schon zu den anderen«, entließ sie die Direktorin, »aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.« Maude hatte im Flur auf Mildred gewartet und brannte darauf zu erfahren, was die Direktorin gesagt hatte.
»Sie ist sehr nett«, berichtete Mildred. »Hat mir nur das Übliche gesagt. Sie schimpft eben nicht gerne mit uns. Und ich werde jetzt wirklich versuchen, mich zu bessern. Komm mit, wir geben unseren Kätzchen noch ein wenig Flugunterricht.«
5
Am nächsten Morgen erschien Frau Harschmann im Klassenzimmer, mit ihren Gedanken allerdings war sie offenbar noch ganz woanders. Sie trug ein neues, grau-schwarz gestreiftes Kleid mit einer Brosche.
»Guten Morgen, Mädchen!«, grüßte sie nicht ganz so kurz angebunden wie sonst immer. »Guten Morgen, Frau Harschmann«, antworteten die Mädchen im Chor. Die Klassenleiterin ordnete die Bücher auf dem Pult und ließ ihren Blick über die Klasse schweifen. »Ich habe eine Neuigkeit für euch. Einerseits gibt sie mir Anlass zu Freude, gleichzeitig aber auch zu ganz
erheblicher Sorge.« An dieser Stelle durchbohrte sie Mildred mit ihrem Blick. »Wie ihr alle wisst, feiern wir in zwei Wochen Walpurgisnacht. Und wie immer ist es Aufgabe dieser Schule, die Feierlichkeiten mit einer kleinen Darbietung aufzulockern. In diesem Jahr hat unsere Klasse die Ehre, diese Darbietung gestalten zu dürfen.« Die Mädchen jauchzten vor Begeisterung. »Das ist wirklich eine sehr große Ehre«, wiederholte Frau Harschmann, »aber natürlich auch eine große Verantwortung. Frau Grausteins Hexenakademie genießt einen sehr guten Ruf, dem wir natürlich gerecht werden müssen, nicht wahr? Im vergangenen Jahr hat die dritte Klasse ein Theaterstück aufgeführt, das sehr gelobt wurde. Ich habe mir überlegt, dass wir in diesem Jahr einen Besenformationsflug zeigen könnten. Natürlich müsst ihr dafür noch recht viel üben, denn einige von euch fliegen noch nicht wirklich sicher. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir mit einer solchen Darbietung sehr erfolgreich sein werden. Oder hat jemand einen anderen Vorschlag?« Durchdringend musterte sie die Mädchen, die sich auf ihren Stühlen so klein wie möglich machten. Keine hätte den Mut für einen Gegenvorschlag aufgebracht, selbst wenn sie einen gehabt hätte. »Schön. Das wäre dann geklärt.« Zufrieden lehnte sich Frau Harschmann auf dem Stuhl zurück. »Wir zeigen also einen Formationsflug. Kommt mit in den Schulhof. Wir wollen sofort mit dem Üben beginnen.
Holt eure Besen! In zwei Minuten treffen wir uns draußen wieder.« Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da war sie auch schon verschwunden. Aufgeregt schnatternd eilten die Mädchen aus dem Klassensaal und holten die Besen aus ihren Zimmern. Die Wendeltreppe hallte wider vom Getrappel der Nagelschuhe, als die Mädchen eilig in den Hof liefen, wo Frau Harschmann sie schon erwartete. »Zuerst müsst ihr euch warm fliegen. Fliegt bitte paarweise hintereinander her, einmal rund um die Schule«, verlangte sie. Und schon flogen sie los, in einer geordneten, wenn auch etwas schwankenden Prozession rund um das Schulgelände. »Kein schlechter Anfang«, erklärte Frau Harschmann, als die Mädchen sich wieder vor ihr aufreihten. »Mildred, du bist noch arg hin und her geschwankt, aber ansonsten habt ihr euch alle gut gehalten. Ich habe aufgeschrieben, welche Übungen ihr fliegen sollt. Zuerst bildet ihr eine lange Reihe, wobei die eine sinkt, während die andere steigt, und umgekehrt. Das sollte ziemlich einfach sein. Dann formiert ihr euch zu einem V, wie es die Wildgänse tun. Und dann saust ihr im Sturzflug auf den Schulhof zu und reißt den Besen – kurz bevor ihr auf dem Boden aufschlagt – wieder hoch. Das ist die schwierigste Übung.« Mildred und Maude blickten sich entsetzt an.
»Zum Abschluss der Übung bildet ihr einen schönen Kreis, wobei eure Besen sich mit der Spitze beziehungsweise dem Ende berühren. Noch irgendwelche Fragen? Nicht? Sehr gut. Dann wollen wir sogleich mit der ersten Übung beginnen. Was war die erste Übung, Mildred?« »… ähm, der Sturzflug in den Schulhof, Frau Harschmann.« »Falsch, Mildred. Esther, kannst du es uns bitte sagen?«
»Wir bilden eine lange Reihe, wobei die eine sinkt, während die andere steigt, und umgekehrt.« Esther hatte wie immer die richtige Antwort parat, wortwörtlich konnte sie Frau Harschmanns Anweisungen wiedergeben. »Sehr schön«, lobte Frau Harschmann und schenkte Mildred ein frostiges Lächeln. »Das werden wir heute
Morgen üben und jeden weiteren Morgen bis zur großen Feier und vielleicht auch heute Nachmittag, sofern ich Frau Maus davon überzeugen kann, eure Singstunde ausfallen zu lassen.« Die nächsten zwei Wochen trainierten die Mädchen hart. Unermüdlich nutzten sie jede freie Minute zum Üben, und als die Walpurgisnacht vor der Tür stand, war es eine wahre Lust, sie fliegen zu sehen. Maudes Hut war so knautschig wie eine Ziehharmonika, weil sie bei dem Sturzflug den Besen nicht rechtzeitig wieder nach oben gezogen hatte. Aber ansonsten hatte es keinerlei Zwischenfälle gegeben. Selbst bei Mildred hatte alles tadellos geklappt, denn sie gab sich besonders viel Mühe und passte immer gut auf. Am Tag vor der Walpurgisnacht befahl Frau Harschmann den Mädchen, sich im Hof aufzustellen. Sie wollte ihnen noch einige letzte Ratschläge für den großen Auftritt geben. »Ich bin sehr zufrieden mit euch, Mädchen«, erklärte sie beinahe freundlich. »Morgen werdet ihr eure Festkleider tragen. Ich hoffe, sie sind alle frisch gewaschen und ordentlich gebügelt.« Bei diesen Worten fiel ihr Blick auf Mildreds Besen. »Mildred, was macht dieser seltsame Knubbel Klebeband mitten auf deinem Besen?« »Es tut mir Leid, Frau Harschmann. Der Besen ist gleich in der ersten Schulwoche genau in der Mitte durchgebrochen«, erklärte Mildred. Esther kicherte.
»Verstehe. Aber mit diesem Besen kannst du morgen auf keinen Fall fliegen. Esther, hast du nicht noch einen Ersatzbesen, den du Mildred leihen könntest?« »Aber Frau Harschmann!«, rief Esther entsetzt. »Den hab ich zum Geburtstag bekommen. Ich will nicht, dass jemand anderes damit fliegt und er vielleicht zu Bruch geht.« Frau Harschmann starrte Esther höchst unzufrieden an. »Wenn du so darüber denkst, Esther«, begann sie in gefährlich kaltem Ton, »dann…« »Oh, Frau Harschmann, ich meinte nicht, dass ich ihn nicht ausleihen werde«, lenkte Esther rasch ein. »Ich geh ihn holen.« Esther hatte nicht vergessen, dass Mildred sie in ein Schwein verwandelt hatte. Als sie die Stufen der Wendeltreppe erklomm, kam ihr plötzlich eine glänzende Idee, wie sie Rache nehmen könnte. (Esther war wirklich kein sehr nettes Mädchen!) »Dir werde ich es zeigen, Mildred Hoppelt«, kicherte sie in sich hinein, als sie den Besen aus dem Schrank holte. »Hör zu, Besen. Das ist äußerst wichtig…« Der Unterricht war schon zu Ende, als Esther mit dem Besen in den Hof zurückkehrte. Mildred übte noch immer den Sturzflug. »Hier ist der Besen, Mildred«, rief Esther. »Ich stelle ihn dir hier an die Wand.«
»Danke«, rief Mildred zurück. Sie war richtig glücklich, dass Esther so nett zu ihr war. Seit der ›Schweine-Episode‹ hatten sie kein Wort mehr miteinander geredet. »Das ist wirklich sehr lieb von dir.« »Keine Ursache!«, rief Esther zurück. Ein gemeines Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte.
6 Wie jedes Jahr wurde die Walpurgisnacht in den Ruinen eines alten Schlosses ganz in der Nähe der Schule gefeiert. Bei Sonnenuntergang brannten überall die Hexenfeuer, und bis die Nacht hereinbrach, waren alle Hexen und Zauberer aus nah und fern eingetroffen. Als die Sonne unterging, machten sich die Schülerinnen von Frau Grausteins Hexenakademie für den Aufbruch bereit. Mildred glättete noch einmal ihr Kleid, verabschiedete sich von ihrem Kätzchen, setzte den Hut auf, schnappte sich Esthers Besen und lief in den Schulhof hinunter. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch rasch einen Blick aus dem Fenster. Die Feuer brannten bereits. Es war sehr aufregend. Alle Schülerinnen hatten sich schon im Hof versammelt, als Mildred die Tür hinter sich zuwarf und sich auf ihren Platz stellte. Frau Harschmann sah einfach umwerfend aus in ihrem Hexengewand und dem Hut.
»Dann sollten wir endlich aufbrechen«, befahl die Schulleiterin. »Auf zum Fest! Die fünfte Klasse zuerst, die vierte Klasse dahinter und so weiter. Die erste Klasse bildet das Schlusslicht!« Sie boten einen erstaunlichen Anblick, wie sie über die Baumwipfel zum Schloss flogen. Die Umhänge flatterten im Wind, und bei den größeren Mädchen hockten die Katzen hinten auf den Besen. Frau Harschmann sah besonders eindrucksvoll aus. Kerzengerade saß sie auf ihrem Besen, und das lange schwarze Haar flatterte fröhlich im Wind. Die Mädchen hatten sie noch nie zuvor mit offenem Haar gesehen und staunten sehr darüber, wie es ihr jeden Tag gelang, so langes, volles Haar zu diesem unglaublich strengen Knoten zusammenzubinden. Immerhin reichte es ihr bis auf die Hüften. »H. F. sieht richtig gut aus mit dem offenen Haar«, flüsterte Maude Mildred zu, die neben ihr flog.
»Ja«, stimmte Mildred ihr zu, »sie wirkt nicht halb so furchteinflößend wie sonst.« Frau Harschmann wandte sich um und durchbohrte die beiden Mädchen mit ihrem Blick. »Reden verboten«, wies sie sie kurz angebunden zurecht. Als sie das Schloss endlich erreichten, hatte sich bereits eine riesige Menschenmenge versammelt. Die Schülerinnen stellten sich rasch ordentlich in Reih und Glied auf, während Frau Graustein gemeinsam mit den anderen Lehrern den Magiermeister begrüßte. Er war ein sehr alter Mann mit einem langen weißen Bart und einer purpurnen Robe, deren Säume mit Monden und Sternen bestickt waren. »Und was haben Sie für dieses Jahr vorbereitet?«, erkundigte er sich.
»Wir werden heute einen Besenformationsflug zeigen, ehrwürdiger Magiermeister«, antwortete Frau Graustein. »Können wir beginnen, Frau Harschmann?« Frau Harschmann klatschte in die Hände, und die Mädchen stellten sich auf. Esther stand ganz vorn. »Fangt an!« Frau Harschmann gab das Startzeichen. Esther stieg in einem perfekten Bogen hoch in die Luft auf. Der Rest der Klasse folgte ihr. Zuerst formierten sie sich zu einer langen Reihe und ließen die Besen abwechselnd sinken und steigen. Die Zuschauer applaudierten begeistert. Dann bildeten die Mädchen ein V in der Luft, was sehr schön aussah. Und schließlich flogen sie im Sturzflug hinunter in den Hof. (Frau Graustein schloss die Augen, sie
konnte sich diesen Teil der Übung nicht ansehen, aber alles ging gut.) »Ihre Mädchen werden jedes Jahr besser«, lobte eine junge Hexe Frau Harschmann, die vor lauter Stolz strahlte. Zum Abschluss mussten sie den Kreis bilden, die leichteste Übung von allen. »Gleich haben wir’s geschafft«, flüsterte Maude, die ihren Besen vor Mildred in Position brachte. Kaum flogen sie im Kreis, bemerkte Mildred, dass mit ihrem Besen irgendetwas nicht stimmte. Er begann zu taumeln und zu torkeln, als wolle er sie hinunterwerfen. »Maude«, rief sie ihrer Freundin zu. »Irgendetwas…« Aber bevor Mildred den Satz beenden konnte, bockte der Besen wie ein Wildpferd. Mildred verlor das Gleichgewicht, stürzte vom Besen und versuchte verzweifelt, sich im Fallen an Maude festzuhalten. In der Luft herrschte nunmehr wildes Durcheinander. Die Mädchen schrien und versuchten, irgendwo Halt zu finden. Wenige Augenblicke später lagen Hexen und Besen kreuz und quer auf dem Boden verstreut. Das einzige Mädchen, das in aller Seelenruhe sauber landete, war Esther. Ein paar jüngere Hexen lachten, aber die meisten blickten ziemlich grimmig.
»Es tut uns so Leid, Euer Ehren«, entschuldigte sich Frau Graustein beim Magiermeister, während Frau Harschmann die Mädchen unsanft auf die Füße stellte. »Gewiss gibt es dafür eine ganz einfache Erklärung.«
»Frau Graustein, Ihre Schülerinnen sind die Hexen der Zukunft«, erwiderte der Magiermeister streng, »und mich überläuft eine Gänsehaut, wenn ich mir ausmale, wie die Zukunft aussieht.« Er hielt inne. Es herrschte Totenstille. Frau Harschmann funkelte Mildred an. »Wir wollen diesen Vorfall für den Rest des Abends vergessen«, fuhr er dann endlich fort, »und nun mit den Gesängen beginnen.«
7 Bei Anbruch der Morgendämmerung gingen die Feierlichkeiten dem Ende zu. Müde flogen die Schülerinnen zurück zur Schule. Einige flogen zu zweit auf einem Besen, weil ihrer bei dem Sturz zu Bruch gegangen war. Niemand sprach mit Mildred. (Selbst Maude verhielt sich ihrer Freundin gegenüber ausgesprochen kühl.) Die erste Klasse war in Ungnade gefallen. Als sie wieder in der Schule waren, wurden alle sofort zu Bett geschickt. Nach den Feierlichkeiten der Walpurgisnacht durften sie normalerweise bis zum Mittag des nächsten Tages schlafen.
»Mildred«, rief Frau Graustein streng, als die erste Klasse bedrückt zur Treppe schlich. »Frau Harschmann und ich möchten dich morgen Nachmittag als Erstes in meinem Büro sprechen.« »Ja, Frau Graustein«, antwortete Mildred. Sie konnte die Tränen kaum noch zurückhalten und stürzte die Treppe hinauf. Als Mildred die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, drängte sich Esther, die direkt hinter ihr gegangen war, dicht an sie heran und zischte: »Das wird dir eine Lehre sein, andere Leute in Schweine zu verwandeln!« Sie streckte Mildred die Zunge heraus und lief eilig den Flur hinunter. Mildred schloss hastig die Tür und ließ sich auf das Bett fallen. Fast hätte sie ihr Kätzchen platt gedrückt, das sich gerade noch rechtzeitig mit einem Satz in Sicherheit bringen konnte. »O Tapsi!« Mildred verbarg das Gesicht im warmen Fell der Katze. »Was für eine schreckliche Nacht. Und es war nicht einmal meine Schuld! Ich hätte wissen müssen, dass Esther mir ihren Besen nicht aus lauter Nächstenliebe leiht. Niemand, keine Menschenseele wird mir glauben, dass es nicht meine Schuld war. Sie werden einfach davon ausgehen, dass ich so tollpatschig war wie sonst immer.«
Tröstend leckte das Kätzchen ihr Ohr. Die Fledermäuse kehrten durch das schmale Fenster zurück und hängten sich mit den Füßen nach oben an die Bilderleiste. Zwei Stunden später wälzte sich Mildred noch immer schlaflos im Bett herum. Sie malte sich das Gespräch mit Frau Graustein und ihrer grässlichen Klassenlehrerin aus. Das Kätzchen schlief zufrieden in ihrem Arm. »Das wird fürchterlich, so fürchterlich«, flüsterte sie und starrte traurig auf den grauen Himmel vor dem Fenster. »Ob sie mich aus der Schule werfen? Vielleicht kann ich ihnen ja erzählen, dass es Esthers Schuld war – nein, das würde ich nie fertig bringen. Und wenn sie mich in einen Frosch verwandeln?
Nein, so etwas würden sie ganz bestimmt nicht tun. Frau Harschmann hat gesagt, dass das ein Verstoß gegen den Hexenkodex sei. O Himmel, was werden sie nur mit mir machen? Selbst Maude glaubt, es sei meine Schuld, und H. F. habe ich noch nie so wütend gesehen.« Sie konnte an überhaupt nichts anderes mehr denken, und schon bald hielt sie es vor lauter Angst einfach nicht mehr aus. Mildred sprang aus dem Bett. »Komm, Tapsi!« Entschlossen zerrte sie eine Tasche aus dem Schrank. »Wir laufen davon.« Mildred stopfte ein paar Kleidungsstücke und ein paar Bücher in die Tasche und zog ihr bestes Kleid an, damit man sie nicht schon von weitem an der Schuluniform erkannte. Dann nahm sie ihren Besen, setzte das Kätzchen in die Tasche und schlich über den stillen Korridor die Wendeltreppe hinunter. »Die Fledermäuse werden mir fehlen!«, bedauerte Mildred flüsternd. Es war ein kalter, trüber Morgen. Mildred zog den Umhang fest um die Schultern, als sie über den Hof lief. Vorsichtig schaute sie sich um, ob irgendjemand sie beobachtete. So ausgestorben wirkte die Schule seltsam unheimlich. Mildred musste über das Tor fliegen, das wie immer zugesperrt war. Aber mit der Tasche hinten am Besen fiel es ihr recht schwer, das Gleichgewicht zu halten. Darum landete sie auf der anderen Seite des Tors gleich wieder und ging zu Fuß in den Kiefernwald.
»Ich habe keine Ahnung, wohin wir gehen, Tapsi«, sagte sie, als sie sich für den Weg entschied, der den Hügel hinunterführte.
8
Es war ein sehr dunkler Wald. Mildred wurde es ziemlich unheimlich zwischen all den hohen Bäumen, die so dicht standen, dass kein Lichtschimmer bis zu ihr drang. Als sie fast den Fuß des Berges erreicht hatte, setzte sie sich, um ein wenig auszuruhen. Müde lehnte sie den Rücken gegen einen Baum, und das Kätzchen kroch aus der Tasche, um sich ein wenig zu recken und zu strecken. Es war sehr still, nur ein paar Vögel sangen. Und ganz aus der Ferne drang ein leises Gesumme an ihr Ohr, als sprächen viele Menschen gleichzeitig. Mildred lauschte. Das hörte sich wirklich nach Stimmen an. Sie spähte in die Richtung, aus der die Stimmen kamen, und glaubte, eine Bewegung hinter den Bäumen wahrzunehmen. »Komm, Tapsi, das wollen wir uns mal näher anschauen«, flüsterte sie leise. Sie ließen Tasche und Besen am Baum zurück und schlichen durch das dichte Unterholz. Die Stimmen wurden lauter.
»Da sind ja wirklich Menschen«, stellte Mildred erstaunt fest. »Schau, Tapsi, da vorne, zwischen den Bäumen.« Im trüben Licht einer kleinen Lichtung drängten sich wohl zwanzig Hexen, leise miteinander flüsternd. Mildred kroch näher und lauschte. Keine der Hexen kam ihr bekannt vor. Eine große, grauhaarige Hexe war aufgestanden. »Ruhe, bitte! Bitte seid für einen Augenblick einmal alle still! Danke. Ich möchte wissen, ob wir wirklich sicher davon ausgehen können, dass jetzt alle schlafen oder sich zumindest in ihren Zimmern aufhalten.« Sie setzte sich wieder, und eine andere Hexe stand auf, um zu antworten. Es war eine kleine, untersetzte Hexe mit einer grünen Hornbrille. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte Mildred, es sei Frau Graustein, aber diese hier hatte eine ganz andere Stimme als die Schulleiterin. »Natürlich können wir uns darauf verlassen«, antwortete diese Hexe. »Am Morgen nach der Walpurgisnacht schläft die gesamte Schule bis zum Mittag. Das ist Vorschrift, und an dieser Schule werden Vorschriften genauestens beachtet. Niemand wird es wagen, vor fünf vor zwölf aufzustehen. Wenn wir über die rückwärtige Mauer in den Hinterhof fliegen, sind wir weit weg von den Schlafräumen. Niemand wird uns hören. Außerdem werden wir alle unsichtbar sein. Uns kann also gar nichts passieren. Wir brauchen nichts weiter tun, als uns aufzuteilen, in
jedes Zimmer zu schleichen und sie alle in Frösche zu verwandeln. Selbst wenn sie wach sind, werden sie uns nicht sehen können. Vergesst nicht, eine von diesen Schachteln hier für die Frösche mitzunehmen.« Sie wies auf einen Stapel kleiner Kartons. »Wir dürfen nicht zulassen, dass auch nur eine entkommt. Wenn uns das gelingt und wir alle erst einmal in den Kartons verstaut haben, ist die Schule unter unserer Kontrolle.« »Ist der Unsichtbarkeitstrank schon fertig?«, fragte sie eine junge Hexe, die in einem Kessel über dem Feuer rührte. Es war der gleiche Zaubertrank, den Mildred und Maude gebraut hatten, als sie den Lachtrank herstellen sollten. »Noch ein paar Minuten«, antwortete die junge Hexe und warf eine Handvoll FledermausSchnurrhaare in den Kessel. »Er muss noch einen Augenblick köcheln.« Entsetzt kroch Mildred zurück zu dem Baum, an dem sie Tasche und Besen zurückgelassen hatte, und versteckte sich im tiefsten Dunkel der Bäume, damit niemand sie entdecken konnte. »Was sollen wir nur tun, Tapsi?«, flüsterte sie dem Kätzchen ins Ohr und stellte sich vor, wie Maude als Frosch durch die Gegend hüpfte. »Wir dürfen nicht zulassen, dass sie die Schule in ihre Gewalt bekommen.«
Mildred durchwühlte ihre Tasche und zog die beiden Bücher heraus, die sie mitgenommen hatte. Das eine war der Hexenkodex und das andere das Buch der Zaubersprüche. Mildred blätterte das Buch rasch durch und schlug das Kapitel Verwandlung von
Menschen in Tiere auf. Da stand nur ein einziges Beispiel – und das waren Schnecken. »Soll ich wirklich?«, überlegte Mildred. »Soll ich sie wirklich alle in Schnecken verwandeln?« Das Kätzchen blickte sie aufmunternd an. »Ich weiß, Tapsi, damit verstoße ich gegen den Hexenkodex. Aber schließlich befolgen sie ja auch keinerlei Regeln. Sie wollen uns in Frösche verwandeln, während wir noch schlafen. Warum soll ich es ihnen nicht mit gleicher Münze heimzahlen? Das ist reine Notwehr.« Sie schlich zur Lichtung zurück, das Buch der Zaubersprüche fest umklammernd. »Jetzt geht es los«, sprach sie sich selbst Mut zu. Sie verteilten den Unsichtbarkeitstrank bereits in Bechern. Mildred blieb nicht mehr viel Zeit. Sie beschrieb mit beiden Armen einen großen Kreis in Richtung der Hexen (dieser Teil des Zauberspruchs ist sehr schwierig auszuführen, wenn man nicht gerade jedermanns Aufmerksamkeit auf sich lenken will) und murmelte mit angehaltenem Atem den Zauberspruch, Eine Sekunde lang passierte nichts. Die Hexen drängelten sich noch immer um den Kessel und unterhielten sich leise flüsternd. Enttäuscht schloss Mildred die Augen, aber als sie sie wieder öffnete, waren die Hexen verschwunden, und auf dem Boden krochen etwa zwanzig Schnecken, die ganz unterschiedlich aussahen.
»Tapsi!«, schrie Mildred. »Ich habe es geschafft. Schau!« Tapsi sprang aus dem Unterholz und starrte die Schnecken an, die versuchten, sich so rasch wie möglich aus dem Staub zu machen – was allerdings nicht sehr rasch war. Mildred nahm eine der kleinen Faltschachteln und setzte die Schnecken dort hinein, hübsch vorsichtig, eine nach der anderen. »Ich glaube, wir müssen sie zur Schule bringen und Frau Graustein alles erzählen, Tapsi«, erklärte sie. Da fiel ihr plötzlich ein, dass ihr mittags ja sowieso noch das Gespräch mit der Schulleiterin bevorstand. »Wir müssen aber trotzdem zurück. Wir können die Schnecken schließlich nicht einfach hier zurücklassen, oder?«
Also machte sie sich daran, den Hügel wieder hinaufzusteigen. Mildred trug die Schachtel mit den Schnecken, der Besen mitsamt Tapsi und der Tasche flog neben ihr her.
9 Die Schule lag noch immer völlig verlassen da, als Mildred wieder vor dem schweren Eisentor stand. Sie eilte die Wendeltreppe hinauf in ihr Zimmer und packte rasch die Tasche aus, damit niemand erfuhr, dass sie hatte fortlaufen wollen. Gerade als sie mit der Schachtel in der Hand zur Tür gehen wollte, öffnete sich diese, und Frau Harschmann trat ins Zimmer.
»Würdest du mir freundlicherweise verraten, was du vorhast, Mildred?«, fragte sie mit eisiger Stimme. »Ich habe gerade gesehen, wie du durch den Flur geschlichen bist, und zwar mit Besen, Katze, einer
Tasche und dieser Pappschachtel. Ist es zu viel verlangt, wenn ich dafür um eine Erklärung bitte?« »Aber nein, Frau Harschmann«, antwortete Mildred eilig und zeigte der Klassenlehrerin die Schachtel, damit diese den Inhalt inspizieren konnte. »Unten, am Fuße des Hügels, bin ich auf ganz viele Hexen gestoßen. Sie wollten die Schule in ihre Gewalt bringen und uns alle in Frösche verwandeln. Sie haben einen Unsichtbarkeitstrank gebraut, damit niemand sie entdecken würde, und darum habe ich sie alle in Schnecken verwandelt und hergebracht…« Die Stimme versagte ihr, als sie Frau Harschmann anblickte. Offensichtlich glaubte die Klassenlehrerin ihr kein Wort. »Ich nehme an, das hier sollen die Hexen sein?«, fragte sie beißend und zeigte auf die Schnecken, die sich alle in einer Ecke der Schachtel verkrochen hatten. »Ja, das sind sie!«, bestätigte Mildred verzweifelt. »Ich weiß, das alles hört sich sehr seltsam an, Frau Harschmann, aber Sie müssen mir glauben. Die Besen, der Kessel und all die anderen Sachen sind noch immer auf der Lichtung, wo ich sie entdeckt habe. Wirklich.« »Nun, dann solltest du diese Wesen besser auch Frau Graustein zeigen«, beschloss Frau Harschmann hämisch. »Geh schon mal vor in ihr Büro. Ich werde sie holen – und wehe dir, wenn das mal wieder einer deiner üblichen Scherze ist, Mildred! Wenn ich mich
recht erinnere, steckst du schon bis über beide Ohren in Schwierigkeiten, nicht wahr?« Mildred hockte nervös auf der Stuhlkante im Büro der Schulleiterin, als Frau Harschmann zusammen mit Frau Graustein eintrat. Frau Graustein trug einen grauen Bademantel und sah noch ganz verschlafen aus. »Da sind sie«, erklärte Frau Harschmann und wies auf die Schachtel auf dem Schreibtisch. Frau Graustein ließ sich schwer in den Sessel plumpsen und schaute sich zuerst die Schachtel und anschließend Mildred an. »Mildred, ich habe mich von der fürchterlichen Blamage in aller Öffentlichkeit gestern Abend noch immer nicht erholt«, begann sie vorwurfsvoll. »Dir habe ich es zu verdanken, dass das Ansehen der ganzen Akademie in den Schmutz gezerrt wurde, und nun erwartest du von mir, dass ich dir eine solch unglaubliche Geschichte abnehme?« »Aber es ist die Wahrheit!«, rief Mildred. »Ich kann sogar ein paar der Hexen beschreiben. Eine war groß und dünn mit vollem grauen Haar, und da war noch eine, die sah genauso aus wie Sie, Frau Graustein. Oh, Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen. Aber sie hatte die gleiche Brille…« »Einen Augenblick!«, rief Frau Graustein und schob die Brille auf die Nase. »Hast du gesagt, sie hatte die gleiche Brille und sah aus wie ich?«
»Ja, Frau Graustein«, antwortete Mildred errötend. »Eine grüne Brille. Entschuldigung, ich möchte nicht unhöflich sein.« »Schon gut, mein Kind, schon gut. Darum geht es nicht«, beruhigte sie Frau Graustein und starrte wieder in die Schachtel. »Wissen Sie«, wandte sie sich dann an Frau Harschmann, »ich glaube fast, an der Geschichte könnte doch etwas dran sein. Die Hexe, die Mildred gesehen hat, muss meine böse Schwester Agatha sein, die schon immer fürchterlich eifersüchtig auf meine Position hier an der Schule war!« Frau Graustein beäugte über den Brillenrand hinweg die Schnecken. »So, so, Agatha«, kicherte sie. »So treffen wir uns also wieder. Wer wohl all die anderen Schönheiten
hier sind? Was soll jetzt nur aus ihnen werden, Frau Harschmann? Was meinen Sie?« »Ich würde vorschlagen, dass wir ihnen ihre richtige Gestalt wiedergeben.« »Aber das können wir nicht!«, rief Frau Graustein bestürzt. »Das hier sind mindestens zwanzig Hexen!« Frau Harschmann lächelte ein wenig überheblich. »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass nach Paragraph sieben, Absatz fünf des Hexenkodex niemand, der aus Notwehr von einer anderen Hexe in ein Tier verwandelt worden ist, bei seiner Rückverwandlung irgendeine Form der Hexerei gegen seine Bezwinger ausüben darf. Ihnen bleibt also nichts anderes übrig, sie müssen sich ergeben.« »O ja, natürlich«, Frau Graustein nickte ein wenig verlegen. »Jetzt weiß ich es wieder. Daran hatte ich gerade nicht gedacht. Hast du das gehört, Agatha? Glauben Sie, dass sie uns hören können, Frau Harschmann?« »Aber sicher«, bestätigte Frau Harschmann. »Vielleicht sollten wir sie in einer Reihe auf Ihr Pult setzen und Ihre Schwester bitten vorzutreten.« »Das ist eine gute Idee«, rief Frau Graustein begeistert, die nun langsam Gefallen an der ganzen Sache fand. »Mildred, meine Liebe, hilf mir bitte.« Sie reihten die Schnecken auf dem Schreibtisch auf, und Frau Graustein bat Agatha, nach vorne zu treten. Zögerlich krabbelte eine Schnecke aus der Reihe nach vorn.
»Hör zu, Agatha«, begann Frau Graustein. »Du hast wohl kaum noch eine Wahl. Wenn du versprichst, dich an den Hexenkodex zu halten, können wir dich zurückverwandeln. Tust du es nicht, müsst ihr Schnecken bleiben. Wenn du bereit bist, den Kodex zu akzeptieren, dann trete bitte in die Reihe zurück, damit wir wissen, wie du dich entschieden hast.« Die Schnecke kroch zurück in die Reihe. Frau Harschmann sprach den Zauberspruch, der sie erlöste, und plötzlich war das Zimmer voller Hexen. Sie sahen alle ziemlich wütend aus und riefen empört durcheinander. Der Lärm war einfach fürchterlich. »Würden Sie alle bitte auf der Stelle den Mund halten«, befahl Frau Graustein.
Sie wandte sich an Mildred, die noch immer auf der Stuhlkante hockte. »Du kannst jetzt zu Bett gehen, Mildred. In Anbetracht der Tatsache, was du heute Morgen für die Schule getan hast, werden wir das für diesen Nachmittag anberaumte Gespräch mit Frau Harschmann und mir fallen lassen. Sie schließen sich da doch gewiss meiner Auffassung an, Frau Harschmann, oder?« Frau Harschmanns Augenbraue hob sich, und Mildred sank das Herz in die Hose. »Ich stimme Ihnen zu, Frau Graustein«, willigte sie ein, »allerdings würde ich doch noch gerne wissen, Mildred, was du am Fuße des Hügels getrieben hast, wo du doch eigentlich im Bett liegen solltest?« »Ich… äh…. ich bin ein wenig spazieren gegangen, Frau Harschmann«, antwortete Mildred. »Und rein zufällig hast du das Buch der Zaubersprüche mitgenommen.« »Ja«, nickte Mildred todunglücklich. »Was für eine eifrige Schülerin!«, lobte Frau Harschmann höhnisch. »Nimmt das Zauberbuch mit, wohin sie auch geht. Wahrscheinlich hast du auch die Schulhymne gesungen, als du so durch den Wald spaziert bist, nicht wahr, meine Liebe?« Verlegen schaute Mildred auf den Boden. Sie spürte, wie all die anderen Hexen sie anstarrten. »Ich denke, wir sollten das Kind jetzt zu Bett gehen lassen«, kam Frau Graustein ihr zu Hilfe. »Lauf schon, Mildred.«
Mildred sauste aus dem Zimmer, bevor die Klassenlehrerin sie noch irgendetwas fragen konnte, und fünf Sekunden später lag sie in ihrem Bett.
10 Am Mittag hallte die Weckglocke laut durch alle Flure, doch Mildred zog sich die Decke über den Kopf und schlief gleich wieder ein. Kurz darauf krachte ihre Zimmertür auf. »Wach auf, Mildred!«, rief Maude, schnappte sich das Kopfkissen und schlug damit nach ihrer Freundin. Blinzelnd versuchte Mildred, die Augen zu öffnen, und glaubte, viele hundert Menschen um ihr Bett herum zu sehen, die alle wirr durcheinander sprachen oder riefen. Maude saß sogar auf ihrem Bett und hüpfte aufgeregt auf und nieder. »Was ist denn los?«, fragte Mildred verschlafen. »Als ob du das nicht ganz genau wüsstest!«, rief Maude, atemlos von ihrer Hüpferei. »Die ganze Schule weiß Bescheid!« »Worüber?«, fragte Mildred, die noch immer nicht richtig bei sich war. »Wirst du jetzt wohl endlich wach werden!«, rief Maude aufgeregt und riss ihr die Bettdecke weg. »Du hast nur mal eben die gesamte Schule vor Frau
Grausteins Schwester gerettet, sonst ist gar nichts los!« Schlagartig saß Mildred kerzengerade in ihrem Bett. »Ja, das habe ich wirklich!«, rief sie laut, und alle lachten. »Frau Graustein hat eine Schulversammlung in der großen Aula einberufen«, erklärten Nina und Gloria, zwei andere Schülerinnen der ersten Klasse. »Du solltest dich jetzt lieber beeilen und dich anziehen, denn du musst doch wohl dabei sein.« Mildred sprang aus dem Bett. Ihre Freundinnen machten sich schon auf den Weg zur Aula. Mildred zog sich rasch an und folgte ihnen eilig, die Schnürsenkel offen auf dem Boden schleifend – wie immer.
Maude hatte ihr einen Platz freigehalten. Mildred war es ein wenig peinlich, dass alle sie anstarrten, als sie den Saal betrat. Während sie auf die Lehrer warteten, entschloss sich Mildred, ihrer Freundin die Sache mit Esther zu erzählen. »Was ich dir noch sagen wollte«, flüsterte sie Maude leise ins Ohr, damit niemand sonst es hören konnte. »Das bei der Aufführung, das war nicht meine Schuld. Esther hat den Besen verzaubert, den sie mir ausgeliehen hat. Ich weiß es genau, denn sie hat es mir gesagt. Erzähl es aber nicht weiter, ja? Ich wollte nur, dass du nicht denkst, ich wäre mal wieder tollpatschig gewesen.« »Aber darüber wissen alle schon längst Bescheid!«, flüsterte Maude zurück. »Wirklich? Wer hat es ihnen gesagt?«, rief Mildred erstaunt. »Du kennst doch Esther. Sie musste einfach damit angeben, wie clever sie ist. Und so hat sie es Harriet erzählt. Aber Harriet fand, dass das eine abscheuliche Gemeinheit war, und darum hat sie es allen anderen erzählt. Niemand spricht jetzt mehr mit Esther. Frau Harschmann hat es auch erfahren und ihr eine fürchterliche Standpauke gehalten.« »Psssst!«, warnte jemand. »Sie kommen.« Alle standen auf, als Frau Graustein, gefolgt von Frau Harschmann und den anderen Lehrerinnen, den Saal betrat.
»Setzt euch bitte, Mädchen«, begrüßte sie die Schulleiterin. »Wie ihr alle wisst, ist die Schule heute Morgen ganz knapp einem schrecklichen Anschlag entgangen. Wenn ein gewisses junges Mitglied dieser Schule nicht beherzt eingegriffen hätte, dann würden wir jetzt alle hier als Frösche herumhüpfen.«
Die Mädchen lachten. »Nein, nein, Mädchen! Das ist wirklich nicht zum Lachen. Das wäre eine grauenvolle Katastrophe geworden, gar nicht auszudenken. Gott sei Dank ist es aber nicht dazu gekommen. Und darum erkläre ich den Rest des Tages zum Feiertag zu Ehren von
Mildred Hoppelt. Mildred, komm doch bitte mal zu mir nach vorn.« Mildred wurde knallrot, als ihre Nachbarinnen sie vom Stuhl zogen. Sie kämpfte sich unbeholfen durch die Stuhlreihen nach vorne, fiel beinahe über die Füße ihrer Mitschülerinnen und stolperte schließlich über die Bühne zu Frau Grausteins Tisch. »Na, na, nicht so schüchtern, Liebes«, strahlte Frau Graustein sie an. Sie wandte sich wieder den Mädchen zu. »Nun zeigt mal, was ihr könnt. Ein dreifaches Hoch auf unsere Heldin des Tages, Mildred Hoppelt!« Mildred lief wieder rot an und spielte verlegen hinter dem Rücken mit den Fingern, während ihre Mitschülerinnen sie hochleben ließen. Welch eine Erleichterung für ›die Heldin‹, als schließlich alles vorbei war. Auf dem Weg hinaus klopften ihr alle auf die Schulter und gratulierten ihr – alle, bis auf Esther, die sie nur grimmig anstarrte. »Toll gemacht, Mil!«, rief jemand. »Dir haben wir zu verdanken, dass die Prüfung im Gesangsunterricht ausfällt«, rief jemand anders. »Danke für den Feiertag!« »Danke, Mil!« Das hörte gar nicht mehr auf. Maude legte den Arm um Mildred. »Du hast ausgesehen, als wärst du vor lauter Verlegenheit am liebsten in den Boden versunken«, erklärte sie ihrer besten Freundin. »Und dann bist du
so knallrot geworden, dass ich deinen Kopf vom anderen Ende des Saals leuchten sehen konnte.« »Hör auf damit«, bat Mildred. »Komm, wir holen unsere Kätzchen und genießen den freien Tag!« »Einen Augenblick, bitte«, ertönte da eine eisige Stimme hinter ihnen, die ihnen so vertraut war. Die beiden Mädchen wandten sich um und standen ihrer Klassenlehrerin gegenüber. Sofort hatten sie ein schlechtes Gewissen und überlegten, was sie nun wohl wieder angestellt hatten – eine ganz automatische Reaktion beim Anblick von Frau Harschmann. Dieses Mal aber, stellten sie verwundert fest, lächelte sie. Und es war ein freundliches, herzliches Lächeln, nicht nur hochgezogene Mundwinkel wie sonst immer. »Ich wollte mich auch bei dir bedanken, Mildred. Lauft nur, Mädchen. Genießt den freien Tag, solange ihr könnt.« Sie lächelte und verschwand. »Manchmal glaube ich«, sagte Mildred, »dass sie vielleicht gar nicht so gemein ist, wie wir immer denken.« »Vielleicht hast du da sogar Recht, Mildred«, ertönte Frau Harschmanns Stimme hinter Mildreds Rücken, dass den beiden Mädchen vor lauter Schreck fast das Herz stehen blieb.
Mildred griff nach der Hand ihrer Freundin. Gemeinsam liefen sie eilig nach draußen in den nebligen Schulhof, um Frau Harschmanns Lachen zu entkommen, das noch lange durch die leeren Flure hallte.