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DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Eva Kačírková Eine Falle für die Katze Und Wie sich die Wespe ein Nest baut
Zwei Kriminalerzählungen
Der Schriftsteller Robert Lukáš nimmt an der Beerdigung seines Vaters in Olomouc teil und erfährt dort, daß er einen wertvollen Saphirring geerbt hat. Doch der Ring ist verschwunden, angeblich gestohlen. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf mehrere verdächtige Damen sowie einen merkwürdigen Selbstmord. Leutnant Petr Bort, Held der zweiten Erzählung, verbringt seinen Urlaub in Josefův Důl, einem Erholungsort unweit von Prag. Aber bereits am zweiten Tag endet sein Urlaub, denn bei einem Waldspaziergang findet er die Leiche einer jungen Frau, die offensichtlich von einem Felsen heruntergestoßen wurde.
Eva Kačírková Eine Falle für die Katze Wie sich die Wespe ein Nest baut
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Past pro kočku Jak si vosa staví hnízdo (c) Eva Kačírková, 1986 Aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1986 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/217/86 • LSV 7234 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 09/2010 622 707 5 00250
Eine Falle für die Katze
In Olomouc war ich fünfzehn Jahre nicht, Petr Šíma hatte ich noch länger nicht gesehen, und nach keinem von beiden verspürte ich Sehnsucht. Das einzige, was mich auf allerdings recht zweifelhafte Weise mit der Stadt verband, war der Umstand, daß ich dort geboren wurde. Mit Petr Šíma verband mich gar nichts. In den alten, unwiederbringlich vergangenen Zeiten, als wir das Gymnasium besuchten, das an einem sumpfigen Flußarm der Morava liegt, fiel er durch Mitesser und verspätete Pubertät auf. Drei Monate vor dem Abitur wollte er in den Westen flüchten, bewaffnet mit einem Pfadfinderdolch und einer Europakarte aus dem Schulatlas. Diese beiden Hilfsmittel hatte er sich von seinem Mitschüler Emil Hruška geborgt, der dann wegen Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt von der Schule flog. Petr wurde in Liberec gefaßt, wo er im Hotel „Nisa“ die elterlichen Ersparnisse mit einem Straßenmädchen verjubelte. Zu uns kam er nicht mehr zurück, und ich verließ in den Ferien die Stadt für lange Zeit. Zurückgekehrt war ich am Morgen eines Junitages, um meinen Vater, der sich von mir und meiner Mutter schon vor zwanzig Jahren getrennt hatte, im Olomoucer Krematorium einzuäschern. Ich fuhr auf Drängen meiner Mutter, die ihm nach altem, unlogischem Brauch im Augenblick seines Todes alles verzieh. Vielleicht befürchtete sie, die rührselige und überflüssige Zeremonie könnte ohne Publikum stattfinden. 6
Sie hatte sich geirrt wie immer, wenn es um meinen Vater ging. Mein egoistischer, leichtlebiger Herr Papa war ein großer Organist vor Gott und den Menschen gewesen, so geleiteten ihn auf seinem letzten Wege alle Verehrer Johann Sebastians und alle frommen Omas der kunstliebenden Stadt Olomouc, wo es von Kirchen wimmelt. Warum bei dieser Feier auch Petr Šíma in Gesellschaft eines kleinen Mannes mit ausdruckslosen Zügen und angegrautem Haar auftauchte, wußte ich nicht zu erklären. „Sei gegrüßt, Robert!“ rief er mir pietätlos im Urnenhain zu. „Ich hätte nicht gedacht, daß ich dich hier treffe.“ Er glotzte mich hinter dicken Brillengläsern an und fletschte schamlos die gelben Pferdezähne. Ich erinnerte mich an seinen Spitznamen – Tschangkaitschek. „Guten Tag, Petr“, begrüßte ich ihn zurückhaltend, „mir wäre auch nicht eingefallen, dich hier wiederzusehen.“ „Fürwahr!“ sagte er mit noch breiterem Grinsen. „Über Tote nur Gutes, aber unter uns gesagt – dein Vater … Wie alt war er eigentlich?“ „Achtundfünfzig.“ Der angegraute Herr hüstelte. „Im Ernst?“ wunderte sich Petr. „Ich dachte, älter. Aber trotz seines Alters war er immer noch ein geiler Bock.“ Petrs Begleiter sagte mit kultivierter, jedoch unbezweifelbar herrischer Stimme: „Gestatten Sie, daß ich Ihnen mein Beileid ausspreche. Mein Name ist Grym.“ „Lukáš.“ Ich drückte die dargereichte Rechte. „Diplomingenieur Grym“, belehrte mich Petr protzend, „Direktor von Metaz und mein Chef. Er ist aus Teplice nad Kamenicí zur Beisetzung gekommen und …“ Grym unterbrach ihn: „Ihr Vater war ein großer Musiker.“ 7
Ohne auf jemanden zu achten, schritt er den von Grabsteinen gesäumten Hauptweg entlang. Er war es offensichtlich gewohnt, daß sich ihm Menschen unterordneten. Ich hielt mich an seiner Seite. „Ein großer Musiker, ja“, bestätigte ich. Der Blick, den Grym nun auf mich richtete, ähnelte einem Nadelstich. „Robert war immer ein musikalisches Antitalent“, sagte Petr lachend, „und als Vater hat sich Meister Lukáš nicht gerade Verdienste erworben.“ Uns überholte eine majestätische Dame in tiefer Trauer. Ich erkannte Marie Kavanová, Solistin der Olomoucer Oper und seit zwanzig Jahren die Gefährtin meines Vaters. Ja, ich war hoffnungslos unmusikalisch. Wäre ich es nicht, hätte sich mein Vater vor diesen zwanzig Jahren vielleicht für mich entschieden. „Darf ich Sie zum Mittagessen einladen?“ fragte mich Grym im Befehlston, als wir das Friedhofstor erreicht hatten. Er ging zu einem Straßenkreuzer, an dem sein rauchender Fahrer lehnte. Ich war um vier Uhr morgens aufgestanden, vom Bahnhof aus gleich zum Krematorium gefahren und hatte noch keinen Bissen gegessen, aber es widerstrebte mir, als Tafelmusik Lobgesänge auf den großen Musiker zu hören. „Danke“, erwiderte ich mit der Stimme eines trauernden Hinterbliebenen, „ich möchte ein bißchen durch die Stadt schlendern.“ Ein Stück hinter der Straßenbahnhaltestelle erblickte ich die voluminöse Gestalt der Opernsängerin, die zögernd vor einem dunkelblauen Lada stand. Ein hagerer Mann von etwa sechzig Jahren hielt sie am Arm. Die Dame sagte etwas zu ihm, während ihre Augen auf mich starrten, er nickte und bewegte sich dann auf uns zu. 8
„Ich fahre mit“, sagte ich schnell zu Grym und hüpfte in den Wagen. Der Rostbraten im Hotel „Palác“ schmeckte wie marinierte Autoreifen, aber es gab Pilsner Bier, und Herr Grym erwies sich als stiller und taktvoller Tischgenosse. Ohne den geschwätzigen Petr hätte es ein angenehmes Mahl sein können. Mein ehemaliger Mitschüler berichtete erst ausführlich über sein Geschick seit jenem unglückseligen Ereignis. Das war noch auszuhalten, weil er sich mit meinen bewundernden Interjektionen zufriedengab, aber als er seine Lebensgeschichte ausgebreitet hatte, verlangte er von mir das gleiche. „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, protestierte ich bescheiden. Petr grinste mich zufrieden an und vergewisserte sich: „Du hast also keinen Studienabschluß?“ „Nein.“ „Und was machst du?“ „Dies und das.“ Er präzisierte die Frage: „Wo arbeitest du?“ „Nirgends.“ Ingenieur Grym hob seine Augen, die versonnen beobachtet hatten, wie die Bläschen in seinem Sodawasser aufstiegen. Petr wurde ärgerlich. „Von irgendwas mußt du doch leben!“ Mit einem Lächeln sagte ich: „Ich bin freischaffend und lebe in Prag. In Olomouc war ich seit dem Abitur nicht.“ „Sieh einer an“, wunderte sich neidisch Doktor Petr Šíma, Diplompsychologe und Kaderleiter von Metaz, „und das bist du als was?“ „Ich schreibe.“ „Ich habe Ihre ‚Heimkehr ins Bronzeland‘ gelesen“, be9
merkte Grym. „Das hat mir besser gefallen als andere Sachen aus der einheimischen Produktion dieses Genres.“ Ich lächelte über die geographische Einschränkung, so daß der geistesgegenwärtige Herr Grym eilig hinzufügte: „Ihr Buch würde überall Anklang finden. Haben Sie schon versucht, es im Ausland zu veröffentlichen?“ „Dazu fehlen mir die Beziehungen“, sagte ich bedauernd. Er blickte mich grüblerisch an. „Vielleicht hätte ich welche.“ „Warum sollten Sie das für mich tun?“ erwiderte ich amüsiert. Ich kannte ähnliche Versprechungen an Kaffeehaustischen. Sie hielten so lange wie der Schaum auf einem Glas Bier. Grym musterte mich, als gedächte er nicht mein Büchlein, sondern mich selber zu verkaufen. „Hätten Sie Interesse?“ „Selbstverständlich“, antwortete ich, „aber lassen wir das. Fremden bietet man solche Dienste nicht uneigennützig an.“ „Das ist klar“, bestätigte der eifrig zuhörende Petr, „schließlich kennt ihr euch gar nicht.“ „Ich würde das auch nicht umsonst tun“, sagte Grym, der mich weiterhin mit Blicken spickte. „Denken Sie an Beteiligung?“ fragte ich erstaunt. „Das ist eine ziemlich unsichere Investition.“ „Das stimmt“, kommentierte Petr, Grym sagte bedächtig: „Ich denke, daß Sie als Gegenleistung auch etwas für mich tun könnten.“ „Ich? Was?“ „Etwas … Privates.“ „Ich?“ fragte ich nochmals. „Ja, Sie.“ „In ein paar Stunden fahre ich zurück nach Prag.“ Ich huldigte nicht dem prosperierenden System der sich gegenseitig waschenden Hände. 10
„Vielleicht bleiben Sie länger hier, ich erstatte Ihnen die Unkosten.“ „Auf keinen Fall“, entgegnete ich aufrichtig. „Ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen nützlich sein könnte.“ Grym ließ sich nicht beirren. „Das werde ich Ihnen gleich erklären.“ „Aber ich will nicht! Ich habe keine Zeit und keine Lust.“ „Du bist vielleicht ein Esel“, sagte Gryms treuer Diener Petr zu mir. „Ohne zu wissen, worum es sich handelt, sträubst du dich schon.“ Ich beachtete Petr nicht und wandte mich an Grym. „Es soll sich um etwas Privates handeln, dabei kennen Sie mich gar nicht.“ „Ich habe Ihr Buch gelesen“, sagte er mit entwaffnendem Vertrauen, „und weiß, an wen ich mich wende.“ Einen kurzen, aber entscheidenden Moment hatte er mich sprachlos gemacht. Ehe ich überlegen konnte, ob er so naiv oder so gerissen war, befahl Direktor Grym seinem Kaderchef: „Geh zur Investitionsabteilung und erkundige dich, wieweit der Bau unseres Erholungsheims gediehen ist. Dazu brauchst du mich nicht.“ Doktor Šíma blinzelte erschrocken, „Das fällt doch nicht in mein Ressort!“ „Warum nicht, zu deinen Aufgaben gehört auch die Sorge um das Wohl der Betriebsangehörigen. Geh schon, du findest mich hier.“ „Sie haben den Fahrer fortgeschickt“, wagte Petr einzuwenden. Grym fertigte ihn grob ab: „Dann fährst du eben mit der Straßenbahn.“ Ich beobachtete, wie mein ehemaliger Mitschüler enttäuscht den Raum verließ. Dann richtete ich einen argwöhnischen, jedoch neugierigen Blick auf Grym. Er lächelte mich schüchtern an und sagte fast entschuldigend: „Ich mußte ihn loswerden. Ihr Freund ist 11
sehr brauchbar, aber manchmal kann er verdammt lästig sein.“ Ich überhörte die Warnung, die ich mit der Bemerkung „sehr brauchbar“ bekam. Daran erinnerte ich mich erst später, als ich Grund hatte, meine Begriffsstutzigkeit zu bedauern. Statt dessen verwahrte ich mich: „Petr war niemals mein Freund. Mit Verlaub – solange ich ihn kannte, war er ein Hornochse, und ich würde mich wundern, wenn er sich geändert hätte.“ „Es gibt nichts zum Wundern“, sagte Grym mit liebem Lächeln, „Deshalb habe ich auch den Gedanken, mich an ihn zu wenden, sogleich verworfen. Das wäre eine Notlösung gewesen, und ich bin nur darauf verfallen, weil Šíma von mir abhängig ist.“ Eine weitere deutliche Warnung, die ich wiederum überhörte. „Ich bin sehr froh, daß ich Sie getroffen habe“, fügte er hinzu. „Was habe ich denn gemeinsam mit Petr, daß ich ihn ersetzen kann?“ fragte ich, schon von Neugier gepackt. „Sie stammen beide aus dieser Stadt.“ „Ich lebe schon fünfzehn Jahre nicht mehr hier.“ „Aber Sie kennen Ihre Altersgenossen, die in Olomouc geblieben sind.“ „Nun, das vielleicht“, räumte ich ein, „einige Jungs würde ich sicher wiedererkennen. Das dürfte man aber kaum als Bekanntschaft bezeichnen.“ „Es geht nicht um einen Mann, sondern um eine Frau.“ Grym dämpfte die Stimme, als hätte er mir etwas Unanständiges anvertraut. Obwohl er sich bisher als Abstinenzler gegeben hatte, blickte er sich nach dem Kellner um und bestellte zwei Kognak. Ich betrachtete den kleinen, etwa fünfzigjährigen Mann, der von weitem unauffällig wirkte. In der Nähe fielen jedoch die schlauen Augen und der harte Aus12
druck um den Mund sofort auf. Es gelang mir nicht, bei Grym das romantische Erzittern zu entdecken, das eine solche Mitteilung gemeinhin begleitet. Der Abschied von meinem toten Vater hatte mich auf den dummen Gedanken gebracht, Grym forsche hier vielleicht nach der Frucht einer Jugendsünde. Deshalb fragte ich nicht gerade geistvoll: „Haben Sie einmal in Olomouc gelebt?“ „Nein, aber ich komme ziemlich oft her. Dieses Mädchen habe ich erst vorigen Monat kennengelernt, sie bestreitet allerdings, mich zu kennen.“ Ich trank den Kognak aus. „Vielleicht sollten Sie mir sagen, worum es sich handelt.“ Und so hörte ich eine nicht jugendfreie Geschichte: Vor etwa einem Monat machte Herr Grym eine Dienstreise nach Valašské Meziříčí oder Valmez, wie er den Ort nannte. Er fuhr mit seinem Privatwagen ohne Schofför. Auf der Rückfahrt nahm er gleich hinter Valmez eine Anhalterin mit. Grym wies sie darauf hin, daß er noch zu seinem Bungalow fahren müsse. Seine Frau hatte dort unlängst ein wertvolles Schmuckstück vergessen. Das Mädchen wandte gegen den Umweg nichts ein. Offenbar hielt sie das vom ersten Augenblick an für ein eindeutiges Angebot, auf das sie gern einging. Grym versicherte mir ernsthaft, daß er keinerlei Nebengedanken hegte. Das reizvolle Mädchen besaß jedoch mehr Phantasie. Es war ein schöner Maiabend, der Bungalow steht in romantischer Einsamkeit, Grym wurde schnell und zünftig verführt. Er unterbrach wieder seine Schilderung, um mir mitzuteilen, daß er sich in der Hinsicht durchaus nicht für ein Opfer halte. „Es war eine spontane, zu nichts verpflichtende Geschichte“, sagte er. „Ich vergaß völlig, warum ich eigentlich zum Bungalow gefahren war.“ 13
Ich begriff bemerkenswert schnell. „Hat sie Ihnen den Schmuck gemaust?“ Er bejahte es mit schiefem Lächeln. „Und Ihre Frau vermißt ihn jetzt.“ „Bisher habe ich ihr nicht gesagt, daß ich schon auf dem Grundstück war. Wir fahren selten hin.“ Über meinem leeren und Gryms vollem Glas breitete sich Stille aus. „Können Sie nicht das gleiche Geschmeide besorgen?“ „Das kann ich nicht. Der Schmuck ist gute fünfundzwanzigtausend Kronen wert“, sagte er betrübt. „Nun ja, und das Fräulein ist spurlos verschwunden.“ „Sie hat mir Namen und Adresse genannt“, sagte Grym bitter, „beides natürlich falsch.“ „Hatten Sie darum gebeten?“ „Ja“, bekannte er. „Ich Narr freute mich schon auf ein Wiedersehen – dabei habe ich eine ungewöhnlich hübsche achtundzwanzigjährige Frau.“ „So war dieses Flittchen einen Seitensprung wert?“ forschte ich. Grym blickte traurig von seinem unberührten Glas auf und schob es mir zu. „Trinken Sie das aus und sehen Sie sich das Mädchen selber an. Sie arbeitet in diesem Hotel an der Rezeption.“ Ich ging in die Halle, weil ich neugierig auf die Dame war, die einen so abgefeimten Herrn verführt und bestohlen hatte. Sie mußte ein Biest sein, das nicht nur Provinzformat besaß. Lautlos schlich ich über den moosweichen Teppich. Die Frau, die hinter dem Pult auf einem niedrigen Stuhl saß, hob gleichgültig den Kopf, als ich sie bat: „Könnten Sie so nett sein und mir das Telefonbuch leihen?“ „Es liegt vor Ihnen.“ „Ach ja, Verzeihung, ich habe es nicht bemerkt.“ Ich blätterte in dem Band, hielt den Zeigefinger auf eine beliebige Stelle, brummte, etwas zwischen Dank und Gruß 14
und kehrte ins Restaurant zurück. Die Frau las die ganze Zeit eine Illustrierte auf ihrem Schoß. Herr Grym, der in der gepolsterten Nische verloren wirkte, blickte mich erwartungsvoll an. Ich setzte mich ihm gegenüber. „Das ist vielleicht ein Weibsbild“, sagte ich, „sie wiegt mindestens neunzig Kilo und ist über sechzig.“ Grym richtete sich auf und verfinsterte sich. „So ein Pech! Wahrscheinlich ist das die andere Schicht oder eine Vertretung … Würden Sie heute abend oder morgen früh noch einmal nachschauen?“ „Nein“, entgegnete ich. „Warum?“ „Aus mehreren Gründen.“ „Nennen Sie mir Ihre Gründe.“ Das war eher ein Befehl als eine Bitte. „Erstens muß ich heute nach Prag zurückfahren.“ „Sie müssen nicht. Sie sind freischaffend.“ „Ich brauche Geld.“ „Dem können wir leicht abhelfen.“ Lächelnd griff er in die Brusttasche. Ich hielt ihn zurück. „So habe ich das nicht gemeint. Ich spreche nicht von dem Geld, das ich für den Aufenthalt brauchte, sondern von dem, das ich verdienen muß. Von der Arbeit, die auf mich wartet. Ich habe nämlich auch meine Verpflichtungen.“ „Das bezweifle ich nicht“, erwiderte er flink, „doch Sie sind ein Schriftsteller und leben von Abenteuern und Schicksalen anderer Menschen. Meine Bitte ist eigentlich ein Beitrag zu Ihrer Arbeit.“ „Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie eigentlich von mir wollen.“ Das zufriedene Aufblitzen der grauen Augen zeigte mir, daß sich Grym meiner schon sicher war. „Ich möchte gern möglichst viel über sie erfahren“, sagte er nachdrücklich. „Ob sie verheiratet oder geschieden ist, ob sie 15
Familie hat, wie sie lebt, wie abhängig sie von der Stellung im Hotel ist, wie die andern Hotelangestellten über sie reden …“ „Und ob sie ein Muttermal auf dem Po hat. Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich sie etwa verhören?“ „Sie und andere Leute“, antwortete er, als hätte er alles längst bedacht. „Das meiste wird sie Ihnen selber erzählen. Sie sind ein netter junger Mann, der sie zu einem Gläschen einlädt …“ Wieder griff er nach der Brieftasche. „Lassen Sie das Geld stecken!“ sagte ich ärgerlich. „Nehmen wir an, sie ist nicht unzugänglich. Wird sie aber gleich alles über sich auspacken?“ „Ja, das wird sie. Frauen klagen oder prahlen gern. Und was sie verschweigt, erfahren Sie von Ihren alten Bekannten. Eine Rezeptionsdame im Hotel ‚Palác‘, dazu von solcher Schönheit, kann nicht im Verborgenen leben. Sie werden viel Tratsch über sie sammeln, und darunter wird auch etwas Brauchbares sein.“ Ich unterdrückte die Worte ‚ich werde nicht sammeln‘ und fragte höflich: „Was, bitte?“ Grym kniff die Lippen zusammen, ehe er sagte: „Etwas, das mir ermöglicht, sie in die Zange zu nehmen.“ „Ich verstehe Sie nicht.“ Meinen Widerwillen unterdrückte ich. Grym schien ihn trotzdem bemerkt zu haben. „Dieses Mädchen hat mir ernsthafte Schwierigkeiten gemacht“, sagte er düster. „Sicherlich hat sie einen Ehemann oder Freund und wünscht, daß dieser nichts von ihrem – gelinde ausgedrückt – ungezwungenen Benehmen erfährt. Sie könnten ihr damit drohen, ihm das zu berichten, falls sie den Schmuck nicht zurückgibt.“ „Eine nette kleine Erpressung, nicht wahr?“ „Und wie würden Sie das bezeichnen, was sie getan hat?“ fuhr er mich an. Zum erstenmal während unseres Gesprächs verlor er die Beherrschung. 16
Forschend betrachtete ich ihn. Alles, was ich sah, sprach für Grym. Er war ein seriöser Mann, der einen leicht zu entschuldigenden Fehltritt begangen und dafür sehr teuer gezahlt hatte. Grym las in meinen Augen und sagte zerknirscht: „Verzeihung, ich habe die Nerven verloren. Je länger ich darüber rede, desto weniger begreife ich, wie ich so dumm hereinfallen konnte. Einmal werde ich das Karel Grym dem Vierten als Warnung erzählen.“ „Wem?“ fragte ich erstaunt. „Meinem Enkel“, antwortete er mit Selbstironie. „Ich bin schon Großvater. Traurig, aber wahr.“ Ich verglich diese Tatsache mit dem Alter von Gryms Frau und gelangte zu einem einfachen Schluß. Darüber mußte ich lächeln. Vielleicht besaß ich tatsächlich Talent zu der Aufgabe, die mir Grym anvertraute. Er legte das Lächeln auf seine Weise aus. Ich fragte: „Sind Sie sicher, daß die Rezeptionsdame mit dem Mädchen identisch ist?“ „Hundertprozentig.“ Die Story war interessant. Wenn ich hier lebte, würde ich Grym wohl diesen Dienst erweisen. Aber meinen Aufenthalt in der ungeliebten Vaterstadt nur deswegen verlängern … „Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?“ fragte ich vorwurfsvoll. „Ich bin fünfzehn Jahre nicht in Olomouc gewesen.“ „Es genügt, wenn Sie hier Bekannte finden. Außerdem besitzen Sie weitere Voraussetzungen für diese Aufgabe. Wir werden einander kaum wiedersehen. Meiner Eitelkeit würde das guttun, das gestehe ich. In dem Stück spiele ich nicht gerade eine Heldenrolle.“ Beinahe hätte er mich erweicht. „Und dann – Ihr Beruf“, fuhr er fort. „Schriftsteller sind neugierig, aber im Unterschied zu Journalisten posaunen sie nicht alles gleich in die Welt hinaus. Sie benutzen es höchstens in einem literarischen Werk.“ 17
„Würde Sie das nicht stören?“ „Sie müßten doch meine Anonymität wahren“, erwiderte er. „Das ist die Pflicht eines Schriftstellers.“ „Was bin ich schon für ein Schriftsteller!“ sagte ich seufzend, von der ständigen Wiederholung dieses Wortes provoziert. „Sie sind ein Schriftsteller“, erklärte er mit Entschiedenheit. So entschieden, daß er mich davon überzeugte. Ich dachte daran, daß sich in meiner Prager Mansarde der Staub auf meine angefangene Novelle setzte, während ich hier die Zeit mit Geplapper vergeudete, das ich bald vergessen würde. „Es tut mir leid, Herr Grym“, sagte ich, „aber ich kann das wirklich nicht für Sie tun.“ Der kleine Platz am neugotischen Dom sah aus wie ein Zufluchtsort für arme Sünder. Mich verlangte nicht nach der Tröstung des kühlen Halbdunkels in einem Kirchenschiff. Ich setzte mich auf die Stufen vor dem dreiteiligen Portal, das unbarmherzig von der Nachmittagssonne beschienen wurde, und blickte auf die Statue eines Heiligen. Er hätte mein Schutzpatron sein können. Wir hatten etwas gemeinsam, ich und Jan von Nepomuk, der Beichtvater einer böhmischen Königin. Ob sie ihm wohl ebenso pikante Sünden bekannt hatte wie Herr Grym mir? Es war komisch und absurd. Ein völlig fremder Mann wandte sich mit einer ziemlich verrückten Bitte an mich. Als Argument, das mich überzeugen sollte, diente ihm mein Beruf. Er erzählte mir ein heikles Histörchen, in dem wider alle Regeln dieses Genres nicht ein unschuldiges Mädchen, sondern ein welterfahrener Mann in den besten Jahren das Opfer war. Grym war der durchtriebenen Anhalterin nur wegen seiner Selbstsicherheit und Eitelkeit ins Garn gegangen. 18
Betrachten wir einmal sein Verhältnis zu Petr Šíma. Der Herr Direktor gehört zweifellos zu den Souveränen, die innerhalb der Grenzen ihres Herrschaftsbereichs geachtet und gefürchtet sind. Mit mir sprach er wie mit seinesgleichen. Ich stehe freilich nicht in seinen Diensten. Wie würde sich wohl sein Verhalten ändern, wenn ich mich bei ihm verdingte? Das hatte ich jedoch nicht im Sinn. Ich erhob mich und lief auf dem mittelalterlichen Kopfsteinpflaster die Domgasse zur Straße des 1. Mai hinunter, die zum Hauptbahnhof führt. Der nächste D-Zug fuhr in ungefähr einer Stunde, so verließ ich wieder die Bahnhofshalle und begab mich über die Straßenbahngleise in ein neues Hotel, dem eine einst geliebte schmutzige und verräucherte Spelunke hatte weichen müssen. Das Restaurant war gemütlich wie ein Fußballplatz und fast leer. An einem Tisch amüsierte sich lautstark eine Gruppe zigeunerbrauner Ausländer in schreiend bunten Hemden. Es redeten immer mindestens drei gleichzeitig, und sie schlugen mit harten, nicht gerade sauberen Fäusten auf den Tisch, so daß die Rotweinflaschen mit italienischen Etiketten gefährlich schwankten. Ohne Rücksicht auf das Schild, das Rauchen zur Mittagsstunde verbot, qualmten sie eine Zigarette nach der anderen und verstreuten die Asche auf dem Fußboden. Das störte weder den Kellner, der wie ein Kuli katzbuckelte, noch die dumm kichernde Serviererin, die um die ungezügelten Italiener herumtänzelte. Ich ging wieder hinaus in die mitleidlose Sonne. Bis ich die trotz allem geliebte Stadt verlassen konnte – sonst hätte mich nicht jede Veränderung so aufgeregt –, verblieben mir fünfzig Minuten. Auf dem Parkplatz stand vereinsamt ein dunkelblauer Lada. Ein hagerer älterer Herr stieg aus, blickte auf seine Zwiebel und verglich die Zeit mit der Bahnhofsuhr. Zögernd schaute er 19
über die heiße Betonfläche zu der verwahrlosten Grünanlage herüber. Er sah mich, zuckte zusammen, als wäre er von einer Wespe gestochen, und rannte auf mich zu. „Herr Lukáš, wenn ich mich nicht irre“, sagte er mit einer Stimme, die trocken und scharf war wie Pfeffer. Ich hatte ihn schon gesehen, und nicht nur vormittags im Krematorium. Er war der Vater meines ehemaligen Mitschülers Lád’a. Einst hatten wir aus seinem Bücherschrank Krimis gestohlen und heimlich seinen Sliwowitz getrunken. „Wie ich sehe, erinnern Sie sich an mich“, sagte Dr. jur. Roháč. Die schmalen Lippen im Gesicht eines römischen Senators verzerrten sich zu einem dünnen Lächeln. Auch an dieses Lächeln erinnerte ich mich. Ich war wieder jung und schuldbeladen, schutzlos den kalten, durchdringenden Augen des Notars ausgeliefert. „Ja“, sagte ich. „Ich möchte mit Ihnen reden.“ „Mein Zug fährt gleich“, entgegnete ich. „Ich weiß. Deshalb habe ich Sie auch hier gesucht.“ „Woher wußten Sie, daß ich mit diesem Zug fahre?“ fragte ich argwöhnisch. Wieder das gleiche mitleidige Lächeln. „Ich war schon zum vorigen hier, und wenn Sie nicht um vierzehn Uhr dreißig fahren würden, wäre ich zum nächsten hergekommen. Da Sie am Krematorium vor mir ausgerissen sind.“ „Ich bin nicht ausgerissen“, erwiderte ich im gleichen Ton. „Schließlich konnte ich nicht ahnen, daß Sie mit mir sprechen wollen. Dort habe ich Sie auch nicht wiedererkannt.“ „Sie haben aber die Dame in meiner Begleitung wiedererkannt“, sagte er mit deutlichem Vorwurf. Mir wurde bewußt, daß ich vor ihm nicht kuschen mußte wie der Gymnasiast, den er auf dem WC mit einer 20
Zigarre erwischt hatte. „Meinen Sie, ich hätte ihr kondolieren sollen?“ fragte ich giftig. „Das wäre angebracht gewesen“, bestätigte der alte Pharisäer mit würdiger Miene. Ich musterte ihn ungläubig, und er fügte mit einem widerlichen Anflug von Sentimentalität hinzu: „Sie ist schließlich fast Ihre zweite Mutter.“ Daß ich mich bei der Erinnerung an das alte Unrecht noch so sehr erbosen konnte, hätte ich nicht geglaubt. Ich zischte geradezu: „Mir genügt meine eigene, und meinen Vater vermisse ich schon zwanzig Jahre nicht.“ „Ihre Mutter lebt noch?“ Die römischen Züge wurden zur Maske eines betrogenen Wucherers. „Sie erfreut sich sogar bester Gesundheit. Haben Sie etwas dagegen?“ Dr. jur. Roháč griff in die Tasche seines schwarzen Sakkos und holte eine Brille hervor. Nachdem er sie betrachtet hatte, putzte er sie sorgfältig mit einem Taschentuch. Er setzte die Brille auf die Nase, faltete das Taschentuch pedantisch zusammen und steckte es ein. Nach all diesen überflüssigen Prozeduren sagte er: „Ich kümmere mich um die Hinterlassenschaft Ihres Vaters. Also werde ich mit Ihnen und Ihrer Frau Mutter zu tun haben.“ Ich wollte ihn gleich zum Teufel schicken, doch er gönnte mir dieses Vergnügen nicht. „Dem können Sie sich nicht entziehen“, ermahnte er mich. „Sie wollen doch nicht in ein paar Tagen wieder herkommen!“ „Warum sollte ich das?“ fragte ich trotzig. „Ihr Vater hat einige … hm … Kleinigkeiten hinterlassen.“ Ich spürte Bitterkeit. Auf einmal war ich wieder das verstörte Kind, das nicht begreift, daß sich sein geliebter und verehrter Vater so leicht von ihm lossagen konnte. Niemand hatte mir etwas erklärt, und ich begriff erst im 21
Laufe der Jahre, daß so etwas vorkommt, ja sogar üblich ist. Das war jedoch später Balsam auf eine Wunde, die einem dreizehnjährigen Jungen beigebracht worden war. Jetzt brach diese alte Wunde wieder auf, und sie brannte wie damals, obwohl ich inzwischen fast vierunddreißig Jahre zählte. „Irgendwelche Kleinigkeiten interessieren mich nicht“, sagte ich heftig. „Ich habe etwas verloren, was mir niemand jemals ersetzen wird. Und jetzt liegt mir ein Dreck daran.“ Im Gesicht des alten Notars leuchtete Zufriedenheit auf. „Ist Ihre Mutter derselben Ansicht?“ fragte er eilig. „Bestimmt“, bestätigte ich. Sein Eifer stimmte mich jedoch bedenklich, deshalb fügte ich hinzu: „Das heißt … ich müßte sie wohl fragen, sofern es um diese Hinterlassenschaft geht.“ Doktor Roháč grinste säuerlich. „Das werden Sie wohl müssen. Ich hoffe, daß Sie Ihre Frau Mutter von der Richtigkeit Ihres Verhaltens in dieser Angelegenheit überzeugen.“ „Sie sollten mir vielleicht erklären, worum es sich konkret handelt, wenn ich sie von etwas überzeugen soll.“ Seine Lippen schürzten sich dulderisch. „Wenn Sie darauf bestehen …“ „Ich bestehe darauf“, sagte ich ihm lachend ins Gesicht. „Am besten, wir setzen uns irgendwo.“ In der Tür des Restaurants, das ich vor einer Weile verlassen hatte, mußten wir den braunen Männern den Vortritt lassen. Lärmend strömten sie heraus, einer rempelte Roháč beinahe an. Der Notar wich angeekelt aus. „Italienisches Pack!“ krächzte er. „Zu Hause dürften sie in so einem Lokal höchstens ausfegen, und hier benehmen sie sich, als gehörte es ihnen.“ „Wenn ihnen unser Personal das nicht erlaubte, wür22
den sie sich auch hier feiner benehmen“, bemerkte ich mit Blick auf den Kellner, der die Zigarettenkippen unter dem Tisch der Italiener auflas. „Sehen Sie sich den Serviettenschwenker an! Ich wette, daß er bei ihnen Devisen eintauscht. Dafür kriecht er sogar auf dem Fußboden herum.“ „Die armen Gastarbeiter!“ schimpfte Roháč. „Dabei leben sie hier besser als wir. Ich würde sie alle bis Neapel scheuchen!“ „Wir haben sie doch gerufen“, wandte ich ein. „Weil sich bei uns jeder vor Arbeit drückt! Ich würde den Faulpelzen schon das Arbeiten beibringen, da können Sie Gift drauf nehmen.“ „Wie würden Sie das anstellen?“ fragte ich, als wir uns gesetzt hatten. „Ganz einfach. Keine soziale Sicherheit und keine Vergünstigungen. Das Existenzminimum und die Angst, auch das zu verlieren, und Sie werden sehen, wie alle schuften.“ „Das hatten wir doch schon einmal“, sagte ich enttäuscht, „und gerade das hat sich nicht bewährt. Haben Sie das ‚Kapital‘ gelesen?“ Er fragte lauernd: „Sind Sie Kommunist?“ „Ich bin Marxist“, antwortete ich elegant, „und Sie können mich kaum in meiner Überzeugung wankend machen.“ „Das würde ich gar nicht versuchen. Der Kommunismus als Gesellschaftsordnung gleicht dem Elektromobil als Verkehrsmittel. Jeder weiß, daß es die bestmögliche Lösung ist, aber niemand hat bisher herausbekommen, wie es funktioniert.“ Damit hatte er mich auf die Matte gelegt. Demütig fragte ich: „Was möchten Sie von mir?“ Der Denker fuhr zusammen, als hätte, ich ihn aus philosophischen Betrachtungen gerissen, und fragte zerstreut: „Laden Sie mich ein?“ 23
„Selbstverständlich“, bejahte ich erheitert. Er wandte seinen Patrizierkopf zum Kellner hin und fragte: „Haben Sie Martell?“ „Einen Martell“, sagte gleichgültig der Gauner. „Und einen Korn“, fügte ich hinzu. Der Notar fauchte verächtlich und rief dem Kellner boshaft nach: „Aber einen echten Martell, ich kenne mich aus!“ Ich stützte mich mit den Ellbogen auf den Tisch. „Wie steht es also um die Hinterlassenschaft?“ Doktor Roháč setzte eine professionelle Miene auf. „Ihr Vater und Frau Kavanová hatten viele Jahre lang eine gemeinsame Wohnung.“ Nach dieser Mitteilung blickte er mich erwartungsvoll an. Ich schwieg. „Trotzdem, aus verschiedenen, hauptsächlich künstlerischen Gründen haben sie nicht geheiratet.“ Ich schwieg weiterhin. Die Gründe, warum mein Vater und die Operndiva nicht geheiratet hatten, interessierten mich nicht. „In zwanzig Jahren schaffen sich zwei Menschen einen gemeinsamen Haushalt“, teilte mir der Notar als weitere verblüffende Tatsache mit. „Sie besitzen viele Gegenstände des gemeinsamen Gebrauchs.“ Die vorsichtige Juristensprache belustigte mich. „Frau Kavanová soll in Gottes Namen die Federbetten und Kaffeetassen behalten“, sagte ich, „weder meine Mutter noch ich möchten irgendwelche Souvenirs haben.“ „Es handelt sich nicht nur um Geschirr.“ „Also bitte kurz – um Geld?“ „Nein. Barschaften hat Meister Lukáš nicht hinterlassen.“ „Das ist schade“, sagte ich mit einem aufrichtigen Seufzer. Durch die verstaubten Fenster schien die Sonne und ließ den gelbgrünen Teppich wie eine Frühlingswiese 24
leuchten. Auf einmal merkte ich, daß ich müde war und vor Mitternacht nicht ins Bett kommen würde. Der Spaß mit Doktor Roháč hörte auf, lustig zu sein. „Hören Sie, wir wollen wirklich nichts“, sagte ich, während ich in die vorgehaltene Hand gähnte. „Frau Kavanová soll sich keine Sorgen machen. Das können Sie ihr ausrichten.“ „Eine mündliche Erklärung genügt nicht“, erwiderte der Notar sachlich. „Unterschreiben Sie das?“ Er angelte aus der Brusttasche einen Zettel mit nur drei Zeilen Text. Ich musterte den alten Fuchs, der so wenig seinem Sohn ähnelte, mit dem ich vier Jahre lang auf einer Schulbank gesessen hatte. „Was macht Lád’a?“ fragte ich unwillkürlich. Das ausgetrocknete Gesicht wurde lang, Roháč sagte knarrend: „Er lebt in Australien. Es geht ihm ausgezeichnet.“ Ich erinnerte mich an seinen siebzehnjährigen Sprößling. Er strengte sich sehr an, daß man ihn von der Schule warf, denn er wollte nicht Jurist, sondern Maurer werden. Der Junge, der in der Schule kaum durchschnittliche Noten erreichte, verdiente in den Ferien auf dem Bau horrende Summen – jedenfalls im Vergleich zu unseren bescheidenen Jobs. Gegen eine kleine Provision machte ich den Strohmann, auf dessen Namen das Geld ausgezahlt wurde, damit der Herr Papa nicht entdeckte, daß der junge Herr Roháč mit einer Maurerkelle malochte, anstatt Latein zu büffeln. Ich bezweifelte nicht, daß es Lád’a in Australien ausgezeichnet ging, und mir war klar, wie er das geschafft hatte. Doktor Roháč reichte mir einen goldenen Füllfederhalter. „Unterschreiben Sie?“ „Nein.“ „Warum denn auf einmal nicht?“ fuhr er mich jähzornig an. „Meine Eltern wurden vor zwanzig Jahren geschie25
den“, erklärte ich. „Damals werden sie sich auch über den Verbleib der Sachen geeinigt haben. Stecken Sie den Wisch ein oder werfen Sie ihn weg. Er hat für Ihre Klientin keinerlei Bedeutung.“ Roháč bewegte sich auf seinem Stuhl wie ein Topfdeckel bei siedendem Wasser. „Mann, machen Sie sich nicht lustig über mich! Ihre Eltern wurden niemals geschieden. Zu einer gewissen Gütertrennung kam es zwischen ihnen nur auf der Grundlage einer mündlichen Übereinkunft, aber Sie und Ihre Mutter sind die einzigen gesetzlichen Erben.“ Ich glotzte den alten Notar an, ohne ihn zu sehen. In meinem Hirn lief ein Film ab: Ein asthenischer Junge wartet vor der verschlossenen Tür des väterlichen Arbeitszimmers; derselbe Junge steht bei einem Autobus, in den eine Horde Kinder verladen wird. Dann folgten drei unvergeßliche Wochen in einem Ferienlager bei Moravský Beroun, mit denen meine Kindheit endete. Als ich heimkam, stand meine Mutter mit kraftlos herunterhängenden Armen mitten im Zimmer, dessen Fenster auf einen der berühmten Olomoucer Parks blickten. Dieses Zimmer war leer wie ihre Augen. An den staubigen Wänden zeichneten sich scharf helle Rechtecke von Bildern und Möbeln ab. Mein Rucksack voller schmutziger Wäsche plumpste auf den Fußboden, wo ein dünner, aber sehr kostbarer Perserteppich verschwunden war. Ohne die plötzlich alt gewordene Frau zu beachten, rannte ich in mein Zimmer, zu meinem Stolz, einer mühsam zusammengetragenen Mineraliensammlung, die in einer altmodischen Vitrine untergebracht war. Ich fand die Steine in einer Ecke, auf einen Haufen geschüttet. „Mama!“ schrie ich unter Tränen. „Die Wohnung ist ausgeraubt! Wo warst du …“ Mit schmutzigen Fingern suchte ich die Bruchstücke eines Achats, um sie wieder zusammenzufügen. 26
„Ja“, sagte meine Mutter dumpf. Ich ließ die armseligen Brocken fallen. „Wo ist Papa? Ist ihm etwas passiert?“ „Nein“, antwortete meine Mutter. „Papa ist nichts passiert, aber … Er wohnt nicht mehr hier bei uns.“ Plötzlich begriff ich, daß das die Wahrheit war. „Das ist deine Schuld! Du hättest ihn nicht gehenlassen dürfen! Warum hast du ihm nicht gesagt, er soll auf mich warten?“ schrie ich in ihr gequältes Gesicht. Dann lief ich aus dem Haus. Ich versteckte mich im Park hinter der öffentlichen Toilette, kaute holzige Stengel und wollte nicht wahrhaben, daß ich meinem Vater absolut nichts bedeutete. Mit Brennesselblasen, aber trockenen Augen kam ich heim. Lange Zeit redete ich mit meiner Mutter nur das Notwendigste, und sie, eine Lehrerin mit eiserner Selbstbeherrschung, gab mir still mehr Liebe, als mir rechtmäßig zustand. Ich nahm diese Liebe schweigend und unversöhnlich an, denn einen mußte ich schließlich bestrafen. – Für die väterlichen Konzerte in der Mauritiuskirche, wo meine gottlosen Mitschülerinnen mit heuchlerisch niedergeschlagenen Augen im Rhythmus der herrlichen Musik ihre Körper bewegten. Für die Snobs in den Weinstuben, die den Sohn des berühmten Organisten zu einem Dezi einluden. Für meinen hundert Kilo schweren Vater, der seine Blicke im Neptunbrunnen versenkte, als wir uns vor dem Rathaus begegneten. Nach meinem Abitur tauschten wir die Wohnung und zogen nach Prag. Niemals zweifelte ich daran, daß meine Eltern geschieden waren. Das hatte mir allerdings auch niemand bestätigt, weil ich über dieses Thema kein Gespräch zuließ. „Ich bleibe hier“, sagte ich zu Doktor Roháč, „und rufe abends meine Mutter an. Sie wird aber bestimmt nicht herkommen. Würde Ihnen eine telegraphische Zustimmung genügen?“ 27
„Lieber schriftlich und notariell beglaubigt“, antwortete er. „Den Brief könnten wir übermorgen schon haben.“ Ich registrierte ein einziges Wort – übermorgen. „Und so lange soll ich hierbleiben?“ fragte ich entsetzt. „Was mache ich die ganze Zeit?“ „Besuchen Sie die Stätten Ihrer Jugend“, riet mir der Notar freundlich. „Sie werden sehen, daß sie noch genauso reizvoll sind wie früher.“ Die Frau, die sich hinter der Rezeption des Hotels „Palác“ über irgendwelche Papiere beugte, wog keine neunzig Kilo und war nicht sechzig. Über dem dunklen Holzpult, das dem Bug einer Karavelle glich, flimmerte eine üppige Mähne wie Aztekengold. Der schöne Rücken drehte sich beim Laut meiner Schritte um, die braunen Pupillen weiteten sich. „Roby?“ Die kehlige Stimme durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag. Vanda sprang vom Deck ihres Schiffes und lief mir entgegen. Auf hohen Absätzen flog sie wie ein schlanker Vogel mit weit ausgebreiteten Schwingen. Sie umarmte mich. „Robík“, wiederholte sie glücklich und atemlos, „das ist doch nicht möglich! Wenn du wüßtest, wie oft ich an dich gedacht habe!“ „Ich an dich auch, Vanda“, sagte ich, männlich meine Rührung verbergend. Vanda zog sich von mir auf Armlänge zurück. „Wie kommst du hierher?“ „Ich habe in Olomouc etwas zu erledigen“, antwortete ich unbestimmt. „Aber wie hast du gewußt, daß du mich hier findest?“ „Das habe ich gar nicht gewußt“, bekannte ich. Plötzlich überkam mich ein ungutes Gefühl. 28
Vanda trat einen Schritt beiseite und lächelte mich bläßlich an. „Und wie lange bleibst du?“ „Etwa zwei Tage.“ „Wo wohnst du?“ „Hier“, sagte ich, „wenn du mich unterbringen kannst.“ „Hast du ein Zimmer bestellt?“ fragte sie nun in professionellem Ton und kehrte hinter das Pult zurück. Ich wunderte mich. „Ist das in eurer Herberge nötig?“ Vanda blätterte im Gästebuch. „Nach sechs wird vielleicht etwas frei.“ „Dann warte ich“, sagte ich ergeben. Das schöne Mädchen lächelte mich schön an. „Warum willst du so viel Geld ausgeben? In meinem Appartement ist genug Platz.“ Ich erbebte und fragte anstandshalber: „Wirst du deshalb keine Schwierigkeiten bekommen?“ „Das ist meine Sache. Übrigens geht das keinen etwas an“, sagte sie leichthin. „Wenn du möchtest …“ „Natürlich“, bestätigte ich. Ihre Worte waren für mich eine Verheißung. Daß mich in meiner Vaterstadt etwas so Angenehmes erwartet, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Der Knabe in der Muschel auf dem Tritonenbrunnen starrte in unbekannte Fernen. Vielleicht in seine Kindheit, die fast vierhundert Jahre zurücklag. Auch ich blickte zurück, in die märchenhaften, grausamen Zeiten, als wir keine Kinder mehr waren, aber auch noch keine Erwachsenen. Als wir alles längst Erforschte und Profanierte selber und zum erstenmal entdeckten. Als wir jeden Verlust für eine endgültige Niederlage in unserem Leben hielten. Vanda Gabrielová war die Entdeckung meines Lebens. Meine Relativitätstheorie. So ungefähr hatte ich sie in meinen Versen besungen, in denen ich ausgiebig die Terminologie der Naturwissenschaften verwandte. 29
Beim Zusammenreimen der Gedichtchen ahnte ich nicht, wie sehr ich mich der Wahrheit näherte. Denn Vanda war wirklich ein Naturphänomen, das man erforschen, über das man verzweifeln und sich freuen kann, das man sich jedoch nicht aneignen kann. Fast hätte ich gewünscht, Vanda fett und kurzatmig vorzufinden. Sie strahlte jedoch wie damals. Der Wasserspeier am Fuß der Tritonen fletschte die Zähne zu einem wollüstigen Grinsen. Da war die schmutzige Geschichte des Direktors Grym. Und die andere Empfangsdame im Hotel konnte nicht gemeint sein. Ich blickte auf die Tritonen, die auf ihren Schultern geduldig die überschwere steinerne Last trugen, und auf den Knaben, der sich sorglos über ihren gebeugten Köpfen zum Himmel reckte. Seufzend wandte ich der barocken Schönheit den Rücken zu. Das Mädchen, das im Postamt hinter einer Glasscheibe saß, hatte das Gesicht eines Barockengels mit großen blauen Äuglein, die in unerschütterlich guter Laune leuchteten. Als Zugabe zur blitzschnellen Verbindung nach Prag schenkte sie mir ein Lächeln. Es verriet, daß sie neugierig und zutraulich wie das Eichhörnchen war, das mich eben im nahen Park geneckt hatte, und daß sie sich wohl ebenso leicht zähmen ließe. Meine Mutter nahm nach dem dritten Klingeln den Hörer ab, und wie immer meldete sie sich mit „Ja“. „Guten Tag, Mama, ich rufe aus Olomouc an.“ Das überraschte sie keineswegs, obwohl sie sonst beunruhigt und aufgeregt war, wenn ich mich einmal verspätete. „Ja“, sagte sie wiederum. „Mich hat Doktor Roháč aufgehalten, wenn du dich an ihn erinnerst …“ „Ja“, sagte meine Mutter zum dritten Male. „Was will er von uns?“ 30
Ich preßte die Zähne zusammen, daß sie knirschten, als hätte ich auf einen Stein gebissen. Dieses „uns“ in ihrer Frage verriet mir, daß sie mit Roháč gerechnet hatte. „Mama, wart ihr wirklich nicht … ist es wahr, daß …“ „Sprich deutlich!“ sagte meine Mutter scharf. „Ich verstehe dich nicht. Was will Roháč?“ Der Stein in meinem Mund wurde bitter wie Galle. „Es geht um das Erbe. Roháč hat an meine Gefühle appelliert, wir sollten zugunsten dieser Frau darauf verzichten.“ Meine Mutter lachte trocken. „Hat er dir gesagt, worum es sich konkret handelt?“ „Wohl um die Einrichtung der Wohnung, in der sie gemeinsam gelebt haben.“ „Etwas anderes hat er nicht erwähnt?“ „Nein, ich erinnere mich nicht …“ „Also nein oder erinnerst du dich nicht?“ fragte die strenge Lehrerin. Ich kam mir vor wie eine Schwalbe, die sich in einen Schornstein verirrt hat und nun dort flattert und Ruß aufwirbelt. „Warum hast du behauptet, ihr wärt geschieden?“ platzte ich heraus. „Das habe ich nie behauptet“, entgegnete meine Mutter sogleich, als hätte sie jahrelang auf diese Frage gewartet. Sie hatte recht – wie immer. „Das stimmt“, gab ich zu, „aber irgendwie ist es dir gelungen, mich in dem Glauben zu lassen. Warum hast du das getan?“ „Robert, darum ging es doch damals gar nicht!“ „Und jetzt geht es darum?“ fragte ich. Meine Mutter sagte ungeduldig: „Robert, ich bitte dich! Dafür habe ich jetzt keine Zeit und du kein Geld. Darüber sprechen wir zu Hause.“ „Nein! Ich will jetzt darüber sprechen. Darauf habe ich lange genug gewartet.“ 31
„Dann hör gut zu, denn ich werde das nicht wiederholen“, sagte sie mit einer Stimme, der jegliches Gefühl fehlte. „Als uns dein Vater verlassen hatte, wollte ich mich selbstverständlich scheiden lassen. Er wünschte aber, daß die Ehe bestehen bleibt. Rein formal. Für ihn war das der beste Schutz vor heiratswütigen Frauen – damit meine ich nicht nur die Kavanová. Vor ihr hatte er andere und nach ihr auch.“ „Aber wie konntest du …“, sagte ich verblüfft. Die unpersönliche Stimme unterbrach mich. „Ich bin noch nicht fertig. Da ich nie mehr heiraten wollte, willigte ich in die Übereinkunft ein.“ „Welche Übereinkunft? Hattest du denn etwas davon?“ „Ja. Dich“, sagte meine Mutter. „Mich?“ „Er war damit einverstanden, dich nie mehr zu sehen. Und dich nicht anzusprechen, falls ihr einander zufälligerweise begegnet.“ Jedes Wort stach in eine Wunde, aus der nun schwarzes Blut rann. Es würgte mich. Der letzte Stich schien bis ins Herz gedrungen zu sein. „Daß du einfach für ihn nicht mehr existierst.“ „Wie konntest du!“ keuchte ich. „Warte“, sagte meine Mutter, „das ist nicht alles. Er sagte, wir würden nicht gleiche Werte tauschen, seine durch die Ehe gewahrte Freiheit bedeute ihm nicht so viel wie sein Sohn.“ Ich litt wie ein Tier, dem Wölfe bei lebendigem Leibe die Eingeweide herausreißen. „Er schlug mir vor, einen Ring zuzulegen, ein Familienerbstück seit vier Generationen. Es ist ein in Diamanten gefaßter Saphir, der damals auf ungefähr zwanzigtausend Kronen geschätzt wurde. Du siehst, wieviel du deinem Vater wert warst.“ „Ist das wahr?“ 32
„Ich habe kein einziges Wort hinzugefügt oder verschwiegen, Robert“, sagte sie auf einmal heftig. „Du darfst mich nicht verurteilen. Du warst für mich alles, ich wollte dir eine ungetrübte Kindheit sichern.“ „Was ist mit dem Ring geschehen?“ fragte ich hart als Sohn meiner Mutter. „Hat er ihn irgendwann zurückgegeben?“ „Nein.“ „Wieso? Als ich erwachsen war, brauchtest du doch keine Angst mehr um mich zu haben.“ „Da war ich mir nicht sicher, Robík“, sagte eine alte Frau, die den Hörer an ihr schönes schmales Gesicht preßte und aus dem Fenster über die Moldau schaute. „Er besaß großen Charme und konnte versuchen, dich gegen mich einzunehmen. Ich war froh, daß du ihm gleichgültig warst, und wollte ihn nicht an dich erinnern. Aber jetzt will ich den Ring zurückhaben.“ Obwohl es in der Zelle stickig heiß war, fröstelte mich. „Kannst du beweisen, daß der Ring dein persönliches Eigentum ist?“ „Ja. Ich besitze eine Expertise, die vor meiner Heirat angefertigt wurde. Das müßte genügen.“ „Ja, das müßte genügen“, sagte ich nachdenklich. „Jetzt habe ich keinen Grund mehr, mein Eigentum nicht zurückzufordern. Erledigst du das selber?“ „Ja, keine Bange, ich werde mein Möglichstes tun. Es ist schließlich meine Pflicht, den Schatz zurückzugewinnen, für den du mich damals gekauft hast.“ „Vielleicht wirst du später anders darüber denken“, sagte meine Mutter und legte auf. Schweißtriefend taumelte ich aus der Telefonzelle. Das Gesicht der Schönen hinter dem Schalter glühte. Sie atmete mit offenem Mund und starrte mich an. Vielleicht hätte sie mich, den armen Waisenjungen, am liebsten an ihren bebenden Busen gedrückt und getröstet. 33
Ich lächelte traurig, als ich die Gebühr bezahlte, und schleppte mich zur nächsten Kneipe, um den giftigen Staub hinunterzuspülen, der meine Kehle verstopfte. Das Haus stand in der Straße, die steil zur Burg hinaufführt. Die schmutzige, abgetretene Treppe roch ebenso wie damals, als in einer Nische, wo man früher die Wasserbütten abstellte, ein vierzehnjähriger Junge eingeschlafen war, müde vom mehrstündigen Warten auf den Mann, der sich jetzt in Asche verwandelt hatte. Die Frau in der Wohnungstür gebärdete sich, als hätte sie ein Gespenst erblickt. „Guten Tag, Frau Kavanová“, begrüßte ich die einstmals schönste Carmen der Olomoucer Oper. „Sie wollten mit mir sprechen.“ Aus dem weißen Gesicht sahen mich riesige schwarze Augen an. Auch die Falten, die sie wie Spinngewebe umgaben, nahmen ihnen nichts von ihrer Schönheit. „Ich nicht …“ Sie drehte sich verängstigt um. Hinter ihrem Rücken krächzte Doktor Roháč abweisend: „Was wünschen Sie?“ „Wir können die Erbschaftsangelegenheit gleich hier erledigen“, sagte ich, „aber wie es scheint, ist Frau Kavanová darüber nicht sehr erfreut.“ „Erfreut!“ hauchte die Sängerin theatralisch, als wäre jede Freude in ihr für immer erstorben. Roháč fuhr mich an: „Nicht hier und schon gar nicht am Tage der Beisetzung.“ Ich wurde wütend. „Ihretwegen sitze ich jetzt nicht im D-Zug nach Prag. Ich beabsichtige nicht, eine ganze Woche hierzubleiben. Mit meiner Mutter habe ich schon gesprochen.“ „Ist sie einverstanden?“ fragte eilig die Frau in Schwarz mit melodischer Stimme. Ich nickte. „Mit einem Vorbehalt. Sollen wir uns darüber in der Tür unterhalten?“ 34
„Treten Sie näher“, forderte mich Roháč widerstrebend auf, und Frau Kavanová drehte mir ihr mächtiges Hinterteil zu. In das Zimmer von mindestens vierzig Quadratmetern fiel die Nachmittagssonne. Ich begriff sofort, warum Roháč und Frau Kavanová gezögert hatten, mich hereinzubitten. Der Raum war voll von sakralen Gegenständen und antiken Möbeln. Die goldenen Rahmen dunkler Kirchenbilder glänzten zwischen ausgeblichenen Stickereien alter Ornate. Der riesige Perserteppich wäre sogar eines Bischofspalastes würdig gewesen. Kostbare Kruzifixe hätten für ein Dutzend reuige Sünder gereicht. Geschnitzte Kirchenmöbel dienten den verschiedenartigsten weltlichen Zwecken – zum Beispiel hatte sich ein prächtiger Betstuhl in ein Toilettentischchen verwandelt. Mit den Kosmetika, die darauf standen, versuchte Frau Kavanová vergeblich, ihre Jugendfrische zu erhalten. Auf dem riesigen Kanapee lag eine Altardecke, eine zweite schmückte einen Tisch, dessen Beine mit Silberblech beschlagen waren. In der Luft hing Weihrauchduft, mit dem alle Sachen durchtränkt waren, und der Geruch eines herben Parfüms. Mein Vater war ein berühmter Organist, um den sich die Pfarrer in dieser frommen Gegend sicherlich gerissen hatten. Und er war auch ein gewiefter Geschäftsmann – wenigstens danach zu urteilen, wie vorteilhaft er mich verkauft hatte. Der Wert der Zimmereinrichtung war schwer zu beziffern. Ohne Aufforderung setzte ich mich auf ein rotes Samtkissen, das aus einem Domherrenstuhl stammte. In Frau Kavanovás Augen flackerte Unsicherheit, der gerissene Notar ließ sich nichts anmerken. „Also was meint Ihre Mutter zu der Sache?“ fragte er. „Sie beansprucht nichts, was mein Vater nach der Trennung erworben hat, sie will nur …“ Ich machte absichtlich eine Pause. 35
„Was?“ brachte die Sängerin atemlos hervor. „Den Diamantring mit dem Saphir“, sagte ich lächelnd. „Sie besitzt eine Urkunde darüber, daß er ihr persönliches Eigentum ist.“ Die dramatische Stille wurde von Frau Kavanová unterbrochen. „Das habe ich gleich gewußt, als ich Sie bei der Beisetzung gesehen habe! Und ich würde Ihnen gern den Ring geben. Nichts wäre mir lieber.“ Ich glaubte ihr, denn die Antiquitäten waren weitaus wertvoller als der Ring. „Der Ring ist nicht da“, sagte Doktor Roháč. „Ach nein!“ „Wirklich“, versicherte er mir eifrig. „Frau Kavanová hat ihn schon mindestens zwei Jahre nicht gesehen.“ „Und natürlich wissen Sie nicht, wo er ist“, bemerkte ich spöttisch. Die Dame verfinsterte sich. „Ich weiß es.“ Der Notar machte eine unwirsche Handbewegung, aber Frau Kavanová sprach weiter, als wollte sie mich von ihrem guten Willen überzeugen: „Meister Lukáš meinte, hier wäre ein so wertvoller Schmuck nicht in Sicherheit – wir haben bis zuletzt ein geselliges Leben geführt –, zu uns kamen viele Menschen …“ Roháč fiel ihr ins Wort und sagte sachlich: „Ihr Vater hat den Ring zu einem alten Freund gebracht.“ „Hat dieser Freund einen scharfen Hund?“ fragte ich mit Unschuldsmiene. „Warum einen Hund?“ fuhr mich Roháč an. „Er hat einen Tresor!“ „Hören Sie mal!“ erwiderte ich lachend. „Der Ring ist doch kein Riesendiamant eines Maharadschas! Und die Tresore heutzutage taugen sowieso nichts!“ „Dieser Tresor ist sicher! Biederman hatte seinerzeit dort Gold und Edelsteine für eine Million aufbewahrt.“ „Der Goldschmied?“ erkundigte ich mich mit Interesse. „Lebt er denn noch?“ 36
„Ja, manchmal arbeitet er sogar. Sein Enkel ist Leiter eines Schmuckgeschäfts.“ „Artur? Mit ihm bin ich zur Schule gegangen.“ Die steinerne Grabplatte, die auf dem grünen Hügel meiner Jugend lag, bewegte sich wieder – an dem Tage schon zum wiederholten Male. Umsonst verbot ich mir, in die gefährlichen Gefilde meiner „-zehner“ Jahre zurückzukehren. Das Gespräch mit meiner Mutter und die Begegnung mit Vanda hatten mir gezeigt, daß der Panzer, den ich mir seit jenen Zeiten zum Schutz meiner Seele zugelegt hatte, nur eine zerbrechliche Kruste war. Zum Teufel mit allen Vätern, Mädchen und Mitschülern! Es ist halb sieben, und nach Mitternacht könnte ich in Prag sein! „Befindet sich der Tresor im Geschäft?“ fragte ich. Frau Kavanová erklärte schnell: „Nein, bei Herrn Biederman in der Wohnung.“ „Fein, dann müssen wir nicht bis morgen warten.“ Ich stand auf. „Gehen wir gleich hin, und in einer halben Stunde haben wir das vom Halse, nicht wahr?“ Die blassen, zusammengepreßten Lippen des Notars zuckten. „Wir sollten uns vorher anmelden. Er ist weit über achtzig und kann schon im Bett liegen.“ „Mein Besuch ist ihm bestimmt willkommen“, verkündete die Sängerin eitel. „Herr Biederman gehört zu meinen alten Verehrern.“ Frau Kavanová wartete, bis wir im Treppenflur waren, und verschloß auch das Zimmer, nicht nur die Wohnung. Das Schlüsselbund, das gut ein Pfund wiegen mußte, steckte sie in ihre Handtasche. Der alte Biederman hatte eine fette Nase, feuchte Wulstlippen, schwarzes, zweifellos gefärbtes Haar und funkelnde graue Augen. An diese Augen erinnerte ich mich, und sie erkannten mich ebenfalls wieder. Der Goldschmied richtete seinen dürren Zeigefinger auf meine Brust. 37
„Robert Lukáš.“ Ich lächelte ihn an. „Guten Abend, Herr Biederman. Sie haben sich gar nicht verändert. Wie machen Sie das?“ „Ich bin doch der Ewige Jude“, antwortete der Alte grinsend. „Was bringst du?“ Die Sängerin begrüßte er mit einer flüchtigen Verneigung, den Notar übersah er. „Eher möchten wir etwas holen“, sagte ich. „Entschuldigen Sie, daß wir Sie so überfallen haben. Das ist meine Schuld, ich will so schnell wie möglich nach Prag zurück.“ Ermunternd blickte ich Frau Kavanová an. Die Dame schwieg und wirkte dekorativ. „Dürfen wir kurz hereinkommen?“ meldete sich der unentbehrliche Doktor Roháč. Die Wörter kamen aus seinem Mund, als wären es seine letzten Zähne, von denen er sich mit größter Selbstverleugnung trennte. Biederman musterte ihn und gab mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß wir eintreten sollten. Es war ein großes Zimmer mit Fenster zum Park, ganz modern eingerichtet. Das einzige altmodische Möbelstück, ein Tresor von der Größe eines Kühlschranks, mit Mahagoni verkleidet und mit Messingbeschlägen verziert, nahm sich neben den eichenen Bücherregalen sehr gut aus. Die Sängerin umfing den Kasten mit dunklen, tiefen Blicken. Der Notar blähte argwöhnisch die Nüstern, als wäre er in eine Verbrecherhöhle geraten. „Vielleicht sollten Sie Herrn Biederman sagen, warum wir hier sind“, forderte ich Frau Kavanová auf. „Ach ja … Wir sind wegen des Ringes gekommen“, erklärte sie. „Bitte?“ „Wegen des Ringes, den Meister Lukáš bei Ihnen hinterlegt hat“, belehrte ihn Doktor Roháč. Biederman tat so, als wäre Roháč nicht anwesend, und wandte sich an Frau Kavanová: „Er soll bei mir einen Ring hinterlegt haben?“ 38
„Das hat er mir gesagt.“ „Wann?“ forschte Biederman. „Wann er mir das gesagt hat? Als er den Ring zu Ihnen gebracht hatte“, antwortete Frau Kavanová verwirrt. „Und wann will er ihn zu mir gebracht haben?“ „Vor zwei Jahren. Ja, es war auch im Juni.“ „Daß Sie sich so genau erinnern können“, wunderte sich der Alte. „Mein Kopf ist nicht mehr so gut.“ Roháč fuhr den Alten feindselig an. „Wollen Sie das vielleicht bestreiten?“ Ich befürchtete, daß Vanda lange auf mich würde warten müssen. „Es ist ein in Diamanten gefaßter Saphir, Herr Biederman“, sagte ich eilig. „Er gehört meiner Mutter. Haben Sie ihn nie gesehen?“ „Ich habe ihn zweimal gesehen – erstens, als ihn deine Mutter vor dem Schätzen polieren ließ. Den Fachmann für die Expertise hatte ich ihr besorgt.“ Der Goldschmied nickte anerkennend. „Es war ein außergewöhnlich schöner Saphir. Das zweite Mal, ungefähr vor zwei Jahren, brachte ihn dein Vater zu demselben Zweck. Der Ring war völlig verunreinigt, als hätte ihn jemand getragen, dessen Hände mit Schminke beschmiert sind.“ „Das ist nicht wahr“, sagte die Sängerin gekränkt. „Mir hat er ihn nicht einmal geliehen!“ „Hat mein Vater den Ring wieder abgeholt?“ fragte ich. „Ja.“ „Das ist nicht wahr!“ schrie Frau Kavanová nun als Koloratur. „Doch“, entgegnete Biederman, „warum hätte er ihn hierlassen sollen?“ „Warum sollte er behaupten, der Ring ist bei Ihnen, wenn das nicht stimmte!“ tönte Doktor Roháč mit der Stimme eines Staatsanwalts. In den grauen Augen blitzte es. Der alte Biederman erwiderte sanft: „Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er ihn verkauft und wollte das für sich behalten.“ 39
„Nein“, kreischte Frau Kavanová und streckte dem Alten die kräftigen Arme entgegen, die in schwarzer Seide steckten, „das hat er bestimmt nicht getan! Artur, gestehen Sie, der Ring ist bei Ihnen!“ Biederman überhörte die vertrauliche Anrede und sagte kühl: „Nein, ich habe ihn Lukáš zwei Tage später wiedergegeben.“ Das blasse Gesicht der Sängerin erstarrte zu Wachs. „Denken Sie, daß Ihnen das durchgeht, weil Alois tot ist? Da irren Sie sich aber! Ich weiß, daß der Ring hier ist. Geben Sie ihn sofort zurück, oder ich nehme ihn mir selber …“ Unerbittlich wie das Schicksal wälzte sie sich vorwärts. Der Alte versperrte ihr den Weg, aber sie stieß ihn beiseite und öffnete mit einem Ruck den Tresor. Das ging so leicht, als würde die Tür nur von einem Magnetschloß gehalten. Sie wurde es auch. Stahl und Messing waren nur Zierrat. Im Tresor flimmerten wie farbige Edelsteine mehrere Flaschen kostbarer Destillate mit ausländischen Etiketten. Doktor Roháč griff an seine edel geformte Nase. Madame Kavanová wandte sich flammend an den Goldschmied: „Wo ist er?“ Der Alte bebte vor Entzücken. „Das weißt du doch, Mařenka“, sagte er genüßlich. „Damals hast du auch gewußt, wo ich den Brillanten verschachert habe, den du mir dauernd abluchsen wolltest.“ Er trat zu der Dame und flüsterte wie ein Souffleur: „Der Ring steckt am Finger von irgendeinem schönen jungen Mädchen – so einer Mieze, die Lojza mit Musik und süßen Worten in sein Bett gelockt hat. Das verstand er, zu ihm sind viele gekommen. Dich hat das gewurmt, Mařenka, aber was konntest du machen? Du hattest Angst, daß er dich abschiebt.“ Frau Kavanová sank auf die Knie, hob die Arme und sagte stöhnend: „Bringen Sie mich fort von hier!“ 40
Roháč packte die Sängerin, als wäre sie eine alte Rumpelkiste, und geleitete sie unter dem Knirschen seines künstlichen Gebisses hinaus. „Das werden wir dir heimzahlen, du Judenschwein!“ zischte er, bevor er die Tür zuschlug. Ich war solche wilden Szenen nicht gewöhnt. Erschrocken sah ich den alten Biederman an. Der Teufel, der ihn geritten hatte, war in die Hölle zurückgekehrt. Der Alte sank in einen Sessel. „Gieß mir ein, Junge, und dir auch“, sagte er mit schwacher Stimme. „Calvados!“ Ich drückte das Glas in das trockene Händchen, das sich mir entgegenstreckte. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte ich. „Amüsements eines senilen Greises“, antwortete er grinsend, von dem Schluck erfrischt. „Weißt du, viel ist mir nicht geblieben …“ Er lächelte in die opaleszierende Flüssigkeit und schwenkte sie im Glas. Ich schwieg, damit er sich an diesem Spielchen erfreuen konnte. Es dauerte nicht lange. „Ich mag Roháč nicht“, sagte er plötzlich böse, „der Mann ist ein gieriges Raubtier. Er hätte nicht herkommen dürfen. Daß sich die arme Marie gerade mit ihm zusammengetan hat!“ „Wissen Sie, wo der Ring ist?“ Der Alte hob seine Augen, unter denen Tränensäcke hingen, und lachte wie der Wasserspeier am Tritonenbrunnen. „Am rosigen Pfötchen eines Miezekätzchens. Marie sollte sich unter den Choristinnen umsehen, die sie deinem Vater zugeführt hat. Guck mich nicht so an, das ist wahr, er war bis zum letzten Moment lüstern nach jungem Fleisch.“ Der letzte Satz klang neidisch. Der alte Biederman tat mir leid, aber in der Beziehung konnte ich ihm nicht helfen. „Haben Sie wirklich den Ring zuletzt vor zwei Jahren gesehen?“ vergewisserte ich mich. 41
Er nickte mit seinem gewichsten Köpfchen. „Ich dachte mir, daß er ihn für ein Fräulein putzen läßt. Wahrscheinlich ist ihm bei der Gelegenheit eingefallen, mein Tresor wäre eine gute Erklärung für das Verschwinden. Sonst hätte die Kavanová den Ring schon damals gesucht. Die hat sogar die Englein auf den Heiligenbildchen gezählt.“ Diesmal öffnete mir Doktor Roháč, der sich höchst ungehalten gab. „Um Gottes Willen, gehen Sie! Frau Kavanová erträgt heute nicht noch mehr!“ Vorsorglich stellte ich ein Bein in den Türspalt. „Nur ein paar Worte, Herr Doktor …“ Er zerquetschte beinahe meinen Fuß. Ich stemmte mich gegen die Tür. „Tun Sie das nicht“, warnte ich ihn. „Sie wollen sich doch vernünftig mit mir einigen.“ Durch den Türspalt erklärte er mir: „Frau Kavanová mußte sich hinlegen. Ich habe einen Arzt gerufen, er kommt jeden Augenblick.“ „Bis er da ist, können wir uns unterhalten“, schlug ich ihm vor, „das wird sie wohl überleben.“ „Denken Sie, wenn sich dieser Biederman ihr gegenüber so arrogant verhalten hat, können Sie auch …“ Wieder versuchte er, meinen Fuß zu zerquetschen. Ich riß ihm die Tür aus der Hand. „Diese Situation haben Sie selber herbeigeführt. Hätten Sie nicht so schlau sein wollen, könnte alles seinen amtlichen Weg gehen. Ihr Nachfolger auf dem Notariat – Sie arbeiten ja nicht mehr – hätte uns verständigt, und wir hätten uns so oder so entschieden. Am ehesten wäre alles schriftlich erledigt worden. Frau Kavanová brauchte nicht zu befürchten, daß wir Anspruch auf die Kirchenschätze erheben, und Sie müßten mir nicht übereilt eine Erklärung abgaunern, daß wir auf alles verzichten. Das war Ihr Einfall, was? Sie haben einen Fehler gemacht, Herr Doktor.“ 42
Roháč sah mich wütend an, aber erwiderte nichts. Ich fuhr fort: „Wenn Sie das schon so angefangen haben, bleiben wir dabei. Meine Mutter will den Ring und Sie oder Frau Kavanová – das ist mir gleich – werden ihn beschaffen. Ich bezweifle nicht, daß Ihnen das gelingt.“ Der Notar riß den Mund auf, daß er beinahe seine Zahnprothese verschluckte. „Oder meine Mutter kommt her und nimmt sich wenigstens die Sachen, die mein Vater damals aus unserer Wohnung weggeschleppt hat“, endete ich rücksichtslos. Doktor Roháč erschrak. Er sah wohl schon einen Möbelwagen vor dem Haus. Frau Kavanová konnte nicht nachweisen, was mein Vater erst in der Zeit erworben hatte, als er mit ihr zusammenlebte. Die ehrgeizigen Dorfpfarrer, die für den berühmten Organisten ihre Kirchen geplündert hatten, würden sich bestimmt nicht dazu bekennen. Was hatte wohl die habgierige Opernsängerin diesem alten Hai versprochen? „Ich werde die Gnädige fragen, ob sie etwas unternehmen kann“, sagte Roháč und versuchte wieder, die Tür zu schließen. „Ich warte im Korridor“, erklärte ich und überschritt die Schwelle. Aus dem Zimmer drang kein Laut. Es wäre sinnlos gewesen, die beiden belauschen zu wollen. Im Korridor brannte ein vergoldeter Leuchter, eine schwache Glühbirne ersetzte die Wachskerze. Eine Tür in der Ecke war angelehnt. Sie mußte in einen Raum führen, der neben dem großen Zimmer lag. Ich schlich mich dorthin. Es war eine schmale Kammer ohne Fenster, matt von einer Lampe erhellt, die auf einer alten Kommode stand. Die Schübe, in denen vielleicht Meßgewänder aufbewahrt wurden, waren herausgezogen. Ich lauschte, hörte aber nichts. Vorsichtig ging ich in die Kammer. Auf der Kommode lagen Ansichtskarten, Theaterpro43
gramme, Hefte und gebündelte Briefe. Und Fotos. Auf allen war eine stark geschminkte Frau mit dunklen Augen zu sehen, die verschiedenartige Perücken und mehr oder weniger exotische Kostüme trug. Ich wühlte in diesen Zeugnissen vergangenen Ruhms und überlegte, wer hier unlängst gekramt hatte. „Das ist unerhört!“ kreischte Roháč hinter mir mit entrüsteter Fistelstimme. Ich betrachtete gerade eine Schönheit, die in einem glitzernden Kostüm steckte. Es war eng wie ein Handschuh und auf einer Seite bis zur Taille geschlitzt. Unter den Fotos, von denen die meisten würdig wirkten, fiel diese Aufnahme durch die frivole Haltung auf. Der Notar riß es mir aus der Hand, wie einst die pornographische Zeitschrift, die Lád’a und ich unter seinen Akten gefunden hatten. „Geben Sie das her! Wie konnten Sie es wagen!“ Ich grinste ihn an. „Entschuldigen Sie, ich hatte Langeweile. Ist das auch Frau Kavanová?“ „Verschwinden Sie, sofort!“ wütete er. „Raus!“ Ich verließ die verbotene Kammer. Roháč schlüpfte wie eine Eidechse an mir vorbei und stellte sich breitbeinig vor die Tür des großen Zimmers. „Sie haben alle Anstandsregeln verletzt – raus!“ „So schlimm ist das doch nicht“, sagte ich, von der unangemessenen Reaktion überrascht. „Ich entschuldige mich nochmals. Frau Kavanová …“ „Sie wird nicht mehr mit Ihnen reden“, unterbrach er mich. „Rufen Sie mich morgen an, ich stehe im Telefonbuch.“ Diesmal nahm nicht meine Mutter den Hörer ab, sondern ihre Freundin Ludmila. Mit der deutlichen Artikulation einer Lehrerin teilte sie mir mit, daß meine Mutter jeden Moment vom Friseur zurückkommen müsse, und sie äußerte Lust, sich die Wartezeit mit Konversa44
tion über eine Entfernung von zweihundertfünfzig Kilometer und auf meine Kosten zu verkürzen. Ich sagte, daß ich in einer Viertelstunde nochmals anrufen würde, und setzte mich auf die schaumgummigepolsterte Bank gegenüber dem Schalter mit der Aufschrift „Telegramme – Ferngespräche“. Noch immer mußte ich darüber nachdenken, warum sich Roháč nach dem Besuch beim Goldschmied so offensichtlich anders benahm. Auch wenn ich in Frau Kavanovás Wohnung die Anstandsregeln verletzt hatte, war ein so grober Ausfall gegenüber einem Manne, mit dem man im guten auskommen sollte, nicht logisch. Vielleicht hatte der alte Herr zerrüttete Nerven wegen seiner hysterischen Klientin. Der Frau, die nach mir die Telefonkabine schon gut zehn Minuten besetzte, ging endlich der Atem aus. Ich blickte auf die Uhr und bat das Mädchen am Schalter, mich nochmals mit Prag zu verbinden. Sie hielt den Hörer in der Hand, ohne zu wählen, und blickte mich unentschlossen an. Schließlich brachte sie mühsam hervor, wobei sie wie eine Erdbeere errötete: „Ich möchte Ihnen gern mein Beileid aussprechen.“ Ich begriff gar nicht, wovon sie redete. Die Röte in ihrem Gesicht wurde purpurn. „Ich kannte Ihren Vater … und …“ Ich machte eine betrübte Miene, holte schnaufend Luft und sagte gerührt: „Danke schön.“ „Seien Sie nicht böse, ich wollte nicht zudringlich sein“, stammelte sie, „aber ich konnte mich nicht zurückhalten, als ich vorhin hörte, wie …“ Du hast wohl deine hübschen Öhrchen gespitzt, dachte ich. Laut sagte ich großmütig: „Warum sollte ich Ihnen böse sein?“ Dem Mädchen kamen beinahe die Tränen. „Aber Sie wissen nicht … ich habe nämlich …“ Ich schielte zur Tür, die sich jedoch nicht bewegte. 45
Ich war allein mit dem Engel, der auf meinen Nerven spielte wie auf einer Himmelsleier. „Machen Sie sich nichts daraus“, sagte ich, um sie zu besänftigen. „Aber ich habe alles mitgehört – das vorige Gespräch!“ „Damit würde ich mich an Ihrer Stelle nicht rühmen. Bitte, verbinden Sie mich jetzt mit Prag?“ Die unschuldigen Augen richteten sich vorwurfsvoll auf mich. „Ich kannte Meister Lukáš persönlich“, teilte sie mir schmachtend mit, „und bin oft bei ihm gewesen!“ Gespannt lauerte sie, wie diese verblüffende Information auf mich wirkte. „Damit würde ich mich an Ihrer Stelle ebenfalls nicht rühmen“, riet ich ihr. „Mein Vater hatte nicht gerade den besten Ruf, was junge Mädchen betrifft.“ „Sie sind schrecklich!“ schrie das Mädchen, und die Tränen kullerten nun tatsächlich. „Ihr Vater hat sich in Ihnen sehr geirrt. Ich bin froh, daß Sie erst zu spät gekommen sind …“ „Moment“, sagte ich erstaunt. „Wie konnte er sich in mir irren, wenn er auf mich gehustet hat, als ich gerade dreizehn Jahre alt war?“ „Das ist nicht wahr!“ Sie entflammte wie eine Fackel und erlosch ebenso schnell. „Nun ja – das ist Ihnen vielleicht so vorgekommen, aber er hat an Sie gedacht. Wie oft wollte er sich mit Ihnen treffen! Er war unglücklich, weil er Sie verloren hatte.“ „Hören Sie auf, oder ich muß auch noch heulen“, sagte ich lachend. Das runde Gesichtchen legte sich in komische Falten. „Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle“, sagte sie beleidigt, „ich habe doch nichts davon.“ Ich stimmte ihr freundlich zu. „Endlich ein vernünftiges Wort. Verbinden Sie mich nun mit Prag?“ Sie sah mich an, als wollte sie mich in Grund und Boden schmettern, und steckte den Finger in die Wähler46
scheibe. „Meine Idee war das nicht“, murmelte sie dabei trotzig, „aber die anderen haben gemeint, daß Ihnen das jemand …“ „Welche anderen?“ Sie schwieg verstockt, aber drehte nicht weiter. „Die aus unserem Klub“, antwortete sie schließlich steif. „Welchem Klub?“ Sie erzählte es mir. In den letzten Jahren hatte der Organist Jungen und Mädchen im Alter dieser gerade volljährigen Telefonistin um sich geschart. Die Jungen waren meist Studenten der Palacký-Universität, unter den Mädchen befanden sich auch Verkäuferinnen, Sekretärinnen und Krankenschwestern. Kamila – so hieß der Engel hinter dem Schalter – bejahte mit naivem Erstaunen meine hinterlistige Frage, ob alle diese Mädchen hübsch waren. Der Meister lud sie in seine Wohnung ein und spielte ihnen etwas vor. Barockmusik, Negrospirituals und Evergreens. „Das war phantastisch“, sagte Kamila mit frommem Seufzen, „wir fühlten uns bei ihm wie zu Hause. Er war so lieb und freundlich und nicht ein bißchen eingebildet … Ich kann noch nicht fassen, daß das endgültig vorbei ist!“ Mich juckte es überall, als hätte ich mich in einen Ameisenhaufen gesetzt. Nur nicht sentimental werden! Am Ende wirfst du dir noch selber vor, daß du deinen Papa nicht aufgesucht hast, als du genug Verstand hattest. „Verbinden Sie mich jetzt mit Prag“, sagte ich ruhig. „Ich sitze schon eine halbe Stunde am Telefon“, begrüßte mich meine Mutter mürrisch. „Die Sache ist etwas kompliziert, Mama.“ Sie reagierte nur mit einem sarkastischen „Warum denn?“ 47
„Hör zu!“ Ich schilderte ihr ausführlich, was sich seit unserem ersten Gespräch ereignet hatte. „Das ist Unsinn“, erklärte sie gelassen. „Ich versichere dir, daß …“ Sie ließ mich nicht ausreden. „Ich bezweifle nicht, daß es so war, wie du sagst, aber ich glaube dieser Frau kein Wort!“ „Ich denke – ich bin fast überzeugt, daß sie den Ring wirklich nicht hat.“ „Warum glaubst du einem geldgierigen Weib und noch dazu einer Schauspielerin, die dir alles vorspielt, was sie und der alte Betrüger ausgeheckt haben?“ „Ich weiß nicht, was ich noch tun kann“, erwiderte ich. „Sie werden behaupten, daß Vater das Ding irgendwo versetzt hat und …“ „Sag nicht Ding zu einem Schmuckstück, das über hundert Jahre in meiner Familie ist!“ herrschte sie mich an. Ich verstummte. Sobald meine Mutter ihre Familie erwähnte – drei Generationen Schnapsbrenner –, bekam ich Lust, denaturierten Alkohol zu trinken. Schließlich wandte ich schüchtern ein: „Ich habe keine Ahnung, wie ich sie zwingen könnte, den Ring aufzutreiben.“ „Du brauchst sie nicht zu zwingen, sie werden sich schon selber darum kümmern. Es geht ihnen schließlich um die Antiquitäten.“ „So kann ich nach Prag zurückkommen?“ fragte ich erlöst. „Nein, du bleibst in Olomouc.“ „Warum?“ „Weil diese Person den Ring hat und hofft, daß sie ihn behalten kann. Oder ich irre mich, und sie sucht ihn. Doch ich glaube nicht, daß sie etwas herausgibt, was man schon für verloren hält.“ „Was soll ich denn dabei tun?“ 48
„Du bleibst dort als lebendiges Memento.“ Meine Mutter kicherte plötzlich wie ein kleines Mädchen. „Ich will meinen Ring wiederhaben, und du besorgst ihn mir, mein Sohn!“ Ich ging an den prächtigen Portalen der einstigen Domherrenresidenz vorbei und fühlte mich klein und elend. Und ich war wütend auf meine Vaterstadt, hauptsächlich jedoch auf meinen verblichenen Erzeuger, der mir selbst nach seinem Tode das Leben vergällte. Auf Schritt und Tritt begegnete ich dem berühmten Organisten in dieser Stadt voller Kirchen. Er verspottete mich mit dem Klang der Glocken, trat unverhofft aus den Toren der Barockpaläste. Der Arm, der sich von hinten um meinen Hals legte, gehörte keinem Gespenst. Ich erschrak und stieß reflexartig dem Angreifer den Ellbogen in den Leib. Der Unbekannte ließ mich los und sagte stöhnend: „Verdammt, du bist wohl blind!“ Ich drehte mich um. In der Dämmerung des Juniabends erkannte ich die unverwechselbaren Züge Artur Biedermans alias Jung-Arturs. „Ach, du bist das“, wunderte ich mich, „was machst du für Quatsch? Bist du Wegelagerer geworden?“ Er grinste mich an. „Das ist aber eine Begrüßung, Mann! Du tauchst einmal in hundert Jahren hier auf, um die Leute zu erschrecken.“ „Ich? Sag bloß, du hast dich in Selbstverteidigung auf mich gestürzt. Was machst du hier überhaupt?“ fragte ich, plötzlich voller dunklen Verdachts. Er zwinkerte mir zu und machte eine unzweideutige Geste. „Auf dem Heimweg sehe ich plötzlich einen Kerl, der ihr Alter sein könnte. Ich verstecke mich, und da merke ich, es ist nicht ihr scheußlicher Ehemann, sondern unser längst beweinter Robert. Da wollte ich dir einen Kuß geben, du Esel.“ 49
Die Zunge Jung-Arturs war mit den Jahren noch spitzer geworden, aber man konnte ihm nicht böse sein. Er puffte mich – freundschaftlich an die Brust und fragte: „Warum quälst du meinen Großvater?“ „Na hör mal“, erwiderte ich lachend, „dein Großvater gehört nicht zu denen, die sich quälen lassen. Du weißt also schon, daß ich bei ihm war.“ „Ja“, bestätigte er ernst. „Dich hat er gern gesehen, aber Roháč brauchtest du nicht mitzuschleppen.“ „Ich habe ihn nicht mitgeschleppt“, verwahrte ich mich. „Übrigens – was hat er gegen ihn?“ Artur musterte mich mit starren Augen. „Roháč hat seinerzeit Großvaters jüngsten Bruder ins Konzentrationslager gebracht. Mein Großonkel Hugo war Teilhaber an gewissen Immobilien, mit denen Roháč spekulierte – ich werde dich nicht mit Einzelheiten langweilen. Roháč wollte einfach einen Konkurrenten loswerden, und das ist ihm vollkommen gelungen. Hugo endete in der Gaskammer, dabei hätte er den Krieg überleben können. Seine Frau war arisch. Meinen Großvater hat das schrecklich mitgenommen.“ „Warum hat er nach der Befreiung Roháč nicht angezeigt?“ „Er besaß keine Beweise“, sagte Artur. „Sieh mal, mich betrifft das nicht mehr, das geschah, bevor ich geboren wurde. Aber daß Roháč ein skrupelloser Halunke ist, wird niemand bestreiten. Wenn du mit ihm zu tun hast, mußt du höllisch aufpassen. Dem darfst du nicht übern Weg trauen.“ „Da bin ich ganz deiner Meinung.“ „Wie lange bleibst du?“ „Das weiß ich nicht. Wenn es nach mir ginge, wäre ich schon wieder in Prag“, sagte ich aufrichtig. Wir gingen langsam auf die Hauptstraße zu. „Ich muß jetzt abzischen, aber morgen könnten wir doch irgendwo, wo keine trockene Luft ist, ein bißchen 50
miteinander quatschen“, schlug Artur vor. „Wo wohnst du?“ „Im ‚Palác‘.“ „Ach, im ‚Palác‘!“ Das klang vieldeutig. „Bei Vandička?“ „Ja. Sie wartet wohl schon auf mich.“ Jung-Artur begann zu kichern. „Und du willst mir weismachen, daß du eilig zurück nach Prag möchtest? Also bei Vandička hast du dich einquartiert! Das gönne ich dir, ich erinnere mich noch, wie du damals um ihr Haus gestrichen bist. Jetzt hast du eine Chance, sie ist wieder frei.“ „War sie denn verheiratet?“ fragte ich unwillkürlich. „Das wundert dich? Sie ist seit ein paar Monaten geschieden, und wahrscheinlich kann sie Olomouc nicht mehr ausstehen. Paß auf, Kumpel, daß ihr nicht zusammen wegfahrt.“ „Mit wem war sie verheiratet? Kenne ich ihn?“ „Ach ja“, seufzte er, „das ist wichtig. Vorsicht, lieber Freund, über ihre Scheidung erzählt man hier viel häßliches Zeug. Nicht daß ich das alles glauben würde, ich persönlich …“ „Wer war ihr Mann?“ „Vašek Melichar, wenn dir das etwas sagt.“ Der Name sagte mir etwas, aber ich wußte nicht, was. „Melichar?“ Plötzlich blitzte es in meinem Hirn. „Der Fußballer?“ Über Václav Melichar hatte ich manchmal etwas auf den Sportseiten der Tageszeitungen gelesen. Nie wäre mir eingefallen, den Namen mit meiner unvergeßlichen Liebe Vanda Gabrielová in Verbindung zu bringen – warum auch? „Ja“, sagte Artur. „Übrigens – besser, du hörst das von mir als von Gott weiß wem und mit Gott weiß was für einem Kommentar.“ Mein Herz flatterte unbegreiflicherweise. Artur berichtete mit finsterer Miene: „Melichar hatte 51
voriges Jahr zu Silvester einen Unfall. Er brach sich beide Beine, und eines wurde ihm dann abgenommen.“ „Das ist ja schrecklich!“ „Vanda hat sich kurz darauf von ihm scheiden lassen. Das wird ihr Olomouc nie verzeihen.“ „Schön klingt das auch nicht“, sagte ich nach einer Pause, „aber was wissen wir? Vielleicht hat es schon vorher zwischen ihnen nicht geklappt. Mir ist natürlich klar, daß sie nach Meinung der Leute einen Krüppel verlassen hat. Wie ist denn der Unfall passiert?“ „Sie waren auf ihrem Grundstück und konnten den Ofen nicht anheizen, weil der Schornstein verstopft war. Melichar hatte schon eine halbe Flasche Wodka intus, trotzdem ist er auf das vereiste Dach geklettert. Vanda soll ihn dazu angetrieben haben“, informierte mich Artur. „Woher weißt du die Einzelheiten?“ „Das weiß jeder, dafür hat Melichar gesorgt.“ Artur legte seinen Arm um meine Schulter. „Robert, denk nicht, ich verbreite Tratsch. Wahrscheinlich freut ihr euch beide über das Wiedersehen. Wenn du dich morgen von ihr abwenden würdest, nachdem du etwas gehört hast, wäre das für sie ein Schlag. Ihr ging es in letzter Zeit wirklich schlecht. Ich habe schon immer eine Schwäche für sie, aber leider sie nicht für mich.“ Er gebärdete sich tugendhaft, als er sagte: „Meine Freundeshand hat sie zurückgewiesen. Sie hüllt sich in Schweigen, trägt die Nase hoch und verprellt auch die paar Leute, die es gut mit ihr meinen.“ An der Ecke blieben wir stehen, und Jung-Artur, der unter der grellen Straßenlaterne plötzlich gealtert und gewelkt war, sagte mir zum Abschied: „Ich gehörte übrigens nie zu den Bewunderern Václav Melichars.“ Hinter der Rezeption des Hotels „Palác“ plusterte sich eine fette weiße Henne auf. „Das ist doch nicht zu glau52
ben!“ begrüßte sie mich vorwurfsvoll, ehe sie sagte: „Zweiter Stock, letzte Tür links ohne Nummer.“ Das gedämpft beleuchtete Treppenhaus roch nach Bohnerwachs. Im Gang war es so still, daß ich mein Herz hörte. Ich klopfte an und drückte gleich auf die Klinke. Der Vorhang hinter der Tür war zurückgezogen, zwischen zwei Bahnen weichen blauen Stoffes sah ich Vanda, die auf dem Sofa saß und sich die Fingernägel lackierte. Sie war so vertieft in diese Tätigkeit, daß sie mich nicht bemerkte. Ich stapfte auf, das goldene Köpfchen hob sich. Vanda blickte mich an wie eine Katze, die nicht weiß, wie sich ein Mensch ihr gegenüber verhält. Diese Augen ließen mich all die dummforschen Worte vergessen, mit denen ich mein spätes Kommen zu entschuldigen gedachte. Wie ein Mondsüchtiger ging ich zum Sofa, kniete mich hin, ergriff die Hand mit den frisch lackierten Nägeln und küßte einen Finger nach dem anderen. Ehe ich es erhofft hatte, schlang sich der andere Arm um meinen Hals, und an mein vierundzwanzig Stunden nicht rasiertes Gesicht drückte sich eine zarte Wange. „Vanda!“ sagte ich nach zehn Minuten, in denen wir uns so benommen hatten wie damals als jugendliche Verrückte – wie wir uns hätten benehmen können, wenn sie es gestattet hätte. „Dürfte ich baden? Ich bin seit vier Uhr morgens unterwegs und komme mir vor wie ein Handtuch in einer öffentlichen Toilette.“ Die Hand unter meinem Hemd zwickte mich sanft, Vanda löste sich aus der Umarmung. „Geh“, sagte sie mit verhangenen Augen. Als ich geduscht und mich mit Vandas elektrischem Apparat rasiert hatte, kehrte ich ins Zimmer zurück. Vanda saß wieder artig auf dem Sofa, auf dem Tischchen lächelte mich eine Flasche Tokayer an. Ich wollte Vanda umarmen, aber sie entzog sich mir. 53
„Möchtest du zum Abendessen in die Weinstube gehen? Ich kann dir nur etwas Kaltes anbieten.“ „Ich habe keinen Hunger“, sagte ich, aber mein Magen überführte mich sogleich laut knurrend der Lüge. Vanda verschwand in einer Nische, wo sich eine Miniküche verbarg. Ich nahm ihr das Tablett ab und reichte ihr ein Glas. „Trinken wir?“ „Worauf?“ „Auf das Glück“, schlug ich vor. Auf ihr Gesicht legte sich ein Schatten, die strahlenden Augen versteckten sich unter den Lidern, die Blütenblättern einer weißen Rose ähnelten. „Also gut, auf das Glück“, stimmte sie mit kaum merklicher Ironie zu. Wir tranken, Vanda leerte ihr Glas. Bevor ich danach greifen konnte, servierte sie mir das Abendessen. Ich ließ mich bedienen wie ein Pascha. Die Unterhaltung über vergangene Zeiten und die alten Freunde, die in der ganzen Welt verstreut waren, wollte nicht geraten. Ich befürchtete, mit Banalitäten die unsichtbaren Drähte zu zerreißen, durch die zwischen uns Erregung floß. Die Drähte umspannten uns bald als dichtes Netz, aus dem wir uns nicht befreien konnten. Das wollte ich auch nicht. Gedankenlos schlang ich hinunter, was mir Vanda aufgab, während sie ihr Essen kaum anrührte. Ich legte das Besteck hin und sagte: „Gib mir was zu trinken.“ Als sie mir das Glas reichte, ergriff ich sie am Handgelenk. Vorsichtig stellte ich das Glas auf den Tisch und zog Vanda an mich. „Du bist schön“, sagte ich. Sie ging zur Tür, um die Deckenlampe auszuschalten. „Nicht so schön, wie ich einmal war“, erwiderte sie unbescheiden und fuhr sich über die Hüften, die aus goldenem Satin zu sein schienen. 54
Diese Geste erregte mich. Und diese Stimme – überhaupt wirkte Vanda auf mich wie eine Droge. Man sieht alles in leuchtenden, wilden Farben, nimmt jeden Gegenstand hundertfach schärfer wahr und empfindet Wollust bei jeder Berührung. „Laß das Licht brennen und zieh dich nicht an!“ bat ich. Vanda lächelte zärtlich, drückte jedoch auf den Schalter. Im weichen Licht einer Stehlampe schwamm sie wie ein flimmerndes Fischlein durchs Zimmer. Ich stützte mich auf die Ellbogen und trank das flüssige Feuer, das in der Tokayerflasche eingefangen war. „Wenn ich mir vorstelle, was ich alles unternommen habe, um nicht über Nacht in Olomouc bleiben zu müssen!“ „Wie lange möchtest du bleiben?“ fragte sie gurrend. „Solange du willst“, antwortete ich, ohne zu überlegen. Sie seufzte leise. „Ich möchte fort von hier …“ Die Wolke, auf der ich schwebte, sank ein gehöriges Stück tiefer zur Erde. „Gefällt es dir in Olomouc nicht mehr?“ „Hier hält mich nichts“, antwortete sie zornig. „Wenn du es wissen willst, ich habe Olomouc satt bis obenhin.“ Meine Ohren, auf Katzengeschnurr eingestimmt, wurden vom heftigen Zuschlagen der Badezimmertür betäubt. So ist das also, sagte ich mir ernüchtert. Ich stand auf, suchte das am wenigsten entbehrliche Kleidungsstück und öffnete das Fenster. Die Straße lag verlassen da. Irgendwo bimmelte eine Straßenbahn, in der Nähe erklang betrunkenes Lachen. Die Sterne leuchteten in der klaren, mondlosen Nacht so hell, wie ich es in Prag nie gesehen hatte. In Prag hatte ich allerdings kaum in die Sterne geblickt. Am Horizont zeichneten sich uralte Baumkronen wie Burgzinnen ab. Ein Stück weiter hinter der Brücke 55
stand das Gymnasium, wo ich mich im letzten Jahr so unglücklich in ein Mädchen aus der untersten Klasse verliebt hatte, daß ich deswegen fast durchs Abitur gerauscht war. Es tat gut, sich daran zu erinnern. Vanda hatte schon damals beinahe ein Fiasko in meinem Leben verursacht. Jetzt steht sie unter der Brause, und das Wasser fließt über ihre Atlashaut. Sie ist schon lange dort. Selbst wenn sie sich bis zum Morgen duschte, könnte sie die Schandmale, mit denen sie Grym gezeichnet hat, nicht abwaschen. Ich wandte mich von der nächtlichen Szenerie der erinnerungsträchtigen Stadt ab und blickte auf das Tischchen mit der fast leeren Flasche, Ordnungsliebend legte ich Vandas zerknitterten Pullover, der an die Uniform eines Erzengels erinnerte, über den Sessel, danach strich ich den Vorleger aus Schaffell glatt. Im Badezimmer hörte das Plätschern auf, ein Fläschchen klapperte. Plötzlich fühlte ich mich gebunden, ja beinahe verheiratet. Ich zog schnell die Hose an und suchte das Oberhemd. Aus dem Badezimmer kam Vanda in einer weißen Seidenbluse und einem blauen Rock, frisch wie eine Blume auf einer Bergwiese. „Das Zimmermädchen wäscht morgen früh dein Hemd“, sagte sie. Ungezwungen trat sie an den Toilettentisch, um an ihrer Bluse zu nesteln. Die Ehefesseln fielen augenblicklich von mir ab. Ich war verwirrt – könnte sie mir das Hemd nicht selber waschen? Vanda öffnete einen Einbauschrank und reichte mir einen Lappen. „Zieh vorläufig das an! Mach kein finsteres Gesicht, das ist meins, ich mag schlumprige Männersachen.“ „Danke“, brummte ich in das Trikot, „morgen kaufe ich mir ein Hemd.“ 56
„So bleibst du?“ fragte sie gewollt gleichgültig. „Natürlich“, antwortete ich. Da erblickte ich ein rotes Schildchen mit dem weiß aufgemalten Namen V. Gabrielová, das sie an die Blusentasche geheftet hatte. „Was bedeutet das?“ Sie zuckte bedauernd die Schultern. „Ich bin im Dienst, Roby. Frau Brožová hat mich nur für eine Weile abgelöst, damit ich mit dir zu Abend essen konnte. Ich hatte sie darum gebeten, weil ich dachte, daß das unser einziger Abend ist … War sie nicht ärgerlich, weil du so spät kamst?“ Ich war ein schäbiger Egoist, der von allen das schlechteste dachte. Dieses großzügige Mädchen verdiente ich gar nicht. „Mir ist nicht nach schlafen zumute“, sagte ich. „Darf ich mitkommen? Wir könnten uns ein bißchen unterhalten.“ Sie strahlte. „Sicher.“ Wir plauderten etwa eine Stunde, von niemandem gestört in dem nach Tabak und Holz riechenden Vestibül. Ich erzählte Vanda alles über mich: Daß ich das Studium an zwei Fakultäten nicht beendet und damit meine Mutter enttäuscht hatte, daß ich in mehreren Berufen gescheitert war, weil ich sie lediglich als Broterwerb und keineswegs als Berufung auffaßte, und daß ich in einer verzweifelten Stunde zu schreiben angefangen hatte. Und daß der schnelle Erfolg in mir übertriebene Hoffnungen geweckt hatte. Vanda war eine vorzügliche, inspirierende Zuhörerin, ich schwatzte und schwatzte und merkte kaum, daß sie über sich fast gar nichts berichtete. „Wie sieht dein morgiges Programm aus?“ fragte sie mich, als alle ergänzenden Fragen erschöpft waren, mit denen sie meinen Vortrag unterbrochen hatte. „Ich habe ein paar Gänge zu erledigen.“ Von der Erbschaftsangelegenheit sagte ich Vanda nichts, aus un57
erklärlichen Gründen wollte ich nicht darüber sprechen. Sie machte mir ein großherziges Angebot. „Wenn du ein Auto brauchst, kannst du meines nehmen.“ „Du hast ein Auto?“ „Einen Trabant“, antwortete sie lächelnd. Sie nahm die Schlüssel aus der Handtasche, die sie unter dem Pult hervorgeholt hatte. „Es steht um die Ecke neben dem Hotel ‚Bristol‘.“ „Du bist aber ein reiches Mädchen“, sagte ich, „hast du das von deinem Gehalt gespart?“ Die Frage schien ihr nicht zu behagen, denn Vanda wirkte auf einmal sehr zurückhaltend. „Das ist mein ganzer Anteil, den ich bei der Gütertrennung nach der Scheidung bekommen habe.“ „Ach so“, bemerkte ich mit dümmlichem Gesicht. „Wußtest du nicht, daß ich geschieden bin?“ fragte sie aggressiv. „Das habe ich angenommen, ein Mädchen wie du bleibt nicht allein. Vielleicht bin ich ein Egoist, aber ich freue mich, daß du geschieden bist.“ Ich versuchte, ihre Hand zu nehmen. Sie zog die Hand zurück und lehnte sich an den Schrank mit Zigaretten und Souvenirs. „Beinahe hättest du mich hier nicht wiedergesehen“, sagte sie immer noch in dem aggressiven Ton, der den Eindruck erweckte, als müsse sie sich verteidigen. „Ich will möglichst bald aus Olomouc fort.“ „Hast du schon etwas unternommen? Wenn du nach Prag möchtest, könnte ich vielleicht …“ Sie wehrte mit beiden Händen ab. „Das ist nicht nötig, ich habe noch ein paar Bekannte mit guten Beziehungen.“ Unvermittelt fragte ich: „Kennst du Herrn Grym?“ Die Glastür hinter Vandas Rücken klirrte. „Nein!“ sagte Vanda zu schnell und zu betont. 58
„Er ist Direktor von Metaz in Teplice“, fügte ich hinzu und schaute sie unablässig an. „Kenne ich nicht“, erwiderte sie. Sie drehte sich um, öffnete den Schrank und griff wahllos nach einem Päckchen Zigaretten. Ich lehnte mich ans Pult und beobachtete, wie sie wütend mit einem langen Fingernagel die Schachtel aufriß, die Zigarette erst mit dem dritten Streichholz anzünden konnte und nervös paffte. Erst dann wandte sie mir wieder ihr Gesicht zu. Es war verschlossen wie ein Panzerschrank. Ich lächelte, bis meine Kinnlade steif wurde. „Gute Nacht, Vanda.“ Die Autoschlüssel nahm ich mit. „Weckst du mich morgen?“ Sie nickte stumm. Ich war schon an der Treppe, als sie mir mit fremder, harter Stimme nachrief: „Du hast doch gesagt, daß du hier niemanden kennst!“ Über die Schulter schickte ich ihr ein blasses, müdes Lächeln. Ich brauchte mich nicht einmal zu verstellen. Die Landstraße kroch durch die Wälder wie eine graue Schlange. Durch die offenen Fenster des Trabant wehte harzige Luft, die noch mit dem Duft hochstengliger gelber und violetter Blumen gewürzt war. Sie leuchteten im grünen Halbdunkel des Unterholzes wie Lampions. Manchmal sah ich eine Lichtung mit Schattenstreifen von Baumstämmen. In einer langgezogenen Biegung hielt ich auf einer freien Fläche, die mit Rindenstücken und Holzsplittern bedeckt war. Tautropfen verwandelten den überall wuchernden Schachtelhalm in kleine Weihnachtsbäume. Vor mir lag ein sonniges Tal. Die Häuschen waren wie Perlen auf der flimmernden Schnur des Flüßchens Kamenice aufgezogen. Es schlängelte sich bis zum Horizont, den blaue Hügel begrenz59
ten. Dort lag Bad Teplice nad Kamenicí, das verlorene Paradies meiner Kindheit. Als sich meine Eltern getrennt hatten, ließ mich meine Mutter nicht mehr zur Familie meines Vaters. Ich liebte meinen Großvater und jeden Baum in den Bergen, die wir gemeinsam kreuz und quer durchwandert hatten. Großvater war längst tot, und aus mir war ein verweichlichter Stadtmensch geworden. Deshalb kehrte ich nach zwanzig Jahren ungern hierher zurück. Aber ich liebte auch Vanda Gabrielová. Oder liebte sie nicht, was weiß ich. Solange ich in einem nicht Klarheit besaß, konnte ich auf diese Frage nicht antworten und wurde von Zweifeln zerfressen. Diese Zweifel vermochte nur der Mann zu zerstreuen, den die Rezeptionsdame im Hotel „Palác“ so eilig verleugnet hatte. Ich verabschiedete mich von der Festung der Bergeshöhe und fuhr abwärts, wo vielleicht das Grab meiner Hoffnungen lag. Die Villa am Fuße des Křízový vrch wurde von edlen Nadelgehölzen verdeckt. Sie wirkte uneinnehmbar wie eine Staatsbank. Auf dem moosigen, betauten Rasen verströmten weiß blühende Sträucher ihren Duft. Ein Weg aus sauberen Steinplatten führte von der massiven Haustür zum Tor. Die Betonstreifen zur Doppelgarage waren tot. Es herrschte Friedhofsruhe. Hier war es ganz anders als im verglasten Verwaltungsgebäude von Metaz, wo mir nacheinander drei schöne Mädchen und ein ergrauter Greis meines Alters versichert hatten, daß Direktor Grym nicht da sei und nicht komme, denn er sei in die Bezirkshauptstadt gefahren, um hohen Besuch zu empfangen. Ich hatte allerdings seine Privatadresse erfahren, was mir offenbar wenig nutzte. Leise verfluchte ich den verrückten Einfall, einen Mann aufzusuchen, dessen Bitte ich tags zuvor abgeschlagen hatte. Und laut begrüßte ich die Frau, die in der Haustür er60
schien, an jeder Seite eine schwarzweiße Dogge. Die Scheusale liefen ausgelassen auf mich zu, die Dame blieb stehen. Auf den ersten Blick war sie etwa fünfundzwanzig. Sie hätte einen magnolienweißen Teint und langes schwarzes Haar. Die kleine Gestalt hielt den Kopf hoch wie eine auf Hochglanz gestriegelte Zirkusstute. Irgendwo hatte ich dieses schöne, stolze Gesicht schon gesehen. Vielleicht auf einem Reklamefoto. Sie konnte alles anpreisen, von Antibabypillen bis zu Kindernahrung. Langsam kam sie auf das Tor zu und fragte: „Suchen Sie jemanden?“ Die Stimme klang gleichgültig. Von nahem wirkte sie älter oder eher erfahrener, als hätte sie die Schlechtigkeit der Welt zu spüren bekommen. Der hochmütige Mund lächelte nicht, die schrägen dunklen Augen blickten nicht zu mir, sondern zu den Hunden. „Herrn Grym“, sagte ich ins Gebell der Doggen, die unablässig gegen den Zaun anrannten. Angesichts ihrer Kraft kam er mir schwächlich vor. „Mein Mann ist nicht zu Hause“, sagte die Schöne kühl. „Kann ich ihm etwas ausrichten?“ „Das wäre nett … Sagen Sie ihm bitte, daß Robert Lukáš hier war. Ich würde mich freuen, wenn er mich heute oder morgen im Hotel ‚Palác‘ in Olomouc anriefe.“ Endlich geruhte sie, mich näher zu betrachten. „Sind Sie aus Olomouc gekommen?“ „Ja.“ „Zu meinem Mann?“ Ich nickte. „Es tut mir leid, daß Sie ihn nicht angetroffen haben. Das ist ein weiter Weg.“ Sie zögerte, ehe sie fragte: „Darf ich Ihnen wenigstens einen Kaffee anbieten?“ Ich schielte zu den Ungeheuern. Frau Grymová lachte unerwartet lieb. „Sie brauchen 61
keine Angst zu haben, das sind noch Welpen. Castor! Pollux!“ Beide Hündchen strichen ihr nun verspielt um die Beine. Sie öffnete das Tor. Das Zimmer, in das sie mich führte, erinnerte an eine frisch gefrorene, spiegelglatte Eisbahn. Alles befand sich an dem Platz, der von einem Innenarchitekten kompromißlos festgelegt worden war: Verchromte Tischchen mit Glasplatten, weiße Ledersessel auf Drehbeinen, eisige Vitrinen und Kristallüster. Dazu paßte die kühle Frau, die geschickt mit dem Geschirr hantierte. Das Porzellan war so dünn, daß ihre Finger durchschienen. Durch das riesige Fenster sah ich, wie die Hunde die kostbaren Koniferen bepinkelten. Frau Grymová fragte mich: „Wußte mein Mann, daß Sie ihn besuchen?“ „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Sie hätten sich anmelden sollen, er kann nicht frei über seine Zeit verfügen“, sagte sie mit freundlichem Vorwurf. „Das hätte ich tun sollen“, stimmte ich ihr schuldbewußt zu, „aber gestern wußte ich noch nicht, daß ich ihn heute aufsuchen würde.“ „Sind Sie seit gestern hier?“ „Nein, wir haben uns in Olomouc bei der Beisetzung meines Vaters kennengelernt.“ Frau Grymová ließ ihre Augen lange auf mir ruhen. „Ach so … Aufrichtiges Beileid. Sind Sie in einer privaten Angelegenheit gekommen?“ „So könnte man es nennen“, antwortete ich ausweichend. „Hat Sie mein Mann eingeladen?“ „Das gerade nicht, aber ich glaube, daß er mich gern wiedersieht.“ Das Gespräch ähnelte einem Verhör. Mir wurde be62
wußt, daß es angebracht war, an diesem Ort über Herrn Gryms Malheur zu schweigen. „Das freut mich aber.“ Frau Grymová faltete die Hände auf ihrem schönen Busen. „Ich bemühe mich, meinem Mann wenigstens ein bißchen Privatleben zu bewahren. Deshalb befürchte ich, daß ich Sie nicht gerade freundlich empfangen habe.“ „Im Gegenteil“, versicherte ich ihr. „Sie sind sehr liebenswürdig. Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige.“ Sie hob abwehrend die Hand. „Überhaupt nicht! Wir leben in letzter Zeit so zurückgezogen, daß mir jeder Besuch willkommen ist.“ Sie seufzte und blickte in die Tasse, als wollte sie aus dem Kaffeesatz lesen. „Sie haben selbst einen teuren Menschen verloren, so begreifen Sie das sicherlich. Uns hat ein tragischer Todesfall beinahe verzweifeln lassen. Karel war zwar mein Stiefsohn, aber wir standen uns sehr nahe. Mein Mann ahnt nicht, daß mich der Verlust ebenso tief getroffen hat wie ihn.“ Ich fühlte mich irgendwie unwohl. „Begreifen Sie, warum es mich so freut, daß mein Mann Sie eingeladen hat?“ sagte Frau Grymová aufdringlich und im Widerspruch zu den Tatsachen. „Vielleicht hat er endlich beschlossen, uns aus der unnatürlichen Abkapselung zu befreien, in der wir seitdem leben. Ich bin ratlos. Verstehen Sie mich? Für meinen Mann und seine Familie habe ich meine künstlerische Karriere und einen großen Bekanntenkreis aufgegeben, aber daran liegt mir nichts. Ich möchte nicht, daß er sich innerlich wegen etwas verzehrt, das er nicht verhindern konnte. Er ist doppelt so alt wie ich. Wieviel gemeinsame Jahre bleiben uns noch?“ Die Dame war rätselhaft und irgendwie hysterisch. „Da fällt eine Antwort schwer“, sagte ich ehrlich. Frau Grymová lächelte gerührt. „Ich weiß. Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet habe, das ist sonst nicht meine Art. Vielleicht 63
haben die Umstände, unter denen Sie gestern meinem Mann begegnet sind, mich dazu gebracht.“ Sie blickte mich voller Erwartung an, aber ich mußte sie enttäuschen. Mit meinem Verlust hatte ich mich längst abgefunden. „Denken Sie, daß Herr Grym bald kommt?“ fragte ich. Das ermunternde Lächeln erlosch. „Ich glaube nicht, daß er heute heimkommt. Dort ist ein offizieller Empfang mit vielen Reden über Arbeit und Politik – das kennen Sie ja.“ Ich kannte es nicht, aber nickte wie ein Eingeweihter. „Mein Mann fährt ungern nachts mit einem müden Schofför“, erklärte sie. „Er ist zu seinen Angestellten sehr rücksichtsvoll. Sicherlich fahren sie erst morgen früh los.“ Ich erinnerte mich an einen anderen Angestellten, den der rücksichtsvolle Direktor rücksichtslos gescheucht hatte. Frau Grymová blickte auffällig auf die winzige Uhr in ihrem Armreif. Er war mit Steinen besetzt, die wie Strass aussahen. „Sie würden bestimmt umsonst warten“, sagte sie nachdrücklich. Sie erhob sich und begann das Geschirr abzuräumen. Petr Šíma saß an einem Schreibtisch von der Größe eines Billardtischs und gebärdete sich wie ein professioneller Spieler, der vergeblich auf einen Gimpel wartet, um ihn zu besiegen. Als ich im Schatten des hübschen Mädchens eintrat, das schon bei meinem ersten Besuch freundlich gewesen war, hob er seine trüben Augen. „Genosse Doktor, hier ist ein Herr, der unbedingt mit Ihnen …“, sagte die schöne Achtzehnjährige schüchtern. „Grüß Gott, Petr“, sagte ich. Das Mädchen fuhr vor Schreck zusammen. „Guten Tag“, antwortete Petr würdig. Daraufhin fuhr er das verstörte Mädchen an: „Wissen Sie nicht, daß Sie 64
alle Besucher nur in den Empfangsraum führen sollen?“ „Ja, aber ich … aber er …“, stotterte das Mädchen. „Daß mir das nicht noch einmal vorkommt!“ Er drohte ihr mit dem Zeigefinger, der von Nikotin gebräunt war. Mit den anderen Fingern gab er ihr zu verstehen, daß sie verschwinden solle. „Du hast ihr den Tag verdorben“, sagte ich vorwurfsvoll, als das Mädchen hinausgegangen war. „Dazu bin ich da“, erwiderte er, „sonst würde hier jeder machen, was ihm beliebt. Besonders diese jungen Dinger …“ „Hör schon auf, Petr“, unterbrach ich ihn, „du brauchst deinem alten Mitschüler Robert keine Vorträge zu halten.“ Er gab sich betroffen und zwinkerte mir schweinisch zu. „Ich wollte sagen; daß diese jungen Dinger zum Anbeißen sind. Hast du Majka genau angesehen?“ „Was für eine Majka?“ „Das Mädchen, das dich hergebracht hat.“ „Was ist mit ihr?“ „Mein Gott, er verführt mein schönstes Häschen dazu, die Vorschriften zu übertreten, und bei ihm rührt sich nichts!“ sagte Doktor Šíma feixend. „Eben habe ich ein angenehmes halbes Stündchen in Gesellschaft einer Sexbombe verbracht, hinter der sich alle deine Häschen verstecken können.“ „Mit wem?“ fragte er neugierig. „Mit der Chefin.“ „Mit wem?“ „Mit Frau Direktor Grymová.“ „Ach nein!“ „Ach ja, Junge“, sagte ich mit weltmännischem Lächeln. Petr entblößte sein Pferdegebiß zu einem verlegenen Grinsen und fragte vorsichtig: „Was machst du überhaupt hier?“ 65
„Ich habe deinen Chef gesucht. Wir haben etwas miteinander zu besprechen“, fügte ich hinzu, um einer weiteren Frage zuvorzukommen. „Ich mußte mich mit seiner Gattin begnügen, mit der ich – im Vertrauen – ganz gern etwas zu zweit besprechen würde.“ Petr musterte mich mit Augen, die gewohnt waren, die geheimsten Kadermängel zu enthüllen. „Der Chef kommt heute nicht mehr. Was wollte er gestern von dir?“ Ich machte ein rätselhaftes, aber nicht verschlossenes Gesicht, was mich große Anstrengung kostete. „Pssst!“ sagte Petr. Er stand auf und schob mich zur Tür. „Auf der Arbeitsstelle rede ich grundsätzlich nicht über Privatangelegenheiten“, teilte er mir erst draußen vor dem Verwaltungsgebäude mit, von dem mehrere Produktionshallen wie ein Drachenschwanz abzweigten. Ich ließ meinen Blick über den breiten Fluß aus Glas und Metall schweifen und dachte an das Bächlein voller Forellen, das vor zwanzig Jahren hier zwischen Erlen plätscherte. Von den Bäumen waren nicht einmal die Wurzeln übriggeblieben, und der Bach war tot, sofern er noch existierte. Aber große und kleine Fische gab es hier immer noch, und Petr Šíma gehörte zweifellos zu den ersteren. Er schaute auf das Verwaltungsgebäude, als wäre es eine mit modernster Spionagetechnik vollgestopfte Geheimdienstzentrale. „Wohin gehen wir?“ fragte ich. „Das wirst du schon sehen.“ In der Teplicer Badeanstalt summte es wie in einem Bienenstock. Auf der Terrasse, zwischen bunt angestrichenen Tischen und Stühlen, drängten sich durstige Halbnackte. Das Fensterchen, durch das Getränke gereicht wurden, war von braunen Körpern umlagert. Ich bedauerte den stark geröteten Bauch eines beleib66
ten Fräuleins. Zu weiteren Besichtigungen blieb mir keine Zeit, denn nachdem Petr Klopfzeichen gegeben hatte, wurden wir in die Gastwirtschaft eingelassen. Ich sah mich in dem völlig leeren Raum um und bemerkte zu Petr: „Das sieht ja aus wie ein geheimer Spielsaal.“ „Das ist auch etwas Ähnliches.“ „Kaum zu glauben. Wirklich?“ Petr schickte sich an, mit einem Zipfel des blaßgrünen Tischtuchs seine Brille zu putzen. „In Teplice ist mehr Geld als Gelegenheit zum Ausgeben.“ „Da beneide ich euch. Wie oft hast du hier die Bank gesprengt?“ Petr setzte die Brille auf und sah mich an, als hätte ich ihm ein großes Unrecht angetan. „Ich habe eine Frau, die nicht berufstätig ist, eine sechsjährige Tochter und zweijährige Zwillinge. Eine Werkswohnung, aber einen Kredit für die Möbel und das Auto. Kann ich mir da Glücksspiele leisten?“ „Und wer kann sich das leisten?“ „Leute, die alles haben und jährlich Hunderttausende einnehmen. Die Generation vor uns. Der Chefarzt vom hiesigen Krankenhaus, der Leiter der Badeanstalt … Die Wirte und Kellner. Musiker, die von einem Tag zum anderen leben. Und die Kerle in unserem Betrieb, die an der Maschine stehen und mehr verdienen als ich, ein promovierter Psychologe in einer höheren Funktion!“ Dann schufte an einer Maschine und verzichte auf einen exklusiven Lebensstil, riet ich ihm im stillen, aber laut fragte ich unschuldig: „Kommt Grym auch hierher?“ „Ich bitte dich! Der steckt alles Geld in seine Irmička und sein Jungchen.“ „Meinst du mit dem Jungchen seinen Sohn? Der ist doch tot, und sein Vater weint sich seinetwegen die Augen aus.“ „Quatsch“, sagte Doktor Šíma und goß schon den zweiten Schnaps in seine Kehle. 67
Der Alkohol zeitigte bei dem sparsamen Familienvater eine ungewöhnliche Wirkung. Petr wurde gelb, seine Brille beschlug, und die Hand, die das leere Glas umklammerte, begann zu zittern. Unauffällig rückte ich mein volles Glas näher zu ihm, und auffällig blinzelte ich dem Mann hinter der Theke zu. „Grym dürfte erleichtert sein, daß er dieses Früchtchen losgeworden ist“, sagte der Vater dreier Kinder gefühllos. „Er hatte ihn gut zehn Jahre lang am Halse. Ich war gerade nach Teplice gekommen, da starb seine erste Frau. Der Vater verhätschelte das Söhnchen mehr, als das ein Muttertier gekonnt hätte. Mit fünfzehn raste der Junge auf einem schweren Motorrad durch den ganzen Bezirk, und mit achtzehn kriegte er ein Auto. Das Abitur hat er bestanden, ohne selber zu wissen, wie. Nacheinander flog er von drei Hochschulen. Das kostete ihn viel Mühe – versteh mich recht, er wollte nämlich gar nicht studieren. Warum auch? Schließlich konnte er das ganze väterliche Gehalt verbraten, das Doppelte von dem, womit ich uns fünf ernähren muß. Also ging es ihm zehnmal besser als mir.“ Diese komplizierte Rechenaufgabe hatte Doktor Šíma genial gelöst. „Und dabei machte er nichts. Nichts! Kein Kapitalist hätte seinen Sohn so gammeln lassen, wie das Genosse Grym zuließ. Doch dann …“ Mit der Rechten machte er eine Geste, die Köpfen veranschaulichte, dabei eignete er sich mit der Linken mein kaum berührtes Glas an. „Was geschah dann?“ fragte ich, während Petr wieder die Farbe wechselte und die Brille putzte. „Der Herr Papa lernte Irmička kennen. Irmička hat ihn mit einem Lasso eingefangen und die Schlinge zugezogen“, sagte er trocken. „So fest, daß er mit den Händen nicht mehr in die Tasche greifen konnte. Da wurde das Söhnchen bockig.“ Der Mann hinter der Theke schaffte es, uns einen 68
weiteren Klaren zuzuspielen, während der Bierhahn lief. Petr ergriff gleich das Glas. „Was du nicht sagst“, bemerkte ich als Ermunterung zu einem weiteren Bericht. Petr schüttelte gründlich seinen schweren Kopf und glotzte mich an. „Saufen und vielleicht auch Drogen“, flüsterte er mit steifer Zunge. „Und Mädchen!“ „Das letztere ist doch bei einem jungen Burschen entschuldbar“, wandte ich ein. „Aber er darf nicht gewisse Grenzen überschreiten“, belehrte mich der Psychologe Šíma und verleibte sich das nächste Glas ein. Ich befürchtete, daß der Alkohol in meinem Glas verdunstete. „Der Dämlack hat einer Zigeunerin ein Kind gemacht“, krächzte er, als würde er mir einen eigenen Fehltritt gestehen, „und wollte sie heiraten! Selbstverständlich hat ihm das der Alte nicht erlaubt.“ „War der Junge nicht volljährig?“ „Er war dreiundzwanzig, fünf Jahre jünger als Irma“, sagte Petr grinsend. Er befeuchtete sich wieder die Zunge. „Die ist bald verrückt geworden! Mit achtundzwanzig Großmutter, wenn auch keine echte … Unter uns, der Alte würde das Zigeunerkind gnädig annehmen. Er möchte gern einen Erben haben. Mit seinem Sohn rechnete er schon damals nicht mehr, und Irma kriegt keine Kinder. Er hat sich gehörig verrechnet, der despotische Opa.“ Ich erinnerte mich an die Szene im Hotel, und beinahe verübelte ich Petr diese mitleidlose Haltung nicht. „Wie ist alles ausgegangen?“ „Grym drehte seinem Sohn den Geldhahn zu und wollte den Enkel kaufen. Doch die Zigeuner sträuben sich. Bis heute. Sie treiben den Preis hoch, verstehst du?“ „Und der junge Grym?“ 69
„Der ist aus dem Fenster gesprungen, weil er nicht mehr ein noch aus wußte. Er schwankte zwischen dem Vater und der Zigeunerin. Der Junge war längst kaputt, ehe er auf dem Pflaster lag.“ Mir lief es kalt über den Rücken. „Wo ist das passiert – zu Hause?“ „Nein. Dazu hat er sich nach Olomouc aufgemacht. Er mietete sich ein Zimmer im obskuren Hotel ‚Bristol‘ und … Eine unappetitliche Geschichte.“ Petr schüttelte sich und trank sein Glas aus. „Möchtest du auch ein Bier?“ „Herr Ober“, rief ich zur Theke. Die braunen halbnackten Jungen und Mädchen murrten laut. „Aber das weißt du doch alles“, sagte Petr. „Wie kommst du darauf?“ Er beugte sich über den Tisch. „Mich kannst du nicht bluffen, meine Arbeit besteht auch darin, die Menschen zu durchschauen … Grym hat dich angeheuert, damit du die Zigeuner pazifizierst …“ Petr war ein gebildeter Mensch, selbst im Rausch achtete er auf die Wortwahl. Ich wich seinem scharfem Atem aus. „Du hast aber Einfälle! Das könntest du doch viel besser erledigen!“ „Ich – nein! Ich bin ein Untertan, und er ist der Zar. Der Alte hält auf Würde, obwohl hier jeder die Geschichte kennt.“ „Aber warum gerade ich?“ „Ihr Schriftsteller könnt doch jeden belatschern“, erklärte er mit der Logik eines Trinkers, gegen die man sich nicht wehren kann. Ich versuchte es gar nicht, sondern sagte listig: „Leider kann ich das Mädchen nicht finden.“ „Fahr in die Zigeunerhöhle auf dem Bobrovník“, stammelte Doktor Šíma angestrengt. „Hast du ihm das gestern nicht versprochen? Ich dachte ja, weil er auf 70
dem Heimweg so gute Laune hatte … Mach ihm keinen Ärger, das rate ich dir … Er ist ein Bandit, aber er kann großzügig sein – sieh mich an!“ Sein Kopf sank auf den Tisch. Ich schob das Bierglas beiseite und schüttelte Petr. „Petr, warum hat er die Sache nicht seiner Frau anvertraut? Dafür sind doch Frauen wie geschaffen, und es wäre in der Familie geblieben.“ „Irmička?“ lallte Petr. „Die ist doch dämlich! Irmička ist ein Federarsch …“ Wieder versuchte er, auf dem Tisch einzuschlafen. „Was ist sie?“ „Ein Federarsch. Weißt du nicht, was das ist?“ „Eine Schriftstellerin?“ fragte ich mit böser Ahnung. Petr kicherte. „Eine Hupfdohle! Eine Tingeltangelteuse! Bars – Variete …“ Er stand auf und versuchte, die Parodie eines Tanzes anzudeuten, wohl eines Cancan. Der Stuhl fiel um, und Doktor Šíma plumpste auf das Körperteil, das bei ihm ungefiedert war. Die Grymsche Villa ragte aus den grünen Wogen wie der Eisbrecher, der die Titanic versenkt hatte. Ich lungerte vor dem Tor herum und überlegte, ob ich mich nochmals mit Frau Grymová unterhalten sollte, obwohl ihr bestimmt nichts daran lag. Bevor ich mich entscheiden konnte, wurde die Haustür geöffnet, und das Objekt meines Interesses trat in den Garten. Flink versteckte ich mich hinter einem Strauch. In ihrem roten Overall war sie eine verführerische Teufelin. Sie erinnerte mich wieder an etwas, was ich unlängst gesehen haben mußte. Als sie mir den Rücken zuwandte, schwenkte sie ihre mit glänzender Seide bespannten Hüften. Gern hätte ich diesen Körperteil im Federschmuck erblickt. Ich dachte daran, wie Petr Šíma vulgär Irmas ursprünglichen Beruf bezeichnet hatte. Irma schloß zu, ergriff eine schwarzweiß karierte 71
Reisetasche und stolzierte zur Garage. Das Tor hob sich leise und schnell, es reagierte auf einen Knopfdruck oder ein Codewort, vielleicht auch auf die erotischen Wellen, die Irma ausstrahlte. Ein schwarzer Sportwagen verschluckte sie wie eine Himbeere und begann zufrieden zu schnurren. Hinter mir quietschte eine Bremse, dann knackte eine Tür. Ich drehte mich um und stand vor Direktor Grym, der aus seinem Dienstwagen gestiegen war. Mit verkniffenem Gesicht fragte er: „Was wollen Sie hier?“ „Ich suche Sie, denn ich habe es mir überlegt und …“ Aus dem Wagen blickten eingefallene Gesichter zu uns herüber. Steinern, hundert Jahre alt, müde vom Gebrauch der Macht. Stumme Gesichter voller Vorwürfe. Mir konnten sie nicht drohen, aber Grym wurde nervös und unterbrach mich brüsk: „Das ist nicht so wichtig. Übrigens habe ich jetzt keine Zeit. Sie brauchten sich nicht zu bemühen.“ Er sah den Wagen, der sich lautlos aus der Garage schob. Frau Irma stieg wieder aus. Ohne jeden Ausdruck in dem schönen Gesicht, in dem sich lediglich die Augen bewegten, schaute sie auf ihren Mann, auf mich, auf das staubige Auto vor dem Tor. Grym vergaß alles auf unserer Seite des Zauns. Er klinkte hastig das Tor auf und rannte über den Rasen. Aus dem Dienstwagen krochen zwei Männer in so exquisiten Anzügen, daß sie darin geradewegs zu einem Regierungsempfang gehen konnten. Der Jüngere zündete sich sofort eine Zigarette an, der Ältere reckte sich und kam auf mich zu. „Wo steckt er denn?“ Aus dem Tonfall war zu entnehmen, daß man Fragen dieses Herrn nie unbeantwortet ließ. Ich zuckte die Schultern. Wir blickten beide zur Gara72
ge. Grym flüsterte seiner Frau etwas zu, es schien etwas Dringendes zu sein, wie seine Gebärden anzeigten. „Sind Sie aus Gryms Stall?“ erkundigte sich der Mann neben mir, ohne seine Augen von dem lebenden Bild im Garten abzuwenden. Im ersten Moment verstand ich ihn nicht, dann verneinte ich die Frage. Der Mann hatte Sinn für feine Stimmnuancen. Er musterte mich und fragte halb scherzhaft: „Oder laufen Sie seiner Frau nach?“ „Das bestimmt nicht“, erwiderte ich lachend. „Schade“, kommentierte er. Ich war überrascht, er starrte weiterhin in den Garten. Irma nickte ihm wie eine Königin zu. Lässig erwiderte er den Gruß. Ich bemerkte sein amüsiertes Lächeln und ihre schlecht verborgene Gereiztheit. Sie strich über ihr glattes Haar und rief freundlich: „Ich habe keinen Besuch erwartet, Genosse Generaldirektor. Gerade wollte ich in den Wald fahren. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, wahrscheinlich vom Wetter.“ Er entgegnete: „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, wir fahren in den Betrieb. Legen Sie sich in den Schatten, Frau Grymová, und machen Sie Ihrem Mann keine Sorgen, er hat ohnehin genug.“ Irmas weißes Gesicht lief purpurn an. Grym kam aus dem Haus, in dem er verschwunden war. In der linken Hand hielt er dünne Ledermappen. Hinter ihm stürzten beide Hunde wild bellend aus der Tür. „Lassen Sie die Pforte zu!“ schrie Irma. Der Generaldirektor steckte schon beide Arme durchs Gitter. In Erwartung von Knochengesplitter schloß ich die Augen. Die Tierchen beleckten ihm jedoch eifrig die Hände. „Artige Hündchen, artig“, brummte er schmeichelnd. „Frauchen verleumdet euch …“ 73
In der Villa wurde eine Tür zugeschlagen, es klang wie ein Pistolenschuß. „Mein Gott, das ist Temperament“, sagte der Generaldirektor mit anerkennendem Schnalzen zu Grym. „Du solltest dir bessere Wächter besorgen, Karel, und nicht solche Schoßhündchen.“ Gryms Gesicht wurde noch grauer. Der Generaldirektor schubste liebevoll die Hunde beiseite und ging zum Wagen. Ehe er einstieg, erinnerte er sich an mich. Er verabschiedete sich gerade in dem Moment, als mir Direktor Grym betont unauffällig einen Zettel in die Hand steckte. „Die ‚Sennhütte‘? Das ist ein Stück zu laufen“, sagte mir ein alter Mann im Tabakkiosk am Bahnhof. „Man kommt doch mit dem Auto hin, nicht wahr?“ fragte ich. „Da müssen Sie auf die neue Landstraße hinter der Baustelle von Metaz und dann linker Hand hoch zum Bobrovník und …“ Ich unterbrach den weitschweifigen Alten. „Heißt die Gastwirtschaft ‚Auf dem Bobrovník‘ jetzt ‚Sennhütte‘? Dorthin fährt man doch durch den Wald.“ „Wenn Sie das kennen, warum fragen Sie da“, entgegnete er beleidigt. „Ich war fünfundzwanzig Jahre nicht dort.“ Als wäre ich dadurch, daß mein Leben schon so lange dauerte, dem Alten ebenbürtig geworden, erklärte er mir versöhnt: „Die ‚Sennhütte‘ ist eine neue Wirtschaft hinter der alten. So eine spitze Holzbude mit einem offenen Feuer, über dem sie Würste braten, und wenn Sie dazu einen Humpen von dem Faßbier trinken, das sie dort Laurentiusbier nennen, brauchen Sie einen Fünfzigkronenschein und am nächsten Morgen einen Eßlöffel Natron.“ Auf dem Bobrovník hatte mein Großvater Bier und hausgemachten Himbeersaft bestellt – alles in allem für 74
drei fünfzig. Man saß auf dem Rasen unter Linden, und der Wirt brachte die Getränke von der hölzernen Veranda herunter. Der Zettel, den Grym von einem amtlichen Schriftstück abgerissen und mir vor dem Haus so ungeschickt zugesteckt hatte, lud mich jedoch nicht in dieses prähistorische Gasthaus ein. Auf das Papier war eilig hingeschmiert: Warten Sie auf mich gegen sieben in der Sennhütte. Reden Sie über nichts mit meiner Frau! Es war dreiviertel fünf, ich war hungrig und durstig und miserabel gelaunt. Der Tag schien vergeudet zu sein. Ich hatte nur eine kalte Schönheit kennengelernt und in das unfrohe Privatleben eines einfältigen Fünfzigjährigen geblickt. Daß Grym seine Frau vergötterte und ihre zweifelhafte Zuneigung überbezahlte, war ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, daß Würste in der ‚Sennhütte‘ für mich einen entbehrlichen Luxus darstellten. Ich dankte dem Alten und suchte einen Laden, um mir Milch und ein Stück Brot zu kaufen. In der Nähe des mir vertrauten Gebäudes stieg ich aus. Neben der einstigen Gastwirtschaft ‚Auf dem Bobrovník‘ prangten vier Fertigbauhütten. Den Weg durch das Tal säumten Landsitze von Leuten, die vor Geld und schlechtem Geschmack strotzten. Links bog eine Asphaltstraße zu dem Objekt ab, das ich nach der Beschreibung des Alten nicht verfehlen konnte. Die ‚Sennhütte‘ hätte überall stehen können, sie war so typisch nordmährisch wie slowakisch oder südböhmisch. Ich wandte der standardisierten Folklorearchitektur den Rücken zu. Vor mir breitete sich ein grünes Tal aus, das nicht durch Fabrikgebäude und eine Landstraße verwundet war. Den stets morastigen Weg war seinerzeit auf einem altmodischen Fahrrad ein Junge entlanggestrampelt. Hätte er sich in dem leicht beleibten vierund75
dreißigjährigen Mann, der sich an die Kühlerhaube des geliehenen Trabant lehnte, wiedererkannt? Der Junge achtete nicht darauf, daß eine rostige Sattelfeder den mageren Hintern blutig kratzte. Ihn trieb das Verlangen nach einem Gegenstand im Kramladen des Nachbardorfes – nach dem Fußball, den ihm der Großvater für gutes Betragen während der ganzen Ferien versprochen hatte. Es war der letzte Sonnabend im August, und Großvater hatte sich das Geld dafür von einem besser bemittelten Rentner geborgt. Der Junge kam zu spät, und seitdem hatte ihm niemand etwas für anständiges Betragen versprochen. Honoriert wurden andere Verhaltensweisen. Ich parkte am Ufer des Teichs, der schon damals vorhanden war, und setzte mich mit einer Papiertüte auf einen Stein, um mein bescheidenes Abendbrot zu verzehren. Aus den Hütten drangen Küchendüfte und Geschirrgeklapper herüber. Jemand schlug ausdauernd mit einem Hammer auf ein Stück Blech, zwei Frauen überschrien einander mit schrillen Stimmen. Mehrere Kinder unterschiedlichen Alters ballerten mit Luftgewehren auf alles, was sich im Gesträuch bewegte. Der bessere, begüterte Teil der Gesellschaft hatte begonnen, das Wochenende zu genießen. Von außen glich die ‚Sennhütte‘ einer vorzeitig gealterten, schlampigen Dirne. Die Tür gähnte wie ein offener Mund mit ausgebrochenen Zähnen. Dahinter lag ein dunkler, leerer Raum, der nach verglühter Holzkohle stank. Der geflieste Fußboden war nicht gekehrt, die Aschenbecher auf den massiven Tischen quollen über, die Stühle standen ungeordnet herum. Irgendwo spielte leise ein Radio. Vor der Gastwirtschaft hielt ein Lieferauto, ein Bursche in einem befleckten Kittel warf eine Kiste Würstchen auf den staubigen Asphalt. Er holte den Kellner, der aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gekrochen. 76
Gemeinsam trugen sie die Kiste hinein. Der Kellner stellte einen Stuhl zwischen die Tür. Ich lief auf einem Feldweg zwischen betonharten Fahrrinnen. In der Ferne wellten sich freundliche Hügel. Hinter Wiesen mit verblühendem Gras lag die Stadt Teplice nad Kamenicí. Drei alte Häuschen hockten immer noch am Weg. Am schiefen, aber sorgfältig reparierten Zaun der ersten Hütte weidete ein heute fast archaisches Tier. Als ich stehenblieb, meckerte es mich an. Im offenen Fenster wehte eine gehäkelte Gardine. Ich ging weiter. Die zweite Hütte, von der ersten etwa achtzig Meter entfernt, prahlte schon von weitem mit rosa Putz, einem neuen Blechdach und Blumenkästen. An das ursprüngliche Gebäude hatte man geschmackvoll einen Querflügel angebaut, wodurch ein gemütlicher Hof entstanden war. Über dem sauberen Pflaster flatterte Wäsche. Die letzte menschliche Wohnstatt verdiente diese Bezeichnung nicht einmal. Das Dach war eingefallen, der Schornstein sah aus wie von Ratten benagt. Dieses verlotterte Haus entsprach meiner Vorstellung von einer Höhle, wie Petr Šíma den Aufenthaltsort der Zigeuner bezeichnet hatte. Ich stapfte vorsichtig zwischen Nesseln und Melde zu einem Fenster, das von Schmutz und Spinnweben blind war. Unter meinem Fuß krachte ein morsches Brett, beinahe stürzte ich in den Keller, aus dem mich Pestgestank anwehte. Mit einem Sprung zur Türschwelle rettete ich mich. Die Tür ging mit kläglichem Knarren auf. Dahinter befand sich eine Stube mit schimmligen Wänden und verfaulten Dielen. Sofern mir diese Ansicht nicht behagte, konnte ich mich an dem Bilsenkraut ergötzen, das durch ein Loch in der gegenüberliegenden Wand hereinschaute. Durch dieses Loch hätte ich bequem mit dem Trabant fahren können. Ich schlenderte zurück zur ‚Sennhütte‘. Auf dem rein77
lichen Hof der rosafarbenen Hütte nahm eine Schöne die trockene Wäsche ab. Sie war sehr jung, und im Bikini wirkte sie äußerst reizvoll. Wenn sie sich zur Leine streckte und zum Korb neigte, bot sie einen mehr als freundlichen Anblick. Ich blieb stehen, um sie mit Wohlgefallen zu betrachten. Sie runzelte die Stirn und warf mir einen finsteren Blick zu, während sie eine Windel an die Brust drückte. Dieses dunkelhäutige Mädchen war keine Zigeunerin, sondern eine Griechin. Sie hatte eine Figur von antiker Vollkommenheit, schokoladenfarbene Augen und braunes lockiges Haar. Und dieses Häuschen war keine Höhle, sondern eines der hübschesten Anwesen, die ich je gesehen hatte. Der von Berufs wegen stets gut informierte Doktor Šíma hatte sich geirrt. Ich ging lächelnd auf das Mädchen zu. Mißtrauisch, aber ohne Furcht schaute sie mich an. Sie wies mich zurecht: „Hier ist kein Weg.“ „Ich weiß.“ Unverfroren betrachtete ich sie weiterhin. Sie war fast ein Kind. Ich wollte nicht glauben, daß sie schon so viel erlebt hatte: Liebe – Verlassenwerden – Tod des Geliebten – Mutterschaft. „Also wo wollen Sie hin“, entrüstete sie sich. „Kehren Sie gefälligst um!“ Mich stoppten Blumenkästen, die aus ausgehöhlten Stämmen gefertigt waren. Sie begrenzten von zwei Seiten den kleinen Hof, so daß er ein Atrium bildete. Die Mauer hinter dem Mädchen leuchtete in den Strahlen der schon niedrig stehenden Sonne wie Abendröte. Vielleicht als Kontrast dazu erbleichte das Mädchen plötzlich. Sie riß ein Badetuch von der Leine und hüllte sich damit ein, indem sie es unter einem Arm zusammenband. Mit erhobener Hand ergriff sie eine Stange, mit der die Leine hochgehalten wurde. Nun sah sie wie eine spartanische Kriegerin aus, die nicht zögern würde, mir die Stange über den Kopf zu hauen. 78
„Entschuldigen Sie“, sagte ich, „ich suche …“ „Was?“ fuhr sie mich an. Im Haus begann ein Kind zu schreien. Sie wandte den Kopf um. Das Schreien mündete in zufriedenes Gegacker und ging in Lallen über. Erleichtert atmete das Mädchen auf. „Sie“, sagte ich. „Was wollen Sie?“ fragte sie erstaunt. Das wußte ich ihr nicht zu erklären. Ich war nur ein rühriger Vogel, der über dem Hoheitsgebiet des ehrabschneiderischen Direktors Grym herumflog und hie und da etwas aufpickte. Vorläufig war nichts Nahrhaftes darunter. Warum tat ich das? Weil dieser Herr das Mädchen angeschwärzt hatte, das ich liebte. Weil mir für das nächste Gespräch jedes Wissen über ihn willkommen war. Weil ich noch anderthalb Stunden auf ihn warten mußte. „Ich war ein Freund von Karel Grym“, sagte ich. „Daß ich Sie nie gesehen habe! Ich kannte alle seine Freunde.“ Eilig erklärte ich: „Ich bin nicht von hier, sondern aus Olomouc.“ „Aus Olomouc!“ Sie streckte die Arme vor, als wollte sie mich wegstoßen. „Wie heißen Sie?“ Meine Antwort wirkte wie eine Bombe. Das Mädchen schrie: „Gehen Sie fort!“ Ich trat näher und fragte: „Was haben Sie?“ „Noch einen Schritt und ich bringe Sie um! Er soll mich in Ruhe lassen, oder er wird das bereuen – ich habe nichts zu verlieren …“ „Von wem reden Sie?“ Ich stieg über die Blumenkästen und packte die Stange, die bedrohlich schwankte. „Fassen Sie mich nicht an!“ kreischte sie, obwohl ich darauf achtete, sie nicht zu berühren. „Sagen Sie diesem Aas, daß es ihr noch leid tun wird – ich sage alles und vor Zeugen, damit es der Alte nicht abstreiten kann …“ Ich entwand ihr die Stange und warf sie beiseite. „Sie 79
denken doch nicht, mich hätte jemand geschickt? Wer, bitte ich Sie, und warum?“ Als ich ihre kleine Faust faßte, trat sie mich kaltblütig gegen mein linkes Knie. Mit stählernem Griff umklammerte ich ihre Hände. „Lassen sie los!“ zischte sie. Im Haus schrie plötzlich wieder das Kind. Einen Moment war ich unachtsam. Ich spürte einen scharfen Schmerz in meiner Hand. Das Biest hatte mich gebissen und war entwischt. Die Tür schlug zu, der Schlüssel rasselte. Der kleine Schreihals hörte auf zu brüllen, als hätte jemand ein Radio ausgeschaltet. Wütend blickte ich durch das geschlossene Fenster in den Raum, aus dem sie den Säugling weggetragen hatte. Von oben wurde hämisches Lachen über mich ausgeschüttet. Aus einem Fensterchen im Dachboden schaute das Mädchen mit dem Kind im Arm. „Sehen Sie mal, was Sie getan haben!“ Kläglich zeigte ich ihr die Hand mit dem blutigen Abdruck der Zähne. „Seien Sie froh, daß Sie so glimpflich davongekommen sind!“ verspottete mich die Madonna aller Teufel. „Großmutter Grymová kann ja pusten, damit es besser heilt.“ „Was haben Sie gegen Frau Grymová?“ „Wieviel bietet sie mir?“ fragte sie mit bösem Lächeln. „Sagen Sie mir, wie hoch sie mich einschätzt?“ „Soviel Sie wollen“, antwortete ich. „Geld! Ich will kein Geld!“ Das Kind faßte ihr ins Haar und zerrte den Kopf hin und her. „Auge – um – Auge“, rief sie, während ihr Kopf schaukelte. „Richten Sie ihr das aus!“ „Was soll ich ihr ausrichten?“ fragte ich verzweifelt. „Ich verstehe Sie nicht. Kommen Sie runter – seien Sie doch vernünftig.“ Sie löste die Finger des Säuglings aus ihrem Haar, der Schreihals brüllte wieder. 80
„Der Teufel soll Sie holen!“ sagte sie und verschwand im Innern des Hauses. Der Ausschnitt reichte fast bis zum Nabel, und was die Frau darin präsentierte, zog mich wie ein Magnet an. Es erinnerte an frisch überzogene Federkissen. Ich verspürte den schwer bezähmbaren Drang, meinen Kopf darin zu vergraben. Die Besitzerin dieser Attraktion fing meinen Blick auf und lächelte schamlos. Sie ahnte nicht, daß ich nach der vorangegangenen Nacht, in der ich kaum geschlafen hatte, und den beiden aufreibenden Tagen kaum die Augen offenhalten konnte. Die über vierzigjährige Dame war hingegen putzmunter wie ein gerade geschlüpfter Vogel. In der ‚Sennhütte‘ wollte sie sich amüsieren, und das tat sie gewissenhaft. Sie saugte Alkohol wie ein Blutegel und tanzte wie ein Schamane, der Regen zaubern will. Ihr fünfundzwanzigjähriger Begleiter wartete begierig darauf, endlich auch einmal mit ihr tanzen zu dürfen. Schon eine ganze Weile verkürzte ich mir die Zeit mit dem Beobachten des ungleichen Paares, das sich an meinen Tisch gesetzt hatte. In einem Lokal, wo die Mädchen auf dem Schoß der Männer saßen und wo die Tanzenden auf dem winzigen Parkett eine kompakte Masse bildeten, hatte ich keine Chance, einen Platz für Direktor Grym freizuhalten. Ich vermutete jedoch, daß er mich hier lediglich abholen würde. Das hatte ich seit sieben Uhr angenommen, als sich die ‚Sennhütte‘ wie ein schnell aufgeblasener Luftballon füllte. Und das nahm ich schon über zwei Stunden an. Inzwischen war es fast halb zehn, der Zustrom der Gäste war verebbt, und durch die offene Tür, an der ich wie ein Wachhund lauerte, wehte kühle Nachtluft in den Raum. Ich nutzte einen Moment, als sich das Parkett geleert hatte, und winkte dem Kellner, der flink am Grillrost 81
hantierte. Er kam mit einer ausgedörrten Wurst angetrabt. „Aber ich habe gar keine …“, versuchte ich einzuwenden. Er unterbrach mich grimmig. „Was trinken Sie?“ Meine zwei Kaffee stellten ihn offenbar nicht zufrieden. „Tonic“, antwortete ich sanft. „Cola mit Rum“, erklärte er mit unbarmherzigem Lächeln. „Der Rum ist für Sie“, sagte ich. „Gibt es hier ein Telefon?“ „Ja, kommen Sie mit in die Küche.“ Das Telefonbuch lag unter dem Apparat. Ich blätterte in den paar Seiten, die vierstellige Teplicer Nummern enthielten. Bei Gryms nahm niemand ab. Auf einem Plakat prostete mir ein unvollständig bekleidetes Fräulein mit Wermut einer obskuren Marke zu. Das Telefon in Gryms Eispalast klingelte und klingelte. Das Fräulein auf dem Plakat war an den empfindlichsten Stellen mit Telefonnummern beschmiert. Ich rechnete sie zusammen, was schon zur Gewohnheit geworden war. Eine von ihnen, direkt zwischen den Beinen der unzüchtigen Maid, war mir bekannt. Zufälligerweise besitze ich ein gutes Zahlengedächtnis. Die Nummer hatte ich tags zuvor am Telefonapparat auf dem Rezeptionspult des Hotels ‚Palác‘ gesehen. Ein Blick in den Olomoucer Teil des Telefonbuchs bestätigte mir, daß ich mich nicht irrte. „Auf Ihr Wohl!“ sagte der Kellner und goß sich meinen Rum in die Kehle. „Ihre Wurst wird kalt.“ Ich räumte das Gelände. Die Nacht war viel kühler als in Olomouc. Ich schlenderte zum Trabant und lüftete meine Lunge, die der Zigarettenqualm und verbranntes Fett versottet hatten. Der blasse Mond am Horizont zögerte, den sternenlosen 82
Himmel zu erklimmen. Die Sterne hatten offenbar seine Saumseligkeit genutzt und waren alle hinunter ins Tal gewandert, wo sich am hellen Tage die Stadt Teplice ausbreitete. Sie verhüllten mitleidig mit einem flimmernden Schleier das durch die Jahre veränderte Gesicht der Stadt. Die beste Methode, Erinnerungen an einen Ort loszuwerden, besteht darin, dorthin zurückzukehren. Diese Erkenntnis war so bitter wie der Duft der Blumen, die am Ufer des nun eingezwängten Flusses wuchsen. Den Namen dieser Blumen werde ich wohl nie erfahren. Ebenso wie ich wohl nie über Olomouc und Teplice schreiben werde, worauf ich mich im geheimen gefreut habe. Das Thema hatte ich mir für mein bestes Buch aufgehoben. Warum? Weil – siehe den obigen recht gelungenen Aphorismus von Robert Lukáš, einem zweitrangigen Schriftsteller. Und jetzt sogar Amateurdetektiv, eine Figur zum Totlachen. Wer hatte mich heute so ausgelacht? Das Mädchen, das mich mit der Wäschestange verprügeln wollte. Vielleicht hätte sie mir damit einen kräftigen Schlag auf den Schädel geben sollen, um mein Gehirn geradezurücken. Eine höhere Macht beeilte sich, prompt meinen Wunsch zu erfüllen. Ich hörte einen Peitschenknall, durch meinen Kopf fuhr ein brennender Schmerz. Er blendete mich wie ein Blitz. Der Laut wiederholte sich. Ich duckte mich, um der strafenden Peitsche auszuweichen, und kroch auf allen vieren hinter Vandas Wägelchen. Als ich nach der Klinke griff, entschlüpfte mir das Auto. Am Teich, der plötzlich von dem zur Unzeit fleißigen Mond beschienen wurde, bot ich dem Heckenschützen ein vortreffliches Ziel. Der Trabant rollte die abschüssige Straße hinunter. Ich stürzte hinterher, ohne an Deckung zu denken. Es folgte jedoch kein weiterer Schuß. Eher von der Schwerkraft als vom Willen getrieben, 83
rannte ich dem Auto hinterher, es entfernte sich immer weiter von mir. Ich wußte, daß es unten in der Kurve die Fahrbahn verlassen und im Straßengraben oder an einem Baum landen würde. Aus der Kurve spritzte ein starker Lichtstrahl, zwei Scheinwerfer rasten dicht über dem Erdboden dem Trabant entgegen. In meinem Kopf dröhnte es so, daß ich erst jetzt den anderen Wagen hörte. Ich sah im Geiste schon die Wagen zusammenprallen. Die Scheinwerfer drehten sich nach rechts, der dunkle Wagen jagte wie ein scheuendes Pferd an mir vorbei. Der Trabant bog wider alle physikalischen Gesetze vom geraden Weg ab und hielt mit erleuchteten Bremslichtern. Mich packte Wut, als hätte mir jemand Raketentreibstoff injiziert. Das Wägelchen stand etwas schräg, das rechte Vorderrad war von der Fahrbahn abgekommen. Der Fahrer rüttelte am Lenkrad wie an der Klinke einer Gefängniszelle, in die man ihn gesperrt hatte. Heftig riß ich die Tür auf. Ich sah ein blasses Gesicht mit entschlossenen Augen. Ich zerrte den Mann nicht aus dem Wagen. Mich überkam plötzlich Schwäche, in meinen Ohren rauschte es, alle Kraft verflüchtigte sich wie Dampf. Taumelnd hielt ich mich an der offenen Wagentür fest. Die dunklen Augen im schmalen, jungen Gesicht musterten mich gespannt. „Gib Gas, Jany“, sagte jemand im Wageninneren. Der junge Mann namens Jany beobachtete, wie ich gegen die unerklärliche Schwäche ankämpfte. „Mach schon!“ drängte ihn der andere Mann, den ich nicht sah. „Was ist mit Ihnen?“ fragte mich Jany. „Fahr los!“ krächzte der andere, als hätte er eine Schlinge um den Hals. Jany betrachtete mich unschlüssig. Dann sprang er 84
aus dem Wagen. „Stützen Sie sich auf mich – so. Ist Ihnen übel?“ Ich ließ mich an den Straßenrand führen und auf einen Baumstumpf setzen. Es war mir gleichgültig, ob mir der Bursche einen Hieb in den Nacken versetzen und meine Leiche ins Gesträuch werfen würde. Mein Kopf brummte, mein Magen tanzte Rock and Roll. „Jany, laß ihn und komm!“ bettelte der zweite junge Mann ängstlich. Ich blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Auf dem hellen Hintergrund des Trabant pendelte eine Silhouette. „Bitte, lassen Sie das Auto heil“, würgte ich mühsam hervor. „Es gehört mir nicht, ich muß es heute zurückgeben!“ Meinen Kopf berührte ein glühendes Eisen. Ich schlug nach meinem Peiniger und fiel beinahe vom Baumstumpf. „Gib mir die Flasche mit dem destillierten Wasser, Nyk“, befahl Jany. „Jany, bitte …“ „Komm her, Nyk!“ Jany packte mich an den Schultern. „Halt ihn so – los!“ Statt fester Hände ergriffen mich nun unsichere. Jany wischte mir mit einem feuchten Taschentuch die Stirn ab. Das schmerzte, aber brachte Linderung. „Noch mal!“ Ich griff nach dem Taschentuch, auf dem dunkle Streifen zu sehen waren. „Ein bißchen Blut“, sagte Jany, „nichts Schlimmes, keine Angst. An der Stirn ist die Haut aufgekratzt. Der Schädel ist ganz, Sie sind bloß ein bißchen ohnmächtig geworden.“ „Einen Spiegel“, sagte ich. „Habe ich nicht. Sie können mir glauben, das ist bloß ein Kratzer.“ Ich schob seinen Arm beiseite. „Helfen Sie mir zum Wagen!“ 85
Der Bursche war einen halben Kopf kleiner als ich, aber von kräftiger Statur. Er schleppte mich auf die Landstraße und zündete ein Feuerzeug an. Im Rückspiegel des Trabant erblickte ich ein bleiches Gesicht mit geronnenem Blut über der linken Augenbraue. Ich neigte den Kopf und schielte nach oben. Ein gerader Scheitel durchschnitt mein Haar an einer Stelle, wo ich nie einen getragen hatte. Vorsichtig betastete ich die seichte Rinne. Sie schmerzte und blutete ein wenig, aber der Schädel war wirklich unverletzt. Nun fühlte ich mich wohler. Ich richtete mich auf, lehnte mich an den Wagen und schaute in Janys verschlossenes Gesicht. „Wer hat geschossen?“ „Das weiß ich nicht, ich habe ihn nicht gesehen.“ „Wieso wissen Sie das nicht? Sie haben in meinem Wagen gesessen …“ Ich blickte zu Nyk, der widerwillig näherschlich. „Und Sie?“ „Ich habe auch nichts gesehen“, antwortete er und heftete die Augen auf seinen Bruder. Es waren Brüder, die Ähnlichkeit fiel auf. Schwarzes, lockiges Haar, dunkle, tiefliegende Augen, schmale Gesichter. Klein, aber muskulös und sehnig. Beide Anfang zwanzig, Jany offensichtlich älter und selbstsicherer als Nyk. „Ist Ihnen niemand begegnet, als Sie zum Wagen gegangen sind?“ Nyk schüttelte den Kopf. Ich dachte an die schießwütigen Kinder. Sie besaßen zwar nur Luftgewehre, konnten sich aber irgendwo eine wirksamere Waffe angeeignet haben. „Haben Sie den Wagen aufgebrochen?“ fragte ich streng. „Wir haben ihn nicht aufgebrochen!“ verwahrte sich Nyk. Ich vergaß meine Schramme und hob ironisch die Brauen. Das ergab eine scheußliche Grimasse. 86
„Wirklich nicht“, versicherte Jany. „Das Auto war nicht abgeschlossen, überzeugen Sie sich selbst! Wir haben es nicht mit Gewalt geöffnet.“ Er sagte die Wahrheit, ich erinnerte mich nicht, den Trabant abgeschlossen zu haben. „Das bedeutet allerdings nicht, daß es zu jedermanns freier Verfügung dastand“, sagte ich. „Also wie war das? Sie sind eine Weile vor mir gekommen und …“ Beide Burschen redeten fast gleichzeitig. „Wir wollten es nicht stehlen“, sagte Nyk. „Wir haben fast eine Stunde dringesessen“, sagte Jany. Ich setzte mich in den Wagen, ließ die Beine draußen und blickte von einem zum anderen. „Und auf mich gewartet?“ „Ja“, bestätigte Nyk, ohne meinen spöttischen Ton zu beachten. „Wir wußten, daß Sie in der ‚Sennhütte‘ sind. Vorher haben wir vor dem Lokal gestanden. Uns war kalt … Der Mann hat an die Tür gefaßt, wir haben gesehen, daß sie nicht verschlossen ist.“ „Welcher Mann?“ Jany stieß seinen Bruder mit dem Ellbogen in die Seite. „Wir haben uns ins Auto gesetzt und auf Sie gewartet“, sagte Nyk bedächtig. „Wir wollten …“ „Wen haben Sie gesehen? Was hat er am Trabant gemacht?“ Jetzt sprach Jany. „Wir sind von der ‚Sennhütte‘ zu Ihrem Wagen gegangen. Dort war jemand, wir haben gehört, daß er die Tür geöffnet und zugeschlagen hat, und dachten, Sie sind uns durch den Hinterausgang entwischt …“ „Ich habe gerufen – he, Sie!“ meldete sich Nyk. „Und der Mann ist fortgelaufen.“ „Wie sah er aus?“ „Es war dunkel“, sagte Jany. „Wahrscheinlich haben wir Ihr Auto vor Diebstahl bewahrt.“ 87
Ich betastete meine Stirn. Das Blut war getrocknet, ich hatte alle Sinne beisammen. Trotzdem keimte in meinem Hirn der unsinnige Verdacht, daß dieser Unbekannte nicht Löcher in die Luft schießen wollte und in der Dunkelheit verdammt gut gezielt hatte. „Wir wollen mit Ihnen reden“, fuhr Jany fort. „Worüber – jetzt, hier und unter solchen Umständen?“ Er starrte mich mit seinen dunklen Augen an. Wo hatte ich solche Augen unlängst gesehen? „Sie sind Griechen“, sagte ich, „und Brüder von Karel Gryms Freundin.“ Jany nickte unmerklich. „Hat Ihre Schwester Sie geschickt?“ fragte ich ihn. „Wollten Sie mich etwa verprügeln?“ „Warum haben Sie Marta belästigt?“ fuhr mich Nyk an. „Sie hat niemanden außer uns, wir müssen sie beschützen.“ „Wie?“ Unwillkürlich faßte ich an meinen schmerzenden Kopf. Im Gegensatz zu seinem erregten Bruder fragte Jany ruhig: „Was hat Ihnen Marta gesagt?“ „Eine Menge interessanter Dinge“, antwortete ich hinterlistig, und ich sah, wie sich Janys knochige Hände zu Fäusten ballten. „Leider habe ich nichts verstanden“, fügte ich bedauernd hinzu. „Sie hat mich wohl mit jemandem verwechselt.“ „Das ist möglich“, meinte Jany erleichtert. „Und Sie sagen mir, mit wem! Wenn sie schon in meinem Auto auf mich gewartet haben.“ Ich stand auf. „Schön raus damit, was Ihr Schwesterchen so wütend gemacht hat! Oder ich fahre zur Polizei und melde einen versuchten Autodiebstahl, dann müssen Sie sowieso alles erklären. Wählen Sie – aber fix! Es ist schon spät, und ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“ Diese Worte richtete ich an den älteren Bruder, es 88
antwortete jedoch der jüngere. „Das würden Sie sich überlegen! Sie haben auch …!“ „Schweig!“ schrie Jany. „Auch Dreck am Stecken? Da liegst du völlig falsch, Junge. Nach Teplice bin ich erst heute gekommen, und bisher hatte ich von der Existenz eurer Schwester keine Ahnung.“ „Sie haben doch Karel Grym gekannt“, erwiderte Jany scharf. „Nein“, gestand ich. „Ich erledige eine gewisse Angelegenheit für seinen Vater. Das betrifft Sie gar nicht.“ „Er lügt“, sagte Nyk. „Was tun Sie für Herrn Grym?“ fragte Jany. Lächelnd zeigte ich auf das Auto. „Ich habe Ihnen schon genug erzählt, jetzt ist die Reihe an Ihnen. Oder …“ Mein Mund war ausgedörrt, mein Kopf wollte zerspringen. Der Wind, der sich plötzlich erhob, brachte mir etwas Erleichterung. Ich ließ ihn direkt ins Gesicht wehen und hoffte, daß die Burschen nicht bemerkten, wie elend mir zumute war. In den Himmel schob sich eine riesige Qualle, die nach dem Mond schnappte. Es duftete nach fernem Regen. „Karel Grym wollte Marta heiraten“, berichtete Jany langsam. „Uns hat das nicht gefallen, wir kannten ihn, aber sie hat ihren eigenen Kopf. Sie glaubte an ihn, auch als er sie schon sitzengelassen hatte.“ „Wußte sie, daß er ein anderes Mädchen hatte?“ „Der Schuft hat das nicht einmal verheimlicht, er hat sich bei Marta ausgeweint“, sagte Jany bitter. „Gerade deshalb war sie davon überzeugt, daß er zu ihr zurückkommen würde. Er hätte bei der anderen keine Chance, und das würde ihn eines Tages zur Vernunft bringen.“ „Ihr Schwesterchen muß ein Engel sein.“ „Sie erwartete ein Kind von ihm, und Karel war ihr erster Mann. Es wäre auch so ausgegangen, wie sie dachte, wenn die andere keinen Liebhaber gehabt hät89
te. Karel erfuhr das und …“ Jany gebärdete sich wie jemand, dem mitten in der schönsten Lügengeschichte die Phantasie ausgeht. „Und was?“ „Er hat sich das Leben genommen“, sagte er finster. „Wenn ein Mann feststellt, daß seine Vergötterte ein gewöhnliches, leicht zugängliches Frauenzimmer ist, wird er entweder auf sie oder auf sich selber wütend“, belehrte ich ihn. „Er pfeift auf sie oder versucht, sie nach Verdienst zu behandeln, aber bleibt auf jeden Fall lebendig und gesund. Wie war das wirklich?“ „Das weiß niemand“, antwortete Jany. „Am Tag zuvor hat er sich von Marta verabschiedet. Er bat sie um Verzeihung. Jetzt würde er alle Rechnungen begleichen, nur bei ihr kann er das nicht. Marta nahm ihn nicht ernst, bis am nächsten Tag bekannt wurde, was er getan hatte.“ Der Mond verschwand im Schlund der tintenschwarzen Qualle. Von Jany sah ich nur noch das Gesicht und die geballten Fäuste als helle Flecke. „Sie meinen, die andere Frau hätte ihn in den Tod getrieben?“ „Marta denkt das.“ „Und diese Frau befürchtet, daß Marta etwas weiß, was ihr Schwierigkeiten machen könnte?“ „Ja.“ „Aber es war doch zweifelsfrei ein Selbstmord, der Fall ist längst abgeschlossen“, wandte ich ein. „Direktor Grym hat einen langen Arm“, sagte Jany, „und man braucht einen Menschen nicht einzusperren, um ihn fertigzumachen.“ Der Junge war schlauer, als es anfangs schien. „Hat mich Ihre Schwester für den Liebhaber von Karel Gryms Angebeteter gehalten?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Jany. Mir wurde dieses Drumherumgerede zu bunt. „Was, verdammt noch mal, wollten Sie eigentlich von mir?“ 90
„Marta wird keinen Skandal machen, auch wenn sie etwas anderes behauptet. Uns ist völlig schnurz, wer Sie sind und für wen Sie arbeiten. Ich sage Ihnen das geradeheraus. Die Sache mit Karel Grym ist für uns erledigt, und so soll es bleiben.“ „Denkt Ihre Schwester auch so?“ fragte ich zweifelnd. „Ja. Sehen Sie – wir sind Griechen. Unsere Großeltern sind in die Tschechoslowakei eingewandert, unsere Eltern sind hier aufgewachsen, und wir sind hier geboren. Ich mache ein Fernstudium, Nyk hat eine Lehre mit Abitur abgeschlossen, Marta arbeitet in der Kinderkrippe. Bei Metaz verdienen wir alle drei kein schlechtes Geld. Wir führen ein ordentliches Leben wie die meisten anderen Griechen, aber viele Tschechen betrachten uns als minderwertige Menschen, und wenn irgendwo etwas passiert, zeigt man gleich mit dem Finger auf uns. Brauchen Sie noch mehr?“ „Nein“, entgegnete ich überzeugt, „die Tatsache, daß Sie alle drei eine gute Stellung in dem Betrieb haben, den Herr Grym als Direktor leitet, ist ein völlig ausreichendes Argument. Karel Grym war in seine Stiefmutter verliebt, nicht wahr?“ Aus dem Dunkeln klang unterdrücktes Lachen. „Sie müssen anständig eins auf die Birne gekriegt haben“, stellte Jany mitleidig fest. „Stimmt es überhaupt, daß Sie Grym kennen und für ihn etwas besorgen?“ „So ungefähr“, bestätigte ich. „Passen Sie bloß auf, daß Ihnen vor Grym nicht so etwas rausrutscht“, warnte er mich spöttisch. „Wir gehen, Nyk!“ Auf der Straße stampften Schritte. „Warten Sie doch!“ rief ich den Burschen nach. „Wer ist das? Wer soll mich zu Ihrer Schwester geschickt haben?“ Die flinken Schritte gingen im Regen unter, der nun mein erhitztes Gesicht kühlte.
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Der Teplicer Marktplatz glänzte wie ein Teersee, und das grüne Neonlicht an der Fassade des Hotels „Slovenský dům“ spiegelte sich in einer riesigen Pfütze vor dem Eingang. Wenn die dicken Tropfen aufplatschten, sprühten Funken. Der Regen trommelte einen Trauermarsch auf das Dach meines Plastesargs. In diesem Sarg saß ein verbitterter Toter, der nur von sich selber betrauert wurde. Ich tauchte in ein Meer aus Trübsal und wartete ergeben, daß ich darin ertrinke. Von den Toten erweckte mich kaltes Wasser, das an meiner linken Wade herunterrann. Ich fluchte auf das Wetter, auf den unzuverlässigen Herrn Grym, auf das undichte Fenster und auf die zwielichtige Vanda Gabrielová. Neben mir hielt ein Auto. Durch den Wasservorhang vor dem Fenster sah ich zwei Gestalten, die unter einem Regenschirm miteinander verschmolzen. Als monströser Pilz wankten sie zum Hotel. Ich seufzte und begann meinen trägen Körper zu überzeugen, daß der Tag der ewigen Ruhe noch nicht gekommen war. Während ich die sechs Meter zum Hotel überwand, fiel auf jeden Quadratzentimeter meines Kopfes mindestens ein Liter Wasser. Wie ein Hund schüttelte ich mich in der Tür, bevor ich das Vestibül betrat. „Guten Abend“, begrüßte ich den blassen Buddha, der hinter der Rezeption döste. „Kann ich ein Zimmer bekommen?“ Er antwortete melancholisch: „Alles besetzt.“ „Ließe sich nicht irgend etwas Bescheidenes finden?“ flehte ich. Zwei mattschwarze Schnecken im teigigen Gesicht krochen über mein wenig repräsentatives Exterieur. „Wir sind ein Interhotel“, sagte er verächtlich. „Ich bin aus Olomouc, hier kenne ich niemanden, und mir geht es so schlecht, daß ich nicht heimfahren kann.“ Ich faßte an meine Stirn und drehte schnell den 92
Kopf beiseite, aber den Buddha konnte ich nicht täuschen. „Hatten Sie einen Unfall?“ Ich nickte. „Wenn sie fünf Minuten früher gekommen wären! Eben haben zwei Gäste die letzten beiden Zimmer belegt.“ „Waren es Einzelzimmer?“ fragte ich hoffnungsvoll. „Doppelzimmer.“ „Hätte ihnen nicht eines genügt?“ „Es sind ein Herr und eine Dame, die nicht miteinander verheiratet sind“, erwiderte er entrüstet. „Versuchen Sie es in der Jugendherberge.“ Ungefähr fünfzehn Kilometer vor Olomouc hörte der Platzregen auf, es nieselte nur noch. Ich fuhr auf der vierspurigen Landstraße, vor mir strahlte die schöne, ehrgeizige Kreisstadt, die sogar Bezirksstadt gewesen war. Hier lebte die ebenso schöne und einst auch ehrgeizige Vanda Gabrielová. Was war uns aus jenen Zeiten geblieben? Die Stadt konnte immer noch mit ihren Kirchtürmen und barocken Brunnen prunken. Vandas Schönheit war gereift, während ich innerlich ausgetrocknet war. Obwohl von mir Wasser tropfte wie von der Statue des Wassermanns in einem der städtischen Brunnen, hatte ich das Gefühl, verschrumpelt zu sein. Matt hielt ich das Lenkrad, der Trabant rasselte gehorsam durch die Ebene. Bei der Gastwirtschaft ‚Zur goldenen Kugel‘, wo ich mich nach dem Abitur geprügelt hatte, bog ich ab. Ohne das abscheuliche Monstrum des neuen Warenhauses zu beachten, das man an eine gotische Kirche geklebt hatte, fuhr ich geradewegs zum Hotel ‚Palác‘. Am hinteren Trakt des Hotels fand ich eine Parklücke. Links leuchteten zwei Fenster im zweitklassigen Hotel ‚Bristol‘. Von der anderen Seite drang ein Fetzen 93
Tanzmusik herüber, begleitet von groben Flüchen. Ein Betrunkener wurde aus der Weinstube des Hotels hinausgeführt. Zwischen Pfützen hüpfte ich zum Hoteleingang. Im Vestibül war es dämmrig, in einem Aschenbecher an der Rezeption verglühte ein Zigarettenstummel. Ich ging die Treppe hinauf und öffnete die Tür von Vandas Zimmer. Hier hatte ich in der vergangenen Nacht alles erhalten, wofür ich vor fünfzehn Jahren mein Leben gegeben hätte. Der unverwechselbare Duft empfing mich, aber Vanda war nicht da. Im Badezimmer zog ich die durchnäßten Sachen aus und duschte heiß. Dann hüllte ich mich in den größeren von zwei Bademänteln, die dort hingen, und blickte in den Spiegel. Die Nase wie ein Zinken, der Mund wie eine schiefe Wunde, auf der Stirn ein nässender Fleck – was konnte ich daran verschönern? Ich nahm aus einer Glasdose ein Büschel Watte und preßte es an die blutige Schramme. In meinem Kopf arbeitete ein Preßlufthammer. Vandas amerikanische Zigaretten, von denen ich mir eine angezündet hatte, schmeckten nach Chinin. Ich drückte sie aus, lümmelte mich in einen Sessel und schloß die Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand Vanda wie ein blasses, goldleuchtendes Traumbild vor mir. Ihr Haar flimmerte, die gebräunte Schulter trat provokativ aus dem Dekollete des weißen Kleides hervor. Vanda war zum Verzweifeln schön. Ich entlockte mir ein gerührtes Lächeln. „Vanda …“ „Guten Abend“, begrüßte sie mich kühl, nachdem sie sich mir gegenüber gesetzt hatte. Mühsam richtete ich mich auf und verschluckte ein Gähnen. „Wie spät ist es? Ich bin wohl eingeschlafen“, sagte ich schuldbewußt. 94
„Halb eins.“ Ich hatte nur wenige Minuten geschlafen. „Wo warst du?“ „Artur Biederman hat auf dich gewartet. Angeblich wart ihr verabredet.“ Ich wurde vollends wach. „Stimmt, das habe ich vergessen. Hat er sehr geschimpft?“ „Nein, er hat mich zum Essen eingeladen, wir haben bis jetzt in der Weinstube gesessen.“ In mir stieg Eifersucht hoch. „Ist er schon gegangen?“ „Ja, ich habe ihm nicht gesagt, daß du gekommen bist.“ „Woher wußtest du das?“ „Ich habe Frau Brožová gebeten, mir Bescheid zu geben.“ „An der Rezeption war doch niemand“, wandte ich ein. „Dort ist ein Kämmerchen mit einem kleinen Fenster“, sagte Vanda endlich lächelnd. Mein Gehirn wollte durchaus nicht in Gang kommen. Ich fragte dumm: „Warum hast du Artur fortgeschickt?“ Vanda rekelte sich wie eine Katze. „Ärgert dich das?“ „Zum Teufel mit Artur!“ sagte ich gefühlvoll. „Komm her, Vanda …“ Sie rührte sich nicht, sondern blickte mich unverwandt an, den Kopf auf die Sessellehne gestützt. „Sicher hat er dir alles über mich erzählt.“ „Wer?“ „Arturchen. Das hat er gar nicht verheimlicht“, sagte sie mit klingendem Lachen. Züchtig zog sie das weiße Gewand über die Knie und übersah, daß ein Band, das es in geziemender Höhe hielt, über die Schulter gerutscht war. Ich schielte begehrlich zu ihr hinüber. „Was soll er mir erzählt haben, meine Liebe? Daß deine Ehe mißglückt ist? Das hast du mir gestern selber gesagt. Daß sie 95
dich hier schief ansehen? Darüber braucht mir niemand etwas zu erzählen. Vergiß nicht, daß ich das ebenfalls erlebt habe, und damals war ich weitaus verwundbarer als du heute. Ich mußte mein Leben anderswo von neuem beginnen.“ An meine unrasierten Wangen schmiegten sich zwei weiche Hände. „Ich bin nicht mehr so jung, um von vorn anfangen zu können.“ Sie schüttelte leicht meinen Kopf, der dabei fast zerplatzte. Ich zischte auf und wich zurück. Vanda sank betroffen in ihren Sessel. „Entschuldige“, sagte ich, „ich habe scheußliche Kopfschmerzen. In Teplice …“ „Du warst in Teplice!“ schrie sie. „Und ich dummes Ding biete dir dazu noch mein Auto an!“ Vanda wirkte beleidigt und enttäuscht. Um ihren Mund bildeten sich harte Falten. „Ich begreife nicht, warum du nach Teplice fahren mußtest! Was hast du dort gesucht? Hier erzählt dir doch jeder, wie das war, alle wissen es besser als ich. Mein Gott, wird mich das ewig verfolgen!“ Sie schluchzte leise. „Wovon redest du, Vanda?“ fragte ich. „Was hast du mit Teplice zu tun?“ „Du weißt nicht, daß mein Mann dort den Unfall hatte?“ stammelte sie höhnisch. „Du hast nur einen Ausflug gemacht, nicht wahr?“ „Das habe ich wirklich nicht gewußt“, versicherte ich ihr. „Hör auf, mir etwas vorzumachen, und sag mir, was dich bedrückt, da haben wir das ein für allemal hinter uns!“ Sie blickte mich argwöhnisch an, aber mein aufrichtiges Gesicht beruhigte sie wohl ein wenig. „Trink einen Schnaps“, riet ich ihr, „und gib mir auch einen.“ Gehorsam holte sie eine Wodkaflasche, und mit zit96
ternder Hand goß sie ein. „Wir hatten dort eine Hütte. Weißt du wirklich nichts darüber?“ „Nein“, antwortete ich. „Das heißt, um genau zu sein, Artur hat mir erzählt, unter welchen Umständen es zu dem Unfall gekommen ist, aber er hat nicht erwähnt, wo die Hütte steht.“ „Ein Stück hinter dem Bobrovník. Das sollte unser letztes gemeinsames Silvester sein, wir waren schon übereingekommen, uns scheiden zu lassen. Ich dachte, er würde das ebenso wollen wie ich, jedenfalls wandte er nichts ein, als ich die Scheidung vorschlug. Er hatte andere Frauen und viele Freunde – ich spielte eine Nebenrolle. Aber nach dem Unfall hatte er nur noch mich. Ich konnte nicht mehr zurück zu ihm, deshalb rächte er sich an mir. Das war leicht, eine Frau, die einen Krüppel verläßt, gewinnt keine Sympathien, selbst wenn er kein populärer Sportler ist. Die anderen, die Silvester dabei waren, haben obendrein bestätigt, daß ich ihn dazu provoziert hätte, aufs Dach zu steigen. Es waren nur seine Freunde …“ „Vergiß das“, sagte ich, „glaub mir, das ist inzwischen völlig unwichtig.“ „Das denkst du“, erwiderte Vanda, „In Olomouc bin ich erledigt.“ „Olomouc ist nicht die Welt. Was hat man in Teplice über dieses Unglück geredet?“ „Das weiß ich nicht, seitdem war ich verständlicherweise nicht mehr dort.“ Ich trank den Wodka. „Hat dir Artur gesagt, warum ich hergekommen bin?“ „Ja“, antwortete sie abwesend. Der Alkohol strafte mich mit einem so heftigen Schmerzanfall, daß ich das Gesicht verzerrte. Vanda wurde aus ihren trüben Betrachtungen gerissen. „Was ist dir? Um Gottes willen, was hast du auf der Stirn?“ 97
„Ich bin im Bad ausgerutscht“, sagte ich. „Das ist nicht schlimm. Gib mir irgend etwas gegen Schmerzen.“ „So ein Sturz ist gefährlich“, flüsterte Vanda mit kreidebleichem Gesicht. „Nicht alle Stürze sind tödlich“, erwiderte ich. „Hast du Algena?“ „Hör mal, Algena nach dem Wodka!“ Sie öffnete den Schub der Frisiertoilette und wühlte in verschiedenfarbenen Schächtelchen. „Nimm das und leg dich hin!“ „Bloß Acylpyrin? Das kann ich höchstens mit einem Bier runterspülen.“ „Ich habe leider kein Bier“, entgegnete sie lächelnd wie zu einem verwöhnten Kind. „Ließe sich nicht irgendwo welches auftreiben?“ Sie maß mich mit einem strengen Blick, ging aber hinaus. Mein Kopf dröhnte vor Schmerzen, ich hatte keine Hoffnung, einschlafen zu können. Vorsichtig erhob ich mich und blickte in den Schub, in dem die allzu vorsichtige Vanda ihre Pülverchen aufbewahrte. Sie besaß solche Mengen, daß sie das ganze Hotel damit vergiften konnte. Schächtelchen mit Beruhigungsmitteln lagen neben Schächtelchen mit Aufputschmitteln. Medikamente hatten niemals zu meinen Lastern gehört, ein so reichhaltiges Sortiment gefiel mir gar nicht. Ich suchte etwas Bewährtes und fand Spasmoveralgin. In der Schachtel klapperte etwas. Vorsichtig schüttete ich es in die hohle Hand. Es war eine Schlange, zu einem Kreis verschlungen, giftiger als alle anderen Drogen zusammen. Sie biß mich tödlich. Ich erinnerte mich auf den ersten Blick an diesen Ring. Als Kind sah ich ihn an der Hand meiner Mutter bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie mich abends allein ließ, um zu einem Konzert meines Vaters zu gehen. Der Ring strahlte wie ein blauer Stern. Ein blauer Stern, in Diamanten gefaßt. Ein Sternensaphir. 98
Ich erinnerte mich bewußt daran, ebenso wie an viele andere Ereignisse meiner Kindheit, um die mich meine Eltern betrogen hatten. Diesen Ring mußte ich unfehlbar wiedererkennen, dafür hatte mich mein Vater verkauft, und dafür hatte er viele Jahre später die Gunst einer eitlen Frau eingehandelt. Einer Frau wie Vanda … Warum nicht Vanda, du Narr! Du hast von einem anderen älteren Herrn gehört, daß sie auf Gold und Edelsteine versessen ist. Vielleicht ist das ihr Hobby, vielleicht sammelt sie Opas und Juwelen … Vanda stürzte atemlos ins Zimmer. „Du würdest nicht glauben, wie schwer es ist, im Hotel nachts um eins ein Bier …“ Sie stutzte, die Röte in ihrem Gesicht wich, als hätte sich ein weißer Schleier darauf gelegt. Wir starrten uns an wie zwei Leichenfledderer, die einander um Mitternacht auf einem Friedhof überrascht haben. Zuerst besann sie sich. „Ich mußte bis ins ‚Tahiti‘ “, sagte sie und reichte mir zwei Flaschen Pilsner. Ich nahm sie nicht. Vanda schritt schwerfällig zum Tisch, stellte das Bier hin und blickte auf den offenen Schub. Wortlos holte sie ein Glas und einen Öffner. Den Ring, den ich betrachtete, übersah sie absichtlich. „Ein schönes Stück“, sagte ich. Vanda goß schweigend Bier ein. Es war so kalt, daß es kaum schäumte. „Ist das deiner?“ „Du hast ihn doch in meinem Schub gefunden.“ „Er ist bestimmt sehr wertvoll. Hast du ihn geerbt?“ Sie vergoß etwas Bier, die Flasche plumpste auf den Tisch. „Gib ihn her! Ich sehe ihn nicht gern.“ Ich hielt die Steine ins Licht, so daß sie unheilvoll funkelten. „Woher hast du den Ring?“ „Darüber möchte ich nicht sprechen“, antwortete sie abweisend. 99
„Warum denn nicht?“ Sie setzte sich, verschränkte die Hände über den Knien und sagte ernst: „Ich habe ihn von jemandem bekommen, der nicht mehr lebt.“ „Von einem Mann?“ Sie nickte. „Hat er dich geliebt?“ „Vielleicht.“ „Und du ihn?“ Die ins Leere starrenden Augen richteten sich nun auf mich. „Soll das ein Verhör sein?“ „Hast du ihn geliebt?“ fragte ich wütend. „Du bist eifersüchtig!“ sagte sie mit befreitem Lachen. „Nein, ich habe ihn nicht geliebt.“ „Du hast von ihm ein Geschenk angenommen, das Zehntausende wert ist! Hat er dir das nur wegen deiner schönen Augen gegeben?“ „Laß mich in Ruhe!“ erwiderte sie von oben herab. „Von wem hast du den Ring bekommen?“ fuhr ich unbeirrt fort. „Ich bin müde, Robert“, sagte Vanda. „Ich habe zwölf Stunden Dienst hinter mir, und zwei Stunden mußte ich deinetwegen mit dem albernen Artur zubringen.“ „Artur kann nichts für sich behalten. Er hat dich bestimmt ausführlich über meine Erbschaftsangelegenheiten informiert.“ Vanda stand auf und sagte ungeduldig: „Entschuldige, Roby …“ „Bleib sitzen! Diesen Ring haben wir beim alten Biederman gesucht, weil er in der Hinterlassenschaft meines Vaters fehlte. Meine Mutter hat ihn seinerzeit meinem Vater aus einem wichtigen Grund gegeben. Jetzt will sie ihn zurückhaben. Sie hat mich überredet, in Olomouc zu bleiben, bis ich ihn finde. Das ist jetzt geschehen.“ Ich warf den Ring in die Bierlache. „Wie ist er in dein Schubfach gelangt?“ 100
Vandas Augen glitzerten wie die Steine, auf die sie starrte. „Das ist nicht möglich!“ „Mein Vater hat ihn offenbar vor zwei Jahren einer Frau geschenkt“, sagte ich. „Dazu besaß er kein Recht, der Ring gehörte ihm nicht.“ „Das muß nicht dieser Ring sein“, wandte Vanda mit Heftigkeit ein, „weil …“ „Morgen, eigentlich schon heute früh kann es dir der alte Biederman bestätigen.“ „Ich … ich begreife das nicht“, murmelte sie. „Aber du bestehst darauf, daß das dein Ring ist?“ „Nein, es ist nicht meiner. Ich habe ihn nie getragen, zeitlebens würde ich ihn nicht anstecken.“ „Vanda“, sagte ich gereizt, „entscheide dich für diese oder jene Version, aber bleib bei einer. Vorhin hast du behauptet, den Ring hätte dir ein Mann geschenkt, der dich geliebt hat. Vergessen wir, was zwischen uns geschehen ist. Warst du die Geliebte meines Vaters? Es wäre lächerlich von mir, dir das vorzuhalten, dazu habe ich kein Recht, ich bin nicht dein Ehemann …“ „Schweig!“ schrie Vanda, „du elender Heuchler – du fieser Kerl – du …“ „Beschimpf mich nicht“, unterbrach ich sie mit schneidender Stimme, „damit setzt du dich nur selber herab. Und hör zu, das ist nicht alles. Bevor ich dich gestern wiedersah, sagte mir Direktor Grym, du hättest ihm einen wertvollen Schmuck unter Umständen entwendet, die ziemlich geschmacklos sind. Es ist wohl überflüssig, dir diese Umstände zu beschreiben. Du bestreitest, Grym zu kennen. Bleibst du dabei?“ Vanda zitterte am ganzen Körper. „Ich kenne Grym nicht! Zeitlebens bin ich ihm nicht begegnet. Es ist mir gleich, was er dir über mich erzählt hat – was du denkst –, was du glaubst. Ich bin keine Diebin! Den Ring habe ich von Karel Grym bekommen, dem Sohn des alten Verleumders. Er ist mir mehrere Monate 101
nachgelaufen, zweimal wöchentlich ist er aus Teplice hergekommen, und als ich geschieden war, wollte er mich heiraten. Karel bat, drohte, versprach mir goldene Berge – ich konnte ihn nicht abschütteln. Für mich war er nur ein junger Bursche, den ich nicht ernst nahm, er amüsierte mich, tat mir leid – ja, ich war dumm“, schrie sie, als ich den Mund zu einer Frage öffnete. „An dem Tag, als er starb, war er zur mir gekommen. Er sagte, daß er zu Hause mit allem Schluß gemacht hat und ein neues Leben mit mir anfangen will. Daß wir zwei verkrachte Existenzen sind … Da bekam ich Angst vor ihm. Ich konnte ihn fortschicken, weil ich zum Dienst mußte, und versprach ihm, daß wir uns abends unterhalten würden. Er war damit einverstanden und ließ mir ein kleines Päckchen hier – angeblich eine Überraschung für mich. Es sollte wohl ein Pfand für ein Wiedersehen sein. Ich wollte Karel loswerden … Ein paar Stunden später war ich ihn für immer los.“ Im Geist legte ich fieberhaft die Steine dieses verrückten Dominospiels zusammen. „Das ist im Hotel ‚Bristol‘ geschehen“, sagte Vanda erschöpft. „An das Päckchen erinnerte ich mich erst zwei Tage später. Als ich hineinschaute … Was sollte ich damit machen?“ „Zur Polizei bringen, sie hätten es schon dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben.“ „Und erklären, wie ich dazu gekommen war? Sie davon überzeugen, daß eine dreißigjährige geschiedene Frau von einem viel jüngeren Burschen hofiert wurde? Wer hätte das geglaubt? Ich zitterte vor Angst, der Unfall meines geschiedenen Mannes war auch untersucht worden … Mit Karel hatte ich mich zum Glück nirgendwo gezeigt, wir hatten keine gemeinsamen Bekannten, so konnte ich hoffen, daß sie nicht von selber auf mich verfallen.“ „Das ist dir gelungen“, bemerkte ich. 102
„Begreifst du denn nicht, in welcher Situation ich mich befand? Wenige Monate zuvor war mein Mann zum Krüppel geworden – durch einen Sturz vom Dach. Ich hatte ihn verlassen, nach allgemeiner Ansicht aus reinem Egoismus. Jetzt war ein junger Bursche zu Tode gekommen, zufälligerweise auch durch einen Sturz. Von ihm hatte ich ein wertvolles Schmuckstück erhalten. Wer hätte mir geglaubt, daß zwischen uns nichts gewesen war, daß ich nicht mit ihm gespielt hatte, daß ich an seinem Tode unschuldig bin? Nicht einmal du glaubst mir!“ Mit verweintem Gesicht flüchtete Vanda ins Badezimmer. Die Tür schlug zu, das Schloß schnappte ein. Ich fühlte mich wie jemand, über den eine Lawine hinweggerollt ist. Die plötzliche Stille lastete auf mir. Von der Straße drang ein schriller Laut herauf. Aus dem Badezimmer war nichts zu hören. Das Bier schmeckte schon schal. Es regnete wieder, die Tropfen prasselten an die Scheibe. Ich schloß das Fenster und blickte in die dunkle Nacht. Selbst am hellen Tage hätte ich nichts gesehen, da das Wasser an der Scheibe herunterrann. Sie war wie ein Spieltisch, auf den ich meine Dominosteine legte. Ich war jedoch nicht imstande, sie zusammenzufügen. Die Steine gehörten zu zwei verschiedenen Spielen, von einigen besaß ich zu viele, andere waren wertlos … Da erkannte ich plötzlich, daß einer von ihnen, der anfangs der wichtigste zu sein schien, sozusagen der Schlüssel zu allem, falsch war. Ich betrachtete den Ring, der in der Bierlache lag. In der Badezimmertür stand Vanda wie eine weiße Kerze. Sie warf mir meine nassen Sachen zu. „Geh – und vergiß nicht mitzunehmen, was dir gehört.“ Ich schüttelte den Kopf. „Worauf wartest du noch?“ fuhr sie ausdruckslos fort. „Du hast keinen Grund, länger hier zu bleiben.“ „Ich habe einen“, erwiderte ich, „du mußt mir helfen.“ „Muß ich das?“ fragte sie mit hysterischem Lachen. 103
„Sei nicht albern. Was kannst du von einer Frau wie mir verlangen – umsonst?“ Sie schwebte ins Zimmer und streckte sich auf dem Sofa aus, ein Bein frivol enthüllt. Mit dieser Pose illustrierte sie das Märchen des alten Grym. Ich stellte mich vor sie hin. „Du mußt nichts, aber hör mir erst ruhig zu. Dann gehe ich, wenn du noch darauf bestehst.“ Sie blieb abweisend, aber sie warf mich nicht hinaus. „Gestern habe ich bei der Beerdigung meines Vaters Direktor Grym kennengelernt. Eine Stunde später vertraute er mir ein amouröses Abenteuer an, bei dem ihm ein verführerisches Mädchen ein wertvolles Schmuckstück entwendet hatte. Wegen der pikanten Umstände wollte er nicht zur Polizei gehen. Er bat mich, ihm behilflich zu sein, den Schmuck zurückzubekommen. Ich lehnte das ab, die ganze Angelegenheit mißfiel mir, außerdem wollte ich schnell zurück nach Prag. Kurz darauf suchte mich Doktor Roháč auf, um über die Hinterlassenschaft meines Vaters zu verhandeln. Deshalb mußte ich mit meiner Mutter sprechen, die auf alles verzichten wollte außer auf einen Ring. Frau Kavanová, die langjährige Lebensgefährtin meines Vaters, behauptete, der Ring befinde sich im Tresor beim alten Biederman. Dort war er nicht, und Biederman sagte, daß er ihn zuletzt vor zwei Jahren in der Hand hatte, als er ihn für meinen Vater polierte. Er verspottete sogar die Kavanová. Wahrscheinlich hätte mein Vater den Ring einer jungen Geliebten geschenkt. Die Kavanová wäre über alle Liebschaften meines Vaters informiert, so könnte sie dieses Mädchen finden. Daran hat sie größtes Interesse, denn das übrige Erbe ist viel wertvoller als der Ring, und meine Mutter würde ihre Ansprüche geltend machen, wenn sie ihn nicht zurückerhält. Ich mußte also in Olomouc bleiben. Hier habe ich dich getroffen, du bist das Mädchen, das Grym bestohlen haben soll.“ 104
Vanda lächelte abwesend. Für dieses Lächeln hätte ich keinen Heller gegeben. „Gestern war ich davon überzeugt, daß sich Grym geirrt oder daß er aus irgendeinem Grunde gelogen hatte. Aber deine Reaktion, als ich seinen Namen nannte, ließ mich mißtrauisch werden. Vergiß nicht: Zu der Zeit wußte ich nichts vom jungen Grym, seiner Beziehung zu dir und seinem Tod. Ich fuhr nach Teplice, um nochmals mit Grym zu sprechen, doch er gab mir keine Gelegenheit dazu. Von anderen Leuten habe ich einiges erfahren, was im wesentlichen deine Worte bestätigt.“ Vanda stützte sich auf den Ellbogen und hörte mit schlecht verhohlenem Interesse zu. Ich trank einen Schluck schales Bier. „Und jetzt paß auf: Ich fand bei dir den Ring, den du vom jungen Grym bekommen hast. Gleichzeitig behauptet der alte Grym, du hättest ihm ein kostbares Schmuckstück gestohlen. Juwelen von solchem Wert gibt es nicht massenhaft.“ Ich blickte auf den schmalen Reif mit dem gleisnerischen blauen Auge und haßte ihn beinahe. So ein nutzloses Ding und wie hatte es in menschliche Schicksale eingegriffen. Angefangen bei meinem eigenen. „Du meinst doch nicht, es handelt sich um ein und denselben Ring?“ fragte Vanda. „Was denkst du denn darüber?“ Vanda setzte sich auf und fuhr sich mit den Fingern durch das goldene Haar. „Ich weiß nicht … Woher soll Karel Grym den Ring deiner Mutter haben?“ „Nach allem, was ich weiß, war er ein leichtsinniger Kerl ohne Skrupel. Er konnte ihn einem Mädchen, dem mein Vater den Ring geschenkt hatte, stibitzt haben.“ „Meinst du etwa mich?“ fragte sie giftig. „Jetzt nicht mehr. Wenn der Ring direkt von meinem Vater zu dir gelangt wäre, hätte es der alte Grym nicht gewußt.“ 105
Vanda benagte ihren rechten Daumen. „Wie kann er wissen, daß ich den Ring habe?“ „Eigentlich kann er es nicht“, pflichtete ich ihr bei, „aber Tatsache ist, daß er es weiß. Ich habe dir noch keine Einzelheiten berichtet, Vanda. Grym wollte, daß ich in deinem Privatleben herumschnüffele, um darin eine dunkle Stelle zu finden. Dann hätte er dich erpressen können. Die Begegnung mit mir konnte Grym nicht voraussehen, aber diesen Plan hat er wohl kaum im Krematorium ausgeheckt. Was hat er gegen dich?“ „Das weiß ich nicht“, sagte Vanda ratlos. „Warum war er bei der Beerdigung? Kannte er deinen Vater?“ „Als er mir kondolierte, meinte er, daß mein Vater ein großer Musiker war. Meinen Vater kannten viele Leute.“ Angestrengt versuchte ich, mir den Verlauf des Gesprächs mit Grym zu vergegenwärtigen. Ich erinnerte mich jedoch vor allem an den geschwätzigen Petr Šíma. „Als ich mich in Teplice Frau Grymová vorstellte, sagte ihr mein Name nichts, aber das will nichts bedeuten.“ „Wie ist Frau Grymová?“ fragte Vanda neugierig. „Eine Schneekönigin mit einem nicht gerade hohen Intelligenzquotienten.“ „Du bist ein schlechter Menschenkenner, sie soll ein raffiniertes Luder sein.“ „Hat der junge Grym über sie gesprochen?“ „Über seine Stiefmutter hat er nie geredet. Übrigens ist sie vor mehreren Jahren hier in der ‚Tahiti-Bar‘ aufgetreten.“ „So kennst du sie persönlich?“ „Damals stand ich ausschließlich in Herrn Melichars Diensten, die großartig honoriert wurden“, sagte Vanda mit verzerrtem Gesicht. „Das hat mir der alte Barkeeper Felix aus dem ‚Tahiti‘ erzählt Wenn ich Karel weggeschickt hatte, saß er dort an der Bar und schüttete ihm sein Herz aus. Felix weiß über ihn mehr als ich.“ Ich blickte sie lange an. In nur zwei Nächten hatte sie 106
sich in so vielen Gestalten gezeigt. Zärtlich und wütend, unnahbar und großzügig, leichtgläubig und vertrauensvoll. Wohin gehst du, Vanda Gabrielová, und was bedeute ich auf deinem Weg? „Robert“, sagte sie mit dunkler Stimme, „ist das alles nicht überflüssig? Ich habe einen Zeugen, Felix wird dir bestätigen, daß zwischen mir und Karel Grym alles so war, wie ich dir erzählt habe. Den Ring hast du gefunden, was willst du noch?“ Mit schüchternem Lächeln neigte sie sich über den Tisch und streckte mir die offenen Hände entgegen. Ich ergriff sie an den Gelenken, so daß ich den schnell schlagenden Puls spürte, und küßte sie. „Wie lange hat die ‚Tahiti-Bar‘ geöffnet?“ Die verführerischen Lippen wurden zusammengekniffen, die Augen verschwanden unter den Lidern. Vanda lehnte sich zurück und faßte mit verschränkten Armen an ihre nackten Schultern. „Worum geht es dir eigentlich?“ fragte sie wütend. „Um die Wahrheit“, antwortete ich. Die ‚Tahiti-Bar‘ hatte sich seit der Zeit, als sie heimlich von einem Minderjährigen besucht wurde, kaum verändert. Dieselben trüben Wandlampen beschienen dieselben abgewetzten Nischen, in denen Betrunkene vor sich hin dämmerten. Sie sahen aus, als hätten sie die ganzen fünfzehn Jahre hier gesessen. Tote Augen, auf leere Gläser und volle Aschenbecher stierend. In einer schummrigen Ecke versuchte ein älterer Playboy vergeblich, mit Kaffee ein Mädchen munter zu machen, dessen langes Haar über das kalkweiße Gesicht hing. Einige aufgekratzte Dienstreisende entlockten mit einer Anstrengung, die einer besseren Sache wert gewesen wäre, dem unerbittlichen Ober die definitiv letzte Flasche. Den Ober, der grimmig fauchte, als ich eintrat, kannte ich nicht, aber an den Barkeeper erinnerte ich mich. Das 107
Pfarrersgesicht hatte lediglich mehr Falten bekommen, der Haarkranz war völlig ergraut. Nur die Hände, mit denen er flink die Gläser polierte, verrieten jugendliche Kraft. Ich kletterte auf einen Barhocker und fragte: „Kriege ich noch einen?“ Mit unhörbaren Schritten war der Ober herangeschlichen. „Haben Sie schon Schluß gemacht, Herr Kocour?“ fragte er scheinheilig. „Ja, Chef“, antwortete der Barkeeper. „In zehn Minuten gebe ich Ihnen die Abrechnung.“ Der Ober schielte auf die Uhr, es war zehn Minuten vor zwei. Demonstrativ schob er den Aschenbecher ans andere Ende des Barpults. „Sie haben aber einen bösen Chef“, sagte ich, als er sich wieder zu den aufmüpfigen Dienstreisenden begeben hatte. „Neue Besen“, sagte der Barkeeper entschuldigend. Er holte unter dem Pult eine Flasche Becherovka hervor. „Mögen Sie das?“ Ich nickte. „Wenn Sie deshalb keinen Ärger bekommen …“ „Das ist meine private Flasche.“ Er füllte ein Gläschen, in ein zweites goß er einige Tropfen. „Danke“, sagte ich. „Am besten, ich zahle gleich.“ Der Barkeeper winkte ab. „Sie sind mein Gast. Ich habe schon abgerechnet, wie Sie gehört haben.“ „Danke“, wiederholte ich gerührt. „Wie komme ich dazu?“ Er reichte mir das Glas. „Das ist eine Aufmerksamkeit des Hauses für einen alten Gast, der uns nach Jahren als berühmte Persönlichkeit wieder beehrt.“ Beinahe kippte mich diese Aufmerksamkeit um. „Sie haben mich wohl mit jemandem verwechselt“, sagte ich bedauernd. „Ich bin in dem Lokal höchstens dadurch berühmt geworden, daß ich mich als Junge 108
hierher verirrt hatte. Und das noch mit meinen Mitschülern.“ „Sie sind zu bescheiden“, wandte Felix freundlich ein. „Ihre Bücher haben mir außerordentlich gefallen, und ich bin ein Kenner!“ In mir stieg selige Wärme auf, in meinem Hirn verflüchtigten sich alle Sorgen und Kümmernisse, mein Herz schlug höher. Wozu verplempere ich Zeit und Kräfte? Gebt mir ein stilles Kämmerlein und einen Stoß sauberes Papier, und die sündige Welt ist vergessen … „Wirklich?“ flüsterte ich geziert. Der Barkeeper nickte deutlich und fragte: „Was schreiben Sie jetzt? Und woher haben Sie die Einfälle?“ Meine paradiesische Luftfahrt endete mit einer harten Landung. Ich verschluckte die Antwort, daß ich mir die Einfälle aus den Fingern sauge, und sagte zurückhaltend: „Das ist schwer zu erklären.“ Geistesgegenwärtig fügte ich hinzu: „Manchmal will ich beispielsweise über ein bestimmtes Milieu schreiben – wie gerade jetzt.“ „Sie wollen also eine Geschichte schreiben, die in Olomouc spielt“, sagte Felix erfreut. „Das würde ich gern.“ Aber ich werde sie nie schreiben. Das neue Olomouc, das ich nicht kenne, hat die klaren Konturen der Stadt verwischt, in der ich meine Kindheit verbracht habe. „Wovon handelt sie?“ fragte Felix mit weihevoller Ehrerbietung. Ich machte ein tiefsinniges Gesicht und seufzte bekümmert. „Wir schließen!“ Im Spiegel hinter der Bar tauchte das Gesicht des Obers auf. Die Dienstreisenden verließen das Lokal, für den Rest der Nacht mit zwei entkorkten Flaschen versorgt. „Wenn Sie nicht gleich ins Bett wollen, würde ich Ihnen gern etwas zeigen“, sagte der alte Barkeeper. „Würden Sie ein paar Minuten auf mich warten?“ 109
Ich nickte und folgte dem ältlichen Playboy, der seine halb bewußtlose Dame hinausschleppte. Der Regen hatte aufgehört, und für Juni war die Nacht kühl. In zwei Stunden würde es tagen. Es war die kürzeste Nacht des Jahres. Mir kam es vor, als dauerte sie schon eine Ewigkeit. Felix gesellte sich zu mir, bevor ich eine Zigarette aufgeraucht hatte. „Ich wohne nicht weit von hier“, sagte er. „Macht es Ihnen wirklich nichts aus mitzukommen?“ „Natürlich nicht, ich stehe in Ihrer Schuld.“ „Überhaupt nicht!“ entgegnete er und schritt auf das Hotel ‚Bristol‘ zu. „Wohnen Sie im ‚Bristol‘?“ fragte ich erstaunt. „Schon fast fünf Jahre. Das Haus, in dem ich wohnte, wurde abgerissen, und das Zimmer im Hotel habe ich als Übergangslösung bekommen. Man hat mich vergessen, und mir ist das ganz recht.“ Als wir durch den düsteren Flur gingen, bemerkte ich: „Das sieht nicht gerade einladend aus.“ „Nur nachts, und die Nächte verbringe ich hier kaum zur Hälfte.“ Er öffnete die Tür und griff nach dem Schalter. „Bitte …“ Ich verstand, warum er sich nicht nach einer Wohnung in einem Neubau sehnte. Das Zimmer war geräumig und so komfortabel eingerichtet, wie es sich ein alleinstehender Mann wünschen kann. Eine Wand wurde von einem vollgepfropften Bücherregal eingenommen. Es mußten mehrere Kubikmeter Bücher sein. Felix zwinkerte zufrieden. „Ganz hübsch, nicht wahr? Die Einrichtung gehört mir. Setzen Sie sich.“ Er ging zum Bücherregal. Ich setzte mich in einen Klubsessel und heftete meinen Blick auf die Wand. Sie war buchstäblich mit Frauenfotos tapeziert, aber nicht mit irgendwelchen, aus Zeitschriften ausgeschnittenen Bildern. Jedes Foto ein Prachtweib, alle jung oder zumindest erfolgreich Jugend 110
vortäuschend, alle sündhaft verführerisch. Was sie an Kleidung gespart hatten, ersetzten sie durch ihre Reize. Zwei waren völlig nackt. Und alle bekannten sich zu dem teuren, einzigen, unvergeßlichen, geliebten Felix. Olga, Judita, Lili, Evana, Anny, Jeanette, Darina – und so weiter – auf immer Deine. „Alle Achtung“, sagte ich. „Mädchen aus meinem Kindergarten“, sagte Felix kichernd. „Eine Auswahl von Schönheit, die in fünfundzwanzig Jahren im ‚Tahiti‘ zu sehen war. Lauter Künstlerinnen – Sängerinnen und Tänzerinnen. Lili und Evana waren erstklassige Stripperinnen, und Anny …“ Ich hörte nicht weiter zu. Am Ende der zweiten Reihe von unten, neben der üppigen blonden Beta, lächelte kühl eine schwarze Schöne mit Kleopatrafrisur und schrägen Augen. Sie trug ein glitzerndes, wie Schlangenleder anliegendes, an der Seite geschlitztes Kostüm, das raffiniert ein Bein im schwarzen Netzstrumpf entblößte. Das wirkte verteufelt sexy. Die Nackedeis neben ihr sahen aus, als wären sie in einer Badeanstalt fotografiert worden. Quer über eine Ecke eine energische Unterschrift: Irma Fey. Nichts weiter. Keine vertrauliche Widmung. „Viele Mädchen haben sich sehr gut verheiratet“, berichtete Felix, „und glauben Sie mir, sie haben den alten Kocour nicht vergessen. Ihnen habe ich zu verdanken, daß ich mich jederzeit an drei Fachärzte und mehrere andere einflußreiche Herren wenden kann. Gute Beziehungen sind heutzutage etwas wert!“ Felix war kein einsamer alter Mann, vielmehr erinnerte er an eine gemästete Spinne, die sich mit konservierten Fliegen eingedeckt hat und es sich in ihrem Netz Wohlergehen läßt. Mehr brauchte er nicht. Das reichte bis zu seinem Tode. Ich setzte mich mit dem Rücken zu den Künstlerinnen und wurde sogleich aus einem Betrachter selber zu 111
einem Künstler. Felix legte meine gesammelten Werke vor mich hin, insgesamt drei Büchlein. „Signieren Sie mit Widmung, wenn Sie so freundlich wären …“ Ich beglückte ihn mit besonders herzlichen Dedikationen, er revanchierte sich mit französischem Kognak. Zögernd begann ich: „Vielleicht könnten Sie mir bei etwas helfen.“ „Mit Vergnügen“, sagte Felix eifrig. „In diesem Hotel gab es neulich einen tragischen Vorfall.“ Felix zog fragend die Brauen hoch. „Ich meine den Selbstmord des jungen Mannes“, fuhr ich fort. „Darüber würde ich gern etwas erfahren.“ „Warum?“ „Ich möchte das in der Olomoucer Geschichte benutzen, die ich zu schreiben gedenke.“ „Das wäre wohl kaum angebracht“, sagte Felix nachdenklich. „Sie verstehen mich vielleicht nicht. Das brauchte ich nur als Ausgangssituation. Ich muß immer von der Realität ausgehen und kann nicht aus dem Nichts anfangen.“ „Der Selbstmord war eine sehr traurige Angelegenheit“, sagte er abweisend, „und er ist allen noch frisch im Gedächtnis. Viele Menschen waren schmerzlich berührt.“ „Ich würde den Fäll so bearbeiten, daß sich niemand wiedererkennt“, erwiderte ich mit aller Überzeugungskraft. „Übrigens werde ich ein Jahr zum Schreiben brauchen, und ehe die Geschichte erscheint, vergehen noch zwei Jahre.“ „Und was wollen Sie von mir?“ fragte er sachlich. „Erzählen Sie mir, was Sie darüber wissen. Sie wohnen hier, Sie haben den Jungen gekannt …“ „Warum soll ich ihn gekannt haben? Er hat sich hier 112
für einen Tag ein Zimmer gemietet. Ich bin ihm überhaupt nicht begegnet.“ „Er ist oft nach Olomouc gekommen. Im ‚Tahiti‘ hat er an der Bar gesessen, und sicher hat er mit Ihnen gesprochen, Karel Grym aus Teplice nad Kamenicí. Wissen Sie immer noch nichts über ihn?“ Der alte Profi schenkte mir ein müdes Lächeln. „Das mag ja alles so gewesen sein. Manche Gäste halten den Barkeeper für einen Beichtvater, dem man seine Sünden anvertraut. Meist stellen sie sich nicht mit Namen vor. Ich nicke, lasse hin und wieder ein teilnahmsvolles Wort fallen, höre mit halbem Ohr hin und vergesse alles gleich wieder. Diesen Selbstmörder habe ich mir nicht angesehen. Ich bin zu alt, als daß mich der Anblick von Toten reizen würde.“ „Waren Sie im Hotel, als das geschah?“ Der würdige alte Herr grinste wie ein Satyr. „Ich hatte Damenbesuch. Begreifen Sie, daß das entschieden wichtiger ist als der geschmacklose Tod eines Unbekannten?“ Genüßlich blickte er auf seine Kollektionen. „Außerdem könnte es sich diese Dame absolut nicht leisten, gegebenenfalls verhört zu werden.“ Ich trank den Kognak aus, Felix goß mir nach. „Schade“, sagte ich mit gezwungenem Lächeln, „ich dachte, Sie als Liebhaber von Kriminalgeschichten hätten dafür Verständnis.“ „Es tut mir leid, leider kann ich Ihnen nicht helfen.“ Er stand auf, nahm die Bücher und trug sie zurück zum Regal. Ich erhob mich ebenfalls und riß das Foto Irma Feys von der Wand. Das ging leicht, es war nur mit Reißzwecken angeheftet. Schnell steckte ich es ein. Felix drehte sich um und beäugte mich. Die Stelle, wo das Foto gehangen hatte, war durch einen Klubsessel seinen Blicken verborgen. „Ich danke Ihnen für den Kognak und den Beche113
rovka“, sagte ich. „Und für das Gespräch, das sehr lehrreich war.“ „Ich habe Ihnen zu danken“, erwiderte er höflich. „Es war mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen. Warten Sie, ich muß aufschließen.“ Hinter dem Schalter saß dasselbe pausbäckige Engelchen wie nachmittags, in sanften Schlummer versunken. Ich hüstelte, das Mädchen fuhr zusammen und blinzelte mit seinen verschlafenen Äuglein. „Guten Morgen“, grüßte ich. „Wohnen Sie hier?“ „Was ist los? Ach, Sie sind das wieder …“ Sie gähnte und setzte sich aufrecht hin. Ihr Gesicht war verschwitzt wie bei einem gerade erwachten Säugling. „Leben wir denn in einer Sklavenhaltergesellschaft?“ fragte ich empört. Sie gähnte wieder, so daß ich beinahe die Mandeln sah. „Was sagen Sie da?“ „Arbeiten Sie vierundzwanzig Stunden täglich?“ „Ach wo, eine Kollegin hat ein krankes Kind. Sie wollen wieder Prag, nicht wahr?“ „Nein, nur das Olomoucer Telefonbuch.“ Sie schob es mir unter der Scheibe zu und entrüstete sich: „Um diese Zeit werden Sie doch nicht jemanden aus dem Bett holen!“ Ich verschwand mit verschlagenem Grinsen in der Kabine. Das Telefon klingelte, bis es fast heiser war, aber Frau Kavanová schlief entweder wie ein Murmeltier oder nächtigte nicht in ihrem Bett. Ich suchte die Nummer von Dr. jur. Ladislav Roháč. Durch das runde Fensterchen in der Kabinentür schielte ich zur Telefonistin. Sie saß da wie ein Vogel auf der Stange, die Augen vorwurfsvoll auf mich gerichtet. Mit Blicken gab sie mir zu verstehen, daß ich ein Flegel sei, der versuche, in der anständigen Stadt Olomouc grobe hauptstädti114
sche Manieren einzuführen. Beschwichtigend blinzelte ich ihr zu. Nach dem zweiten Läuten meldete sich eine alte Frau mit zitternder Stimme: „Bei Doktor Roháč. Wer ist dort?“ Ich stellte mich vor. „Ist etwas passiert?“ fragte sie. „Mit wem spreche ich, bitte?“ „Mit seiner Wirtschafterin. Was wünschen Sie?“ „Könnten Sie Herrn Doktor wecken?“ „Er ist nicht zu Hause“, sagte sie besorgt. „Woher rufen Sie an?“ „Wo ist Herr Doktor?“ „Fortgefahren, abends vor dem Gewitter – mein Gott!“ „Wissen Sie, wohin er gefahren ist?“ Ich hörte nur ein asthmatisches Keuchen. Erst nach einer Weile antwortete sie: „Das weiß ich nicht, irgendwohin mit Frau Kavanová. Sagen Sie mir, was ihm zugestoßen ist! Ich habe das geahnt – ich kann nicht schlafen vor Angst …“ „Ich bringe Ihnen keine schlechte Nachricht“, versicherte ich ihr eilig. „Beruhigen Sie sich! Entschuldigen Sie, daß ich Sie erschreckt habe.“ „Warum rufen Sie denn zu nachtschlafender Zeit an?“ wisperte sie ungläubig. „Ich bin ein Klient von Herrn Doktor und muß heute früh zeitig nach Prag fahren“, log ich, ohne lange zu überlegen. „Bitte richten Sie ihm aus, daß ich eine wichtige Nachricht für ihn habe. Mein Name ist Lukáš, werden Sie das behalten?“ „Warten Sie, ich schreibe das auf. Sind Sie wirklich nicht …?“ „Ich bin weder Polizist noch Arzt. Sorgen Sie sich nicht und gehen Sie schlafen. Herr Doktor kommt heute gesund wieder.“ 115
„Woher wollen Sie das wissen?“ fragte sie ungläubig. „Sie brauchen wirklich keine Angst um ihn zu haben, es ist nur vernünftig, daß er nachts bei dem Wetter nicht Auto fährt. Gute Nacht.“ Ich legte auf und verließ die Kabine voller Wut auf den alten Schuft, der solche Besorgnis nicht verdiente. Obwohl die Telefonistin diesmal nicht lauschte, mußte sie meine Worte gehört haben. „Gerade habe ich eine verängstigte Oma beruhigt“, erklärte ich ihr. „Hoffentlich“, sagte sie zweifelnd. „Was ist mit dem alten Ekel?“ Ich hakte amüsiert ein. „Warum mögen Sie Doktor Roháč nicht?“ Sie verzog angewidert ihr Gesicht. „Der will einen bloß dauernd betatschen.“ „Was Sie nicht sagen! Kann er denn durch die Scheibe greifen?“ Mit einem strafenden Blick wies sie mich zurecht. „Ich habe Ihnen doch erzählt, daß ich zu Meister Lukáš gegangen bin. Ein paarmal bin ich dort Roháč begegnet.“ „Ich dachte, dort hätten sich nur junge Leute getroffen.“ „Er ist ja auch zu der Alten gekommen.“ „Hat Frau Kavanová an diesen Zusammenkünften nicht teilgenommen?“ „Wie man’s nimmt“, sagte, das Engelchen feixend. „Meist hatte sie einen nassen Lappen um den Kopf geschlungen und rannte jammernd im Flur herum. So …“ Sie legte die Hände auf den Busen, dem sich ein theatralisches Stöhnen entrang. Ich lobte nicht ihr schauspielerisches Talent, sondern fragte: „Hat ein gewisser Karel Grym, der Junge, der vor kurzem Selbstmord verübt hat, zufälligerweise auch dort verkehrt?“ 116
„Ja“, bestätigte sie bewegt, „er war mehrmals dort. Das war ein verrücktes Huhn!“ „Wie verrückt?“ „Er hat immer schrecklich übertrieben.“ Wie eine weise Alte fuhr sie fort: „Karel hat alles mögliche machen wollen und nicht gewußt, was er eigentlich will. Der Junge war zu verwöhnt.“ Ich dachte nach, daß sich beinahe meine Gehirnwindungen verbogen. „Aber ich begreife immer noch nicht, wie er das tun konnte“, sagte sie. „Alle, die ihn nur ein bißchen gekannt haben, wollten das nicht glauben! Das paßte überhaupt nicht zu ihm. Auch wenn er an dem Tag viel getrunken haben soll … Hätte er Tabletten geschluckt und sich retten lassen, damit er darüber reden konnte …“ In den Schalterraum stürzte ein Mann mit purpurrotem Gesicht. „Ein Taxi – schnell – es ist so weit – meine Frau“, röchelte er, „Rufen Sie an – ich – ich …“ Das Mädchen griff flink nach dem Hörer. Ich ging still in die aufdämmernde Nacht hinaus. Der Knabe auf dem Tritonenbrunnen blickte mit seinen steinernen Augen stets in dieselbe Richtung, die Meeresungeheuer trugen geduldig ihre uralten Lasten. Ich war nicht aus Stein, Geduld fehlte mir seit jeher, und mir war lediglich ein Bruchteil der Ewigkeit bemessen. Es nahte der Tag der Sommersonnenwende, ich kehrte ins Hotel ‚Palác‘ zurück. Durch das offene Fenster wehte eine durchsichtige blaue Fahne, und es jubelten Silberglöckchen. Faul drehte ich mich um. Auf dem anderen Kissen lagen nur drei goldene Haare. Ich sammelte sie andächtig auf und versuchte, ein Kränzchen zu winden. Das gelang mir nicht. Ich kroch aus den duftenden Betten und trat ans Fenster. Die Fahne war der azurne Himmel, mit den Silberglöckchen bimmelte eine Straßenbahn. Auf dem 117
Gehsteig liefen Mädchen in pastellfarbenen Kleidern und Jungen in Anzug und Schlips, wohl Abiturienten. Vom Platz her nahte würdig eine Kette festlich geschmückter Hochzeitsautos. Es war Sonnabend, elf Uhr fünfundvierzig, ich befand mich in Olomouc im Hotel ‚Palác‘, und Vanda konnte nicht weit sein. Sie saß im anderen Zimmer am Tisch, auf dem immer noch ein kleines Vermögen in Form eines Ringleins lag, schlürfte Kaffee und rauchte eine Zigarette. Der Stoff zu ihrem Kleid schien aus dem blauen Himmel ausgeschnitten zu sein, und mit einer ähnlich gefärbten Tusche hatte sie geschickt die Ringe um die Augen kaschiert. „Wie haben Sie geruht, mein Herr?“ fragte sie mit verspieltem Lächeln. „Wünschen Sie Frühstück oder Mittagessen?“ „Ich habe märchenhaft geschlafen“, antwortete ich gefühlvoll. „Erst möchte ich baden und mich rasieren. Dann möchte ich ein üppiges Mittagmahl mit dir. Dann möchte ich mit dir …“ „Das ist ja ein Programm für einen halben Tag!“ erwiderte sie. „Beim Mittagessen werde ich dir höchstens Gesellschaft leisten, eben habe ich ein kräftiges Frühstück verdrückt.“ „Dann habe ich eine bessere Idee. Ich esse etwas im Restaurant, während du inzwischen deine Kündigung schreibst und die Sachen packst. In knapp zwei Stunden können wir im Speisewagen sitzen und bis nach Prag essen und trinken und Pläne schmieden.“ Vanda lachte laut. „Du bist ein Quatschkopf! Roby, dort hängt dein gebügelter Anzug, aber zieh nicht das Sakko an, draußen ist es warm und …“ Ich fiel ihr ins Wort: „Einverstanden?“ Sie lachte nicht mehr. „Hör auf damit. Das war ein lieber Scherz, aber jetzt ist es genug.“ „Ich meine es todernst“, erklärte ich. 118
Vanda blickte mich erstaunt an. „Robert …“ Ich verspürte schreckliche Lust, sie auf die Arme zu nehmen und davonzutragen. „Alles, was ich dir nachts gesagt habe, meinte ich ernst. Bitte keine Einwände, daß du dir so eine Entscheidung überlegen mußt! Du wolltest fort aus Olomouc. Ich biete dir diese Möglichkeit und mich dazu. Prag ist zumindest ebensogut wie jede andere Stadt. Für den Anfang wohnst du bei mir, eine Arbeitsstelle wird sich finden. Du kannst mich ja jederzeit verlassen, wenn du mich satt hast.“ Vanda erhob sich schnell. „Mein Gott, schweig doch! Ich nehme ein paar Tage Urlaub und fahre mit.“ „Du hast Anspruch auf Urlaub für ein halbes Jahr“, sagte ich. „Kündige zum ersten Juli. Wenn du Eheschließung als Grund angibst, müssen sie dich gleich gehen lassen.“ Sie schien noch nicht völlig überzeugt zu sein. „Und deine Angelegenheit, deretwegen du hiergeblieben bist?“ „Darauf pfeife ich. Ich weiß ungefähr, wie alles war, aber wir wollen nicht darüber reden. Darüber werde ich schreiben, Vanda. Ich lasse mir einen Vorschuß geben, und für das Geld fahren wir nächstes Jahr gemeinsam an die See.“ Endlich lachte sie aufrichtig und gelöst. „Einverstanden, aber wir fahren schon dieses Jahr, an die Adria. Wir verkaufen den Trabant – ich behalte nichts, was mich an die Vergangenheit erinnert.“ „Im D-Zug werden wir nur über die Zukunft reden. Schaffen wir den um halb drei?“ „Ja“, sagte sie plötzlich voller Energie. „Ich spreche mit dem Chef, er wird mir keine Schwierigkeiten machen. Und ich muß zur Schneiderin, dort habe ich ein paar Kleider.“ „Zum Teufel mit den Kleidern! Du brauchst keine.“ „Davon verstehst du nichts, Roby“, entgegnete sie. „In einer Stunde bin ich zurück. Wir haben genügend Zeit.“ 119
„Nach so viel verlorenen Jahren werden wir nie genügend Zeit haben!“ Als ich mich geduscht und rasiert hatte, trank ich den Rest von Vandas schwarzem Kaffee. Auf einmal klingelte das Telefon. „Sie haben Besuch“, sagte Frau Brožová. „Herr Grym. Kommen Sie ins Vestibül?“ Meine reizvollen Pläne prallten mit der Realität zusammen. Eine grobe Hand packte mich im Nacken und schüttelte mich. Nüchtern erkannte ich, daß es wünschenswert wäre, die Rechnung mit Herrn Grym abzuschließen. In zehn Minuten würde das geschehen sein. „Können Sie ihn raufschicken?“ fragte ich verdrossen. „Wie Sie wollen“, sagte Frau Brožová und legte auf. Grym wirkte zehn Jahre älter als bei unserer ersten Begegnung. Ich empfing ihn wie ein Fürst, malerisch in einen Sessel gelümmelt. „Guten Tag“, sagte er. Herablassend nickte ich ihm zu. „Ich habe nicht erwartet, Sie noch einmal zu sehen.“ Er blieb an der Tür stehen. „Reisen Sie ab?“ „Ja, beinahe hätten Sie mich nicht mehr angetroffen.“ Grym gebärdete sich wie eine alte Jungfer, die versehentlich in eine Seemannskneipe geraten ist und nun nicht weiß, wie sie wieder hinauskommt. „Da möchte ich Sie nicht aufhalten“, sagte er nach einer Weile und griff nach der Klinke. „Setzen Sie sich doch, wenn Sie schon den weiten Weg gemacht haben.“ Mit meiner Zigarette deutete ich auf den anderen Sessel, wobei ich Asche verstreute. Er gab sich ablehnend. Da erblickte er den Ring und erstarrte, als hätte man ihn in flüssiges Glas getaucht. „Gestern habe ich in der ‚Sennhütte‘ über zwei Stunden auf Sie gewartet“, sagte ich. „Warum sind Sie nicht gekommen?“ Die gläserne Maske auf Gryms Gesicht barst, der Herr 120
Direktor schien aus einer Narkose zu erwachen. Stumm bewegte er die trockenen Lippen. Ich befürchtete, daß er zusammenbrechen würde, und forderte ihn auf: „So setzen Sie sich doch!“ Er schritt schwerfällig durchs Zimmer und setzte sich. „Ich wollte mich nicht mit Ihnen treffen.“ „Warum sind Sie dann hier?“ „Als Sie in Teplice mit meiner Frau gesprochen hatten, wurde mir klar, daß es falsch war, mich Ihnen anzuvertrauen. Ich hoffte, Sie würden sich nicht mehr mit der Sache befassen, wenn ich nicht zu dem Treffen komme. Ursprünglich hatten Sie ja auch meine Bitte abgeschlagen.“ „Und über Nacht haben Sie es sich wieder anders überlegt?“ wunderte ich mich. „Mir ist eingefallen, daß Sie einen triftigen Grund haben müssen, Ihren Standpunkt zu ändern.“ „Sie freilich auch“, sagte ich. Grym hob die Schultern und versuchte, mich mit einem Chefblick zu strafen. Ich war nicht Petr Šíma. „Ich könnte versuchen, Ihren Grund zu erraten“, schlug ich ihm vor. Ungehalten entgegnete er: „Ich habe keine Zeit für dumme Spielchen.“ „Also machen wir’s kurz: Sie sind nicht von einem Straßenmädchen bestohlen worden. Ihre Gattin vermißt kein wertvolles Schmuckstück.“ Grym starrte schweigend vor sich hin, in seinen Augen glommen graue Flämmchen. „Sie haben den Schmuck wiedergefunden. Er war einfach irgendwohin gekullert. Als Sie richtig gesucht hatten, stellten Sie fest, daß nichts fehlte. Das Mädchen an der Rezeption haben Sie zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt. Ich nehme in ihrem Namen Ihre Entschuldigung an, und wir vergessen die ganze Sache. Einverstanden?“ 121
„Halten Sie mich nicht zum Narren!“ sagte Grym schneidend. „Der Ring liegt hier.“ „Ausgezeichnet“, lobte ich ihn sarkastisch. „Was wollen Sie also? Ich hoffe, nicht diesen Ring.“ „Der gehört schließlich Ihnen. Ich will nichts, nur …“ „Vanda Gabrielová aus der Stadt treiben?“ fragte ich nach einer Pause, die mit Sprengstoff angefüllt war. „Nein“, antwortete Grym finster. Ich explodierte. „Also worum geht es Ihnen, verdammt noch mal? Warum sind Sie hergekommen?“ „Ich wollte Sie bitten, sich aus allem herauszuhalten. Meine Frau und ich haben unlängst schwere Stunden durchgemacht. Ihre Gesundheit ist nicht die beste, und jede weitere Erschütterung würde sie ernsthaft gefährden.“ Ich grinste, und Grym fügte steif hinzu: „Ich wußte nicht, daß Sie den Ring haben. Sonst hätte ich nicht von meinen familiären Angelegenheiten gesprochen.“ „Ich akzeptiere den Grund, warum Ihnen das ganze unangenehm ist. Sie haben Angst um Ihre Frau, wenn auch nicht um ihre Gesundheit.“ Grym runzelte verärgert die Stirn, aber ich ließ mich nicht beirren. „Sie schulden mir allerdings eine Erklärung, wie das mit dem Ring war. Ich habe Ihnen angeboten, die Sache still aus der Welt zu schaffen. Meine Version haben Sie abgelehnt. Schlagen Sie also eine bessere vor.“ „Das ist meine Privatangelegenheit!“ sagte Grym überheblich. „Meine auch. Ich heirate Frau Gabrielová.“ Verblüfft hefteten sich seine Augen auf mich. „Ist das wahr?“ „Ja.“ Ich blickte auf die Uhr, es war zehn Minuten vor eins. „Heute nachmittag verlassen wir Olomouc – für immer, da können Sie sicher sein.“ „Das ist Ihre Entscheidung, um so besser. Ich werde 122
Ihnen also berichten, wie alles war, wenn Sie unbedingt darauf bestehen.“ Die Hochzeitsgäste auf der Straße sangen in falschen Tönen „Du bist eine weiße Rose, Kačenka.“ Ich stand auf, um das Fenster zu schließen. Ans Fensterbrett gelehnt und mit den Händen in den Taschen betrachtete ich den kleinen grauen Mann im Sessel. „Ich hatte einen Sohn“, erzählte er. „Seine Mutter starb vor zehn Jahren, und mir fehlte die Zeit, wieder zu heiraten. Ich war ein sehr schlechter Vater, das begriff ich allerdings erst, als es zu spät war. Einzelheiten will ich lieber verschweigen, aber stellen Sie sich das Schlimmste vor, und es dürfte nicht übertrieben sein.“ Eine schwarze Wolke aus Erinnerungen verdunkelte seine Stirn. „Als Karel zwanzig war und ich dreiundfünfzig, lernte ich meine zweite Frau kennen. Da wußte ich schon, daß ich für meinen Sohn der unwichtigste Mensch auf der Welt war. Irma ist viel jünger als ich, hat aber ein hartes Leben hinter sich. Wir verstehen uns, und seltsamerweise verstand sie sich auch mit Karel. Wenigstens anfangs. Ich dachte, sie könnte einen guten Einfluß auf ihn ausüben. Leider hatte ich mich getäuscht. Die Schuld lag nicht bei ihr. Mein Sohn war gewohnt, von mir alles zu bekommen, was er wollte, und auf einmal erschien eine Konkurrenz. Als Familienvater bin ich ein armer Amateur, Herr Lukáš“, sagte bitter Dipl.-Ing. Grym, Direktor von Metaz und Herr über die schöne Stadt Teplice nad Kamenicí. „Mein Sohn wurde aufsässig. Er fühlte sich hauptsächlich finanziell benachteiligt. Zu der Zeit fing er ein ernstes Verhältnis mit einem jungen Mädchen an. Ich war bereit, ihn bei seinen Verpflichtungen zu unterstützen, aber ihm gefiel das nicht. Er ließ seine Freundin und sein Kind im Stich und flüchtete sich nach Olomouc. Dorthin zog ihn eine unbezweifelbar schöne Frau, die jedoch viel älter war als er und nicht gerade den bes123
ten Ruf genoß. Unterbrechen Sie mich nicht! Ich werde nicht darüber streiten, ob der damalige schlechte Ruf Frau Gabrielovás verdient war oder nicht, sondern gedenke lediglich über den Einfluß dieser Dame auf meinen Sohn zu sprechen.“ Ich nahm mir eine Zigarette und reichte Grym das Päckchen. Er zögerte, ehe er zugriff. Ich gab ihm Feuer. „Seit dem Tode meiner ersten Frau habe ich nicht geraucht“, bemerkte er mit schiefem Lächeln. „Schon damals hatte ich einen Herzfehler, und ich befürchtete, daß Karel allein zurückbleibt.“ Grym sog so gierig den Rauch ein, daß er husten mußte. „Für Frau Gabrielová konnte so ein Junge nicht attraktiv sein“, fuhr er mit belegter Stimme fort. „Aber soviel ich weiß, war sie gerade geschieden, und die grenzenlose Bewunderung und Ergebenheit eines jungen Mannes wirkte in der Situation vielleicht wohltuend. Jedenfalls hat sie ihn nicht fortgejagt. Und Karel dachte auf Grund seiner bisherigen Lebenserfahrung, daß sich die Zuneigung einer geliebten Person kaufen lasse. Er konnte ihr kaum etwas bieten, und diese Frau ist bestimmt anspruchsvoll. Ich vermag mich in seine Lage zu versetzen.“ Arglos offenbarte er mir, wie man seine eigene späte Liebesbeziehung sehen mußte. „Er knüpfte damals Kontakte zu jungen Leuten, die bei Ihrem Vater verkehrten. Ich will nicht beurteilen, was einen so bekannten Musiker dazu bewog, diese Jugendlichen um sich zu scharen. Sie gingen dort ein und aus, und sie sollen sich sehr frei benommen haben. In der Wohnung befanden sich viele Wertsachen, und mein Sohn erlag der Versuchung. Er stahl den Ring und schenkte ihn Frau Gabrielová. Herr Lukáš bemerkte bald den Verlust. Mein Name ist in Olomouc nicht völlig unbekannt, deshalb zog es Ihr Vater vor, mit mir zu sprechen, statt sich mit einem verirrten Jungen zu streiten.“ 124
„Kannten Sie sich?“ fragte ich. „Wir waren fast gleichaltrig“, antwortete er. „Beide hatten wir den Gipfel unserer Möglichkeiten erreicht, und wir gedachten dort zu verweilen. Zu Recht erwartete er, daß wir gemeinsam die Sache regeln.“ „Das ist Ihnen ja auch gelungen.“ „Es wäre gelungen, wenn diese Gabrielová nicht gewesen wäre!“ sagte er haßerfüllt. „Karel gestand den Diebstahl, aber er hatte den Ring nicht mehr. Ich gab ihm eine Frist von vierundzwanzig Stunden, sonst würde ich die Sache der Polizei melden. Karel war einverstanden. Nie zuvor hatte ich so hart mit ihm gesprochen. Was weiter geschah, kann ich nur vermuten. Karel fuhr nach Olomouc. Am Nachmittag desselben Tages erhielt ich die Nachricht, daß er sich umgebracht hatte. Den Ring fand man nicht bei ihm. Diese Frau hatte es offenbar abgelehnt, ihn zurückzugeben, und der arme Junge war verzweifelt. Zum erstenmal im Leben wußte er, daß ich eine Drohung ernst meinte. Er hatte sich nicht geirrt.“ „Sonst wäre mein Vater zur Polizei gegangen“, fügte ich hinzu. „Ich glaube kaum“, sagte Grym trocken. „Diese Musikabende sollen nicht ganz harmlos gewesen sein. Ich hätte freilich selber mit Frau Gabrielová sprechen können, aber ich wußte, daß ich dann meinen Sohn endgültig verlieren würde. Nun habe ich ihn doch verloren, und auf solche Weise!“ Er blickte auf die Zigarette, die in seiner Hand verglomm, und drückte sie im Aschenbecher aus. „Nach Karels Tod bat ich Ihren Vater, mir Zeit zu gewähren. Falls ich den Ring nicht wiederbeschaffen konnte, wollte ich den Schaden ersetzen. Ihr Vater war einverstanden – wieder aus den genannten Gründen.“ „Wurden Sie von Frau Gabrielová abgewiesen?“ „Ich war nicht bei ihr, da habe ich Sie belogen“, be125
kannte er. „Dazu konnte ich mich nicht entschließen. Mehrere Wochen lang fand ich keine Kraft dazu. Dann ist Ihr Vater plötzlich gestorben.“ „Und Sie haben aufgeatmet.“ Er versuchte, mich mit einem Blick zu maßregeln, schlug aber gleich die Augen nieder. „So darf man das nicht sehen. Die Lebensgefährtin Ihres Vaters wußte angeblich nichts vom Verlust des Ringes, sie besaß auch keine Ansprüche. Es konnten allerdings Erben existieren, die ein so wertvolles Schmuckstück vermissen würden, und einer von den Jugendlichen konnte wissen, wo sich der Ring befand.“ „Deshalb waren Sie also bei der Beerdigung meines Vaters.“ Herr Grym bestätigte das mit einem Kopfnicken. Die Unterhaltung wurde ihm immer unangenehmer, ganz im Gegensatz zu mir. „Dort haben Sie mich gesehen“, sagte ich, „den Sohn und Erben. Die Anwesenheit meines ehemaligen Mitschülers Šíma verhalf Ihnen zu meiner Bekanntschaft. Sie sind ein Mann, der schnelle Entscheidungen trifft. Ich sollte für Sie die Dreckarbeit machen.“ „Was für Dreckarbeit?“ fuhr er mich entrüstet an. „Der Ring gehört Ihnen. Sie müßten dankbar sein, daß ich Sie darauf hingewiesen habe, wo er zu finden ist. In die Hände dieser Frau ist er nicht auf ehrliche Weise gelangt. Ich bot Ihnen die Möglichkeit und die Mittel, ihn zurückzufordern.“ „Das geschah unter falschen Voraussetzungen. Sie dachten sich eine Geschichte aus, in der Vanda als leichtes Mädchen und Diebin figurierte. Beweisen oder widerlegen ließ sich das nicht. Ich sollte bei ihr den Ring sehen, und sie hätte nicht erklären können, wie sie auf ehrliche Weise dazu gekommen war. Der Name Grym, der in Olomouc nicht völlig unbekannt ist, bliebe unbefleckt.“ 126
„Durch mein Verdienst haben Sie Ihr Erbe zurückerhalten!“ „Aber Sie müssen auf Ihre Rache an Frau Gabrielová verzichten, die Sie mit meiner Hilfe aus Olomouc verjagen wollten, weil sie angeblich Ihren Sohn zum Selbstmord getrieben hat.“ Grym wurde totenbleich. Mit heiserer Stimme sagte er: „Worauf ich verzichten muß, geht Sie nichts an. Sie haben mehr bekommen, als Sie wollten. Fahren Sie heim und nehmen Sie diese Frau mit!“ „Und alle werden zufrieden sein“, kommentierte ich bissig. „Sie haben mir viele Halbwahrheiten gesagt, Herr Grym. Alle Achtung, sie passen recht gut zueinander. Als Schriftsteller kann ich das beurteilen.“ „Ich habe Ihnen die reine Wahrheit gesagt.“ „Wahr ist nur der Anfang und das Ende Ihres Märchens. Bevor Sie von dem Diebstahl sprachen, und als Sie mir erklärten, warum Sie zur Beerdigung gekommen waren. Der Kern der Sache sieht ganz anders aus. Ihr Sohn hat den Ring nicht in der Wohnung meines Vaters gestohlen. Den Ring hatte mein Vater schon vor zwei Jahren jemandem gegeben. Vanda Gabrielová soll nicht mit Schimpf und Schande aus Olomouc verjagt werden, weil sie an Ihrem Sohne schuldig geworden ist. Es ist nicht biblische Rache, was Sie dazu treibt. Ich glaube, den eigentlichen Grund zu kennen.“ „Schluß jetzt!“ Grym erhob sich. „Ich will Ihre boshaften Vermutungen nicht hören, das alles ist für mich immer noch schmerzlich und …“ Jemand klopfte leise an die Tür. Grym stockte mitten im Satz. „Ich will hier niemandem begegnen“, sagte er kopflos. „Öffnen Sie nicht!“ Ich schob ihn ins Schlafzimmer, auf dem Rückweg steckte ich den Ring in die Tasche. In der Tür stand Irma Grymová, ihre Mandelaugen 127
weiteten sich für einen Moment vor Erstaunen. Sie warf einen forschenden Blick ins Zimmer. „Darf ich hereinkommen?“ Ich nickte zur Begrüßung und als Zustimmung. Flink mobilisierte ich alle meine geistigen und seelischen Kräfte zum Selbstschutz. Das war bei der Begegnung mit einer Dame, die ein raffiniertes Luder sein sollte, durchaus notwendig. Trotzdem schielte ich unbedacht zur Schlafzimmertür, was Irma nicht entging. „Störe ich Sie?“ „Überhaupt nicht!“ „Mir war so, als hätte ich Stimmen gehört.“ „Das ist Ihnen nur so vorgekommen.“ Ich deutete auf den Sessel, den eben noch ihr Mann gewärmt hatte. Sie fragte leise: „Sind Sie allein?“ „Natürlich“, antwortete ich. Bleib dort, flehte ich im stillen Herrn Grym an. Seine Frau tänzelte zum Sessel und ließ sich anmutig nieder. Die weiße Handtasche lag in ihrem Schoß. Irma trug denselben roten Overall wie am Vortag, als sie in den Wald fahren wollte. „Ich möchte Sie um etwas bitten“, brachte sie schüchtern hervor. „Zu Ihren Diensten, gnädige Frau“, antwortete ich. Ich redete sie nicht mit Namen an, und sie piepste wie ein Vögelchen. Sofern Herr Grym keine telepathischen Fähigkeiten besaß, wußte er nicht, wer gekommen war. Frau Irma starrte mich mit so dunklen Augen an, daß man die Pupillen nicht sah, und seufzte aus tiefster Seele: „Treffen Sie sich nicht mehr mit meinem Mann, bitte!“ Wäre Grym nicht im anderen Zimmer gewesen, hätte ich wie ein Löwe aufgebrüllt. Ich wandte jedoch nur höflich ein: „Das hängt nicht nur von mir ab.“ „Ich befürchte, daß er Sie aufsuchen wird“, sagte sie gequält. „Das wird er bestimmt tun, dessen bin ich mir 128
sicher. Ich bitte Sie um alles in der Welt, vermeiden Sie eine Begegnung mit ihm!“ „Gestern waren Sie anderer Ansicht“, erinnerte ich sie. „Ich weiß“, gab sie reuevoll zu, „entschuldigen Sie, mir war die Namensgleichheit nicht bewußt. Sie sind doch …“ Sie blickte mich fragend an. Ich nickte zurückhaltend. Obwohl mir tausend Fragen auf der Zunge lagen, schwieg ich. „Mein Mann hat wegen der Affäre schon viel gelitten“, sagte sie jetzt mit lauter Stimme. „Er hält sich für schuldig an Karels Tod. Fragen Sie mich nicht warum, das steckt zu tief in ihm, ich vermag nichts dagegen auszurichten. Er ist nicht so jung oder alt genug, daß ich hoffen könnte, die Zeit würde die Wunden heilen. Zeit ist das, was uns fehlt, und ich werde um jede ruhige Minute für meinen Mann kämpfen!“ Das mußte Grym gehört haben, trotzdem griff er nicht ein. „Ich glaube Ihnen“, sagte ich, „aber Sie irren sich in der Adresse. Ich bedrohe nicht die Ruhe Ihres Mannes.“ Sie schüttelte das anthrazitfarbene Haar. „Darüber habe ich die ganze Nacht nachgedacht.“ „Nachdem Sie sich mit Frau Kavanová und Doktor Roháč getroffen haben?“ Irma verkrampfte ihre roten Krallen in dem weichen Leder der Handtasche. „Mit wem?“ Ich mußte mich beeilen. Ebenso wie sie spielte ich um Zeit. Grym konnte ungerufen hereinkommen. „Frau Kavanová und Doktor Roháč wollten von Ihnen den Ring wiederhaben, den Ihnen mein Vater geschenkt hat“, sagte ich forsch. „Sie waren seine Geliebte.“ „Das ist Unsinn!“ erwiderte sie mit hysterischem Lachen. Ich zeigte ihr das Foto, das ich dem Barkeeper Felix gestohlen hatte. Das gleiche hatte mir Roháč in der 129
Wohnung meines Vaters aus der Hand gerissen. „Das habe ich unter den Souvenirs meines Vaters gefunden.“ „Solche Fotos habe ich viele verteilt.“ Ich griff in die Tasche und legte den Ring auf das Foto. „Aber solche Aufmerksamkeiten haben Sie nicht viele bekommen.“ Flink schnappte sie nach dem Ring. Ich kam ihr zuvor. „Diesen Ring hatte Ihnen Ihr Stiefsohn gestohlen. Er glaubte, sich das ungestraft erlauben zu können. Bei den Musikabenden hatte er herausbekommen, daß Ihr Liebesverhältnis mit meinem Vater weiterbestand. Ihr Stiefsohn drohte Ihnen, das seinem Vater zu hinterbringen, sobald Sie Geschrei erheben würden. Sie wollten auf die prächtige gesellschaftliche Stellung und den exklusiven Lebensstil nicht verzichten. Der Gedanke, auf Gnade und Ungnade einem rücksichtslosen Erpresser ausgeliefert zu sein, war Ihnen jedoch unerträglich. Sie wußten, daß seine Forderungen steigen würden. Außerdem mußten Sie Ihrem Mann den Verlust eines wertvollen Schmuckstücks begründen, das Sie mit in die Ehe gebracht hatten …“ „Beweisen Sie ein einziges Wort von diesen Hirngespinsten!“ schrie Irma durchdringend. „Sie sind nicht meinetwegen hergekommen“, sagte ich. „Schließlich konnten Sie nicht wissen, wo ich in Olomouc wohne. Sie wollten zu Vanda Gabrielová, um ihr den Ring abzunötigen, dessentwegen gestern abend Frau Kavanová und Doktor Roháč bei Ihnen waren, mit derselben Drohung, mit der Sie von Karel Grym in Schach gehalten wurden. Dieses wohlgeratene Bürschchen hatte Ihnen gesagt, wo der Ring ist, als Sie ihn im Hotel ‚Bristol‘ aufsuchten.“ Irma begann zu zischen wie eine Schlange. Ich blickte unverwandt auf die Handtasche, an der sie herumfingerte. 130
„Sie haben ihn ermordet. Für eine durchtrainierte Varietékünstlerin war es kein Problem, einen betrunkenen Jungen aus dem Fenster zu werfen. Der alte Barkeeper, den Sie mit Liebe entlohnt haben, wird niemals verraten, daß Sie an dem Tage im ‚Bristol‘ waren. Sie fühlten sich völlig sicher. Ihr geliebter, unersetzlicher Mann hält den Tod seines Sohnes allein für seine Schuld, weil er angeblich zu hart mit ihm verfuhr. Aber gestern tauchte ich auf, der Sohn Ihres Liebhabers. Sie wußten nicht, daß ich schon jahrelang keinen Kontakt zu meinem Vater habe und sein Privatleben nicht kenne. Um eine Begegnung mit Ihrem Mann zu verhindern, haben Sie auf mich geschossen. Völlig überflüssigerweise. Ich denke, daß er über Ihre Untreue informiert ist und nichts davon hören will. Deshalb hat er auch versucht, Vanda Gabrielová aus Olomouc zu vertreiben, die etwas von Ihrem Stiefsohn erfahren haben konnte.“ Irma nahm eine hübsche silberne Pistole aus der Handtasche. Ehe sie auf mich zielen konnte, packte ich ihre Hand. Der Kampf war verbissen, aber kurz. Ihre Gewandtheit konnte sich mit meiner Kraft nicht messen. Ich entrang ihr die Waffe und schleuderte sie in den Sessel. Grym trat ins Zimmer, auf seinem Gesicht spiegelte sich grenzenloses Entsetzen. „Du hast Karel getötet … Warum? Er hat mir alles gesagt, bevor er nach Olomouc fuhr. Ich habe ihn hinausgeworfen …“ „Du dämlicher Kerl!“ schrie Irma. „Daß ich das nicht erraten habe! Ich hätte ihn ausgelacht!“ Grym sah die Pistole. Ich stieß Irma beiseite. Hinter meinem Rücken wurde die Tür geöffnet. „Roby“, sagte Vanda glücklich, den Arm voller bunter Kleider, „sieh mal, was ich habe! Das hat bestimmt nur halb soviel gekostet wie in Prag …“ Grym schoß auf seine Frau, traf aber nicht sie. Vanda erstarrte, ehe sie langsam zu Boden sank. 131
Irma Grymová bekam fünfzehn Jahre. Grym nur sechs, von denen er ein knappes Jahr verbüßte. Er starb in der Strafanstalt an einem Infarkt. Ihm war das Herz gebrochen. Vanda starb im Krankenhaus, und ich verließ Olomouc – für immer.
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Wie sich die Wespe ein Nest baut
Margita Urbanová bereitete sich gewissenhaft auf eine Fahrt ins Isergebirge vor. Sie kniete vor der herausgezogenen untersten Schublade einer alten Kommode, stopfte Wollpullover in eine Reisetasche und stieß mit dem Ellbogen den Schäferhund zurück, der sie spielerisch bedrängte. „Warte doch, Don! Anfang November ist es auch in der Hölle schon kalt.“ Ein Reißverschluß hakte sich an einem weißen Mohairpullover fest, und Margita fluchte leise. Die lästerlichen Worte waren jedoch ein so winziger Posten auf ihrem Sündenkonto, daß man ihn nicht zu berücksichtigen brauchte. Sie stand auf und trug die Tasche in den Flur. Dann begab sie sich in die Küche, um den Inhalt des Kühlschranks in einem großen Korb zu verstauen. Der Hund schaute ihr gierig zu. Margita streichelte ihm zärtlich den Kopf. „Du freust dich ebenso wie ich, nicht wahr, Don?“ Großzügig brach sie von einem Stück Emmentaler einige Bissen ab und warf sie dem Hund hin. Don schnappte sie dicht bei ihrer Hand, die er dann dankbar beleckte. Das Telefon klingelte. Margita wischte sich die Hände am Fell des Hundes ab, lief ins Zimmer und griff nach dem Hörer. 133
„Ich habe schon gepackt“, rief sie atemlos, „in fünf Minuten können wir aufbrechen …“ Das Strahlen ihres Gesichts erlosch. „Natürlich bin ich’s“, sagte sie nun barsch, „aber heute paßt es mir nicht und …“ Der Anrufer unterbrach sie. Margita wurde ungeduldig. „Ganz bestimmt, doch ich habe gerade keines …“ Eine Wortsalve hämmerte in ihr Ohr. Margita kniff die vollen Lippen zu einem Strich zusammen. „Das ist kein Problem“, erklärte sie herablassend, „aber mir paßt es heute nicht …“ Ein neuer Wortschwall ließ sie nicht fortfahren. „Gut“, sagte sie schließlich widerwillig. „Ich bin pünktlich und werde keine Minute warten.“ Margita warf den Hörer auf die Gabel und stützte ihr Kinn in die Hand. Ihr schönes Gesicht verzog sich boshaft, der Zeigefinger bohrte sich in die Wählerscheibe. „Urbanová“, sagte sie freundlich. „Ich brauche Geld.“ … „Das ist mir zu riskant“, erwiderte sie mit perlendem Lachen, „Ich habe eine bessere Idee.“ … „Weil ich das Geld von Ihnen kriege. Lady ist eine dumme Gans und … Hallo! Hallo!“ Das weitere vergebliche Rufen ging im Hundegebell unter. Im Flur blickte sie in den Spiegel. Sie sah ein fahles Gesicht mit unnatürlich großen Katzenaugen, das Haar schimmerte rötlich wie trockenes Buchenlaub. Die Lippen zitterten, am schlanken Hals pulsierte das Blut. Margita nahm einen gehäkelten indischen Schal vom Garderobenständer, schlang ihn um den Hals, so daß er fast den Mund verdeckte, und öffnete. Ein Mann in Manchesterhosen und einem Tweedsakko grinste sie erwartungsvoll an. „Fahren wir?“ 134
Die grünen Augen glänzten nicht mehr. „Du wirst mich noch umbringen!“ „Was hast du?“ fragte er beunruhigt. „Ich bin krank.“ Margita zitterte und hustete. „Die ganze Nacht hatte ich Fieber.“ Er blickte ungläubig und fragte: „Darf ich reinkommen?“ Sie folgte ihm ins Zimmer, das wie ein Eiderentennest ausgepolstert war, lümmelte sich in einen Klubsessel und sagte kläglich: „Ich fühle mich schrecklich elend.“ Der Mann beugte sich zu ihr, zuckte aber vor dem Schäferhund zurück, der seine Schnauze auf ihre Knie gelegt hatte. „Ich habe mich so darauf gefreut! Läßt sich denn nichts machen?“ Margita schüttelte den Kopf und küßte den Hund zwischen die Ohren. Der Mann stürzte zu Boden, umarmte ihre Beine und flüsterte erregt: „Mein Gott, ich halte das nicht mehr aus …“ Margita klappte die Lider herunter und duldete eine Weile seine Liebkosungen. Dann entzog sie sich ihm sanft, aber resolut. „Ich würde für dich sorgen“, sagte er, nachdem er sich ihr gegenüber auf einen Stuhl gesetzt hatte. „Du hättest es besser als jetzt.“ „Ich weiß“, piepste Margita dankbar. „Dann komm mit!“ „Nein.“ „Allein werde ich dort sehr traurig sein.“ „Dann bleib eben hier“, erwiderte sie. „Das habe ich deinetwegen schon zweimal gemacht“, sagte er sarkastisch. „Weißt du, wieviel Mühe es mich gekostet hat, frei zu nehmen? Ich müßte an diesem Wochenende arbeiten.“ Es freute sie, daß sie einen Mann zurückstieß, der ih135
retwegen beinahe einen wichtigen Wirtschaftszweig sabotierte. „Ich würde wirklich sehr gern mitkommen“, versicherte sie ihm, „aber es hat keinen Sinn. Wenn ich fahre, taucht Honza garantiert abends dort auf.“ „Er hat doch keinerlei Rechte mehr auf dich!“ „Honza sieht das anders. Gestern ist er hier gewesen …“ „Warum?“ Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Weil er mich liebt. Als er mich in dem elenden Zustand sah, hat er mir die ganze Nacht Tee gekocht und Fieber gemessen. Ich habe ihm gesagt, er braucht sich nicht um mich zu kümmern, ich muß heute wegfahren, aber er hat es mir verboten. Abends kommt er, und wenn er mich und den Hund nicht hier vorfindet, weiß er, wo er uns suchen muß. Wir wollen doch beide keine Szenen?“ „Nein, auf keinen Fall“, sagte er so schnell, daß Margita innerlich lachte. Im Flur fragte er hoffnungsvoll: „Vielleicht täte dir das gut?“ „Fährst du trotzdem?“ „Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig.“ „Ich bleibe hier“, erklärte sie mit Bestimmtheit. In der Wohnungstür rasselte ein Schlüssel. „Ich werde das Schloß auswechseln müssen“, sagte Margita zu Honza Urban, der am Türpfosten lehnte und beobachtete, wie der Besucher wortlos verschwand. „Was fällt dir ein, mich so zu überfallen?“ Er blitzte sie an und entblößte seine künstlichen weißen Zähne. „Freust du dich nicht?“ „Nicht ein bißchen.“ „Was du nicht sagst“, spottete er. „Ich habe dich von einem Langweiler befreit.“ „Warum soll er ein Langweiler sein? Er hat mich gern“, erwiderte sie aggressiv. 136
„Du ihn auch?“ Die dunklen Augen im narbigen Gesicht funkelten gefährlich. „Ich – ich weiß nicht“, sagte sie ratlos. „Das wäre Sicherheit …“ Das Telefon klingelte, Margita griff wie abwesend nach dem Hörer und lebte auf, als sie die Stimme vernahm. „Ja, ja … Schade!“ Honza verfolgte eifersüchtig ihr Mienenspiel. Margita beachtete ihn nicht. Ungeduldig wippte sie mit einem Fuß und hörte zu. In ihrem Gesicht konnte man lesen wie in einem Bilderbuch. „Wie du meinst“, sagte sie schließlich. „Ich werde auf dich warten. Vergiß das nicht!“ Sie legte energisch auf und drückte die Handflächen auf die glühenden Wangen. „Bist du verliebt?“ fragte er mit gedämpfter Stimme. Margita löste sich gewaltsam aus der Trance und entlockte sich ein wenig überzeugendes Lächeln. „Ich?“ Honza sagte ätzend: „Du tust mir leid, Margita! Wie lange soll das noch so weitergehen? Auch deine Jugend ist mal vorbei, und aus diesen Liebschaften wird nie etwas Festes.“ „Und wenn ich nichts Festes will? Ich habe doch alles, was ich brauche. Mehr erstrebe ich nicht …“ Er trat zu ihr und packte die Enden des Schals. „Gestern hast du noch etwas anderes behauptet! Lüg mir nichts vor, Margita, ich kenne dich doch von allen am besten.“ Margita rang nach Atem. Die Hände, die sie würgten, sanken kraftlos herunter. Der Mann fuhr sich über die Stirn. „Begreifst du nicht, daß es für alle diese Herren nur eine Prestigefrage ist, deinen Skalp in ihrer Sammlung zu haben?“ sagte er bedrückt. „Du bist eine Trophäe, meine Liebe, und wirst nie mehr etwas anderes sein! Mit so einer kann man sich höchstens in der Kneipe brüsten …“ 137
„Das ist nicht wahr“, erwiderte sie empört. „Es ist wahr, und du weißt das.“ Margita warf heftig die Schalenden über die Schulter. „Was willst du dann hier, du mieser Kerl, wenn ich als Frau nichts wert bin?“ sagte sie unter hysterischem Schluchzen. Der Hund kam wie ein schwarzer Gedanke geschlichen und blieb unschlüssig zwischen ihnen stehen. „Du wolltest immer nur ein Dummchen, das treu auf dich wartet und deine Erfolge bewundert! Und jetzt, wo ich endlich eine Chance habe und jemanden kenne, der nicht bloß an sich selber denkt, willst du alles kaputtmachen. Hau ab! Verschwinde und laß dich nie mehr blicken! Gib mir die Schlüssel wieder, du …“ Sie schluchzte. Urban betrachtete nun den geneigten Kopf mit einem ganz anderen Ausdruck. Er legte das Schlüsselbund auf den Tisch und ging leise hinaus. Margita wusch sich das Gesicht und trug etwas Wimperntusche auf. Mehr war bei ihrem Teint nicht vonnöten, was sie genau wußte. Sie nahm das Gepäck, pfiff nach dem Hund und schritt zur Tür. Don tobte vor Freude. Mit der schweren Tasche und dem Korb ging sie die gewundene Treppe hinunter, der Hund wich nicht von ihrer Seite. Ein bananengelber Škoda-Garde parkte vorschriftswidrig auf dem Gehsteig. Margita schloß den Wagen auf. Der Hund sprang sofort hinein und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Sie scheuchte ihn auf den Rücksitz. Der gut eingestellte Motor sprang gleich an. Ein Stück hinter ihr löste sich vom Bordstein ein anderes Auto. Margita bemerkte es nicht, glücklich darüber, wie gut sie alles bewältigt hatte. Sie verließ den Prager Stadtteil Vinohrady und fuhr auf die Nord-SüdMagistrale. In zwei Stunden würde sie sich wie im Himmel fühlen. 138
Leutnant Petr Bort blickte auf die fast kahlen Bäume. Der Himmel war grau wie die Flügel von Wildtauben. Bort beneidete den Wald, der sich zum Winterschlaf rüstete. Er hatte in letzter Zeit kaum zwei bis drei Stunden täglich geschlafen. Der Wald erwacht nach wenigen Monaten und gibt sich wieder der Illusion hin, unsterblich zu sein. Ich habe keine törichten Illusionen mehr, dachte Bort. Bäume leben länger als Menschen, und für das gefallene Laub, durch das ich wate, wird ihnen der Boden jahrelang dankbar sein. Nach dir kräht schon heute kein Hahn mehr. Was wolltest du denn – in die Geschichte eingehen? Dort zählen allerdings keine vergeblichen Bemühungen, sondern Taten. Auch in der Geschichte der Kriminalistik, dieser häßlichen und blutigen Historie des zwanzigsten Jahrhunderts. Jammere nicht über dich selber! Bis vor kurzem warst du noch der Dienstjüngste bei der Prager Kriminalpolizei. Deinen ersten großen Fall hast du total vermasselt. Das Mädchen, dem du fast ein Jahr lang versichert hast, nächste Woche bestimmt Zeit für sie zu haben, hat dich zu Recht verlassen. Dir ist nichts geblieben. Null Komma nichts. Bort trat wütend auf einen trockenen Ast. Das Knacken klang wie ein Pistolenschuß. Viel hast du im Dienst nicht geschossen. Zwei- oder dreimal, dazu in die Luft mit einem warnenden Zuruf. Na und? Wolltest du etwa auf Menschen schießen? Bort stieß den morschen Ast beiseite. Erst mußt du dich einmal ausschlafen, du bist kaum noch zurechnungsfähig. Und weil dich kein hübsches Mädchen in den Schlaf wiegt, trampele schön auf trockenes Laub und laufe mindestens zwanzig Kilometer … Am Abend zuvor hatte er in der hiesigen Gastwirtschaft zwei hübsche Mädchen gesehen. Die Rothaarige, vor Vitalität sprühend wie eine Wunderkerze, beachtete 139
nicht die schamlosen Blicke der Waldarbeiter und der Männer aus dem Sägewerk, die an dem Abend – es war Zahltag – fleißig ihre Leber feuchteten, und steuerte geradewegs auf das Telefon in der Küche zu. Die Blonde blieb unentschlossen an der Theke stehen. Sie hatte graublaue Augen, und ihre Haut war noch im November sonnengebräunt. Bort, der in einer Ecke seinen Schlaftrunk zu sich nahm, sah deutlich die goldenen Härchen unter den Ohren und den feinen Hals. Das Mädchen bemerkte seinen hungrigen Blick. Es schlug den Kragen des hellblauen Anoraks hoch und trat ein Stück zurück. Ihre Augen ruhten unverwandt auf dem Rücken des anderen Mädchens. In der Küche kreischte ein Transistorradio, in der Gaststube lärmten die Betrunkenen, und im Speiseraum brachte das Fernsehen gerade die Abendnachrichten. Bort spitzte vergeblich die Ohren. Die Rothaarige knallte den Hörer auf die Gabel und drehte sich um. Bort sah ein weißes Gesicht und gelbgrüne Augen, wie er sie nur bei Rassekatzen kannte. Sie klopfte mit ihrem Ring, einem kunstvoll eingefaßten grünen Stein, auf die Theke und rief: „Ich zahle!“ Nur an der Bewegung der Lippen erkannte Bort, daß die Blonde etwas wisperte. „Nein“, erwiderte die Rothaarige. „Aber morgen ist auch ein Tag …“ Die Blonde begann zu zittern. Der Wirt schlurfte in einem schmuddeligen Kittel hinter die Theke, goß zwei Kräuterlikör ein und stellte sie vor die Mädchen. „Ich habe nichts bestellt“, erklärte die Rothaarige, „und kein Geld bei mir. Das Gespräch nach Prag …“ Bort griff hoffnungsvoll in die Tasche. Der Wirt winkte ab. „Vergessen Sie’s, junge Frau. Und das ist eine Aufmerksamkeit …“ „Prost, Margita!“ rief vom Kartentisch ein schnurrbärtiger Förster und hob sein Glas. 140
Die Rothaarige blickte sich um, lächelte strahlend und kippte fachmännisch den Alkohol in die Kehle. Das andere Glas reichte sie der Blonden, die aussah, als brauchte sie auf dieser Welt nichts mehr. „Trink das aus“, befahl Margita, „und mach dir keine Sorgen.“ „Wie soll ich mir keine machen? An allem bin ich schuld! Ich hätte nicht …“ Die weiteren Worte gingen im Stimmengewirr unter. „Er hätte das bedenken müssen, wenn ihm so viel daran liegt“, erklärte Margita hart. „Was kümmern dich seine Schwierigkeiten?“ Die Blonde sank beinahe zu Boden. Margita stützte sie und preßte mit fester Hand das Glas an ihren Mund. „Sei nicht dumm, Lady, begreifst du das nicht? Das ist ein schäbiger Egoist. Er will alles umsonst haben. Und warum auch nicht? Aber nicht auf unsere Kosten. Keine Angst, ich werde schon dafür sorgen, daß er zahlt …“ „Setz dich zu uns, Margita“, rief ein angetrunkener Förster, „und bring deine hübsche Freundin mit, sie sieht so traurig aus …“ Margita schüttelte lächelnd den Kopf, faßte die Blonde am Arm und führte sie hinaus. Bort leerte schnell sein Glas, aber bevor er zahlen konnte, waren die Mädchen verschwunden. So ging er allein in die prächtige Hütte, die niemals „Herr“ zu ihm sagen würde, und dachte an die beiden schönen Mädchen, von denen keines in seinen Armen einschlief. Er schlief lange und wachte mit klarem Kopf auf, so klar wie der Vollmond in einer Sommernacht. Nicht der Schatten eines Traums hatte den Schlaf begleitet, und das war schlecht. Seine bunten Träume entschädigten ihn für die graue Wirklichkeit. Bort hatte einen steilen Berg erklommen, der von 141
mehreren Felsbrocken gekrönt wurde. Sie wirkten wie aufgeschichtete gußeiserne Blöcke. In den Spalten vegetierte Heidelbeerkraut, braungraue Wurzeln längst toter Fichten krochen wie Schlangen über das Gestein. Die Sonne hing über Stümpfen grausam abgehauener Bäume. Der taubengraue Morgennebel wurde allmählich blaßblau und löste sich auf. Leutnant Bort, ein vorzeitig angegrauter, aber erst zweiunddreißigjähriger sportlicher Mann, stand am Rand der Schlucht, ohne daß ihm schwindlig wurde. Der Fels bildete ungleichmäßige Stufen und endete unten bei einem Steingewirr, das Borts Gedanken zu spiegeln schien. Er nahm die dickrandige Brille ab, die er als kühlen Reifen auf der Nase spürte, putzte die Gläser mit dem Jackenärmel und blinzelte eine Weile in das beruhigende Helldunkel. Plötzlich vernahm er klägliche, herzzerreißende Laute. Bort zuckte zusammen und taumelte, beinahe wäre er aus der Höhe eines fünfstöckigen Hauses hinuntergestürzt. Er setzte schnell die Brille wieder auf. Zwischen Steinbrocken, die mit graugrünen Flechten und stellenweise mit Moos bewachsen waren, glänzte etwas. Ohne sich damit aufzuhalten, einen Weg zu suchen, kletterte Bort mit der Gewandtheit eines gut trainierten Bergsteigers den felsigen Abhang hinunter. Es war ein herrlicher Hund mit rot flammenden Augen. Eine Pfote blutete. Bort blieb vier Schritte vor ihm stehen und musterte ihn vorsichtig. Der Hund legte die Ohren an und winselte. Der Leutnant schnalzte beschwichtigend. Da sah er eine schmale weiße Hand mit verkrampften Fingern. Sie ragte aus dem Steinhaufen hervor, als riefe sie um Hilfe. Auf einem Finger flimmerte giftig ein Ring mit einem grünen Stein. Der Hund winselte wieder, seine Zähne scheuerten sich an dem Stein, unter dem der Arm verschwand. In 142
der morgendlichen Waldesstille war das ein gespenstischer Laut. Bort half dem Hund, und obwohl er wußte, was er sehen würde, ließ ihn der Anblick erschaudern wie eine Erscheinung der Apokalypse. Der Hund heulte auf und beleckte das Gesicht der Toten, das zur Hälfte mit geronnenem Blut bedeckt war. „Platz!“ sagte Bort leise. Der Hund gehorchte. Er legte seine Schnauze auf den weißen Pullover, den die Tote trug, und hob seine bernsteinfarbenen Augen. Bort hatte einmal gelesen, Tränen seien ein Vorrecht des Menschen, aber der Hund weinte wirklich. „An einer Felswand in der Nähe des Wasserfalls“, erklärte Bort. „Genauer kann ich den Ort nicht bestimmen, ich bin zum erstenmal hier.“ „Sie sagen, daß sie tot ist“, versicherte sich nochmals ungläubig Wachtmeister Nygrýn, der einzige Gesetzeshüter in der Gemeinde Josefův Důl. „Wie haben Sie das festgestellt?“ „Sehen Sie sich das selber an!“ forderte ihn Bort auf. „Aber benachrichtigen Sie vorher die Kripo. Und beeilen Sie sich, bitte!“ Der Wachtmeister schürzte seine Lippen und durchbohrte sie mit einer Zigarette. „Was haben Sie dort gemacht?“ krächzte er wie ein kugelfester Sheriff aus dem Wilden Westen. „Ich bin im Wald spazierengegangen.“ Bort griff ungeduldig nach dem Telefon. Eine harte Hand fiel eine Sekunde früher auf den Hörer und hielt ihn fest. „Kennen Sie die Frau?“ blaffte der Wachtmeister. Bort unterdrückte das Verlangen, ihm auf die Finger zu hauen. „Ich habe sie einmal gesehen. Vergeuden Sie keine Zeit, inzwischen könnte sie jemand anderes finden und das wäre …“ 143
Der Wachtmeister unterbrach ihn mit der strengen Frage: „Warum sind Sie nicht dort geblieben?“ „Und wen sollte ich zu Ihnen schicken – etwa den Hund?“ „Was für einen Hund?“ „Einen deutschen Schäferhund. Er rührt sich nicht vom Fleck. Hören Sie …“ „Wie sieht die Frau aus?“ „Rotes Haar, grüne Augen, ungefähr dreißig Jahre. Sie heißt Margita.“ „Mein Gott …“ Der Wachtmeister schüttelte den Kopf, als hätte er links und rechts Ohrfeigen bekommen. „Margita?“ „Kennen Sie die Frau?“ Bort beugte sich über den Tisch. „Stammt sie von hier?“ Wachtmeister Nygrýn fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wobei er offenbar sein Gehirn an die richtige Stelle rückte. „Aber Sie haben eben behauptet, Sie würden sie nicht kennen“, erklärte er drohend. Bort schlug verzweifelt mit der Faust auf den Tisch. „Rufen Sie an und melden Sie, daß es hier zu einem tödlichen Unfall gekommen ist. Die Tote wurde acht Uhr fünfzehn von Leutnant Bort von der Prager Kriminalpolizei gefunden, und neun Uhr zwei hat er Ihnen das gemeldet.“ Er sah auf die Uhr. „Sie quatschen schon vierzehn Minuten Unsinn.“ „Sie sind …“, erkundigte sich der Wachtmeister erstaunt. „Rufen Sie endlich an, verdammt!“ Wachtmeister Nygrýn sperrte seinen Mund so weit auf, daß beinahe die Kinnlade aushakte. „Sie kommen in zwanzig Minuten“, erklärte er, nachdem er angerufen hatte, und mit deutlich gezwungener Subordination fügte er hinzu: „Entschuldigen Sie, Genosse Leutnant. Wenn Sie sich gleich vorgestellt hätten, wäre es schneller gegangen.“ 144
Bort verkniff sich eine bissige Bemerkung und sagte nur: „Ich führe Sie hin, und dann gehe ich den Genossen entgegen. Haben Sie Angst vor dem Hund?“ „Don kennt mich“, sagte der Wachtmeister düster, während er seine Pistole umschnallte. „Das ist der Hund von meinem Freund Honza Urban. Hören Sie, wollen Sie nicht lieber allein zurückgehen? Ich warte hier, die Stelle im Walde finde ich leicht.“ „Kommt nicht in Frage“, erwiderte Bort. „Ich bin hier nur eine Privatperson. In dem Falle höchstens Zeuge. Ganz bestimmt werde ich mich nicht mehr einmischen als nötig.“ Im Widerspruch zu seiner kategorischen Erklärung fragte er, kaum daß sie das winzige Dienstzimmer im Parterre einer alten deutschen Villa verlassen hatten: „Ich würde wetten, daß der Hund keinem Mann, sondern ihr gehört hat. Ein bißchen kenne ich mich mit Hunden aus.“ „Was ist das für ein Hund?“ fragte der Wachtmeister. „Ein schwarzbrauner Schäferhund. Jung – höchstens vier Jahre.“ „Das ist Don.“ „Aber so wie er verhält sich ein Hund nur bei seinem Herrn“, wandte Bort ein. „Don hat immer Margita mehr gemocht. Deshalb hat ihr Honza den Hund gelassen.“ „Wann hat er ihn ihr gelassen?“ fragte Bort, schon ein wenig gefesselt. „Nach der Scheidung“, brummte der Wachtmeister unwillig. „Ach so.“ Eine Weile stapften sie schweigend den Weg entlang, der durch ein enges Tal in den Wald führte. In der Mitte floß ein Bach. An beiden Ufern seines steinigen Bettes nisteten Hütten. „Hier wohne ich momentan“, sagte Bort und zeigte 145
auf ein schönes Holzhaus. „Das hat mir ein Freund überlassen.“ „Doktor Rohan“, sagte der Wachtmeister. „Kennen Sie ihn?“ Nygrýn nickte und blickte über den Bach. Am Hang leuchtete ein Sportwagen wie eine riesige Pampelmuse. „Ihr Auto. Mein Gott, was wollte sie bloß zu der Jahreszeit hier?“ „Wohnt sie nicht in Josefův Důl?“ „Nicht mehr.“ Die angeborene Neugier, dank derer sich Bort die Reputation eines guten Spürhunds erworben hatte und in kurzer Zeit von der Verkehrs- zur Kriminalpolizei aufgestiegen war, meldete sich unabweislich. Der Leutnant vergaß sein Fiasko und den unerschütterlichen Vorsatz, mit dem er aus Prag in diesen mehr oder weniger unfreiwilligen Erholungsurlaub gefahren war. Wie ein Alkoholiker, der mit vergeblich unterdrückter Gier nach der lange entbehrten Schnapsflasche greift, fragte er zögernd: „Stammen die Urbans von hier? Haben sie hier Verwandte?“ „Honza Urban hat die Hütte von seinen Eltern geerbt. Sie sind gestorben, bevor er geheiratet hat.“ „Demnach gehört sie ausschließlich ihm, nicht wahr? Wie kommt es, daß sich seine geschiedene Frau dort aufhielt? So etwas ist nicht gerade üblich.“ „Honza ist großzügig“, belehrte ihn der Wachtmeister. „Außerdem nutzt er die Hütte kaum selber, er ist doch dauernd unterwegs oder spielt im Ausland.“ Bort blieb stehen. „Jan Urban – der Eishockeyspieler?“ „Ja“, sagte der Wachtmeister stolz, als hätte er ein persönliches Verdienst an der Karriere des Mannes, der in der ersten Liga und in der Nationalmannschaft gespielt hatte. „Wann wurden die Urbans geschieden?“ 146
„Ungefähr vor zwei Jahren.“ „Und seitdem ist er nicht hier gewesen?“ „Doch, ab und zu. Margita kam regelmäßig.“ „An den Wochenenden?“ „Auch mitten in der Woche. Sie ist – sie war Krankenschwester und hat oft Überstunden abgebummelt. So eine Hütte muß gelüftet, geheizt und gepflegt werden, damit sie nicht verkommt.“ „Das kostet aber allerhand.“ „Honza hat alles finanziert, für ihn ist Geld kein Problem. Margita war gern hier.“ Sie ließen die letzte Hütte hinter sich und befanden sich nun auf einem steinigen Waldweg. Die Sonne vertrieb den Morgennebel und kletterte tapfer an den krummen Baumstämmen hoch, als hätte sie sich vorgenommen, ihren Novemberrekord im Stabhochsprung zu überbieten. Bort seufzte und stürzte sich in Gedanken in die trüben Wasser einer gescheiterten Ehe. „Mit wem ist sie hergekommen?“ Der Wachtmeister zuckte die Schultern. „Was weiß ich …“ „Aber allein nicht.“ „Ich habe nicht auf sie aufgepaßt.“ „Gestern abend habe ich sie in der Gastwirtschaft gesehen, mit einem Mädchen, Margita nannte sie Lady. Sagt Ihnen der Name etwas?“ „Das ist ein Hundename“, antwortete der Wachtmeister grinsend. „Eine hübsche Blondine, etwas jünger als Margita Urbanová – die Haarfarbe ist bei einer Frau allerdings nie ein untrügliches Merkmal.“ „Kenne ich nicht“, erwiderte Wachtmeister Nygrýn abweisend. „Margita hat nach Prag angerufen. Nach dem Gespräch war sie ziemlich verärgert. Vielleicht hat sie mit ihrem Mann gesprochen“, überlegte Bort laut. 147
„Kaum“, sagte der Wachtmeister. „Margita und Honza haben sich gut verstanden.“ Als ein mit feuchtem Laub bedeckter Pfad steil in den Wald abbog, sagte Bort: „Ich warte hier. Sie müssen jeden Moment kommen.“ Bort blickte zurück. Hinter ihnen lag ein anmutiges Tal, leicht von Rauch verhangen, der aus den Schornsteinen der Hütten stieg. Es wurde von einem Berg begrenzt, der durch die gelichteten Baumkronen gut sichtbar war. Auf der Straße kroch ein Traktor mit einem holzbeladenen Hänger entlang. Die mächtigen Stämme, die von weitem wie Splitter aussahen, ließen sich bei der klaren Luft beinahe zählen. Irgendwo kreischte eine Kreissäge. Auf dem Weg, den sie eben verlassen hatten, klirrte Pferdegeschirr. Bort fröstelte. Als wäre in einem Projektor ein Dia ausgewechselt worden, verdeckte ein anderes Bild diese friedliche Szene: Wild aufgetürmte Felsen und ein Schäferhund mit menschlich verzweifelten Augen. Er bewachte den Leichnam einer Frau, die er als seine Herrin betrachtete. Petr Bort kannte das Verhalten von Hunden, und er war Bergsteiger gewesen. Seine Erfahrungen sagten ihm, daß auf diesem Bild etwas nicht stimmte. „Ist Urban nach der Scheidung auch allein hergekommen?“ „Soviel ich weiß, war er jedesmal mit Margita hier.“ Bort betrachtete ihn zweifelnd. „Soviel Sie wissen …“ Der Wachtmeister reagierte beleidigt. „Josefův Důl ist nicht Prag, Genosse Leutnant, sondern ein Dorf, wo nichts verborgen bleibt. Was ich nicht weiß, das ist unwichtig. Urbans waren geschieden, aber wenn sie hier waren, haben sie sich nicht wie Geschiedene benommen.“ Auf der Landstraße, auf der sich immer noch der Traktor mit dem Hänger entlangschleppte, tauchte ein 148
schnell fahrendes Auto auf. Es überholte riskant das lange Gefährt und verschwand in einer Serpentine, die sich in den Hang einschnitt. „Das sind sie“, sagte Bort. „Jetzt hat es keinen Sinn mehr, daß Sie vorausgehen.“ Die Steinplatte auf der Bergspitze war nur stellenweise mit Flechten und Moos bewachsen. Der Felsen bildete auf der westlichen Seite eine fünfzehn Meter tiefe Treppe, während er im Osten sanft zu einer Lichtung abfiel, wo Heidelbeeren und Krüppelfichten in gelbgrauem Gras versanken. Leutnant Bort und Leutnant Richtr standen bei einem riesigen Baumstumpf, der wie der Thron des Waldteufels emporragte. Bort setzte sich respektlos hin. Richtr steckte die Hände in die Taschen und betrat vorsichtig die Steinplatte. „Ganz schön glatt.“ Bort als Bergsteiger bemerkte Richtrs Halbschuhe und grinste. „Sie hatte Kletterschuhe an.“ Er fühlte sich wieder müde. Am liebsten hätte er bis zum Abend geschlafen, dann in der schmutzigen Kneipe gegessen und danach bis zum Morgen weitergeschlafen. Das war ihm offenbar nicht vergönnt. Bort, diese Polizistenseele, stellte das Prestige der Gruppe, der er so kurze Zeit angehörte, über alles, und Richtr hatte die richtige Taste angeschlagen, als er an die Hilfsbereitschaft seines Kollegen appellierte. Richtr überwand vorsichtig die letzten vier Meter auf dem schlüpfrigen Felsen und blickte hinunter in die Schlucht. In seinem sonnenbraunen Gesicht spiegelten sich abwechselnd Entsetzen, Mißtrauen und Beunruhigung. „Komm her!“ Bort erhob sich wie ein achtzigjähriger Greis und glitt nach wenigen unvorsichtigen Schritten aus. Mit klammen Fingern hielt er sich an einem Büschel Heidelbeergesträuch fest, so daß er nicht nach hinten rollte. Er 149
fluchte, raffte sich auf und schritt dann vorsichtiger auf Richtr zu. In der Schlucht malte ein uniformierter Polizist etwas in sein Notizheft. Zwei weitere warteten bei der Leiche, die in eine Zeltplane eingewickelt war, ein vierter fotografierte den stufenförmigen Felsen. Wachtmeister Nygrýn hielt den Hund am Fell fest und tätschelte ihn besänftigend. Don drückte sich an seine Beine und drehte den Kopf ratlos von einer Seite zur anderen. Leutnant Richtr stampfte erregt auf und sagte: „Guck hierher!“ Bort richtete seine Augen auf die Stelle zwischen Richtrs eleganten Halbschuhen und seinen ausgelatschten Kommißtretern. Auf einer Fläche von ungefähr einem Quadratmeter sah er zerstampftes Moos und zerrissene Flechten, die an ausgezupfte graue Barthaare erinnerten. Dann ließ er den Blick über den Felsen bis zu dem Haufen aus Steinen und dürren Ästen gleiten, der die Leiche bedeckt hatte. „Wenn sie abgestürzt ist, konnte sie nicht dorthin fallen. Da hätte sie mit Anlauf springen müssen.“ „Wenn sie ausgerutscht wäre, hätte sie zu dem Baumstumpf zurückkullern müssen, auf dem du gerade eingeschlafen bist“, ergänzte Richtr. „Die Äste sind nicht von oben auf sie gefallen. Sieh mal – sogar von hier aus erkennt man, daß sie zu der Leiche geschleppt wurden.“ Bort beugt sich zur Felswand vor. „Also haben hier zwei miteinander gerungen. Ich kann mir schlecht vorstellen, daß Frau Urbanová mit einem Freudentanz die aufgehende Sonne begrüßt hat.“ Leutnant Richtr rümpfte die Nase über diesen Zynismus. Er trat waghalsig nahe an den Abgrund und rief: „Seht nach, wo die Äste und Steine ursprünglich gelegen haben. Sie sind ziemlich groß, vielleicht findet ihr Spuren.“ Zu Bort gewandt, fuhr er fort: „So schwer sind die 150
Steine nicht, daß eine Person sie nicht tragen konnte. Was meinst du?“ Bort antwortete mit einem müden Kopfnicken. „Der Hund hinkt wie der Teufel“, bemerkte Wachtmeister Nygrýn beunruhigt vor der Urbanschen Hütte und bückte sich zu Don, der seine rechte Vorderpfote beleckte. Leutnant Richtr ging wortlos auf den schmalen Eingang in der Fichtenhecke zu. Bort schlich ums Auto, wischte die beschlagenen Scheiben ab und blickte hinein. „Du hast dir eine Zehe gebrochen, du Tölpel“, sagte Nygrýn zu Don. „Das ist nicht so schlimm, das verheilt …“ „Bestimmt ist das passiert, als er versucht hat, die Steine wegzuscharren“, meinte Bort. Nygrýn bückte sich wieder zu dem Hund. „Nein … Dabei hat er sich nur die Schnauze zerschunden. Sie blutet noch ein bißchen.“ Don streckte ihm bereitwillig die Pfote entgegen. „Das ist ein völlig verdorbener Hund“, sagte Bort abfällig. Er fühlte sich zu einem solchen Urteil berechtigt, denn er war einst Hundeführer bei den Grenzsoldaten gewesen. „Don hat Vertrauen zu den Menschen“, erwiderte Nygrýn vorwurfsvoll. „Bisher hat ihm niemand etwas Böses getan. Sie scheinen nicht zu wissen, wie die Ausbildung von Diensthunden aussieht. Damit sie scharf werden, tritt man ihnen auf die Pfoten und verdreht ihnen die Ohren. Ich könnte so etwas nicht.“ „Dann schaffen Sie sich einen Pinscher an“, spottete Bort. Plötzlich stutzte er. „Was meinen Sie, wie alt ist die Verletzung?“ „Mindestens vierundzwanzig Stunden. Eher mehr.“ „Sind Sie sicher?“ „Ganz sicher“, erklärte Nygrýn. „Sehen Sie, der Grind ist schon trocken. Gestern hat ihm die Pfote bestimmt 151
höllisch wehgetan, so daß er kaum damit auftreten konnte.“ „Wenn Ihnen dieser Hund gehörte, würden Sie ihn mit der verletzten Pfote in schwieriges Gelände mitnehmen?“ „Auf gar keinen Fall.“ „Sie haben doch gesagt, daß Frau Urbanová jeden Morgen mit dem Hund in den Wald gegangen ist.“ „Ja, sie hat immer einen weißen Lappen am Halsband befestigt, damit die Förster den Hund erkennen. Don ist nicht an die Leine gewöhnt, und sie erschießen jeden streunenden Hund.“ Bort betrachtete das fast schwarze Tier. Don trug kein Halsband. „Wie bricht sich ein Hund eine Zehe?“ fragte er mehr sich selber als den Wachtmeister. Auf den beigefarbenen Schonbezügen im Wagen zeichneten sich dunkle Schmutzflecken ab. Bort stellte sich vor, wie die schöne Rothaarige einstieg und ihr der Hund nachstürzte. Manche Hunde fahren leidenschaftlich gern Auto. Er hatte selber ein solches Tier besessen. Zufälligerweise war es auch ein deutscher Schäferhund gewesen, ein Veteran der Grenztruppen. Nach den Vorschriften sollte er getötet werden, aber wegen seiner besonderen Verdienste – des Hundes, nicht der eigenen – durfte ihn Bort behalten. Der Hund wußte stets vorher, daß sie irgendwohin fahren würden. Er saß neben dem Wagen und wartete, und kaum wurde die Tür geöffnet, sprang er hinein. Einmal brach er sich dabei eine Zehe. „Sie haben recht“, sagte Nygrýn. „Margita hätte bestimmt keinen lahmen Hund in den Wald mitgenommen.“ „Wir werden die Haustür aufbrechen müssen“, ließ sich Leutnant Richtr hinter der Fichtenhecke vernehmen. „Hast du denn keine Schlüssel?“ fragte Bort verwundert. 152
„Woher denn? Sie hatte nur ein gebrauchtes Taschentuch bei sich.“ „Moment“, sagte Wachtmeister Nygrýn. Er ging mit dem Hund, der treu an seiner Seite hinkte, auf einem Trampelpfad durch welkes hohes Gras zu drei morschen Treppenstufen. Aus einem Spalt unter der Schwelle angelte er einen großen Schlüssel hervor, den er triumphierend in die Höhe reckte. „Bitte, schon als kleiner Junge hat Honza hier den Schlüssel, versteckt.“ Der Flur war so schmal, daß die Männer hintereinander laufen mußten. Don drängte sich rücksichtslos an die Spitze und legte die linke Vorderpfote auf die Klinke der Zimmertür. Leutnant Richtr stieß ihn zurück und öffnete. Der große Raum glich einem Jagdzimmer. Auf einem Ledersofa, auf Klubsesseln und Korbsesseln vor dem Kamin, in dem man ein Spanferkel braten konnte, lagen Schaffelle. An den geweißten Rauhputzwänden hingen Wildschweinfelle, Geweihe und Kupferpfannen, den gedielten Fußboden bedeckte ein handgewebter Teppich, in einer Ecke stand ein Tonkrug mit nachlässig arrangierten trockenen Gräsern und frischen Ebereschenzweigen voller roter Beerentrauben. Im Zimmer war es kühl. Bort faßte an den Nachtspeicherofen. Der Ofen war durch Ketten, die an einer Metallstange hingen, den Blicken verborgen. Er brannte, hatte aber den Raum noch nicht erwärmt. „Das war früher eine Glasschleiferei“, sagte Wachtmeister Nygrýn. „Honzas Großvater hat hier noch gearbeitet. Er ist an Silikose gestorben.“ Bort trat ans Fenster, das auf die Straße blickte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals sah er seine derzeitige Heimstatt. Er sehnte sich heftig nach dem Bett. Beim Umdrehen streifte er den Strauß im Tonkrug. Die trockenen Gräser verstreuten ihren Samen auf dem Fußboden. 153
Im anderen Zimmer dieser typischen Isergebirgshütte schien die Vormittagssonne auf Wände aus rohen Balken. Ein massiver Tisch, umgeben von einer Eckbank und Stühlen mit geschnitzten Lehnen, war für zwei Personen gedeckt – Zwiebelmusterporzellan, Besteck mit Holzgriffen und all der Schnickschnack der aus der Notwendigkeit der Nahrungseinnahme eine Tafelzeremonie macht. Man brauchte sich nur hinzusetzen und bedienen zu lassen. Das saubere Geschirr glänzte, die weißen Serviettentüten ragten neben blitzenden Gläsern in die Höhe, der Beaujolais in einer vollen Flasche flimmerte verheißungsvoll. Nur die Kerzen mußten sich zu dieser Tageszeit überflüssig vorkommen. In der anderen Zimmerecke stand eine zum Schlaf vorbereitete Doppelbettcouch. Don bohrte seine Schnauze in das breite, für zwei Personen bestimmte Deckbett und winselte kläglich. Es war eine freundliche, warme Stube, die nach Holz, guten Zigaretten und einer jungen Frau roch. Nichts hätte einem Mann hier gefehlt – höchstens diese Frau. Auf dem Toilettentisch mit ovalem Spiegel versprachen Dosen und Fläschchen mit durchweg französischen Etiketten, daß sie wiederkommen würde. Im gekachelten Herd glühten Reste von Holzscheiten. Eine angebrochene Flasche schottischer Whisky der Marke Ballantines langweilte sich auf der Arbeitsplatte. Bort forschte gewohnheitsmäßig nach benutzten Gläsern. Er entdeckte nur eines auf der Wäschetruhe, die den Nachttisch ersetzte. Es stand neben einem Aschenbecher mit nur halb aufgerauchten Zigaretten. Ein fingerbreit Alkohol, der Farbe nach unverdünnt, bedeckte noch den Boden des Glases. Bort mußte sich bezähmen, um nicht das Glas auszutrinken und eine angerauchte amerikanische Zigarette zu nehmen. Wer so mit den teuren Glimmstengeln umging, mußte entweder sündhaft verschwenderisch oder sehr nervös sein. Vielleicht 154
hatte sich Frau Urbanová auf etwas Unangenehmes vorbereitet. Oder im Gegenteil – sie konnte auch auf etwas ungeduldig gewartet haben … Leutnant Richtr schob geräuschvoll den mindestens zwei Kilogramm schweren Riegel an der niedrigen Tür beiseite, die in ein tiefes Verlies zu führen schien. Es entpuppte sich als Anbau mit mehreren modern ausgestatteten Räumen, wodurch die alte Hütte auf das Niveau einer komfortablen Villa gehoben wurde. Das Badezimmer war mit Importfliesen gekachelt, die Sauna besaß einen elektrischen Ofen, in der Speisekammer standen neben Regalen voller Tuzexkonserven ein Kühlschrank und eine große Tiefkühltruhe. Die Männer blickten einander an und seufzten einträchtig. Durch die letzte Tür kam man auf einen kleinen gepflasterten Hof. Zwischen den Steinen wuchs Gras. Das Grundstück grenzte an den Fichtenwald, der hier und dort mit dem schon erblassenden bunten Schimmer von Laubbäumen geschmückt war. „Hier fehlen nur ein Swimmingpool und ein Gästezimmer“, sagte Bort, als sie ins Haus zurückgekehrt waren. „Aber vielleicht gönnen sie anderen kein solches Glück.“ „Ich kenne keinen gastfreundlicheren Menschen als Honza Urban“, entgegnete Wachtmeister Nygrýn gekränkt. „Oben sind zwei Schlafzimmer, das eine war früher der Heuboden. Und ein Schwimmbecken wollte er auch bauen lassen, sogar ein beheizbares, weil Margita ein bißchen verpimpelt war.“ Bort wandte sich von der Herdplatte ab, über der er sich die Hände gewärmt hatte, und blickte gierig auf die Whiskyflasche. Nur mit eiserner Willenskraft widerstand er dem Verlangen, einen Schluck zu nehmen, unter das Federbett zu kriechen und zu schlafen, während Leutnant Richtr den Fall der verwöhnten Rothaarigen und ihres beschränkten Exgatten aufklärte. 155
„Sie hat jemanden erwartet“, erklärte Richtr hellsichtig, „aber offenbar ist er nicht erschienen. Wenigstens nicht der Richtige und zur richtigen Zeit.“ Richtr bedachte Bort mit einem finsteren Blick. „Oder glaubst du, daß es ein Unfall war?“ Bort sank schlaff auf die Eckbank und schüttelte den Kopf, um die Rädchen seines müden Hirns in Gang zu bringen. Richtr hielt das für die Bestätigung seines fatalen Gedankens. „Die Todesursache und das Ausmaß der Verletzungen können selbstverständlich erst bei der Obduktion festgestellt werden“, sagte er, „doch meiner Ansicht nach konnte sie nicht ohne fremde Nachhilfe vom Felsen stürzen. Wer kann das gewesen sein?“ „Die Blondine“, krächzte Bort angestrengt. „Was für eine Blondine?“ „Die junge, hübsche, mit der Margita Urbanová gestern abend in der Kneipe war.“ Lechzend blickte er auf die Flasche. „Das sagst du mir erst jetzt?“ fuhr ihn Richtr an. „Ich habe es schon Wachtmeister Nygrýn mitgeteilt und angenommen, daß er dich mit meiner Aussage vertraut macht“, entgegnete der Zeuge Petr Bort. Von Richtrs niederschmetterndem Blick verstört, erklärte Nygrýn: „Ich dachte, das hat mit dem Fall nichts zu tun.“ „Das Denken überlassen Sie lieber uns!“ Nygrýn wagte zu polemisieren. „Ich kenne hier jeden, das Mädchen ist nicht aus dem Ort, und Sie sehen doch, daß hier niemand außer Margita übernachtet hat.“ „Sie kann in einer anderen Hütte wohnen“, bemerkte Bort und schielte wieder zur Flasche. „Was hast du in der Gastwirtschaft gesehen?“ zischte Leutnant Richtr, rot wie ein Truthahn. „Einen Doppelten.“ „Was?“ 156
„Könnte ich einen Doppelten aus der gastfreundlichen Urbanschen Whiskyflasche haben? Ich brauche etwas zum Aufmuntern, sonst schlafe ich ein.“ Richtr wandte sich an Nygrýn: „Geben Sie ihm schon was!“ Der Wachtmeister goß widerwillig einen Schluck des Destillats in ein sauberes Weinglas. „Sie ist wohl mit dem Abendzug weggefahren“, sagte Bort, von dem erfrischenden Trunk gedopt. „Nach Smržkova oder was weiß ich, vielleicht bis Jablonec. Das ließe sich feststellen.“ „Ja, das sind nur zwei Wagen, und meistens fast leer“, erklärte Nygrýn. Bort gab zu bedenken: „Es kann auch anders sein. Wenn die Blonde an dem Abend irgendwohin mußte, hätte Frau Urbanová nicht getrunken und sie mit ihrem Wagen hingebracht …“ „Erfahre ich endlich, was gestern abend in der Gastwirtschaft vorgefallen ist?“ fragte Leutnant Richtr wütend. „Margita Urbanová erschien dort mit einem blonden Mädchen, das sie Lady nannte. Sie stellte die Blonde an der Theke ab und stürzte gleich zum Telefon. Der Apparat befindet sich in der Küche, aber Frau Urbanová drehte mir den Rücken zu, und in der Gaststube war es so laut, daß ich kein Wort von dem, was sie sagte, verstanden habe. Die Blonde war verschüchtert wie ein Mäuschen, das in eine Ecke getrieben wurde. Dagegen gebärdete sich Frau Urbanová wie eine gereizte Katze. Von der Unterhaltung verstand ich nur soviel, daß die Lady um einen Kerl zitterte. Ihm drohte ein Malheur, das sie ihm eingebrockt hatte. Frau Urbanová empfahl ihr nachdrücklich, den Herrn in seinem eigenen Saft schmoren zu lassen. Das gefiel der Lady nicht. Offenbar meinte Frau Urbanová, daß ihre Freundin die Lage nicht beherrschen würde, also beschloß sie, die Sache 157
in ihre Hände zu nehmen. Ich denke, daß sie den Mann in Prag angerufen hat, daß das Gespräch nicht nach ihren Vorstellungen ausgefallen ist, aber daß sie ohne Rücksicht auf Ladys Haltung nicht nachzugeben gedachte.“ „Ist das alles?“ fragte Richtr nach einer kurzen Pause. „Sie tranken einen Kräuterlikör, den ihnen ein strammer Jägersmann spendiert hatte, und gingen. Es war dreiviertel sieben – plus minus drei Minuten – eher plus.“ „Daß Sie sich so genau erinnern können“, bemerkte Nygrýn giftig. „Als Frau Urbanová telefonierte, begannen im Fernsehen die Abendnachrichten. Es war also achtzehn Uhr dreißig. Die Sendung dauert zehn Minuten. Die beiden sind gegangen, als die Nachrichten gerade zu Ende waren. Ich weiß das so genau, weil ich wegen der beiden interessanten Schönheiten den Anblick unserer hübschen Ansagerin versäumt habe. Aber die beiden waren sehenswerter.“ „Sie sind also gemeinsam gekommen und weggegangen“, stellte Leutnant Richtr fest. „Vielleicht hat diese Lady hier geschlafen? Lady ist doch bestimmt ein Spitzname.“ Wachtmeister Nygrýn deutete auf das Kopfkissen, das nur die Einbuchtung von einem Kopf aufwies. „Mit Margita in einem Bett, eng umschlungen wie Geliebte?“ fragte er amüsiert. „Warum nicht?“ erwiderte Bort mit zweideutigem Lächeln. Der Abschnittsbevollmächtigte der Gemeinde Josefův Důl wurde rot wie eine Pfingstrose. Bort fuhr sachlich fort: „Frau Urbanová hat jemanden erwartet. Eine Frau, die mit solcher Sorgfalt einen Tisch für ein Abendessen zu zweit deckt, schleppt keine Freundin mit nach Hause.“ „Sie hat ihren Gast noch heute früh erwartet“, sagte 158
Richtr, „weil sie den Schlüssel unter die Schwelle gelegt hat.“ „Das halte ich für unwahrscheinlich. Der Schlüssel ist einfach zu groß, man kann ihn in keine Tasche stecken. Übrigens liegt er seit Urzeiten unter der Schwelle, wie wir von Wachtmeister Nygrýn wissen. Ich würde meinen, daß sie morgens niemanden mehr erwartete und enttäuscht – oder bei ihrem Temperament eher wütend – in den Wald gegangen ist. Den Hund ließ sie hier. Er hatte eine verletzte Pfote, und ein gewissenhaftes Frauchen würde einen lahmen Hund nicht mitnehmen. Dafür spricht noch mehr. Obwohl Don ein verhätscheltes Tier ist, stammt er doch aus einer guten Zucht. Instinkte lassen sich nicht unterdrücken. Wenn jemand seine Herrin anfiele, würde er sie verteidigen. So ein Hund reagiert blitzschnell und kann mancherlei.“ Don schien zu verstehen, daß über ihn gesprochen wurde, und legte seine Schnauze auf Borts Knie. Der Leutnant kraulte ihm den Hals. „Wie bist du in den Wald gekommen, Don?“ fragte er das sprachlose Geschöpf, das ihn mit vielsagenden Augen ansah. „Wer hat dich rausgelassen?“ Leutnant Richtr goß sich eine ordentliche Portion Whisky ein, und während er den Blick auf den Strahl richtete, der aus der eckigen Flasche floß, fragte er Bort: „Machst du mit?“ „Ich? Kommt nicht in Frage.“ „Warum nicht?“ „Ich habe Urlaub.“ „Könntest du ihn nicht unterbrechen?“ „Das könnte ich nicht“, antwortete Bort mit unechtem Bedauern. „Es ist nämlich Erholungsurlaub.“ „Was fehlt dir?“ „Nichts.“ Richtr stellte das Glas hin, aus dem er nicht einmal 159
genippt hatte. „Wenn das Schwierigkeiten machen sollte: Unser Alter ist mit deinem Chef befreundet.“ Bort winkte ab. „Danke, aber ich sehe keinen Grund, warum ich mich hier einmischen sollte. Das ist euer Fall, und Wachtmeister Nygrýn wird dir nützlicher sein als ich.“ „Unsinn“, entgegnete Richtr. Nygrýn machte ein Gesicht, als würde er verkannt. „Frau Urbanová hat in Prag gelebt. Wo werden also Ermittlungen nötig sein? Wenigstens dort könntest du für mich herumstochern. Du hast sie gefunden und hast schon einen Überblick.“ „Nur, wenn ich das als Dienstauftrag kriege“, sagte Bort verstockt. „Doch bevor ich wieder in Prag bin, hast du alles längst geklärt.“ Vor dem Haus bremste ruckartig ein Wagen. Don, der schon eine Weile unruhig war, kratzte mit erwartungsfrohem Winseln an der Tür. Wachtmeister Nygrýn sah aus dem Fenster und erbleichte. Den Mann, der aus einem schwarzen Fuego stieg, brauchte niemand vorzustellen. Das narbige Gesicht mit den schmalen dunklen Augen kannten in der ČSSR, einem Volk von Eishockeyfans, alle Männer von acht bis achtzig. Urban war auch das Idol mancher Frau. Der ein Meter neunzig große und über neunzig Kilo schwere „Big Johnny“, wie er von seinen Verehrern liebevoll genannt wurde, blieb in der Tür stehen, die zu seiner Figur paßte wie das Sakko eines jüngeren Bruders. „Was ist das hier für eine Versammlung, Gusta?“ fragte er kühl den Wachtmeister. Er stieß den Hund beiseite, der sich an seine Beine schmiegte, und trat ein. „Wo ist Margita?“ Nygrýn sagte mit tonloser Stimme: „Polizei, Honza. Das ist Leutnant Richtr vom Kreisamt, und das …“ Urban unterbrach ihn. „Was ist los?“ 160
Bort, der sich nicht einzumischen gedachte, meinte nun, für diesen Mann wäre ein plötzlicher harter Schlag, wie er es beim Eishockey gewöhnt war, am besten. „Frau Urbanová ist ein Unglück zugestoßen.“ „Was ist passiert?“ „Sie ist tot.“ Um Urbans Mund vertieften sich die senkrechten Falten, unter dem rechten Auge im plötzlich grauen Gesicht schwoll eine Narbe rot an. Der riesige, gebieterische Kerl, der bisher den Raum gefüllt hatte, verwandelte sich in ein Häufchen Protoplasma. Während seines Dienstes bei der Verkehrspolizei hatte Bort ähnliche Situationen erlebt. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß es in einem solchen Fall am besten ist, ununterbrochen zu reden, selbst Banalitäten zu sagen, aber um jeden Preis den Kontakt mit dem Betroffenen aufrechtzuerhalten. Ihm weder einen hysterischen Ausbruch noch stille Verzweiflung zu erlauben. „Mein Name ist Bort“, begann er wie ein Spinnrad. „Frau Urbanová kannte ich vom Sehen – ich bin ihr eigentlich nur einmal begegnet – und heute früh habe ich sie gefunden …“ „Wo ist sie?“ „Man hat sie schon weggebracht“, antwortete Richtr. Urban ballte die Fäuste. „Waren es Tabletten?“ In Richtrs Augen blitzte es. „Nahm sie Drogen?“ Urban blickte ihn an, als sähe er im Alkoholrausch eine Schar weißer Mäuse oder eine Herde rosa Elefanten. Er trat an den Tisch und stützte sich mit beiden Händen auf einen Stuhl, der unter dem Gewicht knarrte. Richtr ließ sich nicht beirren. „Als Krankenschwester hatte sie doch Zugang zu Medikamenten. Haben Sie einmal bemerkt …“ „Ich will sie sehen!“ forderte Urban barsch. Leutnant Richtr, der im stillen wütete, daß er anstelle des Geplausches nicht Margita Urbanovás Sa161
chen untersucht hatte, erklärte rücksichtslos: „Das wäre kein schöner Anblick. Frau Urbanová ist von einem Felsen gestürzt. Als man sie fand, kam jede Hilfe zu spät.“ Urban sank auf den Stuhl und schaute Richtr mit erloschenen Augen an, als hätte dieser hebräisch gesprochen. Wachtmeister Nygrýn beugte sich zu Urban und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Leider ist das so, Honza“, sagte er leise. „Es ist oben beim Wasserfall passiert.“ Urban schwankte auf dem Stuhl. Er nahm Nygrýns Hand von der Schulter, und seine Augen flammten auf. „Das ist Unsinn! Margita kannte hier jeden Stein – das weißt du doch, Gusta!“ „Es sieht auch nicht nach einem Unfall aus“, sagte Richtr. „Möglicherweise wurde sie von jemandem gestoßen.“ Bort verzog mißbilligend den Mund, und gegen seine Absicht, sich still zu verhalten, fragte er: „Wußten Sie, daß Ihre geschiedene Frau hier ist?“ „Kurz, bevor sie abgefahren ist, habe ich mit ihr gesprochen“, antwortete ihm Urban dankbar, als wären das die ersten vernünftigen Worte, die er hier gehört hatte. „Und Sie sollten wissen: Ich habe sie nicht für meine ‚geschiedene‘ gehalten!“ „Haben Sie erwartet, sie hier allein anzutreffen?“ Urban lehnte sich zurück und legte die rechte Hand auf die Brust. Er war wieder der zähe Bursche, der seine Tore schießt, ohne mit der Wimper zu zucken. „Nein“, antwortete er ausdruckslos. „Margita konnte nicht länger als eine Nacht allein schlafen.“ Bort meinte, Urban habe sich ein bißchen zu schnell gefaßt, wußte jedoch nicht, ob bei einem körperlich und psychisch trainierten Leistungssportler andere Maßstäbe galten als bei Durchschnittsmenschen. 162
„Wußten Sie, wer bei ihr sein würde?“ platzte Richtr heraus. „Ingenieur Otokar Husník. Der Mann, der ihr das Auto verschafft hat. Übrigens ist es noch nicht bezahlt.“ Richtr und Bort tauschten Blicke, Wachtmeister Nygrýn sah seinen großzügigen und edelmütigen Freund mit schmerzlichem Vorwurf an. „Woher wissen Sie, daß sie Husník erwartet hat?“ „Als ich gestern nachmittag zu Margita kam, war er bei ihr. Aus Angst, daß ich ihn die Treppe runterwerfe, ist er gleich weggerannt wie ein aufgescheuchtes Huhn.“ Der harte Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. „Husník ist eine Lusche. Ein paar Minuten später hat er sie angerufen. Und sie wollte wegfahren.“ „Haben Sie ihr gesagt, daß Sie herkommen würden?“ „Gestern hatte ich gar nicht die Absicht, das zu tun.“ „Und was hat Sie dazu bewogen?“ Urban musterte erstaunt die drei Männer, die ihn fragend ansahen. „Soll das ein Verhör sein?“ Nygrýn wandte verschämt den Blick ab, Bort begann mit einem Taschentuch seine Brille zu putzen. Leutnant Richtr verzog keine Miene. „Wann sind Sie in Prag losgefahren?“ „Gegen halb elf habe ich in Mladá Boleslav getankt. Der Tankwart hat sich mit mir über Eishockey unterhalten“, antwortete Urban sachlich. „Und dann sind Sie geradewegs hierher gefahren?“ „Ich habe in Mnichovo Hradiště angehalten. Weil ich spät aufgestanden bin, habe ich zu Hause nicht gefrühstückt. Inzwischen war ich hungrig wie ein Wolf.“ Er umfaßte mit seiner Pranke die dunkle Hundeschnauze, die sich in seine Achselhöhle gebohrt hatte. Don winselte vor Schmerzen. Urban betrachtete die abgeschürfte Haut an der Nase des Hundes und fragte mit blassen Lippen: „War er dabei?“ 163
„Ich habe ihn dort gefunden“, antwortete Bort, „aber möglicherweise ist er erst später hingelaufen.“ Der Hund blickte schuldbewußt zu Urban auf und gab klägliche Laute von sich. Urban drückte sein Gesicht zwischen die angelegten Hundeohren. „Ich weiß, Kamerad, du hättest dein Frauchen nicht …“ Leutnant Richtr grinste über diese Sentimentalität. Bort erinnerte sich an die Unruhe des Hundes, als sich Urbans Wagen der Hütte erst näherte. Die Vermutung, Margita Urbanová wäre an Dons Seite vor einem unbekannten Gewalttäter sicher gewesen, verwandelte sich in Gewißheit. „Der Hund war offenbar im Haus geblieben“, sagte er, „aber jemand muß ihn herausgelassen haben. Die Haustür war zugeschlossen, und der Schlüssel lag unter der Schwelle. Was den Herrn betrifft, der mit Frau Urbanová herfahren oder allein nachkommen wollte, so zeugt nichts davon, daß er hier war. Eher scheint sie vergeblich auf ihn oder einen anderen gewartet zu haben.“ Bort zeigte auf den gedeckten Tisch. „Husníks Hütte ist nur eine Viertelstunde von hier entfernt“, sagte Urban trocken. „Übrigens ist er verheiratet.“ „Ich weiß, wo er wohnt“, meldete sich eifrig Wachtmeister Nygrýn. „Soll ich mal nachsehen gehen?“ Er schritt zur Tür. Urban erhob sich und folgte ihm mit drohender Miene. Bort hielt ihn zurück. „Einen Moment bitte! Kennen Sie ein hellblondes Mädchen um die fünfundzwanzig, das von Frau Urbanová Lady genannt wurde?“ „Ja“, antwortete er lauernd. „Was ist mit ihr?“ „Hat Frau Urbanová Sie gestern abend angerufen?“ Urban setzte sich wieder und betrachtete Bort mit leicht zusammengekniffenen Augen. „Nein. Warum fragen Sie nach Lady?“ „Gestern abend war sie mit Frau Urbanová in der hie164
sigen Gastwirtschaft. Ihre geschiedene – Ihre Frau hat von dort aus telefoniert, aber das Gespräch betraf wohl eher eine Angelegenheit der anderen. Irgendwelche unangenehmen Dinge, die Ihre Frau für ihre Freundin erledigen wollte. Wahrscheinlich ging es um Geld.“ Urban fragte mit unverhohlener Neugier: „Ist Lady in der Klemme? Was wissen Sie darüber?“ Bort antwortete mit einer Gegenfrage: „Wie heißt sie und wo wohnt sie?“ „Milada Rendlová. Sie hat mit meiner Frau im Purkyně-Krankenhaus gearbeitet.“ „Warum glauben Sie, daß sie es war?“ „Soviel ich weiß, ist sie vor etwa zwei Monaten nach Jablonec gezogen“, sagte Urban in einem Tonfall, der das ‚soviel ich weiß‘ überflüssig machte. „Alle nennen sie Lady.“ „War sie mit Frau Urbanová befreundet?“ „Sogar sehr eng, ich würde sagen zu eng.“ „Warum sind Sie eigentlich hergekommen?“ fragte Leutnant Richtr, der ungeduldig dem Gespräch über ein Thema gelauscht hatte, das er vorläufig nicht auszuweiten gedachte. Urban antwortete zögernd: „Das ist unwichtig …“ „Wir entscheiden, was wichtig ist“, erwiderte Richtr steif. „Nun?“ Urban wirkte wie jemand, der sich entschließt, in kaltes Wasser zu springen. „Heute früh war ich auf der Sparkasse“, berichtete er langsam. „Am Giroschalter habe ich erfahren, daß gestern jemand einen Scheck über zehntausend Kronen vorgelegt hat. Unterschrieben war er von Margita.“ „Hatten Sie und Ihre geschiedene Frau ein gemeinsames Girokonto?“ fragte Richtr verwundert. Die Überwindung, die Urban die Antwort kostete, verriet deutlich, welche Qual ihm das Gespräch über die Einzelheiten seiner gescheiterten Ehe bereitete. „Nach 165
der Scheidung haben wir uns geeinigt, daß sie das Konto behält.“ „Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht mehr unterschriftsberechtigt waren? Warum hat man Sie dann bei der Sparkasse informiert, daß …“ „Nicht doch“, unterbrach ihn Urban gereizt, „damals habe ich nichts verändert! Ich habe ihr einfach gesagt, daß ich das Geld nicht anrühren werde.“ „Wieviel Geld war auf dem Konto?“ „Knapp dreißigtausend“, sagte Urban gleichmütig, als sei das eine geringfügige Summe. Der Eishockeyfan Petr Bort wußte, daß kanadische Klubs ganz andere Beträge geboten hatten, um Urban zu bekommen. Allerdings waren seitdem mehrere Jahre verflossen. „Und heute – nach zwei Jahren – haben Sie Ihre Großzügigkeit bereut.“ „Wenn ich jemals etwas bereut habe, dann ging es bestimmt nicht um Geld! Das Konto habe ich wirklich die ganze Zeit nicht angerührt, meine Unterschriftsberechtigung war rein formal. Heute wollte ich das streichen lassen.“ ‚Nachdem du bei deiner Geschiedenen deinen potentiellen Nachfolger angetroffen hast‘, dachte Petr Bort. ‚Dieser Ingenieur Husník mag vorläufig verheiratet sein, einer flüchtigen Geliebten schenkt man kein Auto.‘ „So brauchte Sie der Scheck doch nicht zu interessieren“, stellte Richtr fest. Urban preßte die Zähne zusammen, so daß auf den Wangen Beulen hervortraten. „Ich werde Ihnen nicht erzählen, wie mein Verhältnis zu Margita war. Das würden Sie sowieso nicht verstehen …“ ‚Du wirst, Junge!‘ versicherte ihm Bort schweigend. „Der Scheck war nicht gedeckt“, fuhr Big Johnny fort. „Ob Ihnen das paßt oder nicht, ich habe mir Sorgen ge166
macht. Was Geld betrifft, war Margita schrecklich leichtsinnig, aber ich wollte nicht glauben, daß sie einen Scheck über eine Summe ausgestellt hat, die den Kontostand so sehr übersteigt.“ „Wieviel ist auf dem Konto?“ „Reichlich dreitausend.“ „Und der Scheck lautete auf zehntausend?“ Urban nickte düster. „Sie wissen natürlich nicht, wer ihn einlösen wollte“, bemerkte Richtr und schielte voller Genugtuung zu Bort hinüber, ‚Ich habe dir doch gesagt, daß das ein Prager Fall ist …‘ Urban griff in die Tasche seines Parkas, reichte Richtr einen Zettel und sagte abschätzig: „Pavel Klem, Pod vrškem 7, Praha 4. Das Mädchen am Schalter hat sich den Namen notiert, als sie den Kontostand nachprüfte. Sie glaubte nicht, daß sich Margita um eine so große Summe irren konnte. Aber der Scheck war in Ordnung, und der Mann auch.“ „So hat er ein Drittel von den zehntausend bekommen?“ fragte naiv der stets insolvente Petr Bort, der niemals ein Scheckheft besessen hatte. „Er hat gar nichts bekommen“, sagte Urban mit mitleidigem Lächeln. „Wenn auf dem Konto nur fünf Heller von der Summe gefehlt hätten, wäre der Scheck nicht ausgezahlt worden.“ „Man hat ihm also den Scheck zurückgegeben?“ „Mit Bedauern.“ Urban erhob sich. „Wollen Sie nach Prag zurück?“ fragte Leutnant Richtr. Er wußte, daß es nur peinliche Beflissenheit wäre, Urban gegen seinen Willen festzuhalten. Der Besuch bei der Prager Sparkasse bot dem geschiedenen Mann Margita Urbanovás für die Tatzeit ein unumstößliches Alibi, das sich leicht überprüfen ließ. „Nein.“ Urban goß sich ein Glas puren, ungekühlten Whisky ein und trank es in zwei Zügen aus. 167
„Wir werden die Hütte und hauptsächlich Frau Urbanovás Sachen untersuchen müssen“, erklärte Richtr. „Sie brauchen nicht dabeizusein, wenn Sie das nicht möchten …“ „Ich bleibe hier und besaufe mich. Haben Sie was dagegen?“ sagte Big Johnny drohend und bediente sich erneut mit der Whiskyflasche. Durch das dämmrige Tal schwammen Rauchschwaden. Bort saß an einem eisernen Ofen und trug mit Hilfe von trockenem. Holz, das ein dankbarer Patient in Doktor Rohans Schuppen aufgestapelt hatte, ausgiebig zu dem Rauchvorhang bei. Unter dem Vorwand, nach Schnee Ausschau zu halten, blickte er immer wieder aus dem Fenster. Hinter dem Bach, kaum zweihundert Meter Luftlinie entfernt, leuchteten matt die Fenster der Urbanschen Hütte. Bort schob überflüssigerweise ein weiteres Scheit in den glühenden Ofen, verbrannte sich die Finger und fluchte. Er ging wieder zum Fenster und preßte die Stirn an die beschlagene Scheibe. Dort drüben betrinkt sich ein Mann bis zur Bewußtlosigkeit, dachte er. Oder vielleicht betrinkt er sich nicht. Seit wir Urban verlassen haben, sind fast sechs Stunden vergangen. Ich vertrage viel, wenn ich in guter Kondition bin, habe aber keine Vorstellung, wieviel ein Schwergewicht wie Big Johnny verkraftet. Vielleicht ist ihm schon der Alkohol ausgegangen. Wenn er nun dort allein dasitzt, inmitten schwarzer Gedanken, allmählich nüchtern wird und nur die endlose Nacht vor sich hat. Es ist November, der traurigste Monat des Jahres, und bis Tagesanbruch dauert es noch lange. Bort erinnerte sich an eine andere Nacht vor wenigen Wochen. Damals war er ebenfalls todmüde, in den letzten fünf Tagen hatte er nur wie ein Hase in der Jagdzeit geschlafen. Er wußte, daß es dem anderen ebenso er168
ging, ja eher noch schlimmer. Darauf verließ er sich, als er sich hinlegte. Man weckte ihn zwei Stunden später, damit er den Mann, den er für einen verstockten Mitwisser gehalten hatte, ins Leichenhaus bringen ließ. Dieser Mann war ein Mörder, er war am Ende, und er hätte wohl gestanden, wenn er am selben Tage weiter vernommen worden wäre. Seit diesem Tag hörte Bort auf, sich auf sein Urteilsvermögen und seine Intuition zu verlassen. Weil er das fälschlicherweise getan hatte, war er jetzt hier, in einem abgeschiedenen Winkel des Isergebirges. Er überlegte, ob er zu Urban gehen sollte. Schließlich ist Urban nicht völlig allein, er hat doch den Hund. Don, das völlig verzogene, herrliche, edle Tier. Petr Bort, seit kurzem ein Misanthrop, aber schon immer ein Liebhaber deutscher Schäferhunde, fluchte leise und nahm seine Wattejacke, die wie nasses Hundefell roch. Er versicherte sich, daß das Feuer erlöschen würde, und wählte aus Doktor Rohans Alkoholvorräten, die wie das Holz eine Gabe von Patienten waren, eine Flasche aus. Mit hochgeschlagenem Kragen begab er sich zu der Hütte, in der ein Junge aufgewachsen war, der inzwischen zwei Kontinente bereist hatte. Die Luft war klar und sehr kühl. Am Himmel hing der blasse, sichelförmige Mond. Über ihn zogen Wolken, die zerrissenen Spitzen ähnelten. Morgen früh wird es frieren, urteilte Petr Bort froh, als er den schmalen Steg über den Bach überschritten hatte und den Hang hinaufstieg. Es wird ein glitzernder Morgen, und ich werde über raschelndes, bereiftes Laub durch den Wald schlendern, in einer ganz anderen Richtung als heute. Jeden Tag werde ich nicht auf eine tote Schöne stoßen. Die gelbweißen karierten Gardinen ließen warmes Licht durch und verwehrten den Blick ins Innere. Dahinter konnte manches verborgen bleiben – von Liebes169
spielen bis zum Delirium tremens. Bort ging von einem Fenster zum anderen und suchte vergeblich einen Spalt, durch den er erkennen konnte, worauf er sich einzustellen hatte. Auf dem Hof spürte er plötzlich Dons warmen Körper an seiner Wade. „Wo ist dein Herrchen, Don?“ flüsterte Bort und kraulte den Hund hinter den Ohren. Don beleckte ihm mit rauher Zunge die Hand und winselte selig. Die Tür des Anbaus stand offen, Bort trat ein und tastete im Dunkeln nach dem Eisenring, der außen die Klinke der Stubentür ersetzte. Auf dem Fußboden zersplitterte Glas, Bort wich unwillkürlich zurück. Dabei trat er dem Hund auf die Pfote. Der gute Kerl jaulte auf, aber packte nicht zu. In der Tür stand Big Johnny. „Don“, sagte er vorwurfsvoll, „was hast du wieder gemacht, du Biest!“ „Das war ich“, bekannte Bort und trat in das helle Rechteck der Türöffnung. „Entschuldigen Sie …“ Urban knipste Licht an. Im Schein einer schmiedeeisernen Lampe erblickte Bort ein Gesicht, das offenbar schon lange Zeit in Spiritus gelegen hatte. Unter den Augen, die Schlünden eines erloschenen Vulkans ähnelten, hingen violette Säcke. Urban schwankte jedoch nicht und schien völlig bei Sinnen zu sein. „Was machen Sie hier?“ Er artikulierte zu sorgfältig, um Bort täuschen zu können. „Entschuldigen Sie“, wiederholte Bort, „ich hätte ans Fenster klopfen sollen, aber der Hund hat mich hereingeführt. Von gegenüber habe ich gesehen, daß Licht brennt. Da habe ich gedacht, wir könnten gemeinsam ein Gläschen trinken.“ Er streckte die Hand mit der Flasche aus. Die trüben Augen hellten sich auf. „Kommen Sie rein!“ Bort schob mit den Füßen die Scherben beiseite, trat sorgfältig die Füße ab und ging hinein. 170
Im Zimmer hatte sich nur wenig verändert: Der Tisch war abgeräumt, und darauf standen zwei Flaschen, die bis zum letzten Tropfen ausgepreßt waren. Bort stellte flink seinen grusinischen Kognak dazu. „Sie rauchen wohl nicht?“ „Selten.“ Urban brachte zwei Gläser und goß sie halb voll. „Zum Wohl!“ Er kippte den Kognak in sich hinein, als wäre es eine Medizin, von der sein Leben abhing, und schenkte sich sofort nach. „Ich hätte wohl mehr mitbringen sollen“, dachte Bort laut und benetzte artig die Lippen. „Wer sind Sie?“ Urbans Gesichtszüge hatten sich nach dem großen Schluck gefestigt. „Wir haben uns heute mittag gesehen, erinnern Sie sich nicht?“ „Ja. Wer sind Sie?“ „Ich heiße Petr Bort und bin der Mann, der Ihre Frau gefunden hat.“ Urban ergriff sein Glas, trank aber nicht. „Wie hat sie ausgesehen?“ Bort senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Mußte sie sehr leiden?“ fragte Urban mit einer Stimme, die zerbröckelte wie ein Salzklümpchen. „Denken Sie nicht daran.“ Bort erhob sein Glas, was Urban jedoch nicht wahrnahm. „Das kann ich nicht. Margita ertrug keine Schmerzen, obwohl sie anderen unbekümmert welche zufügte.“ „Warum haben Sie sich von ihr getrennt?“ „Ich?“ fragte Urban erstaunt. „Ich hätte meine Margita verlassen? Sie sind wohl verrückt!“ „Sie sind doch geschieden“, erinnerte ihn Bort. Urban kippte ein weiteres Glas ebenso mitleidlos wie das vorige in seine Kehle, über seine Augen schob sich eine Zellophanfolie. „Wir haben uns scheiden lassen, damit wir weiter zusammenleben können.“ „Das ist mir zu kompliziert.“ 171
„Ich habe schon gesagt, daß Margita nicht zwei Nächte hintereinander allein schlafen konnte“, erklärte Urban mit ungewöhnlich gutem Gedächtnis. „Aber ich war höchstens drei Monate im Jahr zu Hause. Begreifen Sie nun?“ „Ja, doch sie hatte bei Ihnen ein Leben, wie sie es sich selber nicht leisten konnte. Mußte sie sich sehr verstellen, damit Sie nichts merken?“ „Margita hat mich nie belogen“, entgegnete Urban gefühlvoll. „Sie hatte mich viel zu gern.“ In seiner Stimme plätscherte nun der Alkohol. „Solche Offenheit ist eigentlich nur sehr bequeme Rücksichtslosigkeit. Hat sie denn gemeint, Ihnen würde das nichts ausmachen?“ „Mir hat das etwas ausgemacht. Sogar sehr viel. Solange wir verheiratet waren, war das nicht zum Aushalten.“ Er trank wieder und bekannte arglos: „Ich habe sie geschlagen. Und nicht nur einmal. So ging das nicht mehr weiter. Aber ohne sie leben – das konnte ich mir nicht vorstellen.“ „So haben Sie nach der Scheidung keine Treue verlangt, aber das feine Leben haben Sie ihr weiter gesichert?“ „Sie konnte tun, was sie wollte, und ohne Gewissensbisse“, erklärte Urban mit schon stark behinderter Zunge. „Und mich haben meine Kumpel nicht mehr ausgelacht, weil ich ein Idiot bin, den seine Frau laufend betrügt.“ Don öffnete die Tür, an der sein Herr nicht den Riegel vorgeschoben hatte, lief im Zimmer umher und legte sich schließlich in den Klubsessel am Ofen. Die kalte Luft, die hereinströmte, ließ Urban erschauern. Bort erhob sich, um die Tür zu schließen. Als es ihm gelungen war, den widerspenstigen Riegel zu bewegen, bemerkte er, daß der Pegelstand in der Flasche erneut gesunken war. 172
„Du bist mir einer“, sagte er. „Sie läßt sich scheiden, weil du sie schlägst, aber gestattet dir, weiter für sie zu sorgen. Das ist recht ungewöhnlich, nicht wahr?“ „Mir ist das egal.“ Urban goß sich den restlichen Kognak ein. „Aber wenn du in Prag warst, gehörte sie nur dir?“ Big Johnny sah ihn mit glasigen Augen an und lallte: „Wer bist du denn, Mann?“ „Ein Polizist“, antwortete Bort in der Hoffnung, dieses Wort würde Urban ernüchtern. Er irrte sich. Urban stemmte die Ellbogen auf den Tisch, um sein eckiges Kinn in die Hände sinken zu lassen. „Ich hätte auch die Zehntausend für sie bezahlt, wenn …“ „Wenn sie Ihnen dafür versprochen hätte, anständig zu sein?“ Urbans Arme sanken herunter, das Glas stürzte um, der dunkle Lockenkopf fiel auf die Tischplatte. „Alles war umsonst“, jammerte Big Johnny in die Kognakpfütze. „Meine Margita! Was soll ich ohne sie machen? Ich bin aus der ersten Liga in die Division abgestiegen …“ Bort hob den Eishockeyspieler auf, der einen halben Kopf größer und mindestens fünfundzwanzig Kilo schwerer war als er. Urban half bemüht, aber wirkungslos. Es dauerte eine Weile, bis ihn Bort aufs Bett geschleppt hatte. Er zog ihm die Schuhe aus und blickte dann traurig auf das wächserne Narbengesicht, auf den gestählten Körper, der siegreich aus allen Kämpfen auf dem Eis hervorgegangen war. Ihn hatte ein einziger, genau gezielter Schlag niedergeschmettert. Bort deckte den schnarchenden Schläfer zu. Er wußte nicht, was er noch für ihn tun konnte, so drehte er sich um und ging auf Zehenspitzen hinaus. Don geleitete ihn kameradschaftlich bis zur Fichtenhecke.
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Bis zum Morgen war der Ofen erloschen. Bort erwachte im warmen Bett, aber seine Nase war kalt wie eine Hundeschnauze. Der Gedanke an den Hund ließ ihn schnell aus dem Bett springen. Barfuß lief er über die kalten Dielen und blickte aus dem Fenster. Der schwarze Fuego stand noch immer hinter dem bananengelben Coupé, aus dem Schornstein der Urbanschen Hütte stieg eine dünne Rauchsäule senkrecht zum Himmel. Der Atheist Petr Bort faßte das als Zeichen auf, daß Gott seinem verirrten Schäfchen Jan Urban gnädig war. Der erfolgreiche Sportler war in den Augen des verkrachten Kriminalisten nichts anderes als ein Hammel, der aus Liebe zu einer durchtriebenen Schäferin verblendet war und sich acht Jahre lang an einer Kette führen ließ, die er für ein Seidenband hielt. Aus Richtrs Notizblock, in den Bort scheinbar unabsichtlich hineingeschaut hatte, war zu entnehmen, daß Margita im Alter von knapp dreiundzwanzig Jahren geheiratet hatte. Ihr Bräutigam war damals zwanzig, aber bis heute – eigentlich bis gestern – wirkte sie viel jünger als er. Spitzensportler altern schnell, und Lieben verjüngt eine Frau. Bort hatte in einem ähnlichen Fall Erfahrungen gemacht, die ihn teuer zu stehen kamen. Der Tag war so, wie ihn die vorangegangene Nacht versprochen hatte. Auf dem Berg reckten sich schwarze Zinnen aus Fichten zum blauen Himmel. Der Hang war grau wie ein Mausefell. Die Sonne guckte durchs Fenster. Vorläufig wärmte sie nicht, trotzdem war es die Sonne, die seit jeher die Menschen aus den Höhlen lockt. Bort rieb seine kalten Fußsohlen an den Waden und suchte die Pantoffeln. Als er ein Auto hörte, drückte er wieder die Nase an die Scheibe. Die schmale Straße, die am Urbanschen Grundstück entlangführte, bog etwa zweihundert Meter weiter oben in den Wald ab. Auf einem Seitenweg parkten die beiden Wagen, der Fuego 174
und der bananengelbe Garde. Ihnen näherte sich ein weißer Škoda. Er fuhr plötzlich schneller und verschwand wenige Sekunden später in der Unterführung der Sprungschanze. Bort verfolgte das Auto, bis es nicht mehr zu sehen war. Angezogen und mit dem elektrischen Apparat liederlich rasiert, wartete er geduldig, bis das Teewasser kochte. Nur aus Langeweile – wie er sich selber versicherte – schielte er hinüber zu Urbans Hütte. In der Lücke der Fichtenhecke tauchte Don auf, sein schwarzer Rücken glänzte. Der Hund tänzelte ausgelassen und lief zurück. Kurz darauf erschien er wieder zu Füßen des Mannes, den Bort tags zuvor starr wie einen Eichenklotz verlassen hatte. Jetzt schritt er sicher, trotzdem meinte Bort, daß sich Jan Urban die nächsten Stunden nicht ans Lenkrad setzen sollte. Warum hatte er ihm nicht die Autoschlüssel weggenommen! Zur Erleichterung von Borts Polizistenseele steckte Urban die Hände in die Taschen und ging die Straße entlang, auf der eben der weiße Škoda gefahren war. Der Hund sprang fröhlich um seinen Herrn herum. Der Wasserkessel pfiff. Bort beschloß, alle Sorgen außer der um seinen Magen zu vergessen. Das gelang ihm jedoch nicht. Er stocherte im Rührei auf eine Weise herum, die jede Köchin zutiefst beleidigt hätte, knabberte dazu eine leicht verbrannte Toastschnitte und spülte alles mit zwei Tassen schwarzen Tees hinunter, der süß war wie die Sünde. Damit erfüllte er seine Pflicht gegenüber dem chronisch zürnenden Magen. Das undankbare Organ schien das jedoch nicht zu bemerken. Bort wollte sich nicht eingestehen, daß das beklemmende Gefühl in der Magengrube von etwas anderem herrühren könnte. Er suchte in der perfekt ausgestatteten Hausapotheke des Arztes nach Gastrogel, schüttete drei Tabletten in ein Glas Wasser und beobachtete finster, wie sie sich auflösten. Um den Trank zu schlucken, mußte er die Au175
gen schließen. Umständlich stellte er die Frühstücksreste beiseite. Nun hatte er keinen Grund mehr, in der Hütte zu bleiben und zu warten. Bort war ein Mann mit Prinzipien. Er war schließlich nicht aus Prag weggefahren, um in einem nordböhmischen Kreis den dortigen Kollegen in die Arbeit zu pfuschen. Mögen sie ihren Fall selber verpatzen, wie er das getan hat. Und wenn sie ihn nicht verpatzen, wird ihnen niemand ihre Verdienste absprechen und sie einem Mitarbeiter der Prager Kriminalpolizei zuschreiben. Es würde noch heißen, er habe berechnenderweise die Kratzer an seiner Reputation auf fremde Kosten übertünchen wollen. Mit solchen niedrigen Gedanken machte sich Bort daran, die Schnürsenkel aufzuknoten. Leb wohl, Big Johnny! Ich hoffe, dich erst auf dem Eis wiederzusehen. Leb wohl, Don, du liebes Geschöpf! Was wird dich erwarten? Nichts Gutes, würde ich sagen … Als ob er das bestreiten wollte, bellte Don fröhlich vor dem Haus. Daraufhin trommelte es ans Fenster. Urban, blaß und eingefallen, aber mit klarem Blick, hielt Don fest. Das Halsband mit der Marke wäre im dichten Fell kaum zu sehen gewesen, hätte nicht ein schmutzigweißes Läppchen daran gehangen. „Fuß, Don! – Guten Morgen!“ begrüßte er Bort, der in der Tür stand, einen Schuh in der Hand und den anderen am Fuß. „Darf ich reinkommen?“ „Bitte“, sagte Bort frostig wie eine Frau, die aufgeregt auf ihren Liebhaber gewartet hat, es aber für unerläßlich hält, ihn mit demonstrativem Desinteresse zu strafen, weil er zu spät kommt. „Und lassen Sie den Hund los, Sie erwürgen ihn ja!“ In Urbans Gesicht leuchtete etwas wie Zufriedenheit oder Hoffnung auf. ‚Hoffentlich bist du nicht gekommen, um dich für gestern zu entschuldigen‘, dachte Bort grinsend hinter seinem Rücken. ‚Oder willst du feststellen, wer ich bin? 176
Wärst du gestern nicht blau gewesen, hättest du dir den Weg ersparen können …‘ „Einen Moment, ich ziehe bloß die Schuhe an.“ Urban wartete schweigend. Der Hund beschnüffelte neugierig jedes Möbelstück. Er entdeckte auf dem Tisch den Frühstücksteller. Die Vorderpfoten artig auf den Tellerrand gestützt, versuchte er, mit der Zunge das Rührei zu erreichen. „Don, komm her, du Biest!“ „Lassen Sie ihn!“ Bort stellte den Teller auf den Fußboden. „Entschuldigen Sie, daß ich Ihren Hund verderbe, aber ich habe den Eindruck, bei Don ist nicht mehr viel zu verderben. Nehmen Sie doch Platz!“ fügte er mit dem Gefühl hinzu, daß er wenigstens zu Urban höflich sein müsse, wenn er schon seinen Hund geschmäht hatte. Urban setzte sich. „Ich fahre heute nach Prag zurück.“ Bort nickte gleichgültig. „Vorhin habe ich mit Gusta gesprochen – mit Wachtmeister Nygrýn“, fuhr er fort. Bort lächelte ironisch, was Urban gleich bemerkte. „Daß Sie bei der Polizei sind, haben Sie mir selber erzählt“, erklärte er nachdrücklich. „So etwas behält auch ein Besoffener – allerdings weiß ich kein Wort mehr von dem, was ich Ihnen gesagt habe.“ „Und um danach zu fragen, sind Sie hergekommen?“ fragte Bort freundlich. Urban rutschte auf dem Stuhl hin und her, die Hände zwischen den Knien, und kniff die Lippen zusammen, als wollte er unerwünschte Worte zurückhalten. Schließlich sagte er mit Überwindung: „Ich möchte Sie um etwas bitten.“ Bort bemerkte Schweißtropfen auf Urbans Oberlippe. „Damit eines klar ist, Herr Urban“, sagte er ruhig, aber bestimmt, „ich arbeite nicht an dem Fall. Was Sie mir anvertraut haben, bleibt unter uns, außerdem ist es 177
nichts Wichtiges. Bei einer Flasche Schnaps sieht alles anders aus. Wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie etwas erläutern oder ergänzen müßten, wenden Sie sich bitte an Leutnant Richtr.“ „Sie haben Margita doch gefunden!“ Bort zuckte nur ausweichend die Achseln. „Das Gespräch in der Gastwirtschaft haben auch Sie belauscht.“ „Ich habe kein Wort von dem gehört, was Frau Urbanová am Telefon gesprochen hat.“ „Ich meine das, worüber sie sich mit Lady unterhalten hat.“ Die Stille, die eintrat, wurde durch das Geräusch des sauber abgeleckten Tellers unterbrochen, den Don über den Fußboden schob. „Wachtmeister Nygrýn kann auch nicht sagen, was er nicht weiß“, entgegnete Bort mit saurem Lächeln. Urban atmete schwer und öffnete mehrmals den Mund, ehe er sprach. „Lady war Margitas beste Freundin.“ „Sie lebt schon mehrere Wochen in Jablonec. Weiberfreundschaften halten nicht lange.“ „Margita war oft hier, und Lady hat an ihr geklebt wie ein Blutegel! Eine wußte alles von der anderen.“ „Bei zwei so hübschen Frauen dürften das ziemlich interessante Dinge sein. Man könnte Leutnant Richtr fast beneiden. Sicherlich hat er diese Lady schon vernommen.“ „Über manche Sachen sagt sie bestimmt keinen Mucks“, flüsterte Urban verschwörerisch. „Etwa darüber, daß sie gemeinsame Liebhaber hatten.“ „Und Sie ärgert, daß sich die beiden etwas über ihre Liebhaber erzählt haben?“ fragte Bort bissig, schon ein wenig ungehalten über die Hartnäckigkeit, mit der ihn Urban auf die verschüchterte Blondine hinwies. „Sie brauchten sich nichts zu erzählen, verdammt, 178
weil sie beide gleichzeitig mit demselben Kerl im Bett waren!“ krächzte Urban, als würgte ihn jemand. Bort zog amüsiert die Brauen hoch. „Ihre Margita war vielleicht eine Nummer! Haben sich die beiden auch Sie geteilt?“ Big Johnny beugte sich so heftig vor, daß Bort befürchtete, er würde ausholen und zuschlagen. Er ballte jedoch nur die Fäuste, bis die Gelenke weiß wurden, und zischte: „Lady würde ich nur mit einer Mistgabel anfassen.“ Bort dachte an das verschreckte, unentschlossene Geschöpf, mit dem die energische Rothaarige wie mit einer Puppe umging. Mochten die beiden auch mancherlei gemeinsam angestellt haben, angestiftet hatte zweifellos alles Margita Urbanová, und ihr geschiedener Mann war ein unglaublicher Einfaltspinsel. „Ich verstehe nicht, warum Sie die Verantwortung für alle Gemeinheiten, die Ihnen Ihre Frau angetan hat, auf Milada Rendlová abwälzen“, sagte Bort gemessen. „Machen Sie sich doch nichts vor …“ „Ich mache mir gar nichts vor!“ schrie Urban. „Was würden Sie von einem Mädchen halten, das Sie mit Ihrer Frau im Bett finden?“ „Fragen Sie mich lieber, was ich von meiner Frau dächte“, entgegnete Bort, „oder noch lieber – was ich tun würde. Wenn das wahr ist, was Sie mir hier erzählen, wie konnten Sie bis zum letzten Moment so an ihr hängen?“ „Margita war nicht schuld“, sagte Urban verzweifelt. „Sie wollte einfach nur alles ausprobieren. Sie war lebenshungrig und hatte Angst, daß ihr etwas entgeht. Jeder Versuchung ist sie schrecklich leicht erlegen … Ich wollte sie da rausholen und war mir sicher, daß ich eine Chance habe, wenn sie sich von Lady trennt …“ „Sie hat sich nicht von Lady getrennt, und jetzt ist alles zu spät“, sagte Bort mitleidlos. „Wenn ich Sie höre, wundere ich mich, daß nicht die andere tot ist.“ 179
Urban sah ihn schweigend an. Sein Blick war dunkel und tief wie ein offenes Grab. Bort berührte unwillkürlich die verletzte Hundeschnauze. Don knurrte. „Was wollen Sie eigentlich von mir, Herr Urban?“ fragte Bort nach einer Pause. „Wie lange bleiben Sie hier?“ „Höchstens eine Woche, länger kaum.“ Urban zögerte, und Bort wappnete sich gegen jedes unbillige Verlangen. „Könnte ich Don bei Ihnen lassen?“ Bort erschrak. „Was?“ „Momentan weiß ich nicht, wohin mit ihm. Es ist Saison, ich bin ständig unterwegs, und mitnehmen kann ich ihn nicht! Ich muß jemanden finden, der sich vorläufig um ihn kümmert, aber ich weiß keinen.“ „Lassen Sie ihn bei Nygrýn“, schlug Bort vor. „Der hat eine Hündin, die gerade heiß ist.“ „Wie sind Sie auf mich verfallen? Don kennt mich nicht, er ist nicht an mich gewöhnt …“ Das Hündchen hob seine bernsteinfarbenen Augen zu ihm auf und reichte die Pfote. „Sehen Sie, er mag Sie“, sagte Urban hastig. „Don hat Vertrauen zu Ihnen. In Ihnen hat er einen Ersatz für Margita gefunden – ich weiß nicht, warum.“ Bort seufzte unglücklich. Der Hund gefiel ihm, die Sympathien waren beiderseitig. Wenn er den Hund behielt, würde das jedoch eine enge Beziehung zu einem Manne bedeuten, der ihm nicht ein bißchen sympathisch war. „Nein. Ich kann schon morgen früh wieder heimfahren, und kurze Zeit später bin ich in Prag. Was sollte ich dann mit ihm anfangen? Es tut mir leid seinetwegen, aber …“ Urban unterbrach ihn. „Mir ist klar, daß Sie für mich keinen Finger krumm machen, aber ich weiß keinen anderen Ausweg. Tun Sie das für ihn. Sie mögen Hunde, 180
und Don spürt das. Er wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Don ist ein guter Kamerad.“ Bort entgegnete wütend: „Wie können Sie den Hund jemandem anvertrauen, den Sie nicht kennen?“ Er war auf dem besten Wege, etwas zu tun, was er überhaupt nicht wollte. Don blies ihm seinen heißen Atem ans Knie. Als Bort den Hund streichelte, um auf diese Weise die harten Worte zu mildern, die er an seinen Herrn gerichtet hatte, beleckte ihm Don die Hand. „Er mag Sie“, sagte Big Johnny hartnäckig, „sehen Sie das nicht?“ Bort blickte in die fragenden, arglosen Hundeaugen. Das hätte er nicht tun dürfen. Die folgenden Worte klangen nicht mehr überzeugend. „Die Hütte gehört mir nicht, es könnte Doktor Rohan nicht recht sein, wenn …“ „Er wird nichts dagegen haben. Don macht keinen Schaden.“ „Also gut, aber sehen Sie zu, daß Sie schnell jemanden finden, der ihn nimmt.“ „Selbstverständlich“, sagte Urban mit sorglosem Lachen. Bort bereute schon seine unbedachte Regung, aber Urban gönnte ihm keine Zeit, sich herauszuwinden. Er schielte zur Uhr und stand auf. „Mittags muß ich in Prag sein.“ Im Gehen tätschelte er flüchtig den Hund. „Mach’s gut, Don. Sei brav …“ „Warten Sie doch! Wie soll ich Ihnen den Hund übergeben?“ Urban zog geschwind eine Visitenkarte aus der Tasche, als hätte er sie für diesen Zweck eingesteckt. Bort begriff, daß er übertölpelt worden war. „Rufen Sie mich an! Jederzeit, ich habe einen Anrufbeantworter.“ Er legte die Visitenkarte auf den Tisch und nickte Bort zu. In der Tür wandte er sich noch einmal um und sagte plötzlich ernst: „Passen Sie gut auf ihn auf!“ 181
„Wenn Sie mir nicht vertrauen, sollten Sie ihn lieber mitnehmen“, entgegnete Bort hoffnungsvoll. „So habe ich das nicht gemeint. Der Schein trügt, Don ist ein ausgebildeter, scharfer Hund. Für Spurensuche und Fassen hat er viele Punkte gekriegt. Er besitzt auch ein ausgezeichnetes Gedächtnis.“ Er unterbrach seine Rede, als erwarte er eine Frage, und sagte dann betont leise: „Wenn Don jemanden anfällt, könnte das schlimm enden. Verstehen Sie mich? Geben Sie Obacht auf ihn, und wenn Ihnen etwas nicht geheuer vorkommt, halten Sie ihn lieber fest!“ Urban verschwand so schnell, als wäre ihm ein Werwolf auf den Fersen. Bort blieb sitzen und streichelte dem Hund lange die seidigen Ohren. „Dein Herrchen hat einen Stich“, sagte er dann bitter, aber erklärte nicht, ob er Dons richtigen oder zeitweiligen Herrn meinte. Die Sonne wälzte sich über den Berg, wie eine riesige überreife Tomate, die Saftspuren hinter sich läßt. In der zinnoberroten Dämmerung kehrte Bort mit einem fremden Hund unter ein geborgtes Dach zurück. „Du hast dich müde gelaufen“, sagte er mitleidig zu Don, der an seiner Seite hinkte, „aber der Spaziergang hat uns beiden gutgetan, nicht wahr? Gleich werden wir uns den Bauch vollschlagen.“ Bort enttäuschte den ausgehungerten Hund. Als Don ohne zu protestieren zwei Büchsen Gänseleberpastete aus Doktor Rohans Vorräten verschlungen hatte, sah er ihn vorwurfsvoll an. Einen harten Brotkanten verschmähte er. „Wir gehen in die Kneipe, Kamerad“, sagte Bort resigniert. „Vielleicht kriege ich dort Reste. Oder ich kaufe dir ein Schnitzel. Ich kann hungern, aber deine großen traurigen Augen kann ich nicht sehen.“ Bis zur Gaststätte kamen sie jedoch nicht. Bei der Sä182
gemühle, wo seidige Hobelspäne herumflogen, begegneten sie Wachtmeister Nygrýn. „Honza hat mir den Schlüssel von der Hütte gegeben“, sagte atemlos der treue Gesetzeshüter. „Sie sollen dort Hundefutter holen.“ „Daß er daran noch gedacht hat!“ bemerkte Bort ironisch. Er fragte nicht, warum Urban, der kurz nach dem Besuch bei ihm aufs Gaspedal getreten hatte, daß sich der Fuego beinahe aufbäumte, ihm das Hundefutter nicht persönlich übergeben hatte. „Pfui, Don!“ rief er dem Hund zu, der an Nygrýns Hose schnupperte, und fügte hinzu: „Er riecht die Hündin.“ „Was für eine Hündin?“ fragte Nygrýn verwundert. Bort verzeichnete einen weiteren Punkt für Big Johnny. „Wo sind die Konserven?“ „Das hat mir Honza nicht gesagt.“ „Dann kommen Sie mit“, forderte Bort den Wachtmeister ärgerlich auf. „Ich will nicht allein eine fremde Hütte durchsuchen.“ Schweigend stapften sie die Straße entlang. Zur Rechten stand ab und zu ein Haus. Die Fenster leuchteten sanft, in der frostigen Luft roch es nach Rauch von Holzfeuern, im Tal rauschte der Jedlový potok, von den herbstlichen Regenfällen angeschwollen. ‚Könnte ich hier leben?‘ fragte sich Petr Bort. Er antwortete ehrlich: ‚Vielleicht in zwanzig Jahren. Was könntest du hier tun, Petr? Einen besseren Wachtmeisterposten als Nygrýn findest du nicht. Du könntest höchstens im Wald oder im Sägewerk arbeiten. Doch du bist ein Polizist und wirst es ein für allemal bleiben, auch wenn du wieder von Verkehrssündern Strafen kassieren müßtest.‘ Als Echo der trüben Gedanken erklärte Wachtmeister Nygrýn: „Es steht schon fest, daß es ein Mord war, Genosse Leutnant.“ 183
„Was Sie nicht sagen“, kommentierte Bort. „Die Steine und das Holz sind nicht von oben heruntergefallen.“ „Das war mir auf den ersten Blick klar“, sagte Bort hochmütig. „So helfen Sie Leutnant Richtr?“ „Lassen Sie mich in Ruhe“, erwiderte Bort, „und laufen Sie schneller, sonst verhungert das arme Tier.“ Sie fanden einen Karton Blechbüchsen mit „Dingo“ auf dem Eßtisch. Daneben lag eine Damenhandtasche. Ein Zettel enthielt zwei Sätze: „Wenn Sie nach Jablonec fahren, geben Sie das Milada Rendlová. Ich möchte nichts mehr mit ihr zu tun haben. J. U.“ „Du kannst mich mal“, sagte Bort gerührt und schüttete den Tascheninhalt auf den Tisch. Die Handtasche enthielt eine Geldbörse mit zwei Zwanzigkronenscheinen und etwas Kleingeld, einen Schlüsselring mit drei Schlüsseln, ein sauberes und ein schmutziges Taschentuch – beide mit eingesticktem Monogramm M –, ein Velourtäschchen mit Schminksachen und einen Kamm, in dem einige blonde Haare steckten, eine angebrochene Schachtel Algena und einen nicht zugeklebten Briefumschlag ohne Adresse. Bort betastete ihn, der Umschlag war fest und ziemlich dick. Die Fotos, die herauspurzelten, verschlugen beiden Männern die Sprache. Die blonde Lady stellte ihren schönen nackten Körper in raffinierten Posen zur Schau und blinzelte den Betrachter herausfordernd an. Wer das fotografiert hatte, konnte geschickt auf dem dünnen Seil zwischen Pornographie und künstlerischer Fotografie balancieren. Zur Pornographie hätte sich Milada Rendlová wohl nicht hergegeben. Das war jedoch nicht ganz sicher. Von jedem der sieben Fotos war ein Stück, ungefähr ein Drittel, abgeschnitten. Auf diesem Teil konnte ein Mann zu sehen 184
sein. Wenn auf den Fotos also nicht nur das schöne langbeinige Modell abgebildet war, sondern auch eine gewisse Situation gezeigt wurde, gehörten sie zu der moralisch zweifelhaften Gattung der darstellenden Kunst. Bort drehte sich zu Wachtmeister Nygrýn um, der ihm seinen heißen Atem in den Nacken blies, und fragte bissig: „Hat Leutnant Richtr gemeint, eine Haussuchung sei nicht notwendig?“ „Wir haben alles gründlich durchsucht, aber nichts Interessantes gefunden!“ versicherte Nygrýn. „Das muß Honza entdeckt haben.“ Bort steckte die Fotos in den Umschlag und reichte sie dem Wachtmeister. „Er hat Ihnen eine Aufgabe hinterlassen.“ Nygrýn versteckte schnell seine Hände hinter dem Rücken und erklärte: „Mir nicht, dort steht ‚Sie‘, ich duze mich mit Honza. Bringen Sie das selber zu Lady.“ „Zu Lady?“ fragte Bort mit deutlichem Unterton. Der Wachtmeister wußte nicht, wohin er blicken sollte, und stammelte: „Als Sie mich nach dem Mädchen gefragt haben, das mit Margita in der Gastwirtschaft war, ist mir nicht eingefallen, daß es Fräulein Rendlová sein könnte.“ „Sind denn so viele blonde Ladys zu Frau Urbanová gekommen?“ Nygrýn antwortete nicht. Bort füllte die Handtasche wieder und legte den Umschlag dazu. „Geben Sie ihr das, wenn Sie in Jablonec sind. Die Fotos lassen sie sicher nicht ruhig schlafen.“ „Nein!“ rief Nygrýn erschrocken. Bort hob die Brauen. „Hören Sie, hatten Sie etwa ein Verhältnis mit dem Fräulein?“ Der Wachtmeister verwahrte sich gegen eine solche Unterstellung. „Ich habe eine Frau und drei Kinder!“ „Das würde doch alles erklären“, entgegnete Bort mit 185
frivolem Grinsen. „Sagen Sie mir einen besseren Grund für Ihre Weigerung, zu der Lady zu gehen.“ Wachtmeister Nygrýn sagte ernst und ein bißchen bedauernd: „Lady ist keine solche.“ „Was für eine?“ „Sie würde sich nicht mit einem Verheirateten abgeben, noch dazu mit einem gewöhnlichen Dorfpolizisten.“ „Da können Sie recht haben“, sagte Bort. Die Oberschwester, zu der Bort nach längeren Bemühungen vorgedrungen war, teilte ihm kurz und bündig mit, daß Schwester Milada gerade Überstunden abbummele. „Das ist aber ärgerlich“, sagte Bort, „wissen Sie zufälligerweise, wo sie ist?“ „Ich weiß nur, daß sie eigentlich hier sein müßte“, erwiderte barsch der Drachen und versengte Bort mit einem bösen Blick. „Wie sind Sie überhaupt reingekommen, junger Mann? Das ist doch die Höhe! Ich habe Milada deutlich gesagt, daß ich hier keine Privatbesuche dulde.“ „Polizei“, sagte Bort resigniert und zückte die Monatskarte der Prager Verkehrsbetriebe. „Ich komme dienstlich zu Schwester Milada.“ „Wegen dem Mord?“ fragte die Oberschwester sachlich. „Welchem Mord?“ „Sie sind hier in einer Kleinstadt, junger Mann“, sagte sie ironisch. „Dürfte ich nochmals Ihren Ausweis sehen?“ Bort lächelte schuldbewußt und zeigte nun seinen Dienstausweis. „Sie sind aus Prag?“ „Frau Urbanová war auch von dort.“ „Ja“, bestätigte sie versonnen, „ich kannte sie vom 186
Sehen, sie war ein paarmal hier … Was hat Schwester Milada damit zu tun?“ „Am Abend vor dem Mord war Schwester Milada in Josefův Důl. Sie könnte etwas über die letzten Lebensstunden von Frau Urbanová wissen – schließlich waren sie Kolleginnen. Und langjährige Freundinnen.“ „Meinen Sie?“ „Sie mögen Schwester Milada nicht“, stellte Bort fest. „Meine persönlichen Sympathien und Antipathien brauchen Sie nicht zu interessieren“, erwiderte sie kühl. „Als Schwester ist sie erstklassig.“ „Was stört Sie dann an ihr?“ forschte Bort. „Kennen Sie Schwester Milada?“ „Ich habe sie nur einmal flüchtig gesehen.“ „Hat sie Ihnen gefallen?“ „Sehr“, bekannte Bort spontan. Die Oberschwester bedachte ihn mit einem langen zweifelnden Blick und sagte: „Janovská siebzehn. Am Rathaus den Berg rauf und dann nach links, aber dort fragen Sie lieber. Jeder wird Ihnen sagen, wo Sie die Zenknersche Villa finden.“ Bort konnte die typische Sudety-Villa nicht verfehlen, selbst wenn er Scheuklappen anstelle seiner Brille getragen hätte. Es war eher ein Schlößchen, geschmückt mit Erkern, Türmchen und einer Wetterfahne in Form eines ziemlich zerzausten Pfaus, der sich so schnell drehte, daß er knarrend klagte und beinahe die Reste seines verrosteten Schwanzes verlor. Bort parkte seinem MB hinter dessen jüngerem, aber heruntergekommenen Verwandten mit Prager Nummer. Das Schloß des grünen Tors war entzwei, so daß er ungehindert zwischen üppigen Rhododendronbüschen bis zur Haustür gelangte. Auf dem Messingschild an der Tür war der Name Horst Zenkner eingraviert. Bort ließ sich nicht verwirren und drückte auf den vergilbten beinernen Klingelknopf. 187
Es läutete so schrill, daß beinahe der restliche Putz von der Fassade fiel. Sonst geschah nichts. Bort wartete eine Weile, dann klingelte er nochmals und trat drei Schritte zurück. An einem vergitterten Fenster im Parterre bewegte sich die dichte Gardine, Bort sah die Hand einer jungen Frau. Er wartete weiter geduldig. Nach einer Zeitspanne, in der auch eine Schnecke den Weg vom Fenster zur Tür zurückgelegt hätte, wurde geöffnet. In der Tür stand eine verhutzelte Greisin in einem schwarzen Kleid. Bort grüßte freundlich und sagte: „Könnte ich Fräulein Rendlová sprechen?“ Die Alte gab Laute von sich, die zwischen Knurren und Bellen lagen und einen deutlichen deutschen Akzent aufwiesen. Bevor Bort etwas hinzufügen konnte, wurde die Tür zugeschlagen. Er stand auf dem Podest, schimpfte sich leise selber aus und spielte mit dem Henkel der Handtasche. Das runde Mosaikfensterchen in der Tür blinzelte ihn mit den Resten bunter Glasscheiben boshaft an. Innen war es mit Furnierholz vernagelt. Bort trat näher und lauschte an der Tür. Die Alte plapperte mit zitternder Stimme, und obwohl Bort das Deutsche ziemlich gut beherrschte, verstand er kein Wort. Als er endlich begriff, daß sie in einem Dialekt sprach, wurde die Tür heftig aufgerissen. Er stürzte beinahe auf den blonden Engel, der einen losen grünen Hausanzug trug. „Wen suchen Sie?“ fragte Milada Rendlová unwirsch. „Sie.“ „Mich?“ Sie strich sich die strähnigen Haare aus der Stirn. Ihre Augen wirkten verweint. Bort bezweifelte einen Moment, daß dieses ungekämmte, griesgrämige Geschöpf mit dem Mädchen identisch war, dessen Reize ihn vor zwei Tagen stark beschäftigt hatten. Der grüne Pyjama deutete jedoch auf 188
eine Krankenschwester hin. Er war geschickt aus einem Anzug umgearbeitet worden, den vorher ein Arzt im Operationssaal getragen hatte. Trotzdem vergewisserte er sich. „Sind Sie Fräulein Rendlová?“ „Kennen wir uns?“ Bort schwenkte die modische Handtasche unter ihrer Nase. „Ist das Ihre?“ Sie schnappte danach, daß beinahe der Henkel abriß. „Wie kommen Sie zu meiner Handtasche?“ „Honza Urban hat mich gebeten, sie Ihnen zu bringen“, sagte Bort, als gehöre er zur Familie. „Ist er in seiner Hütte?“ „Nein, er ist schon zurückgefahren.“ „Aha.“ Milada beleckte sich mit der Zungenspitze die Lippen. „Dann danke ich ihm. Ihnen natürlich auch.“ „Keine Ursache.“ Sie zitterte vor Kälte. „Sind Sie ein Freund von Honza Urban?“ „Momentan kümmere ich mich um seinen Hund“, sagte Bort, elegant einer direkten Antwort ausweichend. „Um Don?“ Auf den hohen Backenknochen, die Bort bei Frauen immer gefielen, bildeten sich purpurne Flecke. „Sie frieren“, stellte Bort fest, „und sollten nicht hier …“ „Kann ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?“ „Gern“, antwortete Bort erfreut und trat unverschämt schnell ein, da er befürchtete, sie könnte es sich anders überlegen. Milada Rendlová führte Bort ins Vestibül, das die Ausmaße eines halben, Tennisplatzes hatte. „Nehmen Sie Platz, ich muß mich nur umziehen.“ Bort ließ sich in einen robusten Klubsessel fallen. Der Lederbezug war stellenweise aufgeplatzt, aber die Federn waren elastisch und boten immer noch einem an Schaumstoff gewöhnten Manne größte Bequemlichkeit. 189
Der Raum verleugnete nicht einstigen Glanz. Auf dem Parkettfußboden, der von den Jahren, keineswegs durch Schmutz mitgenommen war, lag ein dünner, sehr kostbarer Perserteppich. Die Möbel aus der Jahrhundertwende hätten zwar von einem Fachmann aufpoliert werden müssen, auf ihnen war jedoch kein Staubkörnchen zu sehen. Der riesige Kristallüster mußte abends strahlen wie die Milchstraße. Ölgemälde mit Szenen aus der germanischen Mythologie schmückten die Wände. Beim Anblick einer üppigen Walküre erinnerte sich Bort an einen anderen Frauenkörper, schlank, aber nicht mager, wollüstig auf einer dunklen Matte ruhend, die mit der hellen kahlen Wand kontrastierte. Milada Rendlová hatte ihre Handtasche mitgenommen, und Bort war sich dessen sicher, daß sie gleich hinter der Tür nachschauen würde. Sie kehrte bald zurück, gekämmt, aber nicht geschminkt. In schwarzen Samthosen und einem dunkelroten dicken Pullover wirkte sie noch blasser und zerbrechlicher als vorher. „Ich habe Kaffeewasser aufgesetzt. Oder möchten Sie lieber Tee?“ „Kaffee, wenn Sie guten kochen.“ „Im Krankenhaus lernt man, guten Kaffee zu kochen“, sagte sie ernst und setzte sich. „Ich bin nämlich Krankenschwester.“ „Das weiß ich. Ich habe Sie im Krankenhaus gesucht.“ Sie blickte ihn fragend an und gebärdete sich dann schuldbewußt. „Ja, eigentlich hätte ich Dienst, aber es ist etwas Schreckliches passiert und ich …“ Sie kniff die Lippen zusammen, als müßte sie weinen, und fuhr mit gedämpfter Stimme fort; „Sie wissen wohl Bescheid, wenn Sie Honzas Freund sind.“ „Ja“, sagte Bort. Milada seufzte mehrmals. „Hat ihn das sehr mitgenommen?“ 190
„Das weiß ich nicht, ich kenne ihn nicht so genau. Wir sind keine Freunde, ich konnte ihm nur zwei Bitten nicht abschlagen. Fehlt nichts in Ihrer Handtasche?“ „Nein. Ich danke Ihnen nochmals.“ „Das werde ich Urban ausrichten. Ihm lag sehr daran, daß Sie die Handtasche so schnell wie möglich zurückbekommen.“ Der rote Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Das glaube ich“, sagte Milada mit durchsichtigem Sarkasmus. Sie saß still da, starrte Bort an und schien den versprochenen Kaffee völlig vergessen zu haben. „Sie wohnen nicht schlecht“, sagte Bort, um das Schweigen zu unterbrechen. „Ist die alte Deutsche Ihre Wirtin?“ „Meine Großtante. Sie hat niemanden außer mir. Und Horst natürlich.“ „Ist Horst ihr Sohn?“ fragte Bort höflich. Er befürchtete, daß das Kaffeewasser inzwischen verdunstete. „Ja. Wenn er aus russischer Gefangenschaft zurückkommt, wird mir gekündigt.“ Bort blickte sie verblüfft an. „Vierzig Jahre nach Kriegsende?“ „Er wurde im Januar neunzehnhundertfünfundvierzig als Sechzehnjähriger eingezogen und ist seitdem vermißt. Weil ihr Mann – der Bruder meines Großvaters – ein Tscheche und Antifaschist war, wurde meine Großtante nicht ausgesiedelt. Tantchen – so nenne ich sie – soll zwar auch Heil Hitler gegrüßt haben, aber nach dem Krieg hat sie das gleich vergessen. Sie vergißt überhaupt sehr viel und ist völlig sklerotisch.“ Die Tür hinter Miladas Rücken wurde geöffnet, aber niemand trat ein. Bort maskierte seinen forschenden Blick mit einem mitleidigen Zwinkern. „So erhält sie dieses Haus für ihren Sohn?“ „Für mich bestimmt nicht. Sie hat mich nur aufgenommen, weil die Stadtverwaltung in der Bude ein 191
Pflegeheim einrichten will. Man hat ihr ein Einzelzimmer angeboten, wenn sie zustimmt, aber wo wäre dann Platz für Horst, der schließlich eine Familie gründen will.“ „Mein Gott!“ seufzte Bort. Milada Rendlová lächelte, wurde jedoch gleich wieder ernst. „Ich bin nicht zynisch, wie Sie vielleicht denken.“ „Ich halte Sie nicht für zynisch“, versicherte ihr Bort. „Haben Sie Prag verlassen, um sich um die arme Alte zu kümmern?“ Die rauchblauen Augen weiteten sich. „Sie wissen recht viel über mich“, sagte Milada bedachtsam. „Wer sind Sie eigentlich?“ „Ich bin der Mann, der Frau Urbanovás Leiche gefunden hat.“ Milada erstarrte und saß da wie ein Pharao auf dem Thron. „Ach“, jammerte sie kläglich. „Bitte, erzählen Sie mir nichts davon, ich … Ich hole den Kaffee.“ Sie erhob sich und machte ein paar schlafwandlerische Schritte, dann ging sie in eine andere Richtung und verschwand im unergründlichen Inneren des Gespensterschlosses. Bort stand auf, um den Raum näher zu betrachten. Aus Eichenrahmen beobachteten ihn mißtrauisch mehrere Damen mit dickem Haarkranz. Eine fette weiße Gans blinzelte mit einem Triefauge. Bort begriff amüsiert, daß die Bilder Szenen aus Wagneropern darstellten. Eine blonde Melkerin war wohl Elsa, und ein gelbliches Schüsselchen der heilige Gral. Das Telefon auf der Marmorplatte der Kommode klingelte kurz. Bort streckte unwillkürlich die Hand aus. Es surrte nun leise in unregelmäßigen Abständen. Offenbar telefonierte jemand von einem anderen Apparat im Hause. Plötzlich ertönte ein Knall, gefolgt von einem erschrockenen Aufschrei. Bort riß heftig die Tür auf, die vor 192
kurzem geöffnet worden war. Ein Mann in einem grauen Manchesteranzug beugte sich über Glasscherben. „Was ist Ihnen passiert?“ Der Mann drehte sich um. Er hatte volles, lockiges Haar von der Farbe seines Sakkos und matte braune Augen. Seine Gesichtshaut war trocken und aufgesprungen wie ein ausgedörrtes Moor. „Es ist nichts“, sagte er und richtete sich auf, wobei er ein Taschentuch auf die rechte Handfläche preßte. Beim Auftreten zertrümmerte er mit der Ferse ein Stück Glas. Auf dem Marmorfußboden knirschte es, der ohnehin ziemlich verstörte Mann zuckte zusammen. Auf seine schwarzen Schuhe tropfte Blut. Bort trat schnell in den Raum, der als Badezimmer eingerichtet war. „Zeigen Sie …“ Der Mann versteckte wie ein Kind die verletzte Hand hinter seinem Rücken. „Ein kleiner Kratzer“, brachte er gezwungen hervor und schlich rückwärts zu der zweiten Tür bei einer riesigen, in den Fußboden eingelassenen Badewanne. Dort verschwand er wie ein ausgepfiffener Schauspieler hinter dem Vorhang. Bort blickte sich um und stellte fest, daß das Badezimmer gegenwärtig nicht benutzt wurde. Es war so kalt, daß man hätte Bier kühlen können, und wirkte so gemütlich wie ein Seziersaal. Mit der Schuhspitze scharrte er in dem Scherbenhäufchen unter dem gewaltigen Waschbecken. Er hockte sich hin und fischte mit einer größeren Scherbe aus der Wasserlache, in der sich eine kleine Tablette auflöste, ein durchgeweichtes Papierstückchen. Von der Aufschrift konnte er nur die Hälfte lesen, aber das genügte, um zu begreifen, daß der ungeschickte Herr hier seine zitternden Hände mit Hilfe eines streng rezeptpflichtigen Produkts der pharmazeutischen Industrie beruhigt hatte. Aus einem Messinghahn tropfte es monoton, als messe ein Metronom die letzte Stunde eines Todgeweihten. 193
Bort drehte den Hahn zu, steckte das Papierstückchen ein und kehrte ins Vestibül zurück. Er hatte sich kaum gesetzt, als Milada Rendlová mit einem schweren silbernen Tablett erschien. „Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat, aber ich mußte warten, bis meine Tante ihre Medikamente eingenommen hatte.“ Bort sprang auf und nahm ihr galant das Tablett mit Kanne, zwei Tassen und Zuckerdose ab. „Ich muß die Medikamente vor ihr verschließen“, sagte Milada. „Ständig bezichtigt sie mich, daß ich sie betrüge und ihr Tabletten vorenthalte. Wenn ich ihr die ganze Packung gäbe, würde sie wohl mehrmals welche schlucken. Sie vergißt wirklich schon alles.“ „Wie machen Sie das, wenn Sie im Dienst sind?“ „Ich lege die Tabletten in Fläschchen. Wir haben drei – für morgens ein weißes, für mittags ein braunes und für abends ein grünes. Aber wenn ich vierundzwanzig Stunden Dienst habe und ihr alle drei auf einmal geben muß, bin ich trotzdem unruhig.“ Sie goß Kaffee ein, setzte sich und faltete die Hände im Schoß. „Von Margita will ich nichts hören“, sagte sie mit zitternder, aber entschiedener Stimme. „Das würde ich nicht ertragen. Sie wissen vielleicht, daß sie meine einzige Freundin war.“ „Ich wundere mich, daß Urban Sie gestern nicht selber besucht hat. Er ist doch über Jablonec nach Prag gefahren.“ „Margitas geschiedener Mann haßt mich. Er hätte bestimmt am liebsten meine Handtasche auf den Müllhaufen geworfen.“ „Fehlt wirklich nichts?“ „Nein.“ Plötzlich verfinsterte sie sich. „Warum fragen Sie?“ Bort legte den Umschlag auf den Tisch. Milada stutzte eine Weile, dann griff sie danach, als müßte sie eine 194
Schlange anfassen, und schüttete die Fotos aus. „Woher haben Sie das?“ keuchte sie. „Das war in Ihrer Handtasche.“ „Nein!“ „Doch. Urban hat alles mit diesen Zeilen zurückgelassen.“ Er bedeckte eine nackte Lady mit dem Zettel, der J. U. unterschrieben war. „Wachtmeister Nygrýn – das ist der dortige ABV – war dabei, als ich das gefunden habe.“ Milada beugte sich über den Zettel und raffte mit gesenktem Blick schnell die Fotos zusammen. „Urban ist mir keineswegs ans Herz gewachsen, und ich wollte sein Ansinnen einfach negieren“, fuhr Bort fort. „Dann haben wir aber in der Handtasche den Umschlag entdeckt. Ich dachte mir, daß Sie die Fotos gern wiederhätten, und so habe ich sie Ihnen gebracht.“ Milada war fahl wie der Novemberhimmel über dem Isergebirge. „Das ist rücksichtsvoll von Ihnen“, brachte sie angestrengt hervor. Plötzlich begann sie laut zu schluchzen. „Schon gut“, besänftigte sie Bort, der sich angesichts von Frauentränen immer hilflos fühlte. „Führen Sie sich nicht wie ein kleines Mädchen auf. Die Fotos haben Sie, und ich werde nicht darüber reden. Es ist doch nichts Schlimmes passiert …“ Der schlanke Körper zitterte, die Hände verkrampften sich, die Augen wurden starr. Milada Rendlová rang pfeifend nach Luft. Bort, der schon einmal einen hysterischen Anfall gesehen hatte, stand schnell auf. Er packte Milada, schüttelte sie und gab ihr zwei kräftige Ohrfeigen. Eine Hand auf seiner Schulter hielt ihn fest. „Rühren Sie das Mädchen nicht an!“ schrie wütend der Mann mit der verbundenen Rechten. „Was haben Sie ihr getan?“ Bort riß sich los. „Wasser – schnell!“ 195
„Verschwinden Sie!“ Der Mann beugte sich zu dem zitternden Mädchen. „Lady, komm doch zu dir!“ Bort sah sich hilflos um und erblickte eine Vase mit einer einzigen gelben Chrysantheme. Er warf die Blume in eine Ecke, aber als er mit der Vase zum Tisch zurückeilte, versperrte ihm der grauhaarige Mann den Weg. „Sie sind das also“, sagte er feindselig. Der Mann stand leicht vorgeneigt, die Beine gespreizt. Er war gespannt wie eine Stahlfeder, die jeden Moment losschnellt. Bort trat vorsichtig zurück und suchte nach einem Platz, wo er die Vase abstellen konnte. Das war ein Fehler. Der Mann traf ihn mit der Linken an der Schulter. Es war ein guter Schlag, auch wenn er wegen der unverhofften Drehung sein eigentliches Ziel verfehlte. Die Vase fiel zu Boden und zersplitterte. Der Grauhaarige beherrschte mehr als die Anfangsgründe des Boxens, sein Schlag mit der Linken war nur eine Finte im Vergleich zu dem, was er mit seiner Rechten vermochte. Bort hatte das Gefühl, ihm würde das Kinn hinters Ohr gezogen, und seine eigenen Zähne versuchten, es abzunagen. Er faltete die Hände, aber nicht als Bitte um Gnade, sondern zur Verteidigung in Karatestil. Das war nicht nötig. Der Mann taumelte wimmernd rückwärts. Bort rückte sein Kinn an den richtigen Platz und blickte ärgerlich auf seinen bespritzten Pullover, ehe er den Gewalttäter, aus dessen verbundener Hand Blut tropfte, und Milada betrachtete. Der hysterische Anfall war von allein vorübergegangen und hatte sein Opfer erschöpft, aber bei Sinnen hinterlassen. „Was ist das für ein Irrer?“ fragte Bort. „Fassen Sie sich und behandeln Sie ihn!“ Milada starrte auf den blutdurchtränkten Verband und stammelte: „A-a-lex!“ „Tun Sie was, bevor er ohnmächtig wird! Sie sind 196
doch Krankenschwester.“ Er beförderte den kreidebleichen Mann in einen Klubsessel, nahm das silberne Tablett vom Tisch und legte es ihm auf die Knie, damit die verletzte Hand darauf ruhen konnte. Als er diese komplizierte Verrichtung beendet hatte, stand Milada unsicher, aber aufrecht auf den Beinen. „Er hat Sie mit jemandem verwechselt“, sagte sie klagend. „Alex, dieser Herr hat mir nur die Handtasche gebracht, die ich bei Margita liegengelassen habe. In der Tasche waren …“ „Verbinden Sie ihm die Hand! Oder soll ich ihn ins Krankenhaus schaffen?“ Milada eilte davon. „Das ist nicht schlimm“, erklärte der Mann. „Ich glaube auch, daß ein bißchen Peroxid und ein neuer Verband genügen“, sagte Bort grinsend. „Aber Sie sehen aus wie kurz vor einem Kollaps!“ Der Mann kniff die Lippen zu einem Strich zusammen, und aus dem Vierzigjährigen wurde plötzlich ein Greis. „Ich kann kein Blut sehen.“ „Vorhin im Badezimmer hat Ihnen das kaum etwas ausgemacht“, erinnerte ihn Bort spöttisch. Er nahm ein Foto vom Tisch. „Hat Sie nicht eher das schockiert?“ Der Mann gebärdete sich abweisend und sagte mit Überwindung: „Ich entschuldige mich bei Ihnen. Das ist mir sehr peinlich.“ „Schon gut, Sie haben sich selber mehr Schaden zugefügt als mir.“ Milada Rendlová kam mit einer Tasche voller Verbandmaterial zurück, das zur Versorgung aller Reisenden bei einem Busunfall gereicht hätte, und machte sich flink ans Werk. „Für wen haben Sie mich gehalten? Was hat Ihnen der Mann getan, auf den Sie es abgesehen haben, obwohl Sie ihn nicht kennen?“ Der grauhaarige Mann hob langsam den Kopf. Milada 197
ließ die Schere, mit der sie eine Binde durchgeschnitten hatte, auf das Tablett fallen. Bort fuhr sie an: „Passen Sie doch auf! Sie sollen eine perfekte Schwester sein, aber vorläufig merke ich nichts davon.“ „Ich Dussel“, sagte der Mann. „Daß ich das nicht gleich erkannt habe! Sie sind von der Polizei, nicht wahr?“ „Leutnant Bort“, sagte der entlarvte Kriminalist. „Stellen Sie mir Ihren Freund vor, Fräulein Rendlová? Vorläufig weiß ich nur, daß er Alex heißt und gesessen hat.“ Milada unterbrach ihren Samariterdienst. „In Jablonec gibt es keinen Leutnant Bort. Sie sind also aus Prag. Was wollen Sie hier?“ „Solche Fragen beantworten Polizisten nicht, Lady.“ Der Mann verneigte sich. „Alexander Rak.“ „Der Sportfotograf?“ Rak hob überrascht die Brauen, und die matten Augen leuchteten. Es war jedoch nur ein Aufblitzen. „Der ehemalige“, präzisierte er. „In meiner Kaderakte befindet sich ein anstößiges Blatt.“ „Wofür wurden Sie bestraft?“ „Man hat mich unerlaubter Machenschaften bei Pferderennen beschuldigt.“ „Natürlich zu Unrecht?“ fragte Bort heuchlerisch. „Ich habe mich nicht verteidigt.“ Rak betrachtete seine dick umwickelte Hand. Bort forschte unerbittlich weiter. „Was machen Sie jetzt?“ „Hochzeiten, Abschlußfeiern und Beerdigungen.“ „Kann man davon leben?“ „Warum nicht? Wenigstens habe ich genügend Zeit für Dinge, die mich interessieren.“ Milada nahm das blutbefleckte Tablett von seinem Schoß und wischte sich die Hände mit einem Stück Gaze ab. „Alex arbeitet nicht nur für die Schublade“, erklärte sie eifrig, wobei sie den Fotografen mehrerer ‚Schnapp198
schüsse des Jahres‘ anstrahlte. „Manchmal macht er aus den besten Aufnahmen ein Buch.“ „Von solchen kaum.“ Bort schnippte der nackten Milada auf den Hintern, so daß die angezogene errötete. Rak versuchte nicht, die Autorschaft abzustreiten. „Das war nur ein Spiel. Wer hätte gedacht, daß jemand so etwas mißbraucht.“ Milada biß sich in die geballte Faust und sank auf die Seitenlehne von Raks Sessel, als suchte sie Schutz. „Wie lassen sich solche Fotos mißbrauchen?“ fragte Bort. „Sind sie in die Hände von jemandem geraten, der daran verdienen will?“ „Das war meine Schuld“, sagte Milada stöhnend, „ich war unvorsichtig und …“ Rak unterbrach sie. „Ich habe je zwei Kopien gemacht und das Negativ vernichtet, den einen Satz später ebenfalls.“ „Warum?“ „Die Abzüge, die ich Fräulein Rendlová gegeben habe, sind verlorengegangen.“ „Ich hätte sie gleich verbrennen sollen“, flüsterte Milada verzweifelt. „Warum bin ich bloß so vertrauensselig und leichtsinnig?“ „Wo waren die Abzüge?“ „Im Krankenhaus, in einem verschlossenen Schrank.“ Sie blickte den Fotografen an, als befürchtete sie, gescholten zu werden. „Wann ist das passiert?“ „Vor drei Monaten, ich habe schließlich bloß deshalb das Purkyně-Krankenhaus und Prag verlassen.“ Bort machte eine zweifelnde Miene. „Mein Gott, warum denn? Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie sich auch nackt auf einem Kamel fotografieren lassen, schließlich sind Sie volljährig und niemandem Rechenschaft schuldig.“ Rak mischte sich ungeduldig ein. „Ich habe Ihnen 199
doch gesagt, daß jemand diese Fotografien mißbraucht hat.“ „Wissen Sie denn nicht, daß die Verbreitung solcher privaten Fotos ohne Zustimmung des Objekts und noch dazu aus Eigennutz strafbar ist? Sie können mir doch nicht weismachen, daß Sie so naiv sind!“ Milada senkte schamhaft den Blick. Rak entgegnete wütend: „Da liegen Sie falsch. Der Gewinn ergab sich gerade aus dem Gegenteil der Verbreitung.“ „Also Erpressung? In einem solchen Falle zahlt doch nur jemand, der etwas zu befürchten hat! Wovor hatten Sie Angst, Fräulein Rendlová, vor einem Skandal?“ Die gebrochene Lilie antwortete nicht, das Wort ergriff wiederum der Fotograf. „Milada besaß in Prag keine eigene Wohnung. Das Mädchen, bei dem sie zur Untermiete wohnte, hat im Frühjahr geheiratet und ihr gekündigt. Danach wohnte Milada bei Bekannten und machte möglichst oft Nachtdienst. In ihrer Abteilung war ein Arzt, der sie manchmal im Ärztezimmer schlafen ließ. Die Fotos habe ich dort aufgenommen.“ „Der Erpresser hat mir gedroht, die Fotos dem Chefarzt zu schicken“, brachte Milada Rendlová fieberhaft hervor. „Das ist ein berüchtigtes Ekel, er hätte nicht nur mich mit einer scheußlichen Beurteilung rausgeschmissen, sondern auch den Arzt! Ivo hat sich mühsam bis Prag hochgearbeitet, und bloß weil er nett zu mir war, hätte er wieder in irgendein Nest zurückgehen müssen. Konnte ich das mit ruhigem Gewissen verantworten?“ „So haben Sie gezahlt?“ „Ja“, bestätigte sie trotzig. „Wieviel?“ „Insgesamt zehntausend. Nicht auf einmal, nacheinander.“ Bort nahm die Brille ab und schüttelte den Kopf, als könnte er seinen Augen und Ohren nicht trauen. Blin200
zelnd betrachtete er eine Aufnahme. „Und dafür haben Sie die Fotos so zurückbekommen?“ „Ja. Fünfmal habe ich in einen Plastebeutel vier Fünfhunderter getan und unter einer Badewanne versteckt. Dort kann man eine Fliese herausnehmen für den Fall, daß das Abflußrohr verstopft ist. Jeden Tag mußte ich nachsehen – es war zum Verrücktwerden. Wenn ich den Beutel vorfand, steckte ich das Geld rein, und am nächsten Tag bekam ich dafür ein Foto.“ „Warum sind die Fotos eigentlich durchgeschnitten?“ „Auf dem fehlenden Stück ist ein Detail, an dem man unzweifelhaft erkennt, wo das Foto aufgenommen wurde“, sagte Rak. In Borts Kopf tauchten so schnell Fragen auf, daß er nicht wußte, welche er zuerst stellen sollte. Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, schluckte er leider hinunter. „Auf welche Weise hat Sie der Erpresser wissen lassen, was er mit den Fotos machen könnte und wieviel er verlangt?“ „Er hat angerufen. Nur einmal.“ „War es ein Mann?“ „Das weiß ich nicht. Er sprach nur ein paar Sätze mit verstellter Stimme. Ich lief schnell in die Garderobe, um im Schrank nachzusehen. Die Fotos waren verschwunden. Dann rannte ich ins Bad und fand unter der Wanne das erste …“ Milada sah aus wie ein angeschossenes Reh. „Wo befindet sich das Bad?“ „Im Flur, der die Anästhesie mit der Chirurgischen verbindet. Dorthin kann jeder – auch Besucher.“ „Wer hatte Schlüssel zu dem Schrank?“ „Ich und Margita“, antwortete sie zögernd. „Aber das ist ein Serienschloß, das sich mit jedem zweiten Schlüssel öffnen läßt.“ Bort blickte lange in Miladas gequälte Augen. „Sie sind wirklich sehr vertrauensselig.“ 201
„Mir ist doch nicht eingefallen, daß jemand die Fotos nehmen könnte, und schon gar nicht, daß man sie auf so gemeine Weise ausnutzt! Sie als Polizist sind vielleicht gewohnt, sich unter Halunken zu bewegen und trauen jedem das Schlechteste zu …“ Milada stockte und biß sich verängstigt auf die Lippen. Alexandr Rak faßte sie um die Hüfte, um sie besänftigend zu drücken. „Du hast nichts Schlimmes gesagt, er ist doch ein Bulle.“ Herausfordernd blickte er den Leutnant an. „Ich kann nicht unter Menschen leben und arbeiten, denen ich nicht vertraue und bei denen ich ständig gewärtigen muß, daß mir jemand ein Messer in den Rücken stößt“, endete Milada. Bort nahm diese Worte kommentarlos zur Kenntnis. „Hat die Erpressung aufgehört, als Sie aus Prag fortgezogen sind?“ „Ja“, stammelte sie unsicher. Bort sah, wie der Arm des Fotografen erstarrte, und erinnerte sich an die Szene in der Gastwirtschaft. Darüber wollte er jedoch jetzt nicht reden. „Wieviel Aufnahmen waren es insgesamt?“ „Dreizehn“, antwortete Rak. „Eine Unglückszahl. Fünf haben wir für die runde Summe von zehntausend Kronen wiederbekommen. Diese …“ Er zeigte auf den Tisch, „stellten ein noch größeres Kapital dar.“ „Wie erklären Sie sich, daß die Fotos in der Handtasche sind, die in Urbans Hütte liegengeblieben ist?“ Milada Rendlová gebärdete sich, als würde ihr das erst jetzt bewußt. „Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken …“ „Warum haben Sie die Handtasche dort gelassen?“ fragte Bort, der in dem Moment sehr bedauerte, daß er nicht die Kompetenzen eines offiziellen Ermittlers besaß. Ihm fehlten auch die Informationen, die Leutnant Richtr inzwischen gesammelt haben mußte. 202
Milada blickte konzentriert, als versuchte sie sich krampfhaft an etwas zu erinnern, was sie in Narkose getan hatte. „Margita hat mich auf der Herfahrt besucht und überredet, mit ihr in die Hütte zu fahren, sie würde mich abends zurückbringen … Als wir angekommen waren, hat sie geheizt, und weil es eine Zeitlang dauert, bis das Zimmer warm wird, sind wir in die Gastwirtschaft gegangen. Margita wollte auch telefonieren. Sie hat dort ein Gläschen getrunken, deshalb habe ich ihr nicht erlaubt, sich ans Steuer zu setzen. Ich mußte mich zum Zug beeilen und konnte die Handtasche nicht mehr holen.“ Milada sah den Leutnant an wie ein Kind, das nicht sicher ist, ob es bestraft wird. „Ihr Geld war doch in der Handtasche“, wandte er ein. „Die vier Kronen für die Fahrkarte hat mir Margita gegeben.“ „Wie ging es Frau Urbanová finanziell?“ „Etwas besser als mir“, antwortete Milada reserviert. „Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber über Margita werde ich nicht sprechen. Ich kann nicht …“ Der Fotograf fiel ihr ins Wort: „Er will damit andeuten, daß dich Margita Urbanová erpreßt hat.“ Milada zog sich fast angeekelt von ihm zurück. „Du bist verrückt geworden!“ An Bort gerichtet, fügte sie schnell hinzu: „Meinen Sie das wirklich?“ „Das hätte Ihnen auch einfallen können“, antwortete Bort. „So ein Unsinn!“ Sie runzelte die Stirn und erklärte triumphierend: „Dann hätte sie doch nicht die Fotos in meine Handtasche gesteckt!“ „Das kann ihr Mann getan haben.“ Miladas Augen, klar wie ein Waldsee und ebenso veränderlich, füllten sich mit Erstaunen. „Ja“, seufzte sie. „Ihm würde nichts mehr Freude machen, als mich zu quälen. Geld braucht er zwar nicht, aber er weiß, daß ich 203
keines habe … Im Krankenhaus hat er Margita manchmal abgeholt – er konnte ihr den Schrankschlüssel wegnehmen und …“ Sie bückte sich, als wollte sie einem Schlag ausweichen, und stammelte: „Wenn Margita das erfahren hätte, dann …“ Bort erinnerte sich mit Bedauern an Urbans Alibi und wandte ein: „Ich dachte an eine andere Möglichkeit. Frau Urbanová hatte Ihre Handtasche so versteckt, daß sie bei der Haussuchung nicht gefunden wurde. Ebensogut konnte sie die Fotos versteckt haben. Urban hat beides entdeckt und zusammengetan. Von der Erpressung braucht er nichts zu wissen.“ Milada ließ Bort ausreden, schien aber nicht zuzuhören. „Niemals, niemals werde ich glauben, daß Margita so etwas getan hat“, sagte sie feierlich zum Fotografen. „So etwas darfst du nie mehr erwähnen, Alex. Das ist boshaft und absurd. Wir standen uns näher als zwei Schwestern, und obwohl ich dich gern habe, erlaube ich nicht, Margita zu verunglimpfen, wo sie sich nicht mehr selber verteidigen kann.“ Alexandr Rak schwieg. Bort sagte gereizt: „Sind Sie so sicher, daß Sie jetzt, nach ihrem Tod, von dem Erpresser in Ruhe gelassen werden?“ „Ja.“ Der Fotograf beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu blicken. „Wie kommst du darauf?“ fragte er gespannt. Milada reichte ihm ein Foto. „Sie sind durchgeschnitten. Das fehlende Stückchen nutzt ihm nichts.“ Rak starrte auf das Bild, und seine Haltung verriet, daß ihn Miladas Worte sichtlich erleichtert hatten. Er verfinsterte sich jedoch gleich wieder. „Und wenn er Kopien gemacht hat?“ Milada schüttelte mit Engelsmiene langsam den Kopf. „Dabei können Sie es doch nicht bewenden lassen“, sagte Bort ärgerlich. 204
„Warum nicht, Herr Leutnant?“ erwidert Rak. „Auf die zehn Lappen pfeife ich – der Teufel soll sie holen.,.“ Bort sperrte vor Erstaunen Mund und Nase auf. „Daß ein Mädchen, das in Panik gerät, eine solche Dummheit macht, könnte ich noch verstehen … Aber sie? Haben Sie denn tatsächlich gezahlt?“ „Woher hätte Fräulein Rendlová das Geld nehmen sollen? Ich habe sie in diese Lage gebracht, also war das auch meine Pflicht.“ Milada legte ihre Hände auf die verbundene Rechte des edlen Ritters. Bort steckte unauffällig Urbans Zettel ein und erhob sich steif. „Ich danke Ihnen“, sagte er zu Milada, die wie eine Neonlampe strahlte, „und will Sie nicht länger davon abhalten, um Ihre unersetzbare Freundin zu trauern.“ „Du kümmerst dich also um Urbans Hund“, bemerkte Leutnant Richtr. „Nicht nur um den Hund, leider.“ „Sondern?“ Richtr blickte scheinheilig von der Kaffeemaschine auf. „Halt mich nicht für dämlich“, entgegnete Bort. „Es war Nygrýns Pflicht, mich zu informieren“, erklärte Richtr im Kommißton. „Wenn du dich entschlossen hast, als Privatperson aufzutreten …“ „Mach anständigen Kaffee! Bei Fräulein Rendlová ist mein Kaffee kalt geworden.“ Richtr warf beinahe die Kaffeemaschine herunter. „Du warst bei ihr?“ „Tu bloß nicht so, als wüßtest du das nicht!“ „Woher soll ich das wissen?“ „Lady hat während meines Besuchs Nygrýn angerufen und ihm entlockt, wer ich bin. Ich nehme an, daß dein verläßlicher Wächter das umgehend gemeldet hat.“ „Nein“, sagte Richtr. „Hat sie in deiner Gegenwart angerufen?“ 205
„Selbstverständlich nicht, aber wer sonst hätte ihr das sagen können? Ich habe mich als Urbans Bekannter vorgestellt. Als sie Kaffee kochen war, hat jemand im Hause telefoniert, und danach war ihr Verhalten mir gegenüber deutlich verändert.“ „Wurde sie abweisend?“ fragte Richtr interessiert. „Im Gegenteil, mitteilsam. Sie hat mir viele Dinge anvertraut, von denen sie annehmen durfte, daß das ein Polizist weiß oder erfahren kann. Sie hat mir auch viele Lügen aufgetischt. Alle lügen, und dieses blonde Unschuldslämmchen vielleicht am meisten.“ „Warum bist du zu ihr gefahren?“ fragte Richtr. Bort reichte ihm Urbans Zettel. „Das lag auf ihrer Handtasche, die wir auf dem Tisch in der Hütte vorgefunden haben. Nygrýn hat mich wegen des Hundefutters dorthin geführt.“ Richtr las den Zettel mehrmals. „Und das hat dich dazu bewogen, deine Ansichten total zu ändern?“ „Das nicht. Die Fotos.“ „Was für Fotos?“ „Das Kaffeewasser verdampft“, sagte Bort. Leutnant Richtr schien das gleichgültig zu sein. „Was für Fotos?“ wiederholte er drohend. Bort stand auf, stellte die zischende Kaffeemaschine auf eine Asbestplatte und zog den Stecker heraus. Dann erbarmte er sich seines Kollegen. „Aufnahmen von der nackten Lady. Sie waren in der Handtasche.“ Er schilderte nun, was in der Zenknerschen Villa geschah, als er die Fotos gezeigt hatte, und schloß schadenfroh: „Schade, daß du die Hütte nicht ordentlich durchsucht hast. Urban war schlauer.“ Richtr erbleichte und schrie erbost: „Das wird Nygrýn büßen! Das kommt ihn verdammt teuer zu stehen, ich werde ihm …“ „Ruhig Blut, Mirek“, unterbrach ihn Bort. „Nygrýn ist ein guter ABV in seinem Dorf. Er war mit Urbans be206
freundet, also muß er Milada Rendlová kennen, die dort ein und aus ging. Wahrscheinlich ist er ein bißchen verknallt in sie. Er sieht in ihr ein zartes, schutzloses Wesen und will ihr Unannehmlichkeiten ersparen, die seiner Meinung nach unnötig sind.“ „Seine Meinung kann er sich an den Hut stecken“, wütete Richtr. „Es geht nicht um die Rendlová, sondern um den Kerl!“ „Du hast recht, aber ich bin noch nicht fertig. Willst du ein paar Fragen anhören, die mir eingefallen sind, als die Lady ihre Vorstellung abzog?“ Richtr klappte seinen Mund mit einem Laut zu, der an Türknallen erinnerte, und nickte gereizt, „Die Lady hat angeblich gezahlt, um einen Arzt, der nett zu ihr war, vor dem Rausschmiß zu bewahren. Das ist zwar ein sehr edles Motiv, aber es erinnert an einen alten Kitschroman, und ebenso glaubwürdig klingt die Erklärung, warum sie aus Prag weggezogen ist. Das zartfühlende Schwesterchen vermag nicht unter bösen und hinterhältigen Menschen zu leben. Hier leben wohl lauter Engel?“ Richtr antwortete nicht auf die rhetorische Frage. „Die Fotos bekam sie nach dem Tode ihrer Freundin zurück, mit der sie seinerzeit, als sich der Erpresser meldete, in derselben Abteilung arbeitete. Woher hatte Margita Urbanová die Fotos? Urban, der die Handtasche irgendwo aufgestöbert hat, konnte sie hineingelegt haben. Die Fotos konnten in einem Buch oder unter der Matratze versteckt sein – was weiß ich, wo du nicht nachgesehen hast. Ärgere dich nicht, du hast schließlich nichts Konkretes gesucht“, sagte Bort beschwichtigend. „Urban haßt die Rendlová. Margita hat ihm vielleicht von der Erpressung erzählt. Durchtriebenerweise hat er mich darum gebeten, ihr die Handtasche zu bringen. Er nahm zu Recht an, daß ich hineinsehe und daß die Fotos Fragen aufwerfen. Wir wissen nicht, wa207
rum Margita Urbanová getötet wurde, und er gibt uns einen Hinweis. Bei einer Erpressung hat das Opfer allen Grund, den Erpresser zu beseitigen. Urban hatte seine geschiedene Frau völlig durchschaut. Er kannte ihre hohen Ansprüche – seit der Scheidung hat sie fast dreißigtausend Kronen verpulvert, die er ihr gelassen hat, und für weitere zehntausend hat sie einen ungedeckten Scheck ausgestellt. Margita Urbanová besaß offenbar eine sehr persönliche Auffassung von Moral, besonders im Verhältnis zu Männern. In den letzten Monaten muß sie in Geldnöten gewesen sein, schließlich hat sie Schulden gemacht. Und ihre Freundin hat einen Verehrer, der nicht knausrig ist, wenn es um die Dame seines Herzens geht. Dieser Alexandr Rak ist ein merkwürdiger Vogel. Er verwendet seine finanziellen Mittel für verdächtige und gefährliche Sachen.“ Bort gab Richtr das Papierstückchen, das unter den Scherben im Badezimmer gelegen hatte. „Heimlich putscht er sich mit solchem Zeug auf.“ Richtr enträtselte die Aufschrift und verfinsterte sich. „Man müßte nachprüfen, an welche Giftschränke Schwester Milada im Krankenhaus rankommt.“ Bort schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß sie von seinem Laster weiß. Hast du ihn einmal gesehen?“ „So etwas merkt man bei einem vertrauten Menschen. Wenn er daran gewöhnt ist, muß er am Sonnabend eine ganze Menge geschluckt haben. Er hatte die Lady und die alte Dame am Hals. Ich an seiner Stelle wäre geflüchtet. Er benahm sich tadellos, aber im stillen mußte er fluchen, daß er in einen solchen Schlamassel geraten war.“ „Wann ist er angekommen?“ „Angeblich kurz vor mir. Als ich dort erschien, lag die Oma im Bett und verlangte so laut nach Fürsorge, daß man das durch die Doppeltür hörte. Sie hält ihre Nichte auf Trab“, sagte er mitleidig, „und ich wundere mich 208
nicht, wenn Ladys Nerven mitgenommen sind. Lady ist richtig zusammengebrochen.“ „War dieser Zusammenbruch nicht gespielt?“ „Ich würde sagen, nein. Zuerst antwortete sie auf alle Fragen wie ein Automat. Sie brach erst in dem Moment zusammen, als ihr alles bewußt wurde.“ „Hast du mehr erfahren als ich?“ „Nein. Margita Urbanová hat sie am Freitag mehr oder weniger entführt. Die beiden hatten sich schon ganze zwei Wochen nicht gesehen und mußten über ihre Mädchengeheimnisse plauschen. Margita beeilte sich, das Hüttchen für einen Herren zu heizen, an dem ihr viel lag. Sie wollte ihrer Freundin nicht sagen, wer es ist, aber versprach ihr, am nächsten Tag nach Jablonec zu kommen und ihn vorzuzeigen. Deshalb ließ Milada auch unbesorgt ihre Handtasche in der Hütte, bis zum Morgen brauchte sie die Sachen nicht. Sie fuhr mit dem Zug nach Hause, weil …“ Bort unterbrach ihn ungeduldig. „Hast du sie über den Anruf befragt?“ „Margita Urbanová hat einen Bekannten angerufen, der versprochen hatte, für die Lady Tuzexbons zu besorgen. Der Mann hat sich damit nicht beeilt, und Lady, ein vorsichtiges Mädchen, wollte ihr Geld wiederhaben, das sie ihm schon über Margita gegeben hatte. Er heißt Pepa, Namen und Telefonnummer weiß sie nicht, und Margita hat ihn an diesem Abend nicht erreicht.“ „Mir scheint, das Gespräch betraf eine ganz andere Angelegenheit“, sagte Bort unzufrieden. „Sie war zu nervös, als daß es um ein paar Hunderter gehen konnte.“ „Warum hast du sie nicht selber gefragt?“ „Weil ich eine Privatperson bin“, entgegnete Bort im gleichen Ton. „Dann misch dich nicht ein! Nervös war sie, weil sie wußte, daß sie viel später als geplant heimkommen würde. Sie erreichte den Zug um neunzehn Uhr fünf209
undzwanzig. Er war halbleer, und der Schaffner – ein Bürger dieser Gemeinde, der Lady vom Sehen kennt – erinnert sich an sie. Nach ihrer Rückkehr war die alte Dame noch wohlauf, aber am frühen Morgen wurde ihr so übel, daß sie ohne Ladys Hilfe das Zeitliche gesegnet hätte.“ „Hat dir das Frau Zenknerová selber gesagt?“ „Valtrová, Zenkner hieß ihr Vater, der Immobilien und ein Sägewerk besaß“, belehrte ihn Richtr. „Falls du es nicht weißt: Ich spreche deutsch ebensogut wie tschechisch und habe ihr schön erklärt, worum es geht. Sie nickte nur und wiederholte ständig ja, ja, ja. Was gefällt dir daran nicht?“ „Von der Erpressung brauchten wir gar nichts zu erfahren, warum hat sie das gerade jetzt ausgepackt? Ist sie wirklich so naiv, daß sie meint, jemanden zu überzeugen, wenn sie hartnäckig ablehnt, ihre Freundin Margita damit in Zusammenhang zu bringen?“ „Naiv oder gerissen – für die Zeit, als Margita Urbanová starb, hat Schwester Milada ein Alibi.“ Richtr drehte sich zur Kaffeemaschine um. „Vom frühen Morgen an saß sie am Bett ihrer kranken Tante. Die Alte hat mir selber gesagt, sie habe das Mädchen aufgenommen, damit sich jemand um sie kümmert. Im Altersheim könnte sie keinen triezen, womit sie sich um den letzten Genuß brächte, der ihr im Leben noch geblieben ist.“ Er trank einen Schluck Kaffee und schnalzte zufrieden. „Dagegen hat Urban für diesen Morgen kein Alibi.“ Bort ließ ein Stückchen Zucker in die Tasse plumpsen. „Er war doch in Prag auf der Sparkasse.“ „Big Johnny ist ein Mann der Tat“, sagte Richtr. „Auf der Sparkasse war er am Freitagnachmittag. Er hatte bei Margita diesen Ingenieur Husník angetroffen, und offenbar ging ihm endlich auf, daß er selber ein Narr war. Seine psychischen Prozesse sind zwar lehrreich, aber unwesentlich. Wichtiger ist die Tatsache, daß er am 210
Freitag in Mladá Boleslav zu Abend gegessen hat, und bedient hat ihn Pavel Klem, Kellner im Grand Hotel und angeschmierter Gläubiger Margita Urbanovás. Außerdem ein glühender Eishockeyfan. Dieser Bursche hat zwar seinen ständigen Wohnsitz in Prag, aber meist übernachtet er in Boleslav. Seine Prager Wohnung wurde von einem Fräulein gehütet, dem Urban entlockte, wo er Klem findet. Das dauerte fast eine Stunde. Wenn du dieses Fräulein sehen würdest, wäre dir klar, wie er das angestellt hat.“ Er sog an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Luft. „Was guckst du mich so an, als hätte ich deinen Papa gestohlen? Ich bin in den zwei Tagen nicht mit einem Hund durch die Wälder geschlendert.“ Bort atmete tief ein. „Hast du mit dem Kellner gesprochen?“ „Natürlich. Er war auch gesprächig, aber im Unterschied zu Schwester Milada vorsichtig und wahrheitsliebend. Klem hat nämlich schon eine Strafe abgesessen, und ihm liegt sehr daran, daß seine Kaderakte sauber bleibt. Vor einigen Jahren hat er in einem bekannten Motel gearbeitet und seine Einkünfte als Kuppler und Devisenschieber aufgebessert.“ „Wollte er die Tuzexbons besorgen?“ fragte Bort. „Bestimmt nicht!“ antwortete Richtr lachend. „Dieses Gewerbe hat er längst aufgegeben, Wahrscheinlich verleiht er Geld zu Wucherzinsen, aber das kann man ihm leider nicht nachweisen. Der Kredit war wohl nicht ganz in Ordnung, wenn Margita Urbanová gewagt hat, ihn mit einem ungedeckten Scheck zurückzuzahlen.“ „Klem behauptet, er hätte ihr die zehntausend Kronen geborgt?“ „Ja, vor drei Monaten, ganz uneigennützig, auf ihr Ehrenwort, daß sie das Geld in sechs Wochen zurückzahlt.“ Richtr grinste amüsiert. „Als sie das Versprechen nicht erfüllte, wartete er geduldig bis zum letzten Frei211
tag. Die Nacht zuvor war er mit seinem Fräulein durch Prager Bars flaniert, und als er morgens so weit zu Kräften gekommen war, daß er den Hörer abnehmen konnte, rief er Margita an und verlangte sein Geld gleich zurück. Er verabredete sich mit ihr im ‚Slavia‘, aber dann hatte er es eilig und fuhr zu ihr. Dort sah er gerade noch, wie sie mit dem Hund abrauschte. Er erkannte, daß sie ihm entwischen wollte, und verfolgte sie. In Prosek an der Tankstelle holte er sie ein. Margita Urbanová beteuerte hoch und heilig, sie hätte plötzlich wegfahren müssen und ihn nicht erreichen können. Klem verlangte unerbittlich sein Geld. Schließlich gab sie ihm einen Scheck. Er fuhr damit zur Sparkasse, und eine Stunde später befand er sich wieder mit leerer Brieftasche auf der Landstraße nach Boleslav, auf der ihm die treubrüchige Schuldnerin entflohen war.“ „Wußte er, wohin sie fahren wollte?“ „Er behauptet, nein.“ „Woher kannten sich die beiden eigentlich?“ „Schwester Margita hat Klem das Leben gerettet“, sagte Richtr gerührt. „Als man ihm im Purkyně-Krankenhaus die Krampfadern entfernt hatte, erkannte sie, daß der Tod auf ihn lauert. Niemand kümmerte sich um ihn, nur sie. Aus Dankbarkeit half ihr Klem dann aus der Klemme, als sie ihn um ein Darlehen bat.“ „Die Dankbarkeit hat nicht lange angehalten“, sagte Bort lächelnd. „Konnte Klem der Urbanová bis zu ihrer Hütte nachfahren?“ „Nein, um zwei begann sein Dienst in Boleslav, das schaffte er gerade noch. Der Dienst endete um zehn Uhr abends, danach begab er sich mit Urban in die Bar, wo sie bis halb drei saßen. Klem ließ Urban in seinem Zimmer übernachten, und weil das nur ein Kabäuschen ist, wo kaum ein Bett Platz hat, schlief er bei der Empfangsdame Květa, die ein größeres Zimmer und offenbar ein gastliches Bett besitzt. Ansonsten ist sie eine 212
seriöse Dame, mit ihren siebenundvierzig Jahren sehr gut erhalten. Sie bezeugt, Klem hätte bis halb elf wie ein Säugling geschlafen und dann Verbitterung darüber bekundet, daß sein Gast inzwischen ohne Abschied davongefahren war. Wann, weiß keiner von den beiden, und zu Urbans Pech überhaupt niemand im Hotel. Er hat sich offenbar durch den Hintereingang verflüchtigt.“ „Es sieht also schlecht für ihn aus“, stellte Bort versonnen fest. „Miserabel“, bestätigte Richtr. „Tatsächlich hat er gegen elf in Mnichovo Hradiště gefrühstückt, aber es wird schwer nachzuweisen sein, daß er nicht auf der Hinfahrt dort eingekehrt ist. Möglicherweise hat er versucht, sich ein Alibi zu verschaffen, und ist nach der Tat zurückgefahren.“ „Was sagt er dazu?“ „Urban ist gestern abend mit seiner Mannschaft nach Finnland geflogen“, sagte Richtr ärgerlich. „Es gab keinen Grund, ihm das zu verwehren, er war schon zwei Jahre geschieden. Zu der Zeit wußte ich auch nicht, daß er gelogen hat.“ „Verdammt! Wann soll er zurückkommen?“ „In fünf Tagen“, sagte Richtr niedergeschlagen. Sie blickten einander an, aber keiner sprach aus, was er dachte. Richtr unterbrach die drückende Stille. „Dein Kaffee ist wieder kalt geworden. Trinkst du ihn noch?“ Bort schüttelte den Kopf, und sein Kollege, der diese Geste falsch auffaßte, griff nach der Tasse. „Warum hätte er das tun sollen?“ schrie Bort plötzlich. Richtr warf erschrocken die Tasse um, der Kaffee floß auf den Tisch. „Das weiß ich nicht“, antwortete er unwirsch. Er bückte sich hinter dem Schreibtisch und tauchte mit einem Handtuch wieder auf. Sein Gesicht hatte sich erhellt. „Wenn es Urban war, hatte er einen 213
guten Grund, die Fotos in Miladas Handtasche zu stecken. Eine Freundin, die von Margita erpreßt wurde, wäre eine Täterin wie aus einem Bilderbuch.“ „Da hätten wir die Fotos in Margitas Sachen finden müssen“, wandte Bort ein. „Ihre Sachen hatten wir schon durchsucht“, entgegnete Richtr, „und er konnte sich nicht darauf verlassen, daß wir es noch einmal tun würden.“ „Wenn die Erpressung nicht bekannt geworden wäre, hätten die Fotos gar nichts bedeutet!“ „Du hattest kein Recht, sie der Rendlová zu geben“, warf ihm Richtr vor. Bort griff mit hinterlistigem Lächeln in die Tasche und legte ein reizvolles Foto auf den Tisch. Richtr beugte sich neugierig darüber. „Warum ist es abgeschnitten?“ fragte er, nachdem sich seine Augen an der nackten Lady geweidet hatten. „Ich habe dir doch gesagt …“ „Schon, aber warum sind die Fotos, die der Erpresser noch nicht benutzt hat, durchgeschnitten? Und warum sind die Abschnitte nicht im selben Umschlag?“ „Woher soll ich das wissen? Sag mir lieber, wozu sich Margita Urbanová die zehntausend Kronen geborgt hat.“ „Das weiß Klem nicht“, Richtr schaute vom Foto auf, das wieder seine Blicke angezogen hatte. „Meinst du, die Urbanová hätte auch geblecht?“ „Sie war nicht der Typ dazu“, entgegnete Bort. „Aber Tatsache ist, daß sie dringend Geld brauchte, und ihr war jede Methode recht, welches aufzutreiben.“ „Sie soll ihre beste Freundin erpreßt haben?“ zweifelte Richtr. Bort fauchte verächtlich. „Diese Weiberfreundschaften! Lady ist mehrere Jahre jünger als Margita und hat ihr vielleicht einen Verehrer ausgespannt. Möglicherweise hat sie dafür bezahlt, daß dieser die Fotos nicht sieht, die ihr zweiter Liebhaber, der verkrachte Fotograf, 214
gemacht hat. Den edlen Grund kann sie sich lediglich für Rak ausgedacht haben.“ „Warte mal!“ Richtr hob die Hände in prophetischer Verzückung wie die Fürstin Libuše. „Wenn nun Milada Rendlová ihrer Freundin Margita den zahlungskräftigen Ehemann ausgespannt hat?“ Bort blinzelte Richtr über die Brillenränder an. „Nun ja, seine Feindseligkeit ihr gegenüber ist leicht übertrieben. Und seine immerwährende, alles verzeihende Liebe zu Margita ebenfalls.“ Leutnant Richtr hüpfte lebhaft auf seinem Stuhl. „Margita tut so, als liege ihr nichts an ihrem untreuen Ehemann. Sie hält weiterhin Freundschaft mit Lady und wartet auf eine Gelegenheit, ihr das heimzuzahlen. Diese Gelegenheit bietet sich, als sie die Fotos entdeckt. Sie beginnt zu kassieren, wobei sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Erstens kann sie sich rächen, und zweitens bekommt sie Geld, woran es ihr nach der Trennung von ihrem Mann ständig mangelt.“ Bort wollte etwas einwenden, aber Richtr hob die Stimme. „Urban fährt Sonnabend früh nach Josefův Důl, trifft aber Margita nicht an. Er sucht etwas, was erklären würde, warum sie einen ungedeckten Scheck ausgestellt hat, und durchwühlt ihre Sachen. Dabei findet er die Fotos. Das bringt ihn tüchtig auf, er will wissen, von wem und wann sie gemacht wurden, und warum sie in Margitas Besitz sind. Urban ist gewöhnt, alles gleich zu erledigen, also läuft er Margita in den Wald nach. Er weiß, wohin sie gewöhnlich geht, übrigens führt ihn der Hund. Auf dem Felsen findet er sie. Margita sitzt auf hohem Roß. Sie lacht ihn aus, weil er auf eine Hure hereingefallen ist, und sagt ihm viele verletzende Worte. Big Johnny ist ein hitziger Mann, auf dem Eis wird er als der ‚Böse‘ gefürchtet. Er sieht rot, packt Margita und stürzt sie vom Felsen. Als er merkt, daß sie tot ist, versucht er einen Unfall zu arrangieren und fährt fort. In 215
Mnichovo Hradiště hält er an, um alles zu überdenken. Die Fotos hat er bei sich, das frißt in ihm. Er ist ein eitler Kerl und kann nicht glauben, was ihm Margita gesagt hat. Die Zweifel kann nur Lady zerstreuen, dieses zärtliche, fügsame Mädchen, das sich so sehr von der explosiven und launischen Margita unterscheidet. Oder ist sie ein verlogenes Biest, das ihn an der Nase herumführt? Er kann sie jedoch nicht gleich in Jablonec überfallen und eine Erklärung fordern, denn er darf nicht zugeben, daß er die Fotos vor Margitas Tod gefunden hat. Obwohl sie für ihn gefährlich sind, bringt er es nicht fertig, sie wegzuwerfen und darüber zu schweigen. Deshalb kehrt er zur Hütte zurück, wo er – früher als vermutet – uns antrifft. Die Szene hat er recht gut gespielt. Als er allein ist, steckt er die Fotos in die Handtasche. Diese Zeitbombe übergibt er dem gutmütigen Kerl, dem er auch seinen Hund aufhalst. Ob du in die Tasche guckst und was du mit ihrem Inhalt machst, ist ihm gleichgültig. Lady gegenüber kann er immer behaupten, er habe alles von uns erfahren, und sie wird sich dazu äußern müssen. Selbst wenn ihm dieses Mädchen nicht viel bedeutet, will er sich bestimmt nicht eingestehen, daß ihm Margita vor ihrem Tode die Wahrheit gesagt hat.“ Richtr verzierte sein schwitzendes Gesicht mit dem inzwischen erloschenen Glimmstengel. „So kann es gewesen sein, nicht wahr?“ Bort biß sich auf die Lippen. Nach einer Weile sagte er: „Bete zu allen Heiligen, daß es nicht so war. Sonst wäre Urban ein Idiot, wenn er aus Finnland zurückkäme.“ Eine Stunde später irrte Petr Bort zwischen Säulen umher. Die rußgeschwärzte Tapete, mit der sie beklebt waren, versuchte erfolglos, Marmor vorzutäuschen. Das Klappern von Besteck drang bis zur hohen Decke, über das abgetretene Parkett schwebten zwei Serviererinnen 216
wie Schwalben, die ihre nimmersatten Jungen füttern. Das Grand Hotel in Mladá Boleslav bestand schon über achtzig Jahre, und seit der Gründung hatte man nur das Personal und die Tischtücher erneuert. Die Bedienung war jedoch beispielhaft, und von den Tellern stiegen Düfte auf, die Borts Speicheldrüsen in Springbrunnen verwandelten. Vergeblich spähte er nach einem leeren Stuhl. Als er dessen überdrüssig war, begab er sich zur Theke. Ein rothaariger Barkeeper drehte den Bierhahn so energisch auf und zu, daß das Gewinde Qualen ausstand, und verwandelte geschickt wie ein Eskamoteur uninteressante Gläser in schaumkappenverzierte Humpen. Bort schielte sehnsüchtig zu ihnen hinüber, und um der Versuchung zu widerstehen, richtete er den Blick auf die Fenster, vor denen vergilbte Stores hingen. „Getränke werden nur am Tisch serviert“, erklärte der Mann am Zapfhahn. Bort drehte sich zu ihm um. Er sah ein blasses, spitzes Gesicht mit Fuchsaugen und schmalen Lippen. Die Mundwinkel waren mißmutig heruntergezogen. „Sind Sie Herr Klem?“ Die geröteten Augen maßen Bort argwöhnisch, die sommersprossige Hand am Messinghahn verkrampfte sich. Bort begriff erfreut, daß er seinen Mann gefunden hatte und daß er sich nicht ausweisen mußte. Klem erkannte einen Polizisten ebenso verläßlich wie einen ehemaligen Häftling. „Was wollen Sie von mir?“ fragte Klem mit tonloser Stimme. „Mich mit Ihnen unterhalten.“ „Ich habe schon alles Leutnant Richtr gesagt“, erwiderte Klem in sichtlicher Abwehrhaltung. „Alles worüber?“ Klem blickte nicht von dem Strahl auf, der in die Gläser rann. „Über Urban.“ 217
„Über ihn möchte ich gar nicht reden“, sagte Bort lächelnd. Klem betrachtete ihn wiederum argwöhnisch. „Ich weiß nicht, worüber ich noch mit Ihnen reden sollte.“ „Das lassen Sie meine Sorge sein. Ist es möglich, daß Sie eine Weile von jemandem vertreten werden?“ „Zwei Cola, zwei Rum“, sang eine Serviererin, die mit einer Pyramide leerer Teller vorübertrippelte. „Sieh mal nach, ob Olda schon zurück ist“, rief ihr Klem hinterher. Das Mädchen nickte und verschwand in der Küche. „Um zwei muß ich an meinem Platz sein“, sagte Klem grantig zu Bort. „Können wir das nicht hier erledigen?“ Aus der Schwingtür guckte ein Köpfchen mit einem Spitzenhäubchen und zwitscherte: „Noch fünf Minuten, Pavlík. Olda ißt gerade.“ „Verdammt“, erleichterte sich Klem. „Ich habe die Theke bloß für ihn übernommen. Er stopft sich voll, und ich kann nicht mehr in Ruhe essen. Das hat man für seine Gutmütigkeit!“ Das Glas unter dem Zapfhahn floß über. Bort streckte die Hand aus und schloß den Hahn. „Ich habe auch noch nicht gegessen“, sagte er kameradschaftlich. „Wissen Sie was, holen Sie diesen Olda und setzen Sie sich zu mir. Dort die beiden in der Ecke zahlen gerade.“ Zehn Minuten später sank Klem in einer schwarzen Jacke, die er gegen die weiße ausgetauscht hatte, auf den Stuhl gegenüber dem Leutnant. Bort aß den außergewöhnlich schnell servierten Gulasch auf und schob den Teller beiseite. Eine anmutige Serviererin räumte sogleich ab und stellte zwei Tassen Kaffee auf den Tisch. „Essen Sie nichts?“ fragte Bort verwundert. „Aber …“ „Was wollen Sie?“ Der Tonfall drückte deutlich aus, daß Klem lieber hungerte, als mit einem Polizisten gemeinsam zu speisen. 218
Bort seufzte und griff in die Tasche nach der Zigarettenschachtel. „Von mir erfahren Sie nichts“, sagte Klem verächtlich. Bort nahm eine Zigarette, sah sich nach einem Aschenbecher um und seufzte. „Darf man hier mittags überhaupt rauchen?“ „Nein“, antwortete Klem grinsend, „aber das gilt doch nicht für einen wie Sie.“ Bort steckte die Zigarette wieder in die Schachtel. „Hören Sie auf, sich so aufzuführen, daß jeder denken muß, Sie hätten wieder was auf dem Kerbholz.“ „Fangen Sie nicht so an!“ zischte Klem. „Solche wie Sie habe ich genug kennengelernt, und ich will das nicht noch mal durchmachen! Ich habe ein reines Gewissen und zahle bloß drauf wegen meines weichen Herzens. Der Teufel soll diese Margita holen! Konnte ich denn ahnen, was das für ein Luder ist?“ „Bei Ihren Erfahrungen“, bemerkte Bort. Klem lächelte sauer. „Würden Sie einem barmherzigen Engel so viel Gemeinheit zutrauen? Um mich stand es schlecht, und den Doktoren war das egal. Was kümmert die ein elender Kellner, wo sie das Krankenhaus voller Geldsäcke haben, von denen sie gespickt werden! Ich bin bloß ein gewöhnlicher Arbeiter und habe auch ein Recht auf ordentliche Pflege. Warum sollte ich dafür extra zahlen?“ beklagte sich Klem, als wäre Bort für das Unrecht verantwortlich, das man an ihm verübt hatte. „Schließlich haben Sie mehr gezahlt, als bei einer solchen einfachen Operation üblich ist“, sagte Bort boshaft. „Wenn es um Sie ginge, würden Sie nicht ‚einfach‘ sagen“, erwiderte Klem beleidigt. „Tatsache ist, daß ich jetzt die Radieschen von unten begucken könnte, wäre Schwester Margita nicht gewesen. Als es mit mir zu Ende ging, hat sie im letzten Moment einen Arzt geholt. Das Geld habe ich ihr übrigens nicht geschenkt, sondern geborgt“, fügte er nachdrücklich hinzu. „Hätten Sie an 219
meiner Stelle und unter solchen Umständen Schwester Margita eine Bitte abgeschlagen?“ „Hat sie darum gebeten, kaum daß Sie bei Bewußtsein waren?“ fragte Bort scheinheilig. „Ich war schwach wie eine Fliege“, sagte der Kellner jammernd. „Das konnte ich ihr nicht abschlagen – schon aus Angst nicht. Ich hatte Angst, daß ich nicht übern Berg bin. Den Ärzten habe ich kein Wort geglaubt. Schwester Margita hat bei mir gesessen, wann sie nur konnte, und hat sich mit mir unterhalten, damit ich auf andere Gedanken komme.“ „Stand es um Sie wirklich so schlimm, daß man Sie in ein Einzelzimmer verlegt hat?“ „Mit mir ging’s zu Ende, doch Einzelzimmer kriegen andere als ich. Sie haben mich im alten Zimmer gelassen.“ „Schwester Margita hat doch auf einer anderen Station gearbeitet. Wie konnte sie sich Ihnen widmen?“ „Sie kam oft in die Chirurgische. Ich dachte, bloß meinetwegen, weil … Einfach, weil ich ihr sympathisch bin. Margita ist eine schöne Frau, geschieden, und ich bin nicht gerade zum Wegschmeißen. Dann habe ich erfahren, daß sie einem Doktor nachgelaufen ist. Sie hat sich bloß für mein Geld interessiert, doch als ich das merkte, hatte sie es schon in der Tasche. Auf ein solches berechnendes Biest bin ich reingefallen.“ Petr Bort begriff sehr wohl, daß eine alte und häßliche Schwester Margita ungeachtet ihrer Verdienste bei der Lebensrettung keinen Heller bekommen hätte. Außerdem waren sowohl diese Verdienste wie die Lebensbedrohung mit Vorbehalten zu betrachten. „So haben Sie Schwester Margita das Geld nur auf ihr hübsches und scheinbar ehrliches Gesicht geborgt?“ „Halten Sie mich für einen Idioten?“ Klem grinste verschlagen. „Ich habe ihr eine Vollmacht gegeben, mit der sie die zehn Riesen von meinem auf ihr Konto über220
wiesen hat. So konnte sie später nicht behaupten, sie hätte das Geld für mich abgehoben, als ich ans Bett gefesselt war.“ Bort impfte sich ins Gedächtnis ein, daß Richtr Margitas Kontostand während der letzten Monate nachprüfen müsse. „Sie hat geschworen, ich würde das Geld in sechs Wochen wiederbekommen“, fügte Klem hinzu. „Haben Sie nicht gefragt, wie sie in der Zeit eine solche Summe sparen will?“ „Klar, ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen! Sie hat gesagt, das Geld braucht sie für einen Verwandten, der momentan klamm ist, aber große Außenstände hat. Ich dachte, das ist ein Mann, der nicht von seinem Gehalt lebt. Das war glaubwürdig. Ich kenne solche Leute, die plötzlich einen Batzen Geld kriegen, ihre Schulden bezahlen, den Rest verprassen und dann wieder von der Hand in den Mund leben. Verdammte Lügnerin! Am Ende hat sie das noch mit dem Bauchaufschneider verjuchtelt! Mein Geld! Ein so verdorbenes Weibsstück ist mir mein Lebtag nicht begegnet! Die war zu allem fähig, die hatte gar kein Gewissen!“ „Vorige Woche wollte sie Ihnen doch die Schulden zurückzahlen.“ „Mit einem ungedeckten Scheck!“ „Den Scheck hat sie Ihnen am Freitag gegeben. Eine solche Summe konnten Sie nur auf der kontoführenden Sparkasse abheben. Sie mußten zum Dienst, also durfte Frau Urbanová annehmen, daß Sie den Scheck am Freitag nicht einlösen. Am Montag wäre das Geld vielleicht schon auf dem Konto gewesen.“ Pavel Klem rümpfte seine sommersprossige Nase. „Wie hätte sie das so schnell aufgetrieben?“ „Keine Ahnung“, antwortete Bort ehrlich, „aber vielleicht tun Sie ihr unrecht.“ „Das tue ich nicht“, entgegnete der Kellner. „Warum hat 221
sie sich mit mir verabredet, obwohl sie wußte, daß sie nicht kommt? Warum hat sie versucht, mich auszutricksen?“ „Um die Sache aufzuschieben. Sie wußte, daß Sie hartnäckig sind.“ „Das können Sie laut sagen! Ich war fest entschlossen, mein Geld zurückzubekommen, und wenn ich …“ „Was hätten Sie getan, wenn Sie den Scheck nicht erhalten hätten?“ Der kleine Mund blieb geschlossen, als wäre ein Schloß zugeschnappt. „Und was haben Sie getan, als Sie feststellen mußten, daß Sie von ihr geleimt wurden?“ forschte der Privatmann Petr Bort weiter. Klem fletschte das gelichtete Gebiß zu einem triumphalen Lächeln. „Honza Urban hat alles bezahlt. Am selben Abend hat er mir zwanzig rote Scheinchen auf den Tisch geblättert. Da staunen Sie! Aber für den ist das ein Klacks. Urban ist ein feiner Kerl.“ Bort musterte versonnen den zufriedengestellten Gläubiger. „Ich wundere mich bloß, daß Sie ihm für diese Summe kein einwandfreies Alibi bezeugt haben.“ Der Kellner blinzelte verwirrt und fragte: „Was für ein Alibi?“ „Margita Urbanová wurde am Sonnabendmorgen ermordet.“ Die Pupillen der hellen Augen weiteten sich. „Darüber weiß ich nichts … Damit habe ich nichts zu tun … Was wollen Sie von mir? Sie sagen am Sonnabendmorgen, da war ich hier im Hotel und habe geschlafen … und … und …“ Klem schien in einem tiefen See zu versinken. „Und das Geld hatten Sie schon von Urban erhalten“, sagte Bort. „Doch der feine Kerl hat kein Alibi. Was sagen Sie dazu, Sie Undankbarer?“ Klem tauchte wieder auf und rang froh nach Luft. „Vielleicht braucht er keins, sonst hätte er mich darum gebeten.“ 222
‚Und da er genug Geld besitzt, hätte er noch etwas draufgelegt‘, fügte Bort im stillen hinzu. Daran, daß der Kellner für Geld alles bezeugen würde, zweifelte er nicht. Es war schon fast dunkel, als der rote MB den Berg nach Josefův Důl hinunterfuhr. Das zwanzig Jahre alte Gefährt wurde von einem liebevoll gepflegten Motor getrieben. Seinen zwölf Jahre älteren Fahrer quälte das schlechte Gewissen, weil Don seit dem Morgen in der Hütte eingesperrt war. Petr Bort, erschöpft von den Gesprächen mit unaufrichtigen Menschen und dem langen vergeblichen Warten auf Leutnant Richtr, freute sich auf das liebe Tier mehr als auf ein Rendezvous mit einem Mädchen. ‚Der Teufel hole alle Weiber, und zuerst die Krankenschwestern! Wer soll sich in ihren Schlichen und Ränken auskennen? Sie vermengen Wahrheit und Lüge so gründlich, daß niemand weiß, ob sie schwarze Sünderinnen oder weiße Unschuldslämmer sind. Es geht doch nichts über einen schönen Verkehrsunfall, bei dem man von einer Position zur anderen schreitet, auch wenn das mühsam ist. Schließlich ist es nur eine Frage von Konsequenz und Routine. Warum bist du von dort fortgelaufen, bist du etwa ein ehrgeiziger Karrierist? Vor einer Woche warst du entschlossen, auf die Straße zurückzukehren, wo du dich bewährt hast. Was treibt dich dazu, einen Fall zu untersuchen, den dir niemand zugeteilt hat und der dir nur Kopfschmerzen macht? Dir winkt keine Ehre, kein Ruhm, nicht einmal das Lächeln einer Prinzessin wird dich beglücken. Für die blutarme und leicht hysterische Blondine, bist du bloß ein schnüffelnder Bulle. Halt das Lenkrad fest und …‘ Bort geriet in eine Rechtskurve und trat wütend auf die Bremse. Der MB drehte sich um einhundertachtzig Grad. Er landete am Hang, wo tagsüber Ziegen weide223
ten. Bort bewegte den Kopf, um festzustellen, ob er sich den Hals gebrochen hatte, und stieg aus. Ein weißer Škoda 120 L versperrte die Straße dicht unter der Serpentine. Er stand schräg, nur das Standlicht brannte. Vor dem rechten Scheinwerfer bewegte sich etwas Dunkles. Es war ein Mann, der zuckte, als hauche er den letzten Atem aus. Plötzlich sank er mit ausgestreckten Armen auf den Kofferraum. Bort hob den Mann am Haarschopf hoch und roch Erbrochenes, das nach Alkohol stank. Das Herz des Verkehrsteilnehmers hüpfte vor Erleichterung, die Seele des Verkehrspolizisten stöhnte leise. Der untadelige Bürger Petr Bort spuckte aus, schleppte den widerlichen Säufer zu seinem Wagen und lagerte ihn im seichten Straßengraben. Dann kehrte er zu dem Škoda zurück, um ihn auf einen freien Platz vor der nächstgelegenen Hütte zu fahren. Das Auto war unversehrt. Bort schaltete den Motor aus, legte den zweiten Gang ein, zog die Handbremse, stieg aus, verschloß die Tür und betrachtete das Prager Nummernschild. Von diesen mechanischen Verrichtungen beruhigt, ging er zurück zu der Schnapsleiche. Sie lag auf der Seite und ächzte, sah aber nicht allzu beschädigt aus. Bort richtete nun die Aufmerksamkeit auf sein Gefährt. Ohne größere Probleme fuhr er es zurück auf die Straße. Er drehte es so, daß die Scheinwerfer auf den Straßengraben strahlten und trat zwischen den Brennesseln zu dem Betrunkenen. In nüchternem Zustand mußte es ein Gentleman sein. Der solide Tweedanzug war zerknautscht und beschmutzt, die teuren Sportschuhe waren bespien. Der Mann wischte sich gerade mit einem Taschentuch den Mund ab. „Entschuldigen Sie“, stammelte er, „ist Ihnen etwas passiert?“ Er war trotz allem ein Gentleman. „Nein“, sagte Bort, und es fiel ihm nicht ein, dem Manne behilflich zu sein. 224
Er versuchte hartnäckig, sich aufzusetzen, bis es ihm gelang. „Ich befürchte, daß ich einen Unfall verschuldet habe … Selbstverständlich zahle ich alles …“ Da er von außen in die Brusttasche greifen wollte, war sein Bemühen erfolglos. „Lassen Sie das sein“, sagte Bort. „Nicht doch“, entgegnete der Betrunkene und rülpste. „Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte … In der Brieftasche ist auch Geld …“ Sein Kopf sank auf die Knie. Bort packte den Hilflosen und stellte ihn auf die Beine, nachdem er mit geübtem Blick seinen Zustand eingeschätzt hatte. „Sie müssen sich waschen und den Magen ausspülen“, sagte er energisch. „Kommen Sie!“ Der Mann sträubte sich und schrie entsetzt: „Keinen Alkohol!“ „Alkohol bestimmt nicht“, versicherte Bort dem Abstinenzler und führte ihn zu seinem MB. Der Mann trabte gehorsam wie ein lahmes Schaf neben ihm. Auf einmal blieb er stehen. „Und mein Auto – wo ist denn das?“ „Dort!“ Bort zeigte auf den hellen Fleck bei dem Haus. „Es ist in einem besseren Zustand als Sie.“ Er schob den Betrunkenen in den Wagen und fuhr vorsichtig los. Unterwegs mußte er ständig an seine eigenhändig gereinigten Schonbezüge denken. Hinter der Tür ertönte ungeduldiges Bellen, und kaum hatte Bort geöffnet, schoß Don heraus wie der Korken aus einer Sektflasche. Der Mann, der unsicher, aber auf eigenen Beinen das Stück Weg vom Wagen zur Hütte zurückgelegt hatte, taumelte erschöpft. Bort zog ihn schnell über die Schwelle und ließ die Haustür offen. In der Stube plazierte er ihn im Ohrensessel am kalten Ofen. „Wie fühlen Sie sich?“ „Scheußlich“, bekannte der Mann zerknirscht, „ich weiß nicht, was plötzlich über mich gekommen ist …“ 225
Bort versagte sich einen Kommentar und legte dem unschuldigen Opfer des Feindes der Menschheit eine Wolldecke über die Knie. „Ich heize und koche Tee, dann wird Ihnen besser.“ Er ging in den Flur, nahm von dem Holzstoß unter der Treppe einen Armvoll Scheite und blickte in die Dunkelheit. Den Hund sah er nicht, aber im Gesträuch hörte er es rascheln und selig schnaufen. Bort meinte, daß der Hund nicht fortlaufen würde, und kehrte in die Stube zurück. Der Mann schnarchte schnurrend wie ein Kater. Bort zündete Feuer an, blieb hocken und legte nach, bis der Ofen glühte. Dann setzte er Teewasser auf. Vorsichtig befühlte er die Stirn des Schläfers. Sie war kühl und verschwitzt. Bort tat sich an einem halben Liter Tee gütlich, schielte nach einer Rumflasche und widerstand bedauernd der Versuchung. Nachdem er zwei Büchsen „Dingo“ geöffnet hatte, rief er den Hund. Don stürzte gleich zur Schüssel, verschlang das Fleisch, soff einen halben Eimer Wasser aus und wandte sich dann dem reglosen Objekt im Sessel zu. Beim Beschnüffeln berührte er mit seiner kalten Nase die Hand, die auf der Lehne ruhte. Der Mann schlug die Augen auf. „Don, komm her!“ rief Bort, obwohl der Hund nach dem langweiligen Tag lediglich spielen wollte. Der erwachende Schläfer schien alles für einen Alptraum zu halten. „Don!“ wiederholte Bort streng. „Don?“ Der Mann gebärdete sich, als hätte Bort den Zerberus gerufen. „Keine Angst, er tut Ihnen nichts“, sagte Bort eilig. „Erinnern Sie sich, was passiert ist? Beinahe haben Sie einen Zusammenstoß verschuldet, aber Sie sind heil davongekommen, und Ihr Wagen ebenfalls. Ich habe Sie hergebracht, wir sind in Josefův Důl.“ Der Mann bedeckte sein Gesicht und stöhnte. Bort 226
schaute versonnen auf den gelichteten Scheitel und die gepflegten Hände. Auf einem massiven Siegelring prunkte das Monogramm O. H. „Sie sind Ingenieur Husník“, stellte Bort fest. Der Mann hob langsam den Kopf, der Mund war blutverschmiert. „Was ist Ihnen?“ fragte Bort besorgt. „Nichts … Ich habe oft Nasenbluten, wenn ich aufgeregt bin.“ Er nahm sein Taschentuch, preßte es an die Nase und fuhr fort: „Sind wir uns schon irgendwo begegnet?“ „Ich bin der Fahrer des Autos, das Ihretwegen beinahe ein Schrotthaufen wäre“, sagte Bort. „Erinnern Sie sich nicht daran?“ Husník richtete sich schwerfällig auf und erklärte: „Falls Sie Schaden erlitten haben, versichere ich, daß ich ihn in voller Höhe ersetzen werde.“ Der Aderlaß hatte ihm sichtlich gut getan, da er nun sprach, als diktiere er einer Sekretärin. „Das klingt zwar hübsch, aber wieviel soll ich von Ihnen verlangen? Ich habe nur einen alten MB.“ „Einen MB?“ vergewisserte sich Husník, als hätte ihm Bort anvertraut, er bewege sich nur hoch zu Roß über die Landstraßen. „Ja“, bestätigte Bort. „In einwandfreiem Zustand, ich mache alles selber. Bei einem Wägelchen aus den sechziger Jahren ist das heute nicht mehr einfach.“ „Ich besorge Ihnen alles, was Sie brauchen.“ Bort gab sich ungläubig. Der inzwischen fast nüchterne Ingenieur fügte eilig hinzu: „Ich verspreche nichts, was ich nicht halten könnte! Es kann sich doch nur um die Karosserie handeln, wenn Sie mich mit dem Wagen hierher gebracht haben.“ „Ich dachte, Sie hätten einen Filmriß“, sagte Bort und blinzelte Husník scherzhaft an. Husník verwahrte sich würdig: „Ich bin kein Alkoholiker, sondern habe nur einen empfindlichen Magen 227
wie viele Männer in verantwortungsvollen Funktionen.“ Bort goß eine Tasse Tee ein und zerschnitt eine Zitrone. „Verträgt Ihr zarter Magen etwas Warmes? Das bringt Sie wieder auf die Beine.“ Husník erhob sich demonstrativ, sank aber gleich wieder in den Sessel. „Zucker?“ „Drei Stückchen bitte.“ An der Kredenz goß Bort unauffällig Rum in den Tee. Husník trank gierig. „Ich danke Ihnen, sie sind sehr liebenswürdig. Es tut mir leid, daß ich Sie aufgehalten und Ihnen Sorgen bereitet habe.“ Bort lächelte hinterlistig. „Vielleicht wird alles nicht so schlimm …“ Husník stärkte sich mit einer weiteren Tasse Tee und sagte dann langsam: „Meinen Namen haben Sie wohl schon meinen Ausweisen entnommen. Ich habe Ihnen Schaden zugefügt, die Beseitigung dürfte mit Unannehmlichkeiten verbunden sein. Es wäre mir unlieb, wenn Sie den Unfall melden würden. Das gebe ich ehrlich zu. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Im übrigen wäre es für Sie auch nicht vorteilhaft. Sagen Sie, was ich konkret für Sie tun kann, und wir vergessen den Vorfall.“ Bort erbebte vor Freude, sagte jedoch bescheiden: „Mein Wägelchen taugt nicht mehr viel, doch ich bin auf Škodas versessen. Und für einen neuen habe ich kein Geld.“ „Nun ja“, bemerkte Husník kühl. Bort griff in die Tasche und ließ Husníks Autoschlüssel auf den Tisch fallen. „Ihr Wagen hat nicht mal einen Kratzer abbekommen.“ Husník reichte Bort die leere Tasse. „Bitte noch eine.“ Das klang, als spreche er zu einem Untergebenen. Als ihn Bort wiederum mit verbessertem Tee bedient hatte, fragte Husník: „Sie möchten also einen Škoda?“ 228
„Hätten Sie einen?“ „Vielleicht. Freilich keinen fabrikneuen.“ „Auch einen Garde?“ Husník verfinsterte sich ein wenig. „Ich verfüge zwar über gewisse Möglichkeiten, darf sie aber nicht mißbrauchen. Meine leitende Stellung ist nicht nur von ökonomischer, sondern auch von politischer Bedeutung.“ „Gerade deshalb“, sagte Bort unverblümt. Husník grinste nun wie ein Pferdehändler. „Bei einem Garde müßten Sie etwas zuzahlen. Wieviel könnten Sie investieren?“ Bort zeigte bedauernd leere Hände und begann zu feilschen. „Und wenn es ein gebrauchter wäre?“ „So viel können Sie nicht von mir verlangen!“ schrie Husník wütend. „Ich bin kein Krösus.“ „Sie haben doch den Wagen, mit dem Frau Urbanová gefahren ist.“ Husník erbleichte und stammelte: „Bitte?“ „Ihre Geliebte“, fügte Bort hinzu. „Sie war niemals meine Geliebte“, erwiderte Husník gereizt. „Haben Sie Margita Urbanová den Wagen nur wegen ihrer schönen Augen geschenkt?“ spottete Bort. „Sie sind doch kein dummer Tropf, sondern Diplomingenieur und Vizedirektor des Außenhandelsunternehmens Impex!“ Husník sackte zusammen wie vom Schlag getroffen und röchelte: „Wer sind Sie?“ Leutnant Bort wies sich wortlos aus. Nach einer langen Pause sagte der Vizedirektor umgangssprachlich und sehr menschlich: „So ein Pech! Da bin ich also an den Falschen geraten. Das war doch Zufall, nicht wahr?“ „Natürlich. Aber ich würde es nicht Pech nennen. Sie hätten wirklich einen Unfall verursachen können, oder an meiner Stelle könnte jemand sein, der Ihre Angst vor 229
einer Untersuchung ausnutzen würde. Noch jetzt haben Sie über ein Promille Alkohol im Blut, Herr Ingenieur.“ „Was gedenken Sie zu tun?“ fragte Husník besorgt. „Das weiß ich noch nicht.“ Bort rückte seinen Stuhl näher an den Ofen. „Erst erzählen Sie mir, was Sie über Margita Urbanovás Tod wissen.“ „Eigentlich weiß ich gar nichts. Ich bin am Sonntagvormittag nach Josefův Důl gekommen. Vor Urbans Hütte standen der Fuego von Margitas geschiedenem Mann und der Garde. Ich fuhr zu meiner Hütte – sie liegt ein Stück hinter dem Berg – und beschäftigte mich den ganzen Tag mit den Akten, die ich mitgenommen hatte. Abends wollte ich nachsehen, ob Margita allein ist. Der Fuego war fort, in der Hütte brannte kein Licht, aus dem Schornstein stieg kein Rauch. Auf mein Klopfen öffnete niemand. Ich fuhr direkt nach Prag und merkte erst am nächsten Morgen bei der Arbeit, daß ich die Akten in meiner Hütte liegengelassen hatte. Das habe ich schon alles dem Leutnant gesagt, der mich heute mittag aufgesucht hat.“ Dipl.-Ing. Otokar Husník sprach ohne zu stocken und enthielt sich jeden persönlichen Kommentars. Bort bezweifelte nicht, daß er dasselbe wörtlich in Richtrs Bericht nachlesen konnte. „Dann sind Sie also nochmals hergekommen, um die Akten zu holen?“ „Ja.“ „Hat Sie die Nachricht vom Tode Frau Urbanovás nicht berührt?“ „Natürlich“, sagte Husník, als wäre seine Zunge voller Dornen. „Auch deshalb bin ich losgefahren – ich wollte allein sein. Und aus Kummer habe ich mich betrunken.“ Bort betrachtete den Mann, den er im Verlaufe einer knappen Stunde als lallenden Betrunkenen und als praktischen Geschäftsmann kennengelernt hatte. Wel230
che Gestalt war die wahre – die dritte, in die er sich gerade verwandelt hatte? „Wie war Ihr Verhältnis zu Margita Urbanová?“ „Ich kannte Margita mehrere Jahre und habe mich um sie bemüht, seit ich sie zum ersten Male sah“, antwortete Husník völlig gefaßt. „Ich glaubte, daß ich für sie nicht völlig uninteressant war.“ „Dank Ihrer Möglichkeit, ihr ein Auto zu schenken?“ „Ich bitte Sie! Urban hätte ihr zwei geschenkt, wenn sie den Wunsch geäußert hätte. Als wir uns kennenlernten, war sie verheiratet und lebte wie eine Prinzessin. Damals hatte ich ihr nichts zu bieten“, sagte er treuherzig. „So, mußte ihr ein Mann etwas bieten?“ fragte Bort ebenso naiv. „Da wundere ich mich aber, daß sie sich von Urban scheiden ließ.“ „Sie konnte es mit dem primitiven Kerl nicht länger aushalten!“ Auf Husníks Oberlippe rann wieder Blut. Bort sprang auf und holte ihm ein Glas Wasser. Für sich selber brachte er die Rumflasche mit. „Ich kenne mich in Ihrer Margita nicht aus. Mädchen wie sie sind doch gewohnt, manches zu ertragen.“ „Margita war kein leichtes Mädchen“, erwiderte Husník leidenschaftlich, „sie war …“ „Wie war sie denn?“ „Kapriziös“, sagte Husník nach angestrengtem Überlegen. „Das werden Sie kaum verstehen, weil Sie Margita nicht gekannt haben. Sie war egozentrisch, aber selbstlos. Ich habe zum Beispiel erlebt, daß einer Frau Margitas Kleid gefiel. Margita zog es aus und schenkte es ihr. Dann borgte sie sich mein Sakko, damit sie nicht in Unterwäsche heimfahren mußte.“ „Das ist ziemlich verrückt, aber auch boshaft.“ „Sie war verspielt wie ein Tigerbaby. Ihr eigener Ruf und die Würde anderer Menschen waren ihr gleichgültig. Wenn sie etwas zerbrochen hatte, konnte sie nicht begreifen, daß es nicht mehr zu reparieren ging. Jedes 231
Erlebnis wollte sie vollständig auskosten. Sie belog sich leicht selber und glaubte bis zum letzten Moment an diese Selbsttäuschung!“ Husník lehnte sich erschöpft zurück und nahm das blutdurchtränkte Taschentuch von der Nase. Bort holte ihm ein sauberes. „Margita Urbanová muß gefährlich wie Sprengstoff gewesen sein, sofern Sie ihren Charakter richtig erkannt haben.“ „Dazu hatte ich sechs Jahre Zeit“, sagte Husník mit unfrohem Lächeln. „Vier Jahre hielt ich sie für unerreichbar. Als sie geschieden war und allein lebte, dachte ich mir, daß ich eine Chance habe. Das dachte ich bis heute.“ „Wollten Sie sich hier treffen?“ „Nein – das heißt, ursprünglich ja. Margita hat mir in letzter Minute abgesagt. Das hatte sie schon mehrmals getan, und dann hielt sie mir vor, daß ich nicht trotzdem gekommen war. So bin ich diesmal hergefahren.“ Bort goß sich ein Glas Rum ein und dankte im stillen dem Himmel, daß er ihn bisher vor einer so totalen Verblödung aus Liebe bewahrt hatte. „Leben Sie allein?“ fragte er den Romantiker, der mindestens fünfundvierzig Jahre zählte. „Ich bin verheiratet“, antwortete Husník abwesend, „zwanzig Jahre.“ „Und Sie wollten sich wegen Margita Urbanová scheiden lassen?“ „Darüber hatten wir noch nicht gesprochen“, bekannte er arglos. „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß unsere Beziehung nicht intim war. Aber wenn dieser Abend nach meinen Vorstellungen ausgefallen wäre …“ ‚Du hast Glück, daß er nicht so ausgefallen ist‘, dachte Bort, ‚doch das darf ich nicht laut sagen, dann wärst du böse auf mich. Wenn Margitas Tod jemandem genutzt hat, dann dir und der Frau, mit der du zwanzig Jahre zusammenlebst.‘ 232
„Warum sind Sie erst am Sonntag hergekommen?“ „Als ich am Freitag von ihr wegging, war Urban bei ihr. Ich dachte, er würde mit ihr herfahren.“ „Haben Sie dann angerufen, um das zu überprüfen?“ „Nein.“ „Wissen Sie das bestimmt?“ fragte Bort lauernd. „Natürlich“, erwiderte Husník in einem Ton, als wäre die Annahme, er könnte sein letztes Gespräch mit Margita Urbanová vergessen haben, eine Unverschämtheit. Bort betrachtete das blasse Gesicht mit den dunklen müden Augen. Es war das Gesicht eines tüchtigen, erfolgreichen, gut situierten Mannes, der sechs Jahre lang vergeblich auf eine Chance gewartet hatte. Eigentlich ist er billig davongekommen, urteilte Petr Bort zynisch, ihm sind der schöne Traum und der bananengelbe ŠkodaGarde geblieben. Husníks Stimme riß ihn aus den schändlichen Gedanken. „Was soll ich jetzt damit machen?“ fragte er ratlos. „Ich kann ihn nicht hier stehenlassen.“ „Sprechen sie von Frau Urbanovás Wagen? Eigentlich Ihrem, wenn sie ihn tatsächlich noch nicht bezahlt hat. Können Sie das beweisen?“ „Das brauche ich nicht, er läuft auf meinen Namen. Hören Sie, hätten Sie wirklich Interesse?“ „Schon, aber …“ Bort lächelte traurig und rieb den Daumen am Zeigefinger. „Machen Sie sich nichts draus, auf einem solchen Wägelchen bleiben Sie nicht sitzen. Den kauft irgendein Playboy sofort.“ Husník blickte ihn verwundert an. „Sie haben recht, einen Käufer wüßte ich schon … Das ist nur eine Preisfrage.“ Er lächelte rätselhaft und bitter. „Wie alles“, bestätigte Bort. „Übrigens – kennen Sie Schwester Milada Rendlová?“ Die Frage schien Husník zu überraschen. „Es ist merkwürdig, daß Sie nach ihr fragen …“ 233
„Was ist daran merkwürdig? Sie soll Frau Urbanovás beste Freundin gewesen sein.“ „Wirklich? Davon weiß ich nichts.“ „Aber Sie sind ihr begegnet?“ „Zwei- oder dreimal bei Frau Urbanová.“ Über seine hohe Stirn huschte ein Schatten. „Die beiden waren so unterschiedlich, daß ich nicht begriffen habe, wie sie sich verstehen konnten.“ Bort stand auf und sagte zu Husník, der sich ebenfalls sogleich erhob: „Bleiben Sie ruhig sitzen! Ich muß bloß mein Vehikel woanders parken. Vorhin habe ich mich bemüht, Sie bis an die Haustür zu befördern, aber auf der Straße kann ich den Wagen nicht stehenlassen. Ein Spaziergang zu Ihrer Hütte kann Ihnen nur guttun. Sie schlafen doch lieber in Ihrem eigenen Bett, nicht wahr?“ „Aber ich muß noch heute zurück nach Prag!“ protestierte Husník. „Das können Sie vergessen!“ „Würden Sie mich hinbringen?“ Bort schüttelte den Kopf und zeigte auf die Rumflasche. „Morgen habe ich eine wichtige Verhandlung“, betonte der Vizedirektor des Außenhandelsunternehmens Impex. „Dann fahren Sie eben morgen früh. Ihr Wagen steht bei der Serpentine.“ Bort zog eine schmutzige Wattejacke an und nahm die Taschenlampe vom Tisch. An der Tür tätschelte er den Hund. „Bleib hier, Don! Ich lasse ihn hier, ja? Er würde mich bloß behindern.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Bort hinaus, und für alle Fälle schloß er die Haustür ab. Der MB stand dicht an der Schneeballhecke, die Rohans ungepflegten Garten umgrenzte. Bort betrachtete mit der Taschenlampe sein Auto von allen Seiten und ent234
deckte keine einzige Schramme. Er stieß den Stein beiseite, mit dem er ein Hinterrad gesichert hatte, stieg ein und fuhr im Schrittempo zur Straße. Auf der betonierten Garageneinfahrt des Nachbargrundstücks hielt er an. Unter alten Apfel- und Birnbäumen war es finster wie vor der Erschaffung der Welt. Hinter den Fenstern blinkte kein einziges Lichtlein, aber das verwunderte ihn nicht. Er begann seinen allabendlichen Rundgang, wie er es dem ortsansässigen Besitzer, der zu Verwandten nach Leipzig gefahren war, versprochen hatte. Zwischen Johannisbeersträuchern und den in dieser Gegend allgegenwärtigen Rhododendronbüschen, die der Grundstücksbesitzer in gleichen Abständen gepflanzt hatte, lief er um das Haus herum. Auf der Nordseite wuchsen säulenartige Wacholderbüsche. Um sie vor Schnee zu schützen, hatte man sie mitleidlos in Käfige aus Holzplatten gesperrt. Petr Bort, der die wilde Natur bevorzugte, fand eine so konsequente Disziplin wie im Nachbargarten gewöhnlich abstoßend, aber jetzt beachtete er das nicht. Er dachte an die rothaarige Tote, die mit Steinen und trockenen Ästen bedeckt gewesen war. An den hinterlistigen Muskelprotz, der den Einfaltspinsel spielte. An den Kellner, der sich kühn auf seine Durchtriebenheit verließ. Und auch an Ingenieur Husník, der unerschütterlich an die Macht von Geld und einer hohen Stellung glaubte. Er dachte auch an das Aschenbrödel, das aufopferungsvoll der bösen Tante diente. Würde sie erleben, daß ein Prinz um sie anhält? Er sollte anders als Alexandr Rak aussehen, der unjunge, ausgeflippte Mann, der bei zweifelhaften Drogen Zuflucht suchte. Er dachte an den Dorfwachtmeister, der wegen dieser weißen Chrysantheme seine Dienstpflicht verletzt hatte. Und an … Aus dem Gesträuch sprang ein dunkler Schatten. Als Bort den Lichtkegel auf ihn richtete, war er verschwun235
den. Bort spürte einen heftigen Schlag aufs Handgelenk, die Taschenlampe flog den Hang hinunter. Er streckte zu spät die Hand nach ihr aus. Zu spät und auch überflüssigerweise. Das Licht erlosch, er griff ins Leere. Sein Hals wurde von den Armen einer Krake umklammert. Bort stürzte bäuchlings hin, eine schwere, fauchende Masse preßte sein Gesicht auf die Erde. Der Angreifer riß ihm die Brille herunter, Glas zersplitterte. Bevor Bort schreien konnte, spürte er einen Knebel im Mund. Er versuchte, ihn auszuspeien, er röchelte und hustete. Obwohl er körperlichen Schmerz schlecht ertrug, wäre er lieber windelweich geschlagen worden, als langsam zu ersticken. Der heimtückische Angreifer war jedoch kein Rohling. Das merkte Petr Bort erst im letzten lichten Moment, bevor die Welt im Dunkeln versank. Sengende Höllenflammen zwangen Bort, die Augen geschlossen zu lassen. Eine Weile atmete er tief durch und genoß dieses Gefühl. Es roch nach Moder, trotzdem war es Luft, eine der Grundvoraussetzungen des Lebens. Bort begriff, daß er eben geboren worden war und wie alle Säuglinge greinte. Niemand kam zu ihm gelaufen, um ihn zu wiegen und seinen Durst zu stillen. Er beleckte mit der rauhen Zunge die ausgetrockneten Lippen. Für ein paar Tropfen Wasser hätte er seine Seligkeit gegeben, aber zuerst mußte er wohl laufen lernen … Bort öffnete die Augen und sah nichts. Als er sich bewußt wurde, daß er kein eintägiges Kätzchen, sondern ein erwachsener Mann war, erschrak er. In seinen Ohren klangen die Worte, die eine Kindergärtnerin zu seiner Mutter gesagt hatte: „Heute hat die Ärztin bei unseren Kindern die Augen untersucht. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß Ihr Söhnchen fast blind ist?“ Seitdem trug er eine Brille mit vier Dioptrien. Er woll236
te sie an die richtige Stelle rücken, fühlte aber nur die geschwollene Nase. Bort stand auf und tapste an einer unverputzten Ziegelwand entlang, wobei er die Schritte zählte. Der Raum hatte die Ausmaße einer größeren Zelle, eine Wand war aus Holz. Er betastete die grob gestrichenen Bretter. Vor einem schrägen Spalt hockte er sich hin und konzentrierte sich. Er richtete sich wieder auf, wich bis zur gegenüberliegenden Wand zurück, lief los und rammte seine rechte Schulter gegen das hölzerne Hindernis. Es krachte wie ein Gewehrschuß und gab nach, Bort platschte zu Boden. In Kinn und Hände bohrte sich feiner Kies. Ächzend rollte er sich zur Seite und überlegte, wo er sich befinden könnte. Er erkannte den kleinen Schuppen, in dem die Waldarbeiter manchmal ihre Geräte aufbewahrten. Drinnen war pechschwarze Finsternis im Vergleich zur klaren Nacht unter dem sternenbetupften Himmel. Bort rappelte sich mühsam auf und schlurfte zur Tür. Ihm war etwas eingefallen. Seine Vermutung war richtig. In einem Ring an der Türangel hing der Rest eines zerbrochenen Holzpflocks. Der untere Teil fehlte. Er steckte irgendwo im Sand, der hier zum Streuen für den Winter lagerte. Wer ihn in den Schuppen am Waldrand gesperrt hatte, wollte ihn nicht lebenslänglich festhalten, stellte Bort fest. Nicht einmal bis zum nächsten Morgen. Eigentlich war es gar keine Freiheitsberaubung, die Tür war nur mit dem Pflock verriegelt, damit es nicht zog. Er war nicht gefesselt, hatte keinen Knebel im Mund, und die Brille konnte er selber verloren haben. Der Mann, der sich seiner angenommen hatte, war intelligent, und diese Eigenschaft setzte er auch bei ihm voraus. Zu Recht hatte der Gute gemeint, er würde sich wegen seiner Ungeschicklichkeit schämen, und so ließ er ihn allein. 237
Warum hat der Spaßvogel deine fünfundsechzig Kilo die hundert Meter geschleppt, Petr? fragte sich Bort. Er hätte dich doch ins Auto legen können. Bort durchsuchte seine Taschen und lief zu seinem geliebten Gefährt. Schon von weitem sah er, daß es einen merkwürdigen Umriß hatte. Es hockte auf der hellen Betonfläche wie ein schwarzer Vogel, der die Flügel zum Abflug spreizt. Bort übersprang den niedrigen Zaun, lief rücksichtslos durch den reisigbedeckten Steingarten und sank am Lenkrad nieder. Er brauchte nicht aufzuschließen, die Türen standen sperrangelweit offen. Mit der zerschundenen Handfläche tastete er nach dem Zündschlüssel. Er schloß die Augen, lehnte sich zurück und spürte, daß ihm der Schweiß den Rücken herunterrann. Still bat er den unbekannten Schelm wegen des häßlichen Verdachts um Verzeihung. Aus den christlichen Gedanken riß ihn plötzlich das Gefühl, nicht in seinem Auto zu sitzen. Er blickte sich um und bemerkte, daß die Dankbarkeitsbekundung verfrüht gewesen war. Die Schonbezüge, alte, aber schneeweiße Schaffelle, die er selber gereinigt und zurechtgeschnitten hatte, waren zerschlitzt. Bort beugte sich nach hinten und suchte auf dem Rücksitz seinen Aktenkoffer. Ihn brauchte er jetzt am nötigsten, denn dort befand sich seine Ersatzbrille. Der Aktenkoffer, eine Prämie aus der Zeit, als Bort noch ein erfolgreicher Kriminalist mit Perspektive war, lag nicht mehr an seinem Platz. Bort kamen die Tränen, und er rieb sich mit schmutzigen Fingern die Augen. Er fühlte sich wie der ‚fast blinde‘ vierjährige Junge, aber keine Mama tröstete ihn. ‚So viel ist doch nicht passiert, Petr‘, sagte eine beschwichtigende Stimme. ‚Die Brillengläser hatten Kratzer, die verschlissenen Bezüge hätten sowieso nicht mehr lange gehalten, und den Aktenkoffer hast du nie 238
gebraucht. Er enthielt nichts Wertvolles, und wahrscheinlich findest du ihn irgendwo in der Nähe …‘ Bort schaltete die Scheinwerfer ein. Vor seinen Augen startete ein Raumschiff mit einem gewaltigen Flammenstoß. Er verließ das Auto auf eine Weise, die man im Sport Rolle rückwärts nennt. Ihm war sofort klar, daß er die gierigen Flammen nicht mit bloßen Händen bändigen konnte. In der Hütte, fünfzig Meter entfernt, hingen drei Feuerlöscher. Das friedliche Licht der Fenster schimmerte blaß. Die Angst befähigte ihn zu einem Weltrekord im Bergauflaufen, noch dazu auf einem steinigen Weg. Er hörte seinen röchelnden Atem. Plötzlich prallte er gegen einen Körper und sank auf die Knie. „Wieviel Benzin ist im Tank?“ schrie Doktor Rohan, der den Hügel hinunterrannte, in jeder Hand einen Minimax. „Gar keins!“ Bort stand auf, und ohne auf das schmerzende Knie zu achten, hinkte er zum Haus, um den dritten Feuerlöscher zu holen. Als er den Türpfosten berührte, betäubte ihn eine Explosion. Für die Feuerwehr, die ein gewissenhafter Bürger gerufen hatte, blieb nichts mehr zu tun. Bort und Rohan hatten das vernichtende Element schon bezwungen. Die Feuerwehrmänner fuhren fort und ließen ein Autowrack und ein verbittertes Herz zurück. Dr. med. Rohan schrubbte erbarmungslos seine wertvollen Chirurgenhände und fluchte dabei wie ein Kutscher. Bort saß geknickt am Ofen. Er blinzelte mit angesengten Wimpern, und obwohl er den Aktenkoffer mit der Brille in der Nähe des Wagens gefunden hatte, traute er seinen Augen nicht. „Laß dich mal ansehen!“ Rohan hob Borts Kopf am 239
Kinn in die Höhe, schnalzte vielsagend und drehte sich um. Daraufhin roch es wie in einem Operationssaal. Petr Bort, der kaltblütig ein rasendes Auto anhalten und einer Horde angetrunkener Halbwüchsiger entgegentreten konnte, aber beim Ausspülen seiner Stirnhöhlen in Ohnmacht gefallen war, stieß ärgerlich das Stück feuchte Gaze fort. „Zum Teufel damit, mir fehlt nichts!“ „Sieh dich doch an!“ Rohan steckte ihm einen Rasierspiegel in die Hand. „Mann, wie ist das passiert?“ Bort erblickte eine Kruste aus geronnenem Blut. Als er vorsichtig den Unterkiefer bewegte und die Stirn runzelte, spürte er jedoch keinen Schmerz. Er stand auf, ging zum Waschbecken, und kurz darauf zeigte er seinem Freund ein sauberes Antlitz. „Es tut mir leid, daß ich dich des Vergnügens beraube, meine Fassade flicken zu müssen.“ Der Arzt betastete das Gesicht. „Hier ist es geschwollen. Hattest du auch Nasenbluten?“ Bort setzte schnell die Brille auf Und sah sich im Zimmer um. „Ich nicht“, antwortete er finster. „Wie bist du überhaupt reingekommen?“ „Mit dem zweiten Schlüssel, den ich zum Glück mitgenommen habe.“ Rohan verzog vorwurfsvoll sein schönes Bulldoggengesicht. „Übrigens – für die Zukunft könntest du dir merken, daß die Hütte auch eine Hintertür hat, die von innen verriegelt wird. Nicht, daß man hier etwas stehlen könnte, aber …“ „Die Hintertür war bestimmt zu.“ „Als ich kam, stand sie offen.“ So war Ingenieur Husník listig geflüchtet und hatte auch den Hund hinausgelassen. Bort sah im Geist einen weißen Škoda, in dem ein angetrunkener Fahrer auf nächtlichen Straßen nach Prag raste. Plötzlich durchfuhr ihn ein schneidender Schmerz. „Dir ist übel“, konstatierte Doktor Rohan mit Genug240
tuung. „Das könnte eine Gehirnerschütterung sein! Du hast doch auch Gedächtnisschwund! Warum hast du behauptet, im Tank ist kein Benzin? Dort müssen einige Liter ausgeflossen sein! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst diesen fahrbaren Sarg verschrotten lassen.“ Bort erinnerte sich an das Lumpenbündel unter dem Wagen. Es war sein alter Monteuranzug, den er stets mitnahm, falls er auf der Straße etwas reparieren mußte. Er blickte auf das Bord über dem Waschbecken. Dort lag die Glühbirne, die aus einem Scheinwerfer stammte. Zwei kurze, an den Enden verkohlte Drähte mußten bis zu dem benzingetränkten Bündel gereicht haben. Als er die Scheinwerfer eingeschaltet hatte, war von der Lampe ein Funken übergesprungen und … Der getränkte Stoff war guter Zunder. Der schlaue Fuchs hatte vorgesorgt, aber er hatte nicht mit Doktor Rohan und seinen Feuerlöschern gerechnet. Wenn der Wagen völlig verbrannt wäre, hätte man kaum die beiden Drähte gefunden und die Brandursache feststellen können. „Ich hätte gedacht, daß das Ausweichmanöver auf der Straße nicht ohne Folgen geblieben ist und daß ein Stein den Tank beschädigt und etwas an der Elektrik verbogen hat. Danach bin ich aber höchstens einen Kilometer gefahren, und die Tankkontrollampe leuchtete schon ununterbrochen. Das wußte er allerdings nicht … Die Scheinwerferverkleidung abzunehmen und einen dünnen Draht um das Gewinde der Glühbirne zu wickeln, dauert höchstens zwei Minuten. Dazu braucht man nur geschickte Hände und Schulkenntnisse in Physik. Und ein Drähtchen … Aber vor allem einen Grund!“ Der Arzt musterte Bort mit Röntgenaugen. „Du bist zwar in der Obhut des besten Chirurgen vom PurkyněKrankenhaus, trotzdem sollte ich dich lieber einem Kollegen überlassen.“ „Er wollte mich nicht töten“, fuhr Petr Bort in seinen 241
Betrachtungen fort, „sonst hätte er mich ins Auto gelegt. Es ging ihm nur um meinen Wagen. Aber warum, Herrgott? War das ein Racheakt oder sollte ich nur im Ort bleiben müssen?“ „Grins mich nicht an!“ sagte Rohan. „Ich habe große Lust, dich im Kreiskrankenhaus abzuliefern. Kein Arzt übernimmt gern freiwillig die Verantwortung für seinen Bruder, Bruder. Ich würde es nicht ertragen, wenn du wegen meiner Nachlässigkeit abkratzt.“ Bort blickte auf die zynische Maske, hinter der Rohan erfolglos sein empfindsames Herz verbarg. „Warum bist du eigentlich hergekommen?“ „Du solltest froh sein, daß ich hier bin“, antwortete Rohan ausweichend. „Auch wenn es sich nicht gelohnt hat, die Karre zu retten.“ „Hast du hier irgendwo einen Hund gesehen?“ „Einen Hund? Seit wann hast du einen Hund?“ „Seit dem Tag, an dem Margita Urbanová gestorben ist. Einen deutschen Schäferhund, er heißt Don.“ Das Gesicht des Arztes versteinerte. Er griff nach den Zigaretten, zerknitterte die volle Schachtel und suchte fieberhaft in den Taschen nach Streichhölzern. Bort bot ihm Feuer an. „Du hast sie näher gekannt, nicht wahr?“ Rohan sog mit zwei Zügen die Zigarette halb auf. „Du verdammter Schnüffler! Ich hätte mir denken können, daß du da herumstochern wirst. Woher weißt du, daß ich – und sie …“ Seine Stimme versagte. Bort hatte aufs Geratewohl geschossen und ins Schwarze getroffen. „Glaubst du, in einem Krankenhaus bleibt etwas geheim?“ fragte er durchtrieben. „Was hat dir diese Frau bedeutet?“ Der Chirurg senkte den Blick auf das brennende Ende der Zigarette, seine sprichwörtlich sichere Hand zitterte leicht. „Wir wollten hier ein paar Tage gemeinsam verbringen“, murmelte er. 242
„Doch sie ist tot“, sagte Bort rücksichtslos. „Das weißt du doch?“ „Im Krankenhaus wird von nichts anderem geredet! Wie ist das überhaupt passiert?“ Bort erzählte es ihm. Rohan haschte gierig nach jedem Wort und litt sichtlich, als wäre er nicht ein Mann, der gewohnt ist, dem Tod zu begegnen. „So ein dummes, sinnloses Ende! Warum bin ich bloß nicht mitgefahren!“ „Ihr wart verabredet?“ „Ja“, bestätigte Rohan. „Wolltest du am Freitagabend kommen?“ Bort dachte an den Tisch, der für zwei Personen gedeckt war, und an das duftende Bett. „Ich hatte es ihr versprochen“, sagte Rohan beklommen. „Warum bist du in Prag geblieben?“ Rohan blickte seinen Freund gequält an: „Du kennst mich doch, Petr.“ „So war sie bloß eine von deinen Liebschaften?“ Der berüchtigte Frauenheld Dr. med. Rohan gebärdete sich wie ein verkannter Romeo. „Überhaupt nicht – im Gegenteil.“ „Was dann?“ „Du würdest das nicht verstehen …“ „Dann versuche, mir alles zu erklären“, forderte ihn Bort auf. „Ist das ein Verhör?“ fragte Rohan mißtrauisch. „Nein. Aber wie du weißt, werden die Umstände eines jeden Mordes ermittelt. Morgen wird dich Leutnant Richtr vernehmen – wenn ich ihm sage, daß Margita Urbanová deinetwegen hergekommen war.“ Das Erstaunen im Gesicht des Arztes verwandelte sich in Verdruß. „Das hat man davon, wenn man mit einem Bullen befreundet ist! Also hör zu, Sherlock Holmes: Margita sollte mich am Freitagnachmittag abholen. 243
Gegen Mittag rief ich sie an, daß ich nicht kann, weil etwas dazwischengekommen ist. Das war eine Lüge, zu der ich mich den ganzen Vormittag durchgerungen hatte. Kaum hatte ich das gesagt und im Telefon ihre Stimme gehört, habe ich das bedauert, doch ich konnte nicht mehr zurück. Ich sagte also, daß ich abends kommen würde, aber schließlich habe ich es mir wieder anders überlegt. Deshalb habe ich die Nacht kaum geschlafen, und früh bin ich zu meiner Mutter nach Říčany gefahren. Zwei Tage lang habe ich im Garten gewühlt, um auf andere Gedanken zu kommen.“ Damit brachte er ein Alibi bei, das bisher niemand von ihm verlangt hatte. Angestrengt fuhr er fort: „Mit Margita hatte ich ein loses Verhältnis, angenehm und zu nichts verpflichtend. Das ging seit ungefähr einem Jahr, und als wir uns näher kennenlernten, wurden wir außerdem noch gute Freunde. Also – ich dachte, man könnte es so nennen. Doch auf einmal – eigentlich im Verlaufe einer Nacht Ende September – sah alles ganz anders aus. Plötzlich merkte ich, daß ich ihr Sachen sagte, die eigentlich keine Frau mehr von mir hören sollte. Daß ich sie brauche und daß ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen kann …“ Rohan schüttelte den Kopf, als wäre er selbst nach mehreren Wochen nicht imstande, dieses unerwünschte Phänomen zu begreifen. „Du hast einfach gemerkt, daß du in sie verliebt bist“, sagte der weniger komplizierte Petr Bort. „Teilte sie deine Gefühle?“ Rohan machte ein abweisendes Gesicht, aber Bort fuhr fort: „Was hat dich daran gestört? Zwei geschiedene Leute ohne Verpflichtungen, beide mit ausreichend Lebenserfahrung …“ „Das ist es ja gerade! Ich besitze genug Lebenserfahrung. Über mich mache ich mir schon lange keine Illusionen mehr, seit gewisser Zeit mag ich keine festen Bindungen. Du kennst mich doch, Petr, mich interes244
siert in erster Linie meine Arbeit. Ein Mann kann nicht anständig in einem Operationssaal arbeiten, wenn er weiß, daß zu Hause ein süßes und überaus anspruchsvolles Geschöpf im Schlafzimmer nach ihm schmachtet. Hin und wieder ist eine flüchtige Liebschaft etwas Schönes, am besten ist es, wenn einem so etwas unverhofft begegnet. Aber wissen, daß eine Frau auf dich wartet, und dir Vorwürfe anhören, weil du sie allein läßt – das nicht! Das ist nichts für mich. Sie geht sowieso bald zum Teufel – die sogenannte Liebe. Am besten allein bleiben, die Sahne abschöpfen und die geronnene Milch darunter weggießen.“ Petr Bort lachte im stillen über dieses Bekenntnis seines langjährigen Freundes. Dem Arzt, der nur den Zyniker spielte, entging das nicht. „Außerdem war Margita das Schlimmste, was mir begegnen konnte. Aber bevor ich merkte, daß ich verdammt aufpassen muß, waren wir beide schon reingeschlittert.“ „Dramatisiere nicht!“ „Ich habe dir doch gesagt, du verstehst das nicht. Sie war …“ Der Arzt verstummte ratlos. „Ein Biest“, soufflierte Bort bereitwillig. „Nein. Eigentlich ja, aber ein unschuldiges Biest. Verstehst du? Sie war wie Aprilwetter. Ständig provozierte sie andere, doch nicht aus Berechnung, sondern rein aus Spaß. Deshalb konnte ich mich bei ihr völlig sorglos fühlen – wie ein Junge. Materielle Dinge und gesellschaftliche Privilegien hatten für sie keinen Wert, das konnte sie alles leicht aufgeben. Und sie war toleranter als alle Frauen, die ich jemals kennengelernt habe – und das waren genug.“ „So war sie bis auf ihre mädchenhaften Launen eigentlich eine ideale Frau“, stellte Bort fest. „Vor allem für dich, wo du selber so tolerant bist.“ „Ihre Toleranz beruht auf einer eigenartigen Moralauf245
fassung, und die mädchenhaften Launen haben beinahe Honza Urban zugrunde gerichtet. Als sie ihn verlassen hatte, fiel er eine Saison aus, und meiner Meinung nach hat er die Trennung bis heute nicht verwunden. Ein erbauliches Beispiel, nicht wahr?“ „Du bist doch nicht Urban“, wandte Bort ein. „Woher kennt ihr euch eigentlich?“ „Diese Hütte haben meine Eltern gekauft, als ich ein kleiner bronchitischer Junge war. Honza ist nur zwei Jahre jünger als ich, wir haben uns gemeinsam in den Wäldern herumgetrieben und sind gemeinsam den Mädchen nachgelaufen. Als er Margita geheiratet hatte, besorgte ich ihr die Stelle im Purkyně-Krankenhaus. Sie hätte sich nicht scheiden lassen dürfen! Ich würde sagen, daß Honza Urban der einzige Mann in ihrem Leben war, der es mit ihr aushalten konnte – wenigstens hat er das sechs Jahre lang bewiesen.“ „Vielleicht hat nicht sie sich scheiden lassen, sondern er.“ „Darüber bin ich bestimmt besser informiert als du“, entgegnete Rohan selbstsicher. „Meine Informationsquelle ist Jan Urban.“ „Du bist ihm begegnet? Wann?“ „Wenige Stunden, nachdem ich seine geschiedene Frau tot aufgefunden hatte.“ Das gesund gerötete Gesicht des Arztes nahm eine bleierne Färbung an. „Du hast sie gefunden“, sagte er durch die Zähne, „ist das möglich! Wo ist Urban jetzt?“ „In Finnland. Ich bin gespannt, ob er zurückkommt.“ Rohan sah Bort mit trübem und verständnislosem Blick an. „Herr Urban hat nämlich an seinem Alibi für die kritische Zeit gebastelt“, erklärte ihm Bort. Plötzlich beugte sich Rohan vor und packte Bort am Arm. „Wer hat das getan?“ 246
„Das weiß man vorläufig nicht.“ Er befreite sich aus der Umklammerung der Raubtierkrallen und rieb sich den schmerzenden Bizeps. „Ich ermittle nicht, wende dich an …“ Der Arzt unterbrach ihn wütend: „Ich frage dich!“ Bort schüttelte bedauernd den Kopf. „Was weiß ich über ihr Privatleben? Du hast recht, es hat mir keine Ruhe gelassen, und ein bißchen habe ich mich dafür interessiert. Ich bin auf ein paar Menschen gestoßen, die irgendwie verdächtige Schwierigkeiten haben, aber gleichzeitig ein einwandfreies Alibi besitzen. Urban hat gelogen, doch momentan ist er nicht greifbar.“ Rohan winkte ungeduldig ab. „Urban laß aus dem Spiel. Er hat bestimmt nichts mit Margitas Tod zu tun. Du kannst mir glauben, ich kenne ihn!“ „An dem Fall ist so schön, daß sich fast alle von klein auf kennen“, sagte Bort mit sarkastischem Grinsen. „Wen meinst du noch?“ „Urban hat mir unter vier Augen anvertraut – er war blau –, daß die langjährige Freundin seiner Frau, eine gewisse Milada Rendlová, dazu beigetragen hat, die Ehe zu zerstören. Kennst du die Dame?“ „Lady?“ fragte der Arzt erstaunt. „So ein Blödsinn!“ „Das würde ich auch sagen. Ich habe sie am Freitagabend in der Gastwirtschaft gesehen. Sie wartete dort wie ein Hühnchen aufs Schlachten, während Margita telefonierte – hör mal, hat sie etwa dich angerufen?“ Rohan lachte bitter, „Petr, wenn ich an dem Abend ihre Stimme gehört hätte, wäre ich gleich losgerast. Und sie könnte heute leben.“ Verschämt wandte er seine. feuchten Augen ab. „Zu gern wüßte ich, mit wem sie telefoniert hat!“ „Ich hätte nicht herkommen dürfen“, murmelte Rohan, „damit muß ich ganz schnell fertig werden, und das gelingt mir nur im Krankenhaus.“ „Ich wette, diese Lady weiß darüber mehr, als sie zu247
gibt“, fuhr Bort grübelnd fort, und er richtete hoffnungsvoll den Blick auf den Chirurgen. „Könntest du nicht versuchen, das aus ihr herauszubekommen?“ Rohan gebärdete sich abweisend. „Ich bin nicht mit allen Schwestern in unserem Krankenhaus intim – und soviel ich weiß, arbeitet Lady nicht mehr bei uns.“ „Warum?“ „Warum sollte ich mich dafür interessieren?“ Draußen erklang ein kurzes Bellen, Bort erhob sich. Er kehrte mit Don zurück, der eine schuldbewußte Miene machte. Unter dem Blick seiner klugen Augen erblaßte der Arzt von neuem. Er sagte sentimental: „Don, du hast schlecht auf Frauchen aufgepaßt …“ Der Hund legte die Ohren an und kroch zu Rohans Füßen. „Urban hat mir den Hund unter dem Vorwand aufgenötigt, daß er keinen anderen dafür hätte. Darauf bin ich hereingefallen – du weißt, ich habe eine Schwäche für Hunde. Aber Urban ging es nicht um das Tier.“ Die erwartete Frage kam nicht. Rohan starrte ins dunkle Fenster. „Hörst du mir überhaupt zu, Vojta?“ fragte Bort. „Ja, es ging ihm um etwas anderes. Überschätze bloß diesen Mann nicht wieder.“ „Er hat mir in seiner Hütte Konserven für Don hingelegt“, erklärte Bort geduldig, „und daneben, schön ins Auge fallend, Milada Rendlovás Handtasche. In der Tasche waren Fotos dieses Schwesterleins, etwas unzüchtige Aktaufnahmen. Als die Lady die Fotos sah, kriegte sie einen hysterischen Anfall.“ Diese Worte rissen Rohan aus der Lethargie. „Lady und unzüchtige Aktaufnahmen? Die Fotos möchte ich sehen!“ „Ich habe sie ihr zurückgegeben. Außer einem, das ich heimlich behalten habe, aber das ist jetzt …“ Bort stockte plötzlich mit offenem Mund. 248
„Wo ist es?“ „Ich habe es in Jablonec bei den dortigen Kollegen gelassen.“ In seinen freudig erregten Augen flimmerten plötzlich Gedanken wie Ziffern auf einer Digitaluhr. „Das ergibt ja einen völlig neuen Gesichtspunkt …“ „Ich kenne das Mädchen kaum, Petr. Margita war mit ihr befreundet, Gott weiß, warum. Bisher habe ich nicht darüber nachgedacht. Die beiden waren sehr verschieden.“ „Konnte zwischen ihnen keine – hm – intime Beziehung bestehen?“ fragte Bort zögernd. Der Arzt lachte unwillkürlich. „Da bist du auf dem Holzweg. Margita war scharf auf Männer. Lady hat möglicherweise genommen, was Margita übrigließ. Kennst du keine solche Symbiose zweier weiblicher Wesen?“ Bort schüttelte fragend den Kopf. „Jede schöne Frau, mag sie sich noch so unabhängig geben, braucht eine Vertraute. Sie würde ihre Problemchen nicht richtig auskosten, könnte sie sich nicht bei jemandem ausführlich darüber auslassen. Und wenn sie klug ist, nimmt sie sich kein boshaftes graues Mäuschen mit Minderwertigkeitskomplexen, sondern ein dankbares schüchternes Kind, das auch gern genießen möchte, aber nicht weiß, wie man das anstellt.“ Bort dachte an die blonde Krankenschwester, die sich in der Gastwirtschaft voller lüsterner Männer mit dem Panzer aristokratischen Stolzes gewappnet hatte. Sie hatte in der alten Jablonecer Villa undiplomatisch auch das ausgeplaudert, was zu fragen ihm niemals eingefallen wäre. „Vielleicht hast du recht“, räumte Bort ein. „Deiner Meinung nach hat Margita gern andere Menschen provoziert. Sie hätte bestimmt mit Vergnügen zu solchen Fotos posiert und auch ihre Freundin dazu bewogen. Doch kein Erpresser wäre zu Margita gekommen. Schwester Milada ist freilich wie geschaffen zu einem Opfer.“ 249
„Wird denn Lady erpreßt?“ fragte Rohan ungläubig. „Warum, um Gottes willen?“ „Sie hat es mir selber gesagt, und der Fotograf – ein gewisser Alexandr Rak, hat es bestätigt. Rak ist ein älterer, vom Leben gezeichneter Bursche, der sehr an Milada hängt. Er hat das Geld für den Erpresser gegeben, weil Milada keines besitzt.“ „Spinnst du? Wofür haben sie denn gezahlt? Solche Fotos sind doch ein unschuldiger Scherz!“ „Diese nicht. Rak hat sie angeblich nachts im Ärztezimmer aufgenommen, wo Schwester Milada manchmal übernachtete, weil sie in Prag keine Wohnung hatte. Der nette Arzt, der sie dort schlafen ließ, würde seine Stellung verlieren, wenn der Erpresser seine Drohung wahrmachte und diese Beweise für ein fröhliches Leben in der Abteilung Anästhesie und Reanimation an den Chefarzt schickte.“ „Da ist was dran“, sagte Rohan grinsend. „Der Chef verfolgt gnadenlos alle Verstöße gegen die Sittsamkeit. Das ist der typische Fall eines Mannes, der selber nicht mehr kann und deshalb auch anderen den Spaß nicht gönnt. Wie heißt der Arzt, den man wegen Lady rausschmeißen könnte?“ „Ich weiß nur seinen Vornamen – Ivo. Er arbeitet angeblich erst kurze Zeit dort und ist vom Lande nach Prag gekommen. Wahrscheinlich ist er noch jung. Wieviel Ärzte sind in der Abteilung? Du als Chirurg müßtest doch alle kennen.“ Dr. med. Rohan bot ein Bild völliger Verwirrung. „Diese Geschichte hat dir Schwester Milada erzählt?“ „Ja. Was kommt dir daran merkwürdig vor?“ Der Arzt schien in sich hineinzulachen, doch plötzlich verfinsterte er sich. „Nichts. Hör mal …“ „Ich höre.“ Rohan zögerte, als begebe er sich gegen seinen Willen auf gefährliches Eis. Schließlich fragte er: „Hängt 250
diese schlüpfrige Affäre mit Margitas Tod zusammen?“ „Das weiß ich nicht, Vojta“, bekannte Bort wahrheitsgemäß, wenn auch ungern. „Margita hat mit Milada den letzten Abend verbracht. Diese Fotos wurden nach ihrem Tode in Urbans Hütte gefunden, in Miladas Handtasche, die mir Margitas geschiedener Mann serviert hat. Milada behauptet, jemand hätte die Fotos hineingetan. Meines Wissens war niemand anderes als Urban zu der Zeit in der Hütte – und er hat kein Alibi. Er haßt Milada, aber schien seine Frau auch nach der Scheidung zu lieben. Die Fotos sind unvollständig. Wer hat ein Stück abgeschnitten und warum? Milada verneint kategorisch die Möglichkeit, daß sie von ihrer Freundin erpreßt wurde, obwohl diese dazu die beste Gelegenheit und sogar einen Grund hatte. Sie hatte sich Geld geborgt, eine ziemlich hohe Summe, die sie nicht zurückzahlen konnte.“ „Das schlag dir aus dem Kopf“, sagte Rohan eisig. „Ich garantiere dir, daß Margita nichts damit zu tun hatte.“ Bort lächelte mitleidig, ließ sich jedoch nicht in einen Streit ein. „Diese Fakten – und noch andere, die ich nicht kenne – hängen miteinander zusammen. Die Menschen auch. Dazu gehörst du ebenfalls, selbst wenn du das abstreitest. Du kannst dich nicht einfach im Operationssaal einschließen und das Lämpchen ‚Eintritt verboten‘ anknipsen. Wenn du dir Klarheit verschaffen willst, solltest du etwas dazu beitragen. Wer sagt mir, warum Milada Rendlová aus Prag weggegangen ist?“ „Doktor Janů“, antwortete Rohan. „Morgen früh fahren wir nach Prag. Jetzt geh schlafen.“ „Ist das dieser Ivo?“ „Das wirst du sehen.“ „Wird er über eine solch heikle Sache sprechen?“ „Das laß meine Sorge sein“, erwiderte Rohan spöttisch. 251
In der Dachstube fragte Bort unter der kalten Bettdecke: „Wie alt ist Doktor Janů?“ „Achtundzwanzig.“ Durch den Garten der alten Jablonecer Villa trieb der Wind trockenes Laub. Bort beobachtete aus dem flaschengrünen Ford Escort, der vor dem Tor parkte, wie Doktor Rohan zur Haustür schritt. Dieses Intermezzo hielt Bort für Zeitverschwendung. „Milada Rendlová wird die Hindernisse in ihrem Leben nicht beseitigen oder überspringen“, hatte er zu seinem Freund gesagt, „sondern zwischen ihnen Haken schlagen wie ein Hase. Wenn du auf sie eindringst, fängt sie an zu heulen und flüchtet, falls sie dir nicht die Tür vor der Nase zuknallt.“ „Ich will nicht mit ihr reden, sondern mit dem Kerl“, erwiderte Rohan. „Worüber?“ „Du hast doch gesagt, er hätte dem Erpresser das Geld gezahlt.“ „Jedenfalls behauptet er das.“ „Und welchen Grund hatte er dazu?“ „Würdest du ein geliebtes Wesen – noch dazu ein so empfindsames und schutzloses – in den Klauen eines Halunken lassen?“ „Dieser Halunke konnte ihr doch nichts anhaben? Was wäre Lady passiert, wenn er die Fotos an den Chef geschickt hätte? Sie wäre aus dem Krankenhaus geflogen, aber kurz darauf ist sie freiwillig von allein gegangen. Eine tüchtige, qualifizierte Schwester findet immer und überall eine Stellung, dafür ist sie selber ein lebendiger Beweis. Vielleicht hatte sie Angst vor der Schande. Ich kenne sie als Blümchen Rührmichnichtan mit züchtig niedergeschlagenen Augen. Ihr war immer wichtig, was andere über sie denken. Ein unbefleckter Ruf ist eine schöne Sache, aber so viel Geld ist viel schöner! 252
Dieser Fotograf muß völlig verrückt sein, wenn er diese Summe gezahlt hat. Und allein für Lady.“ „Du hast recht“, sagte Bort wütend, „aber warum hat Rak das behauptet?“ „Gerade das gedenke ich ihn zu fragen.“ „Und warum sollte er dir antworten? Er kennt dich nicht, und du hast kein Recht, ihm lästige Fragen zu stellen.“ Rohan erwiderte leise: „Du hast mir gesagt, daß er im Unterschied zu Lady davon überzeugt ist, Margita hätte die Fotos gestohlen. Ich habe das gleiche Recht wie er, mein Mädchen zu verteidigen.“ Mein Gott! seufzte Bort im stillen. Bevor Rohan ausstieg, sagte er in seinem gewohnten bissigen Tonfall: „Und im Unterschied zu dir kenne ich die Verhältnisse in unserem Krankenhaus, so daß mich niemand mit rührenden Geschichtchen für dumm verkaufen kann.“ Jetzt sah Bort voller Erwartung auf den robusten Mann im dunkelblauen Havelock und empfand Schadenfreude, denn Rohan drückte schon eine Weile erfolglos auf den Klingelknopf. Als Bort ausstieg, um den unerwünschten Besucher zurückzurufen, wurde geöffnet. Eine kleine Greisin in einem Herrenmantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, stand in der Tür. Sogar von weitem bemerkte Bort ihre entsetzten Augen. Vom Gespräch verstand er kein Wort. Rohan sprach laut, als hielte er die alte Dame für taub. Seine Stimme drang über die Rhododendronbüsche wie das Krächzen einer erkälteten Krähe. Die Konversation wurde jedoch in einem deutschen Dialekt geführt. Viel entging Bort trotzdem nicht, denn die Alte begleitete ihre Worte mit Gesten, die auch ein taubstummer Chinese begriffen hätte. Der Arzt war offenbar begriffsstutzig oder er stellte sich so, trotz aller ablehnenden und verneinenden Gesten fragte er unablässig. Schließlich gingen der Alten der 253
Atem und die Geduld aus, und sie tat das, was Bort von Milada Rendlová erwartet hatte. Die Tür knallte zu, ein Stück Putz, das über der Füllung abplatzte, traf beinahe den zudringlichen Rohan an der Nase. Bort klopfte freundschaftlich den schönen Havelock ab und machte Rohan darauf aufmerksam, daß seine Haare voller Kalk seien. Rohan schüttelte seine lockige Mähne, er ähnelte eher einer gereizten Bulldogge als einem Pudel. „Sie sind nicht zu Hause – sie weiß nicht, wo sie hingefahren sind –, sie hat keine Ahnung, wann sie wiederkommen“, brummte er. „Nein – nein – nein.“ „So hast du nichts erfahren“, faßte Bort zusammen. „Ich hätte wohl nicht aussteigen sollen. Sie hat mich gesehen und ist vielleicht von Lady instruiert worden, daß für mich niemand zu sprechen ist.“ Rohan schüttelte wiederum den Kopf. „Ich würde mich sehr wundern, wenn die Alte auch nur das geringste täte, um Lady Unannehmlichkeiten zu ersparen. Sie bedauert offenbar schon, ihre Nichte aufgenommen zu haben, und würde sie liebend gern wieder hinausexpedieren.“ „Und in ein Pflegeheim gehen? Sie ist doch so schwächlich, daß sie von jedem Windhauch umgeblasen wird. Wahrscheinlich regt sie sich auf, weil Lady irgendwelche Scherereien mit Polizisten hat, wenn sie überhaupt begreift, worum es geht.“ „Sie begreift alles sogar sehr gut“, sagte Rohan, „und sie ist nicht schwächlich, sondern zäh. Lady hat sich wirklich verbessert.“ Er zog den staubigen Havelock aus, warf ihn auf den Rücksitz und schob sich vors Lenkrad. Die Abteilung Anästhesie und Reanimation des Purkyně-Krankenhauses befand sich in einem Flachbau, der bescheiden zwischen den prächtigen Türmen der Chirurgischen Kliniken hockte. Dr. med. Rohan hielt vor 254
den weiß angestrichenen Fenstern und blinzelte schuldbewußt zu der riesigen, blaß leuchtenden Glasscheibe, hinter der sich der Operationssaal verbarg. Bort blickte sich bange um. Die strengen, vielgeschossigen Blöcke des Krankenhausstädtchens, das sich auf einem zehn Hektar großen Parkgelände ausbreitete, zogen sich bis ins Endlose hin. Auf den betonierten Wegen schlichen matte Geschöpfe mit dem gleichen Ausdruck, der Borts Gesicht überschwemmte, dazwischen schwebte hin und wieder eine Gestalt im weißen Kittel oder in Schwesterntracht. Bort spürte, wie alle möglichen Krankheiten und Gebrechen, meist unheilbare und tödliche, auf ihn zukamen. Flehentlich hielt er Ausschau nach einem Krankenwagen oder wenigstens einem Rollstuhl, mit dem er wohl geradewegs in die Leichenkammer fahren konnte. Rohan lief flink einen Pfad hinunter und blickte sich an der Glastür um. „Reiß dich zusammen und stell dich nicht zu dumm an, Doktor Janů hat es hinter den Ohren. Hier werde ich nicht deine Arbeit tun.“ Der Flur war überheizt und antiseptisch sauber. Nach mehrmaligem Einatmen der entkeimten Luft fühlte sich Bort wie einbalsamiert. Rohan spielte mit der Klingel an einer weiteren, diesmal verschlossenen Tür eine komplizierte Fanfare, und Borts Verdacht, er würde in eine geheime Höhle von Narkomanen geschleppt, verwandelte sich in Gewißheit. In seinen Ohren erklangen Weihnachtsglocken, vor seinen Augen sprühten Wunderkerzen. Vergebens sagte er sich, daß das lediglich Merkmale seiner lachhaften Allergie gegen Krankenhausmilieu waren. Die weiße Tür schlug ihm entgegen, er streckte seine Hand aus und griff damit beinahe auf den Busen der Schwester, die geöffnet hatte. Der Arzt zog Bort zurück und zwang ihn mit einer brutalen Geste, hinter ihm zu bleiben. „Guten Tag“, sagte kühl die Schwester. Ihre Brille saß 255
auf einer Nase, die aus dem sommersprossigen Gesicht wie eine Streitaxt hervorragte. Die wasserblauen Augen durchbohrten Bort wie zwei Injektionsnadeln. „Ntach“, grüßte Rohan nachlässig und schickte sich an weiterzugehen. Die stattlichen Beine der Schwester spreizten sich, die breiten Schultern füllten die Tür. „Was wünschen Sie, Herr Doktor?“ fragte sie mit einem Männerbaß, der offenbar an Patienten geübt war, die sich weigerten, ergeben zu sterben. „Ist Doktor Janů hier?“ „Ich glaube, er schläft.“ „Zu der Zeit!“ Rohan versuchte, an der Schwester vorbeizuschlüpfen. Sie wich nicht von der Stelle. „Heute nacht hat bis zum Morgen im Saal das Licht gebrannt. Zwei Autounfälle – ein Toter und fünf Schwerverletzte. Seien Sie rücksichtsvoll, Herr Doktor, den Mann hier kann ich selber behandeln.“ Die Worte tropften von ihren Lippen wie Ätzlauge. „Sie werden noch mal am eigenen Gift ersticken, Schwester Matylda“, sagte Rohan, „und niemand wird Ihretwegen eine Träne vergießen. Gehen Sie mir aus dem Weg!“ Rohan benutzte Bort als Mauerbrecher und schrie in den Gang: „Ivo!“ Er wartete nicht auf eine Antwort. Ohne anzuklopfen, stürzte er ins nächste Zimmer. Bort, der beharrlich gegen seine Übelkeit ankämpfte, zweifelte einen Moment, ob er schon bei Sinnen sei. Aus violettem Heidekraut ragte ein großer, grün phosphoreszierender Fliegenpilz hervor, in einem türkisfarbenen See plätscherten seltsame Gespenster und gurrten sich zärtlich etwas zu. Am kohlschwarzen Horizont tauchte ein Schiff auf, Matrosen senkten einen toten Seemann ins Meer, der Leichnam schaukelte auf den weißlichen Schaumkämmen … 256
Rohan fluchte und lief weiter. Der Film des verrückten Regisseurs riß. Bort stand in einem mittelgroßen, bescheiden eingerichteten Zimmer. Eine Wand wurde von einem Einbauschrank verdeckt, an der anderen prangte ein riesiges Aquarium. Der Seemann war von den Toten auferstanden, er schob die Bettdecke beiseite und blinzelte ins Fenster, von dem Rohan die undurchsichtige Gardine weggezogen hatte. „Was ist schon wieder los?“ krächzte er. Rohan öffnete das Fenster, schaltete die Wachlampe aus und ging über den violetten Teppich zu einem der zwei kleinen Sessel. Mit einem Konferenztischchen, auf dem ein Telefon und ein Aschenbecher standen, bildeten sie die übrige Zimmereinrichtung. „Das ist mein Freund Petr. Er ist Polizist und besorgt mir Ablaß für meine Verkehrssünden“, erklärte er dem langhaarigen jungen Mann, der seinen zerzausten Kopf an die mitternächtlich schwarze Wand hinter der Liege stützte. Zu Bort gewandt, fuhr Rohan fort: „Kollege Janů. Setz dich, Petr, damit du uns nicht umfällst.“ „Freut mich“, sagte Bort unpassenderweise. Er ließ sich in einen Sessel fallen. Doktor Janů fuhr mit den Fingern durch seine Mähne und gähnte in seinen Walroßbart. „Wie spät ist es?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang er auf. „Gebt mir ein paar Minuten, ich bin gleich frisch. Auch einen Kaffee?“ „Selbstverständlich“, antwortete Rohan. „Du Miststück“, sagte Bort leise zu Rohan, kaum daß die Tür hinter dem jungen Arzt zugefallen war. Bort hatte sich gründlich im Zimmer umgesehen, das dem Atelier eines surrealistischen Malers glich. „Warum beschimpfst du mich?“ fragte Rohan. „Ich habe beschlossen, dich für einen Patienten auszugeben, obwohl du mit Ivo geradeheraus reden könntest.“ Bort wandte die Augen von einem der Bilder an der 257
schwarzen Wand ab, die wie Durchblicke in ein Reich menschenfressender Pflanzen und Tiere wirkten. „Das soll das Arztzimmer sein?“ „Sicher.“ „Gibt es noch ein anderes?“ „Nein“, versicherte ihm Rohan. „Gefällt es dir nicht? Sag das bloß nicht Ivo. Er ist ein verkanntes Genie, ein zweiter Picasso. Wenn er eine leere Fläche sieht, spürt er gleich ein unbezwingbares Verlangen, sie mit Farben zu beschmieren. Und weil er seine schöpferischsten Jahre in diesem grauen Spital vergeudet, realisiert er seine Inspirationen hier.“ „Duldet das euer strenger Chef?“ fragte Bort verwundert. „Ivo ist einer der besten Anästhesisten in Prag.“ Aus der Stimme des Arztes war der gutmütige Spott völlig gewichen. „Žitek, unser Chef, weiß das und ist nicht so kleinlich, ihm eine solche unschuldige Marotte zu verbieten.“ „Ich dachte, bei den Anästhesisten ist einer wie der andere. Im Operationssaal sind sie sowieso das fünfte Rad am Wagen.“ „Eine typische Laienmeinung“, erwiderte Rohan gereizt. „Du kennst die Redewendung Operation gelungen, Patient tot. Wenn ich ein Herz unters Messer kriege, können meine goldenen Hände ohne einen gewissenhaften Anästhesisten einen Dreck wert sein! Ich wage nicht einzuschätzen, welchen Anteil Ivo an meinen chirurgischen Erfolgen hat, vielleicht fiele das nicht gerade schmeichelhaft für mich aus.“ Rohan nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, die auf dem Tisch lag, und blickte durch die Flamme des Feuerzeugs auf den zweifelnden Polizisten. „Voriges Jahr haben wir Žiteks Frau operiert. Ich werde dich nicht mit Einzelheiten langweilen, das würdest du ohnehin nicht verstehen. Die Operation war viel komplizier258
ter und dauerte viel länger, als wir angenommen hatten. Žitek verdankt hauptsächlich Ivo, daß er heute kein Witwer ist, und das vergißt er ihm nicht. Verstehst du mich? Solange Ivo wie bisher arbeitet, darf er sich bei dem Chef alle Exzentrizitäten erlauben.“ Ins Zimmer trat ein arabischer Scheich in einem weißen Habit, um den Kopf hatte er ein buntes Handtuch geschlungen. „Ich mußte mich duschen.“ Doktor Janů stellte ein Tablett mit drei dampfenden Tassen auf den Tisch. Rohan schnupperte argwöhnisch. „Hat den Schwester Matylda gebrüht?“ „Um Gottes willen!“ erwiderte Janů entsetzt. „Matylda vertraue ich eine so anspruchsvolle Aufgabe nur an, wenn unerwünschter Besuch da ist.“ Er setzte sich hin und begann, angestrengt seinen Schädel zu massieren. Dabei brummte er ins Handtuch: „Wo treibst du dich rum? Heute nacht war es hier wie im Schlachthaus.“ „Schwester Matylda hat schon etwas von einem Autounfall gesagt.“ „Sechs Mann – eigentlich nur fünf, einer war auf der Stelle ex. Aber die anderen … Außer dem Kerl, der das verschuldet hat, lauter achtzehnjährige Burschen. Sie wollten einen Freund bei der Armee besuchen.“ Aus dem Handtuch sahen Augen voller hilfloser Wut. „Du hast uns verdammt gefehlt.“ „Bin ich denn der einzige Chirurg hier?“ erwiderte Rohan halb empört, halb geschmeichelt. „Genäht hat die verehrte Kollegin Horníková!“ Doktor Janů klatschte mit dem nassen Handtuch auf die zusammengerollten Kissen. „Die Frau sollte lieber sticken! Sofakissen mit der Aufschrift ‚Schlaf süß, mein Liebling‘, und nicht skalpierte Köpfe ausbessern! Ich gäbe sonst was drum, wenn ihr das mal ein Kompetenterer als ich sagen würde!“ 259
Er winkte ärgerlich ab und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. Sein Blick streifte Bort, der auf die dritte Tasse starrte, als wäre sie ein Schierlingsbecher. „Was ist mit Ihnen, Freund meines Freundes? Möchten Sie lieber einen Harten? Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.“ „Keinen Alkohol!“ entgegnete Rohan. „Ich denke, daß er eine leichte Gehirnerschütterung hat.“ „Das denkst du?“ fragte Janů erstaunt. „Warum hast du ihn dann nicht auf eure Station gebracht?“ „Ich bin nicht im Dienst, Ivo. Heute habe ich frei genommen.“ Über Janůs Gesicht ergoß sich Verständnis und Mitgefühl. „Nun ja …“ Er erhob sich, schloß das Fenster und blickte eine Weile in den traurigen Novemberpark. „Das Leben ist ungerecht. Warum gehen die hübschen, lieben Mädchen fort, während die bösen Ehefrauen zählebig sind wie menschliche Dummheit?“ „Telefon, Herr Doktor“, sagte Schwester Matylda ausdruckslos in der Tür. „Vorhin habe ich umgestellt, damit Sie im Schlaf nicht gestört werden.“ Janů ging schnell hinaus. „Jetzt ist die ideale Gelegenheit, ihn zu fragen“, sagte Rohan leise. „Meinte er mit den hübschen Mädchen Margita Urbanová oder Milada Rendlová?“ „Frag ihn doch!“ Bort trank den letzten Schluck und sagte, den Mund voller Kaffeesatz: „Ich werde nicht fragen.“ „Warum denn nicht?“ „Es ist nicht mehr nötig.“ „Warum sind wir dann hergefahren!“ sagte Rohan ärgerlich. „Bist du Polizist oder nicht? Vergiß deine abwegigen Betrachtungen und überprüfe die Fakten, Herrgott noch mal! Hier bist du an der Quelle, Ivo ist nicht voreingenommen und verblendet wie ich …“ 260
Bort legte den Finger an den Mund. Rohan stutzte, schlich zur Tür und riß sie auf. Schwester Matylda stürzte ihm entgegen und umklammerte ihn krampfhaft. Rohan klatschte besänftigend auf ihren dicken Hintern und ermahnte sie freundlich: „Bezähmen Sie sich, Schwester Matylda! Ich weiß ja längst, daß Sie mich lieben, aber wir sind nicht allein!“ Der athletische Körper schüttelte sich vor Ekel. Schwester Matylda befreite sich aus der Umarmung und holte mit der Rechten aus. Rohan lachte ihr ins Gesicht, der Schlag fiel nicht. ‚Das Weib hat eine perfekte Selbstbeherrschung‘, dachte Bort anerkennend, ‚und eine perfekte Figur – sofern jemand einen weiblichen Herkules mag. Und ganz merkwürdige Reflexe …‘ Schwester Matylda glättete ihre Schürze und ihr verzerrtes Gesicht. „Wollten Sie Schwester Margitas Sachen holen, Herr Doktor?“ fragte sie mit betont pietätvoller Stimme. Das Lachen in Rohans Gesicht gerann zu einer Fratze. Schwester Matylda weidete sich ohne Scham an der leidvollen Miene. „Wenn Sie etwas als Andenken haben wollten, hätten Sie gestern kommen müssen. Der Polizist in Zivil hat alles mitgenommen.“ Über Rohans Schulter, die plötzlich greisenhaft gebeugt war, schlug ein Schlangenflämmchen zu Bort hinüber. Schwester Matylda senkte jedoch sogleich heuchlerisch den Blick. „Ich habe ihm die Sachen selber gegeben. Etwas habe ich allerdings behalten. Als ich das in der Schrankecke unter der schmutzigen Wäsche entdeckte, dachte ich gleich, daß so etwas nicht in falsche Hände geraten darf! Das konnte ich Margita nicht antun, auch wenn ich sie nicht mochte. Sie war sexbesessen, aber jetzt ist sie tot, und niemand hat das Recht, sie zu verurteilen …“ „Geben Sie schon her!“ 261
Schwester Matylda steckte die Hand hinter den Schürzenlatz. „Ich weiß nicht … Sie haben Margita gekannt, aber das haben Sie auch nicht gewußt …“ Zögernd zog sie einen Umschlag hervor. Obwohl er nicht zugeklebt war, riß ihn Rohan auf. Er starrte lange und stumm auf die Fotografie, die er in seiner zitternden Hand hielt. Schwester Matylda stand mit angehaltenem Atem neben ihm. In ihren Augen blitzte es triumphierend. Sie sagte jedoch mit scheinbarer Anteilnahme: „Wer hätte das von Schwester Margita gedacht! Ist das normal, daß sich eine Frau so etwas aufhebt …“ „Nun gehen Sie schon!“ sagte Rohan. Schwester Matylda gebärdete sich erschrocken und flüchtete. Rohan kehrte mit schwerem Schritt zum Tisch zurück und legte auf Borts ausgestreckte Hand ein Foto Milada Rendlovás. Es war nicht zerschnitten wie die anderen. An der Wand über den Knien des Mädchens hing ein Bild, das bestimmt nicht von Doktor Janů gemalt worden war. „Weißt du, was das bedeutet?“ Bort betrachtete das Foto und fragte, ohne aufzublicken: „Was hat diese Matylda gegen dich?“ „Nur das eine, daß die Frauen auf mich fliegen und nicht auf sie.“ „Mir ist auch aufgefallen, daß sie solche Neigungen hat.“ „Da weißt du mehr als sie selber. Sie ist sich dessen nicht bewußt, und wenn sie das einmal erkennt, landet sie im Irrenhaus. Matylda ist ein züchtiges, aggressives Fräulein. Sex hält sie für ein schändliches Laster, das ein anständiger Mensch unterdrückt.“ Rohan neigte den Kopf und gab einen Laut zwischen sardonischem Lachen und herzzerreißendem Schluchzen von sich. „Ich werde wohl zu ihrem Glauben übertreten.“ 262
„Rede keinen Quatsch, Vojta!“ ermahnte ihn Bort. „Du ziehst übereilte Schlüsse.“ „Alles ist doch klar! Das Foto in Margitas Schrank und die in ihrer Hütte beweisen, daß das Mädchen, dessentwegen ich beinahe meine Arbeit verflucht habe, eine …“ „Sie beweisen nichts!“ schrie ihn Bort an. „Was geht hier vor, meine Herren?“ fragte Janů, der gekämmt und in einem frisch gebügelten Kittel ins Zimmer sah. „Ich muß mir den Kerl ansehen, der die Kinder massakriert hat, angeblich ist ihm schlecht. Kommst du mit, Vojta?“ „Nein“, antwortete Rohan mit finsterer Miene. „Hast du beschlossen, den Rest deines Lebens zu verbummeln?“ Rohan stand auf. „Ich bringe Petr zurück in die Hütte, und abends bin ich hier.“ „Seid ihr von dort gekommen?“ „Ja.“ „Wann?“ Rohan, weiß wie der Kittel des Anästhesisten, antwortete nicht. Bort schielte auf die Uhr. „Etwa vor einer Stunde.“ „Habt ihr die zerquetschten Autos gesehen?“ „Von dem nächtlichen Unfall?“ fragte Bort. „Wo ist das passiert?“ „Am Černý most.“ „Dort war nichts zu sehen, das hatte man wohl schon weggeräumt.“ „Dann gehe ich jetzt zu dem Unglücksraben“, sagte Janů ergeben. „Mit ihm hatten wir verdammt viel Arbeit. Und wenn wir ihn soweit haben, daß er wieder laufen kann, kommt er in den Knast. Mußte er wie ein Irrer fahren? Dabei hatte er an einer Hand einen Verband.“ Bort horchte auf. „Was hatte er an der Hand?“ „Eine ziemlich frische Schnittwunde, wahrscheinlich 263
von Glas. Nichts Schlimmes, aber wenn er das Lenkrad hielt und nach der Kupplung griff, mußte das ziemlich weh tun. Er wollte die Schmerzen mit Tabletten betäuben, und so ist er beim Fahren eingeschlafen.“ „Wissen Sie, wie der Mann heißt?“ Doktor Janů blickte Bort erstaunt an. „Zufälligerweise weiß ich das. Ich kenne ihn nämlich ein bißchen, im Juli lag seine Frau hier auf der Gynäkologischen. Risikoschwangerschaft. Sie wollten so schrecklich gern ein Kind, hauptsächlich er. Jetzt ist er ein Krüppel, und er hat ein fremdes Kind getötet und andere ebenfalls zu Krüppeln gemacht.“ „Wie heißt er?“ fragte Bort ungeduldig. „Rak. Er soll ein ziemlich bekannter Fotoreporter sein.“ Bort versteckte seine zitternden Hände hinter dem Rücken. „Wird er das überleben?“ „Bestimmt“, sagte der Arzt und kniff die Augen zusammen. „Warum interessiert Sie das? Ist er ein Freund von Ihnen?“ „Etwas Ähnliches.“ Bort fuhr sich unwillkürlich über das abgeschürfte Kinn. Unter den langen Haaren verbarg sich ein kluger Kopf, was durch das unkonventionelle Benehmen erfolgreich maskiert wurde. Janů sagte mit durchsichtiger Ironie: „Dann werde ich Rak von Ihnen grüßen. Und wenn Ihnen der Kopf wehtut, dann denken Sie nicht, schuld ist nur Ihr Kummer wegen seines verpfuschten Lebens, sondern achten Sie lieber auf Ihre eigene Gesundheit. Damit Sie sich nicht zufälligerweise in einem Bett neben Ihrem ‚Freund‘ wiederfinden.“ Als der Wagen das Krankenhausgelände verlassen hatte, legte Bort die Hand auf Rohans Arm. „Halt mal an!“ „Warum?“ Bort zeigte auf eine Reihe Telefonzellen. „Ich muß jemanden anrufen.“ 264
„Ich habe es eilig, Petr“, wandte Rohan ungeduldig ein, „und will heute abend wieder in Prag sein. Hättest du nicht im Krankenhaus anrufen können?“ „Damit Schwester Matylda am anderen Apparat mithört? Halt an!“ Rohan fuhr widerstrebend zum Gehsteig. „Wen willst du anrufen?“ Bort blickte aufmunternd in Rohans eingefallenes Gesicht und sagte bedeutungsvoll: „Ich war doch bei der Verkehrspolizei. Es ist kein Problem, zu erfahren …“ „Nein!“ unterbrach ihn Rohan scharf. „Ich will nichts mehr wissen. Die Sache ist für mich erledigt. Verstanden?“ „Aber für mich nicht“, erwiderte Bort. „Jetzt gebe ich bestimmt nicht auf, wo …“ Rohan beugte sich zu ihm. „Warum machst du das, Petr? Etwa bloß deshalb, damit sich ein eingebildeter alter Junggeselle nicht innerlich verzehrt, weil er auf ein Luder reingefallen ist? Pfeif drauf, ich habe das verdient.“ Jedes Wort schien ihn anzustrengen. „Da hast du allerdings recht, doch ich bin ein Polizist, den niemand ungestraft hereinlegen kann. Und sie haben das versucht.“ „Wer?“ „Gib mir das Foto.“ Rohan griff in die Tasche, aber Bort nahm das Bild nicht. „Sieh dir das an! Das ist nicht im Arztzimmer fotografiert worden. Und selbst wenn, hätte Doktor Janů vom Chefarzt nichts zu befürchten. Schwester Milada muß das ebensogut wissen wie du.“ „Wie jeder im Purkyně-Krankenhaus. Gleich, als du mir gesagt hast, warum Lady erpreßt wird, war mir klar, daß ihre Erklärung Unsinn ist. Aber wofür hat sie dann gezahlt – und an wen?“ In den gequälten Augen blitzte ein Hoffnungsschimmer. „Wer hat die Fotos gestohlen, Petr – Schwester Matylda?“ 265
„Wie jeder im Purkyně-Krankenhaus weiß sicherlich auch Schwester Matylda, daß Doktor Janů unter höchstem Schutz steht.“ Bort öffnete die Tür und stieg aus. „Denkst du, daß die schmutzige Angelegenheit überhaupt nicht mit Margitas Tod zusammenhängen muß?“ fragte Rohan aufgeregt. „Ich bin gleich zurück“, sagte Bort auf dem Gehsteig. „Sieh dir inzwischen das Foto gründlich an.“ Fünf Minuten später kehrte er zum Wagen zurück. „Es ist in der Altstadt, bei der Weinstube ‚U plebana‘.“ „Was willst du dort?“ fragte Rohan. „Anstelle von Unterleutnant Zlámal, der gerade keine Zeit hat, rede ich mit der Ehefrau von Alexandr Rak.“ Er nahm Rohan das Foto aus der Hand und betrachtete es vergnügt. „Der Fotograf liebt die Pferde so sehr, daß er deswegen sogar gesessen hat.“ Rohan reihte sich schweigend in den Fahrzeugstrom ein, der am Krankenhausgelände vorbeifloß. Sie fuhren hinunter zur Moldau, beide in Gedanken versunken. Bort spürte, daß sich die Dinge zu klären begannen. Er kannte die Unruhe, die sich seiner bemächtigte, wenn er genügend Fakten gesammelt hatte. Die Lösung mußte in Reichweite liegen, er übersah sie nur. Jetzt kam ihm der Fall der beiden Krankenschwestern wie ein Baum mit trockenen Blättern vor. Sobald der Wind bläst, fallen sie herunter und enthüllen die Äste, die von einem einzigen Stamm abzweigen. Das Haus stand in einer Gasse und war aus der Front der übrigen Gebäude nach hinten ausgeschert, als wollte es unbedingt die zaghaften Strahlen der Novembersonne erhaschen. Sie beschien die Fenster des obersten Stockwerks. Das Barocktor lag jedoch im Schatten. Die dunkle Toreinfahrt mündete in einen sauberen, hellen und geräumigen Hof. Ihn umgrenzten gekalkte Wände mit Pawlatschen, auf denen Blumenkästen voller 266
immergrüner Pflanzen standen. Im Hof war es still und friedlich wie in einem Kloster. „Hier möchte ich auch wohnen“, sagte Rohan, der eine Einzimmerwohnung in einem Hochhaus sein eigen nannte. „In dem Haus leben offenbar lauter anständige Leute.“ Sie stiegen die Treppe hinauf, die auf einer Seite mit einem steinernen Geländer gesäumt war. Die Pawlatschen bildeten eigentlich Loggias, in die Wohnungen gelangte man von offenen Podesten. Im letzten Stock war auf einem Türschild „Alexandr Rak“ und „Helena Trojanová“ zu lesen. „Frau Trojanová hat ihren Namen behalten“, sagte Bort und klingelte. „Sie arbeitet als Redakteurin bei der ‚Modernen Frau‘.“ „Da wird sie kein dummes Weibchen sein“, meinte Rohan. „Das wird sich zeigen. Klug oder dumm, in einem sind alle gleich.“ Ehe der Arzt fragen konnte, worin alle Frauen gleich seien, wurde geöffnet. Der erfahrene Kenner stufte Frau Trojanová als Schönheit des seltenen Typs ein, der nur im alten Griechenland vorkam, wie Kunstwerke bezeugen, und seitdem nirgendwo. Sie bewegte sich stolz in einem dunkelblauen losen Kleid, die Körperhaltung verriet die ruhige Kraft ihres Geistes. Rohan, der sich stets davor gescheut hatte, schlechte Nachrichten zu überbringen, bezweifelte, daß diese Frau schon wußte, was ihrem Mann zugestoßen war. Bort sah nur das Gesicht mit fleckiger Haut und die von fortgeschrittener Schwangerschaft deformierte Figur. Er hielt der Frau seinen Ausweis entgegen. „Guten Tag. Frau Trojanová? Ich bin von der Polizei, Leutnant Bort.“ Sie nickte und trat beiseite, den Ausweis streifte sie mit keinem Blick. „Bitte …“ Das Zimmer hatte die Fenster zur Pawlatsche, dort 267
blühten Stiefmütterchen von der gleichen Farbe wie Frau Trojanovás Augen. Auf dem weißen Teppich, der ausgereicht hätte, einen halben Tennisplatz zu bedecken, verloren sich ein paar Möbelstücke: niedrige Hocker, zwei schwarzlackierte Tischchen, eine Renaissancetruhe: Am Fenster prunkte ein Stickrahmen, der sich im zwanzigsten Jahrhundert äußerst merkwürdig ausnahm. Eine Zimmerecke war von einer dicken Matte ausgefüllt, darüber hing ein ungerahmtes Bild mit einem galoppierenden Rappen. In einer anderen Ecke standen Stühle mit hohen Lehnen um einen langen schmalen Tisch, an dem Rudolf II. mit seinem Gefolge gespeist haben konnte. Zu diesem Tisch ging Frau Trojanová. Sie setzte sich und legte ruhig die Hände in den Schoß. ‚Lukrezia Borgia‘, fiel dem bezauberten Ästheten Rohan ein. ‚Entehrt, aber stolz und unverletzbar. Dieses Milieu wurde für sie geschaffen, kein anderes würde besser zu ihr passen. Damit hat sie jemand umgeben, der sie liebt und ihr huldigt.‘ Der weniger poetisch veranlagte Leutnant sah sich ungeniert im Raum um und bemerkte anerkennend: „Sie haben es aber schön hier.“ „Was wollen Sie von mir“, sagte Helena Trojanová mit dunkler Stimme. Am Ende des Satzes stand kein Fragezeichen. Bort konnte den Blick nicht von dem galoppierenden Rappen losreißen. „Hat das Ihr Mann gemacht?“ Rohan erkannte überrascht, daß es kein Gemälde, sondern eine Fotografie war. „Ja“, antwortete sie. Bort schritt näher zu der riesigen Matte. „Was bedeutet die Elf rechts unten?“ „November. Das ist eigentlich ein Kalender“, erklärte sie. „Mein Mann fotografiert gern Pferde. Er hat die zwölf besten Fotos ausgewählt und numeriert. Jeden Monat hängt er ein anderes hin.“ 268
Sie redete ausschließlich in kurzen Sätzen und zeigte keine Gemütsregung. Überhaupt wirkte sie nicht wie eine Frau, deren Mann schwerverletzt im Krankenhaus lag. „Ihr Mann ist ein Künstler.“ „Ich weiß“, sagte sie ernst. Bort gebärdete sich nun betrübt und zog ein Notizheft hervor, in dem nichts über den Fall stand. „Ich bedaure, daß ich Sie belästigen muß, aber der Wagen läuft auf Ihren Namen.“ „Es ist mein Wagen“, bestätigte Frau Trojanová. „Jetzt fährt mein Mann damit. Er hat seinen Saaba verkauft. Wir mußten uns einschränken.“ Bort versagte sich eine Mitleidsbekundung, weil das Ehepaar in solch großes Elend geraten war, und fragte: „Trinkt Herr Rak?“ „Selten. Am Steuer nie“, antwortete sie ruhig. „Er hatte keinen Alkohol im Blut. Das wissen Sie doch.“ Rohan hegte den Verdacht, daß die schöne Helena den Leutnant insgeheim verspottete. Bort, der gewöhnlich sehr allergisch gegen Spott war, verzog jedoch keine Miene. „Er nimmt aber Medikamente, nicht wahr?“ Als Köder fügte Bort hinzu: „Schließlich hatte er welche bei sich.“ Frau Trojanová runzelte leicht die Stirn und sagte zögernd: „Vielleicht Vitamine.“ „Woher kam er?“ „Wahrscheinlich aus Mladá Boleslav.“ „Was hatte er in dieser Gegend zu tun?“ „Das weiß ich nicht.“ „Wann ist er weggefahren?“ „Am Freitag.“ Das Gespräch ähnelte einem Pingpongspiel zweier gleich starker Gegner. „Hat er Ihnen nicht gesagt, wohin er fährt und wann er zurückkommt?“ „Ich habe ihn nicht danach gefragt.“ 269
„Haben Sie nicht miteinander gesprochen?“ „Natürlich. Er hat mich zu meiner Mutter nach Modřany gefahren. Ich bin heute morgen zurückgekommen.“ „Ich dachte, er hätte Ihnen eine Nachricht hinterlassen.“ Die Stiefmütterchenaugen blickten ihn ungerührt an. „Nein.“ „Verstehen sich Ihr Mann und Ihre Mutter nicht?“ Frau Trojanová äußerte zum erstenmal eine schwache Gefühlsregung und fragte leicht erstaunt: „Warum?“ „Das weiß ich nicht, gnädige Frau“, antwortete Bort. „Ich versuche zu begreifen, daß ein Mann seine hochschwangere Frau verläßt, die gesundheitlich gefährdet ist, und es nicht für nötig hält, ihr zu sagen, wohin er fährt und wann er zurückkommt.“ Sie hörte mit unbewegtem Gesicht zu. „Ich dachte, Sie untersuchen den Unfall.“ „Das tue ich. Dabei ist ein Junge umgekommen und vier weitere Jugendliche – fast noch Kinder – sind schwer verletzt.“ „Das tut mir leid“, sagte sie in einem Ton, der ihre Worte widerlegte, „aber wo er die letzten drei Tage war, ändert doch nichts daran.“ Rohan lief es kalt über den Rücken. Bort sagte deprimiert: „Sie haben recht. Trotzdem ließe sich vielleicht etwas finden, was zu seinen Gunsten sprechen könnte. Was seine Schuld mindert.“ „Warum.“ „Wenn er in den letzten Tagen eine seelische Erschütterung gehabt hätte, was erklären würde, warum er zu Beruhigungsmitteln griff, würde er wenigstens nicht als rücksichtsloser Verkehrsrowdy dastehen.“ „Lassen Sie das“, sagte Frau Trojanová. „Alexandr wird seine Schuld abbüßen. Seine eventuellen Probleme schützen ihn nicht vor den Konsequenzen.“ Bort hakte gleich ein: „Also hatte er Probleme?“ 270
„Das weiß ich nicht. Mir kam er normal vor. Am Telefon hat er sogar gescherzt.“ „Hat er Sie am Wochenende angerufen?“ „Nein. Jemand rief ihn an. Am Freitag gegen Mittag, bevor wir zu meiner Mutter fuhren.“ „Wissen Sie, wer es war?“ „Eine Frau. Alexandr sagte zu ihr: Rauben sie eine Bank aus, Fräulein.“ Bort verbarg nicht sein gespanntes Interesse. „Was hat er noch gesagt?“ „Er sagte: Das ist ja fein, aber warum teilen Sie mir das mit? Dann legte er auf. Es war eine falsche Verbindung, oder irgendein verrücktes Mädchen hat sich einen Spaß gemacht. Alexandr brachte mich nach Modřany. Das Wetter wurde schön. Wahrscheinlich ist er ins Isergebirge gefahren, um Hirsche zu fotografieren.“ „Sie hatten nichts dagegen?“ „Er hat manchmal solche Aufträge“, sagte sie leicht ungeduldig. „Von etwas müssen wir leben. Jetzt werden wir Geld brauchen. Viel Geld.“ „Das glaube ich.“ sagte Bort mitfühlend. „Dabei wird Ihnen Ihr Mann nicht mehr helfen können. Was werden Sie tun?“ „Ich verkaufe die Fotoausrüstungen“, antwortete Frau Trojanová. „Dafür bekomme ich über hunderttausend Kronen.“ Rohan starrte ungläubig auf die schöne eisige Statue. Nach seiner Erfahrung mußte eine Frau in ihrer Lage laut jammern oder leise stöhnen. „Ihnen liegt gar nichts an Ihrem Mann, nicht wahr?“ fragte Bort freundlich. Helena Trojanová lachte wie eine Madonna und faltete die Hände auf dem vorstehenden Bauch. „Mir liegt nur daran“, sagte sie mit fester Stimme. „Deshalb mußte ich in den letzten Monaten lernen, mich nicht über jede Kleinigkeit aufzuregen.“ „Das machen Sie richtig“, sagte der bisher stumme 271
Doktor Rohan, wobei er Bort mit einem Blick zum Gehen aufforderte. Bort blieb wie angegossen sitzen und stammelte verschämt, als hätte er bisher geglaubt, daß der Klapperstorch die Kinder bringt: „Ja, ich verstehe Sie …“ „Verabschieden wir uns?“ fragte nun Rohan laut. „Gleich …“ Zu Frau Trojanová gewandt, fragte er schüchtern: „Wäre es sehr unverschämt, wenn ich Sie bäte, mir Arbeiten von Herrn Rak zu zeigen? Ich bewundere ihn sehr, denn ich fotografiere selbst. Er ist mein unerreichbares Vorbild. Aber wenn Sie das zu sehr belastet …“ „Überhaupt nicht“, sagte Helena Trojanová höflich, wenn auch ohne Begeisterung. Sie stand auf, schritt durch den Raum und öffnete die Truhe. „Es sind unheimlich viele … Was interessiert Sie am meisten?“ „Die Pferde!“ rief Bort, rot vor Freude. „Das müßte hier sein …“ Sie griff in die Truhe, die durch schräge Zwischenwände in Fächer geteilt war, nahm eine Mappe heraus und legte sie auf den Tisch. Bort stürzte sich darauf und begann, hastig die Fotos zu betrachten. „Ja, ja, das ist es“, murmelte er hingerissen. „Was meinen Sie? Dürfte ich mir eines nehmen?“ „Sicher“, sagte sie mit unverhohlener Müdigkeit. „Das hier?“ Bort griff nach der Aufnahme eines sich aufbäumenden Apfelschimmels. „Welches Sie wollen. Ich brauche sie nicht.“ „Herzlichen Dank! Vielen, vielen Dank!“ sagte Bort gefühlvoll. Kurz darauf schob Frau Trojanová die Männer zur Tür hinaus. „Ich habe mich erst gewundert, daß der Fotograf die bläßliche Lady begehren konnte, wo er zu Hause ein königliches Kleinod hat“, sagte Rohan auf der Treppe. „Aber von einer solchen Frau muß sich ein Mann ab und zu erholen.“ 272
„Ja“, sagte Bort, „Alexandr Rak hat sich in seiner Frau maßlos getäuscht. Das hat ihn zehntausend Kronen gekostet, und es wird ihn noch mehr kosten.“ Rohan blieb verblüfft stehen. „Wieso?“ Bort gab ihm das Foto, das er Helena Trojanová entlockt hatte. In der rechten unteren Ecke, unter den Hufen der Hinterbeine, war mit schwarzer Tusche eine römische Sieben gemalt. „Juli.“ Rohan verglich das Kalenderblatt, das über der riesigen Matte gehangen hatte, mit der Fotografie des Mädchens, das auf dieser Matte ruhte. „Also deshalb hast du so rumgekaspert!“ „Der Zweck heiligt die Mittel“, sagte Bort verschmitzt. „Jetzt wissen wir, warum Frau Trojanovás Ehemann gezahlt hat.“ Der Himmel trübte sich mit perlgrauem Dunst ein. In Jablonec fielen große weiße Flocken, die auf der betonierten Fahrspur dunkle Flecken hinterließen. Dort oben auf dem Felsen hält sich vielleicht der Schnee schon, dachte Bort bedauernd. Schade, daß er nicht ein paar Tage eher gefallen ist. Richtr hätte einfachere Arbeit gehabt, und ich … ‚Was denn, Petr? Würdest du dich wohler fühlen?‘ vernahm er eine boshafte Stimme. ‚Nein‘, antwortete er ehrlich. ‚Dein verwelkter Lorbeer würde wieder grünen.‘ ‚Mir geht es nicht um die Karriere, sondern um die Arbeit.‘ ‚So sei fleißig und gib dich nicht vorzeitig zufrieden‘, ermahnte ihn die Stimme nachdrücklich. ‚Eine Schlußfolgerung mag eine schöne Sache sein, aber ohne Beweise ist sie völlig wertlos.‘ Der Escort bog in eine Gartenstraße ein, die Bremsen quietschten. Bort sprang aus dem Wagen, ehe er hielt, 273
und eilte zwischen den Rhododendronbüschen entlang. Milada Rendlová öffnete ihm auf sein Klingeln, als hätte sie hinter der Tür gewartet. „Was ist passiert?“ rief er erschrocken. Das Haar fiel ihr in die Stirn, der Mund zitterte. Sie taumelte zurück. „Tante …“ Bort packte sie an der Schulter. Milada lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn. „Was ist passiert?“ fragte nun auch Rohan, der Bort gefolgt war. „Wo ist die alte Dame?“ „Sie stirbt“, hauchte Milada. Der Arzt stieß Bort grob beiseite und lief zu der angelehnten Tür im hinteren Teil des Vestibüls. In dem kleinen Zimmer, das einer Klosterzelle glich, lag die Greisin auf einem schmalen Messingbett. Ihr Gesicht war vom Tode gezeichnet. Die Augen blickten schon in unerreichbare Fernen, die Hände, dürr wie Vogelkrallen, preßten ein Bild in blitzendem Rahmen an die Brust. Der violette, eingefallene Mund schnappte nach Luft. Rohan ergriff die geäderten Handgelenke. Das Bild fiel klirrend zu Boden. Bort bückte sich danach, ein trotziges Jungengesicht schaute ihn an. Milada wimmerte wie ein Klageweib. „Einen Krankenwagen!“ rief Rohan. „Schnell!“ Bort rannte aus dem Zimmer. Das blonde Mädchen stand reglos da wie ein Engel auf einem Grabmal. „Was haben Sie ihr gegeben?“ fragte Rohan, immer noch den Rücken zu Milada gewandt. „Nichts.“ Rohan drehte sich um. „Lady! Sie sind doch Krankenschwester! Wo sind ihre Medikamente?“ Milada deutete auf ein Tischchen, wo drei Medizinflaschen standen, die Etiketten trugen die Aufschrift morgens, mittags, abends. Zwei Fläschchen waren leer, das dritte enthielt fünf verschiedenfarbige Pillen. Rohan schüttete sie in seine Hand. 274
„Was ist das? Ich will die Originalpackungen sehen!“ Milada ging wie abwesend ins Vestibül, wo Bort das Telefon mißhandelte, und kehrte mit einer Metallkassette zurück. „Hier sind sie – verschlossen, ich habe ihr die Tabletten selber dosiert. Sie hat mir ständig unterstellt, daß ich ihr weniger als vorgeschrieben gebe …“ Fieberhaft suchte sie in den Taschen nach dem Schlüssel. Rohan entriß ihr die Kassette, die sich wie ein Buch aufschlagen ließ. Sie enthielt zerrissene Packungen, herausgefallene Tabletten und Fläschchen mit abgeschraubten Verschlüssen. „Hauptsache, alles ist schön abgeschlossen, Schwester“, sagte Rohan ätzend. „Wie ist sie da rangekommen?“ „Das weiß ich nicht! Als ich heute morgen ins Krankenhaus ging, hatte sie außergewöhnlich gute Laune. Sie sagte, nun würde endlich Horst wiederkommen. Ich sollte zu Hause bleiben und aufräumen. Sie stellt sich das so einfach vor! Gegen Mittag hatte ich das Gefühl, daß hier nicht alles in Ordnung ist. Ich fand sie im Bett, mit Horsts Foto. Gerade hatte ich sie zugedeckt und das Fenster geöffnet, da kamen Sie schon.“ Draußen heulte die Sirene des Krankenwagens. Bort wartete nervös auf eine Verbindung mit Leutnant Richtr. Als er sich meldete, klingelte es an der Haustür. „Moment“, rief er und rannte zur Tür, um zu öffnen. Dann nahm er wieder den Hörer. „Komm gleich zur Rendlová. Und laß in einer halben Stunde jemanden hier anrufen … Egal, wer! Du meldest dich und tust so, als hätte sich das Purkyně-Krankenhaus bei euch gemeldet. Dann fragst du: So wird er das nicht überleben? … Alexandr Rak. Nachts ist er kopflos nach Prag gerast, er hat sich unterwegs beinahe totgefahren. Ja – und bring das Foto mit!“ 275
Milada begleitete die Pfleger, die mit der Trage hinausgingen. Bort lief ihnen nach und steckte in die kalte Hand der Greisin ein vierzig Jahre altes, verblichenes Foto. Rohan starrte ihn finster an. „Das ist das Ende“, sagte er, als der traurige Zug am Gartentor angelangt war. „So schnell stirbt man nicht!“ Borts Erfahrungen mit dem Tode stammten von der Straße, wo er gesehen hatte, wie blutige Leiber in zerbeulten Blechkästen um jede Sekunde Leben rangen. „Schnell?“ Rohan sank in einen Sessel und zündete sich eine Zigarette an. „Die alte Dame wird noch ein zwei Stunden atmen. Eigentlich ist sie jetzt schon tot.“ Durch die offene Tür wehte der Novemberwind und trug den Geruch von welkem Laub herein, den Geruch des Todes. Milada Rendlová kehrte ins Haus zurück, bleich wie die Schneekönigin. Ihr folgte der vor Energie sprühende Leutnant Richtr. „Eben hat mich Nygrýn angerufen“, begrüßte er Bort vorwurfsvoll. „Was zum Teufel hast du mit deinem Auto angestellt?“ „Es ist verbrannt“, antwortete Bort apathisch. „Das Ding war sowieso schrottreif.“ „Ein bißchen viel Autounfälle auf einmal! Reiner Zufall, was? Ein Wunder, daß dir nichts passiert ist.“ „Sie hätten ihn gestern sehen sollen, als er aus den Flammen herausgekrochen war“, bemerkte Rohan giftig. „Mein Gott!“ flüsterte Milada. „Das war nicht so schlimm“, sagte Bort gelassen. „Ihr kennt euch wohl nicht. Leutnant Richtr – Doktor Rohan. Ihm gehört die Hütte, in der ich Urlaub mache. Er hatte sich in Josefův Důl mit Frau Urbanová verabredet, ist aber leider nicht gekommen.“ „Was haben Sie da von Autounfällen erzählt?“ fragte Milada. „Ingenieur Husník ist in Josefův Důl nichts passiert“, 276
versicherte Bort. „Er ist allerdings angetrunken nach Prag gefahren. Ist er etwa gegen einen Baum gerast?“ Leutnant Richtr betrachtete Bort nachdenklich. „Du hast jemandem erlaubt, sich angetrunken ans Lenkrad zu setzen?“ „Er ist mir entflohen.“ Bort schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich mußte ihn in der Hütte allein lassen, und da wurde dem Armen angst und bange. Sogar Nasenbluten kriegt er bei Aufregungen. Husník hat eine zartfühlende Seele, hauptsächlich was ihn selber betrifft. Er bekannte mir, daß er Frau Urbanová nachgelaufen ist, und sie hat ihn mitleidlos gequält. Als er erfuhr, was ihr zugestoßen war, ergriff ihn Panik, und er flüchtete zu dem zweifelhaften Tröster Alkohol. Er befürchtete, erklären zu müssen, warum Frau Urbanová mit einem Wagen fuhr, der ihm gehört.“ Leutnant Richtr, der über Borts Begegnung mit Husník nicht informiert war, starrte seinen Prager Kollegen fragend an. „Der Garde gehört wirklich Husník“, erklärte Bort. „Fräulein Rendlová wollte den Herrn Ingenieur überreden, ihr den Wagen zu überlassen, nicht wahr?“ „Das ist ein Irrtum“, sagte Milada. „Aber er behauptet, daß Sie sich bisher nur nicht über den Preis einigen konnten.“ „Er lügt!“ schrie Milada wild. Bort lächelte wenig überzeugend. „Einen Moment, Fräulein Rendlová“, sagte Leutnant Richtr hart. „Wollten Sie das Auto erwerben, das Ihre Freundin benutzte?“ „Ich bitte Sie, woher sollte ich das Geld nehmen?“ „Frau Urbanová hat auch nichts bezahlt“, sagte Bort. Milada blickte Bort an wie Drakulas Nichte und wollte ihn mit ihren grauen Augen behexen. „Jetzt werden Sie aber von Frau Valtrová erben“, sagte Richtr. „Sie sind gerade zur rechten Zeit umgezogen.“ 277
„Sie sollten sich mit etwas anderem beschäftigen als mit dem Tod einer alten Frau“, sagte Rohan bissig. „In Ihrem Kreise kommen schlimme Dinge vor. Auf den Straßen rasen Betrunkene und gefährliche Irre, Ihr Kollege wird beinahe bei lebendigem Leibe eingeäschert und …“ „Hat jemand Ihr Auto angezündet?“ fragte Milada. „Warum?“ „Er hat dort etwas gesucht, Fräulein“, erklärte ihr Bort bereitwillig. „Dazu hatte er zu seinem Pech weniger Zeit als angenommen, weil ihm Doktor Rohan dazwischenkam. Er konnte nicht mehr die Hütte durchsuchen und das Auto ordentlich inspizieren, so hat er es sicherheitshalber fachmännisch vernichtet. Bei mir hat er das Gesuchte nicht gefunden, im Auto auch nicht …“ „Was?“ unterbrach ihn Richtr. „Hast du das Foto bei dir?“ Richtr legte wortlos die unzüchtige Aufnahme auf den Tisch. Milada biß sich mit ihren scharfen Zähnen in den Handrücken und stöhnte auf. „So haben Sie das genommen … Warum haben Sie das getan? Wissen Sie, was Sie angerichtet haben?“ „Haben Sie das gesucht?“ fragte Richtr, unberührt von der grenzenlosen Verzweiflung, die sich in Miladas blassem Gesicht spiegelte. Bort schüttelte den Kopf. „Fräulein Rendlová hat nichts gesucht. Dazu hatte sie keinen Grund.“ Milada fing seinen Blick auf wie ein Ertrinkender den Rettungsring und nickte dankbar. „Es waren dreizehn Fotos“, fuhr Bort fort. „Fünf wurden zurückgekauft, sechs habe ich Ihnen gegeben. Können Sie rechnen? Es fehlten zwei. Eines liegt hier, das hatte ich behalten, und das hat mich mein Auto gekostet. Überflüssigerweise, weil ich das letzte, dreizehnte, erst heute bekommen habe. Von jemandem, der es aus 278
Ihrem Schrank, den Sie mit Margita Urbanová teilten, aus Bosheit genommen hat und der aus demselben Grunde jetzt damit herausgerückt ist. Diese Person weiß nichts von der Erpressung, und sie weiß auch nicht, warum Margita Urbanová starb.“ Bort breitete das zusammengerollte Kalenderblatt aus und legte das vollständige Foto dazu. „Das hing über der Matte in Raks Wohnung, wo Sie zu den Fotos posiert haben. Seine Frau lag im Krankenhaus, um nicht das Kind zu verlieren, das beide wollten, auf das sich beide freuten. Sie sind nicht mehr die Jüngsten, das Kind ist vielleicht ihre letzte gemeinsame Chance, und als jemand die Ruhe und das seelische Gleichgewicht seiner Frau bedrohte, zahlte Rak.“ „Nein!“ schrie Milada. „Nein, nein, nein!“ „Ein bedeutungsloses Abenteuer, in das sich leicht ein Mann einläßt, der mehrere Monate zum Zölibat verurteilt ist, kam Rak ziemlich teuer zu stehen“, endete Bort. „Sie verstehen nichts“, sagte Milada. „Ja, er will, daß sie das Kind bekommt – damit ihr nach der Scheidung etwas bleibt, woran sie sich halten kann. Deshalb hat er gezahlt, und ich war damit einverstanden. Ich habe ihn sogar dazu überredet …“ „Daran zweifle ich nicht“, sagte Bort. „Sie haben sogar …“ Richtr nahm den Telefonhörer ab. „Bitte …“ Er sagte leise zu Bort: „Das Purkyně-Krankenhaus hat angerufen. Ja? … Ja, ja … Nein, es genügt, wenn sie uns das Protokoll auf dem üblichen Wege schicken.“ Als er aufgelegt hatte, fragte Bort: „Hast du das gewußt?“ „Warum hat man angerufen?“ fragte Rohan. „Ist etwas mit …“ „Damit werden wir uns jetzt nicht befassen“, sagte Bort eilig und wandte sich wieder an Milada. „Sie wollten einen Mann, der beabsichtigte, Sie zu heiraten, zum 279
Bettler machen? Nein, Fräulein Rendlová, das ist eine ebenso rührselige Geschichte wie die von dem angeblich bedrohten Arzt. Ihnen sind alle selbstlosen Motive fremd.“ „Fragen Sie doch Herrn Rak“, sagte sie. Ihr Busen bebte, die Augen glänzten. Milada wirkte wie eine christliche Jungfrau vor einem gefühllosen Henkersknecht. „Ich muß mich mit Ihnen begnügen“, sagte Bort. Miladas Augen weiteten sich. „Wo ist er?“ „Das sollte ich Sie fragen.“ „Er ist gestern abend weggefahren.“ „Stimmt“, bestätigte Bort. „Als er nicht die Fotos beisammen hatte, fuhr er zu mir nach Josefův Důl. Schade, daß er nicht vernünftig mit mir geredet hat, Polizisten sind auch Menschen. Doch das hat er im Gefängnis wohl vergessen, und andere Sachen hat er dort wiederum gelernt.“ „Sie sind verrückt geworden“, stammelte Milada. „Denken Sie vielleicht, er wollte sie umbringen?“ „Wegen dieser Fotos ist schon jemand getötet worden“, sagte Bort finster, „und Sie wissen darüber mehr als jeder andere.“ Sie blickte ihn an, als wollte sie seine Gedanken lesen. „Wollen Sie hören, wie es war?“ fragte er. „Ich muß mit dem Tag beginnen, als Margita Urbanová in die Hütte fahren wollte. Diese Fahrt hat sie wohl als Beginn eines neuen Lebens betrachtet. Sie wollte das Wochenende mit einem Mann verbringen, den sie liebte, und versprach sich davon, daß die Beziehung dauerhaft würde. Ohne das Zusammentreffen gewisser Umstände wäre das wahrscheinlich auch geschehen.“ Bort vermied es, Rohan anzusehen, der wie ein witternder Wolf bebte. „Sie hatte Ingenieur Husník, den sie mehrere Jahre lang wie ein Hündchen am Gängelband führte, endgültig abgewiesen, und hatte endgültig die Bindung zu ihrem geschiedenen Mann zerrissen. Margita Urbanová fühlte 280
sich frei und ohne Verpflichtungen. Der Anruf des Kellners verdarb ihr wohl etwas die Stimmung. Die zehntausend Kronen hatte sie nämlich von Klem für Sie geborgt, Fräulein Rendlová.“ Milada, die zusammengesunken im Sessel saß und fröstelnd mit den Armen die Schultern umfaßte, richtete sich mit einer Schlangenbewegung auf. „Das ist nicht wahr!“ Leutnant Richtr hielt es für angebracht, sich einzumischen. „Am vierten August schrieb Klem einen Brief an die Sparkasse, man solle von seinem auf Frau Urbanovás Konto zehntausend Kronen überweisen. Er hatte sein Scheckheft nicht ins Krankenhaus mitgenommen, außerdem sicherte er sich auf diese Weise ab, so daß später niemand den Empfang des Geldes bestreiten konnte. Diesen Brief brachten Sie am selben Tage zur Sparkasse, Fräulein Rendlová, und gleichzeitig legten Sie einen Scheck über die gleiche Summe vor, den Ihnen Frau Urbanová ausgestellt hatte.“ Bort, der von der technischen Seite dieser Transaktion nichts wußte, nutzte die unverhoffte Unterstützung aus. „Also, Fräulein Rendlová!“ „Das bedeutet noch nicht, daß ich das Geld für mich abgehoben habe!“ wandte Milada ein. „Es war für Sie und nur für Sie“, sagte Bort traurig. „Frau Urbanová haben Sie allerdings erzählt, daß Sie Ihrem Freund in einer momentanen Klemme helfen wollten. Sie war eine leichtgläubige und wohlwollende Freundin, außerdem rechnete sie nicht damit, daß sie das Geld selber zurückzahlen müßte. Am Freitag hat jedoch der Kellner die Schuld unerbittlich eingefordert, und Sie waren nicht erreichbar. So rief sie Herrn Rak an, der von keiner Verpflichtung gegenüber Frau Urbanová wußte und logischerweise glaubte, die Erpresserin habe sich entschlossen, ihre Anonymität aufzugeben. Weil seine Frau im Zimmer war, konnte er nur auflegen. Dann 281
brachte er seine Frau zu deren Mutter. So brauchte er nicht zu befürchten, daß Frau Urbanová am Wochenende nochmals anruft. Anschließend fuhr er zu Ihnen. Er kam schon am Freitag, nicht am Sonnabend, wie Sie behauptet haben, und erpreßt hat man ihn, nicht Sie.“ „Ja“, keuchte Milada. Sie faltete die Hände wie zum Gebet. „Ich war verrückt, daß ich Sie belogen habe, aber ich hatte Angst. Alex kam am Freitagnachmittag und war schrecklich wütend. Er schimpfte, daß ihn Margita erpressen würde, jetzt würde er sich direkt an sie wenden. Ich versuchte, ihm das auszureden, aber das nutzte nichts. Das Geld hatte ich mir wirklich von Margita geborgt, und ich hatte es ihm gegeben – ihm aufgenötigt. Ich sagte ihm, daß das meine Ersparnisse sind, von Margita hätte er kein Darlehen angenommen. Dummerweise hatte ich viel von ihr erzählt. Alex wollte nicht, daß ich mit ihr befreundet bin – daß ich ihr alles anvertraue. Am Freitag hat er mir das vorgehalten. Er war unzurechnungsfähig vor Wut.“ „So wollte er nicht weiter zahlen?“ „Er hatte kein Geld mehr!“ Milada bohrte die Finger ins Haar. „Das war daran das schlimmste, verstehen Sie das nicht? Ich wußte, daß wir Margita das Geld für Klem geben müssen, wenn sie Rak angerufen hat – und wir hatten keines! Margita brauchte es unbedingt bis Montag. Das sagte sie mir, kaum daß sie vor dem Haus gehalten hatte. Zum Glück badete Alex gerade, und sie hatte es eilig, so sagte ich ihm, ich müsse für zwei Stunden ins Krankenhaus, und fuhr mit ihr in die Hütte. In dem Moment wollte ich nur Zeit gewinnen.“ „Das begreife ich“, sagte Bort. „Sie durften nicht zulassen, daß sich die beiden begegnen, und ließen Frau Urbanová umsonst in Prag anrufen.“ „Das konnte ich nicht verhindern! Margita war völlig verändert, so kannte ich sie nicht. Ich sagte, sie solle ein paar Tage warten, ich besorge selber das Geld, aber sie 282
lachte mich aus. Sie sagte zu mir, ich sei eine dumme Trine und würde niemals das Geld wiederkriegen, sie würde dafür sorgen, daß er zahlt.“ „So haben Sie sich gestritten“, stellte Richtr fest. „Sie meinte es gut mit mir“, sagte Milada schluchzend. „Ich konnte ihr das nicht übelnehmen! Margita war nun mal so, und es hatte keinen Sinn, sie ändern zu wollen. Männer waren dazu da, um zu zahlen, und nicht umgekehrt.“ Rohan litt wie in einer Folterkammer. Richtr fragte: „Wußte Frau Urbanová von den Fotos und kannte sie Raks Familienverhältnisse?“ „Ja.“ „Und Sie haben Frau Urbanová nicht verdächtigt, daß sie daraus Nutzen ziehen wollte?“ „Nein.“ Sie versuchte, die Tränen anzuhalten, es gelang ihr aber nicht. „Sie hat mir doch selber das Geld besorgt …“ „Geliehen, Fräulein Rendlová, aber jetzt wollte sie es wiederhaben. Nicht von Ihnen, von Alexandr Rak. Ihnen war klar, daß Sie eine Begegnung der beiden nicht verhindern konnten. Was wollten Sie tun?“ „Ich fuhr mit dem Zug heim und beeilte mich, sogar die Handtasche ließ ich in der Hütte liegen. Ich versprach Margita, daß ich selber Alex bis zum Morgen anrufe. Das habe ich natürlich gelogen, aber mir fiel nichts Besseres ein. Margita sagte, sie würde am nächsten Tag zu mir kommen. Zu Hause sagte ich Alex, daß ich mit Margita gesprochen hatte.“ „Haben Sie ihm nichts weiter erklärt?“ fragte Richtr erstaunt. Der blonde Kopf hob sich trotzig. „Nein! Ich hoffte, daß sie das unter sich ausmachen. Die beiden waren viel stärker als ich … Deshalb habe ich am Sonnabend Alex hier allein gelassen. Ich ahnte nicht, daß er nicht warten und gleich zu Margita fahren würde.“ 283
„So ist Rak am Sonnabendmorgen nach Josefův Důl gefahren“, stellte Leutnant Richtr sachlich fest. „Er traf sich mit Frau Urbanová im Wald, sie stritten sich wegen des Geldes, das Sie sich geliehen hatten, und weil er dachte, daß sie …“ „Ich konnte nicht ahnen, daß das so ausgeht! Es muß ein Unglück gewesen sein, Alex wäre nicht fähig …“ Ihre Stimme brach, die Augen erstarrten. Rohan biß die Lippen zusammen und bereitete sich auf einen Eingriff vor, der sich bei hysterischen Anfällen bewährt hatte. Bort hielt die ausgestreckte Hand zurück. „Ich weiß nicht, wozu Alexandr Rak fähig war“, sagte er ruhig. „Ich weiß aber, was er bestimmt nicht tun konnte.“ Der Krampf verließ sein Opfer ebenso schnell, wie er sich seiner bemächtigt hatte. Milada beleckte ihre Lippen und fragte lauernd: „Was?“ „Den Schlüssel finden und den Hund herauslassen.“ Rohans Augen sprühten, als ob Steine aufeinander schlugen, seine Hand wurde hart, aber Bort umklammerte sie fest. „Das konnten nur Sie tun.“ Milada starrte Bort an und runzelte angestrengt die Stirn. „Ich bin aber nicht mitgefahren.“ „Nein, nicht mit ihm. Allein, und mit seinem Wagen.“ „Ich wußte, daß ich bei Margita nichts ausrichten würde, daß sie auf keinen Aufschub eingeht …“ „Sie wollten Ihre Handtasche holen“, sagte Bort. „Etwas anderes blieb Ihnen nicht übrig. Sie mußten sie – das heißt ihren Inhalt – wiederhaben. Am Abend zuvor waren Sie doch aus der Gaststätte in die Hütte zurückgegangen. Vielleicht war die Handtasche heruntergefallen, oder Frau Urbanová hatte hineingeschaut und das gefunden, was Sie vorsichtshalber mitgenommen hatten. Weil Ihre Freundin Sie ziemlich gut kannte, begriff sie, was es mit den Fotos auf sich hatte. Sie stritten sich, 284
Frau Urbanová warf Sie hinaus, aber behielt die Handtasche und bewahrte sie so gut auf, daß Sie sie am Sonnabendmorgen nicht fanden. Später hat sie Jan Urban entdeckt.“ Milada hörte konzentriert zu, dann sagte sie langsam, als wäge sie jedes Wort: „Ich war am Sonnabend nicht in Josefův Důl. Vormittags mußte ich im Krankenhaus Medikamente für meine Tante holen. Ob Alex inzwischen irgendwohin gefahren war, weiß ich nicht. Fragen Sie doch meine Tante!“ „Frau Valtrová wird dank der Tabletten, die Sie so nachlässig aufbewahrt haben, nichts mehr sagen“, erwiderte Bort. „Alexandr Rak liegt im Krankenhaus. Er hatte außerordentliches Glück, wenn man bedenkt, daß er sich mit Schlaftabletten vollgestopft hatte, bevor er losfuhr.“ „Er lebt?“ schrie Milada. „Noch heute wird er aussagen.“ Milada erzitterte, als wäre sie vom Tod berührt worden, und senkte einen langen Blick in Borts Augen. Bort hielt dem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Plötzlich lachte sie zärtlich und wehmütig. „So denken Sie, daß ich wegen der schäbigen zehntausend Kronen, die ich nicht einmal selber zurückgeben mußte, meine beste Freundin getötet habe?“ „Sie haben Rak niemals Geld gegeben. Das Geld von Frau Urbanová haben Sie behalten, außerdem haben Sie zehntausend Kronen von Herrn Rak erpreßt. Als Margita Urbanová die Wahrheit erkannte, wollte sie sich mit ihm in Verbindung setzen, und Sie …“ Milada sprang auf. Rohan, der sie wie ein lauerndes Raubtier beobachtet hatte, ging schnell auf sie zu. Dabei stolperte er über Borts Beine und taumelte, so daß ihm Milada entschlüpfen konnte. Sie rannte ins Zimmer ihrer Tante. Leutnant Richtr stemmte die Schulter gegen die schwere Eichentür, die von innen zugeschlossen war. 285
Bort lief in den Garten. Das Fenster war nicht hoch, und es stand noch offen. Beim dritten Versuch gelang es ihm, ins Zimmer zu klettern. Milada Rendlová saß auf dem Bett, aus dem man die sterbende Alte fortgetragen hatte. Wie in der Gaststätte, als sie angewidert neben der schmutzigen Theke stand, blickte sie ihn an, ohne ihn zu sehen. Auf dem Fußboden lagen mehrere Tabletten. Der Wind, der durchs Fenster drang, trieb leere Tablettenschachteln durch den Raum. Bort trat darauf, als er zur Tür ging. „Sie wollte alles haben“, sagte Bort zu Richtr, während der Polizeiwagen Milada Rendlová in Begleitung Doktor Rohans ins Krankenhaus brachte. „Geld, Haus, Auto – alles, was die andere besaß. Jahrelang lebte sie neben der schönen und leichtsinnigen Margita Urbanová wie ein blasser Planet, der von den Strahlen einer Sonne beschienen wird. Doch der Blick in die Sonne blendete, und Milada gab niemand etwas. So begann sie, sich alles selber zu nehmen. Dabei ging sie hinterlistig und skrupellos vor. Als Margita, der sie unterlegen war, die sie beneidete und sehr wahrscheinlich auch haßte, ihre Freundin durchschaut hatte und es ablehnte, bei dem Spiel mitzumachen, wurde Milada gefährlich wie eine gereizte Wespe. Der Sturz vom Felsen war vielleicht nur die unglückliche Zuspitzung eines Streits zweier ehemaliger Freundinnen, von denen sich eine in der anderen schlimm getäuscht hatte. Dann folgten aber schon giftige Stiche einer Wespe, die entkommen will. Es war ein Leichtes, der halb unzurechnungsfähigen Alten mehr Medikamente zu geben, um sich ein Alibi für den Sonnabendmorgen zu beschaffen. Ich bezweifle allerdings, daß du das beweisen kannst. Beim Fotografen wirst du es leichter haben. Sie wußte, daß er wie ein Irrer fährt und Aufputschmittel nimmt, so tauschte sie die Tabletten gegen ein Hypnotikum aus. Hätte sich der Mann 286
totgefahren, der einen triftigen Grund zur Beseitigung der angeblichen Erpresserin Margita Urbanová besaß, wäre ihr vielleicht ein fast vollkommenes Verbrechen gelungen.“ „Rak ist vor zwei Stunden an Lungenembolie gestorben“, sagte Richtr. „Ich hatte bisher keine Gelegenheit, dir das mitzuteilen.“ Bort starrte ihn entsetzt an. Er bewegte die Lippen, aber schwieg. Deprimiert schritt er die breite, menschenleere Janovská ulice der schönen Stadt Jablonec entlang. Leutnant Richtr ging an seiner Seite. „Fährst du nach Prag zurück? Erst könnten wir noch zusammen feiern. Sie werden dich mit Musik empfangen, jetzt ist dein Gesundheitsurlaub überflüssig.“ Bort blieb stehen und errötete bis zu den Brillenrändern. „Das ist dein Fall, ich bin hier nur eine Privatperson. Verzeihung, ich muß den Zug erreichen. In Josefův Důl wartet ein verlassener Hund auf mich.“
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