Kurzbeschreibung Tausend Jahre – eine Spanne, die das Leben zweier Eichen, ein Zehntel der Nacheiszeit umfasst. Ein Wim...
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Kurzbeschreibung Tausend Jahre – eine Spanne, die das Leben zweier Eichen, ein Zehntel der Nacheiszeit umfasst. Ein Wimpernschlag der Erdgeschichte. Veränderungen in der Natur vollziehen sich in ganz anderen Zeiträumen als die Geschichte des Menschen. Josef H. Reichholf blickt aus ökologischer Sicht zurück auf das letzte Jahrtausend und untersucht die Wechselwirkung von Naturgeschichte und Geschichte, insbesondere den Klimaverlauf mit seinen ökologischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen.
Über den Autor Josef H. Reichholf, Jahrgang 1945, ist Professor für Zoologie an der Zoologischen Staatssammlung München. Viele Bücher, zahlreiche Publikationen und Fernsehauftritte machten ihn einem breiten Publikum als Evolutionsbiologe und Ökologe bekannt. Er gilt als einer der vielseitigsten Naturwissenschaftler Deutschlands – ob tropischer Regenwald, die Evolution des Zebras oder die Ökologie von Auwäldern, kundig und sehr unterhaltsam bringt uns Josef Reichholf diese Themen näher.
Josef Reichholf
Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends
S. Fischer
2. Auflage: April 2007 © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007 Alle Rechte vorbehalten Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-10-06294-5
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rückblick auf das 2. Jahrtausend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Katastrophenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Globalisierung Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Krise im Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Neue Zeit oder Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 30 49 59 67 72 81
Wärme-Optimum und Kleine Eiszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 7. Natur und Kultur im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 8. Pestvögel & Heuschreckenplagen . . . . . . . . . . . . . . . . 96 9. Hochwasserkatastrophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 10. Kältewinter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 11. Rotkäppchen und der böse Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Das 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Das romantische Naturbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Brehms Tierleben beschreibt das 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Akklimatisierung – Integration der Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Die Entdeckung der Tropenwunder . . . . . . . . . . . . . .
138 138 148 155 163 5
16. Beständigkeit und Veränderlichkeit im Weltbild von der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 17. Die Ökologie als »Naturhaushalt« . . . . . . . . . . . . . . . 176 Das 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Justus von Liebig und der Kunstdünger . . . . . . . . . . . 19. Flussregulierungen und Stauseen . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Letzte Eiswinter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Die jüngste Klimaerwärmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Arten- und Naturschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Die Vernichtung der Tropenwälder – wofür? . . . . . . 24. Wälder und Waldsterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Umweltschutz, Prognosen und Propheten . . . . . . . . .
187 187 197 210 215 233 245 254 262
Globaler Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Asien, Ozeanien, Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28. Afrika und Südeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29. Globales Artensterben und Naturveränderung . . . .
276 276 288 299
Schlussbemerkungen Geschichtsblind in die Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Nachwort Die Zukunft als Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
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Vorwort
Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre waren in meiner niederbayerischen Heimat die Sommer sehr warm. Als kleiner Junge lief ich damals von Mai bis in den September oder Oktober hinein meistens barfuß. In den Wintern gab es Schnee und Eis. Einen richtig kalten Winter erlebte ich gegen Ende meiner Schulzeit 1962/63. Damals waren nicht nur die Stauseen monatelang zugefroren, sondern auch große Flüsse, wie der freiströmende Inn und, wie ich später erfuhr, praktisch alle Gewässer in Bayern sowie im größten Teil von Mitteleuropa. Über das Eis des Bodensees fuhren Traktoren. Dieser Winter, einer der drei kältesten des ganzen 20. Jahrhunderts, dauerte von Ende November bis Mitte März. Auf den Seen und Stauseen war das Eis bis über 40 Zentimeter dick geworden. Die Eisdecken barsten krachend, als der Wasserdruck mit dem in den Bergen zuerst einsetzenden Tauwetter zunahm. Der Winter 2005/06 zog sich zwar bis weit ins Frühjahr hinein, verlief aber bei weitem nicht so kalt. Dem Alpenvorland und sogar München brachte er Anfang März eine Schneekatastrophe. Am Sonntag, dem 5. März 2006, lag der Schnee bis zu 60 Zentimeter hoch, und München wurde für einen halben Tag eine Geisterstadt. Denn es fuhren weder Straßen- noch S-Bahnen, praktisch keine Autos, und sogar der Fernverkehr der Bahn musste eingestellt werden. Drei Jahre zuvor herrschten Anfang März schon fast frühsommerliche Temperaturen, und der ihnen folgende Sommer von 2003 gilt mit seinen fünf Monaten Dauer, seiner anhaltenden Hitze und Trockenheit als 7
»Jahrtausendsommer«. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren global die wärmsten Jahre festgestellt worden. An einem Klimawandel zweifelt kaum noch jemand, höchstens am Anteil, den der Mensch mit seinen Einflüssen auf die Erdatmosphäre daran hat. Wie groß diese sein müssen, erlebte ich in Brasilien, als ich über das brennende Zentrum des südamerikanischen Kontinents flog und im Pantanal von Mato Grosso aus gänzlich wolkenlosem Himmel unablässig Asche niederschwebte. Sie legte sich wie ein alt gewordener, grauer Schneebelag übers in der Hitze wabernde Land. Ich sah die riesigen Rodungen auf Borneo, als ich in Begleitung des damaligen deutschen Umweltministers Klaus Töpfer bei der Vorbereitung auf die große Umweltkonferenz von Rio unterwegs war, und vieles andere mehr in Süd- und Nordamerika, in Afrika, Indien und Australien. Es bedurfte keiner Erleuchtung auf einsamem Gipfel in einer entlegenen Ecke der Welt, um das Ausmaß des zerstörerischen Wirkens von Menschen zu sehen. Dennoch überraschte mich immer wieder die Blindheit dem Offensichtlichen gegenüber. Wie können Ökologen behaupten, die größte Massierung von Großtieren an Land gäbe es in der Serengeti im ostafrikanischen Tansania? In manchen norddeutschen Landkreisen leben weit mehr, aber fast alle sind »unsichtbar« in Ställen untergebracht. Dennoch existieren sie, und sie übertreffen die Serengeti an Zahl oder Lebendgewicht der Huftiere pro Quadratkilometer bei weitem. Oder: In welchem Verhältnis stehen die Waldrodungen der letzten Jahrhunderte in den USA zu den gegenwärtigen in Amazonien? Was in der Spanne eines vollen Menschenalters vergangen ist oder gar schon vor mehr als 100 Jahren geschah, ist vergessen und so gut wie nicht mehr existent. Oder es wird als »gute alte Zeit« verklärt und zum Bezugsmaß für die heutigen Verhältnisse und Entwicklungen genommen. Gewiss, wir leben in einer Zeit rascher Veränderungen. Doch verliefen diese im 19. Jahrhundert langsamer, und waren sie in ihren Auswirkungen geringer? Derzeit gilt in Europa die »Globalisie8
rung« als eine der größten Gefahren für die nahe Zukunft. Aber eroberten und »globalisierten« die Europäer nicht die Welt schon vor einem halben Jahrtausend? Die meisten Pflanzen, die gegenwärtig als besonders gefährlich und »invasiv« angesehen werden, wachsen seit mehr als 100 Jahren bei uns. Im 19. Jahrhundert hatte man sie ins Land geholt, weil man ihre Qualitäten schätzte. In Bayern starben vor einem Jahrhundert noch Menschen an Malaria, obwohl sie das Land nie verlassen hatten. Malaria kam hier von Natur aus vor. Jetzt breitet sich angeblich die Malariamücke, die Anopheles, wegen der Klimaerwärmung gefährlich aus. Doch es gab und gibt sie nicht nur hierzulande, sondern nordwärts bis Südfinnland. Naturschützer wiesen in den letzten Jahren ganz erschrocken darauf hin, dass sich fast tropische Vögel und Schmetterlinge nördlich der Alpen ansiedeln. Die schönen bunten Bienenfresser (Merops apiaster) etwa und Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos) – welch ein Name! – wurden, wie auch viele der kleinen Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum), die wie Kolibris aussehen, aber Schmetterlinge der SchwärmerFamilie sind, im Hitzesommer 2003 sogar in den Alpentälern gesichtet. So war es im Editorial einer Naturschutzzeitschrift zu lesen. Dass diese und zahlreiche andere Wanderfalter seit Jahrhunderten schon, wahrscheinlich aber seit Jahrtausenden über die Alpen nordwärts fliegen, wurde im allgemeinen Klagelied über den schönen Sommer (absichtlich?) vergessen. In meiner Kindheit und Jugend brachte ich viele Puppen vom Totenkopfschwärmer zum Schlüpfen und entließ die riesigen Schmetterlinge in die niederbayerischen Herbstnächte mit der Hoffnung, sie würden den Rückflug durch die Alpenpässe noch schaffen, ehe der Winter beginnt. Die bunten Bienenfresser aber fand ich in den alten Büchern wieder, die über die Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts recht sachlich berichten. Dass manche Tiere darin arg vermenschlicht werden, im positiven wie im negativen Sinne, tut den Angaben keinen Abbruch, zeigen sie doch, dass man sie kannte und wusste, wo 9
sie lebten. Die Bienenfresser galten in früheren Jahrhunderten als Bienenfeinde und wurden deshalb, auch im Englischen, so genannt. Der andere deutsche Name »Spinte« setzte sich nicht durch, denn die Geschichte und ihre Geschichten wirken oftmals viel zäher nach, als man glauben möchte. Das wurde mir auch klar, als ich in Amazonien die durch den Straßenbau angeschnittenen Böden sah. Seit Alexander von Humboldt hielt – und hält sich zum Teil immer noch – die Mär von der tropischen Fülle. Dabei herrscht dort fast überall Mangel. Der luxuriöse Wuchs der Regenwälder in Amazonien täuscht. Der Wald steht auf unfruchtbarem Boden und kann sich nur erhalten, wenn er genügend Mineralstoffe im Sandstaub durch den Passat aus der afrikanischen Sahara zugeliefert bekommt. Globale Zusammenhänge rücken heute ganz zu Recht immer mehr ins Zentrum der Betrachtungen, die meistens dennoch viel zu lokal angestellt werden. Was besagen aber meine eigenen Erfahrungen über ein halbes Jahrhundert bewussten Lebens? Es überdeckt genau die Zeitspanne des »nachweisbaren Klimawandels«. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre folgt nun die Klimakurve der Erde nicht mehr den vom Menschen völlig unbeeinflussten Schwankungen in der Aktivität der Sonne. Bleiben angesichts der weltweiten Veränderungen meine Eindrücke also nur belanglose Anekdoten? Dann sind die vielen und vielfach zitierten »Befunde« aus anderen Gebieten und aus zumeist sogar viel kürzeren Zeitspannen auch nicht mehr als Anekdoten. Ohne Bedeutung treiben sie im viel größeren Strom der Zeit als kleine Wirbel, die in der Menschenwelt Wirbel machen. Als junger Ökologe versuchte ich im Rahmen eines Forschungsauftrages in einem »nur« fünf Kilometer langen und bis zu einem Kilometer breiten Stausee am unteren Inn, 40 Kilometer vor dessen Zusammenfluss mit der Donau in Passau, die Fließgeschwindigkeiten und die davon beeinflusste Verteilung und Häufigkeit der Larven von Zuckmücken im Bodenschlamm zu bestimmen. Die Variation der »Messwerte« fiel so groß aus, dass sich eigentlich keine ver10
nünftigen Mittelwerte bilden ließen. Die Tierchen, wenige Millimeter lange »Würmchen«, lebten nur in den obersten Millimetern des Bodenschlammes, also fast auf einer Ebene. Und dennoch ließen sich die Verhältnisse kaum messen. Die mittlere Strömungsgeschwindigkeit von rund einem halben Meter pro Sekunde besagte so gut wie gar nichts für Leben und Erfolg dieser für Fische und andere Wassertiere so wichtigen Insektenlarven. Was werden, so fragte ich mich, Zehntelgrade als langfristige Veränderungen in den Temperaturen besagen? Seit der Industriellen Revolution, also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ist die Temperatur um rund zwei Drittel eines Celsiusgrades (0,63 °C) angestiegen (Flannery 2006). Welches Lebewesen kann diesen winzigen Wert als bedrohlich empfinden? Die Temperaturspanne eines Tropenjahres erstreckt sich zwischen knapp 20 und höchstens um die 40 °C. Sie schwankt also um das mindestens 30-fache der durchschnittlichen Temperaturerhöhung. In mittleren geographischen Breiten, wie in Deutschland, fallen auf der Bodenoberfläche die Minima oft C unter –30 C, und die Höchstwerte steigen stellenweise über 50 °C an. Bäume und andere Pflanzen sind, wie auch die Tiere, so gut wie nie den offiziellen Messwerten der Wetterstationen ausgesetzt. Wo sie wachsen, herrschen andere Bedingungen als in einem Messhäuschen. Sie müssen mit dem zurechtkommen, was für sie an Ort und Stelle gilt. Wir kennen 500- bis 1000jährige Bäume in unserem Land. Vielleicht sind sie auch ein paar Jahrhunderte jünger, als gemeinhin angenommen wird. Die meisten unserer Bäume könnten aber durchaus ein halbes Jahrtausend alt werden, wenn sie der Mensch nicht fällt. Was haben diese Alten in ihrem Leben für Temperaturschwankungen durchgemacht? Solche Fragen drängten immer stärker in den Vordergrund, je mehr ich mich mit den eigenen »globalen« Erfahrungen und den örtlichen Befunden aus meinen jahrzehntelangen Untersuchungen auseinandersetzte. Ein tieferes Verständnis kann es wohl nur geben, wenn man die Zeit und die Geschichte in die Betrachtungen und Bewertungen der 11
laufenden Vorgänge mit einbezieht. Die Gegenwart lässt sich nicht aus der Gegenwart »erklären«. Denn alle Gegenwart hat Geschichte. Das ist das Kernproblem der Ökologie. Die alten Naturforscher vor ein bis zwei Jahrhunderten wussten es offenbar besser als die heutigen und nannten die Beschäftigung mit dem Leben »Naturgeschichte«. Mit den naiven Versuchen, aus der Naturkunde »exakte Wissenschaft« zu machen, wurde aus der Biologie im deutschsprachigen Raum die »Geschichte« getilgt. Eine geschichtslose Gegenwart kann es aber genauso wenig geben, wie sich brauchbare Ausblicke in die Zukunft ohne Bezug zum Werden und Gewordensein gewinnen lassen. Die Zukunft ist jedoch viel zu wichtig, um sich ihr von einer falschen Erwartungsbasis aus zu nähern. Deshalb wird hier mit einem groben Entwurf ein Rückblick über jene Zeitspanne versucht, zu der wir hier in Europa direkte Daten in Form von historischen Aufzeichnungen haben. Die historischen Fakten tauchen insbesondere nach den Wirren der Völkerwanderung auf. Sie verdichten sich im Hochmittelalter und ergeben so mit dem Jahr 1000 der europäischen Zeitrechnung eine Plattform, von der wir in das darauf folgende Jahrtausend bis in unsere Tage hineinblicken können. Wir begeben uns also gleichsam auf eine Reise durch das letzte Jahrtausend, um in der Gegenwart anzukommen. Wir »fahren« auf der Achse der Zeit empor und drehen uns um Europa herum. Ausblicke auf den übrigen Globus, auf die große weite Welt, sollen diese eurozentrische Betrachtung ergänzen. Es liegt an der eigenartigen Natur unseres Denkens und Gedächtnisses, dass wir aus der Gegenwart heraus zwar nach den Ursachen fragen und forschen können, dem Zeitlauf aber nur »vorwärts« zu folgen vermögen. Der Anfang muss daher mit einem Jahrtausendsprung zurück gemacht werden. Ein Durchgang durch zehn Jahrhunderte gebietet natürlich das auswählende Herausgreifen jener Gegebenheiten und Ereignisse, von denen wir aus der Rückschau wissen, dass sie von Bedeutung für den Gang der Geschichte waren. Wer nur in der Gegenwart über die »Be12
deutung« dieser Gegenwart urteilt, kann sich ziemlich irren. Längst nicht alles, was einem bedeutsam erscheint, hat Bestand und erlangt später die hier und jetzt angenommene Bedeutung. Auf der Zeitachse der vergangenen 1000 Jahre könnten die letzten 30 Jahre »signifikanter Klimaveränderung« für die weitere Zukunft eine ähnlich bedeutungslose Abweichung sein wie die Serie extrem kalter Winter im 16. Jahrhundert. Die überdurchschnittlich warmen Jahre unserer Gegenwart können jedoch auch der Anfang einer echten Warmzeit sein, wie es sie ein paar Mal seit dem Ende der letzten Eiszeit, die vor rund 10000 Jahren zu Ende ging, gegeben hat. Oder sie könnten etwas ganz Neues bedeuten, weil das Wirken des Menschen über die natürlichen Schwankungen hinausreicht und die weitere Entwicklung der Natur auf unserem Globus definitiv verändert. Die Rückschau soll daher auch zeigen, was es für das Leben der Menschen in Europa bedeutete, als sich im letzten Jahrtausend die klimatischen Verhältnisse kräftig veränderten. Der Rückblick wirft Schlaglichter auf die Frage, ob die warmen Perioden die schlechten und die kalten die guten Zeiten waren oder ob sich eine solche Bewertung gar nicht sinnvoll vornehmen lässt, weil die Menschen auf die Veränderungen reagieren und sich darauf einstellen. Bei meinen Betrachtungen gehe ich von einer Grundannahme aus, die vielen Historikern und Geisteswissenschaftlern vielleicht nicht behagt, nämlich dass die natürlichen Lebensbedingungen und ihre Veränderungen auch maßgeblich Einfluss auf den Gang der Geschichte genommen haben. Um es hier jedoch gleich klarzustellen (was wohl nicht so recht gelingen wird, weil mir leicht ein platter Biologismus unterschoben werden kann!): Es geht mir nicht darum, die menschliche Geschichte allein aus der Natur heraus zu »erklären«. Mein Ziel ist es hingegen, die Natur und ihre Veränderungen als Rahmenbedingungen historischer Prozesse verstärkt in die Betrachtung mit einzubeziehen. Die Rechtfertigung für eine solche Betrachtungsweise ergibt sich 13
einerseits aus der allgemeinen Erfahrung, dass die Menschen in verschiedenen Klimaten der Erde unterschiedlich leben und sich dort offensichtlich in verschiedener Weise kulturell, wirtschaftlich und politisch entwickelt haben. Andererseits zeigt sich auch, dass gleiches Klima keineswegs gleiche Geschichte bedeutet. Das große Vorbild für eine solcherart natürliche Betrachtungsweise der Geschichte liefert die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde, die Evolution. Wären nur die Lebensbedingungen allein bestimmend gewesen, gäbe es viel weniger Arten und lebendige Vielfalt. Wir könnten leicht vorhersagen, welche Arten von Lebewesen auf welchen Stellen der Erde oder wo im Meer zu finden sein müssten. Wären allein die äußeren Veränderungen der Natur maßgeblich gewesen, hätte es seit einer halben Milliarde Jahre nichts Neues in der Evolution mehr gegeben. Evolution ist, wie es das berühmte Zitat der amerikanischen Biologin G. Evelyn Hutchinson so trefflich ausdrückt, das fortdauernde Spiel des Lebens auf sich immer wieder wandelnden Bühnen der Zeit. Ohne Änderung nichts Neues, besagt im Kern der Befund zur allgemeinen Evolution. Hätte die Erde jemals einen dauerhaft stabilen Naturzustand erreicht gehabt, gäbe es uns Menschen ganz gewiss nicht. Alles fließt, panta rhei, lehrten ganz richtig die alten Griechen. Wir aber möchten in unserer überheblichen Annahme, das einzig Richtige zu kennen, dem Augenblick der Welt, den wir zufällig erleben, frei nach Goethe »Dauer verleihen«. Unsere Zeit und die Zeit unmittelbar davor ist aber keineswegs die beste aller Zeiten (gewesen). Wir kennen nur nichts anderes und wollen deshalb trotzig darauf beharren, dass sich nichts ändern darf. München, im Oktober 2006
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Überblick
Ein Jahrtausend ist ein kurzer Zeitraum, wenn wir die großen Vorgänge in der Natur betrachten. Um die grundlegenden natürlichen Gegebenheiten unserer Zeit zu verstehen, müssen wir ein gutes Stück weiter zurückblicken. Denn all das, was uns das letzte Jahrtausend bescherte und was die Zukunft bringen wird, ist angelegt worden vor Zehntausenden von Jahren, als auf der Erde »Eiszeit« herrschte. Der heutige Zustand der Erde ist im Wesentlichen geformt worden von den Wirkungen und Nachwirkungen der letzten Eiszeit (Wurm- oder Weichsel-Glazial) sowie von den an ihrem Ende rasch einsetzenden Veränderungen, die von Menschen verursacht wurden. Unsere Vergangenheit als biologische Art reicht jedoch viel weiter, nämlich wenigstens 120 bis 150 Jahrtausende zurück in jene Zeiten, als in Europa noch die bulligen Neandertaler (Homo neanderthalensis) umherschweiften und unsere fernen Vorfahren, die deutlich schwächer als diese andere, sehr robuste Menschenart waren, entweder noch in Afrika lebten oder sich allmählich aus einem zentralasiatischen Zweig des »aufrechten Menschen« (Homo erectus) entwickelten. Doch wie es auch gewesen sein mag, und darüber streiten sich die Erforscher der Geschichte der Gattung Mensch gegenwärtig wieder, wir können ganz sicher davon ausgehen, dass unsere Vorfahren von Natur aus weit umherschweifende Jäger und Sammler waren. Nach der letzten großen Warmzeit vor 120000 Jahren, auch Zwischeneiszeit genannt, in der noch Nilpferde im Rhein und in der Themse lebten und die Großtierwelt bei uns überhaupt 15
sehr afrikanisch aussah, rückte das Eis von Norden her erneut massiv vor und bescherte mit der bislang letzten Eiszeit fast ganz Europa geradezu arktische Verhältnisse. Die Eiskappe, die von Skandinavien ihren Ausgang nahm, schob sich fast bis an den Rand der deutschen Mittelgebirge vor. Sie bedeckte weitestgehend die Nordsee und die ganze Ostsee. Das Eis hatte so viel Wasser gebunden, dass der Meeresspiegel um mehr als 100 Meter absank. Die Themse war damit ein Nebenfluss des Rheins, und auch die Elbe mündete in diesen, bevor er als zentraler Strom das Nordmeer erreichte und schließlich vom Eis in den Atlantik umgelenkt wurde. Im Süden drangen die Alpengletscher zum vierten Mal in den letzten zwei Millionen Jahren weit ins Flachland hinaus vor. Zum Stillstand kamen sie kurz vor der Gegend von München. Sie schmolzen vor rund 12 000 Jahren ziemlich rasch wieder ab. Die große Gletscherschmelze verlief so schnell, dass Wasserfluten kaum vorstellbarer Größe durch die Alpennüsse wie Isar und Inn oder die Rhone schössen. Sie schufen die vorläufige Endform der heutigen Flusstäler. Aus der letzten Eiszeit stammen auch die Seen im Alpenvorland und in der nordöstlichen Tiefebene rund um die Ostsee. Selbst die größten von ihnen sind also nur gut 10000 Jahre »jung«, was im Vergleich zu den Flüssen wirklich jung ist. Die Donau zum Beispiel oder auch den Rhein gab es schon lange vor Beginn des Eiszeitalters. Sie sind als Flüsse tausendmal älter als die allermeisten Seen, nämlich Millionen Jahre alt. Die Erwärmung des Klimas setzte am Ende der letzten Eiszeit so extrem schnell ein, dass sich zum Beispiel in den Eisbohrkernen aus Grönland für diese Übergangszeit einfach nur ein Steilanstieg von 15 bis 20 Grad abzeichnet, der sich nicht einmal mehr in Zeitspannen von Jahrhunderten auflösen lässt. Zur Ursache für diesen so extrem raschen Klimawandel gibt es mehrere Theorien und Vermutungen. Eine Möglichkeit scheidet aber mit Sicherheit aus, nämlich dass der Mensch diesen Temperatursprung in eine Warmzeit verursacht haben könnte. Es gab damals noch so wenige Menschen, dass sie die 16
großen Abläufe in der Natur der Erde sicherlich nicht beeinflussten. Allerdings rotteten sie damals vielleicht schon die ersten Tierarten aus. Ebenso ist nicht bekannt, warum und auf welche Weise kurz nach dem starken Anstieg der Temperaturen im Übergangsbereich zwischen Südwestasien und Arabien/Afrika, im sogenannten Fruchtbaren Halbmond, der Ackerbau erfunden wurde. Denn mit dem darauf folgenden Sesshaftwerden der Menschen änderten sich in der Tat die Verhältnisse nachhaltig. Fast gleichzeitig ließen sich größere Gruppen von Menschen im unterägyptischen Niltal, am Indus und an den großen Strömen des heutigen China nieder. Der Ackerbau wurde zu einer invasiven Technik, die in wenigen Jahrhunderten weite Teile Europas, Asiens und Nordafrikas eroberte und die Lebensweise der Menschen grundlegend veränderte. Wie angenommen wird, entdeckten Indios in Mittelund Südamerika ganz unabhängig von den Entwicklungen in Eurasien neue Feldfrüchte für den Ackerbau, nämlich den Mais und die Kartoffel, während die Indianer Nordamerikas bis zur Ankunft der Weißen, wie auch die Indios im gesamten Großraum Südamerikas östlich der Anden, keine nennenswerten oder gar keine Ackerbaukulturen kannten. Die Aborigines von Australien blieben ebenfalls ohne Ackerbau, was deshalb höchst merkwürdig ist, weil die ihnen recht nahe verwandten Papuas von Neuguinea, das bis zum Anstieg des Meeresspiegels am Ende der Eiszeit noch mit Australien verbunden war, in gebirgiger Abgeschiedenheit ihrer Insel sehr ertragreiche Gartenbaukulturen mit Feldfrüchten entwickelt hatten. Auf das rasche Ende der letzten Eiszeit folgte sogleich die längste Warmzeit unserer erdgeschichtlichen Gegenwart, die Holozän genannt wird. Sie hielt fast zwei Jahrtausende an. Im Vergleich zur nächstfolgenden kalten Periode war die Temperatur um etwa 7°C erhöht. In Europa und in den vom Eis besonders betroffenen Regionen von Nordamerika, dessen Eisschild rund doppelt so groß wie der europäisch-nordwestasiatische gewesen war, breiteten sich die großen nordischen 17
Wälder aus. Sie folgten dem zurückweichenden Eis mit Zeitverzögerung erst, nachdem auch der tief durchgefrorene Dauerfrostboden hinreichend aufgetaut war. Vielleicht entwichen diesen riesigen Frostböden, die zusammen eine größere Fläche als ganz Australien hatten, damals so viel Methan und Kohlendioxid, dass eine natürliche Treibhausgaswirkung zustande kam und der ganzen Erde das nacheiszeitliche Wärme-Optimum beschert wurde. Auf jeden Fall verursachte die Ausbreitung der Wälder auch den Niedergang vieler Großtiere, die auf der eiszeitlichen, sehr ergiebigen Tundra gelebt und dort staunenswerte Größen erreicht hatten. Wie etwa der Riesenhirsch. Sein am Ende schaufelartig vergrößertes Geweih spannte bis über drei Meter weit und erreichte Gewichte von mehr als 50 Kilogramm. Er war auch massiger als die größten gegenwärtig noch lebenden Hirsche, die nordischen Elche Eurasiens und Nordamerikas. Seine Größe und sein Geweih, das wie alle Hirschgeweihe in wenigen Monaten heranwächst und später, meist am Ende des Winters, wieder abgeworfen wird, drücken aus, dass die eiszeitliche Tundra viel produktiver gewesen sein muss als die Wiesen, Moore und Wälder, von denen sie nacheiszeitlich abgelöst worden war. Wie sonst hätten Hirsche in wenigen Monaten die Mineralstoffe für solch riesige Geweihe in ihrem Stoffwechsel bereitstellen können? Die eiszeitlichen Böden und die Pflanzen, die darauf wuchsen, sind sehr reich an Nährstoffen gewesen. Ihr »Erbe« steckt noch in den heutigen Löß- und Lößlehmböden, die den Gegenden, wo sie vorkommen, beste Wachstumsbedingungen für Getreide bieten, sofern die Witterung dazu passt. Der eiszeitliche Wind, der vor allem zwischen den beiden großen Eisschilden Nordeuropas und den Gebirgsmassiven der Alpen und Zentralasiens ostwärts wehte, lagerte den Löß ab. Seit Jahrtausenden ermöglicht dieser fruchtbare Eiszeitboden in Nordchina ertragreichen Ackerbau. Immer noch sind dort stellenweise die Lößschichten Dutzende von Metern dick, obgleich der Erosion schon sehr viel Boden anheimgefallen ist. Der »Gelbe 18
Fluss«, der Hwangho, erhielt von der Fracht an Löß, den er einen Großteil des Jahres mit sich führt, seine treffliche Bezeichnung. Der Eiszeitwind wehte Jahrtausende lang. Daher kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass die Eiszeit und das westliche Europa den Fernen Osten, von der Mongolei bis ans Gelbe Meer, so fruchtbar gemacht haben. Wie umgekehrt die Passatwinde mit ihrer Staubfracht aus den Wüsten von Nordafrika den Regenwäldern Amazoniens Fruchtbarkeit bescheren. Der Schirokko weht aus der Sahara Wüstenstaub als Naturdünger in das Mittelmeer hinein, das ohne diese Düngung eine fast tropisch-schwache Produktivität an Fischen und anderen Meerestieren aufweisen würde. Nur die Flussmündungen bringen Nährstoffe, doch da die Flüsse während der eigentlichen Eiszeiten, der Glaziale, sehr viel weniger Wasser führten als in den wärmeren Zeiten, ging auch ihr düngender Effekt zurück. Denn die Niederschläge hatten global stark abgenommen, weil so viel Wasser an beiden Polen im Eis gebunden war. In der Eiszeit entwickelten sich wahrscheinlich die Wanderungen der Lachse und anderer Fische, weil die Jahreszeiten in den Flüssen viel stärker wechselten als in den Perioden mit ausgeglicheneren Niederschlägen und beständig fließendem Grundwasser. Dieses war durch den Dauerfrostboden weitgehend blockiert, und über weite Regionen floss es während der monatelangen Frostperioden der eiszeitlichen Winter gar nicht mehr. Dieses Klima dürfte jedoch mit trockener Kälte durchaus angenehmer für die Menschen und für die auch im Winter aktiven Tiere gewesen sein, weil Feuchtigkeit dem Körper sehr viel schneller Wärme entzieht und nasse Felle nicht mehr isolieren. Brennholz brauchten die Eiszeitmenschen kaum, zumal das Fleisch der Großtiere viel Fett enthielt und reiche Ernten von Beeren im Herbst die Ansammlung von Fettvorräten im Körper ermöglichten. Die großen Bären, die es damals in noch größeren Formen als in der Gegenwart gab, schöpften aus dieser Beerennahrung ihre Vorräte an Fett für die lange Winterruhe. Die meisten Tiere zwang 19
jedoch der Wechsel von Sommer und Winter zu ausgedehnten Wanderungen. Die Menschen mussten ihnen folgen, um überleben zu können. Sesshaftigkeit passte gar nicht zur natürlichen Entwicklung der Art Mensch; sie brachte in der Tat die größten Schwierigkeiten mit sich. Das gilt bis heute. Immer wieder bricht sich der tiefverwurzelte Nomadismus der Menschen Bahn. Auch das ist zu berücksichtigen, wenn wir die Veränderungen im letzten Jahrtausend betrachten. Sie sind ein winziger Ausschnitt aus der Naturgeschichte des Menschen. Die natürlichen »Vorgaben« wirken auf uns in doppelter Weise. Erstens durch die unmittelbaren Verhältnisse und ihre aktuellen Veränderungen. Zweitens über die angeborenen Neigungen und Bedürfnisse. Diese bilden als äußerer Rahmen und innere Zwänge (constraints) die Gegenspieler zu den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen, die sich als Druck äußern können. Die Natur schränkt die Möglichkeiten ein, auch wenn wir uns über sie hinwegsetzen wollen. Solange die Menschen noch in Familienverbänden oder Clans nomadisch umherzogen und sich als Jäger und Sammler selbst versorgten, blieben die Freiheitsgrade groß und offen. Das »freie Leben« der »edlen Wilden« wurde daher insbesondere seit der Zeit der Romantik verklärt und verherrlicht. Vielfach dient auch heute größere Freiheit als Vorwand, wenn »ausgestiegen« werden soll oder »die Natur als Vorbild« gesucht wird. In Wirklichkeit war gerade die Freiheit der Nomaden ganz besonders stark von den Zwängen der Natur eingeengt. Der schönste Platz nützte nichts, wenn er nicht ausreichend Nahrung und Wasser bieten konnte. Wer mit der gebotenen kritischen Distanz die verbliebenen Wildnisse unserer Zeit betrachtet, wird nicht umhinkommen festzustellen, dass man als Mensch darin ohne Hilfe von außen längerfristig nicht überleben kann. Es waren daher ganz bestimmte Gebiete und klar erkennbare Umstände, die durch Überwindung der »Wildnis« die Kultur mit dauerhaften Ansiedlungen von Menschen ermöglicht hatten. Die Menschheit breitete sich nacheiszeitlich 20
keineswegs »gleichmäßig« über den Globus aus. Riesige Räume blieben dünn besiedelt oder wurden nur vorübergehend genutzt, wie etwa die Regenwälder Amazoniens oder die nordische Taiga, der größte Landlebensraum überhaupt. In der Sahara mit ihren Oasen gab es in frühgeschichtlicher Zeit großflächig schon mehr Menschen als in Amazonien oder Sibirien. Von den Naturgegebenheiten her betrachtet ist es auch nicht verwunderlich, dass die Menschen bergwärts strebten. Frühzeitig entwickelten sich Kulturen und Hochkulturen in eisigen Höhen, die durch ihre Naturbedingungen landwirtschaftlichen Ertrag und ein gesundes Klima garantierten. Das gilt für die Andenhochländer in Südamerika wie für Tibet, den Altai, den Kaukasus und andere asiatische Hochgebirge sowie auch für die Alpen, deren Name ursprünglich etwa »hochgelegene Weiden« bedeutet hatte. Die Entwicklung der Menschheit in den ersten 10000 Jahren nach der letzten Eiszeit folgte ganz klar dem von der Natur vorgegebenen Grundmuster aus Bodenfruchtbarkeit und Klima. Auch die Ausbreitung der Menschen lässt sich in direkten Zusammenhang mit diesen Naturgegebenheiten und ihren Veränderungen bringen. Sesshaftigkeit und das von ihr ausgehende starke Wachstum der Bevölkerungen fingen etwa in der Mitte der letzten 10 000 Jahre und in der klimatischen Mitte zwischen dem kalten Norden und den Tropen an. Der Raum des Mittelmeeres hieß eigentlich recht bezeichnend »Mittelland«, Mediterraneis, vom lateinischen medius terrae abgeleitet. Denn vor 5000 bis 2000 Jahren war es wirklich das günstig gelegene mittlere Land zwischen der Kälte im Norden, von wo »Boreas«, der Nordwind, herwehte und die Kälte mitbrachte, und dem heißen Süden, wo die »Menschen mit den verbrannten Gesichtern«, die Aethiops, lebten. Während des nacheiszeitlichen Wärmeoptimums verhielt es sich jedoch noch deutlich anders. Da hatte es im Zentrum Asiens offenbar die günstigsten Lebensbedingungen gegeben, denn es waren die ural-altaischen Völker, die sich von diesem innerasiatischen Zentrum aus massiv ausbreiteten 21
und den ganzen Norden Eurasiern bis in den Fernen Osten sowie den Südwesten Asiens als Kaukasier mit den Stämmen der Indo-Europäer buchstäblich überschwemmten. Die gemeinsame Erforschung der Sprachen und Sprachfamilien mit der Verbreitung und Ausbreitung von Genen führte die moderne Forschung auf die Spur dieses ural-altaischen Zentrums (Cavalli-Sforza 2001). Der kaukasische Großraum deckt sich mit beiden wesentlichsten Errungenschaften der sesshaft gewordenen Menschen, nämlich den Wildvorkommen der wichtigsten Haustiere und der Kultivierung der Getreidepflanzen. Rind, Schaf und Ziege stammen von dort, und auch Gerste, Weizen und Roggen. Hier wurden schon sehr früh, wahrscheinlich während Wildgräser in Kultur genommen und zu Getreide gezüchtet wurden, Bier und Wein »erfunden«. Auch die wichtigsten Obstbäume stammen aus diesem Raum. Afrika lieferte hingegen keine oder in der Bedeutung nur nachrangige, viel »jüngere« Kulturpflanzen und vom global fast bedeutungslosen Perlhuhn abgesehen auch keine Haustiere, obgleich im Norden des Kontinents, in dem die Wurzeln der Menschheit stecken, zur Zeit der alten Ägypter höchst intensiv mit allen möglichen Tieren experimentiert worden war. Studiert man das aufschlussreiche Buch von Bössneck (1992) über die Tierwelt des alten Ägyptens, so drängt sich geradezu der Vergleich mit der spätzaristischen und sowjetischen Musterfarm Askania Nova auf, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also rund 3000 Jahre nach den alten Ägyptern, erneut versucht wurde, afrikanische Wildtiere zu Haustieren zu machen. Es misslang wiederum! Über den »Fruchtbaren Halbmond«, den Ausgangsbereich der westlichen Ackerbaukultur, ist deshalb ein viel größeres »asiatisches Kulturdreieck« zu setzen, dessen Spitze im UralAltai liegt. Der östliche Schenkel reicht von dort nach China und Japan, der westliche über den Kaukasus nach Europa, zur heutigen Türkei und in den östlichen Mittelmeerraum. Über Persien und Indien verbindet die Grundlinie die beiden 22
Schenkel dieses großen asiatischen Dreiecks, von dem alle wesentlichen Impulse, Neuerungen und Entdeckungen der Menschheit ausgegangen sind – die Schrift mit eingeschlossen. Und allen Ereignissen der Zeiten zum Trotz hat dieses asiatische Dreieck seine zentrale Bedeutung beibehalten, auch wenn sich die Gewichte in den verschiedenen Zeiten immer wieder verlagerten. Entlang seiner Grundlinie konzentriert sich der weitaus größte Teil der Menschheit: Europa, Vorderasien, Indien, China mit zusammen rund drei Milliarden Menschen. In seinem Spitzenbereich und an der westlichen Grundlinie befinden sich die mit weitem Abstand bedeutendsten Energiereserven. Aus diesem Dreieck gingen auch die drei einflussreichsten Denkweisen und Weltbilder hervor, das sino-japanisch östliche Denken, das islamisch südwestliche und das christlich-rationale des Westens. In den rund tausend Jahren um die Zeitenwende (unserer Zeitrechnung) formierten sich diese drei Weltbilder in der vergleichsweise großen (naturgegebenen) Stabilität der Lebensbedingungen des Fernen Ostens, im vom raschen Wechsel guter und schlechter Zeiten, die man hinnehmen musste, geplagten Südwesten und im auf die Veränderung der Natur mit Metall, Werkzeugen und Technik ausgerichteten europäischen Westen. Kein Raum von kontinentaler Dimension ist geographisch so reich an Erzen und zugleich so zerklüftet und zerrissen wie Europa, und nirgendwo sonst rückten die Wüsten so rasch vor wie in jenem südwestlich-asiatischen Teil, der von Natur aus Europa von Asien scheidet. Bis in die vorrömische Zeit waren die zentralasiatischen Wüsten noch nutzbar als Weideland und Heimat von Wildkamelen, aus denen die Hauskamele gezüchtet wurden. Die Sahara war noch weithin grün und ein wildreiches Savannen- und Steppenland. Im Hinterland von Karthago gedieh zu den Zeiten der größten Machtentfaltung Roms das Getreide so gut, dass Karthago zerstört werden musste, damit für Rom diese »Kornkammer« sicher war. Vorher waren die Hochkulturen im Zweistromland von 23
Euphrat und Tigris, wie auch die entsprechenden am Indus und am Unterlauf des Nils, durch günstige klimatische Verhältnisse zur Blüte gelangt. Ein zunehmend trockeneres (arides) Klima führte zur Versalzung und zum Rückgang der Erträge. Roms Macht schmolz nicht allein unter dem Ansturm der Barbaren dahin, denn das Reich hatte jahrhundertelang mit Erfolg expansiv gekämpft und bestanden. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten gab es zumindest im europäisch-westasiatischen Raum massive klimatische Veränderungen, die durchaus berechtigtermaßen als eine Kaltzeit zu kennzeichnen sind. Was folgte, ist historisch als »die Wirren der Völkerwanderung« bekannt. Aus dieser stieg das »Mittelalter« der europäischen Geschichte empor. Mit ihm soll die Rückschau beginnen. Denn seither gibt es genügend Aufzeichnungen auch über die Natur. Mit natürlichen Veränderungen hatten und haben zahlreiche Kulturen zu kämpfen, vor allem solche, die auf ertragreiches Kulturland oder auf künstliche Bewässerung angewiesen sind. Die ungleiche Verteilung von Wärme und Niederschlägen und die sich daraus ergebende Verfügbarkeit von Wasser nahmen stets maßgeblich Einfluss auf das Wohl und Wehe von Kulturen, von Völkern und Macht. Jared Diamond hat das in seinem großartigen Buch Arm und Reich ausführlich dargestellt und überzeugend begründet, warum es besondere, scheinbar vom Schicksal bevorzugte Gegenden auf der Erde gibt, von denen die Innovationen ausgingen und in denen sich die Machtzentren etablierten. Seiner Aufzählung im Originaltitel, den Waffen (guns), Krankheitserregern (germs) und Eisen/Stahl (steel) fehlen Klima und Boden als natürliche Grundlagen. Wie aber gezeigt werden wird, erzielten die Waffen und auch die Krankheiten ihre entscheidenden Wirkungen erst im Zusammenhang mit den klimatischen Veränderungen. Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsdruck führten zu Expansion und ermöglichten Eroberungen. Die von der Produktivität der Natur abhängige »Produktivität« der Bevölkerung entschied darüber, ob 24
Weltreiche, die aufgebaut wurden, Bestand hatten oder rasch wieder verschwanden. Oder ob die Bevölkerung mit fast ereignislosem, bedürfnisarmem Leben über Jahrhunderte und Jahrtausende politisch und historisch unbedeutend blieb. So lässt sich wohl nur unter Berücksichtigung der Umweltveränderungen verstehen, warum das größte zusammenhängende Reich, das Weltreich der Mongolen des Dschingis Khan, von so kurzer Dauer war, während China und Japan dagegen trotz so unterschiedlicher Größen und Naturgegebenheiten jahrtausendelang »stabil« blieben und weshalb Europa von Anfang an und immer wieder aufs Meer hinausgriff und darüber hinweg seinen Einfluss geltend machte. Im Europa so nahe gelegenen Afrika schien währenddessen die Zeit ähnlich stillgestanden zu haben wie im fernen Australien, bis vor erst 200 Jahren die Europäer auch in diese beiden Kontinente drängten. Jenseits von Afrika wurde Südamerika schon dreihundert Jahre früher »kolonisiert«, und an den Küsten von Nordamerika waren mindestens schon vor 1000 Jahren die Basken und kurz nach ihnen die »Nordmänner«, die Wikinger, tätig. Ungefähr zur selben Zeit tauschte sich Eurasien von Ost nach West bereits über die Seidenstraße aus, und noch ein Jahrtausend früher fuhren die Phönizier aus dem Mittelmeer in den Atlantik hinaus. All das sind ebenso wenig »Zufälligkeiten« der Geschichte, wie etwa das Erstarken und Vorrücken der Germanen und die Zerstörung des Weströmischen Reichs oder die geradezu explosive anfängliche Ausbreitung des Islams zufällig zustande gekommen sind. Die Geschichtswissenschaft sucht wie die Naturgeschichte nach »Gründen«, also Ursachen. Und sie weiß, dass selbst bei reichlich umfassender Kenntnis der Ursachen nicht alle Vorgänge und alle Zeitpunkte ihres Eintretens hinreichend erklärt werden können. Wir werden uns auch bei den naturgeschichtlichen Betrachtungen damit zufriedengeben müssen, Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen. Jede Zeit, die wir als Querschnitt durch den Zeitstrom betrachten, hat bereits ihre Vorgeschichte. Dennoch verbleiben 25
der jeweiligen Gegenwart Freiheitsgrade für die tatsächlichen Wege, die der weitere Gang der Geschichte nimmt. Wer diese Freiheit als das alleinige Kriterium für die Geschichte erachtet, bekommt allerdings eine zusammenhanglose Abfolge von Ereignissen, die ähnlich spannend ist wie das Auswendiglernen von Jahreszahlen im Geschichtsunterricht der Schulen. Für die Frage, wie denn für uns die Zukunft werden könnte oder wie es nicht weiterlaufen sollte, brauchen wir als Standortbestimmung eine Geschichte mit Ursachen und Gründen. Denn nichts entsteht ganz neu. Das trifft sowohl für die Klimaveränderung als auch für die sozialen und politischen Veränderungen in den Gesellschaften und Staaten zu. Wenn die Menschheit als Ganzes wächst, aber unsere Bevölkerungen und der Anteil Europas an der Globalbevölkerung schrumpfen, so ergeben sich zwangsläufig andere Schlussfolgerungen dafür, wie den globalen Veränderungen, dem global change, begegnet werden soll, als für sich rasch entwickelnde Bevölkerungen wie in Indien, China oder Brasilien. Wir brauchen zweifellos Perspektiven für die Zukunft. Die Gegenwart allein reicht dafür nicht aus. Unzutreffende oder gar falsche Schlussfolgerungen aus der Geschichte lassen sich durch bessere Daten und gründlichere Forschungen korrigieren. Wenn vermeintliche Zusammenhänge so nicht gegeben sind, können die Folgerungen daraus abgeändert werden. Ganz gewiss war die Zeit unmittelbar vor unserer Gegenwart nicht der einzig richtige Zustand der Erde. Das lehrt die Geschichte auf jeden Fall. Doch was sich früher unter welchen Bedingungen ereignete, kann zumindest vernünftige Überlegungen zu den gegenwärtigen Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen ermöglichen. Allein schon deshalb, weil es stattgefunden hat und Menschen darauf reagierten, ist das Vergangene aufschlussreich. Wir können uns fragen, wie wir in entsprechender Lage reagieren würden oder uns verhalten könnten. In seinem jüngsten Buch Kollaps hält uns Jared Diamond (2006) die Geschichte ausgewählter Kulturen vor. Manche gingen unter, 26
Abb. 1: Verlauf der spät- und nacheiszeitlichen Klimaentwicklung in Mitteleuropa nach den Befunden der Pollenanalysen (nach Kahlke 1994, verändert). andere überlebten. Was hatten sie falsch oder richtig gemacht? Seine Interpretationen fordern eine kritische Auseinandersetzung heraus, bei der es wirklich nicht darum geht, ob er recht hat oder nicht, sondern was diese Szenarien für unsere Zukunft bedeuten. Denn Fortschritt des Wissens und hinreichend gute Zukunftsaussichten bestehen in der Korrektur von Fehlern und liegen nicht im blinden Glauben an unumstößliche Wahrheiten oder der sturen Nachfolge von einmal als »gut« erkannten Meinungen. Die Gegenwart ist stets Vergangenheit und Zukunft zugleich. Geschichte der Menschen und Naturgeschichte beinhalten Veränderung als unumstößliche Realität. Stabilität trat in den letzten 10000 Jahren allenfalls kurzzeitig und vielleicht nur scheinbar auf, weil wir das Ausmaß der tat27
sächlichen Veränderungen noch nicht erkennen können. Das Klima schwankte seit dem Ende der letzten Eiszeit, und zwar ganz erheblich (Abb. 1). Die beiden letzten größeren Schwankungen fallen in das letzte Jahrtausend mit dem »Mittelalterlichen Klima-Optimum« und der »Kleinen Eiszeit«. Vor 1000 Jahren war es mindestens so warm wie gegenwärtig. In den letzten 500 Jahren drückten extrem kalte Winter die Durchschnittstemperaturen bis in das 19. Jahrhundert hinein und veränderten die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen in weiten Bereichen Europas ganz gewaltig. Ist aber der hier näher betrachtete Großraum von Europa mit seinen rund 10 Millionen Quadratkilometern Landfläche groß genug für eine globale Betrachtung? Selbst wenn diese Frage verneint werden müsste, ändert das nichts an der Tatsache, dass Europa für uns, die wir in Europa leben, von erstrangiger Bedeutung ist. Keiner Bevölkerung wird man das Vorrecht abstreiten können, Gegenwart und Zukunft auf sich bezogen zu betrachten. Wenn andere Bevölkerungen dies zum Vorwurf machen, urteilen sie damit bereits auf genau die gleiche subjektive Weise. Es bleibt China mit seiner mindestens so langen Geschichte, wie wir sie in Europa vorweisen können, unbenommen, aus eigener Sicht Vergangenheit und Gegenwart zu werten und daraus für die Zukunft Schlüsse zu ziehen. Das gilt für alle Völker und Kulturen. Als viel problematischer erweist sich dagegen unsere üblich gewordene Vorgehensweise, scheinbar nicht zuerst an uns zu denken, sondern gleich für die ganze Welt das Richtige verkünden zu wollen. Würden hingegen die unterschiedlichen Gewinne und Einbußen von Veränderungen jeweils fair dargelegt, könnten die für die Zukunft notwendigen Maßnahmen leichter verhandelt und umgesetzt werden. Auch dafür liefert die Geschichte viele aufschlussreiche Beispiele von Gewinnern und Verlierern. Die Zerschlagung des Weströmischen Reiches kam zunächst den südwestwärts in den wärmeren Raum drängenden Germanen zugute, dann aber eröffnete das nordafrikanische Machtvakuum den Ära28
bern mit dem Islam eine rasche Ausbreitung. Für wen war die Klimaveränderung, die im Hintergrund mitspielte, nun von Vor- oder Nachteil? Und wie lange hielten die Verschiebungen von Macht und Einflusssphären an? Wiederum pflegen wir in unserer Zeit davon auszugehen, dass die Menschheit zur Ruhe gekommen sei, obgleich bekanntlich Afrikaner in Massen nach Europa, Lateinamerikaner nach Nordamerika und Asiaten in alle Welt drängen. Das Migrationsproblem ist ungelöst, solange lediglich »Qualifizierte« willkommen sind, die große Masse aber mit Macht abgewehrt werden muss. Als noch vor gut 100 Jahren Millionen Europäer nach Nord- und Südamerika auswanderten und den amerikanischen Doppelkontinent wie auch auf der anderen Seite des Globus Australien europäisierten, fragten sie nicht, ob das der heimischen indianischen Bevölkerung oder den Aborigines passte. Jetzt tun wir, die Europäer in Europa und in den »neuen Europas« (Crosby 1986) in Amerika und Australien, so, als ob das ganz unerhört sei, weil die anderen in gleicher Weise zu uns kommen wollen! Fast stets steckt im Hintergrund solcher Spannungen Bevölkerungsdruck, der sich aufgebaut hat. Auch dieser ist eine Folge des günstigeren Klimas der letzten 150 Jahre, und nicht bloß die Verlockung, die von »den Reichen« ausgeht, begünstigt die Migrationen. Wir haben also eine ganze Anzahl guter Gründe, beim sorgenvollen Blick in die Zukunft gründlicher als bisher die Vergangenheit zu betrachten. Sie wurde geformt von der sich ändernden Natur und überformt durch die von den Menschen vorgenommene Veränderung der Natur. Unsere Vergangenheit ist Geschichte und Naturgeschichte zugleich. Dies zu verdeutlichen ist das zentrale Anliegen meines Rückblicks auf das letzte Jahrtausend, das für uns einfach deswegen das wichtigste ist, weil es das letzte ist und unsere Gegenwart begründet hat.
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Rückblick auf das 2. Jahrtausend
1. Das Mittelalter Die Krönung Karls des Großen im Jahre 800 unserer Zeitrechnung markiert mit der Prägnanz eines selten »glatten« historischen Datums den Beginn einer Geschichtsepoche, die rund fünf Jahrhunderte andauerte. Das »Mittelalter« bezeichnet sie die Geschichtsschreibung der neueren Zeit. Wie immer bei historischen Vorgängen lassen sich die Grenzen nicht scharf ziehen. Die Zeiten gehen fließend ineinander über. Aber in der groben Abfolge, gleichsam aus der Ferne betrachtet, passt die zeitliche Einordnung ganz gut: Das (West)römische Reich war untergegangen. Rom stellte in Europa politisch keine Großmacht mehr dar. Es war nach langem Abwehrkampf dem Ansturm der Barbaren erlegen. Jahrhunderte der Wirren folgten. Die Völker suchten neue Heimaten. Kreuz und quer zogen sie über Europa hinweg. Die Bewegungen waren nicht chaotisch, auch wenn die Völkerwanderung Chaos auslöste und die alte Ordnung zerstörte. Die allgemeine Richtung war und blieb eindeutig. Wie Schwärme von Zugvögeln wandten sie sich nach Südwesten und Süden, aber ohne feste Kurse, weil sie das Ziel gar nicht kannten. Was sie antrieb, waren Wunsch und Notwendigkeit, wegzukommen von den Regionen, in denen sie vorher gelebt hatten; weg aus dem Norden und Osten. Ihre Richtung wies die Sonne. Sie zogen ihr entgegen nach Süden hin zum Schwarzen Meer, nach Südwesten hinein ins Kernland von Mitteleuropa und vor allem beiderseits um die Alpen zum 30
»richtigen Süden«, nach Iberien, Italien und nach Nordafrika. Germanenstämme wurden in jener Zeit Nordafrikaner. Das große Zuggeschehen der Völkerwanderung kam großenteils zum Erliegen, als sich das Frankenreich Karls des Großen zur neuen Großmacht in Europa etablierte und stabilisierte. Sein baldiger Zerfall in die beiden Hauptteile, die anschließend mehr als ein Jahrtausend lang immer wieder miteinander rivalisierten und um die kontinentale Vorherrschaft stritten, führte im Jahre 962 unter Kaiser Otto dem Großen zur Bildung des ›Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation‹. Es hatte Bestand, bis es 1806 vom selbstgekrönten Kaiser des westlichen Frankenreichs, von Napoleon I., vollends zerschlagen wurde. Die eigentliche Macht, vor allem aber die Vormachtstellung in Europa, so wie sie ein Jahrtausend davor das Imperium Romanum innegehabt hatte, verlor das Heilige Römische Reich deutscher Nation jedoch bereits 300 Jahre früher in der großen Wendezeit um 1500. Die neuen Kraftzentren hatten sich damals von Mitteleuropa westwärts nach Iberien verlagert, und sie schoben sich in der Folgezeit an der Westseite Europas nordwärts über Frankreich nach England vor und griffen schließlich über den Nordatlantik hinüber nach Nordamerika. Südamerika, das von Iberien aus als erste Großregion Amerikas europäisiert worden war, erreichte bis in die Gegenwart nie eine größere Machtstellung oder gar weltpolitische Bedeutung. Doch dieser Hinweis greift zu weit vor. Blenden wir zurück. In höchst merkwürdiger und historisch einzigartiger Weise fühlte sich das neue Großreich an das alte Rom gebunden – so sehr, dass es sich als ›heilig‹ und ›römisch‹ bezeichnete und sich seine Kaiser, wie andere Nationen auch, von Gottes Gnaden geben ließ, aber vom Stellvertreter, dem Papst, ernennen und krönen ließ. Das Reich war eine Zusammenballung und Mischung unterschiedlichster Völker und keineswegs eine Nation im Sinne des Wortes – und es wurde auch nie eine Nation daraus. In dieser Hinsicht unterschied sich das Gebilde sehr stark von einem 31
in Flächenausdehnung und Bevölkerungsgröße durchaus vergleichbaren Komplex unserer Zeit, den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Während in den USA die einigende Kraft in Freiheit (libertas) und Sprache (amerikanisches Englisch) besteht, aber Herkunft und Kultur der Menschen keine Rolle spielen oder spielen sollten, war es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation eben nicht die Nation, sondern das Heilige der römischen Kirche und des Papsttums. Nicht einmal einer gemeinsamen Sprache, einer lingua franca, bedurfte es, weil Latein als »Staatssprache« der Kirche schon vorhanden war. Vom Klerus, insbesondere vom Mönchstum getragen, blieb Latein der Kirche und der Wissenschaft vorbehalten. Im täglichen Leben spielte es nahezu keine Rolle. Bis heute gelang es auch keiner Sprache Europas, die Vorherrschaft zu gewinnen. Es dominiert keine Nationalkultur. Hinsichtlich der Religion spaltete sich Europa im Verlauf einiger Jahrhunderte in jene drei großen Teile des Christentums, die sich nach dem Zerfall des römischen Weltreichs den historisch-römischen Grenzen gemäß herausgebildet hatten: Ostrom und Westrom, Byzanz und Rom also, mit der Orthodoxie und dem Katholizismus zunächst, dann Germanien und »Romanien« mit der Spaltung in die reformierten evangelischen Kirchen und dem der Kontinuität und römischen Tradition verhafteten Katholizismus. Die Grundmuster dazu waren angelegt oder existierten bereits, als das Reich geeint worden war und kurz vor der ersten Jahrtausendwende zum Imperium aufstieg. Der selbst schon ein Jahrtausend alt gewordene, politisch längst bedeutungslose Limes, der das Imperium Romanum von der barbarischen Welt der freien Germanen und Slawen trennte, wirkte dennoch wie auf geheimnisvolle Weise fort. Dass er zugleich – und ziemlich genau – der Grenze des Weinbaus entsprochen hatte, mag hier wie ein lächerliches Detail wirken. Aber es wird sich zeigen, dass solche Grenzmarken aus der Natur keineswegs historisch bedeutungslos sind, sondern als Weiser für 32
natürliche Gegebenheiten und Möglichkeiten mehr verraten als mancher Krieg und Sieg. Das neue Reich hatte nun die Außengrenzen neu gezogen. Nicht fest, wie bei den Grenzen von Völkern und Nationen, sondern locker und flexibel, wie bei Bündnissen zu gegenseitigem Nutzen. Die im Reich zusammengeschlossenen Völker und regionalen Herrschaftssysteme aller Hierarchieordnungen, die bis zu Königen reichten, bildeten eine Art politischer Symbiose. Sie ermöglichte weitgehend freie Beweglichkeit zwischen dem skandinavischen Norden und dem maurischen Süden, zwischen den selbständigen, gleichwohl aber christlichen und damit auch der Oberherrschaft des Papstes verbundenen Staaten des Westens und dem bedrohlich gewordenen Südosten, wo sich der Islam als Großmacht etablierte und Ostkaiser wie Ostkirche bis zum Fall von Konstantinopel bedrohte, um danach auf dem Balkan von der anderen Seite auf europäischen Boden vorzudringen, wie das im Südwesten früher schon die islamischen Mauren mit großem Erfolg getan hatten. Dass auch sie, die Gotteskrieger jener Zeit, an Grenzen haltmachten, die sich bei der Beachtung der natürlichen Gegebenheiten als echte Grenzzonen darstellen und nicht bloße Kartengrenzen von Atlanten gewesen sind oder nach Lage der politischen Machtverhältnisse beliebig waren, blieb weitestgehend unbemerkt. Warum sollte den Mauren im atlantischen Nordwesten Spaniens die Kraft ausgegangen sein, wenn sie sich in Cordoba und Sevilla so erfolgreich und so großartig hatten festsetzen können und rasch eine großartige Kultur (!) aufbauten? Warum musste Sizilien fallen, das vom italienischen Festland aus sehr viel leichter hatte versorgt und verteidigt werden können als von Afrika her, von wo die islamischen Eroberer kamen? Warum war es Jahrhunderte davor, in Rom vor der Zeitenwende, so wichtig, dass der Sizilien gegenüber beim heutigen Tunis gelegene Stadtstaat Karthago erobert wurde, wenn später nicht einmal der italienische Süden so viel zählte, dass ihn das großmächtige Heilige Römische 33
Reich deutscher Nation wieder zurückgewinnen wollte? Es dauerte merkwürdig lange, bis dieser Rom so nahe gelegene Süden Italiens, der Mezzogiorno, wieder zurückerobert wurde. Wollen wir das geographische Bild des Reiches bei der Gründung und in den Jahrzehnten danach verstehen, reichen die üblichen historischen Schulbuchfakten offenbar nicht aus. Zu viel bleibt ungereimt, unlogisch oder geradezu unerklärlich in jener Zeit des aufsteigenden Mittelalters, in dem Staat und Kirche die größte Macht und die besten Möglichkeiten zur Einigung und Vereinheitlichung besessen hatten. Die heute so gefürchtete Globalisierung blieb damals, unter zweifellos günstigen Rahmenbedingungen, unerklärlicherweise aus. Europa differenzierte sich im Innern weiter und unternahm recht plötzlich einen Feldzug gegen »das Böse«, wie er vorher beispiellos in der Geschichte war. Mit dem Schlachtruf »Gott will es« befreiten beim ersten Kreuzzug im Jahr 1099 die christlichen Heere Jerusalem von den Mohammedanern. Das Neuartige war, dass damit keine territorialen Eroberungen nennenswerten Ausmaßes verbunden worden waren. Die Kreuzritter bauten sich zwar Militärstützpunkte an strategisch günstigen Stellen aus, wie auf Malta und auf Rhodos, aber es kam zu keiner Kolonisierung der eroberten Gebiete und zu deren Eingliederung ins Reich. Es ging offenbar auch gar nicht darum, die islamische Bevölkerung zu vertreiben, sondern »lediglich« um die Rückeroberung der heiligen Stätten der Christenheit. Der mittelalterliche Kampf der Kulturen war mit diesem sicher auch aus der ersten Überraschung der vorher so erfolgsgewohnten arabisch-islamischen Welt zu erklärenden Sieg nicht wirklich gewonnen. Das Drama hatte mit dem Fall von Alexandria im Nildelta angefangen und mit der raschen Expansion des Islams über Nordafrika bis nach Spanien die mediterrane Welt vermeintlich neu geordnet. Das Christentum brauchte lange, bis der Gegenschlag kam. Aber die orientalisch-islamische Macht war mit dem Fall Jerusalems alles andere als gebrochen, auch wenn die Gotteskrieger des Prophe34
ten erstmals erkennen mussten, dass ihnen ihre Siege bei der Ausbreitung der Lehre Mohammeds mit Feuer und Schwert vielleicht doch aus Gründen, die sie noch nicht einsehen konnten, zu leicht gefallen waren. Noch waren die Araber kraftvoll genug, zurückzuschlagen. Noch längst aber waren sie nicht so stark, wie sie das Jahrhunderte später wurden, als sich im kleinasiatischen Keil, den Asien gegen Europa drückt, mit den asiatischen Türken eine neue islamische Großmacht aufbaute. Im mittelalterlichen Kampf der Kulturen schickten das Heilige Römische Reich und seine in diesem Ziel der Befreiung der Ursprungsgebiete der Christenheit Verbündeten, die vor allem aus Frankreich kamen, Heer um Heer; angeblich sogar mit Kindern im »Kinderkreuzzug«. Was geschah damals wirklich? Die historischen Angaben liefern Fakten, die eines Umfeldes bedürfen, um sie verstehen zu können. Fragen wir nicht allein nach dem Geschehen als solchem, so wie es geschichtlich dokumentiert ist, sondern auch danach, wie es überhaupt möglich war, dass Kreuzzüge zustande kamen. Was »tat« die islamische Welt der europäischen Christenheit? Hätte man es nicht dabei bewenden lassen können, die »Afrikaner«, die Mauren, aus Spanien und Sizilien zu vertreiben, also aus jenen europäischen Gebieten, die von ihnen besetzt worden waren? Diese Teile des alten Europas wären damit wieder »heimgeholt« und christianisiert gewesen. Klare Grenzen hätten sich ziehen lassen. Byzanz, Ostrom, Bruder der römischen Christenheit, hätte politisch und militärisch gestärkt werden können, um auch dort gegen die arabisch-islamische Welt eine klare Grenze zu bekommen. Der Aufwand wäre gewiss viel geringer gewesen als die Kreuzzüge. Noch schärfer gefragt: Wären Militärstrategen auch so vorgegangen wie die Päpste, die zum Kreuzzug aufriefen? Hätte christliche Gesinnung, die auf der reinen Lehre Christi aufbaut, überhaupt zu den Waffen rufen dürfen? Was konnte ein Papst im Sinn gehabt haben, der sich in einer vergleichbaren Rolle wie heute der Generalsekretär der Vereinten 35
Nationen befand, nämlich moralisch eine Weltmacht zu sein, aber ohne Truppen und Waffen, um seine theoretische Macht in eine wirkliche umzusetzen? Warum lieferten ihm die wirklich Mächtigen die Truppen für die Kreuzzüge? Um welche Mittel und Ressourcen könnte es den weltlichen Herrschern, den Kaiser eingeschlossen, gegangen sein, als sie ihre Heere auf den Weg nach Palästina schickten? Den Spaniern ging es ein halbes Jahrtausend später ganz klar um Gold, als sie nach Südamerika fuhren und dieses plünderten, auch wenn sie Gott vorgaben. Um wirtschaftliche Macht und neue Märkte ging es bei wohl allen späteren »Kreuzzügen«, gegen wen auch immer sie gerichtet waren, wenn keine unmittelbare territoriale Eroberung, die Ausweitung von »Lebensraum«, klar erkennbar im Vordergrund stand. Die Kreuzfahrer raubten bereitwillig die heiligen Stätten aus und brachten alles Mögliche (und Unmögliche) als Reliquien für die heimischen Kirchen und Klöster mit. Noch einmal strategisch nachgefragt: Hätten gute Verträge mit den Mächtigen an den heiligen Stätten der Christenheit nicht viel mehr bewirken können als die Kreuzzüge, die so viele Tote gekostet und so wenig gebracht haben? Wer waren letztlich die Gewinner? Die alten Römer hätten im Senat ihre berühmte Frage Cui bonum? (Wem nützt es?), in aller Schärfe den Feldherren und Strategen entgegengeschleudert, gleichgültig ob diese siegreich oder geschlagen zurückkehrten. Wem nützten die Kreuzzüge? Die Antwort steckt vielleicht in der Natur und ihrem Wirken auf die Bevölkerung. Wir haben für diesen Verdacht einige starke Hinweise. So kam es im Hochmittelalter zu zwei eng miteinander zusammenhängenden Entwicklungen, die bis heute den Zustand der Länder Europas, vor allem aber jenes Raumes prägen, den wir in Mitteleuropa weitgehend gleich dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation setzen können. Hier fanden zunächst die großen frühmittelalterlichen Rodungen statt, die aus Landstrichen Kulturland machten, die Tacitus zwar sicher übertrieben, aber nicht so ganz zu Un36
recht, mit »finsteren Wäldern« (Germaniens) charakterisiert hatte. Bald gab es kaum noch Wälder im großen Reich (Küster 1996). Dann kam es zur einzigartigen Welle von Städtegründungen (Abb. 2). Diese erreichte bezeichnenderweise ihren Höhepunkt zwischen 1150 und 1200 und fiel vor 1300 steil ab. Eingesetzt hatte sie zu Beginn der Kreuzzüge. Städte wie München reichen mit ihrer Gründung im Jahre 1158 (durch Heinrich den Löwen) auf genau diese Zeit der hochmittelalterlichen Kreuzzüge zurück, und viele hatten erfolgreich Bestand. Beides hängt offensichtlich miteinander zusammen, die Rodung der Wälder und die Gründung der Städte. Es hätte jedoch sicherlich keinen Bedarf an neuen Städten gegeben, wenn die Bevölkerung nicht ungewöhnlich stark angewachsen wäre. Und sie wäre nicht gewachsen, wenn es nicht neue Ländereien gegeben hätte, von denen die zunehmende Zahl
Abb. 2: Städtegründungen in Mitteleuropa von 1150 bis 1800 (Daten aus Wiese & Zils 1987). 37
von Menschen ernährt wurde. Bevölkerungswachstum setzt Ressourcen voraus. Tatsächlich dürfte sich im Hochmittelalter die Bevölkerungszahl im Heiligen Reich verdoppelt haben. Im Mittelalter gab es keine Alternative zur direkten Ernährung vom Land. Ferntransporte großer Mengen von Grundnahrungsmitteln gab es noch nicht – von Hafenstädten abgesehen, wo schon seit dem Altertum eine externe Versorgung Grundlage für ihr Aufblühen, Anwachsen und ihre wirtschaftliche Prosperität gewesen war. Gegenden wie die Umgebung von München hätten ohne die vorausgegangenen frühmittelalterlichen Kultivierungen bis hin zur Urbarmachung der Moore keinen Bevölkerungszuwachs hervorbringen können, der es Fürsten wie Heinrich dem Löwen erlaubt hätte, einfach neue Städte zu gründen. Auch wenn es im Fall Münchens einen guten Grund gegeben hatte, die Vorherrschaft von Freising über die mittlere Isar zu brechen und dem dortigen Bischof die Brücken- und Flusszölle streitig zu machen. Dennoch setzt das Gelingen der Konkurrenz das Vorhandensein von Bevölkerungsreserven voraus. Sicherlich gilt die gleiche Argumentation in so gut wie jedem anderen Fall erfolgreicher Neugründungen: Die Orte lagen nicht nur strategisch günstig, denn die Gunst der Lage war schon jahrhundertelang gegeben, sondern es war der richtige Zeitpunkt, der den Erfolg brachte. Nichts ist aber in der Historie so spannend und aufschlussreich wie die Frage nach dem Zeitpunkt. Was ergibt sich aus diesen Überlegungen für das Reich und die Kreuzzüge? Können sie dazu verhelfen, die Vorgänge verständlicher zu machen oder die Ungereimtheiten zu klären? Greifen wir dazu den Faden der Geschichte ganz direkt auf. Wälder werden gerodet, Land wird urbar gemacht. Die Ernten fallen gut aus. Die Bevölkerung wächst. Neue Städte werden gegründet. So weit, so gut. Und weiter? Wächst plötzlich die Bevölkerung nicht mehr weiter? Und was, wenn doch? Ginge es nicht um Menschen, sondern um ein beliebiges Lebewesen, dessen Bevölkerung anwächst, so kommt es in aller 38
Regel zu zwei grundlegenden Reaktionen. Intern kommt es zu »Unruhen«, zu »Verteilungskämpfen« um Nahrung und andere lebenswichtige Ressourcen. Die nach außen gerichtete Reaktion zeigt sich in der Auswanderung. Sie stellt gleichsam das Ventil dar, das den Überdruck entlässt. Immer wieder und schubweise vornehmlich, weil sich der Überdruck im Innern nach jedem Aderlass erst wieder aufbauen muss. Das braucht Zeit. So betrachtet drängt sich eine Ähnlichkeit mit den historischen Großereignissen im Hochmittelalter auf. Die Kreuzzüge bilden das Ventil, aufgestauten Überdruck zu entlassen. Die Bevölkerung verlor für eine Reihe von Jahren jenen Überschuss, der im Innern am entbehrlichsten, gleichwohl aber am gefährlichsten ist, nämlich die Männer. Die allermeisten kamen auf der strapaziösen Reise oder im Kampfe um. Oder sie blieben als Ordensritter fern der Heimat an der Burgenfront. Im Hinterland konnten die überzähligen Männer nur zum Teil durch die Klöster absorbiert und der weiteren Fortpflanzung entzogen werden. Eine Senkung der Nachwuchsrate bewirken Frauenklöster viel besser, weil der Kinderzuwachs weit mehr an den fortpflanzungsfähigen Frauen als an den Männern hängt. Den Überschuss an Frauen, die nicht im Kindbett wegstarben, weil sie aus hinreichend guten oder besseren Verhältnissen stammten, übernahmen auch die in jener Zeit überall gegründeten Orden und Frauenklöster wenigstens zum Teil. Das Mittelalter war die große Zeit der Klostergründungen. Sie fingen im frühen Mittelalter an und gingen von Mönchen (natürlich) aus, die aus bereits übervölkerten Gebieten kamen. Wie die irischen Mönche, die Germanien das Christentum brachten. Jahrzehntelang nahmen die Klöster den Überschuss auf. Ihre Zahl und Ordensvielfalt konnte erhebliche Teile der Bevölkerung aus der Reproduktion nehmen. Dennoch wuchs das Volk weiter. Merkwürdig? Jahrhundertelang stagnierte die Bevölkerung in Europa oder ging sogar zurück. In den Wirren der Völkerwanderung, in der es wiederholt zu neuer Landnahme gekommen war, breiteten sich die Wälder aus, und die 39
Wüstungen nahmen zu. Zu Beginn der historischen Epoche des Mittelalters änderte sich dieser Trend rasch. Das Mönchstum machte einen gewaltigen Aufschwung durch, dem Frauenklöster folgten. Gegen Ende des Mittelalters erreichen die Klöster schließlich eine solche Macht, dass auf denkbar unheiligste Weise mit der sogenannten heiligen Inquisition zahllose Ketzer gesucht und vernichtet wurden – auch in Klöstern! Mächtige Orden wuchsen zu Konkurrenten des Papstes und des ihm direkt unterstellten Klerus heran. Gleichzeitig erstarkten Landesfürsten. Heinrich der Löwe beugte sich nur widerwillig dem Kaiser. Mancher Lokalherrscher schwang sich zu einem ›Kriegsherren‹ auf, der sich nicht wesentlich anders verhielt als die warlords unserer Zeit. Raubrittertum konkurrierte mit edlem Rittertum. Kaiser mussten sich dem Papst beugen, um ihre Macht nicht an die niedrigere Konkurrenz von Königen und Herzögen zu verlieren, die bereitwillig mit dem Stuhl Petri paktierten, um die Macht des Kaisers zu relativieren. All das sind Facetten eines Bevölkerungszustandes, der durch massive Zunahme in guter Zeit gekennzeichnet war. Was aber hätten Männerüberschüsse im Reich in dieser Zeit bedeutet? Auf jeden Fall eine Verminderung der inneren Sicherheit, denn leicht lassen sich aus kräftigen jungen Habenichtsen kampfbereite Söldnerheere heranbilden. Sie wirkten destabilisierend und endlos taktierend zum Beispiel in Italien (›Die Nase Italiens‹) direkt vor den Augen des Papstes. Später bildeten sie die Soldateska während des Dreißigjährigen Krieges und drückten einer Kriegsführung ihren Stempel auf, die schon nach kurzer Zeit kaum noch etwas mit dem Glauben zu tun hatte. Die Mächtigen in Kirche und Reich erkannten, wie unverzichtbar wichtig ein Aderlass ist, bei dem man waffenfähige junge Männer los wird, für die keine Frauen und keine Zukunft zur Verfügung standen. Die weitgehend rechtlosen Frauen auf dem Land hatten zudem den Gelüsten der Lehnsherren verfügbar zu sein, die jede Menge »natürlicher Kinder« zeugten, die jedoch von der Erbfolge ausgeschlos40
sen waren. Nichts konnte geeigneter sein als die Kreuzzüge, die Problematik, die sich aufgestaut hatte, zu lösen, weil der Kampf nicht nur direkt und äußerlich der Guten Sache der Christenheit diente, sondern im sehr wahrscheinlichen Todesfall auch gleich das Himmelreich garantierte. Im Falle des Verbleibens stand den Kreuzzüglern nicht einmal mehr ein Platz im irdischen Jammertal zur Verfügung. So nimmt es nicht wunder, dass in schärfstem Kontrast zu diesem macht- und bevölkerungspolitischen Vorgang Minnesang und Ritterlichkeit einen beispiellosen Aufschwung nahmen. Davor nahm die Gesellschaft kaum Anstoß an solch häufigen, geradezu natürlicherweise auftretenden Brüchen von Freundschaft, Ehre und Vertrauen, die zum Tode von Cäsar (»Auch du, mein Sohn Brutus!«) oder, im größten Epos des deutschen Mittelalters besungen, zum Untergang der Nibelungen führten. Es war immer riskant, das Spiel mit der Macht. Die Mächtigen taten gut daran, Vorkoster von ihren Speisen essen und von ihrem Wein trinken zu lassen. Doch die beste Methode war und blieb, vom gefährlichen Nachwuchs nicht mehr hochkommen zu lassen, als zur Aufrechterhaltung der eigenen Macht notwendig war. Kirche und weltliche Herrscher dürften sich in dieser unheiligen Allianz für die Kreuzzüge ziemlich einig gewesen sein. Das Mittelalter ist voller weiterer Beispiele hierfür. Stellen wir die Frage, warum es in den fünf Jahrhunderten zwischen 800 und 1300 unserer Zeitrechnung zu diesen Entwicklungen gekommen ist, vorerst noch zurück und begnügen uns mit dem Hinweis, dass in dieser Epoche auch andernorts und global entscheidende Veränderungen abliefen, von denen wir ganz sicher sein können, dass sie in keinem direkten Zusammenhang mit dem Geschehen in Europa, speziell in Mitteleuropa, standen. Denn es war etwas anderes, sehr Bedeutsames jenseits der (schwach gesicherten) Grenzen des Reiches im Norden und Nordwesten Europas in dieser Zeit in Gang gekommen. Während sich das Reich und seine westlichen und südwestlichen Nachbarn mit Blick nach Südosten der Befrei41
ung der Heiligen Stätten der Christenheit widmeten und einen Kreuzzug nach dem anderen auf den Weg brachten, bis sich das Verfahren von selbst erschöpfte, zogen andere nicht im Zeichen des Kreuzes, sondern mit wilden Drachenköpfen an ihren Schiffen raubend und mordend an den Küsten Westeuropas umher. Sie drangen auf den großen Flüssen weit ins Landesinnere hinein, erreichten über den Dnjepr das Schwarze Meer und den Herrschaftsraum des Ostreiches von Byzanz, gründeten entlang der Achse des Dnjepr von der Ostsee bis zum Schwarzmeer und zur Donaumündung das Reich der Rus und gelangten auf der Westseite Skandinaviens über den Norden der Britischen Inseln bis Island, Grönland und hinüber an die Küste von Labrador nach Nordamerika. Gemeint sind die Wikinger, auch Waräger oder Normannen genannt, die Leute von den Wijks, den Bootshäfen an Nord- und Ostsee. Ihre große Zeit fällt genau in diese Jahrhunderte, in denen sich in Zentraleuropa das Imperium der »deutschen Nation« begründete und für sich in Anspruch nahm, Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches zu sein. Die ehedem zentrale Achse des Mittelmeeres mit Italien und Rom hatte sich nordwärts verschoben, und die neue Machtentfaltung reichte weit über die Nordgrenze des Reiches hinaus in die Lande der »Nordmänner«, der Wikinger. Es lohnt, in kurzen Zügen ihre Machtentfaltung und ihren Niedergang nachzuvollziehen, weil das, was dort an der nördlichen Peripherie geschah, die Vorgänge im Süden und Südosten weitaus verständlicher werden lässt. Es hat sich nicht nur »etwas« getan im Norden Europas, sondern so viel wie noch nie in geschichtlicher Zeit und wie auch niemals mehr bis heute. Die Wikingerzeit begann kurz vor 800 und dauerte rund 300 Jahre lang. Das Wort ›Wikinger‹ stammt aus dem nordischen ›vikingr‹ und heißt schlicht und einfach Seeräuber. Als solche fingen die Wikinger auch an, sich (unangenehm) bemerkbar zu machen. Dennoch wäre es grundfalsch, sie nur als Räuber einzustufen, die nicht zu Land ihre Überfälle machten, son42
dem mit dem Schiff kamen. Denn sie bauten Reiche auf. Die Rus am Dnjepr mit ihrer Hauptstadt, aus der Kiew hervorging, sind schon genannt worden. Sie rückten aus dem Fokus der westlicher orientierten Geschichte, obgleich sie verständlich machen, warum die Ukraine nicht einfach Russland oder eine Provinz davon ist. Die germanischen Waräger, die dieses Reich am Flusslauf aufgebaut hatten, machten die Gegend, die sich ansonsten durch nichts Wesentliches aus den Weiten des Ostens heraushebt, zum Land an der Grenze (Krain, Kran(j)a, die Grenze, im bäuerlichen Deutsch noch gebräuchlich als Rain) zwischen Ost und West. Die von Mongolen und Tataren, von Kirgisen und Kasachen geprägten asiatischen Steppen fangen erst »dahinter« an. Der Korridor, den Nordgermanen in dieser Zeit von der Ostsee zum Schwarzen Meer schufen, als sie fast ein Jahrtausend später auf den Spuren ihrer fernen Verwandten, den Ostgoten, südwärts gezogen waren, wirkt de facto heute noch als »die Grenze« zwischen Europa und Asien, obwohl die beiden Landmassen von Natur aus eine untrennbare Einheit bilden. Doch während Gruppen und Verbände von Wikingern der Ostroute südwärts folgten, nachdem sie sich an der östlichen Ostsee schon fest siedelnd niedergelassen hatten, schwärmten andere westwärts aus und suchten die Küsten von ganz Nordwesteuropa heim. Sie bedrohten mit ihren Überfällen Frankreich, in dessen Kernland sie über breite Flussmündungen eindrangen, besetzten die ganze Nordkante des Landes, das sie zum Normannenland, zur Normandie, machten, besiegten mehrfach die Angeln und Sachsen auf den Britischen Inseln und wurden dort Normannenkönige, gaben sich mit dieser wintermilden Region Westeuropas jedoch nicht zufrieden, sondern schwärmten weiter aus zu neuen Ufern, bis sie schließlich das westliche Mittelmeer erreichten, mehrere Küstenstädte des karolingischen Reiches plünderten, im Königreich Italien bis Pisa und Livorno vordrangen, aber Rom unversehrt ließen. Im Nordwesten dehnten sie ihre Fahrten über 43
Island aus, erreichten Grönland und landeten in Nordamerika. Dieser Zweig der Ausbreitung ist besonders interessant, denn er betrifft von Europäern unbesiedeltes, aus dortiger Sicht »wildes« Land. Im Sommer des Jahres 982 segelte einer der berühmtesten Wikinger, Erik der Rote, mit einem kleinen ›Knorr‹, wie die hochseetüchtigen Schiffe der Wikinger hießen, und einer Gruppe verwegener Typen, die wegen irgendwelcher Vergehen in ihrer Heimat geächtet waren, über Island hinaus westwärts und erreichte Grönland. Grünland nannten sie das neu entdeckte Land, an dessen von Europa abgewandter Seite im Westen sie nun siedelten. Erik verbrachte drei Jahre auf Grönland, segelte zurück und holte weitere Kolonisten nach, die sogar noch höher im Norden, 640 Kilometer nördlich der ersten Ansiedlung, eine weitere Kolonie bildeten. Aus ihr entstand die sogenannte Westsiedlung am Gothabfjord. Das ganze Jahr über konnte dort Viehwirtschaft betrieben werden. 986 wurden nachkommende Wikinger im Sturm von Island an Grönland vorbei westwärts getrieben. Der Führer des Schiffes, von dem der Name Bjarni Herjolffson bekannt ist, sah wohl bewaldete, sanfte Hügel, bevor er wendete und nach Grönland zurücksegelte. Er hatte die Küste Nordamerikas gesehen. Der älteste der drei Söhne von Erik dem Roten, Leif Eriksson, der wohl 976 noch auf Island geboren worden war, vollendete, was sich damals schon angebahnt hatte. Gezielt segelte er im Frühsommer des Jahres 1001 mit einem gut ausgerüsteten Schiff von Grönland nach Westen. Er erreichte und schilderte ein Gebiet, bei dem es sich wahrscheinlich um die Küste von Baffinland gehandelt hatte. Nach Überquerung der heute Hudsonstraße genannten Meeresbucht traf er auf eine Küste, die als »eben und bewaldet, mit breiten weißen Stränden« geschildert wurde. Leif Eriksson nannte sie Markland. Die Nordmänner, für die auf Grönland wie auch auf Island Holz eine Rarität war, die allenfalls das Meer anspülte, bestaunten die großen Kiefern, die an der heute kanadischen Ostküste auf Labrador wuchsen. Vier Tage segelten sie noch weiter. Sie 44
sichteten »eine weitere Küste und landeten auf einer Insel im Norden des Festlandes«, wo sie ihr Winterlager errichteten. Dort gab es Fische in den Flüssen, reichlich Bauholz und Weide für das Vieh. Sie waren auf Neufundland angekommen. Als einer der Männer auch noch wilde Trauben entdeckte, nannten sie das neue Land ›vinland‹, Weinland. Diese Benennung irritiert Historiker wie Kartographen, weil dort auf Neufundland aus klimatischen Gründen kein Wein wachsen kann. Man argwöhnte, dass Übersetzungsfehler aus dem Altnordischen vorliegen, wo die Bezeichnungen für Wein und Weide sehr ähnlich klingen, oder dass Leif Eriksson seine Entdeckung des neuen Landes hatte »aufwerten« wollen. Die Wikinger meinten vielleicht süße Beeren (die es tatsächlich dort reichlich gibt), aus denen man eine Art von Wein machen kann. Aber in der Sage heißt es »Trauben vom Wein«. Leif Eriksson kehrte mit dieser Kunde nach Grönland zurück, wo er aber nach dem Tod seines Vaters den Hof führen musste. Es dauerte bis zum Jahre 1009, bis wieder Wikinger nach Nordamerika hinübersegelten und sich erneut niederzulassen versuchten. Sie trieben Handel mit den Indianern und den Eskimos, die sie Skraelinge nannten und wegen deren breitknochigen Gesichtern als mongolisch beschrieben. Ohne Nachschub aus den Kolonien oder vom Mutterland waren sie jedoch dem Untergang geweiht. Es wurde nichts aus der Ansiedlung von Nordeuropäern in Nordamerika, bis fast genau 500 Jahre später ein neuer Ansturm mit besseren Mitteln und weit größerer Bevölkerungszahl ankam. Hingegen hielten sich die Kolonien auf Grönland trotz nachlassender Versorgung durch Dänemark und Island noch lange, bis im 13. Jahrhundert die Krise kam und Brattahlid, die Westsiedlung, schließlich um 1500 aufgegeben werden musste. Die Wikinger hatten auf Grönland Viehwirtschaft betrieben und einige Jahrhunderte lang sogar Getreide angebaut. Wieder werfen diese ganz grob zusammengefassten Befunde die Frage auf, was die Nordmänner dazu bewogen haben 45
mochte, solche Unternehmungen zu machen. Die Bezeichnung »Wikinger«, also Seeräuber, verrät dazu nichts, denn Seeräuber gab es an allen Küsten und bei allen Küstenvölkern. Manche segelten sogar unter der Krone Ihrer Majestät und jagten die Galeonen Spaniens. Andere, wie die Korsaren des (westlichen) Mittelmeeres aus Korsika, räuberten auf eigenes Risiko, und es gab Piraten in der Straße von Malakka wie im Persischen Golf. Handelsschiffe zu kapern war ein altes Geschäft, wie die Wegelagerei und das Raubrittertum in den Schluchten des Balkans oder entlang der zentraleuropäischen Handelsstraßen. In gezähmter Form nennt man das Vorgehen inzwischen ›Zoll‹. Davor liegt die Grauzone des Mafiosen, die rasch in das Kriminelle übergeht. Doch mit den nordischen Seeräubern verhielt es sich anders. Sie raubten, was ihnen der Handel nicht mehr einbrachte, weil sich die landwirtschaftlichen Produkte, die sie aus dem Norden hätten liefern können, keiner entsprechenden Nachfrage mehr erfreuten. Die Handelswege waren ja vorhanden; seit vielen Jahrhunderten funktionierten sie. Bernstein von der Ostsee schätzten bereits die alten Griechen. Salzstraßen durchzogen Europa. Kunstgewerbliches tauchte an den entlegensten Orten auf, ohne geraubt worden zu sein. Eineinhalb Jahrtausende lang hatten Handelsschiffe aus dem Mittelmeer schon Routen nach England und in den Norden Europas genommen. Südschwedische Goten waren ans Schwarze Meer, nach Italien und nach Spanien gekommen, wo ihre ausgedehnten Niederlassungen einer ganzen Region den späteren Namen eingetragen haben: Catalunia, Gotalunia, Gotalandia, das Land der (West-)Goten. Doch die Wikinger suchten in krassem Gegensatz zu den Goten nicht im Süden nach neuem Siedlungsland, sondern im klimatisch kontinentalen Osten und im unwirtlichen Norden, wo sie bis an den Eisrand der grönländischen Arktis vorstießen. Den warmen Südwesten und Süden Europas suchten sie lediglich mit Überfällen von ihren schnellen Schiffen aus heim, mit denen sie nach Monaten der Seefahrt wieder in ihre Hei46
mathäfen zurückkehrten. Verlustreich müssen diese Einsätze dennoch gewesen sein. Die Gegenwehr war heftig, wo die Seeräuber rechtzeitig entdeckt wurden, und auf ihren kleinen Schiffen waren sie gefangen, wenn es ihnen nicht rechtzeitig gelang, das offene Meer zu erreichen. Die Mauren des Kalifats von Cordoba vernichteten 861 eine ganze Wikingerflotte vor Gibraltar, aber schon 862 griffen die Wikinger wieder an, nachdem sie erfolgreich Spanien umrundet hatten, und kehrten auf der Loire zurück. Nur 20 Schiffe schafften die Heimkehr. Mag auch die Beute an Gold und Silber, an Münzgeld und Luxusgütern wie Seide und Gewürzen verlockend genug gewesen sein, es ändert nichts daran, dass diese Unternehmungen vielen ›Nordmännern‹ das Leben kosteten. Bezeichnenderweise waren sie auch gerade im westlichen Bereich von Festlandseuropa so genannt worden. Um ›Männer‹ ging es, nur selten um Frauen, die auch namentlich genannt werden, wenn sie mit dabei waren, die Kolonien im Norden und Nordwesten zu gründen. Auf ganz andere Weise haben wir es zur selben Zeit mit demselben Phänomen zu tun, dass (sehr) viele (junge) Männer zu kriegerischen Unternehmungen losziehen, für die es eigentlich keine Notwendigkeit gibt. Die seeräubernden Wikinger bringen keine Nahrung von ihren Fahrten mit zurück, wie das zur selben Zeit die Basken tun, die sich zum Vergleich bestens eignen. Diese fahren hinaus aufs Meer und darüber hinweg bis an die nordamerikanische Küste, wo sie an der Neufundlandbank den Kabeljau fangen und zurückbringen. Sie rauben nicht bei den Indianern, sie nutzen den dortigen Reichtum des Meeres und transportieren den Fisch getrocknet zurück als weithin begehrten Stockfisch. Kurlansky (1999) hat diese Vorgehensweise der Basken, mit Hinweisen auf ihren frühen Walfang, ganz großartig beschrieben. Gerade auch der so gefährliche Walfang ist es, der zur selben Zeit, als die Wikinger auf Island und Grönland siedeln, die Basken in die nördlichen Gewässer führt. Sie folgen den »richtigen Walen« (die folgerichtig im Englischen die right whales bleiben und 47
zu Deutsch Glattwale heißen), die sie zu den richtigen, den nahrungsreichen Stellen im Nordatlantik, führen. Die Basken betätigen sich im Hochmittelalter nicht als Seeräuber und Kolonisten, wie die ihnen an seefahrerischen Künsten vielleicht ebenbürtigen Wikinger. Diese suchen Land zum Siedeln und Wertvolles zum Rauben auf ganz unterschiedlichen Routen. Man mag sich damit zufriedengeben, auf die unterschiedliche Herkunft beider Völker zu verweisen. Die einen sind Germanen aus dem niemals römisch zivilisierten Norden, die anderen so eigenständig, dass bis heute ihre Herkunft im Dunkeln liegt. Vielleicht öffnet eine ganz andere Betrachtung neue Einblicke. Die Basken fuhren aufs Meer und wollten und sollten wieder zurückkommen, wie alle Fischer dieser Welt, die von ihren Familien losfahren. Die anderen, die Wikinger, sollten, wenn sie überhaupt wieder heimkamen, reich zurückkehren. Oder eben als Siedler mit Weib und Kind, mit Saatgut und Vieh das Land verlassen, um auf neuem Boden ein neues Leben zu beginnen. Die Art der Wikinger deutet daher in der Tat auf einen grundsätzlich ähnlichen Hintergrund wie bei den Kreuzzügen hin. Die hohen Verluste an Nordmännern glichen die Überschüsse aus, die jahrhundertelang in den Stammsiedlungen geboren und großgezogen wurden. Regelrechte Auswanderungen mussten jedoch hinzukommen. Der Norden litt zwischen 800 und 1300 offenbar nicht unter Bevölkerungsmangel, sondern an Überschuss, der in dänischen, norwegischen und schwedischen Landen nicht mehr unterzubringen war. Die Goten waren ein knappes Jahrtausend davor in großen Trecks ausgewandert und viele Jahre lang durch Europa gezogen, bis sie sich niederlassen konnten oder von den Gegnern aufgerieben waren. Wagt man eine grobe Bilanz, dann könnten bei den Raubzügen und Koloniebildungen der Wikinger über die Jahrhunderte von 750 bis 1250 oder 1300 vielleicht ähnlich viele oder gar mehr Menschen dieser nordgermanischen Stämme ihre Heimat verlassen haben wie bei den großen Wanderungen der Goten. Eher waren es noch mehr, weil die Zeit »mitzählt« 48
in der Bilanz zwischen Geburten und Todesfällen sowie den ihnen für die örtliche Bevölkerung gleichkommenden Abwanderungen. Hundert Jahre lang Tausende pro Jahr verloren zu haben durch Abwanderung und Tod ergibt Hunderttausende für eine große Auswanderung. Die Anzahl der Basken nahm hingegen offenbar nicht nennenswert zu. Ihre gute Zeit war vorüber, als andere Europäer von den westlichen Küsten die Geheimnisse ihrer Fischgründe und damit auch Amerika entdeckten. Doch ehe es so weit war, wurde Europa, insbesondere das Heilige Reich inmitten Europas, schwersten Prüfungen ausgesetzt. Nach fünf Jahrhunderten vergleichsweise ruhiger Zeiten fingen mit dem Spätmittelalter im 14. Jahrhundert die großen Katastrophen an, die auch unser heutiges Bild vom »finsteren Mittelalter« maßgeblich mitprägen.
2. Die Katastrophenzeit Katastrophen treffen die Menschen lokal oder regional. Großräumige Ereignisse katastrophaler Art sind selten. Global wirksame Veränderungen bilden große Ausnahmen. Eine solche globale Veränderung war sicherlich der rasche Anstieg des Meeresspiegels am Ende der letzten Eiszeit. Um mehr als 100 Meter war das Meer beim Hochstand der Gletscher abgesunken, weil so viel Wasser in den Eismassen gebunden war, die auf Nordamerika, Nordeuropa und Nordwestasien lasteten. Das Abschmelzen verlief vor rund 12000 Jahren so schnell, dass sich das Meer nicht etwa Jahr für Jahr um ein paar Millimeter weiter aufs Land hinaufschob, sondern dass es zu sintflutartigen Überschwemmungen kam, die nicht wieder zurückgingen. Auf diese Weise holte sich das Meer große Teile des noch biblischen Zweistromlandes im heutigen Persischen Golf, wo vielerlei Hinweise darauf deuten, dass sie das Vor49
bild für die Vorstellung vom Garten Eden abgegeben hatten. Doch auch der größte Teil der Nordsee sowie die Ostsee entständen nacheiszeitlich, als die Eismassen, die diese Schelfmeere bedeckten, abgeschmolzen und der Meeresspiegel angestiegen war. Zu Zeiten des zurückgewichenen Meeres war die Themse ein Nebenfluss von Rhein und Elbe, die zusammen durch das Flachland nordwärts strömten. Menschen müssen auch damals vor mehr als 10000 Jahren den katastrophalen Einbruch des Nordatlantiks ins Land miterlebt haben. Manche dieser Steinzeitmenschen dürften ihm zum Opfer gefallen sein, weil die Wasser so schnell kamen. Nach wenigen Jahren vielleicht schon war England eine Insel geworden. Noch zog aber der Riesenhirsch seine Fährten über die weiten, tundraähnlich offenen Flächen auf Irland, in England und im nun kontinental gewordenen Nordwesteuropa. Wildpferde grasten zusammen mit Wisenten (Bison bonasus), den fast ausgestorbenen europäischen und nordasiatischen Wildbüffeln vom Typ des besser bekannten nordamerikanischen Bisons. Das Nibelungenlied enthält Wildpferd und Wisent noch, dazu auch das andere europäische Urrind, den Auerochsen (Bos primigenius). Ausgestorben war zu Zeiten des Helden Siegfried und der Nibelungen, die sich mit Attila, dem Herrscher der Hunnen trafen, nur der Riesenhirsch (Megaloceros giganteus), an dessen Stelle nun aber der Rothirsch durch die lichten Wälder streifte. Obgleich also zehn Jahrtausende seit der großen Katastrophe am Ende der letzten Eiszeit vergangen waren, gab es noch die meisten Großtiere, wenngleich wohl nur in Restbeständen. Als Existenzgrundlage für Jäger und Sammler reichten sie schon lange nicht mehr aus. Viehzucht hatte die natürlicherweise in Europa lebenden Großtiere weitestgehend ersetzt. Das Vieh braucht Gras im Sommerhalbjahr und Heu im Winter. Die feuchten Küstenregionen bieten von Natur aus günstige Verhältnisse für die Weidewirtschaft, wie auch hoch gelegene Almen in den Bergen. Im Gegensatz zu den Hochlagen ließen sich an den Küsten aber Weide- und Ackerland mit50
einander kombinieren. Die schweren Böden waren zwar nicht leicht zu bearbeiten, aber sie erbrachten gute Erträge. Die zehntausend Jahre vorher gebildeten flachen Küsten an der Nordsee fingen an, besonders ertragreich zu werden, als um das Jahr 1000 eine einfache, gleichwohl aber durchaus wirkungsvolle Art der Regulierung des Wasserhaushaltes einsetzte und erste Deiche gegen das Meer gebaut wurden. Die Küstenbevölkerung wuchs dank der steigenden Erträge rasch an. Die historisch gut bekannten Auswanderungswellen waren die Folge. Die Angeln und die Sachsen eroberten England und drängten die dortige keltische Bevölkerung auf die unwirtlichen Bereiche von Wales und andere Randgebiete zurück. Auch im Mündungsbereich des Rheins florierten die Völkerschaften, bis sie von ersten Küstenkatastrophen in Bedrängnis gebracht wurden. Was mag den Auszug der Nibelungen, der Burgunder wirklich veranlasst haben? Waren es schon große und anhaltende Überschwemmungen? Für den Bereich der heutigen Niederlande ist für das Jahr 838 eine Sturmflut bezeugt. Sie vernichtete 2437 Häuser (Newig & Theede 2000). Doch sie dürfte nicht viel mehr als ein schwaches Vorspiel gewesen sein, denn erst für das Jahr 1164 ist eine Spätwinterflut (17. Februar) historisch belegt, die nun größere Küstenbereiche in Ostfriesland und an den Mündungen von Elbe und Weser traf. Sie kostete Tausende Menschen und ungezählten Stück Vieh das Leben. Zeitgenössische Berichte dazu sind recht aufschlussreich: »Wie viele Reiche und Vornehme saßen noch abends da und schwelgten im Überfluss, doch unversehens stürzte sie das Unglück mitten ins Meer« (zitiert nach Newig & Theede 2000). Sicher befanden sich unter »Tausenden« auch wirklich Wohlhabende, aber wenn es heißt, dass sie Mitte Februar, also in einer Zeit, in der üblicherweise die Vorräte schon knapp geworden sind, »im Überfluss schwelgten«, verrät das wohl mehr als nur die Moral, die Sturmflut sei eine gerechte Strafe für Völlerei und Wohlleben gewesen. Wären die Küstenbewohner arm gewesen, hätte der Verweis auf die 51
juare Liottes eine höchst unchristliche Verhöhnung ihrer Armut und ihres Schicksals bedeutet. So aber finden wir mit diesem moralisierenden Hinweis eine Stütze dafür, dass das Hochmittelalter eine »gute Zeit« gewesen war. Die Bevölkerung konnte anwachsen, und immer noch gab es Überfluss gegen Ende des Winters, als die erste richtige Sturmflut das Land verheerte. Es kam noch viel schlimmer. Die nächste schlug am Marcellustag, dem 16. Januar des Jahres 1219 zu. Es hatte im Januar, also mitten im Winter, schon einige Tage aus Südwest geweht. Doch nun traf der Sturm mit der Springtide bei Vollmond zusammen. Die Folgen waren furchtbar. Den Chroniken zufolge gab es riesige Verluste unter der Küstenbevölkerung. Bis zu 100000 Tote wurden geschätzt, was Newig & Theede (2000) für einen Ausdruck der Hilflosigkeit halten, angesichts solcher Verheerungen die Höhe der Verluste zu beziffern. Doch anders als bei den vorausgegangenen Sturmfluten blieben die Wasserstände nun höher. »Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts verschlechterte sich das Klima, sodass Missernten auftraten«, stellen Newig & Theede (2000) dazu fest. Und nun kommen sie, die ganz großen Katastrophen. 1348 trifft der erste Seuchenzug der Pest Europa. 1362 bricht die »Große Mandränke« am 15./16. Januar über die Nordseeküste herein. Rungholt geht unter, viele Dörfer verschwinden. Der Dollart bricht ein und die »Deutsche Bucht« erhält ein völlig neues Aussehen. Eine weitere Flut, die Allerheiligenflut von 1436, vergrößert die Landverluste. Sturmfluten kommen nun gleichsam Schlag auf Schlag. Die Zahl der Umgekommenen lässt sich nicht mehr ermitteln. 1509 schlagen die Fluten sogar im September zu, 1532 und 1570 wieder zu Allerheiligen, 1634 im Oktober. Diese als Burchardi-Flut bezeichnete Überschwemmung gilt als die »zweite große Mandränke«. Sie verursachte schwere Landverluste in Nordfriesland. Weiter geht es im Jahrhunderttakt bis in unsere Zeit, in der sich die Sturmfluten mit den alten nicht mehr so ohne weiteres messen lassen, weil hohe Deiche und Verkürzungen der 52
Küstenlinien die Wassermassen höher auflaufen lassen als in früheren Zeiten. Noch ausgeprägter gilt dies für die Überschwemmungen im Binnenland. Die unregulierten Flüsse ließen die Wassermassen weit ausufern, verteilten sie über ihre Täler und verzögerten die Abflussgeschwindigkeiten. Die alten Hochwassermarken sind deshalb anders zu lesen und der Höhe der Wasserstände nach auf die Wassermengen umzurechnen als die heutigen Pegelangaben. Diese beziehen sich so gut wie ausnahmslos auf Flüsse, die in ein enges Bett mit begradigtem Verlauf eingezwängt worden sind. Wo früher Kilometer breite Talweitungen für die Fluten zur Verfügung standen, müssen sie jetzt durch Schläuche hindurch, die auf ein Fünftel bis ein Zehntel des früheren Flussbettes verengt worden sind – und Hochwasser steigen entsprechend stark an. Deshalb sind bei den Flusskatastrophen des letzten Jahrtausends beide Daten wichtig, die Zeit ihres Eintretens, also die Jahreszeit, und die Höhe, so, wie sie an vielen Gebäuden an den Flüssen vermerkt worden ist. Bezeichnenderweise wird in ganz Mitteleuropa als größtes Hochwasser des gesamten 2. Jahrtausends die Flut des Jahres 1342 in den alten Chroniken vermerkt (Pfister 1990). Das liegt 20 Jahre vor der ersten großen Mandränke und fünf Jahre vor dem Ausbruch der Pest. Die Fluten müssen ungeheuer gewesen sein, denn weite Bereiche Mitteleuropas wurden überschwemmt. Sehr viele Menschen kamen ums Leben. Die bereits angeführten Missernten dürften sicherlich nicht auf den Küstenbereich beschränkt gewesen sein. Das Hochwasser von 1342 ist auch nicht als Einzelereignis vorstellbar, das aus heiterem Himmel gekommen war. Vielmehr resultiert es aus einer offenbar grundsätzlich veränderten Entwicklung von Niederschlägen. Diese führten dazu, dass die im Hochmittelalter bis auf kleine Reste abgeschmolzenen Alpengletscher plötzlich wieder zu wachsen anfingen und sich neue Eismassen bildeten, sodass um 1350/1400 ein Gletscher-Hochstand erreicht war, wie er dann erst im 17. und ausgehenden 18. Jahrhundert 53
wieder zustande kam (Pfister 1992). Gletscherwachstum setzt nicht nur gesteigerte Niederschlagsmengen voraus, sondern auch ihre passende jahreszeitliche Verteilung. Würden allein Sommerregen niedergehen, könnten zumindest die alpinen Gletscher nicht nur nicht wachsen, sondern sie würden weiter an Masse verlieren. Wenn aber späte Schneefälle und kaltes Frühsommerwetter das Abschmelzen der Neuschneeschichten des Winters verzögern oder verhindern, kann die Eismasse zulegen. Die Chroniken sollten daher vermehrt (Spät)-Winterhochwasser vermerkt haben, wenn die Gletscher wachsen, und ihre Zunahme sollte schlechte Ernten bedeuten, weil nasskaltes Frühsommerwetter die Aussaat verspätet und die Wachstumszeit verkürzt. Genau dies ist der Fall. Eishochwasser gab es am Rhein in Köln als Extremereignisse zwischen den Jahren 834 und 1995 insgesamt 24, aber in sehr ungleicher Verteilung über diesen Zeitraum. Das zeigt Abb. 3. Schlechte Witterung verschlimmert die Leiden der Menschen weiter. Die Natur, die mehrere Jahrhunderte lang so reichlich gegeben hatte, wird nun zum Feind. Missernten, Stürme, Überschwemmungen und soziale Unruhen kennzeichnen das Spätmittelalter. Äußere Feinde kommen hinzu. Im Jahre 1241 beginnt der Mongolensturm. Dschingis Khan erobert mit seiner Goldenen Horde praktisch den gesamten Großraum zwischen Korea und der Mandschurei im Osten, wo das Mongolenreich an den Pazifik grenzt, westwärts bis tief hinein nach Mitteleuropa und dazu die hochentwickelte Welt Vorderasiens mit den Städten des Seidenhandels und kultivierter Lebenskunst. Das größte zusammenhängende Reich aller Zeiten entsteht für kurze Zeit auf der größten Landmasse der Erde. In Mitteleuropa waren andere, ungleich kleiner Völkerschaften schon in Bewegung geraten: Flamen, Friesen und Sachsen, Schwaben, Thüringer und Bayern suchten nach neuen Siedlungsgebieten. Was sich beispielhaft an der Nordseeküste gezeigt hatte, pflanzte sich in Verschiebungen im Kernland fort. Dem Ansturm der Mongolen aber schien nichts mehr gewachsen 54
zu sein. Ihr Weg nach Westen stellt mehr als nur einen Blitzkrieg dar, denn sie konnten es sich sogar leisten, von Sieg zu Sieg eilend, die unterworfenen Völker und Regionen ihrer Herrschaft einfach einzuverleiben, ohne innere Rebellionen fürchten zu müssen. War es ihre überlegene Kriegsführung allein, mit der sie auch große Teile Europas und nicht nur dünn besiedelte, weite Steppenregionen im Übergangsbereich zu Asien in ihre Knechtschaft zwangen? Worin bestand ihre Überlegenheit?
Abb. 3: Entwicklung der historisch belegten Hochwasser des Rheins bei Köln vom 9. bis zum 20. Jahrhundert. Die 24 Eishochwasser traten im Wesentlichen zu Beginn und während der Kleinen Eiszeit auf. Der starke Anstieg der Zahl der Hochwasser im 20. Jahrhundert ist auf die umfangreichen Regulierungsmaßnahmen im Einzugsgebiet zurückzuführen. Durch diese kommt das Wasser immer schneller und muss durch immer engere Abflussquerschnitte. Das führt zum Anstieg der Hochwassermarken. Nach Angaben aus Pörtge & Deutsch (2000). 55
Die Schulbuch-Geschichte hebt einen militärischen Vorteil hervor, der schon gut zwei Jahrtausende früher die Hochkulturen des östlichen Mittelmeerraumes mehrfach in höchste Bedrängnis gebracht hatte. Die Mongolen waren Reiter. Ihren schnellen Pferden und ihrer Fähigkeit, aus scharfem Ritt heraus einen Hagel von Pfeilen abschießen zu können, seien, so heißt es, die höfischen Ritter mit ihrer Rüstung und den gepanzerten Pferden hoffnungslos unterlegen gewesen. Die Hyksos und andere Reitervölker aus Asien, die in der Antike in die altägyptische, in die hellenische oder in die persische Welt eingedrungen waren, überrannten deren Fußtruppen auf diese Weise. Die mittelalterlichen Ritter waren auf den »fairen Lanzen- und Schwerterkampf« ausgerichtet, nicht auf »wilde Horden«, die sich an kein Kampfgesetz hielten. Indianern vergleichbar, die aus plötzlichem Hinterhalt hervorbrachen, brachten sie die Schlachtreihen der Krieger des Heiligen Reiches durcheinander, wie einst die im Hinterhalt des Waldes auflauernden Teutonen die Römerlegionen des Varus geschlagen hatten. Nun waren sie wieder da, die berittenen Horden aus dem Osten, wie schon vor 500 Jahren ihre Verwandten, die Hunnen. Und wieder kamen sie genauso weit ins Herzland Europas hinein. Sie waren braun wie die Hunnen, deren Namen sich von der indoeuropäischen Bezeichnung hun = braun ableitete, doch dieses Mal waren sie weit besser organisiert. Ihr Führer war nicht mehr ein liebevoll als »Väterchen« (Attila, von atta = Vater) bezeichneter Stammesfürst, der offenbar die höhere westliche Kultur schätzte, die auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches noch existierte. Er war ein »Steppenwolf«, der ein Gespür dafür hatte, wie man über Tausende von Kilometern Steppe die Seinen zusammenhielt und von der sogleich einsetzenden Verweichlichung abhalten konnte, die unweigerlich drohte, wenn man sich als Reiternomade in festen Wohnsitzen mit den Annehmlichkeiten höfischen oder städtischen Lebens niederließ. Die mittelalterliche Erklärung für das plötzliche Auftauchen der Mongolen greift 56
sicherlich auch zu kurz. Die Kirche mochte sie als Geißel Gottes betrachten. Doch welcher Gott sollte sie geschickt haben? Der Gott der Christenheit sicher nicht, denn die Mongolen wurden den Chinesen genauso zur Strafe wie den islamischen Völkern in Vorderasien. Für den Mongolensturm versagen christliche wie militärische Erklärungen. Reiter kann man ins Leere laufen lassen. Sie brauchen Verpflegung. Pferde transportieren davon so gut wie nichts, weil sie den Reiter zu tragen haben. Reiter sind wie Fußtruppen auf Nachschub angewiesen. Schnelle Pferde können kein »schnelles Brot« bringen. Wer verbrannte Erde hinterlässt, kann sich davon nachher auch nicht mehr ernähren. Die Mongolenreiter brauchten Nahrung für sich und für die Pferde Futter. Das machte sie verletzlich bei ihren Eroberungen. Welche Mengen von Mongolen wären wohl nötig gewesen, hätten sie all die unterworfenen Völker und Regionen unter ihre Macht zwingen wollen? Bei historischen Darstellungen und Interpretationen von Ereignissen ist man zwar gewohnt, ungefähre Angaben über die Stärke der Heere zu bekommen. Die Kämpfe zwischen den Römern und den germanischen Barbaren entschieden letztlich aber nicht die kämpfenden Truppen, sondern die Folgen der Kämpfe. War das jeweilige Hinterland mit seiner Bevölkerung in der Lage, die Kämpfer genügend lange oder die jeweiligen Machthaber auf Dauer zu versorgen, lohnten Kampf und Sieg. Woher hätten für die Mongolen die Pferde und all die übrige Kriegsmaschinerie kommen sollen, die sie als Nachschub nötig hatten, weil viel »verbraucht« worden war? Bei den Mongolenpferden kommt die Problematik in aller Deutlichkeit zutage. Sie benötigten Futter, ob gekämpft wurde oder nicht, und das Reiterheer musste Nachwuchs haben. Die Ackergäule der zentraleuropäischen Bevölkerung und die schweren Pferde der Ritter wären für die Mongolen als Ersatz nicht geeignet gewesen. Nur wo Steppen als Pferdeland zur Verfügung standen, hatten die Reiterheere reelle Chancen, sich länger zu behaupten oder dauerhaft festzusetzen. Wie zum Beispiel in 57
Ungarn auf der Puszta, jener europäischen Exklave der asiatischen Steppen. Aber wo sonst? Diese Betrachtung weitet den Blick auf die Hintergründe, die zum Mongolensturm führten, der (in Europa) tatsächlich auch wie ein Sturm wieder rasch vorüberging. Der mongolischen Expansion musste eine längere Periode vorausgegangen sein, in der die Bevölkerung in ihren zentralasiatischen Herkunftsgebieten ungewöhnlich stark anwuchs und mit ihr auch die Pferdeherden entsprechend zunahmen. Eine hochproduktive Zeit muss das gewesen sein, die das Normale bei weitem übertraf. Wie sonst hätten weit verstreut und ohne straffe Organisation lebende Pferde-Nomaden plötzlich so expansiv werden können? Immer wieder fanden solche Expansionen zentralasiatischer Völker statt, aber nie anhaltend und gleichmäßig, sonders stets impulshaft. Diese Impulse kann nur die Gunst der Natur gegeben haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der vorausgegangenen Expansion der Wikinger, dem Niedergang des Hohen Mittelalters und dem Mongolensturm? Der Aufbruch des Islams einige Jahrhunderte davor wirft die gleiche grundsätzliche Frage auf. Lag es am Propheten Mohammed allein, dass die Araber so expansiv wurden? Reicht eine große Idee, ein einigender Glaube dazu aus, um Reiche zu versetzen? Der Eindruck drängt sich auf, dass es größere Zusammenhänge gegeben hat, die hinter den einzelnen Geschehnissen wirkten. Globale Änderungen im Klima begünstigten die Weiden, das Vieh, die Äcker und die Menschen – oder entzogen ihnen die Grundlagen für eine fortdauernde Existenz, wenn Wärme mit Trockenheit und Missernten einherging. Darauf wird beim globalen Ausblick zurückzukommen sein. Inzwischen zogen aber im Europa des Spätmittelalters Büßer durch die Städte, die sich für die Untaten und das sündige Leben der Menschen geißelten. Diese Flagellanten wollten mit ihrem Tun die christliche Welt retten. Doch am Ausgang des Mittelalters wandte sich, von einem weniger dramatischen 58
Jahrhundert begünstigt, diese noch recht begrenzte christliche Welt bereits der ganz großen Welt zu. Was Basken und Wikinger schon jahrhundertelang gemacht hatten, wurde nun großes Ziel der neuen Großmächte, die sich im Südwesten Europas nach der Vertreibung der Mauren etabliert hatten. Spanien und Portugal schickten sich an, Amerika und den ganzen Globus zu erobern.
3. Globalisierung Europas Am 7. Juni 1494 wurde im spanischen Tordesillas ein höchst merkwürdiger Vertrag geschlossen. Papst Alexander VI. teilte darin den Globus unter Spanien und Portugal auf. Nach einigem Hin und Her einigte man sich, dass alle Ländereien westlich einer Distanz von etwa 1770 Kilometern von den Kapverdischen Inseln vor der westafrikanischen Küste aus gerechnet der katholischen Krone Spaniens zufallen, die östlich davon gelegenen dagegen der ebenso katholischen Krone Portugals gehören sollen. Der Erdball war somit in zwei Hälften aufgeteilt, nachdem nur zwei Jahre davor, 1492, der Nürnberger Martin Behaim den ersten (erhalten gebliebenen) Globus fertigte. Nur ein paar Jahre nach der westlichen Grenzziehung folgte die östliche im Bereich der Molukken. Spanien war damit, noch ohne das ganze Ausmaß des Doppelkontinents zu kennen, gleichsam offizieller Besitzer Amerikas geworden. Portugal verblieb lediglich Brasilien als ein immerhin recht großes Stück von Südamerika. Dabei hatte erst 1492 der gebürtige Italiener Christoph Kolumbus die Neue Welt entdeckt, die er bekanntlich für Indien hielt. Die »Westindischen Inseln« tragen noch heute diese irrtümliche Bezeichnung. Die Geschichte der Entdeckung Amerikas und ihre Folgen sind so oft dargelegt worden, dass eine weitere Behandlung geradezu 59
überflüssig erscheint. Deshalb ist hier zunächst nur festzuhalten, dass im Gegensatz zu den zahlreichen Amerikafahrten der Basken und der Wikinger das Jahr 1492 einen historischen Zeitschnitt darstellt, der mit voller Berechtigung als das Ende einer alten und Beginn einer neuen Epoche einzustufen ist. Wenn nachfolgend, wie auch in anderen Zusammenhängen gebräuchlich, auf das Jahr 1500 aufgerundet wird, ist dies gewiss zulässig (und vernünftig), weil nicht mit dem ersten Schritt auf amerikanischen Boden durch Kolumbus und seine Mannen die neue Zeit, die Neuzeit, in Gang gesetzt wurde, sondern allenfalls in wenigen Jahren eines raschen Übergangs. Doch dass Neues begann, daran kann kein Zweifel bestehen. Mit diesen Fahrten über den Atlantik, denen bald anders ausgerichtete entlang der afrikanischen Küsten in den Indischen Ozean hinein und nach Südostasien folgten, bis schließlich der ganze Globus umsegelt wurde, fing eine echte Globalisierung an, wie es sie vorher noch nie gegeben hatte. Ein kurzer Hinweis muss an dieser Stelle genügen, weil die Thematik in anderen Kapiteln aufgegriffen und im globalen Ausblick vertieft werden wird. Mit Kolumbus setzte nämlich auch ein globaler Austausch von Pflanzen und Tieren ein, die vordem aus geographischen Gründen weit voneinander getrennt gelebt hatten. Wissenschaftler wie der Zoologe Ragnar Kinzelbach gehen daher vom »Stichjahr« 1492 aus, wenn die Arten von Tieren und Pflanzen nach ihrer Herkunft als »neu« (Neozoen oder Neophyten) oder als alteingesessen eingestuft werden. Bevor der Schiffsverkehr, der damals rasch alle Weltmeere erfasste, Tiere und Pflanzen von Kontinent zu Kontinent transportierte, hatte es im Wesentlichen nur die natürlichen Ausbreitungsmöglichkeiten gegeben. Allenfalls unterstützten Landtransporte den Austausch, etwa über die Alpen vom mediterranen Raum her und umgekehrt. Doch ungleich bedeutungsvoller als der Austausch von Nutztieren und -pflanzen oder solchen Arten, die der Belustigung und Zierde dienen sollten, wurde der Kontakt bislang voneinander vollständig 60
getrennter Völker und Kulturen. Die großen Pestzüge, die den Entdeckungsfahrten vorausgegangen waren, betrafen noch im Wesentlichen das alte Europa. Von Asien her hatte sich die Beulenpest, Schwarzer Tod genannt, wahrscheinlich mit Beteiligung von Wanderratten und Schiffen, die vom Schwarzmeerhafen Odessa zu den Häfen des Mittelmeeres gefahren kamen, ausgebreitet und erfasste über Zwischenstationen von der Küste her die zentralen Landesteile. Millionen Menschen fielen der Pest zum Opfer. Doch viel schlimmer noch wirkten sich die Krankheiten aus, die von den Europäern bei ihren Entdeckungs- und Eroberungsfahrten mitgeschleppt worden waren. Grippe und ähnliche Erkältungskrankheiten – Masern, Röteln oder auch die Tuberkulose und besonders die Pocken – dezimierten in kurzer Zeit die neu entdeckten Völker. Die Spanier und Portugiesen siegten nicht mit der Kraft ihrer Schwerter und der Macht ihres Glaubens an die Unüberwindbarkeit des Kreuzes, sondern mit den Krankheiten, denen die »Wilden« hilflos ausgesetzt waren. Die Globalisierung der Krankheiten verursachte die gewiss stärkste Zäsur zu Beginn der Jahrhunderte der Entdeckungen und Eroberungen der Europäer. In wenigen Jahren schrumpfte etwa die indianische Bevölkerung weiter Teile Südamerikas auf ein Zehntel ihrer vorkolumbianischen Zahl oder auf noch weniger. Nur dort, wo robuste Bevölkerungsgruppen unter harten, auch für die Spanier äußerst schwierigen Lebensbedingungen existierten, behaupteten sich diese bis in die Gegenwart. Im Hochland der Anden war dies der Fall. Für die regional-europäischen Entwicklungen wie auch für die globalen Machtverhältnisse setzten die Krankheiten entscheidende Rahmenbedingungen. Riesige Ländereien konnte sich Europa kraft seiner Krankheiten aneignen, die von den Invasoren eingeschleppt wurden. Afrika trotzte, vom äußersten Süden abgesehen, den Weißen, weil es selbst mehr an Üblem als Europa zu bieten hatte. Desgleichen widerstanden die bevölkerungsreichen und sehr dicht besiedelten Gebiete in Süd- und Ostasien. Diese Befunde sind 61
wichtig, denn anders als den Mongolen, die sich aus ihrem Kernraum heraus trotz ihrer militärischen Überlegenheit nicht nennenswert hatten ausbreiten können, stand nun den Europäern während der nächsten Jahrhunderte ein riesiges Gebiet offen für die Abfuhr der Bevölkerungsüberschüsse, die es anhaltend erzeugte. Auch die Siege der Krankheiten sind hinlänglich bekannt und würden keiner näheren Erörterung bedürfen, wenn sich daraus nicht weitere Einsichten ergeben würden. Sie lassen sich mit der Frage verbinden, warum eigentlich die amerikanische Urbevölkerung, die Indios in Südamerika und die Indianer Nordamerikas, so anfällig für die europäischen Krankheiten waren. Die so verheerende Pest hatte in Europa anteilsmäßig erheblich weniger Verluste an der Bevölkerung verursacht als Pocken, Masern und andere, oftmals nur als Kinderkrankheiten eingestufte Erkrankungen bei den Uramerikanern. Parallel zu den Siegen der Krankheiten geschieht nämlich etwas ganz Eigenartiges. In kurzer Zeit erobern auch europäische Tiere und Pflanzen die Neue Welt. Die Menschen hatten diese aus Europa mitgebracht. Sie verdrängen oder vernichten Einheimisches und gedeihen so gut, dass sogar gezüchtete Haustiere an den unterschiedlichsten Stellen verwildern. Pferde tun das in Nord- wie in Südamerika, Esel auch. Ziegen erweisen sich in Kürze vor allem auf tropischen und subtropischen Inseln als geradezu verheerend. Den Ratten und Mäusen, die als »blinde Passagiere« auf den Schiffen mitgekommen waren, scheinen die neuen Ländereien Paradiese zu eröffnen. Aber auch Pflanzen, wie Disteln, »verwildern«. Hasen, sonst eher heikle Gesellen im Gegensatz zu den Kaninchen, entwickeln sich zur Landplage in der Pampa, wo Schafe zu Millionen herumziehen, als sei das ihr Gelobtes Land. Diese »Invasoren« beschäftigen bis heute viele Menschen (Crosby 1986), und sie gerieten neuerdings ganz besonders wieder ins Blickfeld des Interesses (Kegel 1999), weil wir uns vor »der« Globalisierung stehend wähnen (was im Hinblick auf die Kapitalmärkte und Großkonzerne stimmen mag, 62
bei Pflanze und Tier aber ein halbes Jahrtausend zu spät bemerkt worden ist). Eigenartig ist, dass sich nicht nur die Menschen aus Europa, sondern auch ihr Vieh und ihr Ungeziefer als ungemein invasiv und erfolgreich erweisen. Was hatte die Neue Welt oder, besser gefragt, was hatte sie nicht, dass diese Invasionen so leicht und nachhaltig gelangen? Kartoffelkäfer und ein paar andere Schädlinge, die aus der Gegenrichtung kamen, gleichen die Bilanz bei weitem nicht aus. Weitere Merkwürdigkeiten fallen nun auf. Die größten Tiere, die Südamerika als Neue Welt zu bieten hatte, waren zwei einander recht ähnliche Arten von etwa schweinsgroßen Tapiren. Verglichen mit dem Tierleben im tropischen Afrika ließen sie sich höchstens als »Mittelklasse« einstufen, während Nordamerika fast dieselbe Reichhaltigkeit an Großtieren, vor allem an Säugetieren, aufwies wie das nördliche Eurasien. Über die Prärien donnerten mit stampfenden Hufen Millionen wahrer Fleischberge, die Bisons. Die Hirsche, die Wapitis, werden dort erheblich größer als die europäischen Rothirsche, aber artlich sind sie von diesen kaum verschieden. Entsprechend verhält es sich mit den Bibern und Fischottern, mit Bären und Wölfen. Sogar die Indianer Nordamerikas entsprechen in vielerlei Hinsicht den nomadischen Bewohnern des Nordens von Asien. Ungemein rasch übernahmen sie die Pferde, welche die Spanier mitgebracht hatten, und erreichten mit ihren Mustangs in der Prärie Fertigkeiten im Reiten, die denen der Mongolen unter Dschingis Khan sicherlich nicht nachstanden. Aber kein Prärieindianer kannte Ackerbau. Bei den Anasazis von Neumexiko, wo solcher vor Ankunft der Europäer betrieben worden war, ist er etwa um das Jahr 1500 aufgegeben worden. Der mittelamerikanische Urwald hatte auch schon die Hochkulturen der Mayas verschlungen; die Azteken und ihre Nachbarn gingen mit dem Kontakt zu den Spaniern ebenso rasch und weitgehend zugrunde wie die Inkakultur in den Anden von Peru und Bolivien. Es hat nicht nur den Anschein, dass sie die letzten in einer Serie von Kulturen 63
waren, die in vorkolumbianischer Zeit aufgeblüht waren und nach Jahrhunderten bester Entwicklung wieder vergangen sind. Die Europäer waren nicht allein Verursacher des Niedergangs großer amerikanischer Kulturen. Kurz: Amerika ist irgendwie ungewöhnlich, vielleicht sogar unnormal, weil es zwar die ganze Bandbreite der Natur vom Eis des Nordens bis zur andauernd sturmgepeitschten Spitze im Süden und von den dampfenden Regenwäldern der Tropen in Amazonien bis hinauf zu den Eisgipfeln der Anden repräsentiert, aber doch ganz anders als der Rest der Welt war. Nur das bis Ende des 18. Jahrhunderts ganz unbekannte Australien war noch absonderlicher. Europa konnte sich fast ein halbes Jahrtausend lang beider Amerikas regelrecht bedienen. Der Doppelkontinent fiel den Europäern zu wie eine reife Frucht, die nur darauf wartete, gepflückt zu werden. Die Strafen für die Plünderung der indianischen Schätze an Gold und Silber, für die Versklavung der Menschen und die Vernichtung ihrer Kulturen fielen mehr als milde aus. Zur einzig wirklichen Bedrohung für die fremden Eindringlinge geriet nur die Lustseuche Syphilis. Sie traf im alten Europa mehr die besseren Kreise als das Volk und konnte daher auch leicht wieder als Strafe Gottes umgemünzt werden. Was jedoch in der amerikanisch-indianischen Bevölkerung die Krankheiten, denen sie hilflos ausgeliefert waren, nicht schafften, erledigte der Alkohol, das Feuerwasser. Kolumbus’ Inseln wurden zum Hauptquell eines teuflischen Gebräus, dessen Bennennung in der deutschen Sprache zu Recht jener Buchstabe fehlt, der es in falscher Weise rühmen würde, der Rum. Zuckerrohr, ein uramerikanisches Gewächs, ist die Pflanze, aus der bald Alkohol in stärkster Form produziert wird. Mit dem Zucker bekommt die Alte Welt eines ihrer größten Übel aus der Neuen Welt, die dabei in Sklaverei blutet und leidet unter der Sucht nach Alkohol (Hobhouse 1988). Die Gründe für die Anfälligkeit Amerikas kennen wir inzwischen. Südamerika war viele Millionen Jahre lang wie 64
Australien eine Insel ohne Kontakt zum großen Rest der Kontinente gewesen. Ganz eigenständige Entwicklungen liefen dort ab. Sie schufen in mehr als 50 Jahrmillionen eine andere Welt, eine Parallelerde, wie man es nennen könnte, in der die Säugetiere langsam blieben und Vögel dominierten. Gegen die Neuen aus Europa waren die allermeisten südamerikanischen Arten hoffnungslos unterlegen. Nordamerika stand zwar immer wieder im Austausch mit Asien, aber nur in den Kaltzeiten. Deshalb sind die nordamerikanischen Säugetiere den europäischen und nordasiatischen so ähnlich. In den Warmzeiten schnitt der steigende Meeresspiegel Nordamerika jedoch von Ostasien ab und verwandelte es gleichfalls in eine Insel. Nur über die schmale tropische Landverbindung des heutigen Panama und Costa Rica behielt es in den letzten zweieinhalb Millionen Jahren des Eiszeitalters (Pleistozän) Kontakt zu Südamerika. Von dort aber kamen wenige Tierund Pflanzenarten, die sich durch eine besondere Fitness auszeichneten. Menschen wanderten erst vor etwa 12 bis 15 000 Jahren in Amerika ein. Sie kamen aus Nordostasien und repräsentierten damit nur einen schmalen Ausschnitt aus dem Spektrum der genetischen Vielfalt, die in der Gesamtbevölkerung von Eurasien vorhanden ist. Die kalten Steppen Nordostasiens sind nicht gerade eine Brutstätte gefährlicher Krankheiten. Die Auswanderer nach Amerika brachten nur eine Blutgruppe, nämlich Null, mit hinüber. Die Menschen waren auf eine harte, sie fordernde Natur eingestellt, nicht aber auf eine Fülle von Krankheiten, wie es sie insbesondere in den gemäßigten und tropischen Regionen gibt. Der amerikanische Doppelkontinent war für die nordostasiatischen Menschen in vielerlei Hinsicht jungfräuliches Land gewesen. Mit der Invasion der Europäer änderte sich dies fast schlagartig, und mit Millionen und Abermillionen Toten musste gleichsam biologisch nachgeholt werden, was die Alte Welt jahrtausendelang den Krankheiten gezollt hatte. Während dieser fragwürdige Austausch sehr schnell und 65
direkt vonstatten ging, verzögerte sich anderes, viel Bedeutenderes. Amerika hatte nämlich nicht nur das zuckertragende Röhr zu bieten, sondern mit Mais und Kartoffeln zwei Nutzpflanzen, die mehrere Jahrhunderte später erst zur Weltspitze in der Nahrungsversorgung der Menschheit aufstiegen. Es lieferte auch den Luxus des Kakaos, den die altmittelamerikanische Bevölkerung als Xocolatl kannte und zu schätzen wusste. Und aus Amerika stammt Koka, der Stoff, der auch in den schwächsten Körpern noch Kräfte freisetzt, die über das natürliche Maß hinausgreifen. Die Silberminen von Potosi wären ohne Koka nicht zu betreiben gewesen, und manch anderes Unternehmen der Konquistadoren und Kolonialherren auch nicht. All das »ereignet sich« schon kurz nach Kolumbus in der Spanne von kaum einem Jahrhundert. Dieses ist die größte Wendezeit des ganzen letzten Jahrtausends. Die Europäer haben nun alle Winkel des Globus erreicht. Offen bleibt die Frage, warum sich das Machtzentrum in Europa plötzlich aus der Mitte an den Rand, auf die südwestliche Halbinsel Iberien, verschob. Gewiss, die Mauren waren von dort erfolgreich vertrieben worden. Aber konnte dies einen solchen Machtzuwachs für die Kronen von Kastilien und Lusitanien bedeuten, dass zwei einander recht nahe Atlantikhäfen, das spanische Sevilla und das portugiesische Lissabon, zum Zentrum der Welt wurden? Welche Vermessenheit, sich wie in einem James-Bond-Film die ganze Erde untereinander aufteilen zu wollen! Warum schwieg das große Reich im Zentrum Europas dazu? Die historische Antwort ist klar. Dort bahnte sich die größte innerkirchliche Auseinandersetzung an, die in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges mündete.
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4. Die Krise im Zentrum Nach den Seuchenzügen der Pest schwelgte die römische Kirche mit ihrem marionettenhaft gewordenen Papsttum im Überfluss eines sich wieder erholenden 15. Jahrhunderts. Den Nachgebliebenen hatte die Seuche große Verluste beschert, die durch die Bevölkerungsentwicklung erst allmählich wieder ausgeglichen werden konnten. Eine umfassende Reform bahnte sich an. Sie kam als Reformation. Doch warum blieb sie weitestgehend auf das Heilige Römische Reich der »deutschen Nation« beschränkt, und weshalb dehnte sie sich nicht aus auf die ganze Christenheit, auch auf das allerchristlichste Königtum in Spanien und Portugal? Waren dort die Klöster und der Klerus besser? Wohl kaum. Andere Gründe müssen mitgewirkt haben, dass die Reformation im Zentrum Europas ausbrach und die Funken, die Martin Luther mit dem Anschlag seiner Thesen an die Tür der Kirche von Wittenberg schlug, bald darauf einen Flächenbrand auslösten. Soziale Spannungen hatten das Kraftfeld dazu geliefert. Warum gab es solche nicht auch im neuen Machtzentrum des iberischen Südwestens, von wo doch mit der höchst unheiligen Inquisition das wohl schlimmste Übel für die europäische Christenheit ausging? Eine Erklärung liefert die Tatsache, dass Spanien und Portugal mit ihren Bevölkerungsüberschüssen Südamerika besiedelten. Daran waren Mitteleuropäer, Deutsche insbesondere, so gut wie gar nicht beteiligt. Einzelne Personen, wie Ulrich Schmidl aus Straubing, der als Landsknecht mit den Spaniern nach Südamerika an den La Plata kam, bilden Ausnahmen ohne Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung. Die erste große Auswanderungswelle aus Europa ging von Iberien nach Südamerika, das dadurch zu Ibero-Amerika wurde. Von Mittelamerika, insbesondere von Mexiko aus, griff die Iberisierung rasch auf Nordamerika über. Die vielen spanischen Namen im Westen und in der Mitte der heutigen USA zeugen davon nicht nur mit ihren Heiligennamen, wie San Francisco, San Diego, 67
Santa Fe und so fort, sondern auch mit profanen Bezeichnungen wie Las Vegas (die Auen) oder El Paso (der Schritt bzw. Pass oder Übergang) sowie Fluss- und Gebirgsnamen (Colorado, Nevada). Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um die zugrundeliegenden Vorgänge zu verdeutlichen: Spanien und Portugal besiedelten mit Menschen aus ihren Ländern die Neue Welt. 500 Jahre vorher hatte Europa mit den Wikingern erfolglos nach Amerika hinübergegriffen. Es waren zu wenige Nordeuropäer, um die Ansiedlungen zu stärken und auszudehnen. Die letzten Wikinger scheiterten im Nordwesten Grönlands gerade in jener Zeit, als die Spanier aus Europas Südwesten in genauer geographischer Spiegelung in den riesigen Kontinent Nordamerika von Süden her eindrangen. Diese Erstbesiedler kamen jedoch nicht direkt von Osten, sondern über den großen Umweg aus Mittelamerika. Ihrer iberischen Heimat gemäß besiedelten die Spanier nämlich die trockenen, gebirgigen Gegenden der Neuen Welt, und die Portugiesen blieben jahrhundertelang Küstenbewohner Brasiliens, wie auch in ihrem Heimatland Portugal am Westrand Iberiens. Zurück flössen in die beiden Heimatländer riesige Mengen an Gold und Silber, Edelsteinen und anderen Schätzen. Die koloniale Ausbeutung hatte begonnen. Spanien und Portugal wurden reich. Vor allem Spanien konnte sich leisten, die Kirchen im Vizekönigreich Peru mit Gold und Edelsteinen in verschwenderischster Prachtentfaltung auszustatten. El Dorado, das Goldland, blieb das Endziel der unablässigen Suche nach Gold, von dem sie nicht genug kriegen konnten. Man kann diese Zeit auf eine einfache Formel bringen: Den Überfluss an Menschen schickten Spanien und Portugal nach Übersee, und von dort kam im Gegenzug der Reichtum zurück, der neue Überschüsse hervorbringen konnte. An den nördlicheren Küsten blickte man zwar voller Neid und mit gleicher Gier nach diesem Reichtum des neuen Westens, beschränkte sich aber zunächst nur auf das Kapern der Schiffe. Vor allem die Briten betätigten sich als Seeräuber und beuteten so auf ihre 68
Weise die Neue Welt für Europa aus. Merkwürdig genug erlangten sie noch viele Jahrzehnte lang nicht annähernd die Bedeutung wie die Wikinger Jahrhunderte vor ihnen. Die Wende deutete sich jedoch an, als die spanische Armada zu behäbig geworden war und im Jahre 1588 schon vergleichsweise leicht nahe den eigenen Küsten auf nebliger und stürmischer See geschlagen werden konnte. Nach und nach rückten die Zentren der Macht, die nun auf Herrschaft und Vorherrschaft über die Meere begründet waren, von Iberien nach Norden. Das kleine Holland tat sich hervor und gründete Neu-Holland an Australiens Südseite, erstritt sich die Herrschaft über Indonesien, das größte Inselgebiet der Erde, und bezog höchst einträgliche Handelsniederlassungen in Süd- und Ostasien bis hin nach Japan, während gleichzeitig der Einfluss von Portugal zurückging. Die eigentliche Machtverschiebung führten aber die Briten und der Sklavenhandel herbei. Doch so weit war es noch nicht. Schwere Zeiten suchten das Zentrum Europas heim. Die Reformation entließ ihre Kinder. Mit der Gegenreformation begann ein Krieg, der zwischen 1618 und 1648 als solcher tatsächlich 30 Jahre lang andauerte und fürchterliche Folgen hatte. Große Gebiete des formal noch immer existierenden Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurden so verheert, dass sie die Hälfte der Bevölkerung oder mehr verloren. Der vom (Kriegs-)Heer abgeleitete Ausdruck ›verheerend‹ bezeichnet nun umgangssprachlich besonders schlimme, lange nachwirkende Ereignisse. Die 30 Jahre Krieg zeigten in aller Deutlichkeit, warum die Mongolen bei ihrem Sturm keine Chance gehabt hätten, länger Krieg zu führen. Es fehlten ihnen die Ressourcen an Menschen, Pferden und Nahrung. Das war jetzt nicht anders. Doch das Kriegsziel lag nicht in der Eroberung fremder, einträglicher Gebiete, auch wenn die Schweden unter Gustav Adolf zunächst diesen Eindruck machten. Der Krieg wurde von marodierenden, im Prinzip heimatlosen Söldnertruppen geführt, deren Ziel das Plündern war, um selbst am Leben bleiben zu können. Wenn wir die 69
»historischen Ziele« von Glaubenskampf und Vorherrschaft des Kaisers und der römischen Kirche, die selbstverständlich vorgegeben waren, zurückstellen und die Kämpfer selbst, die »Truppen« dieses Krieges betrachten, so kommt in aller Deutlichkeit zutage, dass es sich bei den meisten Söldnern um Verlorene handelte, die selbst nichts mehr zu verlieren hatten, aber außer Geraubtem auch nichts gewinnen konnten. Die »Schweden« waren offenbar gar nicht darauf aus, bald und siegreich in ihre Heimat zurückzukehren. Damit gleicht der Dreißigjährige Krieg in mancher Hinsicht den Auseinandersetzungen zwischen den »Kreuzfahrern« und dem Islam, auch was die Dauer angeht. Die Folge war dann in der Tat eine drastische Verminderung der Bevölkerung auf ein so niedriges Niveau, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg große Teile des ehedem genutzten Landes als »Wüstungen« verfielen und aufgegeben wurden. Der während des Mittelalters so stark zurückgedrängte und auf Reste im Gebirge und im höheren Bergland zusammengeschrumpfte Wald breitete sich wieder aus. Am Ende des schrecklichen 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts dürfte er seine größte historische Flächenausdehnung in Mitteleuropa erreicht haben. Der Kontrast zwischen Europas Südwesten und der Mitte ist zu groß, um allein politisch-historisch erklärt werden zu können. Der Austausch von Ideen und Kenntnissen florierte seit dem Hochmittelalter ungebrochen. Händler und Gaukler zogen kreuz und quer durch Europa. Dass sich die Mächte der europäischen Randlage in den neuen Überseeregionen bedienten, ist eine Sache. Die andere bleibt offen: Warum kam es im Zentrum zu dieser Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges und zum Verfall weiter Landstriche? Bilder und merkwürdige Notizen in Klöstern geben Hinweise dazu. Holländische Maler wie Pieter Breughel oder Averkamp schufen Bilder, die extreme, für die wintermilden Niederlande höchst ungewöhnliche Szenerien mit Schnee und Eis zeigen. Schlittschuhläufer vergnügen sich auf den völlig zugefrorenen Grachten, dick ver70
hüllt in wärmende Kleidung. Jäger ziehen mit Hunden durch alpin wirkende Schneelandschaften. Krähen folgen ihnen in bezeichnend bedrückender Weise. Alte Aufzeichnungen von astronomischen Beobachtungen, die damals intensiviert worden waren, seit Galilei der berühmte Prozess gemacht worden war und Kepler die Planetenkreise um die Sonne dargelegt hatte, machen deutlich, dass die Sonne anscheinend über Jahrzehnte hinweg völlig makellos ohne Flecken war und die Sonnenfleckenaktivität erst allmählich wieder zunahm. Die Aufzeichnungen aus den Zeiten des 16. bis 18. Jahrhunderts sind voller Beschreibungen extrem kalter Winter und häufiger Missernten, weil es keine rechten Sommer mehr gegeben hatte. Iberiens »große Zeit« bedeutete nichts anderes als besonders schlechte Zeiten in Zentraleuropa. Die Periode wurde, nachdem sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hinreichend deutlich gezeigt hatte, dass sie wohl zu Ende gegangen war, »Kleine Eiszeit« genannt. Diese großklimatische Verschiebung bewirkte gleichsam wetterkartengemäß eine großräumige Verschiebung von Nordosten nach Südwesten. Lange, extrem kalte Winter folgten aufeinander. Vielfach froren alle großen Seen und die ganze Ostsee zu. Seuchenzüge, extreme Hochwasser und aus früheren Zeiten unbekannte Ereignisse häuften sich. Harmlose Vögel aus dem Norden wurden zu »Pestvögeln« erklärt. Wölfe zogen in die Wälder und stießen bis Zentralfrankreich vor. Die schaurigen Märchen von Kindern, die sich in finsteren Wäldern verlaufen und bitterer Kälte ausgesetzt sind, entstehen. Die schlimmen Winter kommen immer wieder. Die Bevölkerung friert und hungert. Kinder können nicht mehr von ihren Eltern ernährt werden. Man setzt sie aus oder gibt sie zu den etwas besser Gestellten, wo sie mit härtester Kinderarbeit ihr Leben fristen müssen. Aschenputtel verkörpert das Elend und die Träume der Elenden, von reichen Prinzen erlöst zu werden. Die großen Verschiebungen in der Natur spiegeln sich im Wohl und Wehe der Bevölkerung. Das Zentrum verliert an Macht, weil die Kraft der Menschen schwindet. Nach 71
kurzer Besserung schlägt die Unbill der Natur im 19. Jahrhundert nochmals zu. Nun gibt es aber schon Alternativen mit Kohle und Wärmekraft und vor allem das neue Ventil für die Bevölkerung, nach den ›nordwesteuropäisch‹ gewordenen Regionen Nordamerikas auszuwandern. Mitten in diesen schlimmen Jahrhunderten der Kleinen Eiszeit vollziehen sich Veränderungen, die der historischen »Neuzeit« tatsächlich neue Zeiten bringen. Die Besserungen beginnen mit der teilweisen Abwendung von der Bestellung des eigenen Landes, das vielfach längst übernutzt ist, hin zu einer technischen Produktion, die Arbeit an Maschinen einträglich macht. Auch wenn es danach zunächst gar nicht aussieht. Einen wichtigen Beitrag liefert aber auch die Umstellung in der Ernährung mit dem Abrücken vom Brot, wo nicht genug Getreide wächst, hin zur Kartoffel.
5. Neue Zeit oder Neuzeit Um 1500 beginnt nach üblicher historischer Einteilung die Neuzeit. Ihre Anfangsphase wird jedoch mit heiliger Inquisition und Hexenverfolgungen oft dem »finstersten Mittelalter« zugerechnet. Zusammen mit dem großen innerchristlichen Glaubenskrieg verengten sich die geistigen Horizonte in Europa, während es den geographischen Ausblick auf die ganze Welt für sich in Anspruch nahm. Dieses Ausgreifen bezog sich nicht nur geographisch auf die Entdeckung des Globus, von dem bald nur noch drei größere »weiße Flecken« übrig geblieben waren, nämlich die beiden wirklich schneeweißen Pole der Erde und das »schwarze Herz« von Afrika. Direkt vor Europa gelegen, blieb Afrika noch bis in das 19. Jahrhundert der dunkle Erdteil. Noch nicht einmal Ursprung und Verlauf des Nils, jenes afrikanischen Stromes, an dessen Unterlauf eine 72
der ersten und für Europa prägenden Hochkulturen entstanden war, kannte man, als Australien umrundet und der Pazifik durchkreuzt worden war. Das Ausgreifen Europas betraf vielmehr auch die Tiefen des Weltalls und die verborgenen Kräfte der Natur, die mit ihrer Berechenbarkeit die Grundlagen für Mechanik und Technik geschaffen hatten. Die Erfindung des Buchdrucks hatte das mühselige und mit Fehlern behaftete Abschreiben und Wiederabschreiben der althergebrachten Handschriften, der Manuskripte, weitgehend überflüssig gemacht. Für die frühe Neuzeit bedeutete das Drucken von Büchern und Schriften wohl einen größeren Fortschritt als die elektronische Fassung und Weitergabe von Informationen in unserer Zeit. Gutenberg hatte mit seinen Druckmaschinen auch die Grundlagen dafür geschaffen, dass bald alle Lesen und Schreiben lernen konnten. So spaltete sich die Entwicklung in der frühen Neuzeit symptomatisch in einen zukunftsorientierten raschen Fortschritt mit Hilfe von Wissenschaft und Technik und einen fundamentalistischen Rückschritt, der gegen die Neue Zeit gerichtet war und am liebsten noch über das Mittelalter hinweg in noch fernere Vergangenheiten strebte. Die Ablehnung von Fremden und des Fremden gehörte dazu. Wer von der Norm abwich, geriet in Gefahr ausgegrenzt und als Hexe oder Häretiker verfolgt zu werden. Blinder Glaube an Geister, vor allem an böse, feierte Urständ. Goethe griff darauf zurück in seinem Faust, die Walpurgisnacht ist bis heute ein Begriff. Tiefere Gründe dürfte es gegeben haben. Es mag verständlich erscheinen, wenn solche fremdartigen Pflanzen wie die Tomaten aus Amerika nicht aus Geschmacksgründen abgelehnt wurden, sondern aus pseudoethischen und religiösen Deutungen heraus. Paradiesäpfel wurden sie genannt, und als »Paradeiser« kennt man sie heute noch im österreichischen Deutsch. Im Französischen bürgerte sich der Name Goldapfel (pomme d’or) ein, während das Spanische wie das Portugiesische und später auch das Deutsche die altmexikanische Bezeichnung »tomatl« benutzten. Die Tomate zu genie73
ßen galt als Wiederholung der Versuchung Adams durch das Weib (und den Teufel). Luxus, den Tomaten im 16. und 17. Jahrhundert natürlich noch darstellten, sollte dem Volke vorenthalten bleiben. Dazu brauchte man gute Begründungen. Im Hintergrund stand jedoch mehr. Die Zeiten waren schlecht. Die Menschen hatten unter schrecklichen Wintern und Ernteausfällen im Sommer zu leiden. Schon Ende des Mittelalters war aus dem Getreideland England, in dem zu Römerzeiten sogar noch Wein gedieh, weithin ein Weideland für Schafe geworden. Solche Veränderungen drücken Grundlegendes aus. Auch in Mitteleuropa nahm die Bedeutung von Schafen und Ziegen ganz erheblich zu. Die großen Weiden (für Schafe) wurden zu Heiden mit Wacholderbüschen und Heidekraut. Der enorme Holzverbrauch, nicht nur für Salzgewinnung in Bergwerken und für das Sieden von Salz, sondern ganz unmittelbar zum Heizen und zum Bau wärmender Holzhäuser, die rasch die im Mittelalter schon verbreitete Bauweise mit Stein ablösten, verschlang die Wälder oder degradierte sie zu Buschland, das die Schafe und Ziegen kurz und klein beißen konnten. Als »Weghalter«, Wach(h)alter und schließlich Wacholder blieb das stacheligste Holzgewächs der gemäßigten Breiten übrig, während sich bodennah die Zwergsträucher des Heidekrautes ausbreiteten. Wenn sie schon keine gute echte Weide abgaben, so doch eine solche für Bienen, die für den langen Winter noch Honig erzeugten, wenn im Spätsommer die Heide blühte. Was Wunder, dass in solchen Zeiten auch die alten Kenntnisse über Kräuter, die ursprünglich in Klostergärten erworben worden waren (beispielhaft sei hier die Äbtissin Hildegard von Bingen genannt!), wiederentdeckt wurden. Doch nun galt es, die Kräuter draußen in der Natur zu suchen. Nur Kundige waren dazu in der Lage, stellt uns doch auch heute die Vielzahl der Pflanzenarten, die noch dazu oft gar nicht leicht voneinander zu unterscheiden sind, vor erhebliche Bestimmungsprobleme. Giftiges und Harmloses, Wirksames und allzu Wirksames liegen für die meisten Menschen 74
gefährlich nahe beieinander. Sie tun gut daran, das Sammeln von Pilzen sein zu lassen oder sich auf wenige, wirklich eindeutig »gute« Pilze zu beschränken. Das Risiko ist zu groß. Doch die Pilze bildeten nur einen geringen Teil der im weitesten Sinne pflanzlichen Natur, die von den Kundigen in jenen Jahrhunderten genutzt wurde. Der Anwendungsbereich der Pflanzen erstreckte sich über das gesamte Leben der Menschen von der Geburt bis zum Tod und reichte sogar darüber hinaus, wenn Geburten verhindert (durch Abtreibung) und Tote so behandelt werden sollten, dass sie für die Lebenden keine Gefahr mehr darstellten, auch nicht als Geister, die »umgehen« könnten. Das Volk fürchtete sich davor. Die Kundigen, die mit den Pflanzen und ihren Kräften umzugehen wussten, waren in aller Regel Frauen. »Weise Frauen« hat man sie genannt; es klingt noch an im volkstümlichen Ausdruck des »Weizertgehens« zu Neugeborenen. Denn diese Frauen waren zumeist auch Hebammen und als solche in die besonderen Kenntnisse eingeführt worden, die für die Benutzung von Pflanzen nötig sind. Als Geburtshelferinnen bekamen sie jenen besonderen Kontakt zu anderen Frauen, der für die Männer nicht schicklich war und über den die Priester allenfalls bei der Beichte etwas erfuhren oder erahnen konnten. Die mittelalterlich klare Trennung der Geschlechter lebte noch fort, und sie reichte in manchen Landbezirken bis in unsere Zeit hinein. Mit den Kenntnissen, wie Schmerzen zu lindern sind oder wie sich unerwünschte, weil unrechtmäßige Schwangerschaften unterbinden ließen, gewannen die weisen Frauen indirekt auch Einfluss auf die Männerwelt, weil diese daran interessiert war, dass gegebenenfalls hinreichend diskret, aber erfolgreich »eingegriffen« wurde. Umgekehrt brauchten auch die Besitzenden und die Mächtigen diese weisen Frauen, wenn ihre eigenen, rechtmäßigen Gattinnen im Kindbett lagen. Viele sind darin gestorben. Verhindern konnten dies meistens nicht die Ärzte, für die Frauen noch tabu waren, sondern die Hebammen mit ihren Spezialkenntnissen. Ihr Wirken erfasste damit den re75
produktiven Kern der Gesellschaft. Ihre Entmachtung und Vernichtung durch die Hexenverfolgungen begründete sich einerseits auf dieser dem Zugriff der Männer entzogenen Macht über den Nachwuchs, der in den schlechten Zeiten durchaus auch immer dringender gebraucht wurde, andererseits aber auf Fähigkeiten, die es den so massiv unterdrückten Frauen ermöglichten, Stunden berauschten Glücks zu erleben. Die weisen Frauen kannten die Geheimnisse jener Pflanzen, die höchst angenehme Halluzinationen hervorrufen und deren Wirkstoffe heute unter dem Begriff der »Psychopharmaka« zusammengefasst sind. Mit ihrem Wissen um die Möglichkeiten, die mit richtig dosierten Giften wie dem der Tollkirsche (Atropa belladonna), des Bilsenkrautes (Hyoscyamus niger) oder des Fliegenpilzes (Amanita muscaria) und anderen wildwachsenden Pflanzen und Pilzen zusammenhängen, bildeten sie gleichsam eine Subkultur wie die Drogensüchtigen unserer Zeit. Bilsenkraut war sogar lange Zeit dem Bier zugesetzt worden. Der Name der Stadt Pilsen und des berühmten, bitter gehopften Bieres (»Pils«) soll auf den früheren Zusatz des dort in großem Umfang angebauten Bilsenkrautes zurückgehen. Die weisen Frauen suchten ihre Kräuter an Waldrändern, Grabenböschungen und insbesondere an den das Landschaftsbild prägenden Hecken, weshalb sie »Heckenreiterinnen« genannt wurden. Die zu »Hexe« verkürzte Form deckt sich weitgehend mit ihrem bekanntesten antiken Gegenstück, der (pflanzen)zauberkundigen Hekate. Sie soll der Sage nach über so heilkräftige Pflanzen verfügt haben, dass sie damit ihren Geliebten Jason verjüngt zusammensetzte, nachdem sie ihn vorher zerstückelt hatte. Den europäischen Hexen des 16. und 17. Jahrhunderts lagen sicherlich solche Kunststücke nicht im Sinn, wenn sie sich an geheimen Orten zu bestimmten Zeiten mit ihresgleichen trafen. Mit »Flugsalben« aus ihrer Giftmischerei stiegen sie in orgiastische Höhen auf. Das musste keineswegs immer nur der Blocksberg gewesen sein. Auch andere Orte eigneten sich für diese Zwecke, und es kann durchaus auch so 76
gekommen sein, dass die Milch mancher Kühe »sauer«, also schlecht, geworden war, weil sie Futter erhielten, das ihnen nicht bekam. Einzelfälle sind genauer bekannt, etwa wenn im Futter bestimmte Arten von Schachtelhalmen enthalten waren. Dann zeigten die Rinder ein Verhalten, das dem »Rinderwahn« der späten 1990er Jahre wohl recht ähnlich war. »Mad Cows«, verrückte Kühe, hatte es auch früher gegeben, als die Weiden unergiebig und das Futter schlecht gewesen waren. Die Bevölkerung versuchte zu allen Zeiten Erklärungen für unnormale Vorgänge zu finden. Hexerei war ein probates Mittel in einer Zeit, in der kundige Frauen in den breit gewordenen Grauzonen der Gesellschaft tatsächlich eine große Rolle spielten. Werfen wir dazu kurz einen etwas tieferen Blick in die Natur der Pflanzen, die solche Wirkungen entfalten. Sie fallen uns heute kaum auf, weil sich die Verhältnisse in der Natur inzwischen grundlegend verändert haben. Psychopharmakologisch wirksame Pflanzen wachsen in Mitteleuropa unter ganz bestimmten Bedingungen. Sie kommen dort nicht vor, wo die Böden gut, also mit Nährstoffgehalt für das Pflanzenwachstum ausgewogen versorgt sind und reichlich Wasser erhalten. Unter solch guten Bedingungen, wie sie sich der Landwirt wünscht, können die Pflanzen schnell wachsen. Rasches Wachstum verträgt sich aber in der Regel nicht mit der Herstellung von Giften. Das geschieht viel eher auf trockenen, sonnigen und mageren Böden. Auf ihnen sind die Pflanzen einem Überangebot von Licht ausgesetzt, stehen aber unter Mangel an Nährstoffen und Wasser. Sie stellen dann vor allem ätherische Öle, Harze oder, allgemein (chemisch) ausgedrückt, »aromatische Stoffe« her. Deren Erzeugung erfordert viel Energie. Diese bekommen die Pflanzen auf solchen Wuchsorten von der Sonne. Unter Wassermangel und wenn sie zu wenig mit mineralischen Nährstoffen versorgt sind, können sie das hohe Angebot an Licht nicht zum Wachstum nutzen. Sie arbeiten den Überschuss mit der Bildung besonderer Stoffe ab, die chemisch »langkettige oder phenolische Kohlenwasser77
Stoffe« darstellen. Viele davon sind giftig. Giftpflanzen gedeihen am besten in Randbereichen mit Schatten und genügend Feuchte, aber einseitiger Nährstoffversorgung im Boden und starkem Druck durch Tiere, die Pflanzen beweiden. Auch gegen die Beschädigungen durch Beweidung entwickeln Pflanzen Giftiges. Die vom Menschen geschaffenen Hecken sind dafür geradezu bezeichnend. Eine Hecke könnte man als »doppelten Waldrand« ohne Wald dazwischen betrachten. Von beiden Seiten sind die Pflanzen der Hecken dem Fraßdruck durch Vieh und Wild ausgesetzt. Bestehen kann, wer langsam wächst, nicht ins Kraut schießt und sich mit entsprechend wirksamen Giftstoffen schützt. Solche Giftpflanzen sind Tollkirsche und Bilsenkraut, Zaunrübe (Bryonia dioica) und Nachtschatten (Solarium dulcamara), Schierling (Cicuta virosa) und viele weitere Arten. Man findet sie dort oder am teils sonnigen Waldrand, an Schneisen und entlang von Gräben. Sie werden gefördert durch das Vieh, weil es diese Pflanzen nicht frisst, aber ihnen die Konkurrenz wegnimmt. Die trockenwarmen, sonnigen Ackerraine hingegen liefern Heilpflanzen wie die Echte Kamille und viele Würzkräuter. Nur wenige Arten, die mit dem Ackerbau ins Land kamen, sind wie die Kornrade giftig. Als pharmakologisch wirksame Pflanzen spielen die Ackerunkräuter keine Rolle, abgesehen vom Mutterkornpilz, der direkt am Getreide wächst und »Veitstanz« verursachen kann, wenn das Brot von seinen Giftstoffen durchsetzt ist. So spiegeln die Hexenverfolgungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit auch die großen Veränderungen, die sich in jenen Jahrhunderten in der Natur vollzogen hatten. Die Weidewirtschaft breitete sich aus. Der Ackerbau ging auf die klimatisch günstigen Lagen zurück. Weite Bereiche Englands und Mitteleuropas sind damals Heckenlandschaften geworden. Die Beweidung entwickelte sich nach und nach weiter und wurde zur Überweidung, weil wie immer ein höherer Nutzungsgrad angestrebt wurde, als von Natur aus dem Weideland zuträglich war. Das Ackerland erweist sich in dieser 78
Hinsicht als günstiger, weil es Jahr für Jahr ganz von selbst mit den schwankenden Erträgen die passenden Grenzen setzt. Das Weizenfeld produziert in einem bestimmten Jahr nicht mehr Weizen, als das Jahr »gestattet«. Die Saat dichter zu machen bringt eher Verluste als Gewinn. Grünland kann dagegen jähre- und jahrzehntelang überweidet werden, weil es von den im Wurzelwerk der Gräser angesammelten Reserven lebt. Irgendwann sind diese aufgebraucht. Die Felder verlieren fruchtbaren Boden direkt und offensichtlich, wenn sie brachliegen und die Niederschläge ihre Ackerkrume abschwemmen. Die vernünftige Gegenreaktion war die Dreifelderwirtschaft, die zwei Nutzungsarten an Feldfrüchten mit einem Jahr Brache abwechseln ließ. Das »brach«gefallene Land konnte sich selbst begrünen. Der Boden enthielt genügend Pflanzensamen aller Art, die sogleich eine geschlossene, aber landwirtschaftlich nicht genutzte Decke ausbildeten. Den Weideflächen wurde keine solche Erholung zuteil. Sie magerten schneller als die Felder aus. Kleinvieh musste zunehmend das Großvieh ergänzen, um die benötigten Erträge zu sichern. Schafe zogen nun mit Wanderschäfern in großen Mengen übers Land. Die Ziege wurde zur Milchkuh der kleinen Leute. Die Ränder der Fluren wurden stärker und stärker beweidet, bis auch sie kaum mehr als Dorngestrüpp behalten konnten. Die Zeit der Schlehenund Wildrosenhecken begann, wo in den Heckenlandschaften keine Bäume als Lieferanten von Holz mehr benötigt wurden. Das Großvieh und die Schweine aber drängten in den Wald. In jenen Jahrhunderten löste in Mitteleuropa das Bier weithin den Wein ab. In Bayern war der Weinanbau im Hochmittelalter viel weiter verbreitet als in unserer Gegenwart und zu Zeiten der Römer. In den besonders warmen Jahrhunderten exportierte Bayern sogar Wein nach Italien. Über die Qualität und den Geschmack ist hier nicht zu befinden, denn gepanscht wurden Wein und Bier in großem Umfang. Zahlreiche Ortsbezeichnungen und Familiennamen weisen in Regionen auf den früheren Weinanbau hin, wo er längst erloschen oder auf 79
letzte Rebstöcke an besonders warmen Wänden von Holzhäusern beschränkt ist. Zur Römerzeit entsprach, wie schon angedeutet, der Verlauf des Limes ungefähr der Grenze des Weinbaus nördlich der Alpen. Weinfässer lassen sich ohne besondere Kühlung in Kellern lagern und über größere Strecken transportieren, wenn das nicht gerade zur Zeit der Sommerhitze geschieht. Mit dem Bier verhält es sich anders. Über die Jahrtausende hinweg konnte es nur frisch gebraut getrunken und somit lediglich im Nahbereich verbraucht werden. Lagerfähig wurde es, nachdem Hopfen als Würze in der richtigen Konzentration zugesetzt worden war und »Eiskeller« für anhaltende Kühlung zur Verfügung standen. Bis zur Erfindung der Kältemaschinen musste diese Kühlung mit Hilfe von Natureis erfolgen. Eisblöcke ausreichender Dicke und Haltbarkeit gab es, wenn der Winter entsprechend anhaltenden Frost brachte. Die Winter der Kleinen Eiszeit bildeten die beste Voraussetzung für den Wechsel vom Wein zum lagerfähigen Bier. Sie erklären zudem, warum es sich lohnte, in großem Stil vom Zeitpunkt der natürlichen Keimung der Gerste abzuweichen und eine künstliche Keimung in Gang zu setzen. Denn mit der Lagerfähigkeit konnten entsprechende Mengen Bier in kurzer Zeit gebraut werden. Immer noch spiegeln aber die beiden Hauptzeiten des öffentlichen Biergenusses die alte Saisonabhängigkeit wider: Im Spätsommer nach der Ernte mit dem »Vollbier« und im Frühjahr in der Zeit der natürlichen Keimung des Getreides mit dem »Starkbier«. Die Bierfeste, deren berühmtestes im späten 19. Jahrhundert das Münchner Oktoberfest geworden war, ließen sich bestens mit dem »Erntedank« von Ende August bis Anfang Oktober verbinden; einer Zeit also, in der es noch keinen Wein geben konnte, weil die Trauben erst beim Reifen waren. Sogar im klimatisch milden Beaujolais-Gebiet von Frankreich wird bis heute traditionell der »Nouveau« bzw. »Primeur« am 3. Donnerstag im November ausgegeben. Die zeitliche Verschiebung gegenüber dem Bier geht daraus klar hervor. Im Frühjahr hingegen, wenn 80
die Weine in den Kellern den Winter über genügend gereift sind, bestand eigentlich kein Bedarf nach einer plötzlichen Bierschwemme – wenn nicht die Zeit des Keimens beim Getreide näher gerückt wäre. Der Wein stand so das ganze Jahr über zur Verfügung und bildete wie im biblischen Mahl mit Brot die Grundlage des gemeinsamen Essens. Das Bier war dagegen an bestimmte, für den Brauvorgang günstige Zeiten gebunden. Das Winterklima der Kleinen Eiszeit begünstigte somit ganz massiv das Bier, das sich allmählich zum Volksgetränk überall dort durchsetzte, wo die Natur nicht mehr reichlich genug oder gar keinen Wein heranreifen ließ. Es ist sehr fraglich, ob es ohne die Kältewinter der Kleinen Eiszeit mit den dicken Eismassen, die sie erzeugten, zu jenen Veränderungen und Verbesserungen in der Herstellung des Bieres gekommen wäre, die es im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Weltgetränk machten. Die bayerische Bierkultur war jedenfalls jahrhundertelang eine klösterliche Kultur und keine wirklich öffentliche.
6. Die Industrialisierung Es mag abwegig erscheinen, in noch weit umfassenderer Weise als beim Spezialfall von Bier und Wein die klimatischen Veränderungen als Motor für gesellschaftliche Entwicklungen zu betrachten. Denn die Frage »Was wäre (gewesen), wenn ...?« lässt sich im historischen Zusammenhang nicht wirklich stellen. Geschichte verläuft stets, wie der eben benutzte Ausdruck »Zusammenhang« dies auch ganz richtig besagt, zusammenhängend, also kontingent, und gerade nicht alternativ wiederholbar wie ein chemisches Experiment. Die Wege der Geschichte verliefen so, wie sie verlaufen sind. Andere denkbare Verläufe stellen nichts weiter als Gedankenspiele dar. So etwa kann die allgemeine Sicht- und Deutungsweise der Geschichte 81
zusammengefasst werden. Doch weil sie damit recht genau dem noch viel umfassenderen Ablauf der Geschichte des Lebens, der Evolution, entspricht, sind alternative Betrachtungen durchaus angebracht, um zu Einsichten in die zugrundeliegenden Vorgänge zu kommen. Was hier wahrscheinlich (zu) weitschweifig und viel zu formal ausgedrückt wurde, lässt sich am besten mit einem konkreten Beispiel erläutern. Für die zweite Hälfte der Neuzeit bietet sich ein solches geradezu an, weil wir mit seinen Folgen derzeit höchst intensiv befasst sind: die Verbrennung fossiler Stoffe, also von Kohle, Erdöl und Erdgas. Beginnen wir mit der Betrachtung der Kohle, weil sie tatsächlich auch zuerst in großem Stil als Brennstoff eingesetzt worden ist, wenn wir vom Torf absehen, der in seiner jahrtausendelangen Nutzung mehr dem Brennholz entspricht. Kann es sein, dass die Bergleute viele Jahrhunderte oder Jahrtausende gebraucht haben, bis sie bei ihrem Schürfen nach den Schätzen der Erde auch auf die Kohle gestoßen sind und ihre Verwendbarkeit erkannten? Nach Gold und Edelsteinen grub man schon seit den wirklich alten Zeiten. Salz wurde längst aus Bergwerken in großem Stil gewonnen, lange bevor die ersten Kohleflöze abgebaut wurden. Das »Kohlezeitalter« hat einen klaren Beginn in der »Neuzeit«, und die Verwendung von Kohle zeigt einen steilen Anstieg vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die immense Steigerung des Bedarfes ergab sich selbstverständlich aus der Industrialisierung, die mit dem Betrieb von Dampfmaschinen mehr Brennstoff benötigte, als die Wälder der Umgebung Holz liefern konnten. Doch das sind Folgen und nicht Ursachen! Zur Entdeckung der Kohle kam es nicht, weil Dampfkessel und Dampfloks beheizt werden mussten, sondern diese waren möglich geworden, weil die Kohle zur Verfügung stand. Ihr ursprünglicher Förderzweck bestand darin, Ersatz für das zu knapp gewordene Holz zu bekommen. Holz wurde zum Heizen der Häuser gebraucht. Man brauchte es nicht nur während der Kälteperioden im Winter, wenn sich dickes Eis auf den »Eisweihern« (die extra dafür 82
angelegt worden waren) bildete, sondern die ganze »Heizperiode« hinweg. Brennholz benötigte man die Jahrhunderte der Kleinen Eiszeit hindurch nicht mehr vorwiegend zum Kochen und Braten wie in den warmen Jahrhunderten des Mittelalters oder in unserer Zeit im mediterranen Süden oder in den Subtropen und Tropen, sondern um die Wohnräume warm zu halten. Die »warme Stube«, die Kombination von Küche, Essraum und Aufenthaltsraum, entwickelte sich zum Zentrum des Hauses, wo man sich auch »hinter dem Ofen« verkriechen oder in der dortigen Wärme zur Katze gesellen konnte, die als Hauptaufenthaltsort den Kachelofen bevorzugte. Wärmespeicheröfen haben Tradition, aber sie reichen nicht zurück bis ins warme Mittelalter, wo selbst die herrschaftlichen Schlösser und Burgen vorwiegend offene Feuerstellen aufwiesen, die nur bei Bedarf befeuert wurden. Während der Kleinen Eiszeit hatte sich dies grundlegend geändert. Sogar das »Himmelbett« hielt Einzug in einfache Wohnverhältnisse, weil die Abschirmung des Bettes durch Vorhänge die Eigenwärme der Schläfer besser hielt. Zugleich verminderte man die Höhe der Wohnräume so sehr, dass sich die Menschen des 20. Jahrhunderts darin gebückt bewegen mussten; welch ein Gegensatz zu den hohen Räumen des Mittelalters! Bettmütze, Bettjacke und Bettschuhe kamen für rund die Hälfte des Jahres als täglich benötigte Kleidungsstücke zur allgemeinen Bekleidung hinzu. Die Wälder schrumpften keineswegs nur wegen des angestiegenen Holzbedarfes für Bauwerke und die ersten Industrien. Wären Bergbau und Schiffswerften die Hauptabnehmer gewesen, hätten sich lokale Versorgungsengpässe eingestellt, aber keine großflächigen, die zu einer nachhaltigen Umstellung in der Forstwirtschaft führen mussten. Ein kurzer Ausblick auf die andere Seite des eurasiatischen Kontinents, nach Japan, bringt diesen klimatisch bedingten Unterschied in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Im milden ozeanischen, großenteils subtropischen Klima Japans kam es trotz des immensen Holzverbrauches für Gebäude und Schiffsbau zwischen dem 17. und 19. Jahrhun83
dert nicht zur weitgehenden Vernichtung der Wälder wie in Mitteleuropa. Der Holzbedarf Deutschlands für den Schiffsbau war minimal, verglichen mit dem weitgehend vom Meer und der Seefahrt lebenden Japan. Die Häuser erbauten beide Völker, die damals auch ähnlich große Bevölkerungen aufwiesen, gleichermaßen aus Holz, und hier wie dort vernichteten immer wieder Brände ganze Städte. Doch Japan hatte, entgegen der Annahme von Diamond (2005) in seinem Buch Kollaps, keine grundlegenden Änderungen in der Bewirtschaftung seiner Wälder nötig. Dass die Forste staatlich reglementiert wurden, stellt keinen Widerspruch dar, denn das war bei den herrschaftlichen und staatlichen Wäldern in Mitteleuropa nicht anders. Entscheidender ist vielmehr, dass es in Japan zu keiner Umstellung auf »schnellwüchsige Fichten« kam wie in weiten Bereichen von Mitteleuropa bis ins Flachland hinaus. Die großen Änderungen in Waldzusammensetzung und -nutzung (Küster 1996) stehen offensichtlich auch in beträchtlichem Umfang in Zusammenhang mit dem Bedarf an Brennholz für den Hausgebrauch. Noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gaben die Forstverwaltungen in Deutschland »Bezugsscheine« aus für das Sammeln von Holzabfall oder der Zapfen von Fichten und Kiefern. Doch möglich wurde die große Umstellung auf gepflanzte, langfristig wachsende Forste in der deutschen Waldbewirtschaftung durch die Entdeckung der Steinkohle als Brennmaterial für den Hausgebrauch. Deshalb darf man wohl auch Zweifel daran anmelden, ob das Nachhaltigkeitsprinzip der deutschen Forstwirtschaft wirklich ein Anfangsprinzip gewesen war, von dem die Zielsetzung des forstlichen Waldbaues ausging, oder nicht doch die Folge der neuen Möglichkeiten zu heizen einerseits und des klimatischen Zwanges, zur härteren Fichte zu wechseln, andererseits. Wenn rückblickend im 19. und 20. Jahrhundert die Forstleute feststellen, »und siehe da, es war gut so«, dann verhält es sich nicht anders als in der Evolution, wenn aus Möglichkeiten und Zwängen heraus Neues entsteht, das sich bewährt und 84
somit »gut geraten« ist. Erst die Rückschau kann über den Erfolg entscheiden; der Anfang nicht! Für die Landschaften Mitteleuropas und die lebende Natur brachte diese große Umstellung in der Energieversorgung sowohl ganz erhebliche Gewinne als auch Belastungen. Die Gewinnseite betrifft insbesondere den Wald, der an Fläche und Dichte (Holzvorrat) stetig zunahm und mitten in der stürmischen Entwicklung der Industrialisierung wieder den Flächenanteil von 30 Prozent überschritt. Die Belastungen erfassten nun aber erstmals in großem Stil Luft und Wasser. Wo früher über Jahrhunderte hinweg nur häusliche Abwässer in die Flüsse und Seen eingeleitet worden waren, die den Fischreichtum erhöhten, kamen nun industriell giftige Abwässer in großem Umfang hinzu. Sogar die Brühe aus Gerbereien verkraften die größeren Flüsse, solange sie in ihrem unregulierten Lauf die Verschmutzung verwirbelten und abbauten, ehe sie größere Schäden für den Reichtum an Fischen und Krebsen anrichten konnten. Mit den Fabrikabwässern und ihrer Giftigkeit wurde das anders; auch mit der Luftverschmutzung. Wo in immer größerer Menge Kohlerauch die Abgase der Holzfeuerungen ersetzte und schließlich bei weitem übertraf, »verrußten« der Himmel und das ganze Land. In den Kohleindustrien breitete sich so schlechte Luft aus, dass die Menschen massenhaft darunter zu leiden hatten mit Asthma, Lungenentzündung und sicherlich auch Lungenkrebs. Schwere Lungenkrankheit, Schwindsucht genannt, und Bronchitis gehörten zur Stadt wie die umgekehrte Klischeevorstellung von der guten Luft zum Land. Die Kohle spaltete erstmals richtiggehend Stadt (mit Industrie) und Land (mit der Verklärung in der Romantik) voneinander. Dem Jahrhundert der reinen Vorherrschaft der Kohle, dem 19. unserer Zeitrechnung, folgte das 20., vom Erdöl bestimmte Jahrhundert. Die Luft wurde optisch reiner, aber keineswegs um so viel besser, wie es den Anschein hatte. Der enge Zusammenhang zwischen Naturzustand und -nutzung, zwischen den äußeren Rahmenbedingungen der Natur und den wirtschaftlichen und 85
sozialen Entwicklungen ließ sich nun nicht mehr übersehen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Umweltschutz geboren und zu einer umfassenden Zielsetzung entwickelt. Er wurde weitaus wirkungsvoller als die Romantik, die als Gegenreaktion auf die Industrialisierung ein zumindest zeitlich begrenztes und sehr persönliches »Zurück zur Natur« anstrebte. Aber dennoch bauen der moderne Natur- und Umweltschutz auf den romantischen Vorstellungen auf. Die Grundhaltung blieb naturverklärend, auch wenn vordergründig sogar ausgesprochen rational physikalisch-chemisch argumentiert und agiert wurde. Die seit Jahrhunderten so »böse« Natur, die mit ihren eisigen Wintern, furchtbaren Überschwemmungen, vernichtenden Stürmen und schlimmsten Seuchen während der Kleinen Eiszeit die Menschen Europas schrecklich heimgesucht hatte, schien nun endlich überwunden und durfte als »Mutter Natur« liebevoll verklärt werden. Eine noch neuere Zeit als die Neuzeit hatte ihren Anfang genommen. Unsere Zeit!
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Wärme-Optimum und Kleine Eiszeit
7. Natur und Kultur im Mittelalter Siegfried der Held erwies sich dem Nibelungenlied zufolge nicht nur als nur mit List zu besiegender Kämpfer, sondern auch als ein großer Jäger. Fast wie selbstverständlich erschlug er »der Ure viere« und den »grimm’gen Scheich«. Was immer mit Letzterem wirklich gemeint gewesen sein mag – nichts deutet darauf hin, dass es sich um eine gänzlich ausgestorbene, unbekannte Großtierart gehandelt haben könnte. Vielmehr nennt der Text des Nibelungenliedes genau solches Großwild, das bald nach der Zeit der Nibelungen und der Hunnen in Westund im größten Teil Mitteleuropas ausstarb. Nur weit im Osten und im Norden überlebten Restbestände. Einzige Ausnahme ist der Ur, auch Auerochse genannt, von dem lediglich recht urtümlich aussehende Formen des Hausrindes, das aus ihm gezüchtet worden war, übrig geblieben sind. Die Rückzüchtungen im 20. Jahrhundert ließen das Urrind in Aussehen und genetischer Zusammensetzung in einer Form wiedererstehen, die vom Vorbild weniger als manche Unterart eines größeren Säugetieres von seiner Stammart abweicht. Überlebt hat die Zeit nach den Nibelungen in durchaus guten Beständen der Elch (Alces alces) in den sumpfigen Wäldern dünn besiedelter Gegenden des Nordens und Ostens von Europa und darüber hinaus in Nordasien und Nordamerika. Vom Wisent (Bison bonasus) blieb ein kleiner Restbestand in den großen Laubwäldern Ostpolens übrig, vom Wildpferd überlebte viel wei87
ter östlich in den mongolischen Steppen das Przewalskipferd (Equus przewalski oder Equus caballus). Die westliche Unterart davon, der graue, massiger gebaute Tarpan, der zu Zeiten der Nibelungen das Wildpferd in Europa war, ließ sich aus den ihm sehr ähnlichen halbwilden polnischen Konik-Ponys »rückzüchten« und im Wald der Wisente aussetzen. Nie direkt vom Aussterben bedroht waren das Wildschwein (Sus scrofa) mit den riesigen, für die Jagd sehr gefährlichen Keilern, und der große edle Hirsch, der Rothirsch (Cervus elaphus). Sogar die Braunbären (Ursus arctos) und die insbesondere für Schafe und anderes Vieh gefährlichen Wölfe (Canis lupus) überlebten die im Mittelalter verstärkt einsetzende Verfolgung in den Weiten des Ostens, in großen Wäldern oder in unzugänglichen Berggebieten. Die Jagd auf Hirsche wurde als »Hohe Jagd« ein Privileg des Adels, während die »Räuber« von allen, besonders auch von den Bauern bekämpft und vernichtet werden durften. Dennoch zog es der höfische Adel des Mittelalters vor, das edle Wild nicht der freien Landschaft zu überlassen. Es wurde in »Hirschgattern« eingesperrt, die mehr einem Wildpark geglichen haben als nur umzäunten Stücken von Wäldern oder freier Natur. Denn man frönte einer Jagd, die sich zu einem gesellschaftlichen Schauspiel entwickelt hatte. Treiberketten hatten dafür zu sorgen, dass das Wild an jenen Stellen zusammengetrieben wurde, an denen die Adeligen saßen und das Spektakel genießen konnten. Dass manches Stück »durch die Lappen« ging, drückte aus, dass mit wehenden Tüchern (»Lappen«) die nicht von Mann zu Mann geschlossenen Treiberketten ergänzt werden mussten, um aus großflächiger Umzingelung heraus das Wild, vor allem die Hirsche, den wartenden und feiernden Herrschaften in der passenden Weise vorzutreiben. Mit Spießen (»Saufeder«), Lanzen, Pfeil und Bogen, vor allem aber mit der Armbrust, wurde das Wild erlegt. Die Gewehre mit Pulver und Kugeln dienten wahrscheinlich zunächst auch diesem Jagdvergnügen, bevor sie in größerem Umfang für den Abschuss von Menschen eingesetzt 88
wurden. Die höfische Jagd des Mittelalters zählte zusammen mit den ritualisierten Kämpfen gepanzerter Lanzenritter zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen, die Adel und Kirchenfürsten veranstalteten. Dementsprechend ist sie in vielen Aufzeichnungen bis in nahezu belanglos erscheinende Kleinigkeiten dokumentiert. Neben solchen »geschlossenen Jagden« gab es jedoch auch eine andere, noch elitärere Form, nämlich die Jagd mit Adlern, Falken und Habichten. Diese »Beizjagd« genannte Art des Jagens stammte aus Innerasien. Vielleicht brachten sie die Reitervölker aus Zentralasien mit, als sie nach Westen vorstießen. Denn mongolische Ausdrücke finden sich noch heute in der Falknersprache, wie »Jule« für den Bügel, auf dem die Vögel sitzen, wenn sie nicht auf der Jagd mit unterwegs sind. Das fachgerechte Binden der Haube mit den Zähnen gehört sicherlich auch dazu. Diese Kopfkappe wird den Greifvögeln aufgesetzt und nimmt ihnen vollständig die Sicht. Das ermöglicht es, aus schnellem Ritt heraus mit den Adlern (Aquila-Arten, vor allem Steppenadler Aquila nipalensis) und Falken (Falco-Arten) zu jagen. Diese Steppenvögel sind es auch, die den »edlen« Formen zugerechnet werden, und nicht die bei der Jagd auf Niederwild, wie Fasane und Hasen oder Kaninchen effizienteren Habichte (Accipiter gentilis) der lichten Wälder, der Parklandschaft und der Waldränder oder die mit ihrer Wucht und Größe im Schauflug viel eindrucksvolleren, jedoch zur Jagd gänzlich untauglichen Geier. Nun ließe sich viel im Detail und sicherlich auch Hochinteressantes zur Kulturgeschichte der Jagd im Mittelalter ausbreiten. Denn bis in die Gegenwart wirken die damals entwickelten Formen und Rituale nach. Das bedeutendste historische Werk über die Falknerei verfasste der Stauferkaiser Friedrich der Zweite (De arte venandi cum avibus – Über die Kunst, mit den Vögeln zu jagen). Doch hier geht es um etwas ganz anderes. Die Entwicklung der Falknerei zur hohen Kunst und die Art der Jagd auf das größere und große Wild eröffnen 89
Einblicke in die Natur und ihren Zustand im Hochmittelalter. Warum werden in der mittelalterlichen Fassung des Nibelungenliedes, das wohl erst um 1200 entstand, konkrete Zahlen und Arten für das Ergebnis einer Jagd genannt, die der Held Siegfried (wie um sich dadurch abzulenken) mehr als 800 Jahre früher in den germanischen Wäldern durchgeführt hatte? Weshalb wird jetzt im Mittelalter die hochherrschaftliche Jagd inszeniert und die Falknerei zu einer Hochblüte gebracht, die sie abgesehen von ihrem Ursprungsgebiet in den weiten Steppen Innerasiens und in den kaum weniger weiten Landen des südwestlichen Vorderasiens und Arabiens nirgendwo sonst und seither auch niemals wieder erreichte? Warum fällt bis heute der erfolgreiche Habicht auf die »niederen Ränge« ab, obgleich die kleineren Falken auch kein großes Wild jagen und schlagen konnten? Warum sterben an der Schwelle zum Mittelalter aber mächtige Großtiere aus, obgleich sich der Adel jagdlich so sehr für sie interessiert und mit ihnen vergnügt? Parallelen zum alten Rom mit Hunderten von Löwen, gegen die im Circus zur Volksbelustigung gekämpft wurde, drängen sich auf. Bald danach waren die Löwen auf europäischem Boden ganz und in Nordafrika fast vollständig ausgerottet. Mit dem Großwild sieht es im frühen Mittelalter ganz ähnlich aus. Nur in den Weiten des Ostens und Nordostens überlebte es in unwirtlichem, kaum von Menschen besiedeltem Gelände. Das geographische Muster der Entwicklung ergibt ein klares Bild. Das west- und mitteleuropäische Flachland wird von den großen Tierarten so gut wie vollständig »geräumt«. Reste verbleiben in unzugänglichen Bergregionen. Die edlen Hirsche leben eingezäunt für das jagdliche Vergnügen weiter. Großtiere drückten mit ihrem Vorkommen oder Verschwinden mehr aus als kleine Arten. Auf diese wird auch ungleich weniger geachtet. Große Säugetiere und Großvögel sind von den Außenbedingungen so gut wie unabhängig. Sie schaffen in ihren Körpern ein gleichmäßig warmes Innenleben auf hohem Temperaturniveau zwischen 37°C bei Säugern und über 40°C 90
bei den Vögeln. Die riesigen geographischen Verbreitungsgebiete der genannten Arten, die sich über mehrere Klimazonen und die gesamte Nordhemisphäre erstrecken, zeigen diese Unabhängigkeit. Aber sie hat ihren Preis im Energieverbrauch. Die großen Tiere brauchen sehr viel Nahrung; ein Wisent zum Beispiel rund eine Tonne Heu pro Woche und ein großer Wolf mehrere Kilo Fleisch pro Tag. Große Pflanzenfresser, Großraubtiere und große Greifvögel benötigen somit eine ihrem Bedarf entsprechende ausgedehnte Ernährungsbasis und Lebensräume, die für sie produktiv genug sind. Sehen wir vom ohnehin mehr mit Mythen bedachten Braunbären ab, der noch bis ins 20. Jahrhundert liebevoll ›Meister Petz‹ genannt wurde und den man sich in den Bärengebieten bis heute mit guten Hunden vom Leibe und von den Schafen fernhält, dann ist den mittelalterlichen Tieren eines gemeinsam: Sie leben bevorzugt oder ausschließlich auf weitem, offenem Land. Sogar die üblicherweise als Waldtiere eingestuften Hirsche und die zu den Wildrindern gehörenden Wisente brauchen als Hauptlebensraum offene Flächen mit Graswuchs und Kräutern. Ihre Wiederkäuermägen sind auf die Bearbeitung von Pflanzenwuchs eingestellt, den sie am Boden oder bodennah abweiden können. Als Waldrind könnte der Wisent nicht in den geschlossenen, hochwüchsigen Fichtenwäldern der Gebirge leben, weil es dort am Boden kaum Nahrung für ihn gibt. Lichte, auch von Vieh beweidete Wälder bieten ihm das, was er als Wildrind braucht und ursprünglich mit dem anderen europäischen Wildrind, dem Auerochsen, geteilt hatte. Dieses kehrte gezähmt und weitergezüchtet als Hausrind zurück in die Wälder. Das Vieh dürfte vor 1500 Jahren schon die Wälder, in die es hineingetrieben wurde, ähnlich offen gehalten haben, wie das noch bis ins vorletzte Jahrhundert der Fall war, bevor es zur Trennung von Wald und Weide kam. Was geschehen ist, wird nun klarer. Die frühmittelalterlichen Rodungen drängten die Wälder zurück bis zu jenen Grenzregionen, die im Osten und Norden die äußerste Peripherie 91
des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bildeten. Wie schon das Frankenreich Karls des Großen im Westen entwickelte sich Mitteleuropa im Hochmittelalter zum großflächigen Getreideland. Die Weidewirtschaft nahm ab und wich auf die Hochlagen im Gebirge aus. Mitteleuropa wurde waldarm. Somit ist es nicht verwunderlich, dass mit den großen Rodungen auch das Ende der wildlebenden Großtiere in Mitteleuropa kam. Hirsche, auf die man für die höfische Jagd nicht verzichten wollte, mussten infolgedessen in Großgehegen eingesperrt gehalten werden. Die Jagd übers weite, offene und übersichtliche Land hingegen ließ sich nicht nur viel schöner, sondern wohl auch einträglicher mit den Falken und Adlern als mit Armbrust und Wurfspieß durchführen. Der mittelalterliche Niedergang der wildlebenden Großtiere war die Folge des sich ausbreitenden Ackerbaus. Dessen Ertragssteigerung ermöglichte den mittelalterlichen Bevölkerungszuwachs, bis dieser nicht mehr zu bewältigende Überschüsse hervorbrachte. Die Kreuzzüge befreiten immer wieder von diesem Bevölkerungsdruck, der sich in den vielen und überwiegend auch erfolgreichen Neugründungen von Städten äußerte (Abb. 2). Die Grenzen verraten, wie weit diese großräumige Veränderung reichte, nämlich ziemlich genauso weit, wie der erst einige Jahre zurückliegende Jahrtausendsommer von 2003 wirkte. Das mediterrane Klima hatte sich von Südwesten her über die Alpen nordwärts ausgebreitet. Aber nicht, wie 2003, nur für einen Sommer lang. Die Wärme des Hochmittelalters hielt insgesamt Jahrhunderte an, auch wenn kalte Jahre dazwischenlagen. Während der besonders warmen Jahrhunderte, in denen die Kirchenschiffe kühlend hoch und die Häuser, nicht nur die Gotteshäuser, möglichst aus Stein gebaut wurden, wuchsen und reiften (!) Feigen in Köln und anderen Orten am Niederrhein. Der Weinanbau gewann in Bayern großflächig an Boden und erreichte auch die Saale und die Elbe. Die Donau führte in Regensburg monatelang so wenig Wasser, dass die berühmte Steinerne Brücke in Trockenbau92
weise errichtet werden konnte. Weites, offenes und ertragreiches Land im fernen Westen konnte damals die Mongolen aus der Steppe locken, die so viele Pferde und Menschen dank stark gestiegener Niederschläge und milderer Winter »produzierte«, dass in kurzer Zeit jener gewaltige Überdruck entstand, der den »Mongolensturm« auslöste. Angefangen hatte diese Klimaverschiebung offenbar im Südwesten und Westen. Es passt durchaus ins Bild: Unmittelbar vor Beginn des mittelalterlichen Klima-Optimums zogen Mönche aus Irland auf den europäischen Kontinent, um dessen barbarische Bevölkerung, vor allem die freien Germanen, zu christianisieren. Ausgedrückt hatte sich die Klimaverbesserung darüber hinaus im Rückgang der Gletscher in den Alpen, wo die Almen damals in weit größere Höhen als in unserer Gegenwart hinaufverlagert werden konnten. Umgekehrt müssen die kalten Jahrhunderte vor dieser starken Klimaerwärmung weiter im Süden und Südosten erheblich mehr Niederschläge als üblich gebracht haben. Wie den Mongolen im 12. und 13. Jahrhundert kamen die ausgiebigeren Regen im 7. und 8. Jahrhundert den (heutigen) Wüstenvölkern im vorderasiatisch-arabischen Raum zugute, wo die Araber mit ihrer neuen Religion des Propheten Mohammed in nur gut einem Jahrhundert von 622 bis 750 den ganzen Nahen Osten, Nordafrika und große Teile Iberiens eroberten und damit zur Weltmacht in diesem Teil der westlichen Welt aufrückten. Dem europäischen Westen und der Mitte kam das zu niederschlagsreiche und kalte Wetter dieser Jahrhunderte dagegen nicht zugute. Es förderte die Wälder und war sicherlich ein entscheidender Anstoß für die Völkerwanderung gewesen, die sich dem besseren Klima zugewandt hatte. Im Hochmittelalter drehte sich dann aber alles fast um. Der Süden und der vorderasiatisch-arabische Südosten wurden trocken. Das schwächte die islamische Welt ein gutes halbes Jahrtausend lang, bis sie mit der erneuten Klimaverschlechterung in Europa und angeführt von den Türken eine neue Periode großer Macht93
entfaltung erreichten. Am Ende des Mittelalters, 1453, wird Konstantinopel von den Türken erobert. Über Jahrhunderte bedrängen sie Europa und können große Bereiche des Balkans ihrer Herrschaft einfügen. Im Hochmittelalter aber florierten der Westen und vor allem die Mitte Europas. Die Handelsbeziehungen weiteten sich entlang der breiten Zone günstigen Klimas tief nach Asien hinein aus. Marco Polo reiste 1271 nach China und kehrte 1292 aus Asien zurück. Ein halbes Jahrhundert vor ihm, 1227, war Dschingis Khan nach Westen bis ins Herz Europas vorgestoßen. Seine Mongolen wurden 1241 bei Liegnitz zurückgeschlagen. Aber da war der »Steppenwolf« schon über ein Jahrzehnt tot. Ein Jahrhundert später schlug die Pest zu. Ihr Kommen und ihre Wirkungen waren so gewaltig, dass bis heute keine Klarheit herrscht, worum es sich eigentlich gehandelt hatte. Sicherlich war die Beulenpest, hervorgerufen vom Erreger Yersinia pestis, daran maßgeblich mitbeteiligt, aber ob der Schwarze Tod allein von ihr ausgelöst wurde, bleibt umstritten. Die übliche Erklärung, sie sei mit den Schiffsratten und den Flöhen, die diese mitbrachten, nach Europa gelangt, reicht gleichfalls nicht aus, um ihre rasend schnelle Ausbreitung verständlich zu machen. Vor allem ist unklar, weshalb sich die Wanderratten (Rattus norvegicus) so schnell vermehrten und verteilten, wo doch ihre zwar kleinere, aber dafür alteingesessene Konkurrenz, die Hausratte (Rattus rattus), reichlich vorhanden war. Die mit den klimatischen Umstellungen verbundenen Veränderungen in den Witterungsabläufen vermitteln eine bessere Sicht auf diese Beziehung. Hausratten stammen aus den Tropen und Subtropen Asiens. Recht bezeichnend hießen sie auch »Dachratten«, um sie von den »Kanalratten« zu unterscheiden. Letztere Bezeichnung meint die draußen im Freien (Mitteleuropas) überlebensfähigen Wanderratten, während die Hausratten auf die warmen oder wenigstens temperierten Speicher angewiesen sind, wo das Getreide und andere Vorräte den Winter über gelagert wurden. Nun gab es im Spätmit94
telalter keine Kanalisation, wohin die Abfälle gelangen, von denen die Kanalratten hätten leben können, wohl aber große Systeme von Katakomben und Kellerverliesen. Bedarf für Kellerkerker bestand genug in den Zeiten des Ketzertums und der Inquisition, mit deren Durchführung im Jahre 1232 die Dominikaner vom Papst beauftragt wurden. Bald kam, um 1252, die Folter in entsprechenden Kerkern und Folterkammern hinzu. Den unter Tage lebenden Ratten wurden so nach und nach die geeigneten Wohnstätten errichtet. Die nun zur selben Zeit einsetzende Klimaverschlechterung drückt insbesondere im Winter die draußen im Freien an den Abfallhalden der Stadtund Burggräben lebenden Wanderratten zu den Menschen in die Gebäude. Viele Lebensmittel wurden nun in Kellern und unterirdischen Gewölben und nicht mehr oben auf den Dächern gespeichert. Solche Veränderungen vollziehen sich großflächig und unsystematisch auf eine Art und Weise, die in historischen Quellen kaum systematisch registriert wurde, weil der Einzelfall nicht bedeutsam erschien. Zudem waren die mittelalterlichen Städte und Siedlungen extrem dicht bebaut und besiedelt. Wo Teile davon erhalten geblieben sind, vermitteln sie zusammen mit alten Stichen ein gutes Bild von der mittelalterlichen Enge. Der zunehmenden Kälte konnten die Menschen nicht einfach und schnell begegnen, denn sie hatten keine dafür geeigneten Heizungen in den Gebäuden. Sie zogen sich wärmer an, was häufig bedeutet haben mag, dass einfach eine weitere Schicht über die schon vorhandene Kleidung gelegt wurde – ideal für Flöhe! Kienspan- und Kerzenlicht taugten abends und in den Nächten nicht für die Jagd auf Ratten oder die gezielte Verfolgung von Flöhen, die im Unrat der Böden ideale Entwicklungsbedingungen für ihre Larven bekamen. Das Leben der Menschen spielte sich nun einfach viel mehr in den Häusern als im Freien ab. Der Unterschied dürfte etwa dem heutigen Kontrast zwischen dem täglichen Leben im mediterranen Raum und hierzulande nördlich der Alpen entsprochen haben. Dieser Unterschied war mit dem 95
Ende der Warmzeit im Hochmittelalter zustande gekommen. Kurz: Die Pestzüge hatten ein günstiges Milieu vorgefunden, das es vorher so nicht gegeben hatte. Die Hintergründe dazu liegen in der rapiden Verschlechterung der Witterung. Diese Feststellung bestätigen die alten Chroniken zu den Hochwasserkatastrophen. Ganz zu Recht wird das Ende des Mittelalters daher als »Katastrophenzeit« eingestuft. Die Menschen verstanden nicht, was sich ereignete, weil sich zu viel zu schnell veränderte und das Althergebrachte keine Gültigkeit mehr zu haben schien. Das Volk flüchtete sich in Schuldbekenntnisse; die Kirche verstand es, die Bereitschaft zur Buße zu nutzen. Ablasszahlungen sollten helfen (wie in unserer Zeit die »Klimasteuer«). Eine erbarmungslose Verfolgung kritischer Geister fing an. Der zu sehr von der Natur und ihrer Betrachtung abgerückte Mensch des Mittelalters musste dennoch erkennen, dass Gebete und Beschwörungen nichts nützten, als die Schwärme der Wanderheuschrecken den Himmel verdunkelten und die karg gewordenen Ernten vernichteten. Sie stammten aus jenen Gegenden im Osten, denen die Regen der günstigen Zeit des Mittelalters saftige, produktive Weiden beschert hatten. Sie kamen wie die Heere der Mongolenreiter und die Schwärme von Vögeln, die sie nicht kannten und daher Pestvögel nannten.
8. Pestvögel & Heuschreckenplagen Der Vogelflug faszinierte die Menschen wohl seit jeher. Im Altertum hatten die »Auguren« und das »Auspizium« große Bedeutung, weil die Kundigen aus den Flügen der Vögel und aus ihrem Gedärm die Zukunft vorhersagten. »Avis«, der Vogel, war nicht einfach ein Tier (animal), sondern mit seiner Fähigkeit zu fliegen über die an den Boden oder ans Wasser 96
gebundenen Tiere hoch erhoben. Fliegen können wie ein Vogel wollte Ikarus, mit dem Absturz als Folge seiner Verwegenheit, der Sonne zu nahe gekommen zu sein. Die Vögel konnten so hoch fliegen, wie sie wollten. Gebirge und Meere bildeten für sie keine Grenzen. Woher sie kamen, die großen Vogelschwärme, und wo ihr Ziel lag, blieb weitestgehend ihr Geheimnis. Einen Vogel fliegen lassen zu können und ihn gleichsam mit dem Willen allein wieder zurückzurufen, als ob er an einer unsichtbaren Schnur in die Weiten der Lüfte aufgestiegen wäre, machte den besonderen Reiz der Falknerei aus. Die »Freien« bedienten sich dieser Kunst und entwickelten sie weiter. Die Kunst bestand nicht darin, dass der Adler oder der Falke nach Adler- und Falkenart jagte, sondern dass der Vogel zurückkehrte. Kein Wunder also, dass in Zeiten, in denen man dem Flug der Vögel wieder besondere Aufmerksamkeit schenkte, die Vogelzüge selbst auch wieder ins Blickfeld rückten. Wir wissen nicht, ob schon im Hochmittelalter die Kraniche jene Rolle (wieder) gespielt hatten, die ihnen Friedrich Schiller in seinem Gedicht »Die Kraniche des Ibykus« zugeteilt hatte: Rächer eines Raubmordes, die in den Lüften plötzlich erschienen und den Mördern den Mund öffneten. Wir können aber durchaus aus den Höhen der Dichtkunst in die Niederungen des Alltagslebens hinabsteigen und feststellen, dass die Vogelflüge tatsächlich für die vom Wetter und seiner Entwicklung so abhängigen Menschen eine wichtige Rolle als Vorboten gespielt hatten. Denn der Verlauf des Sommers im hohen Norden und in den Wäldern des Nordostwindes, von wo die großen Vogelzüge herkamen, nahm durchaus auch Einfluss auf die Witterung im Herbst und im kommenden Winter. Trafen die typischen »Winterflüchter«, die Scharen der Wildgänse zum Beispiel, sehr frühzeitig ein, so bedeutete dies, dass sich im Norden bereits Kaltluft ausgebreitet und die Vögel zum vorzeitigen Abzug gezwungen hatte. »Schneegänse« hießen sie noch bis ins 20. Jahrhundert hinein auf dem Land, weil ihr Kommen das Nahen von Frost und Schnee ankündigte. Umge97
kehrt bedeutete die Ankunft der Kraniche oder der Schwäne im Frühjahr, dass nun der Winter zu Ende gehen würde, auch wenn es vor Ort noch nicht danach aussehen mochte. Zu Zeiten, in denen es keine weitreichenden Schrotflinten gab, war den wachsamen Wasservögeln nur höchst unzulänglich mit Reusen und Netzen nachzustellen. Die mit rauen Rufen durch die Nacht rauschenden Wildgänse blieben unerreichbar für die Menschen, wie auch die Kraniche, die ihre Keile und Ketten an den Himmel zeichneten. Dagegen wusste man um eine andere Kunst und entwickelte diese zur Perfektion weiter: den Fang von Kleinvögeln mit Leimruten. Das, was manche Drosseln besonders anzog, wurde ihnen zum Verhängnis, nämlich die klebrigen Hüllen der Mistelbeeren. Aus ihnen ließ sich der Vogelleim herstellen, mit dem Ästchen und Sitzstangen bestrichen wurden, um der schmackhaften Drosseln habhaft zu werden. Je offener und »ausgeräumter« das Land geworden war, desto stärker sammelten sich die Drosseln und manche Arten der Finkenvögel in den verbliebenen Waldstücken auf Hügelkuppen oder in Bachtälern an. Dort wurden die »Vogelherde« gebaut. Später, in den kargen Jahrhunderten der Kleinen Eiszeit, erlangten sie eine große Bedeutung für die winterliche Fleischversorgung der hungernden Bevölkerung. Denn die Drosseln kamen in Schwärmen zu Hunderten oder zu Tausenden. Das dürfte im Mittelalter nicht grundsätzlich anders als in der Neuzeit oder zu Zeiten der Römer gewesen sein, die Drosseln als Leckerbissen schätzten und ihre Zungen wahrscheinlich als »Nachtigallenzungen« servierten, weil es echte Nachtigallen nie in solchen Mengen gegeben haben kann, dass ihre Zungen auch nur ein Schälchen in erkennbarer Menge gefüllt hätten. Nun aber tauchten im Spätmittelalter Vögel auf, die man gar nicht kannte. Merkwürdig seidig fühlte sich ihr Gefieder an, das mit Gelb und lackroten Spitzen an den Flügeln sicherlich mehr Aufmerksamkeit erregte als die in den alten Bildern festgehaltene kennzeichnende Federhaube auf dem Oberkopf. Pestvögel wurden sie genannt, denn sie, die bei 98
uns längst ›ordentlich‹ Seidenschwänze (Bombycilla garrulus) heißen, folgten mit ihrem plötzlichen Auftreten im Spätmittelalter den großklimatischen Umstellungen. Sie kamen, weil die Winter so kalt wurden und sich die Kälte weit nach Süden und Südwesten ausbreitete. Sie kommen seither regelmäßig sechsbis neunmal pro Jahrhundert in Großinvasionen. Ihre früheren Winterquartiere in den Flussniederungen der Nadelwälder des Nordens und Nordostens lieferten nicht mehr die Menge an »Vogelbeeren« der Ebereschen (Sorbus aucuparia), die sie den Winter über brauchen. Auf Beerensuche müssen sie nun weiter nach Süden und Südwesten fliegen; viel weiter als früher und seit dem 15. Jahrhundert auch hinein in die spätmittelalterliche Welt des Heiligen Reiches. Dort kannte man sie nicht. Dort waren aber die zu Zeiten der Kelten (und ihrer Druiden) vorhandenen Eichenwälder mit den Eichenmisteln (Loranthus europaeus) weithin verschwunden, weil in den warmen und wintermilden Gegenden Getreideanbau betrieben und die Schweinewirtschaft in Eichenwäldern zurückgedrängt worden war. Nun fingen, wohl zuerst in den Obstgärten, die eigentlichen Misteln (Viscum album) an, sich mit ihren unverkennbaren Kugelbüschen im Geäst zu vermehren, weil sie mit den Seidenschwänzen beste Verbreiter ihrer klebrigen Samenkerne erhalten hatten. Die Chroniken, die von jetzt an regelmäßig über große Einflüge solcher Vögel unbekannter Herkunft berichten, bezeugen damit auf indirekte Weise, dass auch im Norden und Nordosten das Klima kälter und rauer geworden war. Das Langzeitmuster ihres Auftretens hängt keineswegs damit zusammen, dass erst seit dem Spätmittelalter entsprechende Aufzeichnungen gemacht wurden. Denn es gab sie auch schon im 1. und 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung und dann wieder im 12., wie Kinzelbach (1995) im Quellenstudium feststellte. Doch ab dem 15. Jahrhundert gibt es regelmäßig Masseneinflüge, die offenbar in Zusammenhang mit der Aktivität der Sonne stehen. Denn der Rhythmus der Masseninvasionen folgt klar dem Sonnenfleckenzyklus (Reichholf 2005). 99
Abb. 4: Auftreten von Masseninvasionen der nordischen Seidenschwänze in Mittel- und Südeuropa nach historischen Quellen. Seit dem 15. Jahrhundert kommen diese früher als »Pestvögel« bezeichneten Wintergäste regelmäßig. Dieser Zusammenhang, der auch für zahlreiche andere Tiere der Arktis gilt, weist darauf hin, dass es historische Veränderungen in der Aktivität der Sonne gewesen sein können, die den Verlauf des Klimas bestimmt hatten. Zu- oder Abnahme der Einstrahlung von Sonnenwärme wirken weit eher in den hohen und mittleren Breiten als in Tropen und Subtropen mit ihren beständigen Wärmeüberschüssen. Der sich abzeichnende Rhythmus von rund 1000 Jahren Dauer könnte von der Sonne bestimmt sein. Auf die rund fünfhundert Jahre feuchter und kühler Witterung nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches setzte sich im 7. und 8. Jahrhundert eine markante Erwärmung durch, die zu den mittelalterlichen Rodungen führte und um das Jahr 1000 das mittelalterliche Wärme-Optimum bescherte. Der Rhythmus schwang nun abwärts weiter und erreichte im 17. Jahrhundert den Tiefpunkt, der sich als Hauptphase der ›Kleinen Eiszeit‹ klimatisch fassen 100
lässt. Seit dem 19. Jahrhundert ist ein neuer Aufschwung in Gang gekommen. Die Vorgänge in der Natur speichern Zeugnisse dieser klimatischen Veränderungen. Vielleicht sind die zur Ermittlung von Wetter und Klima vergangener Jahrhunderte hauptsächlich benutzten Jahresringauswertungen gar nicht so aussagekräftig, wie man annimmt, weil die Bäume bei ihrem Wachstum recht unterschiedliche Einflüsse der Witterung ausgleichen (müssen). So wirkt ein sehr später Frühlingsbeginn in Verbindung mit einem frühen Herbst stärker auf die Dicke des Jahresringes, weil dadurch die Dauer der Wachstumszeit, die sogenannte Vegetationsperiode, verkürzt wird, als anhaltend starke Fröste im Winter, wenn im Baum ohnehin das Wachstum ruht. Ähnliches gilt für den Verlauf des Sommers. Dauerhaft trockene Hitze kann die gleiche Wirkung auf die Jahresringbreite hervorbringen wie ein langer, harter Winter, während die Verbindung von niederschlagsreichen, kalten Wintern und monsunartig schwülem Sommerwetter beste Bedingungen für Bäume und Wälder, nicht aber für Getreide und Felder ergeben. Bäume »integrieren« in ihrem jährlichen Wachstum die unterschiedlichsten Einwirkungen. Integrieren bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ihr Zuwachs das Ergebnis zahlreicher Kompromisse zwischen Wärme, Licht und Wasserangebot einerseits und den vom Boden über die verfügbaren Mineralstoffe und den anderen Lebewesen mitbestimmten Bedingungen andererseits darstellt. Dieser Kompromiss ist zudem eingebunden in die jahreszeitlichen Abläufe und ihre jeweilige Dauer, wie Winter, Frühlingsbeginn und -verlauf, Insektenbefall oder Wasserstress im Sommer und das Ausmaß der »Nachwuchsproduktion« in Form von Samen und Früchten. So wichtig und aufschlussreich die Erforschung der Jahresringe und ihrer Veränderungen, als Wissenschaftsbereich Dendrochronologie genannt, in der Tat ist, so sehr bedarf sie der Ergänzung durch andere indirekte Daten, die zuverlässige Rückschlüsse auf die Lebensbedingungen zulassen. Das gilt für alle Daten, besonders aber für solche, die aus rein physika101
lisch-chemischen Messungen stammen. Ohne Anbindung an die wirklichen Lebensvorgänge bleibt ihre Verwendbarkeit begrenzt und die aus ihnen gewonnenen Werte können ziemlich bedeutungslos ausfallen. Je mehr unterschiedliche Arten von Tieren und Pflanzen in die Betrachtung der Vergangenheit mit einbezogen (und gegeneinander abgeglichen) werden können, desto besser werden auch die Folgerungen ausfallen, die daraus zu ziehen sind. Eine echte Plage, die von den Chronisten wohl stets genau aufgezeichnet worden ist, tritt nämlich in zeitlich engem Zusammenhang mit den »Pestvögeln« nach fast fünf Jahrhunderten plötzlich wieder in Mitteleuropa auf. Wenige Jahre vor Ausbruch der Pest vernichtet sie in Ost- und in weiten Teilen von Mitteleuropa die Ernten. Von 1337 bis 1339 überfluten nämlich gewaltige Massen von Wanderheuschrecken das Land. Die letzten Invasionen hatte es fast ein halbes Jahrtausend früher, von 873 bis 875, und noch ein weiteres Vierteljahrtausend davor, 593, gegeben. Die Menschen mussten sich an Beschreibungen im Alten Testament der Bibel erinnert gefühlt haben. Der Prophet Joel hatte darin den Einfall der Wüstenheuschrecke nach Palästina etwa auf folgende Weise geschildert: »Gleich wie sich die Morgenröte ausbreitet über die Berge, kommt ein großes, mächtiges Volk. Vor ihm her geht ein verzehrendes Feuer und nach ihm eine brennende Flamme. Das Land ist vor ihm wie ein Lustgarten, aber nach ihm wie eine wüste Einöde. Sie sind gestaltet wie Pferde und rasen wie Reiter. Sie jagen über die Berge daher, rasseln wie Wägen und wie ein Brand, der im Stroh lodert; sie kommen wie ein mächtiges Volk, das zum Kampf gerüstet ist. Die Menschen entsetzen sich vor ihm, und alle Gesichter erbleichen. Vor ihm erzittert das Land und bebt der Himmel. Sonne und Mond werden verdunkelt, und die Sterne verlieren ihren Schein.« Die Einflüge der Wanderheuschrecken fielen stets in Zeiten verstärkter Niederschläge, wenn in den Alpen die Gletscher 102
stark anwuchsen. Während des mittelalterlichen Klima-Optimums blieben sie aus. Sogar die letzte große Invasion, die in Brandenburg und Polen schwere Schäden verursachte, fand in den Jahren 1873–75 in einer Zeit statt, in der es extrem regenreiche und kühle Sommer gegeben hatte. Ein richtig heißer Sommer war zuletzt 1859 aufgetreten, und der klimatische Trend hatte um 1890 in der zehnjährigen Glättung einen Tiefstand erreicht (Schönwiese 1995). Für diese Zeit verfügen wir nun aber über bereits sehr genaue Angaben aus dem Bereich der Tierwelt. So stießen 1863 und insbesondere 1888 Tausende von Steppenhühnern (Syrrhaptes paradoxus) aus Innerasien nach Mittel- und Westeuropa vor (Wüst 1986). Diese hühnerartigen, aber nicht näher mit Hühnern verwandten Vögel leben in den asiatischen und (weitere Arten) in den afrikanischen Steppen und Halbwüsten, also in ähnlichen Lebensräumen wie die Wanderheuschrecken. Das zeitliche Zusammenfallen von Massenvermehrungen beider einander so fern stehenden Tiergruppen, die aber aus denselben Räumen kommen, weist auf die gleichen Ursachen hin. In Zeiten, in denen es in West- und Mitteleuropa weit überdurchschnittlich starke Niederschläge gegeben hatte und in denen die Gletscher in den Alpen kräftig wuchsen, drangen die Regenwolken mit ausreichender Fracht an Wasser tief genug nach Vorder- und Mittelasien hinein vor. Dort verstärkten sie das Wachstum der Gräser und die Erträge der Weiden. Doch es macht einen Unterschied, ob der Regen hauptsächlich die kalten Hochweiden von Tibet und der Mongolei begünstigt oder die heißen Tieflandsregionen um das Schwarze und Kaspische Meer oder im südlichen Vorderasien, in Arabien und Nordafrika. Die Vorstöße der Wanderheuschrecken nach Mitteleuropa können aus zwei Gebieten gekommen sein. Die großen Schwärme von 1337/38, 1542/43 und 1693 stammten wohl mit Sicherheit aus dem Schwarzmeerraum, denn die Ausbreitung entlang der Donau nach Westen und Nordwesten ist in den Chroniken gut dokumentiert. Sie können mit großer Sicherheit der Wander103
heuschrecke Locusta migratoria zugeschrieben werden. Ihre Hauptvermehrungsgebiete (für die Einflüge nach Mitteleuropa) liegen in den Steppen der Niederungen um das Schwarze und Kaspische Meer. Andere Einflüge, wie sie etwa aus dem Tiroler Inntal berichtet wurden, können auch von der afrikanisch-vorderasiatischen Wüstenheuschrecke (Schistocerca gregaria) verursacht gewesen sein. Die Größe der Wanderflüge lässt sich nachträglich nicht abschätzen. Angaben wie mehr als 92 Millionen in einem Schwärm, die durch das Saale-Tal zogen (Weidner 1953), können kaum mehr als eine grobe Größenordnung aufzeigen. Sicher nicht übertrieben sind aber die Aufzeichnungen, wonach man (bei Plauen) »kein Gräslein oder Blatt an den Bäumen sehen konnte«, und dass »Bäume an etlichen Orthen, zum Teil so stark als eines Mannes Bein, durch die große Last (der Heuschrecken) zerbrochen« sind und das Gras bis auf die Wurzeln abgefressen worden war (Chronik der Stadt Hof). Denn genauso sieht es auch in unserer Zeit an Orten aus, die von Wanderheuschrecken heimgesucht worden sind. Die weltweit in den Tropen und Subtropen betriebene Forschung an Wanderheuschrecken, die trotz der nun verfügbaren Insektenvernichtungsmittel ihren Schrecken nicht eingebüßt haben und in den letzten Jahren sogar wieder einmal von Westafrika zu den Kanarischen Inseln und bis an die Südwestspitze Spaniens gerieten, deckte die Zusammenhänge zwischen Temperaturen und Niederschlägen weitgehend auf. Sie können in Vorhersagen zur Massenentwicklung umgesetzt werden. Daraus lassen sich aber auch Rückschlüsse auf die Witterungsverhältnisse in den Ursprungsgebieten der großen Einflüge nach Mitteleuropa in den vergangenen fünf Jahrhunderten ziehen. Die hier vorhandenen Wetter- und Klimadaten können damit auf einen viel größeren Raum ausgedehnt werden, von dem es damals noch keinerlei Messwerte gab. Ganz unterschiedliche Tiere werden auf diese Weise zu Zeugen großer, für die Menschen höchst bedeutender Veränderungen. Abb. 5 fasst die Haupteinflüge mit der auf jeweils halbe 104
Abb. 5: Großinvasionen von Wanderheuschrecken in Mitteleuropa und der Verlauf des Klimas Jahrhunderte bezogenen Entwicklung des Klimas zusammen, das sich aus dem Wachsen und Schwinden der Alpengletscher ablesen lässt (Pfister 1990). Es zeigt sich, wie genau die Vorstöße der Wanderheuschrecken mit den kalten und feuchten Zeiten in den Alpen zusammenpassen und dass das warme Mittelalter von diesen wie auch von anderen Katastrophen verschont geblieben war. Ob Pest, verheerende Hochwasser großer Ausdehnung, die Ernten vernichtende Heuschreckenschwärme oder harmlose Seidenschwanzinvasionen, sie alle fügen sich wie Hauptstücke eines großen Mosaiks zu einem Bild der sich ändernden Natur zusammen. So gehen genau in der Zeit, als das unerklärliche Auftreten der »Pestvögel« in mitteleuropäischen Chroniken verzeichnet wird, die Ansiedlungen der Wikinger auf Grönland zugrunde. Eine massive Verschlechterung der Lebensbedingungen ganz allgemeiner Art dürfte für das Scheitern dieser sesshaften Bevölkerung die weitaus plausiblere Erklärung sein als die von Jared Diamond (2006) angenommene Unfähigkeit der dänischen Wikinger, sich nach Art der amerikanischen Eskimos 105
auf Robbenjagd und -fleisch umzustellen. Die mobilen, ihrer Lebensweise nach als Nomaden einzustufenden Inuits konnten dem weiträumigen Pendeln der Witterungsverhältnisse natürlich vergleichsweise leicht folgen, weil das ihrer normalen Lebensweise entsprach. Nicht anders verhielt es sich in Afrika vor der Festlegung starrer Grenzen durch die Kolonialmächte. Diese hindern seither die auf das Pendeln der Niederschläge im langjährigen (El-Niño-)Zyklus seit Jahrhunderten eingestellten Nomadenvölker daran, den Vorgaben der Natur zu folgen. In welch bedeutendem Umfang sich die wechselnden Niederschlagsverhältnisse auf die innerafrikanische Entwicklung und Verschiebung von Bevölkerungen ausgewirkt hat, wird unter dem Hauptbeispiel der Bantu-Wanderungen im letzten Abschnitt näher aufgegriffen. Gehen wir zurück zu den Wikingern und werfen wir nochmals einen Blick auf Grönland. Auch das Mutterland, inzwischen war das nordische Machtzentrum nach Dänemark (also südwärts!) verlagert worden, büßte gegen Ende des Mittelalters ganz erheblich Kräfte ein, die in den Jahrhunderten davor so hohe Überschüsse hervorgebracht hatten. Wie einst die Goten ein Jahrtausend früher beginnen nämlich nun auch die Schweden wieder zur südlichen Ostsee hinzudrängen und Küstenbereiche südlich davon in Besitz zu nehmen. So fügen sich die historischen Prozesse und die vom Klimawandel ausgelösten Umweltveränderungen immer besser und großflächig zu einem schlüssigen Bild zusammen. Nach dem ersten Vorspiel, das die Vorstöße der Alpengletscher »aufgezeichnet« haben, setzt nach 1500 die Kleine Eiszeit in voller Wucht ein. Der europäische Westen, der sich der Neuen Welt zuwendet, und dessen Gestade klimatisch vom Atlantik begünstigt sind, bekommt diese gewaltige Verschlechterung des Klimas vorerst am wenigsten zu spüren. Sie trifft das hierauf nicht vorbereitete Reich in der Mitte Europas am stärksten, denn östlich davon war die vorausgegangene Erwärmung nicht so weit vorgedrungen und vor allem auch landwirtschaftlich nicht so wirksam geworden, dass sich die 106
dortigen Völker in ihrer Lebensweise entsprechend umgestellt hätten. Sie werden nun die neuen Extremwinter besser ertragen können als die von den fast mediterranen Jahrhunderten verwöhnte Mitte.
9. Hochwasserkatastrophen Gleich mehrere Hochwasser der letzten Jahre wurden »Jahrhundertfluten« genannt. Sie scheinen nun in größerer Stärke und in gesteigerter Häufigkeit als in früheren Zeiten zu kommen: Pfingsthochwasser 1999 am Alpennordrand, die Elbflut vom August 2002 und ein weiteres, sehr starkes Hochwasser Ende August 2005, das gewaltige Schäden und großflächige Überschwemmungen von der Schweiz bis in den Osten Österreichs verursachte. Unmittelbar davor hatte es in den 1990er Jahren gleichfalls drei sehr starke Hochwasser an Rhein und Oder gegeben. Drei Katastrophenhochwasser in den sechs Jahren von 1999 bis 2005 erwecken zwangsläufig den Eindruck, dass sich gegenwärtig die Hochwasser in noch nie dagewesenem Maße häufen. Doch solche »Eindrücke« haben mit Zeit und Vergessen zu tun. Die Angaben der Versicherungen bestätigen die Häufung allerdings nur höchst vordergründig, weil sie auf (versicherte) Schäden bezogen sind. Das stärkste Hochwasser im ganzen 20. Jahrhundert, das Julihochwasser von 1954, liegt noch nicht einmal ein volles durchschnittliches Menschenalter zurück, und dennoch wird es in der Öffentlichkeit kaum noch einmal erwähnt. Am Inn bei Passau, dem zusammen mit dem Rhein wasserreichsten Alpenfluss Mitteleuropas, erreichte dieses Hochwasser 6000 Kubikmeter pro Sekunde. Die Menge ließ sich recht genau bestimmen, weil der untere Inn in eine Kette von Stauseen aufgegliedert und in Dämme gefasst ist, die kein Ausufern der Fluten mehr zulassen. Das Hochwasser von 1954 übertraf alle seitherigen 107
bei weitem, das schon zur »Jahrhundertflut« ernannte vom 23. August 2005 mit eingeschlossen. In der Rangfolge wurde es schon vom Hochwasser 1899 jedoch ganz klar an Pegelstandshöhe und noch viel mehr an Menge des Wassers übertroffen. Weitaus größere Überschwemmungen gab es 1786, und die höchste im letzten halben Jahrtausend über Wasserstände an Gebäuden verzeichnete Flut fand 1598 statt. Zahlreiche weitere Katastrophenhochwasser hatte es in den vier Jahrhunderten von 1500 bis 1900 gegeben. Sie wurden längst nicht alle an Gebäuden vermerkt, wenn sie unterhalb der früheren Spitzenwerte geblieben sind. Aber aus anderen Quellen lassen sich Häufigkeiten und ungefähre Höhe der Hochwasser ermitteln. Für den Rhein und seine süddeutschen Nebenflüsse sowie für die obere Donau werteten Glaser et al. (2002) die Daten aus. Sie konnten zeigen, dass es gut erkennbare Phasen unterschiedlicher Häufigkeit und Stärke der Hochwasser gegeben hat. So ist für den Niederrhein bei Köln und Koblenz die markanteste und stärkste Hochwasserperiode in den 100 Jahren zwischen 1350 und 1450 ausgebildet. Von 1500 bis 1650 folgt eine breitere und von 1700 bis etwa 1770 eine Zeit geringer Häufigkeit. Danach steigt die Hochwasserhäufigkeit steil an und erreicht um 1800 einen neuen Höchstwert, der 1900 zu einem fast historischen Tiefstand absinkt und seither wieder kontinuierlich auf das bislang dritthöchste (!) Niveau des ganzen letzten Jahrtausends angestiegen ist. Für die obere Donau ergeben die historischen Daten jedoch einen ganz anderen Verlauf. Der große »Rheingipfel« von 1350 bis 1450 ist hier nur schwach ausgeprägt. Erst nach 1500 steigt die Hochwasserhäufigkeit stark an und erreicht zwei markante Gipfel zwischen 1650 und 1680 sowie 1750 bis 1800. Ab dem frühen 19. Jahrhundert liegen für alle größeren Flüsse Messungen vor, die sowohl die Häufigkeit als auch die Stärke der Hochwasser hinreichend genau dokumentieren. Ganz allgemein besagen sie, dass die Fluten im 20. Jahrhundert weder häufiger gekommen noch stärker ausgefallen sind 108
als in den Jahrhunderten davor. Im Gegenteil: Für die beiden wasserreichsten Flüsse Süddeutschlands, den Rhein und den Inn, der beim Zusammenfluss mit der Donau in Passau mehr Wasser und erheblich stärkere Hochwasser als diese bringt, ergibt sich für die vergangenen 100 Jahre eine Abnahmetendenz. Das zeigen die genauen Aufzeichnungen für den Oberrhein und die Auswertungen zur Wasserführung des Rheins von Karl (1997) sowie die zahlreichen Hochwassermarken an Ufergebäuden. Dabei ist nämlich zu berücksichtigen, dass die großen Flüsse erst im 19. oder frühen 20. Jahrhundert reguliert und danach in Dämme oder Deiche gefasst worden sind. Die Verminderung des Durchflussquerschnitts erzwingt einen Anstieg der Fluthöhe bei gleicher Wassermenge. So hatte sich etwa das stärkste Hochwasser des 20. Jahrhunderts am Inn im Juli 1954 praktisch nicht mehr über die früheren Talweitungen ausbreiten können, die noch den starken Hochwassern vom August 1897, Juni 1940, September 1920 und September 1899 zur Verfügung standen, denn die Stauseen wurden erst ab 1942 gebaut. Die Abfolge der Jahreszahlen gibt die Stärke der Hochwasser (Abb. 6) wieder. 1954 rückte die Fluthöhe bis auf etwa einen Meter an den letzten Höchstwert von 1899 heran. Damals waren aber bereits erste »Abflussbeschleunigungen« über Durchstiche und Längsverbau des außeralpinen Inn getätigt worden. Am Rhein fing die Regulierung mit der Tulla’schen Korrektur Anfang des 19. Jahrhunderts fast genau 100 Jahre früher als am Inn an. Die Hochwasser zeigen dennoch das gleiche Bild größerer Höhe im 19. als im 20. Jahrhundert. Aus den Höhenlinien im Flusstal kann man einigermaßen verlässlich abschätzen, wie groß die Wassermengen gewesen sein dürften, die im Zustand des gänzlich unverbauten Wildflusses mehrere Meter höhere Anstiege der Flutspitzen als nach der Regulierung verursachten. Die Inn-Hochwasser von 1786 und vor allem das ganz gewaltige von 1598 müssen demnach noch ein Mehrfaches der Wassermenge gebracht haben als die mit 6000 109
Abb. 6: Hochwassermarken am unteren Inn in Schärding/Oberösterreich (Foto: Reichholf). Linke Seite vom Innufer aus, rechte Seite landseitig oben anschließend. Der Pfeil verweist auf die Position des Hochwassers 1954 in der landseitigen Fortsetzung auf die jeweils gleiche Höhe.
Kubikmeter pro Sekunde gemessene Flut von 1954. Größenordnungen von 20000 Kubikmeter pro Sekunde und darüber hinaus erscheinen realistisch, denn damals konnte sich die Überschwemmung auf fünf bis sieben Kilometer Breite im Tal ausdehnen. Der Vergleich mit dem Rhein vermittelt einen weiteren Aufschluss. Während sich im Donausystem, zu dem der Inn gehört, der spätmittelalterliche Gipfel um 1400 noch nicht abzeichnet, steigt die Hochwasserintensität nach 1500 stark an, obgleich der Rhein nur eine mittlere Hochwasserhäufigkeit erreicht und dessen zweithöchster Gipfel um 1800 deutlich verzögert auf die besonders großen und häufigen Hochwasser im System der oberen Donau zwischen 1730 und 1800 folgt. Das Spitzenhochwasser von 1786 am Inn deckt sich zeitlich 110
recht gut mit dem Extremhochwasser an Main und Neckar von 1784, das wohl in Zusammenhang mit dem Ausbruch des Vulkans Laki auf Island in den Jahren 1783/84 steht und gleichfalls mit »alpiner Verzögerung« den Inn und das Stromsystem der oberen Donau erfasste. Denn die wahrscheinlichste Erklärung für die in der Zeit verschobenen Verläufe der Hochwasser an Niederrhein und Donau/Inn ergibt sich aus der Zwischenspeicherung großer Mengen an Niederschlagswasser im Eis der Alpengletscher. Diese wuchsen, wie die Untersuchungen von Pfister (1990) für die Schweiz gezeigt haben, im Spätmittelalter sehr stark, allerdings um nach nur einem Jahrhundert Gletschervorstoß schon wieder zu schrumpfen. Erst nach 1500 setzte ein anhaltendes Gletscherwachstum ein, das im 19. Jahrhundert den Höchststand erreichte und danach rasch zu Ende ging. Seither ziehen sich die Gletscher zurück. Auf die Jahreswasserführung der Alpenflüsse hat das so gut wie keinen Einfluss, denn der Anteil des Gletscherwassers macht darin nur wenige Prozent aus (Karl 1997). Aber die Extremhochwasser müssen im Zusammenhang mit den alpinen Gletschern, den winterlichen Schneemassen und der Eisbildung auf den Flüssen gesehen werden. Viele der Katastrophenhochwasser der letzten Jahrhunderte, die zweite Hälfte des 20. ausgenommen, waren spätwinterliche EisstoßHochwasser gewesen. Sie führten dazu, dass der Rhein über die Mainmündung hinaus in manchen Jahren noch im April oder sogar Anfang Mai Eisschollen abtrieb. Damit taucht ein noch komplexerer Zusammenhang zwischen Hochwasser und klimatischer Änderung auf. In grober Bilanzierung lässt sich feststellen, dass die warmen Jahrzehnte und Jahrhunderte auch die »guten« gewesen sind, während die kalten und niederschlagsreichen die schlimmsten Hochwasser gebracht hatten. Werfen wir vor der Behandlung der Kältewinter und ihrer Auswirkungen auf die Natur Mitteleuropas noch einen etwas genaueren Blick auf den Zustand der Flüsse in den Jahrhun111
Abb. 7: Die Entwicklung der Wasserführung des Rheins im hydrologischen Sommerhalbjahr seit 1810 anhand der 10-jährigen Mittelwerte lässt keinen Rückgang erkennen, obwohl die Gletscher so stark abgeschmolzen sind. (Daten: J. Karl, 1997) derten vor Beginn der Regulierungen durch den Wasserbau. Was kennzeichnete sie damals, und worin unterschieden sie sich von den heutigen Verhältnissen? Zunächst gilt es, ein weitverbreitetes Missverständnis auszuräumen. Die Flüsse Mitteleuropas waren im 19. Jahrhundert vor den ersten Begradigungen und Ausbaumaßnahmen sicher nicht »im Naturzustand«, wenn damit jener Zustand gemeint sein sollte, in dem ein Fluss vom Menschen tatsächlich nicht nennenswert verändert ist. Ihr Fließen war zwar nicht wesentlich reguliert und ihre Hochwasser auch nicht gelenkt oder gebändigt. Aber dennoch waren längst so gut wie alle größeren Fließgewässer und die meisten Bäche nicht mehr »Natur«, auch wenn sie »natürlich« aussehen mochten. Seit Jahrhunderten waren sie vielfältigen Einwirkungen der Menschen ausgesetzt. Die Auen wurden genutzt zur Gewinnung 112
von Brennholz und als Weide für Rinder, Ziegen und Schafe. Sand und Kies wurden entnommen, Uferwege waren angelegt und als sogenannte Treppelwege auch dazu benutzt worden, mit Pferdegespannen Lastkähne gegen die Strömung flussaufwärts zu ziehen. Holz wurde geflößt, und die Flößerei stellte in früheren Zeiten das dar, was heutzutage die von starken Motoren getriebenen Lastkähne der Binnenschifffahrt sind: Verkehrsmittel auf Wasserstraßen. Natürlich wurde gefischt. Reusenanlagen sperrten ganze Flussarme ab. Es gab Korb- und Netzfischerei, Jagd und eine Wasserverschmutzung, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Aller Unrat, Schmutz und die Fäkalien aus den Städten gingen an den Flüssen einfach »ins Wasser«. Auch das Vieh, das zur Tränke kam, hinterließ Exkremente. Wenn wir die heutige Fischproduktion von Flüssen, die aus den Alpen kommen, und die schon seit Jahrzehnten kein ungeklärtes Abwasser mehr erhalten, mit den früheren Angaben zum Fischreichtum vergleichen, scheint etwas grundsätzlich nicht zusammenzupassen. Wo seit geraumer Zeit ein erwerbsmäßiger Fischfang nicht mehr lohnt und für das Sportangeln immer wieder neuer »Besatz« aus Fischzuchtanstalten nachgesetzt werden muss, wimmelte es »früher« nur so von Fischen unterschiedlichster Arten. Die Fischerei war so einträglich, dass »Fischrechte« auf Uferstrecken bezogen vergeben worden waren wie Rechte der Flurund Waldnutzung an Land. Auch noch die kleinsten Bäche wurden von Fischereirechten erfasst. Man fasste sie vielfach als »Verbundrechte« in den sogenannten Koppelfischereirechten zusammen. Das Privileg zum ausschließlichen Fischfang auf bestimmten Strecken konnte an Häuser gebunden sein, und es fiel automatisch den jeweiligen Bewohnern zu, weil diese die dem Haus zugedachte Funktion, etwa eine Fähre zu betreiben oder einen Uferbereich für das Anlanden von Schiffen instand zu halten, zu erfüllen hatten. Unterließe man heute in unseren sauber gewordenen Flüssen und Bächen den Besatz, würden lange Strecken etwa von Inn oder Isar kaum 113
zum Sportangeln locken. Großartige Erträge lassen sich auch mit intensiven Besatzmaßnahmen nicht erzielen. Schuld daran sind keinesfalls die fischefressenden Wasservögel, denn solche hatte es in früheren Zeiten auch und wahrscheinlich sogar in weitaus größeren Mengen gegeben als in der Gegenwart. Wo es in unserer Zeit außerordentlich fischreiche Flüsse gibt, kommen auch Wasservögel in großen Mengen und eindrucksvoller Vielfalt vor. Wie soll man aber die Chroniken verstehen, die von Fischzügen solcher Stärke berichten, dass das Wasser schwarz geworden war, weil die Fische Rücken an Rücken daherkamen? Raubfische, wie die großen Huchen (Hucho hucho) in der Donau und ihren Nebenflüssen, erreichten nach heutigen Standards wahre Rekordgrößen. Wanderfische müssen durch viele Flüsse gezogen sein wie Heringsschwärme im Meer. Im Hohen Mittelalter war es angeblich den Bürgern in Köln zeitweise untersagt, den Dienstboten mehr als fünfmal die Woche Lachs zu essen zu geben. Ob übertrieben oder nicht, dass damals Lachse den Rhein in Mengen hochgezogen kamen, steht außer Zweifel. Kaum etwas anderes fällt für die früheren Jahrhunderte so übereinstimmend aus wie die Angaben zum Fischreichtum in den Gewässern. Kein Fluss, kein See ist davon anscheinend ausgenommen. Die Chroniken berichten von großartigen Ergebnissen der Netzfischerei. Fisch als Nahrungsmittel war so begehrt, dass im späten Mittelalter große Fischteiche und Teichanlagen angelegt wurden, in denen vor allem Karpfen gezüchtet wurden. Die Aischgründer und die Oberpfälzer Karpfenteiche, die riesigen Teichanlagen von Mähren und in der Brenne Ostfrankreichs und viele weitere Fischteiche wurden damals angelegt. Die meisten davon gehen auf Klöster zurück. Bezeichnungen in der Teichwirtschaft wie »Mönch« zeugen davon. In unserer Zeit halten Ringkanalisationen die meisten Seen sauber. Die menschlichen Abwässer werden über hochwirksame Kläranlagen gereinigt, und wenn irgendwo Giftstoffe in einen Fluss gelangen, berichten sogleich die Medien von 114
dieser Umweltkatastrophe. Die Teichwirtschaft sichert ihre (hohen) Erträge mit massivem Einsatz von Futtermitteln für die Fische. Ohne diese würde sich heutzutage kaum noch eine rentieren. Die Paradoxie dehnt sich sogar noch weiter aus, wenn wir auch anderes Wassergetier betrachten, das einstens (große) Bedeutung hatte. Zum Beispiel die Krebs- und die Perlmuschelfischerei. Flusskrebse gab es bis in das späte 18. Jahrhundert reichlich. Eine Fülle von speziell auf den Krebsfang ausgerichteten Geräten gibt davon ebenso Zeugnis wie umgangssprachliche Begriffe. »Krebsrot« zu werden benutzen wir als Zeichen für einen starken Sonnenbrand. Das wirkliche »Krebsrot«, den nach dem Fluss- oder Edelkrebs Astacus benannten Farbstoff ›Astaxanthin‹, kennt aber kaum jemand aus eigener Erfahrung. Zwar erholen sich in manchen Bächen die Flusskrebsvorkommen gegenwärtig wieder etwas, aber von früheren Verhältnissen kann dennoch überhaupt nicht die Rede sein. Noch schlechter steht es um die Flussperlmuschel (Margaritifera margaritifera). Allen Bemühungen des Artenschutzes zum Trotz, die letzten Restvorkommen zu erhalten, sieht es nicht gut aus für sie. Die Muschelbänke erzeugen kaum noch Jungmuscheln, oder sie haben überhaupt keinen Nachwuchs mehr. Nun waren aber in früheren Jahrhunderten, als zum Beispiel im Bayerischen Wald die Glashüttenindustrie Einzug gehalten und das Gebiet von weit mehr Menschen als heute besiedelt war, die hochgradig giftigen Abwässer keineswegs geklärt worden. All das, was andernorts Gerbereien oder Färbereien an Abwässern erzeugten, lief gleichfalls als stinkende Giftsoße in die Bäche oder Flüsse. Dennoch hatten diese, von örtlichen Schäden abgesehen, offenbar nicht nur keine geringere Produktivität als gegenwärtig nach so gründlicher Abwasserreinigung, sondern eine sehr viel höhere. Fische, Krebse und Muscheln lebten in den Bächen, Flüssen und Seen in Hülle und Fülle, aber aus hygienischer Sicht herrschten darin katastro115
phale Verhältnisse. Warum das so war, wird klar, wenn man die Vorstellung von »unregulierten Flüssen im Naturzustand« aufgibt. Zwar hatten die Menschen seit dem Mittelalter wenig sichtbaren Einfluss auf die Struktur der Wasserläufe genommen, dafür aber umso mehr das Leben in den Flüssen verändert. Denn die Abwässer von Mensch und Tier düngten die Fließgewässer ununterbrochen und versetzten von Natur aus »magere« Flüsse in hochproduktive Zustände. Was Menschen und Haustiere ausscheiden, steckt voller verwertbarer Nährstoffe, die keineswegs nur den Böden auf den Fluren als Biodünger zugutekommen und ihre Erträge heben, sondern auch den Gewässern. Von den organischen Reststoffen und den Massen von Bakterien, welche die Exkremente durch- und zersetzen, leben die Kleintiere des Bodenschlammes und der flachen, wenig durchwirbelten Uferzonen der Gewässer. Voraussetzung für ihr Wirken ist allerdings, dass reichlich Sauerstoff vorhanden ist oder nach dessen Zehrung durch die Wasserwirbel rasch genug wieder nachgeliefert wird. Der unregulierte, »offene« Fluss hatte diese Struktur. Ihre Wirkung wurde sogar noch verbessert, weil so viele und weitläufige Uferbereiche offen gehalten worden waren. Die Flussauen dienten seit Jahrhunderten als Weideland. Die uralte Bezeichnung ›Aue‹ meint ›Wasserwiese‹. Das Vieh konnte bei drohendem Hochwasser vergleichsweise rasch auf sicheren Grund herausgeführt werden. Denn die Siedlungen legte man nicht in den von Überschwemmungen gefährdeten Niederungen, sondern an deren Rändern an. Heute werden die meisten Flussauen als Ackerland genutzt. Bei Überschwemmung geht die Ernte buchstäblich zugrunde. Ungleich besser passte die Weidewirtschaft zur Wasserdynamik in der Flussaue; Besiedlung und feste Felder gab es kaum oder nur an solchen Stellen, die selten genug vom Hochwasser heimgesucht wurden. Die alten Karten zeigen, dass die Dörfer und Städte im Allgemeinen den Flutgrenzen folgten und nicht in die Überschwemmungsbereiche hineingelegt worden waren. Weidevieh und die Abwässer der Sied116
lungen stellten also die Grundlage für die hohe Produktivität der Flüsse an Fischen und Krebsen, an Muscheln und auch an Insekten dar. Diese schwärmten in früheren Zeiten in solchen Mengen, dass sich manchmal zentimeterdicke Schichten von toten Leibern bestimmter Arten von Eintagsfliegen bildeten. »Uferaas« wurden diese Wasserinsekten genannt, deren Larven im nahrungsreichen Flachwasser leben und zusammen mit anderen Arten der Gruppen von Köcherfliegen, Eintagsfliegen und Steinfliegen die wichtigste Nahrung für viele Fische darstellen. Sie selbst verbrauchen die organischen Reststoffe, die ins Wasser hineinkommen. Im echten Naturzustand wäre dies der Abfall an Blättern und anderen Pflanzenteilen aus dem Auwald gewesen, der die Ufer dicht gesäumt und vor zu starken Abtragungen und Uferverlagerungen geschützt hatte. Beweidung und Holznutzung degradierte frühzeitig die Auwälder zu lückigem Buschwerk. Ganz entsprechend sind die Flüsse auf den Bildern der Landschaftsmaler dargestellt. Es gibt weitflächige Kiesbänke und vielfach einzeln stehende Baumgruppen, unter denen Hirten und Kühe Schatten fanden. Gewiss, die Flüsse, zumal die größeren, machten unreguliert einen »wilderen« Eindruck als die begradigten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In diesen sollte das Wasser möglichst schnell und ungehindert abfließen. Natürlicher waren sie jedoch dadurch nicht geworden. Der Wasserbau des 20. Jahrhunderts führte sie dann von einem bereits menschengemachten Zustand in einen anderen über. Unsere heutigen Vorstellungen von Sauberkeit entziehen den Flüssen die letzten Möglichkeiten, biologische Produktivität zu entfalten, denn mit dem Säubern des Abwassers von organischen Reststoffen wird ihnen die Nahrung genommen. Früher gab es, auf den »Naturzustand« bezogen, viel zu viel davon, jetzt aber zu wenig. Hieraus erklärt sich sowohl der frühere Reichtum an Fischen und Krebsen, Perlmuscheln und Massenschwärmen von Eintagsfliegen als auch ihr heutiger Rückgang oder das weitgehende Fehlen trotz » sauberen Was117
sers«. Die organischen Reststoffe hatten den Fischen eine so überreiche Nahrungsgrundlage an Insektenlarven und schlüpfenden Wasserinsekten geboten, dass sie nicht in der Lage waren, die Schwärmflüge erkennbar zu dämpfen. Von den organischen Resten lebten auch die Muscheln, die Perlmuscheln in den Waldbächen zumal, weil die Täler von Ziegen und auch von Rindern beweidet worden waren. Das hielt die Ufer der Bäche offen, sonnig und verhinderte, dass wie gegenwärtig fast nur Nadeln als pflanzlicher Abfall in die Bäche fallen und diese versauern lassen. Wo Muscheln leben können, gibt es auch Wasserschnecken, große Würmer und anderes Kleingetier im Wasser, von dem sich die Krebse ernähren. Sie dürften auch von zahlreichen Tierkadavern profitiert haben, die früher ins Wasser gelangten. Frösche gab es an den flachen Buchten, an die das Vieh zur Tränke kam, in großen Mengen. In den früheren Jahrhunderten kannte man das Phänomen der »Krötenzöpfe«. Diese entstehen, wenn mehrere Männchen der Erdkröte (Bufo bufo) ein großes Krötenweibchen klammern und so lange unter Wasser drücken, bis dieses stirbt und daher keine Abwehrlaute mehr von sich geben kann. Immer mehr Männchen kommen nun hinzu und klammern ebenfalls, bis ein Gebilde entsteht, das wie ein aus Kröten gemachter Zopf aussieht. Wo sich Erdkröten zum Laichen zu Hunderten oder gar zu Tausenden einfinden, kann so etwas geschehen. Abends schallten dann im Mai und Juni die Chöre der Laubfrösche aus diesen flachen Ufergewässern kilometerweit übers Land. Die alten Angaben zu Vorkommen und Häufigkeit sowie über Merkwürdigkeiten allgemein bekannter Tierarten lassen sich gemäß den heutigen Verhältnissen oft kaum noch verstehen. Erst wenn wir die früheren Verhältnisse in der Landnutzung berücksichtigen, ergeben sich sinnvolle Zusammenhänge. Eine weitere bedeutsame Veränderung in der Wasserführung der Flüsse ergab sich natürlich auch aus anhaltenden Trockenperioden. Solche können kalte Winter mit Dauerfrost, aber auch heiße, trockene Sommer verursachen. Vor wenigen Jahren 118
hatte der so niederschlagsarme Hitzesommer von 2003 gleichsam einen späten Nachtrag aus der Frühzeit des 2. Jahrtausends vorgeführt. Im warmen Hochmittelalter gab es deswegen kaum Hochwasser, die für wert befunden wurden, in den Chroniken vermerkt zu werden, weil die Flüsse insgesamt viel weniger Wasser führten. Dieser Zustand zeigte sich im Hoch- und Spätsommer 2003, als Rhein und Donau und andere Flüsse in Mitteleuropa auf »Rekordtiefs« abgesunken waren. Wie schon erwähnt, war der Trockenbau der berühmten Steinernen Brücke in Regensburg deswegen möglich, weil die Donau damals so wenig Wasser führte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sich die »üblichen« Verhältnisse der Wasserführung in der Wärmezeit des Hochmittelalters im Vergleich zur Gegenwart regelrecht umgedreht: Viel Wasser kam im Winter und wenig im Sommer. Der Wechsel auf ungefähr heutige Verhältnisse kam mit dem großen Umschwung der Witterung zu Beginn der Kleinen Eiszeit, als Schnee und Eis dominant wurden und langer, tiefer Frost das Wasser zurückhielt. Seither führen viele Flüsse im Winter am wenigsten Wasser. Im Frühjahr steigt mit der Schneeschmelze und dem Eisaufbruch die Menge rasch wieder an, und zwischen 1500 und 1900 gab es viele sehr schwere »Winterhochwasser«. Die Chroniken zeigen erstaunlicherweise während der Kleinen Eiszeit auch vermehrt Extremhochwasser im Spätsommer und Herbst. Die in den letzten 100 bis 150 Jahren gemessenen Werte für den Jahresgang der Wasserführung unserer Flüsse müssen deshalb keineswegs »typisch« sein. Die Hochwasser weisen mit Lage und Stärke auf andere Abflussverhältnisse in früheren Jahrhunderten hin, deren ökologische Folgen in den Flüssen wir nicht abschätzen können. Die Wasserbaumaßnahmen änderten auch diese »Vorgaben« der jüngsten Vergangenheit schon wieder. Das Niederschlagswasser kommt nun immer schneller aus dem Einzugsgebiet zum Hauptlauf, wo die Scheitelwellen eines Hochwassers entsprechend steiler auf- und durchlaufen als in früheren Jahrhunderten. Was im 16. und 17. Jahrhundert noch gar nicht als 119
Hochwasser angesehen worden wäre, kann nun bereits zum mittleren Hochwasser anschwellen und am Unterlauf Schäden verursachen. Wo vor den Regulierungen in weit auseinandergezogenen und verzweigten Flussläufen das ganze Spektrum der Fließgeschwindigkeiten zwischen Stillstand oder sogar rückwärts gerichteter Strömung bis hin zu mehreren Metern pro Sekunde vorhanden war, schießt nun der allergrößte Teil des Wassers durch einen engen Schlauch mit stark überhöhter Geschwindigkeit. Das hat Folgen für Stärke und Häufigkeit der Überschwemmungen und für die Sicherheit von Dämmen und Deichen, aber auch für die ökologischen Vorgänge im Fluss. Die früheren Verhältnisse sagen uns aber nicht einfach, wie der Fluss seiner Natur nach sein soll(te). Vielmehr geht aus ihnen nur hervor, wie er einmal (auch) war. Flüsse sind allerdings von Natur aus auch nicht »festgelegt« auf bestimmte Zustände, die »richtig« sind. Sie verändern sich beständig von den Quellen bis zur Mündung und über die Jahreskreise und die Zeiten. Es gibt keinen Sollwert für die Wasserführung des Rheins oder der Elbe und auch keinen idealen Verlauf der Jahresgänge, so wenig, wie es die ideale oder die richtige Witterung gibt. Anders als die viel beständiger erscheinenden, weil träger reagierenden Wälder oder die Menschenwelt mit ihren Zielvorgaben drücken die Flüsse aus, wie sehr die Natur »in Fluss« ist. Darin gleichen sie der Witterung und dem Klima. Ob sie unnatürliche Extreme bringen, hängt davon ab, was wir für Vorstellungen damit verknüpfen. Doch genauso unnatürlich wäre es anzunehmen, dass die Flüsse immer gleich fließen würden und das Wetter alle Jahre auf dieselbe Weise verlaufen sollte.
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10. Kältewinter In Basel hatte der Frost Bäume gesprengt, dass sie mit einem Knall wie Kanonendonner platzten, berichten die Chronisten (Pfister 1990). In ähnlicher Weise, aber in der für ihn bezeichnenden Genauigkeit der Naturschilderung, beschreibt Adalbert Stifter das Krachen von Bäumen in seinem Essay »Aus der Mappe meines Urgroßvaters« für den Böhmerwald. Die »alten Meister« der holländischen Malerei fertigten Winterbilder, die bis heute nichts an Eindrucksstärke eingebüßt haben. In den Chroniken wird beschrieben, wie lang und kalt dieser oder jener Winter war, unter dem die Menschen im 17. und 18. Jahrhundert zu leiden hatten. Berichte über das Zufrieren des Bodensees werden wegen ihrer genauen Datierung und aufgrund der guten Vergleichbarkeit mit den Verhältnissen im 20. Jahrhundert als Zeugnisse vermehrt aufgetretener, sehr kalter Winter während der Hauptphase der Kleinen Eiszeit gewertet. Was bedeuteten sie für die Natur? In den ersten beiden Jahrhunderten der Neuzeit, nach dem Ende des Mittelalters, waren die Menschen in Europa noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie umfangreiche Beobachtungen an der Tier- und Pflanzenwelt hätten anstellen oder davon berichten wollen. Aus indirekten Quellen geht jedoch mehr hervor. So zum Beispiel aus den Volkserzählungen. Danach verschärften sich bis ins 19. Jahrhundert hinein die Auseinandersetzungen zwischen Jägern und Wilderern. Vor allem im Alpenraum gibt es viele Berichte und Legenden zu den »Wildschützen«. Die »Jäger« empfindet das Volk als die Bösen, weil sie Obrigkeit vertreten, die Wildschützen hingegen sind die Guten. Die Kämpfe, die auf Leben und Tod ausgefochten wurden, bringen neben ihrer sozialen und politischen Seite klar zum Ausdruck, wie selten das Wild geworden war. Wären damals Rehe und Hirsche oder die Gämsen oben in den Bergen so häufig wie in unserer Zeit gewesen, hätten die Wilderer ihretwegen 121
kaum ihr Leben riskiert. Adel und Kirchenfürsten hätten sich kaum eigene Jäger geleistet, die auch zu den damaligen Zeiten nicht gerade billig gewesen sein dürften. Unser heutiges, für das deutschsprachige Mitteleuropa so bezeichnende, weil auf den feudalen Ursprung zurückgehende Revierjagdsystem entwickelte sich aus der Privilegierung der Jagd in den vergangenen Jahrhunderten. Hätte es Wild in Hülle und Fülle gegeben, wäre sicherlich nicht so viel Aufhebens gemacht worden. Den Zweck, das Jagdvergnügen für Adel und hohe Geistlichkeit zu gewährleisten, hätten wie im Mittelalter umzäunte Wildparks und Fasanerien erfüllen können. In Ortsnamen finden wir solche bis heute. Doch in vielen Schilderungen und Darstellungen wirken noch die Moritaten von Wilderern bis in die heutige Zeit nach wie zum Beispiel in Oberbayern im Lied vom Wildschütz Jennerwein. Die besondere Stellung der »Gebirgsschützen« spricht in diesem Zusammenhang für sich. So privilegiert sind diese Schützen, dass sie den gegenwärtigen Papst Benedikt XVI. als Ehrenmitglied unter sich haben wie auch den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. Die Abgründe, die sich über Jahrhunderte zwischen Wilderern und Jägern aufgetan hatten, fanden auch im Jagdgesetz ihren Niederschlag. All diese Befunde drücken aus, wie sehr es in den vergangenen Jahrhunderten an Wild mangelte. Draußen im Flachland, in den wenig oder kaum bewaldeten Flächen zwischen den Feldern und Weiden, fingen die Wilderer Hasen und Kaninchen mit Schlingen. Eier von Möwen und Kiebitzen galten als Delikatesse und waren sehr gesucht zu Zeiten, in denen es sie auf den weitflächigen, offen gehaltenen Mooren, Feuchtwiesen und an den Seen gab. Für die Nutzung der Brutkolonien von Lachmöwen (Larus ridibundus) auf Weihern und Seen wurden eigene Lizenzen ausgestellt und Bestimmungen zum Sammeln der Eier erlassen; so etwa in den fränkischen Weihergebieten oder am Röthelsee bei Cham im Bayerischen Wald. An der Küste wurden auf fast allen irgendwie erreichbaren Inseln die Brutkolonien der Seevögel regelrecht 122
geplündert, wo keine klaren Rechtstitel auf den Grundbesitz Einschränkungen machten oder das Eiersammeln ein allgemeines, aber reguliertes Recht darstellte. Im Binnenland wurden Kiebitz- und später im Jahr Wachteleier mühevoll gesucht und auf Märkten verkauft. Der Goldregenpfeifer (Pluvialis apricaria) brütete in Nordwestdeutschland damals auf den großen Mooren noch in einer eigenen Unterart, die jedoch schon im 19. Jahrhundert nach und nach verschwand und schließlich ausstarb. Fasane kamen noch nicht vor. Sie wurden erst im späten 19. Jahrhundert eingebürgert. Die Versuche, mit dem Jagdfasan eine weitere Niederwildart heimisch zu machen, schlugen anfänglich weitgehend fehl. Wirklich erfolgreiche Einbürgerungen des Fasans (Phasianus colchicus) kamen stellenweise erst Ende des 19. und weithin im 20. Jahrhundert zustande. Intensiv wurde das Raubwild bekämpft, dem Krähen und Elstern als »Raubzeug« beigesellt wurden, um das Nutzwild zu begünstigen. Zum Fang von Krähen dienten spezielle Massenfallen. Die Freilandvorkommen des Uhus rottete man nahezu aus, weil so viele der »Aufe« für die sogenannte Hüttenjagd gebraucht (verbraucht) wurden. Dazu band man einen gefangen gehaltenen Uhu gut sichtbar auf einem Pflock oder an einem kleinen Hügel fest. Den wehrlosen, aber wild drohenden Vogel griffen Krähen, Elstern und Greifvögel wie Milane, Bussarde und Habichte rasch an. Von der ›Aufhütte‹ aus schoss man sie ab. Die Massenvernichtung von Greifvögeln und Kleinraubtieren wie Füchse, Marder, Wiesel und die Ausrottung größerer Arten wie Wildkatze und Luchs wären bei dem Aufwand, mit dem sie betrieben wurden, ebenso wenig verständlich wie die Kämpfe zwischen Jägern und Wilderern, wenn es um nichts wirklich Wichtiges gegangen wäre. In diesen Jahrhunderten der Kleinen Eiszeit nahm der Vogelfang seinen großen Aufschwung. Was sich beim Singvogelfang in unserer Zeit noch in Belgien oder gebietsweise in Italien sowie auf Malta oder Zypern abspielt, ist kaum mehr als ein Nachhall der großen Zeit des Vogelstellern, das in ganz 123
Mittel- und Südeuropa in großem Stil betrieben worden war. Wiederum drückt sich diese Gegebenheit insbesondere auch in den zahllosen Spezialgeräten und Fangmethoden aus, die ohne Bedarf und entsprechende Abnehmer sicherlich nicht erfunden und einsatztauglich hergestellt worden wären. Aufschwung nahm auch der Handel mit lebenden Kleinvögeln. Die Figur des »Vogelhändlers« fand Eingang in die Musik und in eine Oper der Spitzenklasse. Erst in der Spätzeit des Singvogelfanges dienten besondere Vogelarten zur »Belustigung«. Gimpeln brachte man das Pfeifen von Nationalhymnen bei; Sängerwettbewerbe wurden mit Buchfinken abgehalten, und eine in diesen Jahrhunderten von den Kanarischen Inseln eingeführte Girlitzart, der Kanarengirlitz (Serinus canaria), eroberte als »Kanarienvogel« die Bürgerhäuser, wo rasch besondere Formen gezüchtet wurden. »Harzer Roller« bezeichnet seither nicht mehr nur eine Käsesorte, sondern auch einen wie frisiert aussehenden Kanarienvogel. Die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert lässt sich bei dieser Betrachtung ziemlich gut zweiteilen wie die unmittelbare Geschichte. Zuerst schlitterte das Heilige Reich mit Inquisition, Hexenverbrennung, Reformation und Gegenreformation sowie dem fürchterlichen Dreißigjährigen Krieg in seine unheiligste Zeit hinein. In weiten Bereichen Mitteleuropas war die Bevölkerung auf die Hälfte der Menge des Mittelalters vor den großen Pestzügen zurückgegangen. Kältewinter und miserabler Ausgangszustand der Überlebenden schränkten anfänglich die Bevölkerungszunahme noch ein. Weitere Seuchenzüge folgten. Die Wüstungen, die in den Grenzertragsbereichen des Landes entstanden waren, weil ganze Siedlungen aufgegeben werden mussten, ermöglichten eine Ausbreitung des Waldes, während gleichzeitig Holzmangel herrschte. Denn auch der Wald braucht Zeit zu seiner Wiedererholung. Die kulturelle Reaktion der Bevölkerung gleicht in einer ganzen Epoche dem Gefühl »Hurra, wir leben noch!« – Barock wird sie genannt. Das dralle, überschäumende Lebensgefühl der Barockzeit lässt 124
sich verstehen aus der dezimierten Bevölkerung, die wieder anwachsen konnte und bald auch die schwierigste Zeit besonders ungünstiger Witterung hinter sich gebracht hatte. Übernutzt und ausgemagert, wie das Land weithin war, vertrug es bei weitem nicht die Mengen an Wild, insbesondere an Schalenwild, wie heutzutage in den Jahrzehnten des Überflusses. Der Zehent lastete als kaum zu ertragende Naturaliensteuer auf der Landbevölkerung und trieb sie zunehmend in die Abhängigkeit von Landadeligen bis in den Zustand der Leibeigenschaft. Die noch immer für Getreide ungünstigen klimatischen Verhältnisse erzeugten bei der einsetzenden Bevölkerungszunahme massiven Fleischmangel. Das Wild aber war »unantastbar« und damit aus der Sicht der Bauern höher eingeschätzt als ihr eigenes Überleben. Demzufolge galt die Wilderei nicht nur nicht als Vergehen oder gar als ein Verbrechen, wie es die Obrigkeit sah, sondern als legitime Gegenwehr der Armen gegen die Benachteiligung. Nochmals: Hätte es Wild wie in unserer Zeit gegeben, mit allen Folgen, wie Flur- und Waldschäden, wären weder die Konflikte zwischen den »feigen Jägern« und den verehrten »Wildschützen« so recht vorstellbar noch das Ausweichen zunehmender Teile der Landbevölkerung auf den Vogelfang und die Nahrungsbeschaffung aus den Wäldern. Umgekehrt wäre ein Vogelfang des Ausmaßes, wie er im 18. und zum Teil noch im 19. Jahrhundert praktiziert worden war, bei dichter Bewaldung unmöglich gewesen, weil nur ein entsprechend offenes, durch starke Be- und Überweidung degradiertes Land diese großen Mengen von Vögeln bestimmter Arten ermöglicht. Die Massenarten des Vogelfanges waren »Bodenvögel« wie Drosseln, Stare und Finken und nicht echte Waldvögel wie Meisen, Grasmücken oder Laubsänger. Selbst die Wildtauben brauchen offenes Land und Zugang zum Boden, um in großen Beständen vorkommen zu können. In unserer Zeit führt uns der starke Rückgang fast aller Vogelarten der Fluren vor Augen, wie sehr sich die Verhältnisse im Vergleich zu früheren Jahrzehnten geändert haben. Sogar Arten 125
wie die Feldlerche (Alauda arvensis) sind mittlerweile davon stark betroffen, obgleich sie niemand fängt, um sie zu essen. Den nach wie vor anhaltenden Rückgang der Rebhühner (Perdix perdix) beklagten die Jäger allerdings schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als nach heutigen Vorstellungen hierzulande die Welt noch »in Ordnung« war. Besonders gute Einblicke in die Natur Mitteleuropas früherer Jahrhunderte gibt uns die »Kulturgeschichte« der Stare (Sturnus vulgaris), einer inzwischen weithin selten gewordenen Vogelart. Noch vor gut 30 Jahren gab es sie in solchen Schwärmen, dass in manchen mitteleuropäischen Weinbaugebieten Kleinflugzeuge als »Starenjäger« eingesetzt wurden, um sie zu vertreiben. In den 1970er und 1980er Jahren flogen solche Flugzeuge zum Beispiel am Neusiedler See. Sie jagten die Starenschwärme »hinüber« nach Ungarn über den Eisernen Vorhang. Die sichersten Schlafplätze auf ihrem Herbstzug fanden die Stare damals in den Zentren der Großstädte. Zehntausende fielen in den 1960er Jahren am Münchner »Stachus« auf den Bäumen in der Mitte des Platzes und vor allem auf den Fassaden der Häuser um den Stachus ein, der damals als »Europas verkehrsreichster Platz« galt. Der Lärm der übernachtenden Stare hielt länger in die Nacht hinein an als der Autoverkehr. An den Knotenpunkten des Vogelzuges erreichten die Starenschwärme noch vor 50 Jahren Millionenstärke. Der bisher nie genauer erfasste Rückgang dürfte sich in Größenordnungen von 80 bis 90 Prozent des Bestandes bewegen. Doch weshalb kam es überhaupt zu solchen Starenmassen? Die Antwort reicht Jahrhunderte zurück. Zu Zeiten der Wildschützen und der Schlingensteller auf Hasen (und freilaufende Katzen) baute man in großen Mengen die »Starenhäuschen«, auch Starenkobel genannt, und stellte sie auf Stangen auf, um diese Vögel in Haus- und Hofnähe zum Nisten zu veranlassen. Die Grünmahd, mit der frühmorgens das Futter für das Vieh gemacht wurde, aber auch das Vieh selbst, das auf großen Weiden gehalten wurde, sorgten dafür, dass die Bodenober126
fläche für die Stare ihre ganze Brutzeit über gut erreichbar blieb. Stare sind wie die Amseln und die Sperlinge (Spatzen) Bodenvögel. Bei der Suche nach Würmern und Insektenlarven sind sie besonders erfolgreich, weil sie über eine einzigartige Stochertechnik verfügen. Sie können mit ihrem Schnabel in das Loch eines Wurms oder einer großen Insektenlarve hineinfassen und durch eine bestimmte Drehung den Schnabel wie eine Pinzette öffnen. Dabei erfassen sie die Beute. Ohne diesen besonderen Bau des Schnabels würde sich dieser selbst umso mehr zusammendrücken, je tiefer er in den Boden hineingesteckt wird. Der lockerste Boden macht schon Schwierigkeiten. Eine ganz andere Vogelgruppe, die Schnepfen, können die Spitze ihres viel längeren Schnabels im Schlamm oder im sehr weichen Boden ebenfalls öffnen und so tiefsitzende Beute packen. Dennoch hätte diese Bohrtechnik der Stare alleine nicht ausgereicht, ihre Bestände in Hunderte von Millionen anwachsen zu lassen. Stare brüten in Höhlen. Naturhöhlen passender Größe sind aber rar. Die von den Menschen bereitgestellten Nistkästen gleichen den Mangel an natürlichen Höhlen aus. Die Menschen boten die Nistkästen aber nicht aus Liebe zum Gezwitscher der Stare im Frühjahr an; schon gar nicht, wenn in der Gegend Obstbau mit Kirschen oder Weinbau betrieben wurde. Der Grund war vielmehr, dass die fetten Jungstare kurz vor ihrem Ausfliegen als Delikatesse galten. Die Starenkästen waren daher fast stets so gefertigt, dass man sie öffnen und leeren konnte, ohne sie zu zerstören. Für die zweite Brut oder das nächste Jahr wurden sie gesäubert. Wer sich keine Haustauben halten konnte, der machte sich Starenkästen. Seit Jahrzehnten nimmt nun aber die verfügbare Menge der Starenkästen ab, weil die Menschen kein Interesse mehr an dieser Art von Mini-Täubchen haben – mit Folgen für die Bestände. In den Weinbaugebieten wird dies selbstverständlich begrüßt. Doch mancher »Häuslebauer«, der Stare im Garten haben möchte, stellt inzwischen enttäuscht fest, dass auch attraktivs127
te Starenvillen nicht mehr bezogen werden. Das »Haus ohne Grundstück« tut es nicht. Ein guter Nistplatz braucht offenen Boden, auf dem die Stare all die Würmer und Insekten finden, die sie für ihre Brut und sich selbst brauchen. Seit das Vieh in die Ställe verlegt wurde und mit Fertigfutter versorgt wird, nimmt die Starpopulation ab. Gleichsam im Gegenzug nahm hingegen eine andere schwarze Vogelart stark zu, die im 18. Jahrhundert in die Städte einwanderte, als der Druck der Vogelfänger allmählich nachließ. Sie kam aus dem Wald, bildete aber anders als ihre nahen Verwandten unter den Drosseln keine Schwärme und ging daher auch nicht so leicht wie diese in die Netze oder auf den Leim: die Amsel (Turdus merula). Noch im 19. Jahrhundert galt sie weithin als scheuer Waldvogel und war so in den alten Handbüchern über die Vogelwelt beschrieben worden. Ihre Eroberung der Städte zeigt in kleinerem Maßstab, was sich in den vergangenen Jahrhunderten insgesamt landauf, landab abspielte. Die kleinräumige Schaffung von offenen, grasigen Bodenflächen, vor allem die Einführung des »englischen Rasens« schuf Zugänglichkeit zur ausgezeichneten Nahrung, die in den nicht bebauten Böden in den Städten vorhanden ist. Das dichte Buschwerk von Hecken und Parkanlagen bot diesem Freibrüter, der im Gegensatz zum Star keine Höhlen für die Anlage der Nester benutzt, jede Menge geeigneter Nistplätze. Als die Amseln die Harmlosigkeit der (keine Singvögel mehr fangenden und verzehrenden) Menschen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts vollends bemerkt hatten, suchten sie gezielt sichere Nistplätze am Haus und in nächster Nähe der Menschen auf. Darin sind sie keineswegs einzigartig. Eine ganze Reihe anderer Vogelarten machte dies schon lange vor ihnen. Die Hausrotschwänzchen (Phoenicurus ochruros), zwei der drei in Mitteleuropa heimischen Arten von Schwalben, die Rauch- (Hirundo rustica) und die Mehlschwalbe (Delichon urbica) gehörten wie auch die Haussperlinge (Passer domesticus) zu den ersten Vogelarten, die sich eng dem Menschen an128
schlossen. Dutzende weiterer Arten ließen sich in allen Stadien des Übergangs vom Freileben zur Anbindung an die Menschenwelt anführen; »Schädlings bekämpf er« eingeschlossen, die gern gesehen waren, weil sie Mäuse und Ratten fangen. Zu nennen sind die Turmfalken (Falco tinnunculus) wie auch die Schleiereulen (Tyto alba) und unter den Säugetieren der Hausmarder (Martes foina). Hauskatzen wurden meistens zu genau diesem Zweck des Mäuse- und Rattenfanges und nicht als Schmusekätzchen gehalten. Die Mäuse vermehrten sich gut und wurden oft zur Plage. Denn das durch die Jahrhunderte offen gehaltene und übernutzte Land wurde wärmer und trockener als zu Zeiten mit dichter Vegetation. Wo die Sonne den Boden direkt erreicht, erwärmt sich dieser schneller und tiefer als unter einer dichten Auflage von Gras. Dichte Vegetation nimmt die Niederschläge auf und erzeugt mit Verdunstung Kühle. Offener Boden trocknet dagegen schnell aus. So konnte sich am Boden ein wärmeres Kleinklima während insgesamt kühlerer Zeiten entwickeln als in unserer Gegenwart. Diese Bedingungen begünstigten zusammen mit der Zugänglichkeit von Wurzeln und Körnern im trockenen Boden die Feldmäuse. Sie entwickelten sich in so großen Mengen, dass es alle paar Jahre regelrechte Mäuseplagen gab. Auch Ratten profitierten in ähnlicher Weise an den Siedlungsrändern und auf den Höfen. Märchenfiguren wie der Rattenfänger von Hameln dürften durchaus einen realen Hintergrund gehabt haben, auch wenn sie durch die Erzählungen überformt und verändert worden sind. Wo es viele Mäuse gibt, geht es ihren Feinden gut. Dass bei der Bekämpfung von Raubwild und Raubzeug in den vergangenen Jahrhunderten so »fabelhafte« Mengen angegeben wurden, bedeutet nicht, dass – wie so oft in Jagd und Fischerei – bloß maßlos übertrieben wurde. Denn bei diesen bekämpften Tieren ging es nicht um Trophäen und Rekordstücke wie beim Wild, sondern eben um das, was im Deutschen mit den Begriffen von »Raub« und »Zeug« verbunden wird. Wir wissen inzwischen, dass es nicht einfach 129
gute und schlechte Mäusejahre gibt, sondern dass diese Kleinnager ausgeprägte »Zyklen« durchlaufen. Alle drei bis vier Jahre erreichen produktive Bestände Höhepunkte. Danach gibt es wenige oder fast gar keine. Natürlich suchen die Mäusejäger nach Ersatz. Ob Fuchs oder Marder, Greifvogel oder Eule, beim Kleinvieh der Bauern oder in den Geflügelhaltungen konnten sie durchaus erhebliche Verluste verursachen. In der Bekämpfung zahlreicher solcher Tierarten, die mehr oder weniger direkt in Verbindung mit den Mäusezyklen stehen, drückte sich das Ringen der Menschen aus, sich selbst ein ausreichendes Mindestmaß an tierischem Eiweiß zu erhalten. Die Landbevölkerung früherer Jahrhunderte, aber auch mancherorts die Städter hatten gegen die Tiere zu kämpfen, wenn lange, harte Winter diese in die Häuser und Ställe trieb. Der Hunger, den diese Winter verursachten, wirkte über weite Teile Europas hinweg. Nicht nur die Wintervögel kamen in großen Mengen, zuerst die Drosseln, dann die Wildgänse und schließlich vielleicht auch die höchst misstrauisch betrachteten Seidenschwänze, sondern auch Wölfe. Aus dem Osten drangen sie vor und prägen bis heute die Vorstellungen weiter Kreise der Bevölkerung vom bösen Wolf. Im Mittelalter hatte es so gut wie keine Klagen über Wölfe gegeben, und wenn, dann nicht darüber, dass sie Menschen angefallen hätten. Jetzt aber tauchen während der kalten Jahrhunderte der Kleinen Eiszeit zahlreiche Berichte und Märchen über die Wölfe auf. Die Zeit der Wölfe war gekommen.
11. Rotkäppchen und der böse Wolf Wölfe spielen seit dem 17. und 18. Jahrhundert in Erzählungen und Märchen eine wichtige Rolle. Sie werden als »grimmig«, verschlagen und »blutgierig« dargestellt. Man fürchtet nicht 130
nur ihr Gebiss und ihre Wildheit, sondern auch ihre List. Ob sie wirklich Menschen jemals so gefährlich geworden sind, wie damals angenommen wurde, muss offenbleiben. Denn wir wissen gerade bei den eher glaubwürdigen Schilderungen nicht, ob es sich um verwilderte, wolfsähnliche Haushunde und gar nicht um Wölfe gehandelt hatte. Der berüchtigte »Dartmoor«-Wolf in England ist höchstwahrscheinlich so ein Fall, denn auf die Insel konnten wilde Wölfe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gelangt sein. Wie auch die Tollwut nicht! Bis heute aber durchdringen die Erzählungen über Wölfe aus jener Zeit unsere Vorstellungen vom Wolf als wilder Bestie. Betrachten wir daher nicht den Inhalt der Wolfsmärchen, sondern ihren Hintergrund genauer. Wenn es stimmt, dass Wölfe von Osten her quer durch Mitteleuropa hinweg bis hinein nach Zentralfrankreich vorgestoßen sind, so kann es dafür eigentlich nur zwei Erklärungen geben. Entweder ging es den Wölfen im Osten in diesen Jahrhunderten so gut, dass ihre Nachkommen »auswandern« mussten, weil es zu viele gab, oder es ging ihnen, insbesondere im Winter, so schlecht, dass sie in ihrer Heimat nicht mehr hätten überleben können. Für ein Zugutgehen gibt es überhaupt keine Hinweise. In Russland und Polen nahm gewiss die Menge der Schafe oder der Bestand an Wild nicht annähernd so stark zu, dass die Wölfe ausgerechnet während der schlechten Zeiten in Mittelund Westeuropa dort ein Schlaraffenland geboten bekommen hätten. Die russische Genremalerei zeigt in zahlreichen Bildern genau das Gegenteil, nämlich wie Wölfe ein Schlittengespann bedrohen oder angreifen. Wir können also mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass es den Wölfen im Osten im 17. und 18. oder zeitweise auch noch im 19. Jahrhundert so schlecht ging, dass sie Pferdegespanne angriffen. Die extrem kalten und langen Winter hatten die Wölfe zum Auswandern gezwungen. Ihre Richtung wählten sie wie die Menschen und Völker, die in den vergangenen Zeiten der Kälte flohen – nach Südwesten. Von Ost- und Nordosteuropa schob sich damals so häufig das 131
kontinentale Kaltklima südwestwärts vor, dass das Wetter in Mitteleuropa kontinentale Winterkälte brachte. Der letzte derartig »russische« Winter traf Mitteleuropa 1962/63. Wahrscheinlich können wir ihn beispielhaft ansehen für Winter, die während der Jahrhunderte der Kleinen Eiszeit häufig oder üblich waren. Das Umgekehrte trifft für den mediterranen Sommer von 2003 zu. Die Folgen der kalten (und oft langen) Winter äußern sich auch darin, dass sich in der Landeskultur so offensichtlich wertvolle Nutzpflanzen aus der Neuen Welt wie Kartoffel und Mais in weiten Teilen Europas erst mit Jahrhunderten »Verspätung« eingebürgert und durchgesetzt haben. Der Mais umrundete Europa zunächst auf der Südseite, nachdem er in Spanien angekommen und nach Nordafrika gelangt war. Von dort breitete sich der Maisanbau recht rasch in den orientalischen Raum hinein aus, wo er sich als »Türkenkorn« festsetzte und weiter nach Süd- und Ostasien gelangte. Nach Europa kam er über den Bosporus und mit dem Vordringen der Türken in die ungarische Tiefebene von Südosten zurück. Erst am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach gelang die geradezu stürmische Ausbreitung des Maises nach Westen und Nordwesten. Fast ein halbes Jahrtausend war somit vergangen, bis diese ertragreiche Nutzpflanze nach ihrer Ankunft in Südwesteuropa Mitteleuropa erreichte und sogar bis in das südliche Nordeuropa vorrückte. Die klimatischen Gegebenheiten müssen hierbei ganz wesentliche Weichenstellungen abgegeben haben. Das unterstreicht eine Taube aus dem Vorderen Orient, die dem Mais nachfolgte und in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Symbol einer invasiven fremden Vogelart in Europa wurde, die Türkentaube (Streptopelia decaocto). Der Umweg des Maises und die enorme Zeitverzögerung von rund vier Jahrhunderten lassen sich gewiss nicht mit einem zu konservativen Verhalten der Mitteleuropäer erklären. Vielmehr spiegelt der Weg des Maises schlicht und einfach die Entwicklung des Klimas in der zweiten Hälfte des 132
2. Jahrtausends. Mit der Kartoffel verhielt es sich, ihrer Herkunft aus den Hochanden Südamerikas gemäß, im groben Ablauf genau entgegengesetzt. Sie wurde im kühlen bis kalten Bereich des europäischen Sommerklimas ein wichtiges Grundnahrungsmittel und gebietsweise bedeutsamer als die wärmebedürftigeren Getreidesorten. Solche Veränderungen wirken sich immer auch auf die sogenannte freie Natur aus. Land und Landwirtschaft, Natur und Klima, Tier- und Pflanzenwelt bilden eine komplexe Einheit, die auf die in ihren verschiedenen Teilen grundsätzlich ähnlich ablaufenden Veränderungen reagiert. In einer Zeit, in der Schafe und Ziegen zu den wichtigsten Haustieren zählen, weil sie mit karger Nahrung zurechtkommen, wird über Raubtiere, die diesen gefährlich werden können, verständlicherweise anders geurteilt als heute, wo diese Nutztiere für Menschen längst nicht mehr lebenswichtig sind. Märchen wie »Rotkäppchen und der böse Wolf« entwickelten sich im Volk als einfache Klischees, die Erklärungen lieferten, auch wenn sie so gar nicht stimmten. Die modernen Medienmythen entstehen, zum Glück mit geringerer Wirkungsdauer, nicht wesentlich anders in den Köpfen der Menschen. Sie breiten sich als »Allgemeinwissen« aus, ohne dass jemand, konkret befragt, die Quelle oder gar die Belege dafür angeben könnte. In unserer Zeit beißen immer wieder Hunde Menschen. Mitunter sind die Verletzungen schwerwiegend und bisweilen sogar tödlich. Verboten wird jedoch nicht einmal das Führen von Kampfhunden in der Öffentlichkeit; weder in Großstädten noch auf dem Land. Dort aber dürfen »streunende« Hunde ohne nähere Begründung oder Nachweis des »Wilderns« von den Jägern abgeschossen werden. Dem allgemeinen Volksmythos zufolge ist »der Hund«, gleichgültig wie groß oder klein und welcher Rasse er ist, ein grundsätzlich zahmes Haustier, sofern er sich im Siedlungsbereich der Menschen bewegt. Draußen in freier Natur aber mutiert er zurück zum bösen Wolf. Solche schwer nachvollziehbaren Ansichten, die durch so gut wie nichts belegt sind, erklären sich wahr133
scheinlich gleichfalls nach Art der Märchen aus dem historischen Hintergrund heraus. In den schlechten Zeiten, in denen sich, zumal im Winter, die Menschen selbst kaum noch durchbringen konnten, gab es für viele Hunde kein geeignetes Futter mehr. Die einfachste Lösung war das Freilassen, denn verhungert wären sie so oder so, außer sie schafften es, sich wildernd selbst zu versorgen. Dabei verwilderten solche Hunde zwangsläufig, wenn sie, wie Hofhunde, groß genug waren für ein eigenständiges Leben draußen in den Wäldern und den weiten Fluren. Der »alte Wolf in ihnen« kam wieder zum Vorschein, und da sie die Menschen kannten, hatten sie auch weit weniger Furcht vor diesen als die echten Wölfe. Konflikte treten unter solchen Verhältnissen unweigerlich auf. Die Menschen auf dem Land lebten in den früheren Jahrhunderten aber noch so ortsgebunden, dass schon jenseits des Nachbardorfes niemand mehr einen bestimmten Hund erkannte. Wolfsähnlich sahen große Hunde allemal aus, zumal nachts oder in der Dämmerung. Damit ergibt sich für beide, für die Wildschützen und für die verwilderten Hunde, dieselbe Basis der Beurteilung als Zeitgenossen. Wilderer und wildernde Hunde drückten den Mangel an Fleisch aus, der in Gebieten, die keinen ausreichenden Ersatz durch Feldfrüchte hatten, besonders im Winter gravierend wurde. Der Wilderermythos entstand nicht nur deshalb in den Bergen, weil diese schwieriger begehbar und dadurch auch weit weniger zu kontrollieren waren als das offene Land, sondern gerade auch deswegen, weil dort die Ernten noch mehr von der Gunst oder Ungunst der Witterung abhingen als im milderen Tiefland. Die Wilderei auf Rehe bekräftigt diese Deutung, denn sie spielt erstens eine weit geringere Rolle als die unrechtmäßigen Abschüsse von Hirschen und Gämsen, und zweitens waren die Rehe offenbar in den früheren Jahrhunderten so selten, dass sie als Wild fast nur in den großen Flussauen und Moorgebieten auftraten. Ein Reh oder weniger auf 100 Quadratkilometer dürfte der normale Wert der »Wilddichte« in den früheren Jahrhunderten gewe134
sen sein. Diese Zahl gilt immer noch weithin in Ost- und Südosteuropa, wo bis in unsere Zeit so gut wie keine Wildhege betrieben worden ist. Die Verzehn- bis Verzwanzigfachung der Rehbestände gehört zu den jagdlichen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wichtigster Hintergrund ist die Winterfütterung. Aber sie wirkt nicht allein. Denn seit den Untersuchungen von Hermann Ellenberg (1978) ist bekannt, dass unter den gegenwärtigen Witterungsverhältnissen ein im Frühjahr geborenes Rehkitz zu Beginn des ersten Winters ein Gewicht von rund 12,5 Kilogramm erreicht haben sollte, um den Winter, auch bei Winterfütterung, zu überstehen. Schwächere Kitze schaffen es nicht. 12,5 Kilogramm sind etwa die Hälfte des Durchschnittsgewichts mehrjähriger Rehe. Die Kitze sollten daher so früh wie möglich gesetzt werden, um im Spätherbst über der kritischen Grenze angekommen zu sein. Werden die Winter aber anhaltend kälter und dauern sie länger, reicht die Zeitspanne im Sommerhalbjahr bald nicht mehr aus. Zu früh dürfen sie auch nicht geboren werden, sonst trifft die Kitze noch ein Winterrückschlag, etwa zur Zeit der »Eisheiligen«. Der April kommt als Geburtsmonat daher in aller Regel nicht infrage. Hirsche und Wildschweine sind dementsprechend viel robuster und weit eher in der Lage, mit anhaltend kalter Witterung zurechtzukommen. Deshalb ist es durchaus verständlich, dass es in den kalten Jahrhunderten der Kleinen Eiszeit in Mitteleuropa so wenig Rehe gegeben hat. Für Rudeljäger wie die Wölfe wären sie nicht sonderlich ergiebig gewesen. Denn wenn sie ein Reh nach heftiger Hetzjagd erbeutet hatten, mussten sie dieses unter sich teilen. Für acht bis zehn Wölfe oder mehr bleibt von einem 20-Kilogramm-Reh nicht viel pro Wolf übrig. Zwei Kilo alles in allem, die Knochen mit eingerechnet, stellen für einen Wolf im Winter kaum eine Tagesration dar. Es ist undenkbar, dass bei der geringen Häufigkeit der Rehe auch nur ein einziges Wolfsrudel einen Winter lang in einem bestimmten Gebiet von der Jagd nach diesem Wild hätte überleben können. Von vornherein 135
musste sich ihr Interesse auf Haustiere richten, denn nur diese gab es in der nötigen Menge. Wenn die Wölfe heulend um die Einödhöfe strichen, dann hatten sie nicht die Menschen im Sinn, sondern das Vieh, dessen Geruch ihre Nasen aufgenommen hatten. Wer keinen »Wolfshund« oder eine Meute von richtigen Hütehunden hatte, die daraufhin gezüchtet waren, es mit Wölfen aufzunehmen, tat natürlich gut daran, das Haus nicht zu verlassen. Hütehunde hätten aber Futter gekostet – und so schließt sich der Kreis wieder. Erst mit der nachhaltigen Besserung des Klimas Ende des 18. Jahrhunderts ändern sich die Verhältnisse. Das 19. Jahrhundert brachte zwar herbe Rückschläge, aber die Häufigkeit der sehr kalten Winter nahm ab. Die Wölfe verschwanden; ihre Bekämpfung stellt seither europaweit kein allzu großes Problem mehr dar. Ausgerottet wurden sie bis weit nach Osten, wie auch die Bären und die Luchse. Die Heiterkeit der Romantik beginnt sich in Westund Mitteleuropa breitzumachen. Die Natur wird nicht mehr als lebensbedrohlich angesehen, obgleich zwei der gewaltigsten Vulkankatastrophen des ganzen Jahrtausends in diesem vorletzten Jahrhundert passieren: Der Tambora bricht 1812 aus, der Krakatau 1883. Es gibt Jahre ohne Sommer und merkwürdig blutrote Farbenspiele am Himmel über Europa, weil feinste Ascheteilchen von diesen Riesenexplosionen bis zu 20 Kilometer hoch in die Atmosphäre gejagt worden waren. Doch die neuen Entwicklungen sind angelaufen. Die Fortschritte in der Technik und die Lösung des Energieproblems mit der Verbrennung von Kohle überwinden die größten Schwierigkeiten der vorausgegangenen Jahrhunderte. Ferne Kontinente sind mit Dampfschiffen zu erreichen. Die Kartoffel wird Grundnahrungsmittel in weiten Teilen Nordwest- und Mitteleuropas. Die Kolonien haben das zu liefern, was die Mutterländer benötigen. Stark vereinfacht lässt sich festhalten, dass im 19. Jahrhundert Export und Import, von Menschen wie von Waren und Gütern, die Globalisierung mit großem Nachdruck vorantreiben und weiterführen, die im 16. 136
Jahrhundert begonnen hatte. Europa lebt in beträchtlichem Umfang auf Kosten der übrigen Welt. Nach Höhepunkten im kulturellen Schaffen, die mit der »Klassik« in Literatur, Musik und Kunst sowie Namen wie Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Immanuel Kant, Wolfgang Amadeus Mozart oder den Bauten von Klenze und anderen die Epoche der späten »Neuzeit« charakterisieren, kommt auch ein eigenes Naturbild zustande. Es wird nicht mehr geprägt von der Lieblichkeit des geschützten Gartens, sondern von einer gleichsam gezähmten Wildnis inmitten der vom Menschen gestalteten Landschaft. Alte, knorrige Eiche in freiem Stand, ein Wasserfall oder die Szenerie eines markanten Berges, sturmgepeitschte Küste oder blütengesäumter Weg durch wogende Felder von goldenem Korn drücken die Stimmung aus, die in der Natur gesucht und empfunden wird. Es ist die Stimmung der Romantik. Sie wird unser Bild der Natur das ganze 20. Jahrhundert prägen und durchdringen, wo immer Natur geschützt werden soll – vor dem Menschen! Eine zweite Spaltung des Weltbildes bahnt sich an nach der Trennung von Geist und Körper in der Aufklärung. Es entsteht der Gegensatz von Mensch und Natur. Diese ist, als »Mutter Natur«, natürlich »gut«, während ihr missratener Spross, der Mensch, »schlecht« ist. Die Erbsünde haftet an ihm, seit er aus dem Paradies vertrieben wurde. Man wird diese Sünde später, in unserer Zeit, den »ökologischen Fußabdruck« nennen, den die Menschen auf Erden hinterlassen und dabei die Erdmutter mit Füßen treten.
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Das 19. Jahrhundert
12. Das romantische Naturbild »Zurück zur Natur«, mit dieser Parole formierte sich die Gegenbewegung zur raschen Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Getragen wurde sie von der Rousseau’schen romantischen Verklärung der Natur als der »reinen, echten, erhabenen Welt«, die noch nicht entweiht ist durch die Menschen. Diese fortschrittsfeindliche Haltung richtete ihre Blicke zurück in eine zum Paradies erklärte Vergangenheit; vergleichbar den ersten Versen der Äneis von Vergil über das Goldene Zeitalter, in dem ohne Verbrechen aus freien Stücken und ohne Recht oder Gesetz in Friede und Eintracht gelebt worden war. Da dieser Zustand schon zu Vergils Zeiten eine für die römische Zivilisation sehr ferne, mystifizierte Vergangenheit war, suchten die Romantiker den glückseligen Naturzustand bei den »in paradiesischer Nacktheit lebenden Wilden«, von denen die europäische Welt zunehmend mehr über Forschungsreisende erfuhr. Sie waren ausgezogen, um andere Länder und Völker zu studieren, nicht um sie zu erobern. In den Jahrhunderten nach Kolumbus hatte man die Wilden für seelenlose Tiere gehalten, die man füglich abschlachten durfte, wenn sie der europäischen Kolonisation im Wege waren. Es reichte voll und ganz, sie unmittelbar vor der Hinrichtung noch zu taufen oder ihre vom Leben soeben verlassenen Körper rasch zu segnen, um ihnen die Möglichkeit des Eingangs ins jenseitige Paradies nach den Grundsätzen christlicher Nächstenliebe offenzuhal138
ten. Für die »Aussteiger« des 19. und des nahenden 20. Jahrhunderts boten die Wilden hingegen die idealisierbaren Vorbilder für das Gesuchte, für Arkadien und Eden. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?«, fragte Goethe gleichsam auffordernd zur Reise in den Süden. Seine Italienische Reise ist durchsetzt von verklärt-romantischer Naturschilderung. Bei Goethe wird aber deutlicher, wie sehr er damit eigentlich die kultivierte Natur meint. Italien ist für ihn so schön, weil das Land seit Jahrtausenden gepflegt worden war. Er ergeht sich in Träumereien von der Antike mit ihrer Kunst und Kultur. In wallendem, fast altrömisch wirkendem Gewand und mit breitkrempigem, schattenspendendem Hut lässt er sich malen. Seine in tagebuchartiger Schilderung verfasste Italienische Reise verändert sich von der anfänglichen Beschreibung des Reiseweges, die insbesondere bei der Alpenüberquerung und der Fahrt durch Oberitalien noch eine echte Reiseschilderung darstellt, zu einem Versinken in die Vergangenheit des Schönen und Guten. Mit dem »Zurück zur Natur« meinten die Romantiker keineswegs »hinauf auf die Bäume, ihr Affen!«, sondern Genuss und Muße eines zivilisierten Lebens in der schönen Natur. Diese gibt von sich aus reichlich, wenn sie, wie die Mutter von guten Kindern, mit Verehrung bedacht und gut behandelt wird. Daraus erwuchs ganz von selbst die Richtung: Schönheit und Ehrwürdigkeit sollten in der Natur gesucht und erlebt werden. »Gefährlich« blieb es, »den Leu zu wecken« und »verderblich des Tigers Zahn«, weil auch die Romantik aus einem zähnefletschend drohenden Wolfsgesicht kein Schoßhündchen machte. Wo sich die Natur übermächtig zeigte, nahm der Romantiker ihre Wirkungen mit dem Schauder der Ehrfurcht hin. Die Donner würden ja verhallen, das Brausen des Sturmes vergehen und den lauen Lüften mit herrlicher Sonne Platz machen. Gemälde wie der »Wanderer über dem Nebelmeer« von Caspar David Friedrich drücken auf subtile Weise aus, dass der Mensch, der Wanderer, eben doch erhaben und selbstsicher über dem Meer des wabernden 139
Nebels steht. Nicht verloren hat er sich darin wie in der Warnung »Gefährlich ist’s über Moor zu gehen, wenn das Röhricht knistert im Hauche«; auch an den schroffen Kreidefelsen von Rügen lässt das Bild keine Absturzgefahr erkennen. Das »Eismeer« desselben Künstlers bestaunt man im Binnenland, wo man zwar von den größeren Flüssen spätwinterliche Treibeismassen kennt und die von ihnen ausgelösten Winterhochwasser fürchtet, aber sich nicht mit Leib und Leben bedroht fühlt. Der weitaus größte Teil der Naturbilder der Romantik ist ganz unmittelbar dem Schönen gewidmet. Hütejungen mit munteren, gesunden Kühen, in faulem Nichtstun versunken und an einem Grashalm kauend, nette Mädchen, die eine Schar Gänse mit einer harmlosen Gerte zum Dorfteich treiben, friedlich schlafende Hofhunde oder Bauersleute, die von reifem Korn überquellende Wagen ins Dorf fahren. Mag auch ein Gewitter drohen, es ist den Menschen keine Panik in die Gesichter gemalt, denn die Natur ist ihrer Natur nach inzwischen »gut« geworden, solches zeigen die Bilder. Die Bächlein und ihre Quellen sprudeln rein. Sie laden zu erfrischendem Tranke. Die knorrigen, uralten Bäume bieten Schutz oder dienen dem Reigen der Dorfjugend. Sie symbolisieren die Beständigkeit, die sich gegen alle Widrigkeiten der Jahrzehnte und Jahrhunderte behauptet hat. Und überall, wo es die Zeit des Bildes zulässt, blühen Blumen. Sie halten nun auch Einzug in die Gärten, und sie schmücken die Balkone. Dass südafrikanische Geranien zum »typisch bayerischen Bauernhausschmuck« werden, stört das romantische Empfinden ebenso wenig wie die gleichfalls fremdländischen, vom damals nicht gerade geschätzten Balkan kommenden Kastanien der Biergärten. Überhaupt holt man sich ungeniert das Schöne und das Gute aus aller Welt zusammen, um die Gärten zu schmücken, um die Natur zu bereichern und um neue Möglichkeiten auszuprobieren, die Pflanzen und Tiere anderer Herkunft bieten könnten. Fast alle Arten von Pflanzen, die in unserer Zeit 140
vermeintliche oder echte Probleme verursachen, weil sie sich ausbreiten und »Heimisches« zu überwuchern drohen, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Damals holte man sich das so prächtig und variantenreich blühende Springkraut (Impatiens glandulifera) aus dem Himalaja. Es wurde zur »Orchidee der Vorgärten« ernannt. Die ob ihrer Größe und Wuchsform besonders eindrucksvolle »Herkulesstaude«, der Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum), galt als »ornamental«, also als Schmuck der Gärten, und außerdem diente er als spätsommerlich ergiebige Bienenweide für die Imkerei. Mancher Waldrand wurde mit Samen des Riesen besät, um diese gewaltigen Stauden dort zum Aufwachsen zu bringen (Kap. 14). In dieser Spannung formt sich das neue Naturbild. Es greift zurück auf das Herkömmliche, das zu verschwinden droht, und integriert Neues, um die Schönheit zu steigern. Steige werden an Wildbäche und Wasserfälle herangeführt, Gipfel erstiegen, und man leistet sich Sommerfrische. Gegen die immer stärker verrußenden Städte wird der Kontrast des guten und gesunden Landlebens aufgebaut. Das steigert den politischen und gesellschaftlichen Gegensatz: Stadt ist schlecht, Land ist gut! So lautet die Grundformel. Bis in unsere Zeit geht der Naturschutz davon aus. Das Naturbild, auf das er sich stützt, entspricht jedoch keineswegs der unberührten Natur. Vielmehr handelt es sich um eine geschundene, um eine jahrhundertelang ausgebeutete und übernutzte Natur. Mangel herrschte allenthalben. Die Ernten haben den Böden zu lange zu viele Nährstoffe entzogen. Die Erträge sind zurückgegangen. Auch die letzten Reste und Raine müssen genutzt werden. Was wie eine »extensive Nutzung« aussieht, stellt in Wirklichkeit eine höchst intensive dar. Sie hinterlässt kaum Rückstände. Alles muss in den Kreislauf zurück, wenn es irgendwie geht, weil die Nährstoffe gebraucht werden. Häusliche Abwässer und Jauche vom Vieh werden nicht getrennt, sondern zusammen zur Düngung der Wiesen verwendet. Die Felder bekommen den Mist aus den Viehställen. Dieser reicht nicht aus, um die 141
Erträge zu erhalten. So muss jeweils ein Ruhejahr eingeschoben werden, in dem sich der Boden wieder etwas erholen kann für die nächste Feldbestellung. Die schon angeführte »Dreifelderwirtschaft« basiert auf diesen Zwängen. Sie bringt als Nebenprodukt etwas hervor, das nun zur Leitvorstellung für die Romantik, den Heimatbegriff und den Naturschutz wird: blühende Landschaften, in denen bunte Falter über einer farbenprächtigen Fülle von Blumen gaukeln, Lerchen jubilierend aufsteigen und der mit seiner Scholle verwurzelte Bauer sieht, dass alles gut ist. Ausgeblendet wurden die harte Arbeit der bäuerlichen Bevölkerung, die guten Grund zu den »Bauernaufständen« zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte, und die verarmten, weithin karg gewordenen Böden. Noch verstand niemand den engen Zusammenhang zwischen Mangel an Nährstoffen und reichem Blühen. Selbst Alexander von Humboldt erlag der Täuschung der tropischen Fülle, die er als Ausdruck des Reichtums deutete, der in den Böden steckt. Die Tropenwälder der Neuen Welt hielt er für die große Reserve der Zukunft an fruchtbarem Land. Die bäuerliche Bevölkerung mag eher den wirklichen Zusammenhang gespürt haben. Wo bunte Blumen in großer Vielfalt blühen, wo Thymian (Thymus serpyllum) duftet und der winzige Augentrost (Euphrasia minor) seine fein ziselierten weißen Blüten öffnet und in diesen mit gelbem Saftmal kleine Insekten anlockt, da war kein Ertrag an Gras und Heu zu erwarten. Wo der Boden gut war, hatte der Bauer einen steten Kampf gegen das wuchernde Unkraut zu führen; mit der Hacke in der Hand oder, später, mechanisiert und schließlich im letzten halben Jahrhundert mit stärksten Giften. Mochten die Kräuter auch gut duften oder in der Volksmedizin dienlich gewesen sein, sie sollten und durften den Ertrag an Getreide oder an Futter für das Vieh nicht schmälern. So paradox es auch klingen mag, das Land war dort am romantischsten, wo es den geringsten Ertrag lieferte. Die Hochleistungsfelder von heute wären nie Quell romantischer Empfindungen und Verklärungen geworden. Aus ihnen 142
steigen auch keine Lerchen mehr auf. Alauda war ihre Gattung genannt worden, um damit im wissenschaftlichen Namen auszudrücken, dass ihr Aufsteigen in den Frühsommerhimmel als ein »ad laudam«, »zum Lobe« (Gottes), empfunden werden sollte. Lerche und Nachtigall, Amsel, Drossel, Fink und Star, sie alle, »die ganze Vogelschar«, schienen mit ihren so vielfältigen wie schönen Gesängen wenn nicht Gott direkt, so doch zumindest die wunderschöne Natur zu loben. Die Nachtigall »schluchzt« nun »herzzerreißend«, die Amseln und Drosseln »flöten«, der Zaunkönig »schmettert« und die Spechte »trommeln« nicht nur in lautmalerischem Wortsinn, sondern in der romantischen Verklärung als Ausdruck der reinen Lebensfreude in der Natur. In dieser ist alles bestens geordnet. Jedes Tier, jede Pflanze hat ihren Platz und selbstverständlich Aufgaben in der Gemeinschaft zu erfüllen. Die Parabel von den »Blumen und den Bienchen« wird sprichwörtlich. Das eine Kernstück des vom Menschen abgelösten Naturverständnisses hat damit Form angenommen: Natur »an sich« ist »schön« und »gut«. Sie würde immer so sein und bleiben, gäbe es den Menschen nicht, der in ihren geordneten Haushalt »eingreift«. Das zweite Kernstück kam durch die Übernutzung des Landes mit der Vielfalt hinzu. Natur an sich wurde nun automatisch als vielfältig angesehen. Wo sie das nicht (mehr) war, musste etwas passiert sein, das ihr mitsamt der Vielfalt auch wesentliche Aspekte ihrer Schönheit genommen hatte. Es verhält sich allerdings genau umgekehrt. Durch die seit Jahrhunderten schon anhaltende intensive Nutzung hatte die Artenvielfalt in der Natur Mitteleuropas stetig zugenommen. Soweit wir das aus den alten Angaben rekonstruieren können, dürfte der Höhepunkt der Vielfalt etwa Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts erreicht gewesen sein. Denn danach, spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehren sich die Klagen über den Rückgang bestimmter Arten wie Feldhasen, Rebhühner oder Drosseln. Wo allgemein Mangel in den Böden herrschte, konnten sich nicht, wie in unserer 143
Zeit, rasch einige wenige auf Kosten der vielen anderen Arten ausbreiten und die Schwächeren verdrängen. Wo hingegen die Ressourcen reichlich zur Verfügung stehen, vereinheitlicht die verstärkte Nutzung. Aus Vielfalt wird Einförmigkeit. Gewiss, es hat immer Unterschiede in der örtlichen Verfügbarkeit von Nährstoffen in den Böden gegeben. Auch zur Zeit der intensivsten Landnutzung im 18. und frühen 19. Jahrhundert waren die guten Lehm- und Lößlehmböden vergleichsweise ertragreich, wie zum Beispiel der »niederbayerische Gäuboden« oder die »Magdeburger Börde«, aber sie blieben deutlich artenärmer als die schon von Natur aus mageren Sandböden und insbesondere die meist nur mit Schafbeweidung genutzten Kalkmagerrasen. Letztere entwickelten die größte Vielfalt an Pflanzen und Insekten, obgleich im Ausdruck Mager-Rasen schon der sie kennzeichnende Mangel geäußert wird. Auch die von den Hochwassern immer wieder mit frischen Nährstoffen versorgten Flussauen erreichten ihre besondere Artenvielfalt erst durch die vielfältigen Formen der Nutzung als Quelle von Brennholz, als Weideland sowie durch die »Störungen« und Vernichtungen, die direkt von den Hochwassern ausgingen. Als alle drei Einwirkungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend oder ganz aufhörten, ging in den nicht mehr genutzten Auwäldern die natürliche Vielfalt drastisch zurück. Das heutige naturschützerische Leitbild der reichhaltigen, schönen Natur aus der Zeit der Romantik begründete sich also auf den zerstörerischen Nutzungen des Landes. Gerade weil die Menschen die letzten Winkel erfassten und aus allem noch etwas herauszuholen versuchten, machten sie die Natur so vielfältig. Als die künstliche Düngung die Erträge steigerte und Maschinen zunehmend die Handarbeit ersetzten, fing »die Natur« an zuzuwachsen. Wie sehr, wird wohl für fast jedes Flusstal und für viele Städte anhand von Bildern aus dem 19. Jahrhundert nachvollzogen werden können. Wo vor 150 oder gut 100 Jahren noch offene Weitblicke auf die Städte die 144
Bilder beherrschen, zum Beispiel über die Isar mit ihrer Aue, den »Englischen Garten«, hinweg nach München, findet man heute von denselben Standorten aus alles dicht zugewachsen vor. Natürlich ist damit nicht eine sich ausbreitende Bebauung gemeint. Vielmehr ist fast alles, das einst »offen« gewesen war, von Wald oder Buschwerk bedeckt. Nicht anders verhält es sich mit den vielen kleinen Bachtälern in den Mittelgebirgen. Seit Jahrzehnten beklagt der Natur- und Landschaftsschutz, dass der Wald vorrückt, die Täler überzieht und so das alte Bild stört, das man für den freien Blick hatte erhalten wollen. Ist es aber nicht »natürlich«, dass sich die Natur holt, was ihr einstens genommen worden war, könnte man fragen. Gehört es nicht zur Natur der Natur, dass sie »dynamisch« auf Veränderungen reagiert und nicht auf alten Positionen beharrt, wenn sich neue Bedingungen eingestellt haben? Welche Natur ist die richtige? War der Zustand um die vorvorige Jahrhundertwende, den Goethe auf seine Weise und die Romantiker auf ihre Art beschrieben und verherrlicht hatten, der beste aller möglichen? Kann es sein, dass die für die meisten Menschen so schlechten Zeiten von damals »die gute alte Zeit« der Natur gewesen ist? Ein paar weitere Facetten des Naturschutzes verstärken die Zweifel an einer solchen Sicht. Damals war nicht nur der Massenfang von Singvögeln in weiten Teilen Mitteleuropas völlig normal und legitim, sondern es gehörte sich auch, dass die Buben Vogelnester suchten und »ausnahmen«. Mit großer Mühe und mit einem Ringen, das mehrere Generationen lang dauerte, gelang es schließlich im 20. Jahrhundert, die Singvögel generell für »gut« und nützlich zu erklären und das Ausnehmen von Vogelnestern zu ächten. Auf dem Land verschwand dieses Tun sogar erst in den 1950er und 1960er Jahren weitgehend. Eine andere Facette betrifft die Unterteilung der Arten in »nützlich« und »schädlich«. Die kleine Meise war nützlich, weil sie schädliche Raupen verzehrt und so dem Obst- und Gartenbau hilft, auch wenn sie keine Unterschiede zwischen schädlichen Insekten und den rar 145
gewordenen, unter besonderem Artenschutz stehenden macht. Die Greifvögel waren schädlich und wurden als »Krummschnäbel« bis zur großen Wende im Naturschutz, dem europäischen Naturschutzjahr von 1970, gnadenlos verfolgt, obwohl sie als eifrige Mäusevertilger bekannt waren. Denn sie raubten dem Jäger sein Nutzwild. Die romantische Verklärung hatte offenbar gar nicht zum Ziel, alle Lebewesen in der Natur für grundsätzlich schön und wichtig einzustufen. Schädlich waren und blieben weit mehr Arten als die besungenen Nachtigallen und Lerchen, die Marienkäfer und Falter. Schon deren Raupen blieben zumeist verdächtig, mochte auch der Schmetterling noch so schön sein. Es dauerte daher bis in die neue Zeit eines ganz anderen Naturverständnisses, bis der Artenschutz einigermaßen aus der Falle von »nützlich-schädlich« herauskam. Doch dafür muss er jetzt begründen, ob eine bestimmte Art überhaupt, und falls ja, warum, im sogenannten Naturhaushalt benötigt würde. Die Spaltung von Mensch und Natur blieb erhalten. Der gern auch so wörtlich verstandene biblische Auftrag »Macht euch die Erde Untertan« wirkt praktisch ungeschwächt weiter. Und so versucht der heutige Naturschutz, in nach wie vor romantischer Natursuche zu einer Natur zurückzukommen, die vor zweihundert Jahren eigentlich eine ganz außerordentlich geschundene Landschaft gewesen war. Folglich sind heute die »besten« (weil artenreichsten) Naturschutzgebiete solche Flächen, die als Grenzertragsböden eingestuft werden, oder Wälder, die kaum noch in der Lage sind zu wachsen, weil das Grundwasser zu sehr abgesenkt worden ist. Wie einst dort Wald übrig geblieben war, wo sich die Flächen als nicht gut genug für die Landwirtschaft erwiesen, so sind es nun jene insgesamt unergiebigen Flächen, die eine »naturschutzwürdig reichhaltige Natur« tragen. Es ist der »Ertrag«, der unsere Sicht der Natur bestimmt! Nach wie vor verhält es sich so. Naturschützer werden für »Romantiker« gehalten. Bis in die Gegenwart wirken diese Leitbilder einer Natur 146
nach, die durch Jahrhunderte der Übernutzung sehr naturfern geworden war. Unsere Vorstellungen von Natur formten und prägten im 19. Jahrhundert vier geistesgeschichtliche Hauptströmungen. Sie lassen sich an die Namen von vier Personen binden: Goethe, Brehm, Darwin und Haeckel. Diese Großen Vier vertreten die idealistische, die anthropomorphe, die evolutionäre und die ökologische Sicht der Natur. Idealistisch suchte Goethe nach der »Urpflanze« als dem idealen Bild oder Typ aller Pflanzen. Für eine noch stark wertende, auf den Menschen bezogene (also anthropomorphe) Darstellung der Tiere steht Brehms Tierleben. Es vermittelt neben Kenntnissen zur Lebensweise der Tiere auch viel Moralisches. Charles Darwin entdeckte mit Variation und natürlicher Auslese (Selektion) zwei der Hauptursachen des Wandels in der Natur und begründete damit die biologische Evolution. Mit Darwin kamen Zeit und Veränderung in die Natur. Ernst Haeckel schließlich stellte die Lebewesen in einen großen Naturhaushalt hinein. Auf ihn geht die Wissenschaft der Ökologie zurück. Geschichtlich eingebunden waren sie alle in die Hauptzeit des Kolonialismus. Die Europäer versuchten in jenem Jahrhundert, sich die ganze Erde zu unterwerfen. Begründungen hierfür holten sie sich, ganz direkt oder über die Fortschritte ihrer Naturforschung, auch aus der Natur. Darwins berühmtestes Buch über den Ursprung der Arten trug im Titel den Ausdruck der »begünstigten Rassen« (favoured races). Vielleicht ist es nicht allzu überzogen anzunehmen, dass damit auch einem allgemeinen Gefühl jener Zeit Ausdruck verliehen worden war, sich als die Erfolgreichsten durchgesetzt zu haben im Überlebenskampf mit der Natur, die so lange so hart mit den Menschen umgegangen ist.
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13. Brehms Tierleben beschreibt das 19. Jahrhundert Greifen wir zunächst nochmal etwa ein Jahrhundert zurück. Am 23. Mai des Jahres 1707 wurde in der schwedischen Provinz Småland Carl (von) Linné geboren. An der Universität von Lund studierte er Medizin, wandte sich aber bald der Botanik zu, reiste mit 25 Jahren nach Lappland, lehrte Mineralogie in Falun, fuhr nach Holland, wo er 1735 promovierte. Im Jahr darauf besuchte er England und dann 1738 Paris. Danach praktizierte er als Arzt in Stockholm, wurde Mitbegründer und Präsident der Schwedischen Akademie der Wissenschaften und lehrte ab 1742 als Professor Botanik an der Universität von Uppsala. 1762 wurde Linné in den Adelsstand erhoben und bald als Carolus Linnaeus in der Welt der Wissenschaft bekannt. Denn Linné begründete eine neue Form der Einteilung der Lebewesen, die nach ihm benannte botanische und zoologische Systematik. Bereits Linné und nicht erst Darwin ordnete auch den Menschen unter die Tiere ein, und zwar als Gattung Homo zu den »Herrentieren« (Primaten) in nächster Nähe zu Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans. Denn sein System begründete sich eigentlich schon auf der natürlichen Verwandtschaft nach dem Prinzip von Arten, Gattungen, Familien und noch höheren Einheiten. In einer Zeit, in der es allmählich auch bei den Menschen üblich geworden war, Familiennamen einzuführen, entsprach das Linné’sche System dem Gefühl, dass das, was zusammengehört, auch beisammen sein soll. Zudem gab es den Lebewesen eindeutige Namen mit der Gattung als Erstname und der Art als Zweitbezeichnung. Der Mensch wurde so zum Homo (Gattung) sapiens (Art), wie der Hund zu Canis (Hunde) familiaris (Haushund), während der Nächstverwandte (und Stammvater aller Hunde, wie wir inzwischen wissen), der Wolf, Canis lupus heißt. Zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Arten, die zum »Typ« der Hunde gehören, bilden sie 148
die Familie der Hundeartigen (Canidae). Sie ist in noch weitergehendem Sinne verwandt mit den Katzen(artigen), Familie Felidae, und wiederum mit weiteren Familien gruppieren sie sich zusammen zur Ordnung der Raubtiere (Carnivora). Diese ist so eigenständig wie die Nagetiere (Rodentia) und wie auch die Herrentiere (Primates) mit dem Menschen. Rinder und Pferde als Paar- und Einhufer und zahlreiche weitere klar fassbare Gruppen bilden die Säugetiere. Diese wiederum gehören offensichtlich mit den Vögeln, den Echsen, Fröschen und Fischen zusammen, weil sie Knochen im Körper haben, und nicht zu den Käfern oder den Krebsen, bei denen auf ganz andere Weise eine feste Hülle des Körpers außen angelegt ist. Schnecken und Muscheln vertreten wieder eine andere große Gruppierung von Lebewesen; natürlich auch die Pflanzen mit ihrer Vielfalt, die Linné bereits recht gut anhand der Bauteile ihrer Blüten gruppieren konnte. Der Holländer Anton van Leeuwenhoek hatte gerade zu Linnés Zeit, insbesondere im Jahre 1722, mit einem selbstgebauten, einfachen Mikroskop winzige Lebewesen entdeckt, die weder Pflanzen noch Tiere im herkömmlichen Sinne waren. Auch sie konnten nun untergebracht werden zwischen der Systematik der Steine und Mineralien und den Lebewesen. Wie im Titel seines Hauptwerks ausgedrückt (Systema naturae), gab Linné der Natur ein System. Da dieses System vorwegnahm, was erst mehr als 100 Jahre nach ihm vollends erkannt wurde, nämlich die grundlegende und abgestufte Verwandtschaft aller Lebewesen untereinander sowie die chemische »Verwandtschaft« der Elemente und Verbindungen, eröffnete es die Möglichkeit einer umfassenden Ordnung der Natur. Der Mensch hatte darin seinen Platz wie der Hase oder die Eiche, ohne dass mit der Zuordnung gleich eine Wertung verbunden war. Eine der vielen Früchte dieser grandiosen Leistung Linnés war Brehms Tierleben. Denn anders als der Schweizer Konrad Gesner, der zu Beginn der Neuzeit in den Jahren von 1551 149
bis 1958 ein allgemeines Tierbuch (Historia animalium) noch ganz in der Einteilungsweise des Aristoteles geschrieben hatte, enthielt Brehms Tierleben nun das im Verlauf eines Jahrhunderts angesammelte Wissen über die Tiere, das nicht mehr auf die alten Quellen bezogen war, sondern der neuen Zeit entstammte, weil sie nun fast alle auch eindeutige Namen bekommen hatten. Brehms Tierleben beschreibt daher ein klar zeitbezogenes Wissen über die Tiere. Mitteleuropa ist das Zentrum dieser Tierforschung; die dem Menschen nächststehenden Säugetiere erfahren ungleich größere Berücksichtigung als wirbelloses, kaum bekanntes Kleingetier. Nahes wird ausführlicher dargestellt als Fernlebendes. Und die Tiere sind im Bezug auf ihre Umwelt, auf ihren Lebensraum behandelt. Mag uns auch manche Schilderung befremdlich dünken und vieles in Brehms Tierleben viel zu vermenschlicht dargestellt sein, so ändert dies nichts an der grundsätzlichen Bedeutung. Dieses Werk repräsentiert die Zeit des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und schließlich, in den letzten noch authentisch bearbeiteten Auflagen, auch das ganze 19. Jahrhundert. Der Zuwachs an Kenntnissen war enorm. Vergleicht man den »alten Brehm« mit Konrad Gesners Tierbuch, wird deutlich, dass dazwischen in nur rund 200 Jahren ungleich mehr gutes Wissen angesammelt worden war als in den zwei Jahrtausenden vor Gesner. Die Angaben können auch heute noch zeitbezogen verwertet werden und werden in Zukunft ihre Bedeutung behalten. Vor allem enthält Brehms Tierleben auch aufschlussreiche Angaben zu Vorkommen und Häufigkeit der Tierarten. So wissen wir dank »Tiervater Brehm«, wie er später liebevoll genannt wurde, zum Beispiel, dass der Nerz (Mustela lutreola) schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa so gut wie ausgestorben war und nicht erst von dem fast 100 Jahre später aus Nordamerika eingebürgerten Mink oder Amerikanischen Nerz (Mustela vison) verdrängt wurde. Eine derartige Feststellung mag hier höchst nebensächlich wirken. Sie ist es aber nicht. Denn Lebensweise und Nutzung solcher Arten, 150
wie dem für die Herstellung edler Pelze hochbegehrten Nerz, bringen zum Ausdruck, was über die Veränderungen in der Natur nicht in den Annalen vermerkt worden ist. Betrachtet man die Beschreibung zum Nerz im Zusammenhang mit den Angaben zur Nutzung des Edel- oder Flusskrebses (Astacus astacus) aus demselben Werk, fügt sich plötzlich Baustein für Baustein zu einem weitaus umfassenderen Bild zusammen, als die Betrachtung jeder einzelnen Art oder jedes Vorganges für sich allein es Hefern könnte. Danach hatte das im 18. Jahrhundert so absolutistisch regierende französische Königshaus Flusskrebse als besondere Delikatesse geschätzt und von weither nach Paris bringen lassen. Noch nach der Französischen Revolution und über die Zeit Napoleons hinaus ließ Paris Zigtausende von Wagenladungen Flusskrebse von weit her aus Europa kommen. Der Einzugsbereich reichte bis Galizien und Südschweden. Wie schon ausgeführt, waren die Bäche im 17. und 18. Jahrhundert weit fischreicher als in unserer Zeit. Muscheln gab es in Hülle und Fülle, die Flussperlmuschel, wo sie leben konnte, mit eingeschlossen, weil das Wasser der Bäche kalkarm genug war. Was dem »Alten Brehm« über die Fische in den Bächen und Flüssen Mitteleuropas entnommen werden kann, passt bestens zu den Schilderungen über die Krebse. Die Krebsfischerei war ein einträgliches Geschäft, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Edelkrebse weitestgehend lebend transportiert worden waren. Dazu eigneten sie sich ihrer Natur nach besser als die Fische. Der Raubbau an den Krebsvorkommen entzog offenbar dem Nerz von der Seine bis zur Oder und darüber hinaus seine spezielle Nahrungsgrundlage. Brehms Tierleben führt ihn in den ersten Auflagen noch unter dem Namen »Krebsotter«. Erst allmählich bürgert sich die aus dem Slawischen (norez, russisch ›norka‹) stammende Bezeichnung Nerz ein. Als während der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts der Verbrauch von Krebsen zurückging, weil einerseits die Flüsse und Bäche kaum noch Restbestände des Flusskrebses hatten, ande151
Abb. 8: Nerz aus Brehms Tierleben rerseits aber die Ausweitung der Meeresfischerei durch die mit Motoren getriebenen Schiffe eine andere, damals unerschöpflich groß erscheinende Ressource eröffnete, kam es dennoch nicht mehr zur Wiedererholung der Nerzbestände. Denn die aus Nordamerika eingeschleppte, von einem schmarotzenden Schimmelpilz (Aphanomyces astaci) verursachte Krebspest, die in den letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas wütete, vernichtete entweder die restlichen Flusskrebsvorkommen oder verhinderte ihre Wiedererholung. Nach Europa gelangt war die Krebspest, weil nordamerikanische Krebsarten eingeführt worden waren, um die Krebserträge zu heben. Diese erwiesen sich zwar als robuster, aber eben auch als Träger dieser gefährlichen Fracht. Die Erwartungen erfüllten die amerikanischen Flusskrebse bei weitem nicht, denn in den Gewässern bahnten sich gewaltige Veränderungen an. Dieses Beispiel weist auf eine grundsätzliche Änderung im Umgang mit der Natur hin. Sie wird nicht länger einfach nur genutzt, so wie sie ist, sondern sie wird nun zunehmend stärker und gezielt verändert. Wo es seit Jahrhunderten höchstens darum ging, einen Bach so abzuleiten, dass sein Wasser teilweise 152
oder ganz über einen neuen Lauf zur Mühle kommt, wo es ein Mühlrad dreht, oder dass er zu einem Weiher aufgestaut wird, dem im Winter Eis und im Sommer gegebenenfalls Löschwasser entnommen werden kann, wird nun mit Hilfe der neuen Technik kräftig »eingegriffen«. Am augenfälligsten werden die Eingriffe bei der Regulierung der großen Flüsse. Kulturwasserbau wird zum neuen Begriff für den Fortschritt in der Bewirtschaftung des Landes. Bald ersetzen motorgetriebene Pumpen die handgetriebenen oder von Tieren gezogenen Schöpfwerke. Mit starken Pferden wird tiefer gepflügt. Die ersten Klagen über Rückgänge bei Hasen und Feldhühnern kommen auf. Der fremde Fasan soll die Jagdstrecken »aufbessern«. Eine Zeit intensiver Ein- und Umsetzungen von Tieren und Ansiedlung fremder Pflanzen beginnt. Gewandelt hat sich die Grundhaltung zur Natur. Sie wird nicht mehr nur »hingenommen«. Über Art und Lebensweise von Tieren und ihren Nutzen, auch solche aus fremden, weit entfernten Gebieten, kann man in Brehms Tierleben nachlesen, bevor man sich mit ihnen näher befasst. Für die Pflanzenwelt steht ein solcherart umfassendes Werk zwar aus, aber die aufkommenden Garten(bau)vereine, die im Typ des Schrebergartens gipfeln, der die Selbstversorgung der Stadtleute mit Obst und Gemüse weitgehend absichern soll, gleichen dies mit praktischem Wissen aus. In dieser Übergangszeit wird auch die »Nützlichkeit« der Singvögel entdeckt. Sie sollen geschützt und gefördert werden, weil sie die schädlichen Insekten vertilgen. Noch weiß man nicht um ihren Wirkungsgrad, aber gerade die Kleingärtnerei hofft auf sie. In den Wäldern kommt es zu größeren Kalamitäten mit bestimmten Insekten, die Jungbäume kahl fressen und zum Absterben bringen. In den großflächig neugepflanzten Monokulturen von Fichten und Kiefern vermehren sich in warmen Jahren die Waldschädlinge rapide, während sich die Bauern auf den Fluren noch hauptsächlich mit dem Unkraut herumschlagen, das in Form der aus dem Osten und Südosten eingewanderten Ackerwildkräuter die Ernteerträge schmälert. Im 153
Wald geht es vorerst gegen den direkten Angriff von Insekten. Rehe sind noch viel zu selten, um als Schädlinge in Wald und Flur in Erscheinung zu treten. Dort bekämpft man eher die Spatzen und die Krähen, ganz besonders aber die Feldmäuse, bei denen sich nun die zyklischen Massenvermehrungen recht unangenehm bemerkbar machen. Alle drei bis vier Jahre wimmeln die Felder nur so von ihnen. Auch die Maikäfer suchen in diesem Kurzzeitrhythmus Gärten (Feldmaikäfer Melolontha melolontha) und Anpflanzungen von Jungwuchs (Waldmaikäfer Melolontha hippocastani) heim. Unbekannte Vögel aus den östlichen Steppen tauchen plötzlich auf, die Steppenflughühner. Sie werden aber, wie auch die Seidenschwänze, nun nicht mehr für Vorboten der Pest gehalten. Denn in den »Volksausgaben« kann man auch über diese unbekannten Tiere nachlesen. Die bunten Bienenfresser (Merops apiaster), die gleichfalls in warmen Jahren nördlich der Alpen brüten, kennt man längst und stuft sie gemäß der klaren und distanzierten Haltung gegenüber der Natur als »schädlich« ein, weil sie (gelegentlich auch) Bienen fressen, die als Lieferanten von Honig nützlich sind. Die romantische Betrachtungsweise der Städter nützt den schönen Vögeln nichts. Sie werden verfolgt und an ihren leicht zugänglichen Brutplätzen an Sand- und Kiesgruben vernichtet; sagt doch ihr Name alles: Bienenfresser! Auch diese Beispiele mögen als Hinweise darauf betrachtet werden, dass sich bereits im 19. Jahrhundert die in unserer Zeit so ausgeprägte Diskrepanz zwischen »Stadt« und »Land« in der Bevölkerung aufbaut. Je naturferner die Städter leben, desto verklärter wird ihre Sicht der Natur. Ihre Romantik durchdringt von Anfang an den Naturschutz. Die Landbevölkerung sieht das ganz anders, nämlich nahezu ausschließlich aus dem Blickwinkel der Nützlichkeit. Daran wird sich auch nichts wesentlich mehr ändern. Es sind vornehmlich Menschen aus der Stadtbevölkerung, die nun die Kenntnisse über die Natur vorantreiben und Brehms Tierleben in ihren Bücherregalen stehen haben. Der Anteil klösterlicher Gelehrsamkeit in 154
Sachen Natur nimmt stark ab. Ein besonderer Mönch bleibt zu seinen Lebzeiten weitgehend unbeachtet. Er hat den ersten Schlüssel zum Verständnis der Vererbung gefunden: Gregor Mendel in Brunn. Mit Erbsen experimentiert er im kleinen Klostergarten, während Ordensbrüder und Mitglieder anderer, missionarisch tätiger Orden in aller Welt nach nützlichen oder schönen Pflanzen suchen und diese nach Europa bringen. Sie bereiten den bislang größten Zustrom fremder Arten von Pflanzen vor.
14. Akklimatisierung – Integration der Fremden Im späten 19. Jahrhundert wird die Natur Europas und weiter Gebiete in Übersee mehr als in allen geschichtlichen Jahrhunderten davor verändert. In Australien breiten sich kolonisierende Europäer aus. Der Kontinent wird in wenigen Jahrzehnten weitgehend europäisiert. Weizen und Schafe werden dominierend, wie schon in Argentinien. In Südafrika setzt sich die Landnahme der Buren fort, und in den Weiten Nordamerikas fallen die Wälder. Die Bisonherden werden fast gänzlich niedergemetzelt. Nord- und Südamerika, Amazoniens Wälder noch ausgenommen, der Süden Afrikas und Australien werden durch und durch europäisiert. In Südasien sind es nur wenige, ausreichend hoch gelegene Gebiete, in denen sich Europäer festsetzen. Aber von dort, aus den Tälern und von den Bergflanken des Himalaja und des Kaukasus, stammen viele Pflanzenarten, die nach Europa gebracht werden, um sie zu akklimatisieren. Weit mehr gehen auf dem umgekehrten Weg nach Amerika und Australien. Die Bilanz ist unausgeglichen, und sie wird es bleiben. Das liegt an der Natur der neu europäisierten Kontinente. Man hat ihre ursprüngliche Natur im Zuge der Kolonisierung zurückgedrängt und in wenigen Jahrzehnten zu Kulturland nach europäischem Vorbild umge155
staltet. Auf solche Fluren und in derartige Siedlungsgebiete »passen« die europäischen Tier- und Pflanzenarten weit besser als das Einheimische, weil jene schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden auf kultiviertem Land lebten. Die europäischen Arten sind wüchsig und voller Konkurrenzkraft. Die heimische Flora und Fauna von Amerika und Australien hat den Neuankömmlingen wenig entgegenzusetzen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehen große Teile Australiens, vor allem der Südosten, richtig »englisch« aus. Kaum anders verhält es sich in den Weiten der nun konsolidierten USA. Unbefangene Besucher, die nicht wissen, dass sie nach Amerika oder nach Australien geschickt worden sind, hätten Schwierigkeiten gehabt, die Ländereien von Westeuropa zu unterscheiden. Bald »jubilieren« Lerchen im Himmel über den Randbezirken der australischen Großstädte Melbourne und Sydney. Dass ein Schwärm weißer Kakadus kreischend vorüberfliegt, sieht in dieser europäisierten Welt merkwürdig und unpassend aus. Auf der gegenüberliegenden Seite des Globus, im Rheinland, wird indessen versucht, australische Kängurus heimisch zu machen, um ein neues, anderes als die immer noch seltenen Rehe zu bejagendes Jagdwild zu haben. Der Erfolg bleibt mäßig. Im frühen 20. Jahrhundert ändert sich, vielleicht auch unter dem erstarkten Nationalismus, die Haltung zu den fremdartigen Kängurus. Der asiatische Fasan passt da besser ins Bild der (deutschen) Heimat oder der (britischen) Landschaft. Ihm lässt man so viel Fürsorge angedeihen, dass er nach größten Schwierigkeiten und noch größeren Anfangsverlusten schließlich doch heimisch wird und sich, zumindest in wintermilden Regionen, selbst erhalten kann. Zu Zehntausenden hatte man den Jagdfasan (Phasianus colchicus) zunächst in Fasanerien gehalten und herangezüchtet, um die mit dem Leben in Freiheit nicht vertrauten Vögel dann ein oder zwei Tage vor der Jagd freizulassen. Habichte (Accipiter gentilis) und andere Greifvögel dezimierten die Fasane am Tage, der Fuchs tat das Seinige in der Nacht dazu, wenn er nach brütenden Hennen 156
spürte. So glaubten es zumindest die Jäger und verschärften die Bekämpfung all dieser Jagdschädlinge. Doch es lag wohl am Klima, dass es mit den Fasanen nicht so recht klappen wollte, und nicht an ihren natürlichen Feinden. Die Besserung des Klimas war in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert erst in Gang gekommen. Noch traten zu viele und zu starke Rückschläge auf, mit Sommern, die so kalt und verregnet waren, dass sie die Bezeichnung Sommer nicht verdienten. Der Ausbruch des Krakatau in Indonesien dürfte an diesen schlechten Sommern mit schuld gewesen sein, weil seine Aschewolken in der hohen Atmosphäre zwar glühende Sonnenuntergänge bescherten, aber normale Sommerwärme verhinderten. Wenn auch darüber nach wie vor gerätselt wird, so bestätigen die Wetteraufzeichnungen, die seit dem späten 18. Jahrhundert auf brauchbaren Messungen der Temperaturen und der Niederschlagsmengen beruhen, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reihenweise schlechte Sommer (und sehr starke Hochwasser) gegeben hat. Ganz zu Recht wählten die Menschen im 19. Jahrhundert die Bezeichnung »Akklimatisierung«, wenn sie fremde Arten hierzulande einbürgern wollten. Sie wussten nicht nur aus eigener Erfahrung, die in den Kolonien gesammelt und oft genug mit schweren Erkrankungen und vielen Todesfällen bezahlt worden waren, dass man nicht einfach von hier nach dort wechseln kann, wenn das Dort fern liegt und »dort« andere Lebensbedingungen herrschen. Erfolg hatten nicht jene, die sich »einfügten«, sondern denen ein geeigneter Nährboden geschaffen wurde. Auch bei den Menschen verhielt es sich grundsätzlich so. Die europäische Kolonisation blieb ohne nachhaltigen Erfolg in den bevölkerungsreichen Gebieten Süd- und Ostasiens oder Westafrikas. Die »guten« Ländereien fanden sich in Amerika und in Randbereichen von Australien; also Regionen, die dünn besiedelt und leicht umzugestalten waren. Auch manche von Menschen noch unbewohnte Insel ließ sich ganz bequem »erobern«. Bei den neuen Tier- und Pflanzenarten 157
verhielt es sich nicht anders. Die Akklimatisierung gelang, wo ihnen der Boden dazu aufbereitet wurde. Besonders leicht taten sich die unmittelbaren Kulturfolger des Menschen, wie Ratten und Ziegen, Mäuse und Katzen. Gelangten sie auf säugetierfreie Inseln, beherrschten sie diese schnell. Dort, und dort vor allem, kam es zur raschen Ausrottung heimischer Inselarten oder -formen, während auf den Kontinenten die Invasionen zäher verliefen oder erfolglos blieben. Warum gelang es aber so vergleichsweise wenigen Arten, die aus fernen Gebieten hergebracht worden waren, sich in Europa anzusiedeln und auszubreiten? Warum lebten so gut wie alle Arten, die in unserer Zeit invasiv geworden sind und Probleme verursachen, schon seit dem 19. Jahrhundert (oder noch länger) ganz unauffällig im Land? Zwar stammen nicht wenige Baumarten, die bei uns wachsen, aus Amerika, Asien oder sogar aus Australien, die Eukalypten etwa, aber sie verdrängten die heimischen Arten überhaupt nicht. Sogar die recht gut wachsenden Douglasien (Pseudotsuga menziesii) oder die Roteichen (Quercus rubra) spielen der Menge nach in den Wäldern Mitteleuropas keine vorherrschende oder gar das Waldbild bestimmende Rolle. Die Ausbreitung mancher Arten wurde deshalb spektakulär, weil es sich um seltene Fälle handelte. Die bedeutendsten sind unter den Tieren der Kartoffelkäfer (Leptinotarsa decemlineata), die Bisamratte (Ondatra zibethica) und die Türkentaube (Streptopelia decaocto) sowie in der freilebenden Pflanzenwelt die Kanadische Wasserpest (Elodea canadensis), die Goldruten (Solidago canadensis und Solidago gigantea), die ostasiatischen Riesenknöteriche (Fallopia japonica und Fallopia sachalinensis), das Drüsige oder Indische Springkraut (Impatiens glandulifera) und die Herkulesstaude oder Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum). Zahlreiche weitere Arten, die von geringerer Bedeutung sind, insbesondere im Hinblick auf ihre Auffälligkeit oder die wirtschaftlichen Schäden, die sie verursachen, und viele, die kaum in Erscheinung treten, ließen sich anschließen. Insgesamt machen die seit dem 19. Jahrhun158
dert aufgetretenen fremden Arten aber weniger als 10 Prozent des Artenspektrums der Tiere und Pflanzen aus. Meistens liegt ihr Anteil erheblich unter 5 Prozent. Der Botaniker Wolfgang Kunik stellte die von ihm sogenannte Zehnerregel auf. Sie besagt, dass von 100 eingeführten Arten höchstens 10 in der Lage sind, sich selbständig festzusetzen, und von diesen sind es auch wieder nur 10 Prozent, also eine einzige Art, die Probleme bereitet. Für Mitteleuropa trifft diese Faustregel im Großen und Ganzen zu. Die geringe Zahl von Arten, die auffällig »invasiv« geworden sind, beruht also auf einer viel größeren Menge, die unauffällig blieb, und auf noch viel mehr, die zwar ankamen, aber gescheitert sind. Warum ist das so? Auf diese Frage gibt es eine allgemeine Antwort und, wie nicht anders zu erwarten, zahlreiche Besonderheiten in den Einzelfällen. Die allgemeine Feststellung hängt mit der Natur Mitteleuropas und ihrer jüngeren Geschichte zusammen. Vor rund 10000 Jahren ging hier die letzte Eiszeit zu Ende. Die viele Jahrtausende währende Vereisung hatte die Böden geformt und begünstigt, aber natürlich nahezu alle Pflanzenund Tierarten vertrieben. Was in den von der Vereisung betroffenen Regionen Nordwesteuropas und beträchtlicher Teile Mitteleuropas nicht ausstarb, war abgedrängt worden in sogenannte Eiszeitrefugien. Das kleinere Rückzugsgebiet bildete im Südwesten die Iberische Halbinsel, das weitaus größere erstreckte sich vom südöstlichen Balkan bis nach Vorderasien hinein. Nach dem Rückzug und weitgehenden Abschmelzen der Gletscher breiteten sich die Arten von den Refugien her wieder aus. Doch anders als in Ostasien und vor allem auch in Nordamerika hatte in Europa lediglich ein kleiner Teil der früheren, voreiszeitlichen Arten in den Refugien überlebt. So konnte sich nacheiszeitlich nur eine verarmte Pflanzen- und Tierwelt wieder ansiedeln. Die Wälder enthielten kaum mehr als ein Fünftel des Artenreichtums der Zeit vor Beginn des Eiszeitalters oder im Vergleich zu den klimatisch entsprechenden Waldgebieten in Ostasien und Nordamerika. Die offene 159
Eiszeittundra mit ihren Arten und ihrer besonderen Eignung für große Säugetiere und Vögel verschwand weitgehend. Sie hinterließ einen Teil der Arten als sogenannte Glazialrelikte, also Restvorkommen aus der Eiszeit, in entsprechend hoch Hegenden Bereichen der Alpen oder anderer Gebirge Europas und in der arktischen Tundra selbst, wo aber ganz andere Lebensbedingungen herrschen als in den mittleren Breiten. Als die Menschen die Wälder rodeten und große Teile des Landes kultivierten, passten die heimischen Arten nicht, denn als Glazialrelikte waren sie auf kaltes Klima eingestellt und nicht auf das warme, das durch die Öffnung der Wälder in seiner Wirkung noch verstärkt worden war. Anstelle der alten eiszeitlichen Pflanzenwelt drang eine andere aus dem Südosten und Süden vor, die im warmen Klima gelebt hatte. Die meisten Ackerunkräuter oder Wildkräuter, wie sie inzwischen genannt werden, gehören dazu, aber auch zahlreiche andere Pflanzenarten und viele sehr bekannte Tiere, wie die Feldhasen, die Feldlerchen, die Rebhühner, die Wachteln und so fort. Das Acker- und Weideland entspricht in seiner menschengemachten Form weit eher den südöstlichen Steppen als den nacheiszeitlichen Wäldern in Mitteleuropa. Die Artenausstattung gestaltete sich im Verlauf der Jahrhunderte entsprechend. Auch die Wälder selbst wurden durch die Eingriffe der Menschen und ihres Weideviehs stark verändert, sodass zahlreiche neue Pflanzen Zugang fanden. Der Vorgang hält nun schon seit rund 5000 Jahren an. Immer wieder veränderten sich zwar die Rahmenbedingungen durch Perioden wärmeren oder kälteren Klimas, wie zuletzt während der Jahrhunderte der Kleinen Eiszeit, aber grundsätzlich blieb insbesondere der klimatische Übergangsbereich zwischen dem »atlantischen Westen« und dem »kontinentalen Osten« in Mitteleuropa ein Mischgebiet für die Tier- und Pflanzenwelt mit einer offenbar besonders großen Aufnahmekapazität. Würde man alle Arten mit einem Mal daraus entfernen können, die in den Jahrtausenden der Kultivierung durch 160
die Menschen hierhergekommen sind, bliebe kaum noch die Hälfte übrig. Selbst auf die letzten 300 Jahre bezogen wären die Artenverluste katastrophal groß, wenn Neues und Fremdes von Älterem und ursprünglich Heimischem getrennt werden sollte. Wir würden fast alle Orchideen verlieren, die nicht in Wäldern wachsen, die inzwischen so anders bewerteten und mit speziellen Hilfsprogrammen »unterstützten« Ackerunkräuter natürlich auch, die vielen Kräuter der Wiesen und Fluren und so hochgeschätzte Bäume wie die Kastanien. Mitteleuropa hatte besondere Aufnahmekapazitäten, weil es an Pflanzen und Tieren verarmt war. Niemand kann gegenwärtig abschätzen, welche weiteren, noch ungenutzten Potenziale vorhanden sind, seit große Flächen hierzulande auch sehr stark gedüngt werden. Die umfangreichen Anstrengungen und gut gemeinten Versuche, fremde Pflanzen und Tiere in Mitteleuropa anzusiedeln, hatten also durchaus nicht so ganz unvernünftige Gründe. Wie gut es im Prinzip geht, zeigen die Gärten und Parks. Sie sind voller fremdländischer Arten, von denen zahlreiche aus fernen Kontinenten stammen. In der Menschenwelt gedeihen sie prächtig. Die Vielfalt der lebendigen Natur in den Städten würde einer krassen Eintönigkeit weichen, müssten alle nicht standortheimischen Pflanzen- und Tierarten daraus entfernt werden, um diese Menschenwelt »naturrein« zu bekommen. In Gärten und Parks, auf Baikonen und in Wohnungen werden mit rund 12000 verschiedenen Pflanzenarten rund dreimal so viele gehalten, wie es in freier Natur wildwachsende Pflanzenarten in Deutschland gibt. Die Vereinigungen zur Akklimatisierung von Pflanzen und Tieren erfuhren bald, wie wenige Arten sich wirklich für die Ansiedlungen eignen. Außerhalb der Städte oder der Dörfer, in der »freien Natur«, schlugen die weitaus meisten Versuche fehl. In Amerika und Australien gelangen sie besser, weil dort die ursprüngliche Natur europäisiert worden war. Hieraus erklärt sich die Unausgewogenheit im erzwungenen Austausch. Dieser brachte den 161
fernen Kontinenten weitaus mehr »Europäer«, als umgekehrt Arten in Europa Fuß fassen konnten. Begünstigend wirkte in Europa allerdings noch eine weitere, ebenfalls von der Eiszeit stammende Gegebenheit. Diese hatte die Böden vielerorts verbessert und besonders ertragreich gemacht. Das machten sich schon die frühen jungsteinzeitlichen Ackerbauern zunutze. Kaum irgendwo sonst auf der Erde, vom gleichfalls durch die Eiszeit sehr begünstigten China abgesehen, wo meterdicke Lössschichten von den westlichen Winden abgelagert worden waren, sind die Felder so ertragreich wie vielerorts in Europa. Das war, in Erträgen pro Hektar gerechnet, schon vor Einführung der künstlichen Düngung so. Aber diese verstärkte die Produktivität noch so sehr, dass heute das dichtbesiedelte Deutschland auf den Flächen, die für den Getreideanbau geeignet sind, ohne weiteres so viel produzieren kann, wie für die Selbstversorgung der mehr als 80 Millionen Menschen nötig ist. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging dies für die kaum halb so große Bevölkerung noch nicht, aber trotzdem war Mitteleuropa auch damals schon eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde. Wo der Boden so viel hergibt, finden gerade solche Arten beste Bedingungen, die nicht erwünscht sind, weil sie nicht nur keine verwertbaren Erträge liefern, sondern diese bei den angebauten Feldfrüchten auch schmälern. Das 19. Jahrhundert wurde in dieser Hinsicht die erste große Übergangszeit, die aus dem jahrhundertelangen Mangel in die Überproduktion führte. Die Akklimatisierer waren noch zu früh tätig geworden, könnte man sagen, denn die Bedingungen waren noch nicht gut genug für die fremden Arten, die man gerne gehabt hätte – und nun aber nicht mehr haben will, weil sie sich zu sehr ausbreiten. Die richtige Wende kam ein Jahrhundert später, in den 1970er Jahren. Doch noch war es nicht so weit, und noch richtete sich ein Großteil des Interesses auf die ferne Welt, die zugänglich geworden war. Die Kolonialzeit eröffnete auch den Wissenschaften den Zugang zum Unbekannten, vor allem in 162
den Tropen. Alexander von Humboldt war einer der ersten Tropenforscher, die von dieser Wunderwelt schwärmten. Es kamen rasch mehr. Was sie zurückbrachten an Tieren und Pflanzen, erregte Staunen und erweckte Begehrlichkeiten.
15. Die Entdeckung der Tropenwunder Eigentlich lag sie schon 300 Jahre zurück, die Entdeckung der Tropen. Aber die Spanier und Portugiesen suchten in Südamerika und in Südostasien nach Gold und Gewürzen, nach Edelsteinen und bald auch nach Sklaven. Die im Vergleich zu Iberien so andersartige Natur interessierte sie kaum. Tiere der Tropen blieben Kuriosa, die in Fürstenhäusern zur Schau gestellt oder in Naturalienkabinetten aufbewahrt wurden. Von den Nutzpflanzen gelangten vorerst auch nur wenige nach Europa, weil hier die klimatischen Verhältnisse die Anpflanzung von Bananen oder Kakao, von Vanille-Orchideen oder Pfeffer einfach nicht zuließen. Nur solche Nutzpflanzen, die in den neuen Welten unter ähnlichen Verhältnissen wuchsen und gediehen, wie sie Klima und Böden in Europa bieten, hatten Aussicht auf erfolgreiche Akklimatisierung. Am besten ging das bei der aus dem Hochland der Anden stammenden Kartoffel, sofern die Böden wasserdurchlässig genug und die Witterung nicht zu nass waren. Der Mais machte größere Schwierigkeiten und kam zunächst nur am äußersten Rande Europas zum Zuge. Von ihrer heute so großen Bedeutung für die Ernährung der Weltbevölkerung waren beide Nutzpflanzen aus Amerika im frühen 19. Jahrhundert noch weit entfernt. Mit Zuckerrohr und Reis war ohnehin in Europa nichts zu machen. Tomaten galten als zu stark erotisierend. Einzig der Tabak fand rasch und weithin Verbreitung, und zwar nicht nur in Europa, sondern darüber hinaus in Asien und Afrika. 163
Schokolade blieb Genussmittel wie der Tabak, und eigentlich hätte das auch der Zucker bleiben sollen und nur in zuträglichen Mengen genossen werden dürfen. Der Kaffee gewann indessen mehr und mehr Liebhaber, und es entstanden, ebenfalls von Südosten aus dem türkischen Raum kommend, die ersten Kaffeehäuser. Zusammengefasst heißt das, dass Europa drei bis vier Jahrhunderte nach der von hier ausgegangenen Entdeckung der Tropen von dort neben Gold, Edelsteinen und Arbeitskräften eigentlich nur Genussmittel importierte. Tiere aus den Tropen lassen sich ähnlich einstufen, wenn sie in Menagerien oder Käfigen landeten. Einzig die klimatisch nicht tropische Kartoffel bildete die große Ausnahme. Was für ein Interesse sollten die Menschen auch gehabt haben, sich mit der Natur der Tropen zu befassen, wenn diese kaum Brauchbares oder nur Verderbliches für das alte Europa zu bieten hatten. Die große Änderung in der Haltung der Europäer trat zur selben Zeit ein, als Brehms Tierleben geschrieben wurde und die Beschäftigung mit Tieren und Pflanzen an sich anfing, Wissenschaft zu werden. Wie im vorigen Kapitel ausgeführt, hatte Linné die Grundlagen dazu gelegt, weil nun alle Arten eindeutig benannt werden konnten. Dieses Benennen, das Vergeben von verbindlichen Namen für alle Zeiten, wurde rasch zu einer Art von Manie. Die Zoologen und Botaniker versuchten sich gegenseitig zu überbieten in der Zuteilung neuer Namen für neue Arten. Am meisten gab es offenbar in den Tropen zu entdecken. So richtete sich ihr Interesse darauf. Riesige Sammlungen wurden in wenigen Jahrzehnten angelegt und in die Museen nach Europa gebracht. Die Benennung der lebendigen Tropenwelt erfolgte hier und nicht dort. Bis heute ist das im Wesentlichen so geblieben. Noch immer wissen wir aber nicht annähernd Bescheid über die Artenvielfalt der Tropen. So groß, so unübersehbar groß ist sie! Eines der Ergebnisse dieser ersten Phase der Tropenforschung war die Erkenntnis, dass das Leben höchst ungleich verbreitet ist auf unserem Planeten. 164
Gleichartige Lebensbedingungen bewirkten offensichtlich nicht, dass dort auch die gleichen Arten vorkommen. Im fernen, so isolierten Australien zeigte sich den Europäern im 19. Jahrhundert eine so fremdartige Tier- und Pflanzenwelt, dass sie kaum eine Art einigermaßen den bekannten zuordnen konnten. Sie mussten sich mit der Schaffung neuer Namen behelfen, die auf europäische Arten Bezug nehmen, oder aus der Sprache der Aborigines solche entlehnen. Dass das englische Budgerigar für Wellensittich bei der australischen Urbevölkerung bedeutet hatte, diese Vögelchen schmecken gut (»sind gut zu essen«), erfuhren die Briten erst, als sich der Name für die rasch beliebten Käfigvögel schon eingebürgert hatte. Ansonsten ging es wie im Deutschen auch mit der Hinzufügung von »Beutel« an die bekannten Namen: Beutelwolf, Beuteldachs, Beutelmarder, Flugbeutler und so fort. Anders verhielt es sich in Nordamerika. Dort waren merkwürdigerweise viele der größeren und großen Säugetiere oder Vögel den europäischen so ähnlich oder gar gleich, dass keine anderen Namen für sie gefunden werden mussten. Erhebliche Unterschiede zeigten sich nur bei den Kleinvögeln, vielen Insekten und anderen Tieren oder bei Pflanzen. Nordamerikanische Eichen aber waren und sind Eichen wie die europäischen auch. Die Tropen erwiesen sich in mancher Hinsicht untereinander ähnlicher. Palmen und Bambus, Affen und bunte Vögel fanden sich in Amazonien wie im Kongourwald oder in Südostasien. Krokodile und Schlangen, vor allem auch giftige, ebenfalls. Dass es das ganze Jahr über in den inneren Tropen ein Blühen und Fruchten gibt, erstaunte die Europäer wenig, denn warum sollte es auch nicht so sein, wenn der Winter fehlt. Während die Zoologen und Botaniker noch erste große Bestandsaufnahmen in der Tropenwelt durchführten und eifrigst Namen verteilten, machten europäische Siedler erste schlimme Erfahrungen mit den dortigen Lebensbedingungen. Das Schlagwort von der »grünen Hölle« kam auf. Die feuchten Tropen erwiesen sich als Brutstätten von Krankheiten. Ihr 165
Klima ließ die Menschen schlaff und antriebslos werden. Pilze fallen über die Körper her, auch wenn diese noch voller Leben stecken. Gefährlich sind all die kleinen, kaum oder gar nicht mehr sichtbaren Lebewesen. Das stellte sich schnell heraus, obwohl sich bis in unsere Tage die Schauermärchen gehalten haben, von Schlangen, die überall in den Bäumen hängen und sich auf die ahnungslosen Menschen herabfallen lassen, um sie zu erwürgen, oder von menschenfressenden Bestien und Menschen. Die Siedler in den Tropen mussten schmerzlichst erkennen, dass es erstens nur wenige Gebiete mit guten Böden gibt, die reichlich Frucht tragen, diese Feldfrüchte aber ständig bedroht sind von unzähligen Schädlingen, die Ernten schneller vernichten, als sie aufwachsen können. Und zweitens, dass auch gute Böden schnell an Fruchtbarkeit verlieren, wenn der Wald gerodet ist und die Tropenregen darauf einwirken. Offensichtlich aus guten Gründen waren die Wälder der feuchten Tropen auch nach drei oder vier Jahrhunderten, die seit der Ankunft der Weißen vergangen waren, wie in den Zeiten vor Kolumbus nur dünn besiedelt geblieben von halbnomadischen Ureinwohnern und von den Siedlern nicht nennenswert genutzt worden. Die Bevölkerung breitete sich in den kalten, zum Teil eisigen Höhen der Anden und nicht im angenehm warmen Amazonien aus. In der südostasiatischen, von den Holländern in Besitz genommenen Inselwelt drängten die Menschenmassen an die gefährlichen Vulkanberge und mieden die weiten Tieflandswälder von Borneo oder Sumatra, während Java damals schon übervölkert war. Von Natur aus hatte sich ein Verteilungsmuster der Menschen eingestellt und hatten sich Nutzungsformen entwickelt, die nach heutiger Kenntnis recht genau den natürlichen Gegebenheiten der Produktivität entsprachen. Die Tropenwälder waren keineswegs das große Reservoir an Land, das die wachsende Bevölkerung aufnehmen sollte. Im Gegenteil: Sie waren im Hinblick auf die Nutzbarkeit kaum anders als die großen Wüsten der Erde einzustufen. Ihre überquellende Artenvielfalt drückte wie der Ar166
tenreichtum der Fluren Mitteleuropas im 19. Jahrhundert den Mangel aus, der überall herrscht. Die Verbindung zwischen Artenreichtum und Mangel zu verstehen blieb jedoch erst dem späten 20. Jahrhundert vorbehalten. Im 19. versuchten die Kolonialmächte mit Gewalt und Technik, sich die Tropen zu unterwerfen. Erfolglos, wie wir heute wissen. Die Verluste waren riesig.
16. Beständigkeit und Veränderlichkeit im Weltbild von der Natur Für Linné war die Natur noch so selbstverständlich unveränderlich, dass er in seinem eigenen, auf offensichtlicher Verwandtschaft aufgebauten System der Natur keine Entwicklungen erkannte, obgleich sie ihm hätten ins Auge springen müssen. Der Mensch, die Säugetiere, die Tiere mit Knochen und all die anderen fügten sich wie auch die Pflanzen ganz von selbst zu einem System zusammen, wenn man ihre Übereinstimmungen und Unterschiede betrachtete. Sogar in die Gesteine und Mineralien hatte sich ein System bringen lassen. Und dann gab es jene merkwürdigen »Steine«, die ohne jeden Zweifel aus Stein waren, aber manch lebendem Tier so ähnlich sahen, dass sie sicherlich einmal gelebt haben mussten. Solche Versteinerungen von Lebewesen wurden Fossilien genannt, weil sie oftmals beim Graben (lateinisch fossa) zum Vorschein kamen. Die Deutung bot sich anhand der biblischen Sintflut an. Bei den Fossilien musste es sich um die Zeugnisse der gewaltigen Flut handeln, die vor mehreren Jahrtausenden die Erde heimgesucht und große Teile des Lebens vernichtet hatte. Hätte man die Fossilien nur in Gräben, Schutt und Schlamm gefunden, wäre eine solche Erklärung sicherlich auch noch lange zufriedenstellend gewesen. Aber wie kamen Muscheln und Korallen ins Felsgestein hinein und auch noch Tausende 167
von Metern hoch hinauf in die Alpen und andere Gebirge? Warum fanden sich so häufig dieselben Formen von Fossilien in den gleichen Schichten des Gesteins, während andere nur in anderen Schichten zu finden waren? Wo Schicht um Schicht durchsucht werden konnte, zeigte sich zudem, dass die den heute lebenden Formen ähnlichsten stets auch nur in den obersten, einfachere oder gar nicht mehr lebendig existierende aber in den darunterliegenden Schichten vorkamen. Wo diese allgemeine Abfolge verändert war, ließ sich leicht erkennen, dass die Schichtenlage gestört oder gar wie ein Faltenwurf umgedreht worden war. Der französische Naturforscher Georges Baron de Cuvier, der von 1769 bis 1832 lebte und in Paris eine große anatomische Sammlung aufbaute, vertrat in seinem 1817 in vier umfangreichen Bänden erschienenen Hauptwerk die Ansicht, die Fossilien bezeugten, dass es in jeder Erdperiode so gewaltige Naturkatastrophen gegeben hatte, dass durch diese alles Leben ausgelöscht und anschließend neu geschaffen worden war. Die Lebewesen selbst blieben innerhalb eines Zeitalters unverändert. Damit stellte sich der als Begründer der »Katastrophentheorie« geltende Cuvier gegen die seit geraumer Zeit kursierenden Annahmen von der Veränderung des Lebens selbst und auch gegen die von Goethe vertretene idealistische Naturphilosophie. Sein Zeitgenosse Jean-Baptist Antoine Pierre de Monet de Lamarck (1744 bis 1829) begründete dagegen mit seinem Werk Philosophie Zoologique (2 Bände, 1809) die von denselben Fossilien abgeleitete Abstammungslehre (»Deszendenztheorie«). Die Veränderlichkeit erklärte Lamarck mit der Vererbung erworbener Eigenschaften. Der Engländer Charles Darwin ersetzte den zweckbezogenen Mechanismus von Lamarck mit der Wechselwirkung zwischen natürlicherweise und ungerichtet auftretender Variation der Organismen und der Auslesewirkung der Umwelt (Selektion). Die Veränderung, die Evolution, ist daher bei Darwin das Ergebnis, bei Lamarck der Zweck, während Cuvier und all die anderen, die weiterhin bibeltreu an die direkte Schöpfung aller 168
Lebewesen glaubten, außer (strafenden) Katastrophen keine Veränderung in der Natur sahen. Was die so unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Lebens für die Natur als Ganzes oder für die nicht lebendige Natur bedeuteten, wurde erst klar, als Darwins bester Verfechter der Evolution auf dem europäischen Festland, der deutsche Biologe Ernst Haeckel (1834 bis 1919), die Ökologie zu einer eigenständigen Wissenschaft erklärte und sie als Begriff einführte. Dazu bediente sich Haeckel eines Ausdrucks, der nach seinem griechischen Ursprung oikos an sich schon vergeben war und (Haus-)Wirtschaftslehre bedeutete: Ökonomie. Denn vom selben griechischen Wort für Haus und von Lehre (logos) leitet sich die Ökologie ab, die Ernst Haeckel im Jahre 1866 als »die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt« und dann 1870 »als die Lehre von der Oeconomie, von dem Haushalt der thierischen Organismen« definierte. Die Ökologie wird seither als »Haushalt der Natur« verstanden. Damit spaltete der Begründer der wissenschaftlichen Ökologie diese schon von Anfang an in eine naturwissenschaftlich-analytisch ausgerichtete Forschung, die nach Beziehungen (= Faktoren) sucht, und eine ganzheitliche (holistische) Sichtweise, die von einem »Haushalt« ausgeht. Das übergeordnete System einer Hauswirtschaft ist nach der zweiten Sichtweise vorrangig und das Wesentliche, während der andere, der frühere Ansatz, das Lebewesen selbst ins Zentrum stellt, untersucht und nach Möglichkeit auch damit experimentiert oder misst, wie seine Beziehungen zur Außenwelt aussehen. Pflanzen, Tiere und Menschen sind darin als Organismen autonom und von der Umwelt abgegrenzt, während sie im holistischen System des oikos mehr oder weniger bedeutsame Teilchen eines viel größeren (und wichtigeren) Ganzen sind. Auch wenn Ernst Haeckel, wie seine umfangreichen Veröffentlichungen beweisen, kein romantisches und schwärmerisches Naturbild im Sinn hatte, als er vom Naturhaushalt schrieb (und in seinen Vorträgen davon sprach), sondern durchaus eine naturwis169
senschaftliche Betrachtungsweise vertrat, kam sein »Haus der Natur« den Spätromantikern sehr gelegen. Denn es ließ sich leicht mit »Mutter Natur« gleichsetzen, deren wohlgeordnetes und bestens funktionierendes Haus von missratenen Kindern zerstört und geplündert wird. In diesem umgedeuteten Sinne gelangte der Begriff Ökologie auch bald in Kreise des Naturschutzes. Nun ist es ganz normal, dass Begriffe rasche Wandlungen durchmachen und oft nach kurzer Zeit schon so entstellt werden, dass sie inhaltlich kaum mehr wiederzuerkennen sind. Neue Strömungen rufen fast immer auch Gegenströmungen hervor. Eine Naturgeschichte des letzten Jahrtausends sollte solche geistesgeschichtliche Entwicklungen vielleicht gar nicht behandeln. Dennoch halte ich diese kurzen Rückblicke auf Cuvier, Lamarck, Darwin und Haeckel für notwendig. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung der Welt und ihrer Veränderungen herrscht noch immer Cuvier mit seinen wiederkehrenden Katastrophen und nicht etwa Darwin mit seinem unablässigen Werden. Bis heute hat sich die evolutionäre Betrachtung der Natur nicht nennenswert durchgesetzt. Der Katastrophismus von Cuvier bekommt hingegen immer mehr Zulauf. Längst glauben im (christlichen!) Abendland mehr Menschen an ein katastrophales Ende als an eine bessere Zukunft. Daran ist auch Ernst Haeckel ganz wesentlich »schuld«, weil er in guter Absicht ein schlechtes Gebäude errichtet und darin seine Wissenschaft, die Ökologie, untergebracht hatte. Dass dieser zweifelhafte Erfolg sein Vermächtnis mehr und nachhaltiger charakterisiert als sein großes Werk über die »Welträtsel« würde er selbst wohl am wenigsten verstehen können. Und doch ist es so! Betrachten wir daher noch einmal die Kernstücke, um das grundlegende Missverständnis deutlich zu machen, das mit Ernst Haeckels Ökologie in die Welt gekommen ist. Cuvier hatte unter dem Druck der von den Fossilien ausgehenden Beweislast vernichtende Katastrophen in die Geschichte der Erde 170
eingeführt und deren (biblisch mit gut 4000 Jahren viel zu kurzes) Alter damit erheblich gestreckt. Das wirkliche Alter der Gesteine und damit der Erde selbst konnte er noch nicht ableiten. Lamarck hingegen erkannte die gleitenden Übergänge, deren es viel zu viele gab, um die Erdgeschichte als eine bloße Abfolge vernichtender Katastrophen begreifen zu können. Für die sichtlich vorhandenen Entwicklungen griff er auf den Zweck zurück, um sie zu erklären. Giraffenhälse wurden länger und länger, wie die Giraffen höher und höher hinaufwollten ins Astwerk der Bäume, hin zu schmackhaften Blättern. Warum das nicht auch all die anderen Tiere gleichermaßen »wollten«, die mit den Giraffen zusammen in den Savannen lebten, und warum die Giraffen überhaupt so ein Wollen entwickelten, wo doch zwischen ihren Füßen das Gras wuchs, von dem sich so viele andere Tiere ihrer Savannenwelt so gut ernährten, konnte Lamarck allerdings auch nicht plausibel machen. Es war eben so gekommen, wie es kam. Darwin gab den beiden anderen Möglichkeiten ihre Berechtigung, ohne ein besonderes Wollen einführen zu müssen. Längere Hälse hatten unter Umständen Vorteile, kürzere auch, wie lange oder kurze Beine und wie viele andere mögliche Richtungsänderungen im Körperbau. Was tauglich war und was vorankommen würde, darüber entschieden nicht die Lebewesen selbst. Vielmehr waren sie die Betroffenen, weil sich die Umwelt veränderte. Eine Anpassung, die lange Zeit gut und tauglich war, konnte wegen solcher Umweltveränderungen schlecht bis untauglich werden. Der Richter war (und bleibt) die Umwelt, und diese hat kein Ziel, sondern Zustände, die sich verändern. Darwin erkannte die Bedeutung der Umwelt deshalb so klar, weil er sich weitaus umfangreicher mit der Entstehung tropischer Korallenriffe als mit den Schnäbeln der nach ihm benannten Darwinfinken von Galapagos beschäftigt hatte. Letztere übersah er offenbar bei seinem Galapagosaufenthalt während der Weltumseglung mit dem britischen Vermessungs-(und Spionage-)schiff »Beagle«. Erst Jahre später und längst zurück in England, fügte er die 171
Schnäbel der Finken seinen evolutionären Überlegungen hinzu. Dagegen faszinierten Darwin die Atolle in der Südsee. Er untersuchte das Korallenwachstum und erkannte, dass sich im Zentrum eines Atolls, wie bei manchen Inseln noch direkt sichtbar, ein Vulkan befindet, der bei richtigen Atollen aber abgesunken und untergegangen war. Er bemerkte auch, dass die Riffe nicht nur nach oben, sondern auch nach außen wuchsen und daher überlebten, wenn sich der Inselsockel wieder anhob oder der Meeresspiegel absank. Zwar wusste Darwin noch nicht, dass allein zwischen dem Höchststand und dem Ende der letzten Eiszeit ein Meeresspiegelunterschied von 120 Metern oder mehr aufgetreten war. Er konnte auch noch nicht wissen, weil entsprechende Erfassungsmethoden noch lange nicht zur Verfügung standen, wie man solche Zeiten bestimmt und bemisst. Wenn wir in unserer Zeit feststellen können, dass nacheiszeitlich ein rascher Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Dutzend Meter in ganz kurzen Zeitspannen von einem Jahrhundert oder weniger zustande gekommen war, so bekräftigen die neuen Befunde nur, was Darwin im Prinzip schon ausgearbeitet hatte, nämlich dass sich die Natur über die Zeiten verändert. Sie wird damit zum eigentlichen Motor für die Veränderung der Lebewesen, für die Evolution. Giraffen entstanden nicht, weil sie trotz ihrer sieben Halswirbel, zu denen kein einziger mehr hinzukam, langhalsig werden wollten, sondern weil die sich durch lange Trockenzeiten verschärfenden Gegensätze zwischen dem Überfluss der Regenzeit und dem Mangel der Trockenzeit gegen Ende des Tertiärs vor Beginn des Eiszeitalters im Wesentlichen nur zwei Möglichkeiten offenließen. Die eine Alternative bestand darin, auf schlanken Beinen mit ausdauernden Muskeln lange Wanderungen durchzuführen, um den Regenzeiten zu folgen, die andere bot sich in immer höherer Reichweite hinauf in die Kronen der Bäume, ohne zu wandern. Eine ganz andere Möglichkeit machten sich die Elefanten zunutze. Mit zunehmender Massigkeit ihrer Körper konnten sie den Bäumen an 172
die Reserven gehen und ihre Stämme aufreißen, wenn frisches Pflanzenmaterial zu knapp geworden war. Ohne hier auf Details näher einzugehen, sollen diese Beispiele darauf hinweisen, dass die Veränderung der nichtlebendigen Natur die großen Schrittmacher der Evolution (gewesen) sind. Wäre die Natur unverändert geblieben, hätte der Prozess der Evolution keine nennenswerte Bedeutung erlangt. Jede Veränderung wäre wirkungslos geblieben und hätte sich tatsächlich nur ganz gelegentlich einmal durch blinden Zufall durchsetzen können. Darwin hat diesen blinden, echten Zufall keineswegs zum Baumeister der Evolution gemacht, wie immer wieder fälschlich behauptet wird. Zufällig, weil noch ungerichtet, ist die Variation der Lebewesen, so wie die Unterschiedlichkeit von uns Menschen, die uns das individuelle Erkennen so erleichtert, nichts mit Gerichtetheit und Ziel zu tun hat. Es wäre in der Tat auch furchtbar, wenn die Menschen in ihrer variierenden Vielfältigkeit nicht als grundsätzlich gleichwertig eingestuft werden könnten. Richtung schafft die Selektion, wenn solche Individuen, die schlecht zu Fuß sind, als Nomaden in der Savanne zurückbleiben und nicht überleben, während gute und ausdauernde Läufer sich durchsetzen. Sesshaftigkeit nimmt diese Vorteile nicht nur weg, sondern kehrt sie mit Haltungsschäden und Bewegungsmangel durchaus ins Gegenteil um. So gut wie nichts Wesentliches würde sich ändern (können), blieben die Umweltbedingungen gleich. Fortschritt ist die Folge von Veränderung. In dieser Erkenntnis steckt das Kernstück von Darwins Evolution: Das Leben verändert sich, weil die Natur, in der es lebt, veränderlich ist. Wie sehr und wie schnell, das sah Darwin bei den Züchtern von Haustieren. Was in seiner Zeit an schier unglaublicher Vielfalt an Rassen und Formen aus schlichten Felsentauben oder wilden Dschungelhühnern herausgezüchtet worden war, sieht in der Tat wie eine neue Schöpfung aus. Selbst in unserer Zeit fällt es manchen Menschen schwer, sich vorzustellen, dass die gesamte Bandbreite von Hunderassen mit ihrer Mannigfaltigkeit 173
im Aussehen, die von rattengroßen Winzlingen und plüschtierhaften Schoßhündchen bis zu kälbergroßen Doggen, von kurz- und krummbeinigen Dackeln bis zu langbeinig-schnittigen Rennern reicht, samt und sonders vom Wolf abstammen sollen. Die genetischen Befunde bestätigen das alte Wissen, dass Wolfsblut in jeder Hunderasse fließt, mag sie ihrem Urahn auch noch so unähnlich geworden sein. Die Züchtungen von Nutz- und Zierpflanzen kommen hinzu. In der so kurzen Zeitspanne von ein paar Jahrtausenden entschälten die Menschen sie alle aus wenigen Urformen und deckten damit auf, was für Potenziale in den Lebewesen stecken. Dass sie nicht von selbst nach und nach »hervorgekommen« sind, bestärkte Darwin in der Überzeugung, dass die Natur als Züchter keine Vorgaben macht und keine Ziele hat. Die natürliche Selektion favorisiert nur das, was sich hier und jetzt bewährt und nicht das, was in Zukunft Erfolg haben könnte. Die Evolution ist zukunftsblind. Daher gibt sie uns auch kein Vorbild oder gar Anweisungen dafür, wie die Zukunft werden soll. Darwin stellte seinen natürlichen Verlauf der Evolution allerdings klar der Katastrophentheorie von Cuvier entgegen. Er hielt sich an die ihm vom britischen Geologen Charles Lyell an die Hand gegebene Vorstellung von unmerklich langsamen Veränderungen. Die biologische Evolution konnte in Darwins Auffassung folglich auch nur unmerklich langsam verlaufen. Daher erscheint uns, die wir während unseres Lebens die Vorgänge nur so kurze Zeit lang mitverfolgen können, die Natur auch so »stabil«. Die Arten selbst bleiben unverändert, wenn nicht der Mensch als Züchter massiv eingreift. Diese Auffassung entzog der Kritik ganz wesentliche Ansatzpunkte, denn wenn die Veränderungen tatsächlich so langsam sind, dass wir sie nicht bemerken können, muss uns die Natur mit all ihrem Leben auch wie fix und fertig geschaffen, also »stabil« vorkommen. Die eigene Forschung an den Korallenriffen hatte Darwin vom Kernstück seiner Entdeckung abgelenkt. Wo die Korallentiere unter Bedingungen, die Jahr für Jahr die 174
gleichen zu sein scheinen, Millimeter für Millimeter wachsen, geschieht im Bereich des Lebendigen tatsächlich das Gleiche wie bei den millimeterdünnen Ablagerungen von Schlick oder Sand, aus denen sich in Hunderttausenden und Millionen von Jahren schließlich Hunderte von Metern oder Kilometer mächtige Schichten aufbauen. Die Fossilien änderten sich aber in Aussehen und Verteilung in den abgelagerten Schichten des Gesteins viel zu stark und zu abrupt, um zu dieser ganz allmählichen Veränderung, der »gradualistischen Sicht« zu passen. Cuvier war nicht widerlegt, auch wenn er nicht bestätigt worden ist. Die Lösung dieses Dilemmas, mit dem sich Darwin nicht so recht auseinandersetzen wollte, boten die wirklichen Abläufe der Jahre und Jahrzehnte oder die in den Chroniken festgehaltenen Jahrhunderte der jüngeren Vergangenheit an. Darin gibt es Zeiten, in denen tatsächlich wenig passiert und ein Jahreslauf dem anderen ziemlich gut gleichen kann. Aber es kommen jene unvorhersehbaren Extremereignisse, die von den Menschen als Katastrophen empfunden werden. Sie unterbrechen den gemächlichen Gang. Sie schaffen neue Ausgangsbedingungen. Das ist im kleinen Maßstab der Jahrhunderte nicht anders als in den größeren Zeitskalen der Jahrtausende und der Jahrmillionen. Die Katastrophen gehören zur Geschichte der Erde und zum Gang des Lebens, zur Evolution, wie die Extremereignisse zum Wettergeschehen. Niemand würde so naiv sein, annehmen zu wollen, dass sich der Witterungsverlauf auch nur eines einzigen Jahres genau an die errechneten Mittelwerte eines Jahrhunderts halten müsse. Die Erwartung gleichartiger Wiederholung ist eine typische, vielleicht ausschließlich menschliche Eigenart. In der Dressur können wir sie auf Tiere übertragen, sodass etwa der Hund genau die gleichen Abläufe Tag für Tag »erwartet« und unzufrieden ist, wenn sie nicht eintreffen. Manche Erwartungshaltungen der Menschen entsprechen ganz offensichtlich einer Selbstdressur, denn so dumm können sie gar nicht sein, möchte man meinen, anzunehmen, dass in zehn Jahren dieselben 175
Verhältnisse wie heute herrschen würden. Dennoch gehen sehr viele davon aus, dass es so ist, so kommen wird und dass man infolgedessen auch entsprechende Vorausberechnungen anstellen könne. Fassen wir nochmal kurz zusammen: Die drei Richtungen in der Betrachtung der Natur, die im westlichen Denken das 19. Jahrhundert beherrschten, nämlich die Abfolge von Naturkatastrophen mit Neuschöpfung von Arten und – unausgesprochen – einer entsprechenden Neuordnung der Natur als Ganzes, die absichtsvoll-gezielte Veränderung und die ungerichtete, dem gemächlichen Verlauf der Natur folgende Entwicklung waren nicht zusammengekommen. Die Synthese der Vergangenheit mit der Gegenwart, also die Verknüpfung von Evolution und Ökologie, gelang nicht. Sie gelang auch Ernst Haeckel nicht, als er die Beziehungen der Lebewesen zur Außenwelt und den Haushalt der Natur in die Wissenschaft formal einführte. Oder, noch kürzer ausgedrückt, die erlebte Beständigkeit und die nachgewiesene Veränderung blieben weiterhin getrennt. Die zweitausend Jahre alte Lebensweisheit »Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss« oder, vornehmer, das panta rhei (alles fließt) des Heraklit blieb immer noch ähnlich unverstanden wie das Unteilbare der Natur, das Atom des Demokrit. Zur Verknüpfung von Gegenwart und Geschichte, von Sein und Werden, im wirklichen Verlauf der Zeit kam es erst im späten 20. Jahrhundert, nachdem »das Atom« gefunden und gespalten worden war.
17. Die Ökologie als »Naturhaushalt« Darwins glühendster Mitkämpfer im deutschsprachigen Raum, Ernst Haeckel, hätte eigentlich die Veränderlichkeit der Natur als Kernstück in sein Begriffsgebäude der Ökologie 176
einbauen müssen. Eine statische, weitgehend starre Ökologie steht in krassem Widerspruch zur Evolution. Das war Haeckel offenbar nicht aufgefallen. Allzu schnell hatte er sich den großen Fragen der Biologie und ihrer angrenzenden Gebiete zugewandt. Sein weltanschaulicher Monismus wurde rasch von allen Seiten verdammt, bekämpft und später totgeschwiegen. Ohne Bezug auf ihn zu nehmen, diskutierte inzwischen die Naturphilosophie Fragen der allgemeinen Beseeltheit aller Stoffe, fragte nach der Einheit oder Trennung von Geist und Körper und so fort. Ernst Haeckel hatte fast alle der bis heute noch ungelösten großen Fragen in seinen Welträtseln aufgeworfen und in einer Art einheitlichen Feldtheorie der Biologie seiner Meinung nach erklärt. Zurück blieb als Fragment seine zweigeteilte Ökologie. Zerteilt ist sie bis heute im wissenschaftlichen Bereich auch geblieben, wo die exakt messende und experimentierende (»öko-physiologische«) Forschung die Beziehungen zwischen den Organismen und ihrer (messbaren) Umwelt untersucht, und dem schon genannten »holistischen Ansatz« eines umfassenden Weltverständnisses, das vom großen Haus der Natur ausgeht. Häuser haben es jedoch so an sich, dass sie stabile Fundamente, Wände, innere Gliederung in Räume und selbstverständlich auch ein Dach brauchen. Ihr Betrieb funktioniert nur, wenn mehr Energie und mindestens so viele Stoffe in den Haushalt hineingelangen, wie ihn wieder verlassen. Die Erde als Ganzes »verbraucht« Energie, die fast ausnahmslos der Menge nach von der Sonne kommt. Stoffe werden von den nichtlebendigen Kräften wie von den Lebewesen nur verlagert, also »umgesetzt«. Haeckel nahm daher mit seiner zweiten Begriffsfassung der Ökologie diesen Umsatz vorweg. Deshalb passt sein Bild des Hauses auch zum ganzheitlichen Ansatz bis hin zur Vorstellung eines Super-Lebewesens namens Gaia. Wo es im ersten Fall der Betrachtung um das Lebewesen selbst geht, das Energie und Stoffe aufnimmt, das wächst oder sich bewegt und Abfall produziert und das sich ganz im Sinne der Darwinschen Betrachtungsweise beständig im Wettbewerb 177
ums Überleben befindet, sollte im allumfassenden Haus der Natur längst alles bestens geregelt sein und seinen Gang nehmen. Jede Art hat ihren Platz, an den sie gehört (!), oder ihre »Rolle« im Haushalt zu erfüllen wie ein Dienstmädchen. Denn sie, die kleine Biene etwa, »dient« dazu, die Blüten zu bestäuben, während die Mücke in der Luft den Schwalben als Nahrung »dient« und die Gazellen auf der Steppe wie die Kühe auf der Weide das Gras »nutzen«, um Milch oder Nachwuchs zu »produzieren«. In der Beschreibung ökologischer Vorgänge im Naturhaushalt geht es fast immer um solche »Rollen«, »Funktionen« oder um (wohlgeordnete) Zusammenhänge, die dem Ganzen »dienen«. Die Mitglieder einer Gruppe von Lebewesen, die von ähnlichen oder denselben Ressourcen leben, gehören zu einer »Gilde«. Sie sind »Konsumenten« 1. (= niedrigster), 2., 3. oder gar 4. und höchster Ordnung. Ob tötendes Raubtier, mistverwertender Käfer oder zersetzendes Bakterium, sie gehören im Haushalt der Natur zum »Kreislauf« und diesen halten wir, als Recycling umbenannt, nicht nur für besonders wichtig, sondern wir lassen uns die Wiederverwertung auch viel kosten. Dass jeder Haushalt einen Haushaltsvorstand als Chef/Chefin braucht, lässt die holistische Ökologie zumeist außer Acht (von wissenschaftlichen Kreisen abgesehen). Denn was gut und richtig oder falsch und schlecht für die Ökonomie dieses Naturhaushaltes ist, entscheiden längst Menschen und nicht die Natur selbst. Diese wird ganz entgegen der holistischen Betrachtungsweise eigentlich überhaupt nicht mehr »gefragt«, weil sie einfach so zu sein (und zu funktionieren) hat, wie ihr dies die Menschensicht zuteilt. Hier verknüpft sich nämlich die romantische Natursicht mit der ökologisch-holistischen Betrachtungsweise auf das innigste. Der Mensch ist als schlecht erkannt und aus der Natur herausgenommen worden, weil er nicht mehr als edler Wilder im Paradies leben wollte, sondern den Sündenfall beging und zu Technik und Naturveränderung gegriffen hat. Damit verstieß er sich selbst aus dem Schoß der Natur, die er seither schändet und belastet. Folglich 178
ist das Haus der Natur auch den vielfältigsten Belastungen ausgesetzt, und oft genug ist zu hören oder zu lesen, dass »es« zusammengebrochen sei oder der »Zusammenbruch ganzer Ökosysteme« drohe. Die holistische Ökologie nach Haeckel hat auf diese Weise den Menschen noch mehr der Natur entfremdet, als die Romantiker dies befürchteten, denn er begibt sich jetzt nicht mehr »aufs Land in die Natur«, um sich darin zu ergehen und zu erholen, sondern allein schon bei diesem Tun hinterlässt er seine »ökologischen Fußabdrücke«. So wird die Kuh und wurden die Schafe zu erwünschten Landschaftspflegern, wenn sie viel zertreten und das, was ihnen schmeckt, kurz und klein beißen, während der Naturfreund, der gern nach draußen möchte, um sich in der Naturnähe zu erholen, zum großen, weil ganz direkten Naturschänder gebrandmarkt wird. Denn kein Mensch kann feengleich über der Natur umherschweben. Allenthalben geschehen aber »Eingriffe in den Naturhaushalt«, die es, per Gesetz verordnet, »auszugleichen« gilt, weil alsbald die Natur den Menschen nicht mehr ertragen könnte und das Haus der Natur dichtgemacht werden müsste. Darwin darf indessen in den Labors wirken, wenn moderne Molekulargenetik all das aufdeckt, was er noch nicht wissen konnte, nachdem nicht einmal die Grundprinzipien der Vererbung zu seiner Zeit bekannt waren. Darwinsches Denken von Veränderung und Evolution wirkt fort in der modernen Gentechnologie, die Neues schafft, weil man inzwischen herausgefunden hat, wie das geht. Darwin und seine geistigen Nachfahren werden angeklagt, und ›Evolutionisten‹ müssen sich immer häufiger auch vor Gericht vertreten lassen, weil Darwinsches Denken in Veränderungen im Widerspruch zu den fundamentalistischen Strömungen und bibeltreuen Auslegungen steht. Mit dem mehr als primitiven Slogan »forever young« versuchte inzwischen eine ganze Menschengeneration sogar die Veränderung des Alterns zu ignorieren, wie auch die unweigerlich Altgewordenen möglichst ignoriert werden. Das 179
individuelle Leben selbst darf sich in Übersteigerung dieses festgefressenen Unveränderlichkeitsdenkens nicht mehr verändern. Darin kommt zum Ausdruck, worum es eigentlich gegangen ist. Die Natur und ihre Beständigkeit dienten nur als äußerer Vorwand für die inneren Widerstände gegen jegliche Veränderung, auch die in jedem Menschen selbst ablaufenden. Darwin war mit seiner Weitsicht auf Veränderungen seiner Zeit zu weit voraus. Die »Pax Britannica« herrschte zu seiner und zu Ernst Haeckels Zeit auf den Weltmeeren. Unangefochten wurden diese von Großbritannien beherrscht. Das Empire hatte sich die halbe Welt unterworfen. Amerika, die Vereinigten Staaten, sowie die großen und damals noch reichen Staaten von Südamerika, waren mit sich selbst beschäftigt. China war aus der selbstverordneten Isolation noch nicht herausgekommen. Japan erstarkte, wurde aber als für Europa zu fremdartig nicht so recht wahrgenommen. Im kontinentalen Europa hatten die »Großmächte« durch einander lahmlegende Verträge ein Kräftegleichgewicht geschaffen. Jahrzehntelang änderte sich am System nichts. Es gärte im Verborgenen, wo evolutionäre Ideen und Darwinsche Begriffe als Schlagwörter für neu zu schmiedende politische Ideologien herausgegriffen und missbraucht wurden. Global war alles so klar wie nur möglich: Weiß herrschte über Schwarz, Gelb lag dazwischen, Rot gab es kaum mehr und war als amerikanisches Problem dem Ende nahe. Die Sklaverei war (bei den Weltmächten) abgeschafft, dafür wurden die Kolonien umso mehr ausgebeutet. Für die Menschheit als zoologische Art war für alle klar und offensichtlich, wer zu den Fitten und Führenden gehörte und wer zu den Unterlegenen und Dienenden. Die Schlote rauchten in den Industriegebieten, und es wurden ihrer immer mehr. In dieses politische Klima passten sowohl Darwin als auch Haeckel. Darwin lieferte die natürliche Begründung der Überlegenheit der Tüchtigen, die sich deshalb im Kampf ums Dasein durchgesetzt hatten, weil sie eben tüchtiger als die Konkurrenz waren. Haeckel bot die geordnete, sinnstiftende 180
Beständigkeit, an der nichts zu rütteln und zu schütteln war. Heute würde man (in Amerika) sagen, beides habe damals der »politischen Korrektheit« entsprochen, obwohl so vieles alles andere als korrekt war. Die Katastrophe schlug zu, kaum dass die beständige zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts beendet war und das neue, das 20., angefangen hatte. Wie eine Cuvier’sche Katastrophe veränderten Erster und Zweiter Weltkrieg die Welt in kürzester Zeit grundlegend. Dennoch blieb am Haus der Natur jeder Reparaturversuch untersagt. Beständigkeit sollte wiederkehren. Eine neue wissenschaftliche, auf Computerrechnungen und Modellen aufgebaute Ökologie eignete sich bestens für diese Zielsetzung. Sie lieferte »die Ökosysteme« modellhaft klar und zeigte, wie sie (im Computer) funktionieren und wie sie auf Veränderungen reagieren. Ob die Modelle mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht, blieb ziemlich lang unbeachtet, weil es sich in den Rechnern um abstrakte Gebilde und nicht um wirkliche Natur gehandelt hatte. Entscheidend war der »Output«. Danach wurde wohl manches Modell nachjustiert, weil das herauskommen sollte, was erwartet wurde. Dass meistens keine Übereinstimmung mit der Natur erzielt wurde, störte nicht, denn die Stimmigkeit würde sich mit »verfeinerten Modellen« schon ganz von selbst ergeben. Die zugrunde gelegten Annahmen waren richtig. Davon gingen die Modellbauer in der Regel aus, zumal ihnen die Abnehmer in der Öffentlichkeit ihre Modelle und ihre Vorhersagen geradezu aus den Händen rissen. Weil sie immer mehr und immer Schlimmeres vorhersagen konnten! Sogar manchem Ökologen fiel gar nicht mehr auf, dass nicht nur alle Modelle bloß Modelle waren, sondern der Ökosystembegriff selbst natürlich auch. Denn seine Schöpfer, die amerikanischen Ökologen-Brüder Howard T. und Eugene P. Odum, die aus früheren vagen System-Begriffen computertechnisch handhabbare Konzepte zum Ökosystem gemacht hatten, meinten ganz gewiss nicht, dass diese Wiese eine Wiese sein müsse, weil sie als »Ökosystem Wiese« untersucht wurde 181
und »Ergebnisse« geliefert hat. Auch der Wald blieb bei ihnen (und bei den meisten wissenschaftlichen Ökologen, die Ökosystemforschung betrieben) ein Wald und nicht ein Organismus höherer Ordnung, der sich nur als »Waldökosystem« verstehen ließ und in dem kein Baum mehr gefällt werden dürfte, weil das ein Eingriff ins System gewesen wäre. Genauer betrachtet, entfernte die Ökosystemforschung die lebendige Natur aus ihrer Forschung und machte sie zum Inhalt einer »Black Box«, in die Energie und Stoffe hineinflossen und Abfall wieder herauskam. Fielen die Bilanzen ausgeglichen aus, so war das unbekannte System im Innern »in Ordnung«. Gab es mehr Abfall, als (von der Untersuchung) erwünscht war, herrschte Unordnung und die Gefahr des Zusammenbrechens. Eine Pseudostabilität der Unkenntnis ersetzte rasch die genauen (und zeitaufwendigen) Untersuchungen. Änderungen sollte es nicht mehr geben. Traten sie doch ein, war auf jeden Fall der Mensch daran schuld, selbst wenn er, wie in vielen »strengen Naturschutzgebieten« ausgesperrt worden war. Irgendwie muss er ja gewirkt haben, denn Unordnung konnte nur vom Menschen stammen. Als Fehlentwicklung der Evolution, dessen sich Gaia, die Erde, wohl auch (bald) entledigen würde, stempelte man den Menschen ab, sofern er ein Weißer war, im Westen lebte und nicht Grün wählte. Letzteres hätte ihm vielleicht die Absolution erteilt. Brandschatzende Afrikaner oder Inder, die, weil es nicht anders ging, das letzte Hälmchen abrupften und Wüste hinterließen, gehörten ab den 1970er Jahren zum guten Teil der Menschheit, während im »entwickelten Westen« die Öko-Audits heiß liefen und viel Geld (und Energie) kosteten, weil den Firmen und Organisationen ja gezeigt werden musste, was da bei ihnen alles falschlief. Worum es eigentlich ging, war bald nicht mehr auszumachen im Dunst der Ökologisierung, die alles vernebelte, was früher klar und vernünftig schien. Doch ein Bezug blieb fest wie der berühmte Fels in der Brandung: Es sollte sich nichts weiterverändern, höchsten zurück! Dafür hatte das Wunschbild vom »Gleichge182
wicht« zu sorgen, vom »Gleichgewicht in der Natur«. In der Natur herrscht zwar ein beständiges Kommen und Gehen, ein Werden und Vergehen, aber in so ausgewogener Weise, dass die entstandenen Strukturen erhalten bleiben. Im Haus der Natur ändert sich nichts, auch wenn die Jahreszeiten aufeinanderfolgen und manches Detail wechselhaft ausfällt wie das Wetter. Das Bild vom Mobile drückt diese Gleichgewichtsvorstellung am besten aus. Die miteinander verbundenen Einzelteile schwanken, sobald es an irgendeiner Stelle angestoßen wird. Daher bietet das Mobile die Verknüpfung von beiden Grundvorstellungen zum Gleichgewicht in der Natur, nämlich die Verbundenheit von allen mit allem und die Belastung, die vom einzelnen Teil ausgeht. Der Mensch stört mit seinen Eingriffen den Ruhezustand des Mobiles und belastet Teile auf Kosten anderer. Deswegen ist der Mensch zugleich Störung und Belastung. Denn er kommt von außen. Darin besteht seine Besonderheit. Er hat sich als Lebewesen aus der Natur gelöst und tritt nun in anderer, nicht mehr »natürlicher Weise« in diese hinein. Die Beweise für dieses Wirken des Menschen liegen auf der Hand. Der Mensch verändert die Natur mit Ackerbau und Viehzucht, also mit der Landwirtschaft, und mit Industrie und Verkehr. Sein Fußabdruck trägt Schuhe, sein Einsatz von Energie setzt Schadstoffe frei. Die harten Hufe der Kühe und Pferde hinterlassen zwar auch ihre Abdrücke, die vielleicht sogar tiefer in den Boden wirken als des Menschen Fuß, aber sie stören dennoch nicht, weil sie dabei von der Natur leben und »Natürliches« wieder von sich geben. Mit dieser Denkweise blieb die Landwirtschaft von vornherein ausgeklammert aus dem Komplex von Störungen und Belastungen der sich industrialisierenden Menschheit des Westens. Die Folgen dieses Denkens haben wir vor allem in unserer Gegenwart zu tragen. Die Belastungen, die sich daraus ergaben, drücken auf die Zukunft mehr als alles andere. Doch das greift bereits zu weit vor ins letzte, ins 20. Jahrhundert. Noch litt die Landwirtschaft unter dem Mangel der 183
ausgebeuteten und weithin übernutzten Fluren. Noch wanderten Menschen in großer Zahl aus Mitteleuropa aus, um sich in den Neuen Welten ein neues Leben auf dem Land aufzubauen. Viel zu weit gegangen war nicht die Landwirtschaft, sondern die Industrie. Der von ihr ausgelöste Fortschritt, von dem mittlerweile ein wesentlicher Teil der Menschheit direkt oder indirekt lebte, galt als Wurzel allen Übels. Die Städte und die rußende, stinkende Industrie waren schlecht. Sie verbreiteten mit dem Manchester-Kapitalismus die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Nicht der Zustand der Natur interessierte, sondern jener der Gesellschaft. Das war verständlich, so wie es heute vielfach in den Ballungszentren der Menschheit in der sogenannten Dritten Welt ganz direkt um Leben und Überleben der Menschen und nicht um das Wohl oder Wehe der Natur geht, die dort gewiss nicht personifiziert und über den Menschen gestellt wird. Jeder weitere Fortschritt wurde verdächtig, während sich gleichzeitig in anderen Kreisen der europäischen und amerikanischen Bevölkerung ein geradezu euphorischer Glaube an den Fortschritt ausbreitete, der alle schon vorhandenen und auch die kommenden Probleme lösen würde. Das drängendste war die Ernährung. Die bunten Blumen auf Feldern und Wiesen mochten satte Städter erfreuen. Für die Menschen auf dem Land waren sie kaum der Blicke wert, weil alles, was kein Korn trug, das geerntet werden konnte, Unkraut war und bekämpft werden musste. Von 1860 bis in die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein waren die Sommer überwiegend schlecht, in manchen Gebieten katastrophal. Die Vorstellung vom Gleichgewicht im Naturhaushalt lag den betroffenen Menschen fern. Sie wurde erst im 20. Jahrhundert »erfunden«. Aber an der grundlegenden Änderung wurde bereits heftig gearbeitet. Die naturwissenschaftliche Forschung, insbesondere die Chemie, war so weit, direkt in die Natur hinauszugehen und zu wirken. Man hatte herausgefunden, dass die Pflanzen mehr brauchen als Wasser und Licht und dass Humus und Mist noch keine guten 184
Ernten garantieren. Neben dem theoretischen Naturhaushalt Ernst Haeckels fing ein praktischer an, sich zu etablieren. Das Konkurrenzwort Ökonomie wurde in der praktizierten Wirklichkeit der Hauptgegner der Ökologie. Die neue Entwicklung fing Ende des 19. Jahrhunderts an. Von unserem Bild der Natur blieb sie jedoch bis heute fast gänzlich ausgeklammert. Die am weitesten verbreiteten Vorstellungen und Leitbilder stellen nach wie vor eine Verbindung von romantischer Verklärung als Gegensatz zur rationalen Aufklärung mit der festgefahrenen Statik eines (politisch) wohlgeordneten 19. Jahrhunderts viktorianischer und wilhelminischer Prägung dar. Eine fortgesetzte Dynamik, die nach dem Grundmuster Darwinscher Evolution immer wieder unvorhersagbare Veränderungen mit sich bringt, findet darin keinen Platz. Dagegen erstarkte der alte Katastrophismus. Sein Einschüchterungspotenzial wird gegenwärtig wieder hemmungslos ausgenutzt. Längst sind ganz natürliche und häufig wiederkehrende Wetterereignisse zu Katastrophen gemacht geworden. In früheren Jahrhunderten hätte man sie nicht für wert befunden, wie Geburten und Sterbefälle in die Kirchenbücher eingetragen zu werden. Die Medien nutzen unseren merkwürdigen Hang zu Katastrophen bekanntlich höchst umfänglich aus und übertreiben in aller Regel bis an die Grenzen des Zumutbaren und darüber hinaus. Vielleicht äußert sich darin unsere kindliche Sehnsucht nach Sicherheit, die eine Gesellschaft nicht mehr bietet, weil sie überaltert ist. Mangels Kinder möchten (zu) viele selbst kindlich bleiben. Dass sich Darwin und die Naturwissenschaften auch nach mehr als einem Jahrhundert geradezu explosiv zunehmender und in die feinsten Feinheiten sich vertiefender Forschung nicht hatten durchsetzen können, wäre den Menschen des 19. Jahrhunderts sicherlich ein unbegreifliches Rätsel geblieben. Wir werden in der Folge mehrfach darauf zurückkommen. Hier gilt es festzuhalten, dass unser Bild der Natur, das sich weitgehend am 19. Jahrhundert orientiert, der durch Daten 185
und Fakten festgehaltenen Wirklichkeit häufig überhaupt nicht entspricht. Damals, vor gut 100 Jahren, herrschte weder die »gute alte Zeit«, noch war alles viel besser in der Natur. Auch die überseeischen Naturräume, die in Europa im 19. Jahrhundert zunehmend zur Kenntnis genommen wurden, entsprachen meist längst nicht mehr dem, was mit Natur im Naturzustand eigentlich gemeint sein sollte. Wer sich auf das 19. Jahrhundert rückbezieht, begibt sich damit womöglich in die Falle einer ziemlich falschen Ausgangsbasis. Und wenn davon die Zukunft abgeleitet wird, ist so ein Vorgehen alles andere als belanglos. Das 20. Jahrhundert, das für viele noch »unser Jahrhundert« war, ist nun als letzter Abschnitt an der Reihe. Es ist, wie sich zeigt, nicht das schlechteste, vielleicht aber das merkwürdigste der zehn Jahrhunderte des letzten Jahrtausends.
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Das 20. Jahrhundert
18. Justus von Liebig und der Kunstdünger Die große Wende löste im Stillen ein herausragender, mit dem Nobelpreis geehrter deutscher Chemiker aus, als er das zugrundeliegende Prinzip für die Produktivität der Natur erkannte. Justus von Liebig formulierte es als das (sein) »Minimum-Gesetz«. Danach begrenzt jener Nährstoff die (landwirtschaftliche) Produktion, der im Verhältnis zu den anderen benötigten Stoffen im Minimum ist. Das kann etwas so Einfaches sein wie das fehlende Wasser in der Wüste oder der Mangel an Wärme in den polaren Regionen. Letztere lassen sich schwerlich heizen. In zu kalten Gebieten können nur Glashäuser eine gewisse Lösung sein. Die Wüste kann man bewässern. Das ist seit Jahrtausenden bekannt und vielfach gemacht worden. Liebigs Leistung lag nun darin, den Schlüssel für die Produktionsverbesserung gleichsam für das normale Land gefunden zu haben. Die chemische Analyse kann feststellen, ob der Boden genug Stickstoff- oder Phosphorverbindungen, Kalium oder Eisen enthält, oder wie viel ihm davon, bezogen auf den Bedarf der Nutzpflanzen, fehlt. Der Mangel lässt sich bestimmen und direkt im Verhältnis zu den anderen Mineralstoffen messen. Das ermöglicht die richtige Versorgung mit Kunstdünger. Das Zauberwort zur nachhaltigen und außerordentlich starken Anhebung der Produktion lautete alsbald ›Nitrophoska‹. In diesem Kunstdünger wurden die drei mengenmäßig bedeutendsten Wirkstoffe, nämlich Stickstoff 187
(Nitro), Phosphor (phos) und Kalium (ka), in ziemlich genau den Verhältnissen geboten, in denen sie von den Kulturpflanzen für Wachstum und Fruchtbildung benötigt werden. Entsprechend nachhaltig ließ sich die Produktion, gemessen an Hektarerträgen, in kurzer Zeit steigern. Sobald Kunstdünger preiswert genug zur Verfügung stand, merkten die Landwirte, dass sie auch ohne aufwendige Analysen nach dem einfachen Prinzip »viel hilft viel« ihre Erträge steigern konnten. Großtechnische Erzeugung senkte die Preise für den Kunstdünger. Die Landwirtschaft wurde zu einem der Hauptabnehmer von Produkten der chemischen Industrie. Deutsche Firmen stiegen in die Weltspitze auf, weil in Mitteleuropa bei ziemlich guten Böden ein Missverhältnis zwischen Produktionsflächen und Bedarf zustande gekommen war. Die Bevölkerung brauchte weit mehr Nahrungsmittel, als das Land in der herkömmlichen Weise erzeugen konnte. »Lebensraum« wurde knapp und mit massiver Expansionspolitik in den Weiten des Ostens gesucht. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vorhandenen Kolonien des Deutschen Reiches hatten keine Abhilfe am Mangel geschaffen, denn Südwestafrika war größtenteils Wüste, Kamerun Regenwald mit tropischen Lateritböden und Deutsch-Ostafrika zwar wildreiche Savanne mit dem höchsten Berg Afrikas (der in den Geographiebüchern zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch als »höchster Berg Deutschlands« bezeichnet worden war), aber gleichfalls nicht geeignet, in Massen benötigte Nahrungsmittel für das Reich herzustellen. Ganz zu schweigen vom weltfernen Deutsch-Neuguinea oder den Inseln des Bismarck-Archipels. Die Kolonien waren für Kaiser und Reich eine Prestigeangelegenheit, aber keine Ressourcen, aus denen viel herauszuholen gewesen wäre. Die Erträge konnten nur vor Ort in Deutschland gesteigert werden, wo Böden und Klima für brauchbare Ernten weit verlässlicher waren als in den tropischen Kolonialgebieten. Doch hier gab es, vor allem im Südwesten und Süden, ein strukturelles Problem. Die Agrarflächen waren durch Erbteilung extrem stark 188
zersplittert, sodass sie eher den Eindruck von Handtuchstreifen als von Produktionsflächen machten. Nur im preußischen Junkerland war das anders. Dort standen für den Großeinsatz auch Großflächen zur Verfügung. Die strukturellen Vorteile wurden rasch offensichtlich, weil auf den zusammenhängenden Flächen weit wirkungsvoller Getreide und andere Feldfrüchte als auf den kleinteiligen Fluren im Süden des Reiches angebaut werden konnten. Diese taugten für die Selbstversorgung, nicht aber für die Läden und Märkte der rasch wachsenden Städte oder für die bevölkerungsreichen Industriegebiete an Rhein und Ruhr. Die großtechnische Erzeugung und der großflächige Einsatz von Kunstdünger veränderten die Lage, aber richtig zur Wirkung kam dieser erst, als nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Flurbereinigung ein ganz neuer Anfang gemacht werden konnte. Die beiden Weltkriege hatten die Entwicklung weitgehend unterbrochen und gleichsam auf den Anfang zurückversetzt. Noch zwischen den Kriegen bestand die Vollwertdüngung deutscher Flur in einer Menge von 30 bis 50 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr. So viel gelangt seit rund 20 Jahren allein auf dem sogenannten Luftweg als Dünger flächig übers Land. Die Quellen davon sind die modernen Großfeuerungsanlagen, die bei hohen Betriebstemperaturen Luftstickstoff mitverbrennen und so zu Dünger aus der Luft werden lassen, aber auch der Autoverkehr, wenn die Motoren in hohen Drehzahlen laufen. Der direkte Einsatz von Düngemitteln stieg unabhängig von dieser »Düngung nebenbei« produktionsbezogen stark an. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts übertraf die Bilanz zwischen Ernteentzug und Düngung fast überall in Mitteleuropa die Grenze von 100 Kilogramm Stickstoff (als Reinstickstoff gerechnet) je Hektar und Jahr. In den agrarischen Intensivgebieten verdoppelte sich dieser Überschuss und wurde zur Hauptbelastung für Boden, Grundwasser und auch der Luft, weil immer größere Mengen organischen Düngers nicht mehr, wie früher, als Festmist auf die Fluren gebracht wurde, sondern in Form von flüssiger Gül189
le. Diese Entwicklung veränderte das Grundwasser, die Nährstoffgehalte der Böden und über diese Lebensgrundlagen auch die Artenzusammensetzung und -Vielfalt der Fluren weit stärker als alle früheren »Eingriffe«. Denn nun trat genau das auf, was der Mangel verhindert hatte. Einzelne Pflanzen, die sehr »wüchsig« sind und dafür auch reichlich Nährstoffe brauchen, wucherten und erdrückten die genügsameren und zarteren Arten. Der Stickstoff wurde zum »Erstick-Stoff« für die Artenvielfalt. Die Vegetation wächst nun seit Jahrzehnten schon aufgrund dieser Düngung im Frühjahr viel früher und viel dichter auf als in den »mageren Zeiten«. Bodennah wird es daher im Frühsommer und Sommer feucht und kühl. Je dichter die Vegetation, desto stärker wird dieser Abkühlungseffekt. Die wärmebedürftigen Arten nehmen ab und verschwinden, obgleich »offiziell« das Klima im genau gleichen Zeitraum wärmer wurde. Doch für die Pflanzen und für die meisten Tiere zählen nicht die meteorologisch standardisierten Messwerte, sondern die tatsächlichen Bedingungen in ihren Lebensräumen. Für die Grille oder für die Raupe am Wiesenboden bleibt das Mikroklima kalt und feucht, auch wenn einen Dreiviertelmeter darüber, wo die Pflanzendecke endet, schönster Sonnenschein frühsommerliche Wärme liefert. Nicht das schmelzende Eis der Gletscher ist, als rein physikalischer Vorgang, maßgeblich für die Auswirkungen leichter Erhöhung der Durchschnittstemperaturen, sondern die Art und Weise, wie die Pflanzendecke reagiert. Sie bestimmt in ausgeprägter Weise die thermischen Lebensbedingungen und damit Mikround Mesoklima auf den kleinen und mittleren Ebenen der Natur. In unserer Zeit drehte die übermäßige Versorgung des Landes mit Pflanzennährstoffen somit die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts geradezu ins Gegenteil um. Damals wurden, wie schon ausgeführt, die Fluren schnell aufgewärmt und abgetrocknet, weil sie weithin offen und intensiv genutzt waren. Jetzt sind sie »zugewachsen«, weil weder Ziegen noch Schafe oder fleißige Hände jeden Streifen und alle Ränder frei halten. 190
Die Städte sind seit Jahrzehnten »magerer«, artenreicher und vielfältiger als »die Natur« draußen auf den Fluren. Denn in Städten, Siedlungen und Industrieanlagen enthalten die Böden inzwischen vielerorts weit weniger Nährstoffe für das Pflanzenwachstum als die anhaltend überdüngten Felder und Wiesen. Die Bodenversiegelung mit Pflaster, Beton und Teer leitet das Niederschlagswasser schnell in die Kanalisationen, sodass sich an vielen Stellen trockenwarme Verhältnisse halten können. Die Aufwärmung der Gebäude durch die Heizungen im Winter und die Aufnahme und (nächtliche) Speicherung von Sonnenwärme im Sommer verstärkt diese Effekte und macht die Städte zu »Wärmeinseln«. Entsprechend groß ist der Kontrast in der Artenvielfalt geworden. Das Land verliert sie, während die Städte umso mehr Arten gewinnen, je größer sie sind. Diese Entwicklung stellt das Leitbild Artenvielfalt im Naturschutz seit geraumer Zeit grundsätzlich infrage. Denn es stammt, wie ausgeführt, aus dem 19. Jahrhundert. Die damaligen Verhältnisse werden jedoch auf absehbare Zeit sicherlich nicht wieder nachzuahmen (und anzustreben) sein. Das geht allein schon deswegen nicht mehr, weil der erreichte, sehr hohe Grad der Selbstversorgung mit den Grundnahrungsmitteln ohne Not nicht wieder aufgegeben werden wird – und auch nicht mehr aufgegeben werden soll. Zurück dreht sich das Rad der Zeit ohnehin nicht. Wie groß die Unterschiede zwischen Stadt und Land in der jüngsten Vergangenheit geworden sind, illustrieren die nachfolgenden Abbildungen. Die Defizite können direkt berechnet werden, wenn der allgemeine Landesdurchschnitt zugrunde gelegt wird. Für die Vögel gibt es genügend Befunde, aus denen ein solcher berechnet werden kann (Reichholf 2004 & 2007). Danach sind pro Quadratkilometer Landfläche in Mitteleuropa rund 43 Vogelarten zu erwarten, die auf dieser Fläche auch brüten. Mit Hilfe einer Formel kann berechnet werden, wie viele Arten von Brutvögeln auf Flächen unterschiedlicher Größe zu erwarten wären, wenn diese durchschnittlichen Verhältnissen 191
entsprechen. Die tatsächlichen Befunde ergeben nun im Vergleich mit den Erwartungswerten das Ausmaß an erhöhtem oder vermindertem Artenreichtum. Wo die Minderung unter die Grenze zufälliger Schwankungen abfällt, handelt es sich um echte Defizite. Solche treten, wie Abbildung 10 zeigt, ganz besonders auf den großflächig landwirtschaftlich genutzten Fluren auf, während die Städte allgemein über dem Durchschnitt liegen und oft einen Artenreichtum erreichen, wie er in hochwertigen Naturschutzgebieten auftritt oder erwartet wird. Da nun aber der gesamte Siedlungsraum, einschließlich der Industrieflächen, mit seinem beträchtlichen Artenreichtum in Mitteleuropa nur rund 10 Prozent der Landesfläche einnimmt, die Wälder mit geringen Defiziten an Diversität gut 30 Prozent und die agrarisch genutzte Flur aber 55 Prozent ausmachen, während Naturschutzgebiete und die besonders artenreichen Truppenübungsplätze oder weitere »Restflächen« geringer Nutzungsintensität die restlichen 5 Prozent
Abb. 9: Blick auf München über die Isar um 1835. Gemälde von Ernst Kaiser. Das Bild zeigt, wie offen und wie intensiv genutzt das Isartal war, wo heute der Englische Garten und die Hirschau dicht bewachsen und eigentlich Hochwald geworden sind. 192
Abb. 10: Verteilung des Artenreichtums von Vogelarten in Mitteleuropa, die in den betreffenden Lebensräumen brüten, von den Innenstädten übers Land bis zu den für besonders artenreich zu erachteten Flussauen. Die Befunde zeigen, wie reichhaltig die Städte im Vergleich zur offenen Flur in unserer Zeit geworden sind. stellen, kommt insgesamt der in »Roten Listen gefährdeter Arten« dokumentierte, so starke Artenschwund zustande. Hauptverursacher ist die quasiindustrielle Landwirtschaft mit ihrer Überdüngung und der zu ihrer Leistungssteigerung durchgeführten Vereinheitlichung der strukturellen Verhältnisse auf den Fluren. Die in den Abbildungen 10 und 11 dargestellten Befunde drücken dabei gar nicht einmal den Vergleich mit dem 19. Jahrhundert aus, sondern lediglich die relativen Verhältnisse in der Gegenwart. Sofern zu Vorkommen und Häufigkeit der Arten vor 150 Jahren brauchbare Angaben vorliegen, ergibt sich ein gewaltiger Artenschwund für die Fluren. Denn diese waren damals die besonders artenreichen Lebensräume gewesen und nicht die Städte. Pflanzen und Tiere der Fluren stellen daher auch die weitaus höchsten 193
Abb. 11: Ähnliche Verteilungen im Artenreichtum wie bei den Brutvögeln (Abb. 10) ergeben sich bei den nachtaktiven Schmetterlingen. Die Verödung der Fluren kommt noch deutlicher zum Ausdruck. Anteile in den »Roten Listen«. Sie schwanken zwischen gut 50 und über 90 Prozent bei den Rückgängen. Die »Roten Listen der gefährdeten Arten« wurden auch immer länger, weil die Intensität der agrarischen Bewirtschaftung zunahm, und nicht kürzer, weil Maßnahmen des Artenschutzes wirksam geworden wären. Solche kamen nur wenigen Arten zugute, und zwar fast ausnahmslos solchen, die früher intensiv verfolgt worden waren und nun geschützt sind. Diese Zusammenhänge sind vielfach schon ausführlich beschrieben worden (Reichholf 2005 & 2006). Hier geht es darum, eine Gesamtbilanz zu ziehen (Abb. 12). Sie ergibt für den flächengrößten Anteil der mitteleuropäischen Landschaften, die Flur, die ganz starken Rückgänge 194
der Artenvielfalt und die größte Belastung des Landes. Die Entwicklung führte in weniger als einem halben Jahrhundert vom Mangel zur massiven Überdüngung. Diese, im internationalen Fachjargon Eutrophierung genannte Überversorgung von Böden und Gewässern mit mineralischen und organischen Nährstoffen stellt eines der wichtigsten Kennzeichen der Natur des 20. Jahrhunderts europaweit dar. Doch auch in weiten Regionen der übrigen Welt schreitet die Eutrophierung fort. Sie ist eine der Hauptquellen für klimawirksame Gase wie Methan und Ammoniak, und sie wird im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen aus anderem Blickwinkel wieder aufgegriffen. Ausgelöst wurde sie von der Erfindung des Kunstdüngers. Dieser machte Deutschland und weitere große Staaten Europas zu Exporteuren von landwirtschaftlichen Produkten auf dem Weltmarkt. Die davon entscheidend mitdiktierten Preise nehmen Einfluss auf die weitere Intensität der Produktion in Europa wie auch auf
Abb. 12: Flächenbilanzierung der von der modernen Landwirtschaft ausgelösten Veränderungen im Artenreichtum der Natur Mitteleuropas. Die Werte sind auf die Anteile der jeweiligen Lebensräume an der gesamten Landfläche Deutschlands bezogen. 195
Abb. 13: Rückgang der Artenvielfalt im Donautal von Regensburg in die offene Feldflur des »Gäubodens«. Die Befunde (Zahl der Brutvogelarten) sind darin den Erwartungswerten gegenübergestellt, die sich aus den Größen der untersuchten Flächen errechnen lassen. Hieraus ergeben sich die Defizite (vgl. Text). die übrigen Produktionsgebiete global – mit ganz gewaltigen Folgen für die Natur und für das Klima. Umgekehrt bedeuteten Kunstdünger und Ertragssteigerungen natürlich die ungleich bessere Lösung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts real vorhandenen Versorgungsproblematik. Der Versuch einer »Ausweitung des Lebensraumes« nach Osten war der absolut falsche Weg. Verbesserte landwirtschaftliche Produktion und Zurückdrängung des Hungers stabilisierten sodann die Weltlage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewiss mehr als alle politischen Aktivitäten. Die »Grüne Revolution« trug mit ertragreicheren Getreidesorten dazu ebenso maßgeblich bei wie Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel von der chemischen Seite. Das 20. Jahrhundert wird sicher zu Recht als eine neue Stufe mit einem Quantitätssprung 196
in der Nutzung der Produktionskapazität der Erde eingehen. Eine Zunahme der Nahrungsproduktion in diesem Ausmaß und in so kurzer Zeit hatte es vorher noch nie gegeben (Hahlbrock 2007). Die »Grüne Revolution« entspricht in mancher Hinsicht der »Neolithischen Revolution« mit der Entwicklung des Ackerbaus vor rund 10000 Jahren. Nichts veränderte im ganzen letzten Jahrtausend die Natur in Europa und darüber hinaus weltweit so sehr wie die industrialisierte Landwirtschaft. Der globale »Impakt« der Industrie bleibt weit hinter dem der Landwirtschaft zurück.
19. Flussregulierungen und Stauseen Die geradezu revolutionären Entwicklungen in der Landwirtschaft ziehen sich durch alle Bereiche der Landnutzung. In ganz besonderem Maße äußerten sie sich im Wasserbau. Die großen Flusskorrekturen des 19. Jahrhunderts dienten noch vorwiegend oder ausschließlich der Schifffahrt. Auswirkungen auf die Landwirtschaft kamen zunächst eher nebenbei zustande, als die Begradigung großer und schnellfließender Flüsse zu deren rascher Eintiefung führte. Als Folge davon sank das Grundwasser ab. Für das ertragreiche Oberrheingebiet in Baden und im Elsass wurde Versteppung befürchtet. An der Häufigkeit und auch an der Stärke der Hochwasser änderte sich mit der Flussbegradigung so gut wie nichts, außer dass die Flut schneller flussabwärts vorankam, dafür aber auch schneller wieder ablief. Erst eine massive Eindämmung der Flüsse in ihren früher weitläufigen Auen bewirkte starkes Ansteigen der Hochwasserhöhen. Die einst regelmäßig, aber unvorhersehbar überschwemmten Auen, die nur als Weideland genutzt werden konnten, ließen sich jetzt in Ackerland umwandeln. Diese neue Landnahme entzog den Flüssen ihre Überschwem197
mungsflächen. Das verschärfte die Hochwasser in den am Fluss gelegenen Städten ganz erheblich, weil flussaufwärts die Rückhalteräume fehlten. Deiche ohne abdichtende Spundwand in ihrem Innern wurden zunehmend länger und höher den Fluten ausgesetzt, sodass es auch immer häufiger zu Deichbrüchen kam. Bis zuletzt war das so bei den Hochwassern von 2002 und 2005. Die weitaus größeren Veränderungen erzeugte aber der »Ausbau« der Gewässer III. Ordnung im Rahmen des landwirtschaftlichen Wasserbaus. Ein Großteil der kleinen Flüsse, der Bäche und sogar der Rinnsale oder nur zeitweise wasserführende Gräben wurde mit immensem Aufwand an Geld so ausgebaut, dass das Niederschlags- oder Sickerwasser schnellstmöglich ab- und in die großen Flüsse eingeleitet wurde. Ziel war es, auf allen landwirtschaftlichen Produktionsflächen auch möglichst gleichartige Produktionsbedingungen zu schaffen. Standortnachteile sollten behoben werden. Frühere »Grenzertragsflächen«, deren Bewirtschaftung im Vergleich zum Aufwand kaum Erträge erwarten ließ, konnten so in die Produktion mit einbezogen werden, obgleich bereits die großen Zyklen von Schweinefleisch- und Butterbergen, Milchseen und Getreideüberschüssen in Gang gekommen waren. Auwälder wurden gerodet, als gälte es, eine rasch wachsende Bevölkerung zu versorgen, während in Wirklichkeit der Bevölkerungsrückgang schon begonnen hatte. Als eine der Hauptwirkungen dieser landesweiten Entwässerung der Fluren verschwanden weithin die Unterschiede in den Lebensbedingungen der Natur. Besonders groß wurden die Verluste bei den sogenannten Feuchtgebieten. Moderne, von starken Motoren getriebene Geräte ermöglichten die Entwässerung von Mooren, Feuchtwiesen und Sümpfen. Wo vordem die Handarbeit im Hinblick auf den Ertrag viel zu aufwendig gewesen wäre, zogen die Maschinen nun Entwässerungsgräben. Die Verlegung von Drainagerohren oder das Ausbetonieren von Abzugsgräben geriet mitunter fast zu einer besonderen Art von Sport. Es wurden neu entwickelte Geräte kostenlos 198
zum Ausprobieren angeboten, die irgendwo in Übersee, in den Tropen, eingesetzt werden sollten. Bald standen die Kosten der Baumaßnahmen in keinem sinnvollen, geschweige denn im Hinblick auf die Steuerzahler annehmbaren Verhältnis zu den Gewinnen, die aus den entwässerten Flächen erzielt werden konnten. Der Ausbau der Gewässer III. Ordnung verschlang jene Summen an Steuermitteln, die dringend benötigt worden wären, die Hochwasserproblematik an den großen Flüssen zu lösen. Im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts verloren die mitteleuropäischen Flüsse den größten Teil der noch verbliebenen Auen. Seither gibt es durchschnittlich nur noch etwa 5 Prozent der früheren Auwaldflächen des unregulierten Zustandes. Auwälder, Sümpfe und Moore gehören zu den ganz großen Verlierern in der Umgestaltung der mitteleuropäischen Landschaften. Ein Großteil der Hochwasserschäden, die Ende des 20. Jahrhunderts und vor allem in den letzten Jahren zustande gekommen sind, beruht auf diesen Maßnahmen. Für wenige Hektare »hochwasserfrei gelegter« Auen, die landwirtschaftlich genutzt werden können, haben die Anwohner flussabwärts und die Steuerzahler insgesamt unverhältnismäßig hohe Schäden abbekommen. Niederschläge normaler Größenordnungen, die keineswegs über Regenmengen früherer Jahrhunderte hinausgehen, auch wenn Jahrhundert- oder Jahrtausendhochwasser daraus entstehen, schwellen zu nicht mehr kontrollierbaren Fluten an, weil praktisch alle Bäche und Flüsse das Wasser schnellstens ableiten. Die eingeschnürten Flüsse können die Fluten natürlich nicht mehr fassen. Die im 19. Jahrhundert begonnene Regulierung der Flüsse führte man im 20. Jahrhundert konsequent bis in die Quellbezirke zu Ende. Die davon ausgelösten Hochwasserkatastrophen sind keine Folge einer in Gang gekommenen Klimaerwärmung, sondern hausgemachte Ergebnisse des landwirtschaftlichen Wasserbaus, dessen Verantwortung an den jeweiligen Flurstücken oder spätestens an den Grenzen des zuständigen Wasserwirtschaftsamtes endet. Ökologisch gesehen, veränderte dieser 199
Ausbau als »Längsverbau« die Natur der Bäche und Flüsse weit mehr als der vom Naturschutz so gescholtene und oft auf das heftigste bekämpfte Aufstau zu Stauseen oder Talsperren. Denn solche gab es von Natur aus, und sie waren schon seit Jahrtausenden vorhanden. Man betrachtete sie bloß nicht als Stauseen. Die meisten Naturseen der Alpen und Voralpen oder anderer Bergregionen entstanden als Stauseen, weil abschmelzendes Gletscherwasser sich an der Endmoräne staute, und erst als der Rückstau entsprechend gefüllt war, einen Überlauf schaffte. So läuft der Hochrhein in den Bodensee und wird dort als großer See zurückgestaut, bis das Wasser das Seebecken über den Rhein wieder verlässt. Die Tiroler Ache speist auf dieselbe Weise den Chiemsee und fließt als Alz zum Inn. Bei Rhone und Genfer See verhält es sich nicht anders. Der bedeutendste Unterschied liegt im Auslauf oder »Überlauf« des Sees. Befindet sich dieser auf Flussniveau, behindert der See die Wanderung von Fischen und anderen Wassertieren flussaufwärts nicht. Handelt es sich um einen Wasserfall, dann natürlich sehr wohl. Oberhalb der Niagarafälle oder der noch viel schöneren Iguassufälle in Südamerika lauft das Flussleben dennoch »natürlich« weiter, so wie es auch über dem Rheinfall bei Schaffhausen weitergeht. Je höher der Wasserfall, desto schwieriger gestaltet sich die Überwindung. Dies zu betonen ist ebenso wichtig, wie es notwendig ist, das Missverständnis auszuräumen, dass der Fluss in einem Stausee zum Stillstand kommen würde. Das geht selbstverständlich nicht. Durch einen Stausee fließt der Fluss mit gleicher Wassermenge pro Tag oder pro Jahr wie ohne Aufstau. Nur so lange, bis das Staubecken aufgefüllt ist, kommt eine Rückhaltung zustande. Auch den Bodensee verlässt, von der Verdunstung abgesehen, pro Jahr dieselbe Wassermenge, die in ihn hineinfließt. Wäre dem nicht so, würde er steigen und steigen und irgendwann übergehen. Aus ebendiesem Grund kann auch ein Stausee nur so viel Wasser einer Flut zurückhalten, wie noch nicht aufgefüllte Speicherkapazität vorhanden ist. Normalerweise leis200
ten dies nur Talsperren und Rückhaltebecken in größerem Umfang, aber keine »Laufstauseen« an Flüssen außerhalb der Gebirgstäler, weil diese gar keine entsprechenden Kapazitäten haben. Ketten von Stauseen, wie sie an vielen Flüssen gebaut worden sind, um Strom zu erzeugen oder Mindestwassertiefen für die Schifffahrt zu garantieren, bewirken bei Hochwasser nicht allzu viel, weil ihnen größere Speichermöglichkeiten fehlen. Die Mühlbäche mit ihren Stauweihern vor den Mühlen gingen, auf ihre geringe Größe bezogen, in früheren Zeiten genauso über, wie die zur Stromerzeugung errichteten Laufstauseen unserer Zeit das tun. Hochwasser können nur entsprechend große Flutungsflächen, also Polder, entschärfen. Sie können das umso weniger, je schneller das Wasser durch den Ausbau der Kleingewässer im Einzugsbereich zum Hauptfluss strömt. Hingegen gleichen sie Niedrigwasser besser aus als der begradigte, abflussbeschleunigte Fluss. In Trockenzeiten können Stauseen das Wasser länger in der Landschaft halten. Staue bremsen die Fließgeschwindigkeit. Das sollen sie, weil aus der nachfolgenden Beschleunigung in den Turbinen der Flusskraftwerke elektrischer Strom erzeugt wird. Strom aus Wasserkraft ist eine sich selbst erneuernde Energiequelle wie die Windkraft oder die Solarenergie. Diese knappen Hinweise sollen verständlich machen, warum im Gegensatz zu den Entwicklungen auf den Fluren größere Teile der Tier- und Pflanzenwelt der Gewässer nicht annähernd so stark rückläufig geworden sind, sondern sogar viele Arten im Vergleich zu früher zunahmen oder sich neu ansiedelten. Betrachten wir dazu die Flussbegradigungen, Auenverluste und Stauseen aus der Sichtweise der Ökologie. Die Begradigung hatte zunächst zwei gravierende Folgen. Die erste machte sich rasch in der Eintiefung der Flüsse bemerkbar, weil das Wasser auf den »Rennstrecken« viel schneller floss als vorher. Die zweite kam erst nach und nach zutage, denn die Austrocknung der Auen ging nicht innerhalb von wenigen Jahren vor sich. Ehemalige Seitenarme der Flüsse 201
waren zu Altwässern geworden, die, von Bächen oder vom Grundwasser gespeist, langsam vor sich hin verlandeten. Die Landwirtschaft rückte gleichfalls anfänglich langsam vor, weil kleine und mittlere Hochwasser immer noch Überschwemmungen verursachten. Doch nach einigen Jahrzehnten waren die meisten ehemaligen Aueflächen trockengefallen und in nur wenigen Jahren dem Hochwasser ausgesetzt. Diese Entwicklung war noch in vollem Gange, als an den Flüssen, die aus den Alpen kommen, die ersten größeren Stauseen gebaut wurden, die ausschließlich der Gewinnung von elektrischer Energie dienten und nicht, wie etwa die Staustufen an Main oder Weser und vielen anderen Flüssen der Niederungen und des Tieflandes, um diese als Wasserstraßen möglichst ganzjährig funktionstüchtig zu halten. Den frühen Staustufen wurden größere Überflutungsflächen zugeteilt, weil die ehemaligen Auen noch keinen so rechten »Wert« bekommen hatten und um auch etwas Hochwasserspeicherung betreiben zu können. Der Eindruck extremer Hochwasser, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts auftraten, war noch wirksam genug. Die Massen an Geschiebe oder Schwebstoffen, die Flüsse aus den Gebirgen mit sich bringen, und die besonders groß sind, wenn das Haupteinzugsgebiet in die Gletscherregionen reicht, führte dazu, dass solche Stauseen ziemlich rasch verlandeten. Am Inn, dem wasserreichsten Alpenfluss, dauerte die weitgehende Auffüllung der einzelnen Staubecken nur rund ein Jahrzehnt. Aus der Sicht der Energiegewinnung machte die Verlandung nicht viel aus, weil bei Flussstauseen in aller Regel für die Stromerzeugung nur die aktuell durchfließende Wassermenge genutzt werden kann. Gespeichertes Wasser spielt keine Rolle; Hochwasser vermindern gar die Stromerzeugung, weil die Fallhöhen durch den Anstieg der Wasserstände unterhalb der Kraftwerke sinken. Die Verlandung beschleunigt die anfänglich abgebremste Wasserführung wieder und stellt sie auf den geländetypischen Durchschnittswert ein. Dieser ent202
spricht in etwa den früheren Verhältnissen am unregulierten Fluss. Für die Flussnatur hatten diese Entwicklungen die von vielen gänzlich unerwartete Folge, dass sich in hinreichend großen Stauseen die Flüsse von selbst wieder »renaturierten«. Sie bildeten Inseln und Seitenarme, Flachwasserzonen und tiefe Rinnen; all das, was durch die Regulierungen verloren gegangen war. Ganz entsprechend siedelten sich Pflanzen und Tiere an. Auf den Inseln wuchs Auwald auf, der sich, weil forstlich ungenutzt und unbeeinflusst, zu echtem Urwald entwickeln konnte. Wasservögel kamen, dank ihrer guten Flugfähigkeit, in Scharen und in vielen Arten. Die Kleintierwelt folgte. Lediglich die typischen Wanderfische hatten es schwer oder schafften keine Wiederkehr, weil die Umgehungsstrecken, so solche überhaupt gebaut worden waren, für sie nicht taugten. Aber für die Wanderfische spielen noch andere Umstände eine große Rolle, auf die weiter unten eingegangen wird. Die rasche Entwicklung großer Artenvielfalt und das Zustandekommen ähnlicher Flussstrukturen in den großen Stauseen, wie sie unregulierte Flüsse kennzeichnen (Abb. 14), glich für mehr als die Hälfte des 20. Jahrhunderts die großen Verluste an Flussnatur wieder aus. Zahlreiche Arten siedelten sich an, die es im 19. Jahrhundert nicht oder nur höchst spärlich gegeben hatte, darunter früher kaum bekannte Arten von Enten. Stauseen wurden regelrechte Wasservogelparadiese und als solche auch zu Naturschutzgebieten und »Feuchtgebieten von internationaler Bedeutung« ausgewiesen. Enten und andere Wasservögel sammelten sich im Herbst und Winter zu Zehntausenden auf diesen »künstlichen Gewässern« an. Die Gegner von Stauseen aus Kreisen der Naturschützer taten sich schwer, diese Entwicklungen anzuerkennen, weil sie einerseits sehen mussten, wie artenreich die Natur auf diesen Produkten der Wasserbautechnik geworden war und welcher Reichtum an seltenen Arten sich eingestellt hatte, andererseits Stauseen aber als »Tod der Flüsse« deklariert und grundsätzlich abgelehnt hatten. Dass allseits geschätzte, »verwilderte« 203
Teichgebiete die Wasserbautechnik früherer Jahrhunderte repräsentierten, blieb ebenso unberücksichtigt wie Mühlbäche und Mühlenweiher, die bereits zu Kulturzeugnissen geworden und dem Denkmalschutz, zumindest aber dem landschaftlichen Ensembleschutz zugeteilt worden waren. Neue Stauseen wurden zunehmend heftiger bekämpft, je mehr vorhandene in den Rang von Naturschutzgebieten aufstiegen. Das »freie Fließen der Flüsse« wurde zum Schlagwort und der kanalisierte, an flusstypischen Strukturen und Arten verarmte Fluss galt wegen seines beschleunigt freien Fließens mehr als die reiche Natur an Stauseen. Mit dem Ergebnis, dass neue Anlagen, wo sie gegen den Widerstand des Naturschutzes doch gebaut wurden, ihren »Landschaftsverbrauch« zu minimieren hatten und daher auch keine Entwicklung von Natur mehr ermöglichten. Nun sieht das selbstverständlich anders aus, wenn es sich um nichtregulierte Flüsse handelt. Der Naturschutz wandte sich mit durchaus zutreffenden Begründungen gegen Ausbau und Aufstau von Flüssen im (weitgehend so zu bezeichnenden) Naturzustand. In Europa gab es jedoch, von einigen wenigen wie dem Allier in Frankreich und nordischen Flüssen in Skandinavien oder östlichen Tieflandflüssen in Polen und weiter ostwärts abgesehen, kaum noch größere Fließgewässer, deren Lauf nicht bereits mehr oder minder stark verändert worden war. So sind sowohl die untere Salzach von Salzburg bis zur Mündung in den Inn als auch die »letzte freifließende Donaustrecke« in Bayern begradigte, durch Längsverbau massiv veränderte Flussstrecken. Beurteilungen, die sich auf »die Ökologie« stützen (wollen), sollten dies berücksichtigen. Ganz anders verhält es sich mit dem Amazonas oder den großen Strömen Sibiriens. An solchen Flüssen muss sehr wohl sehr gründlich abgewogen werden, ob Aufstau nicht mehr negativ verändert, als Erträge (an elektrischer Energie) erzielt werden, auch wenn es sich dabei grundsätzlich um sogenannte erneuerbare Energie handelt. Die riesigen Stauseen an der 204
Abb. 14: Inselwelt am Stausee von Ering-Frauenstein am unteren Inn, Niederbayern. Die Inseln entstanden an fast genau denselben Stellen in sehr ähnlicher form, in der sie den alten Karten zufolge vor der Regulierung des Flusses vorhanden waren. Der Stausee ist Teil des Vogelschutz- und Feuchtgebietes von internationaler Bedeutung »Unterer Inn«. mittleren und unteren Wolga, der Assuan-Damm am Nil und zahlreiche weitere Flussstauseen veränderten nicht nur den Wasserabfluss dieser Ströme, sondern auch die Verteilung der Nährstoffe, welche das Wasser mit sich führt. Es dauert bei Stauen dieser Größenordnung Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, bis durch Auflandung wieder so etwas wie ein Strömungsgleichgewicht zwischen Ablagerung und Abtrag zustande gekommen sein wird. Die Zeitdauer der »Auslenkung« des Flusses wäre deshalb ein weit besseres Kriterium für die Folgen gewesen, als Landschaftsveränderungen anzuführen. 205
In manchen Stauräumen, wie etwa im Karibasee im südlichen Afrika, würde dieselbe »Rechnung«, ob sich die Rückgänge im Fischfang im Nildelta gegen den Gewinn an Wasser zur Bewässerung der Felder im Niltal unabhängig von den Nilfluten und ihrem unterschiedlichen Verlauf »lohnen«, gewiss zugunsten der Erträge ausfallen, die im Karibasee zustande gekommen sind. Dass sehr große Stauseen auch die Druckverhältnisse verändern können, die in der Landschaft herrschen, in der sie gebaut worden sind, entspricht etwa der Situation, die sich mit dem Vordringen der Gletscher einstellte. Skandinavien hebt sich immer noch, obgleich es schon rund 10000 Jahre vom Eise befreit ist, das das alte skandinavische Gebirge tief in die Erdkruste hineingedrückt hatte. Deshalb sind bei den Beurteilungen von Stauseen auch Größen und Skalen zu beachten. Was in kleinem (Mühlenweiher, Fischteiche) und mittlerem Ausmaß (die meisten Flussstauseen in Mitteleuropa) weitgehend unproblematisch oder ganz harmlos ausfällt, bedarf bei der viel größeren Dimension kontinentaler Ströme einer anderen Beurteilung – und umgekehrt auch. Weil der neue »Drei-Schluchten-Damm« am Jangtse aller Wahrscheinlichkeit nach erhebliche Veränderungen an diesem Strom und in seinem (großen) Umfeld bringen wird, heißt das nicht, dass dies auch bei einem Flüsschen in Mitteleuropa in gleicher Weise so ist. Die jeweiligen Skalen der Bezugsbasen ergeben sich aus der Größe des Einzugsgebietes und aus dem Ausmaß der Auslenkung des Flusses aus seinem vorherigen Zustand in Raum (Fläche) und Zeit. Dieses Prinzip wurde insbesondere bei der Bilanzierung der vielen kleinen Begradigungen und Meliorisierungsmaßnahmen in den Oberlaufbereichen unserer mitteleuropäischen Flüsse missachtet. Die Folgen zeigen sich in den Hochwassern unserer Zeit mit ihren Schäden. Dennoch ist abzusehen, dass in den kommenden Jahrzehnten Stauseen-Ketten als Landschaft erkannt und anerkannt sein werden. Man wird ihnen ähnlich wie im Denkmalschutz und beim Schutz der Kulturlandschaft speziellen Schutz an206
gedeihen lassen und vielleicht sogar allzu verlandete Stauseen mit viel Aufwand wieder sanieren wollen. So reagieren die Menschen auf das Bekannte. Weitestgehend unerkannt begleitete diese technischen Entwicklungen an den Fließgewässern aber eine ganz andere, die höchst anrüchig begann. Wie in allen Jahrhunderten früherer Zeiten, seit Menschen an den Flüssen siedelten und Städte am Wasser bauten, war das fließende Wasser zur Entsorgung der Abwässer benutzt worden. Auch darauf ist bereits hingewiesen worden. Als im späten 19. Jahrhundert die Natur der Keime, die bedeutende Krankheiten beim Menschen verursachen, erkannt worden war, bedeutete diese Entdeckung der Bakterien (und später auch von Viren), dass Trink-, Brauch- und Abwasser voneinander getrennt werden mussten. Die Lösung war die Kläranlage. In ihr werden die organischen Bestandteile des Abwassers biologisch abgebaut. Ist ihre Menge sehr groß, muss für eine entsprechende Belüftung
Abb. 15: Schaumberge auf einem Fluss mit häuslichen Abwässern in der »Detergentienzeit« der 1960er Jahre (Juli 1966). 207
gesorgt werden, damit der Abbau mit Hilfe von Sauerstoff erfolgt. Vom organischen Schmutz befreit und möglichst auch »keimfrei«, leitete man das geklärte Abwasser in die Bäche und Flüsse, wo sich in den 1960er und zum Teil auch noch in den 1970er Jahren Schaumberge bildeten, die im Sommer wie Treibeis aussahen (Abb. 15). Sie stammten von den Waschmittelrückständen. Wichtige Eigenschaften des Wassers wurden durch diese Rückstände so geändert, dass viele Kleintiere zugrunde gingen, weil ihre für die Atmung im Wasser eingesetzten Oberflächen davon zerstört wurden. Besonders betroffen waren die Kiemen der Fische. Gleichzeitig gelangten mit diesem Schaum auch große Mengen von Phosphaten ins Wasser, die in den Waschmitteln enthalten waren und die auch vom phosphathaltigen Dünger der Landwirtschaft ausgeschwemmt worden waren. Sie begünstigten das Wachstum von Wasserpflanzen und Algen in einem in unseren Flüssen noch nie dagewesenen Ausmaß. Langsam fließende Bäche, Kanäle oder Seitenbuchten größerer Flüsse wucherten in wenigen Monaten ganz zu. Algenaufwuchs verschmierte die Steine auf den Kiesbänken unter Wasser. Die feinen Lücken im Sand schlössen sich und verhinderten damit den Zustrom von Frischwasser. Diese Veränderungen trafen insbesondere die Flussfische. Sie verloren ihre Laichstätten und wesentliche Teile ihrer Nahrung. Denn die Kleintiere auf dem Flusskies, die das Wasser filtern, wurden am stärksten von diesen Veränderungen beeinträchtigt. Als die den Schaum erzeugenden Detergentien aus den Waschmitteln entfernt und ihr Phosphatgehalt stark vermindert worden war, verbesserte sich die Lage nur scheinbar, weil weiterhin zu viele im Wasser gelösten Stoffe aus der landwirtschaftlichen Düngung als sogenannte diffuse Einträge in die Gewässer gelangten. Die Flussfischbestände erholten sich daher folgerichtig in solchen Flüssen am besten, die wie der Rhein zwar viel Industrie an seinem Lauf, aber keine großflächigen landwirtschaftlichen Intensivgebiete im Einzugsgebiet haben. 208
Während diese Verbesserung dank des Baus von Kläranlagen, der in den 1960er Jahren in vollem Umfang einsetzte und bereits vor Ende des 20. Jahrhunderts eine nahezu 100-prozentige Reinigung der häuslichen und industriellen Abwässer erzielte, für Flussfische eine gewisse Erholung ermöglichte, ging es mit anderen Fischen und den Kleintieren in den Fließgewässern und Stauseen, insbesondere aber mit den Wasservögeln rasch abwärts. Die Klärung der Abwässer hatte ihnen die organischen Reststoffe entzogen. Diese waren jedoch die Nahrungsgrundlage gewesen, welche die Verluste an Blättern und anderen pflanzlichen Stoffen, die ursprünglich aus den Auen stammten, ausgeglichen und vielfach überkompensiert hatte. Daher machten die Binnengewässer in Mitteleuropa, vor allem aber die Flüsse, im 20. Jahrhundert gleich drei grundlegende Veränderungen in ihrer Natur durch. Die erste war die strukturelle Vereinheitlichung durch Begradigung und Kanalisierung, die die Flüsse auch größtenteils die Auen kostete. Die zweite Veränderung brachte der Aufstau mit sich, der aus vielen Flüssen ganze Ketten von Stauseen machte, und die dritte große Änderung verursachte der Entzug organischer Reststoffe aus dem Abwasser durch die Kläranlagen. Von einem wie auch immer gearteten Naturzustand sind alle größeren Flüsse Mitteleuropas weit entfernt, auch wenn sich da und dort kleine Strecken renaturieren ließen oder in großen Stauseen sich selbständig eine neue Natur einstellte, die der früheren ähnlich sein mochte. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass weder die Hochwasserproblematik gelöst ist noch überhaupt nennenswerte Aussichten auf eine Lösung bestehen. Denn der Raum, den die Flüsse im unregulierten Zustand eingenommen hatten, ist längst anderweitig genutzt und höchstens noch an wenigen Stellen wieder zurückzugewinnen. Die Verbesserung der Wasserqualität stellt ein nur auf die Nutzungsansprüche des Menschen bezogenes Bewertungssystem dar, dessen höchste Stufe, die Trinkwasserqualität, gleichzeitig auch die schlech209
teste für so gut wie alle übrigen Lebewesen darstellt. Denn von reinem Wasser können sie nicht leben.
20. Letzte Eiswinter In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fror die Themse in London regelmäßig zu. Es gibt Gemälde winterlichen Treibens der Menschen auf dem Eis, die an die Bilder der holländischen Meister des 16. Jahrhunderts erinnern. Deshalb wird das 19. Jahrhundert häufig auch noch der Kleinen Eiszeit zugerechnet. Von 1859 bis 1910 hatte es in Mitteleuropa zudem keine richtig heißen Sommer mehr gegeben, obwohl solche schon häufiger Ende des 18. und mit einem besonders heißen im Jahre 1807 zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen waren. Die Serie schlechter Sommer setzte sich bis ins beginnende 20. Jahrhundert fort. Der Sommer von 1913 war sogar der kälteste seit 1818 und 1816. Aber auch wenn der Sommertrend bis zum Ende der 1940er Jahre noch weiterhin abwärts ging, so traten doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch einzelne recht warme Sommer auf. Sie häuften sich mit gleich vier dicht aufeinanderfolgenden zwischen 1947 und 1952. Dieser kurze Abschnitt brachte die wärmsten Sommer des letzten Jahrhunderts bis zum Ende der 1990er Jahre. Keiner übertraf jedoch den Sommer von 1807. Den damaligen Rekord einzustellen blieb dem »Jahrtausendsommer« von 2003 vorbehalten. Somit kommt auch für Mitteleuropa kein echter Trend in den Sommermitteln von 1780 bis 2000 zustande, und solche mit einer Mitteltemperatur von mindestens 16 °C für die Monate Juni, Juli und August gab es für die beiden letzten Jahrhunderte mit jeweils sieben genau gleich viele (Messdaten der bodennahen Lufttemperatur vom Hohenpeissenberg südlich von München; Schönwiese 1995). 210
Auch die Jahresmittelwerte gleichen sich aus, nachdem sie zunächst von 1780 bis 1880 in der Tendenz klar gefallen waren, und im Jahrhundert danach um den gleichen Betrag wieder anstiegen. Das Zwischenminimum war um 1890 erreicht worden. Aber gleich zu Beginn dieser kontinuierlichen Messreihen bis 1790 und wieder von 1810 bis 1820 hatte es bereits starke Rückgänge der Jahresdurchschnittstemperaturen gegeben, die tiefer als die kalten Perioden des 20. Jahrhunderts abgesunken waren. Sie passen recht gut mit Sonderereignissen zusammen, nämlich mit dem Ausbruch des Laki auf Island von 1783/84, des Tambora 1812 und des Krakatau 1883. Die kältesten Winter stehen damit jedoch nicht in direktem Zusammenhang, denn extrem kalte gab es 1829/30, 1890/91, 1894/95, 1928/29, 1941/42 und zuletzt 1962/63. Auch hier gleicht sich das Verhältnis mit drei je Jahrhundert aus. Doch die Verteilung sieht anders als bei den Sommern aus. Mit Ausnahme des einzigen und besonders extremen Winters von 1829/30 blieben die Winter von 1781 bis 1889, also mehr als 100 Jahre lang, im Bereich der normalen Schwankungen, während mit 1890/91 eine Serie sehr kalter Winter einsetzte, die erst 1962/63 zu Ende ging und in einem Dreivierteljahrhundert sieben mit extremer Kälte gebracht hatte. Ihnen zuzuordnen sind neun erheblich überdurchschnittlich warme Winter mit dem wärmsten 1989/90, der sogar den milden Winter von 1795/96 noch übertraf. Besonders kalte Winter können Wirkungen zeitigen, die gelegentlich sogar weltpolitische Bedeutung haben. Wie wäre wohl der Zweite Weltkrieg verlaufen, hätten die Armeen Hitlers an der Ostfront nicht auch, wie einstens Napoleon, außerordentlich harte russische Winter zum Gegner gehabt. Der Winter 1941/42 gehörte zu den schlimmsten der beiden letzten Jahrhunderte, und auch der ihm 1940/41 vorausgegangene war schon sehr kalt. Mag sein, dass wir Menschen dazu neigen, solche Extremereignisse in den langfristigen Entwicklungen überzubewerten, weil sie für uns tatsächlich größte 211
Bedeutung hatten. Der ähnlich kalte Winter 1962/63, der in Oberbayern sogar ein noch tieferes Mittel als 1941/42 gebracht hatte, ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Doch bei den gegenwärtigen Heizkosten würde so ein Winter für viele Haushalte den Ruin bedeuten. Wie viele Menschen den Kältewintern im 20. Jahrhundert erlagen, wird im Vergleich zu den jüngsten Hitzesommern in aller Regel nicht ausgeführt. Von Napoleons ›Grande Armee‹ kennen wir die Zahlen ungefähr: Fast alle von den rund 100000 Mann gingen an der Kälte zugrunde und nicht im Kampf. Hitzesommer und Kältewinter unterliegen sehr merkwürdigen Wertungen. Treten sie ein, gilt nur jeweils die eine der beiden Anomalien als die katastrophale Abweichung. Dass Sommer, wie wir 2003 einen hatten, im kontinentalen Klimabereich schon gar nicht so weit entfernt im Südosten Europas völlig normal sind und dort auch Pflanzen, Tiere und Menschen leben, zeigt die Verengung des Beurteilungshorizonts. Mit den kalten Wintern verhält es sich nicht anders. Man berücksichtigt nicht, dass sich allein schon innerhalb des mitteleuropäischen Raumes von gut einer Million Quadratkilometern Fläche, der sich zwischen der Schweiz und Belgien im Westen bis Polen und Ungarn im Osten erstreckt, enorme klimatische Unterschiede auftreten, weil dieser Raum einen Teil des Übergangsbereiches vom atlantischen Westen zum kontinentalen Osten darstellt. Trockene Hitzesommer sind bereits am Rand von Wien nichts Ungewöhnliches wie auch »sibirische Kälte« in Polen oder submediterran mildes Klima am Ober- und Niederrhein und nasskaltes am Nordalpenrand. Wer soll, auf dieses Gebiet von weniger als einem Zehntel der Fläche Europas bezogen, darüber befinden, welcher Witterungsverlauf »gut« oder »schlecht« oder gar der richtige ist? Legt man den Energieverbrauch für das nötige Heizen zugrunde, so ergibt sich zwangsläufig ein klares Gefälle im durchschnittlichen Bedarf vom warmen Südwesten zum winterkalten Nordosten hin. Zieht man die Linie von Basel 212
über Berlin nach Moskau weiter, steigt der Energieverbrauch selbstverständlich an, ganz unabhängig davon, wie effizient die Heizungen und die Isolierungen der Gebäude sind. Einsparungen lassen sich nur in diesen internen Bereichen verwirklichen, nicht aber bei den Außenbedingungen. Serien sehr kalter Winter, wie sie zwischen 1880 und 1963 aufgetreten sind, würden auf der Basis von Heizkosten in der Bevölkerung wie auch politisch sicherlich erheblich anders gewertet werden als eine gleiche Anzahl heißer Sommer. Solche Überlegungen, auch wenn sie gegenwärtig der »politischen Korrektheit« in Deutschland widersprechen, verdeutlichen, wie sehr sich menschliche Bedürfnisse und Zielvorstellungen von den wechselvollen Abläufen in der Natur unterscheiden. Unsere Beurteilungen mögen zutreffend sein oder fragwürdig erscheinen, je nachdem, wer sie unter welchen Bedingungen macht. Diese menschlichen Maßstäbe können jedoch nicht einfach auf »die Natur« übertragen werden. Wer den Unterschied zwischen »physikalisch« und »biologisch« nicht berücksichtigt, kommt nicht nur in Gefahr, mit seinen Beurteilungen falschzuliegen, sondern gerät rasch in die Zone des Unseriösen. Was bedeuten die Befunde von mehr als 200 Jahren Wetterverlauf am nördlichen Alpenrand? Lassen wir extreme Einzelereignisse, wie sie oben kurz angeführt wurden, beiseite, so geht aus ihnen zunächst einmal hervor, dass die weit verbreitete Annahme, das Klima wäre in Mitteleuropa seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich wärmer geworden, schlicht und einfach falsch ist. Der ganz schwache Trend mag sich rein statistisch absichern lassen, aber er ist für die Natur gänzlich bedeutungslos. Infolgedessen konnten Tiere und Pflanzen auch gar nicht auf einen langfristigen Trend reagiert haben, weil sie sich auf die in Wirklichkeit sehr starken und so rasch aufeinanderfolgenden Schwankungen nicht hätten einstellen können. Die Klimadaten vom Hohenpeissenberg drücken das beispielhaft aus, weil sie für so gut wie alle Wetterstatio213
nen in vergleichbaren Gebieten gelten. Weder Pflanzen noch Insekten oder Vögel könnten ihre Fortpflanzungszyklen an Verschiebungen von wenigen Zehntelgraden in einem Jahrhundert anpassen, wenn es innerhalb von nur einem Jahrzehnt Schwankungen von 5 bis 6 Grad Celsius in den Sommer- oder Wintermittelwerten gibt. Die Analysen von Schönwiese (1995) zeigen dies in aller Deutlichkeit. Hinzu kommt, dass die meisten Pflanzen und Tiere große Unterschiede in Winterkälte und Sommertemperaturen zu ertragen haben, da die konkreten Einzelwerte nochmals erheblich weiter ausschlagen als die Sommeroder Wintermittel von Jahr zu Jahr. Ihre Wirksamkeit wird darüber hinaus von den Niederschlagsverhältnissen ganz maßgeblich gemildert oder verstärkt. Das kann in jede Richtung gehen. So schadet trockene Kälte mit sehr tiefen Temperaturen den Überwinterungsstadien vieler Lebewesen oft weniger als ein mildes, nasskaltes Winterwetter. Zu lang anhaltende mäßige Kälte mit spätem Frühling wirkt sich vielfach ungünstiger als knackiges Winterwetter aus, das von Dezember bis Februar anhält. Ein Hitzesommer wie während der sieben Wochen von Mitte Juni bis Ende Juli 2006 bringt für die meisten Insekten und für sehr viele Blütenpflanzen weit weniger als ein schöner Frühsommer, der mit einem regnerischen und kühlen Juli zu Ende geht. Vergleicht man in Bezug auf die große Bandbreite der Toleranz, welche die allermeisten Lebewesen in freier Natur aufweisen (und haben müssen, um zu überleben), die klimatische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, so sollten die geringeren Schwankungen von 1820 bis 1880 für Tiere und Pflanzen eher günstiger gewesen sein als die stärkeren im 20. Jahrhundert. Genau dies drückt sich in der Tier- und Pflanzenwelt aus. Die Trends im 20. Jahrhundert sind keineswegs einheitlich; nicht einmal in der letzten Phase seit dem Extremwinter von 1962/63, von dem ausgehend der meteorologische Trend aufwärtsgeht (oder bis zur Jahrtausendwende ging). Ob es weiterhin »durchschnittlich« wärmer wird, ist gegenwärtig wieder umstritten, denn mit dem erheb214
liehen Rückgang der Sonnen(flecken)aktivität setzt auch ein Temperaturrückgang ein.
21. Die jüngste Klimaerwärmung In den 100 Jahren seit dem letzten markanten Minimum der Mitteltemperaturen ergibt sich rein rechnerisch eine Erwärmung um gut ein halbes Grad Celsius. Ob diese leichte Erhöhung des Durchschnittswertes, die kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts nach Schönwiese (1995) gerade wieder die anfängliche Höhe ausgangs des 18. Jahrhunderts erreichte, für unsere Natur von Bedeutung war, ist nach den Darlegungen im letzten Kapitel fraglich. Wahrscheinlich ist sie das nicht. Doch seit dem letzten großen Kältewinter 1962/63 stiegen die Globaltemperaturen in einem, wie es bei den meisten Klimaforschern heißt, »noch nie dagewesenen Ausmaß« und mit »einzigartiger Geschwindigkeit« an (Grassl 2005 z.B.). Zwar widerlegen die Eisbohrkerne aus Grönland und die Befunde zum Ende der letzten Eiszeit beide Ansichten ganz klar, weil es damals in ähnlich kurzen Zeiten sogar Temperaturanstiege von 7 Grad Celsius und mehr gegeben hatte, aber das hält offenbar nicht davon ab, dass die »noch nie dagewesene Geschwindigkeit der Erwärmung« in unserer Zeit öffentlich verbreitet und vielfach wiederholt wird. Unbeschadet der klimageschichtlichen Fragwürdigkeit solcher Feststellungen, die auf komplexen Annahmen und Umrechnungen, nicht aber auf direkten Messungen, etwa der Temperaturentwicklung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, beruhen, wirft die jüngste Erwärmung die Frage auf, welche Auswirkungen sie tatsächlich hatte. Es ist hierzulande üblich geworden, bei der Diskussion der Folgen der Erwärmung, wie auch in anderen Fällen, in denen es um den ›globalen Wandel‹ geht, die angeblichen oder tatsächlich vorhandenen konkreten Beispiele von mög215
lichst fernen Orten heranzuziehen, während das, was vor Ort, in der Region, geschah, ausgeblendet bleibt. Denn das örtliche Geschehen sei ja unbedeutend. Nun sollte zwar die gleiche Argumentation auch für das örtliche Geschehen andernorts gelten, aber auch dies wird in der Regel ignoriert, weil sich das Ferne, falls überhaupt nur wenigen Bekannte leichter aufbauschen und übertreiben lässt als das in der Nähe Liegende, zu dem es jede Menge direkter Erfahrungen und Befunde gibt. Die Wirbelstürme in der Karibik oder in Ostasien gelten sodann als Kronzeugen für den Klimawandel, der bei uns stattfindet. Aber auch die jüngsten Überschwemmungen in Mitteleuropa schiebt man nunmehr ganz selbstverständlich auf den Klimawandel, auch wenn die sachverständigen Hydrologen klar feststellten, dass die Ursachen in der Verbauung der Bäche und Flüsse und in der viel zu schnellen Ableitung des Niederschlagswassers aus der Landschaft liegen und darin, dass unseren Flüssen keine Überschwemmungsflächen mehr zur Verfügung stehen. Mit dieser Vorgehensweise entledigt man sich vor Ort ganz bequem der Verantwortung, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen, denn der Klimawandel sei eben ins Laufen gekommen, nicht mehr zu stoppen, höchstens noch im Ausmaß der Erwärmung zu begrenzen, aber nicht »dingfest zu machen«. Verursacher sind nun alle und nicht mehr diejenigen, für die man die Flüsse so eingeschnürt hat, dass jeder mittlere Niederschlag schon zu einem Hochwasser führt. Es kann auch den Kommunen keine Schuld zugewiesen werden, wenn sie Baugebiete in den früheren (und als solchen bekannten) Überschwemmungsgebieten der Bäche ausgewiesen hatten und damit Geld verdienten. Die alten Siedlungen hielten sich an die Überschwemmungsgrenzen. Ganz normale Wetterereignisse, wie längere Zeiten niederschlagsreichen und kühlen Sommerwetters oder trockenheißer Wochen, werden nun als Naturkatastrophen erfolgreich beklagt, weil die davon Beeinträchtigten ihre Einbußen an den günstigsten Erträgen von Ernten bemessen und sich vom Steuerzahler »ausglei216
chen« lassen. Global tatsächlich ablaufende Vorgänge werden so für eigennützige Zwecke benutzt und missbraucht. Denn die zahlende Allgemeinheit glaubt sich schuld daran, dass das Wetter so verlief, wie es verlaufen ist. Der Naturschutz bedient sich der ganz gleichen Art der Argumentation. Geradezu begierig schlachtet er Katastrophen aus, die gar nicht stattgefunden haben. Das kann mühelos an der Bilanz über die Veränderungen nachgewiesen werden, die während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa angeblich abgelaufen sind. So wurde neben der Tagespresse insbesondere auch in den Zeitschriften von Naturschutzverbänden oder in populären Artikeln von Naturschützern auf die längst sichtbaren Folgen der Klimaerwärmung in Mitteleuropa hingewiesen. Beispielhaft und stellvertretend soll hier für eine Reihe ähnlicher Veröffentlichungen aus Nr. 126 der Zeitschrift Nationalpark (2004) zitiert werden. »Des weiteren werden für Deutschland und Mitteleuropa insbesondere in den letzten 20 bis 30 Jahren zahlreiche und dabei oft auch sehr augenfällige Veränderungen im Verbreitungsbild bei Pflanzen- und Tierarten beobachtet. Dabei gehen kälteanzeigende und kontinentale Arten in ihrer Häufigkeit zurück, wie beispielsweise der Wasserpieper, der sich im Schwarzwald in immer größere Höhen und kühlere Lagen zurückzieht, oder verschwinden ganz. Demgegenüber dehnen Arten mit höheren Temperaturansprüchen ihr Verbreitungsgebiet ... aus. Ein Beispiel ist der Bienenfresser, eine Vogelart mit Verbreitungsschwerpunkt im Mittelmeerraum, der früher eher sporadisch und mit einzelnen Brutpaaren über die Alpen vorstieß ...« Nun hat der Bienenfresser zwar seinen Verbreitungsschwerpunkt nicht im Mittelmeerraum, sondern in Südwestasien bis Kasachstan und Afghanistan, aber eine wärmeliebende Vogelart ist er trotzdem. Ob hingegen der Bergpieper (Anthus spinoletta) eine »kälteanzeigende Vogelart« ist, das ist höchst fraglich. Die Bezeichnung »Wasserpieper« ist unklar, den mit diesem veralteten Namen sind zwei einander sehr ähnliche 217
Arten gemeint gewesen, der nordwesteuropäische Strandpieper (Anthus petrosus) und der auch im Schwarzwald vorkommende Bergpieper. Ein Blick auf seine Verbreitungskarte weist das Schwarzwaldvorkommen als eines der am weitesten nordwestlich (!) vorgeschobenen Brutgebiete im ansonsten die süd- und südosteuropäischen Gebirgszüge bis in die Türkei umfassenden Areal dieser Art aus. Bei dieser Verbreitung kann er gar keine »kälteanzeigende Art« sein. Die Biotopstruktur dürfte zudem weitaus bedeutungsvoller für sein Vorkommen sein als die Temperaturen. Die Veränderungen in den Durchschnittswerten der letzten Jahrzehnte stellen winzige Abweichungen im Vergleich zum so ausgeprägten »Tageszeitenklima« der Höhenlagen dar, in denen es häufig rasche Wechsel zwischen Hitze und Kälte am selben Tag gibt. Nicht minder fraglich ist es, ob »der Bienenfresser die Alpen überquert«. Die Brutplätze am Kaiserstuhl werden wohl vom Südwesten her bezogen, wie die anderen im südlichen und nordöstlichen Deutschland von Südosten her unter Umgehung der Alpen angeflogen werden. Die Vorkommen sind auch keineswegs neu! »Im Kaiserstuhl bestand mindestens von 1873 bis 1888 bei Bickensohl eine Brutkolonie, die trotz steter Verfolgung 1876 60–70 Individuen umfasste.« Auch 1916 und 1964 gab es dort Brüten sowie an 13 weiteren Orten Süddeutschlands vor Beginn der gegenwärtigen Klimaerwärmung. Sogar bei Hamburg brüten Bienenfresser schon 1964 erfolgreich. So steht es zu lesen im Handbuch der Vögel Mitteleuropas (Band 9, 1980), das auch viele weitere genaue Angaben zu Vorkommen von Bienenfressern in Europa enthält. Bienenfresser brüteten in den letzten Jahren mehrfach auch in Bayern, was ganz genauso als Hinweis auf die Klimaerwärmung gedeutet wurde. Bienenfresser sind sehr schöne Vögel. Sie könnten doch willkommen sein! Warum tragen sie aber einen Namen, der einen negativen Beigeschmack vermittelt? Wären sie erst jetzt, in unserer Zeit, ins Land gekommen, hätten sie einen 218
»neutraleren« Namen bekommen. Tatsächlich sind sie seit langem bekannt. Man hielt sie in früheren Zeiten für Bienenschädlinge. Nachlesen kann man dies in den alten Ausgaben von Brehms Tierleben und in noch älteren Werken aus dem frühen 19. oder aus dem 18. Jahrhundert. Dass sie damals schon für Bienenfeinde gehalten wurden, macht stutzig. Denn dann konnten es nicht nur einzelne, ganz unregelmäßige Brüten irgendwo gewesen sein, die ihnen die bienenfeindliche Bezeichnung eintrugen. Ist ihr Auftreten also wirklich neu und stießen sie früher nur »eher sporadisch und mit einzelnen Brutpaaren über die Alpen vor«? Die Bavarica von 1860 führen »die in ihrer Färbung an den Eisvogel und die Mandelkrähe erinnernden Bienenfresser« sogar für das klimatisch ungünstige Ober- und Niederbayern an, wohin sie sich »aus ihrer südlichen oder östlichen Heimath in einzelnen, sehr seltenen Fällen verirren«. Die Mandelkrähe, also die Blauracke (Coracias garrulus), wird im selben landeskundlichen Werk als »stellenweise brütend in den größeren Waldungen« mit angeführt. Brüten des Bienenfressers nördlich der Alpen sind also keineswegs neu. Früher wären diese auffälligen und bunten Vögel vielleicht in Deutschland häufiger geworden, wenn sie nicht so sehr verfolgt worden wären. Diese Nachstellungen hielten sogar noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts an. Darauf wird im Handbuch der Vögel Mitteleuropas hingewiesen. Sind also diese Vogelarten als Beispiele einfach nur ungünstig gewählt worden? Dürfen die Bienenfresserbruten der letzten Jahre wirklich als Anzeiger für ein allgemeines Vordringen wärmeliebender Vogelarten und für die Klimaerwärmung gewertet werden? Betrachten wir dazu nun das Spektrum aller 25 Brutvogelarten aus ganz Bayern, die als »wärmeliebend« eingestuft werden können. Grundlagen für die Beurteilung der Veränderungen bieten vier umfassende Werke über die bayerische Vogelwelt, nämlich die 1891 erschienene Systematische 219
Übersicht der Vögel Bayerns von Pfarrer Andreas Johannes Jäckel, das zweibändige Werk von Walter Wüst von 1980 und 1986 Avifauna Bavariae, der 1987 erschienene Atlas der Brutvögel Bayerns 1979–1983 von Günter Nitsche und Harald Plachter, der wie auch das neueste Werk Brutvögel in Bayern von Einhard Bezzel und Mitarbeitern (2005) vom Bayerischen Landesamt für Umweltschutz herausgegeben und in Zusammenarbeit mit der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern sowie dem Landesbund für Vogelschutz in Bayern erstellt wurde. Die Auswahl der Vogelarten, die als »wärmeliebend« eingestuft werden können oder die das sein sollten, lässt sich schwer eingrenzen. Es können eher auch weniger als die 25 Arten sein. Aber sicher blieb keine wirklich dazugehörige Brutvogelart Bayerns der letzten 200 Jahre unberücksichtigt. Das Ergebnis zeigt Abb. 16 in aller Deutlichkeit: Keine einzige wärmeliebende Vogelart kam tatsächlich in den letzten 45 Jahren (der laufenden Klimaerwärmung) neu
Abb. 16: Entwicklung der Vorkommen von wärmeliebenden Brutvogelarten in Bayern seit 1960 220
nach Bayern. Für nur eine, nämlich für den Bienenfresser, lässt sich ein vielleicht etwas regelmäßigeres Auftreten in jüngster Zeit feststellen, aber genauere Daten aus dem 19. Jahrhundert fehlen zum Vergleich. Die Art brütet nach wie vor höchst unregelmäßig in Bayern, obgleich sie inzwischen vor direkten Verfolgungen ziemlich sicher sein dürfte, denen sie in früheren Jahrhunderten als »Bienenfeind« ausgesetzt gewesen war. Sie kann daher genauso gut wie zwei weitere Arten in die Kategorie der »Unveränderten« eingestuft werden. Alle anderen wärmeliebenden Vogelarten haben in ihrer Häufigkeit deutlich bis stark abgenommen, sind auf dem Rückzug oder als Brutvögel ganz aus Bayern verschwunden. Die Kategorie »ausgestorben« enthält sogar mit 9 die meisten Vogelarten. Insgesamt handelt es sich bei diesem Achtel von allen in Bayern vorkommenden Brutvogelarten um eine Gesamterfassung der »wärmeliebenden Arten« und nicht etwa um eine selektive Auswahl solcher Arten, die zum Konzept »passen«. Ausgenommen blieben lediglich die Wasservögel, für die andere Rahmenbedingungen gelten und die deshalb auch nicht direkt mit den Landvögeln zu vergleichen sind. Ganz besonders auffällig vollzog sich das Schrumpfen der Verbreitung der Nachtigall in Bayern. Gegenwärtig kommt sie, von unbedeutenden und unregelmäßig besetzten Einzel- oder Kleinvorkommen nur noch im wärmsten Gebiet des Landes, am Main in Unterfranken in etwa der früheren Häufigkeit vor. Die Zeit der Klimaerwärmung zwischen 1960 und der Gegenwart brachte ihr kein Comeback, obgleich sie nicht verfolgt oder für Zwecke der Käfigung gefangen wird, was im 19. Jahrhundert noch umfänglich üblich war, damals ihre Bestände aber nicht schädigte. Ausbreitungen bei den Wasservögeln fallen in eine andere Kategorie, denn diese sind weitaus mehr davon abhängig, geeignete Nahrungs- und Brutgewässer zu finden, als von der Temperatur. Deshalb gibt es gerade bei den Wasservögeln neben Ausbreitungen »südlicher« und »südöstlicher Arten«, 221
also solchen, bei denen die Hauptvorkommen geographisch entsprechend gelagert sind, auch das Vordringen »nördlicher« und »nordöstlicher Arten«. Diese überwiegen in der Bilanz; in der Häufigkeit sogar sehr stark. So siedelten sich in Mitteleuropa weit südlich ihrer Hauptvorkommen Gänsesäger (Mergus merganser), Schellente (Bucephala clangula), Reiherente (Aythya fuligula), Tafelente (Aythya ferina), Graugans (Anser unser) und in kleinen Vorkommen die aus der Tundra stammenden Singschwäne (Cygnus cygnus) und tief im Binnenland, rund 1000 Kilometer südlich der Küsten von Nordund Ostsee, Brandgänse (Tadorna tadorna) an. Auch »Bergwaldvögel«, wie der Sperlingskauz (Glaucidium passerinum), breiteten sich in Tieflandwäldern aus, und kleine Singvögel drangen aus kalten Regionen nach Mitteleuropa hinein ins Flachland vor, wie Birkenzeisige (Carduelis flammea), Karmingimpel (Carpodacus erytbrinus) und in großen Beständen die Wacholderdrossel (Turdus pilaris). Von einem »Rückzug kälteliebender und kontinentaler Vogelarten« kann also überhaupt nicht die Rede sein, sondern eher vom Gegenteil während der letzten 50 Jahre. Doch das »beweist« nichts weiter, als dass die Vögel gar nicht so »klimaabhängig« sind, wie es meistens dargestellt wird. Das geht aus der genaueren Betrachtung der Veränderungen in Bayern und der biologischen Natur der Vögel hervor. Hätte Bayern nämlich nicht mit der unteren Mainregion ein klimatisch besonders begünstigtes Gebiet, wäre der tatsächliche Schwund der wärmeliebenden Vogelarten noch viel stärker ausgefallen. Das zeigt Abb. 17 für den unteren Inn. Das niederbayerische Inntal gehört nach dem Bayerischen Klimaatlas zusammen mit dem angrenzenden Donautal zum »zweitwärmsten« Gebiet Bayerns. Der Rückgang der wärmeliebenden Vogelarten verlief aber im Inntal noch viel stärker als in Bayern insgesamt. Keine einzige Art dieser Einstufung konnte sich hier in früherer Häufigkeit halten oder gar zunehmen. 222
Abb. 17: Rückgang wärmeliebender Vogelarten im niederbayerischen Inntal seit 1960 Im klimatisch günstigen Bereich des unteren Inn verlief also der Rückzug der wärmeliebenden Vogelarten noch erheblich stärker als in ganz Bayern. Insgesamt bedeuten diese Befunde, dass im mehr als 70000 Quadratkilometer großen Zentralraum im nördlichen Alpenvorland, wo sich die drei großen Klimazonen Mitteleuropas treffen, nämlich der atlantischmilde Westen und Südwesten, der boreal-kalte Nordosten und der kontinental sommerwarme Südosten, die Brutvogelwelt überhaupt nicht positiv auf die Klimaerwärmung reagiert hat, sondern dass die wärmeliebenden Vogelarten mit nur wenigen Ausnahmen zu den Verlierern zählen. Wie soll man so eine Diskrepanz zwischen den Klimamessungen einerseits und der Reaktion der Vögel andererseits verstehen? Einige Möglichkeiten lassen sich sogleich ausschließen. So können nicht alle 25 Arten einfach falsch eingestuft worden sein, weil ansonsten ja überhaupt keine mehr übrig bliebe, die als »wärmeliebend« zu betrachten wäre. Es ist auch ganz unwahrscheinlich, dass ausgerechnet all diese 25 223
Vogelarten als Indikatoren ungeeignet sind, denn dann wäre bei ihnen auch kein so ausgeprägter Abnahmetrend zustande gekommen. Für diesen muss es einen Grund geben, und zwar einen, der für alle Arten in gleicher oder ähnlicher Weise zutrifft. Sonst hätten sich wenigstens in einem Teil dieses Spektrums auch nachhaltige Zunahmen zeigen sollen. Bei der Suche nach dieser gemeinsamen Ursache müssen wir uns zunächst von der Vorstellung lösen, die Temperatur, vor allem die meteorologisch ermittelten Durchschnittswerte davon, die für die Trendberechnungen herangezogen werden, würden direkt auf den Vogel wirken. Das ist für die allermeisten Arten sicherlich nicht so, weil sie als warmblütige Organismen Innentemperaturen aufweisen, die weit über den Außentemperaturen liegen. Fast alle der 25 hier behandelten Vogelarten haben Körpertemperaturen von etwa 40 bis 42 °C. Alle sind auch Zugvögel, die der Winterkälte ausweichen und in wärmere Regionen ziehen. Was für sie zählt, sind daher die Verhältnisse im Sommerhalbjahr. Mitteleuropa, zumal Bayern, ist ein klimatisches Übergangsund Überschneidungsgebiet von vier Klimazonen. In einem solchen gibt es von Natur aus keine langfristig stabilen Verhältnisse. Vorstöße und Rückzüge sind an den Arealgrenzen völlig normal. Wenn überhaupt, müssten die Kernvorkommen in den Arealzentren vom Klimawandel betroffen sein. Nur dann wäre das für die Arten und ihre weitere Existenz von Bedeutung. Für die wenigen Vogelarten, die ihr Kerngebiet in Mitteleuropa haben, wie der Rotmilan (Milvus milvus), ein Greifvogel, oder die Haubenmeise (Parus cristatus) als kleiner Singvogel in den Wäldern, sind jedoch keinerlei klimatisch verursachte Veränderungen erkennbar. Sinnvollerweise sollte daher zuerst überprüft werden, was sich in den Bereichen Verfolgung und Schutz sowie im jeweiligen Lebensraum bei den Vogelarten verändert hat, bevor über diffuse Wirkungen von Zehntelgradveränderungen spekuliert wird. Erst wenn direkte und indirekte, fördernde oder hemmende Wirkungen 224
des Menschen ausgeschlossen oder anteilsmäßig an den Häufigkeitsveränderungen klar festgestellt worden sind, können großräumige klimatische Veränderungen mit in Betracht gezogen werden. Für die Rückgänge der oben angeführten Vogelarten ist klar, dass nicht das Klima für sie von Bedeutung war, sondern die Veränderungen in der Landbewirtschaftung. Sie alle sind in mehr oder minder ausgeprägtem Maße Opfer der Überdüngung. Ihre Lebensräume sind zugewachsen. Sie haben die Reichhaltigkeit an großen Insekten eingebüßt, von denen sie leben können sollten. Das Land, in dem sie früher vorkamen, ist dichter bewachsen und kühler geworden – nicht wärmer. So verhält es sich auch mit den »besorgniserregenden Vorstößen wandernder Schmetterlinge«, die im Sommer 2003 über die Alpenpässe flogen, die Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum), die Millionen von Distelfaltern (Cynthia cardui) und andere. Riesige, in ihren Mengen gar nicht abzuschätzende Wanderflüge von Distelfaltern sind nämlich auch aus dem 19. Jahrhundert beschrieben und im 20. lange vor Beginn der starken globalen Erwärmung aufgetreten. Sie als Indizien für die Klimaerwärmung heranzuziehen ist absurd, es sei denn, es wird bewusst Angst geschürt, um verborgene Zwecke verfolgen zu können. Daher verbleiben nur höchst vage, oft einer genaueren Nachprüfung gar nicht standhaltende Angaben für »klimabedingte Veränderungen in unserer Natur«. So ist in der Zeitschrift Vogelschutz (1/2006) zu lesen: »Das veränderte Zugverhalten vieler Vögel ist mitunter selbst für Laien offensichtlich. Einige ›klassische‹ Zugvögel, wie Star, Hausrotschwanz oder Weißstorch bleiben immer öfter in ihren Brutgebieten oder fliegen nur noch bis in den Mittelmeerraum. So ist zum Beispiel die Amsel in Mitteleuropa bereits Teilzieher, z. T. sogar Standvogel. In Polen und Skandinavien dagegen, wo sich die Klimaerwärmung noch weniger stark auswirkt, ist sie noch ein Zugvogel.« So verhält es sich allerdings, wie in den alten 225
Vogelbüchern und den modernen Handbüchern der Ornithologie leicht nachzulesen ist, schon seit 200 Jahren. Die Klimaerwärmung sollte sich zudem in den kälteren Regionen stärker als in den gemäßigten Breiten auswirken; am stärksten in der Arktis, wo nach fast einem Jahrtausend die Durchquerung des Nordpolarmeers im Hochsommer bei offenem Wasser wieder möglich geworden ist. Für die angeblich frühere Ankunft »der Zugvögel« in Deutschland und Mitteleuropa gilt dies ganz entsprechend. Sie erweist sich bei genauerer Betrachtung als ziemlich bedeutungslos, weil im vermeintlichen Trend eben auch die sehr großen Witterungsschwankungen von Jahr zu Jahr mit einbezogen sind und Erstankunftsdaten für sich genommen reichlich nichtssagend sind, solange nicht klar nachgewiesen wird, dass der Hauptbestand der betreffenden Vogelart entsprechend früher eintrifft und – was noch wichtiger ist – der Brutbeginn vorverlegt wird. Falsch ist das nur, wenn das die falsche Zeit ist! Die wenigen genaueren Untersuchungen, die über die Notierung der »Erstankunft« hinausreichen und wenigstens über die singenden Männchen versuchen, die Anwesenheit der betreffenden Art über die ganze Brutzeit zu erfassen, kommen zu ganz anderen Ergebnissen. So gibt es keinen Zusammenhang zwischen dem Datum der Erstfeststellung im betreffenden Jahr und der Größe des zur Brutzeit anwesenden Bestandes. Von Jahr zu Jahr treten auch in der jüngsten Zeit der Klimaerwärmung bei einem tropischen Fernwanderer wie beim Fitislaubsänger sehr große Unterschiede auf. Das geht aus Abb. 18 hervor. Zugvögel haben in aller Regel mehrere Wochen Spielraum zwischen Ankunft und Brutbeginn, weil sich die Witterungsabläufe in den wettermäßig so wechselhaften mittleren Breiten so gut wie nie gleichmäßig gestalten. Die vielfältigen und unablässigen Veränderungen, die der Mensch in der Natur vornimmt, fügen eine weitere, enorm 226
Abb. 18: Erstankunftsdaten des tropischen Fernziehers Fitislaubsänger in der Region München und ihre Schwankungen. Die Erstankunftsdaten vermitteln so gut wie nichts zur Menge und zum Brutablauf der Population im Gebiet.
große Variabilität hinzu. Insgesamt bedeuten sie, dass so kurze Zeitspannen wie drei oder vier Jahrzehnte nachweisbarer, d. h. in den Mittelwerten innerhalb der Jahresschwankungen fassbarer Klimaerwärmung von der lebendigen Natur gar nicht »beantwortet« werden könnten, weil diese zwangsläufig sich den aktuellen Abläufen der Witterung von Jahr zu Jahr fügen muss. So verwundert es auch nicht, dass sich zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert keine umfassenden Wirkungen der Klimaerwärmung auf die lebende mitteleuropäische Natur mit der gebotenen Sicherheit nachweisen lassen, die über kurzoder mittelfristige, ganz natürliche Schwankungen hinausgingen. Das Abschmelzen der Gletscher steht zu dieser Fest227
Abb. 19: Beispiel der Wirkung eines »Supersommers« auf Schmetterlinge und andere Insekten (Lichtfangergebnisse aus München). 228
Abb. 20: Wie die von Insekten lebenden Vögel im Supersommer 2003 von der weit überdurchschnittlichen Häufigkeit der Insekten profitierten: Der »Gewinn« lag zur Hauptbrutzeit am günstigsten, und in der Vorbereitungszeit für den Zug in die Winterquartiere gab es nochmals ein viel günstigeres Angebot als üblich. Daten nach quantitativen Lichtfallenfängen. stellung überhaupt nicht in Widerspruch, denn dabei handelt es sich erstens um einen physikalischen Vorgang und zweitens um ein Phänomen, das auch in früheren Jahrhunderten immer wieder aufgetreten ist, wenn die Gletscher nach Vorstößen wieder schrumpften. Die meisten der auffälligen und eine besondere »Besorgnis« hervorrufenden Naturereignisse beruhen aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht auf der globalen Klimaerwärmung, sondern auf der in etwa 11-jährigem Rhythmus schwankenden, dabei sich aber verstärkenden oder sich abschwächenden Aktivität der Sonne. Gemessen wird sie am Ausmaß der Sonnenflecken. Mit diesem Zyklus verbinden sich direkt oder über die ökologischen Vorgänge, die Zeit in Anspruch nehmen, etwas verzögert die markanten Schwankungen in Vorstößen oder Häufigkeit vieler Tiere, vor allem solcher, die in höheren Breiten 229
Abb. 21: Sonnenfleckenzyklen und Seidenschwanzinvasionen (Bombycilla garrulus) in Bayern.
Abb. 22: Entwicklung »heißer Sommer« (1940–2005) im südlichen Mitteleuropa und ihre Bedeutung für die Erstankunft von Zugvögeln. 230
leben. Auch Zyklen massenhafter Fruchtansätze bei Bäumen und Sträuchern gehören dazu. Der gegenwärtig, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, festgestellte Rückgang der Sonnenaktivität hat offenbar auch den Erwärmungstrend seit der Jahrtausendwende zumindest gestoppt, wenn nicht sogar wieder etwas rückläufig werden lassen. Darüber zu urteilen wäre verfrüht, denn erst wenn ein neuer Aktivitätszyklus der Sonne beginnt, wird sich zeigen, ob eine nennenswerte Minderung des globalen Temperaturanstiegs zustande gekommen ist (Clark 2006). Die ›Kleine Eiszeit‹, insbesondere ihre besonders kalten Abschnitte, fallen demnach genau in Phasen stark verminderter Sonnenfleckenaktivität, während das mittelalterliche KlimaOptimum wie unsere letzten Jahrzehnte von hoher Aktivität gekennzeichnet sind. Nun soll damit keineswegs der globale Klimawandel in-
Abb. 23: Aktivität der Sonne (Sonnenflecken) und Klimageschichte im letzten Jahrtausend (Daten nach Clark 2006 im ›New Scientist‹). Der punktierte Pfeil zeigt die Phase der gegenwärtigen Klimaerwärmung. Sie hat gerade das angenommene Niveau des Hochmittelalters erreicht. 231
Abb. 24: Bilanzierung von Zuwanderung und Rückzug von Säugetieren und Vögeln in Mitteleuropa im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Die Veränderungen entsprechen im Zeitmaß des Jahrhunderts den großen nach eiszeitlichen Entwicklungen. frage gestellt werden. Vielmehr geht es darum, weil die Veränderung des Klimas ein großes Problem ist, das ganz erhebliche Folgen nach sich ziehen wird, die Diskussion zu versachlichen und auf die wesentlichen Vorgänge zu konzentrieren. Falsche oder unsinnige »Zusammenhänge«, die konstruiert worden sind und für die nur ein Zweck erkennbar ist, nämlich den Menschen Angst zu machen, müssen unbedingt vermieden werden, um die Glaubwürdigkeit zu wah232
ren. Darin liegt auch die tiefe Verpflichtung der Forschung. Diese allgemeinen Gesichtspunkte werden im abschließenden Ausblick auf die Zukunft behandelt.
22. Arten- und Naturschutz Die Art und Weise, wie insbesondere Naturschutzorganisationen mit der Problematik der Klimaänderung im Speziellen und mit Veränderungen im Allgemeinen umgehen, verdient es, etwas näher betrachtet zu werden, weil in unserer Zeit davon mehr als nur unser Naturbild nachhaltig beeinflusst wird. Naturschutz ist eine Haltung; eine höchst ehrenwerte Haltung selbstverständlich, weil Tiere und Pflanzen oder »die Natur an sich« als Wert empfunden und erhalten oder verteidigt werden sollen. Naturschutz hält man für nötig, wenn Wohlstand herrscht. Steht jedoch ein Schutzziel den Eigeninteressen entgegen, wird es selbst in den reichen Ländern eingeschränkt, abgelehnt und nicht selten lächerlich gemacht. In den wohlhabenden Ländern des Westens hat sich eine Grundhaltung ausgebreitet, die sich damit kennzeichnen lässt, dass vorwiegend oder stets »die anderen« etwas tun oder lassen sollten, um die Natur zu schützen. Hier hingegen, in der »Kulturlandschaft« gelten andere Spielregeln. Hier muss die Wirtschaft Vorrang haben. Selbstverzicht üben Naturschützer, um Vorbild zu geben. In Deutschland, wo nur höchst selten frühere »Nutzer« durch Schutzmaßnahmen eingeschränkt oder ausgesperrt (worden) sind, bedeutet Naturschutz meistens Gebote oder Verbote draußen in der Natur. Entsprechend unbeliebt ist der Naturschutz, und sein aktiv tätiger Anteil blieb gering. In Deutschland macht er, gemessen an der Zahl der Mitglieder in den Naturschutzverbänden, kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung aus. 233
Interessanterweise entsprechen der Prozentsatz der Flächen der deutschen Naturschutzgebiete ziemlich genau diesem Bevölkerungsprozentsatz und der Landnutzungsaufteilung. Naturschutzgebiete sind »randliche Flächen« und zumeist voller Verbote. Naturschützer bilden also in der Gesellschaft eine kleine Minderheit. Ihre politische Wirkung sieht jedoch erheblich anders aus. Der Naturschutz hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts maßgeblich zu den Entwicklungen in Deutschland, in Mitteleuropa und vielen anderen Regionen der Erde beigetragen. Das Schwinden schöner, interessanter oder »für den Naturhaushalt« wichtiger Arten und die Beeinträchtigung von Landschaftsbildern oder sonstiger erlebbarer Naturschönheiten wird inzwischen von großen Teilen der Bevölkerung als Verlust empfunden. Mit ›Naturschwärmerei‹ kann die Einstellung zum Naturschutz nicht mehr abgetan werden. Denn es ist den Naturschützern gelungen, Bedauern und Betroffenheit zu wecken, wenn wieder weitere Rückgänge oder Verluste festgestellt werden mussten. Der andere Ansatz des Schutzes agiert mit Angst und Schuld. »Wir sind/ihr seid schuld, dass sich dieses oder jenes Schlimme ereignet hat oder kommen wird!« Das wirkt lokal und regional, aber noch viel besser global, weil Fernwirkungen am wenigsten nachprüfbar sind. Nichtfassbares wie Klimawandel und »Global Change«, Themen also, in die alles hineingepackt werden kann, was sich auch nur in irgendeiner Weise verändert, bieten die besten Möglichkeiten, Ängste zu schüren und Schuldgefühle zu erzeugen. Das war in alten Zeiten nicht anders als heute. Naturund Umweltschutz nutzen Zukunftsängste umfänglich. Die Anfälligkeit der Menschen für Drohungen ist offenbar seit Urzeiten ziemlich gleich geblieben. Und wie im späten Mittelalter werden auch heute »Ablasszahlungen« eingefordert und fast ohne Gegenwehr geleistet. Sie reichen von den Spenden für den Naturschutz und der (nicht selten ganz klammheimlich privaten) Unterstützung aggressiver Umweltaktivisten bis hin zu den Umwelt- und Klimasteuern, auch wenn deren völlige 234
Unwirksamkeit offensichtlich ist. Aber das schlechte Gewissen wird beruhigt. Im Hintergrund bleiben die tatsächlichen Ursachen der Artengefährdung unbeachtet, die zu Rückgängen oder gar zum Aussterben geführt haben. Doch um diese sollte es, zumindest im Artenschutz, vorrangig gehen. Im allgemeinen Natur- und Landschaftsschutz kann man trefflich streiten, welche Veränderung auf jeden Fall schlecht, weil vom Menschen gemacht oder ausgelöst, und welche gut ist, weil sie »von der Natur selbst« verursacht wurde, auch wenn im Endeffekt die gleiche Änderung des Landschaftsbildes zustande kommt. So zum Beispiel, wenn geschützte Flächen zuwachsen und die seltenen Arten, um derentwillen sie unter Schutz gestellt wurden, deswegen verschwinden. Ein »Naturschutzmanagement« muss die früheren »Eingriffe« wieder ersetzen, allerdings umdeklariert als Pflegemaßnahme. Die Ergebnisse, da sie sich in Bildern ganz unmittelbar festhalten lassen, können so mit den Leitbildern verglichen und an ihnen gewertet werden. Die Streuwiese, die als solche entstand, weil sie früher gemäht worden war, ist nun unter Schutz und muss wieder gemäht werden, weil sie sonst das werden würde, was sie »natürlicherweise« wäre, nämlich Wald mit recht feuchtem Untergrund. Als Vorgehensweise mag dies in Ordnung sein, denn nicht anders wird bei Bebauungsplänen und -vorhaben oder bei sonstigen behördlich zu genehmigenden Veränderungen vorgegangen. Bewähren müssen sich die Maßnahmen hinterher in aller Regel nicht mehr, denn sie sind ja formal richtig abgelaufen, d.h. auf der Basis vorhandener Gesetze und Verordnungen abgewickelt worden. Es gilt auch als völlig normal, dass später wieder verändert oder geflickschustert wird, weil eben doch bei weitem nicht alles perfekt vorauszuplanen ist und zukünftige Vorstellungen sich von vergangenen Leitbildern durchaus auch unterscheiden können. Gerade solche in Bilder gefasste Zielvorstellungen erlauben kaum die nötige Flexibilität. Sie verleiten vielmehr zu größerer Zähigkeit am Festhalten des Vor-vordem-Gewesenen 235
ganz nach Art des Denkmalschutzes, der allerdings lediglich das alte Gewand beibehält, den Kern (der Gebäude) aber neu macht (und machen muss, aus naheliegenden Gründen). Das war in der Anfangszeit des Naturschutzes anders. Ausgehend von den USA und ihren ersten Nationalparks wurden auch in Europa Naturschutzgebiete und Nationalparks geschaffen. Dem amerikanischen Vorbild gemäß sollten »wilde, ursprüngliche Landschaften« als solche erhalten werden. Die ersten deutschen Naturschutzgebiete erfüllten genau diese Anforderungen mit hochalpinen Landschaften wie dem Karwendelgebirge, den Ammergauer Bergen oder dem KönigsseeWatzmann-Gebiet. Ähnliches trifft für die erst in jüngerer Vergangenheit unter Schutz gestellten Teile des Wattenmeeres in der Deutschen Bucht und für die Großschutzgebiete Ostdeutschlands in der ehemaligen DDR zu. Doch blieb eine Nutzungsform von Anfang an in Deutschland so gut wie immer unangetastet: die Jagd. Daher entwickelten sich auch in hinreichend großen Schutzgebieten in Deutschland keine Verhältnisse, wie man sie in internationalen Nationalparks voraussetzen kann und etwa auch im Schweizerischen Nationalpark oder im nordwestitalienischen Gran-ParadisoNationalpark verwirklicht vorfindet. Dort ist das »Wild« so vertraut geworden, dass Steinböcke grasend umherziehen wie freilaufende Ziegen, ohne aber zahm zu sein. Es fehlt ihnen das »Feinbild Mensch«, das alle bejagten und verfolgten Tiere scheu macht und ihnen mit dieser Scheuheit auch viele Lebensmöglichkeiten nimmt. So erfolgreich in der Fläche der anfängliche Naturschutz auch war, so unzulänglich blieb er seit seinen Anfängen für die größeren Tiere in Deutschland. Der Haupterfolg eines nunmehr ganzen Jahrhunderts Naturschutz liegt hier in der Sicherung von Flächen, in denen wenig Bewirtschaftung betrieben worden ist oder die so übernutzt waren wie weite Teile der Lüneburger Heide, dass sie sich für keine moderneren Produktionsformen mehr eigneten. Die ersten 100 Naturschutzgebiete, die noch zur Zeit des Dritten 236
Reichs als solche ausgewiesen worden waren, stellten daher bis in die 1980er oder 1990er Jahre flächenmäßig den Hauptteil der 0,5 bis 1 Prozent Naturschutzgebiete an der Landesfläche dar. Was in der Blütezeit des Naturschutzes, zwischen 1970 und der Wiedervereinigung 1990 an Schutzgebieten noch hinzukam, war und blieb im Binnenland fast ausnahmslos kleinteiliges Flickwerk. Die Zahl der staatlich ausgewiesenen Naturschutzgebiete stieg stark an, aber die Flächen wurden kleiner und kleiner. Die Steigerung der Zahl von rund 100 Naturschutzgebieten (98 waren es genau gewesen) 1938 auf rund 2500 in »Westdeutschland« zur Zeit der Wiedervereinigung hatte nicht mehr als eine Verdopplung der Fläche ergeben. Die Durchschnittsgröße der Naturschutzgebiete nahm daher, trotz Weiterexistenz der großen Schutzgebietsflächen in den Alpen und im Nationalpark Bayerischer Wald, auf unter 100 Hektar ab. Sehr viele nehmen nur eine Fläche von (erheblich) weniger als einem Quadratkilometer ein. Das macht sie anfällig für Einflüsse von außen, und in vieler Hinsicht bleiben sie viel zu klein, um die ihnen zugedachte Aufgabe, seltene Arten darin zu schützen und zu erhalten, erfüllen zu können. Ein wesentlicher Teil der Frustrationen im Naturschutz beruht auf dieser Entwicklung. Dennoch war sie recht erfolgreich. Nur fällt es dem staatlichen, noch mehr aber dem in Verbänden organisierten Naturschutz sehr schwer, die vielen und höchst beachtlichen Erfolge zu verkünden, obgleich es sie gibt und obwohl der private Naturschutz wirklich stolz auf das unter solch widrigen Rahmenbedingungen Erreichte sein kann. Viele Arten haben kräftig zugenommen, vor allem größere Säugetiere und Vögel, die früher verfolgt worden waren und nun seit Jahrzehnten geschützt sind. In Mitteleuropa leben gegenwärtig mehr Großvögel und größere Säugetiere als seit vielen Jahrhunderten. Die geringe Akzeptanz und das schlechte Image von (staatlichen) Naturschutzgebieten sowie Artenschutz in der Öffentlichkeit haben andere Gründe. Einer davon steckt in der 237
fast als Unfähigkeit zu bezeichnenden Statik des Naturschutzes, sich von alten Leitbildern zu lösen. Einmal als »richtig« Erkanntes und in Verordnungen »Festgelegtes« kann und darf nicht mehr angetastet oder gar infrage gestellt werden, auch wenn längst besseres Wissen dagegenspricht. Ganz wesentlich beeinflusst ist diese Grundposition vom Festhalten an romantischen Wunschvorstellungen. Auf ihre realen Gehalte hin werden diese zumeist gar nicht mehr nachgeprüft. Das führt allerdings fast zwangsläufig dazu, dass »Verluste« überbewertet und »Gewinne« kaum wahrgenommen werden. Ein Beispiel aus der gut untersuchten Vogelwelt soll dies verdeutlichen. So wurde die Vogelwelt des Landes Bayern, das mit seinen mehr als 70000 Quadratkilometern Fläche und Anteilen an den unterschiedlichsten Typen mitteleuropäischer Naturräume, von denen nur die Meeresküste als Großlebensraum fehlt, seit dem späten 19. Jahrhundert nicht etwa ärmer an Arten, die sich hier fortpflanzen, sondern deutlich reicher. Der Zugewinn von fast einem Fünftel beruht aber nicht auf der künstlichen Ansiedlung fremdländischer Vogelarten, von denen es in Bayern mit rund 5 Prozent nicht mehr als anderswo in Europa gibt, sondern auf der selbständigen Ansiedlung von Arten, die früher hier nicht vorgekommen waren. Fast 20 Prozent zusätzlicher Vogelarten bilden daher einen echten Zuwachs (Abb. 25) und nicht etwa nur eine statistische Schönrechnung. Wie kaum anders zu erwarten, nahm die Gesamtzahl der in Bayern auftretenden Vogelarten noch stärker zu, denn in den letzten 30 Jahren wurde die Intensität der Vogelbeobachtungen im Freiland ganz erheblich gesteigert. Es steht auch eine ungleich bessere Optik als im 19. Jahrhundert zur Verfügung, und es gibt ausgezeichnete Bestimmungsbücher, die es viel leichter machen, Irrgäste und große Seltenheiten richtig zu bestimmen. Ganz ähnliche Befunde liegen für praktisch alle Bundesländer und die anderen Länder Europas vor. Gegenwärtig werden alljährlich mehr Seltenheiten und Irrgäste fest238
Abb. 25: Entwicklung des Artenbestandes an Brutvögeln in Bayern von 1880 bis 2005. Selbst unter Abzug gebietsfremder Arten, die künstlich angesiedelt wurden, bleibt ein Zugewinn von 15% erhalten. gestellt als vor hundert Jahren. Die große Dynamik, die in der Vogelwelt herrscht, geht daraus ebenso hervor wie die äußerst geringen Chancen, dass sich fremde Arten einfach so ansiedeln. Bei Insekten wäre es nicht anders, hätte Mitteleuropa nicht so viele von den trockenwarmen Flächen verloren durch Beendigung der Nutzung, durch Aufforstungen oder auch durch die vielen Begrünungsmaßnahmen, mit denen »Wunden in der Landschaft« möglichst schnell wieder geschlossen werden sollen. Der Einfluss der Städte mit ihren »fremden Arten« ist also gering, wie der Vergleich zwischen Bayern insgesamt und der Stadt München zeigt (Abb. 26). Von ihnen geht ebenso wenig eine »Überfremdung« der heimischen Tierwelt aus wie von den Gärten und Anlagen mit ihrer großen Zahl exotischer Pflanzen, die angesiedelt wurden, weil sie schön sind. Solche Befunde und die zugehörigen Entwicklungen machen 239
Abb. 26: Anteile exotischer Vogelarten in Bayern und in der Millionenstadt München. Entgegen den verbreiteten Annahmen hat die Großstadt nicht mehr fremde Arten als das Land.
die Schwierigkeit verständlich, die alten Ziele des Artenschutzes mit den neuen Veränderungen in Einklang zu bringen. Das Hauptkriterium des Artenschutzes, die Seltenheit, mit der sich auch die Möglichkeit des Verschwindens der Art im betreffenden Bereich, ihr sogenanntes Aussterben, verbindet, wird sogleich vom selben Naturschutz außer Kraft gesetzt, wenn es sich um »neue Arten« handelt, die von irgendwoher zugewandert sind. Hat sie gar der Mensch direkt gebracht oder betätigen sie sich als »Kulturfolger«, sind sie von Anfang an, auch wenn sie noch so selten sind und deshalb wieder »aussterben« können, unerwünscht und nicht wert, in die besonderen Schutzkategorien der »Roten Listen« mit aufgenommen zu werden. Beim »Aussterben« ist zudem in aller Regel, abgesehen von der internationalen Roten Liste, ein wirkliches Aussterben gar nicht gemeint, sondern (nur) das regionale Verschwinden im betreffenden Gebiet/Land oder Rechtsbereich. Mit dem ursprünglichen und in manchen Fällen auch recht 240
erfolgreichen Artenschutz hat das wenig zu tun. Dieser war Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts davon ausgegangen, dass bestimmte Arten, die allgemein geschätzt, aber selten geworden waren, des Schutzes bedürfen. Bekannte Beispiele sind Edelweiß und (Stängelloser) Enzian, Stein- und Seeadler, Murmeltier und Biber, Fledermäuse und (die meisten) Singvögel. Der Schutz bedeutete das Ende oder zumindest eine starke Verminderung der bisherigen Verfolgung oder zu starken Nutzung durch den Menschen. Dieser Schutz konnte auch auf direkte Hilfe, wie Singvogelschutz durch Anbringen von Nistkästen, oder starke Verfolgung der Nesträuber (Raubzeug in der jagdlichen Ausdrucksweise, also Krähen, Elstern, Eichelhäher) und Feinde wie Raubwild und Greifvögel ausgedehnt werden. »Der Sperber ist der größte Feind der Singvögel«, hieß es in einem Vogelschutzbuch der 1950er Jahre noch. Die Fallenjagd zum Kurzhalten von Füchsen, Mardern und (angeblich wildernden) Katzen war ebenfalls, allerdings direkt auf das Niederwild bezogen, damit gerechtfertigt worden. Dieser Artenschutz wurde in der Tat rasch sehr erfolgreich. Das althergebrachte Ausnehmen von Singvogelnestern wurde allgemein verpönt und fand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch nicht mehr statt. Frühere Statusarten wie die großen Adler wurden nicht mehr geschossen. Das internationale Washingtoner Artenschutzübereinkommen von 1976 bewirkte, dass »gefleckte Katzen« kaum noch zu Pelzmänteln verarbeitet wurden. Und so fort. Bei einer Reihe von Arten der Säugetiere, Vögel und Reptilien, gebietsweise auch der Fische, bewirkten die nationalen und internationalen Artenschutzmaßnahmen eine geradezu »wunderbare« Wiedererholung ihrer Bestände. Denn sie verminderten nachhaltig die direkten Verfolgungen. Hieraus ergaben sich die größten Erfolge des Artenschutzes weltweit wie regional in Mitteleuropa. Ganz anders verhält es sich bei den »Kleintieren« und bei sehr vielen Pflanzen, die unter Schutz gestellt wurden. In Deutschland sind das fast alle Tagfalter und Laufkäfer, die 241
Schwärmer, Bärenspinner und andere Schmetterlinge, die gleich als ganze Gruppe, wie auch alle Orchideen, in den Listen der geschützten Arten landeten. Umfassende »Rote Listen der gefährdeten Tiere und Pflanzen« wurden erarbeitet; die wahrscheinlich bislang umfangreichste (in Mitteleuropa) legte Bayern (2003) mit rund 16000 erfassten Tierarten und sämtlichen wildwachsenden Pflanzenarten vor. Ihre Bilanz weist rund die Hälfte des erfassten Artenspektrums als in irgendeiner Weise »gefährdet« aus. Für die allermeisten Arten sind jedoch keine gezielten Gegenmaßnahmen möglich, von punktuellen, aber für Vorkommen und Häufigkeit der betreffenden Art so gut wie bedeutungslosen Einzelfällen abgesehen. Denn die Hauptursachen ihrer Bedrohung liegen in der Land- und Forstwirtschaft. Oder sie stammen von Maßnahmen des Umweltschutzes und des Naturschutzes selbst, nicht aber von direkter »Verfolgung« etwa durch private Sammler von Insekten oder Schnecken. So beeinträchtigen die umfangreichen Artenschutzbestimmungen nur die Forschung, und sie haben das Interesse an diesen Tiergruppen stark vermindert, ohne aber in irgendeiner Weise den geschützten Kleintierarten zugutegekommen zu sein. Eher das Gegenteil ist der Fall. Da aber die Säugetier- und Vogelarten, die von früherer Verfolgung befreit werden konnten und ihre Bestände wieder stärkten, in diesen langen Listen nur ganz unbedeutende Anteile stellen, werden die Roten Listen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt länger anstatt kürzer, wie es sich für einen erfolgreichen Artenschutz gehören sollte. Aus diesem Grund erwecken sie den Eindruck der Wirkungslosigkeit und der Vergeblichkeit aller Bemühungen. Die wirklichen Erfolge des Schutzes bleiben verdeckt, und viele Naturschützer wagen es nun auch nicht mehr, vom Bild der steten Verschlechterung abzurücken. In der Öffentlichkeit soll der Eindruck bestehen bleiben, es stünde ganz allgemein sehr schlecht um die Natur. Im Einzelfall muss es schließlich so weit kommen wie nach der höchst erfolgreichen Wiedereinbürgerung des Bibers (Castor fiber) in 242
vielen Regionen von Europa, dass massive Klagen und Schadensmeldungen den indirekten Beweis für den Erfolg liefern. Erst 35 Jahre nach Beginn der Wiedereinbürgerung des Bibers wurde in Bayern in Zusammenhang mit dem Abschuss des ersten Braunbären, der seit über 100 Jahren wieder zugewandert war, behördlich-offiziell eine entsprechende Projektgruppe aufgebaut. Der Bevölkerung wird damit ein ziemlich verzerrtes Bild vom tatsächlichen Zustand unserer Natur vermittelt. In weiten Bereichen Mitteleuropas gibt es inzwischen, abgesehen von wenigen, mit gewisser Berechtigung als gefährlich eingestuften Großraubtieren (Braunbär, Wolf), wieder das nahezu gesamte Spektrum an Säugetieren wie vor 200 oder 250 Jahren. Die meisten kommen sogar erheblich häufiger vor als in früheren Jahrhunderten. Neue Arten kamen hinzu, sodass auch bei den Säugern, wie bei den Vögeln, die Gesamtbilanz nach 100 Jahren positiv aussieht. Mit den paar noch fehlenden »Großen« würden wir durchaus auch leben können, wenn die Bevölkerung entsprechend darauf vorbereitet wird und der übermäßige Eigennutz bestimmter Teilgruppen der Gesellschaft zugunsten des Allgemeininteresses ein wenig zurückgestellt werden könnte (Reichholf 2007). Das beweisen die Nachbarländer mit ihren (an Häufigkeit zunehmenden) Vorkommen großer Säugetiere, Bär und Wolf eingeschlossen. Zusammengefasst bedeutet dies, dass für die größere Tierwelt, insbesondere für Säugetiere und Vögel, unsere Zeit nicht die schlechteste ist. Viele Arten treten viel häufiger auf als früher. Manche, die am Rand der Ausrottung waren, kommen auch bei uns in Deutschland längst wieder in gut gesicherten Beständen vor. Anzuführen sind hierzu neben den fast überall so erfolgreich wiedereingebürgerten Bibern und den »an den Grenzen im Osten stehenden« Elchen, die wohl bald, wie schon nach Österreich, auch nach Deutschland kommen werden, insbesondere Großvögel wie Kranich (Grus grus), Schwarzstorch (Ciconia nigra), Seeadler (Haliaaetus albicilla) und Fischadler (Pandion haliaetus). Die beiden Letzteren 243
kommen nach weltweiten Maßstäben in Ostdeutschland inzwischen in den größten örtlichen Beständen überhaupt vor. Ihre Brutvorkommen weiten sich aus. Bei See- und Fischadler ist zu erwarten, dass sie in naher Zukunft in Deutschland schon mit jeweils 500 Brutpaaren vertreten sein werden. Der Niedergang des Weißstorchs (Ciconia ciconia) konnte in den letzten beiden Jahrzehnten erfolgreich gestoppt und offenbar in eine Wiedererholung des Bestandes umorientiert werden. Steinadler (Aquila chrysaetos) besiedeln den deutschen Alpenrand Revier an Revier, und auch die größte Eule, der Uhu (Bubo bubo) gehört zu den Gewinnern im Artenschutz. Mancher Fluss hat wieder Lachse (Salmo salar) oder Huchen, (Hucho hucho) und an der deutschen Nordseeküste entwickelte sich nach Einstellung der Jagd der Bestand des Seehundes (Phoca vitulina) im Wattenmeer steil aufwärts. Ausflügler können die zunehmend vertrauter werdenden Robben nun wieder an zahlreichen Stellen bewundern. Der Naturschutz hat sich gelohnt. Er war erfolgreich, und die Anstrengungen, das Erreichte zu erhalten, müssen fortgesetzt werden. Die Nutzungsinteressen anderer bedrängen die meisten der häufiger gewordenen Arten schon wieder. Die tatsächlich starken Rückgänge bei vielen kleinen Arten, die, wie ausgeführt, von sonnigen, trockenen und »mageren« Lebensräumen abhängen oder denen die Moore und Sümpfe trockengelegt und in fettes Agrarland umgewandelt wurden, bilden die Verlustseite in der Entwicklung im Artenspektrum der Tiere und Pflanzen in Mitteleuropa. Die Bestandserholungen und Zugewinne gerade bei den größeren und auffälligeren Arten schlagen als Gewinne zu Buche. Die Natur Mitteleuropas ist im 20. Jahrhundert, vor allem in dessen zweiter Hälfte, sicherlich sehr stark verändert worden. Aber unsere Tier- und Pflanzenwelt stellt keinen hoffnungslosen Fall dar. Wir kennen die Gründe der Gefährdung und könnten diese daher, anders als das Wetter und das Klima, an geeigneten Orten und im nötigen Umfang durchaus gezielt ändern. Nicht anders verhält es sich 244
mit der größten Artengefährdung in den Tropen, insbesondere mit der Vernichtung der tropischen Regenwälder.
23. Die Vernichtung der Tropenwälder – wofür? Die tropischen Regenwälder waren nach dem nordischen Nadelwald, der Taiga, die sich über den borealen Bereich von Eurasien und Nordamerika erstreckt, bis in die jüngste Vergangenheit die größten Wälder der Erde. Noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts bedeckten sie, fast unangetastet, eine Fläche von rund 12 Millionen Quadratkilometern. Zur Jahrtausendwende, also nur 50 Jahren später, war davon bereits etwa die Hälfte vernichtet. Satellitenaufnahmen, die seit den 1990er Jahren mit guter Auflösungsqualität vorliegen, belegen, dass seit 1994 allein im Regenwald Amazoniens pro Jahr zwischen 1,5 und 3 Millionen Hektar abgeholzt und abgebrannt worden sind. Eine derart hohe Entwaldungsrate hatte es nur während der Vernichtung der Wälder in den heutigen USA etwa zwischen 1750 und 1900 gegeben. Dieser Waldvernichtung fiel der Laubwald der gemäßigten Klimazone Nordamerika bis auf wenige Prozent Restvorkommen zum Opfer (Dobson 1996). Die jährliche Rodungsrate bewegte sich damals im Durchschnitt zwischen 0,7 und einem Prozent pro Jahr; in Brasilien liegt sie für die letzten 50 Jahre mit 2,2 Prozent pro Jahr doppelt so hoch. Europa hatte seine bewaldeten Landschaften im Verlauf von 1500 Jahren mit einer Geschwindigkeit von 0,1 bis höchstens 0,3 Prozent pro Jahr verändert. Die größten historischen Rodungen fanden, wie eingangs schon ausgeführt, im frühen Mittelalter statt. Der gegenwärtige Waldbestand macht in Mitteleuropa rund ein Drittel der Landesfläche aus. Dieser Wert liegt höher als in Brasilien, das mit dem größten Anteil an den amazonischen Regenwäldern auch der Haupt245
akteur in der Tropenwaldvernichtung ist. Von 1990 bis 1995 rodete Brasilien allein 128 000 Quadratkilometer, also mehr als die Hälfte der Gesamtfläche Deutschlands. Amazonien enthält (enthielt) mit etwa 55 Prozent mehr als die Hälfte aller Regenwälder der Tropen. Der Fläche nach folgt Afrika mit dem Kongobecken. Teile der südostasiatischen Inselwelt bedeckt gleichfalls (noch) Regenwald. Die bedeutendsten Flächen finden sich auf Neuguinea und Borneo. Die südasiatischen Regenwaldreste sind hingegen so klein, dass sie in der globalen Bilanz in den Schwankungsbereichen der regionalen Angaben für die großen Regenwaldgebiete verschwinden. Von den 12 Ländern mit den größten Verlusten an Tropenwäldern seit den 1990er Jahren liegt mit Brasilien, Bolivien, Venezuela, Mexiko und Paraguay die Mehrzahl im tropischen Amerika. In Afrika trugen nur der Kongo und der (südliche) Sudan stark zur Tropenwaldvernichtung bei; in Südostasien Indonesien, Malaysia und Thailand. Doch während in diesen Ländern der asiatischen Regenwaldzone durchschnittlich fast 100 Menschen pro Quadratkilometer leben, sind es in den amazonischen Regenwaldländern, wo die größte Waldvernichtung stattfindet, nur 16 und in Afrika 21 Menschen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Deutschland leben im Durchschnitt 229 Menschen je Quadratkilometer, im südasiatischen Bangladesh 825 und in Indien derzeit etwa 300. Damit entfielen pro Brasilianer 0,75 Hektar vernichteter Regenwald von 1990 bis 1995, aber nur 0,25 Hektar pro Einwohner in Indonesien und 0,08 im Kongo im selben Zeitraum. Der Kongo hatte aber einen Bevölkerungszuwachs von 3,2 Prozent pro Jahr, Indonesien von 1,7 Prozent und Brasilien von 1,4 Prozent. Somit stehen Bevölkerungszuwachs und Bevölkerungsdichte in keinem (positiven) Zusammenhang zur Waldvernichtungsrate. Abb. 27 zeigt dies. Aus diesen Daten geht somit klar hervor, dass kein Zusammenhang besteht zwischen der Bevölkerungszunahme und dem Ausmaß der Waldvernichtung. Das Land mit der mit 246
Abb. 27: Bevölkerungswachstum pro Jahr und Fläche der Waldvernichtung pro Jahr (in 1000 Quadratkilometern) in den zwölf Ländern mit der größten Tropenwaldvernichtung Ende des 20. Jahrhunderts. weitem Abstand größten Vernichtungsrate, Brasilien, hat mit nur 20 Menschen pro Quadratkilometer zudem bloß ein Fünftel der Besiedlungsdichte der Nummer 2, Indonesien, mit über 100 Menschen pro Quadratkilometer. Mit der üblichen Ansicht, die Tropenwälder würden dem Bevölkerungswachstum der Menschheit zum Opfer fallen, weil sich diese seit 1950 von 2,5 Milliarden auf nunmehr schon 6,4 Milliarden vergrößert hat, stimmen diese Befunde also nicht überein. Welche Gründe gibt es dann? Bevor diese Frage behandelt wird, sollte jedoch geklärt werden, warum man sich überhaupt so sehr über die Tropenwaldvernichtung sorgt, wo doch, wie oben ausgeführt, die USA in den beiden vorletzten Jahrhunderten in noch viel größerem 247
Abb. 28: Die Wachstumsraten der Bevölkerung und die Raten der Waldvernichtung ergeben für die zwölf bedeutendsten Tropenländer keinen statistischen Zusammenhang. Umfang ihre Wälder (abgesehen von Alaska) vernichtete und in Europa sowie anderen Regionen der Erde die Entwaldung längst Geschichte ist. Eine häufig vorgebrachte Begründung, die tropischen Regenwälder seien die Lungen der Erde, die dafür sorgen, dass wir genügend Sauerstoff haben, stimmt so nicht. Tatsächlich erzeugt ein ausgewachsener Tropenwald wie jeder andere Wald auch, der keinen Zuwachs mehr hat, kein bisschen Sauerstoff. Denn dieselbe Menge, die tatsächlich bei der Fotosynthese von den Blättern oder Nadeln abgegeben wird, verbraucht der ausgewachsene Wald wieder für Atmung und Zersetzung der erzeugten Stoffe im Boden. Nur wachsende Wälder können in der Nettobilanz Sauerstoff freisetzen und im Gegenzug Kohlenstoff aus der Atmosphäre (in Form von CO2) aufnehmen und binden. Ansonsten gibt der Wald auch wieder das CO2 ab, das er aufgenommen hat. Insofern stimmt der Vergleich mit der Lunge nur halb. Diese atmet letzt248
lieh dieselbe Menge Kohlendioxid aus, wie sie Sauerstoff aufnimmt. In anderer Hinsicht spielt der Vergleich aber durchaus eine Rolle. Da in nur 50 Jahren etwa die Hälfte der Tropenwälder vernichtet worden ist und davon der weitaus größte Teil ihrer pflanzlichen Masse (Biomasse) verbrannt wurde und in Rauch aufgegangen ist, ohne dass entsprechende Mengen durch nachwachsende Vegetation wieder der Luft entnommen worden wären, trug ihre Vernichtung sehr stark zur Zunahme von CO2 und Ruß in der Atmosphäre bei. Wie schon ausgeführt, übertrifft die Verbrennung von Tropenwäldern und Savannen jedes Jahr den gesamten Umsatz von Energie in Deutschland ganz erheblich. Die Vernichtung der Tropenwälder trägt gleich in dreifacher Weise zur Belastung der Erdatmosphäre bei, nämlich durch die direkte Aufheizung mit der von den Bränden freigesetzten Wärme, durch die CO2-Abgabe und durch die Erzeugung von riesigen Mengen Methan (CH4) durch die Rinder und Termiten, die auf den solcherart geschaffenen oder »verbesserten« Weideflächen leben. Rinder und Termiten liefern mehr als die Hälfte des Methans, das als Treibhausgas in die Atmosphäre gelangt und dort über 20-mal stärker als das Kohlendioxid wirkt. Im Gegensatz zu diesem, das bekanntlich Hauptnährstoff für die Pflanzen ist, wird Methan nur von wenigen spezialisierten Bakterien verwertet, die für den Menschen keine Rolle spielen. Hinzuzufügen ist weiterhin, dass sich großflächige Rodungen in den Tropen selbstverständlich auch weit stärker aufheizen als die Wälder, die es vorher an ihrer Stelle gegeben hatte. Man kennt dies aus eigener Erfahrung von der Kühlwirkung des Waldes an heißen Tagen. Die Verdunstung von Wasser, die Transpiration, durch die Bäume bewirkt eine starke Kühlung. In den Tropen kann sie mehr als 10°C ausmachen. Gleichzeitig erzeugt dieses transpirierte Wasser immer wieder Wolken und Niederschläge, sodass sich große tropische Regenwälder zu einem Gutteil selbst mit Wasser versorgen. In Oberamazonien stammen bis über 80 Prozent des Niederschlagwassers 249
aus diesem sogenannten kleinen Kreislauf. Er setzt das vom Atlantik mit den Passatwinden antransportierte Wasser mehrfach um, bis es wieder über den Amazonas zum Ozean zurückfließt. Werden zu große Waldflächen vernichtet und in Weideland oder Sojafelder umgewandelt, nehmen infolgedessen die Niederschläge ab, während sich gleichzeitig die Atmosphäre weit stärker als über Wald aufheizt. Es scheint zwar noch nicht ganz geklärt zu sein, ob die Vermutung zutrifft, dass die Häufigkeit der Tropenstürme und Hurrikane in der Karibik mit der zunehmenden Aufheizung der inneren Tropen mit den großflächigen Waldrodungen zusammenhängt. Zahlreiche gute Indizien sprechen jedoch dafür. So wie wir umgekehrt inzwischen auch wissen, dass die Tropenwälder Amazoniens deshalb existieren und ihre unvermeidbaren Verluste an mineralischen Nährstoffen ausgleichen können, weil die Passatwinde Nährstoffe aus der Sahara herüberwehen. Die amazonischen Wälder wachsen nämlich fast überall auf äußerst unfruchtbaren Böden, die außer Sand und Kaolinit kaum weitere Mineralien enthalten. Globale Zusammenhänge gibt es also sehr wohl in den Tropen – wie auch in außertropischen Regionen. Wo die natürlichen Transportwege nicht ablaufen können, hat der Mensch inzwischen neue geschaffen. Gegenwärtig fließt ein gewaltiger Strom von Nährstoffen aus den südamerikanischen Tropen nach Europa und ernährt das Vieh in den Ställen (Reichholf 2004). Europäische, vor allem auch deutsche und französische Rinder »fressen Tropenwälder auf«, weil für unser Stallvieh dort die Futtermittel angebaut werden, die hier nicht zur Verfügung stehen. Denn unsere Viehbestände sind viel zu hoch für eine Selbstversorgung auf mitteleuropäischem Weideland oder mit heimischem Futtergetreide. Die Mast von Geflügel kommt mit weit über 100 Millionen Hähnchen allein in Deutschland hinzu. Der Nutzviehbestand übertrifft hierzulande das Lebendgewicht aller Menschen um das Drei- bis Fünffache. Europa und seine Abkömmlinge haben insbesondere die Bestände der Rinder ganz gewaltig gesteigert (Rifkin 250
1986). Global gibt es mittlerweile 1,5 Milliarden Rinder und über eine Milliarde Schweine. Die Defizite in der Ernährung dieser Tiermengen werden aus den Tropen und Subtropen gedeckt. Die »heilige Kuh« ist den westlichen Zivilisationen viel heiliger als den Indern. Dort leben rund 180 Millionen Rinder mit einer Milliarde Menschen zusammen. Auf fünf Inder kommt somit etwa eine heilige Kuh im Durchschnitt. Diese Tiere sind aber energieneutral, weil sie ohne künstliche Zufütterung leben. Ihr Futter wird nicht unter Einsatz von Energie erzeugt oder unter Energieaufwand von irgendwoher aus der Ferne antransportiert. Indiens Rinder suchen es sich selbst. Verwertet werden von ihnen vor allem die Milch und der Dung, aber durchaus auch ihre Häute und das Fleisch. In Deutschland liegt das Zahlenverhältnis zwischen Menschen und Rindern nur geringfügig verschieden von Indien bei 5,8 zu 1. In Brasilien, wo es gegenwärtig schon mehr Rinder als in Indien gibt, aber bereits bei fast genau 1 zu 1 und in Argentinien bei mehr als 1 zu 1,5. Ein Großteil der Rodungen von Tropenwäldern in Südamerika diente dazu, Rinderweiden zu vergrößern und Anbauflächen für Soja zu schaffen. Brasilien steigerte seine Sojaproduktion von 1990 bis 1997, also im Referenzzeitraum der Tropenwaldvernichtung (s. o.) von 19,1 auf 26,1 Millionen Tonnen. Diese Zunahme um 37 Prozent ging jedoch keineswegs in erster Linie nach China, denn auch dort wurde die Sojaproduktion im selben Zeitraum um den gleichen Prozentsatz gesteigert. Unsere Massentierhaltung könnte ohne die Importe von Futtermitteln, die auf ehemaligen Tropenwaldflächen erzeugt werden, nicht existieren. Deshalb trifft uns der zweite Vorwurf ganz besonders, der mit der Tropenwaldvernichtung verbunden wird: Vernichtung der Biodiversität. Schon die ersten Naturforscher, die sich intensiver mit den Tieren und Pflanzen der Tropenwälder befassten (vgl. Kap. 15), waren von deren Artenfülle beeindruckt. Sie schien unerschöpflich, weil überall, wo sie genauer suchten, neue Arten 251
zu entdecken waren. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Denn auch 150 Jahre nach Henry Bates oder Alfred R. Wallace und ihren jahrelangen Sammelreisen nach Amazonien und in die malaiische Inselwelt kann nicht einmal eine ungefähre Abschätzung vom Artenreichtum der Tropen vorgenommen werden. Verschiedene Hochrechnungen ergaben Werte zwischen 5 und mehr als 30 Millionen unterschiedlicher Arten. Bekannt und wissenschaftlich beschrieben sind aber bislang nur 1,8 Millionen Arten. Wenn auch in gemäßigten Breiten, die auf jeden Fall viel artenärmer als die Tropen sind, Jahr für Jahr neue Arten erkannt werden, so weiß man doch hier ganz gut Bescheid. In den Tropen gibt es jedoch zehn- bis hundertmal mehr als in unseren Breiten. In mitteleuropäischen Wäldern wachsen pro Quadratkilometer zwischen 5 und 20 verschiedene Arten von Holzgewächsen (Bäume und Sträucher), sofern es sich um Mischwälder handelt und nicht um gepflanzte Einheitsforste. In tropischen Regenwäldern können auf dem Hundertstel eines Quadratkilometers, einem Hektar, aber mehrere hundert verschiedene Arten von Holzgewächsen vorkommen. In Amazonien und in Südostasien wurden über 500 Arten von Bäumen und Lianen auf einem Hektar ermittelt. Vogelarten gibt es doppelt bis viermal so viele pro Quadratkilometer wie in unseren Wäldern, Schmetterlingsarten aber hundertmal mehr. Doch diese Vielfalt verbindet sich, wie ebenfalls bereits in Kap. 15 ausgeführt, mit Seltenheit. Die meisten Arten der Tropen sind nach europäischen oder nordamerikanischen Standards selten bis sehr selten. Schon die frühen Naturforscher, wie Henry Bates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, stellten zu ihrer Verwunderung in unberührten Regenwäldern fest, dass es viel leichter ist, zehn verschiedene Arten von Schmetterlingen zu sammeln als zehn Exemplare einer einzigen solchen Art. In dieser Seltenheit liegt die Verletzlichkeit des tropischen Artenreichtums. Die seltenen Arten sterben viel schneller aus als die häufigen, und sie sind, was noch bedeutsamer ist, oft 252
sehr kleinflächig verbreitet. Vielfach bilden die Arten so etwas wie ein höchst kompliziertes Mosaik, in dem jedes Steinchen eine Art mit winzigem Verbreitungsgebiet repräsentiert. Wird so ein Steinchen entfernt, kommt diese Art unter Umständen nirgendwo mehr vor. Die Forscher, die sich mit der tropischen Biodiversität intensiv befassen, rechnen deshalb mit immensen Artenverlusten, weil auf den gerodeten Flächen viele Arten vorgekommen sein dürften, die nun nicht mehr existieren. Man hat mit den örtlichen Waldflächen auch ihren Lebensraum vernichtet. Hieraus kann man die schon angedeuteten Hochrechnungen anstellen. Sie ergeben für die derzeitige Vernichtungsrate tropischer Wälder Größenordnungen von einer aussterbenden Art pro Stunde bis zu 500 Arten täglich. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand, weil die ausgerotteten Arten nicht bekannt sind. Ihre Anzahl hängt entscheidend davon ab, welche Größenordnung für den globalen Artenreichtum insgesamt zugrunde gelegt werden muss. Die Angaben aus dem internationalen Naturschutz sind somit keine wilden, grundlosen Schätzungen oder gar haltlose Vermutungen, sondern Rechenergebnisse auf einer nicht hinreichend bekannten Basis. Sicher können wir nur sein, dass es ein großes Artensterben in unserer Zeit gibt. Wie groß es ist, könnten wir rasch erfahren, wenn ein paar Prozent der Geldmengen, die in den Weltraum geschossen werden, der Erfassung der Lebensvielfalt der Erde zur Verfügung gestellt würden. Bei diesem errechneten Artensterben in den Tropen handelt es sich daher um etwas grundsätzlich anderes als bei den »Rote Liste«-Arten in Deutschland und anderen Gebieten Europas. Die allermeisten Pflanzen- und Tierarten kommen weit verbreitet in Europa und Asien vor. Der Artenschutz beklagt ihr örtliches oder regionales Verschwinden, nicht ihr generelles Aussterben, wie es den großen Walen drohte oder dem Großen Panda, allen noch lebenden Arten der Nashörner und den fast 2000 verschiedenen Vogelarten, die vor allem in Amazonien und Südostasien direkt vom Aussterben bedroht sind. 253
24. Wälder und Waldsterben In einer anderen Weise stehen die Tropenwälder in bemerkenswertem Zusammenhang mit Mitteleuropa. Denn eine Form der Ausbeutung ist noch nicht aufgeführt worden: Tropenholznutzung. Tatsächlich gibt es vier Hauptursachen der Tropenwaldvernichtung. Die erste und am besten bekannte ist der Eigenbedarf der Menschen in den betreffenden Ländern. Roden, um Siedlungsland zu gewinnen, das war überall das primäre Ziel der Umwandlung von Wäldern. Kleinflächig und ohne nennenswerte Auswirkung auf die Größe der Tropenwälder und auf ihren Artenreichtum wurden die Rodungen als Brandrodung schon seit Urzeiten der Besiedlung durch Menschen betrieben. Die kleinflächige Nutzung im Wanderfeldbau (shifting cultivation) hatte die Regenwaldbewohner auch mit den Eigenschaften der Waldböden vertraut gemacht. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die amazonischen Regenwälder fast unangetastet geblieben sind, obwohl Brasilien und Peru schon erheblich länger als etwa Nordamerika von Europäern besiedelt und kultiviert worden sind. Die zweite Ursache war und ist die Holznutzung. In den Tropenwäldern wachsen Edelhölzer mit sehr hartem, gegen Termiten und Pilze widerstandsfähigem Holz. Die Holzhärte weist übrigens darauf hin, dass diese Bäume ziemlich langsam wachsen und nicht einfach unter tropischer Wärme und Feuchtigkeit in die Höhe schießen. Sie gleichen mehr unseren Eichen, die sie allerdings an Holzhärte noch weit übertreffen, als den schnellwüchsigen Kiefern oder gar den Pappeln. Die mageren Böden der Regenwälder lassen kein stürmisches Wachstum zu, außer sie sind jungen vulkanischen Ursprungs und enthalten entsprechend reichlich mineralische Pflanzennährstoffe. Härte und Formstabilität machen Tropenhölzer begehrt – auch in den außertropischen Gebieten sowie für den Schiffsbau. Daher wurde in Zentralafrika weit mehr Tropenwald gerodet, als die dortige Bevölke254
rung brauchte, um Bananen oder Cassava anzupflanzen. Die tropischen Edelhölzer waren und sind das Ziel des Holzeinschlags. Weltfirmen haben sich Konzessionen dazu gesichert. Auch in Indien, wo es zwar seit gut 100 Jahren Plantagen für die Erzeugung von Teakholz gibt, und in Südostasien bildet die meist raubbauartige Gewinnung tropischer Edelhölzer den Hauptgrund der Waldzerstörung. Dort hat jedoch eine andere Nutzungsform als dritter Grund in den vergangenen Jahrzehnten an Gewicht gewonnen: die Errichtung von Ölpalmenpflanzungen. Palmöl wird von den Industrienationen für chemische und pharmazeutische Zwecke gebraucht. Der vierte Grund schließlich ist die Umwandlung der Regenwälder in Rinderweiden und Sojafelder. Die mittel- und südamerikanischen Tropenwälder sind davon bei weitem am stärksten betroffen. Mit Ausnahme des ersten Grundes, der sich ausschließlich auf die örtlichen, bedürftigen Bevölkerungen bezieht, sind die Industrienationen an allen anderen massiv beteiligt. Sollten sie nicht in ihren Wäldern genügend Ressourcen haben, um den Holzbedarf zu decken?! Der Verbrauch ist aber so groß, dass das Holz aus den eigenen Wäldern nicht annähernd ausreicht, obgleich es bis in die letzten Jahre kaum noch zum Heizen verwendet wurde. Zunehmend werden in unserer Zeit Wälder des Nordens, in Nordwestrussland und in Ostsibirien, für die Holzgewinnung genutzt. Schutzorganisationen befürchten, dass nach den großen Kahlschlägen in den Tropen nun noch größere in den borealen Wäldern bevorstehen, weil diese pro Quadratkilometer weit weniger Bäume tragen als die dicht bewachsenen Tropenwälder. Noch scheint die Taiga unerschöpflich mit ihren 15 Millionen Quadratkilometern Nadelwald. Doch das Schicksal der Laubwälder im östlichen Drittel der USA mahnt zur Vorsicht. Was dort mit damals noch technisch primitiven Mitteln in eineinhalb Jahrhunderten vollzogen wurde, wäre gegenwärtig schon in einigen Jahrzehnten möglich. Die Maschinen stehen dafür zur Verfügung – und die Abnehmer auch. Denn Holz ist ein gefragter Naturstoff. Den 255
nordischen (borealen) Nadelwäldern wird zwar weniger Aufmerksamkeit zuteil, weil sie recht einförmig aussehen und im Vergleich zu den Tropenwäldern auch nicht mit eindrucksvoller Biodiversität aufwarten können, aber mit den in deutschen Forsten vorherrschenden Fichtenmonokulturen sind sie keinesfalls gleichzusetzen. Auch die Taiga hat ihren spezifischen, unersetzbaren Artenreichtum. Und sie bedeckt in riesigen Bereichen Sibiriens insbesondere Bodenschichten, die weder das in ihnen gebundene Kohlendioxid noch das Methan in den Sümpfen freigeben sollten. Denn die dortigen Massen an potenziell klimabeeinflussenden Gasen sind so groß, dass sie alle Anstrengungen zum Klimaschutz bedeutungslos werden ließen, so sie in den kommenden Jahrzehnten in die Atmosphäre gelangten. Winterfrost und ununterbrochen kalte Klimaverhältnisse speicherten Massen von organischem Material und entziehen so den Kohlenstoff, der darin gebunden vorliegt, dem Gaskreislauf der Atmosphäre. In den Tropen wachsen die Bäume fast überall auf Böden, die kaum Humus haben und die daher auch nichts freisetzen können. In den Tropenwäldern ist es der Wald selbst, der in die Berechnungen zu den Belastungsfolgen mit einbezogen werden muss, während in den nordischen Nadelwäldern die Böden und die teilweise sehr tiefgründigen Sümpfe dazukommen. In einer Hinsicht ähneln die nordischen Wälder aber denen in den feuchten Tropen: Auf den weitaus größten Flächen ihres Vorkommens lassen sie sich kaum oder nur sehr schwer nachpflanzen. Bei den Tropenwäldern geht das Pflanzen besonders schlecht. Deshalb scheiterten auch die mit vielen Millionen Dollar ausgestatteten Plantagenprojekte in Brasilien, wie »Fordlandia« (vom Autokönig Henry Ford in den 1930er Jahren) und am Jarí mit den Gmelina- und Pinus caribaea-Pflanzungen des Milliardärs Ludwig. Die Tropenwaldverluste bleiben daher in der Flächenbilanz unserer Zeit Verluste, weil sie nicht, wie bei unseren Wäldern geschehen, in großem Umfang wieder aufgepflanzt werden können. Kaum besser gedeihen gepflanzte 256
Forste allerdings auch in der borealen Waldzone. Sie lassen sich daher gleichfalls nicht mit dem vergleichen, was die europäische Forstwirtschaft in den mittleren Breiten während der zwei oder drei letzten Jahrhunderte erreichte. Unsere tatsächlich von deutschen Forstleuten begründete nachhaltige Forstwirtschaft konnte sich auf zwei besonders günstige Gegebenheiten stützen. Die eine liegt in den Böden, die viel besser für den Waldbau als die tropischen und borealen Böden geeignet sind. Der zweite Vorteil kam dadurch zustande, dass einige ziemlich robuste Baumarten vom so wechselvollen Klima verlauf der vergangenen Jahrtausende ausgelesen worden waren, die sich durch eine vergleichsweise große Bandbreite an Toleranz gegenüber den Faktoren der Umwelt auszeichnen. Die in dieser Hinsicht beiden wichtigsten Baumarten wurden auch die »Brotbaumarten« der europäischen Forstwirtschaft, die Fichte (Picea abies) und die Waldkiefer (Pinus silvestris). Mit ihnen konnten im späten 18. und im 19. Jahrhundert regelrechte Monokulturen begründet werden, die sogar leicht in sogenannten Altersklassen aufwachsen und häufig aus einem einzigen Klon sind. Ein Klon bedeutet, dass es sich um die Samen eines Baumes handelt, sodass alle gepflanzten Jungbäume »Samengeschwister« sind und sich folglich genetisch wenig voneinander unterscheiden. Die große genetische Vielfalt der europäischen Baumarten, die, wie oben schon betont, den Härtetest starker Umweltveränderungen in den letzten Jahrtausenden hinter sich haben, ermöglichte es der Forstwirtschaft, besonders schnellwüchsige oder ertragreiche Sorten und Klone zu wählen. Unsere Wälder entsprechen daher weit mehr dem auf ähnliche Weise strenger Selektion des Saatgutes unterworfenen Getreide als einem Naturwald mit hoher innerer Vielfalt an Arten und genetischen Linien. Das macht sie anfällig. Europas Forste sind zwar produktiv, aber zu einheitlich, um den Angriffen gewachsen zu sein, die seitens der Insekten, Pilze oder auch von der Witterung auf sie einwirken. Besonders deutlich wurde dies um die Wende vom 19. zum 20. Jahr257
hundert und in dessen ersten Jahrzehnten, als auf Hunderten oder Tausenden von Quadratkilometern Insektenkalamitäten die jungen Forste heimsuchten. Es gab Massenvermehrungen von Kiefernspinnern (Dendrolimus pini), Kiefernspannern (Bupalus piniarius) und sogar von den großen Kiefernschwärmern (Hyloicus pinastri), der auch Tannenpfeil genannt wurde. Riesige Schäden richteten Nonnenfalter (Lymantria monacha) und in den Eichenwäldern die Eichenwickler (Tortrix viridiana) an. Kiefern-, Fichten- und Eichenforste waren jeweils am stärksten betroffen. Die Schäden reichten von Beeinträchtigungen des Holzzuwachses bis hin zu so intensivem Kahlfraß, dass die Bestände abstarben und der Wald nachgepflanzt werden musste. In Laubwald- und Obstbaugebieten kamen in den 1930er und ganz besonders stark wieder in den warmen Sommern Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre Maikäferkalamitäten hinzu. Auslöser waren sowohl die braunen Waldmaikäfer (Melolontha hippocastani) als auch die gewöhnlichen Feldmaikäfer (Melolontha melolontha). Viele weitere Insektenarten und dazu diverse Pilze wie die schon für die Kartoffelkrise im 19. Jahrhundert verantwortliche Kartoffelfäule durch Pbytophtbora-Pilze traten massiv als Schädlinge auf. Borkenkäfer (Ipidae, insbesondere Ips typographus) sorgen bis in die Gegenwart für Schlagzeilen, weil sie rasch ganze Bestände befallen und die Bäume bis zu deren Absterben schädigen können. In Mitteleuropa entwickelte sich ein besonderer Zweig der Forstkunde, genannt Waldhygiene. Zum Schutz des Waldes wurden besonders die Großen Roten Waldameisen (Formica rufa) geschützt; Lockstofffallen (Pheromonfallen mit dem artspezifischen Sexuallockstoff) wurden entwickelt, um rechtzeitig Bestandszunahmen bei den Schädlingen zu bemerken. Ab einer Häufigkeitsschwelle wurde dann Gift angewandt. Es kam zum großen, aber recht kurzen Siegeszug von DDT (Dichlordiphenyltrichloräthan), das als umfassendes Insektizid wie ein Wundermittel zur Vernichtung der Malariamücken in den Tropen, der Obstbauschädlinge in 258
den Gärten, der Läuse, Flöhe und Wanzen in den Häusern und eben auch der Schadinsekten in den Wäldern eingesetzt wurde. Schon in den 1950er Jahren traten die verheerenden Nebenwirkungen so deutlich zutage, dass ein einzelnes Buch, der Bestseller von Rachel Carson Der stumme Frühling, die Welt aufmerksam machte und die Ära des Umweltschutzes einleitete. DDT und seine Abbauprodukte waren in unerwartet hohen, von Fachleuten als gefährlich eingestuften Mengen in der menschlichen Muttermilch, aber auch in den Eiern von Greifvögeln, Pelikanen und anderen Vögeln bis hin zu den Pinguinen der Antarktis wiederaufgetaucht, weil sich seine Rückstände, insbesondere das kaum weniger giftige Erstabbauprodukt DDD, über die sogenannte Nahrungskette anreicherte und im Speicherfett im Körper ablagerte. Die Folge war, dass bei den Vögeln der Kalkstoffwechsel der Eier so gestört wurde, dass diese vielfach beim Bebrüten schon zerbrachen. Die Bestände zahlreicher Großvogelarten gingen alarmierend schnell zurück. Neben vielen anderen Nachwirkungen waren auch Störungen in der kleinkindlichen oder embryonalen Entwicklung zu befürchten, sodass nach einigen Jahren des Kampfes zwischen Umweltschützern und den Nutzern und Herstellern DDT schließlich verboten wurde. Erst nach Jahrzehnten gingen die Belastungen in der Umwelt zurück. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts galt das Problem als gelöst, jedoch nicht das eigentliche, nämlich dass bestimmte Insekten immer wieder Massenvermehrungen durchmachen und dabei große Schäden verursachen. Auch die Malariabekämpfung hatte ein durchaus wirkungsvolles Mittel verloren. Malaria ist seither wieder auf dem Vormarsch und gehört zu den großen Gesundheitsgefahren in der Tropenwelt. Andere Insektizide, Fungizide und sonstige Bekämpfungsmittel wurden und werden in stetem Wettlauf mit den Schädlingen entwickelt, erprobt, zugelassen und oft auch rasch wieder verworfen. So waren hochgiftige, nicht abbaubare Quecksilberverbindungen auch im Forst eingesetzt worden. Die Seen und Flüsse nordischer 259
Wälder in Europa und Nordamerika tragen davon noch immer gefährliche Quecksilberfrachten. Denn am Grundproblem, an den Monokulturen, änderte man fast nichts. Vielartige Mischwälder wären weit weniger schädlingsanfällig. Auch gegen Stürme, Waldbrände und jene neue Gefährdung, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer Großkatastrophe aufgebauscht worden war, waren sie widerstandsfähiger: das Waldsterben. In den 1970er und 1980er Jahren traten in den mitteleuropäischen Wäldern an vielen Bäumen Schäden auf, die große Besorgnis bei den Waldbesitzern und Staatsforsten auslösten. Bei den Fichten lichteten sich die Kronen, die Zweige hingen lamettaartig nach unten, die Nadeln verbräunten vorzeitig und fielen ab. Solcherart stark geschädigte Bäume hatten geringen Holzzuwachs oder gar keinen mehr, bevor sie dem Eindringen von Borkenkäfern zum Opfer fielen und vollends starben. Ein System der Ermittlung der sogenannten neuartigen Waldschäden wurde von den Forstdiensten eingerichtet und danach alljährlich ein Waldschadensbericht vorgestellt. Verursacher war, darüber herrschte schnell Einigkeit, die Luftverschmutzung. Merkwürdigerweise war sie zwar viel schwächer als im 19. Jahrhundert geworden, als noch überall die Schlote rußten und schwarzer Rauch den Himmel über England oder dem Ruhrgebiet verdüsterte. Aber der Autoverkehr hatte zugenommen. Die Natur- und Umweltschützer erklärten ihn zum Feind Nr. 1. Das Waldsterben bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Bei der raschen Zunahme der Schadensgrade, was allerdings hauptsächlich darauf beruhte, dass immer mehr und immer »genauer« beurteilt wurde, prognostizierten einige Waldschadensforscher öffentlich ein Ende des deutschen Waldes zum Ende des 20. Jahrhunderts. In 20 bis 25 Jahren würde, so die damals in den Medien bereitwilligst verbreitete Befürchtung, in Deutschland kein Wald mehr stehen. Viele Millionen D-Mark Forschungsgelder flössen in die Waldschadensforschung. Kritiker, wie der renommierte 260
Münchner Botaniker Prof. Otto Kandier, fanden kein Gehör, denn der Tod des (deutschen) Waldes war längst beschlossene Sache. Der Reihe nach hielt man das Schwefeldioxid (SO2), Stickstoffverbindungen (NOX) und Ozon (O3) für die Hauptschuldigen, verursacht vom Autoverkehr. Aus allen Anschuldigungen wurde nichts, denn der deutsche Wald geruhte nicht zu sterben. Vielmehr hatte er Ende der 1990er Jahre, als es um sein Sterben allmählich stiller wurde, je näher der vorausgesagte Tod heranrückte, massiv an Holzvorrat und sogar auch an Fläche zugelegt. Die Düngung aus der Luft, die jahrzehntelang mit 30 bis 50 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr auf ihn niederging, ließ ihn schneller wachsen und machte manche Bäume wohl auch wegen der erhöhten Wachstumsgeschwindigkeit anfälliger. Trockenheit und Kälte waren dazugekommen. Die ganze Palette von Widrigkeiten stand der Wald durch, verstärkt umsorgt von der Forstwirtschaft, die natürlich Verluste befürchtete (und auf öffentliche Unterstützung hoffte). Inzwischen kümmert sich in der Öffentlichkeit jedoch kaum noch jemand um die alljährlichen Waldschadensberichte. Der Bevölkerung war offenbar auch mit der Zeit aufgegangen, dass die Bäume in den Städten mit ihrer schlechten Luft recht gut wuchsen und dass selbst der extrem trockene und heiße Sommer 2003 den meisten Bäumen und den Wäldern nicht sehr viel hatte anhaben können. Damit geriet der Umweltschutz als äußerst erfolgreiche Bewegung der letzten Jahrzehnte zunehmend in Bedrängnis. Die Zeit des sich Erfüllens vieler Prognosen war gekommen, aber die Befürchtungen traten nicht ein. Tiefes Misstrauen ist aufgekommen. Verhält es sich wirklich so mit der Natur und mit unserer Umwelt, wie die Umweltaktivisten das behaupten und in ihren Weltuntergangsszenarien immer wieder und immer schlimmer herbeibeschwören? War das 20. Jahrhundert, zumal seine zweite Hälfte, wirklich die schlechteste Zeit, die überwunden werden musste oder die jetzt in eine noch viel schlimmere Zukunft 261
überleitet, weil mit dem globalen Wandel und der Klimaerwärmung nichts mehr kalkulierbar sein wird?
25. Umweltschutz, Prognosen und Propheten Wie die persönliche und häusliche Hygiene zu den besonders fortschrittlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts gehört, so kennzeichnet der Umweltschutz als Hygiene unserer Umwelt das 20., insbesondere die zweite Hälfte davon. Zwar rauchten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Fabrikschlote schon nicht mehr so stark wie zu Beginn der Industrialisierung, aber die Luft wurde dennoch rasch wieder schlechter, nachdem sich der Rauch der Bomben und der Staub aus dem Schutt der im Krieg vernichteten Städte wieder verzogen hatte. Höhere Kamine schickten nun die Rauchfahnen in höhere Luftschichten und verteilten die Belastungen. Doch ging das nur bei den großen Fabriken und Heizkraftwerken, nicht aber bei den Kaminen der Häuser, aus denen während der Heizperiode, vor allem bei winterlicher Kälte mit Hochdruckwetterlagen, stinkender Kohlerauch hervorquoll und mit dem Nebel Smog bildete. Wo schwefelreiche Braunkohle verheizt wurde, wie insbesondere in der DDR, schädigte dieser saure Rauch, aus dem sich ›saurer Regen‹ entwickelte, die Atmungsorgane der Menschen. In der Natur draußen zerstörte er die Flechten und stellenweise die Bäume und die ganze übrige Vegetation. Dennoch war es nicht die Luftbelastung mit ihren offensichtlichen Folgen für Menschen und Natur, die Anlass zum Umweltschutz gab und diesen zu einer weltumspannenden Bewegung werden ließ, sondern die Vergiftungen, die von Produkten der Chemie ausgingen. Der Fall des DDT wurde im vorigen Kapitel bereits angeführt. Der stumme Frühling von Rachel Carson löste die Abkehr vom naiven Glauben an die Wunder262
mittel der Chemie aus. Rasch zeigten die eingeleiteten Untersuchungen, wie allgegenwärtig vom Menschen freigesetzte Giftstoffe in den Böden, im Wasser und auch in der Nahrung geworden waren. Die Chemie hatte sich in wenigen Jahrzehnten zu einer globalen Gefahr entwickelt. Plötzlich wurde klar, dass es um ernsthafte Bedrohungen und nicht mehr um Kurioses ging, wie man solches in England entdeckt und auch in den westdeutschen und belgischen Industriegebieten bestätigt gefunden hatte. Dort war, beginnend im 19. Jahrhundert, eine seltene Form (eine Mutante) des häufigen Birkenspanners (Biston betularius) immer öfter aufgetreten. Schließlich war die grauweiße, nur fein schwarz gesprenkelte Normalform die Rarität. In Experimenten konnte gezeigt werden, dass Vögel die schwarze Form auf verrußten Stämmen bei weitem nicht so leicht entdecken wie die sich stark abhebende helle Form – und umgekehrt, wenn die normalfarbenen Birkenspanner auf dem ihrer Flügelgrundfarbe entsprechenden Bewuchs aus Flechten ruhen. Damit zeigte eine eklatante Umweltveränderung erstmals in der Natur die Wirkung der von Charles Darwin entdeckten natürlichen Selektion. Als 100 Jahre später, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die Luft fast keinen Ruß mehr enthielt und die starke Verminderung von Schwefeldioxid das Flechtenwachstum nicht mehr hemmte, nahm die ursprüngliche Form des Birkenspanners wieder zu und verdrängte die schwarze Mutante. Diese hatte auf geänderte Umweltbedingungen genauso reagiert, wie das nach Darwin zu erwarten gewesen war. Aber ausgestorben ist der Birkenspanner deswegen nicht. Als Art hatte er sich lediglich an die neuen Verhältnisse angepasst. Solche Erkenntnisse beunruhigten daher nicht allzu sehr. Sie waren etwas für die Lehrbücher und die Evolutionsbiologen. Die Öffentlichkeit brauchte sich nicht betroffen zu fühlen. Erst als immer mehr Gifte an immer ungewöhnlicheren Stellen, bis hin zur Muttermilch, wie oben ausgeführt im Fall des DDT, festgestellt wurden, weil die Analysetechniken entsprechend verfeinert worden waren, reagier263
ten breite Kreise in der westlichen Bevölkerung. Auf anfängliche Irritationen und frühe Proteste folgte eine politische Umweltbewegung, an der weder die Industrie noch die Politiker vorbeikamen. Doch hier geht es nicht um eine Kurzfassung der Geschichte der Umweltbewegung, sondern um die Frage, wie stark Technik, Chemie und motorgetriebener Verkehr tatsächlich die Natur verändert und beeinträchtigt hatten. Merkwürdigerweise gibt es dazu nur wenige Befunde, die eindeutig genug sind. Deshalb werden die bekannten Fälle wiederholt, wie das DDT, während andere Umweltbelastungen vielfach in der Grauzone blieben, die sich zwischen »möglich«, »wahrscheinlich« und »sicherlich« ausbreitet, jedoch bei genauerer Betrachtung eigentlich nur Messergebnisse geliefert hatten. Was besagten aber so und so viele (wenige) ›ppm‹ oder ›ppt‹ wirklich? Ppm steht für Teile pro Million (parts per million), ppt entsprechend pro Trillion. Als Mengen sind sie so unvorstellbar winzig, dass sie die eindrucksvolle Kleinheit der Zahl wieder groß macht. Die Anreicherung über die Nahrungsketten wurde zum Paradebeispiel für die Wirkung solcher Stoffe in der Natur, die nach ihrer Freisetzung keineswegs verschwinden, sondern irgendwo in unvorhersagbarer Weise weiterwirken und ihr Unwesen treiben. Das Grundschema ist einfach: DDT (oder Reste polychlorierter Biphenyle, abgekürzt PCB genannt) gelangt ins Wasser (oder in den Boden). Dort wird es von Mikroorganismen aufgenommen oder einfach an deren Oberfläche angelagert. Winzig, wie diese sind, benötigen größere Lebewesen, die sich davon ernähren, Tausende solcher Feinstteilchen. Damit reichern sie deren Konzentration schon auf das Tausendfache oder noch stärker an. Zu Tausenden werden die Kleinlebewesen nun von größeren, etwa von Kleinoder Jungfischen, verzehrt. Von diesen ernähren sich, wiederum Hunderte benötigend, größere Fische. So geht es weiter bis zu großen Raubfischen, Fisch- und Seeadlern, Robben oder den Menschen, die sich von Fischen ernähren. Am Ende kommt eine millionenfache Anreicherung zustande. Die Stoffe 264
haben nun eine Konzentration erreicht, von der echte Giftoder Schadwirkungen ausgehen. Der biologische Verstärkermechanismus der Nahrungskette hat das bewirkt. Die starke Abnahme zahlreicher Tierarten, vor allem großer Säugetiere und Vögel, wurde auf diese Giftanreicherung zurückgeführt. Doch es war schwer, ihre Bestandseinbrüche oder ihr regionales Verschwinden allein damit zu begründen, weil andere Veränderungen abliefen und das Ausmaß der direkten Verfolgung oft die größere Rolle spielte. Hilfreich erwiesen sich Vergleiche zwischen den Kontinenten. So wurden in Nordamerika große Greifvögel wie die Weißkopfseeadler (Haliaaetus leucocephalus), der Wappenvogel der USA, und die Fischadler oder die Pelikane praktisch nicht bejagt. In weiten Teilen ihres Vorkommens waren und sind diese Großvögel daher ähnlich vertraut wie in Europa die Weißstörche. Auch bei Großsäugern gibt es entsprechende Unterschiede zwischen anhaltend starker Bejagung mit dem Zweck des »Kurzhaltens« oder nur kurzzeitiger, an der Bestandsentwicklung orientierter Nutzung oder gar keiner jagdlichen Verfolgung. Diese Vergleiche zeigten, dass häufig die direkten Verfolgungen weitaus entscheidender als die Umweltgifte waren, weil sie die gesunden, kräftigen und Überschüsse produzierenden Bestände (auch) betroffen hatten und nicht nur die ohnehin schon geschädigten Tiere. Daher erholten sich nach dem DDT-Verbot die davon tatsächlich stark betroffenen Arten in Nordamerika viel schneller als in Europa. Hier wurde insbesondere bei der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Fall des Eisernen Vorhangs deutlich, wie groß der Unterschied zwischen »West« und »Ost« geworden war. Denn die Länder des Ostens, besonders auch die ehemalige DDR, litten immer noch unter sehr starker, gebietsweise regelrecht katastrophaler Umweltverschmutzung, während der Westen längst schon ziemlich sauber geworden war. Die Luft war zu Beginn der 1990er Jahre von den schlimmsten, von jedem Menschen beim bloßen Atmen spürbaren Belastungen gesäubert. In den Flüssen und 265
Seen konnte man nahezu uneingeschränkt wieder baden, in den Wäldern wurden kaum noch Gifte zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und zwischen den Maisfeldern wollte man ohnehin nicht spazieren gehen. Doch der Kontrast hätte kaum größer ausfallen können. Wo nach wie vor die Schlote ungereinigt rauchten oder gerade erst geschlossen worden waren, wo die Flüsse geschäumt hatten und ihre Giftfracht dem Meer zuführten, wo in flache Seen die gänzlich ungeklärte Brühe von Schlachtereien oder die Abwässer von VEB-Betrieben mit Tausenden von Tieren liefen, gab es alles an Großtieren, was im Westen zum Feinsten und zum auf das sorgsamste gehüteten Artenschatz gehörte. Sogar die so empfindlichen Fischotter, denen die Waschmittelrückstände die Isolationswirkungen ihres Fells genommen hatten, überlebten. Die Biber an Elbe und Mulde schienen mit der schrecklichen Umweltverschmutzung fertiggeworden zu sein. Störche gab es mehr als zehnmal mehr als im Westen. Hier standen einzelne Brutpaare der Seeadler im direkten Grenzbereich zur DDR unter Sonderbewachung durch den Naturschutz, speziell durch den WWF Deutschland. »Drüben« lebten Hunderte Seeadler, und es wurden immer mehr. Die Fischadler (Fandion haliaetus) hatten sich dort zum Großteil Hochspannungsmasten als sichere Nistplätze ausgewählt. Von diesen Masten, die niemand während der Brutzeit erstieg, fiel kaum jemals ein Horst herunter. Das hochgradig belastete Land, wo fast an jedem größeren Wasserloch in den weiten Fluren mit Erfolg Graukraniche (Grus grus) nisteten, erwies sich als reich an seltenen Arten und großartigen Lebensräumen. Die Wiedervereinigung schenkte der alten Bundesrepublik plötzlich Schutzgebiete, wie man sie sich im Westen kaum erträumen konnte. Ganz ähnlich sah es in Polen, Ungarn, Tschechien und den anderen, nun frei und voll souverän gewordenen Staaten des ehemaligen Ostblocks aus. Seit der Öffnung zum Westen ist ihre Natur viel stärker bedroht als vorher, und zwar durch genau jene Maßnahmen und Veränderungen, die dem Westen den Reichtum an Natur gekostet 266
hatte. Das Fazit ist eindeutig: Weit mehr als die Umweltverschmutzung hatte die moderne Landwirtschaft den Artenreichtum der europäischen Landschaften beeinträchtigt und zu starken Rückgängen bei vielen Arten sowie zu flächigen Verlusten von besonderen Biotopen geführt. Im Osten ging es leidlich gut mit dem Nebeneinander von Vergiftung und Belastung landwirtschaftlich genutzter Flächen und solchen, die keiner Intensivnutzung unterlagen. Der Artenschutz hatte sich auf die großen Arten konzentriert und war entsprechend erfolgreich. Wo sich Biber ansiedelten, war nicht zu befürchten, dass sie gleich wieder vertrieben oder getötet würden. Bären und Wölfe, Elche und Luchse überlebten in den Wäldern, in denen nicht wie in Westdeutschland und Österreich private Jagdrevierinhaber möglichst keine Verluste an »ihrem« Wild hinnehmen wollten. Auf stark belasteten, nach westlichen Maßstäben vergifteten Flächen, deren Boden unter die Sondermüllverordnung gefallen wäre, entwickelten sich besondere Gesellschaften seltenster Pflanzen. Kleintiere, allen voran die Insekten und die Kriechtiere, profitierten von der Tatsache, dass solche belasteten Flächen von Intensivnutzungen frei waren. Im Westen gab es zwei Parallelen. Die eine bilden die Bahnhöfe mit ihren Gleisanlagen, die andere die Truppenübungsplätze. Wo die Natur wohl am stärksten denaturiert worden war, auf den Gleiskörpern und ihrem Umfeld in den (Groß-)Städten, und wo auf den Truppenübungsplätzen regelmäßig »Krieg gespielt« wurde, ging es vielen ansonsten bedrängten Arten am besten. Es war zwar folgerichtig und im Interesse der Menschen notwendig, die Belastungen von Nahrung, Luft und Wasser mit Schadstoffen zu vermindern und möglichst ganz auszuschalten, aber diese Vorgehensweise des Umweltschutzes bedeutete keineswegs automatisch, dass damit alle Probleme in der Natur gelöst worden wären. So teilte sich die Welt in der Anfangszeit der Ära des Umweltschutzes global gesehen in zwei Großbereiche. Der fortschrittliche Westen, der dank seiner Wirtschaftskraft zumin267
dest partiell die Belastungen nachhaltig vermindern konnte, und der große Rest, von dem manche geradezu das Recht auf Umweltverschmutzung einforderten, um in der Entwicklung nachziehen zu können. Die Wirkungen auf die Natur, auf die Lebensräume von Tieren und Pflanzen, standen – und stehen – dabei so gut wie nie zur Debatte. Wir stünden sonst ziemlich schlecht da. Denn unsere Erfolge im Umweltschutz schlagen sich bei weitem nicht so in der Umwelt nieder, in der nicht nur wir, sondern auch Pflanzen und Tiere leben, wie sie das sollten und wie es von der Bevölkerung, die für all diese Verbesserungen sehr viel gezahlt hat, erwartet wird. Wie bereits ausgeführt, gehen die Hauptbelastungen in den mitteleuropäischen Landschaften von der Landwirtschaft aus. Es sind die von ihr ausgelöste Überdüngung und die Hilfsstoffe, die ins Grundwasser und in die Oberflächengewässer gelangen, an denen der Umweltschutz nicht angreifen kann, weil die Landwirtschaft von den Einschränkungen und Gegenmaßnahmen ausgenommen blieb. Zwei Hinweise sollen dies verdeutlichen. So müssen alle 82 Millionen Menschen in Deutschland ihr persönliches Abwasser einer höchst kostspieligen Reinigung in modernsten Kläranlagen unterziehen lassen, während die drei- bis fünffache Menge, die von den Schweinen, Rindern und anderen Nutztieren erzeugt wird, gänzlich ungeklärt auf die Fluren gelangen darf und dort als »Wertstoff« eingestuft wird. Wenn, wie in den letzten Jahren immer wieder einmal geschehen, von einem chemischen Betrieb ein paar Kubikmeter eines »die Atemorgane reizenden Gases« austreten oder eine chemische Substanz gar in den Rhein gelangt, wird dies in den Hauptnachrichten im Fernsehen der Öffentlichkeit als Umweltkatastrophe kundgetan. Dass Mitteleuropa mehrfach im Jahr mit drei Schwerpunkten im zeitigen Frühjahr, im Hochsommer und im Spätherbst, fürchterlich zum Himmel stinkt, weil die Gülle ausgebracht wird, ist keiner Erwähnung wert. Ein halbes Jahrhundert Umweltschutz ging einher mit einer Entwicklung der Landwirtschaft zu industriebetriebs268
gleicher Bewirtschaftung. Die traditionell als Industrien eingestuften Betriebe wurden strengen Auflagen unterworfen, die industrialisierte Landwirtschaft jedoch nicht, obgleich sie mit Abstand am stärksten in der Fläche wirkt. Wer immer das für sinnvoll oder unumgänglich halten mag, muss umgekehrt begründen, warum die Einschränkungen für die klassischen Industrien und für die Bevölkerung insgesamt zumutbar gewesen sind. Auf welcher Basis wird geurteilt? An dieser Frage drückt sich das Kernproblem des Umweltschutzes aus. Die Standards sind menschengemacht. Sie ergeben sich nicht von selbst aus der Natur. Denn diese ist nicht, wie von der großen Mehrzahl der Natur- und Umweltschützer angenommen wird, ein geschlossenes, wohlgeordnetes Haus der Natur, sondern offen und veränderlich. Urteile von vorgestern stellen sich häufig genug als Vorurteile heraus. Das wäre nicht weiter schlimm, könnten wir die Vorurteile im Bedarfsfall rasch wieder korrigieren. Doch dem ist nicht so. Der Umweltschutz liefert zu dieser gänzlich ungelösten Problematik jede Menge Beispiele. So war es nicht möglich, bei der Wiedervereinigung Deutschlands westliche Standards schnell und realitätsbezogen an die ostdeutschen Verhältnisse anzupassen. Ostdeutschland, Tschechien und Polen waren uns offenbar zu nah. Sie sollten durch Umweltstandards »werden wie wir«. Was China macht, interessiert viel weniger. Sicher ist es richtig, dass Umweltschutz in manchen Bereichen einen globalen Ansatz nötig hat. Die Luft zirkuliert, ohne sich an Grenzen zu halten. Die Reichweite beim Wasser ist schon beschränkter, wenn es sich um ein Flusssystem handelt, oder bleibt lokalisiert, wie im Fall von Seen. Am stärksten orts- oder nahbereichsbezogen sind Einwirkungen auf den Boden oder der Lärm. Infolgedessen wurde am meisten in diesen Nahbereichen erreicht, gleichwohl gespickt mit Ausnahmen, etwa wenn riesige Traktoren zu den Ruhezeiten betrieben werden, obwohl es nicht um das Einbringen von Ernte vor einem nahenden Unwetter, sondern um das Ackern in der Nacht oder am Sonntagvormittag 269
geht. Für die »Natur« bleiben jedoch solche Belastungen, die zweifellos viele Menschen stören, ärgern oder gesundheitlich beeinträchtigen, zumeist reichlich bedeutungslos. Wiederum demonstrieren dies Erfahrungen aus den Truppenübungsplätzen, wo auch scharf und vor allem sehr laut geschossen wird, wo Panzer und Geländefahrzeuge umherrasseln – und beim Wild nicht einmal mehr ein Anheben des Kopfes verursachen. Die Sicherheit, dabei selbst nicht erschossen zu werden, ist ungleich wichtiger als der Lärm. Der hohe Artenreichtum und die vielfach auch sehr hohe Siedlungsdichte der Vögel in den Großstädten bestätigt dies in vergleichbarer Weise. Wenn mitten in Berlin am Rande des brausenden Verkehrs die Nachtigall singt, so drückt dieses Vogellied, wie andernorts die Gesänge der Amseln, deutlich genug aus, dass ihre Umwelt nicht unserer gleichzusetzen ist. Umweltschutzmaßnahmen »dienen« daher nicht automatisch der Natur. Der Naturschutz muss, sofern er die Erhaltung und Förderung freilebender Tiere und Pflanzen als eines seiner Hauptziele betrachtet, auch Umweltschutzmaßnahmen kritisch betrachten und auf ihre »Naturverträglichkeit« hin überprüfen dürfen. Nicht alles ist gut, was uns gut dünkt. Ein verdeckter, höchst bedeutsamer Zug im modernen Umweltschutz besteht darin, mit den auf Menschen bezogenen Umweltzielen gleich auch festgelegt zu haben, was »für die Natur gut« ist. Die Natur wurde dazu aber nicht befragt. Das beginnt bei so Unverdächtigem wie sauberem Wasser von Trinkwasserqualität, in dem die allermeisten Lebewesen des Süßwassers gar nicht leben könnten, und endet bei solch althergebrachten Vorurteilen, dass das Wild »wild«, also scheu sein müsse, sonst sei es kein Wild. Dass die Scheuheit den größeren Säugetieren und Vögeln aber sehr viel möglichen Lebensraum nimmt, wird dabei nicht mehr berücksichtigt. Die Naturfreunde fahren in ferne Länder, wo sie vertraute Großtiere derselben Arten, die auch in Mitteleuropa vorkommen, in aller Ruhe beobachten und fotografieren können, weil dort 270
der Mensch nicht als Feind der Tierwelt empfunden wird. Das 20. Jahrhundert brachte global viele Nationalparks und Naturschutzgebiete, aber keines in Mitteleuropa, wo wir die Natur so erleben können wie in fernen Reservaten. In der Zeit des Natur- und Umweltschutzes hat man uns durch eine Fülle von Verboten und Einschränkungen geradezu naturentfremdet. Ihr Sinngehalt mag zwar nachvollziehbar sein, aber an Nachprüfung ihrer Notwendigkeit und Wirksamkeit mangelt es. Vielleicht sollte verhindert werden, dass die Natur in ihrer Vielfalt und Dynamik allzu direkt erlebt wird. Denn wer sich der Veränderungen, die in Jahrzehnten ablaufen, bewusst ist, wird nicht so leicht auf wohlfeile, aber falsche Argumente hereinfallen. Dann sind die Silberreiher, die allmählich wieder häufiger geworden sind, kein Zeichen einer Klimaerwärmung mehr, sondern der Beweis dafür, dass früher zu viele um ihrer Schmuckfedern willen unmittelbar zu Beginn der Brutzeit abgeschossen worden waren. Niemand wird die Zunahme der zweifellos »nordischen« Seehunde im Wattenmeer auf das kältere Klima der letzten drei Jahrzehnte zurückführen. Denn das würde nicht »passen«. Warum dennoch immer wieder so offensichtlich Falsches verbreitet wird, liegt auf der Hand. Es geht um die »gute Sache«. Dafür ist (fast) jedes Mittel recht. Der uninformierten Gesellschaft kann man nahezu alles erzählen, wenn es nur irgendwie zu passen scheint. Dass damit das Anliegen selbst in Misskredit gezogen werden könnte, wird billigend in Kauf genommen. Die Vertreter der Warnergilde hoffen auf das Vergessen. Es wird ihnen fast immer gnädig sein. Denn neue Nachrichten verdrängen die alten Vorhersagen, sodass diese ungestraft dem Vergessen anheimfallen können. Wen kümmert es, dass für 2005 in Mitteleuropa ein heißer Sommer vorhergesagt wurde und die Prognose total falsch war. Die Tageszeitungen, die diese Prognose aus Expertenmund in die Öffentlichkeit trugen, haben längst andere Themen. Gleichgültig, wie das Wetter wird, es wird immer »extrem« sein. An eine mehr als dreitägige Wettervorhersage 271
glaubt ohnehin kein vernünftiger Mensch. Die Sucht nach Zukunftswissen, das Propheten zu haben behaupten, steckt offenbar so tief in uns Menschen, dass sich die Wahrsager leichttun. Das habe ich in meinem Buch Die falschen Propheten (2002) ausführlich dargelegt. Drei Prognosen, die von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart die Umweltdiskussion beherrschten, verdeutlichen Vorgehensweise und Fehlschläge. Das »Waldsterben« ist bereits behandelt worden. Der Fehler, der gemacht worden war, lag in der Nennung eines Termins für das Ende (des deutschen Waldes). Die von Kennern vorgebrachte Kritik, sich doch erst einmal mit der Vergangenheit der Wälder und der Waldschäden genauer zu befassen, um die Vorgänge in der Gegenwart besser beurteilen zu können, blieb unberücksichtigt. Der Blick in die Vergangenheit und auf die allgemeinen Entwicklungen in den Landschaften Mitteleuropas, ihre Überfrachtung mit Nährstoffen, die auch das Wachstum der Waldbäume fördern, eingeschlossen, hätte die Problematik relativiert. Das Waldsterben hätte womöglich von Anfang an von einer Katastrophe zur Krise und schließlich zu einer Übergangszeit im ausgehenden 20. Jahrhundert zurückgestuft werden müssen, was allerdings auch mit Einbußen an Forschungsmitteln verbunden gewesen wäre. Die Forschungen ergaben zwar sehr viel Interessantes, aber keinen schlüssigen Zusammenhang mit dem Autoverkehr. Der Wald existiert seit seiner »Todeszeit« weiter – und wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin tun, selbst wenn sich das Klima erwärmt. Einen ganz ähnlichen Fehler, das »Ende« vorherzusagen, machten Dennis Meadows und der ›Club of Rome‹ mit den höchst spannenden Computermodellen und ihren Ergebnissen in den »Grenzen des Wachstums«. Die wesentlichsten Ressourcen der Menschheit sollten danach bereits in den (späten) 1990er Jahren verbraucht worden sein. Die Vorhersage trat nicht ein. Es wurden weit mehr neue Vorräte und Lagerstätten entdeckt, als in den Hochrechnungen angenommen werden 272
konnte. Ein für die Frühzeit solcher Modelle hervorragender Forschungsansatz geriet in Misskredit und führt dazu, dass nun auch andere, neuere und »bessere« entsprechend kritisch betrachtet werden »sollten«. Denn völlig unerwartet kam es im Prognosezeitraum der »Grenzen des Wachstums« zu Ereignissen von weltpolitischer und europäischer Bedeutung: zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums, zur Wende in China und zur Wiedervereinigung Deutschlands. Innerhalb von nur 30 Jahren hatten sich damit die globalen Rahmenbedingungen, zudem auf ein Jahrzehnt konzentriert, grundlegend geändert. Der »siegreiche« Westen stieg in Form des Hauptvertreters, der USA, zwar zur alleinigen Weltmacht auf, blieb aber globalwirtschaftlich vom unterlegenen Rivalen Russland im Hinblick auf die Energieversorgung abhängig. Im Grunde genommen wurde der Westen sogar noch abhängiger, weil mit der Wende in China ein Wirtschaftsaufschwung ohne Beispiel einsetzte, der dieses bevölkerungsreichste Land zum Hauptkonkurrenten um die globalen Ressourcen gemacht hat. Auch das war in den Prognosen nicht enthalten und offenbar von niemandem (in einflussreichen Kreisen) vorausgeahnt worden. Die neuen Rahmenbedingungen am Beginn des 21. Jahrhunderts sehen daher erheblich anders als zu Beginn der 1970er Jahre aus. Trotz des Versuchs zwischenzeitlicher Korrektur in den »Neuen Grenzen des Wachstums« blieb Meadows auf der vorgegebenen Bahn. Das Ziel war offensichtlich zeitlich zu kurz gewählt und ließ daher keine Kurskorrektur ohne grundsätzlichen Vertrauensverlust in die Zukunftsberechnungen zu. Es wäre zu wenig übrig geblieben von den Warnungen vor der schlimmen Zeit, die uns schon zum Ende des 2. Jahrtausends ereilt haben sollte. Besser, viel besser steht es um das dritte Prognosemodell. Es ist letztlich wohl auch der wichtigste Teil aller Zukunftsszenarien. Es geht um die Entwicklung der menschlichen Bevölkerung auf der Erde. Vor Ende des 20. Jahrhunderts war die 5. Milliarde erreicht. Die Bevölkerungsexplosion der Menschheit fand also hauptsächlich in jenen drei Jahrzehnten statt, von 273
denen die »Grenzen des Wachstums« handelten. Die Zunahme der Zahl der Menschen war weitgehend richtig prognostiziert worden. Dass sich das Anwachsen der Menschheit abschwächt, wird nicht nur nicht verheimlicht oder als zu geringfügig abgetan, sondern der Weltöffentlichkeit möglichst wahrheitsgetreu dargelegt. Inzwischen ist ersichtlich, dass auch der Mensch als biologische Art mit seiner »Bestandsentwicklung« dem allgemeinen biologischen Grundmuster folgt, das mit einem nahezu ungebremst exponentiellen Wachstum beginnt und nach Überschreiten der etwa halben Tragkraft der Umwelt (Umweltkapazität) abflacht und auf einen Grenzwert einschwenkt, der dieser entspricht. Dass die Höchstzahl der Menschen wohl erheblich niedriger liegt als ursprünglich befürchtet, gehört gleichfalls zu den guten Nachrichten in dieser Entwicklung, denn das Leben von 10 bis 12 Milliarden Menschen zu sichern eröffnet weitaus bessere Zukunftsaussichten als bei 20 Milliarden oder mehr. Warum aber lief es bei den Prognosen zur Bevölkerungsexplosion besser? Der fachliche Grund ist klar. Die statistische Zuwachsrate hängt von der Altersstruktur der Bevölkerung ab. Diese war in den 1970er Jahren gut genug bekannt. Sie bestimmte das Wachstum für die nächsten Jahrzehnte. Die Verfolgung der globalen Bevölkerungsentwicklung unterlag auch keinen politischen Einschränkungen. Die UNFachleute konnten so gut arbeiten, wie die Daten waren, die aus den Entwicklungsländern kamen. Diese wurden immer besser und daher auch die permanent korrigierten Prognosen immer zuverlässiger. Schon die Ausgangsbasis war als Teilstück eines Entwicklungsprozesses angesetzt und nicht als feste Ausgangsgröße, bei der noch alles (einigermaßen) in Ordnung gewesen war. Den Grundfehler, Letzteres anzunehmen, machten die meisten Natur- und Umweltschützer bis hin zu manchen Klimaforschern, die anhand ihrer Modelle die Zukunft bewerten, ohne ausreichend die Vergangenheit berücksichtigt zu haben. Bei der Erfassung der globalen Bevölkerungsentwicklung gab es keine Einschränkungen, wer berücksichtigt werden darf und 274
wer nicht, wie beim Klimawandel und dem Kioto-Prozess. Wie immer die jeweiligen Zwischenergebnisse ausfallen, sie blieben unverdächtig und neutral. Solche Prognosen tragen die Selbstkorrektur gleichsam fest eingebaut in sich. Sie tragen auch keine Verpflichtungen in sich, denn jedem Land bleibt seine eigene Bevölkerungsentwicklung von anderen unbenommen. Solche Prognosen werden für die Zukunft gebraucht! Nicht »verbesserte« Vorhersagen, die einen für uns Lebende nicht mehr nachkontrollierbar fern in der Zukunft liegenden Weltuntergang verkünden. Vielmehr sollten wertungsfreie Verläufe, die beständig mit realen Messungen justiert werden, die Grundlagen für die Beurteilung und für das Mitverfolgen der bevorstehenden oder angelaufenen Entwicklungen liefern. Wo aber von vornherein in gut und schlecht, richtig und falsch unterschieden wird, geraten die Modelle in den Verdacht, zu einer Weltdiktatur zu führen. Die tatsächlichen Entwicklungen, die Prognosen bestätigen, sollten die falschen von den zuverlässigen Propheten scheiden, und nicht die Absichten zur Weltverbesserung, die vorgegeben werden. Dass wir Prognosen nötig haben, steht außer Frage. Die Welt ändert sich. Es wäre absurd, die Fortdauer eines festen Zustandes annehmen zu wollen. Vielleicht ist das Tempo der Veränderungen gegenwärtig tatsächlich besonders hoch; vielleicht dünkt es uns auch nur so, weil wir hier und jetzt und nicht mehr im 19. Jahrhundert leben, in dem sich so vieles so unfassbar schnell verändert hatte. Der letzte Teil soll daher einem Ausblick auf andere Großregionen der Erde gelten. Denn eines ist wohl ziemlich sicher: Die Zukunft wird nicht von Europa, schon gar nicht von Mitteleuropa oder Deutschland abhängen.
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Globaler Ausblick
26. Asien, Ozeanien, Amerika Die Geschichte und auch die Naturgeschichte von Europa kennen wir am besten. Nur China bietet im globalhistorischen Bereich eine vergleichbare zeitliche Tiefe. Zur Naturgeschichte lässt sich den historischen Zeiten Chinas jedoch erheblich weniger entnehmen, als wir es von Europa gewohnt sind. Sehr früh schon veränderten dort die Menschen die Natur. Das riesige Land wird seit Jahrtausenden intensiv landwirtschaftlich genutzt. Die Größe und auch die Komplexität des Reichs der Mitte halten nach wie vor die Umwelthistoriker von einer vertieften Betrachtung ab. Zu vielfältig sind allein schon die historischen Gegebenheiten und die kulturhistorischen Vorgänge. Das mag wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass Jared Diamond (2006) in seinem landeskulturgeschichtlichen Werk über den Zusammenbruch von Zivilisationen die Veränderungen in China nicht behandelte, wohl aber in Ausschnitten die Waldgeschichte Japans. Seine Beispiele von Zusammenbrüchen oder erfolgreichem Überleben von Zivilisationen beziehen sich direkt oder indirekt auf seine Heimat, die USA, und die westliche Zivilisation. Sie bieten sich geradezu an, aus dem hier gewählten naturgeschichtlichen Blickwinkel erneut betrachtet zu werden. Jared Diamonds Kernfrage richtet sich auf die Gründe für den Untergang von solchen Zivilisationen, die jahrhundertelang floriert hatten. Er stellt ihnen andere gegenüber, die überlebten, um aus dem Vergleich Aufschlüsse auf die Ursa276
chen zu bekommen, die seine Schlussfolgerungen bekräftigen. Vier Zivilisationen, die ziemlich plötzlich zugrunde gingen, wertet Diamond als Beispiele für falschen Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Sie bilden eine merkwürdige Reihe. Diese beginnt auf der Südhalbkugel mit der extrem isolierten Osterinsel und setzt sich über den Untergang der Maya-Zivilisation auf der Halbinsel Yukatan in Mexiko und den AnasaziIndianern im heutigen Neumexiko der USA fort. Sie endet auf der Westseite Grönlands mit dem Untergang der Wikinger. In diese geographische Reihe passt auch die Nasca-Kultur an der Küste von Peru, von der die merkwürdigen, in ihrer Bedeutung bis heute umstrittenen Scharrbilder auf der steinigen Pampa übrig geblieben sind. Durch sie waren die Archäologen auf die eigentliche Kultur im Ingenio-Tal und die dortigen Tausende von Gräbern aufmerksam geworden. Grabräuber hatten diese allerdings längst geplündert. Die »Scharrbilder«, die durch Entfernen der zumeist etwa faustgroßen Steine erzeugt worden waren, beeindrucken in mehrfacher Hinsicht. Man kann sie vom Boden aus gar nicht sehen. Der Betrachter muss sich in die Höhe begeben (können), um zum Beispiel einen Kolibri von 180 Meter Länge oder einen kaum kleineren Kondor als Linienbild erkennen zu können. Auch die »Pisten«, die als kilometerlange, über weite Strecken schnurgerade Linien gezogen worden waren und am Beginn verbreitert sind, müssen vom Sand freigemacht werden, damit man davon etwas sieht. Daran liegt es, dass sie erst vor gut einem halben Jahrhundert entdeckt wurden. Rätselhaft wie ihre Größe, die sie am Boden unsichtbar macht, ist auch die Funktion dieser Scharrbilder. Archäologen rechnen sie der Gruppe von Erdzeichnungen (Geoglyphen) zu. Wozu sie einstens gut gewesen waren, weiß niemand. Ich komme darauf weiter unten zurück. Zunächst möchte ich begründen, warum die Nasca-Kultur in die von Jared Diamond gewählte Serie mit einbezogen werden sollte. Dafür gibt es »sichtbare« und plausible Gründe. Die sichtbaren ergeben sich bei einem Blick auf die Osterinsel und nach 277
Yukatan. Die Osterinsel wurde deshalb so weltberühmt, weil dort riesige Kopfstatuen, die aufs Meer hinausblicken, errichtet worden waren. Ihre Gesichtszüge sehen nicht sehr polynesisch aus, obgleich die ursprünglichen Besiedler der Osterinsel, die zu den abgelegensten Inseln überhaupt gehört, sicherlich der polynesischen Menschengruppe zuzurechnen waren. Der schwedische Forschungsreisende Thor Heyerdal hatte daher eine Verbindung zu Südamerika angenommen und diese mit seiner spektakulären Fahrt in dem aus Binsen vom Titicacasee in den peruanisch-bolivianischen Hochanden gefertigten Boot Kon-Tiki zu beweisen versucht. Wie die Scharrbilder von Nasca sind auch die aufgestellten Köpfe auf der Osterinsel von einer weit über das Normalmaß hinausgehenden Größe, sodass man sie, wären sie in Europa, ganz selbstverständlich den frühen Megalithkulturen zugerechnet hätte. Riesenhaftes errichteten auch die Maya auf Yukatan mit ihren Pyramiden, die gleich nach der Entdeckung im Urwald, der sie in den vergangenen Jahrhunderten überwuchert hatte, mit den Pyramiden von Ägypten in Verbindung gebracht wurden. Großartiges im unmittelbaren Wortsinn leisteten die AnasaziIndianer in den Trockengebieten im südwestlichen Nordamerika mit ihren für den ganzen nordamerikanischen Kontinent einzigartigen komplexen Wohngebäuden, die sie an und in den Felswänden der Canyons errichteten. Alle übrigen nordamerikanischen Indianer lebten nach dem Grundtyp des Tipis der Prärieindianer in einfachen, zeltartigen Konstruktionen, die mit Büffelhäuten oder pflanzlichem Material beschichtet waren und mobile Behausungen darstellten. Die Gebäude der Anasazi blieben die größten nordamerikanischen Bauwerke, bis die Europäer Wolkenkratzer errichteten. Nicht so recht passt in diese Reihung untergegangener Kulturen die Ansiedlung der Wikinger auf Grönland, denn diese fertigten auf altnordische Weise ihre Stein- und Grassodenhäuser und Ställe ohne bauliche Besonderheiten, oder sie zeigten dabei gar keinen Hang zum Megalithischen. Sie lebten auch nach 278
Art der Dänen von der Viehhaltung und von einem zwar bescheidenen, aber immerhin funktionierenden Ackerbau. Jared Diamond sieht in diesem Beharren auf dem Althergebrachten, auf ihrem dänisch-skandinavischen Lebensstil, den entscheidenden Grund für ihr Scheitern. Denn die Inuit (Eskimos), die den grönländischen Wikingern zeitweilig benachbart waren, überlebten dank ihrer Ausrichtung auf das Meer. Sie nutzten Robben und Fische, während die dänischen Wikinger von Milch, Getreide und Fleisch leben wollten. Diamonds Schlussfolgerung reizt aus folgenden Gründen zum Widerspruch. Die Wikinger waren mit guten Schiffen nach Grönland gekommen. Sie hatten rund ein halbes Jahrtausend erfolgreich gesiedelt. Mit Werkzeugen und Geräten aus Eisen waren sie den Eskimos, die sie recht abfällig ›Skraelinge‹ genannt hatten, klar überlegen. Trockene Kälte ist leichter als die nasskalte auf dem Meer zu überstehen, wenn der Sturm das Seewasser in die Schiffe peitscht und die Kleidung durchnässt, bis sie trotz des hohen Salzgehaltes gefriert. Die Wikinger hatten jahrhundertelang die Nordmeerküsten befahren. Von der Ostsee aus gelangten sie bis ins kontinentale Russland hinein, wo sie am Dnjepr mit Kiew ihre größte Stadt gründeten. Sie waren an allen europäischen Gestaden des Atlantiks und Mittelmeeres gefürchtet. Ihre Stärke lag in den blitzschnellen Überfällen. Sie hatten, wie schon ausgeführt, von Grönland aus mit Sicherheit auch die nordöstliche Küste von Nordamerika erreicht, wo sie der Übermacht der Indianer weichen mussten, weil es ihrer zu wenige waren. Daher leuchtet es nicht ein, dass die Wikinger zugrunde gegangen sein sollten, während die Eskimos überlebten, nur weil sie als Dänen nicht imstande waren, sich auf eine andere Ernährung umzustellen. Jared Diamond führt als Ursache für die Schwierigkeiten der Wikinger zwar die Klimaverschlechterung an, misst dieser aber nicht die entscheidende Bedeutung für den Untergang der Wikinger zu. Er berücksichtigt nicht, dass es massive Gründe für den Machtverlust der Dänen und Schweden gegeben haben musste, die zur Zeit 279
des Scheiterns der Wikinger auf Grönland schon ihrerseits südwärts vordrangen. Parallelen zur Gotenexpansion drängen sich auf. Ein Jahrtausend früher waren diese bis an das Schwarze Meer und nach Süditalien gezogen. Die Wikinger Grönlands waren lediglich eine extrem randliche Ansiedlung von Nordgermanen. Auf Verbindungen zu Island und zum Mutterland waren sie nur im Hinblick auf die Versorgung mit bestimmten Gerätschaften angewiesen. Vielleicht sollte man stärker die Gründe für die anfängliche Ausbreitung berücksichtigen, um das spätere Scheitern verstehen zu können. Nun nützen aber Zweifel wenig, so wichtig sie auch sein mögen, wenn keine bessere Lösung des Rätsels angeboten werden kann. Um zu einer vielleicht überzeugenderen Erklärung zu kommen, die nicht mehr nur für die Wikinger allein plausibel ist, sondern möglichst umfassend zutrifft, greifen wir wieder zurück in den fernen Südpazifik. Dort hatte sich im selben historischen Zeitraum, in dem sich die Wikinger im Norden ausbreiteten, die Polynesier aufgemacht und so gut wie alle Inseln dieses Ozeans besiedelt, der mit seiner Größe mehr als ein Drittel der gesamten Oberfläche der Erde einnimmt. Die polynesische Expansion war ein Vorgang, der insgesamt Jahrhunderte dauerte. Zu den letzten Inseln, die erreicht worden waren, gehört Neuseeland im tiefen Süden. Die Gruppen, aus denen die Maori hervorgingen, gelangten wahrscheinlich im frühen 14. Jahrhundert dorthin. Erstaunlicherweise fällt dies zeitlich genau in den Beginn eines klimatischen Einbruchs in das mittelalterliche Klima-Optimum Europas, zu dem es um 1300 gekommen war. Das »Zwischentief«, das vielfach dokumentiert worden ist, wird als Wolf-Minimum bezeichnet. In Europa hatte es die ersten großen Pestepidemien und im Sommer 1342 weithin die größten Hochwasserkatastrophen gebracht. Die veränderte Witterung löste von 1313/17 an eine Serie von Hungersnöten in Europa aus, die auf Missernten beruhten. In China veränderte zur selben Zeit der Gelbe Fluss, der Hwangho, um 1350 durch gigantische 280
Hochwasser seinen Lauf und brachte Millionen (!) Chinesen den Tod. Schon 1338 war im Fernen Osten die Pest auch auf China übergesprungen. Ab 1351 unterminierten die Bauernaufstände in China die Herrschaft der Mongolen und führten nach deren Sturz 1368 zur Etablierung der Ming-Dynastie (Geiss 2006). Nach diesen nur schlaglichtartig aneinandergereihten Befunden ist es doch recht wahrscheinlich, dass auch die Bevölkerungsverschiebungen im Pazifik von Umstellungen in den Großwetterlagen ausgelöst worden sind. Schließlich kommen die Taifune und die großen Wassermengen der Monsunregen vom Pazifik nach Ost- und Südostasien hinein. Die Ausbreitung der Polynesier und die Besiedlung der Osterinsel passen zu diesem großklimatischen Hintergrund. Wenn es nun aber zutreffen sollte, dass die Maori aus »Hawaiki« stammen, und diese Herkunft mit den Inseln Hawaii, Cook und Tahiti in Verbindung gebracht wird, weil es keine Insel dieses Namens unmittelbar, wohl aber starke kulturelle Übereinstimmungen der Maori mit den Polynesiern dieser Inseln gibt, lässt sich daraus ein allgemeiner »Süddruck« ableiten. Die Witterung wäre demnach nicht nur von Europa und bis Ostasien, sondern auch im nördlichen Pazifik im 14. Jahrhundert erheblich schlechter als in den Jahrhunderten davor geworden. Für Grönland trifft dies zweifellos auch zu. Dort ist die Verschlechterung in den Eisbohrkernen unabhängig von den Überlebensschwierigkeiten der Wikinger nachgewiesen. Wir können daher durchaus und in klimatologischer Hinsicht ganz folgerichtig davon ausgehen, dass es sich bei der Klimaverschlechterung gegen Ende des Mittelalters um ein globales Phänomen und nicht nur um eine europäische Besonderheit gehandelt hatte. Entsprechend sollte in der Zeit davor gleichfalls global, zumindest nordhemisphärisch, eine Warmzeit geherrscht haben. Aufbauend auf dieser Annahme lassen sich sowohl die frühe Expansion der Wikinger als auch die Ausbreitung der Polynesier im Pazifik, die Mongolenstürme in Europa und die Mongolenherrschaft in China in einem einheitlichen Bild zu281
sammenfassen. Doch wärmere Witterung in mittleren Breiten bringt allerdings keine günstigeren Lebensbedingungen für die Subtropen mit sich. Im Gegenteil. Wie wir aus der europäischen Klimageschichte ableiten können, ermöglichte das unter der Gunst des mittelalterlichen Klima-Optimums zustande gekommene Erstarken Europas eine Zurückdrängung der islamischen Welt, die geschwächt worden war durch die dortige Ausbreitung der Wüsten, weil die Niederschläge nachließen. Nun ist im Zusammenhang mit dem Untergang der Maya in der nördlich randtropischen Zone von Yukatan eine längere Periode sehr trockener Witterung belegt. Sie setzt dort ein, als schon weiter im Süden, jenseits des Äquators, die Nasca-Kultur zugrunde gegangen war. Kurz vor dem Ende der ausgeprägten mittelalterlichen Trockenheit in den Subtropen brach die Maya-Kultur zusammen. Der Untergang der nördlicheren, schon jenseits des nördlichen Wendekreises gelegenen Anasazi-Kultur folgte ihr nach. Der innere Zusammenhang ergibt sich bei Betrachtung der Art dieser Kulturen. Sie waren alle drei Ackerbaukulturen vom Oasentyp, die sehr stark von den Niederschlägen abhingen. Auf Yukatan waren es die zum Teil nur unterirdisch wasserführenden, verkarsteten Kalkflächen, auf denen der sehr wasserbedürftige Mais angebaut wurde. Die Nasca- und Anasazi-Kultur waren regelrechte Flussoasenkulturen, ähnlich den viel bekannteren an Nil und Indus, und somit ganz anders als die Landwirtschaft an den ostasiatischen Strömen. Denn anders als dort in Ostasien grenzten die von den Flüssen bewässerten Täler, wie auch in der Gegenwart, an wüsten- oder halbwüstenhaftes Gelände. Die landwirtschaftlichen Erträge hingen vom Wasser der Flüsse ab, das diese aus fernen Gebieten erhielten. So war die Nasca-Kultur auf das Wasser angewiesen, das aus den Bergen der Hochanden kam. Was aus »der Ferne« kommt, lässt sich schwer durchblicken. Oft bleibt es unverstanden, weil kein direkter Zusammenhang erkennbar wird. So gerät das Phänomen ins Übernatürliche. Und dieses muss günstig gestimmt 282
werden. Für die Menschen von Nasca können wir nur Vermutungen dazu anstellen. Besser bekannt sind die Verhältnisse, die bei den Mayas geherrscht hatten. Diese pflegten für unsere Begriffe unglaublich grausame Opferrituale, mit denen die Gottheit(en) günstig gestimmt werden sollte(n). Sie erinnern in mancher Hinsicht an den Baal-Kult der Phönizier, deren Gott ein menschenfressendes Ungeheuer war. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Problemen innerhalb der betreffenden Bevölkerungen, die als »Menschenfresser« eingestuft wurden oder bei denen Menschenopfer regelmäßig in größerem Umfang auftraten, drängt sich auf, ohne diese Problematik hier vertiefen zu können. Vielmehr dient sie als Hinweis auf Schwierigkeiten, die in den meisten anderen Regionen der Erde anscheinend nicht aufgetreten sind; zumindest nicht in so bedeutendem Umfang. Denn Menschenopfer und Kannibalismus können auch mit einem nicht mehr kontrollierbaren, nicht mit den verfügbaren Nahrungsmitteln in Übereinstimmung zu bringendem Bevölkerungswachstum bzw. mit eklatantem Proteinmangel zusammenhängen. Wo es um Wachstum und Überschüsse an Menschen, aber Mangel an Grundnahrung geht, stellt sich die Frage, ob es dort keine pflanzlichen Mittel für Schwangerschaftsverhinderung und frühzeitige Abtreibungen gegeben hat. Das Töten von Neugeborenen ist in den verschiedensten Kulturen häufig praktiziert worden, verhinderte aber nicht, dass die Mütter dieser Kinder mit ihren Schwangerschaften bereits knappe Ressourcen verbraucht hatten. Das Opfern von Jungfrauen wirkt sich, in entsprechendem Umfang durchgeführt, am stärksten bremsend auf die Bevölkerungsentwicklung aus. So brutal das klingt, verschiedene Anzeichen weisen darauf hin, dass bei den Maya die Frauen- und Geburtenüberschüsse durch die Blutopfer reguliert wurden. Ein solches Vorgehen, religiös gerechtfertigt und erträglich gemacht durch die rituellen Opferungen, passt auch zu den häufigen Kriegen, welche die Maya mit ihren Nachbarn zu führen hatten. Die Kämpfe dürften vor allem die Zahl 283
der jungen, kräftigen Männer vermindert haben. Umgekehrt sollten gerade junge, hübsche und »reproduktionskräftige« Frauen den Feinden möglichst nicht in die Hände fallen, denn diese hätten dem Feind mehr genutzt, als die Verluste an Männern geschadet hätten. Die bis in die jüngste Vergangenheit praktizierten Frauenräubereien und Stammeskämpfe der Yanomamö-Indios im nordöstlichen Südamerika, die Biocca (1971) und andere beschrieben hatten, zeigten diese Abläufe in aller Deutlichkeit – auch hinsichtlich ihrer regulierenden Wirkung auf die Bevölkerungsentwicklung. Es ist also auch nach diesen Befunden sehr wahrscheinlich, dass die Maya aus klimatischen Gründen ums Überleben kämpften. Ein Großteil der Darlegungen von Jared Diamond passt dazu. Doch hätten sie sich umstellen können? Das ist die Frage angesichts der Vorgänge weiter im Süden in der Nasca-Zivilisation und bei den nördlicheren, später von den klimatischen Veränderungen unmittelbar betroffenen Anasazis. Über den Verlauf des Untergangs der Nasca-Kultur wissen wir so gut wie nichts. Aber ihre Bilder, die sie auf den flachen Boden der Pampa oberhalb ihres fruchtbaren Tales »zeichneten«, verraten vielleicht ein wenig mehr darüber. Denn wenn sie vom Boden aus nicht zu sehen gewesen waren, von wo aus dann? Die wabernde Luft der Nasca-Ebene eignet sich nicht sonderlich gut für die Betrachtung riesenhafter Bildern von fernen Berghängen aus. Ungleich besser sind Geoglyphen an Hängen zu sehen. Solche gibt es in der Nähe von Nasca. Der bekannteste ist der aufs Meer hinaus gerichtete Kandelaber an der Halbinsel Paracas. Für draußen auf dem Meer fahrende Schiffe mag so ein Bild an der völlig vegetationslosen Anhöhe hinter dem Strand eine ähnliche Bedeutung gehabt haben wie ein Turm an unseren Küsten. Der Kandelaber ersetzt ein nächtliches Leuchtfeuer natürlich nicht, das für Schiffe, die aus küstenfernen Gewässern zurückkehren, viel wichtiger wäre. Unter Berücksichtigung dieser Umstände gewinnt eine völlig andere Interpretation Gewicht, die der deutsche Physiker Helmut Tributsch (1988) 284
vorgeschlagen hat. Bei bestimmten Wetterlagen spiegeln sich diese Bodenbilder, wie auch der Kandelaber am Hang an der Küste, an tiefen, einheitlichen Wolkenschichten. Dann kann man sie, zwar vielleicht etwas verzerrt, aber dank ihrer eindrucksvollen Größe wirklich sehen. Dieser Fata-Morgana-Effekt erscheint zwar plausibel, wirft aber sogleich die Frage auf: Wozu? Man macht solche aufwendigen Bodenbilder doch nicht ohne einen vernünftigen Grund, auch wenn dieser, wie bei den Opferpyramiden der Maya mit grausamen Riten verbunden sein kann. So einen Grund liefert nun aber die Oasenkultur mit ihrer Abhängigkeit von fernen Niederschlägen. Wie sollten sich die Menschen weit unten im Tal nahe der Pazifikküste – rechtzeitig (!) – darauf eingestellt haben, wenn sie nicht sehen konnten, dass es oben in den Hochanden regnet? Vor diesem Problem standen in ganz ähnlicher Weise die alten Ägypter, als sie das Eintreffen der Nilflut vorhersagen sollten. Ihre Lösung fanden sie über die Astronomie. Der Jahresgang der Sterne versetzte sie in die Lage, die Jahreszeiten recht zutreffend zu kalkulieren. Damit gelang es ihnen, das für ihre Landwirtschaft in der Flussoase des Niltales unvergleichlich wichtigere Sonnenjahr von den früheren Mondzyklen zu lösen. An der südamerikanischen Westküste des innertropischen Bereiches von Peru geht das nicht, denn es lastet den Großteil des Jahres eine ziemlich geschlossene Nebeldecke über dem Meer und deckt als Garrua das Land bis zum Anstoß der Nebelwolken an die Berge ab. Verursacht wird der Nebel vom kalten Meer vor der Küste. Den Bewohnern von Nasca war somit der freie Blick auf den gestirnten Himmel, wie er fast 4000 Meter höher über ihnen auf der Hochfläche des Altiplano in den Anden möglich war, verschlossen. Die Astronomie konnte ihnen, wie später den »über den Wolken« lebenden Inkas, nicht helfen, die richtige Zeit vorherzuberechnen. Doch wenn sich das Windsystem des Passats von Südost auf Nordost dreht, kommt es hoch oben in den Bergen, wo die Quellen ihres Flusses liegen, zu den starken Regenfällen, deren Wasser 285
mit einiger Zeitverzögerung die Felder unten im Tal versorgen werden. Diese Umstellung im Passat ist die Zeit der Luftspiegelungen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Fata Morgana in den Jahrhunderten der Nasca-Zeit und des europäischen Mittelalters weitaus stärker als in der Gegenwart gewesen ist, weil sich aus jenen Zeiten auch die Berichte von Luftspiegelungen in Nordwesteuropa häufen und Jahrtausende früher, in der noch wärmeren Zeit, als Westeuropa von den Megalithkultur-Menschen besiedelt wurde, möglicherweise auch die Anlässe für die Großbauten gegeben hatten (Tributsch 1988). In gleicher Weise lässt sich die Argumentation für die Sonnenobservatorien oben in den Hochanden und ihre Bedeutung für die Inkas fortsetzen, die ihren Machthöhepunkt erreichten, als die Klimaverschlechterung des 14. Jahrhunderts vorüber war – kurz bevor die spanischen Eroberer ankamen und das Inkareich, wie auch in Mexiko das gleichzeitig erstarkte Reich der Azteken, zerstörten. Doch was sich für kontinentale Verhältnisse hier nachvollziehbar zusammenfügen lässt, scheitert zwangsläufig an der ganz andersartigen Natur kleiner, hochgradig isolierter Inseln. Das Meer gleicht Temperaturunterschiede, zumal im Südostpazifik, zu rasch aus. Dort gibt es auch kaum Stürme. Das größte Meer, dessen Existenz die Europäer entdeckten, als sie die Westküste von Südamerika erreichten, erhielt den Namen »Stiller« oder Pazifischer Ozean aus diesem Grund. Die Japaner, die Bewohner der Philippinen oder ganz allgemein die Südostasiaten wären sicherlich nicht auf die Idee gekommen, dieses Meer, das sie alljährlich mit Taifunen und Regenstürmen überfällt, den »Stillen Ozean« zu nennen. Die Osterinsel liegt nun aber nicht nur im abgelegensten, sondern auch im stillsten Bereich des Pazifiks. Geht aus ihrem Fall wirklich ein Musterbeispiel von Selbstzerstörung einer Zivilisation hervor? Die nähere Auswertung der Chroniken lässt eine ganz andere Interpretation des Zusammenbruchs der Osterinsel-Kultur wahrscheinlich werden. Europäische 286
Schiffe hatten im 17. Jahrhundert vernichtende Krankheiten mitgebracht. Diesen fiel die Bevölkerung größtenteils so urplötzlich zum Opfer, dass Statuen unfertig oder zum Transport bereit im Steinbruch verblieben. Viele andere Beispiele dieser Art gibt es unter den Jahrtausende isolierten Bevölkerungen von Amerika und Ozeanien. Pocken, Typhus und Grippe oder was immer für eine europäische Infektionskrankheit es gewesen sein mag, rafften in so kurzer Zeit einen so großen Teil der Bewohner der Osterinsel dahin, dass sich aller Wahrscheinlichkeit nach die Osterinsulaner nicht selbst ausgerottet haben. Vielmehr stellen sie eines der vielen Opfer dar, die Europas Expansion gefordert hat. Springen wir jetzt, zum Abschluss dieser Betrachtung, zurück zum anderen Ende der Serie, zu den Wikingern auf Grönland. Die Klimaverschlechterung war dort zweifellos der entscheidende Grund für ihr Scheitern. Doch hätten sie auf den Lebensstil der Eskimos überhaupt umsteigen können? Solange nicht geklärt ist, was die asiatisch-amerikanischen Nachbarn der Wikinger gemacht hatten, als das Eis vorrückte und die Fjorde dichtmachte, an denen die Wikinger gesiedelt hatten, bleibt deren »Überlegenheit« bloße Spekulation. Vielleicht gingen auch sie zugrunde, vielleicht zogen sie übers Eis fort in ferne Jagdgründe. Immerhin hatten sie aber als Bevölkerungsgruppe schon Tausende von Jahren unter den arktischen Klimabedingungen gelebt, die diese Menschen sicherlich einer harten Selektion unterworfen hatten. Welche Blutgruppe hatten die Wikinger? Wahrscheinlich zu einem Großteil die Gruppe A, die in ihrer Stammbevölkerung vorherrscht, und nicht 0 wie bei den Eskimos. Waren sie ausreichend mit Vitaminen versorgt? Wie viele von ihnen sind extremen Wintern zum Opfer gefallen, die in der Zeit der Kleinen Eiszeit über sie hereinbrachen? Es macht einen großen Unterschied, ob feste Häuser und schriftliche Chroniken zum Schicksal einer Ansiedlung von Menschen zur Verfügung stehen oder ob eine nomadische Gruppe aus dem weißen Nichts auftaucht, eine Zeitlang in 287
Kontakt mit den Europäern steht und dann wieder in diesem historischen Nichts verschwindet. Solange diese »andere Seite« nicht ähnlich gut dokumentiert ist wie die Wikinger, lässt sie sich auch nicht zum Maß für Erfolg und Scheitern heranziehen. Jedenfalls fielen ganz allgemein den großklimatischen Veränderungen am Ende des Mittelalters in Europa und Asien unvergleichlich mehr Menschen zum Opfer als nur die kleine Randbevölkerung von Dänen an der Westküste von Grönland. Vielleicht wäre es für ihr Leben auf Zeit am Rand des nördlichen Eises aufschlussreicher, die Gründe für die ursprüngliche Ansiedlung der Feuerlandindios während der weitaus wärmsten Zeit nach dem Ende der letzten Vereisung, während des sogenannten Atlantikums, und die für ihren späteren Kulturverfall zu ermitteln. Als Charles Darwin auf seiner Weltreise mit der Beagle dorthin kam, lebten die Feuerländer unter so elenden Bedingungen, dass er meinte, man könne sie kaum dem Menschengeschlechte zurechnen. Dabei bedrängte sie das Eis an der Südspitze von Südamerika bei weitem nicht so, wie es den Wikingern auf Grönland zugesetzt hatte.
27. Afrika und Südeuropa Ist es nicht merkwürdig, wie fern uns das nahe Afrika in beiden letzten Jahrtausenden geblieben ist? Den »Schwarzen Kontinent« hüllte das Dunkel so sehr ein, dass es weiße Flecken auf seiner Landkarte bis ins späte 19. Jahrhundert hinein gab. Australien war als dem alten Europa fernster Kontinent schon fast 100 Jahre früher entdeckt und von Europäern besiedelt worden, während Forscher erneut versuchten, in Afrika die seit dem Altertum so sagenumwobenen Nilquellen und die Mondberge, die Riesenaffen und die Zwergmenschen zu entdecken. Selbst den Süden des afrikanischen Kontinents 288
erreichten die Europäer früher als die »Nahbereiche« südlich der Sahara. Zuerst waren es die Buren, dann verstärkt Engländer und in Südwestafrika schließlich auch Deutsche, die sich als Kolonisten niederließen und Afrika auf ähnliche Weise europäisieren wollten wie lange vorher schon Süd- und Nordamerika. Als globales Muster betrachtet, lief in Afrika genau das ab, was Jared Diamond (1996) in seinem Buch Arm und Reich für den kulturellen Austausch dargelegt hatte. Entlang denselben geographischen Breiten, von Ost nach West und umgekehrt, geht dieser fast mühelos vonstatten im Vergleich zur Richtung quer durch die Klimazonen von Nord nach Süd. Das war auch im vorkolumbianischen Amerika nicht anders gewesen, wo es offenbar nur wenig kulturellen Austausch von Kenntnissen und Errungenschaften über die Tropen hinweg gegeben hatte, obwohl es auf keinem anderen Kontinent eine so ausgeprägte Nord-Süd-Achse (über die Gebirge) gibt wie in Nord- und Südamerika. Sogar in Indien, das vielfach als Subkontinent abgegrenzt wird, kamen weitaus stärkere Einflüsse von Westen (Nordwesten) her als vom Süden, obgleich die Araber im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit schon so gut wie alle Küsten des Indischen Ozeans, Australien ausgenommen, erreicht und beeinflusst hatten. Die Tropen bildeten einen Sperrgürtel für Menschen, ganz ähnlich wie die innertropische Zirkulation der Luftmassen, die an den Wendekreisen endet und eine Südwelt und eine Nordwelt weiträumig voneinander scheidet. Kein Tropensturm kommt in diesem Zirkulationssystem von den nördlichen gemäßigten Breiten, so er diese einmal erreicht hat, über die Tropenzone zurück. Auch über die freien, offenen Ozeane hinweg geht es nicht von Nord nach Süd in die dortigen gemäßigten Breiten. Schon in der frühen Seeschifffahrt waren die tropischen Stillezonen, die Kalmen, gefürchtet. Man musste ein weiträumiges, von der Zielrichtung stark abweichendes Kreuzfahren lernen und zur rechten Zeit praktizieren, bis es gelingen konnte, von der einen auf die andere Seite der Erde zu gelangen. Nicht selten 289
hieß das, die jahreszeitlichen Wechsel abzuwarten. Erst die Ära der Dampfschiffe bereitete diesen Einschränkungen jäh ein Ende. Im modernen Luftverkehr, mit dessen Hilfe sich längst die meisten Menschen interkontinental bewegen, bleiben solche natürlichen Gegebenheiten vollends verborgen. Dabei hatten sie schon seit Urzeiten auch größten Einfluss auf die Ausbreitung von Lebewesen genommen. Arten, die mit Hilfe von Luft- oder Meeresströmungen verbreitet werden, konnten kaum jemals die Tropenbarriere überwinden. Die Richtungen verliefen, grob zusammengefasst, außerhalb der Tropen von West nach Ost, und innerhalb von Ost nach West. Eurasien und Nordamerika weisen daher ungleich mehr gemeinsame Arten oder Gattungen an Pflanzen und Tieren auf als Südafrika und der Norden dieses Kontinents, der direkt an Südeuropa bzw. Vorderasien grenzt. Die Landbrücke zwischen Nordostasien und Alaska, die Bering-Brücke, wurde immer wieder über lange Zeiten vom Meer überflutet und unterbrochen, wie das gegenwärtig auch seit schon mehr als 10000 Jahren der Fall ist. Der Weg durch die Kälte des hohen Nordens nach Nordamerika erwies sich dennoch als viel gangbarer als eine Wanderung durch die Tropenzone in den jeweils anderen gemäßigten Klimabereich – auch für die Menschen, die von Ostasien aus Amerika besiedelt hatten. Solche Gegebenheiten sind deshalb so sehr zu betonen und für den kulturellen Austausch ganz zu Recht von Jared Diamond (1998) auch so hervorgehoben worden, weil sie die immense Bedeutung des Klimas für Lebensformen und Ausbreitung der Menschen bekräftigen. Im tropischen Amerika leben Menschen nordostasiatischer Herkunft seit 10000 oder mehr Jahren. Diese lange Zeit reichte den von uns als Indios bezeichneten Menschen offenbar bei weitem nicht dazu aus, vergleichbar gute Anpassungen an das Leben in der (inneren) Tropenzone zu entwickeln wie Afrikanern im tropischen Afrika. Die Muster, die sich aus der schon mehrere Jahrhunderte währenden europäischen Besiedlung beider großen und einander unmittelbar vergleichbarer 290
Tropenkontinente Afrika und Südamerika ergeben haben, drücken dies bis heute aus. Den Europäern gelangen lediglich kleine, enklavenartige Ansiedlungen im subtropischen Nordafrika. Etwas besser ging es ihnen der Zahl nach im äußersten, klimatisch eher mediterranen Süden Afrikas, wo sie aber dennoch hinter der schwarzafrikanischen Bevölkerung mengenmäßig stark zurückblieben. Dazwischen hat sich in Afrika durch die gesamte Tropenzone hindurch eine ethnisch rein afrikanische Bevölkerung erhalten. In Südamerika teilt sich die weiße Bevölkerung regional gleichfalls sehr ausgeprägt auf und hat ihren absoluten Hauptbereich im außertropischen Süden von Brasilien, Argentinien und Chile entwickelt. Der Norden (Venezuela und die Guyana-Staaten) machen nur wenige Prozent im Vergleich zum Süden aus. In Brasilien konzentrieren sich die Menschen mit weitgehend oder ganz europäischer Abstammung an der Küste, und die lokale Bevölkerung wird anteilsmäßig umso dunkler, je mehr man sich äquatorwärts zur Amazonasmündung hin bewegt. Die aus Schwarzafrika gekommene Bevölkerung stellt auch in der Tropenzone Brasiliens den weitaus größten Teil. Die indianische Urbevölkerung konnte dort der Dominanz der neuen Bevölkerung afrikanischen Ursprungs kaum Widerstand entgegensetzen. Ganz anders verhielt es sich in Afrika, wo auch Inder und Asiaten im »schwarzen Herz« des innertropisch-äquatorialen Kongo keine für sie geeigneten neuen Welten fanden. Betrachtet man die Lebensstile, so wird sogleich klar, dass die tropisch-afrikanische Bevölkerung offensichtlich ganz gut mit den Lebensbedingungen zurechtkommt, während für die indianische Bevölkerung Amazoniens nahezu generell ein starker Verlust an ursprünglich zweifellos vorhandenen kulturellen Errungenschaften anzunehmen ist. Sie haben die sogenannte Steinzeitstufe nachträglich wieder angenommen und nicht etwa ursprünglich aus ihrer nordostasiatischen Heimat mitgebracht. Solche kulturellen Veränderungen, die überhaupt nichts mit Wertungen zu tun haben, aber sehr eng mit den Lebensbedin291
gungen zusammenhängen, die in den betreffenden Lebensräumen vorgegeben sind, drücken das »Arm und Reich« von Jared Diamond im raum-zeitlichen Neben- und Nacheinander aus. Ein guter kultureller Kenntnisstand nützt herzlich wenig, wenn das Wissen unter den örtlichen Bedingungen nicht angewandt werden kann. Die Bedingungen stellt die Natur. Somit ist zu fragen (und bisher offenbar ungeklärt), ob die Indios, die in vorkolumbianischer Zeit in Amazonien lebten, von sich aus und ohne äußere Zwänge in den Regenwald eingewandert sind oder ob sie gleichsam von diesem aufgenommen wurden, als sich die Wälder in den nacheiszeitlich einsetzenden Feuchtzeiten rasch ausbreiteten. Denn während der Eiszeiten, besonders auch während der letzten massiven Vereisung des Wurm- bzw. Weichsel-Glazials, waren die Tropenwälder weithin geschrumpft. Zwischen ihnen hatten sich savannenartige Landschaften ausgebreitet, die weit besser zum Lebensstil der (indianischen) Jäger und Sammler passten als der geschlossene Regenwald. Unter diesen klimatischen Bedingungen war Amerika besiedelt worden und nicht während der nacheiszeitlichen (oder zwischeneiszeitlichen) Warmzeit (des Holozäns). Auch in jener Zeit, als nach Kolumbus die ersten Europäer nach Amazonien kamen, siedelten die Indios keineswegs gleichmäßig verteilt in den amazonischen Wäldern, obgleich diese sehr gleichförmig aussehen, sondern in ganz bestimmten Regionen, die aller Wahrscheinlichkeit nach früher Savannen, zumindest aber recht lichte Wälder gewesen waren. Stellenweise, wie am oberen Xingú in Zentralbrasilien, lässt sich dieses Muster aus Savanne und Wald noch heute erkennen. Dieses weite Ausholen gewinnt besondere Bedeutung, wenn wir das Gegenstück zum tropischen Amerika, nämlich Afrika südlich der Sahara, unter diesem Aspekt großräumiger Wechsel von Feucht- und Trockenperioden betrachten. Denn dort wirkt von Natur aus die Feuchte der inneren Tropen weit weniger stark als im fast dreimal größeren Amazonien. Im Osten schirmen hohe Gebirge, unter ihnen auch die Mond292
berge der altgriechischen Geographie des Herodot, und die ihnen östlich vorgelagerten Hochländer das tropische Tiefland des Kongobeckens vom Passatsystem ab. Die feuchten Luftmassen aus dem Indischen Ozean können nur teilweise mit den Passatwinden von Osten her in den Regenwald Zentralafrikas gelangen. Auf der anderen Seite des Atlantiks liegt vor Amazonien keine Barriere. Die regenschweren Atlantikwolken treibt der Passat Tausende von Kilometern westwärts weiter bis zu den Anden. Für Afrika bedeuten diese geographischen Gegebenheiten, dass schon geringfügige Veränderungen in den innertropischen Zirkulationssystemen und in den globalen Niederschlagsverhältnissen sehr starken Einfluss nehmen auf die Natur. Daher waren während der Vereisungen in den vergangenen Zehntausenden von Jahren die Kongowälder nicht nur viel stärker als die amazonischen geschrumpft, sondern sie erhalten auch gegenwärtig, von wenigen Stellen abgesehen, weit weniger Niederschläge als diese. Die Folge ist ein ausgeprägtes Pendeln von Regen und Trockenzeiten im langjährigen Wechsel. In Zeitspannen von Jahrzehnten kennen wir diesen Wechsel als El-Niño-Zyklen, aber längerfristige Effekte überdecken sich damit. Solche liefen in Afrika viel ausgeprägter als in Südamerika während der letzten Jahrtausende ab. Vor mehr als 2000 Jahren ging es bekanntlich dem Weltreich Roms um den Weizen Nordafrikas, das damals die Kornkammer des Mittelmeerraumes war. Die Verhältnisse in der Sahara spiegeln, auch mit den unterirdischen Seen von »fossilem« Wasser, die jüngere, so wechselvolle Klimageschichte des schwarzen Kontinents. Nach langen Zeiten mit reichen Savannen voller Gazellen und anderen Wildtieren breitete sich in den beiden vergangenen Jahrtausenden die Wüste aus. Im letzten Jahrtausend löste die klimatische Veränderung eine Völkerwanderung großen Stils aus, die Bantu-Wanderung. Sie erfasste und veränderte ganz Afrika südlich der Sahara. Angefangen hatte sie im westlichen Zentralafrika, und die Bantu bewegten sich zunächst ostwärts bis an die großen Seen 293
am Grabenbruch, dem Rift Valley. Dann zogen die Gruppen weiter südwärts. Sie erreichten den südöstlichen Randbereich des Kongowaldes, drangen von dort aus vor in die damals noch großflächig von der pygmoiden Bevölkerung der San (›Buschleute‹) besiedelte südliche Savannen- und Steppenzone und erreichten schließlich erst wenige Jahrzehnte vor Eintreffen der Buren den Kapraum im südlichen Afrika. Einher ging mit dieser Bantu-Expansion eine umfangreiche Vernichtung der kleinwüchsigen Urbevölkerung Afrikas. Ihr Ausmaß übertrifft sogar die Ausrottung der amerikanischen Indios durch die Europäer – und dies geschah fast zur gleichen Zeit in den letzten Jahrhunderten. Da jedoch kein Kontakt zwischen den Bantu im Innern Afrikas und den Europäern vor Beginn von Sklavenjagd und -handel bestand, den ursprünglich vornehmlich die Araber abgewickelt hatten, lässt sich eine direkte Verursachung der großräumigen Bevölkerungsverschiebungen durch die kolonisierenden Europäer ausschließen. Es war der Klimawandel der Kleinen Eiszeit gewesen, der durch die Verlagerung der Regen- und Wärmegürtel globale Wanderungen auslöste. In Afrika trieb die sich ausbreitende Sahara die schwarze Bevölkerung vom Mittelmeerraum weg südwärts in die Tropen, die feuchter geworden waren, und von dort in den großen Süden des Kontinents mit seinen kleinwüchsigen Menschen. Als die Briten und die Deutschen in Ostafrika ankamen und ihre Kolonien, die sie Schutzgebiete oder Protektorate nannten, errichteten, war die pygmoide Bevölkerung bereits so gut wie ausgerottet (Matthiessen 1972). Sie überlebte in Restgruppen ganz ähnlich wie die kulturell schwächsten südamerikanischen Stämme von Indios in den dichten, entlegenen Regenwäldern (die Pygmäen im Ituri-Regenwald des östlichen Kongo) und in den extrem schwierigen Dornbusch- und Trockengebieten der Kalahari (Buschleute oder San). In Südamerika waren die Entsprechungen die Indios im westlichen Amazonasbecken, wo immer noch gelegentlich Gruppen entdeckt werden, die bislang angeblich keinen Kontakt zur Außenwelt 294
hatten, und die Ayoreos (= Moros) der entlegensten Wälder des Gran Chaco. In großzügiger Erweiterung dieser Betrachtung könnte man die Aborigines im nordaustralischen Busch, etwa im heutigen Gebiet des Kakadu-Nationalparks, und die Papuas von Neuguinea als weitere Beispiele für dieses global typische Muster hinzufügen. Damit fällt auch für Afrika und für die anderen Tropengebiete die Vorstellung einer stabilen Welt. Wie seit Urzeiten pulsierte dieser Kontinent im Rhythmus der Zu- und Abnahme der Niederschläge (Reichholf 1990). Sie führten während der großen Trockenzeiten, die sich über viele Jahrtausende ausdehnten, zum Schrumpfen der Wälder und zum Vordringen der Wüsten. In den feuchten Perioden dazwischen dehnten sich die Regenwälder im Kern aus. Die Feuchtsavannen erweiterten sich halbmondförmig um sie herum, und die Trockensavannen sowie die Grassteppen dehnten sich über den subtropischen Raum bis tief nach Asien hinein aus. Sie schufen auf diese Weise die Verbindung zur größten Landmasse und beschickten sie mit Großtieren oder nahmen solche, wie die aus den Prärien von Nordamerika gekommenen Pferde in die Tierwelt Afrikas auf. Dort wurden sie zu Zebras. Ihre Schwarzweißstreifung wirkt wahrscheinlich gegen die blutsaugenden Tsetsefliegen, weil die Streifung für das Fliegenauge den Pferdekörper auflöst. Die Tsetse überträgt auf die dagegen nicht resistenten Pferde Blutparasiten (Trypanosomen), die denen der Malaria ähnlich sind, aber nicht so schnell töten, sondern nach und nach die Kondition schwächen. Beim Menschen nennt man die entsprechende Erkrankung Schlafkrankheit, beim Vieh Naganaseuche. Bezeichnenderweise sind die afrikanischen Wiederkäuer, wie Büffel, Gnus, Antilopen und Gazellen, auch die Elefanten und Löwen, gegen die Trypanosomen immun, nicht aber das Vieh, das aus Vorderasien stammt. Folglich war dieses noch nicht lange den Erregern der Naganaseuche ausgesetzt; jedenfalls nicht lange genug, um Resistenzen zu entwickeln. Auch beim Menschen verhält es sich so. Es gehört zu den besonders spannenden 295
Aspekten der Evolution des Menschen und seiner Ausbreitung in die von den Tsetsefliegen bewohnten Feuchtsavannen und Regenwälder Afrikas, die Wirkung der Tsetsefliegen entsprechend zu berücksichtigen (Reichholf 1990/2004). In historischen Zeiten konnten nomadische Viehzüchter jedenfalls nicht, zumindest nicht für längere Zeit oder gar dauerhaft, den Tsetsegürtel Afrikas mit ihrem Vieh besiedeln. Diese Fliege galt daher als der beste Naturschützer Afrikas, und sie ist vielleicht der Grund dafür, dass dort mit weitem Abstand auch das global reichhaltigste Großtierleben (an Land) erhalten geblieben ist. Ohne die Tsetsefliege hätten die Menschen vielleicht schon vor Jahrtausenden die großen Säugetiere ausgerottet, für die Afrika bewundert und um die es beneidet wird. Dass Großtiere der Savanne noch in jüngerer historischer Zeit auch im Bereich der heutigen Sahara vorgekommen sind, beweisen die zahlreichen dortigen Felszeichnungen, die praktisch das ganze Spektrum der afrikanischen Großtierwelt beinhalten. Heute kommen nur geringe Reste davon Tausend oder Tausende Kilometer weiter südlich im innertropischen Afrika vor. Damit ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Gewährsleute von Herodot und den griechischen Naturhistorikern seiner Zeit tatsächlich bereits die Zwergmenschen, die Troglodyten, aus Afrika gekannt und diese nicht etwa mit Schimpansen oder anderen Menschenaffen verwechselt hatten. Denn Pygmäen waren weithin in Afrika vor zwei- bis zweieinhalbtausend Jahren vor der Bantu-Expansion noch verbreitet. Geradezu sicher können wir aber davon ausgehen, dass das Afrika der Forscher, Abenteurer und Großwildjäger des 19. Jahrhunderts nicht den Urzustand des Kontinents dargestellt hatte, sondern gleichfalls eine Übergangswelt war, nicht grundsätzlich anders als in Europa. Gegenwärtig wird die jüngere Geschichte der Sahara mit neuen Forschungsmethoden rekonstruiert (White & Mattingly 2006). Auf eine sehr lange andauernde, sehr trockene Zeit, in der in Europa, Westasien und Nordamerika die letzte Eiszeit (das Weichsel296
oder Würm-Glazial) herrschte, folgte nacheiszeitlich während der wärmsten Phase in Europa rund 3000 Jahre lang eine Feuchtzeit. Sie wurde vor etwa 8000 Jahren abrupt für knapp ein Jahrtausend unterbrochen und stieg danach noch weiter an mit einer besonders niederschlagsreichen Zeit zwischen 7000 und 4500 Jahren vor unserer Zeitrechnung. Den frühen Beginn des ägyptischen Altertums markiert also das Ende der guten Zeit in der Sahara. Die Wüste dehnte sich aus und wurde zur größten der ganzen Erde (abgesehen von den Eiswüsten der Pole). Doch noch einmal kamen reichlichere Niederschläge zurück, und zwar während des Übergangs zum mittelalterlichen Wärme-Optimum in Europa. In dieser Zeit erhielten, wie schon ausgeführt, auch die arabischen und vorderasiatischen Wüsten weit reichlicher Niederschlag als früher. Dieses bessere Klima leitete die Blütezeit der islamischen Expansion ein, die nicht nur Europa, sondern nahezu den ganzen riesigen Raum von Nordafrika erfasste. Sicherlich wirkte diese arabische Expansion auch auf die Bantu südlich der Sahara, denn von dorther rückten schwarzafrikanische Bevölkerungsgruppen sogleich wieder vor, als sich die Araber teilweise zurückziehen mussten. Es verhielt sich in Afrika somit durchaus ähnlich wie in Europa. Für die Natur Afrikas bewirkten diese massiven Klimaveränderungen zwangsläufig großräumige Verschiebungen der Vegetationszonen und ihrer Tierwelt. Die Löwen, die es noch im klassischen Altertum in Griechenland und Kleinasien gegeben hatte, rotteten sicher nicht Herkules und seinesgleichen alleine aus. Auch dass die Römer für ihre Zirkusspiele offensichtlich keine große Mühe hatten, Löwen aus Nordafrika zu beschaffen, beweist hinlänglich, wie häufig diese damals vor nur 2000 Jahren noch gewesen waren. Entsprechend reichlich muss Beute für die Löwen verfügbar gewesen sein, und diese wiederum konnte es nur in den für Löwen nötigen Mengen gegeben haben, wenn die Savannen und Steppen entsprechend Regen erhielten. Gräser, Huftiere und Löwen bilden gleichsam eine Mittelachse in einem höchst vielfältigen 297
Nutzungssystem, wie wir es heute nur noch an wenigen Stellen in Ostafrika studieren können. Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt, lautet unausweichlich, dass Afrikas Tierwelt seit Jahrtausenden schrumpft. Jahrmillionen lang und allen Klimaschwankungen zum Trotz konnte sich die afrikanische Großtierwelt erhalten und entfalten. Seit dem letzten Jahrtausend geht aber eine ganz neue, von den Menschen stammende Gefahr für sie aus. Sie kam mit dem Vieh aus Vorderasien, und dieses ist zum mit Abstand bedeutendsten Vernichter der afrikanischen Natur geworden. Es trägt Krankheiten in den Kontinent hinein, wie Milzbrand, Rinderpest oder Maulund Klauenseuche. Diese Krankheiten wirken dort ähnlich auf die Wildtiere wie die Krankheiten der Europäer, die bei der Eroberung der Neuen Welt nach Amerika getragen wurden und unter der indianischen Bevölkerung ungleich mehr Todesopfer als die Gewehre und Säbel gefordert hatten. Dass auch das Vieh der Europäer schreckliche Krankheiten mitgebracht hatte, fiel in Amerika kaum auf, weil es fast keine vergleichbaren Säugetiere in Südamerika gegeben hatte und die Europäer in Nordamerika sich die Ausrottung der Indianerbüffel, der Bisons, ohnehin zum Ziel gesetzt hatten. Daher trat das europäische Vieh in Amerika auch bei weitem nicht so stark als Konkurrent auf wie in Afrika. Hier fressen Rinder den heimischen Wildtieren das Gras weg, zerbeißen Ziegen das Buschwerk und erschöpfen die von den Nomaden aufgrund alter Kenntnisse herumgeführten Herden die Wasserlöcher in der Trockenzeit. Es war wohl tatsächlich die Tsetsefliege, die im östlichen Afrika bis hinunter zum Okawango-Delta in Botswana afrikanische Wildtiere erhalten hat, weil sie das fremde Vieh fern genug hielt. Die menschliche Tragödie Afrikas ist nicht allein von Rückständigkeit und Armut bedingt, sondern sie wird auch verursacht von den übergroßen Mengen an Vieh, deren Bestände nicht zur Natur Afrikas passen. Wie in Europa auch. Aber Europa fand nach Jahrhunderten des Hungerns und kleiner, magerer Fleischrationen den »Ausweg« der Im298
porte von Futtermittel für seine noch viel größeren Viehbestände. An ihnen, an den vielen Millionen Rindern, Schweinen und Hühnern in den Mastställen Europas, wird sich die Zukunft der Natur auf den tropischen und subtropischen Kontinenten entscheiden. Die Haustiere sind wirksamer als Veränderungen von Wetter und Klima.
28. Globales Artensterben und Naturveränderung Auf rund 40 Prozent der Landfläche nimmt die Menschheit gegenwärtig starken Einfluss. Doch auch die übrigen drei Fünftel bleiben nicht frei von Auswirkungen menschlicher Tätigkeiten. Spuren von Umweltgiften des späten 20. Jahrhunderts wurden im Eis der Antarktis gefunden. Unberührte Natur im strengen Sinn der Bezeichnung gibt es nicht mehr. An kaum einem noch so entlegenen Ort wird ein Mensch, der dorthin gelangt, annehmen dürfen, noch nie vor ihm hätte ein Mensch seinen Fuß darauf gesetzt und seinen »ökologischen Fußabdruck« direkt oder indirekt hinterlassen. Denn von Menschen freigesetzte Stoffe erreichen die letzten Winkel der Erde und werden auch in den kommenden Zeiten Zeugnis von unserem umfassenden Tun abgeben. Manche Natur- und Umweltschützer betrachten deshalb den Menschen allein als die einzig wirkliche Naturkatastrophe. Ohne ihn ginge es der Natur, ginge es dem ganzen Planeten Erde, viel besser. Doch wo kein Mensch, da auch kein Maß, lässt sich entgegenhalten. Der Mensch ist in diesem Sinne das Maß aller Dinge, da nichts und nirgendwo »gemessen« werden würde, gäbe es ihn nicht. Eine solche Bemerkung soll nun weder die Einzigartigkeit des Menschen betonen noch diesem Lebewesen uneingeschränkt zubilligen, nach seinem Gutdünken zu »messen« und zu werten. Vielmehr soll sie mit Nachdruck auf die Verpflichtung 299
verweisen, Wertungen vorzunehmen. Niedergang und Aussterben von anderen Lebewesen sind »der Natur« auch in unserer Gegenwart gleichgültig wie eh und je. Die Natur verliert nichts, weil sie keine Person im Sinne des Menschen ist. In der Natur gab es Zeiten, in denen das Leben fast zugrunde gegangen ist, und solche, in denen es sich (aus unserer Sicht) herrlich entfaltete. Wer angesichts des Artensterbens in unserer Zeit auf ähnliche oder noch viel größere Katastrophen in der Erdgeschichte verweist, missachtet, dass es die Menschheit ist, durch die der Natur mit ihren Lebewesen Sinn und Zweck verliehen wird. Es mag den Vorfahren der Vögel gleichgültig gewesen sein, dass ihre einstige Verwandtschaft, die Dinosaurier, am Ende der Kreidezeit gänzlich ausgestorben ist, während Jahrmillionen später aus den wenigen überlebenden Vögeln die großartige Mannigfaltigkeit des Vogellebens hervorgegangen ist. Für die Dinosaurier, für manche wenigstens, die auf die Vogelvorfahren Jagd machten, stellten die Vögel kaum etwas anderes als eine mögliche oder erstrebenswerte Nahrung dar. In unserer Zeit sind das Gras und die Blumen auf der Wiese Futter für das Vieh, das darauf weidet und sich nicht an der Schönheit der Blüten erfreut. Die Zunge der Kuh muss lediglich giftig von genießbar unterscheiden und Unbekömmliches meiden. Das Verschwinden von Orchideen auf gedüngten Wiesen stört daher das Vieh nicht nur nicht, sondern die Veränderung als solche könnte von ihm allenfalls begrüßt werden. Würden wir, so wie das Vieh, die natürliche Vielfalt werten, könnten wir tatsächlich auf sehr viel verzichten, weil es nicht unmittelbar von Nutzen ist. Doch die Menschen sind nicht so. Der Blick in die Gärten von Großstädten oder in die Kataloge, die Pflanzen anbieten, zeigt, wie sehr offenbar viele Menschen die Mannigfaltigkeit schätzen. Sie sind bereit, ziemlich viel Geld dafür auszugeben, dass sie nicht essbare Blumen in ihre Gärten oder auf die Balkone bekommen. Sicherlich ist es auch nicht übertrieben zu behaupten, dass in den Wohnungen der Menschen in Deutschland oder in an300
deren Ländern weitaus mehr Tiere unterschiedlichster Arten gehalten werden, als in öffentlichen zoologischen Gärten zur Schau gestellt sind. Tierfutter, nicht nur für solche besonderen Haustiere wie Hund und Katze, wird in einer Vielfalt und Menge angeboten, dass das Angebot in entsprechenden Abteilungen von Kaufhäusern in manchen westlichen Ländern das für Menschenbabys bestimmte Angebot übertrifft. Somit braucht eigentlich gar keine besondere Begründung für Schutz und Erhaltung der Artenvielfalt vorgebracht zu werden. Die Menschen stellen selbst die lebendige Praxis des Interesses an Tieren und Pflanzen dar. Insofern verwundert es nicht, dass in unserer Zeit, dank des uneingeschränkten Austausches von Information, dem Artenschutz großes Interesse entgegengebracht wird. Die Arten, um deren Schutz es geht, sollten nur möglichst »ansprechend« sein. Dann finden sie rasch eine entsprechend große Schar von Verteidigern, die auch bereit sind, Geld für ihre Erhaltung auszugeben. In den erstaunlichen Summen, die für den Artenschutz gespendet werden, kommt auch vom utilitaristischen Standpunkt aus betrachtet klar zum Ausdruck, dass wesentliche Teile der Menschheit die Vielfalt der Arten erhalten möchten. Umso befremdlicher muten mitunter die stümperhaften Versuche an, die Unentbehrlichkeit einer Art für »den Naturhaushalt« mit sogenannten ökologischen Argumenten zu rechtfertigen. Offenbar mangelt es den betreffenden Menschen selbst an einer wirklichen Zuwendung zu diesen Arten. Es fehlt ihnen jene Empathie, die aus innerer Überzeugung heraus ganz selbstverständlich und ohne sachliche Begründung wirkt. Aus der Art der Begründung kann man oft ganz leicht erkennen, dass es gar nicht um die betreffende »Rote-Liste-Art« geht, sondern um die Verhinderung eines Bauvorhabens oder um die Hinauszögerung einer sonstigen Änderung, die ihnen aus ganz anderen, zumeist sehr persönlich-eigennützigen Gründen nicht passt. Die Natur dient dann als Vorwand, um eigene Interessen zu verschleiern. Wollen wir versuchen, zur Beurteilung der Lage der Arten301
Vielfalt solche Vorgehensweisen möglichst auszuschließen, was bleiben dann für »Fakten«? Der wichtigste Befund klingt kaum glaubhaft: Die aktive Ausrottung von Arten ist im 20. Jahrhundert sehr stark zurückgegangen und nun fast auf »null« gesunken. Diese Feststellung widerspricht allerdings vielem, was in den letzten Kapiteln vorgetragen wurde. Dennoch trifft beides zu. Es muss einfach unterschieden werden vom bekannten, durch Fakten belegten Artensterben und von den anzunehmenden, hochgerechneten Verlusten, die in Verbindung mit der Vernichtung höchst artenreicher Lebensräume entstehen oder zumindest sehr wahrscheinlich sind. Die Begründung dafür wurde bereits in Kap. 23 dargelegt. Daraus ging auch hervor, dass es sich beim gegenwärtigen Aussterben vor allem um kleine, unbekannte Arten handeln dürfte, und nicht um spektakuläre wie (Menschen-)Affen oder große Papageien. Der internationale Artenschutz setzte seine Bemühungen jedoch folgerichtig, weil die Bestandsentwicklungen bekannt (und alarmierend) waren, an den großen und eindrucksvollen Arten an. Der Große Panda ist aus gutem Grund das Symbol bedrohter Natur und weltbekanntes Logo des WWF (World Wide Fund for Nature; früher World Wildlife Fund). Der Deutsche Bund für Vogelschutz, seit geraumer Zeit schon in ›Naturschutzbund Deutschland‹ (NABU) umbenannt, fing mit dem Symbol des Weißstorchs an. In anderen Gebieten gibt es andere Tiere mit besonderer Zug- oder Ausdruckskraft für den Artenschutz. Die Entwicklung erinnert im besten Sinne an die Benutzung von Löwen, Adlern und Bären als Totem oder Wappentiere, um Macht und (aggressive) Gewalt auszudrücken. Die Symbolarten des Naturschutzes drehten diese ursprünglichen Zwecke ins friedliche Gegenteil um. Daher erstaunt es auch gar nicht so sehr, dass Naturschützer dieser Gruppierungen auch in die aus politischen Gründen besonders extrem abgeschotteten Staaten Zugang fanden, wie zum Beispiel dass der WWF zur Zeit von Mao Tse Tung nach China oder internatio302
nale Wasservogelschützer in die kommunistische Sowjetunion kommen konnten, wo man sie wie hochrangige Staatsgäste behandelte. Auch die DDR machte auf ihre Weise mit und führte westdeutschen Artenschützern ihre Errungenschaften vor (auf die man damals völlig zu Recht auch stolz sein konnte!). Schier endlos ließen sich Beispiele aneinanderreihen, aus denen hervorgeht, dass der Schutz interessanter, schöner und eindrucksvoller Arten über die unterschiedlichsten politischen Systeme hinweg für gut und richtig gehalten wurde. Bereits in der noch so problematischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verständigten sich die drei Staaten Nordamerikas auf den Schutz des Grauwals (Eschrichtius robustus) und auch auf die Erhaltung der kontinentweit wandernden Wasservogelarten, die in Kanada, in den USA und in Mexiko gejagt werden. Die sogenannte, weil in der iranischen Stadt am Kaspischen Meer ins Leben gerufene, Ramsar-Konvention erfasste bereits zu einer Zeit, in der zwischen Ost und West noch »Kalter Krieg« herrschte, die für die Wasservögel wichtigsten Feuchtgebiete Europas, Westasiens und Nordwestafrikas. Das ausgesprochen erfolgreiche System der »Feuchtgebiete von internationaler Bedeutung« ging daraus hervor (und wurde sogar formell in Deutschland übernommen, gleichwohl aber bis heute nicht richtig umgesetzt). Größte Bedeutung und eine erstaunlich schnelle Wirksamkeit entfaltete als umfassendstes internationales Artenschutzvorhaben das Washingtoner Artenschutzübereinkommen von 1976, das den Handel mit global gefährdeten Arten massiv beschränkt, kontrolliert und für die vom Aussterben bedrohten Arten unterbindet. All diese Entwicklungen führten dazu, dass die obige Feststellung Wirklichkeit hatte werden können: Wo immer das Aussterben direkt bekannt geworden und tatsächlich zu befürchten war, versuchte der internationale Artenschutz in enger Verbindung mit den jeweiligen nationalen Möglichkeiten, so diese vorhanden waren, dies zu verhindern. Erfolge stellten sich ein. Sogar die Auswilderung von in Freiheit schon nicht 303
mehr existierenden Arten funktionierte. Zwei Arten können hier stellvertretend für mehrere andere, weniger bekannte Tiere genannt werden, die Arabische Oryx (Oryx leucoryx) auf der Arabischen Halbinsel und die Hawaiigans (Branta sandvicensis). In kleinerem Maßstab gelangen durchaus auch mit spektakulärer Wirkung die Auswilderungen von Wanderfalken (Falco peregrinus) in Deutschland und anderen Industrieländern. So leben seit Jahren Wanderfalken am Kölner Dom und am Roten Rathaus in Berlin. Durch Gefangenschaftsnachzuchten werden vielfach schon schwach gewordene Freilandbestände verstärkt. Die Haltung oder Massenzucht bestimmter Arten unter kontrollierten Gefangenschaftsbedingungen (wildlife farming genannt) hat ganz erheblich Druck von den freilebenden Beständen genommen und dabei auch die Möglichkeit eröffnet, legale Zuchtexemplare von illegal gewilderten zu unterscheiden. Auch auf den freien Meeren setzt sich der Artenschutz nach und nach durch. Das zeigen positive Bestandsentwicklungen bei manchen Arten von Walen. Die Formen der Netzfischerei im Ozean beginnen sich unter dem Druck der Verbraucher zu ändern. Delphine müssen nicht zwangsläufig als Beifang in den Netzen umkommen. Thunfischprodukte in Dosen werden mit dem Vermerk versehen, dass der Fang ohne Gefährdung der Delphine erfolgte. Gewiss ist das nicht immer wirklich so, aber das öffentliche Interesse treibt die Entwicklung in Richtung auf umfassenden Schutz der Delphine, wie der meisten Großwale und vieler Robbenarten auch, immer weiter voran. Sogar um Haie kümmern sich seit Jahren schon Artenschützer, und das durchaus mit Erfolgen. Daher kann in der Tat zusammenfassend festgehalten werden, dass sich die Lage für die größeren Tiere im 20. Jahrhundert ganz entscheidend verbessert hat. Sie können nicht länger unkontrolliert und willkürlich verfolgt und in die Ausrottung getrieben werden, wie das insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert, zum Teil auch noch bis weit in das 19. hinein der Fall war. Selbst wenn es so prachtvolle Tiere wie den Tiger irgendwann in 304
Freiheit nicht mehr geben sollte, was dank des internationalen Tigerschutzes akut zumindest nicht zu befürchten ist, wird der Tiger als Art überleben und erhalten werden können. Problematischer sieht es allerdings für die speziellen (endemischen) Tiere und Pflanzen auf Inseln sowie für die letzten Wildnisgebiete aus. Endemische Arten, die es nur an dem einen Ort und sonst nirgendwo gibt, machen den Hauptanteil jener Arten von Tieren und Pflanzen aus, die in den letzten Jahrhunderten tatsächlich ausgerottet wurden. Je kleiner die Insel, auf der sie vorkamen, desto größer war das Risiko auszusterben. Die Dronte (Raphus cucullatus) von Mauritius, auch Dodo genannt, gilt als typischer Vertreter dieser Gruppe. Nirgends sonst gab es diese ganz außergewöhnliche, am Boden lebende Großtaube. Leicht war der »dumme« Vogel, der ursprünglich auf der Insel Mauritius keine Feinde zu fürchten hatte, zu erschlagen. Doch auch die Vernichtung der Bäume, von deren Früchten sich die Dronte ernährte, trug zu ihrer raschen Ausrottung bei. Dutzende Arten von Großvögeln auf Inseln vernichteten die Menschen vom Spätmittelalter bis zur frühen Neuzeit, in der entlegene Inseln entdeckt und besiedelt wurden. Europäische Seefahrer waren keineswegs allein die Schuldigen. Die nach Neuseeland gekommenen Maori dezimierten in kurzer Zeit die straußenartigen Riesenvögel, Moas genannt, so sehr, dass sie bald nach Ankunft der Menschen ausstarben. Auf Madagaskar wurden die noch viel größeren Elefantenvögel Opfer der Neuankömmlinge aus Südostasien. Die arabischen Seefahrer vollendeten die Ausrottung. Übrig blieben das Märchen vom »Vogel Rock« und eine Anzahl der riesengroßen Eier dieser Vögel, die noch aus der Zeit der Dinosaurier hätten stammen können. Besonders verheerend wirkten sich jedoch für die Tier- und Pflanzenwelt isolierter Inseln die Arten aus, die von den Europäern mitgebracht worden waren. Ziegen und Schweine wurden schon von den frühen Seeräubern gezielt ausgesetzt, um bei ihrer Wiederkehr auf den einsamen Inseln Nahrung vorzufinden. Ratten schleppte 305
man unbeabsichtigt ein. Katzen mussten folgen, um diese zu bekämpfen. Solche und andere Tierarten aus Europa vernichteten weit mehr Seltenheiten von Inseln als die Menschen direkt. Dasselbe gilt für eingeschleppte Pflanzen. Vielfach wucherten sie in kurzer Zeit auf den zumeist vulkanischen Inseln mit ihren guten Böden. Die konkurrenzschwache ursprüngliche Vegetation drängten sie dadurch zurück oder rotteten sie aus. Die endemischen Pflanzenarten, die sich in Hunderttausenden oder Millionen von Jahren entwickelt hatten, konnten den Neuankömmlingen meist nichts entgegensetzen, denn sie waren anders selektiert worden. Ihre Vorzüge lagen darin, dass sie weite Strecken und lange Zeiten auf dem Meere treibend überlebten. Trafen sie zufällig auf eine Insel, ging es auch nicht so leicht den Strand hinauf. Pflanzen, welche entlegene ozeanische Inseln erreichten und besiedelten, mussten also in erster Linie gute Kolonisatoren, nicht aber besonders konkurrenzkräftig sein. Denn dort wartete noch keine Konkurrenz auf sie, und wenn doch, hatten die Ankömmlinge ohnehin keine Chance, sich anzusiedeln. Die von den Europäern mitgebrachten Pflanzen brauchten diese Eigenschaften nicht zu haben, denn sie wurden von Schiffen getragen. Jahrtausendelang standen sie unter dem Konkurrenzdruck der anderen Pflanzen. Dieser fehlte nun auf den Inseln oder auch auf anderen Kontinenten mit ganz anderer Flora. Deshalb gewannen die Neuankömmlinge rasch die Oberhand. Sie verdrängten die heimischen Arten, und viele dieser Besonderheiten wurden so vernichtet. Fremde, invasive Arten gelten daher auch gegenwärtig als eine der Hauptbedrohungen der globalen Artenvielfalt. Für ozeanische Inseln, gleichgültig, ob sie im tropischen Bereich oder in kalten Meeren liegen, trifft diese Einschätzung durchaus zu. Sie bedeutet aber nicht, dass das auch bei uns oder auf anderen kontinentalen Flächen so sein müsse. Hier gelten andere Rahmenbedingungen. Auf den Festländern sind bereits (sehr) viele Arten vorhanden. Je mehr da sind, desto schwieriger wird es für eine neue Art, einzudringen und neue 306
Lebensmöglichkeiten zu finden; es sei denn, der Mensch bereitet ihnen den Boden. So verhält es sich bei all jenen (wenigen) Arten, die in den vergangenen Jahrzehnten in Europa und Nordamerika invasiv geworden sind. Die künstliche, weit über das notwendige Maß hinausgehende Düngung fördert solche Spezialisten und verdrängt auch ohne Fremdarten die ursprünglich vorhandene Vielfalt. In weitgehend naturbelassene Gebiete dringen die fremden Arten hingegen kaum ein. Sie werden auch nicht so häufig, dass sie heimische Arten verdrängen könnten. Wir sehen das an »unserem« Veilchen (Viola odorata). Vor Jahrhunderten schon wurde es heimisch, weil es in Gärten und Parks angepflanzt und von vielen Menschen sehr geschätzt worden war. Doch das kleine Veilchen hatte keine Chance, sich gegen andere Pflanzen durchzusetzen. Wo Pflege und Kultur der Landschaft aufhören, verschwindet es im Freien wieder. So spiegelt die Invasivität mancher Tier- und Pflanzenarten ganz direkt das Ausmaß der Veränderungen wider, die von den Menschen verursacht worden sind. Deshalb sind die noch weitgehend im Wildniszustand verbliebenen Gebiete auch gar nicht so sehr von fremden Arten gefährdet. Die Vernichtung der Wildnis geht so gut wie ausnahmslos direkt von Menschen aus. Im 20. Jahrhundert sind Gebiete im Naturzustand immer rarer geworden. Viele meinen, es gäbe doch die unberührten Weiten etwa in Sibirien. Doch das stimmt in Wirklichkeit längst nicht mehr. Großflächige Holznutzungen haben fast überall eingesetzt, wo es Wälder gibt. Sümpfe werden trockengelegt, Flüsse weiterhin begradigt und für die immer größeren Schiffe ertüchtigt, Staudämme an noch ganz unregulierten Strömen gebaut und Wüsten bewässert. Der Druck wird zunehmen. Das ist ganz sicher. Dass er in wichtigen Bereichen ganz direkt oder nicht so offensichtlich indirekt von den reichen Ländern ausgelöst wird, bedeutet allerdings, dass nicht allein die davon betroffenen, zumeist recht armen Länder der Tropen und Subtropen für das Geschehen bei ihnen verantwortlich gemacht werden dürfen. Die 307
eigentlichen Verursacher sind nicht selten wir in Europa und Nordamerika. Ob die neue Transparenz bessere Möglichkeiten eröffnet, unnötige Zerstörungen zu verhindern, wird die Zukunft zeigen. Die europäische Landwirtschaft ließ bisher nicht die geringste Bereitschaft erkennen, auf Futtermittel aus Tropenländern zu verzichten oder auch nur die Mengen, die von dort importiert werden, zu vermindern. Nach wie vor werden die Tropen in kolonialistischer Weise ausgebeutet. Berechtigt diese Lage zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu Hoffnungen? Ist die Entwicklung nicht längst viel zu weit vorangeschritten, um einen nennenswerten Anteil an der Reichhaltigkeit des Lebens auf der Erde für die Zukunft erhalten zu können? Der »ökologische Fußabdruck« des Menschen hat sich nach Ansicht des WWF so sehr verstärkt, dass nun schon mehr als die Hälfte der natürlichen Kapazität der Erde aufgebraucht worden ist. Doch in den nächsten Jahrzehnten kommen viele Millionen weiterer Menschen hinzu. Freie Kapazitäten wird es also bald nicht mehr geben. Eine hoffnungslose Lage also? Vielleicht ist die Problematik nicht ganz so unlösbar, wie es scheint. Denn erstens kommen Tiere und Pflanzen auch mit einer technisierten, vom Menschen voll eingenommenen Welt in durchaus beachtlichem Umfang zurecht. Das beweist der hohe Artenreichtum in den Städten. Er nimmt sogar, entgegen allen Befürchtungen, mit zunehmender Größe der Städte nicht nur nicht ab, sondern noch stärker zu. Diese Feststellung gilt für Deutschland, für Europa und auch für die Riesenstädte, wie New Delhi oder New York. Naturfreunde können dort ergiebige Exkursionen durchführen, weil es innerhalb der Städte so viele interessante Tiere gibt. Gerade für die (jagdlich oder anderweitig) verfolgten Säugetiere und Vögel bilden die Städte regelrechte Oasen des Friedens, in die sie sich zurückziehen können. Natürlich können Elefanten in Großstädten nicht frei leben, aber die Einstellung der Bevölkerung hält manchem Großtier zumindest die Randbereiche offen, wo es vor Nach308
stellungen sicher ist. Belustigt stellt im Herbst mancher USAmerikaner in seinem Vorstadtgarten fest, dass die Jagdsaison offenbar wieder begonnen hat, weil ein Weißwedelhirsch (Odocoileus virginianus) darin friedlich grast. Elche wandern in Skandinavien durch Kleinstädte. Wölfe gibt es nachts in rumänischen Vorstädten – und so fort. Die vielen Beispiele unterstreichen das Prinzip: Die Lebensfähigkeit vieler Großtiere wird weit mehr davon bestimmt oder eben auch eingeschränkt, ob Menschen sie leben lassen. Viele Arten sind weit weniger davon abhängig, was eine »unberührte« Natur bietet oder wie natürlich diese (noch) ist. Höchst eindrucksvoll führte dies in vielen Ländern Europas die Wiedereinbürgerung des Bibers vor Augen. In München siedelte sich ein Paar an der Isar direkt am Deutschen Museum an, also mitten in der Millionenstadt. Für ein Miteinander von Menschen und Tieren besteht also durchaus Hoffnung. Wer in den Toleranzbereich der Menschen mit einbezogen wird und welcher Art die Menschenwelt verwehrt bleiben wird, hängt ganz erheblich von der Haltung der Menschen ab. Hier können Erziehung und Aufklärung sicherlich noch viel mehr bewirken, als bisher erreicht worden ist. Auch das gibt Hoffnung. Zudem wachsen die Widerstände gegen wilde Erschließung der Freiräume. Wildnis gewinnt an Wert, je naturferner die Lebenswelt der Menschen wird. Auch diese Entwicklung lässt Hoffnungen aufkeimen. Die Zahl der Nationalparks steigt weltweit an. Auch ihre Fläche nimmt stark zu. Wenn Russland in der Arktis ein Gebiet so groß wie Frankreich formal unter Schutz gestellt hat, sollte diese Leistung als nicht weniger bedeutsam als bei den großen Schutzgebieten in Alaska eingestuft werden. Zwar konnte deren Unterschutzstellung die Erdölnutzung nicht verhindern, aber was wäre ohne diesen großflächigen Schutz sonst daraus geworden? Maximalforderungen lassen sich als Wünsche formulieren. Die gelebte Wirklichkeit wird sich mit Kompromissen zufriedengeben müssen. Es sind – global gesehen – nicht immer die schlechtesten Kompromisse zu309
stande gekommen. »Serengeti darf nicht sterben!« Mit diesem Appell und einem ergreifenden Film warb schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs Bernhard Grzimek für die Erhaltung der wildreichen Gebiete in Ostafrika. Er hatte Erfolg. Die Serengeti gibt es ein halbes Jahrhundert nach seinem Einsatz, der seinen Sohn Michael beim Zusammenstoß des Kleinflugzeuges mit einem Geier am Ngorongorokrater das Leben gekostet hatte, immer noch. Sie hat nun fast viermal mehr Großtiere als zu Grzimeks Zeit, und weitere große Schutzgebiete sind in ihrer Umgebung eingerichtet worden, die mehr Chancen bieten, die großartige Tierwelt Ostafrikas in ihrer wunderbaren Landschaft zu erhalten. Freilich werden die bitterarmen Staaten selbst dazu nicht in der Lage sein, alles allein zu leisten. Aber die Touristen aus den reichen Ländern und die internationalen Naturschutzorganisationen haben die Mittel, für die Erhaltung der besonderen Naturgebiete zu sorgen und den Fortbestand ihrer Arten in der Zukunft zu garantieren. Und noch ein positiver Aspekt zuletzt: Seit die Gefährlichkeit vieler Umweltgifte und sogenannter Schutzstoffe, die in der Landwirtschaft eingesetzt worden sind, erkannt worden ist, geht auch die globale Belastung mit Giften zurück. Was der Menschheit zugutekommt, nützt den Tieren und ihren Lebensräumen. Wir könnten für das 21. Jahrhundert einen erheblich »weiseren Umgang« mit der Natur wählen. Die Kenntnisse dazu sind vorhanden. Die Mittel gibt es auch. Deshalb ist es auch an der Zeit, die Verhältnisse in der Natur der Erde wieder realistischer zu betrachten. Unserem Planeten geht es in vieler Hinsicht schon erheblich besser als im 19. Jahrhundert oder in noch früherer Zeit. Der Menschheit auch. Seit über tausend Jahren lebt im Durchschnitt jede Generation ein wenig, mitunter auch ganz erheblich besser als die vorausgegangene. Das 20. Jahrhundert vollendete, was das 19. als Durchgangszeit in Gang gesetzt hatte. Der Tiefpunkt, für viele tatsächlich der Abgrund, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht. Seit 1950 geht es im Großen und Ganzen aufwärts. 310
Nicht überall, das braucht gar nicht betont zu werden, aber weitreichend genug, um nicht mehr nur voller Angst in eine hoffnungslose Zukunft blicken zu müssen. Die Bedingungen, die Zukunft besser zu gestalten und die Möglichkeiten, die Fehler der jüngsten Vergangenheit zu vermeiden, waren noch nie so gut wie in unserer Gegenwart. Wer allerdings den Menschen als Krebsgeschwür und Irrläufer der Evolution betrachtet, wird weder für sich selbst noch für die kommenden Generationen eine lebenswerte Zukunft erwarten können.
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Schlussbemerkungen Geschichtsblind in die Zukunft?
Sorgenvoll blicken in unserer Zeit viele Menschen in die Zukunft. Was wird sie uns bringen? Wie wird sie für unsere Kinder und Enkel aussehen? Was können wir tun, um nicht nur für morgen, sondern auch für ein ferneres Übermorgen das Leben zu sichern und den Wohlstand zu mehren? Solche Fragen bewegten Menschen sicherlich zu allen Zeiten, seit wir als Art zu denkenden Menschen geworden sind. Denn was uns offenbar auszeichnet und von anderen Lebewesen unterscheidet, ist das hohe Maß an Vorausschau, zu dem wir fähig sind. Hervorgegangen mag dieses Streben sein aus der überlebensnotwendigen Vorsicht dem Neuen gegenüber. Neugier förderte das Erforschen und Entdecken neuer Möglichkeiten. Sie ist eine Eigenschaft, die Säugetiere weit mehr auszeichnet als andere Tiere. Die Neugier hebt unsere Primatenverwandtschaft ganz besonders unter den übrigen Säugetieren hervor. Sie gehört bestimmt auch zu den wichtigsten Eigenschaften der Art Mensch. In systematisch gelenkter Form äußert sie sich im erfolgreichsten Unternehmen des Menschen, in der Forschung. Es waren und sind die Ergebnisse forschenden Geistes, die dem Menschen die Macht gegeben haben, seine eigenen Lebensbedingungen und schließlich die ganze Natur zu verändern. Es liegt auch im Ausmaß dieser Veränderungen, dass uns die Zukunft Sorgen macht und dass Änderungen als Belastung empfunden werden. Deshalb treibt uns die große Frage um, ob uns Wetter und Klima bald dafür bestrafen werden, dass wir zu weit gegangen 312
sind. Die Flutkatastrophen und die Stürme der jüngsten Vergangenheit werden häufig als warnende Vorboten für das dargestellt, was bald auf uns zukommen wird. Der Teufel ist der Kohlenstoff, erklärt uns Tim Flannery (2006). Wir sind selbst daran schuld, dass schon so viele Menschen und so immense Sachwerte den Umweltkatastrophen in der Gegenwart und in der jüngsten Vergangenheit zum Opfer gefallen sind. Gerade bei den Hochwassern unserer Flüsse zeigt sich der Zusammenhang zwischen Naturveränderung und den späteren Folgen in aller Deutlichkeit. Die Bäche und Zuflüsse sind begradigt, die früheren Überflutungsflächen trockengelegt worden, um geringfügig mehr Land für die Landwirtschaft oder um billigen Siedlungsraum in den Tälern zu gewinnen. Die Hochwasser nahmen daraufhin zu. Die Folgen des Tuns an den Oberläufen und in den Einzugsgebieten der Ströme haben jedoch zumeist andere als die Verursacher oder als diejenigen, die daraus ihren privaten Nutzen ziehen, zu tragen. Was die Hochwasser im Klein- oder Mittelformat seit Jahrzehnten vorführen, wird uns alsbald in ganz großem Stil bedrohen, so sagen es uns die Prognosen, weil der Mensch das Klima verändert. Stürme und Dürren werden zunehmen wie auch Überschwemmungen und unvorhersehbare Wetterkapriolen. Der Meeresspiegel steigt, weil große Mengen Landeis abschmelzen. Die Wasserführung mancher Flüsse wird zurückgehen und Wassermangel verursachen. Und so fort. Die Szenarien des Schreckens lassen sich fast beliebig ausschmücken, je nachdem, um welche Gegend und Gemüter es sich handelt. Sicherlich werden die Veränderungen auch politische Folgen haben, denn die vom Klimawandel negativ betroffenen Menschen werden den Begünstigten zu Leibe rücken. In den Trockengürteln der Erde wird es Wasserkriege geben. Die Sturmzonen an den Küsten werden das günstiger gelegene Hinterland immer häufiger zur Kasse bitten, um die Schäden beheben zu können. Besorgte Klimaforscher und Politiker beschwören die Bevölkerung, innezuhalten auf dem eingeschlagenen Weg. Der Energiever313
brauch muss stark gesenkt werden, weil sonst die Klimakatastrophe unabwendbar auf uns zukommt. Wenn nicht schon die jetzt Lebenden, dann wird das Desaster auf jeden Fall die Kinder- und die Enkelgeneration treffen. Wahrlich keine guten Aussichten für die Zukunft der Menschheit! Man kann darüber streiten, wie übertrieben oder wie wirklichkeitsnah diese Befürchtungen sind, die aus den Klimamodellen abgeleitet werden. Es gibt, wie immer in strittigen Fragen, zwei unterschiedliche Pole und eine mehr oder minder große schweigende Mehrheit in der Mitte, die alles einfach auf sich zukommen lassen wird. Man weiß aus Erfahrung, dass »die« doch machen, was »sie« wollen. Eine solcherart resignierende Haltung ist verständlich, gleichwohl aber nicht gut. Denn sie spielt tatsächlich den jeweils extremen Seiten Stärken zu, die diese nicht verdienen, zumindest eine der beiden Seiten. Denn wenn die Befürchtungen berechtigt sind, sollten die entsprechenden Maßnahmen auch schnellstens ergriffen werden. Wenn nicht, sollte es auch im Interesse der Mehrheit liegen, möglichst wenig Geld, das für andere Zwecke besser ausgegeben werden könnte, in falsche oder stark übertriebene Ziele zu stecken. Wer aber entscheidet – und sagt dies der Mehrheit verlässlich genug –, was richtig und was falsch ist? Gibt es überhaupt »das Richtige« oder »das Falsche«? Bewähren sich nicht so gut wie immer die goldenen, weil wohlabgewogenen Mittelwege? Die Politik sieht das gerne so in demokratischen Gesellschaften. Weniger demokratische und diktatorische Systeme entscheiden eher in Richtung eines Extrems. Auch das wissen wir längst und aus leidvollen Erfahrungen mit beiden Systemen. Das eine ist viel zu langsam und häufig geradezu unfähig, die notwendigen Entscheidungen rechtzeitig zu fällen. Es ergeht sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen, wenn dann, wie so oft, etwas ziemlich schiefgelaufen ist. Das andere trifft zwar mitunter durchaus eine richtige Entscheidung, aber in der Bilanz überwiegen meistens die falschen, weil das diktatorische System die eigenen, kurzfristigen Egoismen nicht über314
winden kann. Sollte die richtige Entscheidung gar unpopulär sein, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die falsche Maßnahme gewählt, um Aufruhr und Revolution zu vermeiden. Was sich hieraus an »Aussichten« für die Lösung der Zukunftsprobleme ergibt, halte ich für noch düsterer als die Fakten und Befunde. Denn im Klartext heißt es: Wir haben gar keine Chance auf rechtzeitiges Reagieren. Wie in alten Zeiten werden wir uns schlagen lassen müssen von den Ereignissen, weil die Entscheidungsträger den Gegenmaßnahmen zu lange ausgewichen sind; aus »demokratischen« Gründen auf der einen Seite und aus populistischen auf der anderen. Dass beide auf das Ergebnis bezogen ziemlich gleich schlecht sind, bedarf keiner Betonung mehr. Die Pessimisten und Misanthropen können sich bestätigt fühlen. Es wird nicht klappen, weil der Mensch zu schlecht ist für eine gute Zukunft! Die Optimisten werden dagegenhalten, dass auch das Schlechte stets Gutes enthält und voranbringt. »Per aspera ad astra«, durch das tiefe Tal der Mühseligkeiten muss man durch, um zu den Sternen zu kommen. Diese Lebensweisheit wurde früher wenigstens noch im Lateinunterricht gelehrt. Für die Gegenwart ist dies ein schwacher Trost, aber ein Schimmer von Zuversicht ergibt sich daraus immerhin für die Zukunft. Wir könnten aber den Ansatz auch ganz anders wählen und fragen: Welche Strategie bewährte sich früher, in der Vergangenheit, wenn ähnliche Situationen eingetreten sind? Zukunftsprobleme gab es immer. Sie sind nicht neu, auch wenn die Dimension in unserer Zeit über alle früheren Horizonte hinausgewachsen ist. Das Leben selbst hat uns mit seinem Erfolg in der Evolution die Vorgehensweise vorgemacht. Beständig ist es Korrekturen und Außeneinwirkungen unterworfen. Die Lebewesen können sich nur nach den jeweiligen Gegebenheiten richten. In historischen Zeiten lief das Leben der Menschen nicht grundsätzlich anders als heutzutage. Man war sich offenbar dessen bewusst, dass keine Lage wirklich neu ist, 315
sondern das Neue stets auch Altes, von der Erfahrung Erfasstes miteingeschlossen hat. Man befragte die Erfahrenen, die »Weisen«. Das Prinzip des Präzedenzfalles wurde im Rechtssystem entwickelt, auf das in fast allen Fällen zurückgegriffen werden konnte. Denn auch in Rechtsfällen war höchst selten einmal etwas wirklich neu. Selbst dann stand es nicht allein, sondern der »Fall« ließ sich doch irgendwie in das vorhandene System einbauen. Damit bekam das Urteilen oder Be-Urteilen die zeitliche Tiefe. Vergangenes wurde als Erfahrung, auch was die Folgen anbelangt, zur Beurteilung des Gegenwärtigen herangezogen. Jeder Mensch geht in seinem eigenen Leben so vor und urteilt zunehmend aus der Erfahrung heraus. Was über den Zeithorizont von wenigen Generationen hinausgeht, bezeichnen wir als Geschichte. In der Natur ist das die Naturgeschichte. Beide zusammen liefern als miteinander verwobene Prozesse die Erfahrung, ja die Gewissheit, dass Wandel das Normale und Beständigkeit die große Ausnahme ist. Mit dem Rückblick auf das letzte Jahrtausend wollte ich die beiden großen Betrachtungsebenen von menschlicher Geschichte und Naturgeschichte so zusammenbringen, dass sie sich zumindest stellenweise schneiden. Selbstverständlich konnte dies nur sehr unvollständig geschehen. Doch die gemeinsamen Schnittmengen lassen sich vergrößern. Es liegt so viel Wissen vor, das noch nicht miteinander verbunden worden ist. Vertreter beider Ebenen, von menschlicher und von Naturgeschichte, werden mit dem Gebotenen unzufrieden sein, weil sie sich und ihre Sicht darin unzureichend oder ganz unvollständig dargelegt finden. Wenn aber das Ziel die Zusammenführung von Geschichte und Naturgeschichte ist, werden die Unzulänglichkeiten zum Rohmaterial für vertiefte Behandlungen. Worum es geht, das ist die Zukunft. Sie entwickelt sich, wie zu Beginn des Buches betont, nicht allein aus der Gegenwart, sondern sie bleibt zwangsläufig Teil eines viel umfassenderen Stromes in der Zeit, der weit in die Vergangenheit zurückreicht. Stephen Jay Gould (1996) hob die Kontingenz als Grundmerkmal der biologischen Evolution 316
hervor. Sie bezeichnet den inneren Zusammenhang des Geschehens und aller Entwicklungen, die deshalb nicht frei sind für das Spiel des Zufalls. Unsere Zukunft wird die Kontingenz mit der Gegenwart von heute und mit der Vergangenheit von früher halten. Dazu gibt es keine Alternative. Auch wir, mit all unseren technischen Fähigkeiten und dem für eine Einzelperson so unfassbar tief gewordenen Wissen über die Welt, können keine neue Zukunft schaffen. Wir laufen mit auf dem Strom der Zeit und können uns selbst höchstens ein Bein stellen, was da und dort eine Ablenkung verursacht. Wenn viele das tun (würden), kämen Richtungsänderungen zustande. Sie werden es vielleicht dann tun, wenn es sich für sie lohnt. Warnungen werden in aller Regel und von den allermeisten Menschen in den Wind geschlagen. Auch das ist alles andere als neu. Die Warner sind meistens falsche Propheten. Das zeigt die Erfahrung, weil sich ihre Vorhersagen nicht bestätigen. Was gut gemeint gewesen sein mag, verkehrt sich ins Gegenteil, wenn das Zutreffende und das Richtige auch nicht mehr geglaubt werden. Vertrauensverlust ist einer der Hauptursachen für die gegenwärtig so starke Rückwendung vieler Menschen auf das Irrationale. Niemand sollte sich darüber wundern oder gar aufregen, dass in unserer Zeit allenthalben ein religiöser Fundamentalismus um sich greift. Im 19. Jahrhundert herrschten mehr geistige Freiheit und viel größere Beweglichkeit als im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Damals suchte man noch aktiv nach neuen Horizonten. Heute wird fast immer das Neue erst einmal gebremst und bekämpft, weil es am bekannten Zustand etwas ändern könnte. Altes behält man wider besseres Wissen stur bei. Unsichere Zeiten wurden immer zu Katastrophenzeiten gemacht. Für uns gilt dies als sprichwörtlicher Rückfall ins Mittelalter. Aber es war nicht die gute Zeit des Hochmittelalters, sondern die Katastrophenzeit des ausgehenden Mittelalters, das die finsteren, ja abscheulichen Züge jener Vergangenheit entwickelte, die glücklicherweise überwunden sind – hoffentlich! Die Menschen konnten 317
mit den Katastrophen, die tatsächlich über sie hereinbrachen, nicht umgehen. Wenn wir verhindern wollen, dass ein neues Mittelalter heraufzieht, wie der Schriftsteller Umberto Eco meint, der sich wirklich ausgiebig mit jenen Zeiten befasst hat, hilft Aufklärung allein nicht weiter. Als bloße Vermittlung von Fakten ist die Aufklärung gescheitert. Viel zu wenige Menschen richten sich nach diesem Prinzip. Sie brauchen Vertrauen, um vom Wissen zur Gewissheit zu kommen. Nachprüfbarkeit allein vermittelt dieses Vertrauen. Die zweite Säule gründet sich in der Verantwortung. Das Übernehmen von Verantwortung ist unserer Zeit fast vollständig abhanden gekommen. Für falsche Prognosen steht niemand mehr gerade. Für falsche Entscheidungen auch nicht. Die Folgekosten haben stets die »Gläubigen« zu tragen. Sollte es tatsächlich einmal dazu kommen, dass die Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden, bleibt das, von den Ausnahmefällen gestürzter Diktatoren mit schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgesehen, in aller Regel dennoch ziemlich folgenlos. Was Wunder, wenn sich die große Masse nicht bewegen möchte und den Status des Erreichten behalten will. Es kommen doch nur schlechte Nachrichten auf sie zu. Gutes ist kein Thema. Somit bleibt der Hoffnung nur das Eigeninteresse. Man mag das Egoismus nennen. Aber was den Menschen unmittelbar zugutekommt, werden sie eher bereit sein zu tun als das, was zwar notwendig wäre, sich aber erst in der Zukunft, in der nächsten oder übernächsten Generation, auszahlen wird. Vielleicht! Sicher ist das auch dann nicht, wenn die besten Argumente dafür sprechen. Das zeigte sich in der jüngsten Vergangenheit bei der Einführung des Katalysators. Als es nach langen Widerständen der Autohersteller endlich so weit war, boomten die Dieselfahrzeuge. Denn Diesel war (erheblich) billiger als das bleifreie (Super-)Benzin. Wären die »Benziner« in den Fahreigenschaften nicht schneller gewesen und wären die von einem Großteil der Bevölkerung geforderten Geschwin318
digkeitsbegrenzungen gleichzeitig eingeführt worden, wären damals vielleicht schon nach wenigen Jahren fast alle Autofahrer auf Diesel »umgestiegen«, obgleich bestens bekannt war, worum es eigentlich ging: um die Verbesserung der Luftqualität und um unsere Lungen. Aber die Politik hat die 3Wege-Kat-Fahrer mit den erheblich höheren Spritpreisen für rückstandsarmes Superbenzin bestraft. Ähnlich ging es mit der Energiesteuer, die zunächst angeblich das Weltklima retten sollte, dann aber für ganz andere Zwecke eingesetzt wurde. Die Nachbarländer machten gewaltige Profite, weil sie ihren Treibstoff nicht mit dieser Steuer belasteten. Wo sie das können, fahren seither viele Menschen zum Tanken über die Grenzen. Es ist den Mitbürgern auch kaum zu vermitteln, dass beim Pro-Kopf-Energieverbrauch die Anteile der Heizkosten nicht berücksichtigt werden, die nun einmal aus Gründen der klimatischen Lage nicht zu umgehen sind. Skandinavier oder die Menschen in Sibirien und Kanada brauchen nun einmal viel mehr Energie in den langen kalten Monaten als Tropenbewohner. Wer seine privaten Energiekosten betrachtet, wird in der Regel feststellen, dass Ausgaben für die Heizung die Hälfte oder mehr ausmachen. Wie hoch die Kosten werden, darüber befinden die Energieversorger und nicht die Privatverbraucher, und natürlich auch die Dauer und Härte des Winters. Milde Winter senken den Energieverbrauch in den kalten Regionen ungleich mehr als die besten Sparmaßnahmen in anderen Bereichen. Eine grobe Bilanz zur globalen Verteilung des ProKopf-Energieverbrauchs drückt diese Gegebenheit ganz klar aus. Deutschland liegt, seiner mittleren Position entsprechend, ganz gut in der Mitte. Beispiele dafür, dass vorhandene Gegebenheiten nicht zu umgehen sind und dass stets nach Schlupflöchern gesucht wird, wenn Nachteile in Kauf zu nehmen wären, aber damit vermieden werden können, gibt es so erdrückend viele, dass die Hoffnung, auf das Gute im Menschen zu bauen, geradezu eine Zumutung für die wirklich Gutwilligen geworden ist. Deshalb 319
nochmals: Zukunft muss sich lohnen! Sie ist zu wichtig, um die Menschen der Gegenwart damit abzustrafen. Dann wird gar nichts anderes übrig bleiben, als sich auf den gebahnten Wegen weiter in die Zukunft zu bewegen. Vielleicht steckt darin das stärkste Argument für eine gründliche Rückschau. Die Schwierigkeiten der Vergangenheit, die jahrhundertelangen Wechselfälle von Wetter und Klima mit eingerechnet, haben die Menschen bewältigt. Wie konnten sie das? Worauf und in welcher Weise reagierten sie? Was wäre nach heutigem Kenntnisstand vermeidbar gewesen? Und wie? Gerade wir Deutschen sind gezwungen, Lehren aus der Geschichte, aus unserer jüngsten Geschichte, zu ziehen. Die Geschichte der Natur gehört aber untrennbar zur Menschengeschichte. Die prognostizierten Umweltveränderungen lassen sich eher auf der Basis längerfristiger historischer Entwicklungen als ausgehend vom kurzen Teilstück der jüngsten Vergangenheit bemessen. Das 19. Jahrhundert, zumal die zweite Hälfte davon, war weder die beste aller Welten noch der einzig richtige Referenzzustand für die Zukunft. Es war nicht einmal, was Wetter und Klima betrifft, eine einigermaßen typische Zeit. Wer nun Änderungen in der Natur bewerten will, muss sich zudem an den Zeitskalen orientieren, die für Abläufe in der Natur relevant sind. Drei oder vier Jahrzehnte sind dafür viel zu kurz gegriffen, gleichgültig ob es sich um die gegenwärtige Erwärmung des Klimas oder um andere Naturvorgänge handelt. Ein halbes Jahrhundert stellt für einen gewöhnlichen Baum kaum mehr als eine gedrängte Jugendzeit dar. Baumgenerationen zählen nach Jahrhunderten, Veränderungen von Wäldern nach Jahrtausenden. Das Wachsen und Schwinden von Gletschern entspricht Kurzzeiteffekten, verglichen mit den nacheiszeitlichen Veränderungen, die unsere Landschaften geformt haben. Und schließlich stellt sich als Kernfrage, was wir überhaupt wollen. Sind wir nur einfach grundsätzlich gegen Veränderungen, weil wir möchten, dass sich (an unserem gegenwärtigen Zustand) nichts wirklich 320
Abb. 29: Geographische Verteilung des Pro-Kopf-Energieverbrauchs in Kilogramm Steinkohleeinheiten (SKE) von tropischsubtropischen Eändern über mediterrane und mittlere Breiten zu den kalten Regionen. Der Zunahmetrend in Richtung Kälte geht daraus klar hervor, aber auch, wie stark Australien als übermäßiger Verbraucher davon abweicht. Deutschland liegt praktisch genau auf der allgemeinen Trendlinie der Zunahme. Das zeigt die überragende Bedeutung der Heizkosten. ändert? Fürchten wir uns vor Veränderungen, weil wir alles vermeiden möchten, was unseren Zustand infrage stellt, und schieben daher die Bedrohung anderer vor? Sollten wir, wenn wir die Bedrohungen des Klimawandels ernst nehmen, nicht zuallererst bei uns selbst Vorsorgen, die Dämme und Deiche höher ziehen, die Bauwerke gegen Stürme stabilisieren sowie die sturmgefährdeten Bäume fällen, damit sie niemanden erschlagen und keine größeren Sachschäden anrichten? Sollten wir nicht unsere Landwirtschaft davon abhalten, »Biomasse« zu produzieren, wenn womöglich bald die Ernten schlechter ausfallen und Nahrungsmittelknappheit drohen könnte? Sollte nicht grundsätzlich die Landwirtschaft von Importen unabhängig gemacht werden, die so viel Aufwand bedeuten und 321
Energie kosten, weil nichts so unsicher ist wie das, was aus der Ferne kommen sollte? Und so fort. Wer das für egoistisch hält, verkennt den Wesenskern des Menschen. Alle Welt wird im Krisenfall so reagieren, gleich welcher Herkunft und welche politischen Systeme herrschen. Denn das ist Menschenart. Wenn wir aber Vorsorge in überzeugender Weise vormachen, werden andere eher die Unsicherheiten der Zukunft ernst nehmen. Und auch entsprechend reagieren. Verzicht zu üben mag moralisch anerkennenswert sein. Die Nutznießer des Verzichtens sitzen jedoch anderswo und werden sich bemühen, das Moralische in uns hochzuhalten, für sich selbst aber, aus welchen Gründen auch immer, die Ausnahme in Anspruch nehmen. So geschah es mit China, Brasilien, Australien, den USA und den sogenannten Entwicklungsländern im Kioto-Prozess zum Klimaschutz. Einen wirklichen Fortschritt werden nur die gesammelten Egoismen der Völker zustande bringen. Die Alternative wäre eine Weltdiktatur. Wer möchte sie haben? Aber vielleicht verbirgt sich in unserer so großen Sorge um die Zukunft die Überalterung unserer westlichen Gesellschaften, die am Erreichten unbedingt festhalten möchten und die nicht wissen, wie das gehen könnte, weil ihnen die Kräfte der Jugend und ein hoffnungsvoller Nachwuchs fehlen. Sicher ist aber, dass die Welt von morgen anders als heute sein wird. Veränderungen wird es geben, so wie es sie immer gegeben hat. Ob uns diese passen oder nicht, stellt für uns eine Frage dar, die aber für »die Welt« nicht sonderlich bedeutsam ist. Beständigkeit der Gegenwart anzunehmen wäre naiv, auf Änderungen nicht vorbereitet zu sein ist allerdings ein noch größerer Fehler.
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Nachwort Die Zukunft als Evolution
Man kann zum Leben und zur Welt recht unterschiedliche Sichtweisen hegen. Samt und sonders sind sie durchsetzt von einem Wünschen und Wollen, das stets dazu neigt, aus dem Sein ein Sollen zu machen. Die evolutionäre Betrachtungsweise geht von drei Grundprinzipien aus, deren Annahme uns offenbar sehr schwerfällt. Das eine Prinzip besagt, dass aus dem Einen Vielheit hervorgeht; Vielfalt der Arten, der Lebensformen sowie innere Vielfalt als Basis der Individualität und auch der Meinungen. Die Vielfalt sicherte das Überleben des Lebens, so wie sie auch das Funktionieren der kulturellen Entwicklung garantiert. Das zweite Prinzip stellt klar, dass es keine besten oder einzig richtigen Zustände gibt. Alle Formen der Gegenwart sind und bleiben Flüsse auf den Bahnen der Zeit. Leben ist daher seiner Natur nach steter Wandel. Mit dem dritten Prinzip kommen wir aber am wenigsten zurecht: Die Zukunft ist offen. Und wir möchten sie doch so gern im Voraus kennen! Dann könnten wir den Zufälligkeiten immer wieder ein Schnippchen schlagen und Lottogewinne machen, wie wir wollen. Doch für die Modellierung offener Prozesse schränken alle Systeme, mit deren Hilfe Prognosen oder Szenarien ermittelt werden, die Freiheitsgrade ein. Die Programme müssen sich an angenommene, »plausible« Rahmenbedingungen halten. Was aber, wenn die festgelegten Bedingungen nicht halten? Wer seinen eigenen Lebensweg betrachtet und sich mit der gebotenen Distanz von sich selbst dabei die Frage ernsthaft stellt, was man in der Jugend angenommen, erwartet 323
oder angestrebt hatte und was in der doch so kurzen Spanne eines Lebens daraus geworden ist, kann sich wohl kaum vorstellen, dass eine Vorausplanung per Computer ihm das dann Gewordene vorausgesagt hätte. Möchte man es sich vorstellen können? Oder wäre die Vorausberechenbarkeit nicht auch das Ende der freien Möglichkeiten, die Aufhebung von Freiheit überhaupt? Ergibt die Zusammenfassung aller menschlichen Erfahrungen jeder Generation nicht erst die Dynamik des Lebens? Würde jede Generation so leben, dass sie der nächsten das erhält, was sie selbst vorgefunden hat, und nichts davon unwiederbringlich verbraucht, wäre zwar das Ziel der Nachhaltigkeit erfüllt. Wir sollten danach streben, denn es gibt wahrscheinlich kein besseres Ziel. Aber je mehr nachgemacht wird, desto mehr muss auch »nachgelebt« werden, und umso weniger Individualität bleibt übrig und kann sich entfalten. Umso zäher wird auch der Brei werden, wenn es doch um notwendige Veränderungen geht. Das Streben zum Gleichgewicht ist ein Weg in die Falle. Was wir, was die Menschheit brauchen würde, sind im evolutionären Sinn überlebensfähige Ungleichgewichte. Wir müssen die Spannung(en) haben, um Aktivitäten entfalten zu können. Aus dem »hier mehr« und »dort weniger« ergibt sich der Fluss. Alles andere stagniert. In Lewis Carrolls Through the looking glass erklärt die Rote Königin der schon atemlosen Alice das Prinzip ihres (Wunder-)Landes: Hier musst du laufen, um nicht zurückzufallen! Und noch schneller laufen, um vorwärtszukommen! Vielleicht hatten wir es nur einige Jahrzehnte zu leicht mit dem Laufen. Andere holen inzwischen auf oder haben längst überholt, ohne dass wir es wahrhaben möchten. Um die Menschheit brauchen wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach keine Sorgen zu machen. Sie ist so groß und so unterschiedlich, dass die Art Mensch mit Sicherheit die Herausforderungen der Zukunft meistern wird. Für uns ergibt sich daraus mehr die Frage, wie groß oder klein unser Anteil daran sein wird. Darin drückt sich die Hauptsorge »des Westens« aus. 324
Was ich in diesem Buch falsch verstanden, aus Unkenntnis unzureichend dargestellt oder unzulässig interpretiert habe, wird sich korrigieren lassen, sofern das anderen der Mühe wert erscheint. Kritik bedeutet bereits, dass man wahrgenommen worden ist. Das Zusammenführen von Geschichte und Naturgeschichte ist für einen Einzelnen eine zu große Aufgabe, um sie meistern zu können. Das ändert nichts daran, dass es notwendig ist. Darin steckt die Überzeugung der evolutionären Sichtweise. Darüber nachzudenken bedeutet, zur Rückschau auf das Vergangene bereit zu sein, das immer noch »ist« und die Zukunft mitbestimmen wird. Bewertungen der Gegenwart bleiben stets etwas sehr Persönliches. Eindrücke auf einem hohen Gipfel der Berge von Neuguinea bewegten Tim Flannery (2006) zu seinem Buch über den Klimawandel und die seiner Ansicht nach so zerstörerische Rolle des Kohlenstoffs, weil sich in der Höhenlage Wald ausgebreitet hatte. Mich schockierten hingegen die riesigen Brände in den Tropen, die Wälder vernichteten, so weit das Auge reichte. Ich gewann daraus die Überzeugung, dass nicht nur wir Europäer »die Bösen« sind, sondern die ganze Menschheit die globale Veränderung bewirkt. Buße für andere zu tun löscht deren Schuld nicht aus.
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Literatur
Unüberschaubar groß ist Fachliteratur, die es zur Geschichte und zur Naturgeschichte des letzten Jahrtausends gibt. Selbst der Versuch einer bloßen Auflistung könnte nur höchst unvollständige Ergebnisse bringen. Die hier zusammengestellten Veröffentlichungen drücken daher in ganz erheblichem Umfang die persönliche Auswahl des Autors aus. Andere würden die Gewichtungen gewiss anders gelegt haben oder sehen wollen. Manches, was tatsächlich in den Text mit eingeflossen ist, dürfte hier fehlen, weil der Prozess der Formung der Grundgedanken Jahrzehnte in Anspruch genommen hat, in denen zunächst noch nicht systematisch Literatur gesichtet und notiert worden war. Eine Nachwirkung ist dennoch vorhanden. Unberücksichtigt blieb im Hinblick auf die Ausrichtung des Buches die spezielle Fachliteratur der wissenschaftlichen Journale. Nur wenige Publikationen, auf die im Buch ganz direkt Bezug genommen wurde, sind angeführt worden. Die Spezialisten wissen die Fachliteratur ohnehin zu finden und zu nutzen. Ich entschuldige mich bei allen, die sich nicht zitiert sehen. Das geschah nicht mit Absicht, sondern aus den Unzulänglichkeiten heraus, mit denen jeder Autor zu kämpfen hat und von denen niemand frei ist. Darüber drücke ich mein ehrliches Bedauern aus. Andel, T. H. v. (1992): Das neue Bild eines alten Planeten. Die Erkenntnisse der dynamischen Erdwissenschaft. – Knaur, München. Andrews, M. A. (1991): The Birth of Europe. – BBC Books, London. Arntz, W. E. & E. Fahrbach (1991): El Niño. Klimaexperiment der Natur. – Birkhäuser, Basel. Attenborough, D. (1987): Das Erste Eden. – Interbook, Hamburg. Aveni, A. F. (2000): Das Rätsel von Nasca. – Ullstein, München. Bajema, C. D. ed. (1971): Natural Selection in Human Populations. – Wiley, New York. Bätschmann, O. (1989): Entfernung von der Natur. Landschaftsmalerei 1750–1920. – Dumont, Köln. Bayerische Akademie der Wissenschaften (1993): Probleme der Umweltforschung aus historischer Sicht. Rundgespräche der Kommission für Ökologie Band 7. – Pfeil, München. Bayerische Akademie der Wissenschaften (2000): Entwicklung der Umwelt seit der letzten Eiszeit. Rundgespräche der Kommission für Ökologie Band 18. – Pfeil, München.
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Register
Abwasser 207-217, 268 Aborigines 17, 29, 165, 295 Ackerbau 17, 22 ff., 78 f., 92, 162, 197 Adler 89, 92, 97, 241 Aethiops 21 Akklimatisierung 157-163 Alauda 143 Alexander VI. 59 Alpen 9, 16, 21, 60, 80, 105f., Ulf., 202 Altai 20, 22 f. Ammoniak 195 Amsel 128, 143 Anasazi 63, 277 f., 282 Anopheles 9 Artenreichtum 191-196, 234 f., 237-245, 252ff., 256f., 270, 300-309, 323 Asiatisches Kulturdreieck 22 ff. Askania Nova 22 Astaxanthin 115 Attila 50, 56 Auerochse 50, 87, 91 Augentrost 142 Auguren 96 Averkamp, Hendrick 70 f. Ayoreo 295 Azteken 63, 286
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Baal-Kult 283 Banane 163, 255 Bantu-Wanderung 106, 293 f., 296 Barock 124 f. Basken 47 ff., 59 f. Bates, Henry 252 Behaim, Martin 59 Beizjagd 89 Benedikt XVI. 122 Bergpieper 217 f. Bevölkerungswachstum 246 ff., 273 ff. Biber 241 ff., 266 f., 309 Biene 74, 178 Bienenfresser 9f., 154, 217ff., 221 Bier 79 ff. Bilsenkraut 76, 78 Biocca, Ettore 284 Biologismus 13 Birkenspanner 263 Birkenzeisig 222 Bisamratte 158 Bison 63, 155, 298 Blauracke 219 Boreas 21 Borkenkäfer 258 Brandgans 222 Braunbär 88, 91, 243 Braunkohle 262 Brehms Tierleben 147, 149-154, 164, 219 Breughel, Pieter 70 f. Buchdruck 73
Carroll, Lewis 324 Carson, Rachel 259, 262 ClubofRome 272 Cuvier, Georges Baron de 168 ff., 174f., 181 Darwin, Charles 147 f., 168-180, 185, 263, 288 Darwinfink 171 f. DDT 258 f., 262-265 Delphin 304 Dendrochronologie 101 Diamond, Jared 24, 26 f., 84, 105 f., 276 f., 279, 284, 289f., 292 Distelfalter 225 Douglasie 158 Dreifelderwirtschaft 79, 142 Dreißigjähriger Krieg 40, 66, 69 f., 124 Dronte 305 Drossel 98, 125, 143, 222 Dschingis Khan 22, 54, 63, 94 Düngung 162, 187-190, 193, 195 f., 261, 268, 307 Eberesche 99 Eco, Umberto 318 Edelhölzer 254 f.
Eiche 258 Eichenmisteln 99 Eichenwickler 258 Eintagsfliege 117 Eisbohrkerne 16, 215, 281 Eiskeller 80 Eiszeiten 13, 15-19, 28, 49f., 65, 159t, 162, 172, 215, 292, 297 El Niño 106, 293 Elch 87, 243, 267, 309 Elefantenvogel 305 Ellenberg, Hermann 135 Energieverbrauch 136, 313 f., 319, 321 Erdgas 82 Erdkröte 118 Erdöl 82, 85 Erik der Rote 44 Eriksson, Leif 44 f. Eutrophierung 195 Falke 89f., 92, 97, 129 Falknerei 89f., 92, 97 Fasan 123, 153, 156 f. Fata Morgana 285f. Feige 92 Feldlerche 126, 160 Fichte 256, 257f., 260 Fischadler 243 f., 266 Fischerei 113 ff. Fischwanderung 19, 203 Fitislaubsänger 226 f. Flannery, Tim 11, 313, 325 Fliegenpilz 76 Floh 95 Flusskraftwerke 201 Flusskrebs 115, 117, 151 f. Flussperlmuschel 115, 117 Flussregulierungen 197-207, 209, 216, 313
Ford, Henry 256 Fossilien 167 f., 175 Friedrich II. 89 Friedrich, Caspar David 139 f. Fruchtbarer Halbmond 17, 22 Galilei, Galileo 71 Gänsesäger 222 Gebirgsschützen 122 Geoglyphen 277, 284 ff. Germanen 25, 28 f., 31 f., 43, 48, 57, 93 Gesner, Konrad 149 f. Gimpel 124, 222 Giraffe 172 f. Glazialrelikte 160 Gletscher 16, 49, 53 f., 105f., 111 f., 159, 190, 200, 202, 206, 227, 320 Goethe, Johann Wolfgang von 73, 137, 139, 145, 147, 168 Goldene Horde 54-58 Goldregenpfeifer 123 Goldrute 158 Gould, Stephen Jay 316f. Goten 43, 46, 48, 106, 280 Graugans 222 Graukranich 266 Grauwal 303 Grzimek, Bernhard 310 Gustav Adolf 69 Habicht 89f., 156f. Haeckel, Ernst 147, 169f., 176-181, 185 Haubenmeise 224 Hauskatze 129 Hausmarder 129 Hausratte 94 f., 129 Hausrotschwänzchen 128
Haussperling 127f., 154 Hawaiigans 304 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 31-41, 49, 56, 67, 69, 92, 124 Heinrich der Löwe 37 f., 40 Herkulesstaude 141, 158 Herodot 293, 296 Heyerdal, Thor 278 Hexen 73, 76 ff., 124 Hildegard von Bingen 74 Hitler, Adolf 211 Hitzesommer 210, 212, 214, 228, 229 Hochwasser 53 ff., 96, 107-112, 119f., 157, 197 ff., 200 ff., 206, 313 Holozän 17, 292 Homo erectus 15 Huche 114, 244 Humboldt, Alexander von 10, 142, 162 f. Hund 133 f., 136, 148f., 174 f. Hunnen 56 Hutchinson, G. Evelyn 14 Hyksos 56 Industrialisierung 11, 82, 85 f., 138, 184, 197, 262 Inka 63 f., 286 Inquisition 67, 72 Inuit 45, 106, 279, 287 Jagd 88 ff., 92, 113, 121 f., 125, 236 J ahresringauswertung 101 f. Joel 102
333
Kaffee 164 Kakao 66, 163 Kältewinter 71 f., 80 f., 106f., Ulf., 131, 210ff., 214, 287 Kamille 78 Kanarienvogel 124 Kandier, Otto 261 Känguru 156 Kant, Immanuel 137 Karl der Große 30 f., 92 Karmingimpel 222 Karthago 23f., 33 Kartoffel 17, 66, 72, 133, 163f. Kartoffelfäule 258 Kartoffelkäfer 63, 158 Katastrophentheorie 168, 170 Kepler, Johannes 71 Kiebitz 122 f. Kiefernschwärmer 258 Kiefernspanner 258 Kiefernspinner 258 Kinzelbach, Ragnar 60, 99 Kioto-Prozess 275, 322 Kläranlagen 207-210 Klassik 137 Kleine Eiszeit 28, 71 f., 80-83, 86, 98, 105f., 119, 121, 123, 130, 210, 231, 287 Klima-Optimum, mittelalterliches 28, 93, 105, 280, 282, 297 Klimawandel (20. Jahrhundert) 215-233, 274f., 313 f., 320f. Klostergründungen 39f. Köcherfliege 117 Kohle 72, 82, 84 f., 136, 321 Kohlendioxid 248 f., 256 Koka 66
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Kolumbus, Christoph 59 f., 64, 66, 138, 166, 292 Kon-Tiki 278 Konik-Pony 88 Kornrade 78 Korallen 174 f. Krakatau 136, 157, 211 Kranich 97 f., 243 Krebspest 152 Kreuzzüge 34-42, 48, 70 Kunik, Wolfgang 159 Kurlansky, Mark 47 Lachmöwe 122 f. Lachs 114, 244 Laki 111, 211 Lamarck, Jean Baptist de 168f., 170f. Leeuwenhoek, Anton van 149 Leimruten 98 Liebig, Justus von 187 Limes 32, 80 Linné, Carl von 148 f., 164, 167 Löss 18f., 162 Löwe 90, 297 Luchs 123, 136, 267 Luther, Martin 67 Lyell, Charles 174 Maikäfer 154, 258 Mais 17, 66, 132f., 163 Malaria 9, 259 Mao Tse Tung 302 Maori 280 f., 305 Marco Polo 94 Mauren 33, 35, 47, 59, 66 Maus 129f., 154 Mäusezyklen 130 Maya 63, 277 f., 282 ff. Meadows, Dennis 272f. Mediterraneis 21 Mehlschwalbe 128 f.
Mendel, Gregor 155 Menschenopfer 283 f. Methan 195, 249, 256 Mistel 99 Moa 305 Mohammed 58, 93 Mongolen 54-58, 63, 69, 89, 93f., 96, 281 Mozart, Wolfgang Amadeus 137 NABU 302 Nachtigall 98, 143, 146, 221 Nachtschatten 78 Naganaseuche 295 f. Napoleon 151, 211 Nasca 277, 282 f., 284 ff. Naturhaushalt 146 f., 178f., 184f., 234, 301 Naturschutz 86, 141 ff., 145f., 170, 203f., 217, 233-245, 260ff., 267275, 299, 301-305 Naturschutzgebiet 146, 192f., 204, 234-237, 271, 309f. Neandertaler 15 Nerz 150 f. Nibelungen 41, 50 f., 87, 90 Nilpferd 15 Nitrophoska 187f. Nonnenfalter 258 Odum, Eugene P. und Howard T. 181 f. Öko-Audit 182 Ökosystem 181 ff. Orchideen 161, 163 Ordensritter 39 Oryx 304 Osterinsel 277 f., 281, 286 f. Otto der Große 31 Ozon 261
Panda 253, 302 Papua 295 Paracas 284 Passat 10, 19, 250, 285 f., 293 Pest 61 f., 67, 94, 124 Pestvögel 71, 96, 98 ff., 154 Pferde 153, 295 Phönizier 283 Pleistozän 65 Polynesier 280 f. Przewalskipferd 88 Psychopharmaka 76 ff. Pygmäen 294, 296 Quecksilber 260 Ramsar-Konvention 303 Raubzeug 123, 129, 241 Rauchschwalbe 128 f. Rebhuhn 126, 143, 160 Regenwald, tropischer 10, 19, 245-256, 292, 296 Reh 121, 135 f., 154 Reiherente 222 Reis 163 Riesenhirsch 18, 50 Riesenknöterich 158 Rinderwahn 77 Rodungen 91 f. Romantik 20, 86, 136, 138-147, 170, 178 f. Rote Liste 194, 240, 242, 253, 301 Roteiche 158 Rothirsch 88 Rotmilan 224 Rousseau, Jean-Jacques 138 Rum 64
San 294 Sauerstoff 248 f. Schaf 74, 79, 91, 113, 131, 133 Schellente 222 Schierling 78 Schiller, Friedrich 97, 137 Schimmelpilz 152 Schirokko 19 Schleiereule 129 Schmetterling 225, 228 f., 252 Schokolade 164 Schwarzstorch 243 Schwefeldioxid 263 Schwein 79, 99, 251, 305 Seeadler 243 f., 266 Seehund 244, 271 Seidenschwanz 98 ff., 154, 230 Serengeti 310 Siegfried 87, 90 Silberreiher 271 Singschwan 222 Sklavenhandel 64, 69, 163, 180, 294 Sonnenflecken 99, 215, 229 ff. Sperlingskauz 222 Springkraut 141, 158 Städtegründungen 37 f., 92 Star 125-128 Stauseen 107, 109, 200-207, 209 Steinadler 244 Steinbock 236 Steinfliege 117 Steppenhuhn 103, 154 Stickstoff 261 Stifter, Adalbert 121 Stoiber, Edmund 122 Strandpieper 218 Sturmfluten 49-53 Syphilis 64
Tabak 163 f. Tacitus 36 f. Tafelente 222 Taiga 245, 255 f. Tambora 136, 211 Tapir 63 Tarpan 88 Taubenschwänzchen 9, 225 Thymian 142 Tiger 304 f. Tollkirsche 76, 78 Tollwut 131 Tomate 73 f., 163 Totenkopfschwärmer 9 Tributsch, Helmut 284 f. Tropen 163-167, 199, 245-256, 289-299, 307 f. Trypanosomen 295 Tsetse 295 f. Tundra 160, 222 Türkentaube 132, 158 Turmfalke 129 Uhu 123, 244 Umweltschutz 86, 141 ff., 146, 170, 203 f., 217, 233-245, 260 ff., 267-275, 299, 301-305 Veilchen 307 Vogel Rock 305 Vogelfang 98, 123-126, 145 Vogelflug 96 f. Völkerwanderung 12, 24, 30f., 39 f. Wacholderdrossel 222 Wachtel 123, 160 Waldameise 258 Waldkiefer 257f. Waldsterben 260 f., 272 Wallace, Alfred R. 252
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Wanderfalke 304 Wanderfische 19, 203 Wanderheuschrecke 96, 102-105 Wanderratte 61, 94 f. Wapiti 63 Waschmittel 208, 266 Wasserpest, Kanadische 158 Wein 79 ff., 92 Weise Frauen 75 f. Weißkopfseeadler 265 Weißstorch 225, 244, 265, 302 Weißwedelhirsch 309
Wellensittich 165 Wikinger 25, 42-49, 59f., 68f., 105f., 277-281, 287f. Wilderer 121 f., 125, 134 f. Wildgänse 97 f. Wildpferd 50, 87 f. Wildschweine 135 Wisent 50, 87, 91 Wolf 71, 88, 130-136, 243, 267, 309 Wolf-Minimum 280 Wüstenheuschrecke 102, 104
WWF 266, 302, 308 Yanomami 284 Yersinia pestis 94 Yukatan 277 f., 282 Zaunrübe 78 Zehent 125 Ziege 74, 79, 113, 133, 236, 298, 305 Zirkus 297 Zucker 64, 163 f. Zuckmücke 10 f., 228 Zugvögel 225 f., 230