Buch In zwölf Geschichten rund um Inspector John Rebus beweist Ian Rankin seine Meisterschaft als Krimiautor. So zum Be...
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Buch In zwölf Geschichten rund um Inspector John Rebus beweist Ian Rankin seine Meisterschaft als Krimiautor. So zum Beispiel in einem Fall, der zunächst nach einem makabren Scherz von Theaterleuten aussieht: Als ein junger Mann mitten auf dem Parliament Square tot an einem Galgen hängend gefunden wird, scheint das Ganze zunächst zu einer Theateraufführung zu gehören. Doch der Tote ist echt, auch wenn er tatsächlich zu einer der zahlreichen Theatergruppen gehört, die anlässlich des Edinburgh Festivals in der Stadt sind. Den Titel ihres Stücks, »Scenes from a Hanging«, hatte irgendjemand wohl zu wörtlich genommen. Bei einem anderen Fall hat der Mörder sogar selbst die Polizei angerufen, die Tat gestanden und war dann gefasst worden. So schnell konnte eine Morduntersuchung selten abgeschlossen werden. Nur dass der Täter dann plötzlich heftig seine Unschuld beteuert... Aber egal wie seltsam oder vertrackt ein Verbrechen erscheint, am Ende findet Rebus die Wahrheit heraus - einmal sogar mit Unterstützung eines französischen Kollegen namens Cluzeau... Autor Ian Rankin, geboren 1960, gilt als Großbritanniens führender Krimiautor, und seine Romane sind aus den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Ian Rankin wurde unter anderem mit dem Gold Dagger für »Das Souvenir des Mörders«, dem Edgar Allan Poe Award für »Tore der Finsternis« und dem Deutschen Krimipreis für »Die Kinder des Todes« ausgezeichnet. »So soll er sterben« und »Im Namen der Toten« erhielten jeweils als bester Spannungsroman des Jahres den renommierten British Book Award. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Edinburgh. Mehr Informationen zum Autor und seinen Büchern unter www.ian-rankin.de. Die Rebus-Romane in chronologischer Reihenfolge: Verborgene Muster (44607) ■ Das zweite Zeichen (44608) • Wolfsmale (44609) • Ehrensache (45014) -VerschlüsselteWahrheit (45015) Blutschuld (45016) • Ein eisiger Tod (45428) • Das Souvenir des Mörders (44604) • Die Sünden der Väter (45429) • Die Seelen der Toten (44610) • Der kalte Hauch der Nacht (45387) • Puppenspiel (45636) • Die Tore der Finsternis (45833) • Die Kinder des Todes (46314) • So soll er sterben (46440) • Im Namen der Toten (gebundene Ausgabe, 54606) Außerdem lieferbar: Die Kassandra Verschwörung.Thriller (46375)
Ian Rankin
Eindeutig Mord Zwölf Fälle für John Rebus Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »A Good Hanging« bei Century, London
Meinem Lektor, Euan Cameron, der von Anfang an Vertrauen hatte
Inhalt Playback........................ 9 Der Fluch des Hauses Dean......... 37 Frank und frei.................... 71 Eine Leiche im Keller.............. 89 Ansichtssachen................... 117 Gut gehängt..................... 145 Von Meisen und Menschen.......... 179 Not Provan..................... 203 Sonntag ........................ 225 Auld Lang Syne .................. 241 Der Gentlemen's Club ............. 259 Monströse Trompete............... 283
Playback Es war der perfekte Mord. Perfekt jedenfalls aus der Warte der Polizei von Lothian and Borders. Der Mörder hatte angerufen und ein Geständnis abgelegt, war dann in Panik geraten und hatte versucht zu entkommen, nur um beim Verlassen des Tatorts gefasst zu werden. Ende der Geschichte. Bloß, dass er jetzt seine Unschuld beteuerte. Sie beteuerte, in die Welt hinausschrie und brüllte. Und das gab Detective Inspector John Rebus zu denken, gab ihm den ganzen Weg von seinem Büro bis zum vierstöckigen Mietshaus im trendigen Hafenbezirk von Leith über zu denken. Die Mietshäuser sahen hier praktisch genauso aus wie in jedem anderen Edinburgher Arbeiterviertel auch, außer dass sie mit knallbunten Rollläden oder chinesischen Bambusdingern an den Fenstern prahlten, ihre verrußten Steinfassaden mit dem Hochdruckreiniger abgespritzt worden waren und ihre Türen jetzt eindringlingsichere Gegensprechanlagen besaßen. Schon was anderes als die schmierigen Jalousien und eingetretenen Haustüren der Mietskasernen in der Easter Road oder in Gorgie, oder sogar in den angrenzenden Vierteln von Leith selbst, die sich die Immobilienspekulanten noch nicht vorgenommen hatten. Das Opfer, so viel wusste Rebus, hatte als Anwaltssekretärin gearbeitet. Sie war vierundzwanzig Jahre alt gewesen. Ihr Name war Moira Bitter. Darüber musste Rebus lächeln. Es war ein schuldbewusstes Lächeln, aber so früh 3 am Morgen war jede Art von Lächeln bei ihm schon ein mittleres Wunder. Er parkte vor dem Mietshaus, von einem Uniformierten eingewiesen, der die übel verbeulte Stoßstange von Rebus' Wagen erkannt hatte. Es ging das Gerücht, die Beule rühre daher, dass er zu viele alte Damen über den Haufen gefahren habe, und warum hätte Rebus das bestreiten sollen? Das war der Stoff, aus dem Mythen entstanden, und solche Mythen erhöhten sein Ansehen bei den eingeschüchterten jungen Rekruten. An einem der Erdgeschossfenster bewegte sich eine Gardine, und Rebus sah für einen Augenblick eine ältere Dame. Jedes Mietshaus, ob aufgemotzt oder nicht, verfügte offenbar über eine hauseigene ältere Dame. Alleinstehend, mit einem Hund oder vier Katzen als Gesellschaft, war sie Auge und Ohr des Gebäudes. Als Rebus den Hausflur betrat, öffnete sich eine Tür, und die alte Dame streckte den Kopf heraus. »Er wollte weglaufen«, flüsterte sie. »Aber der Bobby hat ihn geschnappt. Ich hab's gesehen. Ist das Mädel tot? Geht's darum?« Ihre Lippen waren in sensationsgierigem Grauen geschürzt. Rebus lächelte, sagte aber nichts. Sie würde es schon noch früh genug
erfahren. Sie schien schon jetzt so viel wie er selbst zu wissen. Das war das Problem, wenn man in einer Stadt von der Größe einer Kleinstadt wohnte, einer Kleinstadt mit einer Dorfmentalität. Während er langsam die vier Treppen hinaufstieg, hörte er sich den Bericht des Constable an, der ihn unerbittlich dahin führte, wo die Leiche der Moira Bitter lag. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme - Treppenhauswände hatten Ohren. »Der Anruf kam um fünf Uhr, Sir«, erklärte PC MacManus. »Der Anrufer gab seinen Namen mit John MacFar-lane an und sagte, er habe gerade seine Freundin ermor 4 det. Er soll sehr verwirrt geklungen haben, und ich erhielt per Funk den Auftrag, der Sache nachzugehen. Als ich eintraf, kam ein Mann gerade die Treppe heruntergerannt. Er schien unter Schock zu stehen.« »Schock?« »Irgendwie durcheinander, Sir.« »Hat er etwas gesagt?«, fragte Rebus. »Ja, Sir, er sagte: >Gott sei Dank, dass Sie da sind. Moi-ra ist tot.< Dann habe ich ihn gebeten, mich zur fraglichen Wohnung hinaufzubegleiten, habe Unterstützung angefordert, und der Gentleman wurde festgenommen.« Rebus nickte. MacManus war ein Muster an Effizienz, nie ein falsches Wort, immer genau der richtige Ton. Alles streng nach Lehrbuch und durch nicht allzu viel eigenes Nachdenken beeinträchtigt. Er würde es als Uniformierter weit bringen, aber Rebus bezweifelte, dass der junge Mann es je zum CID schaffte. Als sie den vierten Stock erreichten, verschnaufte Rebus kurz und betrat dann die Wohnung. Die Pastelltöne der Diele setzten sich im Wohn- und Schlafzimmer fort. Gedämpfte Farben, zugleich warm und dezent. Das Blut hatte allerdings nichts Dezentes an sich. Blut gab es reichlich. Moira Bitter lag quer hingestreckt auf ihrem Bett, ihre Brust eine einzige Farborgie. Sie trug einen apfelgrünen Pyjama, und ihr Haar war seidig blond. Der Polizeipathologe untersuchte gerade ihren Kopf. »Sie ist seit ungefähr drei Stunden tot«, teilte er Rebus mit. »Drei oder vier Einstiche mit einem kleinen scharfen Gegenstand, den ich der Einfachheit halber als Messer bezeichnen werde. Nach der Obduktion kann ich Genaueres sagen.« Rebus nickte und wandte sich MacManus zu, dessen Gesicht eine ungesunde graue Färbung angenommen hatte. »Ihr erstes Mal?«, fragte Rebus. Der Constable nickte be 4 dächtig. »Machen Sie sich nichts draus«, fuhr Rebus fort. »Man gewöhnt sich sowieso nie daran. Kommen Sie.« Er führte den Constable aus dem Zimmer und zurück in die kleine Diele. »Dieser Mann, den wir festgenommen haben, wie war noch mal sein Name?« »John MacFarlane, Sir«, antwortete der Constable, tief durchatmend. »Er ist offenbar der Freund der Verstorbenen.« »Sie sagten, er schien unter Schock zu stehen. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?« Der Constable runzelte konzentriert die Stirn. »Zum Beispiel, Sir?«, fragte er endlich. »Blut«, sagte Rebus kühl. »Man kann nicht im Affekt auf jemanden einstechen, ohne Blutspritzer abzubekommen.« MacManus schwieg. Eindeutig kein CID-Material, und möglicherweise zum allerersten Mal mit dieser Erkenntnis konfrontiert. Rebus ließ ihn stehen und betrat das Wohnzimmer. Es wirkte fast zwanghaft ordentlich. Illustrierte und Zeitungen in ihrem Ständer neben dem Sofa. Ein Couchtisch aus Chrom und Glas, darauf nichts anderes als ein sauberer Aschenbecher und ein Liebesromänchen. Das Ganze hätte geradewegs aus einer Schöner-Wohnen-Aus-stellung stammen können. Keine Familienfotos, keinerlei Krimskrams. Das war die Behausung einer Individualistin. Keinerlei Bindungen an die
Vergangenheit, und eine Gegenwart, die en bloc im Einrichtungsdiscounter erworben worden war. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Nichts deutete überhaupt auf irgendeine Form von Begegnung hin: keine Gläser oder Kaffeetassen. Der Mörder hatte sich nicht unnötig lang in der Wohnung aufgehalten, oder falls doch, hatte er dabei sehr darauf geachtet, keine Unordnung zu hinterlassen. Rebus ging in die Küche. Auch sie war tadellos aufgeräumt. Tassen und Teller, neben der leeren Spüle zum 5 Trocknen gestapelt. Im Abtropfgestell Messer, Gabeln, Teelöffel. Keine Mordwaffe. In und neben der Spüle gab es Wasserspritzer, aber Geschirr und Besteck sahen trocken aus. Hinter der Tür hing ein Geschirrtuch, und Rebus tastete es ab. Es war feucht. Er nahm es sich gründlicher vor und entdeckte einen kleinen Fleck. Vielleicht Soße oder Schokolade. Oder Blut. Jemand hatte vor kurzem etwas damit abgetrocknet - aber was? Er ging zur Besteckschublade und zog sie auf. Unter verschiedenen anderen Dingen lag darin ein Gemüsemesser mit kurzer Klinge und einem schweren schwarzen Griff. Ein Qualitätsmesser, scharf und blank. Alle übrigen Besteckstücke in der Schublade waren knochentrocken, aber der Holzgriff dieses Gemüsemessers fühlte sich feucht an. Rebus war sich sicher: Er hatte die Mordwaffe gefunden. Aber clever von MacFarlane, das Messer gereinigt und wieder weggeräumt zu haben. Gelassen und ruhig gehandelt. Moira Bitter war seit drei Stunden tot. Der Anruf war vor einer Stunde bei der Polizeiwache eingegangen. Was hatte MacFarlane während der verbliebenen zwei Stunden gemacht? Die Wohnung geputzt? Das Geschirr gespült und abgetrocknet? Rebus warf einen Blick in den Abfalleimer, fand aber keine weiteren Spuren, keine zerbrochenen Nippes, nichts, was auf einen Kampf hingedeutet hätte. Und wenn es keinen Kampf gegeben hatte, wenn der Mörder in das Haus und in Moira Bitters Wohnung gelangt war, ohne Gewalt anwenden zu müssen... wenn all das zutraf, dann hatte Moira ihren Mörder gekannt. Rebus ging den Rest der Wohnung ab, fand aber keine weiteren Spuren. Neben dem Telefon, in der Diele, befand sich ein Anrufbeantworter. Er spielte das Band ab und hörte Moira Bitters Stimme. »Hallo, hier ist Moira. Ich bin nicht da, im Bad oder anderweitig beschäftigt.« (Ein Kichern.) »Hinterlassen Sie 5 eine Nachricht, und ich rufe Sie zurück, sofern Sie nicht wie ein Langweiler klingen.« Es gab nur eine Nachricht. Rebus hörte sie ab, spulte dann das Band zurück und hörte sie sich noch einmal an. »Hallo, Moira, John hier. Ich hab deine Nachricht erhalten. Ich komm vorbei. Ich hoffe, du bist nicht >anderweitig beschäftigte Ich liebe dich.« John MacFarlane: Rebus zweifelte nicht an der Identität des Anrufers. Moira klang auf ihrer Ansage frech und unbekümmert. Aber deutete MacFarlanes Reaktion auf Eifersucht hin? Vielleicht war sie ja anderweitig beschäftigt gewesen, als er auftauchte. Er hatte die Beherrschung verloren, blinde Wut, ein griffbereit liegendes Messer. Rebus hatte das alles schon erlebt. Die meisten Opfer kannten ihre Mörder. Wäre das nicht der Fall, würde die Polizei nicht so viele Verbrechen aufklären. Das war eine schlichte und einfache Tatsache. Man verrammelte seine Tür vor dem Psychopathen mit der Kettensäge, nur um vom Liebhaber, Ehemann, Sohn oder Nachbar ein Messer in den Rücken zu kriegen. John MacFarlane war so schuldig, da biss die Maus keinen Faden ab. Man würde Blut an seiner Kleidung finden, auch wenn er versucht hatte, es zu entfernen. Er hatte seine
Freundin erstochen, sich dann beruhigt und die Polizei angerufen, um die Tat anzuzeigen, es dann aber mit der Angst zu tun bekommen und versucht zu fliehen. Die einzige Frage, die Rebus noch beschäftigte, war das Warum. Das Warum und diese zwei fehlenden Stunden. Edinburgh bei Nacht. Ein gelegentliches Taxi, das über Kopfsteinpflaster holperte, und einsame dunkle Gestalten, die mit Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern nach Hause schlurften. Während der Nachtstunden starben die Kranken und Alten friedlich, sei es zu 6 Hause oder in irgendeinem Krankenhauszimmer. Zwei bis vier Uhr früh: die toten Stunden. Und dann starben einige qualvoll, das nackte Grauen in den Augen. Die Taxis rumpelten weiter vorüber, die Nachtmenschen gingen weiter ihrer Wege. Rebus hockte in seinem Auto, wartete vor Ampeln, verpasste das Grün, kam erst wieder zu sich, wenn Gelb erneut auf Rot schaltete. Die Glasgow Rangers kamen am Samstag in die Stadt. Es würde gewalttätige Ausschreitungen geben. Der Gedanke beunruhigte Rebus nicht weiter. Selbst der übelste Hooligan hätte wahrscheinlich nicht mit einer solchen Blutrünstigkeit wie Moira Bitters Mörder zustechen können. Rebus senkte den Blick. Er steigerte sich bewusst in Wut hinein, Lust auf Konfrontation. Auf Konfrontation mit dem Mörder. John MacFarlane weinte, als man ihn in den Vernehmungsraum führte, wo Rebus es sich, Zigarette in der einen, Kaffee in der anderen Hand, demonstrativ bequem gemacht hatte. Rebus hatte alles Mögliche erwartet, aber keine Tränen. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er. MacFarlane schüttelte den Kopf. Er war auf seinem Stuhl auf der anderen Seite des Tisches in sich zusammengesackt, mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf, und kämpfte weiterhin mit den Tränen. Er murmelte etwas. »Das habe ich nicht verstanden«, sagte Rebus. »Ich hab gesagt, dass ich es nicht war«, antwortete MacFarlane leise. »Wie hätte ich es tun können? Ich liebe Moira.« Rebus nahm das Präsens zur Kenntnis. Er deutete auf das Bandgerät auf dem Tisch. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?« Wieder schüttelte MacFarlane den Kopf. Rebus schaltete das Gerät ein. Er schnippte Zigarettenasche auf den Fußboden, nahm einen 6 Schluck von seinem Kaffee und wartete. Schließlich sah MacFarlane auf. Seine Augen waren rot. Rebus starrte scharf in diese Augen, sagte aber immer noch nichts. MacFarlane schien sich allmählich zu beruhigen und auch zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Er bat um eine Zigarette, bekam eine und begann zu reden. »Ich war im Wagen unterwegs gewesen. Bin einfach so rumgefahren und hab nachgedacht.« Rebus unterbrach ihn. »Um wie viel Uhr war das?« »Na ja«, antwortete MacFarlane, »seit ich von der Arbeit weg bin, würde ich sagen. Ich bin Architekt. Zurzeit läuft die Ausschreibung für den Entwurf eines neuen Kunstgalerieund Museumskomplexes in Stirling. Unsere Firma will sich bewerben. Wir hatten fast den ganzen Tag über Ideen diskutiert, Sie wissen schon, ein Brainstorming veranstaltet.« Rebus nickte. Brainstorming: interessantes Wort. »Und nach der Arbeit«, fuhr MacFarlane fort, »war ich so aufgedreht, dass ich einfach nur herumfahren wollte. Mir die verschiedenen Optionen und Pläne durch den Kopf gehen lassen. Mir überlegen, welcher davon der überzeugendste war -« Er unterbrach sich, vielleicht weil ihm bewusst wurde, dass er zu hastig redete, ohne nachzudenken oder sich vorzusehen. Er schluckte und zog an seiner Zigarette. Rebus musterte währenddessen MacFarlanes Kleidung. Teure Budapester, braune Kordhose, ein
weißes Hemd aus schwerer Baumwolle, wie es Kricketspieler trugen, am Hals offen, ein maßgeschneidertes Tweedjackett. MacFarlanes 3er BMW stand in der Polizeiwerkstatt, wo er momentan unter die Lupe genommen wurde. Man hatte seine Taschen geleert, seine gemusterte Liberty-Krawatte konfisziert, für den Fall, dass er auf die Idee kommen sollte, sich aufzuhängen. Die Schnürsenkel seiner Schuhe hatte man ihm bei der Gelegenheit ebenfalls abgenommen. Rebus hat 7 te sich angesehen, was man bei ihm gefunden hatte: eine Brieftasche, die nicht gerade von Geldscheinen überquoll, aber eine ordentliche Auswahl an Kreditkarten enthielt. Weitere Karten steckten in seinem Terminplaner. Rebus blätterte die Tageskalenderseiten durch, schaute sich dann den Notizen- und Adressenteil an. MacFarlane schien ein reges, aber durchaus normales Privatleben zu führen. Jetzt musterte Rebus ihn selbst über den alten Tisch hinweg. MacFarlane war gut gebaut, auch gut aussehend, wenn man auf den Typ stand. Er wirkte kräftig, aber nicht brutal. Wahrscheinlich würde er als der »Yuppie-Killer« in die lokalen Schlagzeilen kommen. Rebus drückte seine Zigarette aus. »Wir wissen, dass Sie es getan haben, John. Das steht gar nicht zur Debatte. Wir wollen lediglich wissen, warum.« MacFarlanes Stimme zitterte. »Ich schwöre, ich war's nicht, ich schwöre es.« »Sie werden sich schon ein bisschen mehr einfallen lassen müssen.« Rebus schwieg ein Weilchen. Tränen fielen auf MacFarlanes Kordhose. »Erzählen Sie weiter«, sagte er. MacFarlane zuckte die Schultern. »Das war's in etwa«, erklärte er und wischte sich die Nase mit dem Hemdsärmel ab. Rebus half ihm auf die Sprünge. »Sie haben nirgendwo angehalten, um zu tanken, etwas zu essen oder sonst was in der Art?« Er klang skeptisch. MacFarlane schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin einfach nur gefahren, bis ich wieder einen klaren Kopf hatte. Ich bin bis ganz rauf zur Förth Road Bridge. Bin abgebogen und rein nach Queensferry. Bin ausgestiegen, um einen Blick aufs Wasser zu werfen. Hab ein paar Steine reingeworfen, weil's Glück bringt.« Er lächelte bitter. »Dann bin ich die Küstenstraße entlang und zurück nach Edinburgh.« 7 »Und niemand hat Sie gesehen? Sie haben mit niemandem gesprochen?« »Nicht, soweit ich mich erinnern kann.« »Und Sie sind nicht irgendwann hungrig geworden?« Rebus klang absolut nicht überzeugt. »Wir hatten ein Geschäftsessen mit einem Kunden gehabt. Wir waren im Eyrie. Nach einem Lunch dort habe ich selten vor dem nächsten Morgen wieder Hunger.« Der Eyrie war Edinburghs teuerstes Restaurant. Man ging da nicht hin, um zu essen, man ging dahin, um Geld auszugeben. Rebus hätte jetzt durchaus was zwischen die Zähne gebrauchen können. Die Bacon-Sandwiches, die es in der Kantine gab, waren gar nicht so übel. »Wann haben Sie Miss Bitter zuletzt lebend gesehen?« Beim Wort »lebend« schauderte MacFarlane. Seine Antwort ließ lange auf sich warten. Rebus sah den Tonbandspulen dabei zu, wie sie sich drehten. »Gestern Morgen«, sagte MacFarlane endlich. »Sie war über Nacht bei mir geblieben.« »Wie lange kannten Sie sie?« »Seit ungefähr einem Jahr. Aber ich hatte erst vor ein paar Monaten angefangen, mit ihr auszugehen.« »Ach ja? Und wie war Ihr Verhältnis bis dahin?« MacFarlane schwieg kurz. »Sie war Kenneths Freundin«, sagte er endlich.
»Und Kenneth ist -« Bevor MacFarlane sprach, röteten sich seine Wangen. »Mein bester Freund«, erwiderte er. »Kenneth war mein bester Freund. Man könnte sagen, ich habe sie ihm ausgespannt. So was kommt vor, oder?« Rebus hob eine Augenbraue. »Tut es das?«, erkundigte er sich. MacFarlane senkte erneut den Kopf. »Könnte ich einen Kaffee haben?«, fragte er leise. Rebus nickte und zündete sich eine weitere Zigarette an. 8 Während MacFarlane seinen Kaffee trank, hielt er die Tasse mit beiden Händen umklammert, wie der Überlebende eines Schiffbruchs. Rebus rieb sich die Nase und streckte sich, müde. Er sah auf seine Uhr. Acht Uhr morgens. Was für ein Leben. Er hatte zwei Bacon-Brötchen verspeist, und ein dünner Streifen Schwarte ringelte sich vor ihm auf dem Teller. MacFarlane hatte nichts essen wollen, aber seine erste Tasse Kaffee in zwei großen Schlucken geleert und dankbar eine zweite angenommen. »Also«, sagte Rebus, »Sie sind in die Stadt zurückgefahren.« »Ja.« MacFarlane nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Ich weiß nicht, warum, aber mir kam dann der Gedanke, dass ich meinen Anrufbeantworter abhören könnte.« »Sie meinen, als Sie wieder zu Haus waren?« MacFarlane schüttelte den Kopf. »Nein, vom Wagen aus. Ich habe vom Autotelefon aus bei mir zu Hause angerufen und den Anrufbeantworter per Fernabfrage aktiviert.« Rebus war beeindruckt. »Raffiniert«, sagte er. MacFarlane lächelte schwach, aber das Lächeln verblasste rasch. »Eine der Nachrichten war von Moira«, sagte er. »Sie wollte mich sehen.« »Um die Uhrzeit?« MacFarlane zuckte die Schultern. »Sagte sie, warum sie Sie sehen wollte?« »Nein. Sie klang... seltsam.« »Seltsam?« »Leicht... ich weiß nicht, reserviert vielleicht.« »Hatten Sie den Eindruck, dass sie allein war, als sie anrief?« »Ich hab keine Ahnung.« »Haben Sie sie zurückgerufen?« »Ja. Ihr Anrufbeantworter war dran. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.« 8 »Würden Sie sich als einen eifersüchtigen Menschen bezeichnen, Mr. MacFarlane?« »Was?« MacFarlane klang so, als überraschte ihn die Frage. Er schien ernsthaft darüber nachzudenken. »Nicht eifersüchtiger als jeder andere auch«, sagte er endlich. »Warum hätte jemand Moira töten wollen?« MacFarlane starrte auf den Tisch und schüttelte langsam den Kopf. »Weiter«, sagte Rebus mit einem Seufzer, allmählich am Ende seiner Geduld. »Sie hatten gerade erzählt, wie Sie Moiras Nachricht gehört haben.« »Na ja, ich bin geradewegs zu ihr gefahren. Es war spät, aber ich wusste, ich konnte jederzeit zu ihr, auch wenn sie schlafen sollte.« »Ach?« Rebus horchte auf. »Und zwar wie?« »Ich hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung«, erklärte MacFarlane. Rebus stand auf und ging, tief in Gedanken, quer durchs Zimmer und wieder zurück. »Sie wissen nicht zufällig«, sagte er, »wann Moira Sie angerufen hat?« MacFarlane schüttelte den Kopf. »Aber der AB dürfte die Uhrzeit aufgezeichnet haben«, antwortete er. Rebus kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Technik war eine wunderbare Sache. Aber auch über MacFarlane musste er staunen. Wenn der Mann ein Mörder war, dann ein sehr guter, denn er hatte Rebus dazu gebracht, ihn für unschuldig
zu halten. Es war verrückt. Rein gar nichts deutete darauf hin, dass er nicht der Täter gewesen wäre. Aber trotzdem, ein Gefühl war ein Gefühl, und Rebus hatte ganz eindeutig so ein Gefühl. »Ich will dieses Gerät sehen«, sagte er. »Und ich will die Nachricht darauf hören. Ich will Moiras letzte Worte hören.« 9 Es war interessant festzustellen, wie kompliziert selbst die simpelsten Fälle werden konnten. In Rebus' Umgebung hegte nach wie vor niemand - weder seine Vorgesetzten noch seine Untergebenen - einen Zweifel daran, dass John MacFarlane des Mordes schuldig war. Sie hatten sämtliche Beweise, die sie brauchten - von A bis Z Indizienbeweise. MacFarlanes Wagen war sauber: keine blutbefleckten Kleidungsstücke im Kofferraum. Auf dem Gemüsemesser gab es keine Fingerabdrücke, während man überall sonst in der Wohnung MacFarlanes Abdrücke fand - was nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedachte, dass er sich in der fraglichen Nacht sowie in etlichen Nächten davor dort aufgehalten hatte. Ebenso wenig Abdrücke an der Küchenspüle oder den Wasserhähnen, obwohl der Mörder ein blutiges Messer abgespült hatte. Rebus fand das merkwürdig. Und was das Motiv anbelangte: Eifersucht, ein Streit, die Entdeckung eines früheren Seitensprungs. Das CID hatte das alles schon erlebt. Tod durch Erstechen wurde bestätigt und der Todeszeitpunkt auf drei Uhr früh plus minus fünfzehn Minuten eingegrenzt. MacFarlane behauptete, sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg nach Edinburgh befunden zu haben, konnte aber keine Zeugen zur Bestätigung dieser Behauptung nennen. An MacFarlanes Kleidung hatte man kein Blut gefunden, aber wie Rebus wusste, bedeutete das noch lange nicht, dass er kein Mörder war. Interessanter war allerdings die Tatsache, dass MacFarlane bestritt, die Polizei angerufen zu haben. Aber irgendjemand - und zwar der Mörder Moira Bitters - hatte sie angerufen. Und als sogar noch interessanter entpuppte sich der Anrufbeantworter. Rebus fuhr nach Liberton, um sich MacFarlanes Wohnung anzusehen. Stadteinwärts herrschte reger Verkehr, stadtauswärts war jedoch wenig los. Liberton war eines 9 von Edinburghs zahlreichen anonymen gutbürgerlichen Vierteln, solide Häuser, kleine Läden, eine belebte Durchfahrtsstraße. Es sah um Mitternacht harmlos aus, und bei Tag war es noch ungefährlicher. Was MacFarlane als »Wohnung« bezeichnet hatte, nahm tatsächlich zwei ganze Etagen eines riesigen frei stehenden Hauses ein. Rebus durchstreifte das Gebäude, ohne recht zu wissen, ob er überhaupt nach etwas Bestimmtem suchte. Er fand wenig. MacFarlane führte ein geregeltes, ja geradezu reglementiertes Leben und besaß das zu einem solchen Lebensstil erforderliche Haus. Ein Zimmer war zu einem improvisierten Fitnessraum umfunktioniert worden, mit Hanteln und ähnlichen Trainingsgeräten. Es gab ein geschäftlich genutztes Büro und ein privat genutztes Arbeitszimmer. Sein Schlafzimmer war eindeutig nach männlichem Geschmack eingerichtet, wenngleich ein gerahmter weiblicher Akt in Öl von einer Wand abgehängt und hinter einem Sessel verstaut worden war. Rebus vermutete hier Moira Bitters Einfluss. Im Kleiderschrank fand er einige Sachen und ein Paar Schuhe von ihr. Ein gerahmter Schnappschuss von ihr stand auf MacFarlanes Nachttisch. Rebus betrachtete das Foto lange, seufzte dann, verließ das Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Wann würde John MacFarlane sein Zuhause wohl wiedersehen? Der Anrufbeantworter stand im Wohnzimmer. Rebus spielte die Kassette mit den Anrufen der vergangenen Nacht ab. Moira Bitters Stimme klang abgehackt und
selbstsicher, ihre Mitteilung war kurz und bündig: »Hallo.« Dann eine Pause. »Ich muss dich sehen. Komm vorbei, sobald du diese Nachricht abgehört hast. Ich liebe dich.« MacFarlane hatte Rebus erklärt, dass das Display des Geräts die Anrufzeit anzeigte. Moiras Anruf war um 3.50 Uhr 10 aufgezeichnet worden, knapp fünfundvierzig Minuten nach ihrem Tod. Nun war bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts eine gewisse Toleranzbreite immer gegeben, aber mit Sicherheit keine von einer Dreiviertelstunde. Rebus kratzte sich am Kinn und dachte nach. Er spielte das Band noch einmal ab. »Hallo.« Dann die Pause. »Ich muss dich sehen.« Er hielt das Band an und spielte es wieder ab, diesmal in voller Lautstärke, und hielt das Ohr ganz nah ans Gerät. Diese Pause war merkwürdig, und die Klangqualität der Aufzeichnung schlecht. Er spulte zurück und hörte sich einen anderen Anruf vom selben Abend an. Jetzt war die Qualität besser, die Stimme viel klarer. Dann hörte er sich noch einmal Moira an. Waren diese Aufnahmegeräte unfehlbar? Natürlich nicht. Die Zeitanzeige konnte manipuliert worden sein. Die ganze Aufnahme konnte eine Fälschung sein. Wer sagte ihm schließlich, dass das wirklich Moira Bitters Stimme war? Nur John MacFarlane. Aber John MacFarlane war beim Verlassen des Tatorts erwischt worden. Und jetzt fand Rebus so etwas wie ein Alibi für den Mann. Ja, das Band konnte ohne Weiteres eine Fälschung sein, die MacFarlane zur Untermauerung seiner Geschichte aufgenommen, aber dämlicherweise erst nach dem Eintritt des Todes abgespielt hatte. Trotzdem, nach der Bandansage zu urteilen, die Rebus auf Moiras eigenem Anrufbeantworter gehört hatte, konnte das durchaus ihre Stimme sein. Die Jungs im Labor würden das mit ihren Hightech-Apparaten bestimmt rauskriegen. Ein Techniker insbesondere war ihm einen ziemlich großen Gefallen schuldig. Rebus schüttelte den Kopf. Das ergab immer noch nicht allzu viel Sinn. Er spielte das Band wieder und wieder ab. »Hallo.« Pause. »Ich muss dich sehen.« »Hallo.« Pause. »Ich muss dich sehen.« »Hallo.« Pause. »Ich muss -« 10 Und plötzlich lichtete sich der Nebel in seinem Kopf ein wenig. Er holte die Kassette aus dem Gerät und steckte sie ein. Dann nahm er den Telefonhörer ab und rief die Wache an. Er verlangte nach Detective Constable Brian Holmes. Als er seine Stimme hörte, klang sie müde, aber amüsiert. »Sagen Sie nichts«, begann Holmes, »lassen Sie mich raten. Ich soll alles stehen und liegen lassen und eine wichtige Sache für Sie erledigen.« »Sie müssen hellseherisch begabt sein, Brian. Nur - es sind zwei Sachen. Erstens, die Anrufe von letzter Nacht. Besorgen Sie sich von der Telefonzentrale die Bandaufzeichnung, und suchen Sie den Anruf von John MacFarlane heraus, in dem er behauptet, er hätte gerade seine Freundin getötet. Machen Sie davon eine Kopie, und warten Sie auf mich. Ich habe noch eine andere Aufnahme für Sie, und ich möchte, dass beide ins Labor gehen. Warnen Sie die Jungs vor, dass Sie kommen und -« »>- und sagen Sie ihnen, dass es oberste Priorität hat<, ich weiß. Es hat immer oberste Priorität. Sie werden dasselbe sagen wie immer: Geben Sie uns vier Tage Zeit.« »Nicht diesmal«, erwiderte Rebus. »Lassen Sie sich mit Bill Costain verbinden, und sagen Sie ihm, Rebus fordert seinen Gefallen ein. Was immer er gerade tut, er soll es zurückstellen. Ich will heute ein Resultat, nicht erst nächste Woche.« »Wodurch haben Sie sich diesen Gefallen verdient?« »Ich hab ihn letzten Monat auf dem Laborklo beim Kiffen erwischt.« Holmes lachte. »Na, irgendwie muss man ja zu Potte kommen«, sagte er. Rebus stöhnte über den Kalauer und legte auf. Er musste sich noch einmal mit John MacFarlane unterhalten. Nicht über Freundinnen diesmal, sondern über Freunde.
11 Rebus drückte ein drittes Mal auf die Klingel und hörte endlich von drinnen eine Stimme. »Herrgott, Moment! Ich komm ja schon.« Der Mann, der die Tür öffnete, war groß, mager und trug eine Nickelbrille weit vorn auf der Nase. Er starrte Rebus kurzsichtig an und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Mr. Thomson?«, fragte Rebus. »Kenneth Thomson?« »Ja«, antwortete der Mann, »der bin ich.« Rebus klappte seinen Ausweis auf. »Detective Inspector John Rebus«, stellte er sich vor. »Darf ich reinkommen?« Kenneth Thomson hielt ihm die Tür auf. »Bitte«, sagte er. »Nehmen Sie auch einen Scheck?« »Einen Scheck?« »Ich nehme an, Sie sind wegen der Knöllchen hier«, sagte Thomson. »Ich hätte sie früher oder später schon bezahlt, glauben Sie mir. Mir wächst bloß seit einiger Zeit alles über den Kopf, und ständig kommt mir irgendwas dazwischen und...« »Nein, Sir«, entgegnete Rebus, und sein Lächeln war so kalt wie eine Kirchenbank, »es hat nichts mit Strafzetteln zu tun.« »Ach nein?« Thomson schob die Brille hoch und sah Rebus an. »Wo liegt dann das Problem?« »Es geht um Miss Moira Bitter«, sagte Rebus. »Moira? Was ist mit ihr?« »Sie ist tot, Sir.« Rebus war Thomson in ein überfülltes Zimmer gefolgt, in dem überall Bündel und Stapel von Illustrierten und Zeitungen herumlagen. In einer Ecke stand eine Hi-Fi-Anlage und daneben eine ganze Regalwand voller Kassetten. Letztere machten einen geordneten, geradezu katalogisierten Eindruck: Jede Kassette trug auf dem Rücken eine Nummer. 11 Thomson, der gerade dabei gewesen war, Rebus einen Sessel frei zu räumen, erstarrte bei den Worten des Detectives. »Tot?«, sagte er atemlos. »Wie das?« »Sie wurde ermordet, Sir. Wir glauben, dass John MacFarlane es getan hat.« »John?« Thomsons Gesicht zeigte einen verwirrten, dann skeptischen, dann resignierten Ausdruck. »Aber warum?« »Das wissen wir noch nicht, Sir. Ich dachte, Sie könnten uns möglicherweise helfen.« »Natürlich helfe ich, wenn ich kann. Setzen Sie sich, bitte.« Rebus hockte sich vorn auf die Kante des Sessels, während Thomson ein paar Zeitungen beiseite schob und es sich auf dem Sofa bequem machte. »Sie schreiben, soweit ich weiß«, sagte Rebus. Thomson nickte zerstreut. »Ja«, sagte er. »Als freier Journalist - Essen und Trinken, Reisen, so die Richtung. Dazu ab und an ein Auftragsbuch. Daran sitze ich übrigens gerade. An einem Buch.« »Aha? Ich mag Bücher. Wovon handelt es?« »Lachen Sie nicht«, sagte Thomson, »aber es ist eine Geschichte des Haggis.« »Des Haggis?« Rebus konnte sich den Anflug eines Lächelns nicht verkneifen; seine Stimme klang jetzt wärmer: Die Kirchenbank hatte ein Kissen bekommen. Er räusperte sich und sah sich dabei im Zimmer um, registrierte die gefährlich an die Wände gelehnten Stapel von Büchern, die Heftmappen, Ordner und Zeitungsausschnitte. »Sie recherchieren offenbar viel«, meinte er anerkennend. »Manchmal«, sagte Thomson. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Das mit Moira, meine ich. Mit John.« Rebus zückte sein Notizbuch - mehr um des Eindrucks
12 willen als aus sonst einem Grund. »Sie waren eine Zeit lang mit Miss Bitter intim befreundet«, stellte er fest. »Das stimmt, Inspector.« »Aber dann hat sie Sie wegen Mr. MacFarlane verlassen.« »Stimmt ebenfalls.« In Thomsons Stimme hatte sich ein Anflug von Bitterkeit eingeschlichen. »Ich war damals sehr wütend, aber inzwischen bin ich darüber weg.« »Haben Sie Miss Bitter danach weiterhin gesehen?« »Nein.« »Und Mr. MacFarlane?« »Noch mal nein. Wir haben ein paarmal miteinander telefoniert. Es schien immer auf gegenseitiges Anbrüllen hinauszulaufen. Wir waren früher wie, na ja, das klingt vermutlich abgedroschen, aber wir waren früher wie Brüder.« »Ja«, sagte Rebus, »das hat Mr. MacFarlane auch gesagt.« »Ach ja?« Thomson klang interessiert. »Was hat er denn sonst noch gesagt?« »Eigentlich nicht viel.« Rebus stand von seiner Sesselkante auf und ging ans Fenster, zog die Gardine beiseite und sah hinunter auf die Straße. »Er sagte, Sie würden sich seit Jahren kennen.« »Seit der Schulzeit«, präzisierte Thomson. Rebus nickte. »Und er sagte, dass sie einen schwarzen Ford Escort fahren. Das dürfte der da drüben sein oder der, der auf der anderen Straßenseite parkt?« Thomson kam ans Fenster. »Ja«, sagte er unsicher, »das ist er. Aber ich verstehe nicht, was -« »Er ist mir aufgefallen, als ich selbst geparkt habe«, fuhr Rebus fort, ohne auf Thomsons Unterbrechung einzugehen. Er ließ die Gardine los und wandte sich wieder dem Zimmer zu. »Mir ist aufgefallen, dass Sie eine Alarmanlage im Auto haben. Ich nehme an, hier wird viel eingebrochen.« 12 »Es ist nicht gerade die beste Wohngegend in der Stadt«, erklärte Thomson. »Nicht jeder, der schreibt, bringt es so weit wie Jeffrey Archer.« »Hatte Geld etwas damit zu tun?«, fragte Rebus. Thomson reagierte erst nach einer kurzen Pause. »Womit, Inspector?« »Damit, dass Miss Bitter Sie wegen Mr. MacFarlane verließ. Er nagt nicht gerade am Hungertuch, oder?« Thomsons Stimme wurde deutlich lauter. »Hören Sie, ich weiß wirklich nicht, was das mit -« »Ihr Wagen wurde doch vor ein paar Monaten aufgebrochen, stimmt's?« Rebus begann jetzt, einen Stoß Zeitschriften durchzublättern, die auf dem Fußboden lagen. »Ich habe den Bericht gelesen. Man hat Ihnen Radio und Autotelefon gestohlen.« »Stimmt.« »Wie ich gesehen habe, haben Sie das Autotelefon ersetzt.« Er sah zu Thomson auf, lächelte und blätterte weiter. »Natürlich«, sagte Thomson. Jetzt war er sichtlich verwirrt, unfähig abzuschätzen, wohin das Gespräch eigentlich führen sollte. »Ein Journalist braucht einfach ein Autotelefon, stimmt's?«, bemerkte Rebus. »Damit man ihn jederzeit erreichen kann. Sehe ich das richtig?« »Vollkommen richtig, Inspector.« Rebus warf die Zeitschrift auf den Stapel zurück und nickte langsam. »Tolle Sache, so ein Autotelefon.« Er ging hinüber zu Thomsons Schreibtisch. Es war eine kleine Wohnung. Der Raum, in dem sie sich aufhielten, fungierte offenbar gleichzeitig als Arbeits- und
Wohnzimmer. Nicht dass Thomson allzu oft Besuch gehabt hätte. Vielen Leuten war er zu aggressiv, anderen zu verschlossen, hatte John MacFarlane gesagt. 13 Auf dem Schreibtisch lag allerlei weiterer Krimskrams herum, wenngleich mit einem gewissen Anschein von Ordnung. Außerdem stand da ein schicker Computer und daneben ein Telefon. Und neben dem Telefon ein Anrufbeantworter. »Ja«, wiederholte Rebus. »Sie müssen jederzeit erreichbar sein und ihrerseits andere erreichen können.« Rebus lächelte Thomson zu. »Kommunikation, das ist das Geheimnis. Und ich werde Ihnen noch etwas über Journalisten verraten.« »Was?« Unfähig zu begreifen, worauf Rebus hinauswollte, klang Thomson mittlerweile so, als würde ihn das Gespräch langsam langweilen. Er steckte die Hände tief in die Taschen. »Journalisten sind richtige Sammler.« Rebus sagte das in einem Ton, als wäre das eine besonders tiefschürfende Erkenntnis. Seine Augen wanderten wieder durch den Raum. »Ich meine, fast pathologische Sammler. Sie können es nicht ertragen, irgendetwas wegzuwerfen, weil sie nicht wissen, ob es ihnen nicht irgendwann einmal von Nutzen sein könnte. Habe ich recht?« Thomson zuckte die Achseln. »Ja«, sagte Rebus, »ich könnte wetten, ich habe recht. Schauen Sie sich zum Beispiel diese Kassetten an.« Er ging zum Regal mit den Reihen über Reihen penibel geordneter Bänder. »Was ist da drauf? Interviews, so was?« »Größtenteils, ja«, bestätigte Thomson. »Und Sie bewahren sie weiterhin auf, obwohl sie schon Jahre alt sind?« Thomson zuckte wieder die Achseln. »Na schön, dann bin ich eben ein Sammler.« Aber Rebus hatte etwas auf dem obersten Regalbord bemerkt, ein paar kleinere braune Pappkartons. Er streckte die Hand aus und holte einen herunter. Darin befanden 13 sich weitere, mit Monat und Jahr beschriftete Kassetten. Aber diese Kassetten waren kleiner als die anderen. Rebus hielt Thomson die Schachtel hin, einen fragenden Ausdruck im Blick. Thomson lächelte verlegen. »AB-Nachrichten«, sagte er. »Die bewahren Sie auch auf?« Fragte Rebus in einem verblüfften Ton. »Na ja«, sagte Thomson, »jemand erklärt sich telefonisch mit irgendetwas einverstanden, einem Interview oder sonst was, und streitet es dann später ab. Ich brauche die als Belege für erhaltene Zusagen.« Rebus nickte: Jetzt hatte er es verstanden. Er stellte die braune Schachtel ins Regal zurück und kehrte Thomson immer noch den Rücken zu, als ein schrilles elektronisches Trillern ertönte. »Verzeihung«, sagte Thomson und ging ans Telefon. »Keine Ursache.« Thomson nahm den Hörer ab. »Hallo?« Er hörte zu, runzelte dann die Stirn. »Natürlich«, sagte er endlich und hielt Rebus den Hörer hin. »Für Sie, Inspector.« Rebus hob überrascht eine Augenbraue und nahm den Hörer entgegen. Es war, wie er bereits wusste, Detective Constable Holmes. »Okay«, sagte Holmes. »Costain schuldet Ihnen jetzt keinen Gefallen mehr. Er hat sich beide Bänder angehört, aber noch nicht alle erforderlichen Tests durchgeführt, aber er ist sich seiner Sache ziemlich sicher.« »Weiter.« Rebus sah dabei zu Thomson, der, die Hände um die Knie verschränkt, auf der Armlehne des Sessels saß.
»Der Anruf, den wir letzte Nacht reinbekommen haben«, erklärte Holmes, »der von John MacFarlane, in dem er den Mord an Moira Bitter gesteht, kam von einem Funktelefon.« 14 »Interessant«, sagte Rebus, ohne den Blick von Thomson zu wenden. »Und was ist mit dem anderen?« »Tja, die Aufzeichnung, die Sie mir gegeben haben, scheint um zwei Ecken zu gehen.« »Was heißt das?« »Das heißt«, sagte Holmes, »dass es laut Costain nicht lediglich eine Aufnahme ist, sondern die Aufnahme einer Aufnahme.« Rebus nickte zufrieden. »Okay, danke, Brian.« Er legte auf. »Gute oder schlechte Neuigkeiten?«, fragte Thomson. »Ein bisschen von beidem«, antwortete Rebus nachdenklich. Thomson war aufgestanden. »Mir wäre nach einem Drink, Inspector. Kann ich Ihnen auch was anbieten?« »Für mich ist es, fürchte ich, noch ein bisschen zu früh«, erwiderte Rebus und warf einen Blick auf seine Uhr. Es war elf: Pub-Öffnungszeit. »Na gut«, sagte er, »aber nur einen Kleinen.« »Der Whisky ist in der Küche«, erklärte Thomson. »Ich bin gleich wieder da.« »In Ordnung, Sir, in Ordnung.« Rebus hörte, wie Thomson den Raum verließ und sich in Richtung Küche entfernte. Er wartete neben dem Schreibtisch und ließ sich alles durch den Kopf gehen, was er inzwischen wusste. Als er dann Thomson von der Küche zurückkommen, die Dielen unter seinem Gewicht knarren hörte, nahm er den unter dem Schreibtisch stehenden Papierkorb, und kippte, sowie Thomson ins Zimmer trat, dessen Inhalt auf das Sofa. Thomson blieb, in jeder Hand ein Glas Whisky, sprachlos in der Tür stehen. »Was in aller Welt treiben Sie da?«, stieß er endlich hervor. Doch ohne sich um ihn zu kümmern, begann Rebus, den verstreuten Inhalt des Papierkorbs zu inspizieren, und redete währenddessen. 14 »Um ein Haar wäre es wirklich idiotensicher gewesen, Mr. Thomson. Ich werd's Ihnen erklären. Der Mörder fuhr zu Moira Bitter und überredete sie dazu, ihm trotz der späten Stunde die Tür zu öffnen. Er tötete sie eiskalt, daran besteht überhaupt kein Zweifel. So viel Vorsatz und Vorbedacht habe ich bei keinem anderen Fall erlebt. Er spülte das Messer ab und legte es wieder in die Schublade zurück. Er trug natürlich Handschuhe, da er wusste, dass sich überall in der Wohnung John MacFarlanes Fingerabdrücke finden lassen würden, und er spülte das Messer ab, eben um die Tatsache zu vertuschen, dass er Handschuhe anhatte. Im Gegensatz nämlich zu MacFarlane.« Thomson nahm einen großen Schluck aus einem der Gläser, stand ansonsten aber wie angewurzelt da. Seine Augen starrten ins Leere, so als malte er sich Rebus' Geschichte im Geiste aus. »MacFarlane«, fuhr Rebus fort, weiterhin in zerknülltem Papier kramend, »wurde zu Moiras Wohnung gerufen. Die aufgezeichnete Nachricht stammte tatsächlich von ihr. Er kannte ihre Stimme gut genug, um sich nicht von einer anderen Stimme täuschen zu lassen. Der Mörder saß draußen vor Moiras Haus und wartete auf MacFarlanes Ankunft. Dann erledigte er noch einen letzten Anruf, diesmal bei der Polizei, und gab sich dabei für einen hysterischen MacFarlane aus. Wir wissen, dass dieser letzte Anruf von einem Autotelefon kam. Was solche Dinge angeht, haben die Jungs vom Labor einiges drauf. Wissen Sie, Mr. Thomson, Polizisten sind auch die reinsten Sammler. Wir zeichnen jeden bei uns eingehenden Notruf auf. Es wird nicht schwierig sein, von dem fraglichen Anruf einen Stimmabdruck zu machen und ihn mit John MacFarlanes Stimme zu vergleichen.
Aber es wird sich keine Übereinstimmung feststellen lassen, nicht wahr?« Rebus legte eine Kunstpause ein. »Denn es ist Ihre Stimme.« 15 Thomson produzierte ein dünnes Lächeln, aber er hatte seine Hände nicht mehr so im Griff, und über den Rand eines der Gläser schwappte jetzt ein wenig Whisky. »Aha!« Rebus hatte gefunden, wonach er suchte. Mit einem extrabreiten Grinsen im unrasierten, übermüdeten Gesicht kniff er Daumen und Zeigefinger zusammen und hob, auch für Thomson gut sichtbar, etwas in die Höhe. Es war ein kurzes Stückchen braunes Magnetband. »Es ist ja so«, fuhr er fort, »dass der Mörder MacFarlane an den Tatort locken musste. Nachdem er Moira getötet hatte, ging er, wie schon gesagt, zu seinem Auto. Dort befand sich sein tragbares Telefon und ein Kassettenrecorder. Er war ein Sammler. Er hatte alle seine Kassetten aus dem Anrufbeantworter aufbewahrt - darunter auch Nachrichten, die ihm Moira in der besten Zeit ihrer Affäre hinterlassen hatte. Er fand die Nachricht, die er brauchte, und schnitt sie sich zurecht. Dann spielte er diese Nachricht John MacFarlanes Anrufbeantworter vor. Anschließend brauchte er nur noch zu warten. Die Nachricht, die MacFarlane erhielt, lautete: >Hallo. Ich muss dich sehen.< Nach dem >Hallo< kam eine kurze Pause. Und die Pause war die Stelle, an der das Band geklebt worden war, nachdem der Mörder das hier herausgeschnitten hatte.« Rebus betrachtete das Stückchen Band. »Das eine Wort >Kenneth<. >Hallo, Kenneth, ich muss dich sehen. < Das war Moira Bitter, die zu Ihnen sprach, Mr. Thomson, vor langer Zeit zu Ihnen sprach.« Thomson schleuderte beide Gläser in Richtung Rebus, der sich aber rechtzeitig duckte. Die Gläser stießen über seinem Kopf aneinander und ließen Scherben auf ihn niederregnen. Thomson war schon an der Wohnungstür, hatte sie sogar schon aufgerissen, ehe Rebus ihn erreichte, sich auf ihn stürzte, den jüngeren Mann durch die offene Tür und weiter auf den Treppenabsatz stieß. Thomsons 15 Schädel knallte mit einem dumpfen Ton gegen das Metallgeländer. Er stöhnte einmal auf, bevor er zusammenbrach. Rebus schüttelte die Scherben ab und spürte, wie ein, zwei Glassplitter ihn ritzten, als er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. Er hielt sich die Hand an die Nase und atmete tief ein. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, von Whisky würde er Haare auf der Brust bekommen. Rebus fragte sich, ob sich diese magische Wirkung auch an seinen Schläfen und auf seinem Kopf zeigen würde... Es war der perfekte Mord gewesen. Na ja, fast. Aber Kenneth Thomson hatte die Rechnung ohne Rebus' Fähigkeit gemacht, jemanden trotz aller gegenteiligen Beweise für unschuldig zu halten. Die Last der Indizien gegen John MacFarlane war erdrückend gewesen. Doch da Rebus das Gefühl gehabt hatte, dass etwas nicht stimmte, war er gezwungen gewesen, sich andere Szenarien, andere Motive und andere Mittel zum ziemlich grausigen Zweck auszudenken. Es hatte nicht gereicht, dass Moira gestorben, durch jemanden, den sie kannte, getötet worden war. Der Mord sollte außerdem MacFarlane in die Schuhe geschoben werden. Der Mörder hatte es auf beide abgesehen. Aber gehasst hatte er nur Moira, weil ihretwegen nicht nur ein Herz, sondern auch eine Freundschaft zerbrochen war. Rebus stand auf der Vortreppe der Polizeiwache. Thomson saß in einer Zelle irgendwo im Untergeschoss und legte ein volles Geständnis ab. Er würde ins Gefängnis kommen, während sich John MacFarlane, vielleicht ohne sich seines Dusels so recht bewusst zu sein, bereits auf freiem Fuß befand. Auf den Straßen war inzwischen einiges los. Mittagsverkehr, die vertrauten Geräusche des Alltags. Sogar die Sonne schaffte es, mit Ach und Krach aus den Federn zu kom15
men. Was Rebus insgesamt daran erinnerte, dass sein Tag zu Ende war, dass es jetzt alles in allem für ihn an der Zeit war, nach Hause zu fahren, unter die Dusche zu gehen und sich umzuziehen und, so Gott und der Teufel wollten, eine Runde zu schlafen.
Der Fluch des Hauses Dean Für die Bewohner von Barnton war er entweder »der Brigadier« oder »dieser Armytyp, der West Lodge gekauft hat«. West Lodge war ein riesiges, aber bis vor kurzem vernachlässigtes Herrenhaus auf einem ummauerten halben Hektar Wiese und Wald. Den meisten Einheimischen war es nur recht, dass die hohe Mauer das Haus verbarg, da sie es zu eckig und neugotisch für den modernen Geschmack fanden. Zweifellos war es für die Bedürfnisse eines Witwers und seiner niemals lächelnden Tochter ziemlich groß. Mrs. MacLennan, die beim Brigadier putzte, wurde von neugierigen Nachbarn gelöchert, konnte aber lediglich berichten, dass Brigadegeneral Dean einige Renovierungsarbeiten hatte durchführen lassen, dass der größte Teil des Hauses bewohnbar und aus einem Zimmer eine Bibliothek geworden war, aus einem anderen ein Billardzimmer, aus wieder einem anderen ein Arbeitszimmer, aus einem noch anderen ein Fitnessraum und so weiter. Die Zuhörer sogen das alles gierig in sich auf, aber es war ihnen nie genug. Was war mit der Tochter? Aus was für einer Familie stammte der Brigadier? Was war mit seiner Frau passiert? Ladenbesitzer wurden ebenfalls nach ihrer Meinung gefragt. Der Brigadier fuhr ein Sportkabrio, das mit viel Gedonner vor dem einen oder anderen Laden zu halten pflegte, wo Dean dann ein paar Sachen einkaufte, darunter - jeden Tag um dieselbe Zeit - eine Flasche Schnaps in dem eleganteren der zwei Spirituosengeschäfte am Platz. 16 Der Lebensmittelhändler, Bob Sladden, vertrat die Ansicht, dass Brigadegeneral Dean in der näheren Umgebung geboren sei und sogar, als Kind, ein paar Jahre lang in West Lodge gewohnt und eben wegen der heiteren Erinnerungen sich jetzt dort zur Ruhe gesetzt habe. Miss Dalrymple jedoch, mit dreiundneunzig die Älteste in diesem Teil von Barnton, konnte sich keiner Familie namens Dean entsinnen, die je in West Lodge gewohnt hätte. Ja, konnte sich überhaupt keiner Deans erinnern, die je in dieser Ecke von Barnton gewohnt hätten, ausgenommen Sam Dean. Doch wenn man sie nach Sam Dean fragte, schüttelte sie lediglich den Kopf und sagte: »Der taugte nichts, der Bursche, und er hat gekriegt, was er verdiente. Dafür hat der Weltkrieg schon gesorgt.« Dann nickte sie nachdenklich, und alle waren so schlau wie vorher. Je weniger neue Fakten zutage kamen, desto wilder schössen die Spekulationen ins Kraut, und eines Nachmittags wartete ein junger arbeitsloser Gipser namens Willie Barr im Claymore - einem Lokal, das der Brigadier nie mit seiner Anwesenheit beehrte (und wer, bitte schön, hatte je von einem Army-Mann gehört, der nicht für ein gelegentliches Gläschen zu haben gewesen wäre?) - mit einer brandneuen Theorie auf. »Vielleicht ist Dean ja gar nicht sein richtiger Name.« Doch alle, die um den Billardtisch herumstanden, lachten nur darüber. Willie zuckte mit den Achseln und bereitete sich auf den nächsten Stoß vor. »Tja«, sagte er, »richtiger Name oder nicht, dem seine Tochter würd ich ganz bestimmt nicht von der Bettkante stoßen.« Dann spielte er eine Kugel über die Bande an, verfehlte sie aber. Verfehlte sie, nicht weil es ein besonders schwieriger Stoß gewesen wäre oder er zu viele Pints Snakebite intus gehabt hätte, sondern weil sein Stoßarm beim Knall der Explosion zuckte. 16 Es war schon ein schickes Auto, keine Frage: ein knallrotes Jaguar XJ-S Kabrio. Jeder in Barnton hätte es auf den ersten Blick erkannt. Außerdem war jeder daran gewöhnt, es mit
donnerndem Motor an den Straßenrand fahren und dann zufrieden vor sich hin brummen zu hören, während der Brigadier seine täglichen Einkäufe erledigte. Manche beklagten sich - aber immer nur hinter seinem Rücken -über den Lärm, über die Abgase. Keiner konnte sich erklären, warum er den Motor nie abstellte. Er schien immer fluchtbereit sein zu wollen. An diesem bestimmten Nachmittag gelang die Flucht sogar noch schneller als sonst: Mit quietschenden Reifen schoss der Wagen auf die Fahrbahn und brauste an den Läden vorbei. Der Fahrer schien fest entschlossen zu sein, die rote Ampel an der belebten Kreuzung zu überfahren. Er kam nicht mehr dazu. Wo eben noch der Wagen gewesen war, gab es jetzt einen Feuerball und einen Knall, bei dem einem das Herz stehen blieb. Verbogenes Blech flog in die Luft und dann wieder herunter und verletzte Passanten, versengte Haut. Schaufenster gingen zu Bruch, scharfe Glasscherben fanden weiche Ziele. Die Ampel schaltete auf Grün, aber nichts rührte sich auf der Straße. Einen Augenblick lang herrschte Stille, lediglich unterbrochen von dem Geschepper, mit dem Einzelteile - Tacho, Scheinwerfer, ja sogar das Lenkrad - an Mutter Erdes Brust knallten. Dann ging das Geschrei los, als Einzelnen bewusst wurde, dass sie verletzt waren. Noch grauenerregender war das Schweigen, die stummen, entsetzten Gesichter der Menschen, die diesen Augenblick niemals vergessen, die von nun an jede Nacht aus dem Schlaf schrecken würden. Und dann erschien ein Mann in einer Tür, der Tür des bis vor wenigen Augenblicken noch unversehrten Weingeschäfts. Er hielt eine sorgfältig in grünes Papier eingeschla 17 gene Flasche in der Hand, und sein Mund stand vor Verblüffung offen. Als er sah, dass sein Auto nicht da stand, wo er es abgestellt hatte, als er begriff, dass das Motordonnern, das er gehört hatte und das ihm irgendwie bekannt vorgekommen war, tatsächlich von seinem davonfahrenden Wagen gestammt hatte, zerschellte die Flasche auf dem Boden. Auf dem Bürgersteig, direkt zu seinen Füßen, lag einer seiner Autohandschuhe. Er schwelte noch. Erst fünf Minuten zuvor hatte er auf dem lederbezogenen Beifahrersitz des Jaguars gelegen. Der Weinhändler stand jetzt neben ihm, bleich und zitternd, und brauchte sichtlich einen Drink. Der Brigadegeneral deutete mit einem Nicken auf das Wrack seines schnittigen roten Jaguars. »Da hätte ich drinsitzen sollen«, sagte er. Dann: »Hätten Sie was dagegen, wenn ich kurz bei Ihnen telefoniere?« Rebus schleuderte den Fluch des Hauses Dain in die Luft, so dass das Buch der Decke seines Wohnzimmers wirbelnd entgegenflog. Kurz vor Erreichen seines Ziels erlag es der Schwerkraft, fiel wie ein Stein herunter und knallte aufgeschlagen auf den nackten Fußboden. Es war eine billige Ausgabe, antiquarisch gekauft und ziemlich zerlesen. Aber nicht von Rebus; er war bis zum Anfang des dritten Teils, »Quesada«, gekommen, als er endgültig aufgab und das, was viele für Hammetts besten Roman halten, in die Luft schmiss. Beim Aufprall lösten sich Buchseiten vom Rücken und Kapitel in ihre Einzelteile auf. Rebus knurrte. Wie vom Ableben des Buches dazu angeregt, hatte das Telefon angefangen zu klingeln. Leise, beharrlich. Rebus hob den Apparat auf und musterte ihn. Es war sechs Uhr abends seines ersten freien Tages seit, wie ihm schien, Monaten. Wer mochte ihn anrufen? Geschäftlich oder privat? Und was von beidem wäre ihm lieber gewesen? Er nahm ab. »Ja?« In unverbindlichem Ton. 17 »DI Rebus?« Also dienstlich. Rebus grunzte etwas Bestätigendes. »DC Coupar am Apparat, Sir. Der Chief meinte, das würde Sie vielleicht interessieren.« Er legte eine Kunstpause ein. »In Barnton ist gerade eine Bombe hochgegangen.« Rebus starrte auf die bedruckten Seiten, die überall auf dem Fußboden herumlagen. Er bat den Detective Constable, die Meldung zu wiederholen.
»Eine Bombe, Sir. In Barnton.« »Was? Sie meinen, ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg?« »Nein, Sir. Nichts dergleichen. Überhaupt nichts dergleichen.« Ein Gedichtvers ging Rebus durch den Kopf, während er zu einem der zahlreichen ruhigen, gutbürgerlichen Vororte Edinburghs hinausfuhr, einem dieser Orte, in denen nichts passierte, dieser Orte, in denen sich die Kriminalstatistik in einem versuchten Einbruch oder einem Fahrraddiebstahl pro Jahr erschöpfte. Genau so war Barnton. Der Vers handelte aber nicht von Barnton. Er handelte von Slough. Das habe ich mir selbst zuzuschreiben, dachte Rebus; was musste ich mich auch darüber aufregen, wie hanebüchen dieses Buch von Hammett war? Unterhaltsam, das schon, aber die Leichtgläubigkeit des Lesers ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad beanspruchen. Und Dashiell Hammett hatte den Bogen mehr als überspannt, er hatte sich so ins Zeug gelegt, als ginge es um einen Wettbewerb im Tauziehen. Ein Zufall jagte den anderen, ein Handlungsstrang folgte dem nächsten, Leichen wie vom Fließband. Eindeutig hanebüchen. Aber was sollte Rebus dann von diesem Anruf halten? Er hatte im Kalender nachgesehen: Es war nicht der erste April. Andererseits wäre es Brian 18 Holmes oder einem seiner anderen Kollegen durchaus zuzutrauen gewesen, dass sie ihn reinzulegen versuchten, bloß weil er einen freien Tag hatte, bloß weil er die letzten paar Tage an dem Buch herumgemäkelt hatte. Ja, das trug ganz eindeutig Holmes' Handschrift. Abgesehen von einer Kleinigkeit. Die Meldungen im Radio. Der Polizeifunk war voll davon; und als Rebus sein Autoradio auf den lokalen Privatsender umschaltete, kam es auch dort in den Nachrichten. Meldungen über eine Explosion in Barnton, nicht weit vom Kreisel. Es wird vermutet, dass ein Wagen explodiert ist. Weitere Einzelheiten sind nicht bekannt, man geht allerdings von einer hohen Zahl von Opfern aus. Rebus schüttelte den Kopf und fuhr weiter, dachte wieder an das Gedicht, dachte an alles Mögliche, solang es ihn nur davon abhielt, sich auf die Wahrheit der Meldung zu konzentrieren. Eine Autobombe? Eine Autobombe? In Belfast, klar; gelegentlich vielleicht sogar in London. Aber hier in Edinburgh? Rebus machte sich Vorwürfe. Wenn er nur nicht über Dashiell Hammett gelästert hätte, wenn er sich nur nicht über sein Buch abfällig geäußert hätte, über seine Übertreibungen und melodramatischen Einlagen, wenn er nur nicht... Dann wäre nichts von alldem passiert. Aber natürlich wäre es das doch. War es ja schließlich auch. Die Straße war gesperrt worden. Die Rettungswagen hatten ihre Fracht abtransportiert. Gaffer drängten sich am orange-weißen Band der hastig errichteten Absperrung. Alle bewegte eine einzige Frage: wie viele Tote? Die Antwort schien zu lauten: nur dieser eine. Der Fahrer des Wagens. Ein Bombenräumtrupp der Army war von irgendwoher aufgetaucht und überprüfte jetzt in Ermangelung anderer Betätigungsmöglichkeiten die Läden auf beiden 18 Seiten der Straße. Eine - soweit Rebus feststellen konnte, von weiteren ArmyAngehörigen verstärkte - Reihe von Polizisten bewegte sich, größtenteils auf allen vieren, langsam die Straße entlang, als veranstalteten sie ein Zeitlupenwettrennen. Jeder von ihnen hatte einen Plastiksack dabei, in den er alles, was er fand, hineinsteckte. Es war insgesamt eine Inszenierung von brillant organisiertem Chaos, und Rebus brauchte nicht länger als ein paar Minuten, um den Regisseur des Schauspiels zu entdecken: Superintendent »Farmer« Watson. »Farmer« natürlich nur hinter seinem Rücken - ein Spitzname, der sowohl auf seine nordschottische Herkunft als auch auf seine mitunter recht rustikalen Ermittlungsmethoden anspielte. Rebus beschloss, einen Bogen um seinen
Vorgesetzten zu machen und festzustellen, was er bei den verschiedenen weniger hochrangigen Beamten, die er hier und da sah, erfahren konnte. Er war mit einer Reihe von vorgefassten Meinungen nach Barnton gekommen, und er brauchte eine gewisse Zeit, um sie alle zu revidieren. Zum Beispiel war er davon ausgegangen, der im Wagen aufgefundene, bislang noch nicht identifizierte Tote sei der Besitzer des Wagens und der Bombenanschlag habe ihm gegolten (sämtliche sichergestellten Spuren deuteten einwandfrei eher auf eine Bombe als auf eine spontane Verpuffung oder jede andere, wahrscheinlichere Erklärung hin). Entweder das, oder jemand hatte den Wagen gestohlen oder sich ausgeliehen, und dieser Jemand war ein Terrorist gewesen und von seinem eigenen Sprengsatz in Stücke gerissen worden, bevor er ihn an seinem eigentlichen Bestimmungsort hatte deponieren können. An militärischen Einrichtungen herrschte in der Umgebung von Edinburgh gewiss kein Mangel: Kasernen, Waffenlager, Abhöreinrichtungen. Jenseits des Förth gab es die Marinewerft Rosyth -, oder was von ihr noch übrig war, und dann noch die unterirdische Einrichtung in Pit 19 reavie. Es existierten durchaus mögliche Zielobjekte. Bombe bedeutete Terrorist bedeutete Zielobjekt. So war das immer. Aber nicht in diesem Fall. Diesmal gab es einen wichtigen Unterschied. Die mutmaßliche Zielperson hatte den Wagen verlassen, um kurz in einen Laden zu gehen, und war dadurch dem Anschlag entkommen. Aber während sie sich im Laden aufhielt, hatte jemand versucht, den Wagen zu stehlen, und die Einzelteile dieses Jemand trockneten jetzt auf dem Asphalt unter den Knien der sich vorwärtsrobbenden Polizisten. So viel brachte Rebus in Erfahrung, bevor Superintendent Watson ihn entdeckte, ihn sah, wie er über das Pech des Autodiebs in sich hineinlächelte. Man bekam nicht jeden Tag die Chance, einen Jaguar XJ-S zu stehlen... aber einen ungünstigeren Tag hätte sich der Täter dafür nicht aussuchen können. »Inspector!« Farmer Watson winkte Rebus zu sich, und Rebus bügelte sich das Lächeln aus dem Gesicht und ging zu ihm. Bevor Watson anfangen konnte, ihm all das zu erzählen, was er ohnehin schon wusste, ergriff Rebus selbst das Wort. »Wer war die Zielperson, Sir?« »Ein Mann namens Dean.« Bedeutungsschwangere Pause. »Brigadegeneral a.D. Dean.« Rebus nickte. »Mir war schon aufgefallen, dass hier ziemlich viele Tommys rumkreuchen.« »Wir werden in diesem Fall mit der Army zusammenarbeiten, John. Das ist offenbar so üblich. Und Scotland Yard ist auch noch da. Deren Antiterrorleute.« »Zu viele Köche, wenn Sie mich fragen, Sir.« Watson nickte. »Trotzdem, diese Klugscheißer sollen ja Spezialisten sein.« »Und wir taugen bloß dazu, eine gelegentliche Trunken 19 heit am Steuer oder häusliche Prügeleien aufzuklären, was, Sir?« Die zwei Männer grinsten sich gegenseitig an. Rebus nickte in Richtung des demolierten Autos. »Eine Ahnung, wer am Lenkrad saß?« Watson schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Und auch nicht viel, wo wir ansetzen könnten. Vielleicht müssen wir warten, bis irgendeine Mutter oder Freundin ihn vermisst meldet.« »Nicht einmal eine Beschreibung?« »Keiner der Passanten ist vernehmungsfähig. Jedenfalls noch nicht.« »Und was ist mit Brigadegeneral Wie heißt er nochmal?« »Dean.« »Ja. Wo ist er?«
»Bei sich zu Haus. Ein Arzt hat ihn sich angesehen, aber er scheint soweit in Ordnung zu sein. Steht leicht unter Schock.« »Leicht? Jemand bombt seinem Schlitten den Arsch weg, und er steht leicht unter Schock?« Rebus klang skeptisch. Watsons Blick war auf die vorrückende Reihe von Spurensammlern gerichtet. »Ich hab das Gefühl, dass er schon Schlimmeres erlebt hat.« Er wandte sich Rebus zu. »Warum unterhalten Sie sich nicht einfach ein bisschen mit ihm, John? Verschaffen Sie sich selbst einen Eindruck.« Rebus nickte langsam. »Klar, warum nicht«, erwiderte er. »Hauptsache, man schlägt die Zeit irgendwie tot, was, Sir?« Watson schien auf Anhieb keine passende Antwort einzufallen, und bis er sich eine zurechtgelegt hatte, war Rebus schon, die Hände in den Hosentaschen, wieder durch die Absperrung zurückgeschlendert, ganz wie ein Spaziergänger, der den linden Sommerabend genießt. Erst da er 20 innerte sich der Superintendent, dass das Rebus' freier Tag war. Er fragte sich, ob es so eine brillante Idee gewesen war, ihn zu einem Gespräch mit Brigadegeneral Dean abzukommandieren. Dann lächelte er, als ihm wieder einfiel, dass er John Rebus genau deswegen hierhergerufen hatte, weil ihm irgendetwas nicht ganz koscher erschien. Wenn er es spüren konnte, würde es Rebus ebenfalls spüren und tief buddeln, um an die Wurzeln dieses Gefühls zu gelangen -so tief wie nötig und vielleicht sogar noch tiefer, als es sich für einen Superintendenten gehörte. Ja, es gab Situationen, da erwies sich selbst Detective Inspector Rebus als brauchbar. Es war ein großes Haus. Rebus wäre sogar noch weiter gegangen: Es war größer als das letzte Hotel, in dem er gewohnt hatte - obgleich dem Stil nach nicht unähnlich: eher Horrorfilm als House and Garden. Ein Hotel in Scarborough war das gewesen; drei Tage purer Lust mit einer geschiedenen Angestellten einer Schulkantine. Zu Rebus' Schulzeit waren die Kantinenkräfte noch nicht so gewesen ... oder vielleicht hatte er damals einfach nicht so darauf geachtet. Jetzt achtete er auf alles. Er sah sich auch den Typ in Militäruniform genau an, der die Tür von West Lodge öffnete. Schon am Tor hatte er einiges an Überredungskunst aufbieten müssen, damit die Wache, bestehend aus einem verlegenen PC und zwei unnachgiebigen Soldaten, ihn vorbeiließ. Deswegen hatte er an Scarborough denken müssen - um sich davon abzuhalten, diesen Kommissköpfen in die quadratische Visage zu hauen. Je mehr er sich Brigadegeneral Dean näherte, desto aggressiver und unliebenswürdiger wirkten die Soldaten. Die zwei am Tor waren im Vergleich zu dem an der Haustür die reinsten Lämmer gewesen, und doch war dieser, gemessen an dem einen, der 20 Rebus in ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer führte und ihn aufforderte, da zu warten, die Sanftmut in Person. Rebus hasste das Militär - und das aus gutem Grund. Er hatte das Soldatenleben am eigenen Leib erfahren, und es hatte Spuren in ihm hinterlassen, die einem Traktor alle Ehre gemacht hätten. Traktor? Im Augenblick fühlte es sich eher an, als wäre ein Schützenpanzer durch ihn hindurchgefahren. Dagegen half nur eins. Rebus ging zur Anrichte, schnupperte an der Karaffe, die dort stand, und schenkte sich zwei Fingerbreit Whisky ein. Er leerte gerade das Glas, als die Tür aufging. Rebus hatte heute einfach zu viele vorgefasste Meinungen im Gepäck. Brigadegeneräle waren vierschrötige Männer mit gut durchbluteten Gesichtern, borstigen Schnauz-bärten und Cognacnasen, ein paar angeklatschten silbrigen Haarfusseln und vielleicht sogar
einem Gehstock. Aus dem Dienst schieden sie mit über siebzig aus und brabbelten beim Dinner unentwegt von irgendwelchen Feldzügen. Nicht so Brigadegeneral Dean. Er sah wie Mitte, Ende fünfzig aus, war über eins achtzig groß, hatte ein jugendliches Gesicht und dichtes dunkles Haar. Schlank war er auch noch, keine Spur von Rentnerwanst oder den rot geäderten Wangen eines Portweinpichlers. Er sah doppelt so fit aus, wie Rebus sich fühlte, und für einen kurzen Moment ertappte sich der Polizist tatsächlich dabei, wie er den Rücken streckte und die Schultern straffte. »Gute Idee«, sagte Dean und gesellte sich zu Rebus an die Anrichte. »Darf ich mich anschließen?« Seine Stimme war weich, ohne scharfe Kanten, die Stimme eines gebildeten, kultivierten Mannes. Rebus versuchte, sich Dean dabei vorzustellen, wie er einem Trupp von ungehobelten Tommys Befehle erteilte. Versuchte es und scheiterte. »Detective Inspector Rebus«, stellte er sich vor. »Tut mir 21 leid, Sie zu belästigen, Sir, aber ich hätte da ein paar Fragen —« Dean nickte, während er sein Glas leerte, und bot dann Rebus an, seines nachzufüllen. »Warum nicht?«, meinte Rebus. Aber irgendwie komisch: Er hätte schwören können, dass dieser Whisky kein Whisky, sondern Whiskey war - irischer Whiskey. Weicher als sein schottischer Cousin, irgendwie blasser im Charakter. Rebus nahm auf dem Sofa Platz, Dean in einem gut eingesessenen Sessel. Der Brigadegeneral wünschte släinte, bevor er seinen zweiten Drink in Angriff nahm, und atmete dann geräuschvoll aus. »Früher oder später musste es ja wohl so kommen«, sagte er. »Tatsächlich?« Dean nickte langsam. »Ich habe eine Zeit lang in Ulster gearbeitet. Eine ziemliche Zeit lang. Ich stand vermutlich sehr weit oben auf der Abschussliste und wusste, dass man mich im Visier hatte. Die Army wusste es natürlich auch, aber was soll man da machen? Man kann schließlich nicht für jeden Soldaten, der in den Konflikt verwickelt ist, Bodyguards abstellen, oder?« »Kaum, Sir. Aber ich gehe davon aus, dass Sie Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben?« Dean zuckte die Schultern. »Ich stehe weder im Who's Who noch im Telefonbuch. Um ehrlich zu sein, benutze ich nicht einmal meinen Dienstgrad allzu häufig.« »Aber ein Teil Ihrer Post wird doch wohl an Brigadegeneral Dean adressiert sein.« Ein ironisches Lächeln. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Worauf, Sir?« »Darauf, dass ich ein hohes Tier wäre. Ich bin kein Brigadegeneral. Ich bin im Rang eines Majors aus dem Dienst ausgeschieden.« 21 »Aber die -« »Die was? Die Leute im Ort? Ja, ich kann mir schon denken, dass Klatsch zu Übertreibungen führt. Sie wissen ja selbst, wie es in einem solchen Kaff zugeht, Inspector. Ein nicht sehr geselliger Neuankömmling. Ein militärisches Auftreten. Sie zählen zwei und zwei zusammen und multiplizieren das Ganze dann mit zehn.« Rebus nickte nachdenklich. »Ich verstehe.«Typisch Watson, selbst bei den elementarsten Dingen schiefzuliegen. »Aber was ich in Bezug auf Ihre Post meinte, bleibt davon unberührt, Sir. Ich frage mich einfach, wie man Sie gefunden hat, verstehen Sie?« Dean lächelte. »Die IRA ist heutzutage ziemlich geschickt, Inspector. Was weiß ich, sie könnte sich in einen Computer gehackt, einen Eingeweihten bestochen haben -oder vielleicht war es auch bloß Glück, purer Zufall.« Er zuckte die Schultern. »Jetzt werden
wir uns wohl überlegen müssen, woanders hinzuziehen, wieder ganz von vorn anzufangen. Arme Jacqueline.« »Jacqueline?« »Meine Tochter. Sie ist oben, furchtbar durcheinander. Sie geht im Oktober auf die Uni. Ihretwegen tut es mir leid.« Rebus machte ein mitfühlendes Gesicht. Er fühlte auch wirklich mit. Das Leben beim Militär und bei der Polizei hatten eines gemeinsam - beide konnten eine verheerende Wirkung auf das Privatleben haben. »Und Ihre Frau, Sir?« »Tot, Inspector. Seit mehreren Jahren.« Dean musterte sein inzwischen leeres Glas. Jetzt sah man ihm sein Alter an, jetzt wirkte er wie jemand, der einen langen Urlaub nötig gehabt hätte. Aber er strahlte noch etwas anderes aus, etwas Kaltes und Hartes. Rebus hatte in der Army - und danach - die verschiedensten Typen von Menschen ken 22 nengelernt. Auf Fassaden fiel er nicht mehr herein, und hinter Major Deans kultivierter Fassade war etwas anderes zu erkennen, etwas aus seiner Vergangenheit. Dean war nicht lediglich ein guter Soldat gewesen. Früher war er lebensgefährlich gewesen. »Haben Sie eine Vermutung, wie man Sie gefunden haben könnte, Sir?« »Ehrlich gesagt, nein.« Dean schloss einen Moment lang die Augen. In seiner Stimme schwang Resignation. »Aber was spielt es auch für eine Rolle, da sie mich gefunden haben?« Er starrte Rebus an. »Und sie können mich wieder finden.« Rebus veränderte seine Haltung. Herr Jesus, was für eine Vorstellung. Was für eine... tja, Zeitbombe. Ständig auf der Hut zu sein, ständig in Erwartung, ständig in Angst. Und nicht nur um sich selbst. »Ich würde mich gern mit Jacqueline unterhalten, Sir. Es könnte sein, dass sie eine Ahnung hat, wie es die Leute geschafft haben -« Aber Dean schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Inspector. Noch nicht. Ich möchte sie nicht nun, Sie verstehen. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass Ihnen die Sache spätestens morgen aus der Hand genommen wird. Ich glaube, ein paar Leute von der Antiterrorabteilung sind auf dem Weg hierher. Und wenn die und die Army sich der Sache annehmen... nun, wie gesagt, dann haben Sie nichts mehr damit zu tun.« Rebus verspürte wieder ein Kribbeln. Aber Dean hatte schließlich recht. Wozu sich jetzt noch ein Bein ausreißen, wenn sich schon morgen jemand anders mit dem Fall herumschlagen würde? Rebus schürzte die Lippen, nickte und stand auf. »Ich begleite Sie zur Tür«, sagte der Major und nahm Rebus das leere Glas ab. 22 Als sie in die Eingangshalle kamen, erhaschte Rebus einen Blick auf eine junge Frau vermutlich Jacqueline Dean. Sie hatte am Fuß der Treppe, neben dem Telefontisch gestanden, stieg jetzt aber langsam die Treppe hinauf, eine schmale weiße Hand auf dem Geländer. Auch Dean sah ihr nach. Dann drehte er sich mit einem halben Lächeln, einem halben Achselzucken zu Rebus. »Sie ist sehr durcheinander«, erklärte er unnötigerweise. Aber Rebus fand nicht, dass sie durcheinander gewirkt hatte. Sie hatte bedrückt ausgesehen. Am nächsten Morgen fuhr Rebus wieder hinaus nach Barnton. Ein paar Schaufenster waren mit Brettern vernagelt worden, aber ansonsten zeugte wenig von der gestrigen Tragödie. Die Wachposten am Tor von West Lodge waren durch sture Zivilbeamte mit Londoner Akzent ersetzt worden. Sie hatten Walkie-Talkies bei sich, aber ansonsten sahen sie aus wie Rausschmeißer, Schuldeneintreiber oder Gerichtsvollzieher. Sie funkten das Haus an. Rebus konnte nicht umhin zu denken, dass einfach kurz rüberrufen es auch getan hätte. Aber die Leute waren offensichtlich Technikfreaks; man erkannte es daran,
wie sie ihre Walkie-Talkies in der Hand hielten. Er hatte Soldaten eine neue Waffe genauso halten sehen. »Der Chef kommt gleich«, sagte einer der Männer endlich. Rebus stand sich eine volle Minute die Beine in den Bauch, bevor der Mann sich blicken ließ. »Was wollen Sie?« »Detective Inspector Rebus. Ich habe mich gestern mit Major Dean unterhalten und -« »Wer hat Ihnen seinen Rang genannt?«, bellte der Mann. »Major Dean selbst. Ich wollte nur fragen, ob ich -« »Nun, das wird nicht mehr nötig sein, Inspector. Jetzt 23 haben wir die Sache übernommen. Natürlich werden wir Sie auf dem Laufenden halten.« Der Mann machte auf der Stelle kehrt und ging mit einem festen, entschlossenen Schritt durchs Tor zurück. Die Wachposten grinsten, als sie das Tor hinter ihrem »Chef« schlossen. Rebus kam sich wie ein dummer Schuljunge vor, den man von einem Fußballspiel ausgeschlossen hatte. Die Mannschaften standen, und ihn hatte keiner gewollt. Diese Leute rochen förmlich nach London, nach dieser aufgeblasenen Arroganz einer selbsternannten Elite. Wie bezeichneten die sich noch mal? C13 oder was in der Richtung, der Anti-Terrorist Branch. Eng verbandelt mit dem Special Branch, und wie dessen Kürzel, S. B., landläufig übersetzt wurde, war ja allgemein bekannt: selbstgefällige Blödmänner. Der Mann war ein bisschen jünger als Rebus gewesen, gepflegt und Typ Buchhalter. Zweifellos intelligenter als die Gorillas am Tor, aber wahrscheinlich durchaus imstande, bei Bedarf auch einiges auszuteilen. In der Achselhöhle seines maßgeschneiderten Anzugs konnte ohne Weiteres eine schicke Pistole versteckt gewesen sein. Das spielte alles keine Rolle. Was eine Rolle spielte, war die Tatsache, dass der Mannschaftskapitän Rebus ausgeschlossen hatte. Das ärgerte ihn; und wenn ihn etwas ärgerte, dann richtig. Rebus hatte sich ein Dutzend Schritte vom Tor entfernt, als er sich halb umdrehte und den Wachen die Zunge rausstreckte. Zufrieden mit diesem Abschluss seiner morgendlichen Bemühungen, beschloss er, auf eigene Faust zu ermitteln. Es war halb zwölf. Wenn du über jemanden etwas rauskriegen willst, überlegte sich ein durstiger Rebus, dann geh in seine Stammkneipe. Die Überlegung erwies sich in diesem Fall als falsch: Dean hatte noch nie einen Fuß ins Claymore gesetzt. 23 »Die Tochter, die war allerdings schon hier«, bemerkte ein junger Mann. Zu dieser frühen Tageszeit hielten sich noch nicht viele Leute im Pub auf, lediglich ein paar pensionierte Herrschaften, die sich gerade mit drei, vier Reportern unterhielten. Auch der Barkeeper hatte alle Hände voll damit zu tun, einer Journalistin beziehungsweise ihrem Kassettenrecorder seine Lebensgeschichte zu erzählen. Worunter natürlich, auch ohne Mittagszeitgedränge, der Service litt. Der junge Mann hatte dieses Problem allerdings dadurch gelöst, dass er sich sein Glas eigenhändig mit Cider und Lager nachfüllte und dafür Geld auf den Tresen legte. »Ach ja?« Rebus deutete mit einem Kopfnicken auf das dreiviertel volle Glas. »Noch eins?« »Wenn ich mit dem hier fertig bin, gern.« Er leerte es gierig, und bis dahin war auch der Barkeeper - zur (ihrem Gesicht nach zu urteilen) großen Erleichterung der Reporterin mit seinen Bekenntnissen fertig. »Pint Snakebite, Paul«, rief der junge Mann. Als das Glas vor ihm stand, verriet er Rebus, er heiße Willie Barr und sei arbeitslos. »Sie sagten, Sie hätten die Tochter hier drinnen gesehen?« Rebus wollte unbedingt seine Fragen loswerden, ehe sich bei Barr der Alkoholpegel bemerkbar machte.
»Stimmt. Sie kam hier ziemlich regelmäßig vorbei.« »Allein?« »Nein, immer mit irgendeinem Typ.« »Einem bestimmten, meinen Sie?« Doch Willie Barr lachte und schüttelte den Kopf. »Jedes Mal ein anderer. Sie wird allmählich stadtbekannt. Und« -jetzt lauter, damit der Barkeeper es auch mitbekam - »sie ist nicht mal achtzehn, würd ich sagen.« »Waren das Jungs hier vom Ort?« »Keine, die ich gekannt hätte. Hab auch nie mit denen 24 ein Wort gewechselt.« Rebus ließ sein Glas kreisen und erzeugte aus nichts eine Schaumkrone. »Irgendwelche dabei mit irischem Akzent?« »Hier drinnen?« Barr lachte. »Hier doch nicht! Herrgott, nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist sie seit ein paar Wochen nicht mehr hier gewesen. Vielleicht hat ihr Vater ja ein Machtwort gesprochen. Ich meine, wie würde das in den Sonntagszeitungen aussehen? >Brigadierstochter mischt sich in Barnton unters Volk. <« Rebus lächelte. »Aber direkt ein Proletarierviertel ist das hier nun nicht.« »Schon, klar, aber ihre Freunde... ich meine, die hatten mehr was vom Automechaniker als vom Immobilienmakler. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er zwinkerte. »Nicht dass es ihrer Sorte je geschadet hätte, ein bisschen hart rangenommen zu werden...« Dann lachte er wieder und fragte, wie es mit ein, zwei Spielchen Billard sei, ein Pfund pro Spiel, oder auch ein Fünfer, wenn der Detective gern mal was riskierte. Aber Rebus schüttelte den Kopf. Er glaubte jetzt zu wissen, warum Willie Barr so viel trank: Er war gut bei Kasse. Und gut bei Kasse war er, weil er seine Story den Zeitungen erzählt hatte - für gutes Geld. Brigadierstochter mischt sich unters Volk. Ja, er hatte Geschichten erzählt, keine Frage, aber es bestand nur eine geringe Chance, dass sie ihr Publikum erreichen würden. »Die da oben« würden es zu verhindern wissen. Barr goss sich gerade ein weiteres Pint ein, als Rebus sich zum Ausgang wandte. Es war spät am Nachmittag, als Rebus seinen Besucher empfing, den Antiterrorbuchhalter. »Ein Mr. Matthews möchte Sie sprechen«, hatte der Sergeant vom Empfang Rebus mitgeteilt, und bei »Matthews« 24 blieb es, ohne dass er etwas von seinem Rang verraten oder sich irgendwie ausgewiesen hätte. Er war gekommen, sagte er, um mit Rebus »Klartext zu reden«. »Was haben Sie im Claymore gemacht?« »Was getrunken.« »Sie haben Fragen gestellt. Ich habe es Ihnen schon gesagt, Inspector Rebus, wir können keine -« »Ich weiß, ich weiß.« Rebus hob die Hände, als würde er sich ergeben. »Aber je geheimniskrämerischer ihr Leute tut, desto neugieriger werde ich.« Matthews starrte Rebus schweigend an. Rebus wusste, dass der Mann seine Optionen abwägte. Die eine bestand natürlich darin, zu Farmer Watson zu gehen und dafür zu sorgen, dass er Rebus zurückpfiff. Aber wenn Matthews so gescheit war, wie er aussah, dann würde er sich denken, dass dies genau die gegenteilige Wirkung haben konnte. Eine andere Möglichkeit war, mit Rebus zu reden, ihn zu fragen, was er wissen wolle. »Was wollen Sie wissen?«, fragte Matthews endlich. »Ich will wissen, was mit Dean ist.« Matthews lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Streng vertraulich?« Rebus nickte. »Ich bin noch nie ein clipe gewesen.« »Ein clipe?«
»Schottisch für Schwätzer«, erklärte Rebus. Matthews dachte nach. »Also gut«, sagte er. »Zunächst einmal ist Dean ein Deckname, ein notwendiger Deckname. Während seiner Zeit in der Army arbeitete Major Dean beim Nachrichtendienst, vor allem in Westdeutschland, aber eine Zeit lang auch in Ulster. In beiden Einsatzgebieten leistete er sehr wichtige, entscheidend wichtige Arbeit. Ich brauche nicht ins Detail zu gehen. Sein letzter Einsatzort war Westdeutschland. Seine Frau kam bei einem Terroranschlag ums Leben 25 ging aller Wahrscheinlichkeit nach auf das Konto der IRA. Wir glauben nicht, dass man es speziell auf sie abgesehen hatte. Sie war einfach mit dem falschen Nummernschild am falschen Ort.« »Eine Autobombe?« »Nein, eine Kugel. Durch die Windschutzscheibe, aus nächster Nähe. Major Dean bat um... er wurde wegen Dienstuntauglichkeit entlassen. Es schien das Beste zu sein. Wir haben ihm natürlich eine neue Identität verschafft.« »Ich hab mir schon gedacht, dass er ein bisschen jung für den Ruhestand aussieht. Und die Tochter, wie hat sie die Sache aufgenommen?« »Man hat ihr nie alle Einzelheiten erzählt, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Sie befand sich damals in England, auf einem Internat.« Matthews schwieg kurz. »Es war am besten so.« Rebus nickte. »Natürlich, das wird keiner bestreiten. Aber warum hat Dean beschlossen, sich in Barnton niederzulassen?« Matthews rieb sich die linke Augenbraue, schob dann die Brille den Nasenrücken hoch. »Hing irgendwie mit einer Tante von ihm zusammen«, antwortete er. »Als Junge hielt er sich ein paar Mal in den Ferien hier auf. Sein Vater war ebenfalls bei der Army, ständig woanders stationiert. Nicht die besten Voraussetzungen für ein Kind. Ich glaube, Dean hatte einfach glückliche Erinnerungen an Barnton.« Rebus setzte sich auf seinem Stuhl um. Er hatte keine Ahnung, wie lange Matthews noch bleiben, wie lange er noch seine Fragen beantworten würde. Und er hatte jede Menge Fragen. »Was ist mit der Bombe?« »Sieht einwandfrei nach IRA aus. Ihr Standardvorgehen, ganz deutlich ihre Handschrift. Wird natürlich noch untersucht, aber wir sind uns ziemlich sicher.« 25 »Und der Tote?« »Noch keine Anhaltspunkte. Früher oder später wird er wohl als vermisst gemeldet werden. Den Teil der Untersuchung überlassen wir Ihnen.« »Wahnsinn, danke!« Rebus wartete, bis sein Sarkasmus durchgedrungen war, und sagte dann schnell: »Wie kommt Dean eigentlich mit seiner Tochter aus?« Auf die Frage war Matthews nicht gefasst gewesen. Er blinzelte zwei-, dreimal, warf dann einen Blick auf seine Uhr. »Gut, nehme ich an«, sagte er endlich und tat so, als müsste er sich einen Fleck von der Manschette kratzen. »Ich wüsste nicht, was... Hören Sie, Inspector, wie ich Ihnen schon sagte, wir halten Sie auf dem Laufenden. Aber in der Zwischenzeit -« »Soll ich Ihnen nicht ins Gehege kommen?« »Wenn Sie es so formulieren wollen...« Matthews stand auf. »Jetzt muss ich wirklich zurück -« »Nach London?« Matthews lächelte über den hoffnungsvollen Ton in Rebus' Stimme. »Nach Barnton. Keine Sorge, Inspector, je weniger Sie mir ins Gehege kommen, desto eher werde ich Ihr
Gehege räumen. In Ordnung?« Er streckte schnell die Rechte aus, und Rebus erwiderte seinen festen Händedruck. »In Ordnung«, sagte Rebus. Er begleitete Matthews hinaus, schloss die Tür hinter ihm und kehrte dann an seinen Platz zurück. Er ließ sich so tief wie möglich in den harten, unbequemen Stuhl rutschen, legte die Füße auf den Schreibtisch und betrachtete seine abgewetzten Schuhe. Er versuchte, sich wie Sam Spade zu fühlen, aber es gelang ihm nicht. Bald begannen seine Beine zu schmerzen, und er nahm sie vom Schreibtisch. Die Zufälle bei Dashiell Hammett waren Kinderkram gemessen an dem 26 Zufall, dass jemand ein Auto klaute, Sekunden bevor selbiges in die Luft flog. Jemand musste das Auto beobachtet haben, die Fernzündung in der Hand. Aber wie konnte dieser Jemand dann übersehen haben, dass derjenige, der losfuhr, nicht die eigentliche Zielperson, Dean, gewesen war? Entweder steckte mehr dahinter, als es den Anschein hatte, oder aber weniger. Rebus war misstrauisch - sehr misstrauisch. Er hatte schon viel zu viele übereilte Schlüsse gezogen, war schon zu oft widerlegt worden. Immer schön für alle Möglichkeiten offen bleiben, das war das A und O. Und neugierig bleiben. Er nickte langsam, die Augen auf die Tür gerichtet. »In Ordnung«, sagte er leise. »Ich werde Ihnen nicht ins Gehege kommen, Mr. Matthews, aber einen gründlichen Blick über den Zaun werd ich mir schon gestatten.« Das Claymore war vielleicht nicht Barntons gediegenstes Etablissement, aber gemessen an den Lokalen, die Rebus an diesem Abend besuchte, war es das reinste Caledonian, Edinburghs Nobelhotel an der Princes Street. Er machte den Anfang mit den lediglich zwielichtigen Kneipen, denjenigen, in denen jede leise Stimme den Groll eines ganzen Lebens in sich zu bergen schien, und dann stieg er nach und nach abwärts, immer eine Sprosse tiefer. Er kam nur langsam voran; die Kneipen lagen mehr oder weniger ringförmig um Edinburgh verstreut, manchmal am Stadtrand oder in den entlegeneren Hochhaussiedlungen, manchmal auch näher am Zentrum, als der größte Teil der Bevölkerung sich vorzustellen gewagt hätte. Rebus hatte, seit er erwachsen war, nicht viele Freundschaften geschlossen, aber er besaß ein Netz von Kontakten, auf das er nicht weniger stolz war als ein Großvater auf seine Großfamilie. Diese Kontaktpersonen waren wie ent 26 ferntere Verwandte; sie kannten sich größtenteils, jedenfalls hatten sie voneinander gehört, aber Rebus sprach nie zu dem einen über den anderen, so dass über die Länge der Kette bestenfalls Mutmaßungen angestellt werden konnten. Es gab Kollegen, die - mit Major Deans Worten - zwei und zwei zusammenzählten und das Ganze dann mit zehn multiplizierten. John Rebus, so wurde gemunkelt, verfüge über ein größeres Netz von Informanten als sonst irgendein Beamter in der Region. Es kostete Rebus vier Stunden und Spesen von über vierzig Pfund, ehe sich so etwas wie ein Resultat abzuzeichnen begann. Seine immer wiederkehrende - wenngleich stets vage und unverfänglich formulierte - zentrale Frage war ganz einfach: Sind seit gestern irgendwelche Autodiebe verschwunden? Ein Name wurde von drei ganz unterschiedlichen Informanten in drei weit voneinander entfernten Stadtteilen genannt: Brian Cant. Der Name sagte Rebus nicht viel. »Kein Wunder«, erklärte man ihm. »Brian ist erst vor einem knappen Jahr aus dem Westen rüber. Als Rotznase hat er sich mal schnappen lassen, aber seitdem passt er auf. Als die Glasgower Bullen angefangen haben zu schnüffeln, hat er sich ein neues Revier gesucht.« Der Detective hörte zu, nickte, trank einen verwässerten Whisky und sagte we-
nig. Brian Cant entwickelte sich von einem Namen zu einer Beschreibung, von einer Beschreibung zu einer Person. Aber das war noch nicht alles. »Sie sind nicht der Einzige, der sich für ihn interessiert«, erfuhr Rebus in einer Bar in Gordie. »Vor kurzem hat auch jemand anders nach ihm gefragt. Erinnern Sie sich an Jackie Hanson?« »War früher beim CID, nicht?« »Stimmt, aber das war mal...« Brian Cant gab sich nicht mit irgendwelchen alten Kar 27 ren ab: Seine Spezialität waren »Luxusfahrzeuge«. Rebus bekam schließlich eine Adresse: ein dreistöckiges Mietshaus in der Nähe der Powderhall-Rennbahn. Ein junger Mann öffnete die Tür. Er hieß Jim Cant und war Brians jüngerer Bruder. Rebus fiel auf, dass Jim nervös war, verängstigt. Er nahm ihn sofort in die Mangel, erklärte, er sei da, weil er glaube, Brian sei vielleicht tot. Er wisse von Cants Geschäften, sei aber an diesem Aspekt der Sache nicht interessiert - außer insofern er zur Aufklärung seines Todes beitragen könne. Er brauchte nicht viel mehr zu sagen, damit der Bruder gesprächig wurde. »Er meinte, da war ein Kunde, der sich für einen Wagen interessierte«, erklärte Jim Cant. »Ein Ire, sagte er.« »Woher wusste er, dass der Mann Ire war?« »Muss an seinem Akzent gelegen haben. Ich glaub nicht, dass sie sich je persönlich getroffen haben. Vielleicht aber doch. Der Mann war an einem bestimmten Wagen interessiert.« »Einem roten Jaguar?« »Ja, Cabrio. Hübsche Schlitten sind das. Der Ire wusste sogar, wo es einen gab. Schien ein Kinderspiel zu sein, das hat Brian ständig gesagt. Ein Kinderspiel.« »Er glaubte nicht, dass es schwierig werden würde, ihn zu stehlen?« »Sache von fünf Sekunden, hat er gemeint. Ich fand, das klang zu einfach. Ich hab's ihm auch gesagt.« Er beugte sich in seinem Sessel vor, umfasste seine Knie und vergrub sein Gesicht zwischen ihnen. »Scheiße, Brian, was hast du bloß für einen Mist gebaut?« Rebus bemühte sich, den jungen Mann, so gut er konnte, mit Brandy und Tee zu beruhigen. Er selbst trank einen Becher Tee, während er von Zimmer zu Zimmer schlenderte und seine Gedanken auf Hochtouren liefen. Bauschte er die ganze Sache zu sehr auf? Vielleicht. Er hatte sich schon 27 vorher geirrt, wenngleich nicht so sehr im Sinne von falsche Schlüsse gezogen als von vorschnell geurteilt. Aber da war etwas an der Sache dran... »Haben Sie ein Foto von Brian?«, fragte er, bevor er ging. »Am besten ein möglichst aktuelles.« Jim Cant gab ihm einen Urlaubsschnappschuss. »Letzten Sommer waren wir auf Kreta«, erklärte er. »War irre.« Dann, als er Rebus die Tür aufhielt: »Muss ich ihn nicht identifizieren oder so?« Rebus dachte an die vom Asphalt abgekratzten Überreste dessen, was möglicherweise einmal Brian Cant gewesen war. Er schüttelte den Kopf. »Sollten wir Sie brauchen, melde ich mich bei Ihnen«, sagte er. Der nächste Tag war Sonntag, der Tag der Ruhe. Rebus ruhte in seinem Auto, das er knapp fünfzig Meter vom West Lodge entfernt am Straßenrand geparkt hatte. Er schaltete das Radio ein, verschränkte die Arme und lehnte sich in den Fahrersitz zurück. So war's schon besser. Der Hollywood-Privatdetektiv bei einer Überwachungsaktion. Nur im Kino ließ sich eine Überwachung in ein paar Minuten Film abhandeln. Hier lief sie in langsamen Sekunden... Minuten... Viertelstunden ab.
Schließlich öffnete sich das Tor, und eine Gestalt kam eilig heraus, trabte beinah den Bürgersteig entlang, als wäre sie dem Kerker entronnen. Jacqueline Dean trug eine Jeansjacke, einen kurzen schwarzen Rock und eine dicke schwarze Strumpfhose. Eine Baskenmütze saß ihr schief auf dem kurz geschorenen dunklen Haar. Von Zeit zu Zeit presste sie die flache Hand darauf, damit sie nicht vollends runterrutschte. Rebus schloss seinen Wagen ab und folgte ihr. Er blieb auf der anderen Straßenseite, nicht so sehr aus Angst, dass sie ihn bemerken könnte, als vielmehr für den Fall, dass der C13 sie ebenfalls beschattete. 28 Als Erstes ging sie in den Zeitungsladen und kam schwer bepackt mit Sonntagsblättern wieder heraus. Während er, ganz der Sonntagmorgenspaziergänger, auf der anderen Straßenseite dahinschlenderte, studierte Rebus ihr Gesicht genauer. Was für ein Wort war ihm durch den Kopf gegangen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte? Ja, bedrückt. Etwas davon war noch immer in ihren blanken Augen, den dunklen Schatten darunter zu erkennen. Jetzt befand sie sich auf dem Weg zum Tante-Emma-Laden. Ganz bestimmt würde sie gleich mit Brötchen, Bacon oder Milch wieder herauskommen. All den Dingen, die Rebus, so sehr er sich auch Mühe gab, sonntags nie vorrätig hatte. Er tastete in den Taschen seines Jacketts herum, fand aber darin nichts, das ihn getröstet hätte, nur das Foto von Brian Cant. Das von der Explosion unberührt gebliebene Schaufenster des Tante-Emma-Ladens enthielt ein rundes Dutzend Kleinanzeigen, mit Filzstift auf schlichte weiße Karteikarten geschrieben. Er warf einen Blick darauf - und zwischen ihnen hindurch in den Laden, in dem Jacqueline gerade ihre Einkäufe erledigte: Milch und Brötchen -elementar, mein lieber Conan Doyle. Während sie auf ihr Wechselgeld wartete, sah sie halb zum Schaufenster hinüber. Rebus konzentrierte sich voll und ganz auf die Anzeigen. »Candy, Masseuse« buhlte neben »Kinderwagen und Babytragetasche zu verkaufen«, »Babysitterstelle gesucht« und »Lada, wenig gebraucht« um seine Aufmerksamkeit. Rebus lächelte, fast wider Willen, als die Ladentür bimmelnd aufging. »Jacqueline?«, fragte er. Sie drehte sich um. Er hielt ihr seinen Ausweis aufgeklappt hin. »Was dagegen, wenn wir uns kurz unterhalten, Miss Dean?« Major Dean schenkte sich gerade ein Glas Irish Whiskey ein, als die Wohnzimmertür aufging. 28 »Was dagegen, wenn ich reinkomme?« Rebus Worte waren nicht an Dean, sondern an Matthews gerichtet, der, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände um die Armlehnen gekrallt, in einem Sessel am Fenster saß. Er sah aus wie ein nervöser Geschäftsmann im Flugzeug, der sich bemüht, vor dem Sitznachbarn seine Angst vorm Fliegen zu verbergen. »Inspector Rebus«, sagte er tonlos. »Ich meinte doch, dass mir die Kopfhaut kribbelte.« Rebus war schon im Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich. Dean hielt die Karaffe in die Höhe, aber Rebus schüttelte den Kopf. »Wie sind Sie reingekommen?«, fragte Matthews. »Miss Dean war so nett, mich durch das Tor zu begleiten. Sie haben schon wieder neue Wachen aufgestellt. Sie hat denen erzählt, ich wäre ein Freund der Familie.« Matthews nickte. »Und, sind Sie das, Inspector? Sind Sie ein Freund der Familie?« »Hängt davon ab, was Sie unter Freundschaft verstehen.« Dean hatte sich vorn auf die Kante seines Sessels gesetzt und hielt sein Glas mit beiden Händen fest. Er wirkte nicht mehr ganz so gefasst wie am Tag der Explosion. Eine verspätete Reaktion, da hatte Rebus keinen Zweifel. An dem Tag hatte er eine ruhige Euphorie an den Tag gelegt; jetzt kam der nachträgliche Schock.
»Wo ist Jacqui?«, fragte Dean, das Glas an den Lippen. »Oben«, erklärte Rebus. »Ich dachte, es sei besser, wenn sie das hier nicht mitbekommt.« Matthews' Finger zupften an der Armlehne. »Wie viel weiß sie?« »Nicht viel. Vorerst. Vielleicht wird sie selbst noch darauf kommen.« »Also, Inspector, damit kämen wir zum Grund Ihres Hierseins.« 29 »Dass ich hier bin«, begann Rebus, »hängt mit einer Morduntersuchung zusammen. Ich dachte, das sei auch der Grund, warum Sie hier sind, Mr. Matthews. Aber vielleicht täusche ich mich ja. Vielleicht sind Sie eher hier, um zu vertuschen, als um aufzuklären.« Über Matthews' Gesicht huschte ein Lächeln. Doch er sagte nichts. »Ich habe nicht nach den Tätern gesucht«, fuhr Rebus fort. »Wie Sie sagten, Mr. Matthews, war das Ihr Job. Aber ich war doch neugierig, wer das Opfer war. Das zufällige Opfer, wie ich dachte. Ein junger Autodieb namens Brian Cant, würde ich tippen. Er stahl Autos auf Bestellung. Ein Kunde wollte ein rotes Jaguar Kabrio, sagte ihm sogar, wo er eins finden könne. Der Kunde erzählte ihm von Major Dean. Erzählte ihm sehr detailliert von Major Dean, einschließlich der Tatsache, dass er jeden Tag kurz in das Weingeschäft auf der Hauptstraße flitzte.« Rebus wandte sich zu Dean. »Eine Flasche Irish Whiskey pro Tag, stimmt's, Sir?« Dean zuckte lediglich die Achseln und trank sein Glas aus. »Das ist jedenfalls, was Ihre Tochter mir gesagt hat. Also brauchte Brian Cant nichts anderes zu tun, als in der Nähe der Weinhandlung zu warten. Sie würden aussteigen, den Motor laufenlassen, und während Sie im Laden waren, würde er mit dem Wagen wegfahren können. Zu denken gab mir bloß, dass der Kunde - laut Cants Bruder sprach er mit irischem Akzent - so viel wusste, wodurch die Sache für Cant so einfach wurde. Was hinderte ihn dann daran, den Wagen selbst zu stehlen?« »Und da kam Ihnen die Erleuchtung?«, fragte Matthews mit vor Ironie triefender Stimme. Rebus blieb dagegen sachlich. Er beobachtete noch immer Dean. »Nicht direkt, nicht einmal dann. Aber als 29 ich hierherkam, fiel mir auf, dass Miss Dean ein bisschen merkwürdig wirkte. So als wartete sie auf einen Anruf und als hätte irgendjemand sie schwer enttäuscht. Jetzt ist es leicht, das so klar zu formulieren, aber in dem Moment kam es mir lediglich... merkwürdig vor. Ich habe sie heute Morgen deswegen gefragt, und sie gab zu, es liege daran, dass jemand sie sitzengelassen hat. Ein Mann mit dem sie sich - und zwar regelmäßig - getroffen hatte, rief auf einmal nicht mehr an. Ich fragte sie nach ihm, aber sie konnte mir nicht viel sagen. Sie war zum Beispiel nie bei ihm zu Haus gewesen. Er fuhr einen protzigen Wagen und hatte jede Menge Geld, aber womit er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, wusste sie nicht so genau.« Rebus zog ein Foto aus der Tasche und warf es Dean in den Schoß. Dean erstarrte, als wäre das eine entsicherte Handgranate. »Ich habe ihr ein Foto von Brian Cant gezeigt. Ja, das war der Name ihres Freundes Brian Cant. Sie sehen also, es war kein Wunder, dass er sich nicht mehr bei ihr meldete.« Matthews stand vom Sessel auf und wandte sich zum Fenster, aber nichts von dem, was er draußen sah, schien ihn zu erfreuen, also drehte er sich wieder zum Zimmer um. Dean hatte es geschafft, das Foto von seinem Oberschenkel zu nehmen und auf den Boden zu legen. Jetzt stand er ebenfalls auf und griff zur Karaffe. »Herrgott«, fauchte Matthews, aber Dean schenkte sich trotzdem ein. Rebus sprach mit ruhiger Stimme weiter. »Es kam mir von Anfang an wie ein recht merkwürdiger Zufall vor, dass der Wagen Sekunden vor der Explosion gestohlen wurde.
Andererseits verwendet die IRA durchaus Fernzünder, nicht? Also könnte jemand in der näheren Umgebung die Bombe zu jedem beliebigen Zeitpunkt zur Explosion ge 30 bracht haben. Was Zeitzünder und ähnliche Dinge überflüssig gemacht hätte. Ich war früher selbst beim SAS.« Matthews hob eine Augenbraue. »Das wusste ich ja gar nicht«, sagte er und klang zum ersten Mal beeindruckt. »So viel zu Ihrem Geheimdienst«, entgegnete Rebus. »Und wenn wir schon beim Thema sind - Sie haben mir gesagt, unser Major Dean sei beim Nachrichtendienst gewesen. Ich glaube, ich würde es noch ein bisschen konkreter formulieren. Verdeckte Operationen, so was in der Richtung? Gegenspionage, Subversion?« »Jetzt spekulieren Sie, Inspector.« Rebus zuckte die Schultern. »Spielt eigentlich keine Rolle. Was zählt, ist, dass jemand Brian Cant nachspioniert hat - ein ehemaliger Polizist namens Jackie Hanson. Er betätigt sich neuerdings als Privatdetektiv. Natürlich wird er nichts über seine Klienten verraten, aber ich glaube, ich kann zwei und zwei zusammenzählen, ohne das Ergebnis zu multiplizieren. Er arbeitete für Sie, Major Dean, weil Sie sich für Brian Cant interessierten. Jacqueline war es ernst mit ihm, stimmt's? So ernst, dass sie möglicherweise die Uni geschmissen hätte. Wie sie mir erzählt hat, hatten sie sogar vor zusammenzuziehen. Sie wollten nicht, dass sie ging. Als Sie erfuhren, was Cant so... beruflich tat, wie Sie das vermutlich nennen würden, verfielen Sie auf einen Plan.« Rebus fing allmählich an, Spaß an der Sache zu haben, bemühte sich aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Sie haben Cant angerufen«, fuhr er fort, »und dabei mit irischem Akzent gesprochen. Ihr irischer Akzent dürfte ziemlich gut sein, nicht, Major? Muss er ja auch, bei jemandem, der in Ulster in der Spionageabwehr gearbeitet hat. Sie haben ihm von einem Wagen erzählt - Ihrem eigenen Wagen. Sie haben ihm einen Haufen Geld dafür geboten, dass er ihn für Sie stiehlt, und Sie haben ihm ganz genau erklärt, wo und wann er ihn finden würde. Cant war 30 geldgierig. Er hat nicht weiter nachgedacht.« Rebus wurde bewusst, dass er selbst sehr gemütlich in seinem Sessel saß, während Dean irgendwie... verwildert aussah, das war das erste Wort, das ihm in den Sinn kam. Auch Matthews sprühte innerlich Funken, obwohl er nach außen hin purer Edelstahl war, eine kalte blanke Oberfläche. »Dass Sie wussten, wie man eine Bombe baut, versteht sich von selbst. Oder, Major? >Kenne deinen Feind< und so weiter. Wie gesagt, ich war beim SAS. Aber mehr noch, Sie wussten, wie man eine IRA-Bombe baut oder zumindest eine, die nach IRA aussieht. Die Fernzündung hatten Sie in der Tasche. Sie gingen in den Laden, kauften Ihren Whiskey, und als Sie hörten, dass Ihr Wagen losfuhr, haben Sie einfach auf den Knopf gedrückt.« »Jacqueline.« Deans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Jacqueline.« Er stand auf, ging leise zur Tür und verließ das Zimmer. Er schien von Rebus' Vortrag wenig bis gar nichts mitbekommen zu haben. Rebus verspürte eine leichte Enttäuschung und wandte sich zu Matthews, der lediglich die Schultern zuckte. »Natürlich können Sie nichts davon beweisen, Inspector.« »Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich das durchaus.« »Oh, da habe ich gar keine Zweifel, gar keine Zweifel.« Matthews schwieg kurz. »Aber werden Sie das tun?« »Es muss Ihnen doch klar sein, dass er verrückt ist.« »Verrückt? Nun ja, er ist labil. Seit seine Frau...«
»Noch lang kein Grund, Brian Cant zu ermorden.« Rebus goss sich jetzt einen Whiskey ein; er hatte seltsam weiche Knie. »Wie lange wussten Sie schon Bescheid?« Matthews zuckte erneut die Schultern. »Anscheinend hat er das schon mal in Deutschland probiert. Damals hat's nicht geklappt. Also, was tun wir jetzt? Ihn festnehmen? Er dürfte kaum verhandlungsfähig sein.« 31 »Wie auch immer Sie es anstellen«, sagte Rebus, »er muss unschädlich gemacht werden.« »Keine Frage.« Matthews nickte beipflichtend. Er trat an die Anrichte. »Ein Krankenhaus, ein Ort, an dem man ihn behandeln kann. Er war seinerzeit ein guter Soldat. Ich habe seine Akte gelesen. Ein guter Soldat. Keine Sorge, Inspector Rebus, er wird unschädlich gemacht< werden, wie Sie es formulieren. Man wird sich um ihn kümmern.« Eine Hand legte sich auf Rebus' Unterarm. »Vertrauen Sie mir.« Rebus vertraute Matthews - ungefähr so weit, wie er auf der Lothian Road bei Gegenwind spucken konnte. Er unterhielt sich mit einem befreundeten Reporter, aber der Mann weigerte sich, die Story anzupacken. Er verwies Rebus an einen Enthüllungsjournalisten, der ein bisschen herumschnüffelte, aber so gut wie nichts fand. Rebus wusste nicht, wie Dean wirklich hieß. Er kannte Matthews' Vornamen oder Rang nicht, ja er wusste, um ehrlich zu sein, nicht einmal mit Sicherheit, ob er wirklich beim C13 war. Er konnte genauso gut bei der Army sein oder sich irgendwo in dieser unbestimmten Grauzone zwischen Army, Sec-ret Service und Special Branch bewegt haben. Schon am nächsten Tag hatten Dean und seine Tochter West Lodge verlassen, und zwei Wochen später wurde das Haus im Schaufenster eines Immobilienmaklers auf der George Street zum Kauf angeboten. Der Verhandlungspreis erschien überraschend niedrig, jedenfalls wenn man auf Munsters-Sxyle stand. Trotzdem würde das Haus noch lange im Schaufenster hängen. Dean suchte Rebus lediglich ein paar Nächte lang in seinen Träumen auf. Aber wie machte man einen solchen Mann schon unschädlich? Die Army hatte eine Waffe konstruiert, und die Waffe war unzuverlässig geworden, ihr 31 Visier stimmte hinten und vorne nicht mehr. Eine Waffe konnte man auseinandernehmen. Natürlich konnte man auch einen Mann auseinandernehmen. Aber dann blieb jedes Einzelteil weiterhin so tödlich wie das Ganze. Rebus sagte jeder Fiktion adieu, legte Hammett und Konsorten beiseite und nahm sich eines Abends stattdessen Psychologiebücher vor. Aber andererseits waren auch sie, auf ihre Art, mehr Dichtung als Wahrheit, oder? Fiktion? Und genau das wurde mit der Zeit auch der Fall, der kein Fall war, vom Mann, der niemals existiert hatte.
Frank und frei Es war nicht leicht, Frank zu sein. So nannten ihn alle, wenn sie ihn nicht gerade einen dreckigen alten Tramp oder einen Schnorrer oder einen Nichtstuer nannten. Frank, so nannten sie ihn. Nur die Leute vom Asyl oder vom Sozialamt machten sich die Mühe, ihn mit seinem vollen Namen anzureden: Francis Rossetti Hyslop. Rossetti, glaubte er sich zu erinnern, nicht nach dem Maler, sondern nach dessen dichtender Schwester Christina. Meistens las jemand irgendeine Autoritätsperson - diesen Namen von einem Blatt ab und schaute dann zu Frank auf, nicht direkt ungläubig, aber doch so, als ob er sich fragte, wie er so tief hatte sinken können. Er konnte den Leuten einfach nicht klarmachen, dass er in Wirklichkeit immer höher und höher stieg. Dass er lieber im Freien wohnte. Dass sein Gesicht nicht schmutzig, sondern wettergegerbt war. Dass eine Plastiktüte ein ausgesprochen praktisches Behältnis für
seine Habseligkeiten war. Stattdessen nickte er bloß und scharrte mit den Füßen - und dieses Scharren war zu seinem Markenzeichen geworden. »Da kommt er!«, riefen seine Kumpel immer. »Da kommt der shuffler« Alias Frank, alias Francis Rossetti Hyslop. Einen großen Teil des Frühlings und des Herbstes verbrachte er in Edinburgh. Manche meinten, er sei verrückt, den Sommer über die Stadt zu verlassen. Das war schließlich die einträglichste Zeit. Aber er belästigte nicht gern die 32 Touristen, und außerdem war der Sommer zum Reisen da. Normalerweise wanderte er nach Norden, durch Fife und dann weiter nach Kinross oder Perthshire, und schlug sein Lager am Ufer eines Loch oder irgendwo oben in den Bergen auf. Und wenn es ihm langweilig wurde, zog er weiter. Dass er von Wildhütern oder Polizisten zum Weiterziehen aufgefordert wurde, kam selten vor. Für manche von ihnen war er natürlich ein alter Bekannter. Aber andere, denen er begegnete, schienen ihn mehr und mehr als eine seltene Spezies zu betrachten oder, wie einer tatsächlich einmal wörtlich gesagt hatte, als ein »Nationaldenkmal«. Das stimmte natürlich. To tramp bedeutete schließlich »wandern«, und genau das taten Tramps. Früher war die Bezeichnung »Gentleman der Landstraße« durchaus zutreffend gewesen. Doch der Tramp wurde zunehmend vom Bettler abgelöst: von jungen, gesunden Männern, die sich nie aus der Stadt rausbewegten und unerbittlich in ihrer Jagd nach Kleingeld waren. Das hatte noch nie Franks Art entsprochen. Er besaß natürlich seine Stammkunden, und oft brauchte er sich nur auf eine Parkbank in den Meadows zu setzen, einer riesigen, von baumgesäumten Wegen eingefassten Grasfläche, und darauf zu warten, dass ihm das Geld in den Schoß fiel. Und genau da war er, als er die zwei Männer reden hörte. Es war ein sonniger Tag, Mittagszeit, und bei dem mageren Angebot an Meadows-Bänken gab es nur wenige freie Sitzplätze. Auf einem davon hockte Frank, die Arme verschränkt, die Augen geschlossen, die Beine, einen Fuß über den anderen geschlagen, ausgestreckt. Seine drei Plastiktüten standen neben ihm auf dem Boden, und sein Hut lag auf den Oberschenkeln - nicht weil ihm besonders heiß gewesen wäre, sondern weil man nie wissen konnte, wer, während man döste oder so tat, als döste man, den Drang verspürte, einem eine Münze hineinzuwerfen. 32 Vielleicht war seine die einzige freie Parkbank. Vielleicht war das der Grund, warum sich die Männer neben ihn setzten. Na ja, »neben ihn« war vielleicht etwas übertrieben. Sie rückten ganz an die äußerste Kante der Bank, so weit wie möglich von ihm entfernt. So aneinandergequetscht, konnten sie unmöglich bequem sitzen, und dieser Gedanke zauberte ein flüchtiges Lächeln auf Franks Gesicht. Aber dann fingen sie an zu reden - nicht direkt im Flüsterton, aber immerhin mit gesenkter Stimme. Doch der Wind wehte jedes Wort in Franks rechtes Ohr. Er versuchte, sich nicht zu verkrampfen, während er lauschte, aber es fiel ihm schwer. Versuchte, sich nicht zu bewegen, aber seine Nerven sprühten Funken. »Es ist Krieg«, sagte der eine. »Ein Kriegsrat.« Kriegsrat? Er erinnerte sich, neulich in einer Zeitung was von Terroristen gelesen zu haben. Drohungen. Ein Politiker hatte was von erhöhter Wachsamkeit gesagt. Oder Wachen? Ein Kriegsrat: Das klang unheilvoll. Vielleicht erlaubten sie sich ja nur einen Spaß mit ihm, versuchten, ihm einen Schreck einzujagen, damit er die Bank räumte und sie sie ganz für sich allein hatten. Aber er glaubte es nicht. Sie sprachen leise; sie konnten nicht davon ausgehen, dass er sie hörte. Oder vielleicht wussten sie auch einfach, dass es
keine Rolle spielte, ob ein alter Tramp sie hörte oder nicht. Wer hätte ihm schließlich schon geglaubt? Das traf ganz besonders in Franks Fall zu. Frank war von der Existenz einer weltweiten Verschwörung überzeugt. Er wusste nicht, wer dahintersteckte, aber er sah förmlich, wie sich ihre Tentakel um den ganzen Globus spannten. Alles hing miteinander zusammen, das war das ganze Geheimnis. Kriege hingen mit Waffenfabrikanten zusammen, denselben Waffenfabrikanten, die die Schusswaffen herstellten, die bei Raubüberfällen verwendet wurden oder irgendwelche Irren benutzten, wenn sie in Ame 33 rika in einem Einkaufszentrum oder einem Hamburger-Restaurant Amok liefen. Und schon hatte man damit eine Verbindung zwischen Hamburgern und Diktatoren. Und fing man damit erst an, zog die Sache nur immer weitere Kreise. Und weil Frank das alles rausgekriegt hatte, fragte er sich von Zeit zu Zeit, ob sie es auf ihn abgesehen hatten. Die Diktatoren, die Rüstungsindustrie oder vielleicht sogar die Leute, die die Brötchen für die Hamburgerketten backten. Weil er Bescheid wusste. Er war nicht verrückt; was das anging, war er sich sicher. »Wenn ich es wäre«, hatte er zu einer seiner Stammkundinnen gesagt, »würde ich mich ja wohl nicht fragen, ob ich es bin, oder?« Und sie hatte ihm recht gegeben und genickt. Sie war eine Studentin. Viele Studenten wurden mit der Zeit Stammkunden. Sie wohnten in Tollcross, Marchmont, Morningside, und wenn sie zu den Universitätsgebäuden am George Square wollten, mussten sie durch die Meadows laufen. Sie studierte Psychologie, und sie verriet Frank etwas. »Sie haben das, was man eine rege Phantasie nennt.« Ja, das wusste er. Er dachte sich jede Menge Sachen aus, erzählte sich selbst Geschichten. Damit vertrieb er sich die Zeit. Er redete sich ein, er sei früher mal RAF-Pilot, Spion, ein Royal-um-drei-Ecken, Sklavenhändler in Afrika, Poet in Paris gewesen. Aber er wusste, dass er sich alle diese Geschichten nur ausdachte, ebenso wie er wusste, dass es wirklich eine Verschwörung gab. Und diese zwei Männer hatten was damit zu tun. »Sparta«, sagte jetzt einer von ihnen. Ein Kriegsrat in Sparta. Dann hingen da also auch die Griechen mit drin. Na ja, das leuchtete irgendwie ein. Er erinnerte sich an Geschichten über die Generäle und ihre 33 Junta. Die Terroristen benutzten Griechenland als ihre Operationsbasis. Und Edinburgh hieß ja schließlich das »Athen des Nordens«. Ja! Natürlich! Deswegen gründeten sie jetzt eine Zweigstelle in Edinburgh. Eine symbolische Geste. Konnte nicht anders sein. Aber wer würde ihm das glauben? Das war das Problem, wenn man Frank hieß. Er hatte schon so viele Geschichten erzählt, der Polizei so viele Informationen über die Verschwörung geliefert, dass die ihn jetzt nur noch auslachten und sofort wieder wegschickten. Ein paar Polizisten glaubten, er sei auf eine warme Zelle für die Nacht aus, und ein-, zweimal hatten sie ihm sogar, trotz seiner Proteste, den Gefallen getan und ihn eingebuchtet. Nein, er hatte keine Lust, eine weitere Nacht hinter Gittern zu verbringen. Damit blieb nur eine einzige Möglichkeit. Er würde den Männern folgen und sehen, was er herausfinden konnte, und bis morgen warten. Auch sie redeten von morgen, als ob dann ihr Feldzug beginnen würde. Schön, morgen war Sonntag, und mit ein bisschen Glück würde Frank, wenn er in den Meadows blieb, einen weiteren Stammkunden treffen, einen, der vielleicht wusste, was zu tun war. Am Sonntagmorgen war es feucht und windig. Nicht der geeignetste Tag für einen Spaziergang. Das war John Rebus nur recht: Es bedeutete, dass sich weniger Leute auf
den Bruntsfield Links herumtreiben würden. Weniger Männer, die ihm mit dem auf- und abschwellenden Ruf »Aaachtung!« Golfbälle an den Kopf knallen würden. Verrückte Sache, dieses Golf! Er wusste, dass die Links seit vielen Jahren zu diesem Zweck benutzt wurden, aber trotzdem, bei den vielen Fußgängerwegen, die da durchführten, schien es das reinste Wunder zu sein, dass bislang noch niemand zu Tode gekommen war. 34 Er spazierte einmal um die Links, dann lief er wie gewohnt über den Melville Drive und weiter auf die Meadows. Manchmal blieb er stehen und beobachtete Sonntagskicker bei ihrem Spiel. Zu anderen Gelegenheiten schlenderte er lediglich mit gesenktem Kopf dahin und hoffte auf eine Inspiration. Der Sonntag lag für seinen Geschmack zu dicht am Montag, und Montag bedeutete immer Angehäuftes, das man aufarbeiten musste. Darüber nachzudenken nutzte natürlich nichts, aber irgendwie konnte er an nichts anderes denken. »Mr. Rebus!« Andererseits hatten die Meadows auch andere Zerstreuungen zu bieten. »Mr. Rebus!« »Hallo, Frank.« »Setzen Sie sich.« Rebus ließ sich auf der Parkbank nieder. »Sie sehen irgendwie ganz aufgeregt aus.« Frank nickte lebhaft. Obwohl er saß, vollführte er mit den Füßen kleine, scharrende Tanzbewegungen auf dem Boden. Dann sah er sich um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand lauschte. O nein, dachte Rebus, gleich geht's wieder los. »Krieg«, flüsterte Frank. »Ich hab zwei Männer gehört, die darüber redeten.« Rebus seufzte. Sich mit Frank zu unterhalten war so, als läse man eins der Revolverblätter vom Sonntag - auch wenn seine Storys zugegebenermaßen manchmal glaubwürdiger klangen. Heute schien allerdings keiner dieser Tage zu sein. »Über den Krieg redeten? Welchen Krieg?« »Terrorismus, Mr. Rebus. Kann nicht anders sein. Sie hatten einen Kriegsrat in Sparta gehalten. Das ist in Griechenland.« 34 »Dann waren das also Griechen?« Frank legte sein Gesicht in Falten. »Ich glaube nicht. Aber ich kann Ihnen eine Beschreibung der beiden geben. Sie trugen beide Anzüge. Der eine war klein und glatzköpfig, der andere jung, größer und hatte schwarzes Haar.« »Internationale Terroristen in Anzügen sieht man heutzutage eher selten, nicht?«, bemerkte Rebus. Eigentlich, dachte er, stimmt das gar nicht: Die Typen werden sogar immer eleganter. Jedenfalls hatte Frank eine Antwort parat. »Die müssen sich ja schließlich verkleiden, oder? Ich bin ihnen gefolgt.« »Ach ja?« Nicht weit von ihnen fing ein Fußballspiel an. Rebus konzentrierte sich auf den Anstoß. Er mochte Frank, aber es gab Tage... »Sie sind zu einem Bed and Breakfast in der Nähe der Links.« »Tatsächlich?« Rebus nickte langsam. »Und sie sagten, es würde heute losgehen. Heute, Mr. Rebus.« »Die trödeln nicht, was? Sonst noch etwas?« Frank runzelte nachdenklich die Stirn. »Was von einem Klo oder Chlor. Muss aber wohl eher Chlor gewesen sein, oder? Giftgas! Und Geld, darüber haben sie geredet. Geld, das sie brauchten, um die Sache durchzuziehen. Das war's aber auch so ziemlich.« »Tja, danke für die Informationen, Frank. Ich werde die Ohren offen halten, vielleicht schnappe ich ja was auf. Aber hören Sie, beschatten Sie keine Leute mehr. Sie könnten in Teufels Küche kommen!«
Frank schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen. »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte er endlich, »aber ich bin zäher, als ich aussehe, Mr. Rebus.« Rebus war aufgestanden. »So, ich sollte mich jetzt bes 35 ser auf den Weg machen.« Er steckte die Hände in die Taschen. Die Rechte kam mit einer Ein-Pfund-Note wieder zum Vorschein. »Hier, Frank.« Er machte Anstalten, ihm das Geld zu geben, zog dann die Hand wieder zurück. Frank wusste, was jetzt kam, und grinste. »Nur eine Frage«, sagte Rebus, wie er es immer tat. »Wo verbringen Sie den Winter?« Das war eine Frage, die Frank von vielen seiner Kumpels zu hören bekam. »Ich dachte schon, du wärst tot«, sagten sie jeden Frühling, wenn er wieder in ihr Leben spaziert kam. Die Antwort, die er Rebus gab, war die gleiche wie immer. »Ah, das kann ich nicht verraten, Mr. Rebus. Das ist mein Geheimnis.« Das Geld wechselte den Besitzer, und Rebus schlenderte, einen Stein vor sich her kickend, in Richtung Jawbone Walk. »Jawbone« wegen des Wal-Unterkiefers, der an dem einen Ende des Wegs einen Bogen bildete. Frank wusste das. Frank wusste eine Menge Dinge. Aber er wusste auch, dass Rebus ihm nicht geglaubt hatte. Tja, schön doof von ihm. Seit über einem Jahr trieben sie jetzt schon dieses Spielchen: Wo verbrachte Frank den Winter? Frank wusste selbst nicht genau, warum er nicht einfach sagte: bei meiner Schwester in Dunbar. Vielleicht weil es die Wahrheit, vielleicht weil es wirklich ein Geheimnis war. Rebus sah ihm auch wie ein Mann mit Geheimnissen aus. Vielleicht würde Rebus eines Tages zu einem Spaziergang aufbrechen und nie wieder zurückkehren, einfach nur immer weiterwandern, so wie Frank es getan hatte. Was hatte die Studentin noch mal gesagt? »Manchmal glaube ich, dass wir alle >Gentlemen der Landstraße< sind. Es ist bloß so, dass die meisten von uns nicht den Mut haben, diesen ersten Schritt zu tun.« Blödsinn: Der erste Schritt war der leichteste. Der hundertste, der tausendste, der millionste: Die waren schwierig. 35 Aber nicht so schwierig wie zurückzukehren - so schwierig niemals. Rebus hatte die Stufen hinauf zu seiner Wohnung im zweiten Stock schon so manches Mal gezählt. Es kam immer wieder dieselbe Zahl heraus. Woran lag es dann, dass es mit den Jahren immer mehr zu werden schienen? Vielleicht war es die Höhe der einzelnen Stufen, die sich änderte. Gib's zu, John. Gib's ein einziges Mal zu: Du bist es, der sich ändert. Du wirst älter und steifer in den Gelenken. Früher bist du nie auf dem ersten Treppenabsatz stehen geblieben, hast nie vor Mrs. Cochranes Tür herumgelungert und diesen Geruch eingeatmet, den nur Johannisbeersträucher und Katzenpisse verströmen. Wie konnte eine einzige Katze so viel Gestank produzieren? Rebus hatte sie schon oft gesehen: ein fettes, selbstgefällig dreinschauendes Vieh mit hartem Blick. Er hatte sie einmal auf seinem eigenen Treppenabsatz erwischt, und sie hatte ihm einen schuldbewussten Blick über die Schulter zugeworfen, bevor sie zum nächsten Stock hinaufgewischt war. Jetzt aber stand sie direkt hinter Mrs. Cochrans Tür. Er hörte, wie sie miaute, am Teppich kratzte, unbedingt rauswollte. Er wunderte sich. Vielleicht war Mrs. Cochrane krank? Ihm war schon aufgefallen, dass ihr Messingschild in letzter Zeit etwas angelaufen aussah. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, es zu polieren. Wie alt war sie eigentlich? Es schien sie schon so lang zu geben wie das Haus, fast so, als hätte man das Ding um sie herumgebaut. Mr. und Mrs. Costello vom letzten Stock wohnten seit bald fünfundzwanzig Jahren hier, aber sie sagten, als sie einzogen, sei Mrs. Cochrane schon da gewesen. Dasselbe Messingschild an ihrer Tür. Andere Katze natürlich, und einen
Ehemann hatte sie auch gehabt. Na ja, der war schon tot gewesen, als Rebus und seine Frau - mittlerweile Exfrau 36 hier eingezogen waren. Wann war das noch mal gewesen, vor zehn Jahren? Wirst langsam alt, John. Wirst langsam alt. Er klammerte sich mit der linken Hand an das Geländer und bewältigte irgendwie die letzte Treppe bis zu seiner Tür. Er nahm sich das Kreuzworträtsel in einer der Zeitungen vor, legte irgendeine Jazzplatte auf, trank eine Kanne Tee. Ein Sonntag wie jeder andere auch. Tag der Ruhe. Aber die bevorstehende Woche ging ihm immer wieder durch den Kopf. Nicht gut. Er brühte sich eine weitere Kanne Tee auf, und diesmal gab er auch einen Schuss J&B in den Becher. Schon besser. Und dann klingelte es natürlich an der Tür. Die Zeugen Jehovas. Na, Rebus hatte eine Antwort für sie parat. Ein Freund, der sich auskannte, hatte ihm gesagt, Katholiken bekämen beigebracht, wie sie den überzeugenden Argumenten der ZJs begegnen konnten. Einfach sagen, dass man katholisch ist, und sie verschwinden. »Ich bin katholisch«, sagte er. Sie verschwanden nicht. Zwei Männer in dunklen Anzügen. Der Jüngere stand ein Stückchen hinter dem Älteren. Was keine Rolle spielte, da er gut anderthalb Köpfe größer als der andere war. Er trug einen Aktenkoffer. Der Boss dagegen hielt nur ein Blatt Papier in der Hand. Er starrte stirnrunzelnd darauf. Er sah Rebus an, als schätzte er ihn ab, dann wieder auf sein Blatt. Er schien nicht gehört zu haben, was Rebus gesagt hatte. »Ich bin katholisch«, wiederholte Rebus, aber mit wenig Überzeugung. Der Mann schüttelte den Kopf. Vielleicht waren das ja ausländische Missionare, ausgesandt, um die schottischen Heiden zu bekehren. Er zog noch einmal seinen Wisch zurate. »Ich glaube, das ist die falsche Adresse«, sagte er. »Gibt es hier keinen Mr. Bakewell?« 36 »Bakewell?« Rebus fing an, sich zu entspannen. Ein simples Missverständnis; das waren keine ZJs, auch keine Vertreter, Schwarzarbeiter oder Zigeuner. Sie hatten lediglich an der falschen Tür geklingelt. »Nein«, sagte er, »der gute Mr. Bakewell ist nicht hier. Und seine schlechte Misses auch nicht.« Ah, was lachten die da! Lachten sogar lauter, als Rebus erwartet hatte. Sie lachten noch immer, als sie sich entschuldigten und wieder zur Treppe wandten. Rebus schaute ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Er selbst hatte praktisch zu lachen aufgehört, bevor die überhaupt damit angefangen hatten. Er vergewisserte sich, dass die Schlüssel in seiner Tasche steckten, und knallte dann seine Wohnungstür zu - aber von außen. Ihre Schritte sandten zischende Echos zum Oberlicht empor. Was hatte ihn an den beiden gestört? Er hätte es beim besten Willen nicht sagen können. Da war einfach irgendetwas gewesen. Wie der ältere, kleinere Mann ihn mit einem einzigen Blick abgeschätzt und dann diesen Namen, Bakewell, genannt hatte. Wie herzlich der jüngere Mann gelacht hatte, als fiele ihm so richtig ein Stein vom Herzen. Was für ein Stein? Nervliche Anspannung, offensichtlich. Die Schritte waren verstummt. Vor Mrs. Cochranes Tür. Ja, das war das Ting-ting-ting ihrer antiquierten Klingel, die Sorte, an der man ziehen musste und dadurch die Feder an der Glocke direkt hinter der Tür spannte und freigab. Hinter der Tür, die sich jetzt öffnete. Der ältere Mann sprach. »Mrs. Cochrane?« Na, der Name stimmte ja wenigstens. Andererseits stand er auf ihrem Namensschild, oder? Da war es wirklich keine Kunst... »Aye.« Mrs. Cochrane war, wie Rebus wusste, nicht die Einzige, die es fertigbrachte, in diese eine Silbe nicht nur einen fragenden Ton, sondern auch gleich die Bedeutung
37 eines ganzen Satzes zu legen. Ja, ich bin Mrs. Cochrane, und wer bitte schön sind Sie, und was wollen Sie? »Ich komme vom Betriebsrat des Elektrizitätswerks.« Elektrizitätswerk! Kein Problem also: Rebus bezahlte seine Stromrechnung pünktlich, zapfte keine öffentlichen Leitungen an und verhielt sich in der Hinsicht überhaupt wie ein vorbildlicher Staatsbürger. Die beiden waren vielleicht hinter Bakewell her, aber Rebus war aus dem Schneider. »Es geht um einen neuen Spartarif.« »Spartarif?«, echote Mrs. Cochrane. Spartarif?, dachte Rebus. »Ja, Stromspartarif. Ein besonderes Angebot für unsere älteren Mitbürger. Sie werden dazu einen neuen Stromzähler brauchen. Ich bin gekommen, um mit Ihnen darüber zu reden.« »Stromzähler? Hier, meinen Sie?« Er war geduldig, das musste ihm Rebus schon lassen. »Richtig, Mrs. Cochrane. Hier bei Ihnen in der Wohnung.« Das ging noch ein Weilchen so weiter, dann verschwanden sie alle in der Wohnung, um über Mrs. Cochranes neuen Spartarif zu reden. Rebus schloss seine Wohnungstür auf und ging ebenfalls hinein. Dann fiel der Groschen, und er klatschte sich mit der Hand an die Stirn. Das waren die zwei Männer, von denen Frank-der-Shuffler erzählt hatte! Natürlich waren sie das, bloß dass Frank sich verhört hatte: »Kriegsrat« war Betriebsrat; »Sparta« war Spartarif. Was hatte Frank sonst noch gesagt? Etwas von Geld: Schön, das konnte das Geld für den Einbau des neuen Zählers sein. Dass alles am Sonntag losgehen sollte: Und da waren sie auch, am Sonntag, um mit den Anwohnern über die anstehenden Installationsarbeiten zu sprechen. Was für Installationsarbeiten? Seit wann kümmerte sich der Betriebsrat des E-Werks um den Einbau von Strom37 Zählern? Und dazu noch am Sonntag? Und noch etwas, das Frank gehört hatte. Klo oder Chlor. Natürlich hatte seine geliebte Verschwörungstheorie ihn dazu veranlasst, auf »Chlor« zu tippen, aber was, wenn er sich da ebenfalls verhört hatte? Aber wie ließen sich Klos in die Geschichte einbauen? Und falls diese beiden wirklich die zwei Männer waren, wieso in aller Welt wohnte ein Mitarbeiter des Edinburgher E-Werks in einer Pension? Konnte natürlich sein, dass sie ihm gehörte. Vielleicht führte seine Frau sie. Rebus war ein paar Schritte weiter seinen Flur entlanggegangen, als ein zweiter Groschen fiel. Er blieb abrupt stehen. Langsam, John, langsam. Vielleicht lag's ja am Whisky. Und Herr Jesus, war es nicht sonnenklar, wenn man erst mal draufkam? Er ging zurück zur Wohnungstür, öffnete sie leise und huschte hinaus ins Treppenhaus. Sich in einem Edinburgher Treppenhaus lautlos zu bewegen war ein Ding der Unmöglichkeit. Das Geräusch von Schuh auf Stein, ein Geräusch wie Schmirgelpapier im Einsatz, wurde verstärkt und verzerrt und prallte von sämtlichen Wänden ab, rauf und runter. Rebus schlüpfte aus den Schuhen und ließ sie vor seiner Tür stehen, dann machte er sich auf den Weg nach unten. Vor Mrs. Cochranes Wohnungstür blieb er stehen und lauschte. Gedämpfte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Ihre Wohnung hatte denselben Grundriss wie seine: ein langer Flur, von dem ein halbes Dutzend Türen abgingen, deren letzte - eigentlich schon um die Ecke - ins Wohnzimmer führte. Er kauerte sich wieder und hob die Briefschlitzklappe. Die Katze stand direkt hinter der Tür und patschte mit der Pfote nach ihm. Er ließ die Klappe fallen.
Dann versuchte er sein Glück mit dem Türknauf - und tatsächlich ließ er sich umdrehen. Die Tür ging auf. Die Katze wischte an ihm vorbei und die Treppe hinunter. Allmählich hatte Rebus das Gefühl, dass das Glück ihm hold 38 war. Die Tür war gerade so weit aufgegangen, dass er sich hindurchquetschen konnte. Ein, zwei Fingerbreit weiter auf, und sie hätte, wie er wusste, verdammt laut geknarrt. Er schlich sich auf Zehenspitzen in den Flur. Die Stimme des älteren Betriebsrats dröhnte aus dem Wohnzimmer. »Darmprobleme. Furchtbar, bei einem so jungen Menschen.« Ja, er erklärte allem Anschein nach gerade, warum sein Assistent so lange auf dem Klo brauchte: Das war die Ausrede, die sie immer verwendeten. Na ja, entweder das oder ein Glas Wasser. Rebus kam an der Toilette vorbei. Die Tür war nicht abgeschlossen und das winzige Kabuff leer. Er drückte die nächste Tür auf - Mrs. Cochranes Schlafzimmer. Der junge Mann machte gerade den Kleiderschrank zu. »Na«, sagte Rebus, »ich hoffe doch sehr, Sie haben nicht den für das Klo gehalten.« Der Mann fuhr herum. Rebus versperrte den Durchgang. Es ging kein Weg an ihm vorbei; der einzige Weg aus dem Zimmer führte mitten durch ihn hindurch, und den schlug der Mann ein und galoppierte gesenkten Kopfes auf ihn zu. Rebus trat einen Schritt zurück, um genug Platz und Zeit zu haben, und stieß dann mit dem Knie nach oben; er hatte auf den Nasenrücken gezielt, erwischte aber den Mund. Nun ja, das war schließlich keine genaue Wissenschaft. Der Mann flog wie eine weggeworfene Flickenpuppe zurück und landete rücklings auf dem Bett. K.o., wie Rebus befriedigt feststellte. Sie hatten natürlich den Lärm gehört, und der »Betriebsrat« war bereits unterwegs. Aber auch er würde an Rebus vorbeikommen müssen, um die Wohnungstür zu erreichen. Er blieb abrupt stehen. Rebus nickte gemächlich. »Weise Entscheidung«, sagte er. »Ihr Kollege wird ein paar neue Zähne brauchen, wenn er erst mal wieder wach 38 ist. Ich bin übrigens Polizeibeamter. Und Sie, Herr Betriebsrat, sind festgenommen.« »Sie nehmen den Herrn Betriebsrat fest?« Dies aus dem Mund Mrs. Cochranes, die gerade im Korridor erschienen war. »Er ist genauso sehr Betriebsrat wie ich, Mrs. Cochrane. Er ist ein Schwindler. Sein Partner durchwühlte gerade Ihr Schlafzimmer.« »Was?« Sie ging nachsehen. »Bakewell«, sagte Rebus lächelnd. Sie wendeten an jeder Tür, an der sie den Eindruck hatten, dass ihre Chancen schlecht standen, immer wieder dieselbe List an. Verzeihung, falsche Adresse, und weiter zum nächsten potenziellen Trottel, bis sie jemanden fanden, der alt oder leichtgläubig genug war. Rebus versuchte, sich zu erinnern, ob Mrs. Cochrane Telefon besaß. Ja, da stand doch eins bei ihr im Wohnzimmer, oder? Er wandte sich mit einer auffordernden Geste an seinen Gefangenen. »Gehen wir ins Wohnzimmer«, sagte er. Rebus konnte von dort aus die Wache anrufen. Mrs. Cochrane stand wieder neben ihm. »Blut auf meinem guten Federbett«, brummelte sie. Dann fiel ihr auf, dass Rebus in Strümpfen war. »Sie holen sich noch Frostbeulen, mein Sohn«, sagte sie. »Hören Sie auf mich. Sie sollten besser auf sich achtgeben. So ganz für sich allein zu leben! Sie brauchen jemanden, der sich um Sie kümmert. Hören Sie auf mich. Er hatte mir erzählt, er sei vom Betriebsrat des Elektrizitätswerks. Ist denn das zu glauben! Und wo ich mit den Leuten schon seit Ewigkeiten wegen der flackernden Laterne draußen vor dem Haus reden wollte!« »Hallo, Shuffler.«
»Mr. Rebus! Freier Tag, was? Unter der Woche sehe ich Sie hier doch sonst so gut wie nie.« 39 Frank saß wieder auf seiner Parkbank, eine aufgeschlagene Zeitung auf dem Schoß. Eine Zeitung vom Vortag. Darin stand eine Story über eine schwarzmagische Verschwörung in den Vereinigten Staaten. Reiche Leute, wurde vermutet, einflussreiche Leute, trafen sich zu allerlei Orgien und Ritualen. Ja, und die Waffenfabrikanten waren bestimmt auch mit von der Partie. Auf die Art lernten sie Politiker und Banker kennen. Alles hing miteinander zusammen. »Nein, ich muss gleich zur Arbeit. Ich wollte bloß mal kurz vorbeischauen. Hier.« Er hielt ihm einen Zehn-Pfund-Schein hin. Frank beäugte die Banknote argwöhnisch, streckte die Hand danach aus und nahm sie. Was denn? Wollte Rebus nicht einmal die Frage stellen? »Sie hatten recht«, sagte Rebus. »Was Sie mir über diese zwei Männer erzählt haben, das stimmte hundertprozentig. Na ja, fast hundertprozentig. Halten Sie weiterhin die Ohren offen, Frank. Und in Zukunft werde ich versuchen, die Ohren offen zu halten, wenn Sie mir was erzählen.« Und dann drehte er sich um und ging davon, quer über die Rasenfläche in Richtung Marchmont. Frank starrte auf das Geld. Zehn Pfund. Genug, um eine weitere lange Wanderung zu finanzieren. Er brauchte eine lange Wanderung, um einen klaren Kopf zu bekommen. Jetzt, wo die in Sparta ihren Kriegsrat gehalten hatten, würden sie sich wohl statt Chlor irgendwelche Zaubertränke für satanische Rituale beschaffen. Sie würden die Politiker in Trance versetzen und... Nein, nein, daran durfte man gar nicht erst denken! »Mr. Rebus!«, rief er. »Mr. Rebus! Ich fahr zu meiner Schwester! Sie wohnt in Dunbar! Dort verbringe ich immer den Winter!« Aber falls die Gestalt in der Ferne ihn hörte, ließ sie es sich durch nichts anmerken. Ging einfach weiter. Frank 39 scharrte mit den Füßen. Mit zehn Pfund konnte man ein Transistorradio kaufen oder ein Paar Schuhe oder einen neuen Hut, vielleicht einen kleinen Campingkocher. Das war das Problem, wenn man Geld hatte: Das lief immer darauf hinaus, dass man Entscheidungen treffen musste. Und wenn man etwas kaufte, wo sollte man es dann hintun? Er würde dann entweder was wegwerfen müssen -oder sich eine weitere Tragetasche zulegen. Das war das Problem, wenn man Frank war.
Eine Leiche im Keller »Es ist unglaublich, was man in diesen alten Häusern nicht so alles findet«, sagte der Bauunternehmer, ein Mann mittleren Alters in Sicherheitshelm und Overall. Unter dem Overall lugten Hemd und Schlips hervor, die Kennzeichen seines Status. Er war der Chef, der Boss. Nichts konnte ihn noch überraschen, nicht einmal ein einbetoniertes Skelett. »Wissen Sie«, fuhr er fort, »im Lauf der Zeit hab ich von alten Münzen bis hin zu einer Taschenuhr so ziemlich alles gefunden. Also, was schätzen Sie, wie alt er ist?« »Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, dass er ein Er ist - noch nicht. Lassen Sie uns ein bisschen Zeit, Mr. Beesford.« »Schön, wann können wir hier weiterarbeiten?« »Heute im Lauf des Tages.« »Muss ja ganz schön alt sein, was?« »Wie kommen Sie darauf?« »Na, er hat doch nichts an, oder? Die Kleidung ist restlos weggefault. Das braucht schon seine Zeit, jede Menge Zeit...« Da war was dran, das musste Rebus dem Mann lassen. Andererseits, der Betonfußboden, unter dem man die Knochen gefunden hatte... der sah nicht so alt aus. Rebus ließ noch
einmal den Blick durch den Keller schweifen. Er lag knapp ein Stockwerk unter Straßenniveau, im Untergeschoss eines alten Hauses auf der Cowgate. Rebus war oft auf der Cowgate; das Leichenschauhaus lag mal ge 40 rade ein paar Schritte weiter die Straße entlang. Er wusste, dass die älteren Gebäude in diesem Teil der Stadt ein regelrechtes Labyrinth bildeten, lange, enge Tunnel führten hierhin, dorthin und, wie es schien, überallhin, halbkreisförmig im Querschnitt und gerade so hoch, dass man darin aufrecht stehen konnte. Dieses spezielle Haus hier bekam gerade die volle Behandlung - Entkernung, neues Abwassersystem, neue elektrische Leitungen. Sie waren dabei gewesen, den Kellerfußboden aufzustemmen, um neue Abwasserrohre zu verlegen, und auch, weil es da feucht zu sein schien - jedenfalls roch es ziemlich muffig - und man der Sache auf den Grund gehen musste. Sie erwarteten, alte Abwasserrohre zu finden, vielleicht offene Abzugsrinnen. Vielleicht sogar eine Wasserader, irgendetwas, das die Feuchtigkeit verursachen konnte. Stattdessen legten ihre Presslufthämmer die Überreste einer Leiche frei, die möglicherweise seit mehreren hundert Jahren dort lag. Allerdings war da der Betonfußboden. Der konnte doch wohl nicht älter als fünfzig, sechzig Jahre sein. Konnte Kleidung in so kurzer Zeit verrotten? Vielleicht durch die Feuchtigkeit... Rebus fand es in dem Keller beklemmend. Der Geruch, das düstere Zwielicht, das die tragbaren Lampen verbreiteten, der Staub. Aber die Fotografen waren fertig, ebenso der Pathologe, Dr. Curt. Er konnte in diesem frühen Stadium der Untersuchung noch nicht viel sagen, außer dass er es in der Regel vorzog, wenn Leichen im Keller etwas mehr Fleisch auf den Knochen hatten. Sie würden Letztere, nebst Proben vom umliegenden Erdreich und Schutt, mitnehmen, und dann würde man ja sehen. »Die Archäologie liegt nicht ganz auf meiner Linie«, fügte der Arzt hinzu. »Das wird auf jeden Fall eine ziemliche Knochenarbeit.« Und er lächelte sein übliches Lächeln. 40 Es dauerte mehrere Tage, bis der Anruf kam. Rebus nahm ab. »Ja?« »Inspector Rebus? Dr. Curt hier. Zu unserem magersüchtigen Freund.« »Ja?« »Männlich, eins sechzig groß, dürfte dreißig bis fünfunddreißig Jahre lang dort unten gelegen haben. Erlitt irgendwann eine Fraktur des linken Beins, lange vor seinem Ableben. Die ist gut verheilt. Aber der kleine Finger seiner linken Hand wurde einmal ausgerenkt, und der ist nicht so gut ausgeheilt. Ich würde mal tippen, dass er zeit seines Lebens krumm geblieben ist. Ideal für die Teilnahme an piekfeinen Teegesellschaften.« »Ja?« Rebus wusste verdammt gut, dass Curt noch etwas in der Hinterhand hatte. Ebenso gut wusste er aber auch, dass Curt kein Mann war, der sich hetzen ließ. »Untersuchungen der Boden- und Kiesproben aus der Umgebung des Skeletts zeigen Spuren von menschlichem Gewebe, aber keinerlei textile Fasern oder sonst etwas, das einmal Kleidung gewesen sein könnte. Keine Schuhe, Socken, Unterhosen, nichts. Alles in allem würde ich sagen, dass man ihn im Adamskostüm dort verbuddelt hat.« »Aber ist er dort gestorben?« »Kann ich nicht sagen.« »Also gut, woran ist er dann gestorben?« Man hörte fast ein Lächeln in Curts Stimme. »Ich dachte schon, Sie würden nie fragen, Inspector. Schädeltrauma, ein mit beträchtlicher Wucht ausgeführter Schlag auf den Hinterkopf. Mord, würde ich sagen. Ja, eindeutig Mord.« Es gab natürlich Möglichkeiten bei Toten, zu einer fast hundertprozentig sicheren Identifizierung zu gelangen. Aber je weiter das Verbrechen zurücklag, umso unwahr 40
scheinlicher wurde ein solches Resultat. Zahnärztliche Unterlagen zum Beispiel. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden sie einfach nicht so gewissenhaft aufbewahrt, wie das heutzutage der Fall ist. Ein Zahnarzt, der damals praktiziert hatte, spielte jetzt höchstwahrscheinlich den ganzen Tag Golf. Und die Akte eines Patienten, der seit 1960 nicht mehr zu seiner Vorsorgeuntersuchung gekommen war? Weggeworfen, aller Wahrscheinlichkeit nach. Außerdem waren die Zähne des Mannes, wie Dr. Curt erklärt hatte, ziemlich gesund gewesen - ein paar Füllungen, eine einzige Extraktion. Das Gleiche galt für allgemeinmedizinische Unterlagen, was Rebus nicht davon abhielt, trotzdem sein Glück zu versuchen. Ein gebrochenes linkes Bein, ein ausgerenkter linker kleiner Finger. Vielleicht würde sich irgendein steinalter Arzt noch daran erinnern? Vielleicht auch nicht. Fast mit Sicherheit nicht. Die Lokalzeitungen zeigten Interesse, was immer von Vorteil war. Sie erhielten sämtliche Informationen, über die die Polizei verfügte, aber die veröffentlichten Angaben schienen bei niemandem irgendwelche Erinnerungen wachzurufen. Curt hatte gesagt, dass er kein Archäologe war; nun, dafür war Rebus kein Historiker. Er wusste, dass andere Fälle - aktuelle Fälle - auf ihn warteten. Die Akten, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, redeten eine deutliche Sprache. Er würde diesem einen Fall ein paar Tage seiner Zeit widmen. Wenn die Sackgassen anfingen, ihn einzukreisen, würde er die Sache hinschmeißen und sich wieder dem Hier und Jetzt zuwenden. Wem hatte das Haus in den Fünfzigerjahren gehört? Das herauszufinden, war nicht weiter schwierig: einer Weinimportfirma. Hillbeith Vintners, trotz des Plurals im Namen ein Ein-Mann-Betrieb, hatte dort von 1948 bis 1967 seine Geschäftsräume gehabt. Und ja, es gab noch immer einen 41 Mr. Hillbeith, nun im Ruhestand und wohnhaft in Burntisland, jenseits des Förth, in einem Haus mit Blick auf silberne Sandflächen und dahinter die graue Nordsee. Er besaß noch immer einen Weinkeller und bestand darauf, dass Rebus »ein Schlückchen« daraus »verkostete«. Rebus gewann den Eindruck, dass Mr. Hillbeith sich über jeden Besucher freute - eine gesellschaftsfähige Ausrede, um ein Gläschen zu trinken. Er ließ sich im Keller Zeit (da mussten über fünfhundert Flaschen liegen) und kam mit Spinnweben an seiner Strickjacke und einer staubigen Flasche von etwas ganz Besonderem in der Hand wieder zum Vorschein. Er entkorkte die Flasche und stellte sie auf den Kaminsims. Es würde jetzt noch allermindestens eine gute halbe Stunde dauern, sagte er, bevor sie mit nennenswertem Gewinn ein Glas trinken konnten. Mr. Hillbeith war, wie er Rebus verriet, vierundsiebzig und fast ein halbes Jahrhundert im Weingeschäft tätig gewesen. Er hatte »nicht einen Tag, nicht einen einzigen Tag, nicht einmal eine Stunde« bereut. Du Glücklicher, dachte Rebus. »Erinnern Sie sich daran, wie Sie sich im Keller einen neuen Boden legen ließen, Mr. Hillbeith?« »Aber ja. In diesem bestimmten Keller hatte ich eigentlich rote Spitzenbordeaux lagern wollen. Er hatte genau die richtige Temperatur, wissen Sie, und es gab darin keine Erschütterungen durch vorbeifahrende Busse und Ähnliches. Aber er war feucht, von Anfang an, seit ich da eingezogen war. Also habe ich einen Bauunternehmer angerufen, damit er sich da mal umschaute. Er hat mir zu einem neuen Fußboden und ein paar weiteren Änderungen geraten. Das war alles nicht weiter kompliziert, und der Kostenvoranschlag erschien mir annehmbar, also habe ich ihm den Auftrag erteilt.« »Und wann war das, Sir?« 41 »1960. Im Frühjahr. Da sehen Sie, wenn's um Geschäftliches geht, funktioniert mein Gedächtnis noch einwandfrei.« Seine kleinen Augen strahlten Rebus durch die dicken
Brillengläser an. »Ich kann Ihnen sogar sagen, wie viel mich die Arbeiten gekostet haben... das war auch nicht wenig für die damalige Zeit. Und für nichts und wieder nichts, wie sich dann herausstellte. Der Keller war weiterhin feucht, und es roch darin immer noch so... na ja, ein sehr ungesunder Geruch. Ich konnte mit dem Bordeaux kein Risiko eingehen, also ist der Keller einfach mein Lagerraum geworden - für leere Flaschen, Gläser, Versandkisten, solche Dinge.« »Erinnern Sie sich zufällig, Mr. Hillbeith, ob der Geruch auch schon da war, bevor der neue Fußboden reinkam?« »Na ja, gerochen hat es da auf jeden Fall auch schon vorher, aber nachdem der Betonboden drin war, roch es irgendwie anders.« Er stand auf, holte zwei Kristallgläser aus der Porzellanvitrine und vergewisserte sich, dass sie nicht staubig waren. »Es wird jede Menge Unsinn über Wein geredet, Inspector. Übers Dekantieren, über die jeweilige Art von Gläsern, die man benutzen sollte, und so weiter. Dekantieren kann natürlich von Vorteil sein, aber mir ist es lieber, die Flasche in der Hand zu spüren. Die Flasche gehört schließlich zum Wein dazu, stimmt's?« Er reichte Rebus ein leeres Glas. »Wir werden noch ein paar Minuten warten.« Rebus schluckte trocken. Es war eine lange Anfahrt gewesen. »Erinnern Sie sich noch an den Namen des Unternehmens, Sir, der Firma, die die Arbeiten durchführte?« Hillbeith lachte. »Wie könnte ich ihn vergessen haben? Abbot & Ford hieß die Firma. Ich meine, so einen Namen vergisst man nicht, oder? Abbot & Ford. Na, weil es doch wie >Abbotsford< klingt, Sie verstehen? Wie das Haus von Sir Walter Scott? Wohlgemerkt, das war nur eine kleine 42 Firma. Aber den einen von beiden kennen Sie ja vielleicht, Alexander Abbot.« »Von Abbot Building?« »Genau. Er hat es inzwischen ordentlich zu was gebracht, nicht? Zu einem richtigen Vermögen. Hat auch ein recht ansehnliches Unternehmen aufgebaut, aber angefangen hat er ganz klein, wie die meisten von uns auch.« »Wie klein, was würden Sie sagen?« »Och, klein, klein. Grad ein paar Mann.« Er erhob sich und streckte die Hand nach der Weinflasche auf dem Kaminsims aus. »Ich glaube, der dürfte jetzt bereit zum Verkosten sein, Inspector. Wenn Sie mir Ihr Glas hinhalten -« Hillbeith schenkte langsam, bedächtig ein, sorgsam darauf bedacht, dass nichts vom Depot in das Glas kam. Sich selbst goss er ziemlich großzügig ein. Der Wein war rötlich braun. »Robe und Spiegel nicht vielversprechend«, murmelte er in sich hinein. Er schwenkte das Glas und musterte es. »Tränen ebenso wenig.« Er seufzte. »O je.« Schließlich schnüffelte Hillbeith ängstlich gespannt am Glas und nippte dann daran. »Prost«, sagte Rebus und genehmigte sich einen Mundvoll. Einen Mundvoll Essig. Er schaffte es irgendwie, ihn hinunterzuschlucken, sah dann, wie Hillbeith ins Glas spuckte. »Oxidiert«, sagte der alte Mann in einem Ton, als hätte man ihm einen grausamen Streich gespielt. »Das kommt vor. Am besten überprüfe ich noch ein paar weitere Flaschen, um den Umfang des Schadens abschätzen zu können. Bleiben Sie noch, Inspector?«, fragte Hillbeith hoffnungsvoll. »Tut mir leid, Sir«, antwortete Rebus, der seinen Abgangsspruch parat hatte. »Ich bin noch im Dienst.« 42 Alexander Abbott, fünfundfünfzig Jahre alt, empfand sich nach wie vor als die treibende Kraft hinter der Abbot Building Company. Es mochten ein Dutzend Führungskräfte wie besessen unter ihm arbeiten, aber hervorgegangen war die Firma aus seiner Energie und seiner Besessenheit. Er war der Generaldirektor und ein vielbeschäftigter Mann dazu. Als
er Rebus im Direktionsbüro von ABC empfing, ließ er diesbezüglich keine Zweifel aufkommen. Das Büro strahlte unternehmerisches Selbstbewusstsein aus, aber andererseits bedeutete das nach Rebus' Erfahrung für sich genommen noch nicht viel. Häufig waren es gerade die finanzschwachsten Firmen, die sich bemühten, möglichst gute Außenwirkung zu erzielen. Trotzdem, Alexander Abbot schien mit dem Leben durchaus zufrieden zu sein. »In einer Rezession«, erklärte er, während er sich eine überlange Zigarre ansteckte, »reduziert man ruckzuck seine Belegschaft. Man hält sich an Stammkunden mit guter Zahlungsmoral und nimmt nicht zu viele Aufträge von Kunden an, die man nicht kennt. Das sind diejenigen, die einen am ehesten linken oder in den Bankrott treiben und nichts als Rechnungen hinterlassen. Junge Firmen... die erwischt's in einer Rezession immer am härtesten: keine Rücklagen, Sie verstehen. Dann, wenn's mal wieder ein paar Jahre lang aufwärts geht, klopft man sich den Staub ab, haut wieder mächtig auf die Werbetrommel und stellt die Leute, die man entlassen hatte, wieder ein. In dem Punkt sind wir Jack Kirkwall immer um ein paar Nasenlängen voraus.« Kirkwall Construction war ABCs größter Konkurrent in den Lowlands, zumindest was Aufträge mittlerer Größe anbelangte. Ohne Frage war Kirkwall das größere Unternehmen von beiden. Es wurde ebenfalls von einem Selfmademan geführt, Jack Kirkwall. Einem wahren Koloss. Die zwei Rivalen, begriff Rebus schnell, hatten herzlich wenig füreinander übrig. 43 Schon die bloße Erwähnung von Kirkwalls Namen schien Alexander Abbot die Laune zu verderben. Er kaute an seiner Zigarre, als wäre sie der Finger eines Gläubigers. »Aber angefangen haben Sie ziemlich klein, nicht wahr, Sir?« »Ach, aye, viel kleiner war gar nicht möglich gewesen. Zu der Zeit waren wir bloß mal ein Pickel auf dem Arsch der Bauindustrie.« Er deutete mit einer breiten Geste auf die Wände seines Büros. »Kann man sich jetzt gar nicht mehr vorstellen, was?« Rebus nickte. »1960 waren Sie doch noch immer eine kleine Firma, oder?« »1960. Mal überlegen. Damals haben wir grad erst angefangen. War natürlich noch nicht ABC. Mal sehen. Ich glaube, ich hab 1957 ein Darlehen von meinem Dad gekriegt und mich mit einem gewissen Hugh Ford zusammengetan, noch so einem selbständigen Bauunternehmer. Ja, stimmt. 1960 hießen wir Abbot & Ford. Genau.« »Erinnern Sie sich zufällig daran, in einer Weinhandlung auf der Cowgate gearbeitet zu haben?« »Wann?« »Im Frühling 1960.« »Eine Weinhandlung?« Abbot legte die Stirn in Falten. »Müsste ich doch eigentlich noch wissen. Ist natürlich lange her. Eine Weinhandlung?« »Sie haben, neben anderen Arbeiten, in einem der Weinkeller einen neuen Fußboden verlegt. Hillbeith Vintners.« »Ach, aye, Hillbeith, jetzt fällt's mir wieder ein. Ich erinnere mich an ihn. Komischer kleiner Kerl mit Brille. Hat uns eine Kiste Wein geschenkt, als wir mit der Arbeit fertig waren. Nett von ihm, aber soweit ich mich erinnere, war der Wein schon ein bisschen umgekippt.« »Wie viele Männer haben an dem Auftrag mitgearbeitet?« 43 Abbot atmete geräuschvoll aus. »Na, Sie stellen Fragen! Das ist über dreißig Jahre her, Inspector.« »Das ist mir bewusst, Sir. Gibt es vielleicht noch irgendwelche Aufzeichnungen?«
Abbot schüttelte den Kopf. »Bis vor zehn Jahren könnte es welche gegeben haben, aber als wir in dieses Gebäude umgezogen sind, haben wir einen Großteil des alten Krempels weggeworfen. Jetzt tut es mir leid. Wäre nett, ein paar Sachen aus der Anfangszeit zu haben, die man im Empfang in einer Vitrine ausstellen könnte. Aber nein, alles aus der Abbot-&-Ford-Zeit ist auf dem Müll gelandet.« »Sie erinnern sich also nicht, wie viele Männer an diesem Auftrag gearbeitet haben? Gibt es sonst noch jemanden, mit dem ich reden könnte, jemanden, der sich vielleicht -« »Wir waren damals klein, das können Sie mir glauben. Haben hauptsächlich Gelegenheitsarbeiter und Teilzeitkräfte beschäftigt. Bei einem Auftrag von dem Volumen kann ich mir nicht vorstellen, dass wir mehr als drei, vier Mann gebraucht haben, wenn überhaupt.« »Und Sie erinnern sich nicht zufällig daran, dass einer von denen plötzlich verschwunden ist? Nicht zur Arbeit gekommen, so was in der Art?« Abbot empörte sich. »Ich nehm's mit der Arbeitszeit sehr genau, Inspector. Wenn einer getürmt wäre, würde ich mich daran erinnern, da bin ich mir sicher. Außerdem haben wir schon sehr darauf geachtet, wen wir anstellten. Keine faulen Säcke, keinen, der sich mitten in einem Auftrag absetzen würde.« Rebus seufzte. Das war jetzt eine dieser Sackgassen. Er stand auf. »Nun, trotzdem danke, Mr. Abbot. Er war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Abbot stand ebenfalls auf, und die zwei Männer gaben sich die Hand. 44 »Keine Ursache, Inspector. Schade, dass ich Ihnen bei Ihrer kleinen Kriminalgeschichte nicht helfen konnte. Ich hab durchaus eine Schwäche für gute Detektivstorys.« Sie hatten jetzt schon beinah die Tür erreicht. »Ach«, sagte Rebus, »nur noch eins. Wo könnte ich wohl Ihren alten Partner, Mr. Ford, finden?« Abbots Gesicht verlor all seine Lebendigkeit. Seine Stimme war plötzlich die eines alten Mannes. »Hugh ist gestorben, Inspector. Ein Bootsunfall. Er ist ertrunken. Scheußliche Sache. Ganz scheußliche Sache.« Zwei Sackgassen. Mr. Hillbeith rief am selben Nachmittag an, während Rebus sich durch die Abschrift der Vernehmung eines Vergewaltigers kämpfte. Sein Kopf war wie voll von übelriechendem Kleister, sein Magen übersäuert von Koffein. »Spreche ich mit Inspector Rebus?« »Ja, hallo, Mr. Hillbeith. Was kann ich für Sie tun?« Rebus rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und kniff die Augen zu. »Ich habe die ganze letzte Nacht über dieses Skelett nachgedacht.« »Ja?« Zwischen der einen und der anderen Flasche Wein, da hatte Rebus keinen Zweifel. »Nun, ich habe versucht, mich an die Zeit zu erinnern, als diese Arbeit durchgeführt wurde. Das hilft Ihnen wahrscheinlich nicht weiter, aber ich bin mir absolut sicher, dass daran vier Männer beteiligt waren. Mr. Abbot und Mr. Ford haben praktisch ganztags gearbeitet, und dann gab es da noch zwei Männer, der eine noch unter zwanzig, der andere in den Vierzigern. Die haben eher gelegentlich mitgemacht.« »An deren Namen erinnern Sie sich nicht zufällig?« »Nein, ich weiß bloß noch, dass der Junge einen Spitzna 44 men hatte. Alle haben ihn nur so genannt. Ich glaube nicht einmal, seinen richtigen Namen je gehört zu haben.«
»Tja, danke jedenfalls, Mr. Hillbeith. Ich werde mich noch einmal mit Mr. Abbot in Verbindung setzen und sehen, ob das, was Sie gesagt haben, seiner Erinnerung auf die Sprünge hilft.« »Ach, Sie haben also mit ihm gesprochen?« »Heute Vormittag. Keine Fortschritte zu vermelden. Ich hatte nicht gewusst, dass Mr. Ford tot ist.« »Tja, nun, das ist die andere Sache.« »Was?« »Der arme Mr. Ford. Segelunfall, nicht?« »Richtig.« »Daran habe ich mich eben auch erinnert. Wissen Sie, dieser Unfall ereignete sich, gleich nachdem sie die Arbeiten bei mir beendet hatten. Sie redeten die ganze Zeit davon, dass sie sich ein paar Tage frei nehmen und angeln gehen würden. Mr. Abbot meinte, das würde ihr erster Urlaub seit Jahren sein.« Rebus hatte seine Augen jetzt weit geöffnet. »Wie bald, nachdem sie mit dem Fußboden fertig waren, war das?« »Na ja, direkt anschließend, vermute ich.« »Erinnern Sie sich an Mr. Ford?« »Nun, er war sehr still. Das ganze Reden hat eigentlich Mr. Abbot übernommen. Ein sehr stiller Mann, aber ein fleißiger Arbeiter, hatte ich den Eindruck.« »Ist Ihnen irgendetwas an seinen Händen aufgefallen? Ein deformierter kleiner Finger?« »Tut mir leid, Inspector, es ist sehr lange her.« Das sah Rebus ein. »Natürlich, Mr. Hillbeith. Sie sind mir eine große Hilfe gewesen. Danke.« Er legte auf. Sehr lange her, ja, aber trotzdem immer noch Mord, immer noch vorsätzlicher, kaltblütiger Mord. Dennoch, ein Weg hatte sich vor ihm aufgetan. Vielleicht 45 bloß ein Trampelpfad, ziemlich überwachsen und tückisch. Aber dennoch... Ein Schritt nach dem anderen, John. Ein Schritt nach dem anderen. Natürlich, sagte er sich immer wieder, war er nach wie vor eher dabei, Möglichkeiten aus- als einzuschließen, und das war der Grund, warum er ein bisschen mehr über den Bootsunfall in Erfahrung bringen wollte. Alexander Abbot wollte er allerdings nicht danach fragen. Stattdessen ging Rebus am Morgen nach Hillbeiths Anruf zur National Library of Scotland auf der George IV Bridge. Nachdem ihn der Pförtner durch das Drehkreuz gelassen hatte, stieg er die imposante Treppe zum Lesesaal hinauf. Die Frau an der Ausleihe stellte ihm einen Tagesausweis aus und zeigte ihm, wie der Online-Katalog funktionierte. Es gab zwei Reihen von Terminals, mit denen man die benötigten Bücher aus dem Katalog heraussuchen konnte. Rebus musste in den Lesesaal gehen und einen freien Platz finden, sich dessen Nummer notieren, und sobald er entschieden hatte, welches Buch er brauchte, diese Nummer auf seine Leihkarte schreiben. Dann kehrte er an seinen Platz zurück, setzte sich und wartete. Der Lesesaal hatte zwei Geschosse, beide voller Regale mit Nachschlagewerken. Die Leute, die an den langen Tischen im unteren Geschoss arbeiteten, wirkten müde. Für sie war es bloß ein weiterer Vormittag Büffeln; Rebus aber fand das alles faszinierend. Jemand vor ihm arbeitete mit einem Karteikasten, in dem er häufig etwas nachsah. Ein anderer schien zu schlafen, den Kopf auf die Arme gestützt. Stifte kratzten auf Notizblockseiten. Ein paar von jeglicher Inspiration verlassene arme Seelen kauten lediglich an ihren Stiften und starrten die anderen an, genauso wie Rebus es gerade tat. Endlich wurde ihm das bestellte Buch gebracht. Es wa
46 ren die gebundenen ersten sechs Monate des Jahrgangs 1960 des Scotsman. Zwei dicke Lederriemen hielten den Band geschlossen. Rebus öffnete sie und begann zu blättern. Er wusste, wonach er suchte, und auch ziemlich genau, wo er es finden würde, doch das hielt ihn nicht davon ab, Fußballberichte und Schlagzeilen zu überfliegen. 1960. Damals hatte er alle Hände voll damit zu tun gehabt, seine Jungfräulichkeit zu verlieren und für die Hearts zu fiebern. Ja, sehr lange her. Die Nachricht hatte es nicht ganz bis auf die erste Seite geschafft. Dafür gab es zwei Absätze auf Seite drei. »Mann ertrinkt vor Lower Largo«. Das Opfer, Mr. Hugh Ford, war sechsundzwanzig Jahre alt (ein Jahr älter als der Überlebende, Mr. Alex Abbot) und in Duddingston, Edinburgh, wohnhaft gewesen. Die zwei Männer, zu einem kurzen Angelurlaub in Fife, waren am frühen Morgen mit einem Boot hinausgefahren, das sie von einem Einheimischen, Mr. John Thomson, gemietet hatten. Es kam eine Sturmbö auf, und das Boot kenterte. Mr. Abbot, ein guter Schwimmer, hatte es zum Ufer zurückgeschafft. Mr. Ford, ein schlechter Schwimmer, nicht. Mr. Ford wurde des Weiteren als »ein Junggeselle« beschrieben, als ein stiller, ja laut Mr. Abbot, der noch immer im Victoria Hospital, Kirkcaldy, unter Beobachtung stand, »schüchterner Mann«. Ansonsten kam nicht mehr viel. Offenbar waren Fords Eltern tot, er hatte allerdings eine Schwester, Mrs. Isabel Hammond, die irgendwo in Australien lebte. Warum hatte Abbot das nicht erwähnt? Vielleicht wollte er alles vergessen. Vielleicht bereitete ihm die Sache gelegentlich noch immer Albträume. Und natürlich hatte er gerade deswegen alle näheren Einzelheiten des Hillbeith-Auftrags vergessen - eben weil diese Tragödie sich so kurz danach ereignete. So kurz danach. Probleme bereitete Re 46 bus lediglich eine Druckzeile; der eine Satz machte ihm zu schaffen. »Mr. Fords Leichnam ist noch immer nicht aufgefunden worden.« Aufzeichnungen konnten im Lauf der Zeit verlorengehen, aber nicht bei der Polizei von Fife. Sie schickte, was sie hatte, ein Großteil davon in verblassender Tinte auf brüchiges Papier geschrieben, ein Teil davon - nicht ganz fehlerfrei - getippt. Die beiden Freunde und Kollegen, Abbot und Ford, waren Freitagabend spät im Fishing-Net-Hotel in Largo eingetroffen. Wie vereinbart, waren sie am nächsten Morgen früh mit einem Boot hinausgefahren, das sie beim ortsansässigen John Thomson mieteten. Der Unfall hatte sich schon eine knappe Stunde nach ihrer Ausfahrt ereignet. Das Boot konnte geborgen werden. Es war gekentert, doch von Ford fehlte jede Spur. Es wurden Ermittlungen angestellt. Mr. Fords Sachen nahm Mr. Abbot, der sich beim Kentern des Bootes den Kopf angeschlagen hatte und außerdem erschöpft war und unter Schock stand, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, mit zurück nach Edinburgh. Mr. Fords Schwester, Mrs. Isabel Hammond, wurde niemals ausfindig gemacht. Die Kollegen in Fife hatten noch ein bisschen tiefer gegraben. Das von Abbot und Ford gemeinsam geführte Unternehmen ging nun in Mr. Abbots Besitz über. Die Ermittlungsnotizen enthielten eine ganze Menge Fakten und - zwischen den Zeilen, gewissermaßen - Vermutungen. O ja, sie hatten Alexander Abbot unter die Lupe genommen, aber es war nichts Konkretes dabei herausgekommen. Sie hatten nach der Leiche gesucht und keine gefunden. Ohne eine Leiche blieben ihnen lediglich ihr Verdacht und ihre nagenden Zweifel. »Ja«, sagte Rebus leise zu sich, »aber was, wenn ihr an 46 der falschen Stelle nach der Leiche gesucht habt?« An der falschen Stelle und zur falschen Zeit. Die Arbeiten im Weinkeller waren am Freitag Nachmittag abgeschlossen gewesen, und bereits Samstag früh hatte Hugh Ford aufgehört zu existieren.
Der Pfad, dem Rebus folgte, war inzwischen weniger überwuchert, aber doch noch steinig und gefährlich - und weiterhin eine potenzielle Sackgasse. Das Fishing-Net-Hotel existierte noch immer, wenngleich gegenüber 1960 in stark veränderter Form. Der jetzige Besitzer empfahl Rebus, nach Möglichkeit rechtzeitig zum Mittagessen zu kommen, das dann aufs Haus gehen würde. Largo lag nördlich von Burntisland, aber am selben Küstenabschnitt. Alexander Selkirk, das reale Vorbild für Defoes Robinson Crusoe, war in diesem Fischerdorf geboren worden. Irgendwo stand ein kleines Standbild von ihm, das irgendjemand Rebus (allerdings erst nach längerem Suchen, wie er sich erinnerte) als Junge zeigte. Largo war malerisch, aber das galt schließlich für die meisten, wenn nicht sogar alle Dörfer an der Küste des »East Neuk« oder »Ostzipfels« von Fife. Die eigentliche Touristensaison hatte allerdings noch nicht begonnen, und die Mittagsgäste im Fishing-Net-Hotel waren Geschäftsreisende und Ortsansässige. Das Mittagessen war gut, ebenso pittoresk wie die Umgebung, aber mit etwas mehr Pfiff. Und danach bot der Besitzer - ein Engländer, für den in Largo zu leben die Erfüllung eines lang gehegten Traums darstellte - sich an, Rebus herumzuführen und ihm auch »das Originalzimmer« zu zeigen, »in dem Ihr Mr. Ford in der Nacht vor seinem Tod schlief«. »Wie können Sie das so genau wissen?« »Ich habe im Gästebuch nachgeschlagen.« Rebus schaffte es, kein allzu überraschtes Gesicht zu 47 machen. Das Hotel war seit 1960 durch so viele Hände gegangen, dass er nicht gehofft hatte, noch jemanden zu finden, der sich an die Ereignisse jenes Wochenendes erinnern würde. »Das Gästebuch?« »Ja, als wir das Haus kauften, hat man uns jede Menge alten Krempel dagelassen. Die Abstellräume waren gestopft voll. Alte Geschäftsbücher und was weiß ich nicht alles, noch aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Es war nicht schwer, 1960 zu finden.« Rebus blieb abrupt stehen. »Vergessen Sie Mr. Fords Zimmer, hätten Sie etwas dagegen, mir dieses Gästebuch zu zeigen?« Er saß an Mr. Summersons Schreibtisch vor dem aufgeschlagenen Gästebuch, während Mr. Summersons Finger auf die entsprechende Zeile tippte. »Bitte schön, Inspector, H. Ford. Ankunftszeit 23.50 Uhr, Heimatadresse Duddingston. Zimmer sieben.« Daneben nicht so sehr eine Unterschrift als ein Gekrakel, und darüber, in einer eigenen Zeile, Alexander Abbots leserlichere Unterschrift. »Ein bisschen spät, um einzuchecken, nicht?«, kommentierte Rebus. »Stimmt.« »Gibt es bei Ihnen zufällig noch jemanden, der damals im Hotel gearbeitet hat?« Summerson lachte leise. »In diesem Land pflegen die Leute irgendwann auch in Rente zu gehen, Inspector.« »Natürlich, aber - hätte ja sein können.« Er erinnerte sich an die Zeitungsmeldung. »Was ist mit John Thomson? Sagt Ihnen der Name was?« »Der alte Jock? Jock Thomson? Der Fischer?« »Wahrscheinlich.« »O ja, der ist noch munter. Den finden Sie fast mit Si 47 cherheit unten am Hafen oder sonst in der Harbour Tavern.« »Danke. Wenn's Ihnen recht ist, würde ich dieses Gästebuch gern mitnehmen.« Jock Thomson paffte an seiner Pfeife und nickte. Er sah wie der Inbegriff des alten Seebären aus, angefangen bei seiner ausgebeulten Kordhose bis hin zu seinem zerfurchten
Gesicht und silbergrauen Bart. Das Einzige, was vielleicht nicht ganz zu dem Klischee passte, war das Glas Perrier, das vor ihm auf dem Tisch in der Harbour Tavern stand. »Ich mag das Prickelwasser ganz gern«, erklärte er, nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte, »und außerdem hat mein Arzt mir eingeschärft, die Finger vom Alkohol zu lassen. Totale Abstinenz, meinte er, totale Abstinenz. Entweder es ist Schluss mit dem Fusel, Jock, oder mit der Pfeife. Beides ist einfach nicht drin.« Und er sog gierig an der Pfeife. Dann beschwerte er sich, als sein Sprudel ohne »das Schnitzchen Zitrone« kam. Rebus ging wieder an den Tresen, um das Verlangte zu holen. »Ach, aye«, sagte Thomson, »ich erinner mich noch, als wär's gestern gewesen. Bloß, dass es da nicht viel zu erinnern gibt, nicht?« »Warum sagen Sie das?« »Zwei unerfahrene junge Männer fahren mit dem Boot raus. Boot kentert. Ende der Geschichte.« »War für den Morgen schlechtes Wetter vorhergesagt?« »Gar nicht mal. Aber es gab einen Sturm. Kam und war in ein paar Minuten wieder weg. Hat aber gereicht.« »Wie haben die zwei Männer gewirkt?« »Wie meinen Sie das?« »Na ja, schienen sie sich auf die Fahrt zu freuen?« 48 »Keine Ahnung, ich hab die überhaupt nicht zu Gesicht gekriegt. Der Jüngere - Abbot, nicht? -, der hat bei mir angerufen, um ein Boot zu buchen, meinte, sie würden früh rausfahren, so um sechs rum. Ich hab ihm gesagt, er hätte sie wohl nicht mehr alle, aber er meinte, ich brauchte gar nicht zum Hafen runterzukommen, ich sollte bloß dafür sorgen, dass das Boot klar war, und ihm sagen, welches es war. Und das hab ich denn auch gemacht. Als ich an dem Morgen aufgewacht bin, kraulte er schon zum Ufer zurück, und seinen Kumpel, den kraulten die Fische.« »Dann haben Sie Mr. Ford also nie gesehen?« »Nee, und das Jungchen Abbot hab ich auch erst hinterher gesehen, als der Rettungswagen ihn abgeholt hat.« Jetzt fügte sich eines fast zu glatt zum anderen. Und Rebus dachte, manchmal sind solche Dinge erst im Nachhinein, aus einem Abstand von Jahren, deutlich zu sehen. »Sie kennen nicht zufällig jemanden«, fragte er ohne allzu viel Hoffnung, »der damals im Hotel gearbeitet hat?« »Der Besitzer ist weggezogen«, antwortete Thomson, »keine Ahnung, wohin. Mag sein, dass Janice Dryman damals da gearbeitet hat. Kann mich nicht mehr erinnern.« »Wo könnte ich sie wohl finden?« Thomson spähte nach der Uhr hinter dem Tresen. »Warten Sie noch zehn, fünfzehn Minuten, und Sie können sie nicht verfehlen. Sie ist nachmittags in der Regel immer hier. Inzwischen werd ich noch so eins trinken, wenn Sie zahlen.« Thomson schob Rebus sein leeres Glas zu. Keine Frage, dass Rebus zahlte. Miss Dryman - »nie verheiratet gewesen, wozu denn auch?« - war Anfang fünfzig. Sie arbeitete in einem Geschenkladen im Ort, und wenn sie Schluss hatte, schaute sie normalerweise auf einen Softdrink und »einen kleinen 48 Schwatz« in der Kneipe vorbei. Rebus fragte sie, was sie gern trinken wolle. »Limo, bitte«, sagte sie, »mit einem Tröpfchen Whisky drin.« Und sie und Jock Thomson lachten, als ob das ein alter, eingespielter Witz zwischen ihnen wäre. Nicht gewohnt, die Rolle des Stichwortgebers zu spielen, trottete Rebus wieder zur Theke.
»O ja«, sagte sie, das Glas an den Lippen. »Und ob ich da gearbeitet hab, die ganze Zeit. Zimmermädchen war ich und Mädchen für alles.« »Aber die beiden haben Sie nicht ankommen sehen?« Miss Dryman machte ein Gesicht, als würde sie gleich ein Geheimnis verraten. »Niemand hat die kommen sehen, das weiß ich hundertpro. Mrs. Dennis, der damals das Hotel gehörte, sagte, sie würde nicht im Traum dran denken, die halbe Nacht auf zwei Angler zu warten. Die wussten ihre Zimmernummern, und die Schlüssel lagen an der Rezeption.« »Und was war mit der Eingangstür?« »Nicht abgeschlossen, nehm ich mal an. Die Welt war damals weniger gefährlich.« »Aye, das ist wohl wahr«, gab Jock Thomson seinen Senf dazu und lutschte an seinem Zitronenschnitz. »Und Mr. Abbot und Mr. Ford wussten von dieser Vereinbarung?« »Nehm ich doch mal an. Andernfalls hätt's ja kaum geklappt, oder?« Dann hatte Abbot also gewusst, dass bei seiner Ankunft niemand im Hotel auf sein würde - wenn er in Edinburgh nur spät genug aufbrach. »Und am nächsten Morgen?« »Mrs. Dennis meinte, die wären schon auf und aus dem Haus gewesen, bevor sie auch nur was mitgekriegt hätte. War ziemlich sauer, weil sie die Bücklinge fürs Frühstück schon in der Pfanne hatte, bevor sie das merkte.« 49 Dann hatte sie am Morgen also auch keiner gesehen. Tatsächlich... »Tatsächlich«, sagte Rebus, »hat also überhaupt niemand Mr. Ford gesehen. Niemand vom Hotel, Sie nicht, Mr. Thomson nicht, kein Mensch.« Die beiden bestätigten es. »Sein Zeug hab ich aber gesehen«, sagte Miss Dryman. »Was für Zeug?« »In seinem Zimmer, seine Klamotten und so. An dem Morgen. Ich wusste nichts von dem Unfall und bin rein, um das Zimmer zu machen.« »Hatte jemand in dem Bett geschlafen?« »Sah so aus. Die Laken ganz zerknittert. Und sein Koffer lag auf dem Boden, nur halb ausgepackt. Nicht dass da viel auszupacken gewesen wäre...« »Ach nein?« »Nur genug zum einmal Umziehen, würd ich sagen. Ich erinner mich an die Sachen, weil die irgendwie schmuddelig aussahen. Sie wissen schon, nicht frisch. Nicht gerade, was ich für den Urlaub einpacken würde.« »Was denn? Als hätte er in den Sachen gearbeitet?« Sie dachte darüber nach. »Vielleicht.« »Hat wenig Sinn, sich zum Angeln saubere Klamotten anzuziehen«, meinte Thomson. Aber Rebus hörte nicht zu. Fords Sachen, die Sachen, die er während der Arbeit am Fußboden getragen hatte. Das passte. Abbot hatte ihn niedergeschlagen, ihn ausgezogen und seine Leiche mit frischem Zement bedeckt. Er hatte seine Kleidungsstücke mitgenommen und in einen Koffer gepackt, den im Hotelzimmer aufgemacht, die Laken zerwühlt. Simpel, aber effektiv. War ja auch dreißig Jahre lang gut gegangen. Das Motiv? Ein Streit vielleicht, oder auch schlichte Gier. Es war ein kleines, aber expandierendes Unternehmen gewesen, und vielleicht hatte Abbot nicht teilen wollen. Rebus legte einen Fünf-Pfund-Schein auf den Tisch. 49 »Für die nächsten paar Runden«, sagte er und stand auf. »Ich muss jetzt. Manche von uns sind noch im Dienst.«
Es gab einiges zu tun. Er musste mit seinem Vorgesetzten reden, Chief Inspector Lauderdale. Und das war nur der Anfang. Vielleicht würde man es ja diesmal schaffen, Fords australische Schwester ausfindig zu machen. Irgend-jemanden musste es doch geben, der bezeugen konnte, dass Ford sich in seiner Jugend ein Bein gebrochen und einen krummen Finger gehabt hatte. Bislang fiel Rebus nur einer ein - Alexander Abbot. Aber irgendwie konnte er sich nicht so recht vorstellen, dass er von ihm die Wahrheit, die ganze Wahrheit erfahren würde. Dann gab es das Hotel-Gästebuch. Das kriminaltechnische Labor konnte daran sein Können unter Beweis stellen. Vielleicht würde es den Jungs gelingen, eindeutig zu klären, ob Fords Unterschrift echt oder lediglich eine schlechte Imitation durch Abbot war. Andererseits hätte er zum Vergleich eine Schriftprobe von Ford beibringen müssen. Wen kannte er, der ein solches Dokument hätte besitzen können? Nur Alexander Abbot. Oder Mr. Hillbeith, aber Mr. Hillbeith hatte in der Hinsicht nichts für ihn tun können. »Nein, Inspector, wie ich Ihnen sagte, um den ganzen Papierkram, um diesen Aspekt des Geschäfts hat sich Mr. Abbot gekümmert. Wenn es irgendwo noch eine Rechnung oder eine Quittung gibt, dann wird sie seine Handschrift tragen, nicht die von Mr. Ford. Ich kann mich nicht erinnern, Mr. Ford je etwas schreiben gesehen zu haben.« Durchfahrt gesperrt. Chief Inspector Lauderdale zeigte nicht übermäßig viel Verständnis. Bislang hatte Rebus nichts anderes zu bieten als weitere Vermutungen, die man zu denen der damaligen Beamten in Fife hinzufügen konnte. Es gab keinen Beweis dafür, dass Alexander Abbot seinen Partner getötet hatte. 50 Keinen Beweis dafür, dass es sich bei dem Skelett um die Überreste von Hugh Ford handelte. Ja selbst an bloßen Indizien gab es herzlich wenig. Sie konnten Abbot zur Vernehmung auf die Wache bestellen, aber er brauchte nichts anderes zu tun, als sich für unschuldig zu erklären. Er konnte sich einen guten Anwalt leisten; und selbst schlechte Anwälte waren nicht so dumm, dass sie der Polizei gestatten würden, zu tief zu bohren. »Wir brauchen Beweise, John«, sagte Lauderdale, »konkrete Beweise. Am einfachsten wäre diese Unterschrift aus dem Hotel. Wenn wir nachweisen können, dass sie nicht von Ford stammt, dann haben wir Abbot in diesem Hotel, Abbot im Boot und Abbot, der lautstark behauptet, sein Freund wäre ertrunken - und das alles, ohne dass Ford nachweislich je da gewesen wäre. Das brauchen wir. Alles Übrige ist, so wie es aussieht, Schrott. Das wissen Sie selbst.« Ja, Rebus wusste das. Er zweifelte nicht daran, dass er nicht mehr als eine Stunde Zeit und eine dunkle Gasse gebraucht hätte, um Abbot zu einem Geständnis zu überreden. Aber so lief das nun mal nicht. Es lief nach dem Buchstaben des Gesetzes. Außerdem wär's ja möglich gewesen, dass Abbots Herz nicht hundertprozentig gesund war. GESCHÄFTSMANN (5 5) STIRBT WÄHREND VERNEHMUNG. Nein, man musste irgendwie einen anderen Weg finden. Das Problem war - es gab keinen anderen Weg. Alexander Abbot kam, wie es aussah, mit einem Mord davon. Oder vielleicht doch nicht? Warum musste seine Geschichte erfunden sein? Warum musste das Skelett unbedingt das von Hugh Ford sein? Die Antwort lautete: weil das Ganze zusammenzupassen schien. Lediglich das letzte, noch fehlende Teil des Puzzles war vor langer Zeit unter ein Sofa oder einen Sessel gefallen - vor so langer Zeit, dass man es vielleicht nie wiederfinden würde. 50 Er wusste nicht, warum er es tat. Wenn du nicht weiterweißt, geh wieder ein paar Schritte zurück... so was in der Art. Vielleicht mochte er auch nur die Atmosphäre dort. Aus welchem Grund auch immer saß Rebus wieder an seinem Tisch in der National Library
und wartete darauf, dass der Bibliotheksdiener ihm seinen gebundenen Wälzer voll alter Neuigkeiten brachte. Während er wartete, sang er lautlos den Text von »Yesterday's Papers« vor sich hin. Als dann der Band kam, ließ er die Schließen geübt aufschnappen und schlug ihn auf. Diesmal blätterte er über den April hinaus, las bis in die Mai- und Juni-Ausgaben hinein. Fußballergebnisse, Schlagzeilen - und was war das? Eine kurze Meldung im Wirtschaftsteil, ein Lückenfüller in der rechten unteren Ecke der Seite. Die Kirkwall Construction Company schluckte gerade ein paar kleinere Konkurrenten in Fife und Midlothian. »Die Sechzigerjahre werden ein Jahrzehnt großer Umwälzungen in der Bauindustrie sein«, erklärte der geschäftsführende Direktor Mr. Jack Kirkwall, »und Kirkwall Construction hat sich zum Ziel gesetzt, dieser Herausforderung durch Wachstum und Qualität zu begegnen. Je größer wir sind, desto besser sind wir. Diese Übernahmen stärken das Unternehmen, und für die Beschäftigten werden sie sich ebenfalls positiv auswirken.« Das war die Aufbruchstimmung, die sich bis in die Achtzigerjahre hinein gehalten hatte. Jack Kirkwall, Alexander Abbots erbitterter Rivale. Das war doch ein Mann, den Rebus kennenlernen sollte... Das Treffen musste dann allerdings auf die folgende Woche verschoben werden. Kirkwall lag wegen eines kleineren Eingriffs im Krankenhaus. »Ich bin in dem Alter, Inspector«, sagte er, als sie sich schließlich trafen, »in dem Einzelteile anfangen kaputtzuge 51 hen und repariert oder ausgetauscht werden müssen. Wie bei jeder anderen stark beanspruchten Maschine auch.« Und er lachte, aber in Rebus' Ohren hatte dieses Lachen einen hohlen Klang. Kirkwall sah älter aus als seine zweiundsechzig Jahre, sein Gesicht wirkte schlaff, seine Haut bleich. Sie saßen in seinem Wohnzimmer, wo er in letzter Zeit den größten Teil seiner Arbeit erledigte. »Seit meinem sechzigsten Geburtstag lasse ich mich nur noch ab und an zu einem gelegentlichen Meeting in der Firmenzentrale blicken. Die Routinearbeit überlasse ich meinem Sohn, Peter. Er scheint ganz gut zurechtzukommen.« Das Lachen klang diesmal selbstironisch. Rebus hatte vorgeschlagen, ihr Gespräch noch einmal zu verschieben, aber sobald Jack Kirkwall erfahren hatte, dass es dabei um Alexander Abbot gehen würde, ließ er sich nicht davon abbringen, die Sache sofort zu erledigen. »Steckt er also in Schwierigkeiten?« »Wäre möglich«, räumte Rebus ein. Kirkwalls Wangen schienen etwas Farbe anzunehmen, und er lehnte sich entspannter ein bisschen weiter in seinen ledernen Ruhesessel zurück. Rebus wollte Kirkwall die Story nicht verraten. Kirkwall und Abbot waren schließlich nach wie vor Konkurrenten. Ja, wie es aussah, Feinde. Hatte er erst mal die Fakten, könnte Kirkwall irgendeine krumme Tour versuchen, Gerüchte in den Medien verbreiten lassen, und wenn herauskam, dass die Information von einem Police Inspector gekommen war, na ja. Hallo, Verleumdungsklage, und bye-bye, ab in den Ruhestand. Nein, das wollte Rebus auf keinen Fall. Wohl aber wollte er wissen, ob Kirkwall irgendetwas wusste, ob er sich vorstellen konnte, warum Abbot den Wunsch gehabt - die Notwendigkeit gesehen - haben könnte, Ford zu töten. »Reden Sie weiter, Inspector.« »Die Sache liegt ziemlich lang zurück, Sir. Es geht um 51 das Jahr 1960, um genau zu sein. Ihre Firma befand sich damals im Prozess der Expansion.« »Korrekt.«
»Was wussten Sie damals über Abbot & Ford?« Kirkwall strich sich mit der Handfläche über die Knöchel der anderen Hand »Nur dass sie ebenfalls wuchsen. Natürlich waren sie jünger als wir, viel kleiner als wir. ABC ist noch heute viel kleiner als wir. Aber sie waren frech, sie schnappten uns mehrere Aufträge vor der Nase weg. Ich hab sie im Auge behalten.« »Kannten Sie Mr. Ford?« »O ja. Er war auf jeden Fall der Gescheitere von beiden. Vor Abbot habe ich nie allzu viel Respekt gehabt. Hugh Ford aber war ein stiller, fleißiger Mann. Abbot war der Marktschreier, derjenige, der die Werbetrommel rührte.« »Hatte Mr. Ford einen krummen Finger?« Die Frage schien Kirkwall zu überrumpeln. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er schließlich. »Persönlich habe ich mit dem Mann nie zu tun gehabt, ich hatte nur von ihm gehört. Warum? Ist das wichtig?« Rebus hatte endlich das Gefühl, dass sein sich schlängelnder, immer enger werdender Pfad endlich den Rand eines Abgrunds erreichte. Jetzt blieb nur noch der Rückzug. »Na ja«, sagte er, »es hätte einiges klarer gemacht.« »Wissen Sie, Inspector, meine Firma war daran interessiert, Abbot & Ford unter ihre Fittiche zu nehmen.« »Ach ja?« »Aber dann kam der Unfall, dieser tragische Unfall... Wie auch immer, Abbot übernahm die Geschäftsleitung, und er war nicht im Geringsten an unseren Angeboten interessiert. Er hat uns regelrecht abblitzen lassen. Ja, ich habe immer gedacht, dass das für Abbot ein verdammt glücklicher Unfall gewesen war.« »Wie meinen Sie das, Sir?« 52 »Ich meine, Inspector, dass Hugh Ford mit uns einig war. Er wollte verkaufen. Aber Abbot war dagegen.« Gut, damit hatte Rebus sein Motiv. Aber was nutzte das schon? Ihm fehlte nach wie vor der handfeste Beweis, den Lauderdale verlangte. »...wäre das an seiner Handschrift zu erkennen?« Rebus hatte nicht mitbekommen, was Kirkwall gesagt hatte. »Tut mir leid, Sir, ich habe gerade nicht zugehört.« »Ich sagte, Inspector, wenn Hugh Ford einen krummen Finger gehabt hätte, wäre das an seiner Handschrift zu erkennen?« »Handschrift?« »Denn ich hatte seine Einwilligung zu unserem Übernahmeangebot. Er hatte mir persönlich geschrieben. Hinter Abbots Rücken, wie ich vermute. Ich wette, Alex Abbot ist fuchsteufelswild geworden, als er davon erfahren hat.« Kirkwalls Lächeln hatte jetzt etwas Triumphierendes. »Ich hatte schon immer gefunden, dass das für Abbot ein zu glücklicher Unfall war. Ein bisschen zu sehr wie bestellt. Aber keine Beweise. Es gab nie irgendwelche Beweise.« »Haben Sie den Brief noch?« »Was?« »Den Brief von Mr. Ford, haben Sie den noch?« Rebus war jetzt ganz kribbelig, und Kirkwall sah ihm die Aufregung an. »Ich werf nie irgendwas weg, Inspector. O ja, und ob ich ihn hab. Er dürfte oben sein.« »Kann ich ihn sehen? Ich meine, kann ich ihn jetzt sehen?« »Wenn Sie möchten.« Kirkwall machte Anstalten aufzustehen, hielt aber dann inne. »Steckt Alex Abbot in Schwierigkeiten, Inspector?«
»Wenn Sie diesen Brief von Hugh Ford noch haben, dann ja, Sir, dann würde ich sagen, dass Mr. Abbot in sehr ernsten Schwierigkeiten stecken könnte.« 53 »Inspector, Sie haben einen alten Mann sehr glücklich gemacht.« Natürlich stand der Brief gegen Alex Abbots Wort, und er stritt alles ab. Aber jetzt gab es genug Material für eine Anklage. Die Eintragung im Hotel-Gästebuch stammte zwar nur möglicherweise von Alexander Abbots Hand, aber mit Sicherheit nicht von der Hand des Mannes, der Jack Kirkwall den Brief geschrieben hatte. Ein richterlicher Beschluss ermächtigte die Polizei, sich in Abbots Haus und den Geschäftsräumen von ABC umzusehen. Ein zwischen Abbot und Ford zu der Zeit, als sie ihre Gesellschaft gründeten, geschlossener Vertrag befand sich, wie die Ermittlungen ergaben, im Safe eines Anwalts. Die Unterschrift stimmte mit derjenigen auf dem Brief an Jack Kirkwall überein. Kirkwall erschien persönlich als Zeuge vor Gericht. Er wirkte auf Rebus, im Vergleich mit dem Mann, den er kennengelernt hatte, wie umgewandelt: munter, vital, geradezu lebenshungrig. Alexander Abbot starrte ihn von der Anklagebank aus fast vorwurfsvoll an, als wäre das alles lediglich ein weiteres Glied in einer lebenslangen Kette von üblen geschäftlichen Tricks. Und lebenslänglich war auch das Urteil des Richters.
Ansichtssachen Wenn man irgendwo in Edinburgh Christus sehen wollte, dann war die »Einsiedelei« der ideale Ort. Oder, um sie mit vollem Namen zu nennen, die »Hermitage of Braid«, so genannt nach dem Braid Burn, dem Bach, der durch die enge buschige Wildnis zwischen Blackford Hill und Braid Hills Road dahinplätscherte. Jenseits dieser Straße verwandelte sich die Hermitage in einen welligen Golfplatz, gepflegt und stark frequentiert. Doch an sonnigen Wochenendnachmittagen war die eigentliche Hermitage so wild und verwunschen, wie man es sich nur vorstellen konnte. Kinder liefen zwischen den Bäumen umher oder warfen Stöcke in den Bach. Liebespärchen stiegen Hand in Hand den steilen Hang des Blackford Hill hinab. Hunde rannten schnüffelnd von Stumpf zu Strauch, vielleicht von Punks beobachtet, die auf einer Felsnase hockten. Bierdosen wurden genüsslich an die Lippen geführt. Picknickgesellschaften versuchten, sich zu einigen, welches Fleckchen am windgeschütztesten war. Man konnte es manchmal kaum glauben, dass man sich hier mitten in Edinburgh befand, dass der Haupteingang zur Hermitage keine paar Schritte von der belebten Comiston Road entfernt lag, am südlichen Ende von Morningside. An diesem Tor hielten Demonstranten seit einigen Tagen eine Mahnwache ab, sangen Lieder und warnten mit Flugblättern gegen die Papisterei. Gelegentlich tauchte ein Megaphon auf, so dass sie ihre Schimpftiraden vom Sta 53 pel lassen konnten. Ein Händler von Devotionalien und Kerzen hatte auf der anderen Straßenseite - und ein Stück weiter die Straße entlang, in wohlweislichem Abstand von den Demonstranten - seinen Stand aufgebaut. In Ermangelung sonstiger sichtbarer Ziele richtete sich das Megaphon meist auf ihn. Eine solche Schimpftirade war gerade in vollem Gange, als Inspector Rebus eintraf. Würde es am Jüngsten Tag auch so zugehen?, fragte er sich, während er ein Flugblatt entgegennahm. Würde das lauteste Geschrei vonseiten der Erlösten kommen? Megaphone werden vom Veranstalter zur Verfügung gestellt, dachte er, während er durch das Tor trat. Er vertiefte sich in das Flugblatt. Keine Papisterei, aber klar.
»Und warum eigentlich nicht?« Und mit dieser Frage knüllte er das Blatt zusammen und warf es in den nächsten Papierkorb. Die Stimme verfolgte ihn, als hätte sie eine Mission, und die wäre er. »Jeder Götzendienst ist ein GRÄUEL vor dem HERRN! Es gibt nur EINEN Gott, und IHM müsst ihr dienen! Wendet euer Antlitz keinen GÖTZEN zu! Die SCHRIFT ist die EINZIGE Wahrheit, derer ihr BEDÜRFT!« Fasel du nur... Sie waren natürlich nur eine Minderheit, den Neugierigen, die sie angaffen kamen, zahlenmäßig bei weitem unterlegen. Doch die wiederum sahen so aus, als könnten sie schon sehr bald ihrerseits den Pilgern unterliegen. Rebus begriff sich gern als Christen, wenngleich als einen mit zu vielen Fragen und Zweifeln, als dass er sich auf die eine oder andere, katholische oder protestantische, Seite hätte schlagen mögen. Er konnte die Tatsache nicht verleugnen, dass er als Protestant geboren war; aber seine Mutter, eine gläubige Frau, war jung gestorben, und sein Vater hatte mit Religion nicht viel am Hut gehabt. 54 Bis zu seiner Einschulung hatte Rebus nicht einmal gewusst, dass ein Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten besteht. Sein bis dahin bester Freund war ein Katholik gewesen, ein Junge namens Miles Skelly. Gleich am ersten Schultag waren die beiden Jungen getrennt und in zwei weit voneinander entfernte Schulen geschickt worden. So auseinandergerissen, hatten sie bald neue Freunde gefunden und aufgehört, miteinander zu spielen. Das war Rebus' erste Lektion in Sachen »konfessionelle Spaltung« gewesen. Aber er hatte nichts gegen Katholiken. Die Protestanten mochten sie als »Linksfüßer« bezeichnen, aber Rebus kickte den Ball selbst mit dem linken Fuß. Wohl misstraute er allerdings der Pilgermentalität. Sie bereitete ihm ein ungutes Gefühl: Statuen, die weinten oder bluteten oder sich bewegten. Plötzliche Marienerscheinungen. Der Abdruck eines Gesichts auf einem Leichentuch. Glaube, fand Rebus, sollte einfach nur das sein: Glaube. Und wenn man glaubte, was brauchte man da noch Wunder - besonders solche, die eher ins Varietetheater als ins Reich Gottes gehörten? Je mehr er sich also der eigentlichen Stelle näherte, desto weichere Knie bekam er. Im Hintergrund ausgedehntes Buschwerk, davor ein verkümmerter Baum. Um diesen Baum herum waren im Lauf der letzten zwei, drei Tage Kerzen, Statuetten, Fotos, handschriftliche Gebete und Blumen arrangiert worden. Ziemlich beeindruckend, das Ganze. Unweit davon, aber doch in respektvollem Abstand, kniete ein Grüppchen von Leuten. Ihre Köpfe waren andächtig gesenkt. Andere saßen, die Arme hinter sich aufgestützt, zurückgelehnt im Gras. Sie hatten alle das gleiche verzückte Lächeln im Gesicht, als hörten oder sähen sie etwas, von dem Rebus nichts mitbekam. Er horchte angestrengt, hörte aber nur geflüsterte Gebete, fernes Hundegebell. Er sah sich um, erblickte aber nur einen Baum - wenngleich man zugeben musste, dass 54 die Sonne ihn recht eindrucksvoll beleuchtete, so dass er sich vom Buschwerk dahinter deutlich abhob. Jenseits des Baums ließ sich ein Geraschel vernehmen. Rebus machte einen Bogen um die Gemeinde - anders konnte man die Versammlung nicht nennen - und ging auf das Dickicht zu, wo mehrere Polizeikadetten sich auf Händen und Knien fortbewegten, allerdings nicht mit frommen Andachtsübungen beschäftigt, sondern mit dem Absuchen des Bodens. »Irgendwas gefunden?«
Einer der Männer richtete sich auf und presste sich die Hand stöhnend ins Kreuz. Rebus konnte es knacken hören. »Nichts, Sir, nicht einen verdammten Krümel.« »Pfui, Holmes, keine solchen Ausdrücke. Vergessen Sie nicht, wir weilen an einer heiligen Stätte.« Detective Constable Brian Holmes brachte ein schiefes Lächeln zustande. An diesem Morgen hatte er schon viel zu lächeln gehabt. Ausnahmsweise einmal hatte man ihm Verantwortung übergeben, und es war ihm egal, dass er durch ein feuchtes Dickicht kriechen musste, die Haare voller Zweige hatte oder für eine Bande mürrischer Kadetten verantwortlich war. Er besaß Verantwortung. Nicht einmal Rebus konnte ihm das nehmen. Bloß dass er's doch konnte. Und das auch tat. »In Ordnung«, sagte Rebus, »das genügt. Wir werden mit dem auskommen müssen, was wir haben, beziehungsweise mit dem, was die Jungs vom Labor haben.« Die Kadetten standen dankbar auf. Ein, zwei von ihnen klopften sich weißes Kreidepulver von den Knien, andere kratzten an Erd- und Grasflecken herum. »Gut gemacht, Jungs«, lobte Rebus sie. »Nicht besonders aufregend, ich weiß, aber so ist nun mal Polizeiarbeit. Wenn ihr euch also Spannung und Action davon versprochen hattet, überlegt's euch besser noch mal.« 55 Die Ansprache hätte ich halten sollen, dachte Holmes, als die Kadetten über Rebus' Worte grinsten. Sie würden zu allem, was er sagte, allem, was er tat, Ja und Amen sagen. Er war Inspector. Er war der Inspector Rebus. Holmes spürte, wie er selbst an Statur und Substanz verlor und sich zu einem Bodennebel oder einem harmlosen Schatten verflüchtigte. Jetzt trug Rebus die Verantwortung. Die Kadetten hatten ihren bisherigen Boss so gut wie vergessen und nur noch Augen für einen Mann, und dieser Mann befahl ihnen gerade, abzurücken und sich einen Tee zu gönnen. »Was ist los, Brian?« Holmes, der den davonschlurfenden Kadetten nachschaute, begriff, dass Rebus mit ihm redete. »Bitte?« »Sie sehen so aus, als hätten Sie einen Sechser gefunden und einen Shilling verloren.« Holmes zuckte die Achseln. »Ich stell mir wohl nur vor, dass ich jetzt anderthalb Shilling haben könnte. Noch nichts über das Blut?« »Bloß, dass es ebenso sehr Christis ist wie Ihrs und meins.« »Wer hätte das gedacht.« Rebus deutete mit einem Nicken zur Lichtung. »Versuchen Sie, das denen da zu sagen. Die werden Ihnen was husten.« »Ich weiß. Ich hab schon einen Anpfiff wegen Entweihung einer heiligen Stätte bekommen. Wussten Sie, dass die schon angefangen haben, nachts Wachen aufzustellen?« »Wozu?« »Für den Fall, dass die Wee Frees den Baum umhauen und damit verschwinden.« Sie starrten sich gegenseitig an und platzten dann laut los. Sofort legten sie sich eine Hand vor den Mund, um das Geräusch zu dämpfen. Entweihung über Entweihung. 55 »Kommen Sie«, sagte Rebus, »Sie sehen so aus, als könnten Sie auch ein Tässchen vertragen. Geht auf mich.« »Na also, das ist ein Wunder!«, sagte Holmes und folgte seinem Vorgesetzten aus dem Wäldchen hinaus. Ein großer, muskulöser Mann kam ihnen entgegen. Er trug Jeans und
ein weißes T-Shirt. An seinem Hals, um den er auch ein rotes Tuch gebunden hatte, baumelte ein großes Holzkreuz. Sein Bart war so dicht und schwarz wie sein Haar. »Sind Sie Polizeibeamte?« »Ja«, antwortete Rebus. »Dann sollte ich Ihnen wohl sagen, dass die versuchen, den Baum zu stehlen.« »Ihn zu stehlen, Sir?« »Ja, ihn zu stehlen. Wir müssen rund um die Uhr Wache halten. Letzte Nacht hatte einer von ihnen ein Messer dabei, aber Gott sei Dank waren zu viele von uns da.« »Und Sie sind?« »Steven Byrne.« Eine Pause. »Father Steven Byrne.« Rebus legte ebenfalls eine Pause ein, um diese neue Information zu verdauen. »Nun, Father, würden sie den Mann wiedererkennen? Den mit dem Messer?« »Ja, wahrscheinlich.« »Schön, dann könnten wir ja zur Wache fahren und uns ein paar Fotos ansehen.« Father Byrne schien Rebus abzuschätzen. Als er begriff, dass er ernst genommen wurde, nickte er langsam. »Danke, das wird, glaube ich, nicht nötig sein. Aber ich dachte, Sie sollten Bescheid wissen. Die Situation könnte eskalieren.« Rebus verkniff sich eine Bemerkung zum Thema »andere Backe«. »Wir werden unser Bestes tun, damit es nicht dazu kommt«, sagte er stattdessen. »Wenn Sie den Mann noch einmal sehen, Father, informieren Sie uns sofort. Unternehmen Sie selbst nichts.« Father Byrne sah sich um. »Ich sehe hier nicht allzu viele 56 Telefone.« Seine Augen blitzten schalkhaft. Ein attraktiver Mann, dachte Rebus. Sogar mit einer Spur von Charisma. »Gut«, sagte er, »wir werden dafür sorgen, dass ein Streifenwagen in Abständen vorbeikommt und nach dem Rechten sieht. Wie klingt das?« Father Byrne nickte. Rebus wandte sich ab. »Gott segne Sie«, hörte er den Mann sagen. Er ging einfach weiter, doch aus irgendeinem Grund waren seine Wangen sehr rot geworden. Aber es war schließlich nur recht und billig, oder? Recht und billig, dass er gesegnet wurde. »Selig sind die Friedfertigen«, zitierte er, als sie wieder in die Nähe des Megaphons kamen. Es handelte sich um eine ganz einfache Geschichte. Eines Spätnachmittags waren drei Mädchen in der Hermitage gewesen. Nach der Schule hatten sie beschlossen, eine Abkürzung durch den Park zu nehmen, über den Blackford Hill zu steigen und auf der anderen Seite dann ihren jeweiligen Heimweg einzuschlagen. Ziemlicher Umweg für eine Abkürzung, wie Rebus seinerzeit dachte. Es waren fünfzehnjährige, vernünftige Mädchen aus guten katholischen Familien mit Plänen für die Zukunft -Pläne, die Studium, Beruf und Heirat einschlossen. Sie schienen nicht zu Hirngespinsten oder Übertreibungen zu neigen und blieben bis zum Schluss bei ihrer Geschichte. Sie waren knapp dreißig Meter vom Baum entfernt gewesen, als sie einen Mann sahen. Von einem Moment zum anderen war er plötzlich da gewesen. In Weiß gekleidet und von einem Lichtschein umgeben. Langes, welliges, dunkles Haar und ein Bart. Ein sehr blasses Gesicht, da waren sie sich einig. Mit einer Hand stützte er sich gegen den Baum, die andere hielt er sich an die Seite. An die rechte Brustseite - auch darin stimmten sie alle überein. Dann nahm er die Hand weg, und sie sahen, dass da Blut war. Ein dun 56
kelroter Fleck. Sie unterdrückten einen Schrei, tauschten einen Blick, um sich gegenseitig zu bestätigen, dass es wirklich stimmte, was sie gesehen hatten. Als sie wieder zum Baum schauten, war die Gestalt verschwunden. Sie liefen schnurstracks nach Hause, aber während des Abendessens erzählte jede von ihnen die Geschichte - und fand vielleicht im ersten Moment keinen Glauben. Aber warum sollten die Mädchen denn lügen? Die Eltern gingen zusammen zur Hermitage. Man zeigte ihnen die Stelle, den Baum. Es war weit und breit niemand zu sehen. Dann stieß aber eine der Mütter einen Schrei aus und bekreuzigte sich. »Seht euch das an!«, rief sie. »Seht euch das nur an!« Es war ein verschmierter roter Fleck, noch feucht, auf der Rinde des Baums: Blut. Die Eltern gingen zur Polizei, und die Polizei nahm eine erste Durchforstung des Geländes vor. Doch inzwischen hatte ein Nachbar einer der Familien einen Freund angerufen, der als freier Journalist für ein Sonntagsblatt schrieb. Die Zeitung brachte die Story von der »Vision in der Hermitage«, und die Sache begann sich auszuweiten. Das Blut, hieß es, sei nicht getrocknet. Und das stimmte auch, aber Rebus wusste, dass das auch auf eine Reaktion zwischen Blut und Baumrinde zurückzuführen sein konnte. Man fand Fußspuren, aber so viele und so unterschiedliche, dass es unmöglich war zu bestimmen, wann und von wem sie hinterlassen worden waren. Die Eltern beispielsweise hatten das Gebiet gründlich durchstöbert und dabei jede Menge potenzielle Indizien vernichtet. Auf dem Boden fanden sich keinerlei Blutflecken. In keinem Krankenhaus und von keinem Arzt der Stadt war ein Patient mit einer entsprechenden Verletzung behandelt worden. Die Beschreibung der Gestalt war recht vage: eher groß, eher mager, natürlich das lange Haar und der Bart - aber 57 war das Haar nun braun oder schwarz gewesen? Das hatten die Mädchen nicht genau erkennen können. Kleidung weiß - »wie so ein langer Kittel«, hatte sich eine von ihnen später erinnert. Aber mittlerweile war die Geschichte Gemeingut; inwieweit beeinflusste das jetzt im Nachhinein ihre Erinnerung? Und was den Lichtschein anging - nun, Rebus hatte ja selbst gesehen, wie die Sonne auf diese bestimmte Stelle schien. Am besagten Spätnachmittag hatte die Sonne schon relativ tief gestanden. Damit hätte man den Lichtschein ohne Weiteres erklären können - jedenfalls einem rationalen Menschen. Aber dann traten die Eiferer - auf beiden Seiten - auf den Plan. Die Gläubigen und die Zweifler, mit Kerzen oder Megaphonen bewaffnet. Neuigkeiten erfuhr man kaum. Die Medien stürzten sich auf die Story. Die Mädchen waren fotogen. Als sie im Fernsehen erschienen, wurde aus dem eher bescheidenen Strom von Neugierigen eine regelrechte Sintflut. Busladungsweise kamen sie von Wales und England herauf. Aus Irland trafen die ersten organisierten Reisegruppen ein. Ein Pariser Magazin war auf das Rätsel aufmerksam geworden; desgleichen, so wurde gemunkelt, ein Halleluja-Kabelsender aus den USA. Rebus hätte am liebsten die Hände erhoben und der Flutwelle Einhalt geboten. Stattdessen wurde er glatt von ihr überrollt. Superintendent Watson wollte Antworten. »Ich mag diesen ganzen Hokuspokus nicht«, sagte er mit presbyterianischer Entschiedenheit und einem singenden Aberdeener Tonfall. »Ich will etwas Greifbares. Ich will eine Erklärung, eine, an die ich glauben kann. Klar?« Klar. Rebus war das klar; ebenso Chief Inspector Lauderdale. Chief Inspector Lauderdale war klar, dass Rebus gefälligst was unternehmen sollte. Rebus war klar, dass die eine oder andere Hand in Unschuld gewaschen wurde; dass nur seine eigenen Hände sich an dieser Sache schmut 57
zig machen würden. Im Zweifelsfall delegieren. Und genau da waren Holmes und seine Polizeischüler ins Spiel gekommen. Da sie keine neuen Indizien - besser gesagt: überhaupt keine Indizien - gefunden hatten, beschloss Rebus, die Sache abzublasen. Das Interesse der Medien ließ ohnehin schon merklich nach. Irgendein Heimatforscher meldete sich in Abständen mit »Fakten« oder einer »Theorie« und gab damit der Story eine Zeit lang neuen Auftrieb - vom Einsiedler, der in der Hermitage gelebt hatte, 1714 wegen Hexerei hingerichtet worden war und noch immer dort herumgeistern sollte -, aber lange würden solche Märchen nicht mehr ziehen. Es war so, als fachte man die Glut an, ohne Holz nachzulegen. Ein kurzes Aufflackern, und das war's dann. Sobald die Medien das Interesse verloren, würden auch die religiösen Spinner müde werden. Es hatte schon Trittbrettfahrer-»Erscheinungen« in Cornwall, Caerphilly und East Croydon gegeben. Die »Ungläubigen Thomasse« krochen aus ihren Löchern. Und schlimmer noch: Das Blut war verschwunden, von einem nächtlichen Wolkenbruch weggespült, der auch die um den Baum herum aufgestellten Kerzen ausgelöscht hatte. Wenn sich die »Erscheinung« nicht bald wiederholte, würde die Sache endgültig sterben. Darum betete Rebus allabendlich. Die Erlösung blieb aus. Stattdessen kam ein Anruf um vier Uhr morgens. »Ich hoffe, Sie haben eine gute Ausrede.« »Hab ich.« »Dann schießen Sie los.« »Wie schnell können Sie in der Hermitage sein?« Rebus setzte sich im Bett auf. »Klartext.« »Man hat eine Leiche gefunden. Na ja, >Leiche< ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt. Sagen wir, man hat einen Torso gefunden...« 58 Es war in der Tat ein Torso, wenngleich nicht von der Art, die man in Museen sieht. »Gütiger Gott im Himmel«, flüsterte Rebus, während er das Ding anstarrte. »Wer hat den gefunden?« Holmes sah selbst nicht allzu gut aus. »Einer von den dreien da«, antwortete er. »Wollte hier ein ruhiges Plätzchen suchen, um ein größeres Geschäft zu erledigen. Hatte eine Taschenlampe dabei. Hat das hier gefunden. Man kann, glaube ich, sagen, dass es ihn schwer mitgenommen hat. Und seine Hose offenbar auch.« »Kann ich irgendwie beides nachvollziehen.« Ein Generator summte im Hintergrund und lieferte den nötigen Saft für die drei Halogenscheinwerfer, die von ihren hohen Ständern aus die Lichtung ausleuchteten. Ein paar uniformierte Beamte waren dabei, das Areal mit orangefarbenen Plastikstreifen abzusperren. »Niemand hat ihn angerührt?« »Niemand hat sich auch nur in die Nähe gewagt.« Rebus nickte zufrieden. »Belassen wir es am besten dabei, bis die Spurensicherung kommt. Wo, zum Teufel, bleibt der Pathologe?« Holmes deutete mit einem Kopfnicken auf etwas hinter Rebus. »Wenn man vom Teufel spricht...«, sagte er. Rebus drehte sich um. Zwei Männer in düsteren Crombie-Mänteln kamen flotten Schritts auf die Fundstelle zu. Der eine trug eine Arzttasche, der andere hatte zum Schutz vor der kalten Luft beide Hände tief in seine Manteltaschen vergraben. Das Halogenlicht hatte ein paar ortsansässige Vögel geschreckt, die sich jetzt die Seele aus dem Leib zwitscherten. Aber bis zum Morgen war es sowieso nicht mehr lang. Chief Inspector Lauderdale bedachte Rebus mit einem knappen Nicken, was er unter den gegebenen Umständen offenbar für eine ausreichende Begrüßung hielt. Der Pathologe, Dr. Curt, hingegen war so gesprächig wie eh und je. 58
»Einen wunderschönen guten Morgen, Inspector.« Rebus, der Dr. Curt seit Ewigkeiten kannte, machte sich auf den unvermeidlichen Kalauer gefasst. Der Arzt ließ ihn nicht lange warten. »Na, dem Burschen sollte aber schleunigst jemand Beine machen!« Wie an dieser Stelle von ihm erwartet, stöhnte Rebus. Der Arzt strahlte. Rebus wusste, was als Nächstes kam: die fiktive reißerische Schlagzeile. Wieder enttäuschte ihn Dr. Curt nicht. »Kopflos im Wald - Polizei tappt im Dunkeln«, sagte er munter-sinnierend, während er Überschuhe und Overall überstreifte, um sich dann zur Leiche zu begeben. Chief Inspector Lauderdale schien seinen Ohren nicht zu trauen. Er rückte näher an Rebus heran. »Ist er immer so?« »Immer.« Der Arzt hatte sich hingehockt, um den Leichnam in Augenschein zu nehmen. Er bat die Techniker, die Scheinwerfer anders auszurichten, und begann mit seiner Untersuchung. Vorher fand er aber noch Zeit, sich Rebus ein letztes Mal kurz zuzuwenden. »Ich fürchte, wir kommen zu spät«, rief er. »Der arme Bursche ist tot.« Vor sich hin schmunzelnd, machte er sich an die Arbeit, fischte ein Diktiergerät aus seiner Arzttasche und murmelte von Zeit zu Zeit etwas hinein. Lauderdale sah eine Minute lang zu. Was ungefähr neunundfünfzig Sekunden zu lang war. Er wandte sich wieder zu Rebus. »Was können Sie mir sagen?« »Über Dr. Curt? Oder über den Toten?« »Über den Toten.« Rebus fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und kratzte sich am Kopf. Er erstellte gerade im Geist eine Liste aller geschmacklosen Kalauer, die Dr. Curt noch hätte an 59 bringen können: Der kriegt kein Bein mehr auf die Erde, lässt mit Sicherheit keinen mehr am ausgestreckten Arm verhungern, ist seine Kopfschmerzen ein für allemal los, wurde offenbar von einigen Leuten geschnitten, aber das ist ja nun wirklich kein Beinbruch, auch wenn man ihm nicht mehr Hals- und Beinbruch wünschen kann, denn dafür hat er jetzt wirklich nichts mehr am Hals... »Inspector?« Rebus zuckte zusammen. »Was?« Lauderdale starrte ihn streng an. »Ach so«, sagte Rebus, der sich jetzt wieder erinnerte. »Na ja, er ist nackt, wie man sieht. Und der oder die Täter haben nicht jedes Glied abgetrennt, dadurch wissen wir mit Sicherheit, dass er ein Er ist. Sonst nichts, Sir. Sobald es hell wird, suchen wir das ganze Gelände nach den fehlenden Extremitäten ab. Was ich aber mit ziemlicher Sicherheit sagen kann: Er wurde nicht hier zerlegt.« »Wie kommen Sie darauf?« »Kein Blut, Sir. Jedenfalls soweit ich feststellen kann.« »Gentlemen!« Curt hatte gerufen, winkte die beiden zu sich. Jetzt mussten auch sie die Überschuhe, eigentlich nicht viel mehr als schlecht sitzende Plastiktüten, und die Overalls anziehen. Die Leute von der Spusi würden jeden Quadratzentimeter Boden rings um die Leiche absuchen. Es wäre nicht nett gewesen, falsche »Spuren«, wie Fasern vom Jackett oder eine verlorene Münze, zu hinterlassen. »Was gibt's, Doktor?« »Zunächst einmal kann ich Ihnen sagen, dass es ein Mann ist, Alter zwischen fünfunddreißig und fünfzig. Entweder verlebte fünfunddreißig oder recht gut erhaltene fünfzig. Und untersetzt, es sei denn, er hatte im Verhältnis zum Rumpf lächerlich lange Beine. Ich kann eine bessere Schätzung abgeben, sobald wir ihn auf dem Tisch gehabt haben.« Sein Lächeln schien speziell Lauderdale zu gelten. 59 »Tot seit einem Tag oder länger. Er wurde natürlich in diesem Zustand hier abgeladen.« »Natürlich«, sagte Lauderdale. »Kein Blut.«
Der Arzt nickte, noch immer lächelnd. »Aber da ist noch was. Hier, sehen Sie.« Er zeigte auf das, was von der rechten Schulter übriggeblieben war. »Sehen Sie diese Läsion?« Er beschrieb mit dem Finger einen Kreis um die Schulter. Sie mussten sich tiefer beugen, um zu erkennen, was er meinte. Die Schulter war mit einem Messer bearbeitet worden, so als hätte jemand versucht, sie zu schälen. Das sah im Vergleich zu den sonstigen, sauberen Schnitten ungeschickt und amateurhaft aus. »Eine Tätowierung«, sagte Rebus. »Kann nichts anderes sein.« »Ganz recht, Inspector. Der oder die Täter haben versucht, sie zu entfernen. Nachdem sie den Rumpf hier abgeladen hatten. Sie haben offensichtlich gesehen, dass noch ein Teil der Tätowierung zurückgeblieben war, genug, um uns zu helfen, das Opfer zu identifizieren. Also...« Er bewegte die Finger vom Schulterstumpf zum Boden darunter. Rebus konnte gerade eben die Hautfetzen ausmachen. »...können wir sie wieder zusammensetzen«, vollendete Rebus den Satz. »Natürlich können wir das!« Der Arzt stand auf. »Die müssen uns ja für blöd halten. Erst machen sie sich die ganze Mühe, und dann lassen sie so was liegen...« Er schüttelte gemächlich den Kopf. Rebus wartete mit angehaltenem Atem. Das Gesicht des Arztes erhellte sich. »Es ist Jahre her, dass ich zuletzt ein Puzzle gemacht habe«, sagte er, während er seine Tasche öffnete, seine Sachen darin verstaute und den Verschluss mit einem lauten Klack wieder zuschnappen ließ. »Aber was man schwarz auf weiß besitzt...«, sagte er und entfernte sich in Richtung der Absperrung. 60 Nachdem Curt gegangen war, zurück zu seinem Seziertisch, um auf die Anlieferung der Leiche zu warten, wollte sich Lauderdale noch vergewissern, dass alles seinen Gang ging. Es ging, versicherte ihm Rebus. Daraufhin entbot ihm Lauderdale eine gute Nacht. Rebus glaubte nicht, dass ihm jemand je zuvor eine gute Nacht »entboten« hatte; er bezweifelte, dass überhaupt jemand jemandem je eine gute Nacht entboten hatte, außer in ältlichen Büchern und Theaterstücken. Besonders seltsam war es, im Morgengrauen eine gute Nacht entboten zu bekommen. Er hätte schwören können, dass irgendwo in der Ferne ein Hahn krähte, aber wer würde andererseits in Morningside schon Hühner halten? Er machte sich auf die Suche nach Holmes und fand ihn drüben bei den Baumanbetern. Für die restliche Nacht war ein Wachdienst eingerichtet, jeweils zwei, drei Leute für zwei Stunden. Holmes plauderte, gab sich locker. Er verlagerte sein Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen, als ob er einen Krampf hätte oder die Kälte durch die Strümpfe an seinem Bein hinaufkroch. Sich die Beine in den Bauch stehen: Daraus hätte Dr. Curt auch gut was basteln können. »Sie wirken heute Morgen sehr vergnügt, Inspector. Andererseits ist ja jeder Morgen Anlass genug, sich zu freuen.« Ganz auf Holmes konzentriert, hatte Rebus die andere Gestalt, die wie er auf den Baum zuging, nicht bemerkt. In Jeans, Tartan-Hemd und Lumberjack gekleidet, aber dasselbe Holzkreuz am Hals. Es war Father Byrne. Himmelblaue Augen, durchdringender Blick, die Pupillen wie winzige Pünktchen von Tusche. Das Lächeln ging von Lippen und Mund auf Augen und Wangen über. Sogar der Bart des Mannes schien sich an dem Vorgang zu beteiligen. »Von vergnügt kann keine Rede sein, Father Byrne -« »Bitte, nennen Sie mich Steven.« 60 »Schön, wie gesagt, von vergnügt kann keine Rede sein. Wussten Sie, dass sich letzte Nacht ein Mord ereignet hat?« Jetzt waren die Augen weit aufgerissen. »Ein Mord? Hier?« »Na ja, streng genommen nicht, nein. Aber die Leiche wurde hier abgelegt. Wir werden mit allen reden müssen, die gestern hier waren. Sie könnten etwas gesehen haben.«
Holmes schwenkte ein Notizbuch. »Ich hab schon ein paar Namen und Adressen notiert.« »Braver Junge. Hat es weitere Drohungen gegeben, Father?« »Drohungen?« »Sie erinnern sich, der Mann mit dem Messer.« »Nein, nicht dass ich wüsste.« »Tja, es wäre mir wirklich lieb, wenn Sie auf die Wache kommen und sich ein paar Fotos ansehen könnten, ob Sie ihn vielleicht erkennen...« »Jetzt?« »Irgendwann im Lauf des Tages.« Rebus schwieg kurz. »Wann es Ihnen am besten passt.« Father Byrne erfasste die Bedeutung der Pause. »Nun, natürlich. Wenn Sie glauben, dass es etwas nützt. Ich komme heute Vormittag vorbei. Aber Sie glauben doch nicht...? Bestimmt nicht.« Rebus zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich bloß ein Zufall, Father. Aber Sie müssen zugeben, es ist schon ein ziemlicher Zufall. Jemand taucht hier mit einem Messer auf. Ein paar Tage später wird, keine dreihundert Meter entfernt, eine Leiche gefunden. Ja, Zufall.« Wieder diese Pause. »Meinen Sie nicht auch?« Aber Father Byrne schien keine Antwort darauf zu wissen. 61 Nein, es war kein Zufall, da war sich Rebus sicher. Schön, wenn man eine Leiche loswerden wollte, war die Hermitage sicher ein geeigneter Ort. Aber keine Lichtung, wo früher oder später jemand darüber stolpern würde. Und auch nicht so nah am berühmten Baum, wo sich, wie jeder wusste, rund um die Uhr Leute herumtrieben, was das Ablegen einer Leiche zu einem recht riskanten Unterfangen machte. Einem zu riskanten. Es musste einen Grund dafür geben. Eine Erklärung. Vielleicht etwas wie eine Botschaft. Ja, eine Botschaft. Und waren dreihundert Meter nicht ein ziemlich langer Weg, nur um eben mal einen Haufen zu machen? Nun, der Punkt ließ sich rasch klären. Der Mann gab zu, dass er nicht allein unterwegs gewesen war. Er hatte seine Freundin dabeigehabt. Als er auf den Leichnam stieß, hatte er sie nach Haus geschickt. Einerseits weil sie unter Schock stand, andererseits, damit »ihr Ruf keinen Schaden nahm«. Father Byrne teilte das Rebus mit, als er auf der Wache erschien, um sich die Verbrecherkartei anzusehen - was zu nichts führte. Jetzt war es eine neue Kategorie von Touristen, die zur Hermitage strömten, eine neue Art von »Heiligtum«, zu der sie pilgerten. Sie wollten die Stelle sehen, an der man den Rumpf entdeckt hatte. Anwohner führten weiterhin dort ihre Hunde spazieren, und Liebespärchen schlenderten wie immer am Bach entlang; aber sie hatten jetzt einen starren Ausdruck im Gesicht, als wollten sie nicht akzeptieren, dass die Hermitage, ihre Hermitage, zu etwas anderem geworden war, zu etwas, das sie nie von ihr erwartet hätten. Rebus vertrieb sich derweil die Zeit mit einem Puzzle. Die Tätowierung nahm allmählich, wenn auch sehr langsam, Gestalt an. Es passierten immer wieder Fehler. Und das führte dazu, dass weitere Stücke falsch eingesetzt wur 61 den, bis man das Ganze wieder auseinander- und neu in Angriff nehmen musste. Die vorherrschende Farbe war Blau, daneben gab es vereinzelte rote Partien. Die dunklen Tintenstriche verliefen in der Regel gerade. Das Ganze sah wie Profiarbeit aus. Tattoostudios wurden abgeklappert, aber die Beschreibung des Musters, die man bislang geben konnte, war noch zu vage. Rebus zeigte Holmes ein weiteres mögliches Bild, das fünfte dieser Art in einer Woche. Die Kriminaltechniker hatten durch gestrichelte Linien angedeutet, wie die Zeichnung ihrer Ansicht nach weitergehen konnte. Holmes nickte.
»Das ist ein Kandinsky«, erklärte er. »Oder einer seiner Schüler. Kompakte, balkenartige Farbflächen. Ja, eindeutig ein Kandinsky.« Rebus war platt. »Sie meinen, Kandinsky hat diese Tätowierung gemacht?« Holmes sah vom Bild auf, grinste verlegen. »Tut mir leid, das war nur ein Witz. Oder sollte einer sein. Kandinsky war ein Maler.« »Ach so.« Rebus klang enttäuscht. »Ja«, sagte er, »ja, natürlich, der Maler. Klar.« Weil er sich mies fühlte, seinem Vorgesetzten falsche Hoffnungen gemacht zu haben, konzentrierte sich Holmes jetzt umso mehr auf das Bild. »Könnte ein Hakenkreuz sein«, schlug er vor. »Diese Linien...« »Ja.« Rebus drehte das Foto zu sich herum, knallte dann mit der flachen Hand darauf. »Nein!« Holmes zuckte zurück. »Nein, Brian, kein Hakenkreuz... ein Union Jack! Das ist ein gottverdammter Union Jack!« Sobald die Jungs vom Labor das Muster vor sich liegen hatten, war es ein Kinderspiel, das Puzzle zusammenzusetzen. Aber wie sie feststellten, handelte es sich nicht lediglich um einen Union Jack, sondern einen Union Jack mit den schräg darüber verlaufenden Buchstaben UFF und ei 62 ner hinter den Buchstaben hervorlugenden Maschinenpistole. »Ulster Freedom Fighters«, murmelte Rebus. »Okay, dann nehmen wir uns wieder die Tattoostudios vor.« Für den Durchbruch sorgte ein CID-Beamter in Musselburgh. Ein dortiger Tätowierer glaubte, in der Zeichnung die Arbeit Tarn Finlaysons zu erkennen, aber Finlayson hatte sich schon ein paar Jahre zuvor aus dem Geschäft zurückgezogen, und ihn aufzuspüren war nicht leicht. Einen Augenblick lang befürchtete Rebus sogar, der Mann könnte schon tot und begraben sein. Er war's nicht. Er wohnte mit seiner Tochter und seinem Schwager in Brighton. Ein Detective aus Brighton suchte ihn auf und gab die Ergebnisse telefonisch nach Edinburgh durch. Beim Anblick des Bildes war Finlayson zusammengezuckt und hatte dann, wie seine Tochter es formulierte, »einen seiner Anfälle« gekriegt. Er bekam Pillen verabreicht, und schließlich war er in der Lage zu reden. Aber er hatte Angst, daran war kein Zweifel. Durch die Tatsache beruhigt, dass die Tätowierung zu einer Leiche gehörte, rückte der Tätowierer aber zuletzt doch mit der Wahrheit heraus. Ja, das war seine Arbeit. Die hatte er vor vielleicht fünfzehn Jahren gemacht. Und der Kunde? Ein junger Mann namens Philips. Rab Philips. Kein Terrorist, bloß ein Rabauke auf der Suche nach einer »guten Sache«. »Rab Philips?« Rebus starrte sein Telefon an. »Der Rab Philips?« Wer sonst? Ein unterbelichteter Kleinganove, der genügend Zeit im Gefängnis, dieser Universität des Lebens, zugebracht hatte, um zu einem cleveren Kleinganoven zu werden. Und der dann zu einer großen Nummer herangewachsen war - oder gereift, wenn man so wollte. Nicht direkt Oberliga, aber auch kein Sonntagskicker mehr. Die letzten paar Jahre war er wenig in Erscheinung getreten. Kein Klatsch über ihn auf der Straße; kein Dreck 62 am Stecken; ja genau genommen überhaupt nichts Neues. Nun, jetzt gab es etwas Neues. Pubs und Klubs wurden abgeklappert, Drinks spendiert, gelegentlich ein Arm verdreht, und die Informationen begannen, wenn auch zaghaft, zu fließen. Philips' Haus wurde durchsucht und Philips' Frau vernommen. Laut ihrer Aussage hatte er ihr gesagt, er würde geschäftlich für ein paar Tage nach London reisen. Rebus nickte wortlos und reichte ihr ein Foto. »Ist das Rabs Tätowierung?« Sie wurde blass. Dann hysterisch.
Inzwischen hatte man Philips' Kumpel und »Geschäftspartner« eingefangen und verhört. Ein, zwei von ihnen wurden freigelassen und dann wieder festgenommen, freigelassen und wieder festgenommen. Die Botschaft war klar: Das CID war davon überzeugt, dass sie mehr wussten, als sie erzählten, und solange sie nicht erzählten, was sie wussten, würde das Spielchen so weitergehen. Sie waren natürlich nervös, und wer hätte es ihnen verdenken können? Sie konnten nicht wissen, wer das Revier ihres Exbosses übernehmen würde. Es gab in der Stadt jede Menge Leute mit Ressentiments und entsprechenden Messern. Je länger sie auf Polizeiwachen herumlungerten, desto mehr würde man sie als Risikofaktor betrachten. Sie erzählten, was sie wussten - oder zumindest, was das CID wissen wollte. Rebus war's recht. Rab Philips, sagten sie, hatte angefangen, mit Drogen zu dealen. Nichts Ernstes, hauptsächlich Cannabis, aber in beträchtlichen Mengen. Das CID von Edinburgh hatte viel getan, um das Problem der harten Drogen aus der Welt zu schaffen - vor allem, indem es die Dealer aus dem Verkehr zog. Neue Dealer tauchten zwar immer wieder auf, aber das waren kleine Fische. Rab Philips allerdings hatte sich so lange so ruhig verhalten, dass er nicht verdächtigt wurde. Und au 63 ßerdem wurden die Drogen in Edinburgh lediglich umgeschlagen; sie blieben nicht in der Stadt. Boote luden sie an der Küste von Fife oder weiter nördlich ab. Dann wurden sie nach Edinburgh geschafft und von dort aus weiter nach Süden. Nach England. Was konkret nach London bedeutete. Rebus hörte sich nach einer möglichen nordirischen Connection um, aber keiner hatte etwas zu berichten. »Also, zu wem gehen die Drogen in London?« Wieder stellten sich alle dumm. Rebus saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem weiteren Puzzle - aber diesmal im Kopf: einem Puzzle von Fakten und Möglichkeiten. Ja, er hätte es von Anfang an wissen müssen. Zerstückelung bedeutete Unterwelt. Einen Verrat, ein falsches Spiel. Und die dafür vorgesehene Strafe. Rebus griff wieder zum Telefon, ließ sich diesmal mit London verbinden. »Inspector George Flight, bitte.« Typisch Flight, alles ganz einfach erscheinen zu lassen. Rebus gab ihm die Beschreibung durch, und eine Stunde später rief Flight zurück und hatte einen Namen. Rebus steuerte noch ein paar Details bei, und Flight machte einen Besuch. Als er diesmal zurückrief, befand sich Rebus schon zu Haus. Es war später Abend, und Rebus döste, das Telefon auf dem Schoß, in seinem Sessel. Flight war bester Laune. »Ich bin froh, dass Sie mir von der Stichwunde erzählt haben«, begann er. »Ich hab ihm ein paar Fragen gestellt und gleich gemerkt, dass er ein bisschen steif war. Als er aufgestanden ist, um mich zur Tür zu begleiten, habe ich ihm einen Klaps auf die rechte Brustseite gegeben. Aber so, dass es scherzhaft wirkte. Sie wissen schon, ganz ohne Aggressivität.« Er schmunzelte. »Sie hätten ihn sehen sollen, John. Wie ein Taschenmesser ist er zusammengeklappt. Natürlich fing die Wunde wieder an zu bluten. Der Blödmann hatte sie nicht versorgen lassen. Würd mich nicht wundern, wenn sie vereitert wäre oder sonst was.« 63 »Wann ist er aus Edinburgh zurückgekommen?« »Vor ein paar Tagen. Meinen Sie, wir können ihn dran-kriegen?« »Vielleicht. Wir könnten allerdings ein paar Beweise brauchen. Aber ich glaube, was das angeht, lässt sich was machen.« Wie Rebus Brian Holmes erklärte, war es mehr als eine bloße Ahnung gewesen. Eine Ahnung war nicht mehr als ein Schuss ins Blaue - oder ein Stich im Dunkeln, wie Dr. Curt vermutlich gekalauert hätte. Rebus stand allerdings ein bisschen mehr Licht zur
Verfügung. Er erzählte die Geschichte, während sie durch das frühmorgendliche Edinburgh zur Hermitage fuhren. Die drei Mädchen hatten einen Mann aus dem Wäldchen auftauchen sehen. Einen verletzten Mann. Jetzt schien klar zu sein, dass er bei einem Handgemenge in der Nähe oder direkt an der Braid Hills Road einen Messerstich abbekommen hatte. Drogen waren von einem Auto ins andere umgeladen worden. Eine versuchte krumme Tour. Er war verletzt worden und den Hügel hinunter in die eigentliche Hermitage geflohen, hatte die Lichtung zur selben Zeit wie die Mädchen erreicht und sich, als er sie entdeckte, augenblicklich verdrückt. Denn natürlich hatte er etwas zu verbergen: seine Wunde. Er hatte sich irgendwie selbst zusammengeflickt, war aber dann in Edinburgh geblieben, um Rache zu nehmen. Rab Philips war geschnappt und zerstückelt worden, und seinen Rumpf hatte man als eine Botschaft an Philips' Gang in der Hermitage liegen lassen. Die Botschaft bedeutete: Legt euch nicht mit London an. Dann hatte sich der verletzte Gangster endlich wieder nach Süden verzogen. Aber er war das genaue Gegenteil von Philips; er trug sehr auffällige Sachen. »Wahrscheinlich einen weißen Mantel«, hatte Rebus zu George Flight 64 gesagt. »Eine weiße Hose. Er hat lange Haare und einen Bart.« Flight hatte die Beschreibung präzisiert. »Es ist ein weißer Trenchcoat«, erklärte er. »Und eine gelbe Hose, ob Sie's glauben oder nicht. Der ist ein waschechter Ex-Althippie.« Er hieß Shaun McLafferty. »Auf der Straße kennt jeder Shaun«, fuhr Flight fort. »Aber dass er angefangen hatte, mit Dope zu dealen, wusste ich nicht. Obwohl mich das nicht überrascht - der würde es mit allem probieren.« McLafferty. »Er ist nicht, rein zufällig, Ire?«, fragte Rebus. »Londoner Ire«, antwortete Flight. »Würd mich nicht wundern, wenn die IRA zehn Prozent von seinen Gewinnen einstreicht. Vielleicht auch mehr. Schließlich entweder er zahlt, oder sie übernehmen das Geschäft. Kommt vor.« Vielleicht war es also wirklich so simpel. Ein Streit um Konfessionen. Ein IRASympathisant, der sich bei einer geschäftlichen Transaktion plötzlich, nichts Böses ahnend, einem UFF-Tattoo gegenübersah. Genau die Mischung, an der der alte Molotow seine helle Freude gehabt hätte. »Dann«, sagte Brian Holmes, nachdem er das alles verdaut hatte, »hat Inspector Flight also McLafferty einen Besuch abgestattet?« Rebus nickte. »Und McLafferty war an der rechten Seite verletzt. Stichwunde, meinte George.« »Warum sind wir dann hier?«, fragte Holmes. Sie hatten den Wagen vor dem Tor stehen lassen und gingen jetzt in die Hermitage hinein. »Weil uns«, sagte Rebus, »noch immer Beweise fehlen.« »Was für Beweise?« Aber Rebus wollte nichts verraten; vielleicht weil er die Antwort selbst nicht wusste. Sie näherten sich dem Baum. Von den bis dahin stets gegenwärtigen Wachen war weit 64 und breit nichts zu sehen, aber vor dem Baum kniete eine vertraute Gestalt. »Morgen, Father.« Father Byrne hob den Kopf. »Guten Morgen, Inspector. Auch Ihnen, Constable.« Rebus sah sich um. »Ganz allein?« Byrne nickte. »Die Begeisterung scheint sich gelegt zu haben, Inspector. Keine Megaphone mehr, keine Reisegesellschaften oder Kameras.« »Sie klingen erleichtert.«
»Bin ich auch, das können Sie mir glauben.« Father Byrne breitete die Arme aus. »So ist es mir viel lieber, Ihnen nicht?« Rebus musste ihm beipflichten und nickte. »Wie auch immer«, sagte er dann, »wir glauben, erklären zu können, was die Mädchen damals gesehen haben.« Father Byrne zuckte lediglich die Schultern. »Keine Wachen mehr?«, fragte Rebus. »Die Männer haben aufgehört, uns Ärger zu machen.« Rebus nickte nachdenklich. Seine Augen waren auf den Baum gerichtet. »Sie hatten es nicht auf Sie abgesehen, Father. Es ging um den Baum. Aber nicht aus dem Grund, den Sie vermuten. Dürfte ich um Ihre Hand bitten, Brian?« Eigentlich brauchte er beide. Holmes sollte eine Räuberleiter machen, damit Rebus auf den Baum steigen konnte. Holmes lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und hielt, nicht ohne ein inneres Aufstöhnen, die verschränkten Hände hin. Rebus wog gut und gern zwanzig Kilo mehr als er. Aber nun - nicht murren, gehorchen... und hau ruck! Rebus tastete den Stamm ab, fand Astlöcher, Moos, aber sonst nichts, nichts Verstecktes. Er reckte sich höher, spähte in jeden Riss in der Rinde, jede Vertiefung. Nichts. 65 »Okay, Brian.« Dankbar ließ Holmes Rebus wieder hinunter. »Was gefunden?« Rebus schüttelte den Kopf. Er nagte an der Unterlippe. »Wollen Sie mir nicht sagen, wonach wir suchen?« »McLafferty hatte noch etwas anderes vor den Mädchen zu verbergen - außer der Tatsache, dass er verletzt war. Mal nachdenken.« McLafferty war durch das Wäldchen gekommen, dann durch das Gestrüpp, hatte sich einen Augenblick lang an den Baum gelehnt, war wieder im Wäldchen verschwunden. »Kreide!« Rebus schlug mit der Faust gegen den Baum. »Bitte?« »Kreide! An dem Morgen, an dem ich nach Ihnen schaute. Als die Kadetten aufstanden, hatten sie weißes Kreidepulver an den Knien.« »Ach ja?« »Jetzt sehen Sie selbst!« Rebus führte Holmes ins Wäldchen hinein. »Hier ist weit und breit kein weißes Gestein. Keine Kalksteinbröckchen. Das war keine Kreide!« Er ließ sich auf die Knie fallen und begann, wie wild mit den Händen im Erdreich zu scharren. Die Eltern der Mädchen hatten den Boden zertrampelt, so dass man das weiße Pulver nicht mehr sehen konnte. Genug, um Flecken an Hosenknien zu hinterlassen, aber ansonsten kaum zu erkennen. Mit Sicherheit nichts, worauf ein Polizeischüler groß geachtet hätte. Und schließlich hatten sie nach Gegenständen auf dem Boden gesucht und nicht darunter. »Aha!« Er hielt kurz inne, stocherte an einer Stelle mit den Fingern in der Erde, fing dann an, darum herum zu graben. »Hier«, sagte er, »nur der eine Beutel, und der ist aufgeplatzt. Das war's. Muss aufgeplatzt sein, als McLafferty ihn vergraben hat. Rufen Sie am besten die Spusi an, 65 Brian. Da dürften überall Blut und Fingerabdrücke von ihm drauf sein.« »Ja, Sir.« Erstaunt sprintete Holmes los, blieb dann stehen und drehte sich wieder um. »Schlüssel«, sagte er. Rebus fischte seine Autoschlüssel aus der Tasche und warf sie ihm zu. Father Byrne, der die ganze Szene als stummer Besucher verfolgt hatte, kam etwas näher. »Heroin, Father. Entweder das oder Kokain. Allemal profitabler als Cannabis. Letzten Endes geht's immer nur ums Geld. Sie zogen gerade einen Deal durch. McLafferty hat
sich einen Messerstich eingehandelt. Als es passierte, hatte er gerade einen Beutel in der Hand. Irgendwie konnte er entwischen, ist ohne nachzudenken hier runtergerannt. Er wusste, dass er das Zeug unbedingt loswerden musste, also hat er es vergraben. Die Männer, die Ihnen Ärger machten, McLaffertys Männer - die waren hinter dem hier her. Dann haben sie stattdessen Rab Philips in die Finger bekommen und sind zufrieden nach Hause gefahren. Wären nicht Ihre Nachtwächter gewesen, hätten sie das Zeug hier auch noch gekriegt.« Rebus verstummte, als ihm klar wurde, dass der Priester ihm wahrscheinlich nicht ganz folgen konnte. Father Byrne schien seine Gedanken zu lesen und lächelte. »Einen Moment lang, Inspector«, sagte er, »glaubte ich, Sie redeten in Zungen.« Rebus grinste ebenfalls und stellte fest, dass er ganz außer Atem war. Mit McLaffertys Fingerabdrücken auf dem Beutel hatten sie den Beweis, den sie brauchten. »Tut mir leid, dass es dann doch nichts war mit Ihrem Wunder«, meinte er. Father Byrnes Lächeln wurde breiter. »Wunder geschehen jeden Tag, Inspector. Ich hab es nicht nötig, dass man eigens welche für mich inszeniert.« Sie drehten sich um und sahen Holmes auf sie zukom66 men. Aber sein Blick war auf einen Punkt links von ihnen gerichtet. »Sie sind schon unterwegs«, sagte er und gab Rebus seine Schlüssel zurück. »Fein.« »Wer war das eben?« »Wer?« »Der andere Mann.« Holmes sah von Rebus zu Byrne und dann wieder zu Rebus. »Der andere Mann«, wiederholte er. »Der, der bei Ihnen beiden stand. Als ich zurückkam, war er...«Jetzt gestikulierte er, zeigte zurück zum Tor, dann auf eine Stelle links vom Baum. Aber seine Stimme wurde dabei immer leiser. »Nein, vergessen Sie's«, sagte er dann. »Ich dachte... ich meinte bloß - nein, vergessen Sie's. Ich sehe offenbar -« »Gespenster?«, schlug Father Byrne vor. Seine Finger berührten ganz leicht das Holzkreuz an seinem Hals. »Ja, genau. Ja, ich seh Gespenster.« Gespenster, dachte Rebus. Waldgeister. Rab Philips vielleicht oder den Hexer der Hermitage. Mein Gott, die beiden hätten sich bestimmt eine Menge zu erzählen...
Gut gehängt Es war eine ganze Weile her, dass man in Edinburgh auf dem Parliament Square zuletzt einen Gehenkten gesehen hatte. Obwohl man, grub man ein bisschen tiefer in der Vergangenheit, den Eindruck gewann, dass das früher ein recht vertrauter Anblick gewesen sein musste. Detective Inspector John Rebus erinnerte sich, irgendwann mal im Pub die Geschichte gehört zu haben, dass zum Tod durch den Strang verurteilten Verbrechern früher die Möglichkeit geboten wurde, von einer geifernden Volksmenge gehetzt, die ganze Royal Mile, vom Parliament Square bis runter nach Holyrood zu rennen. Wenn der Verbrecher den königlichen Park erreichte, bevor er gefasst wurde, durfte er dort bleiben und unbehelligt umherstreunen, solange er die Grenzen des Parks nicht überschritt. Ob wahr oder nicht, beschwor die Geschichte immerhin das schaurig-schöne Bild von Gaunern und Vagabunden herauf, die zwischen Arthur's Seat, Salisbury Crags und Whinny Hill eingesperrt ihr Dasein fristeten. Ganz ehrlich, da hätte Rebus allemal den Strick vorgezogen. »Das kann doch nur ein schlechter Witz sein, oder?« Ein Jux. Zu dieser Zeit des Jahres war Edinburgh voll von Aktionen der verschiedensten Art. Es war Festivalzeit, und junge Leute, Theaterfreaks, überschwemmten die Stadt mit ihrem Enthusiasmus und ihrer Energie. Man
67 konnte keine zehn Schritte laufen, ohne dass jemand einem einen Handzettel aufdrängte oder einen beschwor, seine Produktion zu besuchen. Das waren die »Fringe-Irren«, wie Rebus sie nach dem alternativen Festival, dem Fringe, nicht sehr originell, aber zu seiner Zufriedenheit getauft hatte. Sie kamen, meist für zwei, drei oder vier Wochen aus London und quetschten sich überall in der Stadt in feuchte Schlafsäcke auf dem Fußboden von möblierten Zimmern, um dann viel blasser, müder und fast immer ärmer wieder nach Hause zurückzukehren. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Fringe-Produktionen, die das Pech hatten, sich mit einem Aufführungsort am Stadtrand begnügen zu müssen, die keine Kritiken vorzuweisen hatten und denen es an Publicity wie an Inspiration mangelte, nur wenig Publikum anlockten, wenn sie nicht sogar lediglich vor einem einköpfigen Publikum spielten. Rebus mochte die Festivalsaison nicht. Die Straßen waren verstopft, die ganze Kunstbegeisterung schien ihm eine deutliche Komponente von Verzweiflung zu haben, und natürlich stieg die Anzahl der Straftaten. Taschendiebe liebten das Festival. Einbrecher fanden in den überbelegten und ungenügend gesicherten Privatquartieren leichte Beute. Und wenn sie feststellen mussten, dass ihr Stamm-Pub von den »Sassenachs« okkupi ert worden war, zeigten die Einheimischen die Neigung, sich gelegentlich auch mal mit Fäusten, Flaschen oder Stühlen zu artikulieren. Was erklärte, warum Rebus während des Festivals das Stadtzentrum mied und es auf Gassen und halb vergessenen Schleichwegen umfuhr. Was gleichfalls erklärte, warum es ihn so aufregte, heute zum Parliament Square, dem Herzen des Fringe, gerufen worden zu sein, um sich einen Gehenkten anzusehen. »Das muss ein missglückter Jux sein«, wiederholte er, zu Detective Constable Brian Holmes gewandt. Die zwei 67 Männer standen vor einem Galgen, an dem der sanft hin und her pendelnde Leichnam eines jungen Mannes hing. Dass der Leichnam pendelte, lag an der frischen Brise, die vom Holyrood Park aus die Royal Müe heraufwehte. Rebus dachte an die Geister der einstigen Bewohner des königlichen Parks. Sorgten sie für den Wind? »Ein missglückter Publicitygag«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wie es aussieht, nicht, Sir«, sagte Holmes. Er hatte ein paar Worte mit den Arbeitern gewechselt, die gerade versuchten, eine Art Vorhang zu spannen, um das Schauspiel vor den Blicken Hunderter neugieriger Touristen zu verbergen, die sich lärmend um die Polizeiabsperrung drängten. Holmes konsultierte jetzt sein Notizbuch, während Rebus um den Galgen herumspazierte. Er war eine ziemlich wacklige Konstruktion, die allerdings durchaus ihren Dienst getan hatte. »Der Tote wurde heute Morgen um 4.50 Uhr entdeckt. Er kann da unserer Meinung nach noch nicht sehr lang gehangen haben. Ein Streifenwagen war gegen vier vorbeigefahren, und die Kollegen hatten nichts gesehen.« »Was nicht viel heißen will«, murmelte Rebus dazwischen. Holmes ignorierte die Bemerkung. »Der Tote gehörte zu einer Fringe-Gruppe namens Ample Reading Time. Das ist ein Wortspiel, denn es bedeutet nicht nur >reichlich Zeit zum Lesen<, sondern spielt auch darauf an, dass die Leute von der Universität Reading kommen.« »Und es ergibt außerdem das Akronym ART«, bemerkte Rebus. »Ja, Sir«, sagte Holmes. Sein Ton verriet seinem Vorgesetzten, dass er schon selbst darauf gekommen war. Rebus schüttelte sich ein bisschen, als versuchte er, sich aufzuwärmen. Er hatte einen Sommerschnupfen. »Wie haben wir seine Identität ermittelt?« Sie standen
68 jetzt vor dem Gehenkten, bloß einen knappen Meter unter ihm. Anfang zwanzig, nahm Rebus an. Dichtes, langes, lockiges schwarzes Haar. »Am Galgen steckt eine Fringe-Inventarnummer«, erklärte Holmes. »Sie gehört zu einem Studentenwohnheim, grad ein Stück weiter die Straße entlang.« »Und dort wird die ART-Show aufgeführt?« »Ja, Sir.« Holmes konsultierte das dicke Fringe-Programm, auf dem er sein Notizbuch aufgestützt hatte. »Es ist eine Art Theaterstück mit dem Titel >Szenen einer Hinrichtung<.« Hier tauschten die zwei Männer einen Blick. »Der Ankündigungstext«, fuhr Holmes fort, der den Eintrag der Theatergesellschaft ziemlich weit am Anfang des Programms aufgeschlagen hatte, »verspricht > Spannung, Gänsehaut und eine LiveHinrichtung auf der Bühne<.« »Eine Live-Hinrichtung? Na, man kann ja wirklich nicht sagen, dass sie zu viel versprochen hätten. Da schafft er also den Galgen aus dem Theaterraum, schiebt ihn hierher - wie ich sehe, steht er auf Rädern, wahrscheinlich, damit man ihn leichter auf die Bühne und wieder runterbefördern kann - und hängt sich mitten in der Nacht auf, ohne dass jemand was hört oder sieht.« Rebus klang skeptisch. »Nun«, sagte Holmes, »seien wir mal ehrlich, Sir.« Er deutete auf die Horde von Schaulustigen und über sie hinweg. »Sieht in Edinburgh zu dieser Zeit des Jahres irgendetwas verdächtig aus?« Rebus folgte mit dem Blick der Richtung des Fingers und sah, dass ein gut vier Meter großer Mann das Schauspiel aus luftiger Höhe betrachtete, während irgendwo rechts von ihm jemand mit drei Kochtöpfen jonglierte. Der Stelzenmann ging auf die wirbelnden Töpfe zu, pflückte einen davon aus der Luft und stülpte ihn sich auf den Kopf, um sich dann, der Volksmenge zu seinen Füßen gnädig zuwinkend, zu entfernen. Rebus seufzte. 68 »Sie haben vermutlich recht, Brian. Ausnahmsweise einmal könnten Sie recht haben.« Ein junger Detective Constable kam auf sie zu und hielt ihnen ein gefaltetes Blatt Papier hin. »Das haben wir in der Gesäßtasche seiner Hose gefunden.« »Ah«, sagte Rebus, »der Abschiedsbrief.« Er nahm das Blatt aus der ausgestreckten Hand des DC und las laut vor: »>Zu schade, dass es nicht die Zwölfte Nacht war<.« Holmes spähte auf die eine maschinengeschriebene Zeile. »Ist das alles?« »Kurz, aber bündig«, meinte Rebus. -»Zwölfte Nacht. Eine Komödie von Shakespeare, besser bekannt als Was ihr wollt, und das Ende der Zeit zwischen den Jahren. Was von bei-dem er wohl meinte?« Rebus faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es ein. »Aber ist das überhaupt ein Abschiedsbrief? Es könnte einfach eine ganz gewöhnliche Notiz sein, um sich an was zu erinnern, oder was weiß ich. Ich glaube nach wie vor, dass das ein missglückter Gag ist.« Er unterbrach sich, hustete. Er stand neben dem »Herz von Midlothian«, und wie viele Schotten vor ihm spuckte er, weil's angeblich Glück brachte, ins Zentrum des herzförmigen Kopfsteinmosaiks. Holmes wandte sich ab und starrte unvermittelt in die gebrochenen Augen des Toten. Als er sich wieder umdrehte, hantierte Rebus gerade mit einem Taschentuch. »Vielleicht«, sagte Rebus zwischen zwei Schnäuzern, »sollten wir mit dem Rest der Besetzung ein paar Takte reden. Momentan dürften die nicht allzu beschäftigt sein.« Er deutete auf den Galgen. »Jedenfalls nicht, solange sie ihre Requisite nicht wiederhaben. Außerdem haben wir einen Job zu erledigen, richtig?« 68 »Also, ich sag, wir machen weiter!«, schrie die Stimme. »Wir haben hier ein wichtiges Werk, ein Stück, das die Menschen sehen sollten! Wenn überhaupt, wird uns Davids Tod
mehr Zuschauer bringen! Wir dürfen sie nicht nach Hause schicken! Wir dürfen nicht einfach unseren Kram einpacken und uns wieder nach Süden verziehen!« »Du abartiges Schwein!« Rebus und Holmes betraten den improvisierten Zuschauerraum gerade in dem Moment, als derjenige, der diese letzten drei Worte gesprochen hatte, nach vorn stürmte und dem Vorredner ins Gesicht boxte. Dessen Brille flog ihm von der Nase und schlitterte über den Fußboden, bis sie wenige Zentimeter vor Rebus' abgewetzten Schuhen liegen blieb. Rebus bückte sich, hob die Brille auf und ging weiter nach vorn. Der Raum hatte Form und Atmosphäre eines Refektoriums. Er war lang und schmal, mit einer Bühne an dem einen Ende, während sich kurze Stuhlreihen nach hinten im Dunkel verloren. Die wenigen vorhandenen Fenster waren verhängt worden, und das einzige Tageslicht drang durch die offene Tür links vor der Bühne durch die Rebus gerade hereingekommen war. Es befanden sich fünf Personen im Raum, vier Männer und eine Frau. Alle schienen Mitte bis Ende zwanzig zu sein. Rebus gab die Brille ihrem Eigentümer zurück. »Kein schlechter rechter Haken«, sagte er zu dem Angreifer, der seine Hand ziemlich verblüfft anstarrte, als hätte er ihr eine solche Aktion gar nicht zugetraut. »Ich bin Inspector Rebus, das ist Detective Constable Holmes. Und Sie sind?« Sie stellten sich der Reihe nach vor. Auf der Bühne saß 69 Pam, sie war Schauspielerin. Der Mann neben ihr war Peter Collins, ebenfalls Schauspieler. Auf einem Stuhl vor der Bühne saß, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme verschränkt und sichtlich angeregt durch die einseitige Schlägerei, die er gerade hatte erleben dürfen, Marty Jones. »Ich spiele nicht«, sagte er laut. »Ich entwerfe bloß das Bühnenbild, bau das Scheißding, mach alle Requisiten und kümmer mich während der Aufführung um die Beleuchtung und die Musik.« »Dann ist das also Ihr Galgen«, stellte Rebus fest. Marty Jones wirkte jetzt weniger selbstsicher. »Ja«, entgegnete er. »Der ist mir wohl ein bisschen zu gut geraten, was?« »Genauso gut könnten wir den Hersteller des Stricks verantwortlich machen, Mr. Jones«, sagte Rebus gelassen. Seine Augen richteten sich jetzt auf den Mann mit der Brille, der sich die lädierte Kinnlade rieb. »Charles Collins«, sagte der Mann eingeschnappt. Er sah zur Bühne, wo Peter Collins saß. »Weder verwandt noch verschwägert. Ich bin der Regisseur. Ich habe außerdem >Szenen einer Hinrichtung< geschrieben.« Rebus nickte. »Wie waren die Kritiken?« Marty Jones schnaubte verächtlich. »Nicht berauschend«, gab Charles Collins zu. »Wir hatten bloß vier«, fuhr er fort. »Sie waren nicht gerade schmeichelhaft.« Marty Jones schnaubte wieder. Das Kinn nach vorn gereckt, als machte er sich auf einen weiteren Hieb gefasst, schenkte ihm Collins keinerlei Beachtung. »Und die Besucherzahlen?«, fragte Rebus interessiert. »Beschissen.« Dies von Seiten Pams, die dazu vergnügt mit den Beinen schlenkerte, als wäre diese Mitteilung nicht nur kein bisschen ehrenrührig, sondern sogar ziemlich erfreulich. 69 »Durchschnittlich, würde ich sagen«, korrigierte Charles Collins. »Nach dem zu urteilen, was mir andere Truppen erzählt haben.«
»Das ist immer das Problem, wenn man ein neues Stück auf die Bühne bringt, stimmt's?«, sagte Rebus, als ob er eine Ahnung hätte, während Holmes ihn mit großen Augen ansah. Rebus stand jetzt im Zentrum der Gruppe, als hielte er vor der Premiere eine letzte Anfeuerungsrede. »Es ist immer ein Problem, für eine neue Produktion ein Publikum zu finden. Die Leute halten sich eben lieber an Klassiker.« »Völlig richtig!«, pflichtete ihm Charles Collins enthusiastisch bei. »Genau das habe ich denen« - mit einem Kopfnicken in die Runde - »ja gesagt! Die Klassiker sind >ungefährlich<. Gerade deswegen müssen wir ja die Leute herausfordern!« »Ihnen einen Nervenkitzel verschaffen«, fuhr Rebus fort, »ja sie schockieren. Ist es nicht so, Mr. Collins? Ihnen richtig was bieten?« Charles Collins schien zu merken, worauf Rebus, wenn auch auf Umwegen, hinauswollte. Er schüttelte den Kopf. »Tja, und sie haben was geboten bekommen, keine Frage«, fuhr Rebus fort, jetzt ohne jede Begeisterung in der Stimme. »Dank Mr. Jones' Galgen haben die Leute einen Schock bekommen. Jemand wurde aufgehängt. Ich glaube, er hieß David, oder?« »Das stimmt.« Dies kam vom Boxer. »David Caulfield.« Er sah auf den Autor/Regisseur. »Angeblich ein Freund von uns. Jemand, den wir seit drei Jahren kannten. Jemand, von dem wir nie im Leben angenommen hätten, dass er -* »Und Sie sind?«, unterbrach ihn Rebus rasch. Vorläufig sollte noch niemand zusammenbrechen - nicht solange es noch Fragen gab, die beantwortet werden mussten. »Hugh Clay.« Der junge Mann lächelte bitter. »David meinte immer, das würde wie >Ukulele< klingen.« 70 »Und Sie sind Schauspieler?« Hugh Clay nickte. »Und David Caulfield war es ebenfalls?« Ein weiteres Nicken. »Ich meine, wir sind alle keine richtigen Profis. Wir sind Studenten. Das ist alles. Studenten mit Allüren.« Etwas an Hugh Clays Stimme, ihr Ton und ihr langsamer Rhythmus, hatte die Atmosphäre verdüstert, so dass alle mit einem Mal gedämpfter wirkten, nachdenklicher, als würde ihnen endlich zu Bewusstsein kommen, dass David Caulfield wirklich tot war. »Und was glauben Sie, was ihm zugestoßen ist, Hugh? Ich meine, was glauben Sie, wie er ums Leben gekommen ist?« Die Frage schien Clay zu verwundern. »Er hat sich doch umgebracht, oder?« »Hat er das?« Rebus zuckte die Schultern. »Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Der Bericht der Gerichtsmedizin wird uns vielleicht mehr Klarheit bringen.« Rebus wandte sich an Marty Jones, der zusehends weniger selbstsicher wirkte. »Mr. Jones, könnte David den Galgen selbst bedient haben?« »So hatte ich ihn ja konzipiert«, erwiderte Jones. »Ich meine, David hat ihn jeden Abend selbst bedient. Während der Hinrichtungsszene.« Rebus ließ sich das durch den Kopf gehen. »Und könnte auch jemand anders den Mechanismus ausgelöst haben?« Jones nickte. »Gar kein Problem. Die Halsschlinge, die wir verwendeten, war eine Attrappe. Die eigentliche Schlinge ging um Davids Brust, unter seinen Achseln durch. Hinter ihm hing eine Schnur, und im richtigen Moment zog er daran, die Falltür öffnete sich, und er fiel ungefähr einen Meter tief. Es sah ganz schön realistisch aus. Er musste Polster unter den Armen tragen, damit er sich nicht die 70 Haut aufschürfte.« Er warf Charles Collins einen Blick zu. »Das war noch das Beste am ganzen Stück.«
»Aber der Galgen«, sagte Rebus, »hätte sich leicht umbauen lassen, so dass er richtig funktionierte?« Jones nickte. »Dazu hätte man lediglich ein Stück Seil gebraucht. Davon liegt hinter der Bühne genug rum.« »Und dann hätte man sich erhängen können? Sich richtig erhängen?« Wieder nickte Jones. »Oder jemand anders hätte einen aufhängen können«, warf Pam ein, die Augen aufgerissen, die Stimme leise vor Entsetzen. Rebus lächelte sie an, schien aber an etwas anderes zu denken. Tatsächlich dachte er an gar nichts: Er ließ sie alle lediglich im allgemeinen Schweigen schmoren, erlaubte ihnen zu denken und sich vorzustellen, was immer ihnen in den Sinn kam. Schließlich wandte er sich zu Charles Collins. »Glauben Sie, dass David sich das Leben genommen hat?« Collins zuckte die Achseln. »Was sonst?« »Ein bestimmter Grund, warum er hätte Selbstmord begehen sollen?« »Tja.« Collins sah zu den übrigen Mitgliedern der Truppe. »Die Show«, sagte er. »Die Kritiken waren in Bezug auf Davids Leistung nicht besonders schmeichelhaft« »Erzählen Sie mir ein bisschen über das Stück.« Collins versuchte, nicht zu begeistert zu klingen. Versuchte es, wie Rebus feststellte, schaffte es aber nicht. »Ich hab den größten Teil dieses Jahres daran geschrieben«, erklärte er. »Also, es geht um einen Gefangenen in einem südamerikanischen Land, man hat ihm den Prozess gemacht, er ist für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Das Stück beginnt damit, dass er unter dem Galgen steht, die Schlinge um den Hals. Um ihn herum werden 71 Szenen aus seinem Leben dargestellt, während seine eigenen Szenen aus Monologen bestehen, die um fundamentalere Fragen kreisen. Was ich vom Publikum will, ist... es soll sich die gleichen Fragen stellen, die der zum Tode Verurteilte sich unter dem Galgen stellt. Bloß dass die Antworten für ihn möglicherweise dringlicher, wichtiger sind, weil sie das Letzte sind, was er je erfahren wird.« Rebus unterbrach seinen Redefluss. Das Ganze klang ja grauenvoll. »Und David befand sich während der ganzen Zeit auf der Bühne?« Collins nickte. »Und wie lang war das?« »Zwischen zwei und zweieinhalb Stunden« - mit einem Blick auf die Bühne - »das hing von den Schauspielern ab.« »Inwiefern?« »Manchmal wurden Textpassagen vergessen oder eine ganze Szene fiel unter den Tisch.« (Peter und Pam tauschten ein komplizenhaftes Lächeln.) »Oder das Tempo ließ einfach nach.« »>Noch nie habe ich so inbrünstig darum gebetet<, wie einer der Kritiker es formulierte, >dass jemand endlich sterben möge<«, steuerte Hugh Clay noch bei. »Das Problem war das Stück. Mit David hatte das nichts zu tun.« Charles Collins schien protestieren zu wollen. Rebus schaltete sich ein. »Aber besonders freundlich wurde David nicht erwähnt?«, soufflierte er. »Nein«, gab Clay zu. »Die Kritiker meinten, ihm fehle es an der nötigen gravitas, was immer das heißen mag.« »>Eine zu große Rolle für einen zu kleinen Darstellen«, unterbrach Marty Jones wieder mit einem Zitat. »Also schlechte Kritiken«, sagte Rebus. »Und David Caulfield hat sie sich zu Herzen genommen?«
»David nahm sich alles zu Herzen«, erklärte Hugh Clay. »Das war mit ein Teil des Problems.« 72 »Und der andere Teil war, dass die Kritiker recht hatten«, giftete Charles Collins. Aber Clay schien darauf gefasst gewesen zu sein. »>Von Charles Collins prätentiös geschrieben und planlos inszeniert««, zitierte er. Eine weitere Schlägerei schien sich anzubahnen. Rebus putzte sich geräuschvoll die Nase. »Also«, sagte er. »Die Kritiken waren schlecht, die Zuschauerzahlen dürftig. Und Sie haben nicht etwa beschlossen, diese Situation mit Hilfe eines kleinen Publicitygags zu korrigieren? Eines Gags, der rein zufällig - und nicht unbedingt durch jemandes Verschulden - missglückt ist?« Köpfe wurden geschüttelt, Augen sahen unschuldig, ratlos in andere Augen. »Außerdem«, sagte Marty Jones, »wäre es gar nicht möglich gewesen, sich an dem Galgen versehentlich zu erhängen. Entweder man musste es selbst wollen oder jemand anders musste es für einen erledigen.« Weiteres Schweigen. Es schien ein toter Punkt erreicht zu sein. Rebus ließ sich geräuschvoll auf seinen Stuhl plumpsen. »Alles in allem«, sagte er seufzend, »hätten Sie sich vielleicht besser an Was ihr wollt halten sollen.« »Das ist komisch«, sagte Pam. »Was?« »Das war das Stück, das wir letztes Jahr gespielt haben«, erklärte sie. »Das kam sehr gut an, nicht?« Sie hatte sich zu Peter Collins gewandt, der bestätigend nickte. »Dafür haben wir ein paar gute Kritiken bekommen«, sagte er. »David war ein brillanter Malvolio. Er hatte sich die Zeitungsausschnitte im Schlafzimmer an die Wand ge-pinnt, nicht, Hugh?« Hugh Clay nickte. Rebus hatte das deutliche Gefühl, dass Peter Collins etwas anzudeuten schien - vielleicht, dass Hugh Clay David Caulfields Schlafzimmer besser kannte, als unbedingt nötig gewesen wäre. 72 Er kramte in seiner Tasche, grub unter seinem Taschentuch den Zettel aus. Brian Holmes, bemerkte er, blieb weitgehend in den Kulissen, wie eine Nebenfigur in einer nebensächlichen Szene. »Wir haben diesen Zettel in Davids Tasche gefunden«, sagte Rebus ohne jede Einleitung. »Vielleicht erklärt ihn Ihr letztjähriger Erfolg.« Er las ihn ihnen vor. Charles Collins nickte. »Ja, das klingt eindeutig nach David. Glorreichen Zeiten nachzuhängen.« »Sie glauben, darauf spielt das an?«, fragte Rebus beiläufig. Collins nickte. »Sie sollten wissen, Inspector, dass Schauspieler eingebildet sind. Je größer der Schauspieler, desto größer sein Selbstbewusstsein. Und David konnte, wie ich einräumen muss, gelegentlich ein sehr talentierter Schauspieler sein.« Er klopfte wieder Sprüche, aber Rebus ließ ihn gewähren. Vielleicht war das die einzige Weise, wie ein Regisseur mit seinen Schauspielern kommunizieren konnte. »Es wäre typisch David gewesen, wegen schlechter Kritiken depressiv zu werden, vielleicht sogar auf Selbstmordgedanken zu kommen, und ebenso typisch für ihn zu beschließen, einen möglichst theatralischen Abgang zu inszenieren, etwas, womit er Schlagzeilen machen würde. Ich würde sagen, das ist ihm auch hervorragend gelungen.« Niemand schien ihm widersprechen zu wollen, nicht einmal David Caulfields unerschütterlicher Verteidiger, Hugh Clay. Es war Pam, die, jetzt endlich Tränen in den Augen, das Schweigen brach. »Mir tut's bloß wegen Marie leid«, sagte sie.
Charles Collins nickte. »Ja, Marie hatte in >Szenen einer Hinrichtung< ihr ganzes Potenzial ausspielen können.« »Sie meint«, sagte Hugh Clay mit zusammengebissenen Zähnen, »dass ihr Marie leidtut, weil sie David verloren 73 hat, nicht weil sie nicht mehr in deinem grottenschlechten Stück spielen kann!« Rebus konnte vorübergehend nicht mehr folgen, bemühte sich allerdings, es sich nicht anmerken zu lassen. Marty Jones hatte es aber doch mitbekommen. »Das letzte Mitglied von ART«, erklärte er. »Sie ist in der Wohnung. Sie wollte ein Weilchen allein sein.« »Sie ist ziemlich fertig«, bestätigte Peter Collins. Rebus nickte langsam. »Sie und David waren...?« »Verlobt«, sagte Pam, und die Tränen flössen jetzt. Peter Collins' Arm legte sich um ihre Schultern. »Sie hätten nach dem Ende des Fringe geheiratet.« Rebus warf Holmes einen verstohlenen Blick zu, und Holmes hob die Augenbrauen. Wie jedes gute Melodrama, sagten sie: ein Knaller am Ende jedes gottverdammten Akts. Die Wohnung, die die Theatergruppe - wie Rebus annahm, für eine Stange Geld gemietet hatte, war eine spießige, aber sehr großzügige Räumlichkeit im zweiten Stock eines Hauses auf der Morrison Road, direkt um die Ecke von der Lothian Road. Rebus war schon früher mal, im Zusammenhang mit Einbruchsermittlungen, in diesem Block gewesen. Das lag Jahre zurück, aber die einzige Veränderung, die an dem Mietshaus in der Zwischenzeit vorgenommen worden war, schien die Installation einer Gegensprechanlage an der Haustür zu sein. Rebus ignorierte die Klingeln und stieß die schwere Außentür auf. Wie er vermutet hatte, war sie ohnehin nicht abgeschlossen. »Scheißstudenten«, war einer von Rebus wenigen Kommentaren während der kurzen, kurvenreichen Fahrt um 73 die Burg herum und hinunter in Richtung Usher Hall und Lothian Road gewesen. Aber andererseits war Holmes, der am Lenkrad saß, ja auch mal Student gewesen. Also hatte sich Rebus über dieses Thema nicht weiter ausgelassen. Jetzt stiegen sie die steile gewundene Treppe in den zweiten Stock hinauf. Marty Jones hatte ihnen gesagt, der Name an der Tür sei BLACK. Nachdem sie den Studenten eine haarsträubende (wenngleich fraglos zur Festivalsaison übliche) Miete abgeknöpft hatten, waren Mr. und Mrs. Black zu einem mit dem Erlös finanzierten einmonatigen Urlaub aufgebrochen. Rebus hatte sich von Jones einen Schlüssel ausgeliehen und sperrte damit die Wohnungstür auf. Der Flur war lang, schmal und noch schlechter beleuchtet als das Treppenhaus. Davon gingen drei Schlafzimmer, ein Bad, eine Küche und das Wohnzimmer ab. Eine junge Frau, noch keine zwanzig, kam mit einem Becher Kaffee in der Hand aus der Küche. Außer einem langen schlabbrigen T-Shirt hatte sie nichts an. Sie sah irgendwie verschlafen und zerzaust aus, wozu auch ihre rot geäderten Augen passten. »Oh«, sagte sie erschrocken. Rebus reagierte schnell. »Inspector Rebus, Miss. Das ist Detective Constable Holmes. Einer Ihrer Freunde hat uns den Schlüssel gegeben. Könnten wir uns kurz unterhalten?« »Über David?« Sie hatte große Rehaugen und ein kleines rundes Gesicht. Ihr Haar war kurz und blond, ihr Körper schlank und zerbrechlich. Obwohl von Schmerz gezeichnet vielleicht sogar gerade deshalb -, wirkte sie unglaublich attraktiv. Als sie die zwei Polizisten ins Wohnzimmer führte, hob Holmes die Augenbrauen. Auf dem Fußboden lagen zwei Schlafsäcke, außerdem ein paar Taschenbücher, ein Wecker, Teebecher. Vom Wohnzimmer ging eine Abstellkammer ab, ein großer
begehbarer Wandschrank. Solche Schränke wurden von Studenten, die sich vorübergehend einmieteten, oft als zusätzlicher Raum 74 genutzt, und das Licht, das aus der halb offenen Tür drang, verriet Rebus, dass dieser Brauch noch nicht ausgestorben war. Marie ging hinein und löschte das Licht, bevor sie wieder ins Wohnzimmer kam. »Da wohnt eigentlich Pam«, erklärte sie. »Sie meinte, ich könnte mich dort hinlegen. Ich wollte nicht in unserem... meinem Zimmer schlafen.« »Natürlich«, sagte Rebus, ganz Verständnis und Mitgefühl. »Natürlich«, wiederholte Holmes. Sie forderte die beiden mit einer Geste auf, sich zu setzen. Sie versanken sogleich in einem Marshmallow-weichen Sofa. Rebus befürchtete, dass es ihm nicht gelingen würde, ohne fremde Hilfe wieder aufzustehen, und versuchte krampfhaft, sich aufrecht zu halten. Marie hatte sich derweil mit untergeschlagenen Beinen im einzigen Sessel niedergelassen und zeigte eine beneidenswert anmutige Haltung. Sie stellte den Becher neben sich auf den Boden, dann kam ihr ein Gedanke. »Möchten Sie...?« Die Männer schüttelten gleichzeitig den Kopf. Etwas an ihrer Stimme kam Rebus irgendwie merkwürdig vor. Holmes war schneller als er. »Sind Sie Französin?« Sie lächelte schwach, nickte dann dem Detective Constable zu. »Aus Bordeaux. Kennen Sie es?« »Nur vom Wein her.« Rebus schnäuzte sich wieder, obwohl er einige Mühe gehabt hatte, das Taschentuch aus der Tasche zu ziehen. Holmes verstand den Wink und hielt fortan den Mund. »Also gut, Miss...?«, begann Rebus. »Hivert, Marie Hivert.« Rebus nickte langsam und spielte dabei mit dem Taschentuch. »Wie man uns erzählt hat, waren Sie mit Mr. Caulfield verlobt.« 74 Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ja. Also, nicht offiziell. Aber es gab so ein Versprechen.« »Ich verstehe. Und wann wurde dieses Versprechen gegeben?« »Ach, ich weiß nicht so genau. März, April. Ja, Anfang April, glaube ich. Im Frühling.« »Und wie lief es zwischen David und Ihnen?« Sie schien nicht ganz zu verstehen. »Ich meine«, sagte Rebus, »wie wirkte David auf Sie?« Sie zuckte die Achseln. »David war David. Er konnte -«, sie richtete die Augen zur Decke, suchte nach Worten, »- unmöglich, nervös, aufregend, mies gelaunt sein.« Sie lächelte. »Aber hauptsächlich aufregend.« »Nicht auch selbstmordgefährdet?« Sie dachte ernsthaft darüber nach. »Doch, ja, wahrscheinlich«, räumte sie ein. »Selbstmordgefährdet, wie Schauspieler eben sein können. Er nahm sich jede Kritik zu Herzen. Er war ein Perfektionist.« »Wie lange kannten Sie ihn schon?« »Zwei Jahre. Kennengelernt hab ich ihn durch die Theatergruppe.« »Und haben sich verliebt?« Sie lächelte wieder. »Nicht sofort. Zwischen uns bestand eine gewisse... Konkurrenz, könnte man sagen. Für unsere Schauspielerei war es gut, ob für unsere Beziehung, weiß ich nicht. Aber wir haben überlebt.« Als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte, verschleierte sich ihr Blick. Sie führte eine Hand an die Stirn, während sie mit gesenktem Kopf versuchte, die Fassung wiederzugewinnen.
»Tut mir leid«, sagte sie und brach in Schluchzen aus. Holmes hob erneut die Augenbrauen: Jemand sollte hier bei ihr bleiben. Rebus antwortete mit einem Achselzucken: Sie kommt schon allein zurecht. Holmes' Brauen blieben oben: Wirklich? Rebus richtete den Blick wieder auf die im 75 Sessel versunkene kleine Gestalt. Schafften es Schauspieler immer, die reale Welt von der fiktiven zu unterscheiden? Wir haben überlebt. Das war eine interessante Formulierung. Andererseits war sie ja auch eine interessante junge Frau. Sie ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Während ihrer Abwesenheit nutzte Rebus die Gelegenheit, sich mühsam hochzustemmen. Er warf einen Blick auf das Sofa. »Scheißding«, sagte er. Holmes lächelte nur. Als sie zurückkam, fragte Rebus sie, ob David Caulfield irgendwo ein paar Zeilen hinterlassen haben könnte. Sie zuckte die Achseln. Er wollte wissen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie sich schnell mal umsahen. Sie schüttelte den Kopf. Also machten sich Rebus und Holmes auf die Suche. Die Raumverteilung war ziemlich klar. Pam schlief in der Abstellkammer, Marty Jones und Hugh Clay im Wohnzimmer, in Schlafsäcken auf dem Fußboden. Marie und David Caulfield hatten sich das größte der drei Schlafzimmer geteilt, während Charles und Peter Collins jeder einen eigenen Raum hatten. Charles Collins' Zimmer war zwanghaft aufgeräumt, das schmale Einzelbett schon für die Nacht gerichtet. Auf der Steppdecke lag eine Arbeitskopie von »Szenen einer Hinrichtung«, voll handschriftlicher Randbemerkungen und mit mehreren langen Streichungen, durchweg in Caulfields Part. Auf dem Typoskript ruhte ein Bleistift, Beweis dafür, dass Charles Collins sich die Meinung der Kritiker ebenfalls zu Herzen genommen und versucht hatte, das Stück, so gut er konnte, zu straffen. Peter Collins' Zimmer entsprach eher Rebus' persönlichem Geschmack; Holmes rümpfte allerdings die Nase über die gebrauchte Unterwäsche auf dem Fußboden, und den Inhalt des hastig ausgepackten Rucksacks, der, wahl 75 los verstreut, jede freie Fläche bedeckte. Neben dem ungemachten Bett und einem überquellenden Aschenbecher lag auch hier eine Kopie des Stücks. Rebus blätterte sie durch. Als er sie wieder zuklappen wollte, erregten ein paar Kritzeleien auf der Innenseite des Umschlags seine Aufmerksamkeit. Um die Worte »I Love Edinburgh« hatte jemand primitive Herzchen gezeichnet. Sein Lächeln verflog schlagartig, als Holmes ihm den Aschenbecher hinhielt. »Nicht direkt Feinschnitt«, kommentierte Holmes. Rebus sah genauer hin. Was er für normale Stummel gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die Mundstücke von Joints aufgerollte Pappstreifen, an denen noch die Reste von abgebrannten Zigarettenpapierchen klebten. Roaches, »Kakerlaken«,wie Kiffer dazu sagten. Warum, wusste er auch nicht mehr so genau. Er gab ein missbilligendes Geräusch von sich. »Und was wollten wir hier gerade, als wir die gefunden haben?«, fragte er. Holmes nickte resigniert. Wahrscheinlich hätten sie Peter Collins, auch wenn sie es vorgehabt hätten, nicht drankriegen können, da es keinen stichhaltigen Grund gab, sich in seinem Zimmer aufzuhalten. Wir waren auf der Suche nach dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders hätte eine Jury wahrscheinlich nicht sonderlich beeindruckt. Der größte Saustall herrschte in Marie Hiverts und David Caulfields gemeinsamem Zimmer. Marie half ihnen, ein paar von Caulfields Sachen zu sichten. Sein Tagebuch erwies sich als eine Sackgasse, da er es gewissenhaft am ersten Januar angefangen hatte,
die letzte Eintragung aber vom achten Januar stammte. Rebus, der selbst mal versucht hatte, ein Tagebuch zu führen, wusste, wie das war. Hinten im Tagebuch steckten allerdings Zeitungsausschnitte, die Caulfields Triumph bei der letztjährigen Inszenierung von Was ihr wollt dokumentierten. Auch Marie 76 wurde, in ihrer Rolle als Viola, lobend erwähnt, aber der Star war eindeutig Malvolio gewesen. Sie weinte wieder ein bisschen, als sie die Kritiken durchlas. Holmes bot an, noch mal Kaffee zu machen, und fragte ob er Pam vom Theater herbringen solle. Sie schüttelte den Kopf. Sie würde schon zurechtkommen. Ganz bestimmt, Ehrenwort. Während Marie auf dem Bett saß und Holmes den Wasserkessel füllte, schlenderte Rebus ins Wohnzimmer zurück. Er warf einen Blick in die Abstellkammer, entdeckte aber nichts, was für ihn von Interesse gewesen wäre. Schließlich wandte er sich wieder den Schlafsäcken zu. Marie betrat gerade das Zimmer, als er sich bückte und das Taschenbuch aufhob, das neben einem der Schlafsäcke lag. Es war Tom Wolfes Fegefeuer der Eitelkeiten. Rebus hatte davon eine gebundene - und noch jungfräuliche - Ausgabe zu Hause. Etwas fiel hinten aus dem Buch heraus. Rebus hob es vom Boden auf. Es war ein Foto von Marie, auf der Mauer der Burg, vor dem Hintergrund des Scott-Denkmals aufgenommen. Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht. Sie versuchte, es sich aus den Augen zu streichen, und grinste dabei in die Kamera. Rebus reichte ihr das Bild. »Ihr Haar war damals länger«, stellte er fest. Sie nickte und lächelte, die Augen noch immer feucht. »Ja«, sagte sie. »Das war im Juni. Wir waren hergekommen, um uns den Saal anzusehen.« Er hielt das Buch hoch. »Wer ist hier der Tom-Wolfe-Fan?« »Och«, sagte sie, »es macht die Runde. Ich glaube, im Augenblick liest es Marty.« Rebus blätterte das Buch noch einmal flüchtig durch, und sein Blick verweilte kurz auf der Innenseite des Umschlags. »Tom Wolfe hat ganz schön Karriere gemacht«, meinte er, bevor er das Buch wieder neben den Schlafsack legte. Er zeigte auf das Foto. »Soll ich es zurücktun?« Sie schüttelte den Kopf. 76 »Das gehörte David«, sagte sie. »Ich glaube, ich würd's gern behalten.« Rebus lächelte, ganz der gute Onkel. »Natürlich«, sagte er. Dann fiel ihm etwas ein. »Davids Eltern. Wissen sie überhaupt Bescheid?« Sie schüttelte mit wachsendem Entsetzen den Kopf. »O Gott«, sagte sie, »das wird sie völlig umschmeißen. David hatte ein sehr enges Verhältnis zu seinen Eltern.« »Geben Sie mir ihre Nummer«, sagte Rebus. »Ich rufe sie an, sobald ich wieder auf der Wache bin.« Sie runzelte die Stirn. »Aber ich... nein, tut mir leid«, sagte sie, »ich weiß nur, dass sie in Croydon wohnen, das ist alles.« »Kein Problem«, erwiderte Rebus, der sehr wohl wusste, dass die Eltern bereits benachrichtigt worden waren, es aber interessant fand, dass Caulfields angebliche Verlobte kaum etwas über dessen Eltern wusste. Wenn David ein so enges Verhältnis zu seiner Familie gehabt hatte, konnte man dann nicht annehmen, dass sie über die Verlobung informiert war? Und hätte sie dann nicht den Wunsch geäußert, Marie kennenzulernen? Rebus' Kenntnis der englischen Geographie hatte nicht direkt Fernsehquizniveau, aber er war sich doch ziemlich sicher, dass Reading und Croydon nicht gerade an entgegengesetzten Enden des Landes lagen. Interessant, alles sehr interessant. Holmes erschien mit drei Bechern Kaffee, aber Rebus, plötzlich ganz der diensteifrige Vorgesetzte, schüttelte den Kopf.
»Keine Zeit dafür, Holmes«, sagte er. »Auf dem Revier wartet jede Menge Arbeit auf uns.« Dann, zu Marie: »Passen Sie auf sich auf, Miss Hivert. Wenn wir etwas tun können, zögern Sie nicht, uns anzurufen.« Sie lächelte gewinnend. »Danke, Inspector.« Sie wandte sich zu Holmes und nahm ihm einen Becher ab. »Und auch 77 Ihnen danke, Constable«, sagte sie. Uber den Gesichtsausdruck Holmes' musste Rebus während der ganzen Rückfahrt zur Wache grinsen. Dort verschwand das Grinsen schlagartig. Rebus fand eine als DRINGEND markierte Nachricht des Polizeipathologen vor, in der er um Rückruf gebeten wurde. Rebus tippte die siebenstellige Nummer in sein neumodisches Telefon ein. Das Ding hatte einen Zielwahlspeicher für zwanzig Telefonnummern, und irgendwo in diesem Speicher befand sich auch die einstellige Zahl, die ihn direkt mit dem Pathologen verbunden hätte, aber Rebus konnte sich einfach nicht merken, welche Zahl für was stand, und verschlampte andauernd den Zettel mit der Liste sämtlicher Zielwahlnummern. »Es ist die Vier«, erinnerte ihn Holmes, gerade als er die letzte Zahl eingetippt hatte. Er war noch dabei, Holmes mit einem halb bösen Blick zu bedenken, als sich der Pathologe meldete. »Ach ja, Rebus. Hallo. Es geht um den Gehenkten, den Sie da haben. Ich hab ihn mir angesehen. Manuelle Strangulation, würde ich sagen.« »Ja?« Rebus, der in Gedanken bei Marie Hivert war, wartete auf irgendeine Pointe. »Ich glaube, Sie verstehen mich nicht, Inspector. Manuelle Strangulation. Von lateinisch manus, die Hand. Der Kerntemperatur nach zu urteilen, dürfte er zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh gestorben sein. An dieser Konstruktion aufgeknüpft hat man ihn einige Zeit danach. Die Blutergüsse am Hals sind eindeutig Würgemale und zeigen, dass vor allem mit den Daumen Druck ausgeübt wurde.« 77 »Sie meinen, jemand hat ihn erwürgt?«, fragte Rebus, vor allem zu Holmes' Information. »Ich dachte eigentlich, genau das hätte ich Ihnen gerade gesagt, ja. Sollte ich mehr herausfinden, lass ich es Sie wissen.« »Sind die Jungs von der Technik bei Ihnen?« »Ich hab im Labor angerufen. Sie schicken jemanden mit ein paar Plastikbeuteln vorbei, aber um ehrlich zu sein, waren wir zunächst von der Annahme ausgegangen, dass es sich um einen einfachen Suizid handelte. Wir könnten kleinere Beweisstücke versehentlich zerstört haben.« »Kein Problem«, sagte Rebus, jetzt ganz der Gewissensbisse lindernde Beichtvater. »Tun Sie einfach, was Sie können.« Er legte auf und starrte seinen Detective Constable an. Oder besser gesagt, starrte durch ihn hindurch. Holmes wusste, dass alles seine Zeit hatte: Reden hatte seine Zeit, und Schweigen hatte seine Zeit, und momentan war Letzteres angesagt. Rebus brauchte eine geschlagene Minute, um wieder in die Gegenwart zurückzuschalten. »Leck mich doch einer...«, sagte er. »Heute Morgen haben wir uns mit einem Mörder unterhalten, Brian. Und zwar einem kaltblütigen. Und wir haben's nicht mal gemerkt. Ich frag mich, was aus dem berühmten >Polizeiriecher< geworden ist. Haben Sie eine Idee?« Holmes runzelte die Stirn. »Hinsichtlich der Frage, was aus dem berühmten >Polizeiriecher< geworden ist?« »Nein«, rief Rebus genervt aus. »Ich meine, eine Idee, wer es gewesen sein könnte!« Holmes zuckte die Schultern, zog dann das aufgerollte Fringe-Programm aus seiner Jacketttasche. Er fing an zu blättern. »Ich glaube, mich zu erinnern«, sagte er, »dass ir-
gendwo ein Stück von Agatha Christie aufgeführt wird. Vielleicht würde uns das auf eine Idee bringen?« 78 Rebus' Augen leuchteten auf. Er riss Holmes das Programm aus der Hand. »Vergessen Sie Agatha Christie«, erklärte er und fing seinerseits an, das Programm durchzublättern. »Was wir brauchen, ist Shakespeare.« »Was, Macbeth? Hamlet? König Lear?« »Nein, keine Tragödie, eine schöne Komödie - was, um die Seele aufzuheitern. Ah, da hätten wir's.« Er klopfte mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite. -»Zwölfte Nacht, oder Was ihr wollt. Das ist das Stück, das wir brauchen, Brian. Das ist genau das richtige Stück für uns.« Am Ende lautete die Frage allerdings: welche Zwölfte Nacht? Es standen drei zur Auswahl und dazu noch eine auf dem eigentlichen Festival. Eine der Fringe-Versionen verlegte die Fabel ins Chicagoer Gangstermilieu, eine andere brachte das Stück mit ausschließlich weiblicher Besetzung, und die dritte lockte mit futuristischem Bühnenbild. Aber Rebus war nach traditionellerer Kost, und so entschied er sich für die Festivalinszenierung. Es gab nur einen Haken: Sämtliche Vorstellungen waren komplett ausverkauft. Doch das beunruhigte Rebus nicht weiter. Er wartete, während Holmes seine Freundin, Neil Stapleton, anrief und ihr mit Bedauern mitteilte, dass er die abendliche Verabredung absagen müsse. Dann fuhren er und Rebus zum Lyceum, das sich so gut hinter der Usher Hall versteckte, dass es mit bloßem Auge fast nicht auszumachen war. »Es läuft eine Vorstellung um fünf«, erklärte Rebus. »Wir müssten es gerade noch schaffen.« Sie schafften es. Es gab eine geringfügige Verzögerung, bis Rebus dem Menschen an der Kasse klargemacht hatte, dass das wirklich eine Polizeiaktion und keine Last-Minute-Kulturparty war, und in einer staubigen Ecke am äußersten Rand des Parketts zwei Sitzplätze für sie gefunden worden waren. Als sie hineingingen, wurde das Licht gerade heruntergedimmt. 78 »Ich war seit Jahren nicht mehr im Theater«, sagte Rebus zu Holmes und lächelte vor Freude. Holmes erwiderte verwirrt sein Lächeln, aber die Augen seines Vorgesetzten waren schon auf die Bühne gerichtet, wo sich der Vorhang hob, eine Gitarre ertönte und ein Mann in blassrosa Strumpfhose quer über eine verschnörkelte Bank drapiert lag und genauso vom Leben angeödet wirkte, wie Holmes sich momentan fühlte. Warum musste Rebus aber auch immer aus dem Bauch heraus arbeiten, und immer allein, ohne je irgendjemandem zu verraten was er wusste oder zu wissen glaubte? Lag es daran, dass er Angst vor Fehlern hatte? Holmes vermutete, dass es so war. Wenn man seine Vermutungen für sich behielt, konnte einem hinterher keiner nachweisen, dass man unrecht gehabt hatte. Schön, Holmes hatte selbst so seine Ideen zu dem Fall, und er wollte verdammt sein, wenn er Rebus auch nur ein Sterbenswörtchen davon verraten würde. »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist...«, tönte die Stimme von der Bühne her. Und das kam noch dazu -Holmes war am Verhungern. Jede Wette, dass die letzten paar Sitzreihen bald Probleme damit haben würden, bei seinem Magenknurren noch ein einziges Wort der Schauspieler zu verstehen. »Wollt Ihr nicht jagen, gnäd'ger Herr?« »Was, Curio?« »Den Hirsch.« »Das tu ich ja: den edelsten, der mein...«
Holmes warf Rebus einen verstohlenen Blick zu. Zu sagen, dass sein Vorgesetzter hin und weg war, wäre eine grobe Untertreibung gewesen. Holmes würde noch bis zum Ende des ersten Akts durchhalten und sich dann zum nächsten Chip-Shop davonschleichen. Rebus konnte sich seinen Shakespeare gern an den Hut stecken; wenn's um Literatur ging, war Holmes Nationalist. Ein Jammer, 79 dass Hugh MacDiarmid nie was fürs Theater geschrieben hatte. Tatsächlich wurde es eine ziemliche Wanderung, die ganze Lothian Road einmal rauf und wieder runter, nach Norden bis zum Caledonian Hotel und nach Süden bis Tollcross. Die Lothian Road war Edinburghs Fastfoodmeile, und die dargebotene Vielfalt machte Holmes die Entscheidung schwer. Pizza, Hamburger, Kebabs, Chinesisch, Ofenkartoffeln, mehr Hamburger, mehr Pizza und zwischendurch die einst allgegenwärtigen Fish and Chips (mittlerweile meist nebenher von einer Kebab- oder Hamburger-Bude angeboten). Unfähig, sich zu entschließen, wurde Holmes immer hungriger und genehmigte sich einen Pint Lager in einem lärmenden Schuppen, der sich Pub schimpfte, bis er sich schließlich im Kulinarischen ebenso sehr wie im Literarischen zu seinem Nationalismus bekannte und sich für Fisch und Pommes entschied. Als er endlich wieder das Theater betrat, versammelten sich die Schauspieler schon alle auf der Bühne, um ihren Applaus entgegenzunehmen. Rebus klatschte laut und sichtlich begeistert. Aber als der Vorhang fiel, drehte er sich um und zog Holmes aus dem Zuschauersaal, ins Foyer und hinaus auf die Straße. »Fish and Chips, hm?«, fragte er. »Also, das ist mal 'ne Idee.« »Woran haben Sie es gemerkt?« »Ich riech den Essig an Ihren Händen. Also, wo ist nun der Laden?« Holmes nickte in Richtung Tollcross. Sie marschierten los. »Und, haben Sie was rausgefunden?«, fragte Holmes. »Durch das Stück, meine ich?« Rebus lächelte. »Mehr, als ich mir erhofft hatte, Brian. Wenn Sie aufgepasst hätten, wäre Ihnen das auch aufge 79 fallen. Die einzige Stelle, auf die es ankam, war ganz am Anfang, im ersten Akt. Ein Ausspruch des Narren, der übrigens Feste heißt. Würd mich doch interessieren, wer den Feste in der ART-Inszenierung von letztem Jahr gegeben hat. Na, eigentlich kann ich mir das denken. Also kommen Sie, wo ist dieser Chip-Shop? Man kann ja glatt verhungern, bevor man auf der Lothian Road etwas auch nur annähernd Genießbares findet.« »Ist direkt bei Tollcross. Ist nichts Besonderes.« »Solang ich da satt werde, Brian... Wir haben einen langen Abend vor uns.« »Ach ja?« Rebus nickte. »Wir jagen den Hirsch, Brian.« Er zwinkerte dem jungen Mann zu. »Den Hirsch des Herzens...« Es war Peter Collins, der ihnen in der Morrison Street die Wohnungstür öffnete. Er schien überrascht, sie zu sehen. »Keine Sorge, Peter«, sagte Rebus und drängte sich an ihm vorbei in den Flur. »Wir sind nicht da, um Sie wegen Drogenbesitzes hochzunehmen.« Er schnüffelte demonstrativ, schnalzte dann mit der Zunge. »Schon dabei? In dem Tempo sind Sie noch vor den ZehnUhr-Nachrichten zugedröhnt.« Peter errötete. »Was dagegen, wenn wir reinkommen?«, fragte Rebus, schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Holmes folgte ihm in die Wohnung, ein entschuldigendes Lächeln auf den Lippen. Peter schloss die Tür hinter ihnen.
»Die meisten sind unterweg's«, rief Peter. »Das sehe ich«, sagte Rebus, der jetzt ins Wohnzimmer trat. »Hallo, Marie, wie geht's Ihnen?« 80 »Gleichfalls hallo, Inspector. Ein bisschen besser.« Sie war angezogen und saß, die Hände auf den Knien, sittsam auf dem Sessel. Rebus warf einen Blick auf das Sofa, überlegte es sich dann aber anders und nahm lieber quer auf der halbwegs stabilen Armlehne Platz. »Wie ich sehe, sind Sie alle so gut wie abreisebereit.« Er deutete mit dem Kopf auf die zwei Rucksäcke, die an der Wand des Wohnzimmers lehnten. Die Schlafsäcke waren weggeräumt worden, ebenso Bücher und Wecker. »Wozu sollten wir noch bleiben?«, fragte Peter. Er ließ sich aufs Sofa plumpsen und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Wir dachten, wir fahren die Nacht durch. Dass wir mit etwas Glück am frühen Morgen in Reading sind.« Rebus nickte. »Die Show goes also nicht ow?« »Das war irgendwie ganz schön herzlos, meinen Sie nicht?«, sagte Peter Collins mit einem kurzen Blick in Richtung Marie. »Natürlich«, gab ihm Rebus recht. Holmes hatte sich zwischen der Wohnzimmertür und den Rucksäcken postiert. »Und, wo sind die anderen?« Marie antwortete. »Pam und Marty machen einen letzten Stadtbummel.« »Und Charles lässt sich mit fast hundertprozentiger Sicherheit irgendwo volllaufen«, fügte Collins hinzu. »Trauert über seine missglückte Inszenierung.« »Und Hugh?«, fragte Rebus. Collins zuckte die Achseln. »Ich glaube«, sagte Marie, »Hugh wollte sich ebenfalls betrinken.« »Aber zweifellos aus anderen Gründen«, mutmaßte Rebus. »Er war Davids bester Freund«, antwortete sie ruhig. Rebus nickte nachdenklich. »Tatsächlich ist er uns vorhin in die Arme gelaufen - fast buchstäblich.« »Wer?«, fragte Peter. 80 »Mr. Clay. Er scheint dabei zu sein, sämtliche Pubs der Lothian Road abzuarbeiten. Wir kamen gerade aus einem Chipsladen, und da torkelte er uns entgegen, auf dem Weg zur nächsten Abfüllstation.« »Ach ja?« Collins klang nicht sonderlich interessiert. »Ich hab ihm gesagt, wo die besten Pubs in der Gegend sind. Er schien sie nicht zu kennen.« »Das war nett von Ihnen«, sagte Collins mit vor Ironie triefender Stimme. »Und nett von den anderen, Sie beide allein zu lassen, nicht?« Die Frage blieb im Raum hängen. Endlich sprach Marie. »Wie meinen Sie das?« Aber Rebus veränderte lediglich seine Position und ließ es bei dem Kommentar bewenden. »Nein«, sagte er stattdessen, »ich hatte nur gedacht, Mr. Clay könnte eine bessere Vorstellung von den Pubs haben, wo er doch schon letztes Jahr hier war und dann noch mal im Juni, um sich den Saal anzusehen. Nur dass er mir gesagt hat, dass er im Juni eben nicht hier war. Es gab Prüfungen. Manche Leute mussten mehr pauken als andere. Nur drei von Ihnen sind im Juni nach Edinburgh gekommen.« Rebus hob einen von Frittenfett glänzenden Finger. »Pam, die, wie nicht zu übersehen, in Sie verknallt ist, Peter.« Collins lächelte matt. Rebus hob einen zweiten und dann einen dritten Finger. »Und Sie beide. Lediglich Sie drei. Und da, nehme ich mal an, hat es angefangen.« »Was?« Alles Blut war aus Maries Gesicht entwichen, wodurch sie irgendwie noch schöner geworden war. Rebus setzte sich erneut um, schien ihre Frage überhört zu haben. »Es ist eigentlich egal, wer das Foto von Ihnen aufgenommen hat, das Foto, das ich im Fegefeuer der Eitelkeiten gefunden habe.« Jetzt fixierte er sie ruhig. »Wichtig ist nur,
81 dass es da war. Und auf der Innenseite des Umschlags hatte jemand ein paar Herzchen gekritzelt, die ein paar anderen, die ich zufällig in Peters Kopie des Stücks gefunden hatte, täuschend ähnlich sahen. Wichtig ist, dass Peter in seine Kopie des Stücks auch die Worte >I Love Edinburgh« geschrieben hatte.« Peter Collins wollte schon protestieren, aber Rebus ignorierte ihn und wandte kein Auge von Marie, fixierte sie, als wären sie beide die Einzigen im Raum. »Sie haben mir erzählt«, fuhr er fort, »Sie seien nach Edinburgh gereist, um sich den Saal anzusehen. Ich verstand Ihr >wir< in dem Moment so, dass Sie alle gekommen waren, aber Hugh Clay hat mich diesbezüglich korrigiert. Sie sind ohne David hier gewesen, der damals zu sehr mit Lernen beschäftigt war, um mitfahren zu können. Und Sie haben mir noch etwas anderes gesagt, nämlich, Ihre Beziehung zu ihm hätte >überlebt<. Was eigentlich überlebt, habe ich mich hinterher gefragt. Die Antwort scheint recht simpel zu sein. Eine kleine Affäre überlebt, eine Affäre, die in Edinburgh begann und den Sommer über weiterging.« Jetzt, erst jetzt, wandte er sich zu Peter Collins. »Habe ich nicht recht, Peter?« Das Gesicht rotfleckig vor Wut, machte Collins Anstalten aufzustehen. »Bleiben Sie sitzen«, befahl Rebus, während er seinerseits aufstand. Er ging zum Kamin, machte kehrt und richtete seinen Blick wieder auf Collins, der immer kleiner zu werden schien und förmlich in das Sofa hineinschrumpfte. »Sie >lieben< Edinburgh«, fuhr er fort, »weil hier Ihre kleine Affäre mit Marie begonnen hat. Schön, für so was kann ja niemand was, nicht? Sie haben es geschafft, es relativ geheim zu halten. Aber das TomWolfe-Buch gehört Ihnen, und dieses Foto, das Sie darin aufbewahrten - vielleicht wussten Sie schon gar nicht mehr, dass es überhaupt da 81 war hätte Sie möglicherweise verraten, obwohl ja andererseits alles ganz harmlos gewesen sein könnte, stimmt's? Aber es ist schwierig, so etwas innerhalb einer kleinen Gruppe wirklich geheim zu halten. Letztes Jahr waren Sie bei ART noch sechzehn Leute; da wäre es vielleicht gegangen. Aber nicht jetzt, wo Sie nur noch zu siebt sind. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wer noch davon weiß. Aber so viel ist sicher - David Caulfield fand es heraus.« Rebus brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Marie wieder angefangen hatte zu schluchzen. Er starrte unverwandt auf Peter Collins. »Er fand es heraus, und gestern Nacht hatten Sie beide, hinter der Bühne und vielleicht in alkoholisiertem Zustand, eine Schlägerei. Ganz schön dramatisch, nicht? Der Kampf um das Burgfräulein und so. Aber rein zufällig haben Sie David Caulfield während dieses Kampfes erwürgt.« Er schwieg, wartete auf einen Einwand, der nicht kam. »Vielleicht«, fuhr er fort, »wollte Marie zur Polizei gehen. Ich weiß es nicht. Aber falls ja, haben Sie es ihr ausgeredet. Sie kamen auf eine noch dramatischere Idee. Sie sorgten dafür, dass das Ganze wie Selbstmord aussah. Und bei Gott, was für ein Selbstmord! Genau die Art, auf die David selbst hätte verfallen können.« Rebus hatte sich währenddessen unmerklich auf Peter Collins zubewegt, so dass er jetzt unmittelbar vor ihm stand und auf ihn hinuntersah. »Ja«, fuhr er fort, »äußerst dramatisch. Aber der >Abschiedsbrief war ein Fehler. Es war einfach ein bisschen zu clever. Sie dachten, jeder würde daraus eine Anspielung auf Davids Erfolg bei der Produktion vom letzten Jahr herauslesen, aber Sie wussten selbst, dass man den Satz auch anders verstehen konnte. Ich habe gerade Was ihr wollt gesehen. Und es war verdammt gut. Letztes Jahr haben Sie den Feste gespielt, stimmt's, Peter? Da gibt's eine Stelle bei ihm... wie geht die noch mal?« Rebus tat so, als versuchte 81
er, sich zu erinnern. »Ach ja: >Wer gut gehängt ist, der erspart sich oft, schlecht verheiratet zu sein.< Ja, das ist es. Und in dem Moment war ich mir sicher.« Peter Collins verzog den Mund zu einem schmallippigen Lächeln. Er starrte an Rebus vorbei auf Marie, die Augen voller Tränen. Als er sprach, hatte seine Stimme einen weichen, zärtlichen Klang. »>Wer gut gehängt ist, der erspart sich oft, schlecht verheiratet zu sein; und was das Fortjagen betrifft, im Sommer ist's zu ertragene« »Genau«, sagte Rebus, eifrig nickend. »Im Sommer war's zu ertragen. Eine Sommerliebe. Eine kleine Affäre, das ist alles. Kaum wert, deswegen einen Menschen umzubringen, oder, Peter? Aber das hat Sie nicht davon abgehalten, es doch zu tun. Und der Galgen passte so schön, drängte sich geradezu auf. Als Sie sich an den Spruch des Narren erinnert haben, konnten Sie der Versuchung nicht widerstehen, David den Zettel in die Tasche zu stecken.« Rebus schüttelte den Kopf. »Ganz schön närrisch, Mr. Collins. Ganz schön doof.« Als Brian Holmes an dem Abend von der Wache heimfuhr, war er gedrückter Stimmung. Auch der Verkehr schleppte sich so dahin, und Scharen von Theaterbesuchern schlängelten sich zwischen den so gut wie stehenden Autos hindurch. Er kurbelte das Fenster herunter, damit es im Wageninneren ein bisschen weniger heiß, weniger stickig wurde und dafür Auspuffgase und laue spätabendliche Luft hereinkamen. Warum musste Rebus nur immer - oder meistens - so ein cleveres Arschloch sein? Er schien grundsätzlich jeden Fall irgendwie schief anzugehen, wie jemand, der scheinbar planlos an einem Stück Papier herumschnippelte - bloß dass sich das zugeschnittene Stück anschließend zu einem Origami falten ließ, kunstvoll und erkennbar. »Cleverer, als es für ihn gut ist«, sagte er zu sich. Tatsäch82 lich aber meinte er, dass sein Vorgesetzter cleverer war, als es für ihn, Holmes, gut war. Wie sollte er glänzen, positiv auffallen, auf seine Beförderung hinarbeiten, wenn es grundsätzlich Rebus war, der, immer zwei Schritte voraus, mit den Lösungen aufwartete? Holmes erinnerte sich an einen Jungen, der ihn in der Schule immer in jedem Fach außer Geschichte geschlagen hatte. Trotzdem war Holmes auf die Universität gegangen, der Junge zurück auf den väterlichen Bauernhof. Dinge konnten sich also ändern. Auch wenn er andererseits von Rebus lediglich zu lernen schien, dass man seine Gedanken für sich behalten, verschlagen sein, ja, schauspielern sollte. Wie auch immer, er würde die beste zweite Besetzung sein. Eines Tages würde Rebus nicht mehr da sein, um die Antworten zu liefern, oder - eine sogar noch erfreulichere Aussicht - nicht imstande sein, sie zu liefern. Und wenn es so weit war, würde Holmes für seinen Auftritt bereit sein. Ja, er fühlte sich schon jetzt dazu bereit - aber vermutlich wurde das von jeder zweiten Besetzung erwartet. Ein lächelndes junges Mädchen warf ein Flugblatt durch sein Fenster. Er hörte, wie sie die Autoschlange weiter abging und dabei immer wieder »Kommen Sie sich unsere Show ansehen!« rief. Das kleine gelbe Blatt Papier flatterte auf den Beifahrersitz und blieb, die Schrift nach oben, da liegen, um Holmes für die Dauer der ganzen Fahrt zu Neil hämisch anzugrinsen. Wieder zunehmend gedrückter, dachte er darüber nach, wie viel anders alles hätte sein können, wenn Priestley sein Stück nicht Ein Inspector kommt, sondern Ein Detective Constable kommt überschrieben hätte.
Von Meisen und Menschen Schon bevor Inspector John Rebus 1970 nach Edinburgh gezogen war, hatte er sich eine feste Meinung über das Leben in einem Mietshaus gebildet. Mietshäuser - Mietskasernen - waren Gebäude aus den Glasgower Slums des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, Orte der Armut und Hoffnungslosigkeit, Brutstätten von Ungeziefer und Krankheit. Sie
stellten die erzwungenen Wohnorte der Ärmsten aus der Arbeiterklasse dar, einer Klasse fast ohne Klasse, einer Unterklasse. Mietskasernen ragten zwar hoch in den Himmel, aber sie hätten sich ebenso gut in den Boden hineinbohren können. Sie waren der moderne Ersatz für die Höhle. Natürlich waren die Stadtplaner in den Sechzigerjahren auf etwas noch Empörenderes verfallen: das Hochhaus. Selbst Städte, die über mehr als genug Bauplatz verfügten, fingen an, diese platzsparenden Gräuel zu bauen. Vielleicht hatte die Mietskaserne ihre moralische Rehabilitation diesem neuen Konkurrenten zu verdanken. Heutzutage konnte ein Mietshaus einen repräsentativen Querschnitt der ganzen Gesellschaft beherbergen die vornehme alte Jungfer im Parterre, den ledigen Buchhalter ein Stockwerk darüber, dann den Barkeeper, und über dem Barkeeper, offenbar immer unterm Dach, den oder die Studenten. Diese spezielle Mischung ließ sich nur deswegen erzielen, weil die Wohnungen der zwei obersten Stockwerke von auswärtigen Eigentümern vermietet wurden. Manche dieser Vermieter konnten mitunter mehr als hundert Wohnungen be 83 sitzen, wofür Glasgow spektakuläre Beispiele bot, wo die entsprechende Zahl, Gerüchten zufolge, in ein, zwei Fällen sogar in den vierstelligen Bereich kletterte. In Edinburgh aber lagen die Dinge anders. Hier hatten die Planer der »Neustadt« im neunzehnten Jahrhundert ganze Straßenzüge mit eleganten Gebäuden errichtet, die in Rebus' Augen jedoch ebenfalls wie Mietskasernen aussahen. Manche der besseren Stadtteile, wie etwa Marchmont, wo Rebus selbst wohnte, bestanden praktisch aus nichts anderem als solchen »Mietskasernen«. Und bei den gängigen Immobilienpreisen erlebten selbst die heruntergekommeneren Straßenzüge etwas wie eine Renaissance und wurden von den neuen Eigentümern außen mit dem Sandstrahler bearbeitet und innen »stilecht« renoviert. Die Straßen rings um die Easter Road waren dafür ein gutes Beispiel. Dieser allgemeine Aufwärtstrend hatte die Easter Road ziemlich spät erreicht. Die Leute mussten erst zu der Einsicht gelangen, dass sie sich Stockbridge nicht leisten konnten, dass sie sich eigentlich die ganze »Neustadt« und auch die angrenzenden Viertel nicht leisten konnten, damit sie zu guter Letzt vielleicht in der Easter Road landeten - nicht durch Zufall, sondern eher durch die Macht des Schicksals. Bald erkannte ein schlauer Kopf seine Chance und eröffnete einen Delikatessenladen oder ein etwas schickeres Cafe, zur großen Verwirrung der »Einheimischen«. Letztere waren größtenteils ruhige, einsichtige Leute, die es begrüßten, dass ihre Wohnblocks saniert wurden. Trotzdem konnte es gelegentlich vorkommen, dass ein Alfa Romeo oder Golf GTI böswillig zerkratzt wurde, ebenso ein blitzblanker 2CV oder ein statussymbolträchtiger Morris Minor. Aber Brandstiftung? Versuchter Mord? Also, das war schon eine ernstere Sache, eine sehr ernste sogar. Die dabei angewendete Methode hatten Rassis 83 ten in ethnisch gemischten Vierteln perfektioniert. Man goss Benzin durch den Briefschlitz, steckte einen Lappen in Brand und schob ihn hinterher, wodurch der Flurteppich in Flammen aufging und die Flucht aus der brennenden Wohnung erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wurde. Natürlich hatten die unvermeidlichen Geräusche und der Benzingeruch gewöhnlich zur Folge, dass die Bewohner es rechtzeitig bemerkten, weswegen sich solche Brände meist nicht nennenswert ausbreiteten. Aber manchmal... manchmal... »Sein Name ist John Brodie, Sir«, teilte der Polizeibeamte Rebus mit, während sie beide im Krankenhauskorridor herumstanden. »Vierunddreißig Jahre alt. Arbeitet als Buchhalter bei einer Versicherung.«
Was Rebus alles schon wusste. Er war bereits in der Wohnung gewesen - im zweiten Stock eines Hauses direkt um die Ecke von der Easter Road -, in der es jetzt nach nassem Ruß stank; das würde unangenehme Aufräumarbeiten zu Folge haben. Das Feuer hatte sich rasch entlang des Korridors ausgebreitet. Ein paar Jacken und Mäntel, die an einem Kleiderständer hingen, hatten Feuer gefangen und Wände und Decke in Mitleidenschaft gezogen. Brodie, der im Bett lag und schlief (das alles war gegen ein Uhr nachts passiert), war vom Feuer aufgewacht. Er hatte den Notruf gewählt und anschließend - mit einem gewissen Erfolg - versucht, den Brand selbst zu löschen. Ein Teppich aus dem Wohnzimmer und ein paar Kochtöpfe Wasser hatten sich als nützlich erwiesen, um die weitere Ausbreitung des Feuers im Korridor zu verhindern. Aber das alles hatte seinen Preis gefordert - Verbrennungen an Händen, Armen und Gesicht sowie eine Rauchvergiftung. Die Nachbarn waren auf den Rauch aufmerksam geworden und hatten die Tür gerade in dem Moment eingerannt, als die Feuerwehr erschien. Von einem argwöhnischen Polizisten geru 84 fen, hatte sich das CID mit einigen Nachbarn unterhalten. Ein ruhiger Mann, Mr. Brodie, sagten sie. Ein anständiger Mann. Er war erst ein paar Monate zuvor eingezogen. Arbeitete bei einer Versicherung. Niemand glaubte, dass er rauchte, aber sie schienen alle anzunehmen, dass er irgendwo eine brennende Zigarette liegengelassen hatte. »Ganz schön unvorsichtig, das. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass wir in >Auld Reekie< leben, der >Alten Stinkerin<.« Und der Nachbar vom ersten Stock schmunzelte über sein eigenes Bonmot, bis seine Frau aus der Wohnung rief, es kommt Wasser durch die Decke. Der Mann sah mit einem Mal ganz hilflos und wütend aus. »Die Versicherung müsste dafür aufkommen«, beruhigte Rebus ihn. Der Ehemann verschwand in seine Wohnung, um sich der Sache anzunehmen. Die übrigen Hausbewohner begannen, sich zu verziehen, und Rebus betrat den ausgebrannten Flur. Auch ohne den Brandmeister wusste Rebus über die Brandursache Bescheid. Erschreckend klar. Der Benzingeruch war allgegenwärtig. Er schaute sich in der Wohnung um. Die Küche war winzig, besaß aber ein hohes Schiebefenster, das auf Gärten und die Rückseite des gegenüberliegenden Gebäudes ging. Das Badezimmer war noch kleiner, aber sehr sauber und aufgeräumt. Kein Schmutzrand in der Badewanne, keine herumliegenden Handtücher oder Unterhosen, keine Wäsche, die im Waschbecken einweichte. Ein sehr ordentlicher Junggeselle, dieser Mr. Brodie. Auch im Wohnzimmer lag nichts herum. Eine Wand bedeckten mehr oder weniger gerahmte Drucke. Sehr naturalistische Vogeldarstellungen. Rebus betrachtete eine, zwei genauer: Weidenlaubsänger, Bartmeise. Natürlich müsste man die Wohnung neu tapezieren, sonst würde sich der Brandgeruch nie verflüchtigen. Die Versicherung würde wahrscheinlich 84 dafür aufkommen. Brodie war doch vom Fach, oder? Er würde schon wissen, was zu tun war. Zuletzt ging Rebus ins Schlafzimmer. Hier sah's nicht ganz so aufgeräumt aus, vor allem wegen der hastig zurückgeschlagenen Bettdecke. Auf dem Bett lag eine zerknüllte Pyjamahose. Neben dem Bett, auf dem Fußboden, Pantoffeln und ein benutzter Becher, und in einer Ecke ein Fotostativ mit einer hochwertigen Spiegelreflexkamera. Auf dem Fußboden stand, gegen die Wand gelehnt, ein großformatiges Buch, Fotografieren mit Tele, mit einem Fischadler auf dem Umschlag. Wahrscheinlich einer der Fischadler von Loch Garten, dachte Rebus. Früher war er mit seiner Tochter ein paarmal dort gewesen. Touristen hatte er massenhaft gesehen, aber Fischadler waren weit und breit nicht zu finden gewesen.
Wenn ihn jemand gefragt hätte, was ihm an der Wohnung am meisten auffiel, hätte er geantwortet: Es gibt keinen Fernseher. Wie gestaltete Mr. Brodie dann seine Abende? Ohne besonderen Grund bückte sich Rebus und spähte unters Bett - und wurde durch einen Stapel Illustrierte belohnt. Er zog eine hervor. Softporno, ein »Ehefrauen-Sonderheft«. Er schob es wieder an seinen Platz zurück. Des ordnungsliebenden Junggesellen unverzichtbarer Bettgenosse. Und, zum Teil, eine Antwort auf seine Frage von eben. Er verließ die Wohnung und fand ein paar Nachbarn, die noch nicht schlafen gegangen waren. Keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Ins Haus reinzukommen war nicht weiter schwierig; man drückte unten einfach die Tür auf. Sie war vor kurzem aufgebrochen worden und wartete noch immer auf ihre Reparatur. »Irgendein Grund«, fragte Rebus, »warum jemand einen Hass auf Mr. Brodie haben könnte?« 85 Das brachte sie ins Grübeln. Keine glimmende Zigarette also, sondern Brandstiftung. Doch alle schüttelten lediglich die zerzausten Köpfe. Kein Grund. Ein sehr ruhiger Mann. Lebte sehr zurückgezogen. Arbeitete bei einer Versicherung. Blieb stets auf einen kurzen Plausch stehen, wenn man ihm auf der Treppe begegnete. Wischte immer pünktlich die Treppe, wenn er an der Reihe war, nicht wie gewisse andere Leute. Zahlte wahrscheinlich auch seine Miete pünktlich. Tee gab es in der Küche einer der Wohnungen im ersten Stock, wo der »Auld Reekie«-Witzbold getröstet wurde. »Ich hatte diese Decke erst vor drei Monaten gestrichen. Haben Sie eine Ahnung, was Strukturfarbe kostet?« Schon bald wusste jeder die Antwort. Die Frau des Mannes sah gelangweilt drein. Sie lächelte der Gastgeberin dieser Teegesellschaft zu. »War dieser erste Feuerwehrmann nicht sexy?«, fragte sie. »Welcher?« »Der mit den blauen Augen. Der, der uns gesagt hat, wir sollten uns keine Sorgen machen. Von dem würde ich mir jederzeit das Feuer löschen lassen.« Die Gastgeberin prustete in ihren Tee. Rebus entschuldigte sich und ging. Mit rassistisch motivierten Brandanschlägen hatte Rebus schon früher zu tun gehabt. Selbst »Anti-Yuppie-At-tacken« - meist in Form von Graffiti an Autos oder Hauswänden - waren ihm nicht fremd. Ein Loft in Leith war mit dem Spruch HÄUSER SIND FÜR ARME SCHWEINE, NICHT FÜR GELDGEILE SÄUE besprüht worden. Der Anschlag auf Brodie schien eher persönlicher Natur gewesen zu sein, aber es war die Sache wert, alle denkbaren Motive in Betracht zu ziehen. Während er zum Kranken 85 haus fuhr, arbeitete er im Geist seine Liste ab. Dort angelangt, sprach er auf dem Korridor mit dem Uniformierten, und betrat dann das Mehrbettzimmer, in dem man es John Brodie »gemütlich gemacht« hatte. Trotz der späten Stunde war Brodie hellwach. Er lag, ein Kissen im Rücken, die Arme vor sich auf dem Laken ausgestreckt, halb aufrecht im Bett. Dicke sahnigweiße Watte und zarte, feingesponnene Bandagen herrschten vor. Sein Haar war zum Teil abrasiert worden, damit die Verbrennungen der Kopfhaut behandelt werden konnten. Er hatte keine Augenbrauen mehr und nur letzte Reste von Wimpern. Sein Gesicht war rund und wie blank poliert; leicht, sich vorzustellen, wie es zu einem Lächeln in die Breite ging - wenngleich vermutlich nicht heute Abend. Rebus griff sich einen Stuhl von einem Stapel an der gegenüberliegenden Wand, setzte sich und stellte sich erst dann vor. Brodie sprach mit zittriger Stimme. »Ich weiß, wer's war.« »Ach ja?« Aus Rücksicht den Schlafenden gegenüber sprach Rebus mit gedämpfter Stimme. Dass ihr Gespräch so beginnen würde, hatte er eigentlich nicht erwartet.
Brodie schluckte. »Ich weiß, wer es getan hat, und ich weiß, warum sie es getan hat. Aber ich will keine Anzeige erstatten.« Rebus hatte nicht vor, Brodie zu erklären, dass nicht er darüber zu entscheiden hatte. Er wollte vermeiden, dass der Mann die Schotten dichtmachte. Reden sollte er. Rebus nickte, als wäre er einverstanden. »Kann ich Ihnen etwas bringen lassen?«, fragte er, um ihn zu weiteren Bekenntnissen zu bewegen. »Sie ist nicht ganz recht im Kopf«, fuhr Brodie fort, als hätte Rebus nichts gesagt. »Das habe ich seinerzeit auch der Polizei erzählt. Sie ist plemplem, hab ich den Beamten 86 gesagt. Kann gar nicht anders sein. Na ja, und jetzt haben wir den Beweis, oder?« »Sie glauben, sie gehört in Behandlung?« »Vielleicht. Wahrscheinlich.« Er schien kurz nachzudenken. »Ja, mit ziemlicher Sicherheit. Ich meine, das geht doch ein bisschen zu weit! Selbst wenn man glaubt, im Recht zu sein. Aber sie hatte nicht recht. Die Polizisten haben ihr das klipp und klar gesagt.« »Aber das hat sie nicht überzeugt.« »Genau.« Rebus fand, dass die Sache ganz gut lief. Brodie stand offensichtlich unter Schock. Vielleicht phantasierte er sogar ein bisschen, aber solange es Rebus gelang, ihn am Reden zu halten, würde er es auch schaffen, sich die Geschichte, irgendwie zusammenzureimen. Aus dem Bett ertönte ein trockenes Lachen. Brodies Augen blinzelten. »Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede, stimmt's?« Rebus konnte ihm nicht widersprechen. »Natürlich nicht. Schön, ich trink einen Schluck Wasser, und dann erzähl ich's Ihnen.« Und das tat er dann auch. Der Morgen war hell, aber grau: »Sonnig mit einzelnen Schauern«, hatte es im Wetterbericht geheißen. Es war noch nicht ganz Herbst. Der allzu kurze Sommer konnte ohne Weiteres noch ein paar Überraschungen bereithalten. Rebus wartete an seinem Schreibtisch, bis man die zwei Constables ausfindig gemacht hatte. Als sie hereinkamen, war ihnen sichtlich nicht wohl in ihrer Haut, aber er beruhigte sie. Ja, sie hatten, wie verlangt, ihre Notizbücher dabei. Und ja, sie erinnerten sich sehr gut an die fragliche Sache. »Angefangen hat es mit anonymen Anrufen«, begann der eine. »Sie klangen durchaus echt. Miss Hooper hat uns einen davon ausführlich referiert. Ihr Telefon klingelt. Ein 86 Mann stellt sich als Police Inspector vor und erzählt, es gebe da einen anonymen Anrufer, der das Telefonbuch von Edinburgh systematisch abarbeitet. Er meint, bald könnte ihre Nummer an der Reihe sein, aber die Polizei hätte eine Fangschaltung bei ihr installiert. Ob sie also dafür sorgen könne, dass der Anrufer nicht zu schnell auflege.« »Ach ja.« Rebus wusste eigentlich jetzt schon Bescheid. Trotzdem hörte er sich geduldig an, was der Constable weiter zu berichten hatte. »Noch am selben Tag ruft tatsächlich ein Mann an. Er stellt ihr ein paar sehr persönliche Fragen, und sie sorgt dafür, dass er nicht aufhört zu reden. Anschließend ruft sie die Polizei an, um zu erfahren, ob man den Anruf zurückverfolgen konnte. Bloß dass auf der Wache niemand den Namen kannte, den der sogenannte Inspector angegeben hatte. Das war der anonyme Anrufer selbst gewesen, der ihr ein Märchen aufgetischt hatte.« Rebus schüttelte langsam den Kopf. Der Trick war alt, aber immer noch wirksam. »Sie hat sich also wegen anonymer Anrufe beklagt?«
»Ja, Sir. Aber dann haben die Anrufe aufgehört. Das schien also nicht so schlimm zu sein. Nicht nötig, die Leitung abzuhören oder der Frau eine neue Telefonnummer zu geben, oder sonst was.« »Wie wirkte Miss Hooper zu dem Zeitpunkt?« Der Constable zuckte die Achseln und wandte sich zu seinem Kollegen, der jetzt das Wort ergriff. »Ein bisschen nervös, Sir. Aber das war verständlich, oder? Eine sehr nette Lady, würde ich sagen. Nicht verheiratet. Ich glaub nicht mal, dass sie einen Freund hatte.« Er drehte sich zu seinem Kollegen. »Hat sie nicht was in der Richtung gesagt, Jim?« »Ich glaub schon, ja.« »Und, was ist dann passiert?« 87 »Ein paar Wochen später, also vor knapp einer Woche, hat Miss Hooper noch einmal angerufen. Sie sagte, im Mietshaus auf der anderen Seite des Hofs gebe es einen Spanner. Sie habe ihn gesehen, wie er am Fenster stand und ein Fernglas auf ihr Gebäude richtete, oder genauer, auf ihre Wohnung. Wir sind der Sache nachgegangen und haben Mr. Brodie befragt. Er schien sich die Anschuldigungen sehr zu Herzen zu nehmen. Er hat uns das Fernglas gezeigt und zugegeben, es an seinem Küchenfenster benutzt zu haben. Aber er versicherte uns, er hätte Vögel beobachtet.« Der andere Beamte lächelte. »Er wäre >Vogelbeobachter<, hat er gesagt.« »Hobbyornithologe«, erklärte Rebus. »Genau, Sir. Er sagte, er würde sich mit Vögeln befassen, wäre gewissermaßen ein Vögel-Fan.« Wieder ein Lächeln. Sie hofften anscheinend, Rebus würde den müden Kalauer goutieren. Sie irrten sich, auch wenn sie das vorerst noch nicht zu merken schienen. »Reden Sie weiter«, sagte er lediglich. »Tja, Sir, in seiner Wohnung gab es tatsächlich jede Menge Vogelbilder.« »Sie meinen die Drucke im Wohnzimmer?« »Genau, Sir, Bilder ornithologischen Inhalts.« Jetzt schaltete sich der andere Constable ein. »Sie werden es nicht für möglich halten, Sir. Er sagte, er würde das Nachbarhaus und den Garten beobachten, weil er da...«, deutliche Kunstpause,»... Bartmö..., äh, ...meisen gesehen hätte.« Jetzt grinsten die beiden jungen Beamten übers ganze Gesicht. »Es freut mich, dass Sie Ihren Job so unterhaltsam finden«, meinte Rebus. »Denn ich meine, dass telefonische Belästigungen, Spanner und Brandanschläge eigentlich nicht der geeignete Stoff für dumme Witze sind!« 87 Das Grinsen verschwand schlagartig. »Weiter«, befahl Rebus. Die Beamten sahen einander an. »Gibt nicht mehr viel zu erzählen, Sir«, sagte der eine, den der andere Jim genannt hatte. »Der Gentleman, Mr. Brodie, wirkte durchaus ehrlich. Aber er versprach, in Zukunft aufzupassen. Wie gesagt, er schien ehrlich betroffen zu sein. Wir haben Miss Hooper über die Ergebnisse unserer Untersuchung informiert. Sie wirkte nicht hundertprozentig überzeugt.« »Offensichtlich nicht«, sagte Rebus ohne weitere Erklärung. Er entließ die beiden Beamten und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Brodie verdächtigte die Hooper, wie es aussah, nicht ohne Grund der Brandstiftung. Hinzu kam, dass Brodie erklärt hatte, er könne sich nicht vorstellen, wen er sich sonst zum Feind gemacht haben sollte. Was stimmen mochte; es sei denn, er wollte es Rebus nicht sagen. Rebus lehnte sich noch weiter zurück und legte den Arm auf den Heizkörper, genoss die Wärme. Als Nächstes
musste er sich natürlich mit Miss Hooper unterhalten. Ein neuer Tag, ein neues Mietshaus. »Bartmösen«, sagte Rebus zu sich. Diesmal gestattete er sich ein Lächeln. »Sie haben Glück«, erklärte ihm Miss Hooper. »Normalerweise komme ich mittags nicht zum Essen nach Hause, aber heute war mir einfach danach.« Wahrhaft Glück gehabt. Rebus hatte im ersten Stock bei Miss Hooper angeklopft, aber ohne Erfolg. Schließlich hatte sich eine andere Etagentür geöffnet, und eine Frau von Ende vierzig trat mit strenger Miene heraus. »Sie ist nicht da«, hatte sie unnötigerweise erklärt. »Haben Sie eine Ahnung, wann sie zurückkommt?« »Und wer sind Sie?« 88 »Polizei.« Die Frau schürzte die Lippen. Auf dem Namensschild über ihrer Klingel, links von der Tür, stand McKAY. »Sie arbeitet bis vier. Sie ist Lehrerin. Wenn Sie sie sprechen wollen, finden Sie sie jetzt in der Schule.« »Danke. Mrs. McKay, richtig?« »Richtig.« »Könnte ich kurz mit Ihnen reden?« »Worüber?« Mittlerweile stand Rebus vor Mrs. McKays Tür. Hinter ihr war ein dunkler Flur zu sehen, der mit allen möglichen Einzelteilen übersät war, genug, um daraus fast, wenn auch nicht ganz, ein Motorrad zusammenzubauen. »Über Miss Hooper«, sagte er. »Was ist mir ihr?« Nein, sie hatte offensichtlich nicht vor, ihn hereinzubitten. Er hörte ihren Fernseher plärren. Mittags-Gameshow-Applaus. Die volltönende Stimme eines Quizmasters. »Kennen Sie sie schon lange?« »Seit sie hier eingezogen ist. Vor drei, vier Jahren. Ja, vor vier Jahren.« Sie verschränkte jetzt die Arme und lehnte sich mit der Schulter an den Türpfosten. »Worum geht's?« »Sie kennen sie wahrscheinlich ziemlich gut, wo Sie doch auf derselben Etage wohnen?« »Gut genug. Sie besucht mich ab und zu auf eine Tasse Tee.« Sie schwieg kurz, damit Rebus auch ja begriff, dass dies eine Ehre war, die ihm nicht zuteilwerden würde. »Haben Sie vom Feuer gehört?« »Feuer?« »Da drüben.« Rebus deutete mit einem Kopfnicken in eine unbestimmte Richtung. »Ach so, ja. Ich bin von der Feuerwehrsirene wach geworden. Aber es ist ja niemandem was passiert, oder?« »Wie kommen Sie darauf?« 88 Sie scharrte mit den Füßen und rieb sich die Hände. »Hab ich bloß... so gehört.« »Ein Mann hat ziemlich schwere Brandverletzungen. Er liegt im Krankenhaus.« »Ah.« Und dann ging unten die Haustür auf und wieder zu. Das Geräusch von Schritten auf Stein hallte herauf. »Ach, da kommt ja Miss Hooper«, sagte Mrs. McKay. Mit hörbarer Erleichterung, dachte Rebus. Mit hörbarer Erleichterung... Miss Hooper ließ ihn in die Wohnung und schaltete augenblicklich den Wasserkocher ein. Sie hoffte, er habe nichts dagegen, wenn sie sich ein Sandwich machte. Und hätte er selbst auch gern eins? Käse und Pickles oder Erdnussbutter und Apfel? Ach was, sie würde von beidem was machen, und er konnte es sich selbst aussuchen.
Lehrerin? Rebus glaubte es aufs Wort. Sie hatte diesen typischen Ton, diese charakteristische Art, scheinbar jeden Gedanken, der ihr durch den Kopf ging, laut auszusprechen, Fragen zu stellen, um sie dann selbst zu beantworten. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie sie in ihrem Klassenzimmer stand und, von Schweigen umgeben, ihre Fragen stellte. Alison Hooper war Anfang dreißig. Klein und zierlich, fast knabenhaft. Kurzes, glattes braunes Haar. Kleine Ohrringlein an kleinen Öhrchen. Sie unterrichtete in einer Grundschule, zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Die Wohnung war mit Büchern und Zeitschriften übersät, aus denen sie vielfach Abbildungen ausgeschnitten hatte, wahrscheinlich, um sie im Unterricht zu verwenden. Im Wohnzimmer hingen Mobiles von der Decke: fliegende Schweine, ein Alphabet, Teddybären, die aus Flugzeugen winkten. An den Wänden bunte Webteppiche, dafür keine 89 Teppiche auf dem Fußboden. Sie hatte etwas Hektisches, Nervöses an sich und zuckte fortwährend sehr niedlich mit der Nase. Rebus folgte ihr in die Küche und sah zu, wie sie einen aufgeschnittenen Laib Braunbrot auspackte. »Normalerweise nehme ich mir Brote mit, aber heute Morgen habe ich verschlafen, und da hatte ich keine Zeit mehr, mir welche zu schmieren. Ich hätte natürlich in der Schulkantine essen können, aber mir war einfach danach, nach Hause zu gehen. Ein Glück für Sie, Inspector.« »Sie haben letzte Nacht also schlecht geschlafen?« »Ja, schon. Im Haus gegenüber hat's gebrannt.« Sie deutete mit einem gebutterten Messer zum Fenster. »Da drüben. Ich hab Sirenen gehört, und der Motor des Feuerwehrautos dröhnte in einem fort, und so konnte ich beim besten Willen nicht wieder einschlafen.« Rebus ging ans Fenster und sah hinaus. Das Haus, in dem John Brodie wohnte, starrte zurück. Es war ein x-beliebiges Mietshaus, wie es sie überall in der Stadt gab. Gleiche Anordnung von Fenstern und Fallrohren, gleicher eingezäunter Trockenplatz. Er beugte sich ein Stück weiter vor und spähte hinunter in den Hof von Alison Hoopers Haus. Da bewegte sich was. Was war es? Ein Junge, der an seinem Motorrad bastelte. Das Motorrad stand auf dem Trockenplatz, und das Werkzeug und alle Einzelteile lagen auf einer Plastikplane, die zu diesem Zweck ausgebreitet worden war. Die Tür des Geräteschuppens stand offen, von einer hölzernen Wäschestange aufgehalten. Im Innern des Schuppens sah Rebus weitere Motorradersatzteile und ein paar Benzinkanister. »Der Brand von letzter Nacht«, sagte er, »war in Mr. John Brodies Wohnung.« »Oh!«, sagte sie, und ihre Messerhand verharrte kurz über dem Brot. »Dem Spanner?« Dann begriff sie und schluckte. »Sie sind also deswegen hier.« 89 »Ja. Mr. Brodie hat uns Ihren Namen genannt, Miss Hooper. Er meinte, dass Sie vielleicht -« »Tja, er hat recht.« »Ach ja?« »Ich meine, ich habe was gegen ihn. Ich halte ihn für pervers. Und natürlich nimmt mir das die Polizei nicht ab!« Ihre Stimme wurde allmählich schriller. Sie starrte die Brotscheiben unverwandt an. »Nein, die Polizei scheint keinerlei Grund zur Sorge zu sehen. Aber ich weiß Bescheid. Ich habe mit den anderen Bewohnern des Hauses gesprochen. Wir alle wissen Bescheid.« Dann entspannte sie sich, lächelte das Brot an und klatschte etwas Erdnussbutter auf eine Scheibe. Ihre Stimme war ganz ruhig. »Ich habe etwas gegen den Mann, Inspector, aber ich habe nicht seine Wohnung in Brand gesteckt. Es freut mich sogar, dass ihm nichts passiert ist.« »Wer behauptet das?« »Was?« »Er liegt im Krankenhaus.«
»Wirklich? Ich dachte, es hätte keine -« »Wer hat das gesagt?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Irgendjemand in der Schule. Hatte es vielleicht im Radio gehört. Ich weiß nicht. Tee oder Kaffee?« »Das Gleiche wie Sie.« Sie machte zwei Becher koffeinfreien Instantkaffee. »Gehen wir ins Wohnzimmer«, sagte sie. Dort erzählte sie ihm die Geschichte von den Anrufen und dem Mann mit dem Fernglas. »Von wegen Vögel beobachten!«, sagte sie. »Er guckte anderen Leuten in die Wohnung.« »Bestimmt nicht so leicht zu entscheiden.« Sie zuckte mit der Nase. »Guckte anderen Leuten in die Wohnung«, wiederholte sie. 90 »Hat ihn sonst noch jemand gesehen?« »Nachdem ich mich beschwert habe, hat er aufgehört. Aber wer weiß? Ich meine, tagsüber ist es leicht, jemanden zu sehen. Aber nachts, wenn bei ihm alle Lichter aus sind? Er könnte die ganze Nacht in diesem dunklen Zimmer sitzen und uns beobachten. Wer würde da schon was merken?« »Sie sagen, Sie haben mit den anderen Hausbewohnern gesprochen?« »Ja.« »Mit allen?« »Mit einem oder zwei. Das reicht, es spricht sich herum.« Jede Wette, dachte Rebus. Und dann kam ihm ein weiterer Gedanke, eigentlich nicht mehr als ein Wort: Mietshausmentalität. Er verspeiste rasch das pikante und dann das eklige Sandwich, leerte seinen Becher und sagte, er würde jetzt gehen und sie in Ruhe weiteressen lassen. Er stieg die Treppe hinunter, ging aber dann nicht weiter zur Haustür, sondern bog nach rechts ab, zum Hof. Draußen war der Motorradbastler gerade dabei, die Birne seiner Bremsleuchte auszuwechseln. Er nahm die neue Birne aus einer Plastikschachtel und warf diese leer auf die Plastikplane. »Was dagegen, wenn ich die nehme?«, fragte Rebus. Das Jungchen warf ihm einen Blick über die Schulter zu, sah, worauf er zeigte, zuckte dann die Achseln und wendete sich wieder seiner Arbeit zu. Neben ihm auf dem Rasen lief ein kleiner Kassettenrecorder. Heavy Metal. Die Batterien hatten nur noch wenig Saft, und der Sound eierte. »Von mir aus«, sagte er. »Danke.« Rebus hob die Schachtel mit spitzen Fingern auf und ließ sie in die Tasche seines Jacketts gleiten. »Da kommen meine Fliegen rein.« 90 Der Biker drehte sich um und grinste. »Angelfliegen«, erklärte Rebus, seinerseits lächelnd. »Die Schachtel ist ideal, um meine Köder darin aufzubewahren.« »Gar nicht dumm«, meinte der Halbwüchsige. Rebus schmunzelte. »Sind Sie der Sohn von Mrs. Mc-Kay?«, fragte er. »Bin ich.« Die Birne saß, jetzt wurde das Gehäuse wieder angeschraubt. »Ich würde die Birne testen, bevor Sie das Gehäuse wieder draufsetzen. Nur für den Fall, dass die ein Blindgänger ist. Sonst müssten Sie alles wieder auseinandernehmen.« Der Junge drehte sich erneut um. »Gar nicht dumm«, wiederholte er. Er nahm das Gehäuse wieder ab. »Ich war gerade eben bei Ihrer Mum.« »Ah ja?« Der Ton verriet Rebus, dass die Eltern des Jungen geschieden waren oder aber sein Vater tot war. Sie sind ihr Neuer, was?, gab der Ton zu verstehen. Mamas aktueller Lover. »Sie hat mir vom Brand erzählt.«
Der Junge musterte das Gehäuse eingehend. »Brand?« »Letzte Nacht. Vermissen Sie zufällig einen Ihrer Benzinkanister? Oder ist in einem vielleicht weniger drin, als Sie in Erinnerung hatten?« Jetzt hätte das rote durchsichtige Gehäuse glatt ein Edelstein unter einer Juwelierslupe sein können. Aber der Junge sagte kein Wort. »Ich heiße übrigens Rebus, Inspector Rebus.« Während der Fahrt zurück zur Wache nahm sich Rebus ein bisschen ins Kreuzverhör. Und hat der Verdächtige irgendeine Bemerkung fallen lassen, nachdem Sie sich ihm gegenüber ausgewiesen hatten? 91 Keine Bemerkung, aber etwas ist ihm schon heruntergefallen. Und zwar? Der Unterkiefer. Er sah aus wie ein haarloser Gorilla mit Akne. Und er hatte sichtlich eine Schraube locker. Eine Schraube locker? An seinem Rücklicht. Sie ist ins Gras gefallen. Als ich gegangen bin, war er noch immer dabei, sie zu suchen. Und was war mit der Plastikschachtel, Inspector, der Schachtel, in der sich die neue Bremslichtbirne befunden hatte? Hat er sie zurückverlangt? Ich habe ihm keine Chance dazu gelassen. Es ist mein Prinzip, Volltrotteln niemals die geringste Chance zu lassen. Wieder auf der Wache, bequem in seinem Stuhl zurückgelehnt, den stabilen und verlässlichen Schreibtisch vor, den ebenso stabilen und verlässlichen Radiator hinter sich, dachte Rebus über das Feuer nach, diese bequemste aller Mordwaffen. Man brauchte sich kein Schießeisen zu besorgen. Brauchte nicht einmal ein Messer zu kaufen. Säure, Gift, ebenfalls schwer zu beschaffen. Aber Feuer... Feuer gab es überall. Ein Wegwerffeuerzeug, eine Schachtel Streichhölzer. Ein Streichholz, ratsch, und man hatte Feuer. Wärmendes, lebenspendendes, lebensgefährliches Feuer. Rebus steckte sich eine Zigarette an, um besser nachdenken zu können. Es würde noch eine Weile dauern, bis das Labor sich meldete. Eine Weile. Irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Etwas, das er gehört hatte. Was war es? Ja, genau: Zahlt wahrscheinlich auch seine Miete pünktlich. Schön, schön. Das war doch mal was. Ein Mieter. In einem Mietshaus eigentlich nicht weiter verwunderlich, obwohl man ja zugeben musste, dass vielen Leuten ihre Wohnung auch gehörte. Nicht aber Mr. Brodie. Und ge 91 rade Junggesellen wohnten nicht selten möbliert. Rebus erinnerte sich, dass Detective Sergeant Hendry vom CIF Dunfermline ein begeisterter Hobbyornithologe war. Ein-oder zweimal, bei Konferenzen oder auf Fortbildungskursen, hatte er sich Rebus geschnappt und ihn mit Berichten über seine jüngsten Sichtungen - sei es einer DuddingstonRohrdommel oder eines Kilconquhar-Zwergsängers -angeödet. Wie alle Steckenpferdreiter erwartete Hendry von anderen, dass sie seine Begeisterung teilten. Wie alle Steckenpferdhasser, gähnte Rebus demonstrativer, als eigentlich nötig gewesen wäre. Trotzdem, einen Anruf war die Sache wert. »Ich werde Sie zurückrufen müssen, John«, sagte ein hörbar beschäftigter DS Hendry. »So auf die Schnelle kann ich Ihnen das nicht sagen. Geben Sie mir Ihre Privatnummer, und ich melde mich heute Abend. Ich wusste ja gar nicht, dass Sie sich dafür interessieren.« »Tu ich auch nicht, da können Sie ganz beruhigt sein.« Aber seine Worte gingen ungehört unter. »Vor ein paar Monaten habe ich Gimpel und Kleiber gesehen, direkt vor meinem Fenster.« »Wirklich?«, sagte Rebus. »Also, ich persönlich steh nicht so auf Komikerduos. Gimple & Clyber, ja? Aber stimmt, die sind schon seit Jahren im Geschäft...«
Am nächsten Morgen hatte er alles beisammen, was er brauchte. Als er ankam, saßen Mrs. McKay und ihr Sohn gerade bei einem späten Frühstück. Der Fernseher lief und lieferte die Geräuschkulisse, die die beiden offenbar zum Leben brauchten. Rebus war in Begleitung zweier weiterer Beamter gekommen, so dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass sein Besuch dienstlicher Natur war. Als Rebus zu reden begann, fiel Gerry McKay ein zweites Mal die Kinnlade herunter. Die Geschichte selbst war rasch er 92 zählt. John Brodies Wohnungstür war untersucht und die Briefklappe auf Fingerabdrücke hin untersucht worden. Man hatte ein paar gute, wenn auch ölige Abdrücke gefunden und mit denjenigen auf der Plastikdose verglichen, die Rebus von Gerry McKay bekommen hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass Gerry McKay John Brodies Briefkastenklappe geöffnet hatte. Wenn Gerry also so freundlich wäre, die Beamten auf die Wache zu begleiten... »Mum!« McKay war aufgesprungen und schrie in Panik. »Mum, sag's ihnen! Sag's ihnen!« Mrs. McKays Gesicht hatte die Farbe von Ketchup angenommen. Rebus war froh, dass er die Uniformierten dabeihatte. Als sie sprach, zitterte ihre Stimme. »Es war nicht Gerrys Idee«, begann sie. »Es war meine. Wenn Sie sich mit jemandem darüber unterhalten wollen, dann mit mir. Es war meine Idee. Bloß wusste ich, dass Gerry schneller die Treppe rauf- und runterkommen würde als ich. Das ist alles. Er hat nichts damit zu tun.« Sie schwieg kurz, und ihre Miene wurde noch eine Spur gehässiger. »Außerdem hat der kleine Scheißer es nicht anders verdient. Der miese, dreckige kleine Mistkerl. Sie haben nicht gesehen, in was für einem Zustand Alison war. So ein liebes kleines Mädchen, ein richtiges schüchternes Häschen, und sie so durcheinanderzubringen! Verdammt, er durfte damit nicht durchkommen! Und wenn's nach Ihnen und Ihrem Verein gehen würde, wäre ihm kein Haar gekrümmt worden, stimmt's? Das hat nichts mit Gerry zu tun.« »Das wird bei der Verhandlung berücksichtigt werden«, sagte Rebus ruhig. Seit Rebus ihn zuletzt gesehen hatte, schien sich John Brodie nicht von der Stelle gerührt zu haben. Seine Arme lagen nach wie vor auf dem Laken, und er saß wie zuvor, ein Kissen im Rücken, halb aufrecht im Bett. 92 »Inspector Rebus«, sagte er. »Wieder da.« »Wieder da«, erwiderte Rebus, zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Der Arzt meint, Sie machen Fortschritte.« »Ja«, sagte Brodie. »Kann ich Ihnen was kommen lassen?« Brodie schüttelte den Kopf. »Nein? Saft? Etwas Obst vielleicht? Wie wär's mit Lesestoff? Sie mögen offenbar Sexheftchen. Ich hab eins in Ihrer Wohnung gesehen. Ich könnte Ihnen ein paar besorgen, wenn Sie möchten.« Rebus zwinkerte. »Private Schnappschüsse, hm? Amateurfotos. Das ist Ihr Stoff. Diese ganzen unscharfen Polaroidbildchen mit abgeschnittenen Köpfen. Darauf stehen Sie, was, John?« Aber John Brodie gab keinen Laut von sich. Er starrte seine Arme an. Rebus rückte mit dem Stuhl näher ans Bett heran. Brodie zuckte zusammen, konnte aber nicht ausweichen. »Panurus biarmicus«, zischte Rebus. Jetzt sah Brodie ihn verständnislos an. Rebus wiederholte die Wörter. Brodie guckte weiterhin verständnislos. »Na los«, forderte ihn Rebus auf, »was fällt Ihnen dazu ein?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Nein?« Rebus machte große Augen. »Schon komisch. Klingt wie der Name einer Krankheit, nicht? Ist aber ein Vogel. Vielleicht kennen Sie ihn besser als Bartmeise.« »Ach ja.« Brodie lächelte verlegen und nickte. »Ja, die Bartmeise.«
Rebus lächelte ebenfalls, aber kalt. »Sie wussten es nicht, Sie hatten nicht die leiseste Ahnung. Soll ich Ihnen etwas über die Bartmeise erzählen? Nein, ich weiß was Besseres, Mr. Brodie: Sie erzählen mir was über sie.« Er lehnte sich zurück und verschränkte erwartungsvoll die Arme. »Was?« »Nur zu.« 93 »Hören Sie, was soll das Ganze?« »Es ist eigentlich ganz einfach.« Rebus beugte sich wieder vor. »Die Bartmeise ist in Schottland eher selten anzutreffen. Das habe ich von einem Fachmann. Eher selten anzutreffen, das waren seine Worte. Aber noch interessanter ist, dass ihr Lebensraum - ich zitiere - ausgedehnte, abgelegene Röhrichte< sind. Merken Sie, worauf ich hinauswill? Die Easter Road würde man ja wohl kaum als >Röhricht< bezeichnen.« Brodie hob leicht den Kopf, die Lippen sehr gerade und sehr schmal. Er dachte nach, schwieg aber. »Sie wissen, worauf ich hinauswill, oder? Sie sagten damals diesen zwei Constables, Sie hätten von Ihrem Fenster aus Bartmeisen beobachtet. Aber das ist einfach nicht wahr. Es kann unmöglich stimmen. Sie haben einfach die erste Vogelart genannt, die Ihnen eingefallen ist, und eingefallen ist sie Ihnen, weil in Ihrem Wohnzimmer eine Zeichnung von dem Vogel an der Wand hängt. Ich habe sie selbst gesehen. Aber nicht Sie sind der Vogelliebhaber, John. Ihre Vermieter sind das. Sie haben die Wohnung möbliert gemietet, und Sie haben nichts an der Einrichtung verändert. Das sind deren Zeichnungen, die da an der Wand hängen. Die beiden haben wegen der Feuerversicherung bei uns angerufen. Sie hatten von der Sache aus der Zeitung erfahren. Sie konnten verstehen, dass Sie sich nicht bei ihnen gemeldet haben, wo Sie doch im Krankenhaus liegen und so weiter, aber wegen der Versicherung wollten sie schon ein paar Informationen haben. Deshalb konnte ich sie nach den Vögeln an der Wand fragen. Deren Vögel, John. Das war schnell geschaltet, wie Sie den Kollegen die Geschichte aufgetischt haben. Die sind glatt drauf reingefallen, und um ein Haar wäre ich das auch. Dieses Buch übers Fotografieren mit Teleobjektiv, selbst das hatte Vögel auf dem Umschlag.« Er schwieg einen Moment. »Aber Sie sind ein 93 Spanner, John, das ist alles. Genau das sind Sie, ein mieser kleiner Voyeur. Miss Hooper hatte vollkommen recht.« »War sie es, die -?« »Das werden Sie noch früh genug erfahren.« »Das sind alles Lügen. Hörensagen, bloße Indizien. Sie haben keinerlei Beweise.« »Was ist mit den Fotos?« »Was für Fotos?« Rebus seufzte. »Kommen Sie schon, John. Die ganzen Gerätschaften in Ihrem Schlafzimmer: Stativ, Kamera, Teleobjektive. Vögel wollen Sie fotografiert haben? Ich wäre neugierig, die Resultate zu sehen. Denn das Fernglas hat Ihnen nicht gereicht, stimmt's? Bildchen haben Sie auch gemacht. Und, haben Sie die in Ihrem Kleiderschrank versteckt?« Rebus warf einen Blick auf seine Uhr. »Mit ein bisschen Glück habe ich binnen einer Stunde den Durchsuchungsbefehl. Und dann habe ich vor, mich so richtig gründlich in Ihrer Wohnung umzusehen, John. So richtig gründlich.« »Da ist nichts.« Er zitterte jetzt, fuchtelte gequält mit seinen bandagierten Armen. »Nichts. Sie haben kein Recht. Jemand hat versucht, mich zu... Kein Recht. Man hat versucht, mich zu töten.« Rebus war bereit, ihm ein bisschen entgegenzukommen. »Man hat zweifellos versucht, Ihnen einen Schrecken einzujagen. Wir werden sehen, wie das Gericht entscheidet.« Er stand auf. Brodie plapperte weiter vor sich hin. Bla, bla, bla. Es würde eine ganze Weile dauern, bis er wieder imstande sein würde, einen Fotoapparat zu bedienen.
»Wollen Sie noch etwas wissen, John?«, fragte Rebus, unfähig, sich eine seiner abschließenden Bemerkungen zu verkneifen. »Etwas über die Bartmeise? Sie gehört zur Unterordnung der Singvögel.« Er bedachte Brodie mit einem geradezu strahlenden Lächeln. »Der Singvögel!«, wieder94 holte er. »Und ich schätze, Sie werden sehr bald ebenfalls anfangen zu singen. Tja«, er hob den Stuhl auf und tat so, als würde er nachdenken, »aber auf alle Fälle würde ich Sie, trotz der Meise, die Sie zweifellos haben, als einen dummen Gimpel bezeichnen.« An dem Abend kehrte er zu seinem Mietshaus und an seinen fauchenden heimischen Herd zurück. Aber am Knauf seiner Wohnungstür erwartete ihn eine Überraschung. Ein Zettelchen von Mrs. Cochrane vom Stockwerk unter ihm. Eine Erinnerung daran, dass er diese Woche damit dran war, die Treppe zu putzen, und dass er das noch nicht gemacht hatte und dass die Woche schon fast rum war, und wann er sich wohl dazu bequemen würde? Rebus stieß einen Brüller aus, dass es im ganzen Treppenhaus hallte, bevor er die Tür hinter sich zuschlug. Gerade rechtzeitig, bevor sich andere Türen, eine nach der anderen, öffneten, Gesichter herausspähten und ein weiteres Edinburgher Mietshauspalaver seinen Anfang nahm.
Not Provan Wie wild war Detective Inspector John Rebus darauf, Willie Provan festzunageln? Ah, sehr wild, geradezu besessen. Rebus malte sich die Prozedur als eine regelrechte Kreuzigung aus, bei der sich jeder einzelne Nagel langsam, genüsslich tiefer und tiefer ins Fleisch bohrte, genauso wie Willie es liebte, seine Opfer, langsam und methodisch, mit Faust und Springerstiefel zu bearbeiten. Zum ersten Mal hatte Rebus fünf Jahre zuvor mit Willie Provan zu tun gehabt, einem halbwüchsigen Schuljungen, der zunehmend außer Kontrolle geriet. Nach dem Tod beider Eltern war Willie von einer schrulligen und fast stocktauben Tante aufgenommen worden. Und bald schon führte er im Haus das Regiment, veranstaltete dort wüste Partys, die in aller Regel damit endeten, dass die völlig entnervten Nachbarn die Polizei riefen. Im Haus war man sich wie auf dem Set einer Amateurproduktion von Caligula vorgekommen: nackte minderjährige Paare, zu betrunken oder zugedröhnt, um den Akt, der sie so sehr interessierte, erfolgreich vollziehen zu können; leere Lösungsmitteldosen, mit den Ablagerungen des Zeugs verkrustete Plastiktüten. Ein vager irgendwie animalischer, jedenfalls nicht ganz menschlicher Geruch in der Luft. Und in einem Zimmerchen im ersten Stock eingeschlossen, aufrecht in ihrem Bett sitzend, die Tante, eine Tasse kalten Tee und ein halb aufgegessenes Sandwich neben sich. 94 Als er die Schule verließ, war Willie bereits eine Legende. Die anschließenden vier Jahre Arbeitslosigkeit hatten wenig zu seiner Charakterbildung beigetragen. Aber immerhin hatte er gelernt, clever zu sein, und bislang war es der Polizei nicht gelungen, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Er war und blieb Rebus ein Stachel im Fleisch. Heute hat-" te Rebus endlich das Gefühl, dass vielleicht jemand vorbeikommen und ihm diesen Stachel aus dem Leib ziehen würde. Er saß im Gerichtssaal und folgte der Verhandlung. Nicht weit von ihm entfernt saßen ein paar von Willie Provans Freunden, Mitglieder seiner Gang. Sie nannten sich die Tiny Alice oder T-Alice. Kein Mensch wusste, warum. Rebus warf ihnen einen Blick zu. Hochgekrempelte Ärmel, Tattoos und ein Grinsen im unrasierten Gesicht. Sie waren die Söhne der Stadt, das Resultat einer Edinburgher Kindheit und Jugend, aber sie schienen einer anderen Kultur anzugehören, ja einer völlig anderen Zivilisation, großgezogen mit
Schwarzenegger-Videos und geschnorrten Zigaretten. Rebus fröstelte, als ihm bewusst wurde, dass er sie besser verstand, als er sich eingestehen mochte. Die Beweislage gegen Provan war klar und eindeutig. Vor mehreren Monaten, am Abend eines Pokalspiels, war ein Fußballfan auf dem Weg zum Stadion von Heart of Midlothian gewesen. Er hatte es eilig, da sein Zug aus Fife Verspätung gehabt hatte. Er war ein Auswärtiger, ein Schlachtenbummler, und er war ganz allein in Gorgie. Ein Arm schlang sich ihm um seinen Hals, riss ihn in das Treppenhaus eines Mietshauses, und dort hatte Willie Provan ihn krankenhausreif geschlagen und getreten. Aus welchem Grund? Rebus konnte es sich schon denken. Es hatte nichts mit Fußball zu tun, nichts mit Fußball-Hooliganismus. Provan gab sich als begeisterter Anhänger der Hearts, hatte aber, soweit Rebus wusste, noch kein einziges Spiel 95 von ihnen gesehen. Und er konnte nicht mehr als zwei, drei Spieler der aktuellen Aufstellung beim Namen nennen. Trotzdem, Gorgie war sein Revier, sein Territorium. Er hatte einen Eindringling gesichtet und ihn nach seinen eigenen Gesetzen abgeurteilt und bestraft. Aber dann war etwas schiefgelaufen. Eine Frau hatte Geräusche im Treppenhaus gehört und ihre Wohnungstür geöffnet, um herauszufinden, was los war. Provan sah sie und verdrückte sich. Aber sie hatte der Polizei eine gute Personenbeschreibung gegeben und Provan später als den Täter identifiziert. Außerdem hatte ein dienstfreier Constable, der kurze Zeit nach dem tätlichen Angriff zufällig am Tynecastle-Park-Stadion vorbeigeschlendert war, einen, wie es schien, desorientierten jungen Mann entdeckt. Er hatte ihn angesprochen und gefragt, ob mit ihm alles in Ordnung sei, aber gerade in dem Moment waren ein paar Mitglieder von T-Alice aus dem Stammlokal der Gang, direkt gegenüber dem Hearts-Stadion, gekommen und hatten den fraglichen jungen Mann mit hineingenommen. Der Constable hatte sich zunächst nichts weiter dabei gedacht - bis er vom Überfall hörte und eine Beschreibung des mutmaßlichen Täters las. Die Beschreibung passte auf den desorientierten Mann, und dieser Mann war, wie sich herausstellte, kein anderer als Willie Provan. Bei seinen Vorstrafen, da war sich Rebus sicher, würde Provan diesmal für ein paar Jahre in den Knast wandern. Also saß er da und sah und hörte sich alles an. Er sah sich auch die Geschworenen an. Sie zuckten sichtlich zusammen, als man ihnen die Verletzungen beschrieb, die das Opfer davongetragen hatte und derentwegen er nach mehreren Monaten noch immer im Krankenhaus lag, unfähig zu laufen und dazu noch mit Atembeschwerden. Ja, die Jury würde ihn für schuldig befinden. Ein bestimmter Geschworener interessierte Rebus ganz besonders, ein 95 ernster junger Mann, der sich ausgiebig Notizen machte, Fotos und Diagramme mit großer Aufmerksamkeit betrachtete und dem Richter Zettelchen mit lauter intelligenten Fragen zukommen ließ. Der Mustergeschworene, dem es einzig und allein darum ging, dass Recht geschah und alles streng nach dem Buchstaben des Gesetzes ablief. Irgendwann schaute der junge Mann auf und bemerkte, dass Rebus ihn beobachtete. Danach warf er Rebus immer wieder kurze Blicke zu, fuhr aber dabei fort, sich Notizen zu machen und sie kritisch durchzugehen. Die anderen Geschworenen trugen eine feierliche, ja gelangweilte Miene zur Schau. Passive Zuschauer einer Partie, bei der das Resultat von vornherein feststand. Schuldig. Wahrscheinlich noch vor Ende des Tages. Rebus würde sich bis dahin nicht von seinem Platz rühren. Der Vertreter der Anklage hatte abgeschlossen und der Verteidiger bereits mit seiner Klagebeantwortung begonnen. Die üblichen Mätzchen, wenn ein Schuldiger auf »nicht schuldig« plädierte: Versuche, die Zeugen der Anklage zu diskreditieren, Misstrauen zu säen, die Jury davon zu überzeugen, dass die Sache nicht so klar war, wie
es den Anschein hatte, dass durchaus Grund zu Zweifeln bestand. Rebus lehnte sich zurück und ließ das Gewäsch über sich ergehen. Provan würde in den Knast wandern. Dann kam der Eisberg und riss den Bug von Rebus' Zuversicht auf. Der Verteidiger hatte den Constable aufgerufen, der Provan vor dem Hearts-Stadion gesehen hatte. Der Beamte war jung, aber nicht so jung, wie seine üble Pubertätsakne hätte vermuten lassen. Während seiner Befragung versuchte er strammzustehen, aber wenn er zwischendurch nicht weiterwusste, fasste er sich automatisch an die pickligen Wangen. Rebus erinnerte sich, wie er selbst zum ersten Mal auf der Zeugenbank gesessen hatte. Auf der Bühne 96 eines Glasgower Varietetheaters hätte er sich kaum unwohler gefühlt. »Und was sagten Sie, um wie viel Uhr Sie den Angeklagten gesehen haben?« Der Verteidiger hatte einen leichten irischen Akzent und übernächtigt wirkende dunkle Augen. Sein billiger Kugelschreiber war ausgelaufen und hatte schwarze Flecken an seinen Händen hinterlassen. Er tat Rebus fast ein bisschen leid. »Ich weiß es nicht genau, Sir.« »Sie wissen es nicht genau?« Die Worte kamen langsam. Dieser Bulle ist ein bisschen schwer von Begriff, oder?, schienen sie zu sagen. Wie können Sie ihm vertrauen? Denn der Anwalt starrte, während er redete, die Geschworenen an, und dies schien den Beamten noch weiter aus der Fassung zu bringen. Er fasste sich an die Wange. »Na, dann ungefähr«, fuhr der Anwalt fort. »Wie spät war es ungefähr?« »Irgendwann zwischen halb acht und acht, Sir.« Der Anwalt nickte, während er einen Stoß Notizen durchblätterte. »Und was sagten Sie zu dem Angeklagten?« Als der Constable antworten wollte, unterbrach ihn der Anwalt, noch immer zur Jury gewandt. »Ich sage >der Angeklagte*, weil keine Uneinigkeit darüber besteht, dass es sich bei dem Mann, den der Constable vor dem Fußballstadion sah, um meinen Klienten handelte.« Er schwieg kurz. »Also, Constable, was haben Sie gesagt?« »>Alles in Ordnung, Sir?< So was in der Art.« Rebus schaute hinüber zur Anklagebank. Provan wirkte äußerst selbstsicher. Seine klaren blauen Augen blitzten, und er beugte sich vor, um auch ja kein Wort von dem, was da gesprochen wurde, zu verpassen. Zum ersten Mal spürte Rebus einen unangenehmen Stich: wieder der Stachel, der ihn quälte. Was lief da eigentlich ab? »Sie haben ihn gefragt, ob mit ihm alles in Ordnung sei.« 96 Eine Feststellung. Der Anwalt verstummte wieder. Der Ankläger runzelte mittlerweile die Stirn: Auch er fragte sich, worauf diese Fragen hinauslaufen würden. Rebus ballte seine Hände zu Fäusten. »Sie fragten ihn, ob mit ihm alles in Ordnung sei, und er antwortete was? Was genau antwortete er?« »Ich habe es nicht richtig verstanden, Sir.« »Und woran lag das? Nuschelte er vielleicht?« Der Constable zuckte die Schultern. »Vielleicht ein bisschen.« »Ein bisschen? Hmm.« Der Anwalt warf wieder einen Blick auf seine Notizen. »Was war mit dem Lärm aus dem Stadion?« »Sir?« »Sie standen direkt davor. Es fand gerade ein Pokalspiel statt, vor Tausenden von Zuschauern. Es war laut, richtig?« »Ja, Sir«, pflichtete ihm der Constable bei.
»Ja, es war sogar sehr laut, habe ich recht, Constable Davidson? Es war außergewöhnlich laut. Deswegen konnten Sie die Antwort meines Mandanten nicht verstehen. Ist es nicht so?« Der Constable zuckte wieder die Schultern; er wusste nicht, worauf das alles hinaussollte, war aber nur zu gern bereit, der Verteidigung beizupflichten. »Ja, Sir«, sagte er. »Möglicherweise erinnern Sie sich sogar daran, dass der Lärm, als Sie sich meinem Mandanten näherten, plötzlich lauter wurde.« Der Constable schien sich zu erinnern und nickte. »Das stimmt, ja. Ich glaube, es war gerade ein Tor gefallen.« »In der Tat, ein Tor war gefallen. Unmittelbar nachdem Sie meinen Mandanten gesehen hatten und gerade als Sie auf ihn zugingen. Ein Tor war gefallen, der Lärm war unbeschreiblich. Sie schrien meinem Mandanten Ihre Frage 97 zu, und er antwortete, aber seine Worte gingen in dem Lärm aus dem Stadion unter. Seine Freunde sahen ihn vom Goatfell Pub aus und kamen ihm zu Hilfe, nahmen ihn mit hinein. Selbst dann war der Lärm noch sehr laut. Sie schrien Ihnen zu, dass sie sich um ihn kümmern würden. Ist es nicht so?« Jetzt wandte sich der Verteidiger zum Constable und fixierte ihn mit seinen dunklen Augen. »Ja, Sir.« Der Anwalt nickte, offenbar zufrieden. Willie Provan sah ebenfalls zufrieden aus. Rebus' Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ihm fiel eine Zeile aus einem Dylan-Song ein: Something is happening here, butyou don't know what it is. Es war ganz eindeutig was im Gange, und es gefiel Rebus nicht. Der Verteidiger sprach weiter. »Wissen Sie, wie dieses Spiel ausging?« »Nein, Sir.« »Eins zu null. Die Gastgeber gewannen mit einem Tor, dem einen Tor, das Sie von außerhalb des Stadions hörten. Einem einzigen Tor, das -«, hier nahm er, ebenso unnötiger- wie theatralischerweise, seine Notizen zur Hand,»- in der fünfzehnten Minute fiel, der fünfzehnten Minute eines Spiels, das... wann angepfiffen wurde? Wissen Sie das zufällig noch?« Jetzt wusste der Constable Bescheid, wusste, worauf die Befragung hinauslief. Als er sprach, hatte seine Stimme ein wenig an Farbe verloren. »Anpfiff war um neunzehn Uhr dreißig.« »So ist es, ja. Damit ist klar, Police Constable Davidson, dass es neunzehn Uhr fünfundvierzig war, als Sie meinen Mandanten vor dem Stadion sahen. Ich glaube nicht, dass Sie das jetzt bestreiten würden. Und dennoch sagte Mrs. McClintock aus, es sei zwanzig vor acht gewesen, als sie Geräusche in ihrem Treppenhaus hörte und an die Woh 97 nungstür ging. Sie war sich diesbezüglich sicher, weil sie auf die Uhr schaute, bevor sie die Tür öffnete. Und ihr Anruf ging um neunzehn Uhr zweiundvierzig bei der Polizei ein, gerade zwei Minuten später.« Rebus brauchte nichts mehr zu hören, versuchte, seine Ohren vor allem Weiteren zu verschließen. Das Mietshaus, in dem der Überfall stattgefunden hatte, lag fast zwei Kilometer vom Tynecastle Park und dem Goatfell Pub entfernt. Ja, um zu dem Zeitpunkt da zu sein, wo der Constable ihn angesprochen hatte, hätte Provan die fünfzehnhundert Meter in weniger als vier Minuten laufen müssen. Rebus bezweifelte, dass er dazu imstande gewesen wäre, zog jetzt überhaupt alles in Zweifel. Aber wenn er sich Provan so anguckte, sah er, dass der kleine Scheißkerl schuldig war. Er war so schuldig wie sonst was, und er stand, Scheiße aber auch, kurz davor, ungeschoren davonzukommen. Rebus'
Knöchel waren weiß, seine Zähne knirschten. Provan blickte ihn an und lächelte. Und da war wieder der Stachel, der sich gnadenlos in Rebus' Fleisch bohrte, ihn unbarmherzig ausbluten ließ. Es konnte nicht wahr sein. Durfte es einfach nicht. Die Verhandlung war noch nicht abgeschlossen. Im Lauf des Nachmittags war alles ausgiebig breitgetreten worden, die offensichtlich ratlose Anklage hatte auf Zeit gespielt, unschlüssig, welche Taktik sie als Nächstes anwenden, welche Frage sie als Nächstes stellen solle. Rebus hatte bis zum Ende durchgehalten, und die Verhandlung war nach der Zusammenfassung der Beweisergebnisse vertagt worden. Der Vertreter der Anklage versuchte, den Zeitfaktor herunterzuspielen und sich dafür ganz auf den einzigen Zeugen zu konzentrieren. Er fragte: Können wir sicher sein, dass genau in dem Augenblick, in dem PC Davidson auf den Angeklagten zuging, ein Tor erzielt wurde? Ist es nicht 98 besser, der Identifizierung durch die Zeugin, Mrs. McClintock, zu vertrauen, die den Angeklagten schließlich in flagranti erwischt hatte? Und so weiter. Rebus aber wusste, dass die Sache gestorben war. Es bestand jetzt einfach zu viel, viel zu viel Grund zum Zweifel. Nicht schuldig oder vielleicht diese bequeme Ausflucht: Freispruch aus Mangel an Beweisen oder not proven, wie es im schottischen Recht so kurz und bündig hieß. Wenn das Opfer Provan nur gesehen hätte, und wenn auch nur flüchtig. Wenn, wenn, wenn. Die Jury würde sich morgen um zehn Uhr dreißig wieder versammeln, sich in den Beratungsraum zurückziehen und noch vor der Mittagspause den Gerichtssaal mit einem Urteil betreten, das Provan zu einem freien Mann machen würde. Rebus schüttelte den Kopf. Er saß in seinem Auto, mochte nicht losfahren. Saß einfach so da, den Schlüssel im Zündschloss, und versuchte, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Aber seine Gedanken bewegten sich im Kreis, ohne eine klare Richtung zu finden, immer um Provans Lächeln herum - ein Lächeln, das er ihm mit Vergnügen aus der Visage geprügelt hätte. Allerlei gesetzeswidrige Ideen kreisten in seinem Kopf, Möglichkeiten, Provan was anzuhängen, ihn wie auch immer hinter Schloss und Riegel zu bringen. Aber nein: Das musste sauber, musste richtig ablaufen. Vergeltung war nur ein Aspekt der Sache; Gerechtigkeit erforderte mehr. Zuletzt stieß er ein hörbares Knurren aus, den Laut eines eingesperrten Tiers, drehte den Zündschlüssel herum und fuhr los, ohne ein bestimmtes Ziel. Zu Hause hätte er ja doch nur weiter vor sich hin gebrütet. Ein Pub wäre vielleicht eine bessere Idee gewesen. Es gab ein paar Pubs, in denen man ungestört trinken konnte. Etwas wie eine Totenwache für das Gesetz halten. Verdammt, nein, er wusste, was sein Ziel war. Versuchte, es nicht zu wissen, wusste es aber dennoch. Er fuhr in Richtung Gorgie, fuhr mitten in 98 Willie Provans Territorium hinein, in das Gang-Gebiet, in dem Tiny Alice das Sagen hatte. Er fuhr geradewegs in das Wild-West-End von Edinburgh. Die Straßen waren eng, beidseits von Mietskasernen gesäumt. Es wehte ein kalter Oktoberwind, der die Menschen zwang, sich geduckt dagegenzustemmen, wie Strichmännchen auf einem Bild von L. S. Lowry. Sie befanden sich alle auf dem Heimweg von der Arbeit. Es war dunkel, und die Scheinwerfer der Autos und Busse leuchteten wie Fackeln in einer Höhle. In Gorgie schien es immer dunkel zu sein. Es lag an der Enge der Straßen und der Höhe der Gebäude; sie wirkten wie die Bäume im Amazonas, die der Vegetation am Boden alles Licht raubten. Rebus bog in die Cooper Road ein und parkte gegenüber der Hausnummer 42. Er schaltete den Motor aus und wusste erst mal nicht, was er tun sollte. Er bewegte sich auf gefährlichem Terrain: gefährlich nicht so sehr wegen der T-Alice als vielmehr wegen der
Tatsache, dass er in ein schwebendes Verfahren eingriff. Wenn er mit Mrs. McClintock sprach und die Verteidigung davon erfahren sollte, würde Rebus in ernste Schwierigkeiten geraten. Er wusste nicht einmal, ob es ihm erlaubt war, sich in der Nähe des Tatorts aufzuhalten. Sollte er besser umkehren? Nein. Provan würde sowieso ungeschoren davonkommen - ob wegen einer nicht überzeugten Jury oder aus formaljuristischen Gründen, spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Außerdem g r i ff Rebus ja gar nicht ein. Er war rein zufällig in der Gegend, das war alles. Er wollte gerade aus dem Wagen aussteigen, als er einen Mann in Dufflecoat und Jeans zur Haustür Nummer 42 schlendern und davor stehen bleiben sah. Nachdem er die Tür eine Zeit lang gemustert hatte, drückte er sie auf. Bevor er eintrat, sah er sich nach beiden Seiten um, und Re 99 bus erkannte mit Schrecken das ernste Gesicht des gewissenhaften Geschworenen aus Provans Prozess. Das konnten die erwarteten Schwierigkeiten sein. Das konnte sogar ein sehr ernstes Problem werden. Was, zum Teufel, hatte der Geschworene hier zu suchen? Die Antwort schien auf der Hand zu liegen: Er war dabei einzugreifen, sich einzumischen, genau wie Rebus. Weil auch er Provans Glück nicht für möglich halten konnte. Aber was wollte er in Hausnummer 42? Hatte er vor, mit Mrs. McClintock zu reden? Falls ja, riskierte er den Ausschluss aus der Jury. Tatsächlich hätte Rebus als Polizeibeamter jetzt die Pflicht gehabt, das Gericht umgehend zu informieren. Rebus nagte an seiner Unterlippe. Er konnte natürlich hineingehen und den Geschworenen warnen, aber damit hätte er sich des Ansprechens eines Geschworenen am Vorabend der Juryberatung schuldig gemacht. Und das wäre nicht mit einer Abmahnung und ein paar strengen Worten seitens des Chief Super erledigt gewesen. Das konnte das Ende seiner beruflichen Laufbahn bedeuten. Rebus wurde die Entscheidung abgenommen. Plötzlich flog die Haustür auf und der Geschworene kam herausgeschossen, warf einen Blick auf seine Uhr, bevor er nach links abbog und in Richtung Gorgie Road sprintete. Rebus lächelte erleichtert und schüttelte den Kopf. »Du kleiner Mistkerl«, murmelte er anerkennend. Der Geschworene timte die ganze Sache. Wie der Verteidiger erklärt hatte, war alles eine Frage der Zeit, und der Geschworene wollte die Zeit eben selbst stoppen. Rebus ließ den Motor an und fuhr dem Geschworenen hinterher, bis der eine Abkürzung entdeckte und in einer Seitengasse verschwand. Da er ihm dort nicht folgen konnte, fädelte sich Rebus in den Verkehr auf der Hauptstraße ein und steckte bald in den Rushhour-Staus in westlicher Richtung. Egal: Er kannte ja das Ziel des Geschworenen. 99 Er bog in eine Querstraße, fuhr einmal halb ums Karree und kam genau vor dem Tynecastle Park heraus. Das Goatfell lag gerade ein Stückchen weiter, auf der anderen Straßenseite. Rebus hielt auf der Stadionseite im absoluten Halteverbot. Gegenüber dem Goatfell lag der Geschworene, keuchend, vom Lauf erschöpft, die Hände in die Flanken gepresst, zusammengeklappt auf dem Bürgersteig. Rebus checkte die Zeit. Acht Minuten, seit der Geschworene losgerannt war. Die einzige Zeugin gab die Tatzeit mit neunzehn Uhr vierzig an, war sich diesbezüglich absolut sicher. Das Tor war um Viertel vor acht gefallen. Vielleicht war Mrs. McClintocks Uhr ja falsch gegangen? Die Erklärung konnte wirklich so simpel sein. Aber das vor Gericht zu beweisen wäre ein Kunststück gewesen, und keine Jury würde auf die bloße Möglichkeit einer nachgehenden Uhr hin jemanden für schuldig befinden.
Außerdem war der Zeitpunkt ihres Anrufs ja bei der Polizei aufgezeichnet worden. Daran ließ sich nichts drehen, es sei denn... Rebus trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. Der Geschworene war einigermaßen wieder zu Kräften gekommen und starrte jetzt das Goatfell an. Tu 's nicht, mein Sohn, beschwor ihn Rebus im Geist. Tu's nicht. Der Geschworene sah nach links und rechts, bevor er die Straße überquerte, und als er drüben war, schaute er noch einmal nach beiden Seiten, bevor er die Tür des Goatfell öffnete und sie hinter sich ins Schloss fallen ließ. Rebus stöhnte und kniff die Augen zu. »Blöder kleiner...« Er zog den Zündschlüssel ab und beugte sich hinüber, um die Beifahrertür abzusperren. In solchen Gegenden konnte man nicht vorsichtig genug sein. Er starrte auf sein Funkgerät. Er hätte Verstärkung anfordern können, hätte Verstärkung anfordern müssen, aber dann wären Erklärungen fällig gewesen. Nein, diese Sache musste er allein durchziehen. 100 Er öffnete die Tür, stieg aus und schlug die Tür wieder zu. Als er abschließen wollte, zögerte er. Schließlich konnte man nie wissen, ob ein schneller Abgang nötig werden würde. Er ließ die Tür offen. Dann, nachdem er drei Schritte auf das Pub zugegangen war, blieb er wieder stehen, kehrte zum Auto zurück und schloss diesmal auch die Beifahrertür auf. Du kannst dir nicht leisten, in die Sache verwickelt zu werden, John, sagte er sich. Aber seine Füße gingen trotzdem weiter. Die Front des Goatfell sah nicht besonders einladend aus: ihre untere Hälfte ein Patchwork aus großen violetten und schwarzen Kacheln, die, wo noch vorhanden, gesprungen und angeschlagen und mit Graffiti übersät waren. Die obere Hälfte bestand aus einzelnen kleinen Glasscheiben, teils geschmirgelt, teils durchsichtig und getönt. Aus der Tatsache, dass diese verschiedenen Scheiben sich ohne jeden Sinn und Verstand abzuwechseln schienen, schloss Rebus, dass die ursprüngliche Verglasung bei Schlägereien oder durch Steinwürfe nach und nach zu Bruch gegangen und mit dem, was gerade vorhanden war und möglichst wenig kostete, ersetzt worden war. Er blieb kurz vor der massiven Holztür stehen und machte sich den Irrsinn seines Handelns bewusst. Dann stieß er die Tür auf und trat ein. Die Schankstube war, wenn überhaupt möglich, noch weniger ansprechend. Rotes Noppenlinoleum, Plastikstühle und lange Holzbänke, ein Billardtisch, dessen Bespannung an mehreren Stellen eingerissen war. Der einsame Spielautomat spuckte für einen unrasierten Mann, der so aussah, als hätte er den größten Teil seines Lebens damit zugebracht, mit dem Ding zu kämpfen, gerade ein paar Münzen aus. An einem kleinen Tisch saßen drei vierschrötige Männer und ein vor sich hin dösender Windhund. Hinter dem Billardtisch lungerten drei weitere, jüngere Männer vor der 100 Jukebox herum und konnten sich über die auszuwählenden Titel nicht einigen. Und am Tresen stand eine einzelne Gestalt - der Geschworene - und bekam gerade vom grobgesichtigen Wirt ein halbes Pint Lager hingestellt. Rebus ging ans andere Ende des Tresens, so weit vom Geschworenen entfernt wie nur irgend möglich, und wartete, den Blick starr auf das Flaschenregal gerichtet, darauf, bedient zu werden. »Was soll's sein?« Die Frage des Barkeepers klang nicht unfreundlich. »Ein halbes Dunkles und ein Bell's«, erwiderte Rebus. Das war sein Standardspruch in jeder mutmaßlich üblen Kneipe. Er hätte nicht sagen können, warum, aber irgendwie kam es ihm wie die passendste Bestellung vor. Er erinnerte sich an die schlimmste Kaschemme, in der er jemals gewesen war, irgendwo im tiefsten Niddrie. Er hatte seine Bestellung aufgegeben, und der Mann hinter dem Tresen hatte ihn vollkommen ernst
gefragt, ob er beides zusammen in einem Glas wolle. Das hatte Rebus so erschüttert, dass er danach nicht mehr lang geblieben war. Als er diesmal zwei Gläser vorgesetzt bekam, das eine schäumend, das andere bis zur Hälfte mit flüssigem Bernstein gefüllt, dankte er dem Wirt mit einem Nicken und dem abgezählten Geld. Aber der Mann hatte sich schon abgewandt und wieder auf den Weg zum anderen Ende des Tresens gemacht, um das Gespräch fortzusetzen, das er gerade geführt hatte, als Rebus hereingekommen war. Das Gespräch mit dem Geschworenen. »Aye, das war ein wirklich dolles Spiel. Schade, dass Sie es verpasst haben.« »Tja«, erklärte der Geschworene, »ich war eben ziemlich lang weg. Ich bin da, was die Jungs angeht, irgendwie nicht mehr auf dem Laufenden.« »Also, an dem Abend haben Sie wirklich was verpasst. 101 Ein Wahnsinnstor. Hab ich mir im Fernsehen bestimmt ein Dutzend Mal angeguckt. Hätte verdient, zum Tor der Saison gekürt zu werden.« Der Geschworene seufzte. »Hätte ich für mein Leben gern gesehen.« »Wo sagten Sie noch mal, dass Sie gewesen sind?« »Größtenteils in Europa. Beruflich. Ich bin bloß für ein paar Wochen hier, dann geht's auch schon wieder weg.« Rebus musste zugeben, dass der Geschworene ein ziemlich überzeugender Schauspieler war. Natürlich konnte in seiner Geschichte ein Körnchen Wahrheit stecken, aber Rebus bezweifelte das. Trotzdem, guter Schauspieler hin oder her, er bohrte zu schnell zu tief nach. »Wann sagten Sie noch mal, ist das Tor gefallen?« »Hä?« Der Wirt machte ein verdutztes Gesicht. »In der wievielten Minute«, erklärte der Geschworene. »Keine Ahnung. In der fünfzehnten, zwanzigsten oder so um den Dreh. Spielt das 'ne Rolle?« »Gar keine, nö. Pure Neugier.« Aber der Wirt runzelte schon argwöhnisch die Stirn. Rebus fiel auf, dass sich seine Hand um das Whiskyglas verkrampfte. Das ist nicht nötig, mein Sohn. Ich weiß jetzt die Antwort. Du hast mich hingeführt, aber ich weiß jetzt Bescheid. Trink jetzt einfach aus und lass uns hier verschwinden. Als dann das Frage-und-Antwortspiel zwischen dem Geschworenen und dem Wirt weiterging, warf Rebus einen Blick in den Spiegel, und ihm sackte das Herz in die Hose. Die drei jungen Männer hatten sich von der an der Wand montierten Jukebox abgewandt und begannen gerade eine Partie Pool. Rebus erkannte einen von ihnen vom Gerichtssaal her wieder. Den Tätowierten. Mr. Tattoos hatte den größten Teil des Vormittags und einen Teil des Nachmittags im Zuschauerraum verbracht. Er schien Rebus nicht wie 101 dererkannt, wichtiger noch, er schien den Geschworenen nicht wiedererkannt zu haben aber das würde er schon noch. Was das anging, hatte Rebus überhaupt keine Zweifel. Tattoos hatte einen Großteil des Tages nichts anderes getan, als fünfzehn Gesichter anzustarren, fünfzehn Personen, die gemeinsam seinen guten Freund Willie Provan für eine ganze Weile hinter Gitter bringen konnten. Tattoos würde den Geschworenen wiedererkennen, und was dann passieren würde, wusste allein der Herrgott. Gott war offenbar zu Spielchen aufgelegt. Tattoos, der etwas im Hintergrund stand, während einer der zwei anderen T-Alice-Mitglieder einen krachenden Break spielte, warf einen Blick zum Tresen und entdeckte den Geschworenen. Rebus schenkte er, vielleicht weil er viel weiter entfernt stand und zum Teil vom Geschworenen verdeckt wurde, keinerlei Beachtung. Aber als sein Blick auf den Geschworenen fiel, verengten sich seine
Augen, und Rebus spürte förmlich, wie der junge Mann versuchte, sich zu erinnern, wo er den Gast am Tresen schon mal gesehen hatte. Wo und wann. Noch nicht lang her. Aber nicht gesprochen, nur gesehen; bloß ein Gesicht, ein Gesicht unter vielen. Im Bus? Nein. In einem Geschäft? Nein. Aber erst vor ganz kurzem. Mit einem Knurrlaut teilte einer der anderen Spieler Tattoos mit, dass er an der Reihe sei. Er nahm ein Queue, das an der Wand lehnte, beugte sich tief über den Tisch und versenkte eine leichte Kugel. In der Zwischenzeit hatte Rebus die halblaut geführte Unterhaltung zwischen dem Geschworenen und dem Wirt nicht mitbekommen. Der Gesichtsausdruck des Geschworenen verriet allerdings, dass er etwas Wichtiges erfahren hatte: dasselbe Etwas, das Rebus aufgegangen war, während er in seinem Auto saß. Jetzt, wo er seine Antwort hatte, wollte der Geschworene verschwinden und leerte sein Glas. 102 Tattoos ging für seinen nächsten Stoß auf die andere Tischseite. Er schaute in Richtung Tresen, dann hinunter auf den Tisch. Dann wieder zum Tresen. Rebus, der das alles im Spiegel verfolgte, sah, wie Tattoos der Unterkiefer herunterklappte. Verdammt, jetzt hatte er den Geschworenen wiedererkannt. Rebus spürte, wie ihm das Wasser allmählich bis zum Hals stand. Da war er also, wo er unter keinen Umständen hätte sein dürfen, nämlich auf den Fersen eines Geschworenen am Vorabend der Urteilsberatung, und gleich würde besagter Geschworener von einem Freund des Angeklagten angesprochen werden. »Angesprochen« hieß »vermöbelt« oder zumindest »eingeschüchtert«. Da war nichts zu machen. Rebus trank den Whisky aus und schob das halbe Pint beiseite. Tattoos hatte sein Opfer erreicht, das gerade gehen wollte. Tattoos streckte einen Finger aus. »Sie sind das, oder? Sie mischen beim Prozess gegen meinen Kumpel mit. Sitzen in der Jury. Scheiße, das sind Sie!« Tattoos klang so, als hätte es ihn weniger gewundert, die verhassten Celtics vollzählig in seiner Stammkneipe anzutreffen. Er packte den Geschworenen bei der Schulter. »Na los, wir müssen ein paar Takte plaudern.« Das erst vor kurzem noch vom Laufen knallrote Gesicht des Geschworenen hatte jetzt jegliche Farbe verloren. Tattoos schleifte ihn schon in Richtung Tür. »Immer sachte, Dobbs!«, rief der Wirt. »Halt dich raus, Hosenscheißer!«, knurrte Tattoos alias Dobbs, riss die Tür auf und stieß den Geschworenen nach draußen. Im Lokal wurde es wieder still. Der Hund, der vom Lärm aufgewacht war, ließ seine Schnauze wieder auf die Pfoten sinken. Die Billardpartie ging weiter. Die Jukebox spielte ein neues Stück. 102 »Mach'n Strich lauter!«, brüllte einer der Billardspieler. »Ich hör nix!« Rebus verabschiedete sich vom Wirt mit einem Nicken. Dann wandte auch er sich zur Tür. Draußen war ihm klar, dass er schnell handeln musste. Beim geringsten Anzeichen von Ärger würden T-Alice-Jungs wie Küchenschaben aus ihren Löchern kriechen. Tattoos hatte sich den Geschworenen handgerecht vor ein Schaufenster zwischen dem Goatfell und Rebus' Auto gestellt. Rebus' Aufmerksamkeit richtete sich für einen Moment auf sein Auto. Die Türen standen offen! Drinnen amüsierten sich zwei Kids, begrapschten alles, taten so, als säßen sie am Lenkrad eines Rennwagens. Rebus stieß die Luft zischend zwischen den Zähnen aus und ging los. Er war fast auf der Höhe von Tattoos und dem Geschworenen, als er losbrüllte: »Raus aus meiner Karre!« Da drehte sich sogar Tattoos um, und als er das tat, rammte Rebus ihm eine Faust ins Gesicht. Es musste rasch gehen. Rebus wollte nicht, dass Tattoos in die Lage käme, ihn
zu identifizieren. Man hörte das dumpfe, unverwechselbare Geräusch eines brechenden Nasenbeins. Tattoos ließ von dem Geschworenen ab und hielt sich die Hände vors Gesicht. Rebus schlug ein zweites Mal zu, jetzt nach allen Regeln der Boxkunst, Knöchel gegen Kinnlade. Tattoos knallte an die Schaufensterscheibe und sackte zu Boden. Jetzt war es Rebus, der den Geschworenen an der Schulter packte und ihn ohne ein Wort der Erklärung in Richtung seines Autos manövrierte. Der Geschworene ging folgsam mit, nachdem er sich einmal nach dem am Boden liegenden Mann umgesehen hatte. Als sie Rebus wutentbrannt auf sich zukommen sahen, spritzten die zwei Jungs aus dem Wagen. Rebus schaute 103 ihnen nach und prägte sich ihre Gesichter ein. Künftige Willie Provans. »Steigen Sie ein«, sagte er zu dem Geschworenen und stieß ihn auf die Beifahrerseite. Als sie drinsaßen, verriegelten sie ihre Türen. Rebus' Funkgerät war weg, und von der Lenksäule hingen lose Kabel herab, Zeugnisse eines Versuchs, den Wagen kurzzuschließen. Rebus war erleichtert, dass der Versuch misslungen war. Andernfalls hätte er in Gorgie festgesessen, inmitten feindseliger Eingeborener. Besser, sich das nicht zu ausführlich vorzustellen. Der Motor sprang sofort an, und Rebus fuhr mit Vollgas los. »Ich kenne Sie«, sagte der Geschworene. »Sie waren auch im Gerichtssaal.« »Stimmt.« Der Geschworene schwieg einen Moment. »Sie sind keiner von den...?« »Ich möchte Willie Provan hinter Gittern sehen. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen, und über Sie will ich schon gleich gar nichts wissen. Ich möchte nur, dass Sie nach Hause gehen, morgen im Gerichtssaal sitzen und Ihre Pflicht tun.« »Aber ich weiß, wie er -« »Ich auch.« Rebus hielt an einer roten Ampel und warf einen Blick in den Rückspiegel. Niemand folgte ihnen. Er wandte sich zu dem Geschworenen. »Es war ein Pokalspiel, jede Menge Fans«, erklärte er. »Und seit der Hillsborough-Katastrophe passen Fußballfunktionäre und Polizei bei großen Menschenmengen gewaltig auf.« »Genau.« Der Geschworene platzte förmlich vor Begierde, es als Erster zu sagen. »Also haben sie das Spiel erst zehn Minuten später anpfeifen lassen, damit vorher alle reinkommen konnten. Der Wirt hat's mir erzählt.« 103 Rebus nickte. Planmäßig hätte das Spiel wirklich um halb acht losgehen sollen, aber der Anpfiff war verschoben worden. Das Tor in der fünfzehnten Minute war tatsächlich um fünf vor acht gefallen, nicht um sieben Uhr fünfundvierzig, wodurch Provan mehr als genug Zeit gehabt hatte, die gut anderthalb Kilometer von der Cooper Road zum Goatfell zurückzulegen. Früher oder später wäre die Wahrheit schon ans Licht gekommen, aber bis dahin hätte es schon ein Weilchen gedauert. Die Situation war allerdings nach wie vor gefährlich. Die Ampel schaltete auf Grün, und Rebus fuhr los. »Sie glauben also, dass Provan schuldig ist?«, fragte er den Geschworenen. »Ich weiß es. Es ist offensichtlich.« Rebus nickte. »Er könnte trotzdem ungeschoren davonkommen.« »Wie das?« »Wenn«, erklärte Rebus vorsichtig, »herauskommen sollte, dass Sie und ich ein bisschen herumgeschnüffelt haben. Dann wirft man Sie aus der Jury. Es könnte eine erneute Verhandlung geben, oder Provan könnte sogar wegen eines Formfehlers freigesprochen werden. Das können wir nicht zulassen, oder?« Rebus hörte sich beim Reden zu. Seine Worte klangen ruhig und vernünftig. Aber innen pulsierte das Adrenalin, und seine Faust fühlte sich wohlig warm an. »Nein«, antwortete der Geschworene, genau wie Rebus gehofft hatte.
»Also«, fuhr Rebus fort, »schlage ich vor, dass ich dem Staatsanwalt still und leise auf die Sprünge helfe. Soll er doch im Gerichtssaal aufstehen und die Lösung präsentieren. Auf die Weise gibt es weder Probleme noch Formfehler. Sie halten einfach den Mund und lassen der Sache ihren Lauf.« 104 Der Geschworene sah enttäuscht aus. Das war schließlich sein Verdienst, sein Detektivspielen hatte die Wende gebracht. Und wozu das Ganze? »Ruhm ist bei der Sache leider nicht zu ernten«, meinte Rebus. »Aber Sie werden wenigstens die Befriedigung haben, dass Provan im Bau sitzt und nicht da draußen herumläuft und nur darauf wartet, sich sein nächstes Opfer zu greifen.« Rebus deutete mit einem Nicken nach draußen, und der Geschworene starrte nachdenklich durch die Windschutzscheibe auf die Lichter der Stadt. »Okay«, sagte er zuletzt. »Ja, Sie haben recht.« »Wir behalten es also für uns?« »Wir behalten es für uns«, bestätigte der Geschworene. Rebus nickte. Das würde vielleicht ja doch noch gut ausgehen. Ein kleiner Tipp an die Staatsanwaltschaft, vielleicht in Form eines getippten anonymen Briefchens, so dass Rebus nicht in den Fall verwickelt werden würde. Jammerschade, dass er morgen nicht dabei sein konnte, wenn der Ankläger die Auflösung aus dem Ärmel zauberte. Aber das Letzte, was er jetzt wollte, war ein Mr. Tattoos mit plattgeschlagener Nase neben sich auf der Zuschauerbank. Schade war es aber doch; er hätte so gern Provans Gesicht gesehen, seinen Blick gesucht und ihm ein breites, gnadenloses Grinsen geschenkt. »Sie können mich hier rauslassen«, sagte der Geschworene und riss Rebus aus seinen Träumereien. Sie näherten sich gerade der Princes Street. »Ich wohn gerade die Queens St -« »Sagen Sie es mir nicht«, schnitt Rebus ihm das Wort ab. Der Geschworene sah ihn an. »Formfehler?«, tippte er. Rebus lächelte und nickte. Er fuhr an den Straßenrand. Der Geschworene öffnete seine Tür, stieg aus, beugte sich dann aber wieder hinunter. »Ich weiß nicht mal, wer Sie sind«, sagte er. 104 »Stimmt«, bestätigte Rebus, lehnte sich hinüber und zog die Tür zu. »Wissen Sie nicht.« Und fuhr in den Edinburgher Abend. Kein Stachel im Fleisch mehr, der ihn quälte. Der nächste würde natürlich nicht lange auf sich warten lassen. Und dann würde er den Diebstahl seines Funkgeräts melden müssen. Die Leute würden darüber lächeln, lächeln und, wenn ihm schon nicht ins Gesicht, so doch hinter seinem Rücken lachen. Aber John Rebus konnte jetzt auch lachen.
Sonntag Wo kam dieses Licht her? Grelles, heißes Licht. Messer in der Nacht. Letzte Nacht, oder? Nein, die Nacht davor. Ein normaler Freitag in Edinburgh. Eine Drogenrazzia in einem Tanzlokal. Ein paar Dealer wollten die Fliege machen. Rebus hatte einem den Weg abgeschnitten. Der Mann, verschwitzt, mit gebleckten Zähnen, war vor Rebus' Augen zu einem Tier mutiert, zu etwas Wildem, Bissigem, Verängstigtem - und in die Enge Getriebenem. Das Aufblitzen eines Messers... Aber das war am Freitag gewesen, vorletzte Nacht. Also musste heute Sonntag sein. Ja! Sonntagmorgen. (Vielleicht auch Nachmittag?) Rebus öffnete die Augen und schielte ins Sonnenlicht, das zwischen den offenen Vorhängen seines Fensters hereinfiutete. Nein, kein Sonnenlicht. Seine Nachttischlampe. Hatte wohl die ganze Nacht gebrannt. Letzten Abend war er betrunken und müde ins Bett gesunken. Er hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Und jetzt wärmendes Licht, Vögel auf dem Fenstersims. Er starrte in ein
kleines schwarzes Auge, sah dann auf seine Armbanduhr. Zehn nach acht. Dann also Morgen, nicht Nachmittag. Früher Morgen. Sein Schädel hatte die Konsistenz von Sirup, umso steifer fühlten sich seine Knochen an. Als junger Mann war er fit gewesen, kein Fitnessfanatiker, aber fit. Doch eines Tages hatte er einfach aufgehört, Wert darauf zu legen. Beim Anziehen registrierte er, dass sein Vorrat an sauberen 105 Hemden, Unterhosen und Strümpfen zur Neige ging. Also stand heute Wäschewaschen an. Seit seine Frau ihn verlassen hatte, war er mit seiner schmutzigen Wäsche jahrelang zu einem Waschsalon am anderen Ende der Marchmont Street gepilgert, wo der komplette Service sehr wenig kostete und die Geschäftsführerin seine sauberen Sachen, ein Lächeln auf den Lippen, immer sehr ordentlich zusammenfaltete. Aber eines Samstagnachmittags war er in einem Anfall von Wahnsinn einfach so in ein Elektrogeschäft gegangen und hatte sich eine Wasch-Trockenmaschine gekauft. Er stopfte das Bündel Schmutzwäsche in die Maschine und stellte fest, dass er nur noch einen halben Messbecher Waschpulver hatte. Ach, zum Teufel, das würde eben reichen müssen. Das Schaltpult der Maschine wies allerlei Knöpfe und Regler auf, aber er benutzte immer nur ein Programm: Nummer 5 (40 °C), volle Ladung, mit zehn Minuten Trockenschleudern am Schluss. Das Resultat war zufriedenstellend, wenn auch nie perfekt. Er schaltete die Maschine ein, schlüpfte in die Schuhe, verließ die Wohnung und schloss zweimal hinter sich ab. Sein Auto, das direkt vor der Haustür stand, sah ihn traurig an. Du könntest mich auch mal wieder waschen, Kumpel. Recht hatte es, aber Rebus schüttelte trotzdem den Kopf. Nicht heute, denn heute war sein freier Tag, der einzige diese Woche. Ein anderes Mal, wenn er mal wieder frei hätte. Wem wollte er eigentlich was vormachen? Er würde eines Nachmittags zwischen zwei Einsätzen in die Waschstraße fahren. Nimm's so oder lass es bleiben, Karre. Das Lädchen war offen. Rebus hatte es nur selten geschlossen erlebt. Er kaufte gemahlenen Kaffee, Brötchen, Milch, Margarine, eine Packung Bacon. Der Bacon sah durch die Klarsichtfolie fett aus und schillerte in allen Farben, aber das aufgedruckte Verfallsdatum schien noch ak 105 zeptabel. Schweine: äußerst intelligente Tiere. Wie konnte ein intelligentes Lebewesen ein anderes verspeisen? Schlechtes Gewissen, John? Musste am Sonntag liegen. Presbyterianische Schuldgefühle, kalvinistische Schuldgefühle. Mea culpa, dachte er und ging mit den Lebensmitteln zur Kasse. Dann kehrte er wieder um und holte sich noch eine Packung Waschpulver. In der Wohnung blubberte die Waschmaschine vor sich hin. Er legte Coleman Hawkins auf (nicht zu laut; es war erst Viertel vor neun). Bald würden die Kirchenglocken anfangen zu läuten, die Gläubigen rufen. Rebus würde sich taub stellen. Er hatte es aufgegeben, in die Kirche zu gehen. An jedem anderen Tag als Sonntag hätte er es sich vielleicht vorstellen können. Aber Sonntag war sein einziger freier Tag. Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihn immer an diesem Tag in die Kirche mitgenommen hatte, während sein Vater mit Tee und Zeitung im Bett blieb. Dann, eines Sonntags - er mochte zwölf oder dreizehn gewesen sein -, erklärte seine Mutter, er könne wählen: sie begleiten oder bei seinem Vater bleiben. Er war geblieben und hatte den neidischen Blick seines kleinen Bruders bemerkt, der sich sehnlichst wünschte, selbst schon in dem Alter zu sein, in dem man auch ihn vor diese Wahl stellen würde. Ah, John, Sonntagvormittag! Das Rubbedibubb der Waschmaschine, der Kaffeeduft, der aus dem Filter aufstieg. (Die Filter gingen auch langsam zur Neige, aber kein Grund zur
Panik, die brauchte er immer nur sonntags.) Er ging ins Bad und beim Anblick der Wanne verspürte er plötzlich das übermächtige Verlangen, sich in heißem Wasser zu räkeln. Mittwoch und Samstag: Das waren seine üblichen Badetage. Na los, brich die Regel. Er drehte den Warmwasserhahn auf, aber es kamen nur ein paar Tropfen. Verdammt! Die Waschmaschine schluckte das ganze warme Wasser. Was soll's. Bad später. Jetzt Kaffee. 106 Um fünf nach neun fielen die Sonntagszeitungen durch den Briefschlitz. Sunday Post, Mail und Scotland on Sun-day. Sie richtig lesen tat er nur selten, aber sie halfen ihm, den Tag rumzukriegen. Nicht dass er sich am Sonntag gelangweilt hätte. Es war der Tag der Ruhe, also ruhte er. Ein netter, fauler Tag. Er füllte seinen Becher nach, ging wieder ins Bad und inspizierte den kreisrunden Fleck, der neben der Toilette, einen guten halben Meter über dem Fußboden, an der Wand prangte. Der Fleck war leicht verfärbt und feucht. Zum ersten Mal war er ihm vor einer Woche aufgefallen. Feucht, leicht feucht. Es war sonst nirgendwo feucht in der Wohnung und auch nicht ersichtlich, woher die Feuchtigkeit kommen sollte. Neugierig hatte er die Tapete von der Stelle abgepult, hatte am Putz darunter gekratzt. Aber er war der Ursache nicht auf den Grund gekommen. Er schüttelte den Kopf. Das würde ihm den Rest des Tages vermiesen. Er ging ins Schlafzimmer und kehrte mit einem Föhn und einer Verlängerungsschnur zurück. Er schloss den Föhn an die Verlängerungsschnur an und legte ihn auf den Klodeckel, richtete ihn auf den Fleck, schaltete dann das Gerät ein und vergewisserte sich, dass der warme Luftstrahl auch wirklich die feuchte Stelle traf. So konnte sie ein bisschen trocknen, aber er wusste, dass der Fleck wiederkehren würde. Rumpelnde Waschmaschine. Summender Föhn. Im Wohnzimmer Coleman Hawkins. Er lief ins Wohnzimmer. Ein bisschen Putzen hätte hier nicht geschadet. Staubsaugen, Wischen. Draußen das Auto, das gewaschen werden wollte. Alles konnte warten. Er hatte Zeitungen zu lesen. Sie lagen auf dem Tisch, direkt neben seiner Aktentasche. Die Aktentasche voll von Dokumenten, die seine Aufmerksamkeit verlangten, halb fertigen Ermittlungsnotizen, Erinnerungen an irgendwelche Termine, dem ganzen Müll, für den er die Woche über im Büro keine Zeit fand. 106 Dem ganzen ach so wichtigen Papierkram, ohne den sein Leben ein wahres Honigschlecken gewesen wäre. Vielleicht ein bisschen Toast dazu? Ja, er würde ein, zwei Scheiben Toast verspeisen. Er sah auf die Uhr: zehn nach elf. Er hatte den Föhn ausgeschaltet, ihn aber auf dem Klo gelassen, die Verlängerungsschnur schlängelte sich über den Fußboden und rauf zur Steckdose im Flur. Die Waschmaschine schwieg, Job erledigt. Noch eine Tasse Kaffee in der Kanne. Er hatte die Zeitungen durchgeblättert, nach Interessantem, Ungewöhnlichem Ausschau gehalten. Ein paar alte Meldungen: Prozesse, Wochenendkriminalität, Sport. Es gab sogar eine Notiz über die Sache am Freitag. Er überging sie, erinnerte sich aber trotzdem. Blinkende breite Messerklinge, im Laternenlicht aufblitzend. Saurer, feuchter Mief in der Gasse. Schuhsohlen, die in etwas Weichem standen. Sieh nicht runter, sieh ihn an, wende kein Auge von ihm, dem in die Enge getriebenen Tier. Sieh ihn an, lass deine Augen sprechen, versuch, ihn zu beruhigen oder zu bändigen. Auf dem Fenstersims tschilpten Vögel, wollten Brotkrümel, aber er hatte kein Brot in der Wohnung, das diesen Namen verdient hätte, lediglich frische Brötchen, noch viel zu weich für Vogelfutter. Ach, was soll's, sechs Brötchen würde er doch nie essen! Ein, zwei würden bestimmt übrigbleiben. Also konnte er sie ihnen auch gut gleich geben, solange sie noch weich und süß waren. Er füllte einen Teller mit Brotkrumen und trug ihn von der Küche zum Fenstersims, wo die Vögel warteten. Verdammt: Was war mit Mittag? Dem sonntäglichen Mittagessen?
Im Gefrierfach fand er ein Steak. Wie lange würde es zum Auftauen brauchen? Mist! Er hatte die Mikrowelle im Lauf der Woche abholen wollen, nachdem der Laden ihm mitgeteilt hatte, dass der Schaden behoben sei. Aber 107 er war so beschäftigt gewesen. Also im Ofen auftauen, ganz klein gestellt. Und Wein. Ja, eine Flasche öffnen. Er konnte ja ein, zwei Gläser trinken und den Rest für eine andere Gelegenheit aufbewahren. Letztes Weihnachten hatte ihm ein Freund einen Vakuumstöpsel geschenkt. Davon blieb der Wein angeblich auch nach dem Entkorken frisch. Wo hatte er den noch mal hingetan? In den Schrank, neben den Wein? Das wäre logisch gewesen. Aber da befand er sich nicht. Er wählte eine mittelgute Flasche, die er in einem soliden Weingeschäft in Marchmont gekauft hatte, und stellte sie im Wohnzimmer auf den Tisch. Neben seine Aktentasche. Damit das Sediment sich setzen konnte. Dazu war der Sonntag doch da, nicht? Vielleicht konnte er sich ja eins der Kreuzworträtsel vornehmen. Ein Glas Wein und ein Kreuzworträtsel, während er darauf wartete, dass das Fleisch auftaute. Der Wein würde sich zwar noch nicht gesetzt haben, aber na und? Er entkorkte die Flasche und goss sich anderthalb Fingerbreit ins Glas. Warf wieder einen Blick auf die Uhr. Es war halb zwölf. Ein bisschen früh für Alkohol. Also zum Wohl. Am Sonntag konnte man ja doch wohl gegen Regeln verstoßen. Herrgott, war das eine Woche gewesen! Von einem senilen Vergewaltiger bis hin zu einem minderjährigen blinden Ausreißer war so ziemlich alles dabei gewesen. Ein bewaffneter Raubüberfall in einem Wettbüro und ein Ertrunkener im Hafen, anscheinend kein Fremdverschulden. Betrunken war der Ertrunkene gewesen. Sturzbetrunken. Hatten ihm rund eine Flasche Whisky und einen noch kaum anverdauten Kebab aus dem Magen geholt. Die jährliche Kriminalstatistik für die Lothians war gerade veröffentlicht worden: Tötungsdelikte gegenüber letztem Jahr leicht gestiegen, Sexualdelikte kräftig gestiegen, Einbrüche ge 107 stiegen, Straßenkriminalität geringfügig runter, Verkehrsdelikte signifikant gesunken. In manchen Stadtteilen von Edinburgh erreichte die Aufklärungsrate von Einbrüchen nicht mal fünf Prozent. Rebus war nicht direkt ein Faschist, nicht gerade der glühendste Verfechter des Totalitarismus, aber er wusste, dass bei weitreichenderen polizeilichen Befugnissen dieser Prozentsatz ein bisschen hätte angehoben werden können. Es gab Hochhaussiedlungen, in denen eine Wohnung im zwölften Stock periodisch ausgeraubt wurde. Stieg da jemand etwa zwölf Treppen hoch, um einzubrechen? Natürlich nicht. Es war jemand aus dem Haus, aber solange sie nicht die Befugnis hatten, jede beliebige Wohnung auf bloßen Verdacht hin zu durchsuchen, würden sie den Täter niemals fassen. Und das war bloß die Spitze des ganzen schmutzigen Eisbergs. Irre wurden von Institutionen, die außerstande oder zu faul waren, mit ihnen fertig zu werden, einfach wieder laufen gelassen. Rebus hatte in Edinburgh noch nie so viele Bettler gesehen wie vergangenes Jahr. Teenager (und Jüngere) bis hin zu Großeltern pennten auf der Straße, erschnorrten sich gelegentlich ein Pfund oder eine Zigarette. Herrgott, es deprimierte ihn fast ebenso sehr, daran zu denken, wie so zu tun, als könnte er es ignorieren. Er schlurfte rüber in die Küche und betastete das Steak. Innen war es noch hart. Er holte die fast trockene Wäsche aus der Maschine und drapierte sie in der ganzen Wohnung über die kalten Radiatoren. Und legte was anderes auf. Diesmal Art Pepper, ein bisschen lauter, war ja jetzt eine christliche Uhrzeit. Nicht, dass die Nachbarn sich jemals beschweren würden. Manchmal konnte er es ihnen von den Augen ablesen, dass sie sich am liebsten beschwert hätten: über den Krach, den er machte, die unregelmäßigen Zeiten, zu denen er
kam und ging, die Art, wie er den Motor seines Autos immer aufheulen ließ oder beim Treppensteigen 108 hustete. Sie hätten sich gern beschwert, trauten sich aber nicht, aus Angst, er könnte ihnen »was anhängen« oder sich weigern, ihnen den Gefallen zu tun, um den sie ihn irgendwann vielleicht mal bitten müssten. Sie guckten sich immer die Krimiserien im Fernsehen an und glaubten deswegen, ihren Nachbarn ganz gut zu kennen. Rebus schüttelte den Kopf und schenkte sich Wein nach - diesmal ein paar Fingerbreit mehr. Die wussten überhaupt nichts über ihn. Gar nichts. Er hatte keinen Fernseher, fand Gameshows, TVKrimis und Nachrichtensendungen alle gleichermaßen zum Kotzen. Dass er keinen Fernseher besaß, machte ihn bei seinen Kollegen zum Außenseiter: Irgendwie wusste er am Morgen nie so recht, worüber er sich mit ihnen unterhalten sollte. Was ihm andererseits einen ruhigeren, stressfreieren Morgen bescherte. Er ging noch einmal ins Bad, um nach dem feuchten Fleck zu sehen, und ließ die Hand eine halbe Minute lang darauf ruhen. Hmm, ganz trocken fühlte er sich immer noch nicht an. Aber vielleicht waren es ja auch seine von der herumgetragenen Wäsche feuchten Hände. Ach, zum Teufel damit. Wieder im Schlafzimmer, sammelte er ein paar Bücher vom Fußboden auf und stapelte sie neben weiteren Stößen von Taschenbüchern und Hardcovern, gelesenen und ungelesenen, an einer Wand. Eines Tages würde er die Zeit finden, sie zu lesen. Sie waren wie Schmuggelware: Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie zu kaufen, aber dann nie so recht was damit anfangen. Die Hauptsache war der Kauf, das Bewusstsein, sie zu besitzen. Vielleicht gab es irgendwo in Großbritannien noch jemanden, der genau die gleiche Sammlung von Büchern wie er besaß, aber das bezweifelte er. Die Auswahl war einfach zu willkürlich, rangierte von gebrauchten Rugby-Jahrbüchern bis hin zu schwer verdaulichen philosophischen Werken. Eigentlich erwarb er Bücher ohne Sinn und Ver 108 stand, ohne System. Ein Großteil seines Berufslebens gehorchte einem System, einem Modus Operandi. Einer Anzahl von Regeln für die mögliche (nicht wahrscheinliche) Auflösung von Verbrechen. Eine der Regeln besagte, dass er den Inhalt der Aktentasche vor Montag früh durcharbeiten sollte, und zwar am besten, solange er noch nüchtern war. Klingel. Klingel? Klingel. Jemand vor seiner Tür. Herr Jesus, an einem Sonntag? Nicht am Sonntag, bitte, Herrgott. Die falsche Tür. Da hatte sich jemand in der Tür geirrt. Lass ihm eine Minute Zeit, und er wird seinen Irrtum erkennen. Und wieder Klingel. Heiliger Bimbam. Gottverdammter Bimbam. Na schön, dann würde er eben aufmachen. Er zog langsam die Tür auf und spähte hinaus. Detective Constable Brian Holmes stand auf dem Treppenabsatz. »Brian?« »Hallo, Sir. Ich hoffe, ich störe nicht. Ich war in der Gegend, und da dachte ich... Sie wissen schon.« Rebus hielt ihm die Tür auf. »Kommen Sie rein.« Er ging Holmes voraus durch den Flur, stieg über die Verlängerungsschnur. Holmes starrte mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck auf das Kabel. »Keine Angst«, sagte Rebus an der Schwelle zum Wohnzimmer. »Ich hab nicht vor, mit einem Elektroherd im Arm in die Badewanne zu springen. Ich trockne bloß einen Feuchtigkeitsfleck.« »Ah.« Holmes klang nicht sehr überzeugt. »Klar.« »Setzen Sie sich«, forderte Rebus ihn auf. »Ich hab grad eine Flasche Wein aufgemacht. Auch ein Glas?«
»Bisschen früh für mich«, meinte Holmes mit einem Blick auf Rebus' Glas. »Na, dann Kaffee. Ich glaube, es ist noch welcher in der Kanne.« 109 »Nein, danke, nichts.« x Sie setzten sich, Rebus in seinen gewohnten Sessel, Holmes auf die Kante des Sofas. Rebus wusste, warum der junge Beamte gekommen war, aber er dachte nicht im Traum daran, es ihm leicht zu machen. »In der Gegend, sagten Sie?« »Genau. Ich war letzten Abend auf einer Party in Mayfield. Dann bin ich über Nacht geblieben.« »Oho!« Holmes lächelte. »Nicht, was Sie denken, ich hab auf dem Sofa geschlafen.« »Ist mit Neil also immer noch Knies?« »Ich weiß nicht. Manchmal ist sie... Wechseln wir das Thema.« Er drehte eine der Zeitungen um, so dass er sich die letzte Seite ansehen konnte. »Haben Sie gestern Nacht den Boxkampf verfolgt?« »Ich hab keinen Fernseher.« Holmes schaute sich im Zimmer um, lächelte dann wieder. »Stimmt. War mir gar nicht aufgefallen.« »Sollte man Sie irgendwann für eine Beförderung vorschlagen, werde ich mich daran erinnern, Constable.« Rebus nahm einen großen Schluck Wein und musterte dabei Holmes über den Rand des Glases hinweg. Holmes schien sich von Sekunde zu Sekunde unbehaglicher zu fühlen. »Heute was vor?« »Was zum Beispiel?« Holmes zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich dachte, vielleicht haben Sie eine spezielle Sonntagsroutine. Sie wissen schon: Auto waschen, so Sachen.« Rebus nickte in Richtung der Aktentasche, die auf dem Tisch stand. »Papierkram. Damit werd ich den größten Teil des Tages verbringen.« Holmes nickte und blätterte die Zeitung durch, bis er, 109 wie nicht anders erwartet, zur Meldung über die Nachtklubrazzia kam. »Steht ganz unten auf der Seite«, erklärte Rebus. »Aber das wissen Sie ja selbst, oder? Sie haben das schon gesehen.« Er stand abrupt auf, ging zur Anlage und drehte die Platte um. Altsaxophon erklang aus den Boxen. Holmes hatte noch immer nichts gesagt. Er tat so, als würde er die Zeitung lesen, aber seine Augen bewegten sich nicht. Rebus kehrte zum Sessel zurück. »Gab's wirklich eine Party, Brian?« »Ja.« Kurze Pause. »Nein.« »Und Sie waren hier nicht bloß zufällig in der Gegend?« »Nein. Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht.« »Und, wie geht's mir?« »Aussehen tun Sie gut.« »Das liegt daran, dass es mir gut geht.« »Sind Sie sicher?« »Absolut.« Holmes seufzte und legte die Zeitung beiseite. »Freut mich zu hören. Ich hatte mir Sorgen gemacht, John. Wir waren alle ziemlich mitgenommen.« »Ich hab schon mal jemanden umgebracht, Brian. Das war nicht das erste Mal.« »Schon, aber Herrgott, ich meine...« Holmes erhob sich und ging ans Fenster, sah hinunter auf die Straße. Eine nette, ruhige Straße in einem ruhigen Viertel. Tüllgardinen und gepflegte Vorgärten, die Gärten von achtbaren Leuten, gesetzestreuen Leuten,
Leuten, die einen im Geschäft anlächelten oder mit einem an der Bushaltestelle plauderten. Aber Rebus' Gedanken waren wieder zur dunklen Gasse zurückgekehrt, der fernen Straßenlaterne, dem in die Enge getriebenen Dealer. Er hatte im Laufen Päckchen aus seinen Taschen auf den Boden geworfen. Als würde er säen. 110 Kleine Zellophantüten voll Drogen, weichen und harten. Hatte sie in den weichen Schlamm gesät, jedes Jahr eine neue Ernte. Dann das blendende Licht. Der flache Stahl eines Messers. Kein riesiges Messer, aber wie groß musste ein Messer schon sein? Zwei, drei Zentimeter Klinge reichten vollauf. Alles, was darüber hinausging, war überflüssig. Aber an dem war nichts überflüssig gewesen: gebogene Schneide, Klinge oben gesägt, ein Commando Special. Von der Sorte, wie man sie in jedem Laden für Campingbedarf kaufen konnte. Von der Sorte, wie sie jeder in so einem Laden kaufen konnte. Ein richtiges Messer für Outdoor-Aktivitäten. Rebus glaubte sich zu erinnern, dass die Dinger »Survival-Messer« genannt wurden. Ha! Genau das Richtige zum Überleben. Der Mann - eigentlich kaum mehr als ein Junge, achtzehn oder neunzehn - hatte nicht gezögert und das Messer aus dem Hosenbund gerissen. Und zugestochen, einmal, zweimal. Rebus war nicht der Fitteste, aber er hatte gute Reaktionen. Beim dritten Stich griff er zu und erwischte den Jungen am Handgelenk, verdrehte es, so weit er konnte. Das Messer fiel hin. Der Dealer schrie vor Schmerz auf und ging mit einem Knie zu Boden. Bis dahin hatte keiner der beiden Männer ein Wort gesagt. Worte waren eigentlich nicht nötig gewesen. Dann aber hatte Rebus begriffen, dass sein Gegner sich nicht zum Zeichen seiner Kapitulation hingekniet hatte. Er tastete mit der freien Hand nach dem Messer und fand es auch. Rebus ließ das Handgelenk los und presste den linken Arm des Mannes an dessen Oberkörper, aber der Arm war stark, und die Klinge schnitt durch Rebus' Hose und zog einen roten Strich über seinen Oberschenkel. Rebus rammte seinem Gegner das Knie zwischen die Beine und spürte, wie der Körper erschlaffte. Er wiederholte die Ak 110 tion, aber der Dealer hatte nicht vor aufzugeben. Das Messer schoss wieder hoch. Rebus umklammerte mit der einen Hand das Handgelenk, während die andere nach der Kehle des Mannes griff. Dann spürte er, wie er selbst herumgeworfen und mit aller Kraft gegen die Mauer der Gasse gedrückt wurde. Die Mauer war feucht, roch nach Schimmel. Er presste den Daumen tief in den Kehlkopf des Dealers, während er weiter um das Messer rang. Sein Knie krachte dem Mann ein weiteres Mal zwischen die Beine. Und dann, als die Kraft des Messerarms vorübergehend erlahmte, riss Rebus das Handgelenk nach vorn und stieß es sofort wieder zurück. Stieß fest zu, so dass der Dealer an die gegenüberliegende Wand knallte, wo der Mann keuchte, gurgelte und Glotzaugen machte. Rebus trat zurück und ließ das Handgelenk los, das Gelenk der Hand, die das Messer hielt, das bis zum Heft im Magen des jungen Mannes steckte. »O Scheiße«, flüsterte Rebus. »O Scheiße, o Scheiße, o Scheiße.« Der Dealer starrte verblüfft auf den Messergriff. Seine Hand fiel kraftlos herab, aber das Messer blieb, wo es war. Er schlurfte vorwärts, an Rebus vorbei, der nur dastehen und gucken konnte, und tappte die Gasse entlang. Er schaffte es bis zum Ausgang der Gasse und sackte zusammen. »Sir?« »Hmm?« Rebus schaute hoch und sah, dass Holmes ihn vom Fenster aus beobachtete. »Was gibt's, Brian?« »Alles in Ordnung?«
»Ich hab's Ihnen doch gesagt, mir geht's ausgezeichnet.« Rebus kippte den Rest Wein hinunter und stellte das Glas auf den Fußboden, ohne das Zittern seiner Hand ganz unter Kontrolle bringen zu können. »Es ist bloß, weil... also, ich hab noch nie -« »Sie haben noch nie einen Menschen umgebracht.« 111 »Stimmt.« Holmes kam zurück zum Sofa. »Hab ich nicht.« Er setzte sich und beugte sich, während er sprach, die Hände zwischen die Knie geklemmt, leicht nach vorn. »Was ist das für ein Gefühl?« »Gefühl?« Rebus lächelte schwach. »Es ist überhaupt kein Gefühl. Ich denke nicht einmal daran. Das ist die beste Methode.« Holmes nickte bedächtig. Rebus dachte: Komm zur Sache. Und dann kam Holmes zur Sache. »War das Absicht?«, fragte er. Rebus antwortete, ohne zu zögern. »Es war ein Unfall. Ich wusste nicht, dass es passieren würde, bis es passiert war. Wir waren im Clinch, und irgendwie ist das Messer da gelandet. Das ist alles. Genau das habe ich den Leuten auf der Wache gesagt, genau das werde ich bei jeder internen Ermittlung sagen, die man mir auf den Hals hetzen wird. Es war ein Unfall.« »Ja«, sagte Holmes leise und nickte. »Davon gehe ich auch aus.« Unfälle passieren schließlich, oder? Wenn zum Beispiel das Steak anbrennt. Wenn man die Flasche leert, obwohl man eigentlich vorgehabt hatte, nur ein, zwei Gläser zu trinken. Wenn man eine Delle in die Wand des Badezimmers boxt. Unfälle passierten, und die meisten passierten zu Hause. Holmes schlug die Einladung zum Essen aus und ging. Rebus blieb eine Weile im Sessel sitzen, lauschte dem Jazz und vergaß das Steak völlig. Es fiel ihm erst wieder ein, als er eine weitere Flasche Wein öffnen ging. Der Korkenzieher war irgendwie wieder in der Besteckschublade gelandet, und aus Versehen holte er stattdessen ein Messer heraus. Ein kleines scharfes Messer mit Holzgriff. Er besaß das Messer speziell für Steaks. 111 Es war nett von Holmes gewesen vorbeizuschauen, egal, aus welchem Grund. Und es war auch nett von ihm gewesen, nicht zum Essen zu bleiben. Rebus hatte das Bedürfnis, allein zu sein, brauchte Zeit und Raum zum Nachdenken. Er hatte Holmes gesagt, dass er nie darüber nachdachte, nie über den Tod nachdachte. Das war gelogen; er dachte unentwegt daran. Dieses Wochenende ließ er die Szene immer und immer wieder in seinem Kopf ablaufen, und versuchte dabei, die Frage zu beantworten, die ihm auch Holmes gestellt hatte: War es ein Unfall gewesen? Aber von Mal zu Mal wurde die Antwort unbestimmter. Die Hand hielt das Messer fest, und dann bog Rebus die Hand von sich weg und stieß sie mitsamt dem Körper zurück und gegen die Wand der Gasse. Bog die Hand weg... Das war der entscheidende Augenblick. Als er das Handgelenk so verdreht hatte, dass die Spitze des Messers auf den Dealer wies - was war ihm da durch den Kopf gegangen? Der Gedanke, dass er sich verteidigte? Oder dass er den Dealer töten würde? Rebus schüttelte den Kopf. Die Sache war jetzt nicht klarer, als sie es in dem Moment gewesen war. Die Medien hatten sie gestern als Notwehr interpretiert, und die interne Ermittlung würde zu dem gleichen Ergebnis kommen. Hätte er den jungen Mann entwaffnen können? Wahrscheinlich. Hätte der Mann, wenn er die Chance gehabt hätte, Rebus getötet? Mit Sicherheit. Wenn er überlebt hätte, wäre er vielleicht einmal Premierminister oder faschistischer Diktator oder Messias geworden? Hätte er seine Fehler eingesehen oder weiter seine Drogen unter die Leute gebracht? Und was war mit seinen Eltern, seinen Angehörigen, den Freunden von der Schule, die ihn als Kind ge-
kannt hatten: Was würden die jetzt wohl denken? Hatten sie Fotoalben hervorgekramt und Papiertaschentücher gezückt? Bilder vom Dealer als Junge, zu seinem Geburts112 tag als Cowboy verkleidet, Bilder von ihm als Baby, in der Wanne plantschend. Erinnerungen an jemanden, den Rebus nie gekannt hatte. Er schüttelte erneut den Kopf. Darüber nachzudenken würde nichts bringen, aber es war die einzige mögliche Axt und Weise, damit umzugehen. Und ja, er fühlte sich schuldig. Er fühlte sich beschmutzt, herabgewürdigt und schlecht. Aber er würde aufhören, sich schlecht zu fühlen, und irgendwann später überhaupt nichts mehr empfinden. Er hatte schon früher getötet; möglich, dass er irgendwann wieder töten würde. Das konnte man nie wissen, bis es soweit war. Holmes hatte Mayfield erwähnt. Rebus wusste von einer Kirche in Mayfield, in der sonntags ein Abendgottesdienst stattfand. Eine Kirche mit einer unauffälligen Gemeinde und einem Geistlichen, der nicht gerade darauf versessen war, seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Vielleicht würde er später da vorbeischauen. Und bis dahin wäre vielleicht ein Spaziergang nicht falsch. Er würde durch die Meadows schlendern und zurück durch die Bruntsfield Links, mit einem Abstecher zum Eissalon in der Nähe von Tollcross. Vielleicht würde ihm sein Freund Frank über den Weg laufen. Denn heute war Sonntag, sein freier Tag, und da sollte man doch tun, wozu man Lust hatte. Schließlich war Sonntag ein Tag, an dem man die Regeln übertreten durfte, der einzige Tag, an dem er sich das leisten konnte.
Auld Lang Syne Orte, an denen Detective Inspector John Rebus an Hog-manay, Silvesterabend, um Mitternacht lieber nicht sein wollte: auf Platz eins, der Tron, dem alten Waageplatz in Edinburgh. Was vielleicht, dachte sich Rebus, erklärte, warum er sich um fünf Minuten vor Mitternacht seinen Weg durch die Menschenmenge bahnte, die vor der Tron Kirk die Royal Mile verstopfte. Es war eine bitterkalte Nacht, eine Nacht, erfüllt von Bier- und Whiskydünsten, von Schaum, der in den Himmel zischte, wenn eine weitere Dose aufgerissen wurde, von schlecht gesungenen Liedern, um Hälse geschlungenen Armen und von alkoholmotivierten Beteuerungen unsterblicher Liebe, Beteuerungen, die spätestens am nächsten Morgen vergessen wären. Rebus hielt sich natürlich nicht zum ersten Mal dort auf. Er war auch vergangenes Silvester dort gewesen, bereit, die unvermeidlichen Randalierer aufzuspüren, Schlägereien zu beenden und über die unter den Füßen knirschenden Glassplitter zu stapfen, die das Kopfsteinpflaster bedeckten. Wenn Neujahr nahte, brachen immer sowohl die besten als auch die übelsten Eigenschaften der Schotten hervor: das Gemeinschaftsgefühl, die Leidenschaft, das Umarmen des Lebens, die Unfähigkeit, im richtigen Augenblick aufzuhören, so dass aus der Umarmung ein Würgegriff wurde. Diese Leute ertranken in einem Meer von Gefühlsseligkeit und Heuchelei. Zum tausendsten Mal stimmte eine ein 112 same Stimme »Flower of Scotland« an, und zum tausendsten Mal fielen ein paar weitere Stimmen ein, um schon am Ende des ersten Refrains wieder zu verstummen. »Halt dich ran, großer Mann.« Rebus schaute sich um. Das übliche Kontingent von uniformierten Beamten ließ das alljährliche Ritual über sich ergehen, sich von einer plötzlich fraternisierenden Öffentlichkeit die Hand schütteln zu lassen. Rebus bemitleidete die Beamtinnen, als einer von ihnen, einer Jungen, ein weiterer sabbriger Kuss auf die Wange geschmatzt wurde. Die
Polizei von Edinburgh kannte ihre Pflicht: Sie stellte immer ein Opferlamm bereit, um die Volksmenge zu beschwichtigen. Die standen tatsächlich gesittet vor der Polizistin an, um sie abzuküssen. Sie lächelte und errötete. Rebus erschauderte und wandte sich ab. Vier Minuten bis Mitternacht. Seine Nerven waren angespannt wie Klaviersaiten. Er verabscheute Menschenansammlungen, ganz besonders, wenn alle Leute betrunken waren. Und genauso sehr die Tatsache, dass ein weiteres Jahr zu Ende ging. Er begann, sich an bisschen energischer durch die Menge zu drängen, als nötig gewesen wäre. Leute, denen Detective Inspector John Rebus an Hogmanay um Mitternacht lieber nicht begegnete: auf Platz eins, Detectives vom CID Glasgow. Er lächelte und nickte einem von ihnen zu. Der Mann stand direkt unter dem Vordach eines Buswartehäuschens, abseits vom Gewusel auf der Straße. Auf dem Dach des Wartehäuschens vollführte ein Mohikaner in schwarzem Leder, eine Flasche Starkbier in der Hand, einen Stammestanz. Ein Constable schrie dem Jüngling zu, er solle da runterkommen. Der Punk nahm davon keine Notiz. Der Mann im Wartehäuschen erwiderte John Rebus' Lächeln. Der wartet nicht auf den Bus, dachte Rebus bei sich, der wartet auf die Gelegenheit, einen einzubuchten. 113 Dinge, die Detective Inspector John Rebus an Hogmanay um Mitternacht lieber nicht tat: auf Platz eins, arbeiten. Folglich musste er arbeiten, und als die Menschenmenge zurückwogte, musste er an Dantes Hölle denken. Noch drei Minuten bis Mitternacht. Drei Minuten von der Hölle entfernt. Die Schotten, tief in ihrer Seele nach wie vor Heiden, hatten von jeher Neujahr weit mehr als Weihnachten gefeiert. In Rebus' Kindheit waren Weihnachtstage eher eine stille Angelegenheit gewesen. Neujahr war die Zeit zum Feiern gewesen; für den »ersten Besuch«, black bun, Madeirakuchen, in Silberfolie eingewickelte Kohle, Schmorkartoffeln während der Nacht und Fleischpastete am folgenden Mittag. Ein Ritual nach dem anderen. Jetzt würde er bald ein anderes Ritual ins Visier nehmen, einen anderen festgelegten Vorgang. Ein Treffen stand bevor. Ein Austausch würde stattfinden: eine Tasche voll Geld für ein Paket Rauschgift. Eine Lieferung Heroin war über ein Fischerdorf an der Westküste nach Schottland gelangt. Trotz eines Tipps hatte es das CID in Glasgow nicht geschafft, die Lieferung abzufangen. Die Spur war ein paar Tage lang immer kälter geworden, bis ein Polizeispitzel die entscheidende Information lieferte. Der Stoff befand sich in Edinburgh. Er würde bald einem Ostküstendealer übergeben werden. Der Dealer war dem CID Edinburgh bekannt, doch die Beamten waren bislang nicht imstande gewesen, ihn wegen Besitzes einer nennenswerten Menge festzunehmen. Sie wollten ihn unbedingt fassen. Das Gleiche galt für das Westküsten-CID. »Das wird ein Joint Venture«, hatte Rebus' Chef ohne jegliche Ironie erklärt. Also war Rebus jetzt da und mischte sich unters Volk, genauso wie ein rundes Dutzend weiterer Zivilbeamten. Die Männer, die den Tausch vornehmen würden, trauten einander nicht. Einer von ihnen hatte sich 113 für den Vorplatz der Tron-Kirche als einen ausreichend öffentlichen Ort für den Deal entschieden. Bei den vielen Leuten auf der Straße war weniger zu befürchten, dass jemand eine krumme Tour versuchte. Der Tron zu Hogmanay um Mitternacht: eine Stätte der Ausgelassenheit und Selbstvergessenheit. Niemand würde einen diskreten Tausch von Taschen bemerken, Geld gegen Stoff, Stoff gegen Geld. Der ideale Ort. Als er sich erneut gegen den Menschenstrom stemmte, entdeckte Rebus den Geldmann. Er erkannte ihn von Fotos her wieder. Alan Lyons, für Freunde »Nal«. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, fuhr einen Porsche 911 und wohnte in einem hübschen Haus am Fluss, direkt außerhalb von Haddington. Er war einer von Rab Philips' Männern
gewesen, bis Philips das Zeitliche gesegnet hatte. Jetzt arbeitete er auf eigene Rechnung. Seinen Beruf gab er mit »Unternehmer« an. Er war Abschaum. Lyons stand mit dem Rücken an ein Schaufenster gelehnt. Er rauchte eine Zigarette, und seine Miene gab den Passanten deutlich zu verstehen, dass er nicht in der Stimmung zum Händeschütteln oder Plaudern war. Ein kurzer Blick verriet Rebus, dass zwei vom Glasgower Team Lyons genau im Auge behielten, also ging er weiter. Was ihn jetzt interessierte, war das Missing Link, der Mann mit der Ware. Wo befand er sich? Rings um ihn herum wurde ein Countdown skandiert. Ein paar Leute meinten, bis Neujahr seien es weniger als zehn Sekunden; andere sahen auf ihre Armbanduhren und erklärten, es sei noch eine Minute. Nach Rebus' Uhr hatte das neue Jahr schon vor gut dreißig Sekunden begonnen. Dann legte die Kirchturmuhr ohne jede Vorwarnung los, und ein gewaltiger Jubelschrei stieg gen Himmel. Die Leute schüttelten sich die Hände, umarmten und küssten sich. Rebus blieb nichts anderes übrig als mitzumachen. 114 »Frohes neues Jahr.« »Frohes neues Jahr, Kumpel.« »Alles Gute, ja?« »Frohes neues Jahr.« »Alles Gute.« »Frohes neues Jahr.« Rebus erhielt einen freimaurerischen Händedruck und blickte in ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Er erwiderte den Glückwunsch: »Frohes neues Jahr« Der Mann lächelte und ging weiter, die Hand schon einem anderen Fremden entgegengestreckt. Aber dieser Mann war Rebus nicht fremd gewesen. Woher, zum Teufel, kannte er ihn? Er war inzwischen in der wogenden Menge verschwunden. Rebus konzentrierte sich auf das erinnerte Gesicht. Er hatte es jünger gekannt, straffer, dafür mit dunkleren Augen. Er konnte die Stimme noch hören: ein breiter Fifer Akzent. Hände wie Schaufeln, Bergmannshände. Aber der Mann war kein Kumpel. Er hatte sein Funkgerät dabei, aber bei dem Lärm, der um ihn herum tobte, war es sinnlos zu versuchen, sich mit den anderen vom Beobachtungsteam in Verbindung zu setzen. Er wollte nämlich mitteilen, dass er dem geheimnisvollen Mann folgen würde. Immer vorausgesetzt natürlich, dass er es schaffte, ihn in dem Getümmel wiederzufinden. Und dann fiel es ihm ein: Jackie Crawford. Lieber Himmel, das war Jackie Crawford gewesen! Leute, denen Rebus an Neujahr möglichst nicht die Hand schütteln wollte: auf Platz eins, Jackie »Trigger« Crawford. Rebus hatte Crawford vier Jahre zuvor wegen bewaffneten Raubüberfalls und Körperverletzung hinter Gitter gebracht. Der Richter hatte ihm satte zehn Jahre aufgebrummt. Crawford war vom Gerichtsgebäude aus in einem gut bewachten Transportwagen nach Norden verfrachtet 114 worden. Den Spitznamen, »Trigger«, trug er nicht seiner friedfertigen und gutbürgerlichen Lebenseinstellung wegen. Der Mann war ein Irrer ersten Ranges, schnell bei der Hand mit dem Schießeisen und dem Finger am Abzug. Er war an einer Serie von Raubüberfällen auf Banken und Sparkassen beteiligt gewesen; kurzen, gewalttätigen Besuchen in kleineren Filialen überall in den Lowlands. Dass es keine Todesopfer gegeben hatte, war eher dem Panzerglas und dem Glück zu verdanken gewesen als Crawfords Menschenfreundlichkeit. Er hatte zehn Jahre gekriegt und war nach vier schon wieder draußen. Was war passiert? Der Mann konnte doch unmöglich legal auf freiem Fuß sein! Er konnte nur ausgebrochen - oder zumindest von einem Freigang nicht zurückgekehrt sein. Und schien es nicht ein ziemlicher Zufall zu sein, dass er Rebus über den Weg lief, dass er genau hier und genau jetzt vor der Tron-Kirche auftauchte, wo die Polizei auf einen mysteriösen Drogenhändler wartete?
Rebus glaubte an Zufälle, aber dieser hier ging dann doch ein bisschen zu weit. Jackie Crawford hielt sich irgendwo in dieser Menschenmenge auf, schüttelte Leuten die Hand, die er, gerade mal vier Jahre zuvor, mit einer abgesägten Schrotflinte terrorisiert haben könnte. Rebus musste etwas unternehmen, mochte Crawford nun der »zweite Mann« sein oder auch nicht. Er begann wieder, sich in das Gewühl zu stürzen, diesmal jedoch ohne auf ausgestreckte Hände oder Neujahrsgrüße zu reagieren. Er ging auf Zehenspitzen, reckte den Kopf über die Köpfe der Feiernden und hielt nach dem kantigen, borstenhaarigen Schädel seiner Beute Ausschau. Er versuchte, sich zu erinnern, ob einen, dem schottischen Volksglauben zufolge, um Mitternacht an Hogmanay die Geister der Vergangenheit heimsuchten. Er glaubte eigentlich nicht. Außerdem war Crawford kein Geist. Seine Hand hatte sich weich und 115 warm angefühlt. Die Augen, die sich für einen Moment mit denen von Rebus trafen, waren klar und blau, aber gleichgültig gewesen. Hatte Crawford seinen alten Gegner wiedererkannt? Rebus war sich nicht sicher. Er hatte keinerlei Zeichen von Wiedererkennen bemerkt; die Brauen hatten sich nicht gehoben, der Mund hatte sich nicht überrascht geöffnet. Nur drei gemurmelte Worte, bevor er zur nächsten ausgestreckten Hand weitergegangen war. War Crawford betrunken? Höchstwahrscheinlich: Nur wenige, die ihre fünf Sinne beisammen und keinen in der Krone hatten, suchten ausgerechnet in dieser Nacht den Tron auf. Gut, dass ein betrunkener Crawford ihn erkannte, stand weniger zu befürchten. Andererseits war die Stimme ruhig und klar gewesen, der Blick kein bisschen glasig. Crawford hatte sich nicht wie ein Betrunkener verhalten, hatte nicht betrunken gewirkt. Im Gegenteil stocknüchtern. Auch das machte Rebus Sorgen. Andererseits machte ihm an diesem Abend alles Sorgen. Das Edinburgher Kontingent durfte sich nicht den kleinsten Patzer leisten: Das wäre nur Munition für die Glasgower Partei gewesen. Zwischen den zwei Polizeitruppen herrschte eine gewisse Rivalität. »Rivalität« hieß »Hass«. Jede Seite würde versuchen, eine etwaige Festnahme als eigenen Sieg zu verbuchen; und jede würde einen Misserfolg der anderen in die Schuhe schieben. Das alles hatte ihm Chief Inspector Lauderdale unmissverständlich erklärt. »Aber Sir«, hatte Rebus erwidert, »was zählt, ist doch wohl, dass diese Männer geschnappt werden.« »Blödsinn, John«, hatte Lauderdale entgegnet. »Was zählt, ist, dass wir vor McLeish und seinen Männern nicht wie dumme Arschlöcher dastehen.«» Was Rebus natürlich schon längst wusste: Es machte ihm 115 nur Spaß, seinen Vorgesetzten gelegentlich ein bisschen aufzuziehen, damit er dann umso besser funktionierte. Superintendent Michael McLeish war ein gläubiger Katholik, und Rebus' Chief mochte keine Katholen. Rebus aber hasste Eiferer jeder Couleur, und so zog er Lauderdale bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf und hatte sich einen Spitznamen für ihn ausgedacht, der seine Phantasielosigkeit und seinen bigotten Protestantismus auf einen Nenner brachte: »Uhrwerk-Orange-Mann«. Die Menschenmenge lichtete sich allmählich, als Rebus die Kirche hinter sich ließ und hügelan in Richtung Edinburgh Castle ging. Ihm war klar, dass er sich damit von seinem Beobachtungsposten entfernte und seine Kollegen über diese Tatsache hätte informieren müssen, aber wenn seine Intuition ihn nicht täuschte, folgte er gleichzeitig dem Mann, dem die ganze verdeckte Aktion galt. Plötzlich entdeckte er Crawford, der, wie er auf den Bürgersteig zuging, bewusst aus dem Gedränge herauswollte und sich dabei kurz umsah, als wüsste er, dass ihm jemand folgte.
Dann hatte er Rebus also erkannt und jetzt gesehen, dass der Polizist seinen Schritt beschleunigte. Rebus atmete geräuschvoll aus und zwängte sich durch den äußeren Ring der Feiernden. Die Arme taten ihm weh, als wäre er die ganze Zeit gegen eine starke Strömimg angeschwommen, aber nun, da er das rettende Ufer erreicht hatte, musste er feststellen, dass Crawford verschwunden war. Er sah die Reihe von Geschäften entlang, die durch enge, dunkle, überbaute Gassen voneinander getrennt waren. Diese Gassen mündeten in Hauseingänge, von Studentenwohnheimen umgebene Höfe und viele steile und ausgetretene Treppen, die von der High Street zur Cockburn Street hinunterführten. Rebus musste sich für eine von ihnen entscheiden. Wenn er zögerte oder die falsche Wahl traf, würde Crawford entkommen. Er rannte zur ersten Gasse, warf 116 einen Blick hinein, lauschte auf Schrittgeräusche und eilte dann weiter. Bei der zweiten Gasse angelangt, beschloss er, keine weitere Zeit zu vergeuden, und lief hinein, vorbei an spärlich beleuchteten, von Graffiti eingerahmten Hauseingängen und feuchten Wänden, eisglattes Kopfsteinpflaster unter den Füßen. Bis er sich eine Treppe hinab in fast völliges Dunkel stürzte und stolperte. Er griff fuchtelnd ins Leere, nach einem Geländer, das ihn davor bewahren würde, sich das Genick zu brechen - und spürte, wie eine kräftige Hand ihn am Arm packte und rettete. Crawford stand auf einem Treppenabsatz, den Rücken an der Wand der Gasse. Rebus atmete scharf ein und versuchte, sich zu beruhigen. In seinen Ohren hallte es wie nach einer Explosion. »Danke«, stieß er hervor. »Sie sind mir gefolgt.« Die Stimme klang völlig ruhig. »Bin ich das?« Das war eine ziemlich müde Entgegnung, und Crawford schmunzelte. »Ja, Mr. Rebus, das sind Sie. Das muss ein ziemlicher Schock für Sie gewesen sein.« Rebus nickte. »Ein ziemlicher, ja, nach all den Jahren, Jackie.« »Es wundert mich, dass Sie mich erkannt haben. Ich höre sonst immer, ich hätte mich verändert.« »So sehr nun auch wieder nicht.« Rebus warf einen Blick hinunter auf seinen Arm, der noch immer in Crawfords schraubstockartigem Griff steckte. Der Griff lockerte sich, und Crawfords Hand löste sich von ihm. »Verzeihung.« Die Entschuldigung überraschte Rebus, er bemühte sich aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Er musterte Crawfords Gestalt möglichst unauffällig nach etwaigen Ausbeulungen, die groß genug wären, um ein Paket oder eine Schusswaffe zu verbergen. 116 »Was haben Sie da vor der Kirche eigentlich gemacht?«, fragte er, nicht sonderlich interessiert an der Antwort, aber umso mehr an der Zeit, die er dadurch vielleicht gewinnen würde. Crawford wirkte belustigt. »Das neue Jahr willkommen geheißen natürlich. Was hätte ich da sonst tun sollen?« Das war eine legitime Frage, aber Rebus zog es vor, sie nicht zu beantworten. »Seit wann sind Sie draußen?« »Seit einem Monat.« Crawford spürte Rebus' Argwohn. »Völlig legal. Auf Ehre und Gewissen, Sergeant, und Gott ist mein Zeuge. Ich bin nicht abgehauen, nichts in der Art.« »Aber Sie sind vor mir abgehauen. Und übrigens bin ich inzwischen Inspector.« Wieder lächelte Crawford. »Meinen Glückwunsch.« »Warum sind Sie weggelaufen?« »Bin ich das?« »Das wissen Sie doch selbst.«
»Weggelaufen, Inspector Rebus, bin ich deswegen, weil Sie der allerletzte Mensch waren, dem ich heute Nacht eigentlich hatte begegnen wollen. Sie haben mir alles verdorben.« Rebus runzelte die Stirn. Er sah Trigger Crawford, aber er hatte das Gefühl, mit jemand anderem zu reden, einem ruhigeren, weniger gefährlichen Menschen, einem - tja, ganz normalen Menschen. Er war verwirrt, aber nach wie vor argwöhnisch. »Was genau verdorben?« »Meinen Vorsatz für das neue Jahr. Ich war hergekommen, um mit der Welt Frieden zu schließen.« Jetzt war es Rebus, der lächelte, aber ein freundliches Lächeln war es nicht. »Frieden schließen, hm?« »Genau.« »Keine Schießeisen mehr? Keine bewaffneten Raubüberfälle mehr?« 117 Crawford schüttelte langsam den Kopf. Dann öffnete er seinen Mantel. »Keine Bleispritzen mehr, Inspector. Versprochen. Ich habe meinen Frieden gefunden, verstehen Sie?« Frieden? Rebus wollte auf Nummer Sicher gehen. Er griff in seine Jacketttasche und zog das Funkgerät hervor. Crawford wirkte aufrichtig. Er klang sogar aufrichtig, aber die Fakten mussten überprüft werden. Also funkte er die Zentrale an und forderte eine Überprüfung John Crawfords an, Spitzname »Trigger«. Als dieser Name fiel, lächelte Crawford verlegen. Rebus blieb in der Leitung und wartete darauf, dass der Computer seinen Job erledigte und die Zentrale antwortete. »Es ist ziemlich lange her, dass mich jemand zuletzt >Trigger< genannt hat«, sagte Crawford. »Ziemlich lange.« »Wie kommt's, dass man Sie schon nach vier Jahren entlassen hat?« »Sogar ein bisschen weniger als vier«, stellte Crawford richtig. »Man hat mich entlassen, weil ich keine Gefahr für die Gesellschaft mehr darstellte. Sie finden es wahrscheinlich schwer zu glauben. Ja, Sie finden es wahrscheinlich völlig unglaubwürdig. Aber das liegt nicht an mir, das liegt an Ihnen. Sie sind davon überzeugt, Männer wie ich könnten nie die Kurve kriegen. Aber das können wir doch. Es ist nämlich so, dass im Gefängnis etwas mit mir passiert ist. Ich habe Jesus Christus gefunden.« Rebus ahnte, dass sein Gesichtsausdruck ein Bild für die Götter war, und tatsächlich musste Crawford wieder lächeln, noch immer verlegen. Er sah hinunter auf seine Schuhspitzen. »So ist es, Inspector. Ich bin jetzt ein Christ. Es war keine plötzliche, überwältigende Erleuchtung. Es brauchte seine Zeit. Im Gefängnis wurde mir auf die Dauer langweilig, und ich begann, Bücher zu lesen. Eines Tages ist 117 mir die Bibel in die Hände gefallen, und ich habe sie einfach irgendwo aufgeschlagen. Es war die Good News Bible, die Übersetzung in einfaches Englisch. Ich hab sie einfach so durchgeblättert, immer mal hier und da ein Stückchen gelesen. Eines Sonntags bin ich dann zum Gottesdienst, hauptsächlich weil es ein paar Dinge gab, die ich nicht verstand, und ich den Geistlichen fragen wollte. Und er hat mir ein bisschen geholfen. So hat's angefangen. Es hat mein Leben verändert.« Rebus wusste nicht, was er sagen sollte. Er betrachtete sich selbst ebenfalls als Christen, als skeptischen Christen, ein bisschen wie Crawford vielleicht. Voller Fragen, die nach Antworten verlangten. Nein, das konnte nicht wahr sein. Das klang überhaupt nicht nach Crawford. Ganz und gar nicht. Crawford war eine Bestie; die Sorte änderte sich nie. Oder vielleicht doch? Folgte aus der Tatsache, dass er noch nie einem »verwandelten Menschen« begegnet war, dass es so etwas nicht gab? Der Queen und dem
Premierminister war er schließlich auch noch nie begegnet. Das Funktelefon in seiner Hand meldete sich mit einem Knistern zurück. »Rebus hier«, sagte er und hörte dann zu. Es stimmte alles. Man las ihm die entsprechenden Passagen aus Crawfords Akte vor. Mustergefangener. Bibelkurs. Zur vorzeitigen Entlassung empfohlen. Familiäre Tragödie. »Familiäre Tragödie?« Rebus sah Crawford an. »Ja, mein Sohn ist gestorben. Er war erst Mitte zwanzig.« Rebus hatte genug gehört und schaltete das Funkgerät wieder aus. »Es tut mir leid«, sagte er. Crawford zuckte lediglich die Achseln - Achseln, unter denen sich keine Schrotflinten verbargen - und schob die Hände in die Taschen - Taschen, in denen keine Pistolen steckten. Doch Rebus streckte ihm die Hand entgegen. »Frohes neues Jahr«, sagte er. 118 Crawford starrte auf die Hand, dann zog er seinerseits die Rechte aus der Tasche und schlug herzlich, mit festem Griff ein. »Frohes neues Jahr«, sagte Crawford. Dann warf er einen Blick zurück, die Gasse entlang. »Hören Sie, Inspector, wenn's Ihnen recht ist, würde ich jetzt gern wieder zum Tron gehen. Da gibt's noch jede Menge Hände, die ich noch nicht geschüttelt habe.« Rebus nickte. Jetzt begriff er. Für Crawford war dieses Neujahr etwas Besonderes, ein Neubeginn in mehr als nur einer Hinsicht. Nicht jedem wurde eine solche Chance geboten. »Aye«, sagte er. »Gehen Sie nur.« Crawford war schon drei Stufen hinaufgestiegen, als er wieder stehen blieb. »Apropos«, sagte er, »was haben Sie eigentlich auf dem Tron gemacht?« »Was sollte ich in der Neujahrsnacht da schon machen?«, erwiderte Rebus. »Gearbeitet hab ich. Ich war im Dienst.« »Kein Frieden den Gottlosen, was?«, sagte Crawford und setzte sich wieder in Bewegung, hinauf in Richtung High Street. Rebus sah Crawford nach, bis er im Dunkeln verschwunden war. Er wusste, dass er ihm eigentlich folgen sollte. Schließlich befand er sich noch immer im Dienst. Jetzt war er sicher, dass Crawford die Wahrheit gesagt, dass er nichts mit dem Drogendeal zu tun hatte. Dass sie sich getroffen hatten, war reiner Zufall gewesen, nichts weiter. Aber wer hätte ihm das schon abgenommen? Trigger Crawford ein »Mustergefangener«! Außerdem hörte man doch überall, dass es heutzutage keine Wunder mehr gab. Rebus stieg langsam hinauf. Auf der High Street schienen mehr Menschen als zuvor unterwegs zu sein. Seinen Höhepunkt würde der Trubel wohl so gegen halb eins erreichen, danach würden sich die Straßen schnell leeren. 118 Wenn der Deal tatsächlich noch stattfinden sollte, dann vorher. Er erkannte einen der Glasgower Detectives, der ihm entgegenkam. Als er Rebus erkannte, hob der Detective die Arme. »Wo haben Sie denn gesteckt? Wir dachten schon, Sie hätten sich nach Haus verdrückt!« »Es ist also nichts passiert?« Der Detective seufzte. »Nein, überhaupt nichts. Lyons wirkt ziemlich ungeduldig. Ich glaube, viel länger steht auch er sich nicht mehr die Beine in den Bauch.« »Ich dachte, Ihr Informant ist zuverlässig?« »In der Regel schon. Vielleicht wird das die Ausnahme.« Der Detective lächelte, offensichtlich an derlei Enttäuschungen gewöhnt. Rebus war schon vorher aufgefallen, dass der junge Mann abgekaute Nägel hatte und sogar die Haut ringsum abgezupft und wund war. Ein gestresster junger Mann. In ein paar Jahren würde er Übergewicht haben
und schon bald darauf ein Herzinfarktkandidat sein: H.I.K, sagte man dazu auf der Wache. Man war entweder fit oder hik. Rebus war eindeutig Letzteres. »Aber jetzt im Ernst, wo waren Sie?« »Ich hab zufällig einen alten Freund getroffen. Na ja, um genau zu sein, einen alten Gegner. Jackie Crawford.« »Jackie Crawford? Sie meinen, >Trigger< Crawford?« Der junge Detective blätterte sichtlich seine Erinnerungsakten durch. »Stimmt, ich hatte davon gehört, dass er draußen ist.« »Ach ja? Niemand hat es für nötig gehalten, mich zu informieren.« »Ja, ging irgendwie darum, dass sein Sohn gestorben ist. Überdosis. Danach war Crawford nicht mehr derselbe. Ist zu einem Bibelfreak geworden.« »Überdosis? Sie meinen, sein Sohn ist an Drogen gestorben?« 119 Der Detective nickte. »Heroin. Ist nicht allzu weit von meinem Revier passiert. Irgendwo in Partick.« »Crawfords Sohn wohnte also in Glasgow?« »Nein, er war nur zu Besuch da. Gewohnt hat er hier in Edinburgh.« Der Detective war nicht so langsam von Begriff wie manch anderer. Ihm war klar, woran Rebus dachte. »Herrgott, Sie meinen doch nicht etwa...?« Und dann rannten sie beide auch schon los, drängten sich durch die Menschenmenge, und der Detective aus Glasgow brüllte dabei in sein Funkgerät, aber seine Worte gingen in dem allgemeinen Lärm, dem Geschrei, Gejubel und Gesinge, hoffnungslos unter. Sie kamen immer langsamer voran. Es war so, als kämpfte man sich durch brusttiefes Wasser. Rebus taten die Beine weh, sie fühlten sich völlig kraftlos an, und Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Crawfords Sohn war durch Heroin gestorben, Heroin, das er höchstwahrscheinlich in Edinburgh gekauft hatte, und der Mann, der hinter den meisten Heroindeals in Edinburgh steckte, wartete irgendwo ein Stück weiter die Straße hinunter. Zufall? Er hatte nie so richtig an Zufälle geglaubt, nie so richtig. Sie waren bequeme Ausreden für den, der das Undenkbare mit einem Achselzucken abtun wollte. Was hatte Crawford noch mal gesagt? Etwas von wegen, er sei heute Nacht hergekommen, um seinen Frieden zu finden. Nun, es gab verschiedene Möglichkeiten, Frieden zu finden. »Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben.« Das stammte aus Exodus. Ein gefährliches Buch, die Bibel. Man konnte in sie alles hineinlesen, wonach einem gerade der Sinn stand. Die Frage war aber: Was hatte Jackie Crawford im Sinn? Rebus graute vor dem Gedanken daran. Weiter vorn schien etwas loszusein, die Menschenmenge bildete einen engen Halbkreis um eine Ladenfront. 119 »Polizei!«, rief er. »Lassen Sie mich bitte durch.« Widerwillig teilte sich die Masse, gerade so weit, dass er sich durch quetschen konnte. Schließlich stand er vor dem Geschäft und starrte hinunter auf den zusammengesackten Körper von Alan Lyons. Eine lange Blutspur lief das Schaufenster hinunter, bis da hin, wo er lag. Auf seiner Brust war ein dunkelroter Fleck zu sehen. Einer der Glasgower Beamten versuchte erfolglos, die Blutung mit seinem eigenen zusammengerollten, schon völlig durchweichten Mantel zu stillen. Weitere Officer hielten die Menge zurück. Rebus bekam Fetzen von dem mit, was sie sagten. »Sah so aus, als wollte er ihm die Hand geben.« »Sah so aus, als würde er ihn umarmen.« »Dann das Messer...« »Hat ein Messer gezogen.«
»Hat zweimal zugestochen, bevor wir etwas machen konnten.« »Da war nichts zu machen.« Eine Sirene heulte und kam langsam näher. An Hogmanay waren in der Umgebung des Tron immer Rettungswagen postiert. Neben Lyons lag, noch immer fest in seiner Hand, die Tasche mit dem Drogengeld. »Wird er durchkommen?«, fragte Rebus, an niemand Besonderen gewandt, was auch egal war, da ihm niemand antwortete. Er dachte einen Monat zurück, erinnerte sich an einen anderen Dealer, ein anderes Messer... Dann erblickte er Crawford. Er wurde am Rand der Menge von zwei weiteren Zivilbeamten festgehalten. Der eine hielt ihm die Arme hinter dem Rücken fest, während der andere ihn nach Waffen durchsuchte. Auf dem Bürgersteig, zwischen der Stelle, an der Crawford stand, und derjenigen, an der Alan Lyons am Sterben oder schon tot war, lag ein ziemlich unscheinbares Messer, klein genug, um in einer Socke oder im Hosenbund versteckt zu werden, aber groß genug, 120 um zu töten. Zwei, drei Zentimeter Klinge reichten vollauf. Der andere Detective stand jetzt neben Rebus. »O Scheiße«, sagte er. Aber Rebus starrte Crawford an, und Crawford starrte zurück, und in dem Moment verstanden sie sich vollkommen. »Ich glaube nicht, dass die Person mit der Ware noch auftaucht. Wenn sie überhaupt vorhatte, hier aufzukreuzen.« »Das glaube ich schon«, erwiderte Rebus und wandte den Blick von Crawford ab. »Fragen Sie sich doch selbst: Woher wusste Crawford, dass Lyons heute Nacht auf der High Street sein würde?« Der Detective gab keine Antwort. Hinter ihnen drängten die Leute nach vorn, begierig, das Opfer zu sehen, und gaben dann Ekelgeräusche von sich, bevor sie eine weitere Dose Lager oder eine kleine Flasche Wodka öffneten. Der Rettungswagen war noch immer gute fünfzig Meter entfernt. Rebus nickte in Crawfords Richtung. »Der weiß, wo das Zeug ist, aber er hat es wahrscheinlich irgendwo entsorgt. Wo es niemand jemals finden wird. Es war nur ein Köder, nichts anderes. Nur ein Köder.« Und der Köder hatte Wirkung. Haken, Schnur und Senker: Lyons hatte alles geschluckt, während Rebus, auch nicht viel gescheiter, etwas anderes geschluckt hatte. Er spürte es noch in seinem Rachen, wie ein Geschwür, wie etwas, das er niemals würde loswerden können. Er warf einen Blick auf den am Boden liegenden Körper und lächelte unwillkürlich. Ihm war eine Schlagzeile eingefallen, eine, die nie gedruckt werden würde. LYONS DEM CHRISTEN VORGEWORFEN. Irgendwo hinter ihm übergab sich jemand geräuschvoll. Eine Flasche zerschellte an einer Hauswand. Die lautesten Stimmen in der Menge klangen allmählich gereizt und scharf. In einer knappen Viertelstunde würden sie aufhören, »lustige Zecher« zu sein, und sich in schlichte Krawall120 macher verwandeln. Aus einer der dunklen Gassen ertönte das Kreischen einer Frau. Auf Jackie Crawfords Gesicht lag ein Ausdruck ruhigen, rechtschaffenen Triumphs. Er leistete keinerlei Widerstand. Er hatte gewusst, dass sie Lyons beobachteten, hatte gewusst, dass er vielleicht Lyons töten konnte, aber niemals damit davonkommen würde. Und dennoch hatte er zugestochen. Was sonst hätte er mit seiner Freiheit anfangen sollen? Die Nacht war jung und ebenso das Jahr. Rebus streckte dem Detective die Hand entgegen. »Frohes neues Jahr«, sagte er. »Und noch viele von der Sorte.« Der junge Mann starrte ihn ausdruckslos an. »Bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie könnten uns das hier in die Schuhe schieben«, sagte er. »Das war Ihre Schuld. Sie haben Crawford laufen lassen. Edinburgh hat das versiebt, nicht wir.«
Rebus zuckte die Achseln und ließ die Hand heruntersinken. Dann marschierte er los, den Bürgersteig entlang, fort vom Schauplatz des Verbrechens. Der Rettungswagen fuhr an ihm vorbei. Jemand gab ihm einen Klaps auf die Schulter und reichte ihm die Hand. Von weitem sah der junge Detective, wie er zurückwich. »Zur Hölle«, sagte Rebus leise, ohne selbst genau zu wissen, wem diese Aufforderung galt.
Der Gentlemen's Club Es war der eleganteste von allen eleganten Edinburgher Rundplätzen, ein perfekt konzipierter und ausgeführter Kreis von Häusern, an denen sich bislang noch keiner von den Bauunternehmern vergriffen hatte, die sie eines Tages aber renovieren und umbauen und in jeweils ein Dutzend Mini-Apartments aufteilen würden. Ein perfekter Kreis, der eine private Gartenanlage umfasste, die trotz der Januarkälte ein Meer von Farben aufwies: Violett, Rosa, Rot, Grün und Orange. Dabei aber geschmackvoll. Keine Blume durfte zu lebhaft, zu grell, zu aufdringlich sein. Das Tor zurrt Garten war natürlich abgeschlossen. Die Inhaber des dafür notwendigen Schlüssels zahlten jährlich eine saftige Summe für dieses Privileg. Alle Übrigen durften gucken, durften, so wie er es jetzt tat, durch das Gitter spähen, aber hinein durften sie nicht. Das war Edinburgh, wie es leibte und lebte: ein geschlossener Kreis innerhalb eines geschlossenen Kreises. Er stand da und genoss die zarten Düfte, die jetzt, nachdem das Schneegestöber aufgehört hatte, in der Luft hingen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Häuser, imposante drei- oder vierstöckige Bekundungen architektonischen Selbstvertrauens. Zuletzt blieb sein Blick an einem bestimmten Haus hängen, dem Haus, vor dem der weiße Polizei-Sierra parkte. Der Tag war eigentlich zu schön, als dass man ihn so hätte verderben dürfen, aber Dienst war 121 nun mal Dienst. Mit einem abschließenden tiefen Atemzug wandte er sich von der Umzäunung ab und ging auf das Haus mit der Nummer 16 zu - das mit den zugezogenen schweren Vorhängen, aber der nur angelehnten Eingangstür. Im Haus musste John Rebus, nachdem er sich ausgewiesen hatte, drei breite Treppen zur »Kinderetage«, wie seine Führerin sie bezeichnete, hinaufsteigen. Die Frau war schlank, mittleren Alters und von Kopf bis Fuß in Grau gewandet. Im Haus herrschte Stille, und nur ein paar Sonnenstrahlen drangen in sein Halbdunkel. Die Frau ging schnell und fast lautlos, während Rebus sich keuchend am Geländer emporzog. Nicht dass er nicht fit gewesen wäre - aber irgendwie schien jeglicher Sauerstoff aus dem Haus gewichen zu sein. Endlich im dritten Stock angelangt, lief die Frau an drei fest verschlossenen Türen vorbei, bevor sie vor einer vierten stehen blieb. Diese stand offen, und durch die Türöffnung sah Rebus die blitzblanken Kacheln eines großen Badezimmers und die insektenartigen Gestalten von Detective Constable Brian Holmes und dem Polizeipathologen -nicht dem makabren Dr. Curt, sondern dem, den alle, aber nur hinter seinem Rücken, immer nur hinter seinem Rücken, Dr. Crippen nannten. Rebus drehte sich nach seiner Führ er in um. »Danke, Mrs. McKenzie.« Aber sie hatte sich schon abgewandt und eilte zur Treppe. Immerhin war es sehr tapfer von ihr gewesen, ihn den ganzen Weg hinaufzubegleiten. Und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als einzutreten. »Hallo, Doktor.« »Inspector Rebus, guten Morgen. Kein hübscher Anblick, was?« Rebus zwang sich hinzuschauen. Die Wanne enthielt 121
nicht viel Wasser, und das Wenige, das sie enthielt, war vom Blut des Mädchens rubinrot gefärbt. Das Mädchen war unbekleidet und so weiß wie eine Statue. Sie war sehr jung gewesen, sechzehn oder siebzehn, ihr Körper noch nicht ganz entwickelt. Ihre Arme lagen friedlich neben ihr im Wasser, die Handgelenke nach oben gedreht, so dass die sauberen Einschnitte zu erkennen waren. Holmes hielt Rebus mit einer Pinzette eine Rasierklinge hin, damit er sie in Augenschein nahm. Rebus zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. »Was für eine Vergeudung«, sagte er. Er hatte selbst eine Tochter, die nicht viel älter als dieses Mädchen war. Als seine Frau ihn verließ, hatte sie ihre gemeinsame Tochter mitgenommen. Inzwischen Jahre her. Er hatte sie aus den Augen verloren, wie das manchmal mit Familienangehörigen so passiert, während man mit Freunden in Kontakt bleibt. Er ging im Bad auf und ab, prägte sich die Szene ein. Die Luft schien zu leuchten, aber das Leuchten verblasste bereits. »Ja«, sagte Holmes. »Es ist eine Schande.« »Selbstmord natürlich«, bemerkte Rebus nach einer Pause. Der Pathologe nickte, aber ohne etwas zu sagen. Normalerweise waren sie in Anwesenheit einer Leiche nicht so befangen. Jeder von ihnen war davon überzeugt, schon das Schlimmste, das Brutalste, das Gefühlloseste erlebt zu haben. Ein jeder hatte Anekdoten auf Lager, bei denen Uneingeweihten das kalte Grausen kam. Aber das hier, das hier war anders. Hier war etwas ruhig, mit Vorbedacht und auf grausame Weise aus dem Leben gerissen worden. »Die Frage ist bloß«, sagte Rebus, um die Leere zu füllen, »warum?« Ja, warum? Da stand er in einem Bad, größer als sein Wohnzimmer, umgeben von Pudern und Parfüms, flau 122 schigen Handtüchern, Seifen und Schwämmen. Und dann dieser grausige, unnötige Tod. Es musste einen Grund dafür geben. Dummes, hirnloses Kind. Was sollte das? Stummer Zorn verwandelte sich in Frustration, und er torkelte fast, als er das Zimmer verließ. Es musste einen Grund geben. Und jetzt war er genau in der richtigen Stimmung, um ihn herauszufinden. »Ich habe es Ihnen doch schon gesagt«, erklärte Thomas McKenzie gereizt, »sie war das glücklichste Mädchen der Christenheit. Nein, wir haben sie nicht verzogen, und nein, wir haben ihr nie verboten, sich mit wem auch immer zu treffen. Es gibt nicht den allergeringsten Grund, Inspector, warum Suzanne das hätte tun sollen. Es ergibt einfach keinen Sinn.« McKenzie brach wieder zusammen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Rebus verabscheute sich dafür, aber er musste seine Fragen einfach stellen. »Hatte sie einen Freund, Mr. McKenzie?« McKenzie stand von seinem Sessel auf, ging zur Anrichte und goss sich einen weiteren Whisky ein. Er machte eine fragende Geste in Richtung Rebus, der aber noch immer zwei Fingerbreit des Getränks im Kristallglas hatte und den Kopf schüttelte. Mrs. McKenzie war oben und schlief. Ihr Arzt, ein alter Freund der Familie, der so ausgesehen hatte, als könnte er selbst ein Beruhigungsmittel gebrauchen, hatte ihr ein Sedativum gegeben. Thomas McKenzie hatte aber nichts benötigt. Er hielt sich an die alten Hausmittel und ließ eine weitere Dosis Malt in sein Glas gluckern. »Nein«, sagte er, »keine Jungenbekanntschaften dieser Art. Die waren eigentlich nie Suzannes Stil gewesen.« Obwohl er heute nicht ins Büro fahren würde, hatte McKenzie einen dunkelblauen Anzug und Schlips ange 122
zogen. Das Wohnzimmer, in dem er und Rebus saßen, sah ganz und gar nicht heimelig oder bewohnt aus, sondern wirkte eher wie ein Firmenbüro. Rebus konnte sich nicht vorstellen, wie es sein mochte, in einem solchen Haus aufzuwachsen. »Was ist mit der Schule?« »Was meinen Sie damit?« »Ich meine, ging sie gern hin?« »Sehr.« McKenzie ließ sich mit seinem Drink nieder. »Sie hat gute Noten, gute Zeugnisse. Sie... sie hätte im Oktober angefangen zu studieren.« Rebus beobachtete ihn dabei, wie er einen großen Schluck Whisky nahm. Thomas McKenzie war ein harter Mann, hart genug, um seine Million schon in jungen Jahren zu verdienen, und dann klug genug, sie nicht wieder zu verlieren. Er war jetzt vierundvierzig, wirkte aber jünger. Rebus hatte keine Ahnung, wie viele Geschäfte McKenzie inzwischen besaß, wie viele Firmen er leitete und wie viele Aktien und Unternehmensbeteiligungen er außerdem noch in seinem Portefeuille hatte. Er war ein Neureicher, der nach altem Geld auszusehen versuchte und sich zu dem Zweck in Stockbridge niedergelassen hatte, nicht weit von der Princes Street, statt irgendwo weiter draußen in Bungalowland. »Was wollte sie studieren?« Rebus starrte an McKenzie vorbei auf ein Familienfoto, das auf einem langen, polierten Sideboard stand. Kein Schnappschuss, sondern gestellt, von einem professionellen Fotografen inszeniert. Tochter, strahlend in der Mitte, von grinsenden Eltern flankiert. Im Hintergrund ein total realistischer Wolkenhimmel, die Wolken perlmuttfarben, der Himmel blau. »Jura«, sagte McKenzie. »Sie hatte Köpfchen.« Ja, ein Köpfchen mit mausbraunem Haar. Und ihr Vater hatte sie am Morgen gefunden, schon kalt. McKenzie hatte 123 nicht den Kopf verloren, sondern alle erforderlichen Anrufe erledigt, bevor er seine Frau weckte und informierte. Er stand immer als Erster auf, ging immer direkt ins Badezimmer. Er war ruhig geblieben, wahrscheinlich infolge des Schocks. Aber Rebus bemerkte an ihm auch eine gewisse Starrheit. Er fragte sich, was wohl nötig gewesen wäre, um den Mann aufzurütteln. Irgendetwas machte ihm zu schaffen. Suzanne war ins Bad gegangen, hatte etwas Wasser in die Wanne laufen lassen, sich hineingelegt und die Pulsadern aufgeschnitten. Schön, das konnte Rebus nachvollziehen. Vielleicht hatte sie erwartet, rechtzeitig gefunden und gerettet zu werden. Die meisten Selbstmordversuche waren schließlich Hilferufe. Wenn man sich wirklich umbringen wollte, dann suchte man sich dafür doch wohl einen ruhigen, abgelegenen Ort aus, wo man unmöglich rechtzeitig gefunden werden konnte. Suzanne hatte das nicht getan und aller Wahrscheinlichkeit nach damit gerechnet, dass ihr Vater sie rechtzeitig finden würde. Sie hatte sich bloß mit der Zeit verschätzt. Außerdem musste sie gewusst haben, dass ihr Vater immer vor ihrer Mutter aufstand und sie deswegen als Erster entdecken würde. Rebus fand diese Überlegung interessant, auch wenn keiner sonst einen Gedanken daran zu verschwenden schien. »Wie steht es mit Freundinnen in der Schule?«, fuhr Rebus fort. »Hatte Suzanne viele?« »O ja, jede Menge.« »Irgendwelche besonderen?« McKenzie wollte gerade antworten, als die Tür aufging und seine Frau, noch bleich von ihrem Medikamentenschlaf, ins Zimmer trat. »Wie spät ist es?«, fragte sie, näher kommend. »Es ist elf, Shona«, antwortete ihr Mann, der ihretwegen 123
aufgestanden war. »Du hast nur eine halbe Stunde geschlafen.« Sie umarmten sich, und sie drückte ihn fest an sich. Rebus fühlte sich wie ein Eindringling, wie ein unbefugter Zeuge ihrer Trauer, aber trotzdem musste er seine Fragen stellen. »Sie wollten mir gerade von Suzannes Freundinnen erzählen, Mr. McKenzie.« Mann und Frau setzten sich, Hand in Hand, nebeneinander auf das Sofa. »Tja«, erklärte McKenzie, »davon gab es viele, nicht, Shona?« »Ja«, sagte seine Frau. Sie war eine wirklich attraktive Frau. Ihr Gesicht hatte den gleichen matten Schimmer wie das ihrer Tochter. Sie war der Typ Frau, der bei Männern sofort den Beschützerinstinkt weckte, mochte Schutz nun nötig sein oder nicht. »Aber am liebsten mochte ich immer Hazel«, fuhr sie fort. McKenzie wandte sich zu Rebus und erklärte: »Hazel Frazer, Tochter von Sir Jimmy Frazer, dem Banker. Ein tolles Mädchen. Wirklich toll.« Er verstummte, die Augen starr auf seine Frau gerichtet, und begann dann, leise zu weinen. Sie zog seinen Kopf an ihre Schulter, streichelte ihm übers Haar und sprach sanft auf ihn ein. Rebus wandte die Augen ab und leerte seinen Whisky. Biss sich dann, tief in Gedanken, auf die Unterlippe. Wer war bei einem Selbstmord eigentlich das Opfer, wer der Täter? Suzannes Zimmer wirkte kalt und ungemütlich. Keine Poster an den Wänden, kein herumliegender Jungmädchenkram, nichts, was auf einen eigenen Geschmack hingedeutet hätte. Auf der Frisierkommode lag ein Notizblock, aber es war nichts darauf geschrieben. In einem ansonsten leeren Papierkorb neben dem Kleiderschrank lag ein zusammengeknülltes Blatt Papier. Rebus faltete es sorgfäl 124 tig auseinander. Darauf stand, in einer ziemlich ruhigen Handschrift: »Ich hatte dich gewarnt.« Rebus las den Satz mehrmals. Wen gewarnt? Ihre Eltern schienen keine Ahnung davon gehabt zu haben, dass sie selbstmordgefährdet war, aber für irgendjemanden war die Botschaft ja bestimmt gewesen. Und warum hatte sie sie erst geschrieben und anschließend weggeworfen? Er drehte das Blatt um. Auf der Rückseite stand zwar nichts, aber sie fühlte sich leicht klebrig an. Rebus hielt sich das Papier an die Nase, roch aber nichts. Er faltete das Blatt sorgfältig zusammen und steckte es ein. In der obersten Schublade der Kommode fand Rebus ein in Leder gebundenes Tagebuch. Aber Suzanne war keine Tagebuchschreiberin gewesen. Anstelle der erwarteten jungmädchenhaften Ergüsse fand Rebus lediglich knappe Einträge, wie in einem Terminkalender, an jedem Dienstag des letzten halben Jahres: »16.00 - Gentlemen's Club.« Äußerst merkwürdig. Der letzte Eintrag betraf vergangenen Dienstag; danach kamen nur noch leere Seiten. Der Gentlemen's Club - was in aller Welt konnte sie damit gemeint haben? Rebus wusste von mehreren Klubs in Edinburgh, tristen Relikten einer anderen Epoche, aber keiner von ihnen hieß einfach nur »Gentlemen's Club«. Das Tagebuch verschwand, wie der Abschiedsbrief, in seiner Tasche. Thomas McKenzie begleitete ihn zur Tür. Der Schlips hing ihm jetzt lose um den Hals, und seine Stimme roch intensiv nach Whisky. »Nur noch zwei letzte Fragen, bevor ich gehe«, sagte Rebus. »Ja?«, fragte McKenzie seufzend. »Sind Sie Mitglied eines Klubs?« McKenzie wirkte überrascht, zuckte aber die Schultern. »Von mehreren, um genau zu sein. Dem Strathspey 124 Health Club. Dem Förth Golf Club. Und dem ehemaligen Finlay's.« »Finlay's Gentlemen's Club?« »Ja, genau. Aber jetzt heißt er Thomson's.«
Rebus nickte. »Letzte Frage«, sagte er. »Was machte Suzanne immer dienstags um vier?« »Nichts Besonderes. Ich glaube, sie hatte eine Theater-AG in der Schule.« »Danke, Mr. McKenzie. Tut mir leid, dass ich Sie belästigen musste. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen, Inspector.« Rebus stand auf der obersten Treppenstufe und füllte seine Lungen mit frischer Luft. Zu viel des Guten konnte beklemmend wirken. Er fragte sich, ob Suzanne McKenzie sich eingeengt, beklommen gefühlt hatte. Er wusste nach wie vor nicht, warum sie gestorben war. Und warum hatte sie sich, da sie doch wusste, dass ihr Vater sie finden würde, nackt in die Wanne gelegt? Rebus hatte schon etliche Selbstmörder gesehen - jede Menge davon -, aber egal, ob sie sich das Bad oder das Schlafzimmer zum Sterben ausgesucht hatten, sie waren immer angezogen gewesen. »Nackt bin ich gekommen«, dachte er, als er sich an die Stelle im Buch Hiob erinnerte, »nackt werde ich wieder da-hinfahren.« Auf dem Weg zur Hawthornden School for Girls bekam Rebus einen Anruf von Detective Constable Holmes, der inzwischen zur Wache zurückgefahren war. »Reden Sie«, sagte Rebus. Das Funkgerät knisterte. Der Himmel hatte die Farbe eines verblassenden Blutergusses, und die atmosphärischen Störungen beeinträchtigten den Empfang. »Ich hab gerade McKenzies Namen durch den Compu 125 ter laufen lassen«, sagte Holmes, »und etwas gefunden, das Sie interessieren könnte.« Rebus lächelte. Holmes war so gründlich wie ein Drogenspürhund. »Und?«, sagte er. »Erzählen Sie's mir, oder muss ich warten, bis es als Taschenbuch erscheint?« Es trat eine Pause ein, bevor Holmes anfing zu sprechen, und Rebus erinnerte sich, wie empfindlich der jüngere Mann gelegentlich auf Kritik reagierte. »Offenbar«, sagte Holmes endlich, »wurde McKenzie vor mehreren Monaten vor einer Schule festgenommen, weil er sich dort ohne erkennbaren Grund auffällig lang aufgehalten hatte.« »Aha? Welche Schule war das?« »Gesamtschule Murrayfield. Anklage wurde nicht erhoben, aber es ist aktenkundig, dass man ihn zur Wache Murrayfield gebracht und befragt hat.« »Das ist allerdings interessant. Wir reden später weiter.« Rebus beendete das Gespräch. Es hatte angefangen zu regnen. Er schaltete das Funkgerät wieder ein und ließ sich mit der Polizeiwache Murrayfield verbinden. Er hatte Glück. Ein dortiger Kollege erinnerte sich noch an den Zwischenfall. »Wir haben die Sache natürlich nicht an die große Glocke gehängt«, erklärte der Inspector. »Und McKenzie beteuerte, er habe da nur angehalten, um bei sich in der Firma anzurufen. Aber die Lehrer schworen Stein und Bein, er habe schon mal da geparkt, während der Mittagspause. Das ist schließlich nicht die vornehmste Gegend der Stadt. Ein Daimler sticht da schon ins Auge, besonders, wenn keine Braut im Fond sitzt.« »Schon klar«, sagte Rebus lächelnd. »Sonst noch was?« »Ja, eins von den Kids hat einem Lehrer erzählt, es habe gesehen, wie jemand einmal in McKenzies Daimler eingestiegen ist, aber das ließ sich nicht verifizieren.« »Blühende Phantasie, diese Kids«, pflichtete Rebus ihm 125 bei. Das war alles, was sein Kollege ihm sagen konnte, aber es reichte doch, um die Situation zu verkomplizieren. Hatte Suzanne das Geheimnis ihres Vaters entdeckt und sich aus Scham darüber das Leben genommen? Oder hatten vielleicht ihre Klassenkameradinnen davon erfahren und sie damit aufgezogen? Wenn McKenzie auf kleine Mädchen stand, konnte die ganze Sache sogar einen Hautgout des Inzests haben.
Das hätte Suzannes Nacktheit zumindest zum Teil erklärt: Sie stellte nichts zur Schau, was ihr Vater nicht schon gesehen hätte. Aber was war mit dem Gentlemen's Club? Wie passte der hinein? In der Hawthornden-Schule, hoffte Rebus, würde er vielleicht ein paar Antworten finden. Es war die Sorte Schule, in die Väter ihre Töchter schickten, damit sie die Kunst der Weiblichkeit und der Skrupellosigkeit erlernten. Die Rektorin, eine Person, die zumindest ebenso einschüchternd wirkte wie das Schulgebäude selbst, bewirtete Rebus mit Tee und Gebäck, bevor sie ihn zu Suzannes Klassenlehrerin führte, einer gewissen Miss Selkirk, die ihn in ihrem kleinen Privatzimmer bereits mit weiterem Tee erwartete. Ja, erzählte sie ihm, Suzanne sei sehr beliebt gewesen, und die Nachricht von ihrem Tod habe alle erschüttert. Sie war meist mit Hazel Frazer zusammen gewesen, der Tochter des Bankiers. Ein sehr lebhaftes Mädchen, Hazel, diesjährige Schulbeste, aber sie hatte Suzanne nur relativ knapp geschlagen. Zwei ständige Konkurrentinnen, die beiden, in Mathe, Englisch, Fremdsprachen praktisch identische Noten. Suzanne die Bessere in Naturwissenschaften, Hazel die Bessere in Wirtschaft und Buchhaltung. Prächtige Mädels, die beiden. Rebus biss in sein viertes oder fünftes Gebäck und nickte wieder. Diese Frauen waren alle so ehrfurchtgebietend, dass er sich allmählich selbst wie ein Schuljunge fühlte. Er saß 126 mit sittsam zusammengepressten Knien da, lächelte und stellte seine Fragen in einem fast entschuldigenden Ton. »Ich nehme nicht an«, sagte er, »dass der Name Gentlemen's Club< Ihnen etwas sagt...?« Miss Selkirk dachte angestrengt nach. »Ist es«, fragte sie zuletzt, »der Name einer Diskothek?« Rebus lächelte. »Ich glaube nicht. Warum fragen Sie?« »Tja, es ist nur, dass ich mich schon zu erinnern glaube, das von einem der Mädchen erst vor kurzer Zeit gehört zu haben, aber nur beiläufig.« Rebus machte ein enttäuschtes Gesicht. »Es tut mir leid, Inspector.« Sie tippte sich an die Stirn. »Dieser alte Kopf ist auch nicht mehr das, was er einmal war.« »Gar kein Problem«, sagte Rebus beschwichtigend. »Nur noch eins - wissen Sie zufällig, wer die Theatergruppe der Schule leitet?« »Ah«, sagte Miss Selkirk, »das ist die junge Miss Phillips, die Englischlehrerin.« Miss Phillips, die darauf bestand, dass Rebus sie Jilly nannte, war nicht nur jung, sondern auch äußerst attraktiv. Langes rotbraunes Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern und den Rücken hinab. Ihre Augen waren dunkel und feucht von unlängst vergossenen Tränen. Rebus war befangener denn je. »Soweit ich weiß«, sagte er, »leiten Sie die Theatergruppe.« »Das stimmt.« Ihre Stimme war so brüchig wie Porzellan. »Und Suzanne war in der Gruppe?« »Ja. Sie sollte in unserer Inszenierung von Wie es euch gefällt die Celia spielen.« »Ach ja?« »Das ist von Shakespeare, wissen Sie.« 126 »Ja«, sagte Rebus, »das weiß ich allerdings.« Sie unterhielten sich auf dem Korridor, direkt vor Miss Phillips' Klassenzimmer, und durch die Türverglasung sah Rebus eine Klasse von ziemlich gut entwickelten Mädchen aus besseren Familien, die miteinander tuschelten und kicherten. Was komisch war, wenn man bedachte, dass sie gerade eine Klassenkameradin verloren hatten. »Celia«, sagte er, »ist doch Herzog Friedrichs Tochter, oder?« »Ich bin beeindruckt, Inspector.«
»Das ist nicht mein Lieblingsshakespearestück«, erklärte Rebus, »aber ich erinnere mich, dass ich es vor ein paar Jahren auf dem Festival gesehen habe. Celia hat eine Freundin, nicht?« »Das stimmt, Rosalinde.« »Und wer sollte die Rosalinde spielen?« »Hazel Frazer.« Hier nickte Rebus. Das passte. »Ist Hazel im Augenblick in Ihrer Klasse?« »Ja, sie ist das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren. Sehen Sie sie?« O ja, und ob Rebus sie sah. Sie saß, gelassen und gleichmütig im Mittelpunkt eines wogenden Meeres von Bewundererinnen. Um sie herum kicherten und tuschelten die übrigen Mädchen miteinander in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erregen oder ein Wort der Anerkennung zu ernten, während sie nichts von alledem mitzubekommen schien. »Ja«, sagte er, »ich sehe sie.« »Möchten Sie mit ihr sprechen, Inspector?« Er wusste, dass Hazel sich seiner Anwesenheit bewusst war, obwohl sie geradezu demonstrativ nicht zur Tür schaute. Ja, er wusste es, gerade weil sie nicht hinsah, während die übrigen Mädchen immer wieder kurze Blicke nach 127 draußen warfen, neugierig, was die Ursache dieser Unterrichtsunterbrechung sein mochte. Interessiert und neugierig. Hazel tat so, als wäre sie keins von beidem, was wiederum Rebus interessant fand. »Nein«, sagte er zu Jilly Phillips, »nicht jetzt. Sie ist wahrscheinlich noch ganz durcheinander, und es hätte kaum einen Sinn, wenn ich ihr unter diesen Umständen Fragen stellen würde. Da wäre allerdings noch etwas.« »Ja, Inspector?« »Diese Theatergruppe, die Sie leiten - die, die sich immer am Dienstag nach dem Unterricht trifft -, die hat nicht zufällig einen Spitznamen?« »Nicht dass ich wüsste.« Jilly Phillips runzelte die Stirn. »Aber, Inspector?« »Ja?« »Sie scheinen irgendwie falsch informiert zu sein. Die Theatergruppe trifft sich freitags, nicht dienstags. Und zwar vormittags.« Rebus verließ das Schulgelände und parkte am Rand der belebten Hauptverkehrsstraße. Die Theatergruppe traf sich während der Unterrichtszeit, was hatte Suzanne also immer dienstags nach Schulschluss gemacht, während ihre Eltern glaubten, sie sei hier? Zumindest hatte McKenzie behauptet, er glaube, das sei es, was sie dienstagnachmit-tags immer gemacht habe. Aber angenommen, er hatte gelogen? Was dann? Ein rotbrauner Bus donnerte an Rebus' Wagen vorbei. Ein 135er, unterwegs zur Princes Street. Rebus ließ den Motor an, und während er dem Bus von Haltestelle zu Haltestelle folgte, dachte er über Suzannes Selbstmord nach. Bis ihm plötzlich mit blendender Klarheit die Wahrheit aufging. Er biss sich heftig auf die Unterlippe und fragte sich, was in aller Welt er tun könne - oder solle. 127 Nun, je länger er darüber nachdachte, desto schwieriger würde es werden, überhaupt etwas zu tun. Also rief er Holmes an und bat ihn um einen großen Gefallen, bevor er zu Sir Jimmy Frazer fuhr. Frazer gehörte nicht nur zum Edinburgher Establishment - in vielerlei Hinsicht war er dieses Establishment. In der Stadt geboren und aufgewachsen, hatte er sich auf dem Weg nach oben Respekt, Zuneigung und Ehrfurcht -sauer und redlich - verdient. Das von einer Mauer umgebene viktorianische Haus, in dem er mit seiner Familie wohnte, war Teil
dieser Erfolgsgeschichte. Es hatte kurz davor gestanden, von einer Firma, einer englischen Firma, gekauft und abgerissen zu werden, um Platz für einen neuen Wohnblock zu machen. Man hatte öffentlich gegen diesen geplanten Akt des Vandalismus protestiert, und da war Sir Jimmy Frazer in die Bresche gesprungen, hatte das Haus gekauft und war eingezogen. Das lag schon Jahre zurück, aber es war eine Heldengeschichte, die sich stolze Schotten nach wie vor in so ziemlich jedem Pub der Stadt erzählten. Rebus betrachtete das Haus, während er durch das offene Tor fuhr. Es war ein hässliches pseudogotisches Phantasieprodukt, Pseudotürmchen und Zinnen, hart, kalt und nicht im mindesten einladend. Eine Hausangestellte öffnete die Tür. Rebus stellte sich vor und wurde in ein großes Wohnzimmer geführt, in dem Sir Jimmys Ehefrau, groß und dunkelhaarig wie ihre Tochter, ihn erwartete. »Tut mir leid, Sie zu belästigen, Lady -« Rebus wurde von einer herrischen Hand, aber einem offenen Lächeln unterbrochen. »Einfach Deborah, bitte.« Und sie forderte Rebus mit einer Geste auf, sich zu setzen. »Danke«, sagte er. »Es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber -« 128 »Ja, Ihr Anruf hat mich überrascht, Inspector. Natürlich tue ich, was ich kann. Es ist eine Tragödie, arme Suzanne.« »Sie kannten sie also?« »Natürlich. Wie hätten wir sie nicht kennen können? Sie war schließlich praktisch jeden Dienstag hier.« »Ach?« Rebus hatte das zwar vermutet, wollte aber unbedingt mehr erfahren. »Nach der Schule«, fuhr Lady Deborah fort. »Hazel und Suzanne und ein paar andere Freundinnen kamen regelmäßig hierher. Es wurde nie besonders spät.« »Aber was genau haben sie gemacht?« Sie lachte. »Ich habe keine Ahnung. Was machen Mädchen in dem Alter? Sich Platten anhören? Über Jungs reden? Versuchen, das Erwachsenwerden möglichst lang hinauszuschieben?« Sie lächelte ironisch, vielleicht weil sie an ihre eigene Jugend zurückdachte. Rebus sah unauffällig auf seine Armbanduhr. Fünf vor vier. Er hatte noch ein paar Minuten Zeit. »Hielten sie sich dabei ausschließlich im Zimmer Ihrer Tochter auf?«, fragte er. »Mehr oder weniger. Nicht in ihrem Schlafzimmer natürlich. Oben gibt's ein altes Spielzimmer. Hazel benutzt es als eine Art sturmfreie Bude.« Rebus nickte. »Dürfte ich es sehen?« Lady Deborah schaute ihn verdutzt an. »Ich denke schon, auch wenn ich nicht verstehe -« »Es würde mir helfen«, unterbrach sie Rebus, »mir eine genauere Vorstellung von Suzanne zu machen. Ich versuche herauszufinden, was für eine Art Mädchen sie war.« »Natürlich«, sagte Lady Deborah, obwohl sie nicht überzeugt klang. Rebus wurde in ein kleines, vollgestelltes Zimmer am Ende eines langen Korridors geführt. Die Vorhänge waren zugezogen. Lady Deborah schaltete das Licht ein. 128 »Hazel duldet es nicht, dass das Mädchen hier aufräumt«, erklärte Lady Deborah, um die Unordnung zu entschuldigen. »Geheimnisse, wie ich vermute«, flüsterte sie. Rebus hatte da gar keine Zweifel. Es gab zwei kleine Sofas, Stapel von Pop- und Jugendzeitschriften überall auf dem Boden, einen Aschenbecher voller Kippen (den Lady Deborah geflissentlich zu übersehen beliebte), eine Stereoanlage an der einen und einen Schreibtisch an der anderen Wand, auf dem ein vor sich hin summender PC stand. »Sie vergisst immer, das Ding auszuschalten«, erklärte Lady Deborah. Rebus hörte, dass im Parterre das Telefon klingelte. Das Hausmädchen nahm ab und rief dann nach Lady Deborah.
»Ach je. Bitte entschuldigen Sie, Inspector.« Rebus lächelte und verbeugte sich leicht, als sie das Zimmer verließ. Das musste Holmes sein, der wie vereinbart anrief. Rebus hatte ihm eingeschärft, sich für wen auch immer auszugeben, was auch immer zu sagen, Hauptsache, er hielt Lady Deborah fünf Minuten lang am Telefon fest. Holmes hatte vorgeschlagen, sich für einen Journalisten auszugeben, der ein bisschen O-Ton für einen Artikel in einer Illustrierten brauchte. Ja, Lady Deborah war eitel genug, um einem Reporter wenigstens fünf Minuten ihrer Zeit zu widmen, vielleicht sogar mehr. Trotzdem musste Rebus sich beeilen. Er hatte damit gerechnet, das ganze Zimmer durchsuchen zu müssen, und der Computer schien allemal der beste Ausgangspunkt dafür zu sein. Neben dem Monitor stand eine Plastikbox mit Disketten. Er ging sie rasch durch, bis er eine mit der Aufschrift GC DISK fand. Das musste sie sein. Er schob die Diskette in das Laufwerk und rief das Wurzelverzeichnis auf. Er hatte die Tätigkeitsberichte des Gentlemen's Club gefunden. Er las rasch. Aber viel gab es ohnehin nicht zu lesen. 129 Die Mitglieder versammeln sich einmal die Woche, immer dienstags um vier. Die Mitglieder müssen eine Krawatte tragen. (Rebus sah schnell in der Schreibtischschublade nach und fand fünf Schlipse. Sie gehörten zu verschiedenen Klubs der Stadt: dem Strathspey, dem Förth Golf Club, Finlay's Club. Natürlich von den Mädchen ihren Vätern geklaut und bei den Treffen der kleinen Geheimclique getragen, die selbst nichts anderes als eine Parodie der Klubs war, denen die Väter der Mädchen angehörten.) In einer Datei mit dem Namen HLDTATEN.TXT fand Rebus mit »Heldentaten des Gentlemen's Club« überschriebene Listen von Bagatelldiebstählen, sogenannten Mutproben und Lügen. Die Mitglieder hatten in Geschäften im Zentrum gestohlen, hatten Lehrerinnen und Mitschülerinnen Streiche gespielt, waren, mit einem Wort, bösartig gewesen. Auf Suzannes Konto gingen ziemlich viele »Heldentaten«, darunter das Anlügen ihrer Eltern hinsichtlich dessen, was sie dienstags nach der Schule machte. Insgesamt achtundzwanzig Heldentaten. Hazel Frazer kam auf ein Gesamtergebnis von dreißig, obwohl Rebus beim Nachzählen nur neunundzwanzig Einträge fand. Und in einer weiteren Datei, dem Programm für eine Versammlung, die erst noch stattfinden sollte, stand ein einziger Tagesordnungspunkt: »Frage: Kann Selbstmord als eine Heldentat des Gentlemen's Club gewertet werden?« Rebus hörte hinter sich Schritte. Er drehte sich um, aber es war nicht Lady Deborah, sondern Hazel Frazer. Sie starrte an ihm vorbei auf den Bildschirm, erst ängstlich und ungläubig, dann verächtlich. »Hallo, Hazel.« »Sie sind der Polizist«, sagte sie in gleichmütigem Ton. »Ich habe Sie in der Schule gesehen.« »Stimmt.« Rebus musterte sie, als sie ins Zimmer trat. 129 Sie war eine ganz Coole - Hawthornden in Reinkultur, die Zuchtstätte von starken, kalten Frauen, eine wie die andere ganz Papis Tochter. »Sind Sie eifersüchtig auf sie?« »Auf wen? Suzanne?« Hazel lachte verächtlich. »Warum sollte ich?« »Weil Suzanne«, antwortete Rebus, »die ultimative Heldentat gelungen ist. Dieses eine Mal hat sie Sie geschlagen.« »Sie glauben, das hat sie deswegen getan?«, fragte Hazel herablassend. Als Rebus den Kopf schüttelte, verschwand ein Teil ihrer Selbstsicherheit.
»Ich weiß, warum sie das getan hat, Hazel. Sie hat es getan, weil sie das mit Ihnen und ihrem Vater erfahren hatte. Erfahren hat sie davon, weil Sie es ihr gesagt haben. Offenbar ist es für Sie ein zu großes Geheimnis, als dass Sie es dem Computer anvertrauen würden, aber bei Ihrer Liste mitgezählt haben Sie es, stimmt's? Es war eine Heldentat. Ich nehme an, Sie haben sich gestritten, haben voreinander geprotzt, sich gegenseitig Ihre Leistungen unter die Nase gerieben. Und da ist es Ihnen einfach rausgerutscht. Sie haben Suzanne gesagt, dass Sie eine Affäre mit ihrem Vater hatten.« Ihre Wangen nahmen zusehends den Ton einer reifen Erdbeere an, während ihre Lippen jegliche Farbe verloren. Aber sie machte den Mund nicht auf, also setzte ihr Rebus weiter zu. »Sie haben sich immer während der Mittagspause getroffen. In der Nähe Ihrer Schule war es nicht möglich, das wäre zu riskant gewesen. Also sind Sie mit dem Bus nach Murrayfield, zur Gesamtschule. Das ist bloß eine Fahrt von zehn Minuten. Er erwartete sie dann immer in seinem Auto. Sie haben Suzanne davon erzählt, und sie konnte es nicht ertragen. Also hat sie sich das Leben genommen.« Rebus geriet allmählich in Wut. »Und alles, was Ihnen dazu 130 einfällt, ist, sich in Ihrem Computer zu fragen, ob Selbstmord eine >Heldentat< ist!« Er war zunehmend lauter geworden und bekam kaum mit, dass Lady Deborah in der Tür stand und sie ungläubig anstarrte. »Nein!«, schrie Hazel. »Sie hat damit angefangen! Sie hat schon vor Monaten mit Daddy geschlafen! Also hab ich es ihr heimgezahlt. Damit konnte sie nicht leben! Deswegen hat sie sich ~* Und dann passierte es. Hazel ließ die Schultern hängen, und begann, mit geschlossenen Augen zu weinen, leise erst, dann laut. Ihre Mutter lief zu ihr, um sie zu trösten, und forderte Rebus auf zu gehen. Ob er denn nicht sehe, was das Mädchen durchmache? Er würde dafür zahlen, sagte sie. Er würde dafür zahlen, dass er ihre Tochter derart verstört habe. Aber sie weinte jetzt ebenfalls. Mutter und Kind weinten. Rebus wusste nicht, was er hätte sagen oder tun können, und ging. Während er die Treppe hinunterstieg, versuchte er, nicht an das zu denken, was er gerade losgetreten hatte. Zwei zerstörte Familien jetzt anstelle von einer, und wozu? Lediglich um zu beweisen, was er sowieso schon immer gewusst hatte - dass ein hübsches Gesicht kein Spiegel der Seele war und die Rivalität im geachteten schottischen Schulsystem so lebendig war wie eh und je. Er steckte die Hände tief in die Jacketttaschen, spürte da etwas und zog Suzannes Abschiedsbrief heraus. Den zerknüllten, auf einer Seite klebrigen Zettel, den er in ihrem Papierkorb gefunden hatte. Er blieb auf halber Treppe stehen und starrte auf das Blatt Papier, ohne es zu sehen. Aber ihm stand ein ganz anderes Bild vor Augen, etwas fast zu Grauenhaftes, zu Unglaubliches, um wahr zu sein. Und dennoch glaubte er es. 130 Thomas McKenzie war überrascht, ihn zu sehen. Mrs. McKenzie, sagte er, war vorübergehend zu einer Schwester gezogen, ans andere Ende der Stadt. Den Leichnam hatte man inzwischen abgeholt und das Badezimmer gesäubert. McKenzie trug weder Schlips noch Jackett und hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt, eine Lesebrille auf der Nase und einen Stift in der Hand. Im Wohnzimmer war deutlich zu sehen, dass McKenzie gearbeitet hatte. Auf einem Schreibtisch lagen allerlei Papiere verstreut, auf dem Fußboden stand ein offener Aktenkoffer. Auf dem Sessel befanden sich ein Taschenrechner und ein Telefon.
»Es tut mir leid, Sie noch mal belästigen zu müssen, Sir«, sagte Rebus, während er sich im Raum umschaute. Inzwischen wirkte McKenzie eher wie ein Geschäftsmann als ein gramgebeugter Vater. McKenzie schien zu begreifen, was für einen Eindruck das alles auf Rebus machte. »Ich versuche, mich zu beschäftigen«, erklärte er. »Um mich abzulenken, Sie verstehen schon. Das Leben geht weiter, auch wenn...« Er verstummte. »Durchaus, Sir«, sagte Rebus und nahm auf dem Sofa Platz. Er griff in die Tasche. »Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren.« Er hielt McKenzie das Blatt Papier hin; er nahm es und warf einen Blick darauf. Rebus fixierte ihn. McKenzie wand sich und versuchte, ihm den Zettel zurückzugeben. »Nein, Sir«, sagte Rebus, »den behalten Sie.« »Warum?« »Er wird Sie immer daran erinnern«, antwortete Rebus mit kalter, emotionsloser Stimme, »dass Sie Ihre Tochter hätten retten können.« McKenzie starrte ihn entgeistert an. »Was meinen Sie damit?« 131 »Ich meine damit«, sagte Rebus mit weiterhin ausdrucksloser Stimme, »dass Suzanne gar nicht daran dachte, sich das Leben zu nehmen, nicht ernsthaft. Es war nur ein Versuch, Ihre Aufmerksamkeit zu erregen, Sie aufzurütteln, Sie zu... ich weiß nicht, zu irgendeiner Reaktion zu bewegen.« McKenzie ließ sich langsam, behutsam auf einer Armlehne eines der Sessel nieder. »Ja«, sagte Rebus, »einer Reaktion. Man kann es ohne Weiteres so formulieren. Suzanne wusste, um wie viel Uhr Sie morgens immer aufstanden. Sie war nicht dumm. Sie hat das Aufschlitzen der Pulsadern so getimt, dass noch immer Zeit genug gewesen wäre, sie zu retten. Und sie hatte außerdem einen Sinn fürs Theatralische, stimmt's? Also hat sie ihr Briefchen an die Badezimmertür geklebt. Sie haben den Zettel gelesen und sind ins Bad gegangen. Und sie lebte noch, richtig?« McKenzie hatte die Augen zugekniffen. Seine Zähne knirschten. »Sie war nicht tot«, fuhr Rebus fort, »nicht ganz. Und Sie wussten verdammt gut, warum sie es getan hatte. Weil sie Sie nämlich gewarnt, Ihnen gesagt hatte, dass sie das tun würde. Es sei denn, Sie hörten auf, sich mit Hazel zu treffen, und gestanden Ihrer Frau alles. Vielleicht hatte sie noch weitere Forderungen, Mr. McKenzie. Sie sind doch sowieso nie gut mit ihr ausgekommen, oder? Sie wussten nicht, was Sie tun sollten. Ihr helfen, oder sie sterben lassen? Sie zögerten. Sie warteten.« Rebus hatte sich von seinem Platz erhoben. Auch seine Stimme hatte er erhoben. McKenzie liefen die Tränen über das Gesicht, und er zitterte am ganzen Körper. Doch Rebus ließ nicht locker. »Sie sind ein bisschen herumspaziert, sind in Suzannes Zimmer gegangen. Sie haben ihren Abschiedsbrief in den 131 Papierkorb geworfen. Und schließlich, zuletzt, sind Sie ans Telefon gegangen und haben den Notarzt gerufen.« »Es war schon zu spät«, heulte McKenzie. »Niemand hätte sie retten können.« »Man hätte es versuchen können!« Jetzt schrie Rebus, schrie McKenzie direkt ins verzerrte Gesicht. »Sie hätten es versuchen können, aber Sie haben es nicht getan. Ihr Geheimnis sollte gewahrt bleiben. Bei Gott, jetzt ist Ihr Geheimnis raus!« Rebus zischte die letzten Worte, und mit ihnen verflog auch seine Wut. Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg zur Tür. »Was werden Sie tun?«, stöhnte McKenzie.
»Was kann ich schon tun?«, antwortete Rebus leise. »Nichts werde ich tun, Mr. McKenzie. Ich überlasse Sie einfach sich selbst und dem Rest Ihres Lebens.« Eine Pause. »Genießen Sie es«, sagte er und zog die Wohnzimmertür hinter sich zu. Er stand zitternd auf der Vortreppe des Hauses, und sein Herz hämmerte. Wer war bei einem Selbstmord der Täter, wer das Opfer? Er konnte die Frage nach wie vor nicht beantworten. Er bezweifelte, dass er dazu jemals imstande sein würde. Nach seiner Uhr war es fünf vor fünf. Er kannte ein Pub ganz in der Nähe, eine ruhige Kneipe, die von Denkern und Hobbyphilosophen frequentiert wurde, ein Lokal, in dem nichts passierte und christlich eingeschenkt wurde. Ihm war nach einem Drink, vielleicht auch zwei. Er würde sein Glas erheben und einen lautlosen Trinkspruch ausbringen: auf die Mädels.
Monströse Trompete John Rebus fiel auf die Knie. »Ich flehe Sie an, Sir«, sagte er, »tun Sie mir das nicht an, bitte.« In der Annahme, Rebus würde nur den Clown spielen, lachte Chief Inspector Lauderdale. »Kommen Sie schon, John«, sagte er. »Es wird genau wie bei Interpol sein.« Rebus stand wieder auf. »Nein, wird's nicht«, sagte er. »Es wird wie ein beschissener Hostessenservice sein. Abgesehen davon, kann ich kein Französisch.« »Offenbar spricht er ausgezeichnet Englisch, dieser Monsieur...« Lauderdale tat so, als müsste er im Brief nachsehen, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Sagen Sie es nicht noch einmal, Sir, bitte.« »Monsieur Cluzeau.« Rebus zuckte zusammen. »Ja«, fuhr Lauderdale fort und weidete sich an Rebus' Qualen, »Monsieur Cluzeau. Ein ausgezeichneter Name für ein Mitglied der gendarmerie, finden Sie nicht auch?« »Da macht sich doch jemand einen Jux«, wimmerte Rebus. »Das kann doch gar nicht anders sein. DC Holmes oder einer der anderen Jungs...« Doch Lauderdale ließ sich nicht erweichen. »Der Chief Super hat es überprüft«, sagte er. »Tut mir leid, John, aber ich dachte, Sie würden sich freuen.« »Mich freuen?« »Ja. Freuen. Sie wissen schon, ein bisschen schottische Gastfreundschaft zeigen.« 132 »Seit wann gehört es zu den Dienstpflichten eines CID-Beamten, Touristen herumzuführen?« Lauderdale reichte es allmählich: Rebus hatte sogar aufgehört, ihn »Sir« zu nennen. »Seit ich es Ihnen befohlen habe, Inspector.« »Aber warum gerade ich?« Lauderdale zuckte die Achseln. »Warum nicht Sie?« Er seufzte, öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und legte den Brief hinein. »Schauen Sie, es geht nur um einen Tag, wenn's hoch kommt, zwei. Tun Sie es einfach, ja? Und wenn's Ihnen nichts ausmacht, Inspector, hätte ich jetzt einiges zu tun.« Aber inzwischen war Rebus' Aufsässigkeit ohnehin verpufft. Seine Stimme klang ruhig, resigniert. »Wann kommt er an?« Wieder trat eine Pause ein, während der das fehlende »Sir« zwischen ihnen im Raum schwebte. Na, dachte Lauderdale, der Dreckskerl verdient es nicht anders. »Er ist schon da.« »Was?« »Ich meine, er ist in Edinburgh. Der Brief hat ein Weilchen gebraucht bis hierher.« »Sie meinen, er hat ein Weilchen bei jemandem im Büro herumgelegen.« »Nun, wie auch immer, er ist jetzt da. Und er kommt heute Nachmittag auf die Wache.« Rebus warf einen Blick auf seine Uhr. Es war zehn vor zwölf. Er stöhnte.
»Nicht direkt nach dem Lunch, könnte ich mir vorstellen«, sagte Lauderdale, bemüht, jetzt wo Rebus in die Knie zu gehen schien, den Schlag ein bisschen abzumildern. Das Ganze war ein ziemlicher Kuddelmuddel gewesen. Er hatte selbst gerade erst die endgültige Bestätigung erhalten, dass Monsieur Cluzeau unterwegs war. »Ich meine«, 133 sagte er, »die Franzosen lassen sich gern Zeit beim Essen, oder? Sind dafür berüchtigt. Vor drei wird er also kaum hier auftauchen.« »Schön, er kann kommen, wann's ihm passt, wir sind ja da. Was soll ich überhaupt mit ihm machen?« Lauderdale bemühte sich, die Beherrschung nicht zu verlieren: Sag es doch bloß einmal, verdammt! Bloß einmal, damit ich weiß, dass du meinen Rang anerkennst! Er räusperte sich. »Er möchte sehen, wie wir arbeiten. Zeigen Sie es ihm also. Solange er anschließend seinen Leuten berichten kann, dass wir höflich sind, effizient, fleißig, gewissenhaft und immer unseren Mann schnappen, tja, haben Sie freie Hand.« »Sehr wohl, Sir«, erwiderte Rebus und öffnete die Tür, bereit, Lauderdales frisch renoviertes Büro zu verlassen. Lauderdale saß wie vor den Kopf geschlagen da. Er hat es gesagt! Rebus hat tatsächlich einen Satz mit »Sir« beendet! »Das dürfte eigentlich kein Problem sein«, fuhr Rebus fort. »Ach, und wo ich gerade dabei bin, könnte ich auch noch rasch Jack fhe Ripper postum aufspüren und das Ungeheuer von Loch Ness fangen. Fünf Minuten kann ich dafür bestimmt erübrigen.« Rebus zog die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass Lauderdale um die glasgerahmten Bilder an seiner Wand fürchtete. Aber Glas hielt mehr aus, als man dachte. Und das Gleiche galt für John Rebus. Cluzeau musste ein Arschkriecher sein, karrieregeil ohne Ende. Was konnte es sonst für eine Erklärung geben? Die offizielle Version lautete, dass er wegen der Begegnung Schottland gegen Frankreich in Murrayfield gekommen war. So weit, so gut, Edinburgh füllte sich alle zwei Jahre für ein Februarwochenende mit Franzosen, wohlerzogenen, wenn auch ausgelassenen Rugbyfans, deren Hauptvergnü 133 gen darin zu bestehen schien, in Pub-Nebenzimmern mit einem Eiskübel auf dem Kopf herumzutanzen. Also nichts Ungewöhnliches, was das anging. Aber jetzt stelle man sich einen Franzosen vor, dem, nachdem er beschlossen hat, einen Teil seines Jahresurlaubs so zu legen, dass es mit dem Rugby-Six-Nations-Cup zusammenfallt, eine weitere Idee kommt: Wenn er schon mal in Schottland ist, wird er sich für einen Tag bei der dortigen Polizei einladen. Der Brief, mit dem er seinen eigenen Boss um ein Empfehlungsschreiben bittet, beeindruckt besagten Boss so sehr, dass er dem Chief Constable schreibt, dem obersten Polizeichef von Edinburgh. Damit ist die Lawine ins Rollen gebracht, und sie nimmt ihren Lauf Richtung Tal: Chief Constable zu Chief Super, Chief Super zu Super, Super zu Chief Inspector - und Chief Inspector zum Idioten vom Dienst, alias John Rebus. Danke und bonne nuit. Ha! Da, ein bisschen Französisch konnte er ja doch noch. Rhona, seine Exfrau, hatte mal so einen von diesen Teach-yourself-Französischkursen gemacht, lauter Kassetten und Redewendungen, die man ständig wiederholen musste. Sie hatte Rebus damit in den Wahnsinn getrieben, aber etwas war immerhin hängen geblieben. Und das alles zur Vorbereitung auf ein verlängertes Wochenende in Paris, das dann ins Wasser fiel, weil Rebus in eine Morduntersuchung hineingezogen wurde. Kein Wunder, dass sie ihn am Ende verlassen hatte. Bonne nuit. Bonjour. Das war noch so ein Wort. Bonsoir. Und wie stand's mit bon accord? Eigentlich gut Schottisch für »Einverständnis«, aber war das am Ende auch Französisch? Bon Jovi klang französisch. Und war der Bonnie Prince Charlie nicht
überhaupt Franzose gewesen? Und lieber Gott, was sollte er mit dem Franzmann anfangen? Darauf gab es nur eine einzige Antwort: dafür sorgen, dass es so aussah, als hätte er viel zu tun. Je mehr er zu 134 tun hatte, desto weniger Zeit würde für Smalltalk, fremdenfeindliche Andeutungen und Streit übrigbleiben. Wenn Gehirn und Körper beschäftigt waren, würde die Versuchung nicht so groß sein, Froschschenkel, den Krieg, Pariser, französischen Verkehr und Franzbranntwein zu erwähnen. Lieber Gott, was hatte er bloß getan, um das zu verdienen? Sein Telefon summte. »Oui?«, sagte Rebus, jetzt mit einem Grinsen, weil ihm gerade einfiel, wie oft er es geschafft hatte, Lauderdale ungestraft nicht mit »Sir« anzureden. »Hä?« »Ich üb bloß, Bob.« »Dann müssen Sie ein gottverdammter Hellseher sein. Hier unten ist ein französischer Gentleman, der meint, er hätte eine Verabredung mit Ihnen.« »Was? Schon?« Rebus sah wieder auf die Uhr. Es war zwei Minuten nach zwölf. Mist, so als ob man beim Zahnarzt im Wartezimmer sitzt und außer der Reihe aufgerufen wird. Würde er wirklich wie Peter Seilers aussehen? Was, wenn er kein Wort Englisch sprach? »John?« »Tut mir leid, Bob, was?« »Was soll ich ihm sagen?« »Sagen Sie ihm, ich bin gleich unten.« Ganz unten. Bis zu den Kiemen in der Kacke, dachte Rebus und ließ den Hörer wie einen Stein fallen. Im großen, schäbigen Vorzimmer stand ein einziger Mensch. Er trug eine lederne Rockerjacke und hatte ein Spinnwebtattoo, das ihm aus dem schmutzigen T-Shirt herausund den Hals hinaufkroch. Rebus blieb abrupt stehen. Dann aber entdeckte er eine weitere Gestalt, links von ihm, mit dem Gesicht zur Wand. Dieser Mann betrachtete eingehend die Fahndungsplakate. Er war groß, mager und 134 trug einen tadellosen dunkelblauen Anzug mit einem straff geknoteten roten Seidenschlips. Seine Schuhe sahen wie neu aus, und das Gleiche galt für seinen Haarschnitt. Ihre Blicke trafen sich, und Rebus musste wohl oder übel lächeln. Er war sich mit einem Mal seines eigenen zerknitterten Anzugs von der Stange, seiner abgetragenen Schuhe, seines Hemds mit dem fehlenden Knopf an der einen Manschette bewusst. »Inspector Rebus?« Der Mann kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. »Genau.« Sie schüttelten sich die Hand. Auch noch Aftershave, nicht aufdringlich, aber jedenfalls bemerkbar. Seine Haltung war die eines erheblich höheren Tiers, aber Lauderdale hatte Rebus erklärt, sie hätten einen vergleichbaren Dienstrang. Aber falls jemand erwartete, Rebus würde ihn jetzt mit »Inspector Cluzeau« anreden, dann war er schiefgewickelt. Das wäre zu... zu... »Für Sie.« Cluzeau hielt ihm eine Plastiktüte hin. Rebus spähte hinein. Eine Literflasche Malt aus dem Duty-free, eine Schachtel Pralinen und eine kleine Dose irgendwas. Er zog die Pralinen heraus. »Weinbergschnecken«, erklärte Cluzeau. »Aber aus Schokolade.« Rebus betrachtete das Bild auf der Schachtel. Ja, Pralinen in Form von Schnecken. Und die Dose...
»Foie gras. Eine Pastete aus Gänsefettleber. Eine Spezialität aus meiner Heimat. Man streicht sie auf Toast.« »Klingt köstlich«, sagte Rebus mit einem leisen Anflug von Ironie. Tatsächlich war er schier überwältigt. Nichts von dem Zeug sah so aus, als ob es billig gewesen wäre, Sandwichpaste hin oder her. »Danke.« Der Franzose zuckte die Schultern. Er hatte ein Gesicht, das selbst bei zwei Rasuren am Tag um fünf schon wieder 135 bläulich schimmert. Hirsutismus: Das war das Wort. Wie ging dieser blöde Witz noch mal, wo am Schluss ein Typ gefragt wird: »Hirsutismus?«, und der Typ antwortet: »Nee, ehrlich gesagt, wäre mir Apfelmus lieber.« Haarige Handgelenke auch noch, an einem davon eine dünne goldene Armbanduhr. Er tippte mit dem Finger darauf. »Ich komme hoffentlich nicht zu früh.« »Was?« Es war Rebus' Fluch, dass er sich immer an die Pointen von Witzen erinnerte, aber nie an die Anfänge. »Nein, nein. Sie kommen genau richtig. Ich war bloß, äh, einen Moment, ja?« »Natürlich.« Rebus ging an den Empfangstresen, hinter dem der allgegenwärtige Bob Leach stand. Bob nickte in Richtung der Plastiktüte. »Keine schlechte Ausbeute«, meinte er. Rebus redete leise, aber wie er hoffte, nicht so leise, dass Cluzeau Argwohn schöpfen könnte. »Das Problem ist, Bob, dass ich ihn erst in ein paar Stunden erwartet hatte. Was, zum Teufel, fange ich jetzt mit ihm an? Sie hätten wohl nicht zufällig irgendwelche Anrufe auf Lager?« »Nichts, was für Sie von Interesse wäre, John.« Leach studierte sein Klemmbrett, »'n paar Blechschäden, 'n paar Einbrüche. Ach ja, und die Kunstgalerie.« »Kunstgalerie?« »Ich glaube, jung Brian ist an der Sache dran. Irgend so 'ne Ausstellung auf der High Street. Eins der Stücke scheint sich selbständig gemacht zu haben.« Tja, das war nicht allzu weit weg, und es war hundertprozentiges Touristenterritorium. St. Giles. John Knox's House. Holyrood. »Ideal«, sagte Rebus. »Das ist genau das Richtige für uns. Geben Sie mir die Adresse, ja?« Leach nickte in Richtung Plastiktüte. Nicht nur allgegen 135 wärtig, dachte Rebus, sondern auch allschnorrend. »Was haben Sie außer dem Whisky sonst noch gekriegt?« Rebus beugte sich vor und zischte: »Sandwichpaste und Schnecken!« Bob Leach guckte entmutigt. »Scheißfranzosen«, sagte er. »Man hätte ja wohl erwarten dürfen, dass er was Anständiges mitbringt.« Auf dem Weg zur High Street verzichtete Rebus darauf, Abkürzungen und Schleichwege zu nehmen. Er bot Cluzeau das volle Programm. Aber der französische Polizist schien sich mehr für Rebus als für die Straßen seiner Stadt zu interessieren. »Ich war schon mal hier«, erklärte er. »Vor zwei Jahren, zum Rugby.« »Dann wird bei Ihnen da unten also viel Rugby gespielt?« »O ja. Für uns ist es mehr als ein Spiel, es ist eine Liebesaffäre.« Rebus hatte angenommen, Cluzeau sei Pariser. Das war er nicht. Pariser, sagte er, seien so seine Worte - »kalte Fische«. Und auf jeden Fall war die Stadt nicht repräsentativ für das wirkliche Frankreich. Die Provinz - das stellte das wirkliche Frankreich dar, und da besonders der Südwesten. Cluzeau kam aus Perigueux. Er war dort geboren, und jetzt
wohnte und arbeitete er dort. Er war verheiratet, hatte vier Kinder. Und ja, er hatte ein Familienfoto in der Brieftasche. Die Brieftasche wiederum trug er in einem kleinen flachen Beutel aus schwarzem Leder, der fast wie ein Tuntentäschchen aussah. Der Beutel enthielt außerdem Ausweise, Reisepass, Scheckheft, Notizkalender, ein kleines Französisch-Englisch-Wörterbuch. Kein Wunder, dass er in seinem Anzug so gut aussah: keine ausgebeulten Taschen, keine abgewetzten Stellen. 136 Rebus gab das Foto zurück. »Sehr hübsch«, sagte er. »Und Sie, Inspector?« Also war jetzt Rebus dran, sein Sprüchlein aufzusagen. Geboren in Fife. Von der Schule direkt zur Army. Später zu den Fallschirmjägern und von da zum SAS. Zusammenbruch und Wiederherstellung. Dann zur Polizei. Frau, jetzt Ex, und eine Tochter, die bei ihrer Mutter in London lebt. Cluzeau, stellte Rebus fest, hatte eine sehr geschickte Art, Fragen zu stellen - so, dass sie eher wie Feststellungen klangen. Wodurch man, statt zu antworten, lediglich bestätigte, was er ohnehin schon zu wissen schien. Das würde er sich zur künftigen Verwendung merken. »Und wo fahren wir jetzt hin?« »In die High Street. Sie kennen sie vielleicht besser als die >Royal Mile<.« »Ich bin da schon entlanggegangen, ja. Sie sagten getrennt, nicht geschieden?« »Stimmt.« »Besteht dann also noch die Chance...?« »Was? Dass wir wieder zusammenkommen? Nein, keine Chance.« Das entlockte Cluzeau ein weiteres Achselzucken. »Es ging um einen anderen Mann...?« »Nein, nur um John Rebus.« »Ah. In meinem Teil von Frankreich passieren viele Verbrechen aus Leidenschaft. Und hier in Edinburgh?« Rebus grinste ironisch. »Wo keine Leidenschaft...« Der Franzose schien das irgendwie nicht so ganz zu verstehen. »Französische Polizisten tragen Schusswaffen, nicht?«, fragte Rebus, um die Pause zu überbrücken. »Nicht im Urlaub.« »Freut mich zu hören.« 136 »Ja, wir haben Schusswaffen. Aber es ist nicht so wie in Amerika. Wir haben Respekt vor Schusswaffen. Bei uns sind sie eine Lebensweise. Jeder Franzose ist tief in seinem Herzen ein Jäger.« Rebus blinkte und fuhr an den Straßenrand. »Schotten ebenfalls«, sagte er, während er seine Tür öffnete. »Und ich persönlich werde jetzt ein Sandwich zur Strecke bringen. In diesem Cafe gibt's den besten gekochten Schinken von ganz Edinburgh.« Cluzeau machte ein zweifelndes Gesicht. »Die berühmte schottische Küche«, murmelte er und ließ seinen Sicherheitsgurt aufschnappen. Sie aßen im Fahren - Rebus Schinken-, Cluzeau Salamisandwich - und hielten bald darauf vor der Heggarty Gallery. Genau genommen hielten sie vor einem Woll- und Strickwarengeschäft. Die Galerie befand sich eine Treppe höher, und es war eine gewundene Treppe, mit ausgetretenen, tückischen Stufen. Sie traten durch eine nichtssagende Tür und gerieten mitten in einen Streit. An die fünfzehn Frauen drängten sich schimpfend um Detective Constable Brian Holmes. »Sie können uns nicht einfach so festhalten!« »Hören Sie, Ladys...« »Chauvi-Schwein!« »Hören Sie, ich muss zuerst Ihre Namen und Adressen notieren.« »Na, dann los, worauf warten Sie noch?« »So 'ne verdammte Frechheit, als ob wir Kriminelle wären oder was!«
»Vielleicht will er uns ja leibesvisitieren.« »War vielleicht gar nicht mal schlecht.« Diese Bemerkung erntete ein paar Lacher. Holmes hatte Rebus entdeckt, und sein erleichterter Ausdruck verriet Rebus alles, was er wissen musste. Auf einem 137 Tapeziertisch an der Wand standen ein paar Dutzend -größtenteils leere - Weinflaschen und einige - noch größtenteils volle - Kannen Orangensaft und Wasser. Cluzeau hob eine Flasche hoch und rümpfte die Nase. Er schnüffelte an dem Flaschenhals und rümpfte erst recht die Nase. Das Plakat an der Tür der Galerie kündigte eine Ausstellung von Gemälden und Plastiken der Künstlerin Serena Davies an. Die Ausstellung trug den Namen »Hard Knox«, und heute war Vernissage. Nach dem Zustand des Getränketisches zu urteilen, war das Event schon seit einiger Zeit im Gang gewesen. Wein bis zum Abwinken. Und jetzt eine Meinungsverschiedenheit, die möglicherweise kurz vorm Umkippen stand. Rebus holte tief Luft. »Verzeihung!«, brüllte er dann. Die Blicke wandten sich von Holmes ab und richteten sich auf ihn. »Ich bin Inspector Rebus. Also, mit etwas Glück sind Sie in fünf Minuten alle draußen. Haben Sie bis dahin bitte ein wenig Geduld. Wie ich sehe, gibt es noch etwas zu trinken. Wenn Sie Ihre Gläser nachfüllen und sich vielleicht noch ein letztes Mal hier umsehen, dürften wir, bis Sie ausgetrunken haben, soweit sein, dass Sie gehen können. Jetzt müsste ich mich nur kurz mit meinem Kollegen unterhalten.« Dankbar befreite sich Holmes aus dem Getümmel und ging zu Rebus. »Sie haben dreißig Sekunden, um mich ins Bild zu setzen«, sagte Rebus. Holmes atmete ein paarmal tief durch. »Eine Bronzeplastik, männliche Figur. Sie stand mitten in einem der Ausstellungsräume. Vernissage beginnt. Jemand fängt an zu schreien, das Ding sei verschwunden. Künstlerin geht an die Decke. Sie will niemanden rein- oder rauslassen, denn wenn jemand die Plastik geklaut hat, dann ist dieser Jemand noch immer in der Galerie.« 137 »Und das ist der Stand der Dinge? Keiner rein oder raus, seitdem sie verschwunden ist?« Holmes nickte. »Natürlich habe ich der Künstlerin zu erklären versucht, dass der Dieb sich auch verdrückt haben könnte, bevor sie alle anderen hier eingesperrt hat.« Holmes' Blick fiel auf den Mann, der sich inzwischen neben Rebus gestellt hatte. »Können wir Ihnen helfen, Sir?« »Ach«, sagte Rebus. »Sie kennen sich noch nicht. Das ist...«Aber nein, er brachte den Namen noch immer nicht über die Lippen. Also nickte er in Richtung Holmes. »Das ist Detective Constable Holmes.« Dann, während Cluzeau und Holmes sich die Hand gaben: »Der Inspector ist aus Frankreich hergekommen, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie wir in Edinburgh arbeiten.« Rebus wandte sich zu Cluzeau. »Haben Sie mitgekriegt, was Brian gesagt hat? Ich weiß ja, er hat einen ziemlich starken Akzent.« »Ich habe ihn ausgezeichnet verstanden.« Er wandte sich zu Holmes. »Inspector Rebus hat vergessen, es zu erwähnen, aber mein Name ist Cluzeau.« Irgendwie klang es, von einem Eingeborenen ausgesprochen, nicht ganz so lächerlich. »Wie groß ist die Plastik? Wissen wir, wie sie aussieht?« »Im Katalog ist ein Bild von ihr.« Holmes zog das Hochglanzheftchen aus der Tasche und reichte es Cluzeau. »Die oben auf der Seite.« Während Cluzeau das Bild studierte, warf Holmes Rebus einen Blick zu und deutete dann mit einem Nicken auf den Beutel des Franzosen. »Hübsche Handtasche.«
Rebus schaute ihn streng an, warf dann einen Blick in den Katalog. Er riss die Augen auf. »Allmächtiger!« Cluzeau las aus dem Katalog vor: »»Monströse Trompete. Bronze und verschiedene Materialien. Sechzehn -< Was bedeuten diese Gänsefüßchen?« 138 »Zoll.« »Danke. >Sechzehn Zoll. Dreitausendfünfhundert Pfund<. C'est eher. Das ist teuer.« »Das finde ich auch«, sagte Rebus. »Dafür bekommt man ja schon ein Auto.« Na ja , dachte er, jedenfalls könnte man mein Auto dafür bekommen. »Das ist ein interessantes Stück, nicht?« »Interessant?« Rebus musterte das kleine Foto. »Monströse Trompete«: Ein nackter Mann streckte, mit übertrieben gehässiger Miene, die Zunge heraus, bloß dass es keine Zunge, sondern ein Penis war. Und da, wo dieses bestimmte Organ eigentlich hingehört hätte, war ein - tja, Heftpflaster? - zu sehen. Da die Plastik im Halbprofil aufgenommen war, konnte man etwas erahnen, das aus deren Hintern herausschaute. Rebus vermutete, dass es sich um eine Zunge handeln sollte. »Ja«, sagte Cluzeau. »Ich würde die Künstlerin sehr gern kennenlernen.« »Wie es aussieht, bleibt Ihnen vermutlich auch gar keine andere Wahl«, meinte Holmes, der, obwohl er sich nicht von der Stelle rührte, zurückzuweichen schien. »Da kommt sie.« Sie war erst in dem Moment ins Zimmer getreten, da war sich Rebus sicher. Wäre sie schon vorher da gewesen, hätte er sie bemerkt. Und falls nicht er, dann mit Sicherheit Cluzeau. Sie war nicht nennenswert über eins achtzig groß und trug einen langen, wallenden weißen Rock, schwarze Stiefel, eine weiße Bluse mit Puffärmeln und eine rote Satinweste. Ihre Augen waren pechschwarz geschminkt, passend zu den langen glatten Haaren, und an ihren Handgelenken klirrten und klimperten allerlei Armreifen und Kettchen. Sie sprach Holmes an. »Nirgendwo zu finden. Ich hab mich gründlich umgesehen.« Sie wandte sich zu Rebus und Cluzeau. Holmes stellte die beiden vor. 138 »Das sind Inspector Rebus und Inspector Cl...« Er verschluckte den Rest. Ja, dachte Rebus, geht einem nicht so leicht von der Zunge, nicht, Brian? Aber Cluzeau schien nichts mitbekommen zu haben. Er drückte Serena Davies herzlich die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie begutachtete ihn, ganz unbefangen, mit einem ausführlichen Blick, schenkte ihm ein kühles Lächeln und wandte sich dann zu Rebus. »Na, Gott sei Dank sind endlich die Erwachsenen da.« Brian Holmes errötete wütend. »Ich hoffe, wir haben Sie nicht beim Lunch gestört, Inspector. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo die Plastik stand.« Und damit machte sie kehrt und ging. Einige der Frauen sprachen ihr entweder ihr Beileid wegen des Verlusts aus oder äußerten sich lobend über die verbliebenen Werke, und Serena Davis antwortete mit einem matten Lächeln, das besagte: Ich werd's überleben, aber fragt mich nicht, wie. Rebus legte Holmes eine Hand auf die Schulter. »Sie notieren sich Namen und Adressen, ja, Brian?« Er wandte sich ab, um der Künstlerin zu folgen, konnte sich aber eine abschließende Bemerkung nicht verkneifen. »Sie haben doch Ihre Wachsmalstifte dabei, oder?« »Und meine Murmeln«, gab Holmes zurück. Beim Zeus, dachte Rebus, er lernt schnell. Aber andererseits hatte er einen guten Lehrer, n'est ce pas? »Herrliches Weib«, zischte ihm Cluzeau ins Ohr, während sie ihr folgten. Ein paar Frauen warfen dem Franzosen Blicke zu. Er sieht neben mir einfach zu gut aus, dachte Rebus. Warum musste ich heute auch diesen alten Anzug tragen!
Die kleinen Räume, durch die sie kamen, bildeten ein Labyrinth, eine kunstvolle Konfiguration von Winkeln und Durchgängen, die aus dem wenigen vorhandenen Platz das Beste und noch mehr machte. Was die ausgestellten Arbei 139 ten anbelangte, je nun, Rebus war sich natürlich nicht so sicher, aber sie schienen jede Menge Gewalt zu enthalten, Gewalt, die sich gegen einen bestimmten Teil der männlichen Anatomie richtete. Sogar der Franzose schwieg, als sie an roten Klecksen, verzerrten Gestalten, gewaltigen Qualstern von Farbe vorbeikamen. Etwas wie ein ruhiges Zentrum bildete eine sehr großformatige und äußerst detaillierte Darstellung einer Vulva. Cluzeau hielt für einen Augenblick inne. »Das gefällt mir«, sagte er. Rebus deutete mit dem Kopf auf einen roten runden Sticker, der an der Wand neben der Zeichnung pappte. »Schon verkauft.« Cluzeau tippte auf die entsprechende Seite des Katalogs. »Ja, für tausendfünfhundert Pfund.« »Hier rein!«, befahl die Stimme der Künstlerin. »Sobald Sie genug geglotzt haben.« Sie befand sich im nächsten Raum, stand neben dem jetzt verwaisten Sockel. Das daran angebrachte Schildchen wies keinen roten Tupfer auf. Nicht verkauft. »Sie stand genau hier.« Das Zimmer war vielleicht drei auf viereinhalb Meter groß und bildete die hintere Ecke der Galerie: nur eine Tür und keine Fenster. Rebus schaute hinauf zur Decke, sah aber nur Neonröhren. Keine Falltüren. »Und waren Leute hier drinnen, als es passiert ist?« Serena Davies nickte. »Drei oder vier Gäste. Ginny Elyot, Margaret Grieve, Helena Mitchison und ich glaube Lesley Jameson.« »Jameson?« Rebus kannte zwei Jamesons in Edinburgh, der eine war Arzt und der andere... »Tom Jamesons Tochter«, ergänzte die Künstlerin. ... der andere ein Zeitungsherausgeber namens Tom Jameson. »Und wer war es, der Alarm geschlagen hat?«, fragte Rebus. 139 »Das war Ginny. Sie kam aus dem Zimmer und schrie, die Plastik sei verschwunden. Wir sind alle ins Zimmer gestürzt. Und so war's.« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Sockel. »Also genug Zeit für den Täter«, meinte Rebus nachdenklich, »sich hinauszuschleichen, während alle anderen beschäftigt waren?« Aber die Künstlerin schüttelte ihre Mähne. »Ich hab's Ihnen schon gesagt, niemand fehlt. Jede, die hier war, ist hier. Ich glaube, jetzt sind sogar ein paar mehr da als zu dem Zeitpunkt.« »Wie das?« »Moira Fowler hat sich verspätet. Wie immer. Sie kam erst ein paar Minuten, nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte.« »Sie haben sie hereingelassen?« »Natürlich. Mir ging's ja nur darum, dass niemand rauskam.« »Aber Sie sagten >ein paar mehr« »Ja. Maureen Beck war auf dem Lokus. Blasenentzündung, die Ärmste. Vielleicht hätte ich da drin ebenfalls ein paar Bilder aufhängen sollen.« Hier runzelte Cluzeau die Stirn. Rebus beschloss, ihm zu helfen. »Und die Toiletten sind wo?« »Die Treppe hoch. Eine ziemliche Zumutung. Die Galerie teilt sie sich mit dem Geschäft im Parterre. Gestopft voll mit Pappkartons und Strickmustern.«
Rebus nickte. Der Franzose hüstelte einleitend. »Also«, sagte er, »muss man die Galerie verlassen, um auf den... Lokus zu gehen?« Serena Davies nickte. »Sie sind Franzose«, stellte sie fest. Cluzeau deutete eine Verbeugung an. »Hätte ich mir schon wegen der pochette denken können. Ein Schotte würde so was nie tragen.« 140 Cluzeau schien auf das Thema vorbereitet zu sein. »Aber der sporran erfüllt denselben Zweck.« »Wahrscheinlich, ja«, räumte die Künstlerin ein, »aber primär hat er eher eine symbolische Funktion.« Sie blickte die zwei Männer an. Beide Männer sahen ratlos aus. »Er ist haarig und baumelt zwischen den Beinen«, erklärte sie. Rebus blieb stumm, schürzte aber die Lippen. Cluzeau nickte stirnrunzelnd vor sich hin. »Vielleicht«, sagte Rebus, »könnten Sie uns Ihre Ausstellung erklären, Ms. Davies?« »Nun, abgesehen vom offensichtlichen Wortspiel« - hier wandte sie sich an den Franzosen -, »hard knocks, Monsieur Cluzeau, ist eine idiomatische Wendung und bedeutet soviel wie >harte Schule des Lebens<, oder man könnte auch sagen: >der Schaden, aus dem frau klug wird< - abgesehen davon aber ist es natürlich ein Kommentar zu Knox.« »Knox?«, fragte Cluzeau. »John Knox«, erklärte Rebus. »Wir sind vorhin an seinem ehemaligen Haus vorbeigefahren.« »John Knox«, fuhr sie fort, weiterhin hauptsächlich an den Franzosen gewandt, aber vielleicht auch, wie sie meinte, zur Aufklärung des Schotten, »war ein schottischer Prediger, ein Anhänger Calvins. Und er war außerdem ein Frauenhasser, daher der Titel eines seiner Werke - Erster Trompetenstoß gegen das monströse Frauenregiment.« »Er meinte nicht alle Frauen«, fühlte sich Rebus verpflichtet hinzuzufügen. »Das war gegen Elisabeth I. gerichtet.« Serena Davies richtete sich auf wie eine Schlange zum tödlichen Stoß. »Aber implizit«, sagte sie, »meinte er alle. Und genauso sind die hier ausgestellten Werke implizit ein Kommentar zu allen schottischen Männern. Und allen Männern überhaupt.« Cluzeau spürte, dass sich ein Streit anbahnte. Streit war 140 nach seiner Erfahrung, wenn auch mitunter sehr anregend, so doch immer kontraproduktiv. »Ich glaube, ich verstehe«, sagte er. »Und Ihre Ausstellung ist eine Antwort auf das Werk dieses Mannes. Ja.« Er tippte mit dem Finger auf den Katalog. »>Monströse Trompete< ist dann also auch ein Wortspiel?« Serena Davies zuckte die Achseln, wirkte aber besänftigt. »Wenn Sie so wollen. Ich erkläre damit, dass John Knox mit einem ganz bestimmten Organ dachte - und zwar nicht mit dem Gehirn.« »Und gleichzeitig«, fügte Rebus hinzu, »dass er mit dem Arsch redete?« »Ja«, bestätigte sie. Cluzeau schmunzelte. Er schmunzelte noch immer, als er fragte: »Und wer könnte einen Grund gehabt haben, Ihr Werk zu stehlen?« Die Mähne geriet wieder in Bewegung. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Aber Sie verdächtigen einen Ihrer Gäste«, fuhr Cluzeau fort. »Natürlich tun Sie das: Sie haben ja schon ausgesagt, dass sonst niemand hier war. Sie waren unter Freundinnen, aber eine von ihnen ist eine... falsche Schlange, ja?« Sie nickte langsam. »So ungern ich das zugebe.«
Rebus hatte Cluzeau den Katalog aus der Hand genommen und schien ihn eingehend zu studieren. Aber er hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Er tippte auf das Foto der verschwundenen Plastik. »Arbeiten Sie nach der Natur?« »Meistens, ja, aber bei der >Monströsen Trompete< nicht.« »Dann ist sie also eine Art... Idealfigur?« Sie lächelte. »Kaum ideal, Inspector. Aber in dem Sinne, dass sie von hier kommt«, sie tippte sich an die Stirn »eher aus einer Idee als aus der Wirklichkeit, könnte man wohl sagen, ja.« 141 »Gilt das auch für das Gesicht?«, bohrte Rebus nach. »Das wirkt sehr lebensecht.« Sie akzeptierte das Kompliment, betrachtete gemeinsam mit ihm das Foto. »Das Gesicht eines bestimmten Mannes ist das nicht«, erklärte sie. »Bestenfalls eine Montage aus verschiedenen Männern, die ich kenne.« Dann zuckte sie die Achseln. »Vielleicht.« Rebus gab Cluzeau den Katalog zurück. »Haben Sie jemanden durchsucht?«, fragte er die Künstlerin. »Ich habe sie alle gebeten, ihre Handtaschen zu öffnen. Nicht sehr taktvoll, ich weiß, aber ich war - bin - völlig außer mir.« »Und, haben sie Ihnen die Bitte erfüllt?« »O ja, alle. Völlig überflüssig natürlich, es gab nur zwei oder drei Handtaschen, in denen man die Plastik von der Größe her überhaupt hätte verstecken können.« »Aber sie waren leer?« Sie seufzte, kniff sich in die Nasenwurzel. Die Armreifen fielen rasselnd vom Handgelenk zum Ellbogen. »Vollkommen leer«, sagte sie. »Genauso, wie ich mich fühle.« »War die Figur versichert?« Wieder schüttelte sie den Kopf, die Stirn gesenkt. Ein Bild der Niedergeschlagenheit, dachte Rebus. Absolut realistisch, aber trotzdem irgendwie nicht ganz echt. Er stellte außerdem fest, dass der Franzose sie, jetzt wo sie nicht hinsah, mit Kennerauge betrachtete. Er bemerkte Rebus' Blick und hob die Augenbrauen, zuckte die Schultern und machte dann eine Geste mit beiden Händen. Ja, dachte Rebus, ich weiß, was du meinst. Aber lass dich bloß nicht von ihr dabei erwischen, das zu denken, was du offensichtlich denkst. Und, vermutlich, was er selbst dachte. »Ich glaube, wir sollten jetzt rübergehen«, meinte er. »Die anderen Frauen dürften allmählich ungeduldig werden.« 141 »Sollen sie ruhig!«, rief sie aus. »Beziehungsweise«, sagte Rebus, »könnten Sie vielleicht vorgehen? Sie darauf vorbereiten, dass wir sie möglicherweise ein bisschen länger hierbehalten müssen, als wir gedacht hatten?« Bei dieser Neuigkeit hellte sich ihr Gesicht auf, verzog sich dann aber verächtlich. »Sie meinen, ich soll Ihnen die Drecksarbeit abnehmen, ja?« Rebus zuckte unschuldig die Schultern. »Ich würde mich nur vorher gern mit meinem Kollegen über den Fall austauschen.« »Ach so«, sagte sie. Nickte dann. »Ja, natürlich. Besprechen Sie sich nach Herzenslust. Ich sag denen inzwischen, dass sie bleiben sollen, wo sie sind.« »Danke«, sagte Rebus, aber sie war schon aus dem Raum. Cluzeau pfiff leise. »Was für ein Weib!« Es war natürlich als Kompliment gemeint, und Rebus nickte. »Also, was denken Sie?« »Denken?«
»Über den Diebstahl.« »Ach so.« Cluzeau kratzte sich mit sämtlichen Fingern am Kinn. »Ein Verbrechen aus Leidenschaft«, antwortete er schließlich mit großer Entschiedenheit. »Wie kommen Sie darauf?« Cluzeau zuckte wieder einmal mit den Achseln. »Durch Ausschlussverfahren. Wir schließen Geld aus: Es gibt hier teurere Objekte, und außerdem würde ein gewöhnlicher Dieb doch wohl einbrechen, wenn niemand in der Galerie ist, oder?« Rebus nickte erfreut; seine eigenen Überlegungen gingen exakt in dieselbe Richtung. »Reden Sie weiter.« »Ich glaube nicht, dass diese Figur so wertvoll ist, dass ein Sammler sie stehlen lassen würde. Sie ist nicht versichert, 142 also besteht auch für die Künstlerin kein Grund, sie stehlen zu lassen. Also kommen wir zur »falschen Schlange«. Eine Frau, die die Künstlerin persönlich kennt. Warum sollte so eine Frau - eine angebliche Freundin - dieses Werk stehlen?« Nach einer Kunstpause beantwortete er seine Frage selbst. »Eifersucht. Rache - et voilä, das Verbrechen aus Leidenschaft.« Rebus applaudierte lautlos. »Bravo. Aber da draußen sind mehr als dreißig Verdächtige und keine Spur von der Statuette.« »Ah, ich habe nicht gesagt, dass ich das Verbrechen aufklären kann; was ich zu bieten habe, ist nur das Warum.« »Dann kommen Sie mit«, sagte Rebus, »und wir werden gemeinsam auch noch das Wer und das Wie herausfinden.« Im Hauptraum der Galerie war Serena Davies in ein lautstarkes Gespräch mit einer Handvoll Frauen verwickelt. Brian Holmes versuchte, einem zweiten Grüppchen Namen und Adressen zu entlocken. Eine dritte Gruppe stand, gelangweilt und niedergeschlagen, beim Getränketisch, und eine vierte plauderte, mit gelegentlichen Seitenblicken, vor dem Porträt eines grellrot klaffenden Schlitzes. Die meisten Frauen im Raum trugen entweder fest unter den Arm geklemmte Taschen oder ließen Umhängetaschen zwanglos an der Seite baumeln. Es gab aber auch ein paar größere Taschen, und die bildeten ein eigenes, isoliertes Grüppchen zwischen dem Getränketisch und einem weiteren kleinen Tisch, auf dem Kataloge und ein Gästebuch lagen. Rebus sah sich die Taschen an. Es gab eine große aus Bast, in der sich lediglich eine Kaschmir-Strickjacke und ein zusammengefalteter Guardian befanden. Es gab eine Plastiktüte aus dem Kaufhaus, die einen Schirm, ein paar Bananen, ein dickes Taschenbuch und einen Guardian enthielt. Es gab eine Segeltuch-Einkaufs 142 tasche, in der eine leere Chipstüte, ein Scotsman und ein Guardian lagen. Das alles konnte Rebus feststellen, indem er einfach in die Taschen von oben hineinschaute. Er bückte sich und hob die Plastiktüte auf. »Dürfte ich fragen, wem die hier gehört?«, sagte er laut. »Mir.« Eine junge Frau kam vom Getränketisch herüber und errötete heftig. »Folgen Sie mir bitte«, forderte Rebus sie auf und ging in das angrenzende Zimmer. Cluzeau folgte ihm, dann, ein paar Sekunden später, mit angstvoll geweiteten Augen, auch die Tütenbesitzerin. »Nur ein paar Fragen, das ist alles«, erklärte Rebus, bemüht, ihr die Befangenheit zu nehmen. Im Hauptraum herrschte jetzt atemlose Stille; er wusste, dass alle die Ohren spitzten, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen. Es war lediglich Brian zu hören, der eine Adresse laut wiederholte, während er sie sich notierte.
Rebus fühlte sich ein bisschen wie ein Scharfrichter, wie er so zu den Taschen ging, sie eine nach der anderen aufhob und mit der jeweiligen Besitzerin in Richtung Guillotine entschwand. Die Eigentümerin der Kaufhaustüte war Trish Poole, die Ehefrau eines Psychologiedozenten. Rebus kannte Dr. Poole von einer früheren Gelegenheit her, und das sagte er ihr jetzt in der Hoffnung, dass sie das etwas beruhigen würde. Wie sich herausstellte, waren viele der heute anwesenden Frauen entweder selbst Akademikerinnen oder mit Akademikern verheiratet. Zu letzterer Gruppe gehörte außer Trish Poole auch Rebecca Eiser, Ehefrau des renommierten Professors für englische Literatur. Als Trish Poole ihm das mitteilte, zuckte Rebus zusammen und wurde blass. Aber die Sache lag schon lang zurück. 143 Nachdem Trish Poole zu ihrer - sofort aufgeregt lostuschelnden - Gruppe zurückgekehrt war, nahm sich Rebus die Leinwandtasche vor. Sie gehörte Margaret Grieve, einer Schriftstellerin und nach eigenen Angaben »einer von Serenas engsten Freundinnen«. Rebus zweifelte nicht daran und fragte, ob sie verheiratet sei. Nein, das war sie nicht, wohl aber »verpartnert«. Sie lächelte strahlend, als sie das sagte. Rebus erwiderte das Lächeln. War sie in dem betreffenden Raum gewesen, als sich herausgestellt hatte, dass die Figur verschwunden war? Ja. Gesehen hatte sie allerdings nichts. Sie hatte sich ganz auf die Gemälde konzentriert. Und zwar so sehr, dass sie nicht einmal mit Sicherheit hätte sagen können, ob die Plastik noch da gewesen war, als sie den Raum betreten hatte, oder ob sie schon verschwunden war. Möglicherweise, meinte sie, sei sie schon verschwunden gewesen. Von Rebus entlassen, kehrte sie zu der vor dem Gemetzel in Öl herumstehenden Gruppe zurück, und auch sie fingen an, angeregt zu flüstern. Jetzt trat eine elegante, ältere Dame aus derselben Gruppe vor. »Die letzte Tasche gehört mir«, sagte sie arrogant; ihre Aussprache war reinstes vornehmes Morningside. Vielleicht war sie Jean Brodies Sprecherzieherin gewesen; aber nein, sie war nicht einmal ganz so alt wie Maggie Smith, obwohl sie Rebus durchaus an die Schauspielerin erinnerte. Cluzeau wirkte durch dieses hoheitsvolle Beispiel schottischen Frauentums leicht eingeschüchtert. Er hielt einen gewissen Abstand, wodurch ihre Vokale den notwendigen Freiraum hatten, um sich voll zu entfalten. Und wie Rebus bemerkte, presste er sein Täschchen an den Unterleib, als wäre es ein Talisman. Vielleicht waren sporrans ja tatsächlich nichts anderes? »Ich bin Maureen Beck«, informierte sie die beiden mit lauter Stimme. Na, um dieses Gespräch mitzubekommen, 143 würden die Damen ihre Lauscher bestimmt nicht überbeanspruchen müssen. Maureen Beck erklärte Rebus, sie sei mit dem Architekten Robert Beck verheiratet, und zeigte sich überrascht, als der Name dem Polizisten nichts sagte. Darauf entschied sie, dass ihr Rebus unsympathisch war, wandte sich Cluzeau zu und antwortete jedes Mal, wenn Rebus eine Frage stellte, dem lächelnden Franzosen. Ja, sie war zu dem fraglichen Zeitpunkt auf der Toilette gewesen und hatte bei ihrer Rückkehr das reinste Pandämonium vorgefunden. Sie war nur ein paar Minuten lang nicht im Zimmer gewesen und hatte niemanden gesehen... »Nicht einmal Ms. Fowler?«, fragte Rebus. »Soweit ich weiß, verspätete sie sich?« »Doch, aber sie traf erst zwei Minuten, nachdem ich zurückgekommen war, ein.« Rebus nickte nachdenklich. Er hatte eine lästige Schinkenfaser zwischen zwei Backenzähnen und pulte mit der Zunge daran herum. Eine Frau streckte den Kopf durch die Tür.
»Hören Sie, Inspector, einige von uns haben heute Nachmittag Verabredungen. Gibt es hier nicht wenigstens ein Telefon, das wir benutzen könnten?« Das war eine gute Frage. Wer leitete eigentlich die Galerie? Wie sich herausstellte, war die Galeristin ein schüchternes, kleines Persönchen, das sich in der friedlichsten Gruppe versteckt hatte. Sie führte nur die Geschäfte für den eigentlichen Besitzer, der gerade einen wohlverdienten Urlaub in Paris verbrachte. (Cluzeau verdrehte an dieser Stelle die Augen. »Niemand«, sagte er schaudernd, »verdient eine solche Tortur.«) Es gab ein enges Büro und darin ein altmodisches Bakelittelefon. Wenn die Damen bitte zwanzig Pence pro Anruf hinlegen könnten... Vor dem Büro begann sich eine Schlange zu bilden. (»Ah, wie gern 144 die Briten Schlange stehen!«) Mrs. Beck war mittlerweile zu ihrer Gruppe zurückgekehrt. Rebus folgte ihr und wurde mit Ginny Elyot bekannt gemacht, derjenigen, die Alarm geschlagen hatte, sowie mit Moira Fowler, der Zuspätgekommenen. Ginny Elyot fasste sich fortwährend ans kurze rotbraune Haar, als suchte sie darin nach abhanden gekommenen Kunstgegenständen. Ein nervöser Tick, mutmaßte Rebus. Cluzeau wurde rasch zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, und sogar die distanzierte und unpünktliche Moira begann, Anteil an der Befragung zu nehmen. Rebus verdrückte sich und berührte Brian Holmes am Arm. »Hier sind alle Adressen, Sir.« »Gut gemacht, Brian. Hören Sie, flitzen Sie mal eben nach oben, ja? Sehen Sie sich im Lokus um.« »Wonach suche ich genau - nach verdächtig geformten Wollsträngen?« Rebus würdigte das tatsächlich mit einem Lachen. »Das Glück sollten wir haben! Aber es stimmt schon, man kann nie wissen, was man so alles findet. Und checken Sie auch etwaige Fenster. Es könnte draußen ein Fallrohr geben.« »Okay.« Als Holmes gegangen war, berührte eine kleine Hand Rebus' Arm. Ein Mädchen um die siebzehn, achtzehn, strahlende Augen hinter gelehrter Brille, deutete mit einem Ruck des Kopfes nach nebenan. Rebus folgte ihr. Sie war so klein und sprach so leise, dass er sich buchstäblich mit den Händen auf die Knie stützen und vorbeugen musste, um zu verstehen, was sie sagte. »Ich will die Story.« »Bitte?« »Ich will die Story für die Zeitung meines Dads.« Rebus sah sie an. Auch seine Stimme sank zu einem dramatischen Flüstern herab. »Sie sind Lesley Jameson?« 144 Sie nickte. »Ich verstehe. Also, was mich betrifft, gehört die Story Ihnen. Bloß haben wir noch gar keine Story.« Sie schaute sich um, und dann wurde ihre Stimme um noch einen Strich leiser. »Sie haben sie gesehen.« »Wen?« »Serena natürlich. Sie ist hinreißend, nicht?« Rebus bemühte sich um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck. »Sie wirkt auf Männer wahnsinnig attraktiv.« Diesmal versuchte er sich an einem gallischen Achselzucken. Er fragte sich, ob es so dämlich aussah, wie es sich anfühlte. Ihre Stimme erstarb jetzt fast vollständig, so dass Rebus sich nur noch mit Lippenlesen behelfen konnte. »Ihr laufen haufenweise Männer hinterher. Einschließlich dem von Margaret.« »Ah«, sagte Rebus, »so.« Zusätzlich nickte er. Dann war Margaret Grieves Freund also...
Die Lippen vollführten ein paar weitere Bewegungen. »Er ist Serenas Lover.« Ja, tja, allmählich ergab die Sache etwas mehr Sinn. Vielleicht hatte der Franzose ja wirklich recht: ein Verbrechen aus Leidenschaft. Das Einzige, was bislang gefehlt hatte, war die Leidenschaft; jetzt allerdings nicht mehr. Und bei Licht betrachtet war es doch seltsam, dass Margaret Grieve sich nicht erinnern konnte, ob die Statuette, als sie den Raum betrat, noch da gewesen war. Direkt unauffällig war das Ding ja nicht. Unwahrscheinlich, dass man es wegen einer Handvoll Gemälde mit mehr oder weniger den gleichen pinkfarbenen Wülsten und grauen geschwungenen Formen übersah. Unter den Zeitungen in ihrer Tasche hätte sich die Plastik auch ganz leicht verstecken lassen. Es gab nur ein Problem. Cluzeau streckte den Kopf durch die Türöffnung. »Ah! Hier sind Sie. Tut mir leid, wenn ich unterbreche -« Aber Lesley Jameson war schon auf den Weg zurück in 145 den Hauptraum. Cluzeau blickte ihr nach, wandte sich dann zu Rebus. »Charmante Frauen.« Er seufzte. »Aber allesamt entweder verheiratet oder sonst wie vergeben. Und eine von ihnen ist natürlich die Diebin.« »Ach?« Rebus tat überrascht. »Sie meinen, eine von den Frauen, mit denen Sie sich gerade unterhalten haben?« »Natürlich.« Jetzt senkte auch er die Stimme. »Die Plastik hat die Galerie in einer Handtasche verlassen. Einfach unter dem Kleid konnte man sie ja schließlich nicht verstecken. Aber ich glaube nicht, dass eine Plastiktüte dafür haltbar genug gewesen wäre. Wir können also zwischen Madame Beck und Mademoiselle Grieve wählen.« »Grieves Lover hat was mit unserer Künstlerin.« Cluzeau verdaute die Information. Aber auch er wusste, dass es da ein Problem gab. »Sie hat die Galerie nicht verlassen. Sie war zusammen mit den anderen hier eingesperrt.« Rebus nickte. »Also muss es eine Komplizin geben. Ich glaube, ich sollte mich noch ein bisschen mit Lesley Jameson unterhalten.« Aber jetzt war Brian Holmes wieder da. Er atmete lautstark auf. »Gedankt sei dem Herrn«, sagte er. »Einen Moment lang habe ich gedacht, Sie hätten sich verdünnisiert und mich hier sitzenlassen.« Rebus grinste. »War vielleicht gar keine so schlechte Idee gewesen. Wie war's auf dem Klo?« »Na ja, handfeste Beweisstücke habe ich keine gefunden«, erwiderte Holmes, ohne eine Miene zu verziehen. »Keine an den Armaturen befestigten, aus dem Fenster hängenden Wollstränge, an denen ein Einbrecher hätte runterkraxeln können.« »Aber ein Fenster ist da?« »Ein kleines, im eigentlichen Klosettraum. Ich hab mich 145 auf die Brille gestellt und runtergeschielt. Geht zwei Stockwerke tief runter, in eine Art Hinterhof, darin bloß ein verrosteter R5 und ein Müllcontainer voller Pappkartons.« »Gehen Sie runter, und sehen Sie sich den Container an.« »Ich hatte mir irgendwie gedacht, dass Sie das sagen würden.« »Und sehen Sie sich auch den Renault an«, befahl Cluzeau mit strenger Miene. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein französischer Wagen rostet. Vielleicht haben Sie sich geirrt, und es ist ein Minicooper, nein?« Holmes, der sich was darauf einbildete, einiges von Autos zu verstehen, wollte schon widersprechen, als er bemerkte, dass das Gesicht des Franzosen lächelnd in die Breite ging. Er lächelte ebenfalls.
»Nur gut, dass Sie Sinn für Humor haben«, sagte er. »Den werden Sie nach dem Spiel am Sonntag bitter nötig haben.« »Und Sie werden Ihren schottischen Stoizismus brauchen.« »Sparen Sie sich das für die Halbzeitshow auf, okay?«, sagte Rebus. »Je schneller wir die Sache hier hinter uns bringen, desto mehr Zeit bleibt uns für die Sightseeingtour.« Cluzeau schien Einwände erheben zu wollen, aber Rebus hob eine Hand. »Glauben Sie mir«, sagte er, »die Sehenswürdigkeiten wollen Sie bestimmt nicht verpassen. Nur die Einheimischen kennen die wirklich besten Pubs von Edinburgh.« Holmes ging den Container inspizieren, und Rebus tuschelte mit Lesley Jameson - wenn er nicht gerade Beschwerden der Inhaftierten abwies. Was den meisten von ihnen zunächst wie etwas Ungewohntes und Spannendes erschienen war, wie eine Anekdote, die man beim Dinner würde erzählen können, war jetzt lediglich ermüdend ge 146 worden. Als sie die erwünschten Telefonate führten, hatte Rebus nicht vermeiden können, einzelne Fetzen dieser Gespräche mitzubekommen. Die Frauen teilten nicht mit, dass sie sich verspäten würden, sagten auch keine Termine ab: Sie verbreiteten lediglich die Neuigkeit. »Hören Sie, Inspector, mir reichts langsam, hier festgehalten zu werden.« Rebus wandte sich von Lesley Jameson ab und der Sprecherin zu. Er antwortete ganz ruhig: »Sie werden hier nicht festgehalten.« »Was?« »Wer hat das behauptet? Meines Wissens doch nur Ms. Davies. Sie dürfen gehen, wann immer Sie möchten.« Allgemeine Unschlüssigkeit: gehen und erneut die Freiheit genießen? Oder bleiben, um ja nichts zu verpassen? Es erfolgten allerlei gemurmelte Dialoge, und schließlich brachen ein, zwei Gäste tatsächlich auf. Sie marschierten einfach hinaus und zogen die Tür hinter sich zu. »Soll das heißen, dass wir gehen können?« Rebus nickte. Eine weitere Frau ging, dann noch eine, dann mehrere. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, mich rauszuschmeißen«, sagte Lesley Jameson in drohendem Ton. Sie wollte unbedingt Journalistin werden, und sie wollte es auf die hardknocks-Weise schaffen, ohne Papis Protektion. Rebus schüttelte den Kopf. »Reden Sie einfach nur weiter«, sagte er. Cluzeau unterhielt sich angeregt mit Serena Davies. Als Rebus sich den beiden näherte, betrachtete sie gerade die schlanken, aber kräftigen Hände des Franzosen. Rebus vollführte mit seiner ungepflegten Pranke eine weit ausholende Geste. »Haben Sie«, fragte er, »je Schwierigkeiten damit, Modelle für diese ganzen Bilder zu finden?« 146 Sie schüttelte den Kopf. »Nein, kann ich nicht behaupten. Komisch, dass Sie danach fragen, Monsieur Cluzeau meinte gerade -« »Ja, das kann ich mir bildlich vorstellen. Aber Monsieur Cluzeau —«, er probierte die Wörter gewissermaßen aus, und plötzlich klangen sie nicht mehr so lächerlich, »- hat Frau und Kinder.« Serena Davies lachte; ein tiefes Gurren, das dem Franzosen das Rückgrat rauf- und runterzulaufen schien. »Ich dachte, wir reden über Modellstehen, Inspector.« »Stimmt«, entgegnete Rebus trocken, »aber ich bin mir nicht so sicher, dass Mrs. Cluzeau das auch so sehen würde...« »Inspector...?« Es war Maureen Beck. »Wie es aussieht, gehen alle. Darf ich das so verstehen, dass wir entlassen sind?«
Rebus wurde plötzlich dienstlich. »Nein«, antwortete er. »Ich möchte Sie bitten, noch ein Weilchen zu bleiben.« Er warf einen Blick auf das Grüppchen - Ginny Elyot, Moira Fowler, Margaret Grieve. »Sie alle, bitte. Es wird nicht lange dauern.« »Das sagt mein Mann auch immer«, bemerkte Moira Fowler und führte ein Glas Wasser an die Lippen. Sie legte sich eine Tablette auf die Zunge und spülte sie hinunter. Rebus zwinkerte Lesley Jameson zu. »Bitte anschnallen«, sagte er zu ihr. »Wir erwarten einige Turbulenzen.« Die Galerie leerte sich jetzt zusehends, und Holmes betrat den Raum, nachdem er auf der Treppe gegen den Ebbstrom angekämpft hatte, mit wackligen Knien; seine Augen suchten nach Rebus. »Herr Jesus!«, rief er. »Ich dachte schon, Sie hätten jetzt doch noch beschlossen, sich zu verdrücken. Was ist los? Warum gehen alle?« »Irgendwas im Müllcontainer?« Aber Holmes zuckte die 147 Schultern: nichts. »Ich hab alle nach Hause geschickt«, erklärte Rebus. »Alle außer uns«, warf Maureen Beck verschnupft ein. »Nun«, sagte Rebus, zu den vier Frauen gewandt, »das liegt daran, dass niemand außer Ihnen irgendetwas über den Verbleib der Statue weiß.« Die Frauen selbst sagten dazu nichts, aber Cluzeau schnappte hörbar nach Luft vielleicht, damit sie es nicht zu tun brauchten. Serena Davies aber hatte ihr Gurren durch das Knacken eines Eisblocks ersetzt. »Sie meinen damit, eine von denen hat mein Werk gestohlen?« Rebus schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht damit. Eine allein hätte das unmöglich geschafft. Dazu war schon eine Komplizin nötig.« Er nickte in Richtung Moira Fowler. »Ms. Fowler, warum begleiten Sie nicht DC Holmes hinunter zu Ihrem Wagen? Er kann die Plastik wieder herauftragen.« »Moira!« Ein weiterer Tonwechsel, diesmal von Eis zu Feuer. Einen Moment lang dachte Rebus, Serena Davies würde sich auf die Diebin stürzen. Vielleicht dachte das Moira auch, denn sie ging ohne weitere Aufforderung zur Tür. »Okay«, sagte sie, »wenn Sie meinen.« Holmes beobachtete sie dabei, wie sie an ihm vorbei ins Treppenhaus ging. »Na dann los, Brian«, befahl Rebus. Holmes wirkte unschlüssig. Er wusste, dass er die Auflösung nicht mitbekommen würde. Außerdem war er nicht im mindesten scharf darauf, das Scheißding die Treppe raufzutragen. »Viteh, rief Rebus, ein weiteres französisches Wort, das ihm plötzlich wieder eingefallen war. Holmes schleppte sich auf müden Beinen zur Tür. Treppe rauf, Treppe runter, Treppe rauf. Er konnte sich nicht verkneifen zu den 147 ken, dass das ein gutes Training für das schottische Team gewesen wäre. Serena Davies hatte sich an die Stirn gefasst. Klängere-däng, machten die Armreifen. »Ich fasse es nicht, Moira. So ein Verrat.« »Hah!«, stieß Ginny Elyot mit wütendem Blick hervor. »Verrat? Du musst grad reden! Beschwatzt Jim dazu, dir >Modell zu stehen<. Und keiner von euch beiden sagt ihr ein Wort davon. Was, zum Teufel, meinst du wohl, was sie gedacht hat, als sie das herausfand?« Wobei Jim, wie Rebus durch Lesley wusste, Moira Fowlers Mann war. Er fixierte weiter Ginny. »Und auch Sie, Ms. Elyot. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das mit - David, nicht? gemerkt haben?«
Sie nickte. Sie wollte sich wieder ans Haar fassen, bremste sich aber rechtzeitig und hielt die eine Hand mit der anderen fest. »Ja, David«, erwiderte sie leise. »Diese Plastik hat Davids Augen und sein Haar.« Sie wich Rebus' Blick aus, und der hatte den Eindruck, dass sie überhaupt nicht auf seine Frage antwortete. Sie hing Erinnerungen nach. »Und Gerrys Nase und Kinnpartie. Die würde ich jederzeit erkennen.« Diese Worte kamen von Margaret Grieve, der Verpartnerten. »Aber Gerry kann nichts geheim halten, nicht vor mir.« Maureen Beck, die die ganze Zeit genickt hatte, ohne die feuchten Augen von der Künstlerin zu wenden, sprach als Nächste. Auch ihr Mann, Robert, der Architekt, hatte Serena Davies Modell gestanden. Heimlich natürlich. Es musste heimlich geschehen: nicht auszudenken, was für Leidenschaftsausbrüche das sonst ausgelöst hätte. Selbst in einer Stadt wie Edinburgh, selbst bei scheinbar so beherrschten und nüchternen Frauen. Vielleicht war das alles ganz harmlos gewesen. Vielleicht. 148 »Die Figur hat Roberts Körper«, sagte Maureen Beck. »Bis hin zur Narbe auf der Brust, vom Reitunfall her.« Ein Verbrechen aus Leidenschaft, genau wie Cluzeau gemutmaßt hatte. Und das, nachdem Rebus ihm erklärt hatte, so etwas wie Leidenschaft gäbe es in dieser Stadt nicht. Aber es gab sie durchaus; und Geheimnisse gab es ebenfalls. In diesen Bildern eingeschlossen - kein Problem, solange sie abstrakt gemalt waren. Aber mochte die »Monströse Trompete« auch noch so sehr, wie Serena Davies erklärt hatte, eine »Montage« sein - das Resultat traf mitten ins Schwarze. Für jede der vier Frauen enthielt sie etwas Erkennbares, etwas nach der Natur Gebildetes, von Ehemann oder Lover. Etwas, das brannte und demütigte. Unfähig, den Gedanken zu ertragen, dass die Plastik öffentlich ausgestellt werden würde, dass Bekannte die Galerie besuchten und sagten: »Mein Gott, sieht der nicht aus wie...?« Unfähig diese Vorstellung zu ertragen, und dazu die Lächerlichkeit (der naturgetreue Penis, die Zunge und dann noch dieses Pflaster) des Ganzen, waren sie gemeinsam auf einen Plan verfallen. Es war ein ungeschickter, fast nicht zu verwirklichender Plan, aber der einzige, den sie hatten. Die Plastik war in Margaret Grieves geräumiger Tasche gelandet, worauf Ginny Elyot Alarm geschlagen hatte - so hysterisch, dass alle Besucherinnen in den einen Raum geströmt waren und dabei im allgemeinen Gedränge nicht mitbekommen hatten, dass Maureen Beck sich diskret in die entgegengesetzte Richtung, gegen den Strom, bewegte. Dann hatte Maureen Beck die Tasche übernommen und war damit unbemerkt eine Treppe höher zur Toilette gegangen, Sie hatte das Fenster geöffnet und die Plastik in den Müllcontainer fallen lassen, aus dem Moira Fowler sie herausgefischt und dann zu ihrem Wagen getragen hatte. Mrs. Beck war gerade in dem Moment zurückgekommen, als Serena Davies die Besucherinnen da 148 ran hinderte, die Galerie zu verlassen; ein, zwei Minuten später tauchte Moira Fowler auf. Sie betrat jetzt den Raum, gefolgt von einem rotgesichtigen Holmes, der die Statuette wie ein Baby in den Armen hielt. Serena Davies schien davon allerdings keine Notiz zu nehmen. Sie starrte unverwandt auf den Parkettfußboden und wurde ihrerseits von Cluzeau gemustert. »Was für ein Weib!«, hatte er von ihr gesagt. In der Tat, was für ein Weib. Die vier Diebinnen hätten der Bezeichnung »Weib« mit Sicherheit zugestimmt. Wer weiß, dachte Rebus, sie wären damit vielleicht sogar in bon accord gewesen. Die Künstlerin war weder so starrsinnig noch so dumm, auf einer Anzeige zu bestehen, und sie beugte sich Rebus' Vorschlag, das Objekt aus der Ausstellung zu nehmen. Als Nächstes musste Lesley Jameson zur Einsicht gebracht werden, dass es besser sei, die
Story nicht an die Zeitung ihres Vaters zu geben. Am Ende siegte die weibliche Solidarität, aber es war ein knapper Sieg. Ansonsten eher weniger weibliche Solidarität, dachte Rebus. Er malte sich ein paar fiktive Schlagzeilen aus, von der Art, die Dr. Curt goutiert hätte: DIE FEMINISTIN UND IHRE MODELLGATTEN; SERENAS MONSTRÖSE MÄNNERMENAGERIE; DER ANTI-KNOX-KNOCK-OUT. Das alles, während er in eine Ecke der Sutherland Bar gequetscht saß. Irgendwann im Lauf der Kneipentour hatte Cluzeau - Jean-Pierre, wie er jetzt unbedingt von Rebus genannt werden wollte - ein halbes Dutzend französische Fans aufgegabelt, die wegen des Spiels in der Stadt und schon pokalreif angedröhnt waren. Dann hatten sich auch ein paar schottische Fans drangehängt, und jetzt standen sie gut ein Dutzend Mann hoch am Tresen und sangen französische Rugbylieder. Es konnte nur eine Frage von 149 Minuten sein, bis einer von ihnen einen Eiskübel über den Kopf geleert kriegen würde. Rebus betete darum, dass es nicht Brian Holmes sein würde, der, mit heraushängendem Hemd und gelockertem Schlips, trotz der Sprachbarriere -oder vielleicht gerade deswegen - begeistert mitsang. Kindisch natürlich. Aber so waren Männer nun mal. Schlichte Vergnügungen und schlichte Verbrechen. Die männliche Rache war geradezu schlicht bis zur Infantilität: Man baute sich vor dem betreffenden Dreckskerl auf und haute ihm die Faust in die Fresse oder rammte ihm das Knie in die Nüsse. Doch die Rache des Weibes... Ah, die war von unfassbarer Subtilität! Er fragte sich, ob die Sache jetzt wohl ausgestanden sei oder ob Serena mit weiteren -vielleicht durchdachteren, besser ausgeführten oder brutaleren Anschlägen zu rechnen haben würde. Er hatte eigentlich keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Hatte keine Lust, sich an den Hass in den Stimmen der vier Frauen oder das böse Funkeln in ihren Augen zu erinnern. Er trank, um zu vergessen. Deswegen gingen Männer schließlich zur Fremdenlegion, oder? Um zu vergessen. Oder doch nicht? Es fiel ihm ums Verrecken nicht ein. Aber da war noch was, was ihm keine Ruhe ließ. Die Frauen hatten Anspruch auf die Kinnpartie eines Lovers, den Körper eines Ehemanns erhoben. Aber wem, konnte er nicht umhin, sich zu fragen, gehörte eigentlich der Penis? Jemand zerrte ihn am Arm, zog ihn hoch. Die Gläser flogen vom Tisch, und plötzlich hatte er einen überschwänglichen Jean-Pierre am Hals. »John, mein Freund. John, sagen Sie, wer ist eigentlich dieser Peter Zellas, von dem mir alle erzählen?« »Er heißt Seilers«, korrigierte ihn Rebus. Sagen oder nicht sagen? Er machte den Mund auf. Hinter ihm ertönte das MG-Feuer von Gegenständen, die auf den Tresen pras149 selten. Kleine, harte Gegenstände. Dann war es stockdunkel, und sein Kopf fühlte sich sehr kalt und sehr nass an. »Dafür krieg ich Sie am Arsch, Brian«, sagte er und riss sich den Eiskübel vom Kopf. »So wahr mir Gott helfe!« ANMERKUNG DES VERFASSERS Es gibt Cluzeaus in Perigueux und Umgebung. Jede Menge davon, und alle so geschrieben. Sie können es gern im Telefonbuch der Dordogne nachprüfen. Ich hab's getan. LR.