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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Eva Karčírková Ein verhängnisvoller Ausflug
Kriminalroman
Es gibt tarnend bessere Möglichkeiten, einen Juninachmittag zu verbringen, als in einer Baracke inmitten eines staubigen Bauplatzes über Verträgen zu sitzen, dachte Petr Martin, als er mit der schönen Hanka Drozdová zu deren Waldgrundstück unweit von Prag fuhr. Allzulange sollte seine Hochstimmung jedoch nicht anhalten. Hanka hatte sich kurz verabschiedet, um den Hausschlüssel zu holen, und Martin erkundete währenddessen Grundstück und Haus. Als er die Hintertür unverschlossen fand, betrat er das Haus, sah sich um, stieg eine schmale Treppe hinauf und gelangte in einen Raum, der angefüllt war mit alten Schiffsmodellen, Autos, Flugzeugen, einer elektrischen Eisenbahn – herrlichem Spielzeug für Erwachsene. Gebannt starrte Martin auf diese Zauberwelt. Nur allmählich kehrte er in die Wirklichkeit zurück und suchte den Besitzer dieser Schätze. Er fand ihn zusammengekrümmt auf dem Fußboden, leichter Pulvergeruch schwebte noch im Raum …
Eva Kačírková
Ein verhängnisvoller Ausflug
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Předpověd minulosti aus: Sedm stupňů do pekla, Mladá fronta, Prag 1979 © Eva Kačírková 1979 Aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1984 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/125/84 • LSV 7234 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 08/2010 622 619 5 00200
Über dem Flugplatz bei Kbely glitt ein Hubschrauber wie eine große, betrunkene Libelle vom blauen Himmel herab. Kurz darauf verschwand er hinter Bäumen. Durch das frischgrüne, noch nicht staubige Spitzengewebe der Blätter drang die Sonne, und die Landstraße, von einem morgendlichen Regen gedunkelt, erschimmerte weiß unter ihren Strahlen. Die Militärbaracken hinter einem Zaun wirkten sauber und ansehnlich. Aus einem Tor kam im Gänsemarsch ein kleiner Trupp in Tarnanzügen. Ohne sich umzusehen, liefen zwei Soldaten mit langen Schritten quer über die Straße. Ich trat aufs Bremspedal. Die verstärkten Bremsen, in sechzigtausend Kilometern erprobt, stoppten den Wagen nach dreißig Metern. Die Schuldigen grinsten zu dem jugendlichen Feldwebel hinüber, der sie mit wutverzerrtem Gesicht anschrie. Er blickte zu mir, verstummte und dankte mit militärischem Gruß. Unwillkürlich erwiderte ich die Ehrenbezeigung mit derselben Geste. Erst im letzten Moment veränderte ich sie zu einem dümmlichen Winken. Das Mädchen neben mir kicherte. Mit den Riemen von einem Ohr zum anderen und in ihren scheckigen Uniformen sahen die Soldaten wie Springfrösche aus. Das Mädchen beugte sich zu den beiden Burschen hin, daß sie Stielaugen bekamen. Das Grinsen auf ihren Gesichtern verwandelte sich in ein verlegenes Lächeln. Der Kleinere von beiden legte die Hand an den Stahlhelm. 6
Ich schaltete, gab Gas und schnellte los. Das Mädchen auf dem Beifahrersitz lachte laut auf. Dabei strahlte sie mich wie eine Filmdiva an. In den schokoladenbraunen Augen funkelten spöttische Lichtlein. „Sie behandeln Ihren Wagen nicht gerade rücksichtsvoll“, sagte sie mit einem Blick auf den Tachometer. „Daran ist er gewöhnt“, erwiderte ich lässig. „Die Karre hat schon einiges mitgemacht.“ Sie sah mich neugierig an. „Ich dachte, der Wagen ist neu?“ „Ach woher! Er hat seine sechzigtausend hinter sich, allerdings ist er generalüberholt und …“ „Dann sollten Sie nicht neunzig fahren“, rügte sie mich. „Besonders nicht innerhalb einer Ortschaft.“ Ich legte noch einen Zahn zu und fragte scheinheilig: „Haben Sie etwa Angst?“ „Ich nicht, aber Sie sollten Angst haben vor … na bitte! Da haben Sie’s!“ Am Straßenrand stand eine weiße Maus mit dem berüchtigten Stab in der erhobenen Hand. Ich seufzte tief. „Guten Tag“, sagte der Ordnungshüter. „Wissen Sie, mit welcher Geschwindigkeit Sie gefahren sind?“ Nach wenigen Minuten durfte ich weiterfahren, nachdrücklich verwarnt und um fünfzig Kronen erleichtert. „Sehen Sie“, moralisierte meine Beifahrerin. „Die Raserei ist Sie ziemlich teuer gekommen.“ „Ich rase, weil ich wenig Zeit habe“, entgegnete ich eisig. Und die Strafe müßtest du zahlen, fügte ich im stillen hinzu. „Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich Ihnen Ihre Zeit raube“, fuhr sie unerwartet sanft fort. „Josef ist ein alter Freund von mir. Ich habe mich an ihn gewandt, weil …“ Von mir auch! Und mir hat er diese dämliche Sache aufgehalst! Voller Bitterkeit dachte ich an Josef Kamínek, meinen Chef und Freund. Ich schwieg trübsinnig. 7
Die Schranken in Brandýs waren erstaunlicherweise einmal nicht geschlossen. Vorbildlich fuhr ich durch die Stadt. In der Brieftasche waren mir zwanzig Kronen Kleingeld verblieben, das Benzin reichte gerade für die Rückfahrt nach Prag. Mein gebraucht gekaufter Wagen hatte sich bald als notorischer Säufer entpuppt. „An der Kreuzung links“, sagte meine Begleiterin mit samtener Stimme. „Dann ist es nicht mehr weit.“ Die Landstraße schlängelte sich nach wenigen hundert Metern zwischen Feldern hindurch. Der Horizont war von Bäumen begrenzt, links vor uns lag ein Kieferngehölz. „Dort – in dem Wald“, sagte sie. „Gleich am Rand.“ Waghalsig und wieder frohgemut überholte ich zwei schwer beladene Laster, die wie auf der Autobahn dahinbrausten, und bog in einen Schotterweg ein. Die Steine trommelten an das Blech, der Wagen geriet ins Schleudern. Zwischen den braungrauen Stämmen leuchtete etwas Rotes. Ich drosselte die Geschwindigkeit, schaltete den Motor ab und fuhr die letzten fünfzig Meter im Leerlauf. Das Grundstück war von einem Zaun aus gebeizten Fichtenbrettern umgeben. Ich hielt vor dem Tor und stieg aus. Der dunkelrote Putz des Hauses, das viel größer war, als ich vermutet hatte, schockierte mich. In meine verräucherten Prager Lungen drang kühle, harzige Luft. Sogleich sehnte ich mich danach, hier zu wohnen und das zu besitzen, was das Mädchen, das ich hierher gebracht hatte, so sündhaft leichtsinnig loswerden wollte. Fräulein Hanka Drozdová stand neben mir und blickte mich erwartungsvoll an. Sie war etwas kleiner als ich, sehr schlank, aber nicht mager, das hellbraune Haar fiel bis auf die Schultern. Ein Sonnenstrahl, der in dem dichtbelaubten Astwerk ein Schlupfloch gefunden hatte, kitzelte ihren gebräunten Hals. Schnell verdrängte ich die Gedanken, die sich bei der Verbindung Sommertag – 8
schöne Frau – Waldeinsamkeit einstellten. Nach dem, was ich erst unlängst erlebt hatte, funktionierten die Warnsignale noch. „Das wollen Sie also verkaufen“, sagte ich ohne Gemütsbewegung. „Ja. Was meinen Sie dazu?“ Sie wartete auf meine Antwort. Ich zuckte die Schultern. „Nichts. Auf den ersten Blick wage ich nicht mal, den Wert annähernd zu schätzen. Aber eines sieht man gleich – das wird ein teurer Spaß. Für den, der das Haus kaufen will.“ „Glauben Sie, es wird sich jemand finden?“ „Keine Bange!“ Ich verzog ironisch mein Gesicht. „Die Neureichen werden sich die Klinke in die Hand geben. Warten Sie ab, was auf Sie zukommt! Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, wenn das losgeht.“ Erleichtert lachte sie auf. „Das schaffe ich schon.“ „So leicht ist das nicht. Dabei muß man gerissen sein. Ich würde …“ Sie fiel mir ins Wort: „Wollen Sie mein Makler sein? Für Provision? Danke. Die zahle ich mir lieber selber aus.“ „Daran habe ich nicht im Traum gedacht. Trotzdem würde ich Ihnen empfehlen, sich einen verläßlichen Ratgeber zu besorgen.“ Sie blickte mit leuchtenden Augen auf das Haus. In ihrem Blick lag etwas, was mich für einen Moment anwiderte. Es war Habgier, eine Eigenschaft, die ich erst kürzlich bei einer anderen Frau gesehen hatte. Sie fing meinen Blick auf, und ihr Gesicht veränderte sich sofort. „Ich gehe die Schlüssel holen“, sagte sie. „Sie sind bei Nachbarn, damit …“ „Buaf!“ erklang eine tiefe Hundestimme. Aus einem Käfig innerhalb des Gartens tauchte ein riesiger Schäferhund auf, sein knochiger Körper war mit grauem Fell bedeckt. 9
„Amigo!“ rief Fräulein Hanka. Der unschöne Ausdruck auf ihrem Gesicht war verflogen. Sie hing sich an das Tor, und für kurze Zeit sah sie aus wie ein zwölfjähriges Mädchen. „Amigo – du faules Stück! Warum hast du Frauchen nicht begrüßt, du hast wohl wieder geschlafen?“ Sie gurrte wie eine Taube, und der Hund antwortete mit einem zärtlichen Winseln, das bei einem solchen Veteranen lächerlich wirkte. Als ich näherkam, ging Amigos Winseln in drohendes Knurren über. Das graue Fell sträubte sich, der Hund fletschte die gelben Zähne. Unwillkürlich trat ich zurück. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagte Hanka. Sie gurrte immer noch, obwohl sie nicht mehr zu dem Hund sprach. „Er tut Ihnen nichts, wenn ich dabei bin. Sonst allerdings … Übrigens ist er hinter dem Zaun“, endete sie in normalem Tonfall. „Bloß gut, daß er da ist – der Zaun.“ Vorsichtig musterte ich das etwa ein Meter achtzig hohe Hindernis, das mich von der knurrenden Bestie trennte. „Der Zaun allein reicht leider nicht aus“, sagte Hanka ernst. „Ein paarmal hat man schon versucht, hier einzubrechen. Wir haben alle Parterrefenster vergittert, so konnte niemand ins Haus; aber trotzdem … Das Haus ist zu abgelegen. Deshalb lassen wir Amigo hier.“ „Tut Ihnen der Hund nicht leid?“ fragte ich unaufrichtig. Amigo erweckte alle möglichen Emotionen, nur kein Mitgefühl. „Ist doch grausam, hier allein zu sein.“ „Er ist nicht allein. Der Enkel von Frau Malásková kommt ihn füttern. Übrigens schläft Amigo sowieso beinahe die ganze Zeit. Er ist alt.“ Sie ließ das Tor los und wischte sich die Hände an ihren Jeans ab. „Ich gehe die Schlüssel holen.“ „Ich fahre Sie hin“, bot ich ihr an. Lächelnd wehrte sie ab. „Das lohnt nicht. Durch den Wald ist es viel näher. Sehen Sie sich inzwischen die 10
Gegend an! Hier ist es schön, nicht wahr?“ rief sie mir zu. Flimmerndes Haar, auf die blaßblaue Bluse fallend, das süße Mädchengesicht und der feingeschnittene Mund, der so geschäftsmäßige Worte von sich gab … Ich verzieh ihr die Habsucht. Vielleicht brauchte sie wirklich nötig Geld. Ich blickte ihr nach, bis sie im niedrigen Gesträuch, das zwischen den Bäumen wucherte, verschwunden war. Dann wandte ich mich dem Objekt zu, dessentwegen ich während der Arbeitszeit diesen Ausflug unternommen hatte. Jetzt bedauerte ich das nicht mehr. Es gab tausend bessere Möglichkeiten, einen Juninachmittag zu verbringen, als in einer Baracke inmitten eines staubigen Bauplatzes über Verträgen zu sitzen, und diese Fahrt gehörte nicht zu den schlechtesten. Josef hatte sich nicht davon überzeugen lassen, daß ich für den Dienst, den seine reizvolle Freundin von mir forderte, völlig ungeeignet war. Besaß ich auch nur die geringsten Fähigkeiten zu einem Grundstücksmakler? Ich war nicht einmal ein Baufachmann. Das Mädchen wußte das wohl gar nicht. Da ich mich auf die Sache eingelassen hatte, war es nicht ratsam, ihr das zu sagen. Sowieso würde ich sie nie wiedersehen. Ich versuchte, das Haus mit den Augen eines Fachmannes zu betrachten, wie das von mir erwartet wurde. Es gelang mir nicht. Ich sah eine große einstöckige Villa, gefällig in ein Waldgrundstück gesetzt. Nicht einmal der gräßliche Putz vermochte das Werk eines tüchtigen Architekten zu verunstalten. Vielleicht war die rote Farbe ein Zugeständnis an den Geschmack des reichen Fleischermeisters – oder was Hankas Vater auch gewesen war, auf jeden Fall ein begüterter Mann, wie Josef angedeutet hatte. Es war wohl nicht die ursprüngliche Fassa11
de. Man hatte mich informiert, daß die Villa kurz nach dem Kriege gebaut worden war, was für einen Fleischermeister sprach. Wer sonst konnte sich damals einen so kostspieligen Landsitz errichten? In dreißig Jahren wäre die scharlachrote Farbe allerdings zu einem freundlicheren Ton verblaßt. Ich ging am Zaun entlang, der ein Meisterwerk handwerklicher Kunst darstellte. Fichtenholz auf Steinsockeln. Hundeknurren riß mich aus meinen ehrenhaften fachlichen Bemühungen. Der niedrige Käfig, das Gefängnis des zutraulichen Amigo, befand sich dicht am Zaun. Die Villa stand auf einer Anhöhe, die zur Landstraße hin abfiel. Jetzt beschien die Sonne das gesamte Grundstück. Der Wald innerhalb der Umzäunung war abgeholzt und gab den Blick auf die Landstraße frei. Ich hörte das Dröhnen eines Lastwagens, der mit Vollgas fuhr, kurz darauf folgte ihm ein weiterer. Das buchte ich als kleinen Makel dieses Anwesens. Vorsichtig ging ich weiter, stets zu dem Hund hinschielend. Er rührte sich nicht, trotzdem knurrte er ausdauernd. Der Hügel fiel steil ab, unten lag eine nasse Wiese. Zwischen Sumpfgrasinseln glänzten Lachen. Eine Brutstätte für Mücken, bemerkte ich schadenfroh. Das alles war leichter zu erkennen, als die Villa nach ihrem baulichen Zustand zu bewerten. Ich ließ meinen Blick über die grünen Fluren gleiten und entdeckte zwischen Laubbäumen eine Wasserfläche. Dort schimmerte ein großer, gegliederter Teich, vielleicht waren es auch mehrere. Gerechterweise verzeichnete ich das als ein Plus. Zuletzt konstatierte ich mit Genugtuung, daß der Paradezaun das Grundstück nur von drei Seiten umgab. Über der Sumpfwiese hatte man sich mit einem Drahtgeflecht begnügt. Dort gab es eine Pforte, die nur mit einem rostigen Draht befestigt war. Als hätte er meine Gedanken erraten, gab der loyale Wächter des Besitztums einen drohenden Ton von sich. 12
„Kusch!“ befahl ich ihm. Der Hund sprang gegen den Zaun. Aus seiner Schnauze troff Speichel, die Augen glühten. Mitten im Sprung erzitterte er, und es riß ihn zu Boden. Die lange dünne Kette, die an seinem Halsband befestigt war und mit dem anderen Ende an einem Draht hing, hatte sich gespannt. Amigo röchelte und schnappte nach Luft. „Das hast du davon, du Dämlack“, sagte ich freundlich zu ihm. „Du bist so alt, und immer noch dumm.“ Diese Bemerkung konnte ich wagen. Das Hündchen hatte einen deutlich begrenzten Aktionsradius. Ich konnte noch mehr wagen und tat es auch. Eilig lief ich den Abhang hinunter, bald hatte ich die Schuhe voller Wasser – ganz unnötigerweise, weil dicht am Zaun ein trockener Pfad entlangführte. Ich stürzte auf die Pforte zu, bereit, das letzte Hindernis zu nehmen. Es gab keines. Der Draht war so verrostet, daß er sich längst aufgelöst hatte. Die Pforte war nicht verschlossen. Ich schritt über Steinstufen zu einer verfallenen Gartenlaube, setzte mich auf eine Bank und zog die Schuhe aus. Der Hund tobte. Das kümmerte mich nicht. Er war vier Meter von mir entfernt und fest angekettet. Ich ließ Schuhe und Socken auf der Bank zurück und ging barfuß über den frisch gemähten Rasen auf das Haus zu. Von der Seite wirkte es größer als von der Straße aus. Zwei Fenster dicht über dem Erdboden gehörten offenbar zum Souterrain. Ebenso wie die Parterrefenster waren sie vergittert, jedoch nicht mit verzierten, sondern mit plumpen, ungestrichenen Eisenstäben, dem Produkt eines Dorfschmieds. Der Garten war ungepflegt, verwildert. Unlängst hatte jemand zwei halbstämmige Apfelbäume zu lichten versucht, viel zu spät für dieses Jahr. Einige Heckenrosenbüsche verkümmerten im Unkraut. Hier war auch eine Tür, massiv, eisenbeschlagen und natürlich verschlossen. Der Hund wütete überflüssigerweise, als ich nach der Klinke griff. 13
Ich mochte ihn nicht mehr hören. Fräulein Drozdová kam nicht zurück, und um ihrem Wunsch zu genügen, entschloß ich mich, das Haus rundum zu besichtigen. Es gab einen schmalen, im sandigen Boden ausgetretenen Pfad. Ich verkrampfte die Zehen, weil mich feine Steinchen in die Fußsohlen stachen. Auf der Rückseite fand ich eine weitere Tür in der roten Wand. Darüber sah ich ein breites Fenster, das weit geöffnet war. Im stillen ereiferte ich mich über diese Unvorsichtigkeit. Gitter, Hund – und dann dieses Fenster, wenn auch von der Straße aus nicht sichtbar. Gegenüber lag nur der Wald, gänzlich verlassen, aber Fahrer auf der Landstraße zu einer Erholungspause verlockend. Ich trat bis zum Zaun zurück und betrachtete das herausfordernd offene Fenster. Auch innen war es nicht vergittert. Seltsamerweise war die Tür nicht verschlossen. Aus Neugier hatte ich an die Klinke gefaßt. Es war eine Eisentür, wie man sie bei Kesselhäusern findet. Eine schmale, steile Treppe führte in den ersten Stock. Unwillkürlich trat ich mir die Füße ab, ehe ich hinaufschritt. Die Treppe endete auf einem Absatz, vor einer weiteren offenstehenden Tür. Mit jeder Stufe, die ich höher schritt, konnte ich mehr von dem Raum erkennen. Es war vermutlich eine Rumpelkammer. Als ich die letzte Stufe erklommen hatte, hielt ich den Atem an. Der Raum enthielt keineswegs alten Plunder. Obwohl manch einer – Frauen sicherlich – die Dinge, mit denen die Regale an den Wänden und der riesige Tisch, der zwei Drittel der Fläche einnahm, gefüllt waren, verächtlich als Krempel bezeichnet hätte. Den meisten Männern von drei bis neunzig Jahren hätte jedoch bei diesem Anblick das Herz höher geschlagen! Mir erging es so. Es waren Schiffsmodelle, von den Anfängen der Seefahrt bis zu modernsten Ozeanriesen. Detailgetreue 14
Nachbildungen, winzige und größere, ein meterlanges Flugboot ragte unter allen hervor. Kriegsgerät in Kleinformat, Panzer, Panzerwagen. Kanonen aus der Zeit, als Napoleon noch Artillerieoffizier war, und Granatwerfer aus dem zweiten Weltkrieg. Autos, herrlich elegante Rennwagen, deren Formen auf Geschwindigkeit berechnet sind, in den leuchtenden Farben der Firmen und mit allen dazugehörigen Aufschriften. Und ganze Flugzeuggeschwader. Das waren keine Serienprodukte. Einige Modelle waren getreue Kopien ausländischer Marken, für Sammler bestimmt, und wie ich wußte, auch im Westen nicht gerade billig. Die meisten waren selbstgebaut. Wer das zusammengetragen hatte, mußte dafür einen Sack voll Geld und viele Jahre seines Lebens geopfert haben. Vorsichtig berührte ich das Spielzeug für erwachsene Männer und atmete die Luft ein, die nach Klebstoff und Nitrolack roch. In der Luft hing noch ein Geruch, der mir bekannt vorkam. Ich dachte nicht darüber nach. Hingerissen starrte ich auf den riesigen Tisch, auf dem ein Eisenbahnknotenpunkt mit elektrischen Zügen, Tunneln, beschrankten Übergängen, Signalen und ferngesteuerten Weichen prangte. Es war ein Wunderwerk. Auf einer Fläche von sechzehn Quadratmetern breitete sich eine exotische Landschaft aus, mit Viehherden und mit Hirten, die Sombreros trugen. Ich ging um den Tisch herum und konnte die Augen nicht von dem Prachtstück losreißen. Mit Gewalt mußte ich mich bezähmen, um nicht an das komplizierte Schaltpult zu greifen, das sich an der Ecke der Platte befand. Mein Blick wurde schließlich von einem Bild an der Wand gefesselt. Es war nicht der lebendig wirkende Stich, der eine historische Seeschlacht voller verheerenden Grauens darstellte. Es war das andere Bild, das gar nicht in den Raum paßte. Über einem langen Arbeitstisch, der bis unter das offene Fenster reichte, hing ein Ölgemälde, 15
zwei gelbliche und drei lila Blumen auf fäkalbraunem Hintergrund. Dieses Bild konnte einem Durchschnittsbürger den Appetit verleiden, wenn es über einem Eßtisch hing. Und dennoch – direkt unter dem Gemälde, neben einem Wecker und Teilen eines Stabilbaukastens, lag eine angebissene Butterschnitte. Ein Glas Milch war halb ausgetrunken. Ich wurde aus der Märchenwelt des Spielzeugs in die Wirklichkeit zurückgeholt. Durch die Gasse zwischen Tisch und Regalen zwängte ich mich zum Fenster hindurch, um nach dem Mann Ausschau zu halten, der sein Vesperbrot verlassen hatte. Es kam mir merkwürdig vor, daß ich ihm im Garten nicht begegnet war. Ich hatte ihm nicht begegnen können. Er lag zusammengekrümmt auf dem Holzfußboden, die Beine unter dem Tisch. Das nach oben gewandte Gesicht war gelb, der Mund lila wie die Blumen auf dem Bild. Mir wurde klar, daß der Geruch, der die friedlichen Düfte in der Modellwerkstatt übertönte, Pulverdampf war. Unter dem Fenster erklang eine laute Stimme: „Hallo – sind Sie oben?“ Hanka kam mit leichten Schritten die Treppe herauf. Sie sah mich an, und das Lächeln auf ihrem Gesicht gefror zu einer Frage. Ihr Blick glitt nach unten. Sie schrie auf. Augenblicklich, ohne zu zögern, stürzte sie sich auf den Toten. Dabei stieß sie einen Stuhl um, ohne darauf zu achten. „Onkel – Onkel Luiz! Was hast du?“ schrie sie ängstlich. Sie faßte seine Hand und ließ sie gleich wieder los. Der Arm fiel kraftlos zu Boden. „Lassen Sie ihn“, sagte ich tonlos. „Er ist tot.“ „Das ist nicht wahr“, flüsterte sie. „Höchstens … Er ist ohnmächtig! Rufen Sie einen Arzt – oder besser – holen Sie ihn. Sie haben doch Ihren Wagen unten … So helfen Sie mir doch!“ Sie hob den Kopf des Toten ein wenig in die Höhe. 16
„Rühren Sie ihn nicht an! Wir müssen die Polizei rufen, ein Arzt ist überflüssig. Ihr Onkel ist erschossen worden.“ Das brauchte ich ihr nicht mehr zu sagen. Entsetzt blickte sie auf ihre Hand, die mit Blut befleckt war. In der Schläfe des weißhaarigen Kopfes war eine Wunde, die von einem Schuß aus einer kleinkalibrigen Pistole herrühren mußte. Fräulein Drozdová erbleichte und sank neben dem toten alten Mann zu Boden. Die Sonne hatte sich über die Kiefernwipfel geschwungen, und die rote Hauswand glühte wie ein Ziegelofen. Das gemähte Gras verströmte einen betäubenden Geruch. Der Tag war zum Mittag vorgeschritten, einem heißen Junimittag, selbst in dem schattigen Waldwinkel. In Prag mußte es unerträglich sein. Ich zündete mir eine Zigarette an. Bei der Hitze schmeckte sie wie nasses Stroh. Um Kühlung zu suchen, ging ich auf die schattige, der Landstraße zugewandte Seite des Hauses. Der Unterschied zwischen Schatten und Sonne war so deutlich, daß mich fast fror. Vielleicht hatte auch der eisige Blick des uniformierten Polizisten, der das Tor im Holzzaun bewachte, so kühlend gewirkt. Hinter dem Tor glänzte wie ein Gletscher ein blauweißer Streifenwagen. Mein buntgespritzter Škoda sah daneben billig und verdächtig aus. Verdächtig war wohl auch ich. Jedenfalls behandelte man mich so. Im Unterschied zu Fräulein Drozdová, die in den Raum zurückkehren durfte, wo ihr Onkel wie eine tote Puppe bei seinem Spielzeug lag, hatte man mich hinausgejagt. Mit der dringlichen Ermahnung, nicht im Garten herumzuspazieren, nichts zu berühren – kurz, dicht an der Hauswand zu bleiben. Woran ich mich nun nach Wort und Buchstaben getreulich hielt. 17
Ich setzte mich auf die niedrige Mauer an der Garageneinfahrt. Mir wehte Benzingestank entgegen. Aus Langeweile ging ich zu dem vergitterten Fensterchen im Garagentor. Im Halbdunkel schimmerten ein kleines Auto und das Lenkrad eines Motorrads. „Nichts berühren!“ blaffte der Polizist, ehe ich die Hand auf die Klinke legen konnte. Gleichzeitig tauchte hinter der Ecke der Mann auf, der sich vor einer knappen Stunde als Leutnant Pavrovský vorgestellt hatte. „Was haben Sie da zu suchen?“ fuhr er mich an, wobei seine weißen Zähne unter dem schmalen Schnurrbart blitzten. „Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen vor dem Haus warten.“ Schweigend kehrte ich auf den betonierten Gang zurück. Hinter dem Leutnant entdeckte ich Fräulein Drozdová. Blaß, in der Hand ihr Taschentüchlein zerknüllend. Sie blickte so vorwurfsvoll, als wäre ich schuld an all dem Ungemach, das auf sie zukam. Vielleicht sogar an dem, das schon geschehen war. „Verzeihung“, sagte ich unter dem Einfluß dieses Blickes. „Mir ist eingefallen, daß …“ „Ihre Einfälle können Sie für sich behalten“, belehrte mich Leutnant Pavrovský. Er sah sich nach Fräulein Hanka um. „Kommen Sie! Beide!“ Der Leutnant schritt zur Haustür, der hölzernen, ungestrichenen mit den schwarzen Metallbeschlägen. Sie leuchteten in der scharlachroten Fassade wie eine Wespe, die an einer Blutorange saugt. Wir folgten ihm. Er öffnete und trat in das große Wohnzimmer. Einen Flur gab es nicht. An der Seite führte eine Wendeltreppe in den ersten Stock. Die leichten Möbel waren aus Lärchenholz, kein billiger Plunder wie in vielen Bungalows. Braunweiße Fellstücke zierten Sessel und das Sofa, Amigo schien ein Kalb zerrissen zu haben. Ein riesiges vollständiges Rinderfell lag auf dem Fußboden. „Setzen Sie sich“, befahl uns der Leutnant. Seine 18
Stimme hallte im Raum, als brülle ein Stier kampfeswütig in der Arena. Leutnant Pavrovský hatte wirklich etwas Bullenartiges. Graue, blutunterlaufene Augen starrten mir ins Gesicht. Gehorsam ließ ich mich in einen Sessel nieder. Das Fell war unvermutet weich und geschmeidig. „Untersuchen Sie nicht das Haus?“ fragte Fräulein Drozdová mit ersterbender Stimme. „Später“, antwortete der Leutnant streng. Er setzte sich mir gegenüber, die Schlüssel, mit denen er geöffnet hatte, legte er auf den Tisch. Fräulein Drozdová placierte sich zögernd auf der Sofakante. „Also, fangen Sie an“, forderte er mich auf. „Was Sie gemacht haben, von dem Moment an, als Sie hier ankamen. Ausführlich, bitte!“ Ich sagte es ihm. Wie er es wünschte, beschrieb ich Schritt für Schritt meines Tuns, nachdem Fräulein Drozdová weggegangen war, einschließlich des Zwischenspiels mit dem Hund und der nassen Schuhe. Ich schilderte, wie ich durch den separaten Eingang vom Garten aus in das Haus gegangen war, und beschrieb, wie ich den Toten gefunden hatte. Seine erste Frage lautete: „Wie lange waren Sie hier allein?“ „Eine knappe halbe Stunde. Davon im Haus vielleicht zehn Minuten, genau kann ich das nicht sagen. Eher weniger.“ „Zehn Minuten haben Sie neben dem Toten gestanden?“ meinte er ironisch. „Ich habe ihn nicht bemerkt. Mich haben die Modelle interessiert – Sie wissen selber, daß er von der Tür aus nicht zu sehen war. Erst als ich um den Tisch herumging und …“ Ich verstummte mit dem Gefühl, unnützerweise etwas zu erklären, was jedem sofort offenkundig sein mußte. Die Tür, die nach innen geöffnet wurde, versperrte den Blick auf die Stelle, wo der Tote lag. Es war 19
logisch, daß ich um den Tisch herumgehen mußte und mich bei dem Spielzeug aufgehalten hatte. „Hören Sie“, sagte ich eilig, „ich hätte doch behaupten können, daß ich gerade eingetreten war, als Fräulein Drozdová zurückkam. Schließlich war ich allein hier.“ „Das waren Sie nicht!“ Er wandte sich an das Mädchen: „Wie weit ist es bis zu den Nachbarn?“ „Ungefähr fünf Minuten“, piepste sie. „Was haben Sie gehört, als Sie zurückkamen?“ Erschrocken blickte ich Fräulein Drozdová an. Ihr Gesicht war immer noch bleich, die Augen brannten fiebrig. „Nichts“, sagte sie ernst. „Und was haben Sie vorher gehört?“ „Kurz nachdem ich gegangen war, fing der Hund an zu bellen. Er bellte lange, fast ununterbrochen, und hörte auf, als ich mich auf den Rückweg machte.“ Der Leutnant nickte anerkennend. „Fünf Minuten zu Fuß sind nur ein paar hundert Meter“, sagte er zu mir. „Und Luftlinie noch weniger. Der Wald ist hier licht, das Hundebellen ist viel weiter zu hören. Der Hund hörte auf zu bellen, als er Sie aus den Augen verloren hatte. Als Sie um die Ecke gegangen waren und die offene Tür gefunden hatten. Sie können mir nicht weismachen, daß Sie nicht gleich hinaufgegangen sind“, endete er drohend. „Ich will Ihnen nichts weismachen, ich sage die Wahrheit“, erwiderte ich, völlig deprimiert wegen seiner schwerfälligen Logik. „Was wollen Sie eigentlich? Ich kannte den Mann nicht, und Fräulein Drozdová habe ich heute zum erstenmal gesehen. Der Mann muß tot gewesen sein, bevor wir ankamen. Sie haben doch einen Arzt mitgebracht, der Ihnen das bestätigen kann!“ Leutnant Pavrovský spitzte den Mund unter dem Schnurrbart und nickte. „Richtig. Wir konnten ziemlich genau den Zeitpunkt feststellen, an dem der Tod eingetreten ist. Sogar sehr genau, fast auf die Minute.“ 20
Ich glotzte ihn an. Fräulein Drozdová ihm gegenüber seufzte und klappte die langen Wimpern herunter. „Auf dem Tisch steht ein Wecker. Er hat geklingelt, nachdem wir hier angekommen waren.“ „Na und?“ stammelte ich. Ich hatte das Klingeln gehört, als ich unten vor der Tür stand. An den Wecker auf dem Tisch hatte ich dabei nicht gedacht. Dummerweise hatte ich das für Laute eines Gerätes gehalten, das man zur Spurensicherung braucht. „Er hatte den Wecker aufgezogen.“ Der Leutnant blickte hinauf, als riefe er den Mann, dessen Seele schon im Himmel weilte, als Zeugen. Ich besann mich. „Das ist wahrscheinlich“, sagte ich sarkastisch. „Das konnte er irgendwann im Laufe der vorangegangenen zwölf Stunden getan haben.“ „Konnte – hat er aber nicht“, entgegnete der Leutnant im gleichen Tonfall. „Er hat ihn genau eine Stunde vorher aufgezogen.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ „Weil ich selber Modelle baue.“ Diese Mitteilung überraschte mich. „Und zufälligerweise weiß ich, daß der Kleber, den er bei dem Modell benutzt hat, das er nicht mehr fertigstellen konnte, eine Stunde trocknen muß. Wenn man keine Minute verlieren will, um in der Arbeit fortzufahren, stellt man sich einen Wecker.“ Er lehnte sich im Sessel zurück, zog ein silbernes Zigarettenetui heraus, wählte sorgfältig eine Zigarette aus und zündete sie an. Das tat er langsam, methodisch. Schon lange war mir niemand begegnet, der ein silbernes Zigarettenetui besaß. Mir wurde klar, was diese Sicherheit bedeutete. Ich blickte auf die Uhr, es war drei Viertel eins. Die Polizei war genau um halb zwölf angekommen, und der Wecker hatte tatsächlich gleich danach geklingelt. Bis hierher hatten sie etwa eine halbe Stunde gebraucht. Der Polizist, der die Kripo gerufen hatte, war allerdings früher 21
hier gewesen. Sie mußten schneller gefahren sein als ich, und ich war wie ein Irrer zum nächsten Polizeirevier gerast. Kaum zehn Minuten, nachdem ich die Leiche gefunden hatte, war ich dort angelangt. Ich schielte auf die Uhr, als könnte ich dort die Unrichtigkeit des Zeitablaufs ablesen, den der Leutnant offensichtlich auf die Minute genau ausgerechnet hatte. Er griff in die Tasche, holte ein Notizbüchlein heraus und legte es vor sich hin. „Berichtigen Sie mich, wenn ich mich geirrt habe“, forderte er mich höflich auf. Ich las: 11.25 – Wecker 11.22 – Ankunft am Tatort 10.53 – telefonische Meldung der Tat Darunter stand in kleinerer Schrift, als würde der Leutnant bezweifeln, was er nicht selbst bestätigen konnte: 10.44 – Fund der Leiche (Aussage von Petr Martin) 10.20 – Ankunft von Hanka Drozdová und Petr Martin am Tatort (nach Aussagen beider) Ganz unten, als Zusammenfassung bekannter Zahlen, unterstrichen: 10.25 – Alois Ezechiáš stellt den Wecker. „Das würde bedeuten“, sagte ich leise, „daß …“ „Ja. Er starb, als Sie hier waren. Das heißt – nur Sie. Frau Drozdová ist nach wenigen Minuten den Schlüssel holen gegangen. Wenigstens behaupten Sie das beide übereinstimmend.“ „Frau …?“ Ich zog die Stirn in Falten, um zu begreifen, von wem er sprach. „Ja“, hauchte traurig das schöne Fräulein, das sich als verheiratete Frau erwies. Mit einem Zipfel ihres Taschentüchleins wischte sie unsichtbare Tränen aus den Augen. Der Leutnant schlug das Notizbuch vor meiner Nase zu. „Das geht völlig eindeutig daraus hervor. Übrigens brauchen Sie nicht unbedingt auf Ihrer Aussage zu bestehen“, fügte er freundlich hinzu. 22
Ich konnte mich nicht zu einem Protest aufraffen. Im Geiste rekapitulierte ich jede Sekunde der zwanzig Minuten, die ich hier allein verbracht hatte – allein mit dem Toten, der zuerst noch lebte … Nein, ich erinnerte mich an nichts Verdächtiges. Es gab nicht das geringste Anzeichen, daß außer mir noch jemand hier gewesen war. Und dennoch – wenn sich der Leutnant nicht irrte – mußte es so sein. „Selbstmord ist auszuschließen?“ fragte ich ihn hoffnungslos. „Dann hätten wir die Waffe gefunden. Oder haben Sie die Pistole genommen?“ „Nein.“ Ich sah ihm direkt in die Augen. „Mir ist klar, was Sie von mir erwarten. Aber ich habe wirklich keinen Schuß gehört. Lassen wir diese Minuten. Ich habe erst auf die Uhr gesehen, als ich begriffen hatte, daß der Zeitpunkt wichtig für die Ermittlungen ist. Als wir ihn gefunden hatten.“ Frau Drozdová sah mich indigniert an. Der Leutnant nickte zustimmend. „Als ich ihn gefunden hatte“, berichtigte ich mich. „Auch wenn Sie gerade in dem Moment gekommen sind.“ Sie zuckte zusammen und öffnete gereizt den Mund. Leutnant Pavrovský brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. „Die Zeit vorher kann ich nur schätzen. Wenn er tatsächlich erschossen wurde, während ich hier war, muß der Schuß gefallen sein, als ich mich vor dem Haus befand. Bei dem Hund. Fast die ganze Zeit hat er wie verrückt gebellt – das bestätigen Sie übrigens.“ Ich stutzte und betrachtete forschend Frau Drozdová. In ihrer Aussage hatte ich Unstimmigkeiten bemerkt, die dem Leutnant aus irgendeinem Grunde entgangen waren. „Wir werden überprüfen, ob unter diesen Bedingungen nicht zu hören ist, wenn im Haus geschossen wird“, erklärte er. „Hier fahren auch Lkws vorbei. Haben Sie 23
etwas gehört, was Sie vielleicht für ein Auspuffknallen gehalten haben?“ bot er mir großzügig an. „Nein. Einen Schuß hätte ich erkannt. Übrigens habe ich nichts dergleichen gehört.“ Leutnant Pavrovský schien zu grübeln. Er sah aus wie ein kampferprobter, gerissener Stier, der gewohnt war, mit den Hörnern auf Hindernisse loszugehen. Ihn konnte wohl niemand leicht täuschen. „Wo waren Sie so lange?“ fuhr ich unvermittelt Frau Drozdová an. „Hin fünf Minuten – zurück fünf Minuten – sagen wir fünf Minuten, um den Schlüssel in Empfang zu nehmen … Es bleiben noch mindestens sieben Minuten.“ Die grauen Augen des Leutnants blitzten froh. Im bleichen Gesicht von Frau Drozdová entflammten zwei Kohlen. „Bei Maláseks war niemand zu Hause“, erwiderte sie kühl. „Und es hat zehn Minuten gedauert, um das festzustellen?“ „Ja, das hat es. Ich weiß nicht, ob es genau zehn Minuten waren, aber … Ich überlegte, was ich machen sollte. Entweder zu Ihnen zurückgehen und ins Dorf fahren, Frau Malásková konnte nur einkaufen sein, oder geradewegs zu Fuß dorthin gehen.“ „Wo ist denn der Laden? Hört man bis dort den Hund bellen?“ „Ich bin gar nicht hingegangen. Frau Malásková kam nicht, aber …“ „Die Schlüssel hingen wohl am Zaun?“ Sie errötete. Tränen löschten die Glut der flammenden Augen. Der Leutnant griff nach dem Schlüsselbund, das zwischen uns auf dem Tisch lag. „Die Schlüssel hatte Alois Ezechiáš in der Tasche“, sagte er ruhig. „Frau Drozdová wußte das nicht. Und dafür, daß sie tatsächlich bei den 24
Nachbarn war, hat sie einen Zeugen, den Enkel von Frau Malásková.“ Damit war er meiner nächsten Frage zuvorgekommen. Ich schämte mich. Da fiel mir noch etwas ein. „Wie kommt es, daß der alte Herr nicht nachsah, warum der Hund bellte? Das war doch ein sicheres Zeichen, daß jemand gekommen war.“ „Sicher“, bestätigte Frau Drozdová. „Ein Fremder. Hier geht manchmal jemand vorbei und amüsiert sich, wenn er den alten Amigo reizen kann.“ Mir leuchtete das nicht ein, aber der Leutnant unterstützte sie. „Er hat an einem Modell gearbeitet“, gab er mir zu bedenken. „Es ist natürlich, daß er sich dabei nicht stören ließ.“ Ich wollte nicht so leicht aufgeben. „Und mein Wagen? Der hat ihn auch nicht interessiert?“ „Sie sind doch im Leerlauf vorgefahren“, sagte sie vorwurfsvoll. „Haben Sie das vergessen? Sie brauchen nicht erst zu versuchen, die Ermittlungen durcheinanderzubringen.“ Ich wartete, was Leutnant Pavrovský dazu sagen würde. Er erhob sich schweigend, Frau Drozdová folgte flugs seinem Beispiel. Als er schon auf der Wendeltreppe stand, rief er: „Aber fahren Sie vorläufig nicht fort.“ Sein wachsamer Torhüter hätte mich sowieso nicht durchgelassen. Um vier Uhr nachmittags war die Baustelle tot wie ein Friedhof um Mitternacht. Das sechs Hektar große Gelände, staubig und von Bulldozern zerfurcht, glich mit seinen Kränen, die an Raubtierhälse erinnerten, und den Gebäudeskeletten den sonnenverbrannten Überresten einer Mondstation, die in Eile verlassen würde. Auf der verdreckten Baustraße stand ein Bagger. Ich fluchte und wich ihm aus. Das rechte Vorderrad drehte sich in 25
der Lehmspur, die sich zu Beton verfestigt hatte, mein Škoda neigte sich zur Seite, ich schaltete, unter Abgabe scheußlicher Laute kehrte der Wagen auf die Fahrbahn zurück. Wenn es noch möglich gewesen wäre, hätte ich dabei geschwitzt. Rechterhand, inmitten grauen Gesträuchs, stand ein Häuschen, das Überbleibsel einer einst florierenden Gärtnerei. Es besaß nur zwei Räume. Einen hatte ein Zulieferbetrieb, dessen Vertreter selten auf dem Bau auftauchten, als Büro gemietet. In dem anderen hatte sich mit gnädiger Erlaubnis des Oberbauleiters ein Mann eingenistet, der an allen Fronten des Lebens gescheitert war. Ich parkte auf einer Insel zwischen den Baugruben und begab mich auf einem schmalen Pfad zu dem Häuschen. Der Raum war nur mit einem eisernen Bett, einem alten Schreibtisch, einem Stuhl und einem Schrank von der Farbe verfaulter Äpfel möbliert. Aus dem Zimmer schien alle Luft entwichen zu sein. Ich öffnete das Fenster. Es lag dicht über dem Boden, tagsüber mußte ich es schließen, sonst würde es vielleicht einen ermatteten Bauschaffenden verlocken, zu einem Schlummerstündchen in meine Behausung zu kriechen. Ich zog die Schuhe aus, die von dem unfreiwilligen Bad hart geworden waren, und streifte die nach Morast stinkenden Socken von den Füßen. Nachdem ich mir noch das verschwitzte Hemd vom Leibe gerissen hatte, streckte ich mich auf dem Bett aus. Das Häuschen roch angenehm wie Holzkabinen in einer Badeanstalt. Allmählich kehrte ich in meine geruhsame, einfache Welt zurück, die ich mir in den letzten Wochen mühselig erschaffen hatte. Nach zwanzig Minuten verebbte der Schmerz in meinem Rücken. Der Arzt hatte recht gehabt, als er mich vor dem Autofahren warnte. Das gab ich ungern zu. Doch ich gedachte nicht, den Rest meines Lebens als 26
Invalide zu verbringen. Plötzlich verspürte ich einen sehr gesunden Hunger. Ich öffnete ein Schreibtischfach, das mir als Speisekammer diente. Es enthielt nur einige zerbröselte Zwiebacke. Mein Magen protestierte laut, als ich ihm diese Diät anbot. Ich übertönte ihn mit einem Seufzer, nahm ein Handtuch und begab mich hinaus, um den Staub des Weges und den Schmutz des Kriminalfalles von mir abzuwaschen. Die Baubaracke stand am Ende eines Pfades, der zwischen verwüsteten Kulturen und zertrümmerten Frühbeeten hindurchführte. In einem wollte ich Salat anbauen. Die restlichen Zwiebackbrocken schüttete ich ins Gras als Opfergruß an das Wildkaninchen, das sich hier nachts herumtrieb. Es würde sich wohl an meinem Salat gütlich tun, bevor ich ihn erntete. Die leise Musik hörte ich erst, als offenkundig war, daß sie aus dem offenen Fenster der Baracke drang. Ich betrachtete die Tür mit dem Schild „Dipl.-Ing. Josef Kamínek, Oberbauleiter“, eine volltönende Stimme riß mir beinahe die Klinke aus der Hand. „He, he, he, Baby …“, wimmerte Karel Gott so laut, als hätte ihm jemand auf die Hühneraugen getreten. „Gott zum Gruß“, sagte ich, trat an den Schreibtisch und drückte die Aus-Taste des Kassettenrecorders. Herr Gott verstummte mitten im Wort. Mein Freund Josef löste den Blick von seinen Rechnungen und sang ebenso klangvoll weiter, nur etwas falsch. „Hör auf!“ Ich setzte mich auf den Besucherstuhl. Josef empfing mich mit einem breiten Lächeln. Er war nur vier Jahre jünger als ich, sah aber wie Ende zwanzig aus. Als er mir vor zwölf Jahren einzureden versuchte, ich hätte von meiner Schulmathematik selbst das nicht vergessen, was ich nie begriffen hatte, dachte meine Frau, ich hätte einen frischgebackenen Rekruten mitgebracht und nicht einen vierundzwanzigjährigen Bauingenieur. 27
„Gott mit uns“, erwiderte er meinen Gruß. „Na, hast du den Nachmittag schon ausgekostet?“ Er zwinkerte mir unzweideutig mit einem Auge zu. „Meinst du mit Frau Drozdová?“ fragte ich, den Familienstand der schönen Dame betonend. „Ist sie dir zu alt? Das stört dich?“ „Durchaus nicht. Mich hat ganz etwas anderes gestört. Es ist nämlich …“ „Los, erzähle“, unterbrach er mich froh. Er schob die Papiere beiseite und stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch, um die pikanten Delikatessen zu genießen, die ich ihm vorlegen würde. Ich blickte ihn schweigend an. Er grinste über das ganze Gesicht, seine Augen flimmerten spöttisch. „Du wolltest mich also erheitern – und trösten“, sagte ich endlich. „In meiner Einsamkeit und Verlassenheit.“ „Nun ja“, stimmte er mir munter zu. „War es nicht recht? Ist mir das nicht gelungen?“ Ich schüttelte nur den Kopf. Er machte eine betretene Miene. „Dann hast du dir das selber zuzuschreiben. Hanička ist scharf wie eine Zeitbombe. Man braucht nur ein kleines Knöpfchen zu drücken, und …“ Er seufzte, als bedauere er, daß ich dieses Knöpfchen nicht entdeckt hatte. „Dort war ihr Onkel“, sagte ich. „Wer?“ „Herr Ezechiáš.“ „Onkel Luiz?“ Er starrte mich mit echtem Erstaunen an. „So ist er endlich heimgekehrt?“ „Heimgegangen.“ „Was sagst du da?“ „Gestorben. Wir haben ihn tot vorgefunden.“ Josef rückte flink vom Tisch ab. „Also das … Mann, das muß scheußlich gewesen sein. Und Hanka?“ „Gefunden habe ich ihn. In dem Raum mit dem separaten Eingang, wo die Modelle sind.“ 28
Er sah mich an, als wüßte er nicht, worüber ich sprach. „Hat er lange dort gelegen?“ „Nein, eben nicht.“ „Was ist eigentlich passiert?“ „Jemand hat ihn erschossen. Der Leutnant, der die Ermittlungen leitet, behauptet, es wäre zu der Zeit passiert, als wir dort waren. Das heißt – ich allein. Frau Drozdová war irgendwo Schlüssel holen.“ Wenn die bildhafte Wendung, daß jemand vor Schreck versteinert, wörtlich zu nehmen wäre, hätte ich den besten Freund verloren, den ich jemals besaß. So konnte ich mich wenigstens mit trübseliger Wollust an Josefs Verwirrung ergötzen. Ein solcher Zustand war bei ihm so selten wie ein Goldklumpen beim Ausbaggern unserer Baugruben. Er kam jedoch bald zu sich. „Was ist dort geschehen? Erzähl doch alles der Reihe nach, verdammt noch mal!“ Ich erzählte es ihm der Reihe nach. Und versäumte nicht, den Verdacht zu erwähnen, der auf mich gefallen war. „Das ist doch Blödsinn. Du hast ihn gar nicht gekannt.“ „Hast du ihn denn gekannt?“ „Flüchtig. Ich habe ihn einmal gesehen. Vor über zehn Jahren … Es war bei einer Spartakiade in Prag. Damals meinte er, daß er einmal zum Sterben nach Hause kommen würde. Wir haben darüber gelacht, Ezechiáš war noch sehr munter. So hat er das also wahrgemacht. Der arme Kerl, das hätte ich nicht gedacht, nach einem solchen Leben.“ Jetzt war ich an der Reihe, stumpfsinnig zu glotzen. „Er lebte in Amerika. Während des Krieges war er ins Ausland gegangen. Damals, neunzehnhundertfünfundsechzig, hat er uns erzählt, was er alles durchgemacht hat. Nach dem Krieg war er mehrere Jahre Arzt auf einem französischen Schiff. Dann hat er sich in Mexiko niedergelassen.“ 29
„Er war Arzt?“ „Zahnarzt. Er hatte dort eine Praxis. Manche Patienten würden ihn mit Rinderfellen bezahlen, sagte er damals.“ Josef lachte traurig. „Er war ein feiner alter Herr. Ganz anders als sein Bruder – Hankas Vater.“ „Der hat ihn überlebt?“ „Nein, er starb neunzehnhundertfünfundsechzig, ein paar Monate, nachdem Luiz abgereist war. Sein Herz ist wohl vor Neid und Haß geplatzt.“ „Wen hat er gehaßt? Seinen Bruder?“ „Nein, die Kommunisten. Der Besuch seines erfolgreichen Bruders hat ihm den Rest gegeben. Der Mann war der geborene Unternehmer. Nach dem Kriege galt er als Millionär, vorher hatte er nur eine kleine Klempnerwerkstatt. Hanka und ihr Bruder, der dumme Kerl, hatten ein Leben wie Königskinder zu erwarten. Doch dann wurde alles enteignet. Ihnen blieb nur die Villa in Barrandov, und Hankas Mutter vollbrachte Wunder, um den hochherrschaftlichen Haushalt aufrechtzuerhalten. Antonín Ezechiáš, der eine große Firma für Heizungsanlagen besessen hatte, mußte jeden Abend den Schlosseranzug ausziehen und sich eine Stunde lang mit duftender Seife abschrubben, damit er nicht mehr nach Autogen stank. Viel Geld hat er immer noch verdient, ich glaube, er hatte wertvolles Material beiseite geschafft. Aber es war eben nicht mehr dasselbe wie vorher. Der Onkel aus Amerika hat ihnen allen den Kopf verdreht, als er damals hier auftauchte mit seinem breiten Hut und den Geschichten von den Haziendas und den Millionärsjachten.“ „War Luiz reich?“ „Nein, das wohl nicht.“ Josef lachte, der Spott verschwand aus seinem Gesicht. „Jedenfalls nicht nach den Maßstäben der Welt, aus der er kam. Er war gutsituiert, würde ich sagen. Hier hielten sie ihn allerdings für einen Millionär. Sie wollten ihm Olda zuschieben – das ist Hankas Bruder. Er sollte zu Besuch hinfahren und dort 30
bleiben. Doch der Onkel hatte das Jünglein durchschaut und machte keine Anstalten, Olda einzuladen, obwohl er keine Angehörigen hatte. Hanka hätte er genommen. Sie war aber damals erst siebzehn und sehnte sich nicht nach seinem mexikanischen Mammon.“ „Hanka ist anders als ihr Bruder?“ „Ganz ohne Frage“, sagte Josef mit Innigkeit. „Hanka ist ein Prachtmädel. Sie paßt gar nicht in diese Familie. Leicht hat sie es nicht, zu alledem hat sie aus Dummheit den größten Ochsen aus unserem Studienjahr geheiratet. Sie wohnt mit Mann, Mutter und Bruder in der Barrandover Villa, und ich glaube, sie gehen sich alle tüchtig auf die Nerven. Hanka ist ihnen nicht gewachsen, sie heult sich bloß mal in einer stillen Ecke aus. Ich habe es gut gemeint mit euch beiden, ihr hättet prima zueinander gepaßt.“ „Du elender Kuppler!“ Mochte er Hanka preisen, das Prachtmädel roch mir ein bißchen nach der bourgeoisen Sippe. „Wie haben sie sich dem Onkel gegenüber verhalten, als er zurückgekommen war?“ fragte ich. „Das weiß ich nicht. Hanka sicher nett.“ „Und dann wußte sie nicht, daß er dort war – in ihrer Villa?“ Josef zuckte nur die Achseln. „Ist er überhaupt für immer zurückgekommen? Vielleicht hat er nur auf seine alten Tage die Stätten seiner Jugend besucht.“ „Du sagst, in dem Raum waren Modelle – Schiffe, Autos, Eisenbahnen?“ „Ja, sehr viele.“ „Das hat er dreißig Jahre lang gesammelt. Wenn er sein Spielzeug mitgebracht hat, wollte er hierbleiben.“ Ich stand auf. „Ich habe Hunger und gehe essen.“ Er zögerte, ehe er stockend sagte: „Ich sollte Hanka anrufen. Ob ich ihr helfen kann.“ 31
„Sie hat doch einen Mann – und einen Bruder“, wandte ich gereizt ein. Er grinste entschuldigend. Als ich aus der Dusche kam, steckte er den Kopf aus seinem Bürofenster. „Ich fahre deinetwegen zu ihr“, rief er mir zu. „Wenn es irgendwelche Komplikationen geben sollte, steckt ihr doch beide drin, nicht wahr?“ Ich führte ihm vor, daß ich ebenso widerlich grinsen konnte wie er. Die Nacht war heiß, der Tau verdunstete, ehe er die Staubschicht auf den kümmerlichen Resten Grün vor meiner Behausung benetzen konnte. Ich öffnete wieder das Fenster, das ich aus Gewohnheit vor dem Weggehen geschlossen hatte. Unnötigerweise, denn ein ungebetener Besucher hätte hier nichts wegtragen können. Die Decke, ein paar billige Kleidungsstücke – nichts, was ich sehr vermißt hätte. Ich war mit leeren Händen nach Prag gekommen – oder mit nacktem Arsch, wie man auch sagt. Ich kannte eine empfindsame Intellektuelle, der diese vulgäre Metapher sehr gefiel. Ich lag angezogen auf dem Bett und tippte die Zigarettenasche in einen porzellanenen Bieruntersatz auf meiner Brust. Nach dem schalen Bier, mit dem ich das kalte Abendbrot hinuntergespült hatte, spürte ich einen Nachgeschmack im Mund, als hätte ich aus dem Kübel getrunken, in dem Kellner des Gartenlokals die Gläser wuschen. Der Schlaf kam nicht. Ich dachte an andere Nächte – Nächte, in denen ich nach einer Übung vor Müdigkeit umzufallen drohte, trotzdem legte ich mich nicht allein in die Ehebetten in unserem Schlafzimmer. An Sommernächte, heiß wie diese, und doch anders, in denen ich vor fünfzehn Jahren mit einem Mädchen am Ohreufer entlangschlenderte, einem Mädchen so zart wie der Nebeldunst, der in der Morgenröte über dem Flußbett em32
porstieg. An lange, quälerische Nächte in Doupňák, wo ich als einziger inmitten einer fest schlafenden Truppe wach war. An die erste Nacht, als ich bei einem unangekündigten Heimaturlaub eine leere Wohnung vorgefunden hatte. An den mitternächtlichen Streit, das Weinen, die Versöhnung. Ich dachte an die endlosen nächtlichen Gespräche, in denen ich mich davon überzeugen ließ, alles sei meine Schuld, weil ich eine Null sei, ein Mann ohne Ehrgeiz, weil ich nicht an die Zukunft denke, die damals noch unsere gemeinsame Zukunft war. An den Morgen, als ich endlich nachgab, besiegt von der ausdauernden Paukerstimme meiner Frau, einer Lehrerin. Ich dachte an die Nächte, die ich über Lehrbüchern verbrachte, muntergehalten von unzähligen Tassen Kaffee. An den Abend auf dem Prager Hauptbahnhof und an Josef Kamínek in Uniform, der darüber wachte, daß ich in den D-Zug nach Žilina einsteige. „Es ist doch keine Schande, wenn Sie die Prüfungen nicht schaffen“, sagte er damals zu mir. „Dann verzichten Sie eben auf eine militärische Karriere und kommen zu uns auf den Bau. Titel und Ränge können Sie dort nicht erwarten, aber Sie verdienen gutes Geld. Genug für Sie und Ihre Frau.“ Das hätte er mir nicht sagen dürfen, denn kaum hatte er zum letzten Male gewinkt und sich umgedreht, sprang ich aus dem fahrenden Zug und rannte auf den anderen Bahnsteig. In unserer Wohnung war ich um Mitternacht. Meine Frau kam erst zwei Tage später heim. Früher hatte sie mich nicht erwartet. Ich dachte an die vielen Nächte, die ich in verschiedenen Garnisonen verbracht hatte. Und – obwohl ich nicht immer allein gewesen war – verschwammen die Dienstjahre im Nebel, kein einziger heller Stern leuchtete. Ich dachte endlich an die herbstliche Morgendämmerung, 33
als die Moldau trübe war, wie die Augen eines Ertrunkenen und ich auf einem Ponton unter einem Brückenbogen stand. An den Schrei, der von dem Krachen eines Metallstücks übertönt wurde, an den Aufprall, die Sekunde blendenden Schmerzes, und an die Dunkelheit, die lange Nacht der Bewußtlosigkeit und der Ohnmacht, aus der ich in die längste Nacht, die für jeden einmal kommt, zu fallen drohte. Ich dachte an die weißen Nächte in dem Gipsbett, an das Krankenzimmer, dessen Tür sich für andere Patienten öffnete und schloß, während ich wie Lazarus dalag und nicht wußte, ob ich noch einmal aufstehen würde. Und was dann werden sollte. Meine Frau – immer noch meine Frau – kam niemals durch diese Tür. Dafür kam einmal Ingenieur Josef Kamínek herein, Oberbauleiter in der Nachbarschaft der verhängnisvollen Brücke, bei deren Abriß ich den Unfall hatte. Deshalb war ich nun hier auf der Baustelle, denn der außerordentlich kluge Bursche hatte bemerkt, daß der verletzte Offizier ebenso wie sein einstiger Kommandant hieß. Und weil Josef außer dem Kopf noch etwas hatte, was heute nicht sehr gefragt ist. Herz. An das alles dachte ich, dann träumte ich wohl einen schweren Traum, der nur ein rosiges Trugbild im Vergleich zu den vergangenen Erlebnissen war. In dem Traum kam ein weißhaariger Mann in einem Sombrero vor, mit dem ich ihn nie gesehen hatte, der Alte galoppierte über eine endlos weite Steppe, die ich nie sehen würde. Dann war es nicht er, sondern ich. Schwitzend und durstig, den Mund voller Sand, verfolgte ich eine zarte, schlanke Gestalt, die am schwarzen Himmel schimmerte und trotz aller Anstrengungen ständig gleich weit entfernt blieb. Die Hufe meines Pferdes hämmerten eine Staccatomelodie auf dem festgestampften Boden. Mit einem Ruck erwachte ich. Eine Trommel erklang an meinem Ohr. Ich wandte den Kopf um, im dunklen 34
Rechteck des Fensters stand ein weißgekleidetes Mädchen und klopfte unermüdlich an die offenen Scheiben. „Schlafen Sie?“ fragte sie leise. Ich setzte mich auf und machte Licht. Frau Drozdová wandte ihr Gesicht ab. Ihr hellbraunes Haar glänzte verschwenderisch. „Sie sind das?“ sagte ich wie dumm. „Josef ist nicht da.“ Sie lächelte mich an, ein wenig verlegen, ein wenig herausfordernd. „Ich bin zu Ihnen gekommen. Darf ich weiter?“ Sie wartete nicht auf die Antwort, sondern setzte sich aufs Fensterbrett und schwang ihre langen Beine ins Zimmer. „Warten Sie, Sie machen sich schmutzig!“ Ich sprang ihr gerade rechtzeitig entgegen, um sie aufzufangen. Sie steckte mit einem Fuß in einem Schuh, den ich vor das Fenster geworfen hatte. Einen Augenblick lehnte sie sich an mich. Mit ihren hohen Absätzen war sie fast ebenso groß wie ich. Ihr Haar, das mein Gesicht streichelte, duftete leicht nach Flieder. Frau Drozdová atmete schnell und zitterte wie ein gefangener Vogel. „Ist Ihnen nichts passiert?“ fragte ich beunruhigt. Ich ließ sie nicht los. Das war recht angenehm. „Nein.“ Ungeniert schlüpfte sie aus meinen Armen und klopfte sich den Staub vom Rock. „Ich hatte nur ein bißchen Angst, als ich über die Baustelle ging.“ Mein Wecker zeigte dreiviertel Zwölf. Ich fragte verwundert: „Sind Sie allein gekommen – im Dunkeln? Warum?“ „Um mit Ihnen zu sprechen.“ Sie sah sich um und blickte auf meinen einzigen Stuhl. „Stört es Sie nicht, daß es schon so spät ist?“ „Nein, ich bin Nachtwachen gewöhnt.“ Unauffällig wischte ich den Stuhl mit der Handfläche ab und schob ihn Frau Drozdová hin. Ich setzte mich aufs Bett. Mein 35
Kopf war von dem kurzen, festen Schlaf benommen. Mein Blick fiel auf meine nackten Füße, während die Füße von Frau Drozdová schicklich in weißen Schuhchen nebeneinander standen. Langsam hob ich die Augen zu ihr auf. Sie lächelte schwächlich und kapriziös. „Entschuldigung.“ Ich stand auf und trank hinter ihrem Rücken einen Schluck abgestandenes Wasser aus einer Milchflasche. Mit der feuchten Hand fuhr ich mir durchs Haar. Ich tastete mit den Füßen nach den Latschen, die ich unter den Tisch geschoben hatte. Mit dem auf diese Weise zweifelhaft verbesserten Äußeren setzte ich mich wieder aufs Bett. Frau Drozdová fingerte an dem blauen Gürtel herum, der ihre schlanke Taille umspannte. Sie gebärdete sich schuldbewußt und sagte reuevoll: „Seien Sie nicht böse auf mich – jetzt sehe ich, daß es eine Dummheit war, Sie nachts zu überfallen. Ich hätte es auf morgen verschieben können, aber Josef hat mir gesagt …“ Sie stockte. „Sie haben mit Josef gesprochen?“ „Ja.“ „Was hat er Ihnen gesagt?“ Sie ließ den Gürtel los und antwortete ernst: „Er kannte Onkel Luiz und kam kondolieren.“ Vielleicht machte ich ein ungläubiges Gesicht, weil mich Josef über die Beziehungen in ihrer Familie informiert hatte. Ich setzte zu einer weiteren Frage an, aber Frau Drozdová kam mir zuvor. „Sie glauben mir nicht?“ fragte sie wehmütig. Das überraschte mich. „Warum sollte ich Ihnen nicht glauben? Übrigens kenne ich Sie gar nicht.“ „Das ist wahr.“ „Sehen Sie, ich …“, begann ich, aber sie ließ mich nicht ausreden. „Und Sie wollen mich auch nicht besser kennenlernen?“ Ich griff nach einer Zigarette. „Ich bitte Sie! Unser 36
Kennenlernen – ich meine das ernst, nicht den Augenblick, als uns Josef miteinander bekanntmachte – verlief nicht gerade unter günstigen Umständen.“ Die Zigarette zündete ich langsam an, um Zeit zu gewinnen. Zu den Umständen wollte ich mich nicht äußern. Frau Drozdová saß schweigend da. „Lassen wir das für später, wenn die traurige Angelegenheit beendet ist.“ Mir war klar, daß ich mich unbeholfen benahm. „Und wann wird das sein?“ entgegnete sie scharf. „Das hat noch gar nicht angefangen.“ „Wieso?“ „Meinen Sie, dieser Leutnant wird uns in Ruhe lassen? Er hat nichts, woran er sich halten könnte. Nur uns beide, wir waren dort, als Onkel …“ „Uns beide?“ fragte ich ironisch. „Dort haben Sie anders gesprochen. Sich selber haben Sie aus der bescheidenen Zahl ausgenommen.“ „Selbstverständlich. Denn ich weiß, daß ich zur fraglichen Zeit tatsächlich nicht im Hause war. Aber ist Leutnant Pavrovský davon überzeugt? Er kann annehmen, ich wäre heimlich zurückgekommen und durch den anderen Eingang vor Ihnen ins Zimmer gelangt. Bei ein bißchen Glück wäre das durchaus möglich gewesen.“ „Sicher. Ich brauchte dazu viel weniger Glück“, sagte ich. Ihre Direktheit war verblüffend. „Sie haben ihn nicht gekannt. Ich war seine Nichte. Die liebste – eigentlich die einzige geliebte Verwandte des reichen Onkels aus Amerika.“ Ich warf die angerauchte Zigarette aus dem Fenster und musterte Hanka Drozdová. Das hübsche Gesicht hatte einen herben Ausdruck bekommen, unter den schokoladenfarbenen Augen lagen dunkle Ringe. „Das würde nicht genügen“, wandte ich ruhig ein. „Er hat kein Recht, Ihnen gleich die niedersten Beweggründe zu unterschieben.“ „Was heißt niederste Beweggründe, die Kriminalpoli37
zei sucht ein Motiv! Wenn der Leutnant erfährt, wie verzweifelt ich Geld brauche …“ Sie blickte mich bänglich an. „Von wem soll er das erfahren?“ erwiderte ich lässig. In der Ferne pfiff ein Zug. Es klang wie ein Alarmsignal. „Von Ihrer Familie? Das werden sie wohl nicht ausposaunen, oder?“ „Sie wissen das gar nicht“, antwortete sie mit zusammengepreßten Lippen. „Zum Glück.“ „Also von mir?“ „Ja.“ Nach einem Augenblick gespannter Stille griff ich wieder nach der zerbeulten Zigarettenschachtel. „Geben Sie mir auch eine“, bat sie mit heiserer Stimme. Ich gab ihr Feuer. Mein Gesicht war ihrem nahe, als ich fragte: „Gehört die Villa nur Ihnen, Frau Drozdová? Wollten Sie das Haus ohne Wissen Ihrer Mutter, Ihres Bruders und Ihres Mannes verkaufen?“ Sie zuckte zusammen, beinahe hätte sie sich an der Flamme verbrannt. „Ich habe das Recht, darüber zu verfügen. Was denken Sie?“ „Ich denke mir gar nichts. Aber was wird Leutnant Pavrovský denken?“ Über ihr Gesicht huschte ein rätselhaftes Lächeln. „Nichts.“ „Wieso? Er hat doch gar nicht gefragt, was wir dort getan haben.“ „Doch, er hat gefragt. Mich.“ „Und was haben Sie ihm geantwortet?“ Ihr Lächeln war nicht mehr rätselhaft. „Leutnant Pavrovský besitzt zum Glück in dieser Hinsicht eine ziemlich beschränkte Phantasie – wie alle Männer. Ich brauchte ihm nicht viel zu erzählen. Eine Andeutung genügte – und er war vollauf zufrieden.“ „Sie haben ihn im Glauben gelassen, wir beide hät38
ten …“ Ich vermochte es nicht laut auszusprechen, es war unerhört, daß sie schamlos zu einer solchen Lüge gegriffen hatte. Frau Drozdová war nicht so zartfühlend. „Ist Ihnen das peinlich? Das schadet Ihnen doch nichts. Sie sind geschieden.“ „Aber Sie sind verheiratet.“ „Nur auf dem Papier“, erwiderte sie müde. „Wie so etwas aussieht, wissen Sie doch selber.“ Ich rang nach Worten, mit denen ich meine Meinung zu ihrem Tun ausdrücken konnte. „Haben Sie nicht befürchtet, Leutnant Pavrovský könnte uns in dem Falle für Komplizen halten?“ fragte ich endlich. „Daran habe ich nicht gedacht.“ Das gefiel mir nicht. Mir mißfiel, daß ich in den Kreis der Familie Drozd und Ezechiáš einbezogen wurde, wenn auch als illegaler Angehöriger. Hanka erkannte das. „Werden Sie das bestreiten?“ „Das weiß ich noch nicht.“ Sie bohrte ihre beredsamen Augen lange in mich und sagte voller Bitterkeit: „Sie wissen nicht, in was für einem Milieu ich lebe. Meine Mutter, mein Bruder – denen geht es nur um Geld und Besitz. Ihnen kann ich mich nicht anvertrauen, sie würden mich am liebsten umbringen. Ich möchte aus dem allem heraus – und will nur das haben, was mir gehört. Ich dachte, bei Ihren Erfahrungen könnten Sie mich verstehen. Josef sagte, Sie hätten …“ „Josef redet zuviel“, unterbrach ich sie. Sie verstummte. Dann flüsterte sie niedergeschlagen: „So werden Sie wirklich sagen, daß das nicht stimmt?“ Ich antwortete ausweichend: „Ich lüge nicht gern.“ Die brennenden Augen wurden auf einmal noch beredter. „Sie brauchten nicht zu lügen“, sagte sie leichthin. „Niemand erwartet mich. Ich kann hierbleiben.“ Mein Gott – sagte ich mir im stillen. Es überlief mich heiß. Die Nacht war schwül, im Zimmer war es stickig. 39
Ich erhob mich. „Gehen Sie. Ich bringe Sie heim.“ Sie stand nun vor mir, schlank, geschmeidig, voller Verheißungen. Ich öffnete ihr die Tür. Als sie ins Auto stieg, sagte ich: „Wenn Sie hierbleiben würden, wüßte das morgen die ganze Baustelle. Das wäre nicht einmal gut für …“ „Ach, lassen Sie das.“ Sie wandte ihr ausdrucksloses Gesicht der Moldau zu. Der Fluß verriet sich nur durch den Fischgeruch aus dem Morast, der das halb ausgetrocknete Bett säumte. Am Morgen war der Himmel schwer vor Feuchtigkeit, und die Sonne gebärdete sich, als könnte sie sich nicht entschließen, ihre Tagesschicht zu beginnen. Ich für meine Person hatte dieses Problem schon gelöst. „Heute nehme ich Urlaub“, rief ich Josef durchs Fenster zu. Er thronte ungewöhnlich zeitig hinter seinem Schreibtisch. Josef tippte mehrmals auf die Tasten seines Taschenrechners, verfinsterte sich beim Blick auf das Ergebnis und hob den Kopf. Seine Züge tauten zu einem leutseligen Lächeln auf. „Komm ’rein“, verlangte er freundlich von mir. „Ich kann die zweite Anlage zum Vertrag …“ Leise fluchend ging ich in die Baracke. Ich holte den Ordner, der auf meinem Tisch lag, wie ich ihn am Vortag liegengelassen hatte, und trug ihn zu meinem Chef. Dort suchte ich das gewünschte Dokument und reichte es ihm schweigend. Er sah es nicht einmal an, sondern steckte mir einen Stoß Zettel in die Hand, die mit seiner unleserlichen Schrift vollgeschmiert waren. „Könntest du das Ramóna diktieren? Gestern habe ich es nicht geschafft, und bis zehn muß es fertig sein.“ Ein andermal hätte ich dieses Ansinnen für eine weitere Intrige gehalten. Miluška Sladká alias Ramóna, unsere brünette Sekretärin, leidenschaftlich wie ein Glas 40
lauwarme Limonade, war ebenfalls ein Lieblingsobjekt von Josefs kupplerischen Neigungen. Aber er gab sich dienstlich und sah maßlos beschäftigt aus. „Na gut“, sagte ich mit unterdrückter Wut. „Aber dann …“ „Heute ist Kontrollberatung“, unterbrach er mich. „Zwei stellvertretende Minister, der Investor und alle Zulieferer werden erscheinen. Lege die Verträge heraus und dazu alle Anlagen. Es wird ein harter Kampf. Wir müssen uns darauf vorbereiten.“ „Hättest du mir das nicht gestern sagen können?“ Wie schon oft, ärgerte mich die Leichtfertigkeit, mit der er sich – ungenügend gerüstet – in brenzlige Situationen begab. „Ich dachte, du weißt das“, erwiderte er. „Ich hatte keine Zeit, dich daran zu erinnern.“ „Aha, du warst mit wichtigeren Problemen beschäftigt.“ Er wandte mir sein eingefallenes Gesicht zu. „Petr – das habe ich schon oft mitgemacht. Keine Angst – wir werden sie schon außer Gefecht setzen. Davon“ – mit einer Geste umfaßte er die ganze Baustelle – „haben sie keinen blassen Schimmer. Du gibst mir Rückendeckung. Vorläufig kennen sie dich kaum, das ist ausgezeichnet. Setz dich, wir gehen das schnell gemeinsam durch.“ Ich unternahm einen letzten Versuch. „Gleich“, flehte ich. „Erst muß ich dich etwas fragen.“ Josef blickte geistesabwesend auf. „Deine Hanka …“ „Das hat Zeit“, fertigte er mich ab. Ich war hartnäckig. „Wem gehört die Villa, die sie verkaufen will?“ „Hanka – und ihrem Mann. Sie haben das Haus von den alten Drozds geerbt.“ „Dann könnte sie doch ihm allein gehören?“ 41
„Was weiß ich? Jetzt läßt du mich damit in Ruhe, ja?“ Mir blieb nichts anderes übrig. Es war ein stürmischer Tag, in dessen Verlauf ich begriff, worauf das Erfolgsgeheimnis des Diplomingenieurs Josef Kamínek beruhte, des meistgeachteten und bestgehaßten Oberbauleiters beim Mammutunternehmen PIS. Es lag nicht an seinen fachlichen Fähigkeiten. Tausende anderer Fachleute hätten ebensogut einen Bau leiten können. Allerdings – irgendwo auf dem Mond, in einer sterilen Atmosphäre ohne unfähige Leiter, faule Ausreden, Karrierismus und Streben nach Eigennutz, also ohne die Dinge, die unser irdisches Klima vergiften. Es lag daran, daß er durch diesen Dschungel einen Weg bahnen konnte, den er manchmal sogar zu einer schönen breiten Straße ausbaute. Bei der Beratung konnte ich sein Vorgehen beobachten. Es läßt sich so zusammenfassen: Den Widersacher zu Boden werfen, den Fuß auf ihn setzen, festhalten, abwarten. Dann den dadurch benommenen Mann aufheben und auf die Schultern klopfen. Nun ist er formbar wie Knete. Ein Investor, der sich mit einer entsicherten Handgranate in jeder Hosentasche eingefunden hatte, wurde zu einem friedlichen Lamm. Die stellvertretenden Minister bekamen Sachen zu hören, die man gewöhnlich vor so hohen Funktionären als dreckige Wäsche unter das Bett schiebt, und ihnen schien das zu gefallen. Das war wohl das Eigentliche. Josef kümmerte nicht, ob er jemandem mißfiel. Es war ihm herzlich einerlei, ob er jemandem auf die Füße trat, und er verneigte sich anerkennend, wenn sich der Betroffene auf die gleiche Art revanchierte. Am Ende schüttelten ihm alle lächelnd die Hand, manche zwar mit schiefem Lächeln, aber immerhin. Alle, bis auf einen – einen kleinen robusten Mann, den Vertreter eines besonders abgefeimten Zulieferers. 42
Er saß am Ende des langen Tisches, geduckt, die kalten blauen Augen starr auf seinen Notizblock gerichtet. Im Kreise der leidenschaftlich streitenden, immer wieder aufspringenden Männer wirkte er wie ein Rausschmeißer, der in einer Kneipe vor sich hindöst und mit einem Auge darüber wacht, daß niemand die zulässige Grenze überschreitet. Ich merkte, wie er Josef Kamínek ansah, als dieser einen renitenten Gegner zurechtwies. In dem Blick des Mannes lag kalter Haß. Ein Ausdruck, den ich selbst bei denen nicht gesehen hatte, die mit gestreckten Waffen das Schlachtfeld verließen. Als alle vom Tisch aufgestanden waren, gefüllte Aschenbecher und leere Kaffeetassen hinterlassend, fragte ich meinen ermatteten, aber siegreichen Chef: „Wer war das – der Kerl, der gar nichts gesagt hat? Dieser Klotz …“ Josef faßte sich an die Stirn. „Verdammt! Ich wollte mit ihm sprechen. Das habe ich völlig vergessen. Ramóna, siehst du ihn noch draußen irgendwo?“ Ramóna öffnete das Fenster und rümpfte demonstrativ die Nase über die Rauchschwaden, die ins Freie drängten. „Nein. Er ist gleich gegangen.“ „Pech“, erklärte Josef verärgert. „Warum? Mir kam es nicht so vor, als würde er sich nach einer Unterhaltung mit dir sehnen. Wer ist das?“ „Herr Diplomingenieur Drozd“, antwortete Ramóna an Josefs Stelle. Unverständlicherweise warf sie Josef einen hinterhältigen Blick nach. Es war später Nachmittag, aber der Himmel verfinsterte sich so schnell, wie bei einer Sonnenfinsternis. Über Prag sammelten sich schwere schwarze Wolken. Zuweilen zerschnitt sie ein schwefelgelber Blitz, ein Signal der Hölle, die jeden Moment hereinzubrechen drohte. Ich fuhr los, als wollte ich davor flüchten. Vor mir im Norden war der Himmel noch klar, doch in Kbely trieben 43
besorgte Mütter schon ihre Kinder heim, und die Verkäuferinnen räumten eilig die Tafeln mit der Aufschrift ‚Unser heutiges Angebot‘ weg. Ich fuhr und blickte mich nicht um. Ein Blitz verwandelte für eine Sekunde meinen Rückspiegel in einen kleinen Scheinwerfer. Eine alte Frau, die vor einem Häuschen stand und mit Bangen in Richtung Prag schaute, bekreuzigte sich. Wind kam auf, beugte die Baumwipfel und drehte den Staub in wilden Wirbeln. Die Alte bedeckte die Augen, als wollte sie nicht zusehen, wenn das Sodom und Gomorrha an der Moldau unterging. Bei seiner Allwissenheit konnte ich das dem rächenden Gott nicht übelnehmen. Andererseits – soviel Energie zur Bestrafung einer durchtriebenen und verlogenen Sünderin zu vergeuden, kam mir als Verschwendung vor. Eingedenk der Erfahrung vom Vortag gab ich erst beim Verlassen des Ortes Gas. Kurz darauf zeigte mein Tachometer neunzig. Ich hatte keinen Grund, den erzürnten Himmel zu fürchten. In der Nacht hatte ich einer Versuchung widerstanden, der vielleicht nur der heilige Antonius nicht erlegen wäre. Daß ich darüber Befriedigung empfand, konnte ich nicht sagen, Heilige gehören nicht zu den Lieblingshelden des zwanzigsten Jahrhunderts. Um ganz offen zu sein, kam ich mir als Blödmann vor. Was soll ich tun, wenn mich Leutnant Pavrovský fragt, warum ich mit Frau Drozdová während der Arbeitszeit in diese Waldklause gefahren war, die so bequem nahe bei Prag und dennoch so fein versteckt liegt? Wenn ich den pikanten Grund bestreite, den sie ohne Scham angegeben hat, werde ich doppelt blöd dastehen: einerseits vor Frau Drozdová, andererseits vor dem Leutnant, weil er mir nicht glauben wird. Nehmen wir an, ich bestätige das. Dann muß ich mir allerdings sicher sein, daß wenigstens die Aussagen über 44
ihr Verbleiben in der fraglichen Zeit wahr sind, während Hanka sonst falsch ist, wie das Lächeln einer Fernsehansagerin. Leider. Ich konnte mir keine Illusionen machen, das Ideal dieser anspruchsvollen Schönen sei ein vierzigjähriger, halbinvalider Mann ohne Geld und gesellschaftliche Stellung. Die ersten Regentropfen erreichten mich dicht hinter der Kreuzung auf der ungepflasterten Landstraße. Tropfen, groß wie Murmeln, schlugen Mulden in den Sand und zerstoben zu feinen Spritzern. Das war nur das Vorspiel. Bald ließ der Himmel dünne Schnüre herab, die mir wie ein Vorhang aus silbernen Perlen den Blick verhängten. Die Scheibenwischer waren hilflos gegenüber diesen Wassermassen. Ich öffnete das Seitenfenster und fuhr im Schrittempo, die linke Seite der Fahrbahn beobachtend. Kurz darauf floß mir das Wasser am Arm entlang, und auf dem Boden meines Škoda bildete sich eine Pfütze. Hier konnte ich nicht anhalten. Ich wollte niemandem begegnen, der einen Grund hatte, an den Tatort zurückzukehren. Weder Leutnant Pavrovský noch Frau Drozdová. Denn ich beabsichtigte nicht, jemandem zu erklären, was ich dort suchte. Deshalb fuhr ich an der Abzweigung vorbei in den Wald, bis ich einen passenden Ort zum Parken fand. Einige Minuten saß ich da wie ein Taucher im Bathyskaph und starrte in die Wasserwüste. Dann angelte ich hinter dem Rücksitz ein Bündel hervor, das sich mit einigen Mühen zu einem Wettermantel auseinanderfalten ließ. Ich kroch aus dem Auto. Bevor ich die Kapuze hochschlagen konnte, hatte mir jemand einen Kübel Wasser in den Hals gegossen. Das Donnerdröhnen klang wie das schadenfrohe Gelächter eines Riesen, der sich diesen Scherz erlaubt hatte. Ich verschloß den Wagen und lief durch das Waldstück, das mich von der roten Villa trennte. 45
Bald überzeugte ich mich davon, daß es im Walde zweimal regnet. Die Laubgehölze freuten sich, die Last der Regentropfen von ihren Blättern auf mich abladen zu können, jeder Ast hatte seinen Spaß daran. Mein Wettermantel war nicht undurchlässig. Er klebte an den Schultern und roch wie nasses Hundefell. Das erinnerte mich an Amigo. Sorgsam äugte ich, wann zwischen den Bäumen das scharlachrote Gemäuer durchschimmern würde, und schritt weiter durch den Wald, parallel zur Landstraße, die ins Dorf führte. Ich überschritt sie etwa hundert Meter hinter der Villa. Einen Moment blieb ich stehen und blickte zurück auf das prunkvolle Gebäude. Der Schauer hatte sich zu einem kräftigen Landregen stabilisiert. Die Luft war frisch, und der Wald strömte einen scharfen, würzigen Geruch aus. Die Villa zwischen den Bäumen erinnerte an einen englischen Landsitz. Wie gern hätte ich den sagenhaften Sherlock Holmes bei mir gehabt. Was war ich schon für ein Detektiv? Trotzdem ließ ich nicht davon ab, die Aufgabe zu erfüllen, die ich mir gestellt hatte. Das Haus, in dem Frau Drozdová die Schlüssel hinterlegte, konnte nicht weit entfernt sein. Ich hoffte, mich nicht im halben Dorf nach Frau Malásková durchfragen zu müssen. Diese Sorge war unnötig. Der Wald endete plötzlich und eröffnete mir den Blick auf eine Gartenzeile, die sich ungefähr einen halben Kilometer bis zum eigentlichen Dorf hinzog. Ich schritt an der zusammenhängenden Linie von Zäunen entlang. Inmitten geschorenen Rasens und zwischen wohlgepflegten Obstbäumen standen Wochenendhäuser. Eigentlich waren es kleine Villen, die Landsitze wohlhabender Leute. Die Fensterläden waren geschlossen, die Türen mit Vorhängeschlössern gesichert. Nirgendwo eine Menschenseele, nirgendwo ein Namensschild. Zwischen dem vierten und fünften Grundstück blieb 46
ich stehen. Nichts zeugte davon, daß ich mich auf dem richtigen Weg befand. Weit konnte es nicht mehr sein. Wenn Frau Drozdová tatsächlich das Hundebellen gehört hatte – eine so durchsichtige Lüge hätte sie sich kaum ausgedacht –, mußten die Maláseks hier irgendwo wohnen. Vielleicht waren sie nur auf ihrem Wochenendgrundstück und sind dann wieder weggefahren. Dann konnte es jedoch keinen Sinn haben, den Schlüssel bei ihnen zu lassen. Nachdenklich ging ich einige Schritte weiter. Hinter einem Zaun blinkte etwas Buntes. Ich schärfte meinen Blick, es war eine Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika, die schlaff an einem Apfelbaum hing. Verwundert starrte ich auf das Haus im Garten. Im Unterschied zu seinen Nachbarn prunkte es nicht mit frischem Anstrich und Putz. Das niedrige Gebäude sah angenehm verwittert und leicht vernachlässigt aus, die Holzverschalung des Dachgeschosses wirkte morsch. Meinem Geschmack entsprach es mehr als die bunten Pfefferkuchenhäuschen auf den anderen Grundstücken. Ich ging zur Pforte und betrachtete das Haus näher. An einer Seite war eine Veranda an das Gebäude geklebt. Ein Junge saß auf der obersten Treppenstufe und schnitzte etwas. Als er mich erblickte, erschrak er und schob schnell ein Päckchen beiseite, das in zerknüllte Zeitungen gewickelt war. „Guten Tag“, rief ich ihm zu. „Wohnen hier Maláseks?“ „Ja.“ Er wischte sich verstohlen die Hände an den nackten, gebräunten Oberschenkeln ab, stand aber nicht auf. „Ist jemand zu Hause?“ „Ich.“ Der Junge war einsilbig im echten Sinne des Wortes. Ich faßte an die Klinke, es war nicht zugeschlossen. Auf einem Plattenweg ging ich zu dem Haus. Der nasse Lap47
pen am Apfelbaum war keine amerikanische Flagge, sondern eine gestreifte und mit Sternen verzierte Badehose. Der Junge rührte sich nicht von der Stelle, er zog nur die Beine an und lehnte sich zurück. Damit versperrte er mir den Blick auf das Päckchen. „Bist du allein hier?“ „Ja.“ Sein lustiges sommersprossiges Gesicht war von fast weißen Haaren umrahmt. Sie hingen ihm tief in die Stirn, die blauen Augen schielten mich halb frech, halb ängstlich an. Er mochte zehn Jahre alt sein. Ich stellte einen Fuß auf die unterste Stufe, Die mageren braunen Beine zuckten, gleich darauf streckte er sie mit gespielter Lässigkeit aus. Mir wurde bewußt, daß ich wie ein Landstreicher aussah. „Ich suche deine Eltern. Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Ich habe keine Angst“, erwiderte er beleidigt. „Wer sind Sie?“ Ich stellte mich vor. „Und du bist …“ „Luke.“ Er sprach es englisch aus, Ljuk. „Wie?“ fragte ich verwundert. „Auf tschechisch Lukáš. Sie sind nicht von hier, nicht wahr?“ „Nein, ich bin aus Prag.“ „Und wo ist Ihr Auto?“ Das klang mißtrauisch. „Ich habe es dort hinten stehenlassen.“ „Bei dem Regen?“ Der Argwohn in seinen blauen Augen verstärkte sich. Es regnete immer noch, zudem tropfte es vom Vordach auf meinen Kopf. Ich stieg zwei Stufen hinauf und setzte mich auf die dritte. Der Junge rückte ein Stück beiseite. Durch die nasse Zeitung hinter seinem Rücken schimmerten rosa Flecke. Ich spürte Fischgeruch. „Haben sie heute gebissen?“ fragte ich. „Früher habe ich auch geangelt. Gibt es dort im Teich viele Fische?“ 48
Er musterte mich vorsichtig. Ich lächelte ihn an, bis meine Kinnlade steif wurde. Da bemerkte ich, daß er in einer Hand ein Taschenmesser umklammerte. Ich mußte laut lachen. „Denkst du etwa, ich bin wegen der Fische gekommen? Junge, dann würde ich das anders anstellen, meinst du nicht?“ Er zögerte. „Ja, vielleicht.“ Endlich lösten sich seine Züge. „Was wollen Sie dann?“ „Wann kommen deine Eltern wieder?“ „Oma ist in der Nervenheilanstalt“, antwortete er ernst. Ich blickte ihn ungläubig an, aber er schien mich nicht auf den Arm zu nehmen. „Und deine Eltern? Ich müßte sie etwas fragen.“ „Was?“ „Gestern ist hier ein Unglück geschehen …“ Er grinste. „Das wird schwer sein. Mama ist in Mannheim.“ „Und dein Vater?“ „Meinen Sie Herrn Becker? Oder Mister Pollack?“ Seine Stimme klang unnatürlich, geradezu verbittert. Ich betrachtete Lukáš genauer. Das schmale, spitze Gesichtchen versuchte angestrengt, erwachsen auszusehen. Zwischen den Sommersprossen drang Röte hindurch. „Könntest du dich nicht verständlicher ausdrücken?“ sagte ich ruhig. „Ich kenne deine Mutter nicht – und auch keinen von den Herren.“ „Das ist ganz einfach!“ Lukáš lachte gekünstelt. „Mister Pollack ist mein Vater. Er lebt in den Staaten. Mama hat sich scheiden lassen und lebt jetzt mit Herrn Becker in Mannheim. Und ich bin hier, bei meiner Oma.“ „Du hast doch gesagt, deine Oma wäre …“ „Sie ist Frank besuchen gefahren“, unterbrach er mich ungeduldig, als amüsiere ihn meine Begriffsstutzigkeit nicht mehr. „Morgen kommt sie wieder.“ „Wer ist Frank?“ 49
„Ihr Mann.“ „Also dein Opa.“ „Mein Opa ist tot. Das ist Frank Kuba aus Kalifornien.“ „Mein Gott!“ seufzte ich unwillkürlich. Der Junge grinste froh. „Und deine Oma hat dich hier allein gelassen?“ „Was soll sein? Ich komme gut allein zurecht.“ Er sah mich herausfordernd an. „Das bezweifle ich nicht.“ Ich zeigte auf das Päckchen Fisch. „Abendbrot?“ „Ja, für Amigo. Ich habe Konserven – Schinken, Frankfurter Würstchen und Ananas. Haben Sie Hunger?“ Ich schüttelte den Kopf. Mich gelüstete eher nach einer Zigarette. Meine Schachtel, von unserer billigsten Sorte, war völlig durchnäßt. Verärgert steckte ich sie wieder ein. „Warten Sie“, sagte Lukáš. Er sprang auf und verschwand im Haus. Kurz darauf kam er mit einer Schachtel Amis zurück. „Da. Können Sie behalten, ich rauche nicht.“ „Danke.“ Ich zündete mir eine Zigarette an. Durch die offene Tür sah ich eine Angel im Flur. „Damit angelst du?“ „Ja. Aber die Rolle ist kaputtgegangen. Verstehen Sie was davon?“ Er wartete nicht auf meine Antwort und lief in den Flur. Als er mir die Angel reichte, stutzte er. „Belästige ich Sie?“ fragte er schüchtern und ließ seine Hand sinken. „Überhaupt nicht“, sagte ich mit einem Lächeln, aber mein Herz verkrampfte sich – Gott weiß warum. „Gib mir das Messer.“ Ich stocherte in der Rolle herum. Lukáš saß neben mir und blies mir wie ein neugieriger junger Hund seinen Atem an die Schulter. Nach zehn Minuten angestrengter Fummelei war das einzige Ergebnis ein bluti50
ger Finger. Lukáš holte wortlos Peroxid und Heftpflaster und behandelte mich. „Lassen Sie das lieber sein“, sagte er ohne Vorwurf. Ich betrachtete die auseinandergenommene Rolle und erklärte: „Fällt mir nicht ein!“ Eifrig machte ich mich wieder ans Werk. Er setzte sich neben mich und verfolgte schweigend, wie ich mich abplagte. Nach einer Weile fragte er: „Haben Sie Kinder?“ „Nein.“ Endlich glückte es mir, die Rädchen zusammenzufügen. „Aber verheiratet sind Sie?“ „Nein“, antwortete ich steif. „Na, fertig.“ Ich gab ihm die Angel. „Okay. Danke – und entschuldigen Sie, daß ich Sie belästigt habe.“ „Okay“, sagte ich ebenfalls. Er sah mich unsicher an, dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. „Warum hast du mich gefragt, ob ich Kinder habe? Dachtest du, wenn ich einen Sohn hätte, könntet ihr Freunde sein?“ Sein Mund schrumpfte zusammen wie Dörrobst. „Ich brauche keinen Freund“, erwiderte er trotzig. „Ich bin lieber allein.“ „Richtig“, stimmte ich ihm zu. „Ich auch.“ Wir blickten einander an wie hartgesottene Männer. „Was machen Sie eigentlich?“ fragte er zögernd. „Ich meine – was sind Sie von Beruf? Mein Vater ist Hauptmann“, fügte er eilig hinzu, als wollte er mich seiner Mitteilsamkeit versichern. „Ich auch.“ „Was für ein Hauptmann? Bei der Polizei?“ „Nein, bei der Armee – aber jetzt nicht mehr. Ich war es“, sagte ich und begriff nicht, wie ich hatte die Zeiten verwechseln können. 51
„Sind Sie wirklich kein Polizist?“ „Nein. Wie kommst du darauf?“ „Wegen dem Mord. Wissen Sie etwas davon?“ „Ich habe davon gehört“, antwortete ich vorsichtig, „aber viel weiß ich nicht. Hast du den alten Herrn gekannt?“ „Klar, er hat doch bei uns gewohnt. Schade, daß er tot ist. Onkel Luiz wäre besser als Frank.“ Damit meinte er zweifellos Mr. Frank Kuba aus Kalifornien. „Hat die Polizei deine Oma verhört?“ „Oma war nicht da. Mich haben sie verhört“, sagte er stolz. „Dich?“ „Klar. Ob Hanka gestern hier war, als ich vom Angeln kam. Ich habe gesagt, daß sie gerade weggegangen ist. Hanka ist …“ „Das weiß ich“, unterbrach ich ihn. Also hat sie nicht gelogen. Einen besseren Zeugen als ein Kind könnte sie sich nicht beschaffen. „Und deine Oma?“ „Die war schon weg. Sie ist gestern früh gefahren“, sagte er. „Woher kennen Sie Hanka?“ Ich hatte keinen Grund, ihm etwas zu verheimlichen. „Gestern war ich auch dort. Ich habe im Haus auf Frau Drozdová gewartet.“ Das schmale Gesichtchen sah auf einmal verschlagen aus. „Also Sie …“ Ich war gespannt, was er sagen würde. In der Psyche von Kindern kannte ich mich nicht aus. Vielleicht würde er mich einfach fragen, ob ich Herrn Ezechiáš ermordet hätte. Lukáš wollte etwas ganz anderes wissen. „Haben Sie viel Geld?“ „Ich? Nein“, antwortete ich belustigt. „Wie kommst du darauf?“ „Warum waren Sie dann hier?“ Die hellblauen Augen 52
blickten mich direkt und offen an. Dahinter verbarg sich nichts als kindliche Neugier. „Ich habe – nur Hanka hergebracht“, antwortete ich ausweichend. Der Verkauf war eine Angelegenheit der Familie Drozd. Die Leute vertrauen ihren Nachbarn meist nicht an, was sie mit ihren Grundstücken zu tun gedenken. Wenn statt des Jungen die Großmutter neben mir gesessen hätte, wäre ich nicht so mitteilsam gewesen. Lukáš hatte mein Zögern bemerkt, und mit einem Instinkt, der Kindern und Hunden eigen ist, spürte er, daß ich etwas vor ihm verbarg. Er zog sich unmerklich von mir zurück. Das begierige Jungengesicht verschwand unter der Maske des zynischen Globetrotters, mit der er mich empfangen hatte. „Was hat dir Hanka gesagt, als ihr euch begegnet seid?“ fragte ich ihn. Es war zu spät. Die vertrauliche Atmosphäre zwischen dem kleinen und dem großen Mann war verflogen, ich war nur noch ein lästiger Erwachsener. „Was geht Sie das an?“ fertigte er mich ab. „Fragen Sie Hanka, wenn Sie das wissen wollen.“ Er stand auf. „Ich gehe mir Abendbrot machen.“ Ich erhob mich ebenfalls. Länger zu verweilen, nützte mir nichts. Letztlich hatte ich erfahren, was ich wissen wollte. Hanka hatte wohl tatsächlich zu der problematischen Zeit auf jemanden aus diesem Haus gewartet. Vielleicht auf ihren Onkel, auch wenn es merkwürdig war, daß sie nichts davon gesagt hatte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, etwas verdorben zu haben, als ich über die glänzenden, vom Regen gewaschenen Platten zur Pforte schritt. Die Gewitterwolken waren nach Norden gezogen und hatten einen dichten rauchgrauen Schleier zurückgelassen, durch den der Himmel ausdauernd Wasser seihte. Am Straßenrand rann ein Bächlein, das Gras und abgerissene Blätter flößte. 53
Ich ging die Landstraße entlang und wich nur den größten Pfützen aus. Meine Schuhe gaben bei jedem Schritt quatschende Laute von sich, ich war durchnäßt und mich fror. Es hatte sich schnell abgekühlt, wie das nach einem Gewitter zu sein pflegt, und die Dämmerung legte sich vorzeitig auf das Land. In meinem Rücken meldete sich der stechende Schmerz. Der Wald hauchte mich mit feuchtem Atem an. Zwischen den Baumkronen krochen Nebelstreifen und verliehen der Villa das Aussehen eines Spukschlosses. Bei diesem Licht hatte der Putz die Farbe von getrocknetem Blut. Ich wollte nicht über glitschige Wurzeln stolpern und mich durch das nasse Gesträuch zwängen. Deshalb wählte ich den längeren, aber bequemeren Weg und schleppte mich weiter die Straße entlang, die an der Villa vorbeiführte. Dort hatte ich höchstens einen unfreundlichen Gruß von dem treuen Wächter Amigo zu gewärtigen. Darin hatte ich mich nicht geirrt. Kaum hatte ich mich dem Zaun genähert, hörte ich ein tiefes Knurren. Zwischen den Zaunlatten erschien Amigos Kopf, das Fell war völlig naß. Jetzt war zu sehen, daß es ein sehr altes, bis auf die Knochen abgemagertes Tier war. Ein häßlicher, beinahe anstößiger Anblick – ein nackter Greis. Er bellte kurz, offenbar heiser. „Sei still“, sagte ich zu ihm. „Wir kennen uns doch.“ Hinter der niedrigen Mauer der Garageneinfahrt tauchte ein Mann in schwarzer Jacke auf. Er blickte mich ebenso böse an wie Amigo. Ebenso wie er vormittags Josef Kamínek angesehen hatte. Es war Ingenieur Drozd, der Ehemann der Frau, welche die vorige Nacht mit mir verbringen wollte. Er sah mich an, als wüßte er das. In seiner ölverschmierten Hand schlenkerte ein Stück Gummischlauch. Auf der Mauer stand eine offene Werkzeugtasche. 54
Ich entbot ihm einen Gruß. Er öffnete den Mund, aber was er sagte, ging im wütenden Hundegebell unter. Drozd kam einige Schritte näher, wobei er sich in seiner ganzen Schönheit präsentierte. Der schwere Kopf saß fast ohne Hals auf dem stämmigen Körper. Der Mann war kleiner als seine Frau. Wenn die beiden nebeneinander standen, mußten sie, wirken wie Schimpanse und Gazelle. „Still, du Scheusal“, blaffte er den Hund an, und im selben Tonfall wandte er sich an mich: „Was wollen Sie?“ „Nichts“, sagte ich überrascht. „Ich gehe gerade hier vorbei und da …“ „Dann gehen Sie weiter“, unterbrach er mich. Seine Augen waren kalt wie der Bauch eines toten Fisches. „Sie reizen bloß den Hund.“ Er drehte sich zur Garage um. „Warten Sie“, sagte ich. „Wir haben uns schon gesehen. Heute vormittag beim Rapport – erinnern Sie sich nicht?“ „Nein“, erwiderte er grob. „Schade, daß Sie es so eilig hatten“, fuhr ich fort. „Josef wollte mit Ihnen sprechen.“ „In meiner Freizeit befasse ich mich nicht mit dienstlichen Angelegenheiten. Er hat Sie umsonst hergeschickt.“ Drozd sprach mit mir, wie ein Generaldirektor mit einem Bürolehrling. Aber seine Augen verrieten, daß er wußte, worüber ich zu reden gedachte. Auf diese plumpe Weise wollte er mir das verwehren. Ich lehnte mich ans Tor und nahm die Zigaretten heraus, die mir Lukáš geschenkt hatte. „Rauchen Sie?“ fragte ich ihn freundlich. Er führte mir ein Mienenspiel müden Überdrusses vor. „Haben Sie nicht verstanden …“ „Lassen Sie das, Herr Ingenieur“, unterbrach ich ihn ungerührt. „Sie wissen sehr wohl, worüber ich sprechen will. Wenigstens nehme ich an, Sie kennen den Namen 55
des Mannes, der gestern mit Ihrer Gattin hier war – und meinen Namen haben Sie heute vormittag ebenfalls gehört.“ Eine Sekunde stand er starr da. Schließlich fragte er unfreundlich: „Warum sind Sie zu mir gekommen?“ „Ich bin nicht zu Ihnen gekommen. Aber da ich Ihnen hier begegne, haben wir etwas zu bereden, meinen Sie nicht?“ „Nein.“ Jedes Wort schien ihn maßlose Selbstverleugnung zu kosten. „Aber ja!“ Ich zündete mir die Zigarette an. „Wie Sie wissen, bin ich Zeuge bei der Aufklärung des Mordes an Ihrem Onkel.“ „Des Onkels meiner Frau“, berichtigte er mich. „Mich geht das nichts an. Ich war gestern nicht hier – ich habe nicht mit ihm verkehrt – ich habe ihn kaum gekannt. Damit habe ich nichts zu tun. Das interessiert mich nicht.“ „Er ist in Ihrem Haus ermordet worden“, bemerkte ich mit größter Gelassenheit. Seine verstockte Arroganz wirkte abstoßend auf mich. „Das ist nicht meine Schuld. Ich habe es ihm nicht vermietet.“ „Wer dann – Ihre Frau? Ohne Ihr Wissen? Sie hat doch selber nicht gewußt, daß er hier war.“ „Das würde ich auch sagen, daß sie es nicht gewußt hat.“ Er grinste wie ein Satyr. „Was wollen Sie damit sagen?“ „Dann hätte sie keinen Kerl hergeschleppt, wenn sie geahnt hätte, hier ihr geliebtes, unschätzbares Onkelchen vorzufinden. Und wenn, dann nicht eine Lusche, einen verkrachten Offizier, Schütze Arsch im dritten Glied …“ Ein Wunder, daß er mich nicht durch das Tor anspuckte. Ich trat einen Schritt zurück und beobachtete mit Erstaunen, wie sich der aufgeblasene Bursche in einen wü56
tenden Primitivling verwandelte. Mein Gleichmut gab ihm die Selbstbeherrschung wieder. „Hauen Sie ab“, keuchte er. „Verschwinden Sie! Woher nehmen Sie die Frechheit, hierher zu kommen!“ „Woher nehmen Sie den Unsinn, den Sie mir an den Kopf geworfen haben?“ entgegnete ich spöttisch. „Sie spielen Theater – allerdings miserabel. Und vor dem falschen Publikum. Wen wollen Sie davon überzeugen, daß ich mit Ihrer Frau ein Verhältnis habe? Mich selber?“ Er stülpte die Lippen vor und brummte: „Sie war heute nacht bei Ihnen. Das hat sie mir gesagt.“ „Hat sie Ihnen auch gesagt, warum sie gekommen ist? Warum bestreiten Sie, daß Sie das Haus verkaufen wollen? Warum versuchen Sie beide, Leutnant Pavrovský zu verschweigen, daß ich es schätzen sollte?“ Er öffnete das Tor und stellte sich mir gegenüber. „Geh zu ihm und sage ihm das, du Mistkerl. Das wird er dir bestimmt glauben. Ein Bauingenieur holt sich einen Hilfsarbeiter, um sein Haus schätzen zu lassen.“ „Das haben Sie sehr genau getroffen. Leutnant Pavrovský wird mir nicht glauben, und ihn wird der wahre Grund interessieren, weshalb mich Ihre Frau hierher geholt hat. Diesen Grund gibt es, und Sie wollen ihn verheimlichen. Sonst hätte mich Frau Drozdová nicht mit Hilfe ihrer Reize überzeugen wollen, die banale Erklärung zu bestätigen, die sie der Polizei gegeben hat … Und wenn ihr das nicht gelungen ist, dann versuchen Sie es jetzt, mit Gewalt …“ Das hätte ich nicht sagen dürfen. Auf dieses Stichwort hatte er offenbar gewartet. Ich wich aus, doch ich hatte vergessen, daß er einen Gummischlauch in der Hand hielt. Er traf mich am Hals. Ich wankte zurück und glitt im nassen Gras aus. Bevor ich das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, überhäuften mich Schläge. Drozd sah nicht hin, wenn er schlug, aber jeder Hieb saß. Ich hob den Arm, um mein Gesicht 57
zu schützen. Er trat mich gegen die Beine. Als ich stürzte, stieß er mir seine Faust in den Bauch. Durch mein Rückgrat fuhr ein blendender Schmerz. Mein letzter Gedanke gehörte dem Gipsbett, dem ich vor acht Monaten entstiegen war. „Stehen Sie auf, Sie faule Haut“, hörte ich eine Frauenstimme sagen. „Na, wird’s bald? Sie können sich nicht ewig hier herumwälzen. Ihnen fehlt nichts. Sagen Sie bloß nicht, Ihnen tut etwas weh. Sie sind ein verweichlichtes Muttersöhnchen, schämen sollten Sie sich …“ Schwester Lýdie sprach schnell und mit erhobener Stimme, wie immer, wenn sie wütend war. Man konnte sie leicht aufbringen. Mit achtzehn Jahren hatte sie die Front miterlebt, und jetzt, mit Anfang fünfzig, hielt sie alle Patienten der orthopädischen Station für verzärtelte Faulenzer. „Hören Sie mich? Stellen Sie sich nicht schlafend – machen Sie die Augen auf!“ Kalte Finger tippten an meine Stirn, jemand redete und redete, bis es in ein unverständliches Gepiepe überging. Mir blieb nichts übrig, als zu gehorchen. Ich sah nicht Schwester Lýdie. Ich lag nicht in einem sauberen Krankenbett, sondern auf nassem Waldboden. Auf meine Stirn tropfte unablässig Wasser von einem Baum, in dessen Krone ein Vogel laut piepte. Wie gern hätte ich den Drachen im Schwesternkleid gesehen. Aber Schwester Lýdie war fern. Ich lag dort allein, in der Dunkelheit, im Wald, und es gab niemanden, der mich aufstehen hieß. So befahl ich mir das selber. Ich bewegte mich und stöhnte auf. Der Vogel auf dem Baum verstummte. Es war ganz still. Mich überfiel panische Angst. Vorsichtig stützte ich mich auf eine Hand und versuchte, mich aufzurichten. Der Boden war weich und nachgiebig, mein Arm schwach wie ein Blumenstengel, der sich mit Wasser vollgesogen hat. Das Gewicht, das 58
ich überwinden mußte, glich dem Druck in einer Meerestiefe von achttausend Metern. Ich war ein riesiger Kopffüßler, aus dessen Greifern jegliche Kraft verschwunden war. Hilflos scharrte ich im Waldboden und suchte nach etwas Festem, worauf ich mich hätte stützen können, um den Rest meines Körpers aufzurichten. Dieser Rest bestand nur aus einem Kopf, einem riesigen, geschwollenen und unglaublich schweren Kopf. Die Hände voller spitzer Kiefernnadeln, ertastete ich endlich eine schleimige Wurzel. Ich zog mich an ihr entlang, bis ich mich an den Baumstamm lehnen konnte. In dem Augenblick erfuhr ich, daß ich auch einen Rücken und einen Bauch hatte. Einen zwar zerbrochenen Rücken und einen Bauch, in dem ein widerspenstiger Magen hüpfte, aber immerhin – ich war kein Weichtier. Ich war ein Homo sapiens männlichen Geschlechts. Ich war ein blödes altes Weib. Sonst hätte ich mich nicht in die Konversation mit einem Herrn Drozd eingelassen, der einen Gummischlauch in der Hand hatte, Ich hätte nicht stillgehalten wie ein Maulesel, als er mich damit verdrosch, sondern hätte mich gewehrt – oder wäre wenigstens geflohen. Gott allein weiß, warum ich vorausgesetzt hatte, als zivilisierte Menschen würden wir nur mit Grimassen und Beleidigungen übereinander herfallen. Letztlich hatte ich noch Glück. Er hätte den Hund auf mich hetzen können. Ich holte Luft, biß die Zähne zusammen und stand auf. Der Baum hatte sehr feste Wurzeln. Ich umfaßte die Kiefer mit beiden Armen wie eine verlorengeglaubte Geliebte, drückte mein Gesicht an ihre harzige Rinde und fürchtete den Augenblick, an dem ich sie verlassen müßte. Wenn sie mir nur nicht fortläuft und ich allein bleibe, mutterseelenallein in der unendlich weiten, leeren Finsternis. Nach einer Weile war ich ihrer überdrüssig. Sei ein Kerl, ermahnte ich mich. Du bist vierzig Jahre, in deinem 59
Leben hast du schon einige Frauen verlassen, und noch mehr Frauen haben dir das angetan. Und jetzt verliebst du dich in einen Baum. Ich stieß die arme alte Kiefer weg, taumelte, schritt weit aus, blieb aber gleich stehen. Meine Augen hatten sich endlich an die Dunkelheit gewöhnt. Ich war nicht von allein in den Wald gelangt. Der besorgte Herr Drozd hatte mich hergetragen, und er hatte mich schonend auf den weichen Nadelboden gebettet. Das war sehr gütig von dem Herrn Ingenieur. Er hätte mich auch in den Teich werfen oder auf die Bahnschienen legen können. In einer Richtung war die Dunkelheit weniger dicht. Ich begab mich dort entlang. Daran wollten mich lediglich die Baumstämme hindern, die sich mir boshafterweise in den Weg stellten. Als ich aus dem Wald trat, regnete es nicht mehr. Das hob ein wenig meine Stimmung. Und als ich die Stelle erkannte, wo ich geparkt hatte, erbebte ich vor Freude. Beim Anblick meines Škoda verfiel ich einem grenzenlosen Optimismus. Der Optimismus verging, bevor ich zum Auto gelangt war. Es schien sich hingehockt zu haben, als hätte sich die Böschung, auf die ich mit den Hinterrädern gefahren war, infolge des Regens gesenkt. Ich beugte mich zur Rückseite des Wagens, die Böschung war unbeschädigt. Beide Hinterräder waren platt, aber wenn es nur das gewesen wäre. Die neuen Reifen waren fein säuberlich zerstochen. Ich stützte mich auf die Motorhaube. Das Blech war naß und kalt, es zischte beinahe bei der Berührung mit meinen entzündeten Händen. Ich war nicht imstande, mich aufzurichten. Der Schmerz zerstach meinen Rücken wie ein Fleischermesser. Gebückt ging ich um den Wagen herum, wohl ahnend, daß die Vorderreifen nicht verschont waren. Herr Drozd hatte ganze Arbeit geleistet. 60
Selber ein halber Krüppel, stand ich neben meinem verkrüppelten Auto auf einer leeren Landstraße, gut fünf Kilometer von der schönen Stadt Brandýs entfernt. Hinter dem Wald lag zwar ein Dorf … Ich erinnerte mich an ein anderes verlassenes Menschenkind. An den Jungen, dessen Vertrauen ich erst gewonnen und dann verloren hatte. Langsam schritt ich wieder auf den Wald zu. Für den Weg, den ich nachmittags in wenigen Minuten zurückgelegt hatte, brauchte ich nun mindestens eine halbe Stunde, und das war eine Leistung an der Grenze meiner Möglichkeiten. Als ich wieder auf die Straße gelangte, wurde mir klar, daß es schon spät war. Ich wußte nicht, wie lange ich im Wald gelegen hatte, meine Uhr war stehengeblieben. Es konnte schon zehn sein. Der Junge würde wohl schlafen, die Gartentür würde verschlossen sein, und ich konnte nicht hinüberklettern, selbst wenn mich auf der anderen Seite eine Schönheitskönigin mit süßen Verheißungen gelockt hätte. Ich versuchte mich zu erinnern, ob es eine Klingel gab. Es gab keine, aber auf dem nassen Vordach schimmerte gelbes Licht, das aus einem Fenster im Obergeschoß fiel. Ich hielt mich am Zaun fest und pfiff. Aus dem Fenster beugte sich ein Kopf, das Haar glänzte wie Silber. „Wer ist da?“ rief Lukáš mit einer Stimme, die männlich-rabiat klingen sollte. „Ich.“ Er erkannte mich. „Was wollen Sie noch?“ „Bitte komm her“, seufzte ich, mühsam den Zaunpfahl umklammernd. Das silberne Stimmchen geriet in Schwingungen und sprühte wie eine Wunderkerze. Ich schloß die Augen. „Warum?“ entgegnete Lukáš unwirsch. „Was ist das für …“ Er verstummte. „Was haben Sie? Sind Sie betrunken?“ „Nein“, röchelte ich. 61
Er beugte sich weiter heraus, dann verschwand er schnell. Die Lampe im Flur leuchtete auf, die Tür wurde geöffnet, eine zierliche Gestalt in einem bunten T-Shirt lief die Treppe herunter. Als Lukáš über den Rasen rannte, blendete mich eine weitere Wunderkerze. Diesmal war es eine große Taschenlampe in seiner Hand. Er blieb ein Stück vor dem Zaun stehen und strahlte mich mitleidslos an. „Sie sehen vielleicht aus! Hatten Sie einen Unfall?“ Ich antwortete nicht auf diese Frage, sondern rief nur: „Leuchte mir nicht so ins Gesicht!“ Lukáš richtete den Lichtkegel auf den Boden, und ich sah, daß er barfuß war. „Du wirst dich erkälten“, keuchte ich. „Das Gras ist naß und …“ Auf einmal hatte er sich entschlossen. „Kommen Sie ’rein, Sie können sich wenigstens waschen. Hier lang …“ Er öffnete die Pforte und leuchtete mir nochmals kurz ins Gesicht. Lukáš reichte mir seinen rechten Arm. Ich vergaß, daß der Junge ein schmächtiges Kerlchen war, und stützte mich auf seine Schulter. Beinahe hätte ich ihn umgerissen. Er ächzte, aber sackte nicht zusammen, sondern zog mich in den Garten und schloß mit einem Fußtritt die Tür. „Schließ zu“, sagte ich mit steifer Zunge. Lukáš blickte mich von unten an, dann befolgte er schweigend meinen Rat. Er faßte mich um die Taille, und gemeinsam torkelten wir zur Veranda. Ich weiß nicht mehr, wie er mich ins Haus geschleppt hat. Wie eine schwankende Vogelscheuche stand ich mitten im Raum. Lukáš zog mir den verdreckten Wettermantel aus und schleuderte ihn in den Flur. Von irgendwoher angelte er eine braunschwarzkarierte Decke, die er über einem Sessel ausbreitete. Er setzte mich hinein und legte die Zipfel der Decke über meine Schultern. Einen Mo62
ment verweilte er vor mir, die Stirn unter der sonnengebleichten Mähne besorgt gerunzelt. Dann zog er mir die Schuhe aus. Ich bewegte die Lippen, aber aus meinem Mund kam kein Laut. Lukáš holte eine Flasche und füllte ein Wasserglas zur Hälfte mit einer goldgelben Flüssigkeit. Ich trank und zischte vor Schmerz auf. Es schien ein Ätzmittel zu sein. Ein Blick auf die Flasche zeigte mir, daß sie schottischen Whisky enthielt. Gierig trank ich das Glas aus. Durch meinen Körper floß allmählich Wärme. Ich versuchte aufzustehen. „Bleiben Sie sitzen“, sagte Lukáš besorgt. „Sagen Sie, was Sie brauchen.“ „Einen Spiegel.“ Er brachte mir einen ovalen Spiegel mit einem Perlmuttrahmen, ein Schmuckstück für eine schöne Frau. Was mich daraus angrinste, war ein Gesicht, vor dem jedes weibliche Wesen entsetzt geflüchtet wäre. Schockiert ließ ich die Hand mit dem Spiegel sinken. „Ich wundere mich, daß du mich reingelassen hast“, sagte ich zu Lukáš. Jetzt wußte ich, warum mich jedes Wort und jeder Schluck Schmerzen kosteten. Meine Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt. „Ich bin kein kleines Mädchen“, verkündete Lukáš. „Wenn Sie sich auf den Beinen halten können, sollten Sie sich waschen gehen. Oder besser baden.“ Er führte mich ins Bad und gab mir einen riesigen Frottémantel. „Der ist von Frank“, sagte er. „Danach pinsele ich Sie mit Jod ein und verpflastere Sie.“ Das war kein Kind, sondern eine Mutter – ein Bruder – ein barmherziger Samariter. Ein blonder Engel in seinem T-Shirt, das kreuz und quer mit grellbunten Aufschriften bedruckt war. Ich kam mir vor wie ein verunglückter Formel-1-Fahrer, um den sich sein treuer Mechaniker sorgt. Auf der Landstraße hätte er mir in zwei Minuten alle vier Räder ausgewechselt. 63
Das heiße Bad tat meinem Rücken unermeßlich wohl. Als ich das Blut abgewaschen hatte, das aus der Nase und einer geplatzten Braue stammte, sah ich wieder einem Menschen ähnlich. Auf ein Auge drückte zwar eine Beule von der Größe und Farbe einer reifen Pflaume, und die Oberlippe wurde von einer klaffenden Wunde geziert, doch im Vergleich zu dem Bild, das ich vorher geboten hatte, war ich schön wie ein Filmstar. Besonders wenn ich mich ein bißchen zur Seite drehte, um nicht das Ohr zu sehen, das zur doppelten Größe angeschwollen war. Vorsichtig hob ich die Ohrmuschel – dahinter war ein blutunterlaufener Striemen. Die meisten Schläge hatte mein Schläfenknochen abbekommen. Ich gelobte mir, dem Herrn Ingenieur alles mit Zinsen heimzuzahlen. Dieser Entschluß tröstete mich sehr. Es war ein Zeichen, daß ich wieder in meine alte Haut zurückgefunden hatte. In Franks Mantel ging ich ins Zimmer und ertappte das Wunderkind dabei, wie es Frankfurter Würstchen aus einer Konservenbüchse zog. Bei diesem Anblick hüpfte mein Magen nicht mehr. „Lukáš“, sagte ich. „Du bist unwahrscheinlich. Das achte Weltwunder, so etwas wie ein UFO oder eine Märchenfee. Komm her, ich möchte dein Haar streicheln – um mich zu überzeugen, daß du wirklich existierst …“ „Quatsch“, erwiderte er trocken. „Sie müssen ordentlich eins auf die Birne gekriegt haben. Wer hat das getan?“ Ich blinzelte ihn mit meinem funktionstüchtigen Auge an. „Was sagst du da – ich hatte einen Autounfall.“ „Lügen Sie schon wieder? Glauben Sie, ich sehe nicht, daß man Sie zusammengeschlagen hat? Autounfälle habe ich auch schon gesehen. Wo haben Sie den Wagen? Sie schleppen sich blutbeschmiert her – wie in Chicago –, und kaum sind Sie wieder ein bißchen beisammen, erzählen Sie mir Märchen.“ Das Kinder64
stimmchen überschlug sich, weil es barsch klingen sollte. Ich klammerte mich an das unverfänglichste Wort in seiner Ansprache. „Was weißt du schon von Chicago!“ „In Chicago bin ich geboren. Mein Vater ist Amerikaner, aber seine Eltern waren Tschechen.“ „Und was bist du?“ fragte ich, um das Gespräch nicht auf gefährliche Gleise geraten zu lassen. „Das weiß ich nicht. Jeder gehört zu dem Land, wo er lebt, oder nicht? Ich könnte ein Amerikaner oder ein Deutscher sein, aber mein Vater und meine Mama wollen mich nicht haben.“ „Das Vaterland eines Menschen erkennt man auch an der Sprache“, sagte ich beklommen. „Du sprichst tschechisch wie ein Junge, der hier geboren ist.“ „Ich spreche auch englisch, deutsch und spanisch“, prahlte er. „Aber spanisch nur ein bißchen. Herr Ezechiáš hat mir das beigebracht.“ Der Name fiel ganz zufällig. Lukáš stutzte und blickte mich verstohlen an. Ich bemühte mich vergeblich, gleichgültig auszusehen. „Sie suchen den Mörder“, lispelte er. „Streiten Sie das nicht ab – das habe ich gemerkt.“ Ich ergab mich. „Du hast recht. Aber ich bin kein Polizist, sondern …“ „Ein Privatdetektiv“, hauchte er selig. „Ach wo“, wehrte ich ab. „Ich möchte bloß einige Umstände feststellen, die …“ Er fiel mir ins Wort: „Wer hat Sie so fertiggemacht? Die Polizisten?“ „Nein“, erwiderte ich ratlos. Dieser prima Junge, selbständig, wie manch einer nicht mit achtzehn, schöpfte seine Vorstellungen offensichtlich aus Filmen. Es war verwunderlich, wie naiv er die Märchen ins Leben übertrug. Da wurde ich mir dessen bewußt, daß er durchaus 65
nicht naiv war. Und daß er sein kurzes, abenteuerliches Leben nicht durch Phantasie auszuschmücken brauchte. Den wesentlichen Teil hatte er wohl in einer Welt verbracht, wo andere Regeln als in unserer Gesellschaft gelten. „Wie alt bist du, Lukáš?“ „Zwölf.“ „Und wie lange lebst du schon bei deiner Großmutter?“ „Seit zwei Jahren. Wer hat Sie so zugerichtet – Gangster?“ „Hör mal zu, Lukáš“, sagte ich geduldig. „In unserem Staat verprügeln Polizisten keine Leute. Hier gibt es auch keine Privatdetektive – und keine Gangster“, endete ich unsicher. Die Abschreckungsmethoden, die Herr Drozd benutzt hatte, hätten jedem Berufskiller zur Ehre gereicht. Ich konnte nicht erkennen, was Lukáš von meiner Belehrung hielt Auf einmal sprang er auf. „Die Würstchen!“ Er stellte zwei Teller auf den Tisch. An meinem Platz stand die Whiskyflasche, an seinem ein Glas Milch. Lukáš holte noch Brot und französischen Senf. „Kommen Sie essen“, forderte er mich auf. Wir aßen schweigend, ich, weil mir das Kauen schwerfiel, Lukáš, weil er reinhaute, als hätte er seit dem Morgen gefastet. Gleich zwei geplatzte Würstchen hatte er auf seinen Teller gelegt. Eine Uhr schlug zehnmal, und ich merkte erst jetzt mit Erstaunen, daß ich lange im Wald gelegen hatte. Seit der Begegnung mit Ingenieur Drozd schien jedoch eine ganze Ewigkeit verflossen zu sein, denn ich hatte das Gefühl, als säße ich seit Jahren mit dem Jungen am Tisch. Das Zimmer nahm das ganze Erdgeschoß ein. An drei Wänden befanden sich Fenster, es mußte immer Sonne haben. In einer Ecke lag die Kochnische, durch den Tisch, an dem wir saßen, abgetrennt. Der restliche Raum war 66
als Wohnzimmer gemütlich eingerichtet, völlig ausreichend für eine alte Frau und einen kleinen Jungen. Es hätte auch einem müden vierzigjährigen Mann und einem solchen Jungen genügt. Auf der Kommode standen zwei Fotografien. Eine zeigte eine Frau mit Spitzenbluse, eine Perlenkette um den welken Hals. Vor der Linse hatte die Frau alle Zähne entblößt. Die Zähne und die Perlen waren zu makellos, um echt zu sein. Ich kannte diesen Typ der herben Schönheit. Mit zwanzig ist eine solche Frau ein zartes und eigensinniges Geschöpf, mit dreißig ist sie nur noch eigensinnig. Mit vierzig treibt sie jeden allein durch ihren Blick in die Flucht. Einst, bei unserem einzigen exklusiven Urlaub, sahen wir im Dubrovniker Aquarium eine ganze Gruppe solcher unverwüstlicher Mädchen. Meine Frau war unter ihnen nicht herauszufinden, obwohl sie kaum dreißig Jahre zählte, während sich die Amerikanerinnen im Rentenalter befanden. Ich verspürte damals einen unwiderstehlichen Drang, sie zu packen und in einen Behälter zu stecken, zwischen Kraken und urzeitliche Krustentiere. Die perlengeschmückte Frau war höchstwahrscheinlich die Großmutter von Lukáš. Die andere Fotografie war ein vergrößerter Schnappschuß, der mit einem hochwertigen Apparat gemacht worden war. Vor dem Hintergrund einer Kakteenlandschaft grinsten einander zwei Männer an. Einer klein und dürr, der andere groß und dickbäuchig. „Wer ist das?“ Ich zeigte mit einem Würstchen auf die beiden. „Frank. Der große.“ Das hätte ich mir denken können. Ich hatte Franks Bademantel an, die Ärmel waren zwanzig Nummern zu lang. „Und der andere?“ „Herr Ezechiáš. Das ist in Mexiko.“ 67
Herr Ezechiáš hatte das ausgedörrte Gesicht eines Gnoms, das die Jahre kaum verändern – und auch nicht der Tod. Ich hätte ihn erkennen müssen. Der andere Mann sah trotz seiner kräftigen Statur aufgedunsen und krank aus. „Merkwürdig, daß sie sich gekannt haben“, sagte ich nachdenklich. „Was ist daran merkwürdig?“ „Eigentlich nichts. Nur, daß sie sich hier wiederbegegnet sind. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?“ „Das ist kein Zufall.“ Er steckte den letzten Bissen in den Mund. „Herr Ezechiáš hat Hanka geschrieben, ob sie eine Frau kennt, die sich um Frank kümmern würde. Hanka hat das Oma gesagt, und so ist er zu uns gekommen. Oma hat ihn geheiratet, damit sie die amerikanische Rente erhält, wenn er stirbt. Damals war er schon krank. Die alten Opas wollen alle hier sterben“, sagte er verwundert, ohne verächtlichen Akzent auf dem Wort, mit dem er die Rückkehrer bezeichnete. „Was hat er? Daß er in einer Anstalt ist?“ „Irgendwas mit den Nerven. Verrückt ist er nicht.“ Lukáš trank die Milch aus, stellte die Teller übereinander und stand auf. „Wahrscheinlich kommt er nicht mehr wieder. Wenn Herr Ezechiáš nicht gestorben wäre, dann …“ Er trug das Geschirr in die Kochnische. „Was dann?“ „Nichts.“ Er blickte mich unschlüssig an, ehe er fragte: „Was wird eigentlich aus den Sachen? Der Eisenbahn, den Autos und Flugzeugen?“ „Keine Ahnung. Das behalten sicher seine Verwandten.“ „Hanka?“ „Ja, falls er keine andere hatte – und wenn er die Sachen nicht ausdrücklich jemandem vererbt hat.“ „Er hat gesagt, eines Tages wird alles mir gehören“, unterbrach er mich aufgeregt. „Ich habe ihm geholfen, 68
und er hat mich gelobt, weil ich geschickt bin. Was meinen Sie, könnte ich das kriegen?“ „Kaum“, sagte ich mit Bedauern. „Höchstens, wenn er ein Testament hinterlassen hat, in dem das drinsteht.“ „Ist ein Testament da?“ Das sommersprossige Gesicht leuchtete auf. „Frag Hanka“, riet ich ihm. „Aber mach dir keine zu großen Hoffnungen. Er hat ja nicht geahnt, daß er so bald stirbt.“ Der Junge war sichtlich enttäuscht, er tat mir leid. „Auf jeden Fall mußt du es versuchen. Vielleicht könntest du wenigstens einen Teil davon bekommen – die Modelle haben für sie möglicherweise keinen Wert.“ Er schien angestrengt nachzudenken. „Hanka ist prima“, erklärte er schließlich. „Aber Tomáš ist geizig. Der würde seine eigene Mutter verkaufen.“ „Tomáš?“ „Ihr Mann. Kennen Sie ihn?“ Ich faßte mich unwillkürlich an mein geschwollenes Ohr. Lukáš war ein kluger Junge. Das genügte ihm. „Also mit dem haben Sie sich geschlagen?“ In seinen Augen funkelte Interesse. „Nein – nicht geschlagen.“ „Das ist ein blöder Kerl, dem müßten Sie mal eine auswischen.“ Er kicherte. „Wie Olda.“ „Hankas Bruder?“ „Ja. Einmal hat er Tomáš in der Garage eingesperrt und bis zum Morgen dringelassen. Hanka mußte einen Schlosser holen, weil Olda den Schlüssel nach Prag mitgenommen hatte.“ Das war eine allerliebste Familie. „Ist Olda so stark?“ vergewisserte ich mich. Wer weiß, was mir noch bevorstand. „Ach wo!“ Lukáš machte einige affektierte Bewegungen, mit denen er offenbar einen Ballettänzer nachahmen wollte. „Er ist Dressman. Im Haus der Mode hängt 69
überall sein Foto – vorige Woche war ich mit Oma dort und habe das gesehen.“ Neidisch fügte er hinzu: „Olda verdient viel Geld.“ „Wie ist er denn mit Tomáš fertiggeworden?“ „Tomáš lag auf der Erde, er kriegt Anfälle. Olda hat ihn in die Garage geschleppt.“ Ich erinnerte mich an die starren Fischaugen. So steht es also um Herrn Drozd. Am ehesten ist er Epileptiker. Keine Minderwertigkeitsgefühle gegenüber seiner schönen und leichtsinnigen Frau, sondern eine schreckliche Krankheit. Mir konnte das gleich sein. Die Schläge, die er mir versetzt hatte, waren deshalb nicht weniger kräftig gewesen. „Warum hat er Sie zusammengeschlagen?“ interessierte sich Lukáš. „Ihm hat nicht gefallen, daß ich hergekommen bin“, antwortete ich. „Und warum sind Sie hergekommen?“ Zum zweiten Male machte ich einen schicksalhaften Fehler. Ich wußte nicht, wie ich es ihm erklären sollte, und glaubte nicht, daß er es begreifen würde. „Hier ist ein Mord geschehen, Junge“, sagte ich müde. „Die Polizei sucht den Täter. Ich bin nur ein Zeuge – und weiß nichts. Deshalb wollte ich mich ein bißchen umsehen.“ Er hörte mir achtsam zu und lächelte verständnisvoll. „Das ist klar. Wenn ich Ihnen helfen kann, sagen Sie’s.“ „Danke. Aber ich befürchte, das kannst du nicht.“ Ich irrte mich, doch das merkte ich erst viel später. Am Morgen war die Baustelle vom Regen reingewaschen, und vom zwölften Stockwerk aus erinnerte sie an die Modellandschaft von Herrn Ezechiáš. Die Moldau glänzte, das Skelett der Brücke, die mein Leben verändert hatte, sah aus wie ein gebrochenes Spinnenbein. Das dauert aber lange, ehe sie fertigwerden, dachte 70
ich. Sie sollten mal öfter über den Zaun zu uns herüberschauen. Wenn sich Josefs Pioniere an die Brücke machten … Überrascht merkte ich, daß sich meine Gedanken mit abseitigen Dingen befaßten. Deshalb hatte ich mich nicht hierher verdrückt. Mein neuer Beruf hatte sich schon in mein Gehirn eingefressen. Mir würde es bald so wie Josef gehen, der vor zwölf Jahren der größte Draufgänger in der Garnison gewesen war. Ebenso wie dem alten dickköpfigen Architekten, der den Bau projektiert hatte und sich jeden zweiten Tag mit dem Oberbauleiter bis aufs Messer stritt. Wie den Männern unterschiedlichsten Alters, die Monat für Monat kündigen, weil sie in dem Schlamassel ihre Gesundheit ruinieren – und doch nie weggehen. Alle sind verbohrt und unbelehrbar. Wenigstens diejenigen, die etwas taugen und bleiben. Die Klugen und Vorsichtigen sparen, zahlen zusätzliche Altersversicherung und können dann das Leben als Rentner genießen. Das Häuflein unverbesserlicher Narren verbrennt wie ein Strohwisch, und es bleibt nur Asche, mit der man einst den Rasen düngt – wenn hier einmal welcher wächst. Josef Kamínek ist nachts mit einem geplatzten Zwölffingerdarmgeschwür ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der Bau wird in den paar Wochen, bis Josef wiederkommt, nicht zusammenbrechen. Dr. Jireš hat gleich morgens das Schubfach geöffnet, das eine genaue Beschreibung der gesamten verwickelten Lage enthält. Was Josef im Kopf hat, verwahrt Jireš in seinem Schubfach in Form von Briefen, Aktennotizen und Protokollen. Datiert, unterschrieben, gestempelt, unschätzbar. Der vorsichtige Jurist, der sich einmal die Finger verbrannt hat, weil er sie zu tief in die Politik gesteckt hatte, wird zumindest den Status quo aufrechterhalten. Darum wird er sich mit all seinem angestauten Ehrgeiz bemühen. 71
Und ich? Mein Status quo ist gänzlich unbefriedigend. Ergo werde ich nicht lange durchhalten. Leutnant Pavrovský, der den Mord untersucht, hat bestimmt, seinen Kronzeugen nicht vergessen. Er wird mir bald ein paar Kontrollfragen stellen. Was soll ich ihm sagen? Die Wahrheit, was sonst? Verzeihen Sie, Frau Drozdová. Sie sind schön, begehrenswert und wahrscheinlich unglücklich, aber mit mir werden Sie kein Glück erlangen. Ich muß mich um meine eigene Haut kümmern, die Ihr Mann ziemlich lädiert hat. Mein übel zugerichtetes Antlitz hatte verständlicherweise neugierige Frager nicht ruhen lassen. Nicht nur in den Büros. Als ich vor einer Weile über den Bau ging, grinsten mich die Zigeuner von Tibor Čurajs Brigade wie die zehn kleinen Negerlein an. „Was haben Sie gemacht?“ fragte Tibor. „Sie sehen wie ein Zigeuner aus.“ Die anderen lachten lauthals. Außer einem. „Gestern haben Sie getrunken, was? Wie Dežo.“ Er gab dem Zigeuner, der nicht lachte, einen Schubs. Erst jetzt betrachtete ich den Mann genauer. So ähnlich hatte ich am Abend ausgesehen. Ich wandte mich an Dežo: „Was ist passiert?“ Er schwieg und sah mich böse an. „Der arme Dežo wollte sich bloß ausschlafen. Warum haben Sie ihn so verprügelt? Er ist kein Schläger.“ „Ich?“ fragte ich verwundert. „Wann?“ Es war nachts geschehen. Dežo war Handlanger in einer Brigade Teerarbeiter, die auf einem Dach Überstunden gemacht hatten. Den üblen Geschmack der Teerdämpfe hatte er tapfer mit Smíchover Bier heruntergespült. Als die Arbeiter vom Gewitter überrascht wurden, hatte sich Dežo im Vorraum meiner Residenz untergestellt und war eingeschlafen. Nachts wäre ich über ihn gestolpert und hätte mich gleich auf ihn gestürzt. Dežo hätte sich gewehrt, aber ich wäre wütend 72
gewesen. Schließlich wäre er froh gewesen, daß er fliehen konnte. Sie schilderten mir alles sehr ausführlich, mit vielen Interjektionen und von entsprechenden Gesten und Gebärden begleitet. Dežo schwieg, machte ein finsteres Gesicht und knirschte mit seinen weißen Zähnen. „Das war ich nicht“, sagte ich zu ihm. „Wer soll das sonst gewesen sein?“ erwiderte er. „Woher soll ich das wissen? Vielleicht jemand, der dort schlafen wollte wie du. Vielleicht ein Dieb.“ „Ein Dieb rennt gleich weg. Ich habe geschlafen. Wenn Sie mich geweckt hätten, wäre ich gegangen.“ „Aber ich war diese Nacht gar nicht hier! Ich bin erst morgens nach Prag gekommen!“ entgegnete ich. Mein Gesicht zeigte jedoch das Gegenteil. „Das muß ein Dieb gewesen sein. Du hast einen Schnaps gut bei mir.“ Dežo grinste, seine Kumpel nickten beifällig. So soll es sein. Wir haben beide eine zerschundene Fresse, also sind wir quitt. Ich hatte ihm auf die Schulter geklopft und war durch ein Spalier brauner Gesichter geschritten, um weiter die Baustelle zu inspizieren. Das war nur ein Vorwand, denn in Wahrheit wollte ich in Einsamkeit meine Gedanken sortieren. Das letzte Stockwerk eines Hochhauses war wie geschaffen dazu, aber kein Geist erleuchtete mich in der Höhe. Die Sonne brannte schon, die Pfützen auf der Baustraße glänzten wie verlorene Zehnhellerstücke. Zwischen ihnen schlängelte sich ein Wagen hindurch, der von oben wie ein ferngelenktes Matchbox-Auto wirkte. Es hielt an der Stelle, wo ich gewöhnlich parkte. Ein Mann stieg aus, steif wie ein Zinnsoldat, blickte sich um und ging auf mein Holzhäuschen zu. Ich erkannte ihn. Gleichzeitig kam mir der erleuchtende Gedanke – nicht der, auf den ich gewartet hatte. Er bedeutete keine Erlösung aus meiner mißlichen Lage, eher im Gegenteil. 73
Es war ein Fehler gewesen, Dežos nächtliches Abenteuer leichtfertig abzutun. Anstatt fruchtlosen Überlegungen nachzuhängen, hätte ich mich unverzüglich in mein Stübchen begeben sollen. Ich rannte die Metalltreppe hinunter. Leutnant Pavrovský wartete schon auf mich. Wie ein großer Kater schlich er um das Haus, mit seinem Schnurrbart wackelnd, als hätte er eine Maus gewittert. „Guten Morgen“, sagte ich zu ihm. „Suchen Sie mich?“ Er wandte sich um und nickte. Dann starrte er auf mein gezeichnetes Angesicht. „Was ist Ihnen passiert?“ „Ich hatte ein kleines Mißgeschick“, antwortete ich ausweichend. Auf diese verständliche Frage hatte ich mich leider nicht vorbereitet. „Mit dem Auto?“ „Nein! Eigentlich ja. Möchten Sie hereinkommen?“ „Vorläufig nicht. Hier ist es schön.“ Er betrachtete mißtrauisch die oberste der drei Treppenstufen, bevor er sich setzte. Ich ließ mich neben dem Leutnant nieder. Langsam fand ich Geschmack an Konversation auf Treppen. „Was ist Ihnen denn zugestoßen?“ knüpfte er an meine unüberlegte Antwort an. „Wo haben Sie Ihren Wagen?“ „Im Wald, etwa fünf Kilometer hinter Stará Boleslav.“ „Den Wagen dort stehen zu lassen, ist unverantwortlich“, tadelte er mich. „Wenn ihn sich nun jemand ausleiht?“ Das Katze-und-Maus-Spiel amüsierte mich nicht mehr. Ich entschloß mich, ihm alles wahrheitsgetreu zu berichten. „Den kann sich keiner ausleihen. Alle vier Reifen sind durchgeschnitten.“ „Wer hat Ihnen das angetan?“ „Das weiß ich nicht. Aber ich kann es mir denken. Am ehesten Herr Drozd.“ 74
„Haben Sie Beweise für diese Behauptung?“ fragte er in warnendem Tonfall. „Sie können niemanden grundlos beschuldigen.“ „Beweise?“ platzte ich heraus. „Sehen Sie sich mein Gesicht an. Herrn Drozd hat es sehr gestört, daß ich gestern abend dort aufgekreuzt bin.“ „Sie hatten dort auch nichts zu suchen.“ Mit seiner Stimme hätte man ein Bier kühlen können. „Das meinen Sie. Allerdings wissen Sie nicht, warum er mich angefallen und bewußtlos geschlagen hat, und was dem Besuch vorausgegangen ist.“ Ich berichtete es ihm. Kurz und kommentarlos. Soll er sich selber zurechtfinden. Er hörte mir schweigend zu, den Kopf seitwärts geneigt, als wäre er nur ein großes Ohr. Dann stellte er mir dieselbe Frage, die mir nach Hankas nächtlichem Besuch eingefallen war. „Sie sind also davon überzeugt, daß das Ehepaar Drozd mit dieser Villa irgend etwas vorhat – oder vorhatte, was sie jetzt zu verheimlichen suchen?“ „Ja.“ „Ein Haus kann man kaufen, verkaufen – oder anzünden“, brummte er nachdenklich. Ich feixte. „Lachen Sie nicht, das hatten wir auch schon. Nur – welche Rolle spielen Sie dabei? Frau Drozdová hat schamhaft gestanden, Sie wären dorthin gefahren, um …“ Ich half ihm aus der Verlegenheit. „Glauben Sie ihr?“ „Frauen lügen“, konstatierte er mit trauriger Miene. „Solche wie sie fast immer.“ Was sind Sie für eine, Frau Drozdová? Ich bedauerte, nicht über Leutnant Pavrovskýs Erfahrungen zu verfügen. „Warum sollte ich das bestreiten? Ich bin geschieden, mir könnte das nicht schaden, und ihretwegen … Sie hat das selber zugegeben.“ „Weil Sie dann nicht weiter behaupten könnten, Sie wären zum ersten Male in dem Haus gewesen. Und Sie 75
wüßten nichts über die Angelegenheiten der Familien Drozd und Ezechiáš.“ „Und warum sollte ich das tun? Was hätte ich davon?“ Darauf antwortete er mir nicht. „Die Erklärung, die Sie geben, ist völlig unwahrscheinlich. Warum nimmt Frau Drozdová Sie als Gutachter, wenn ihr Mann mehr davon versteht?“ „Das weiß ich nicht“, sagte ich verzweifelt. „Vielleicht vertraut sie ihm nicht. Unter Eheleuten gibt es manchmal Spannungen wegen finanzieller Dinge. Vielleicht protegiert Drozd einen Interessenten und will das Haus ihrer Meinung nach zu billig verkaufen. Ich weiß es nicht! Warum sollte ich nicht darüber sprechen, daß sie das Haus verkaufen wollen? Wie passen dazu Ezechiáš und der Mord? Wer hat ihn ermordet – und warum?“ Er antwortete nur auf den zweiten Teil der letzten Frage. „Wegen Geld. Frau Drozdová behauptet, ihr Onkel wäre reich gewesen. Aber er hat keinen Heller hinterlassen.“ „Das ist doch Unsinn“, erwiderte ich. „Er war ein Rückkehrer. Also mußte er ein Devisenkonto haben, schließlich konnte er sein Geld nicht im Koffer mitbringen.“ „Er hat nur die Modelle mitgebracht. Sonst nichts, nur persönliche Sachen und ein paar Geschenke.“ „Wovon hat er gelebt? Wo hat er gewohnt?“ „In der Villa hatte er nur seine Sammlung und die Werkstatt. Er wohnte bei Frau Malásková, der Frau seines Freundes Frank Kuba. Und lebte auf dessen Kosten. Auf diese Weise hätte Kuba angeblich eine alte Schuld abgegolten. Dieser Frank Kuba ist im Unterschied zu Ezechiáš wirklich reich. Er hat keine Familie, ist ernsthaft krank, seine Tage sind gezählt. Damit Ezechiáš überhaupt zurückkommen konnte, hat er ihm eine kleine Rente ausgesetzt. Angeblich wollte Ezechiáš seinen Verwandten nicht zur Last fallen.“ 76
„Schön und gut“, sagte ich zweifelnd. „Worum geht es Ihnen also? Das Ehepaar Drozd kann sich offenbar nicht damit abfinden, daß der Onkel aus Amerika kein fettes Erbe hinterlassen hat. Das hatte er möglicherweise versprochen. Haben Sie Beweise für diese Behauptung?“ Spöttisch zitierte ich den Satz, den er mir an den Kopf geworfen hatte. „Nein“, antwortete Pavrovský· ruhig. „Aber das wäre ein Motiv. Raubmord ist immer noch die üblichste Variante von Mord.“ „Sie haben doch festgestellt, daß er nichts hatte!“ „Legal! Aber ich glaube nicht, daß der alte Ezechiáš mit leeren Händen über den großen Teich gekommen ist. Angewiesen auf eine Rente, die zwar für unsere Verhältnisse erklecklich aussieht, aber einem Mann mit einem so aufwendigen Hobby nicht ausreichen konnte. Die Rückkehrer sind manchmal ziemlich mißtrauisch. Sie wissen nicht, was sie in der Heimat erwartet, und ob sie nicht eines Tages dorthin zurückkehren wollen, woher sie gekommen sind. Daß sie dann ihr Geld wiederbekommen, bezweifeln sie. Ezechiáš war ein weitgereister Mann, er war jahrelang Schiffsarzt und wußte bestimmt, wie sich etwas gefahrlos schmuggeln läßt.“ „Geld?“ „Geld – oder einen Scheck beispielsweise. Einen Scheck kann man auch bei uns einlösen. Und das ist nur ein Stück Papier.“ „Seit wann ist denn dieser imaginäre Schatz verschwunden? Wo war er versteckt?“ „Das weiß ich nicht. Aber wenn er existiert hat, dann wohl an dem Ort, wo Ezechiáš ermordet wurde. Der Raum hat einen separaten Eingang mit einer Eisentür, die Schlüssel hatte angeblich nur Ezechiáš.“ Mich überfielen auf einmal schlimme Ahnungen. Der Leutnant bestätigte sogleich, daß sie berechtigt waren. „Würde es Sie stören, wenn ich mich bei Ihnen 77
ein bißchen umsehe?“ fragte er mit Unschuldsmiene. „Einen Durchsuchungsbefehl habe ich zwar nicht, aber das wäre nur eine Formalität.“ Er stand auf, die Stufe knarrte. Wortlos öffnete ich ihm die Tür. An den Rahmen gelehnt, verfolgte ich, wie er mit steinernem Gesicht meine Sachen durchwühlte und dann mit seinen grauen Augen auf dem Fußboden herumrutschte, als suchte er ein Versteck unter den Dielenbrettern. Ich rauchte die letzte amerikanische Zigarette und warf die leere Schachtel auf den Tisch. Leutnant Pavrovský streifte sie mit einem Blick. „Ein Beweisstück“, sagte ich übertrieben ernst. „Ich lebe über meine Verhältnisse. Können Sie mir mitteilen, ob ich nur einen Toten beraubt habe, oder ob ich auch der Mörder bin?“ Er erwiderte nichts. „Womit habe ich ihn erschossen?“ fuhr ich fort. „Meine Waffe mußte ich abgeben. Dafür habe ich eine Quittung.“ „Er ist mit seiner eigenen Pistole erschossen worden. Natürlich hatte er keinen Waffenschein. Übrigens – warum sollte er kein Geld schmuggeln können, wenn er sogar eine Pistole mitgebracht hat?“ „Wo haben Sie die Pistole gefunden?“ „Vorläufig haben wir sie nicht gefunden“, bekannte er unwirsch. „Zum Glück hat sie dieser Junge genau beschrieben – der Enkel von Frau Malásková. Angeblich war es eine sehr kleine Pistole, wohl … Darauf kommt es nicht an. Das Kaliber würde stimmen.“ „Wann haben Sie mit Lukáš gesprochen?“ „Heute morgen. Er ist ärgerlich, weil Sie sich nicht von ihm verabschiedet haben.“ Ein Glück, daß ich Pavrovský nichts verheimlicht hatte. Ich hätte sein Wohlwollen für immer verscherzt. Die vage Idee, die mir in dem Augenblick gekommen war, als ich den Leutnant aus dem Auto steigen sah, kristallisierte sich zu einem handfesten Verdacht. 78
„Hören Sie“, sagte ich eilig. „Hier ist etwas passiert.“ Ich schilderte ihm, was Dežo nachts zugestoßen war. „Na und?“ erwiderte er, als ich geendet hatte. „Jemand wollte sich hier ausschlafen – ebenso wie der Zigeuner. Ihre Baustelle wird nicht bewacht. Für manchen Landstreicher ist schon ein Zehnkronenschein oder eine Schachtel Zigaretten ein großer Wert.“ „Es fehlt nichts. Das hätte ich bemerkt, als Sie eben das Zimmer durchsucht haben.“ Meine Gedanken formierten sich wie Soldaten beim Appell. Warum war der Leutnant zu mir gekommen? Wann haben ihm die Drozds gesagt, der Tote wäre beraubt worden? Ich sprach meinen frisch ausgebrüteten Gedanken laut aus. „Und wenn jemand etwas hierlassen wollte?“ „Was bitte?“ „Das, was Sie suchen.“ Er stand inmitten der lieblichen Unordnung, die er nicht vergrößert hattet eher im Gegenteil, rieb sich das frischrasierte Kinn und gebärdete sich unergründlich. Schließlich sagte er: „Ich werde mit dem Zigeuner sprechen.“ „Dežo wird behaupten, ich wäre es gewesen. Aber Sie wissen, daß ich heute nicht hier geschlafen habe. Wer hat das noch gewußt? Eher als Sie – und bevor mir klar wurde, daß ich abends nicht mehr nach Prag komme? Wer hat die Reifen zerstochen?“ „Sie beschuldigen wieder Herrn Drozd?“ „Ich beschuldige niemanden“, erwiderte ich. „Aber durchsuchen Sie bitte alles gründlich.“ „Ich bin schon fertig.“ Er schritt auf die Tür zu. „Soll ich Sie zu dem Zigeuner bringen? Jetzt wird er am ehesten in der Kantine sein.“ „Nicht nötig. Ich finde ihn allein.“ Als er die Stufen hinunterschritt, knarrte das Brett wieder. Er bückte sich, hob das lose Ende hoch und blickte mich vorwurfsvoll an. 79
„Das wollte ich längst reparieren“, sagte ich schuldbewußt. „Ein vorzügliches Versteck. Lassen Sie hier die Schlüssel?“ „Nein.“ Ich trat näher und schaute in den Hohlraum. Im Lehm zeichnete sich der Abdruck eines harten Gegenstandes ab. Die Umrisse waren verschmiert, als hätte jemand hastig im Boden herumgewühlt „Finger weg!“ rief der Leutnant scharf. Er ging zu seinem Wagen und kehrte mit einem Spaten und zwei Stück Igelit zurück. Eines breitete er auf dem Boden aus, bevor er sich hinkniete, vorsichtig die Erde auf den Spaten hob und in das andere Stück wickelte. Ich stierte ihn an. Leutnant Pavrovský stand auf, strich sich die Bügelfalten glatt und sagte zufrieden: „Den Spaten nehme ich immer mit. Er ist sehr nützlich, wenn man draußen etwas erledigen muß.“ Drei Stunden später schob ich ein Häuflein von Josefs Papierkram beiseite, das ich gerade erfolgreich erledigt hatte, und streckte meinen schmerzenden Rücken. Des Raubmordes verdächtig, verprügelt, verarmt – arbeiten mußte ich, und das war sogar gut. Die Arbeit half mir, meinen gesunden Verstand zu bewahren. Sie gab mir die Gewißheit, daß ich in der Tschechoslowakei im Jahre des Herrn 1976 lebte, wo keine absurden Verbrechen geschehen und Unschuldige nicht auf Grund von Machenschaften, die der wahre Schurke inszeniert hat, zum Tode verurteilt werden. Der Gedanke an den Schurken brachte mich auf eine dumme Idee. Ich griff sogleich nach dem Telefonbuch. Drozd Bohumil – Karel – Stanislav – keiner wohnte in Barrandov. Ich überlegte und blätterte weiter. Ezechiáš – Ezechiáśová Hana. Zweifellos Hankas Mutter. Die Stimme, die sich meldete, gehörte keiner älteren Frau. 80
„Hallo?“ sagte Hanka Drozdová atemlos, als wäre sie gerannt, um als erste am Telefon zu sein. „Hier ist Martin“, sagte ich. „Guten Tag.“ „Wer … Sie? Was wollen Sie?“ „Ich wollte mit Ihrem Mann sprechen. Aber jetzt ist er wohl nicht zu Hause?“ Mir wurde bewußt, daß ich ihn eher auf seiner Arbeitsstelle erreichen würde. „Natürlich, er ist im Betrieb“, bestätigte sie. „Was wollen Sie von ihm?“ „Ich wollte mich nur vergewissern, daß ihm Dežo nichts Ernsthaftes angetan hat.“ „Was für ein Dežo?“ „Der Zigeuner, mit dem er zusammengeraten ist, als er nachts meine Wohnung aufsuchte. Dežo hat im Flur geschlafen. Sie kennen sich doch dort aus, nicht wahr?“ „Was reden Sie für einen Unsinn? Ich verstehe Sie nicht.“ „Ihr Mann würde mich verstehen. Wann ist er gestern nach Hause gekommen?“ „Das weiß ich nicht. Ich bin zeitig schlafen gegangen. Was kümmert mich, wo er …“ „Das sollte Sie aber kümmern“, unterbrach ich sie. „Er hätte verletzt werden können. Dežo ist ein bekannter Raufbold. Aber vielleicht war Ihr Gatte bewaffnet. Besitzt er nicht zufälligerweise ein Messer?“ „Was für ein Messer?“ „Ein solides, scharfes Taschenmesser, mit dem man ohne Mühe alle vier Reifen eines Škoda zerstechen kann, der einsam im Wald steht. Beispielsweise ein Stückchen von Ihrem roten Henkershaus entfernt.“ Offenbar lag ihr nun daran, das Gespräch fortzusetzen. „Was sagen Sie da?“ fragte sie mit gepreßter Stimme. „Das müssen Sie mir schon genauer erklären.“ „Hat Ihnen Ihr Mann nicht gesagt, daß er mir gestern begegnet ist?“ „Nein. Was ist geschehen?“ 81
„Kommen Sie her und sehen Sie selbst. Sie brauchen sich nicht zu beeilen, die blauen Flecke halten ein paar Tage, von der geplatzten Lippe und der Augenbraue gar nicht zu reden.“ „Mein Gott! Sie haben sich geschlagen? Warum?“ „Er wurde wütend, weil ich nicht mit Ihnen schlafe. Leider mußte ich ihn enttäuschen, doch …“ Ins Zimmer schwebte Ramóna, eine dampfende Tasse in der einen und eine Schachtel Würfelzucker in der anderen Hand. „Ich habe Ihnen einen Kaffee gemacht“, sagte sie kokett. „Wieviel Stückchen Zucker?“ Das fragte sie mich jedesmal. „Zwei.“ „Ich bitte Sie, reden Sie vernünftig“, schrie Hanka ins Telefon. „Was haben Sie ihm gesagt?“ Ramóna beugte sich über den Schreibtisch und demonstrierte ihr Dekolleté, das hier auf dem Bau geradezu lebensgefährlich war, während sie umständlich in der Tasse herumrührte. Ein Öhrchen, an dem ein goldener Ring von der Größe einer Untertasse baumelte, drängte zum Telefon, so daß das Geschmeide beinahe an meine Nase schlug. Ich nahm den Hörer in die andere Hand und verwies das verführerische Mädchen zur Tür. Beleidigt schwebte sie hinaus. „Hallo – sind Sie noch da? Hallo …“ Frau Drozdová war dem Schluchzen nahe. „Ja“, sagte ich lieb. „Wo war ich gerade? Aha! Daß Ihr Gatte tatsächlich wütend wurde, bis ihm aufging, daß Leutnant Pavrovský ebenso enttäuscht sein wird.“ „Wie können Sie so darüber reden?“ jammerte sie. „So zynisch!“ „Ich muß zynisch sein. Sonst würde ich mir um meine neuen Reifen die Augen ausweinen. Auf Wiederhören!“ „Warten Sie!“ flehte sie. „Keine Zeit! Ich muß zu meinem Auto fahren. Ihrem 82
Gatten könnte einfallen, daß es auch eine Karosserie und einen Motor hat.“ Nach diesen Worten legte ich auf. Es war eine dumme und kindische Vergeltung, aber sie tat mir wohl. Zumindest bildete das Gespräch eine willkommene Ablenkung von dem Problem, wie ich vier Reifen von Prag bis Stará Boleslav transportieren sollte. Das Problem löste jemand anderes für mich. Als ich nach vier Uhr zum Lager ging, um festzustellen, ob die Mäuse meine alten Reifen aufgeknabbert hatten, stach mir ein weißer Trabant in die Augen. In dem Gefährt saß Frau Drozdová, blaß und ungewöhnlich bußfertig. Sie stieg aus und begrüßte mich mit niedergeschlagenen Augen. „Sind Sie böse, daß ich hergekommen bin?“ „Warum sollte ich? Aber ich habe wirklich keine Zeit. Ich muß mich um meinen Wagen kümmern.“ „Wie kommen Sie dorthin?“ fragte sie besorgt. „Mit dem Bus. Allerdings dürfte das mit den Reifen schwierig sein.“ „Das habe ich mir gedacht. Ich bringe Sie hin. Darf ich?“ Ich überlegte nicht lange. Nach ihrer Gesellschaft gelüstete mich nicht, aber ihr Angebot half mir aus der Klemme. So saß ich wiederum im Wagen an der Seite der reizvollen Hanka, diesmal als Beifahrer, und mit jeder Umdrehung der Räder näherten wir uns dem Ort, wo mir bisher nichts Gutes begegnet war. Sie fuhr schnell, aber vorschriftsmäßig. Sie fuhr gut. Und schwieg. Ich blickte sie verstohlen an. Vor dem Hintergrund der vorbeifliegenden Felder hatte sie ein entzückendes Profil. Der Wind spielte in ihrem Haar, der Himmel hatte sich leicht bewölkt. „Wenn Sie Leutnant Pavrovský gesehen hat“, warf ich hin, „dann hält er mich für einen Lügner.“ 83
Sie schwieg weiter, aber errötete. „Wie konnten Sie sich eine solche Dummheit ausdenken. Sagen Sie bloß nicht, wegen Ihrer Familie! Wenn eine Frau Ränke gegen den Besitz ihres Ehemannes schmiedet, wird ihr eher verziehen, als wenn es um seine Ehre geht.“ Sie verzog die schönen Lippen und sagte voller Bitterkeit: „In einer anderen Familie vielleicht. Bei uns ist nur das wesentlich, was sich kaufen und verkaufen läßt.“ Vielleicht hatte sie recht. Ich kannte eine solche Denkweise. Aber etwas stimmte nicht. „Verzeihen Sie – wie alt sind Sie?“ „Achtundzwanzig.“ Ich hatte sie fünf Jahre jünger geschätzt. „Sie sind eine verheiratete Frau, Ihre Familie ist in erster Linie Ihr Mann. Ich kann nicht glauben, daß auch für ihn Ihre Erklärung besser wäre als …“ „Als die Wahrheit? Ja, so ist es. Tomáš will das Haus nicht verkaufen. Er wußte nicht, was ich geplant hatte. Das wird er mir nie verzeihen.“ „Und wie hatten Sie sich das weiter vorgestellt?“ fragte ich gereizt. „Eines Tages hätten Sie es ihm doch sagen müssen. Sie brauchten seine Einwilligung, selbst wenn Sie nur Ihre Hälfte verkaufen wollten.“ Die Antwort kam augenblicklich. „Ich hätte mich an den Gemeinderat gewandt. Sie wollten uns schon einmal Mieter reinsetzen. Tomáš hat damals Eigenbedarf angemeldet, was nicht stimmte. Man hätte uns auffordern können, endlich einzuziehen. In dem Falle hätte Tomáš das Haus verkauft, solange es leersteht.“ Ein kluges Mädchen. Ein Haus mit Mietern ist wertlos. Und von Barrandov in die Einöde ziehen wollte sie natürlich nicht. „Wäre das nicht etwas rücksichtslos von Ihnen? Schließlich haben Sie das Haus von seinen Eltern geerbt.“ „Die Hälfte gehört mir“, erwiderte sie scharf. „Das ha84
ben sie mir als Bestechung überschrieben. Sie wollten mich kaufen, damit ich mich um Tomáš kümmere.“ Hanka blickte mich verzweifelt an. „Er ist krank.“ „Ich weiß. Ist er Epileptiker?“ Sie zuckte zusammen, der Wagen fuhr beinahe in den Straßengraben. Dann nickte sie kaum merklich. „Sie wissen nicht, was das für ein Leben ist“, klagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich kann Ihnen unmöglich all die scheußlichen Einzelheiten erzählen … Eine Zeitlang war das so schrecklich, daß ich es kaum ausgehalten habe.“ Sie schüttelte sich, als ging allein der Gedanke daran über ihre Kräfte. „Jetzt hat es sich etwas gebessert. Gott sei Dank gibt es kein intimes Zusammenleben mehr zwischen uns … Deshalb hätte er mir die Untreue verziehen. Was kann er von mir wollen? Dieses Haus bedeutet für ihn mehr als ich. Solange er das Haus besitzt, steht er in der Familie Ezechiáš nicht als armer Schlucker da.“ Sie sprach stockend, Tränen zitterten an den überlangen Wimpern. „Meine Mutter und mein Bruder versäumen keine Gelegenheit, ihm vorzuhalten, daß er bei uns lebt und daß er es bis heute nicht fertiggebracht hat, sich um eine eigene Wohnung zu kümmern. Wissen Sie, wie es bei uns aussieht? Wie in einem Ausstellungspavillon. Unten ein Tanzsaal, oben drei Schlafzimmer. Mein Vater hatte eine herrschaftliche Villa für eine dreiköpfige Familie gebaut. Ich war damals noch nicht geboren. Er hatte nicht viel Geld, rechnete aber mit großen Einkünften. Das Grundstück gehörte der Familie, sein Wert ist seinerzeit schwindelhaft gestiegen. Das wäre eine glänzende Investition, glaubte mein Vater. Er hatte recht. Voriges Jahr hat uns einer vom Film sechshunderttausend geboten. Für mich hat das Haus nur den Wert, daß ich ein Dach über dem Kopf habe.“ „Warum haben Sie sich keine Genossenschaftswohnung gekauft?“ fragte ich teilnahmsvoll. 85
„Das will ich Ihnen gern sagen. Geld haben wir nicht, also könnten wir nur mit Eigenleistungen eine Wohnung bekommen. Aber Tomáš ist krank und darf keine schwere Arbeit machen.“ Die Tränen rollten und hinterließen auf den Wangen silberne Streifen. „Sie haben gesagt, mein Mann wäre meine Familie. Ich halte viel aus, aber alles hat seine Grenzen. Ich kann mich nicht damit abfinden, daß sich mein Leben nicht mehr ändern soll, daß ich keine Kinder haben darf und … Jetzt kann ich mich nicht von ihm trennen. Verheiratet oder geschieden, wir würden weiter in einem Haus wohnen, mit meiner Mutter, meinem Bruder und all den Schlampen, die Olda angeschleppt bringt. Mir wurde eine Wohnung angeboten, relativ billig und beinahe fertig. Dazu brauche ich Geld. Eine Dreizimmerwohnung kann man immer gegen zwei Wohnungen tauschen, wenn wir …“ Ich verstand sie – und glaubte ihr auch. Hanka verbarg nichts. Sie versuchte nicht, mich zu überzeugen, daß sie sich bis zum Tode um diesen Rohling sorgen würde. Ich billigte das. Eine junge Frau wollte ihr eigenes Leben leben – ich hatte das lange Zeit nicht akzeptieren wollen. „Warum hat Ihnen Ihr Onkel nicht geholfen? Sie haben Leutnant Pavrovský gesagt, Herr Ezechiáš hätte Geld. Und er hätte Sie gern gehabt. Sah er nicht, daß Sie so nicht leben konnten?“ „Er hat mich nicht verstanden“, sagte sie seufzend. „Ein halbes Leben lang hat er sich in der Welt herumgetrieben, und er war gewöhnt, alles schnell und rücksichtslos zu regeln. Zeitlebens hat er viel Geld verdient. Schon als er ins Ausland ging, gehörte er zu den reichsten Prager Zahnärzten. Er hat alles aufgegeben und sich ein neues Vermögen erarbeitet. Ich sollte mich erst scheiden lassen. Für meinen Mann wollte er keine einzige Krone opfern. Onkel Luiz wollte nicht begreifen, daß das nicht so einfach geht.“ 86
Sie hielt an der Kreuzung, bevor wir nach links abbogen. Mit Umsicht ließ sie einem Verrückten, der uns mit hundert überholte, die Vorfahrt, und fuhr in dem Moment los, als die Gegenfahrbahn frei war. Obwohl Hanka Sorgen quälten, behielt sie am Lenkrad einen kühlen Kopf. Ich bewunderte sie. Um so mehr wunderte ich mich, daß ihr nicht der Ausweg eingefallen war, der sich von selbst anbot. „Warum lassen Sie sich nicht von Ihrer Mutter und Ihrem Bruder auszahlen?“ fragte ich erstaunt. „Sie besitzen doch einen Anteil an der väterlichen Villa.“ „Ein Sechstel“, bemerkte sie sarkastisch. „Ein Sechstel von sechshunderttausend sind hunderttausend. Damit hätten Sie das Geld für die Wohnung. Ihre Mutter und Ihr Bruder könnten froh sein, wenn Sie ausziehen.“ „Sie würden mir höchstens meinen Anteil vom offiziellen Schätzwert geben“, erwiderte sie. „Und der ist viel niedriger. Übrigens haben sie kein Geld. Meine Mutter spielt vor ihren Freundinnen die große Dame – Kränzchen – Konditorn – Likörchen … Und Olda braucht weit mehr, als er verdient. Den Winter in den Bergen, im Sommer jedes Jahr nach Jugoslawien, und seine Liebschaften sind auch nicht billig.“ Den Rest des Weges schwiegen wir. Erst als sie hinter meinem Škoda hielt, der schon verstaubt, aber bis auf die Reifen unversehrt dastand, sagte sie bänglich: „Ich bitte Sie – kein Wort zu meiner Mutter oder zu Olda über die Wohnung! Daraus wird nichts, ich kann den Anteil nicht rechtzeitig bezahlen. Wer würde jetzt dieses verfluchte Leichenhaus kaufen? Ich werde es nie mehr betreten.“ Sie blickte zu dem Waldstück hinüber, hinter dem die rote Villa lag, und schüttelte sich. Die Handgelenke auf dem Lenkrad erbleichten. „Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich darüber rede“, beruhigte ich sie. „Ich werde wohl Ihrer Mutter 87
und Ihrem Bruder nie begegnen.“ Jedenfalls hoffe ich das stark – fügte ich im stillen hinzu. Das hätte ich laut sagen sollen. Es schlief sich angenehm in meinem Zimmerchen, dessen Fenster von einem blühenden Jasminstrauch beschattet wurde, während der Regen auf das Pappdach rauschte. Ich träumte von dem Mädchen mit den unergründlichen Augen. Unlängst war sie zu mir gekommen, und nun war sie wieder hier, sie hatte mir verziehen, daß ich sie so unsanft fortgeschickt hatte. Selbst vom Leben gezeichnet und enttäuscht, verstand sie mich. Sie wußte nichts von mir, aber sie war großmütiger als ich, der erst ein Dutzend Fragen beantwortet haben wollte. Es schlief sich angenehm bis gegen zehn Uhr. Ich trennte mich ungern von meinem Traum, doch ich war hoffnungslos ausgeschlafen. Ich mußte die Augen öffnen und den Anblick meines ungemütlichen Heims ertragen. Es war Sonnabend, und das Wetter erlaubte sich wieder einen boshaften Scherz. Nach fünf heißen Arbeitstagen, an denen die halberstickte Stadt vergeblich ihre Türme in den Himmel gereckt hatte, um Kühlung zu erbitten, war endlich eine Kaltfront angelangt. Das Gewitter war nur eine vereinzelte Träne gewesen im Vergleich zu den Wassermengen, die nachts herabgelassen worden waren, und jetzt, gegen Mittag deutete der Regen keineswegs an, daß er aufzuhören gedenke. Angezogen und rasiert stand ich auf der Schwelle und blickte auf den Bauplatz, der im Schlamm versank. Ich war mißgelaunt und hungrig. Das war kein Ort, an dem ein Mann ein regnerisches Wochenende verbringen möchte. Der Raum hinter meinem Rücken erinnerte mich an das Wohnheim. Jetzt war es von all den munteren Burschen verlassen, die es die Woche über mit lauten Stimmen, Schweißgeruch und Zigarettenqualm füllten. Hier roch es nach Einsamkeit. Nur ich war übrig88
geblieben, der Enterbte, auf den niemand wartete. Weder Weib noch Kind noch Hund. Nur mein Škoda stand treu und geduldig inmitten einer riesigen Pfütze, in die sich mein Parkplatz verwandelt hatte. Ich stieg ein und fuhr in die Stadt. Ich fuhr lange über regenglänzendes Pflaster durch leere Straßen und überlegte, wo ich zu Mittag essen sollte. Mich gelüstete nicht nach der Hausmacherkost in meiner Kneipe. Dort würde ich nur Stammgäste antreffen, Männer wie ich. Ich sehnte mich nach Unbekanntem, auf einem silbernen Tablett von einem Ober serviert, der sich erhaben gebärdet wie eine als Dame verkleidete Marktfrau. So parkte ich am Nationaltheater und begab mich in die Klášterní vinárna. Ich hatte gut gewählt. Der Speiseraum war halbleer, dagegen war die Speisekarte sympathisch voll. Ich bestellte ein Menü einschließlich Suppe und wies vorläufig das Mädchen ab, das Nachtisch anbot. Mein Hunger war so groß, daß ich es nicht ausgehalten und mir mit der Torte den Appetit auf das Mahl verdorben hätte. Ein Mann, der zwei Tische weiter saß, nickte dem süßen Mädchen zu. Genüßlich suchte er vier mit Schlagsahne gekrönte Törtchen aus. Das ätherische Wesen an seiner Seite lächelte sauer und wehrte ab, als er sie fragend ansah. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber die Törtchen, das schöne Fräulein … Es war Honza Sehnal, ein Ritter der Autobahn und alter Freund von mir, dem ich für manches zu danken hatte. Der taxierende Blick, den er auf den Beinen der weiterziehenden Serviererin ruhen ließ, bestätigte mir, daß ich mich nicht irrte. Ich rückte meinen Stuhl in sein Gesichtsfeld. Honza sah mich und grinste froh. „Hallo“, rief er mir zu, die dezente Stille im Speiseraum ignorierend. „Wie hast du mich gefunden?“ „Hallo“, erwiderte ich. „Warum sollte ich dich suchen?“ 89
„Ich habe dich doch angerufen“, sagte er in derselben Lautstärke. „Und eine Nachricht hinterlassen. Hat dir das die Trine nicht ausgerichtet?“ „Nein.“ Mit der Trine mußte Ramóna gemeint sein, die wieder einmal mit mir schmollte. Wäre ich über den Anruf informiert worden, hätte ich Honza aufgefordert, mir bei der Reparatur des Autos zu helfen, das er mir günstig besorgt hatte. Das hätte mir die Arbeit erleichtert, aber ich hätte auf die Vertraulichkeit verzichten müssen, die mir Hanka Drozdová hatte angedeihen lassen – nicht zu reden von ihrer Gesellschaft bei dem erzwungenen Ausflug. „Dumme Gans“, kommentierte Honza so laut, daß es kein Gast überhören konnte. Seine Begleiterin rümpfte ihr Näschen, der Ober, der an der Theke lehnte, zog entrüstet die Brauen hoch. Honza merkte das nicht. „Dann habe ich noch mal angerufen, aber keiner hat abgenommen“, schrie er vorwurfsvoll. „Ich wollte dich schon besuchen, da ist etwas dazwischengekommen.“ Dieses Etwas, das seinen Besuch bei mir verhindert hatte, gebärdete sich kühl und unnahbar. „Du hättest mich nicht angetroffen“, sagte ich betont leise. „Ich hatte ein Malheur mit dem Wagen …“ Honza fuhr auf: „Was? Das habe ich mir gedacht.“ Er zuckte zusammen und starrte seine Begleiterin an. Sie lächelte, aber der Blick war stechend wie eine Schusterahle. Honza erhob sich und kam an meinen Tisch. „Dieses Weibsstück hat mich eben getreten“, beklagte er sich. „Weißt du, warum?“ Er setzte sich und verfolgte mit Interesse, wie der Inhalt einer Silberschale in meinen Teller gegossen wurde. „Ah – eine leckere Suppe mit Markklößchen. Die hatte ich auch. Guten Appetit!“ „Danke.“ Ich machte mich über die Suppe her. „Warum hast du mich gesucht?“ fragte ich zwischen zwei Löffeln. 90
„Was hattest du für ein Malheur?“ „Ein Schuft hat mir die Reifen zerstochen. Ich mußte die alten aufziehen – die du mir zum Runderneuern gegeben hast.“ „Dann zieh sie schleunigst wieder ab und laß das machen. Mit den alten Reifen fahren, ist gefährlich. Wenn ich dich so ansehe“, fügte er mit Blick auf die Farbpalette unter meinem Auge hinzu, „dann hast du diesen Schuft dabei erwischt? Bevor du ihn bei der Polizei angezeigt hast.“ Ich ließ langsam einen vollen Löffel auf den Teller sinken. „Bei welcher Polizei?“ „Sicher bei dem Bullen, der gestern bei mir war. Wie heißt er doch …“ „Leutnant Pavrovský?“ „Stimmt. Kennst du ihn?“ „Ja, was wollte er?“ „Na – wie lange du den Wagen fährst, wieviel er gekostet hat, wann du ihn gekauft hast … Ich dachte erst, er kommt zu mir, ob ich Schiebergeschäfte mache“, erregte er sich. „Aber er hat behauptet, das betrifft ausschließlich dich und …“ „Was hast du ihm gesagt?“ unterbrach ich ihn ungeduldig. Honza stutzte, dann wich der Ausdruck berechtigter Entrüstung einem gerissenen Lächeln. „Na, was schon? Was wir abgesprochen haben.“ „Bitte“, flehte ich. „Sprich deutlich! Was hat er dich gefragt und was hast du ihm geantwortet?“ Honza tat beleidigt. „Hauptsächlich hat ihn interessiert, wann du den Wagen gekauft hast. Ich habe gesagt, du fährst ihn schon ein paar Wochen, aber bezahlt hast du ihn erst jetzt. Überschrieben ist er sowieso noch nicht, also … Was hast du?“ „Wann – jetzt?“ röchelte ich. „Na gestern. Das heißt vorgestern. Ich dachte, sicher ist sicher – da habe ich lieber …“ 91
„Mein Gott“, stöhnte ich. Unwillkürlich schob ich den Teller beiseite. „Tschüs, Liebling“, ertönte hinter mir eine eisige Stimme. „Wenn du wieder einmal jemanden brauchst, der aufpaßt, daß du dich nicht verschluckst, wenn du so unappetitlich schlürfst und schlingst, dann verzichte ich auf diese Ehre!“ Die verlassene Schöne schritt steif von dannen, begleitet vom zustimmenden Blick des Oberkellners. „Das ist vielleicht ein Biest“, sagte Honza verärgert. „Du lädst eine Frau zum Mittagessen ein, und sie hält dich gleich für ihr ausschließliches Eigentum.“ Er schüttelte sein Haupt, als hätte er eben erst die Schlechtigkeit des schönen Geschlechts erkannt. „Was hast du?“ fuhr er gleich in unserem Gespräch fort. „Soviel ich weiß, bist du kaum zwei Monate geschieden. Sollte ich ihm sagen, du hast mir den Wagen lange vorher bezahlt? Ich dachte, deine Ehemalige hat ihn geschickt, weil ihr nicht reicht, daß du ihr das Haus und alle Sachen gelassen hast, und sie will auch noch die Hälfte vom Wagen.“ „Seit wann befaßt sich mit solchen Sachen die Kripo?“ Sein ohnehin langes Gesicht wurde noch länger. „Die Kripo?“ fragte er erstaunt. „Worum geht es eigentlich?“ „Um einen Raubmord. Du sitzt neben einem gemeinen Mörder, der einen wehrlosen Greis getötet hat, um einen ungeduldigen Gläubiger zu befriedigen. Dieser Gläubiger bist du.“ Ich sah, wie sich seine arglosen Augen mit einem Schatten überzogen. Das bedrückte mich. Honza schwieg, und mich verließ auch der klägliche Galgenhumor. Meinen alten Freund hatte ich damit nicht belustigt. Ich konnte jedoch nicht daran zweifeln, daß sich Leutnant Pavrovský irgendwo, vielleicht gar nicht weit entfernt von diesem Ort, zufrieden ins Fäustchen lachte.
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Lukáš saß auf der Verandatreppe, das Kinn auf die Arme gestützt. Sein roter Pullover leuchtete hinter dem Regenvorhang wie eine kleine Sonne, doch der Junge sah verlassen und niedergeschlagen aus. Als er meinen Wagen hörte, hob er den Kopf. Ich hielt dicht an der Pforte. Diesmal war sie aufgeschlossen. Über den nassen Rasen, der in den zwei Tagen noch gewachsen war, ging ich auf den Jungen zu. Lukáš rührte sich nicht, er zog nur die Knie höher. Durch den Spalt zwischen rotem Pullover und blonder Mähne lugte er wie ein in die Enge getriebenes Tier. „Guten Tag, Lukáš“, begrüßte ich ihn. Er antwortete nicht. Die blauen Augen blickten trotzig hinter einer Maske gespielter Gleichgültigkeit. „Sprichst du nicht mehr mit mir?“ Ich schritt zwei Stufen hinauf unter das Dach. „Was habe ich dir getan?“ „Sie sind wie ein Dieb verschwunden. Das tut man nicht.“ „Aber Lukáš“, begann ich besänftigend. „Ich heiße Luke!“ Ich überging das. „Ist deine Großmutter zu Hause?“ Er schüttelte unmerklich den Kopf. „Sie ist noch nicht da?“ Wieder die verneinende Geste. Und nichts weiter. Ich trat zurück in den Regen. „Nun, du willst nicht mit mir reden … Da gehe ich eben.“ Die Augen unter den weißen Wimpern weiteten sich bange. Ich wandte mich langsam zum Gehen. Die hohe Kinderstimme überschlug sich. „Warten Sie!“ Ich drehte mich um, und anstelle eines maulfaulen, erbosten Jungen sah ich ein verstörtes Kind. „Warum haben Sie sich nicht verabschiedet? Ich wäre aufgestanden, ich hätte Ihnen Frühstück gemacht …“ Er blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Ich ging schnell zurück und sagte reuig: „Sei mir nicht 93
böse. Ich mußte den Fünf-Uhr-Bus kriegen und wollte dich nicht wecken.“ „Ich war wach“, erwiderte er trotzig. „Das heißt – ich wäre aufgestanden. Das hätte mir nichts ausgemacht.“ Lukáš erhob sich und fragte mit heimlicher Hoffnung: „Kommen Sie rein?“ „Wenn du mich einlädst …“ Das Wohnzimmer war nicht mehr so aufgeräumt wie bei meinem ersten Besuch. In der Kochnische stapelte sich schmutziges Geschirr, auf dem Tisch lag ein Brotkanten, daneben standen eine halbleere Büchse Würstchen und ein Mostrichglas. Wer hier speiste, hielt es nicht für notwendig, einen Teller zu nehmen. Lukáš bemerkte meinen Blick und errötete. Eilig räumte er den Tisch ab. „Setzen Sie sich!“ Er trug die Reste in die Kochnische und versuchte, die benutzten Teller zu verstecken. „Ich mache Ihnen einen Kaffee – oder wollen Sie einen Whisky?“ „Kaffee. Heute bin ich Kraftfahrer.“ Lukáš stellte eine Kanne auf den Kocher, kehrte zum Tisch zurück, nahm das befleckte Tischtuch ab und breitete zwei bunte Servietten aus. Ich merkte, wie eifrig er sich bemühte, es mir gemütlich zu machen. Mir wurde schwer ums Herz. Dieser kleine, tapfere Mann war noch einsamer als ich. Dabei war es nur ein zwölfjähriges Kind. Ein Kind von Eltern, die sich irgendwo in der Welt herumtrieben. Er hatte niemanden, nur die Großmutter, die sich offenbar mehr um ihren amerikanischen Opa als um dieses Küken ohne Vaterland kümmerte. Ich wurde wütend auf sie. Wie konnte sie einen solchen Knirps so lange allein lassen, hier, in dieser abgeschiedenen Gegend? Lukáš stellte eine große Tasse und eine Zuckerdose vor mich hin. „Ich habe ihn stark gemacht. Oma sagt, ich koche guten Kaffee.“ Er setzte sich mir gegenüber und wartete darauf, daß ich trinke. 94
Der Junge sah abgemagert und ein bißchen verwahrlost aus, aber vielleicht machten das die langen Haare. Ich trank, verbrannte mir die Zunge und nickte anerkennend. „Und du trinkst nichts? Hast du keinen Appetit?“ Er faßte das als Anspielung auf, erhob sich und holte eine Dose mit Zwiebäcken. Sie zerbröckelten vor Feuchtigkeit und sahen angebissen aus. „Greifen Sie zu! Etwas anderes habe ich nicht …“ „Lukáš“, sagte ich streng. „Hast du überhaupt gegessen?“ „Aber ja“, antwortete er abwehrend. „Konserven habe ich die Masse, bloß Brot und Milch sind alle. Oma muß bald wiederkommen.“ „Müßte sie nicht längst dasein?“ „Ja – schon“, gab er zu. „Läßt sie dich oft allein?“ fragte ich mit schlecht verborgenem Vorwurf. Er hatte gleich begriffen, worum es mir ging. „Sie hat mich nicht alleingelassen. Ich war doch hier mit Herrn Ezechiáš.“ Das hatte ich übersehen. „Ich dachte, sie würde gleich wiederkommen, als …“, fuhr Lukáš fort. „Nur …“ „Deine Oma weiß vielleicht gar nicht, was hier passiert ist“, sagte ich, verwundert, daß mir das erst jetzt einfiel. „Hanka wollte sie anrufen. Sie wollte mich auch mitnehmen, aber ich bleibe lieber hier.“ Er rückte näher zu mir, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen. „An dem Tag, morgens, als Sie von hier weggegangen waren, ist dieser Leutnant gekommen. Er hat nach Oma gefragt.“ Aufgeregt lehnte er sich an mich. „Bestimmt hat er sie verhaftet, und sie sitzt jetzt im Gefängnis. Könnten Sie ihn nicht fragen, wo sie ist? Oma hat nichts getan, sie weiß nichts, sie war doch gar nicht hier!“ 95
„Ja, das ist wahrscheinlich …“ Unwillkürlich überlegte ich laut. Ich besann mich. „Warte, so habe ich das nicht gemeint! Der Leutnant ist vielleicht zu deiner Oma gefahren, Herr Ezechiáš hat doch bei euch gewohnt. Er mußte sie befragen, ob sie etwas Wichtiges weiß – aber bestimmt hat er sie nicht eingesperrt.“ „Er hat sie eingesperrt! Die Polizei steckt wichtige Zeugen ins Gefängnis, damit …“ „Hör auf!“ fuhr ich ihn an. „Und ich? Ich bin ein wichtigerer Zeuge als deine Oma und laufe bis heute frei herum.“ „Sie sind schlau“, murmelte, er. „Ist deine Oma vielleicht dumm?“ „Nein, das nicht“, sagte er abwesend. Dann blickte er mich ängstlich an. „Wo ist sie dann?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete ich mit einem unguten Gefühl. „Hör mal – neulich hast du etwas gesagt … als ob Herr Ezechiáš ein besserer Opa wäre als Frank … Wie kommt es, daß er bei euch gewohnt hat?“ „Er wollte Oma heiraten. Alle dachten, Frank würde eher sterben als er.“ Der reiche Frank, der arme Onkel Luiz, die professionelle Braut der alten Heimkehrer – in meinem Kopf ging alles durcheinander. Ich blickte nicht durch in dem Spiel, in dem mit Geld, Leben und Tod der alten Männer spekuliert wurde. Die Tage des einen waren gezählt, und dennoch hatte er den anderen überlebt. „Haben sie dir das gesagt?“ „Was sollten sie mir sagen? Sie haben davon gesprochen. Und sie haben sich gestritten, wo ich dann wohnen soll. Frank hat es ihnen ausgeredet …“ „Hat denn Frank gewußt, daß sie heiraten wollten?“ Mein Verstand versagte mir völlig seine Dienste. „Klar. Frank hat gesagt, er ist froh, daß auch Onkel Luiz von seinem Geld etwas hat. Er vererbt alles meiner Oma, müssen Sie wissen.“ Lukáš redete von diesen An96
gelegenheiten, als erläuterte er mir die Verkehrsregeln. Tod war für ihn ein leeres Wort. „Was hat er ihnen ausgeredet?“ „Das rote Haus zu kaufen. Er sagte, es ist eine Dummheit, zwei Häuser nebeneinander zu haben.“ „Die Villa von Hanka und Tomáš Drozd? Wollten denn Herr Ezechiáš und deine Oma das Haus kaufen?“ Die Nachricht wirkte auf mich wie ein Blitz. Er leuchtete auf, blendete mich und verlosch gleich wieder. „Oma nicht“, sagte Lukáš. „Herr Ezechiáš.“ Herr Ezechiáš hatte angeblich kein Geld, und wenn er welches hatte – warum wollte er es in eine Villa investieren, die nahe bei dem Haus seiner künftigen Frau lag? Franks Geld sollte ihr zufallen. Wie konnte er auf diese Weise über das Erbe verfügen, wenn weder Frank noch dessen zukünftige Witwe damit einverstanden waren? Dann wurde ich mir einer weiteren Ungereimtheit bewußt. Wenn es so war, wie Lukáš sagte, wollte Frau Drozdová die Villa ihrem Onkel verkaufen. Aber Hanka brauchte das Geld gleich, um die Genossenschaftswohnung zu bezahlen. Was bedeutete das? Nichts. Es hätte etwas bedeutet, wenn nicht Ezechiáš, sondern Frank Kuba eines gewaltsamen Todes gestorben wäre. „Wann wollte er das Haus kaufen?“ fragte ich Lukáš der Vollständigkeit halber. „Wenn Frank gestorben ist und deine Oma geerbt hat?“ „Nein, gleich. Oma hat ihm gesagt, er braucht nicht mit ihr zu rechnen.“ Leutnant Pavrovský hatte also recht. Geld war da – und ist weg. Ich blickte aus dem Fenster, der Dauerregen wusch meinen Škoda. Es regnete, als sollte eine neue Sintflut beginnen, und ich hatte das Gefühl, daß mir das Wasser unaufhaltsam bis zum Hals stieg. Die Matrone im verwaschenen weißen Kittel steckte ihren Kopf aus dem Käfig und gackerte: 97
„Überschuhe anziehen! So dürfen Sie nicht ’rein!“ Ratlos blickte ich auf meine verdreckten Schuhe. Ein Arm glitt aus dem Fensterchen und zeigte nach unten. Dort stand ein Kasten, aus dem mich nur eine einsame Igelitgalosche anschaute. Es war Sonntagnachmittag, ich war ein Nachzügler der Völkerwanderung, die über die Chirurgische Abteilung des Krankenhauses hereingebrochen war. Seufzend nahm ich den Lappen aus dem Kasten. Die Matrone schnaufte angewidert und reichte mir ein Paar nagelneuer Galoschen. Ich legte den Jasminstrauß hin, den ich von dem Strauch vor meinem Häuschen abgerissen hatte, und abwechselnd auf dem rechten und dem linken Bein balancierend, hüllte ich meine Schuhe in Kunststoff ein. Als ich den Strauß aufhob, fielen einige Blüten ab. Die Matrone fauchte, daß sich ihr Schnurrbart sträubte. Das erinnerte mich an Leutnant Pavrovský. Völlig verschreckt sammelte ich die Blüten auf. Ich ging durch einen grün gefliesten Flur, ziemlich unbeholfen in den Galoschen und mit dem restlichen Bukett in der Hand. Einen Papierkorb für den lädierten Strauß sah ich nicht. Es war ein zu blöder Einfall, einen kranken Freund mit einem solchen Duftbündel zu besuchen. Aus einer Fensternische löste sich eine blauweiß gestreifte Vogelscheuche und schritt mir flink entgegen. „Aber nicht doch!“ rief der schwerkranke Josef Kamínek lebensfroh. „Der Strauß ist für mich?“ „Ja. Wie geht es dir?“ „Es geht.“ Josef hatte ein gerötetes Gesicht und klare, glänzende Augen. Er wirkte erholt und glotzte mich freudig an. „Es genügt, wenn ihr an mich denkt. Wie läuft alles? Und Doktor Jireš – ist er froh, daß er den Chef spielen kann? Wie macht er sich?“ „Es geht“, antwortete ich ebenfalls. Josef schien von 98
mir einen ausführlichen Bericht über die Baustelle zu erwarten, über den einen Arbeitstag, den er nicht dort war. „Müssen wir hier stehen? Du sollst liegen, nicht wahr? Wieso läufst du gleich nach der Operation herum?“ „Ich habe mich nicht operieren lassen. Es war kein geplatztes Geschwür, nur eine akute Sache. Hätte ich das gewußt, keine zehn Pferde hätten mich hierher gekriegt.“ Er schritt zu einer Glastür am Ende des Flures. Dabei schwankte er leicht. Ich faßte ihn schnell am Arm. „Sie spritzen mit Prokain“, beklagte er sich. „Danach ist man wie benebelt. Das ist nicht unangenehm, aber angeblich muß ich mindestens vierzehn Tage hierbleiben.“ Er klopfte und nahm mir den Strauß ab. Eine junge Frau in Weiß öffnete uns. „Darf ich dir meinen unersetzlichen Mitarbeiter vorstellen? Petr Martin – Frau Doktor Majerová.“ Er drückte ihr den penetrant riechenden Strauß in die Hand. Frau Doktor steckte ihre Nase in den Jasmin und hob die Augen zu mir auf. Sie waren mit dunklen Ringen umrahmt. „Dann kommen Sie herein“, seufzte sie. Sie hatte einen süßen, eigenwilligen Mund und ein Kinn, das nur noch eigenwillig war. In dem hübschen grauen Zimmer standen ein Sofa und Sessel um ein Tischchen, auf dem eine volle Kognakflasche die Blumenvase zu ersetzen schien. Wir setzten uns. Frau Doktor stellte den Strauß in ein Konservenglas und beeilte sich, dieses gegen den grusinischen Kognak auf dem Tisch auszutauschen. „Laß den Kognak ruhig hier“, sagte Josef, und an mich gewandt, fragte er: „Du trinkst doch einen?“ Ich lehnte das Angebot ab. „Keine falsche Bescheidenheit! Sie hat einen ganzen Schrank voll, nicht wahr, Helenka?“ Helenka trat zu mir, hob mit zwei Fingern mein Kinn 99
hoch und drehte meinen Kopf zum Fenster. „Sie hätten früher kommen sollen“, sagte sie vorwurfsvoll, nachdem sie grüblerisch mein Gesicht gemustert hatte.„Jetzt läßt sich nichts mehr machen … Warten Sie!“ Sie ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. „Was ist passiert?“ fragte Josef erstaunt, als hätte er erst jetzt bemerkt, was dem geschulten Auge der Frau Doktor nicht entgangen war. Sie kehrte zurück und berührte mit zarten Fingern den Grind auf meiner Braue. „Tut das weh?“ „Nein.“ „Und das?“ Ebenso sanft tastete sie die Oberlippe ab. „Jetzt nicht mehr. Ich spüre Sie gar nicht.“ „Dann scheint ein Nerv beschädigt zu sein. Das hätte genäht werden müssen, so bleiben Narben. Wie ist das passiert? Sind Sie gestürzt?“ „Was hast du gemacht, Mann?“ fragte Josef amüsiert. Auf dem weißen Schränkchen klingelte das Telefon, Helenka hob ab. „Ja“, sagte sie. „Ich komme sofort.“ Sie legte auf und erklärte: „Ich muß in die Ambulanz. Kommen Sie nachher vorbei, dann gebe ich Ihnen wenigstens eine Salbe.“ Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, scherzte Josef: „Bist du in den Mischer gefallen oder ist dir nachts ein Bulldozer begegnet?“ „Ich bin deinem Freund begegnet“, sagte ich. „Herrn Drozd. Und ihm in die Hände gefallen, als er in der einen gerade einen Gummischlauch hielt.“ „Red keinen Unsinn!“ Er lachte, wurde jedoch gleich wieder ernst. „Mann, das wollte ich nicht. Jetzt ärgert mich, daß ich dir Hanka zugespielt habe. Wegen eines Blödsinns, auf den nur eine Frau kommen kann.“ „Könntest du mir endlich sagen, warum du mir Frau Drozdová zugespielt hast? Den Unsinn, daß ich ihre Villa schätzen sollte, laß bitte weg. Und daß wir aneinander Gefallen finden sollten auch.“ 100
„Habt ihr keinen Gefallen aneinander gefunden?“ fragte er unschuldig. „Geh zum Teufel!“ „Reg dich nicht auf!“ sagte er ungerührt. „Den Meisterdetektiv hast du wohl auch hergeschickt, um mich das zu fragen?“ „Wen?“ „Den Leutnant Pavrovský.“ „Du hast mit ihm gesprochen?“ „Ja, er war hier.“ „Was wollte er?“ „Er wollte wissen“, sagte mein Chef, „wie es kommt, daß du während der Arbeitszeit mit deinem Schätzchen einen Ausflug machen kannst.“ „Und was hast du ihm geantwortet?“ „Kamerad“, sagte Josef besänftigend. „Was sollte ich ihm antworten? Die Wahrheit: daß du Hanka überhaupt nicht kanntest, daß ich eigentlich notgedrungen dich geschickt habe. Hätte ich Zeit gehabt, wäre ich selber gefahren. Und jetzt würde er Leute über mich ausfragen.“ Mir fiel kein Stein vom Herzen. „Warum hast du mich mit Hanka geschickt? Hat er dich das nicht gefragt? Hast du es ihm gesagt?“ „Selbstverständlich“, erwiderte er gekränkt. „Jetzt hört doch jeder Spaß auf.“ „Darf ich das erfahren oder soll ich den Leutnant fragen?“ „Wenn du darauf bestehst! Du solltest dort Theater spielen. Schade, daß es nicht dazu gekommen ist. Wie ich sehe, hast du Talent dazu.“ „Was?“ Ich sprang auf und stieß gegen das Tischchen. Die Glasplatte bedeckte sich mit Jasminblüten. Ihr Duft war jedoch nicht an meinen Kopfschmerzen schuld. „Was für Theater? Für wen – und warum? Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“ 101
„Hör schon auf! Du solltest einen ernsthaften Interessenten für die Villa spielen. Warum tust du, als wüßtest du das nicht? Das habt ihr schließlich abgesprochen.“ „Vor wem sollte ich den Interessenten spielen?“ „Vor dem anderen Käufer“, erläuterte er mir geduldig. „Hanka wollte den Preis hochtreiben. Sag bloß nicht, sie hätte dir deine Rolle nicht erklärt. Das wollte sie erst unterwegs tun, weil sie befürchtete, du könntest das ablehnen.“ „Davon weiß ich nichts“, sagte ich mit dumpfer Stimme. Ich kam mir vor wie ein Ball, der gehorsam dorthin fliegt, wohin ihn die Spieler schlagen. Wer waren diese Spieler? Ich blickte in das hagere, ehrliche Gesicht meines Freundes, der mich mit spöttischen Blicken beobachtete. „Warum hast du so getan, als wüßtest du nicht, daß der alte Ezechiáš zurückgekommen ist?“ fragte ich. Jetzt wunderte sich Josef. „Wann – daß er aus Mexiko zurückgekommen ist … . Das habe ich wirklich nicht gewußt. Woher auch?“ „Der andere Interessent war Onkel Luiz. Hat sie dir das nicht gesagt?“ „Nein. Verdammt, das ist merkwürdig. Meinst du nicht? Der Opa will ihnen die Villa abkaufen – und nach ein paar Jahren vererben. Andere Verwandte hatte er doch nicht. Warum haben sie ihm das Haus nicht vermietet, wenn er dort wohnen wollte? Sie sind sowieso nicht oft hingefahren.“ „Die Polizei sagt, er hätte kein Geld hinterlassen. Frau Drozdová behauptet jedoch, er hätte welches gehabt. Nun sucht der Leutnant Beweise, daß ich es genommen habe.“ „Du?“ fragte Josef ziemlich erregt. „Warum nicht der Mörder? Oder …“ Er verstummte und vergaß den Mund zuzumachen. „Ja“, sagte ich. „Genau so.“ 102
„Mein Gott … Das ist nicht möglich! Etwas Besseres ist ihnen nicht eingefallen? Das kann doch nicht schwer sein. Der alte Ezechiáš kannte hier niemanden, er hatte weder Freunde noch Feinde. Das ist ein zufälliger brutaler Mord! Verübt von einem Kerl, der das Haus ausrauben wollte – meinst du nicht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht kannte er hier niemanden“, räumte ich ein. „Aber er hatte hier Verwandte. Dein Freund Tomáš Drozd ist jähzornig – und hinterhältig.“ Ich erzählte ihm ausführlich, was er mir, meinem Škoda und dem Zigeuner Dežo angetan hatte. Josef hörte schweigend zu. Dann entgegnete er: „Das hast du alles dem Leutnant erzählt. Meinst du nicht, Tomáš säße längst im Kittchen, wenn an deinem Verdacht etwas dran wäre? Vielleicht hat er für den Nachmittag ein Alibi, er muß doch auf seiner Arbeitsstelle gewesen sein.“ Gegen dieses Argument wußte ich nichts einzuwenden. „Da ist noch Hankas Bruder“, fuhr ich verbissen fort. „Was ist das für einer? Kennst du ihn?“ Josef grinste. „Das würde ich meinen. Den kannst du ruhig vergessen. Olda ist ein Bettbubi, ein Poussierstengel. Er würde nicht mal eine Wasserpistole in die Hand nehmen, aus Angst, sich die manikürten Finger naß zu machen.“ „Wenn du meinst“, sagte ich zweifelnd. „Das meine ich nicht, das weiß ich! Vergiß nicht, daß ich den Jungen viele Jahre kenne. Da könntest du ebensogut behaupten, Hanka hätte ihren Onkel erschossen.“ „Warum nicht?“ erwiderte ich. „Du bist einfach zu gutgläubig. Alle sind bei dir feine Kerle und Prachtmädel, so lange, bis sie versuchen, dir ein Bein zu stellen. Und ich habe das Gefühl – was heißt Gefühl, die Gewißheit –, daß deine alten Bekannten versuchen, mir den Mord anzuhängen.“ Ich ließ Josef, der opponieren wollte, nicht zu Wort kommen. „Beruhige dich! Ich weiß 103
nicht, was zwischen dir und Hanka ist oder war. Sie hat es nicht getan. Frag Dežo, ob ihn eine Frau verprügelt hat.“ Josef wirkte deprimiert. Aus seinem Gesicht war die Röte gewichen, es nahm die gleiche grüngelbe Farbe an wie meine verblassenden Blutergüsse. Ich stand auf. „Vielleicht war es ein Landstreicher“, sagte ich. „Ein Fremder, den die Gelegenheit lockte, schnell und leicht Beute zu machen.“ Es gibt Tage, an denen alles gelingt, reine Festtage. Andere fangen morgens schon schlecht an – das beste wäre, sich gleich aufzuhängen. So entginge man einer Kette von Unglück und Unbill, denn am Abend ist man nicht einmal fähig, einen Strick zu knüpfen. Am Montagmorgen saß ich an meinem Dienstschreibtisch, der leer war, bis auf das unheilvoll schweigende Telefon. Es war nicht gänzlich stumm. Wenn ich den Hörer abnahm, piepte mir das Amtszeichen ins Ohr. Ich hatte schon dreimal abgehoben und stets die versucherische Stimme wieder zum Schweigen gebracht. Aber die Stimme war da, wie ein Kaninchen, das der Zauberer unter einem Hut verschwinden läßt, und alle bis auf die Kinder wissen, daß es nur ein Trick ist. Wäre ich ein Zauberer gewesen, hätte ich alle Rinder verschwinden lassen. Besonders einen sommersprossigen Jungen, der gern im Regen auf der Treppe saß und auf den Weg starrte, auf dem eine alte Frau heimkommen sollte. Ich hatte dumm gehandelt. Ich hätte die Starrköpfigkeit des Jungen brechen sollen, mit der er darauf beharrte, nicht fortzugehen. Ich hätte ihn nach Prag mitnehmen, in den Zoo führen, ihm mit Eis den Magen verderben, ihn abends der Oma übergeben und mich von ihr ausschimpfen lassen sollen. Sie mußte schließlich schon heimgekommen sein. Omas treiben sich nicht in 104
der Weltgeschichte umher wie wildgewordene pubertäre Mädchen – selbst die kommen meist bald wieder heim. Und wenn nicht? Wenn er immer noch allein ist und sich auf mich verläßt, den großen Freund, der seine Oma den Krallen der unmenschlichen Polizisten entreißen soll? Weiß Gott, er hat sich auf mich verlassen. Dieser Knirps hat niemanden, den er um Hilfe bitten könnte, nur einen fremden Mann, dem er unlängst selbst geholfen hat, als dieser in Not war. Aber was kann ich tun? Leutnant Pavrovský hält Frau Malásková bestimmt nicht fest. Warum soll ich ihn anrufen? Er gibt nicht die Suche nach dem Mörder auf, um nach einer vagabundierenden Oma zu fahnden. Diese Großmutter mit ihren überseeischen Bräutigamen schien eine alte Messalina zu sein. Ich brachte die mahnende Stimme durch das Gelöbnis zum Verstummen, nachmittags zu Lukáš zu fahren. Wahrscheinlich waren alle Sorgen unnötig. Das Telefon klingelte in dem Moment, als ich gehen wollte, um Ramóna zu begütigen, damit ich einen Kaffee bekäme. „Hallo – sind Sie das?“ Er brauchte sich nicht vorzustellen. „Ja“, sagte ich. „Was ist los, Lukáš?“ „Wo ist meine Oma?“ hauchte er in die Muschel. „Ist sie immer noch nicht zurück?“ Alle meine leichtfertigen Erwägungen zerstoben, sie wurden von derselben Bangigkeit verdrängt, die aus dem Hörer kam. „Nein“, schluchzte er. „Was soll ich machen?“ Ich hörte den schnellen Atem des verstörten kleinen Jungen. „Nichts“, sagte ich. „Woher rufst du an?“ „Von der Post. Ich bin per Anhalter nach Boleslav gefahren. Darf ich nach Prag kommen? Ich halte das hier nicht mehr aus, ich …“ „Warte“, unterbrach ich ihn. „Herkommen hat keinen 105
Sinn. Ich erledige noch ein paar eilige Sachen, dann hole ich dich zu Hause ab. Hörst du? Hast du mich verstanden? Hallo!“ Das Telefon knackte, die Leitung schien gestört zu sein. „Hallo“, schrie ich laut. „Ja“, meldete er sich auf einmal deutlich. „Kommen Sie bestimmt? Bald?“ „Ganz bestimmt“, sagte ich. Meine Kehle war zugeschnürt vor Rührung, diese ruhigen Worte mußten ihn heldenhafte Anstrengung gekostet haben. „Ich …“, begann er, dann sagte er leise. „Ich habe Angst.“ „Lukáš, hör zu …“, redete ich auf ihn ein, aber diesmal versagte die Leitung endgültig. Ich legte auf. Mein Kopf war leer wie die Schreibtischplatte, auf die ich starrte. Meine Stirn bedeckte sich mit Schweißtropfen. Ich wischte sie mit dem Handrücken ab, bevor ich wieder nach dem Hörer griff. Leutnant Pavrovský persönlich nahm ab. „Gut, daß Sie anrufen“, sagte er, kaum daß ich mich vorgestellt hatte. „Ich war neugierig, ob Sie sich selber melden.“ Das verschlug mir die Sprache. „Warum denn?“ stotterte ich. „Aus mehreren Gründen“, sagte er geheimnistuerisch. „Soll ich sie Ihnen nennen?“ „Nicht nötig“, erwiderte ich undiplomatisch, ehe ich überlegen konnte, was ich antworten soll. „Das ist ein Fehler.“ „Was?“ „Ich sagte, daß Sie einen Fehler gemacht haben“, präzisierte er seine schroffe Bemerkung. „Warum denn?“ „Weil Sie sich wundern sollten, weshalb ich mich dafür interessiere, wann Sie Ihren Wagen gekauft haben.“ „Den habe ich schon lange“, sagte ich mit matter Stimme. „Das wird Ihnen jeder bestätigen, den Sie fragen.“ 106
„Sie wissen, wen ich gefragt habe – und was er mir geantwortet hat. Warum sollte er lügen?“ „Ihnen das am Telefon zu erklären, würde zu lange dauern.“ Angestrengt versuchte ich mich daran zu erinnern, warum ich ihn angerufen hatte, „Das müssen Sie auch nicht – jetzt am Telefon“, sagte er freundlich. Plötzlich änderte er den Ton: „Was wollen Sie? Hat Ihnen wieder jemand etwas getan?“ „Mir nicht.“ Vor meinen Augen tauchte die kleine Gestalt auf, die in dem Augenblick über die Landstraße traben mußte. „Frau Malásková ist spurlos verschwunden.“ „Sie gebrauchen merkwürdige Ausdrücke. Sie wird vermißt.“ „Woher wissen Sie das?“ keuchte ich. Der kalte Schweiß trat mir wieder auf die Stirn. „Woher wissen Sie das?“ fragte er zurück. „Von Lukáš – ihrem Enkel. Er ist dort allein und …“ „Sie fahren dauernd zu ihm. Warum kümmern Sie sich so um den Jungen?“ In mir stieg Wut auf und überschwemmte mein Herz wie Hochwasser eine Niederung. „Weil sich sonst niemand um ihn kümmert! Seit Mittwoch ist er dort allein – und heute ist Montag. Der Mann, der bei ihnen gewohnt hat, ist ermordet worden, und seine Großmutter hat er seitdem nicht gesehen. Meinen Sie nicht, daß das ein bißchen viel für ein zwölfjähriges Kind ist? Warum haben Sie nicht veranlaßt, daß sich jemand um den Jungen sorgt, wenn Frau Malásková vermißt wird?“ Ich schrie, um mein schlechtes Gewissen zu betäuben. „Regen Sie sich nicht auf! An dem, was Sie sagen, ist etwas dran, aber man kann nicht immer an alles denken“, sagte der Leutnant unvermutet menschlich. Mir stockte der Atem. „Seit wann wird sie vermißt?“ „Seit Mittwoch.“ „Ist sie denn nicht in der Heilanstalt angekommen?“ 107
„Doch, aber am nächsten Tag ist sie wieder abgefahren.“ „Wohin?“ „Das weiß ich nicht“, sagte er, nun schon unpersönlich. „Aber das werden wir feststellen, keine Angst. Und das mit dem Jungen erledige ich.“ „Das brauchen Sie nicht“, sagte ich abweisend. „Ich werde mich um ihn kümmern. Ich fahre hin und …“ Er unterbrach mich schneidend: „Das würde ich Ihnen nicht raten!“ „Was Sie mir raten oder nicht, ist mir völlig gleichgültig! Verhaften Sie mich, wenn Sie mich daran hindern wollen.“ „Das hat noch Zeit“, erwiderte er. „Wir wollen nichts überstürzen. Vorläufig verlassen Sie Prag auf keinen Fall!“ Das war eine deutliche Drohung. Knack. Der Herr Leutnant hatte aufgelegt. Ich warf wütend den Hörer auf die Gabel und lief aus dem Büro. Drei Stunden später befand ich mich auf der Landstraße nach Prag, mit Lukáš auf dem Rücksitz meines Škoda. In Brandýs hielten wir, um in eine Gaststätte zu gehen. Das erste ordentliche Essen nach fünf Tagen machte den Jungen schläfrig. Eine Weile blinzelte er mich noch im Rückspiegel an, dann schlummerte er ein. Er schlief leise wie ein Vogel, das Gesicht in die aufgeplusterten hellen Haare gehüllt. Die Wut, die das Gespräch mit Leutnant Pavrovský in mir geweckt hatte, verwandelte sich in verbissenen Trotz. Soll er mich einsperren, wenn er genügend Beweise gegen mich hat. Wir werden sehen, was er mit mir anfängt. – In der Tiefe meiner Seele wußte ich jedoch, daß mit dem Leutnant nicht zu spaßen war. Wenn er meint, ich pfusche ihm in die Ermittlungen, wird er mir sicher Einhalt gebieten. Was hilft es, daß ich unschuldig bin wie ein neugeborenes Lamm. Er denkt das nicht. Selbst wenn er das glaubt, kann er mich als ungehorsa108
men Hauptzeugen auf Eis legen. Was wird dann mit Lukáš? Es war dumm gewesen, als ich ihm sagte, ich würde ihn zu mir mitnehmen. Für ein zwölfjähriges Kind hat er genug durchgemacht. Er braucht Ruhe, Geborgenheit, Sicherheit. Wird er bei mir in Sicherheit sein? Von den beiden alten Menschen, bei denen er lebte, war einer tot und der andere wurde vermißt. Am Telefon hat er mir gesagt, er fürchte sich. Im Auto wollte er nicht darüber sprechen. Er schämte sich seiner Schwäche. Als ich in ihn drang, sagte er, es sei der Hund. Ich hielt das für eine Ausrede, zumal er zögernd erzählte, Amigo würde seit der Nacht, als ich verprügelt wurde, ununterbrochen heulen. Es wäre kein Wunder, wenn der arme Junge sogar Gespenster sähe. Manch ein Erwachsener würde nicht allein in der Nähe eines Ortes bleiben, wo ein Mord geschehen ist. Mein Häuschen auf der Baustelle wird eine sichere Zufluchtstätte sein, bis die Großmutter gefunden ist. Wird es das wirklich sein? Ich erinnerte mich an den nächtlichen Besucher, mit dem Dežo zusammengeraten war. Ich dachte an die rauhen Sitten auf der Baustelle – und auch daran, daß Lukáš zur Schule ging. Nach der Abreise seiner Großmutter hatte er wohl den Unterricht geschwänzt, er war kein Musterknabe. Wenn der Leutnant die Sorge um den Jungen übernähme, würde er ihn in ein Heim stecken, wo man ihn wüsche, scherte und in eine Schulbank setzte. Ich überlegte, ob das nicht doch das beste wäre. Nun war es für solche Überlegungen zu spät. Ich konnte ihn nicht in ein Heim bringen, weil er freiwillig bestimmt nicht dorthin wollte. So etwas macht man nicht mit einem Freund. Auch wenn dieser Freund nur ein Dreikäsehoch ist – oder gerade deshalb. Ich seufzte und blickte mich nach der Last um, die mein Škoda nicht einmal wahrnahm. Was fange ich mit 109
dir an, mein Sohn? Eine Frau wüßte sich bestimmt Rat. Mit Ausnahme meiner Ehemaligen, einer Lehrerin, kannte ich kein weibliches Wesen, das sich nicht mit mütterlichem Gackern auf das verlassene Küken gestürzt hätte. Unsere Ramóna könnte … Warum Ramóna? Wir haben doch Frau Drozdová. Sie kennt Lukáš, einmal wollte sie ihn schon zu sich nehmen. Der Junge hat Hanka offenbar gern. Sicher vertraut er ihr, und er wird nichts dagegen einwenden, wenn er bei ihr bleiben soll. Einen Augenblick lähmte mich der Gedanke, daß ich so Lukáš nicht von der häßlichen Sache fernhalten würde. Im Gegenteil. Alle Mitglieder von Hankas Familie waren direkt oder indirekt davon betroffen, und vielleicht hatte einer besudelte Hände. Und die alte Frau, die Lukáš aufzog? Was spielte sie für eine Rolle? Zwei Möglichkeiten boten sich an, eine schrecklicher als die andere. So oder so, Lukáš würde nichts erspart bleiben. Rechts tauchten die Hochhauskolosse der Nordstadt auf. Die Bezeichnung „unmenschlich“, mit der sie ein überkluger Architekt bedacht hatte, war eigentlich ein Kompliment. Ich fand nichts Anziehendes an den Menschen – einschließlich meiner Person. Lukáš bewegte sich im Schlaf. Ich schielte über die Schulter zu ihm hin, er schlief weiter, das Gesicht gerötet, unter den weißen Brauen feine Schweißtröpfchen. Meine Gedanken beschäftigen sich mit ihm – und mit Frau Drozdová. Wir drei würden eine ideale Familie abgeben. Ich fuhr am linken Moldauufer entlang und eher, als ich bei dem dichten Verkehr angenommen hatte, erklomm ich den Barrandover Berg. Es war ein ansehnliches, gediegen wirkendes Haus mit gelbgrauem Rauhputz, unter dem Dach mit geschwärz110
tem Lärchenholz verkleidet. Im ersten Stock zog sich eine Loggia an der ganzen Frontseite entlang. Die Gediegenheit war aufwendig wie die Eleganz einer Dame, die sich stilvoll kleidet. Die Nachbarvilla mit Terrassen, kunstschmiedeten Geländern und anderen Verzierungen sah dagegen wie eine billig aufgeputzte Dirne aus. Die Pforte führte auf den gepflasterten Hof, der zugleich Garageneinfahrt war. Sie war abgeschlossen. Lukáš kroch aus dem Auto und wischte sich mit seinen kleinen Fäusten die Augen. Er blinzelte, sah sich um und trat an das Tor. „Hier ist immer offen.“ Er wickelte die Kette ab, die beide Flügel zusammenhielt. Dabei gab er weder Verwunderung noch Unwillen zu erkennen, was mich sehr erleichterte. Als er die Kette gelöst hatte, bewegten sich die Torflügel in ihren rostigen Angeln und hakten sich am Pflaster fest. Wir schlüpften durch den Spalt auf den Hof. Bei näherer Betrachtung merkte ich, daß der Besitzer sein Haus nicht pflegte. An einer Ecke fehlte ein Stück Putz, die Fenster lechzten nach einem neuen Anstrich. Eine zerschlagene Haustürscheibe war durch ein Stück Sperrholz ersetzt worden. Lukáš lief zu der angenagten Hausecke und rief: „Hallo, Hanka!“ Frau Drozdová arbeitete im Garten, der zum Fluß hin abfiel. Sie kniete in verwaschenen Jeans und einer karierten Bluse inmitten eines Erdbeerbeetes. Erstaunt blickte sie auf. „Wie kommst du hierher?“ wandte sie sich an den Jungen. Sie erhob sich und kam zu uns. „Ich habe Ihnen Lukáš gebracht“, sagte ich nach den üblichen Begrüßungsworten. „Kann er ein paar Tage hierbleiben?“ „Selbstverständlich, aber …“ Sie sah sich nach dem Jungen um, der sich schon an den Erdbeeren gütlich tat. „Was ist passiert? Wo ist Frau Malásková?“ 111
„Sie wird vermißt“, antwortete ich leise. „Die Polizei sucht sie schon seit Donnerstag. Lukáš weiß das nicht, bitte sagen Sie ihm nichts.“ Sie zog ihre Brauen hoch, die keiner kosmetischen Korrektur bedurften, und blickte wieder zu Lukáš hin. „Das ist merkwürdig. Meinen Sie, es hängt mit … Onkels Tod zusammen?“ „Diese Erklärung bietet sich an“, antwortete ich. „Leutnant Pavrovský wollte sie bestimmt vernehmen, schließlich hat der alte Herr bei ihr gewohnt. Haben Sie das nicht gewußt?“ Sie sah mich von der Seite an, wobei sie errötete. „Sind Sie mir böse?“ „Warum?“ „Weil … nun, weil ich Ihnen nicht die Wahrheit gesagt habe. Darüber, warum wir dorthin gefahren sind.“ „Und warum sind wir dorthin gefahren?“ „Hat Ihnen das Josef nicht erzählt?“ „Ich möchte es von Ihnen hören“, forderte ich mitleidlos. Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die mit Erdbeersaft befleckt waren. „Ich wollte meinen Onkel provozieren, damit er mir das Geld für die Wohnung gibt – oder borgt. Ich dachte, wenn er sieht, daß ich es mit dem Verkauf ernst meine, würde er sich erweichen lassen. Er war gegen den Verkauf, denn er achtete Vermögen – und vor allem Immobilien. Schließlich war er ein Ezechiáš.“ „Wollten Sie das Haus nicht ihm verkaufen?“ Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Wie kommen Sie darauf?“ „Das hat mir Lukáš gesagt. Angeblich haben sich Ihr Onkel und seine Großmutter deswegen gestritten.“ „Wie – gestritten?“ fragte sie tonlos. „Was hat Lukáš gehört?“ „Herr Ezechiáš wäre für den Kauf gewesen, und Frau Malásková hätte ihm das ausgeredet. Hanka, ich bitte 112
Sie …“ Zum ersten Male redete ich sie mit ihrem Vornamen an, doch sie bemerkte das nicht. „Sagen Sie mir endlich die ganze Wahrheit“, fuhr ich eindringlich fort. „Vielleicht würde dadurch alles aufgeklärt – auch der Mord.“ „Ich habe Ihnen schon alles gesagt“, erwiderte sie abweisend. „Daß Onkel Luiz selber die Villa kaufen wollte, ahnte ich nicht. Er besaß gar nicht so viel Geld. Allerdings …“ Sie kniff die Augen zusammen, als wollte sie flüchtige Gedanken festhalten, und verstummte. „Allerdings was?“ „Vielleicht war es so“, sagte sie langsam. „Er wollte möglicherweise Frau Malásková überreden, daß sie ihr Grundstück verkauft und in unser Haus zieht.“ „Warum sollte er das tun? Bei Frau Malásková hatte er doch allen Komfort.“ „Sie irren sich. Er verbrachte den ganzen Tag bei seinem Spielzeug, und dafür war dort kein Platz. Mehrmals täglich mußte er durch den Wald in seine Werkstatt gehen. Außerdem hatte er Angst um die Sachen, er hielt sie für Gott weiß wie wertvoll. Bestimmt wollte er seine Modelle ständig im Auge haben.“ Das erschien mir ziemlich logisch. „Haben Sie festgestellt, welchen Wert die Modelle haben?“, fragte ich mit dem Gedanken an Lukáš, der dieses Spielzeug gern besitzen wollte. „Nein, wohl gar keinen“, antwortete sie mit einem Lächeln. „Wer würde für so etwas Geld ausgeben?“ „Lukáš – wenn er welches hätte. Ihm liegt sehr daran, Herr Ezechiáš hat angeblich versprochen, ihm die Sachen zu vererben. Geben Sie ihm etwas davon?“ „Das muß ich mir überlegen“, sagte sie ernst. „Wenn er ein anständiger … Lukáš! Stopf Dich nicht mit Erdbeeren voll, sie sind nicht gewaschen! Nimm die Schüssel und komm her. Wir gehen ’rein“, wandte sie sich an mich. „Sie holen den Koffer, ja?“ 113
„Welchen Koffer?“ wunderte ich mich. „Die Sachen von Lukáš. Haben Sie mir den Jungen einfach so gebracht, nur mit dem, was er anhat?“ „Ja“, antwortete ich beschämt. „Na dann“, seufzte sie spöttisch. „So verantwortungslos und hirnverbrannt kann sich bloß ein Mann benehmen. Da läßt sich eben nichts machen, wir werden uns irgendwie zu behelfen wissen. – Lukáš! Marsch, ab in die Badewanne!“ Sie trieb Lukáš ins Badezimmer. Mich führte sie in einen großen Raum im Parterre, den Tanzsaal, wie sie ihn einst treffend bezeichnet hatte. Er nahm fast das ganze Erdgeschoß ein, und er enthielt alles, was sich ein anspruchsvoller Auftraggeber und ein Architekt, der nicht aufs Geld zu achten braucht, ausdenken kann. Jetzt war hier kein Geld. Das war an vielen Dingen nicht zu erkennen, denen die Zeit nichts angehabt hatte – dem Kamin, der Holztäfelung, der Treppe und dem märchenhaften Ausblick aus der breiten Fensterfront. Aber das Fenster hatte abgeblätterte Rahmen, der Fußboden darunter war fleckig und höckerig, weil es hereingeregnet hatte. Die ockerfarbenen Ziegel vor dem Kamin waren stellenweise angeschlagen und zerbröckelt, unter der Durchreiche zur Küche sah es aus, als hätte jemand eine Flasche Rotwein an die Wand geworfen. Hanka hatte meine Gedanken erraten. „Wir haben nicht die Mittel, um ein solches Haus zu unterhalten. Es muß viel gemacht werden – das Dach ist undicht, die Dachrinnen sind verrottet. In ein paar Jahren werden wir es kaum retten können.“ „Das ist schade“, sagte ich. „Es ist wirklich ein schönes Haus.“ „Sie hätten es sehen sollen, als mein Vater noch lebte. Wenn er wüßte, wie alles verkommen ist, würde er sich im Grabe umdrehen. Zu alledem herrscht hier eine 114
Sauwirtschaft, doch mir macht es keinen Spaß mehr, den Schlampen meines Bruders den Dreck nachzuräumen. Sie führen sich auf, als wären sie hier zu Hause, und ich …“ „Guten Tag, Liebes“, erklang eine gedehnte Stimme. Ein Mädchen kam die Treppe herunter. Sie war in ein grellbuntes Gewand gekleidet, und als sie Stufe um Stufe herunterschritt – oder sich fallen ließ –, enthüllte sie, daß sie es auf bloßem Leibe trug. Sie schlich näher und sank auf ein Möbelstück, ein Mittelding zwischen Sessel und Sofa, wie man es in französischen Boulevardkomödien auf der Bühne findet. Es schien speziell für die träge Schöne angefertigt zu sein. Sie hob langsam die Hand und fuhr sich durch ihr blondes Haar. An den meisten Fingern glänzten Ringe, die vier Zentimeter langen Nägel leuchteten in einem heftigen Rot. Das Gesicht war so dick mit Make-up bestrichen, daß man die Schicht ohne Risiko, die Haut zu zerkratzen, hätte abspachteln können. Trotzdem war es ein schönes Mädchen, eine etwa zwanzigjährige natürliche Blondine mit grünen Augen und hinreißenden überlangen Beinen, die sie fast bis zum Schritt enthüllte. Gleichgültig setzte sie sich meinem gierigen Blick aus. Hanka war das nicht gleichgültig. Sie fuhr die Blonde an: „Was hast du hier zu suchen?“ Das Mädchen seufzte. „Das weiß ich selber nicht.“ Die Lider mit den pechschwarzen Wimpern klappten herunter. Ich befürchtete schon, die Schöne wäre eingeschlafen, und sah mich nach einer Decke um, damit sie sich nicht erkältete. Doch plötzlich blinzelte sie und sagte mit ersterbender Stimme: „Ah, ich weiß schon … Ist Olda hier, Liebes?“ „Nein, wie du siehst“, erwiderte Hanka. „Weißt du nicht, wo er ist?“ fragte die müde Blonde mit letzter Kraft. „Im Bett“, antwortete Hanka giftig. „In dem Bett, aus 115
dem du gerade gekrochen bist. Spiel hier keine Komödie und verschwinde – Liebes!“ Das Mädchen bewegte sich ein wenig, was sie wohl so viel Anstrengung kostete, als würde ich versuchen, den Weltrekord im Weitsprung zu brechen. Sie fing meinen geilen Blick auf und lächelte mich zutraulich an. Ich lächelte ebenfalls, verstohlen und verschämt. Hanka schritt entschlossen ein. „Würden Sie nach Lukáš sehen?“ sagte sie schroff zu mir. „Er ist schon zu lange weg. Das Badezimmer liegt gleich links unter der Treppe.“ Gehorsam machte ich mich auf den Weg. Ich vernahm noch, wie Hanka zischte: „Verschwinde! Oder ich schmeiße dich ’raus, so wie du bist. Mir ist das gleich.“ „Aber Liebes“, lispelte die Blonde und stand auf. „Jetzt gehe ich“, erklärte sie einer Wespe, die ihren Kopf umkreiste, als hätte sie ihn mit einer goldenen Frucht verwechselt. Die träge Schönheit machte sich nicht die Mühe, die Wespe zu verscheuchen, und ging hinauf. Ich stand unter der Treppe und stierte auf die unwahrscheinlichen Beine. Mit ausgestreckter Hand hätte ich sie berühren können. „Das ist ein Luder“, erklärte Hanka mit unverhohlener Wut. Ihr Gesicht war bleich, die Lippen zusammengepreßt. „Sie macht sich hier breit, als wäre das ihr Haus. Ich möchte sie …“ Hanka merkte, daß ich sie erstaunt ansah. Sie verstummte und wandte mir den Rücken zu. Ich ging zu ihr und fragte teilnahmsvoll: „Hat es mit der Wohnung nicht geklappt?“ Sie nickte. Um das Schluchzen zu unterdrücken, hob sie die Schultern. Ich legte meinen Arm um sie. „Konnten Sie das Geld nicht irgendwo auftreiben?“ Hanka schüttelte den Kopf. „Vielleicht leihen? Für eine Wohnung hätte Ihnen die 116
Sparkasse einen Kredit gegeben.“ Ich sprach eindringlich, in der Befürchtung, sie könnte laut losheulen. „Jetzt ist das schon egal. Zu spät“, sagte sie leise. „Dabei war es eine so schöne Wohnung.“ „Wo war das?“ fragte ich, nur um sie am Weinen zu hindern. Die ins Leere blickenden Augen schärften sich. „Dort!“ Sie zeigte über die Moldau hinweg, auf das andere Ufer. „In Podolí?“ „Ja. Sehen Sie die neuen Hochhäuser? Dort nicht, ein Stück weiter rechts.“ Plötzlich drehte sie sich um und schlang ihre Arme um meinen Hals. „Ich halte das nicht mehr aus“, sagte sie unter leidenschaftlichem Schluchzen. „Jetzt habe ich nicht die geringste Hoffnung mehr, aus den widerlichen Verhältnissen herauszukommen. Sie haben es eben selbst gesehen …“ Hanka zitterte, als hätte sie Schüttelfrost. Ich war ratlos. Sie weinte an meiner Schulter, doch ich brauchte nicht zu befürchten, daß sie mir das Sakko mit Schminke beschmiert. An ihr war nichts Künstliches. „Weinen Sie nicht“, besänftigte ich sie. „Kommen Sie, wir sehen nach, ob Lukáš nicht in der Badewanne ertrunken ist, und dann … Ich nehme ihn wieder mit.“ Sie sah mich an, das Weinen hatte ihrem Gesicht nicht geschadet. „Warum?“ „Sie haben genug eigene Sorgen“, erklärte ich. „Ich kann Ihnen nicht noch das Kind aufbürden. Ihrem Mann würde das sicher nicht gefallen. Sie haben doch gesagt, daß Sie nur ein Zimmer hätten.“ „Ich habe es jetzt für mich allein, Tomáš ist ins Souterrain gezogen, in die ehemalige Mädchenkammer.“ „Warum ist er umgezogen?“ „Wissen Sie das nicht? Er denkt immer noch, daß ich – und Sie …“ Die Tränen waren getrocknet. Nach einer Weile fuhr sie traurig fort: „Sie sind ein so anständiger 117
Mensch. Warum habe ich nicht jemanden kennengelernt wie Sie, anstatt …“ Sie war mir ganz nahe, ihr roter Mund roch nach Erdbeeren. Ich küßte sie. So überraschte uns Oldřich Ezechiáš, der in seinem gelb-schwarzen Bademantel die Treppe herunterkam, mit schleichenden Schritten wie ein Tiger auf Jagd. Ich ließ Hanka los, als hätte sie sich in meinen Armen in eine Giftschlange verwandelt. Das falsche Lächeln auf dem Gesicht des jungen Herrn Ezechiáš wurde noch fieser. „Pst, pst“, schnalzte er. „Lassen Sie sich nicht stören. Ich bin froh, daß mein Schwesterchen nicht völlig frigide ist.“ Das Schwesterchen erwiderte schlagfertig. „Bei dir ist jede frigide, die sich nicht gleich breitbeinig hinlegt, wenn einem Mann danach ist.“ Sie wich keinen Fußbreit von mir zurück. „Meinst du? Was das breitbeinige Hinlegen betrifft, habe ich lieber …“ „Schweig!“ schrie Hanka ihn an. Ihre Augen sprühten Blitze, ihre Hände verkrampften sich. Am liebsten hätte sie mich nach ihm geworfen. „Da haben Sie’s“, wandte er sich an mich. „Hanka ist prüde wie eine Nonne. Wie haben Sie es geschafft, daß sie sich anfassen läßt?“ Ich musterte ihn aus drei Schritten Entfernung und überlegte, was er tun würde, wenn ich ihm eine verpaßte. Wahrscheinlich nichts. Er war genau der Typ, der ein großes Maul riskiert, solange sich in der Nähe keiner findet, der es ihm stopft. Vorsorglich ballte ich meine Rechte zu einer Faust. Ich hatte mich geirrt. Olda trat flink einen Schritt zurück und steckte die Hand in die Tasche. Mit einem Messingschlagring zog er sie wieder heraus. Der Ring paßte wie angegossen. 118
„Den hat mir mein Vater gegeben, als ich fünfzehn war“, erklärte er. „Er hat ihn selber gemacht, das ist ein wertvolles Andenken. Seitdem habe ich mich keine Minute von dem Stück getrennt.“ Zur Demonstration reckte er zweimal die Faust in die Luft. Hanka warf sich kreischend auf ihren Bruder. Mit ihrem ganzen Gewicht hängte sie sich an seinen Arm. Mir kam das ein bißchen übertrieben vor. Olda offenbar ebenfalls. Er schüttelte sie ab und stieß sie zurück, so daß sie nach hinten taumelte. Ich fing sie auf. „Gehen Sie zu Lukáš“, sagte ich zu ihr. „Ich werde allein mit ihm fertig.“ Einen Augenblick schien sie sich zu widersetzen. Dann ermattete sie und verschwand mit gesenktem Kopf unter der Treppe. Olda grinste anerkennend. „Sie haben einen guten Einfluß auf sie. Den hätten Sie früher ausnutzen sollen.“ Er starrte mich nachdenklich mit Augen an, die Hankas unglaublich ähnelten. „Meinen Sie nicht, daß das zu stark war?“ sagte ich zu ihm. „Ist es nicht ein bißchen kindisch, so Ihrer Schwester das Leben zu vergällen?“ Die dunklen Augen glänzten spöttisch. „Kindisch sind Sie“, erwiderte er, „wenn Sie ihren Beschützer spielen wollen. Mein Gott!“ Olda lachte laut, es war eher ein Bellen. Es verstummte so plötzlich, wie es begonnen hatte. „Paß bloß auf, Kumpel“, sagte er tonlos. „Hände weg von Frau Drozdová! Das könnte dich teuer zu stehen kommen.“ „Soll das eine Drohung sein?“ Es ärgerte mich, daß uns Leutnant Pavrovský nicht zuhörte. „Eine Drohung?“ Er lachte wieder, diesmal offen und herzlich. „Durchaus nicht. Eine Warnung – ein guter Rat – wie du willst.“ 119
Ich wollte es genauer wissen. „Eine Warnung? Vor wem? Vor Ihnen oder Herrn Drozd?“ Er hob den Kopf und entblößte seinen braunen Hals. Oldřich Ezechiáš sah für seine fünfunddreißig Jahre sehr jung aus. Ein lasterhaftes Leben ruiniert das Äußere eines Menschen offenbar weniger als anstrengende Arbeit. „Der ist ein Esel“, sagte er zu der Wespe, die vordem seine Freundin belästigt hatte. „Ein großes Baby – außerdem geistig zurückgeblieben. Ein völlig hoffnungsloser Fall. Ihm ist weder zu raten noch zu helfen.“ Er trat zu mir und hob die Hand, als wollte er mein zartes Gesichtchen streicheln. Ich spannte die Muskeln. Unvermutet trat er einen Schritt zurück, schürzte die Lippen, die Hankas so ähnelten, und warf mir einen Kuß zu. Ich hätte ihn für schwul gehalten, hätte nicht oben das schöne Fräulein auf ihn gewartet. In dem diffusen Licht, das an einem verhangenen Tag auf die Erde fällt, bevor es dunkelt, sieht das Krankenhaus wie ein Gefängnis aus. Kaum war ich vor der Einfahrt erschienen, hob der Pförtner die Schranke. Sie fiel mit einem trockenen Knacken hinter mir zu, einem Ton, wie ihn Schlüssel in Eisentüren von sich geben. Unlängst war eine Eisentür nicht verschlossen. Ich war in das bizarre Reich einer Modellwerkstatt eingedrungen und hatte einen toten alten Mann gefunden. Was wäre nun anders, wenn ich die Pforte im Zaun nicht entdeckt hätte und nicht hineingegangen wäre, anstatt draußen auf Hanka zu warten? Nichts. Ich wäre ebenso verdächtig. Es gab keine Chance für mich, nicht in den Mord verwickelt zu werden – seit ich mich der roten Villa genähert hatte. Und ich, König aller Narren, wie Karel Gott und Josef Kamínek sangen, war am nächsten Tag wieder hingefahren, um Tomáš Drozd zu begegnen und 120
mich mit Lukáš zu befreunden. Mir wurde übel von diesen Wenn und Hätte, das ich bei anderen stets abgelehnt hatte. Es führt zu nichts. Der Mensch muß sich mit dem Geschehenen abfinden. Zu der Zeit kannte ich noch nicht den Grund, weshalb ich mich von dem verhängnisvollen Haus hätte meilenweit fernhalten sollen. Ich fuhr auf der Betonstraße, die auf einer Seite von Rasen gesäumt wurde, auf der anderen standen vereinzelte Häuserblöcke, traurig und düster, wie es nur Kliniken sein können. Es brannte noch kein Licht, in den gardinenlosen Fenstern spiegelte sich der zinngraue Himmel. Jeden Augenblick konnte es regnen. Die im ganzen Parterre erleuchtete Chirurgische Klinik wirkte dagegen fast fröhlich. Sie lockte einen geradezu, sich dort etwas herausschneiden zu lassen. Etwas Überflüssiges – beispielsweise das Herz. Ich parkte mit zwei Rädern auf dem Gehsteig bei einer noch dunklen Straßenlampe und begab mich zur Tür, die ein gelbes Rechteck auf die Einfahrt für Krankenwagen warf. Ein dunkler Schatten tauchte auf, die Silhouette eines Weißbekittelten, der offenbar frische Luft atmen wollte. Es war eine Frau. Die dunklen Haare hingen strähnig herunter, die süßen, eigensinnigen Lippen waren fast blutleer. Ich entbot Frau Dr. Majerová einen guten Abend. Sie nickte abwesend und trat beiseite. Erst als ich stehenblieb, blickte sie mich an. „Guten Abend“, sagte sie. Es war keine freundliche Begrüßung. Das hielt mich nicht davon ab, sie schmeichelnd zu fragen: „Dürfte ich mit Josef sprechen?“ „Jetzt? Nein.“ „Warum nicht? Nur einen Moment.“ „Weil es schon spät ist“, entgegnete sie steif. „Und 121
weil ihm Ihr letzter Besuch nicht bekommen ist. Sie hätten ihm nicht von – den Sachen draußen erzählen sollen. Er braucht Ruhe.“ Ich setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. „Das ist schwierig. Josef würde sich noch im Sterbebett für die Baustelle interessieren. Sie können ihn nicht in Isolierhaft halten. Das schadet ihm weit mehr, als wenn Sie uns ein bißchen miteinander plaudern lassen.“ Sie hörte mir mit dem unpersönlichen geduldigen Ausdruck zu, den Mediziner speziell für Gespräche mit lästigen Laien einüben. In seiner Ausführung hatte sie außergewöhnliche Vollkommenheit erreicht. „Heute war schon Doktor Jireš bei ihm“, erklärte sie. „Sie haben sich einen halben Tag unterhalten. Ich bezweifle, daß Sie ihm noch etwas Neues bieten können.“ „Aber ich muß …“, begann ich zaghaft, doch sie unterbrach mich. „Bitte behalten Sie Ihre persönlichen Angelegenheiten vorläufig für sich. Begreifen Sie doch, daß Josef in einem sehr schlechten Zustand eingeliefert wurde. Jede Aufregung kann einen Rückschlag bewirken.“ „Warum sollte ihn aufregen, was ihn nicht betrifft?“ entgegnete ich unnachgiebig. „Er weiß, was passiert ist und denkt sicherlich darüber nach. Sie wissen das auch – er hat Ihnen doch davon erzählt, nicht wahr?“ Sie nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Ich gab ihr Feuer. Auf ihrem aufgekrempelten Ärmel war ein Fleck, auf der weißen Haut des Unterarms ein Blutspritzer. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. „Er nicht“, sagte sie endlich. Es dauerte eine Weile, bis ich den Sinn der kurzen Antwort begriffen hatte. „Wer dann? Leutnant Pavrovský?“ Sie blies den Rauch aus und schloß die Augen. „Sie sind nicht der einzige, der Josef besucht“, antwortete sie ausweichend. Sie erblickte den Blutspritzer auf ihrem 122
Arm, steckte die Zigarette in den Mund und rieb mit einem befeuchteten Finger den Fleck ab. Ihr Kinn sah dabei besonders eigensinnig aus. „Wer war hier? Bitte, lassen Sie mich mit ihm reden! Mir genügen fünf Minuten, ich verspreche es Ihnen …“ „Nein! Mich umstimmen zu wollen, ist sinnlos. Und bei den Schwestern brauchen Sie es nicht erst zu versuchen, ich habe angeordnet, daß niemand zu ihm darf.“ Sie hatte schlau meine Absicht erraten. Frau Doktor sah erschöpft aus, wie ein kleiner Vampir, dem ein Tropfen Blut reichen würde, übermenschliche Kräfte zu erlangen. Ich konnte mich nicht enthalten, ihr das zu sagen. Sie bleckte ihre kleinen Zähne. „Sie sind ein Vampir“, erwiderte sie. „Schämen Sie sich nicht, auf Kosten eines kranken Menschen aus dem Malheur zu kommen?“ „Was sagen Sie da? Ich will auf Josefs Kosten aus dem Malheur kommen? Was hat er damit zu tun – was wissen Sie darüber? Was versuchen Sie mir zu verheimlichen?“ „Nichts, was die Polizei interessieren könnte“, entgegnete sie. „Sind Sie sicher? Ich nicht. Ich muß das wissen – notfalls von Ihnen, wenn Sie mich nicht zu Josef lassen.“ „Ich werde mich hüten, intime Angelegenheiten anderer Leute breitzutreten. Kommen Sie am Mittwoch, da ist Besuchstag. Fragen Sie Josef selber.“ „Aber ich kann nicht bis Mittwoch warten!“ Sie zuckte die Schultern. „Dann fragen Sie doch …“ „Wen?“ Ich bohrte meine Augen in ihr Gesicht. „Warum sind Sie so unzugänglich?“ Zum erstenmal zeigte sie eine weibliche Schwäche, als sie erwiderte: „Zum Glück sind nicht alle Frauen so.“ Sie lächelte giftig, warf die angerauchte Zigarette weg und ging. Weitere Unglückliche warteten wahrscheinlich darauf, daß sie ihnen mit Wollust ein Skalpell in den 123
Leib stach. Vielleicht war sie zu ihren Patienten barmherziger als zu mir und gewährte ihnen wenigstens eine Narkose. Ich schlich um die Chirurgische Klinik wie der Großvater im Märchen, der den kleinen Budulínek aus der Fuchshöhle locken will. Leider hatte ich keine Geige, und die Füchsin war zu gerissen. Mein Bürschlein würde wohl süß schlummern, eingeschläfert mit einem zuverlässigen Mittel, das Ärzte immer bei der Hand haben. Aber warum, zum Teufel? Blinde Wut brachte mich um den Rest Vernunft, der mir geblieben war. Was hatte die letzte boshafte Bemerkung zu bedeuten? Ich kannte keine zugänglichen Frauen, mit Ausnahme von Ramóna. Doch – ich kannte eine Frau, die sich mir gegenüber in den letzten Tagen nicht gerade unzugänglich gezeigt hatte. Meinte Frau Dr. Majerová sie? Und wenn ja, konnte sie das nicht von ihr wissen. Ich gab auf. Vergebliches Warten, unersprießliche Gedanken, müßige Hoffnungen. Ein letztes Mal blieb ich vor dem Eingang stehen, als gerade ein Krankenwagen ankam. Zwei Pfleger zogen schnell eine Bahre heraus und verschwanden mit ihr im Haus. Ich sah das gelbe Gesicht einer alten Frau, fing einen erschrockenen, verständnislosen Blick auf. Der Kopf guckte aus einem flachen Deckbett hervor, so flach, als verberge sich darunter kein Körper. Das erinnerte mich an Lukáš’ Großmutter. Hatte Leutnant Pavrovský sie schon gefunden? Die Straßenlampe erstrahlte in weißem Licht. Aus dem Schatten meines Wagens trat eine kleine, stämmige Gestalt und blieb mir gegenüber stehen. In dem Neonlicht war Drozds Gesicht bläulich, die Augen versanken in violetten Mulden. Ich blieb ebenfalls stehen, ein paar Schritte von ihm entfernt, und schielte argwöhnisch zu meinem Wagen 124
hin. Er schien unbeschädigt zu sein. Sicherheitshalber griff ich in die Tasche nach den Schlüsseln. Er sprach mich an: „Was machen Sie hier?“ Seine Stimme raschelte wie trockene Zwiebelschalen. „Was geht Sie das an?“ entgegnete ich. Ich ging zum Wagen, Drozd kam näher. Die Schlüssel behielt ich in der Faust. Sie waren klein und leicht, trotzdem würde mein Schlag härter sein. Drozd machte keine drohende Geste. Er heftete seine eingefallenen Augen auf mich, forschend, als könnte er sich nicht zu einer Frage aufraffen, die für ihn lebenswichtig war. „Haben Sie mit Kamínek gesprochen?“ fragte er schließlich. „Nein.“ Ich steckte die Schlüssel wieder in die Tasche. „Wollen Sie zu ihm? Es ist zwecklos, man läßt Sie nicht ’rein.“ „Ich weiß.“ So war das also. „Waren Sie etwa bei Frau Doktor Majerová?“ „Ja.“ Etwas in seiner Stimme machte mich stutzig. „Sie kennen sich?“ Er nickte und lächelte. Es war das erste Lächeln, das ich in diesem düstern Gesicht sah, doch es war ein trauriges Lächeln. „Sind Sie bei ihr in Behandlung?“ fragte ich ohne Umschweife. „Nein, sie ist doch Chirurgin.“ Dieser Choleriker antwortete auf meine Fragen bereitwillig, fast zuvorkommend. Ich konnte das ausnutzen, wenn ich nur gewußt hätte, was ich ihn fragen sollte. Da fiel es mir plötzlich ein. „Sie haben ein gemeinsames Interesse. Ihr geht es um Josef, und Ihnen um Ihre Frau. Und die beiden sind …“ Ich verstummte fragend. 125
„Das ist schon lange her“, sagte er ruhig. „Außerdem war das eine einseitige Sache.“ Er sprach wie ein wohlerzogenes Kind. Das paßte mir nicht. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er gespuckt und geschrien hätte. Darauf war ich vorbereitet – und so hätte ich mehr erfahren. „Was Sie nicht sagen!“ Ich grinste ihn hämisch an, in der Hoffnung, ihn zu provozieren. „Was machen Sie eigentlich hier? Wollten Sie Josef auch die Fresse zerschlagen?“ Er sagte leise: „Das tut mir leid. Ich entschuldige mich bei Ihnen – wenn Ihnen das etwas bedeutet.“ Die Wirkung dieser Worte war größer, als hätte er mich mit einem Vorschlaghammer auf den Schädel gehauen. Ich versuchte, meine Verblüffung hinter kläglichem Sarkasmus zu verstecken. „Ihr Bedauern ehrt Sie, wenn es auch spät kommt. Meinen Reifen hilft es freilich nicht mehr.“ Er riß die Augen auf wie ein Geisteskranker. „Wem?“ „Meinen neuen Autoreifen“, erläuterte ich ihm. „Sie sind völlig zerstochen und eignen sich nur noch zum Verbrennen. Schade, daß mir das nicht eingefallen ist, als ich zu meinem Auto gekrochen bin. So hätte ich mit Rauchsignalen Hilfe herbeirufen können.“ Er hörte meinem Geschwätz zu wie ein gelehriger Schimpanse, der jedes Wort seines Wärters auffängt. Ein Schimpanse hätte jedoch mehr Reaktionen gezeigt. „Ich ersetze Ihnen die Reifen“, sagte er nachdenklich. „Nächste Woche – nach der Gehaltszahlung.“ Ich schnappte nach Luft. Auch wenn es dazu keinen Grund gab, kam ich mir so schändlich vor, als hätte ich einen Blinden bestohlen. Drozd wandte sich zum Gehen. „Warten Sie“, rief ich ihm nach. „Wohin wollen Sie – nach Hause? Ich bringe Sie – oder haben Sie hier einen Wagen?“ „Nein, ich kann nicht fahren.“ 126
Mit schweren, aber sicheren Schritten ging er auf der Betonstraße, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich überlegte, ob er getrunken hatte. Alkohol kann zuweilen äußerst seltsame Wirkungen haben, besonders bei einem Menschen, der an einer solchen Krankheit leidet. Das hätte sein Verhalten erklärt. Er schien jedoch nicht unter Drogen oder Alkohol zu stehen. Ich ließ meine Betrachtungen sein, wendete den Wagen und fuhr los. Herrn Drozd holte ich nicht ein. Er war wohl auf einen Seitenweg ausgewichen. Bald würde er umkehren, im Gelände herumlungern und in die Fenster der Chirurgischen Klinik schauen. Warum? Ich wußte es nicht Oder er würde die stillen, verlassenen Wege entlangwandern und nachdenken. Worüber? Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte nur das beunruhigende Gefühl, daß dieser Choleriker mit dem Äußern eines Menschenaffen, dieser Stiesel mit Hochschulbildung, dieser widerliche Ehemann einer leidgeprüften Frau vielleicht gar kein so schlechter Kerl war. Auf meinem Parkplatz stand ein grauer Shiguli. Er sah ganz zivil aus, aber ein Blick auf das Nummernschild genügte, und ich wußte, daß der Besuch mir galt. Ich hielt dicht hinter dem Polizeiauto und ging zu dem grünen Häuschen, dem freundlich leuchtenden Fenster in meiner Hälfte. Es waren zwei: Ein magerer junger Bursche, der erfolglos versuchte, mit der Oberlippe seine Pferdezähne zu bedecken, und ein feister Fünfzigjähriger mit einer Glatze, die wie ein Kupferkessel glänzte. Der Spacke stand vor dem Häuschen und betrachtete den Bauplatz, als gehöre er zur Abnahmekommission. Der Glatzkopf fummelte an der morschen Treppe herum. Als ich genauer hinsah, merkte ich, daß alle Bretter abgerissen und wieder ordnungsgemäß festgenagelt worden waren. 127
Ich blieb wortlos stehen und wartete, bis sie mir erklären würden, was sie hier suchten. Der dürre Gaul musterte mich und schielte zum Parkplatz hin, als wollte er sich vergewissern, daß ich nicht ihren Shiguli zerkratzt habe. Viel sah er nicht, weil es beinahe dunkel war. „Sie sind Herr Martin“, sagte er mit einer Stimme, die Pedanterie verriet. „Ja“, antwortete ich, nichts weiter. Es war sonnenklar, was die beiden taten. Mir kam es dumm vor, sie danach zu fragen und gegen ihr Tun zu protestieren. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, ich hatte genug. Ich wollte mich hinlegen und schlafen. Das war mir nicht vergönnt. Der Junge stellte sich als Unterleutnant Gust vor und wies sich aus, bevor er mich aufforderte: „Geben Sie mir bitte Ihre Wagenschlüssel. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl.“ Er griff in die Tasche. „Nicht nötig“, sagte ich müde und gab ihm die Schlüssel. Er nahm sie mit zwei Fingern, reichte sie jedoch sofort seinem Kollegen weiter. Die beiden gingen ein Stück beiseite, wobei sie sich leise unterhielten. Ich verspürte Appetit auf Nikotin. Die Zigaretten lagen im Wagen. Also ging ich den flüsternden Kriminalisten hinterher. „Einen Augenblick“, sagte der Dürre. Er eilte zum Haus, schaltete das Licht aus und schloß zu. An dem Zettelchen, das am Schlüsselbund hing, erkannte ich die Reserveschlüssel, die sich gewöhnlich in Ramónas Schreibtisch befanden. Die beiden waren keine Stümper mit einem Dietrich. Sie arbeiteten methodisch und wußten, was sie wollten. Ich wußte es nicht. Mir war auch völlig gleich, warum sie die Durchsuchung wiederholten, die Leutnant Pavrovský schon vor drei Tagen vorgenommen hatte. Hätte ich es gewußt, wäre ich vielleicht geflohen und hätte mit ihnen Verstecken gespielt, denn ich kannte die Baustelle 128
weitaus besser als sie. Plötzlich fiel mir ein, es wäre vielleicht das Beste, einfach fortzugehen. Niemand hatte mir befohlen, mich nicht zu entfernen. Dazu war es schon zu spät. Unterleutnant Gust steckte die Schlüssel in die Tasche und trat zu mir. „Kommen Sie!“ „Wohin?“ „Ich habe Befehl, Sie zum Verhör zu führen.“ Mit einer Geste wiederholte er die Aufforderung. Ich gehorchte. Leutnant Pavrovský sah nicht so geschniegelt aus, wie ich ihn beim letztenmal gesehen hatte. Er trug keine Krawatte, das Hemd war offen, ich glaubte sogar, einen dreckigen Kragen wahrzunehmen. Mehr als früher wirkte er wie ein berufsmäßiger Glücksspieler um fünf Uhr morgens. Weil er wirklich ein Profi war, gab er nicht zu erkennen, ob er eine Lusche oder ein As in der Hand hielt. „Setzen Sie sich“, sagte er heiser. Er goß sich abgestanden wirkendes Mineralwasser ein und trank. Ich setzte mich auf den Stuhl, der ihm gegenüber bereitstand. Es war ein winziges Büro, nicht gerade angemessen für den Chef einer Mordkommission. Ein paar Büromöbel waren lieblos hingestellt worden, ohne Sinn für Harmonie und Raumausnutzung. Auf dem Schreibtisch lag Staub. Der Leutnant schien seinen Stuhl nicht sehr häufig anzuwärmen. „Sie brauchen nicht Ihre Büttel nach mir zu schicken“, sagte ich. „Ich wäre von allein gekommen, wenn Sie mir das heute morgen gesagt hätten.“ „Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen Prag nicht verlassen. Das haben Sie nicht befolgt.“ „Nein“, gab ich zu. „Übrigens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß mich Ihre Hilfssheriffs selbst mit Gewalt nicht hätten herbringen können, wenn ich nicht freiwillig mitgekommen wäre. Sie sahen nicht danach aus, als würden sie mich auf dem Bauplatz jagen. Der 129
eine ist ein schwächlicher Hänfling und der andere ein Tattergreis.“ „Unterleutnant Gust ist Meister des Sports im modernen Fünfkampf. Er wäre allein mit Ihnen fertiggeworden. Oberwachtmeister Říha ist Kriminaltechniker und hat nichts mit Ihnen zu tun.“ „Wirklich?“ erwiderte ich spöttisch. „Daß Sie so qualifizierte Männer für unnütze Arbeit einsetzen! Warum lassen Sie Ihre Leute nicht lieber Frau Malásková suchen?“ Er antwortete gelassen: „Frau Malásková haben wir schon gefunden.“ „Das freut mich“, sagte ich, „besonders für den Enkel. Ich dachte schon, Oberwachtmeister Říha würde unter meiner Treppe ihre Leiche suchen.“ „Das war nicht nötig, die Leiche von Frau Malásková wurde heute nachmittag gefunden.“ Mir wurde schwarz vor den Augen. Ich stützte mich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. „Wo?“ hauchte ich. „In Borovec. In der Sumpfwiese bei der Villa der Familie Drozd. Die Leiche war mit Wasserpflanzen bedeckt, und nach dem Regen steht das Wasser dort ziemlich hoch …“ Ich erinnerte mich an den bellenden Hund, vor dem Lukáš Angst gehabt hatte. Diesmal wurde mir wirklich übel. Ein Stuhl wurde gerückt und eine Stimme sagte: „Hier, trinken Sie!“ Ich hob die Augen, der graue Fleck nahm die Gestalt von Leutnant Pavrovský an. Er reichte mir ein Glas lauwarmes Mineralwasser. „Lukáš hat gesagt, der Hund bellt“, sagte ich matt. „Nächtelang, seit …“ Ich stockte, das Glas fiel mir beinahe aus der Hand. „Ja?“ fragte der Leutnant lauernd. „Seit wann?“ „Seit der Nacht, die ich bei Lukáš geschlafen habe.“ „Das paßt“, sagte Leutnant Pavrovský zufrieden. „Am 130
Donnerstag nachmittag ist sie aus der Heilanstalt weggefahren. In Brandýs war sie um neunzehn Uhr vierzig, der nächste Bus fuhr erst um drei Viertel neun. Sie ist aber nicht zu Hause angekommen.“ „Beim zweitenmal war ich nach halb neun bei Lukáš“, überlegte ich unwillkürlich laut, als ich mich angestrengt bemühte, den Abend zu rekonstruieren. „Der Bus fährt dort vorbei, von Brandýs aus braucht er höchstens eine Viertelstunde … Ich habe ihn nicht gehört. Vielleicht war ich gerade im Bad … Hören Sie, das ist Unsinn! Auf solchen ländlichen Buslinien hält der Fahrer gewöhnlich direkt vor dem Haus, wenn jemand aussteigen will. Was konnte ihr geschehen, bevor sie die Straße überquert hatte?“ „Sie ist gar nicht in den Bus eingestiegen“, sagte der Leutnant nachsichtig. „Nein? Wie ist sie dann bis zu der Villa gekommen? Zu Fuß aus Brandýs – eine sechzigjährige Frau?“ „Warum zu Fuß? Jemand hat sie mit dem Auto mitgenommen.“ „Jemand – wer?“ „Jemand, der sie in Brandýs angesprochen hat, als sie auf den Bus wartete, und der ihr anbot, sie heimzubringen“, erklärte mir Leutnant Pavrovský mit betonter Freundlichkeit und Geduld. Endlich ging mir auf, worauf er hinauswollte. „Meinen Sie – ich?“ „Ich meine gar nichts“, antwortete er mit teuflischem Lächeln. „Ich versuche festzustellen, was geschehen ist.“ „Aber ich war zu der Zeit schon in Borovec!“ „Wirklich?“ „Und außerdem kannte sie mich nicht. Würde sie mit einem wildfremden Mann mitfahren?“ „Wenn er ihr sagt, daß er den Nachmittag mit ihrem Enkel verbracht hat, schon.“ Er hatte alles durchdacht. Das war zu unglaublich. Mein Gehirn arbeitete 131
schwerfällig, trotzdem fiel mir die richtige Erwiderung ein. „Ich kannte sie doch gar nicht! Wie sollte ich sie erkennen, wenn ich sie nie gesehen hatte?“ „Sie haben sie gesehen. Auf dem Foto im Wohnzimmer.“ Ich stellte das Glas auf den Tisch. „Dort war ich erst abends. Nachmittags habe ich mit Lukáš nur auf der Veranda gesessen.“ „Das sagen Sie.“ „Ich – und Lukáš. Fragen Sie ihn! Mein Gott – was wollen Sie mir anhängen? Daß ich sie nach Borovec gebracht und im Morast ertränkt habe, und dann ruhig zu ihrem Enkel gefahren bin …“ Das Blut stieg mir in den Kopf, vor meinen Augen verschwamm alles. Ich winkte ab. „Niemand hat sie ertränkt“, sagte Leutnant Pavrovský ruhig. „Sie wurde erschossen. Mit derselben Waffe wie Ezechiáš und auf die gleiche Weise. Von nahem in den Kopf.“ „Aber – das ist doch …“ Ich konnte mich nur mühsam aufrecht halten. „Haben Sie die Pistole gefunden? In dem Sumpf?“ „Eben nicht. Vorläufig suchen wir sie noch.“ „Wo – bei mir?“ fragte ich mit krampfhaftem Lachen. „Ich bitte Sie, warum? Weil ich in dieser Nacht zufälligerweise in Borovec war? Dort war auch Herr Drozd.“ „Nicht nur deshalb. In dem Versteck unter der Treppe war eine Pistole. Am Freitagmorgen habe ich sie nicht mehr gefunden, aber an der Erde, die ich mitgenommen habe, hat man das im Labor einwandfrei festgestellt.“ In meinem Hirn knackte ein Schalter, von dem ich bisher nichts gewußt hatte. Ich sackte zusammen. „Was also – was nun?“ Ratlos starrte ich den Leutnant an. „Nichts. Die Waffe haben Sie natürlich nicht?“ „Nein.“ „Sie wissen auch nicht, wo sie jetzt ist?“ 132
„Nein. Höchstens …“ „Was?“ „Nichts.“ Ich schloß die Augen. „Erst muß ich meine Gedanken ordnen. Von alldem bin ich völlig betäubt.“ „Und danach teilen Sie mir Ihre Schlußfolgerungen mit? Gestatten Sie, daß ich sie selber ziehe?“ „Ich habe nichts zu sagen“, seufzte ich verzweifelt. „Ich weiß nichts.“ „Vielleicht erinnern Sie sich bis morgen früh“, bot er mir an. „Vielleicht“, stimmte ich erleichtert zu und erhob mich. „Wohin wollen Sie? Es ist Nacht, völlig dunkel. Sie sind müde …“ Er förderte ein Blatt Papier aus der Schublade zutage. „Sie – verhaften mich?“ fragte ich ungläubig. „Wie bitte? Nein. Sie schlafen sich aus, und morgen unterhalten wir uns weiter. Das heißt vorläufige Festnahme. Bitte – hier ist die Zustimmung des Staatsanwalts.“ Er reichte mir den Zettel. Ich nahm ihn nicht. „Denken Sie wirklich, ich hätte die beiden ermordet?“ fragte ich leise. „Warum? Sagen Sie mir einen einzigen triftigen Grund, und dann glaube ich vielleicht selber, daß ich ein Mörder bin.“ „Wenn ich den Grund wüßte, würde ich anders mit Ihnen reden. Vorläufig sind Sie ein wichtiger Zeuge, dem möglicherweise selber nicht bewußt ist, was er weiß. Sie laufen zu den Leuten und stiften Verwirrung. Sie stören die Ermittlungen. Dabei kann Ihnen noch etwas zustoßen.“ Er stand auf, öffnete die Tür und nickte dem Polizisten auf dem Gang zu. Hilflose Wut wegen der Demütigung? Angst vor dem, was kommen würde? Verworrene Gedanken, Klaustrophobie? Gefühle, von tiefer Hoffnungslosigkeit bis zu Visionen der Vergeltung für das an mir verübte Un133
recht? Nichts dergleichen. Das einzige alles überlagernde Gefühl war rein physisch. Ein starker Schmerz im Rücken, durch den mich meine zweimal angebrochene Wirbelsäule daran erinnerte, daß ich mich schonen, nicht Auto fahren und auf einer harten Unterlage schlafen sollte. Das letztere konnte ich dank der Fürsorge von Leutnant Pavrovský unverzüglich tun. Aber ich vermochte nicht einzuschlafen, obwohl ich todmüde war. Noch ein solcher Tag, und mein Körper würde mir seinen Dienst aufkündigen. Wo war meine Kondition geblieben, die ich in zwanzig Jahren Soldatenleben erworben hatte? Ich hatte mich vor dem Leutnant aufgebläht. Sein Meister des Sports, der wie ein schwindsüchtiges Schneiderlein aussah, hätte mich bloß mit dem kleinen Finger anzutippen brauchen, und ich wäre umgekippt. Der dicke alte Oberwachtmeister hätte mich einfach umblasen können. In den Händen von Herrn Drozd wäre ich nicht stärker als gesprungenes Glas, von seinem Schwager, der seine manikürten Finger nicht nur mit Ringen schmückte, gar nicht erst zu reden. Aber alle waren freundlich zu mir gewesen. Alle – auch der Leutnant. Hatte er nicht mehrmals bemerkt, daß ich des Schutzes bedürfe? In meiner ermatteten Kämpferseele meldete sich ein zaghaftes Stimmchen, das ihm beipflichtete. Ich konnte stolz sein, daß es sich erst jetzt äußerte. Mein Freund Honza Sehnal hatte einmal eine tiefsinnige Bemerkung gemacht. Wir kamen gerade aus dem Kino, wo wir einen Kriegsfilm gesehen hatten. „Damals war das Ideal der tschechischen Mädchen ein Mann mit einer Maschinenpistole“, sagte Honza. „Jetzt ist es eine automatische Waschmaschine mit zwölf Programmen und ein Mann, dem ein Programm für das ganze Leben genügt.“ Entspräche ich diesem zeitgenössischen Ideal, hätte ich mich schon vor vier Tagen unter die schützenden 134
Fittiche von Leutnant Pavrovský geflüchtet. Was bin ich eigentlich? Ein Held sicher nicht. Weder ein Zivilist noch ein Soldat. Ich habe einen Namen, bei dem jeder fragt, ob es der Vor- oder Familienname sei. Was hast du für ein Programm, Petr Martin? Schon einmal hast du es komplett auswechseln müssen. Wohin gehst du, wenn sie dich hier herauslassen? Wohin gehst du einmal, wenn sich dein nichtiges Leben dem Ende zuneigt, so wie Luiz Ezechiáš nach über dreißig Jahren heimgekehrt ist? Was drängt diese Männer dazu, wie alte Störche über das Meer an den Ort zu ziehen, wo sie geboren wurden? Ist das nur ein Instinkt wie bei den Vögeln? Sie finden ihre Nester nicht wieder. Die Welt, die sie hier antreffen, ist ihnen nach den vielen Jahren völlig fremd. Werden sie angenommen oder abgewiesen? Das Zusammenleben mit einer alten, aber noch rüstigen Frau kann ein erwünschter Ausweg sein. Was ist das für eine Frau gewesen, die Gattin des einen und Braut des anderen alten Rückkehrers, die Mutter einer Tochter, die sich auf zwei Kontinenten herumtreibt, und die Großmutter eines überflüssigen kleinen Weltbürgers? Die Tochter ist ihr nicht geraten. Die Frau hat sich des Enkels angenommen, und sie hat nicht schlecht für ihn gesorgt. Vielleicht gerade deshalb, weil sie ihm das geben wollte, was ihm seine Mutter vorenthält. Er ist ein feiner Junge, in vielem besser als gleichaltrige Schoßkinder, aber etwas fehlt ihm. Vielleicht die Sicherheit, daß er irgendwohin gehört, eine feste Bindung an etwas und jemanden. Wie gleichgültig er über den Tod der beiden alten Männer gesprochen hat, von denen der eine erst im Sterben liegt. Was wird aus dem Jungen? Das quälte mich weit mehr als die Frage, was aus mir würde. Den Rest der Nacht und den halben nächsten Tag 135
geschah nichts. Ich wachte völlig zerschlagen auf, in meinem Kopf herrschte eine Ordnung wie in einem unaufgeräumten Schubfach. Da half nur eins, alles ausschütten, mustern und den wertlosen Kram wegwerfen. Mittags hatte ich das Gefühl, selber in einem solchen Schubfach zu stecken. Ein kaputtes Spielzeug, das der gestreßte Herr Leutnant aufgehoben hatte, weil es zu schade zum Fortwerfen war, und das er dann vergessen hatte. Er hatte mich nicht vergessen. Um halb zwei stellte sich Unterleutnant Gust ein, um mich aus der Bewahranstalt abzuholen und meinem rechtmäßigen Besitzer zuzuführen. Gust gebärdete sich undurchdringlich und spulte steif seine amtlichen Floskeln ab. Unterwegs schwiegen wir, ich ergeben, der Fünfkampfmeister unheilvoll. Seine vorstehenden Schneidezähne glänzten wie ein kleines festes Stahlschloß. Leutnant Pavrovský empfing mich mit grauem Gesicht und nervös zuckendem Schnurrbart. Auf dem Schreibtisch lag derselbe Staub, aber man hatte eine neue Flasche Karlsbader Mühlbrunnen hingestellt. „Setzen Sie sich“, forderte er mich auf. „Wie haben Sie geschlafen?“ „Danke, gut“, antwortete ich artig. „Haben Sie mich holen lassen, um mich das zu fragen?“ Der Schnurrbart vollführte eine Freiübung, wobei der Leutnant mit keiner Wimper zuckte. „Nein.“ „Das freut mich.“ Mit meiner Mimik bekräftigte ich die Freude. „Warum darf also meine sympathische Gestalt Ihr Auge ergötzen?“ Etwas im Verhalten des Leutnants provozierte mich zu der unangebrachten Witzelei. Es war Galgenhumor, Pavrovský ließ sich das merkwürdigerweise gefallen. „Ihre Festnahme ist nicht unbemerkt geblieben“, sagte er. „Heute morgen hat Doktor Sekyrka den Staatsanwalt aufgesucht.“ 136
Ich muß ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, als ich fragte: „Wer?“ „Doktor Sekyrka von der Anwaltskammer.“ „Warum sagen Sie mir das? Ich kenne den Herrn nicht.“ „Sie kennen sicher Doktor Jireš, der auf dem Gang wartete, als Doktor Sekyrka mit dem Staatsanwalt sprach. Vielleicht wissen Sie, daß ein Angeklagter – oder Beschuldigter – in einer Strafsache nur von einem Juristen der Anwaltskammer vertreten werden darf. Und das ist Doktor Jireš nicht.“ „Jireš kenne ich natürlich“, sagte ich bedächtig. Meine Gedanken schwirrten durcheinander wie schwärmende Bienen. Jireš – Josef – Frau Dr. Majerová und Drozd … „Ich weiß wirklich nicht, warum er es für notwendig gehalten hat, mir einen Anwalt zu besorgen. Doktor Jireš ist ein nüchtern denkender Mensch, es ist nicht seine Gewohnheit, sich dort zu kratzen, wo es ihn nicht juckt. Er hat wohl seine Erfahrungen, daß sich so etwas nicht auszahlt.“ Vielleicht tat ich Jireš mit dieser Bemerkung unrecht. Der Leutnant nickte. „Er hat auch Grund, sich Herrn Kamínek verpflichtet zu fühlen. Und der kümmert sich um Ihre Person wie um seinen eigenen Bruder, Gott weiß warum.“ „Gott weiß warum?“ erwiderte ich gereizt. „Seinetwegen bin ich in die Sache hineingeraten. Als er merkte, daß sich alles gegen mich wendet, da …“ Ich stockte. „Kamínek ist doch im Krankenhaus. Wer hat ihm gesagt, daß ich …“ „Nicht mehr“, unterbrach mich der Leutnant. „Er ist aus dem Krankenhaus ausgerückt – auf eigene Verantwortung.“ Pavrovský ließ mir zum Glück einen Moment Zeit, diese überraschende Information zu verdauen, denn es folgte ein harter Brocken. „Man hat ihn schon gestern entlassen.“ 137
Frau Dr. Majerová hatte den Eingang zum Krankenhaus beinahe mit einem Skalpell in der Hand bewacht. Das kleine Biest! Sie wollte nicht, daß ich Josef zu Hause aufsuchte. Lag ihr nur daran, ihm wenigstens eine ruhige Nacht zu sichern, oder hatte sie dafür andere Gründe? Ich erinnerte mich an ihre bissige Bemerkung. War es Eifersucht auf eine jüngere und anziehendere Frau? „Was wollte Doktor Sekyrka beim Staatsanwalt?“ fragte ich endlich. „Daß man Sie freiläßt, was sonst?“ Aus diesem Satz las ich heraus, daß mein offenbar polizeilich unerwünschter Rechtsanwalt gerade das Gegenteil erreicht hatte. „Ist meine Festnahme etwa ungesetzlich?“ fragte ich trotzdem mit keimender Hoffnung. „Überhaupt nicht“, antwortete er zurechtweisend. „Es ging um etwas anderes. Doktor Sekyrka hat dem Staatsanwalt gewisse interessante Tatsachen mitgeteilt, die von Ihrem Freund Kamínek stammen.“ Meine Hoffnung wuchs und setzte Knospen an. „Und auf der Grundlage dieser neuen Tatsachen lassen Sie mich frei?“ „Nein.“ Die Hoffnung welkte, ich sackte auf meinem Stuhl zusammen. Aber der Leutnant fuhr fort: „Ich lasse Sie frei, weil …“ Seine grauen Augen bohrten sich in mein Gesicht, als wollten sie dort Löcher für Sprengladungen anbringen. „Weil Herr Drozd heute nacht gestorben ist.“ Das war die Zündung. Die ganze Welt flog in die Luft und zerstob zu Scherben. „Das ist nicht möglich … Wie ist er gestorben?“ „Vergiftung mit Auspuffgasen. Man hat ihn heute früh in der Garage in Borovec gefunden.“ „Ist es – Selbstmord?“ „Alles scheint darauf hinzuweisen. Er ist allein spätabends hingefahren und hat den Wagen in die Garage 138
gebracht. Als man den Toten fand, lag er auf dem Boden mit dem Kopf am Auspuff. Der Motor lief nicht mehr, das Benzin war alle. Aber es hatte gereicht, um ihn zu töten.“ „Halten Sie das für ein Geständnis?“ fragte ich den Leutnant mit schwacher Stimme. Er antwortete nur indirekt. „Drozd hätte sich selber retten können – wenn er das gewollt und dazu die Kraft gehabt hätte. Die Garage war nicht abgeschlossen.“ Eine Scherbe, so groß wie eine Fensterscheibe, fiel klirrend zu Boden. Eine Scheibe, die mit weißer Farbe bemalt war, wie das in Krankenhäusern zu sein pflegt. Ich blickte hindurch, sah aber nichts als Dunkelheit. Das Licht, das den Raum erhellte, mußte ich erst finden. Ich hatte das Gefühl, als blinke schon irgendwo ein Fünkchen. „Und seine Frau?“ fragte ich. „Haben Sie mit ihr gesprochen?“ „Natürlich. Das hat sie offenbar tiefer getroffen, als zu erwarten war, wenn man bedenkt, wie die Ehe aussah. Aber sie trägt das tapfer. Im Gegensatz zu ihr ist sein Schwager völlig zusammengebrochen.“ „Wer – der junge Ezechiáš?“ „Ja. Er hat einen hysterischen Anfall bekommen, wie ich es noch nie gesehen habe – bei einem Mann. Vorläufig konnten wir ihn nicht vernehmen. Wenn es unser Arzt nicht bestätigt hätte, würde ich glauben, er simuliert.“ Der Leutnant erhob sich zum Zeichen, daß die Zeit unvermuteter Mitteilsamkeit abgelaufen war. „Sie können nach Hause gehen“, verkündete er mir. „Die Formalitäten erledigt Unterleutnant Gust. Und passen Sie auf, daß Sie nicht wieder in etwas hineingezogen werden.“ „Ist denn der Fall schon abgeschlossen?“ Ich blickte den Leutnant mit weit aufgerissenen Augen an, was ich unlängst bei einem Mädchen abgeguckt hatte. Es wirkte nicht. Er schwieg eine Weile, ehe er sagte: „Sie lesen bestimmt Kriminalromane, nicht wahr?“ 139
„Ja“, bekannte ich. Unlängst hatte ich einen Riesenstapel durchgeschmökert. Schwester Lýdia besaß unerschöpfliche Vorräte an dieser verdammenswerten Lektüre. „In einem guten Krimi geht es immer um eines“, belehrte er mich mit traurigem Lächeln. „Worum denn?“ fragte ich blöd. „Cui bono?“ antwortete er. „Können Sie Latein?“ Was cui bono bedeutet, wußte ich auch ohne Lateinkenntnisse. Von Leutnant Pavrovský erfuhr ich nichts mehr, sein Gesicht war unleserlich wie eine hundert Jahre alte Gerichtsakte. Die Villa der Familie Ezechiáš sah nicht aus wie ein Trauerhaus. Auf dem Hof flatterte Wäsche fröhlich im Wind. Ich erkannte Hankas Jeans und die Bluse, die sie trug, als wir uns das erste Mal begegneten. Die Wäsche hing wohl schon seit dem Morgen dort, sie war völlig trocken. Unter der Leine saß Lukáš, ins Spiel vertieft. Er stützte sich mit einem Ellbogen auf den rauhen Beton, die Haare hingen ihm in die Stirn, und die vorgestülpten Lippen gaben an- und abschwellende Summtöne von sich. Erst am Tage zuvor hatte ich den Jungen hergebracht. Er schien sich heimisch zu fühlen. Es kam mir strafwürdig vor, ihn durch meine Anwesenheit an die unschönen Erlebnisse zu erinnern, die er vielleicht schon vergessen hatte. Da wurde mir mit Schrecken bewußt, was inzwischen geschehen war. Frau Malásková war tot, der Junge wirkte zu sorglos, als daß er es wußte. Ich würde es ihm bestimmt nicht sagen. Ich stieß ans Tor, die Kette klirrte, Lukáš sprang auf und lief mir entgegen. „Das ist prima, daß Sie gekommen sind!“ Eifrig fummelte er an der Kette herum, die das Tor zusammenhielt. 140
„Ist Hanka zu Hause?“ fragte ich in der Hoffnung, möglichst bald aus der heiklen Lage befreit zu sein. „Sie kommen zu ihr?“ Er blinzelte mich durch die Haarsträhnen an, in seinen blauen Augen blitzte Eifersucht auf. „Nein“, beteuerte ich gegen meinen Willen. „Ich wollte sehen, wie es dir geht. Langweilst du dich nicht?“ „Ach wo!“ Endlich gelang es ihm, das Tor zu öffnen. Er gab mir den Weg frei und zeigte strahlend auf den Hof. „Sehen Sie mal, was ich habe!“ Auf dem grauen Beton leuchteten drei kleine Autos. Zwei waren Rennwagen, ich wußte genau, daß ich einen davon in Borovec in die Hand genommen hatte. „Das ist fein, daß du die Modelle bekommen hast.“ Ich überlegte nicht, was ich daherredete. „Wer hat sie dir gegeben?“ „Hanka“, antwortete er begeistert, die Augen auf das kostbare Spielzeug gerichtet. „Ich hätte lieber andere genommen, aber das ist egal. Sie hat mir versprochen, daß ich noch mehr kriege.“ In meinem Kopf summte wieder der Bienenschwarm. Ein besonders angriffslustiges Tier stach mich. „Wo ist Hanka?“ „Weggegangen“, sagte er unbekümmert. „Du bist allein hier?“ „Nein, Frau Ezechiášová und Olda sind oben. Olda liegt im Bett, und seine Mutter pflegt ihn.“ „Was hat er denn?“ „Angst“, sagte Lukáš schadenfroh. „Er hat schreckliche Angst.“ „Wovor?“ Ich setzte mich auf eine Holzbank, die jemand vor die Garage gezerrt hatte. Als ich mich anlehnte, ging ein Torflügel auf. Ich blickte hinein, die Garage war leer, lediglich ein Moped stand an der Wand. Beim Gedanken an die tragische Rolle, die der Trabant in der Nacht gespielt hatte, erschauerte ich. 141
„Olda hat Angst vor Onkel Luiz“, flüsterte Lukáš mit gruseliger Stimme. „Onkel Luiz spukt, er erscheint Olda im Traum.“ „Wie kommst du darauf?“ Mich fröstelte, aus der Garage zog es. „Ich habe ihn heute nacht schreien hören. Olda hat das Zimmer neben Hanka.“ „Was hast du gehört? Warum glaubst du, daß Olda im Schlaf geschrien hat?“ „Weil er mit Onkel Luiz gesprochen hat. Er hat gesagt: ‚Du kriegst den Brief nicht. Den werde ich vernichten. Ich hätte ihn nie nehmen sollen, ich will ihn nicht haben, er bringt mich noch soweit wie dich.‘ “ Lukáš sah mich mit klaren Augen an, offenbar hatte er wörtlich wiedergegeben, was er gehört hatte. Ich fühlte kalten Schweiß im Nacken. „Was für einen Brief?“ fragte ich den Jungen. Er antwortete, ohne zu überlegen: „Den Olda vorige Woche Onkel Luiz abgeluchst hat.“ „Was weißt du darüber? Warst du dabei?“ „Nein, bloß auf der Treppe. Ich wollte Onkel Luiz zum Abendbrot holen. Er hat sich mit Olda gestritten, da wollte ich nicht stören“, sagte er scheinheilig. „Warum haben sie sich gestritten?“ „Wegen dem Brief! Weshalb wollen Sie das wissen?“ fragte er verdrossen. „Lukáš – erinnerst du dich, wann das war?“ Ich hätte ihm für eine genaue Antwort die ganze Modellsammlung gegeben, wenn sie mir gehört hätte. „Am Dienstagabend.“ „Weißt du das genau?“ „Klar. An dem Abend wollte Oma zeitig schlafen gehen, weil sie am nächsten Morgen früh fahren mußte.“ In seinen Augen las ich einen heimlichen Vorwurf. „Sie haben sie nicht gesucht, nicht wahr?“ „Ich habe sie gesucht: Aber – irgendwie – weißt du …“ 142
„Macht nichts“, erklärte er großmütig. „Ich weiß, daß Sie eigene Sorgen haben. Hanka bringt mich hin, wenn Oma nicht bald wiederkommt.“ „Wohin?“ „In die Anstalt! Frank geht es sehr schlecht. Was haben Sie?“ „Nichts.“ Mit Gewalt unterdrückte ich meine Beklemmung. „Nehmt ihr mich mit? Wir machen unterwegs Picknick“, versuchte ich zu scherzen. „Klar“, sagte er fröhlich. „Das wird prima. Fahren wir mit Ihrem Škoda?“ „Natürlich.“ Wir entfernten uns gefährlich weit von dem, was mich interessierte. „Aber zuerst muß ich etwas erledigen – meine Sorgen. Erinnerst du dich, was wir in der Nacht gesprochen haben, bei euch zu Hause? Wie du gedacht hast, ich wäre ein …“ „Privatdetektiv?“ unterbrach er mich. Er hatte wirklich ein außergewöhnliches Gedächtnis. Das war eine Chance, eine bisher ungenutzte Möglichkeit. Im Aufblitzen einer Intuition entschloß ich mich, alles auf eine Karte zu setzen. „Weißt du, wo ich heute nacht war? Im Knast.“ Ich erschrak im vorhinein vor den Fragen, die kommen würden. Fragen, die mir jeder Erwachsene gestellt hätte. Die Befürchtungen waren überflüssig. Lukáš blickte mich bewundernd an und wollte wissen: „Sind Sie geflohen?“ „Nein, von dort kann niemand fliehen. Sie haben mich freigelassen.“ Der Junge war enttäuscht. Er nahm mir ungern den Nimbus eines gejagten Opfers der Polizei. Ich beeilte mich, das zu korrigieren. „Aber sie können mich jederzeit wieder einlochen. Und dann lassen sie mich nicht so bald ’raus, wenn …“ „Was wenn?“ Er setzte sich dicht zu mir. „Wenn ich nicht beantworten kann, was sie mich fra143
gen.“ Ich befürchtete, das alles würde sein Verständnis übersteigen. Lukáš fragte ungerührt: „Geht es immer noch um den Mord?“ „Ja.“ „Und Sie denken, Olda hat das getan?“ Ich antwortete nicht. Beschämt fühlte ich, wie ich das Kind rücksichtslos in die schmutzigen Angelegenheiten der Erwachsenen hineinzog. Da fiel mir die tote alte Frau ein. „Konnte er es nicht gewesen sein?“ „Nein“, verkündete Lukáš triumphierend. „Nach dem Streit ist Olda weggefahren, und Onkel Luiz ist mit mir nach Hause gegangen.“ „Wie ist er weggefahren? Mit dem Bus?“ „Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich per Anhalter. Er war mit dem Moped gekommen“, sagte er, wobei er auf die Garage zeigte, „aber das Benzin war ihm ausgegangen. Er mußte es dortlassen und war schrecklich wütend.“ Soweit war alles klar. Ezechiáš war erst am Mittwoch erschossen worden. Ich erinnerte mich daran, daß ich in der Garage ein Auto und ein kleines Motorrad gesehen hatte. „Warum hat er nicht den Trabant genommen? Und wie kommt es, daß das Auto in der Garage stand, es gehört doch den Drozds?“ Lukáš war auch darüber informiert. „Der Trabant fuhr nicht, an der Elektrik war etwas kaputt. Hanka konnte am Sonntag nicht zurückfahren. Sie hat ihn stehenlassen, und Onkel Luiz hat ihr versprochen, den Wagen zu reparieren. Er sagte, das ist eine Käsekiste, die von ihrem eigenen Gestank angetrieben wird.“ „Und hat er ihn repariert?“ „Nein, das mußte Tomáš machen. An dem Donnerstag, als Sie sich mit ihm geschlagen haben. Hanka sagte, es hat viel Mühe gekostet, die Polizei zu überreden. Sie wollten das Auto behalten.“ 144
Vor meinen Augen tauchte das Bild der roten Villa am Spätnachmittag jenes Tages auf. Aus der Garage trat ein untersetzter Mann mit einem Gummischlauch in der Hand. Etwas fehlte auf diesem Bild. Vorsichtig kehrte ich zu wesentlicheren Fragen zurück. „Erinnerst du dich, worüber Olda und Herr Ezechiáš gestritten haben? Wenigstens an etwas – wenn du das verstanden hast.“ „Ich habe alles verstanden“, erklärte Lukáš. „Und ich erinnere mich an alles. Olda sagte: ‚Hast du ihn hier? Du trägst ihn einfach in der Tasche mit dir herum?‘ Onkel Luiz sagte nichts, er hat nie viel gesprochen. ‚Du bist verrückt geworden!‘ hat Olda geschrien. ‚Du bist ein leichtsinniger alter‘ – bestimmt wollte er Idiot sagen“, erklärte Lukáš, „aber dann hat er gesagt: ‚Du bist ein alter Mann und nimmst alles auf die leichte Schulter. Als würdest du nicht begreifen, worum es geht, als ob dir alles egal wäre.‘ Eine Weile war es still. Dann hat Onkel Luiz gesagt: ‚Junge, ich begreife gut, worum es euch geht. Und du hast es erraten, mir ist es egal. Ja, ich bin ein müder alter Mann, und der Brief sollte mir ein ruhiges Alter sichern. Doch weil er mir bisher nur häßliche Szenen eingebracht hat, auf die ich gern verzichte, so …‘ ‚Was so?‘ sagte Olda, als würde er ersticken. ‚So bleibt er in meiner Tasche, auch wenn das ein unsicheres Versteck für ein so wertvolles Dokument ist, wie du meinst.‘ – Ich habe direkt gesehen, wie Onkel Luiz gelacht hat. Dann ist etwas zu Boden gefallen. ‚Paß doch auf!‘ hat Onkel Luiz wütend geschrien und ist um den Tisch getrippelt, er machte immer kleine Schritte. Auf einmal fing Olda zu reden an, schnell und schrecklich durcheinander.“ Lukáš runzelte die Stirn vor Anstrengung, um möglichst getreu diesen Teil des Gesprächs wiederzugeben. „Er sagte: ‚Das kannst du nicht machen – bitte, gib mir den Brief, wenn dir nichts daran liegt! Für mich bedeutet er auch Ruhe und Sicherheit. Ich bin nicht mehr jung, ich 145
möchte heiraten. Hiermit verspreche ich dir, daß ich das nie mißbrauchen werde, aber ich werde etwas in der Hand haben!‘ Olda hat schrecklich gebettelt, beinahe geheult. Aber der Onkel sagte bloß: ‚Nein!‘ “ Lukáš schilderte so suggestiv, daß ich mir genau vorstellen konnte, wie sich der Auftritt zwischen dem Schönling und dem Alten entwickelte. Ich sah das Zimmer, wo die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne die Signalmasten der Modelleisenbahn beschienen, auf der Träne im Auge des jüngeren Mannes flimmerten und den kühlen Glanz in den Augen des zähen Alten entzündeten. Ich spürte die Erregung, die Olda würgte, und die Müdigkeit, die aus den Worten des alten Luiz Ezechiáš sprach. „Olda hörte auf zu wimmern. Ich dachte schon, er will weggehen, und wollte mich aus dem Staube machen, aber er rührte sich nicht. Dann sagte er ganz ruhig: ‚Wie du willst. Aber solange du alles so läßt, wie es ist, wirst du keine Ruhe haben. Von mir rede ich nicht, ich akzeptiere, daß ich verloren habe. Aber die Weiber nicht. Deine Oma bearbeitet dich auch, nicht wahr? Ich sehe dich schon, wie du zwischen ihrem und Hankas Haus hinund herläufst – wo willst du dich dann verstecken? In Amigos Hütte?‘ Ich hörte, wie er mit den Füßen scharrte, und dachte, er kommt wie ein Irrer herausgerannt. Aber Onkel Luiz rief ihm nach: ‚Warte! Da ist etwas dran.‘ Eine Weile war es still, dann hat Papier geraschelt ‚Da, nimm ihn‘, hat Onkel Luiz gesagt. ‚Aber eines sage ich dir: Zeige den Wisch, wem du willst. Danach steck ihn in die Schublade oder verschließ ihn im Tresor. Wenn du krumme Sachen machst, werde ich das zu verhindern wissen. Verstanden?‘ –‚Danke‘, sagte Olda. ‚Ich danke dir, das wirst du nicht bereuen! Ich schwöre, daß …‘ “ Lukáš hatte sich so in das Spiel eingelebt, daß er den Arm hob und die Augen zum Himmel richtete. „Daß was?“ fragte ich ihn atemlos. 146
„Das weiß ich nicht.“ Er gebärdete sich wie Hamlet, der mitten in seinem berühmten Monolog unterbrochen wird. „Onkel Luiz sagte: ‚Verschwinde!‘ Da bin ich fortgerannt und habe so getan, als ob ich Amigo füttere.“ „Und Olda?“ „Ist fort. Onkel Luiz ist mit mir nach Hause gegangen.“ Ich hatte kein Gedächtnis wie Lukáš. Allerdings konnte er die Hälfte von alledem erfunden haben. Er besaß Phantasie – und war vereinsamt. „Lukáš – hast du jemandem erzählt, was du auf der Treppe gehört hast?“ „Nein, Oma hat mir das verboten. Sie dürfen ihr nicht sagen, daß ich Ihnen das verraten habe.“ „So hast du es doch deiner Oma gesagt?“ „Beim Abendbrot habe ich Onkel Luiz gefragt, was das für ein Brief war. Oma hat das gehört und hat Onkel Luiz ausgehorcht.“ „Hat er es ihr erklärt?“ „Sie wußte, worum es geht und war wütend, weil er Olda den Brief gegeben hat.“ Endlich tauchte ein Faden auf, der die Ereignisse miteinander verband. „Was hat er ihr darauf gesagt?“ fragte ich gespannt. „Das weiß ich nicht. Sie fingen an zu streiten und haben mich rausgeschickt.“ „Aber du hast doch gehört, worüber sie gesprochen haben“, beschwor ich ihn. „Wenn sie sich gestritten haben, so haben sie geschrien, nicht wahr?“ „Geschrien hat nur Oma. Sie hat gesagt, was sie dauernd wiederholt: Sie muß für mich sorgen, sie muß an meine Zukunft denken … Da bin ich weggegangen. Das höre ich jeden Tag.“ Der Faden verschwand irgendwo in einem Knäuel äußerst merkwürdiger Beziehungen und Leidenschaften, das ich nicht zu entwirren vermochte. Aber ich bekam Angst. Angst um den sommersprossigen Jungen, der 147
sorglos mit diesem Knäuel spielte und einmal aus purem Zufall das richtige Ende finden konnte. Wer wird dabeisein, wenn das passiert? „Und was Olda im Schlaf gesagt hat, hast du auch niemandem erzählt?“ fragte ich ihn bange. „Nein. Olda gibt sich nicht mit mir ab. Das weiß bloß Hanka.“ „Wieso?“ „Ich schlafe doch in ihrem Zimmer. Sie kam gerade ’rein, als ich aus dem Bett gekrochen war und an der Wand horchen wollte“, bekannte er ungeniert. „Sie schimpfte, weil ich nicht geschlafen habe.“ „Hast du ihr gesagt, was du gehört hast?“ Lukáš schlug die Augen nieder und errötete. „Das war so seltsam … Wissen Sie, wie in dem Horrorfilm, wo …“ Mein Sohn, wohin habe ich dich gebracht? Ich wollte ihn packen und mit ihm fliehen. „Sie hat mir leid getan“, fuhr Lukáš fort. „Hanka sah aus, als hätte sie das sehr erschreckt …“ Er stockte, dann sagte er mitleidig: „Sie ist eben eine Frau. Aber ich habe sie beruhigt.“ „Lukáš – würdest du ein paar Tage zu mir kommen?“ Er freute sich. „Ja – aber was wird Hanka dazu sagen? Sie ist froh, daß ich hier bin.“ „Wir rufen sie an, von mir aus.“ „Ich soll morgen in die Schule gehen“, wandte er bedauernd ein. „Das lohnt sich nicht, doch mit ihr ist nicht zu reden.“ „Ich bringe dich früh her. Das schaffen wir schon – auch die Schule.“ Er blickte über den Zaun. „Wo haben Sie Ihren Wagen?“ Ich hatte keinen Wagen. Aus der Zelle war ich geradewegs mit öffentlichen Verkehrsmitteln hierher geeilt. Mein Škoda stand dort, wo ich ihn tags zuvor Oberwachtmeister Říha übergeben hatte. 148
„Auf der Baustelle“, sagte ich niedergeschlagen. Die bevorstehende Fahrt durch ganz Prag deprimierte mich. „Kommen Sie doch abends wieder“, schlug er mir vor. „Hanka wird dann bestimmt zurück sein, und wir werden uns einig.“ „Ja, das ist besser so.“ Im Nachbargarten tobten zwei Kinder herum, etwas jünger als Lukáš. An der gegenüberliegenden Ecke unterhielt sich ein Mädchen mit einem Jungen, der vom Fahrrad gestiegen war. Es war heller Tag, Lukáš konnte keine Gefahr drohen. Trotzdem sagte ich: „Ruf mich an, wenn …“ „Wenn ich mich an etwas Wichtiges erinnere?“ fragte er begierig. „Ja. Schade, daß du den Brief nicht gesehen hast.“ „Meinen Sie, er ist wichtig?“ Seine Ohren glühten, und er zog die Nase kraus wie ein Kaninchen. „Das weiß ich nicht. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber.“ Ich stand auf. „Bis bald, mein Junge! Abends hole ich dich ab!“ Über den Zaun winkte ich ihm zu. Er nickte würdig, dann kniete er sich auf die Erde zu seinen Spielzeugautos und betrachtete sie angestrengt wie ein Konstrukteur, der überlegt, wie er etwas daran verbessern könnte. Als ich zur Haltestelle rannte, fuhr der Bus gerade los. Ich winkte, daß ich mir fast den Arm ausrenkte, einige Fahrgäste blickten mitleidig durch die verschmutzten Scheiben, aber der Mann am Steuer folgte dem alten Brauch der Prager Busfahrer und gab Gas. Keuchend lehnte ich mich an den Mast und stellte fest, daß der nächste Bus in sechs bis acht Minuten fahren sollte. „Darauf können Sie sich nicht verlassen“, bemerkte ein weißhaariger Mann mit Krückstock, offensichtlich ein Filmkünstler im Ruhestand. „Hier wartet man 149
manchmal zwanzig Minuten – und länger. Dafür kommen dann zwei Busse gleichzeitig.“ Ich dankte ihm mit einem ergebenen Lächeln. Der alte Herr spazierte weiter, der Stock tippte regelmäßig aufs Pflaster, als schlage er die Zeit. Es war kurz vor halb fünf. Ich fluchte unanständig und vergewisserte mich, daß der würdige Greis meinen Wutausbruch nicht mehr hören konnte. Er war weit genug entfernt, und Josef Kamínek war ebenfalls weit von hier. Von ihm trennte mich ganz Prag. Auf der Baustelle würde ich ihn nicht mehr erreichen. Der Bus kam nicht. Ich kreiste um den Mast wie ein verirrter Hund und hob die Nase mal nach der einen, mal nach der anderen Seite. Ein Hund weiß jedoch, was er sucht, während ich es nicht wußte. Ich wollte die Regeln eines grausamen und gefährlichen Spiels begreifen und vermochte es nicht. Hatte es überhaupt Regeln? Sicher, antwortete ich mir selber. Es hatte ein Ziel, also mußte es eine Methode geben, um dieses Ziel zu erreichen. Die Methode des Spielers war schreckenerregend. Zwei Morde und ein Selbstmord … Warum hatte Herr Drozd keine Erklärung hinterlassen? Er war tot, aber sein Ziel blieb in ein Geheimnis gehüllt. Leutnant Pavrovský wußte das wohl ebenfalls. Zweifelte er an dem Selbstmord, wie ich im ersten Moment nicht daran geglaubt hatte? Dieser ruhige Mann, mit dem ich vor dem Krankenhaus gesprochen hatte, sollte wenige Stunden später sein Leben ausgelöscht haben? Doch dann begriff ich: Das war keine Ruhe gewesen, sondern Resignation eines Mannes, der reinen Tisch machen wollte. Dazu gehörte auch, daß er sich bei mir entschuldigte. Aus einem ähnlichen Grunde war er offenbar zu Josef gegangen. Zwischen Josef und Hanka war einst etwas gewesen – etwas, was die fünf Jahre währende Freundschaft zweier Kommilitonen zerstört hatte … 150
Vor allem vermochte ich mir nicht vorzustellen, daß jemand diesen grobschlächtigen Kerl bewältigen und seinen Kopf an den Auspuff halten könnte. Höchstens Olda mit seinem Schlagring, doch das hätte Spuren hinterlassen, und der Leutnant hatte keine Verletzung erwähnt. Zudem war Olda in dieser Nacht zu Hause gewesen, wie Lukáš behauptete. Ich hob die Augen zum Himmel, vom Süden zog ein Schwarm grauer Wolken auf. Hie und da schossen Speere aus gelben Sonnenstrahlen hindurch. Ein Speer traf mich, ich taumelte. Eine Frau, die mit einem kleinen Mädchen zur Haltestelle kam, sah mich ängstlich an. Ich lief den Berg hinunter. Nach fünfhundert Metern kam es mir vor, als hätte ich eine Wirbelsäule aus Glas, von der sich bei jedem Schritt ein Splitter löste und mich ins Mark stach. Ich blieb bei einem verwilderten Garten stehen. Durch das üppige Grün schimmerte das gegenüberliegende Flußufer mit seinen roten Ziegelbauten. Hinter mir erklang Motorengeräusch, ich sah mich um. Es war ein freies Taxi. Schnell hob ich die Hand. „Zur Fähre“, sagte ich. Der Taxifahrer gebärdete sich mißmutig. „Wollen Sie nach Braník? Ich bringe Sie hin.“ „Mit der Fähre bin ich schneller“, erwiderte ich. „Wie Sie wünschen“, murmelte er und stellte das Radio an. Ich vernahm Karel Gott, der das schwachsinnige ‚He, he, Baby‘ sang. Da fiel mir Josef ein. „Fahren Sie doch lieber über die Brücke. Ich will nach Podolí, aber halte mich nicht lange auf. Könnten Sie warten und mich dann nach Holešovice bringen?“ „Sicher Chef “, antwortete er munter. Eine solche Fuhre hatte er sicher nicht jeden Tag. Ich hatte den Mann unterschätzt. Er erzählte mir, daß er für den Film fahre, „weil von den paar Piepen Lohn kein Mensch leben kann“. Dann machte er mich aus151
führlich mit den Kümmernissen des Taxigewerbes bekannt, dessen Aufblühen gerade durch eine grausame Maßnahme verhindert werden sollte. „Ich hab’s gut, ich bin Invalide und fahre bei ‚Tempo‘.“ Vor der Einfahrt in den Tunnel drosselte er die Geschwindigkeit. „Aber eine Menge Kollegen kommen um ihr Brot. Wo soll’s langgehen, Chef?“ „Vorläufig geradeaus.“ Ich knüpfte an das vorherige Thema an. „Ich bin auch Invalide, aber Taxifahren könnte ich nicht. – An der nächsten Kreuzung links.“ Die Ampeln schenkten uns eine grüne Welle, der kleine, etwas bucklige Mann fuhr seinen Polski Fiat gewandt und schnell. „Wohin jetzt?“ fragte er. „Sagen Sie mir lieber die Adresse.“ „Die Baustelle eine Straße weiter. Die Genossenschaftshäuser.“ Er bog in die Straße ein. „Kriegen Sie hier eine Wohnung? Dann tun Sie mir leid.“ „Warum?“ „Ein Kollege von mir wollte auch hier bauen. Er hat das seingelassen. Sie müssen monatlich hundertfünfzig Stunden ableisten, das geht schon zwei Jahre lang, und ein Ende ist nicht abzusehen. Ein paar gerissene Kerle vom Vorstand wirtschaften in ihre Tasche. Sie bummeln ihre Stunden auf Sitzungen ab, und das einfache Volk schuftet wie Sklaven.“ „Ist das denn eine Selbsthilfegenossenschaft?“ fragte ich ungläubig. „Sicher. Wieso wissen Sie das nicht, wenn Sie dazugehören?“ „Hier baut eine Bekannte, das heißt – sie will von jemandem eine Wohnung kaufen.“ „Sie sollte lieber die Finger davon lassen“, sagte der Fahrer grinsend. „Mein Kumpel dachte auch, er könnte die Wohnung von jemandem kaufen, der die Stunden 152
abarbeitet. In jeder Genossenschaft sind ein paar ganz Schlaue, die nicht für sich bauen. Wissen Sie, wieviel Stunden Sie hier für eine Dreizimmerwohnung leisten müssen? Fünftausend! Wer verkauft, wird mindestens zwanzig Kronen die Stunde rechnen. Und das ist nur die Eigenleistung.“ Er hielt am Rande eines leicht abschüssigen Baugeländes, auf dem sechs Ziegelhäuser in unterschiedlichem Grade der Fertigstellung standen. Ich war kein Baufachmann, aber soviel hatte ich in dem Beruf schon mitbekommen, daß die Leute hier frühestens in zwei Jahren einziehen würden. Drei Häuser waren nicht einmal im Rohbau fertig. Am äußersten Ende des Bauplatzes schaufelten einige Männer einen Graben, offenbar die Kanalisation. Sie taten das besonnen und sorgfältig, so wie eine Mutter ihrem geliebten Töchterlein einen Scheitel zieht. Ich schätzte, daß sie auf diese Weise bis Weihnachten zu tun hätten. Ein Stück von ihnen entfernt setzten zwei Frauen einen Sandhaufen um. Der Grund für die Verlagerung war rätselhaft, denn gegen Ende des dritten Quartals würden die Kanalgräben genau auf den Haufen stoßen. Unweit von uns stapelten weitere drei Frauen herumliegende Ziegel. Das ging langsam vonstatten, weil ungefähr ein Drittel der Steine zerschlagen war und die Damen das passende Stück zu dem Teil suchten, den sie in der Hand hielten. Erst wenn sie es nach langwieriger Erkundung nicht fanden, legten sie den Ziegeltorso auf einen anderen Haufen. Vor ihnen stand ein voluminöser, bebrillter Mann in einem blauen Kittel und beobachtete streng, daß kein Stein vergeudet wurde. Er hatte die Hände in den Taschen, auf einem Ziegelstapel lag ein Stoß Papier, mit einem Taschenrechner beschwert. „Das ist der Oberschmarotzer“, sagte mein gut informierter Fahrer. „Ingenieur Otakárek, der Ökonom. Schwielen hat er höchstens am Hintern, weil er zweimal 153
die Woche bis Mitternacht auf Sitzungen sitzt. Und dort ist der andere!“ Er zeigte auf einen ältlichen Jüngling in einem weißen Rollkragenpullover. Der Mann musterte mit zusammengekniffenen Augen die Baustelle, als könnte er die sechs Häuser nicht zusammenzählen. „Architekt Poslušný. Der hat das projektiert. Wollen Sie mit ihm sprechen? Ich kenne ihn flüchtig.“ Der Architekt warf uns einen schwermütigen Blick zu. Eine Windbö hob die nach vorn gekämmten Haare bis in den Nacken und entblößte einen kahlen Schädel. Flink streifte der Architekt die Strähnen zurück. „Ich will mit niemandem sprechen“, sagte ich. „Fahren Sie.“ Als er mich auf meiner Baustelle absetzte, gab ich ihm ein anständiges Trinkgeld. Der ganze Spaß kam mich fünfzig Kronen, aber er war mehr wert. Ich mußte mich duschen und umziehen. Seit dem Morgen hatte ich nichts gegessen. Vor allem brauchte ich ein Glas Wasser, um eine von den Tabletten herunterzuspülen, die mir Schwester Lýdie bei der Entlassung aus dem Krankenhaus heimlich zugesteckt hatte. Und ich mußte mich wenigstens zwanzig Minuten ausstrecken – und sei es auf der Baustraße, die ein Bulldozer inzwischen gereinigt hatte. Daran erkannte ich, daß Josef wieder am Wirken war. Aber ich tat nichts von alledem, wonach mein Körper verlangte. Ich nahm die Schlüssel, die mir Unterleutnant Gust zurückgegeben hatte, schloß den Wagen auf, setzte mich ans Steuer und fuhr ein Stück zurück, um zu wenden. Aus der Tür meines grünen Häuschens trat ein zerzauster Mann, dessen Gesicht von weitem ebenfalls grün aussah. Er winkte und schrie mir etwas zu, was ich bei dem Motorengeräusch nicht verstand. Ich schaltete den Motor ab, stieg aus und ging zu ihm. 154
„Wo treibst du dich herum?“ begrüßte mich Josef. „Ich wollte schon deinen Kripochef anrufen, ob er dich wieder eingelocht hat.“ „Und was machst du hier?“ erwiderte ich. Er sagte vorwurfsvoll: „Auf dich warten. Ich habe auf deinem Bett gelegen und bin eingeschlafen. Beinahe bist du mir wieder entwischt. Wohin willst du? Dich besaufen?“ Mir war nicht nach Scherzen zumute. „Warum sollte ich mich besaufen?“ „Jeder Knastbruder geht geradewegs aus dem Kittchen in die Kneipe.“ Er grinste mich an. „War es sehr schlimm?“ „Es war zu ertragen.“ Ich ging ins Zimmer und blickte mich um. Bis auf das zerwühlte Bett herrschte mehr Ordnung als vorher. Tödliche Müdigkeit überkam mich, das Bett zog mich an. Ich wandte ihm den Rücken zu. Josef stand in der Tür, sein Gesicht sah eingefallen aus, die Lippen waren trocken und aufgesprungen. „Setz dich, Mann“, sagte ich gereizt zu ihm. „Warum bist du nicht im Krankenhaus geblieben?“ „Dort hat es mir nicht gefallen.“ Er setzte sich aufs Bett. „Weißt du, daß Tomáš Drozd tot ist?“ „Ja.“ Ich nahm einen Stuhl und setzte mich Josef gegenüber. „Und weißt du, daß er dich gestern im Krankenhaus besucht hat?“ Seine Augen drohten herauszufallen. „Nein, das weiß ich nicht. Was wollte er von mir?“ „Das hat er mir nicht anvertraut. Aber wenn man bedenkt, daß er sich bei mir für den Überfall und die zerstochenen Reifen entschuldigt hat …“ Ich stockte. Der Bienenschwarm, der sich unlängst in meinem Kopf eingenistet hatte, summte wild. „Was meinst du damit?“ fragte Josef ungeduldig. „Er wollte sich wohl auch bei dir entschuldigen.“ „Wofür entschuldigen?“ 155
Aus einem Satz, den Drozd an dem Abend gesagt hatte, keimte ein Verdacht. „Vielleicht hast du was mit Hanka gehabt …“ Josef beugte sich vor und legte mir die Hand aufs Knie. „Bist du verrückt geworden? Ich habe nie etwas mit Hanka gehabt! Ein paarmal waren wir zusammen essen, da hat sie immer vorher angerufen, weil sie einen Rat brauchte … Ich kenne sie doch schon als Schulmädchen!“ „Drozd hast du auch viele Jahre gekannt.“ „Gerade deshalb! Wenn ich auf Weiber aus wäre, würde ich doch nicht mit der Frau eines solchen armen, dummen Kerls etwas anfangen …“ Das klang nicht verächtlich, sondern eher mitleidig. Fast zärtlich. „Mann, ich habe die beiden miteinander bekanntgemacht! Wir waren damals im vierten Studienjahr, ich hatte Tomáš vier Jahre lang durch alle Prüfungen geschleppt. Dafür habe ich manchmal bei ihnen gegessen, und sein Vater hat mir hin und wieder etwas zugesteckt – ich hatte bloß mein Stipendium und Drozds waren gut betucht. Ein ehemaliger Antiquitätenhändler, mehr brauche ich nicht zu sagen. Ich kannte Olda, wir haben beim Film als Statisten unser Taschengeld aufgebessert. Hanka war damals siebzehn, sie kam manchmal zu mir, doch ich habe sie nicht für voll genommen. Zu der Zeit ging ich mit Helena.“ Über sein Gesicht huschte der Schatten einer Erinnerung. Josef fuhr lächelnd fort: „Die beiden haben einander von Herzen gehaßt. Dann hat sich Tomáš um Hanka bemüht, und ein halbes Jahr später, als sie gerade achtzehn war, haben sie geheiratet. Ich war Trauzeuge. Es war eine ziemlich trübselige Hochzeit, ein halbes Jahr nach dem Tode von Hankas Vater. Aber es war eine große Liebe.“ „Wie lange hat denn die große Liebe gedauert?“ „Das weiß ich nicht. Nach dem Diplom haben wir uns kaum gesehen. Herr Diplomingenieur Drozd hatte kein Interesse, mit jemandem zu verkehren, der ihn mit Müh 156
und Not durchs Studium geschleift hat. Dann mußte ich zur Fahne – und Tomáš ins Gefängnis.“ Ich glaubte zu wissen, weswegen Drozd verurteilt worden war. Seltsamerweise war Leutnant Pavrovský darüber hinweggegangen, als ich ihn auf Drozds aggressives Verhalten hingewiesen hatte. Josef wußte dafür eine Erklärung. „Wahrscheinlich deshalb, weil es damals nicht um eine Gewalttat ging. Tomáš hatte versucht, Gemälde über die Grenze zu schmuggeln. Ein Handelsvertreter aus der BRD sollte die Bilder verkaufen und das Geld in der Schweiz deponieren. Der Mann wurde an der Grenze geschnappt, und er hat gesagt, wem die Bilder gehören. Ihm blieb nichts anderes übrig, die Gemälde standen auf einer Liste von Werken, die von der Nationalgalerie gesucht wurden. Hätte er geschwiegen, wäre er noch wegen Hehlerei bestraft worden. In Wirklichkeit stammten die Bilder aus dem Nachlaß des alten Drozd, der zu der Zeit nicht mehr lebte. Tomáš behauptete, sein Vater hätte sie während des Krieges von einem jüdischen Sammler erworben.“ „Wieviel Jahre hat er gekriegt?“ „Tomáš? Das weiß ich nicht, aber nicht wenig. Die Schweiz galt als belastender Umstand, man hat das als Vorbereitung zur Republikflucht aufgefaßt. Nach einem Jahr wurde Tomáš entlassen, vielleicht aus gesundheitlichen Gründen. Die Bilder hat der Staat behalten, doch das konnte Tomáš egal sein. Ich wette, er hätte von dem Deutschen keinen Heller gesehen. Das war ein richtiger Gauner, wie der Prozeß gezeigt hat.“ „Woher weißt du das alles?“ „Von Hanka. Sie hat sich bei mir ausgeheult. Auch sie hat dafür büßen müssen, man hat sie entlassen. Damals hat sie bei Globex gearbeitet, das ist ein Außenhandelsunternehmen. Dort lernte sie den Deutschen kennen, und als sie sich zufälligerweise in einer Bar trafen, machte sie ihn mit Tomáš bekannt. Hanka konnte das 157
Gericht davon überzeugen, daß sie nichts wußte, doch der Betrieb war unerbittlich.“ Ich verlor Zeit. Was Josef berichtete, waren längst vergangene Dinge. „Als Tomáš aus dem Gefängnis kam, nahm alles ein schnelles Ende. Ihm wurde eine miese Arbeitsstelle zugewiesen, bei der Familie Ezechiáš hatte er sowieso nicht viel gegolten. Jetzt, wo er nichts besaß und Hanka sich von ihm zurückzog, behandelten sie ihn wie den letzten Dreck. Über Hanka wundere ich mich nicht, sie tat, was sie konnte, um …“ „Laß das“, sagte ich müde. „Das führt zu nichts. Warum in der Vergangenheit kramen? Oder hast du dort etwas gefunden, was mit den Morden zusammenhängen könnte?“ „Das weiß ich nicht. Ich dachte schon an etwas, doch … Im Krankenhaus hatte ich Zeit zum Nachdenken. Petr – ich kenne diese Menschen“, sagte er wütend. „Ich habe bei ihnen in Barrandov verkehrt, als Hankas Vater noch lebte, der das alles in festen Händen hielt. Ich habe gesehen, was für ein Umgangston nach seinem Tode herrschte, wie jeder den anderen ankeifte und wie alle einander haßten … Einmal habe ich ihnen aus Spaß vorgeführt, wie das enden würde. Ich konnte ihnen die Zukunft voraussagen! So habe ich mich jetzt gefragt: Wer zieht Nutzen aus dem Tode von Luiz Ezechiáš? Und welchen Nutzen?“ Ich sah ihn verblüfft an. Josef Kamínek sann über das gleiche Problem nach wie Leutnant Pavrovský. „Onkel Luiz kann nicht als Bettler zurückgekommen sein. Er hat immer verstanden, Geld zu verdienen. In Mexiko hat er es bestimmt nicht gelassen, wo steckt es also? Ich habe mich im Krankenhaus mit einem Arzt über den Mord unterhalten. Wir kamen auf die Modelle zu sprechen, der Herr Doktor war ganz aus dem Häuschen, als ich das erwähnte. Er würde sofort alles kau158
fen, den ganzen Ramsch, und wenn er das zwanzig Jahre lang abzahlen müßte. Mir schien das übertrieben, doch er hat mir anvertraut, daß er erst zehn Jahre sammelt und seine Schätze schon mit hundertzwanzigtausend versichert hat. Diese Sammler haben einen schönen Tick!“ Josef schüttelte verwundert den Kopf. „So viel Geld!“ „Ich kenne mich darin nicht aus, aber dort ist unheimlich viel von dem Zeug. Leutnant Pavrovský hat das ziemlich neidisch angeguckt.“ „Nehmen wir mal an, das sei wertvoll. Dann mußte er auch viel Zoll dafür zahlen. Damit wäre erklärt, wo seine Ersparnisse geblieben sind.“ „Offenbar hat er gewußt, daß er notfalls die Sammlung auch hier günstig verkaufen konnte. Er brauchte also nicht zu befürchten, auf seine alten Tage am Bettelstab zu gehen.“ „Unsinn!“ erwiderte Josef. „Du kennst die Sammler nicht. Dieser Arzt würde den Rest seines Lebens in denselben ausgelatschten Schuhen laufen, nur um seine Sammlung zu vergrößern. Der alte Ezechiáš mußte etwas anderes haben. Bei einem so aufwendigen Hobby konnte er nicht sein letztes Geld für Schiffskarte und Zollgebühren hergeben.“ „Aber was?“ schrie ich ihn an. „Ein goldenes Gebiß, mit Diamanten besetzt? Er war doch Zahnarzt, nicht wahr?“ Meine Geduld ging zu Ende. Die Zeit verstrich, und ich vergeudete sie mit leerem Gewäsch. Lukáš wartete auf mich. „Er war Zahnarzt“, bestätigte Josef, „und schon vor dem Krieg ein reicher Mann. Was hat er mit seinem Vermögen gemacht, als er emigrierte? Damals konnte er nichts mitnehmen. Am ehesten hat er es jemandem zu treuen Händen übergeben.“ Ich sank zurück auf den Stuhl. Das war es! Daß es mir nicht selber eingefallen war – längst! Die Wurzeln der 159
gegenwärtigen Verbrechen steckten in der Vergangenheit, so wie diese Menschen nicht in die heutige Zeit gehörten. Josef hatte es treffend gesagt: Er konnte ihnen die Zukunft vorhersagen. „Hör zu“, sagte Josef. „Als Hankas Vater die Villa baute, war er nur ein einfacher Handwerker. Die Grundstücke in Barrandov waren schon damals nicht billig. Zu der Zeit baute dort ein anderer Geldadel als heute, jedenfalls keine Installateure. Wenn das Grundstück nun Luiz gehörte und bis heute gehört? Er konnte sein Geld in Bauland angelegt haben. Dann wäre das Eigentum an der Villa eine verwickelte Angelegenheit. Ich habe Jireš danach gefragt, er hat mir bestätigt, daß es so ist. Es geht um Staatsbürgerschaft, Verjährung und so weiter, er hat geredet wie ein Gesetzbuch.“ Das Gehirn meines genialen Chefs hatte einen solchen Grad der Spezialisierung erreicht, daß es sich weigerte, die Problematik fremder Gebiete zu erfassen. „Das würde von vielen Umständen abhängen. Als Luiz neunzehnhundertfünfundsechzig hier war, hat er an seinem Bruder herumgenörgelt, daß er ein Haus für nur eine Generation gebaut hätte. Damals klang das wie ein Vorwurf, als hätte Ezechiáš nicht an seine Kinder gedacht. Wenn sie nun ausgemacht hatten, dort auch eine Wohnung für Luiz bereitzuhalten? Jireš schlug vor, zum Staatsanwalt zu gehen. Er kennt einen Rechtsanwalt, der ein Freund dieser wichtigen Persönlichkeit ist“, erläuterte er mir dieses speziell tschechische Vorgehen. „Jireš’ Freund aus der Anwaltskammer erzählt seinem Freund, dem Herrn Staatsanwalt, von den Sorgen Josef Kamíneks, des Freundes von Herrn Petr Martin. Das Interesse der zuständigen Organe wendet sich in die gewünschte Richtung, und Herr Martin wird freigelassen. Was geschehen ist.“ Josef strahlte vor Zufriedenheit. Seine Weitschweifigkeit wirkte qualvoll auf mich, aber wenn er sich an seinem eigenen Scharfsinn be160
rauschte, wäre jeder Versuch, ihn zu unterbrechen, vergeblich gewesen. „Jireš ist dann zum Katasteramt gegangen, um den Besitzer des Grundstücks festzustellen. Das hat leider nichts gebracht Früher hat es Luiz gehört, aber neunzehnhundertneununddreißig hat er es seinem Bruder verkauft. Kein problematisches Miteigentum, keine unbezahlten Schulden. Onkel Luiz ist eben im Alter närrisch geworden und hat sein ganzes Geld in Spielzeug gesteckt. Wahrscheinlich hat ihn ein verrückter Sammler ermordet.“ Josef erhob sich, preßte die Hand auf den Magen und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Bringst du mich nach Hause?“ Auf dem Rückweg hielt ich vor einer Kneipe unweit der Baustelle, um mir Brot und Wurst zu kaufen. Ich war so hungrig, daß es mir vor den Augen flimmerte, und bis Barrandov war es weit. Es war die schmuddeligste Kneipe, die ich kannte, und ich hatte eine stattliche Anzahl kennengelernt. Hier saßen die Zugvögel, die höchstens vier Wochen auf einer Baustelle aushielten, heruntergekommene Frauen, die nichts mehr feilzubieten hatten, und ein paar Pfleger aus dem nahem Krankenhaus, die sich aus braunen Medizinfläschchen etwas ins Bier gossen. Unsere Zigeuner wirkten in dieser Gesellschaft geradezu vornehm. Nach längerem Verhandeln gelang es mir, den düster dreinblickenden Wirt, der hinter der Theke stand und gerade seine Ärmel in die Wanne tunkte, zu dem Versprechen zu bewegen, daß er sich nach etwas – irgend etwas – Eßbarem umsehen würde. Vorläufig schien er es aus der Wanne fischen zu wollen. Ich lehnte mich an die Theke, mit einem Auge beobachtete ich den Wirt, mit dem anderen schielte ich zu den Zigeunern hinüber. Sie belegten einen ganzen Tisch unter einem Kunstwerk, das eine Waldnymphe auf einem Hirsch darstellte. 161
Es war nicht irgendein billiges Bildchen. Vielmehr hatte es die Ausmaße von fünfzig mal siebzig Zentimetern und bestand aus einem kräftigen Holzbrett, dessen Ränder kunstvoll geschnitzt waren. Die Umrisse des Hirsches und der Jungfrau waren mit einer glühenden Nadel ins Holz gebrannt und mit Plakatfarbe ausgefüllt worden. So kam es, daß die Nymphe feuerrote Waden hatte und das Hirschauge in giftigem Grün glänzte. Es schien mich böse anzublinzeln. Der Künstler, der dieses Werk fabriziert hatte, saß an der Stirnseite des Tisches. Ich kannte ihn, er lebte in einem Wohnwagen am Moldauufer, das zu unserem Baugelände gehörte. Damit er nicht vertrieben würde, erschien er Monat für Monat bei Josef, um ihn zu bestechen. So hatte Josef in seinem Schrank schon den heiligen Hubertus, den Kopf eines Keilers und sogar das Konterfei eines Staatsmannes, mit einem Ausspruch eines anderen Staatsmannes aus einer anderen historischen Epoche umrahmt, was in weniger toleranten Zeiten als politisches Verbrechen geahndet worden wäre. Josef hatte das hölzerne Kunstwerk sogar neben dem obligatorischen Porträt aufgehängt, und nur auf Drängen von Dr. Jireš, der bei dem Anblick beinahe einen Herzinfarkt bekommen hatte, wurde es wieder abgenommen. Der Volkskunstschaffende war ein kleines dürres Männchen mit einem Holzbein. Sein gelbes Gesicht mit schiefen Augen wurde vom Schirm einer alten Soldatenmütze beschattet. Der Mann sah aus, wie ein besonders verbissener Gardist des großen Mao. Neben ihm saß ein Mädchen, das anscheinend einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht entsprungen war. Sie zählte kaum achtzehn Jahre und war von kleiner, zarter Statur. Vor einiger Zeit war sie in dem Wohnwagen aufgetaucht, und der Alte hütete sie eifersüchtig vor allen Nachstellungen, denen sie auf unserer Baustelle ausgesetzt war. 162
Auch jetzt lag sein brauner, bis zum Ellbogen entblößter Arm auf der Stuhllehne des Mädchens. Das war notwendig, denn von der anderen Seite bestürmte der bereits angeheiterte Dežo die Schöne. Er redete unermüdlich auf sie ein, die anderen Zigeuner amüsierten sich, das gelbe Männchen blitzte mit seinen schmalen Augen. Das Mädchen gab sich gleichgültig. Dežo donnerte wütend sein Bierglas auf den Tisch, nachdem er den halben Liter in einem Zuge geleert hatte. Als er nach dem Wirt Ausschau hielt, erblickte er mich und strahlte mich mit seinen weißen Zähnen an. Beinahe hätte ich auf das zweifelhafte Abendessen verzichtet und wäre geflüchtet, aber Dežo war schon aufgesprungen. „Herr Ingenieur! Wo waren Sie, ich habe Sie gesucht!“ Er kam zur Theke gerannt und schlug mir wie einem alten Kumpel auf die Schulter. Dabei blinzelte er dem Mädchen zu. Ich wollte ihm den Auftritt nicht verderben, der offenbar sein Prestige erhöhte, und sagte: „Ich schulde dir einen Schnaps, nicht wahr? Was trinkst du?“ Der Wirt war hinter einem Vorhang verschwunden, wohl irgendwo in den Gefilden der Wirtschaftsräume. Dežo wehrte ab. „Heute lade ich Sie ein!“ „Leider darf ich nicht trinken, draußen steht mein Wagen“, entgegnete ich mit falschem Bedauern. „Setzen Sie sich zu uns! Nur für einen Augenblick!“ Durch einen Spalt erblickte ich den Wirt, der etwas in eine Zeitung wickelte. Das war wohl endlich mein Abendbrot. „Heute geht es nicht“, sagte ich ungeduldig. „Trinkst du einen Rum?“ Dežo überhörte mein Angebot. „Ich muß Ihnen etwas sagen! Seit gestern suche ich Sie schon! Sie waren im Knast? Wegen einem elenden kleinen Zigeuner?“ Er schlug sich mit der Faust auf die Brust. 163
„Was redest du da? Du glaubst doch nicht, sie hätten mich eingesperrt, weil ich dich verprügelt habe?“ „Nein! Dežo läßt sich von niemandem verprügeln! Mich hat niemand verdroschen! Warum haben Sie das der Polizei nicht gesagt? Ich habe euch beschwindelt. An dem Abend war ich besoffen wie ein Schwein …“ Ich packte Dežo an der Schulter und schüttelte ihn. „Was spinnst du? Wie war das in der Nacht?“ So erfuhr ich die Wahrheit. Dežo schlief im Flur meines Häuschens, tatsächlich besoffen wie ein Schwein, wie er sich ausdrückte. Er wachte auf, als er Geräusche auf der Treppe hörte, und rief dem Unbekannten etwas zu. Dieser floh sogleich, Dežo verfolgte ihn torkelnd, stolperte und stürzte in eine Baugrube, in der tagsüber seine Kameraden gearbeitet hatten. Daß er auf eine Schubkarre fiel, die sie aus Schludrigkeit vergessen hatten, war zweifellos die Strafe der guten Fee, die über die Arbeitsgeräte wachte. Die Schubkarre kippte um und schlug Dežo mit einem Griff ins Gesicht. Daher rührte sein Veilchen, und nicht von meiner Faust. Der Wirt kam zurück, reichte mir ein fettiges Päckchen und musterte mit unfreundlichem Blick den Zigeuner. „Hau ab“, fauchte er ihn an, und ich bekam im gleichen Tonfall zu hören: „Macht sechs fuffzig.“ Ich gab ihm einen Zehnkronenschein und eine Handvoll Kleingeld. „Für ihn einen Rum. Auf den Tisch.“ Da erblickte ich in der Ecke ein Telefon. Ich nahm mir einen Fünfziger wieder, stieß den lamentierenden Dežo beiseite und schritt zum Apparat. Mit dem Rücken zu den Gästen wählte ich die Nummer. Meine Hand zitterte so, daß ich die Münze nur mit Mühe in den Schlitz stecken konnte. „Hallo“, meldete sich augenblicklich eine bekannte Stimme. Hanka mußte am Telefon gestanden haben, wenn sie so schnell den Hörer abnahm. „Martin“, sagte ich. „Wo ist …“ 164
Hanka ließ mich nicht ausreden. „Wo sind Sie? Eben habe ich Sie angerufen, ich versuche es schon eine halbe Stunde, seit ich heimgekommen bin …“ Sie rang nach Luft, so erregt war sie. „Wo ist Lukáš?“ „Das weiß ich nicht“, schrie sie. „Fortgelaufen – ich dachte, er wäre bei Ihnen … Nein? Haben Sie ihn nicht gesehen?“ Hinter meinem Rücken pfiff jemand, die Gäste schienen sich gut zu unterhalten. „Was ist passiert? Warum ist er ausgerissen? Wann?“ „Das weiß ich nicht“, jammerte sie. „Ich war auf Wohnungssuche und bin eben zurückgekommen. Hier bleibe ich nicht – eine Freundin von mir hat ein Atelier – ich habe sie gefragt, ob ich ein paar Tage mit Lukáš bei ihr …“ „Was wissen Sie? Ist er bestimmt nicht irgendwo in der Nähe, bei anderen Kindern?“ „Nein! Olda hat ihm eine runtergehauen, und Lukáš …“ „Warum hat Olda das getan?“ „Er hat Lukáš in seinem Zimmer erwischt. Der Junge hätte …“ „Wann war das?“ Ich preßte den Hörer an mein Ohr, daß ich es beinahe in den Schädel drückte. In der Gaststube schwoll die hochgemute Stimmung an. „Kurz bevor ich zurückgekommen bin. Ich habe ein Taxi genommen, wir müßten uns begegnet sein. Was soll ich tun?“ Vor Schluchzen war sie kaum zu verstehen. „Geben Sie mir Olda“, befahl ich ihr streng. „Wenn es sein muß, mit Gewalt. Sagen Sie, ich würde die Polizei anrufen …“ „Olda ist nicht hier! Er ist weggegangen … Er hat auch mich geschlagen und …“ „Hatte Lukáš Geld bei sich? Hat er etwas mitgenommen?“ „Nein. Auch die Autos hat er hiergelassen …“ Jetzt 165
weinte sie schon unverhohlen. „Was soll ich machen? Ich komme zu Ihnen!“ „Nein, Sie bleiben zu Hause! Ich fahre auf die Baustelle, in fünf Minuten bin ich dort. Dann rufe ich Sie an. Wir werden eine halbe Stunde warten, ob er bei mir oder bei Ihnen erscheint, sonst …“ „Was wollen Sie tun?“ „Die Polizei benachrichtigen.“ Sie atmete schluchzend auf. „Ja, das müssen Sie! Ich komme zu Ihnen und …“ „Sie bleiben da! Wenn er zurückkommt …“ Hanka ließ sich nicht überzeugen. „Meine Mutter ist hier. Sie ist von alledem völlig durcheinander, aber wenn ich sie darum bitte, nimmt sie den Hörer ab.“ Sie legte auf. Nach dem Knacken des Telefons ertönte ein Schuß. Ich ließ den Hörer fallen und hörte in der plötzlichen Stille, wie er gegen die Wand schlug. Erstaunt drehte ich mich um. Das Mädchen duckte sich unter den Tisch. Ihr Beschützer stand leicht geneigt da, offenbar auf sein Holzbein gestützt, und hielt sein Zweizollbrett, das er in ein Kunstwerk verwandelt hatte, wie einen Schild vor seine Brust. Der Schütze hatte den Hirsch mitten ins Geweih getroffen. Es war ein schlechter Schuß, er hätte die Jagdtrophäe wertlos gemacht. Auf einen Menschen wäre allerdings perfekt gezielt worden. Dežo hatte auch auf einen Menschen geschossen. Auf den alten Holzschnitzer, dem sein Werk das Leben gerettet hatte. Er hatte es wohl als Waffe von der Wand genommen. Nun blickte er traurig auf den erlegten Hirsch. Der Alte bückte sich, lehnte das Brett an die Wand und hob das Mädchen auf. Ihre Bluse war mit einer bräunlichen Flüssigkeit bekleckert, die nach Rum roch. Offenbar hatte Dežo der Schönen gegen ihren Willen Alkohol einflößen wollen. 166
Er hing bewußtlos in den Armen zweier Kameraden. Auf dem beschmierten Tisch lag eine kleine schwarze Pistole, in diesem Milieu sehr hübsch und hygienisch aussehend. Ich blickte mich um und stellte fest, daß sich die Kneipe geleert hatte. Nur die Zigeuner standen da, in den dunklen Gesichtern rollten die Augen, daß das Weiße blitzte. Der Grobian im karierten Kittel kam hinter der Theke hervor und stiefelte zum Telefon. Tibor Čuraj, ein kräftiger, ergrauter Mann, versperrte ihm den Weg. „Rufen Sie nicht an! Es ist nichts passiert. Das erledigen wir unter uns.“ Der Wirt zögerte. „Dežo wollte ihn nicht erschießen, er hat sich nur aufgespielt“, fiel ein anderer Zigeuner ein. „Er kann damit nicht umgehen, die Pistole hat er gefunden.“ „Wo“, fragte ich ihn schnell. „Bei Ihnen unter der Treppe“, sagte er vorwurfsvoll. „In der Nacht, als er dort geschlafen hat. Dežo war neugierig, was der Fremde unter der Treppe versteckt hatte.“ Der Raum wirbelte in einem wilden Zigeunertanz. Der Wirt trat zu mir und puffte mich an die Schulter. „Ist das Ihre Pistole?“ „Ja.“ Es drehte sich immer noch alles, mit Ausnahme der Pistole zu meinen Füßen, Ich bückte mich und hob sie auf. „Raus!“ Mit der Schulter schubste mich der Wirt Schritt für Schritt zur Tür. Ich widersetzte mich nicht. Die Zigeuner schwiegen. Einer von ihnen, ein junger Bursche von einer Gesichtsfarbe wie Milchkaffee, heftete seine dunklen Augen auf mich. Ich kannte diesen Blick und verstand ihn. Wie ein Wahnsinniger stürzte ich hinaus, rannte zum Wagen und raste los. Der Himmel war schwarz, ohne einen einzigen Stern.
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Auf der Baustelle war keine lebende Seele. Ich ging um das Häuschen in der törichten Hoffnung, daß Lukáš, auf Konspiration bedacht, im Gesträuch gewartet hätte und eingeschlafen wäre. Doch ich scheuchte nur mein Kaninchen auf. Ich knipste im Zimmer und im Flur das Licht an und ließ die Tür offenstehen. Dann ging ich zum Wagen, und ohne Rücksicht auf die Batterie schaltete ich die Scheinwerfer ein. Der Junge konnte vom Wege abgewichen und in eine Baugrube gefallen sein. Daß Lukáš kommen würde, bezweifelte ich nicht. Ich verbot mir, etwas anderes zu denken. Jeder andere Gedanke war zu grauenvoll. Im Büro wählte ich Hankas Nummer. Ich wartete lange, ehe ich auflegte und es nochmals versuchte. Niemand ging an den Apparat. Aus meinem Gedächtnis fischte ich eine andere Nummer, vierstellig, leicht merkbar, eine Nummer, die ich schon vor einer halben Stunde hätte wählen sollen. Ich besann mich und ging hinaus. In dem Lichtstreifen, den meine Scheinwerfer auf die Baustraße warfen, rannte eine kleine Gestalt. Das Köpfchen schimmerte silbern. Ich verspürte eine solche Erleichterung, daß mir die Tränen kamen. Ich rannte Lukáš entgegen, umfaßte ihn mit beiden Händen und hob ihn wie eine Puppe hoch. Sein Gesicht war feucht und roch nach kindlichem Schweiß. „Lassen Sie mich los!“ rief er. „Sind Sie verrückt geworden?“ Ich stellte ihn auf die Erde, ließ ihn aber nicht los. „Wo warst du, Lukáš? Warum hast du nicht auf mich gewartet? Du benimmst dich wie ein kleines Kind …“ Durch Strenge versuchte ich meine Rührung zu verbergen. „Sie benehmen sich wie ein kleines Kind“, erwiderte er. Er streckte mir die rechte Hand mit einem zerknitterten Umschlag entgegen. Das war es also. Es war so einfach, wir waren alle mit Blindheit geschlagen gewesen. Ich – Josef – und der schlaue Dr. Jireš. 168
„Das habe ich Olda weggenommen“, sagte Lukáš. „Er hat mich erwischt und verhauen.“ Er weinte. Ich nahm ihn wieder in meine Arme. „Lukáš, was hast du? Hat er dich sehr geschlagen? Tut dir etwas weh?“ Diesmal widersetzte er sich nicht. Er drückte sich an mich und schluchzte laut. „Oma ist tot. Warum haben Sie mir das nicht gesagt – Sie wissen das schon lange.“ Er klagte wie ein verlassenes Kind, was war er denn sonst? „Weil ich ein Feigling bin, Lukáš“, antwortete ich. „Ich hatte keinen Mut, dir das zu sagen.“ Ich spürte, wie sich der magere kleine Körper spannte, wie Lukáš gegen das Weinen ankämpfte, wie er sich tapfer zeigen wollte. „Sie sind kein Feigling“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Olda ist feige. Er hat mich geschlagen, aber er hatte Angst. Ich konnte ganz leicht weglaufen.“ Ich blickte in das weiße Gesichtchen, auf dem im grellen Scheinwerferlicht die Sommersprossen hervortraten. Um das Licht zu löschen, ließ ich den Jungen los und ging zum Wagen. Seine Stimme klang aus der Dunkelheit wie das Piepsen eines schlafenden Vogels. „Ich habe ihm gesagt, daß ich zu Ihnen gehe. Vielleicht kommt er her.“ Ich erstarrte und war einen Moment außerstande, die Wagentür zu schließen. Wäre Lukáš ein paar Jahre älter gewesen, hätte ich keine Sekunde geschwankt. Ich hätte ihn ans Steuer gesetzt, hätte ihm gesagt: „Fahr los!“, und er wäre gefahren. Doch er war so klein, daß sein Fuß nicht bis ans Gaspedal reichte. Wie könnte ich ihn dazu bewegen, fortzugehen? Hier konnte er nicht bleiben. Da hatte ich den rettenden Einfall. „Lukáš, würdest du etwas für mich tun? Das ist sehr wichtig.“ „Ja“, antwortete er, ohne zu zögern. „Was denn?“ Ich suchte einen Fünfziger. Er lag unter dem kalten 169
harten Gegenstand, der meine Tasche ausbeulte. Ich gab Lukáš die Münze und sagte ihm eine vierstellige Zahl. „Du verlangst Leutnant Pavrovský. Und sagst ihm, er soll gleich herkommen. Kannst du das behalten?“ „Klar“, antwortete er selbstbewußt. „Aber warum rufen Sie nicht selber an?“ „Mein Telefon ist kaputt.“ Ich betete, daß es in dem Moment nicht zufälligerweise klingelt. In der nächtlichen Stille wäre das zu hören gewesen. „Ich wollte dich anrufen, bevor du kamst, und konnte nicht. Gleich hinter der Baustelle ist eine Telefonzelle. Geh dort lang!“ Ich zeigte auf den Teil der Baustelle, wo Rohbauten in den Himmel ragten und Baugruben gähnten. Es gab keinen anderen Weg. Ich konnte nicht riskieren, daß er jemandem begegnete. „Sei vorsichtig, damit du nicht ausrutschst. Auf die Straße kommst du leicht, der Zaun hat überall Löcher.“ Lukáš hörte mir konzentriert zu. Für einen Moment vergaß er seine Trauer. „Und dann? Soll ich zurückkommen?“ „Nein! Du gehst am Zaun entlang bis zu der Stelle, wo der Weg von der Straße auf die Baustelle abgeht. Dort sind Sträucher, du versteckst dich und wartest, bis die Polizei kommt. Du hältst sie an und sagst, sie sollen nicht mit dem Auto auf die Baustelle fahren. Das ist sehr wichtig. Verstehst du mich?“ „Ja.“ Er drückte meine Hand. Sie war kalt und feucht. „Sie haben Angst“, flüsterte er. „Ja. Ich habe Angst vor dem Alter und davor, daß ich nicht alt werde.“ Er verstand den Scherz nicht. „Seien Sie vorsichtig“, warnte er mich. „Ich habe doch nur noch Sie.“ Meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich schob den Jungen sanft fort. „Geh, Lukáš.“ Er drehte sich wie auf Kommando um und verschwand nach zwei Sekunden im Dunkeln. 170
Ich kehrte in die Baracke zurück, schaltete das Licht aus und schloß ab. Dann ging ich zu meinem Häuschen und löschte auch dort die Lampen. Nach kurzem Zögern nahm ich die Pistole aus der Tasche und steckte sie in einen Schub, unter einen Haufen schmutziger Socken. Ich ging hinaus, setzte mich auf die Treppe und zündete mir eine Zigarette an. In der Schachtel waren nur noch zwei. Ich hoffte, nicht allzulange warten zu müssen. Der Mond ging auf, als ich die letzte Zigarette rauchte. Er beschien das stählerne, teilweise verglaste Hauptgebäude und verwandelte es in einen Turm aus dunklem Kristall. Die Wolkendecke war aufgerissen, hie und da leuchtete ein Stern. Die Baustraße spiegelte sich im Mondschein als weißer Fluß. Wo sie zwischen den Häusern verschwand, tauchte ein Schatten auf. Ich nahm den letzten Zug aus der Kippe. Sie verbrannte mir die Lippen. Der Schatten näherte sich und zeichnete sich als große, schlanke Gestalt ab. Fast lautlos kam sie auf mich zu. Hanka blieb dicht vor mir stehen. Sie trug einen langen weißen Regenmantel, bis oben zugeknöpft, ihr Gesicht verschmolz beinahe mit ihm. „Ist Lukáš hier?“ fragte sie atemlos. „Nein.“ Sie nahm die Hände aus den Taschen und löste den obersten Mantelknopf. – „Mein Gott! Was sollen wir tun?“ Ich schwieg. Im Jasminstrauch, der schon abblühte, raschelte es. Hanka zuckte zusammen und sprang beiseite. „Keine Angst“, sagte ich müde. „Das ist nur ein Kaninchen. Es hat dort sein Lager und …“ „Sie sind nicht normal“, fuhr sie mich an. „Was ist los mit Ihnen? Wie können Sie hier dasitzen, wenn Lukáš verschwunden ist und Olda ebenfalls? Begreifen Sie nicht, was passieren kann?“ 171
„Nichts“, erwiderte ich. Sie starrte mich mit ängstlichen Augen an. „Wo waren Sie den ganzen Tag? Ich habe mehrmals angerufen. Was ist geschehen? Sie sind völlig verändert.“ „Ich hatte einiges zu erledigen. Zum Beispiel habe ich mir eine Baustelle angesehen, die billige, fast fertige Wohnung.“ Sie senkte den Kopf und biß sich in die Lippen. Dann sah sie mich schuldbewußt an. „Sie schweigen?“ fragte ich. „Das ist gut. Bisher haben Sie mir schon zu viele Lügen erzählt.“ Sie seufzte tief. „Nein, ich habe Ihnen zwar nicht immer die volle Wahrheit gesagt, aber …“ „Sie haben von Anfang an gelogen. Ab und zu haben Sie ein Körnchen Wahrheit dazwischengemengt, um mich im Glauben zu lassen, daß Sie ebenso wie ich im dunkeln tappen. Sie haben alle Mittel genutzt, um mich blind zu machen – Sie haben nur eines vergessen.“ „Ich verstehe Sie nicht“, seufzte sie. Ich zog den Brief aus der Tasche, den Lukáš gestohlen hatte, und reichte ihn Hanka. Zögernd zog sie das Blatt aus dem Umschlag und betrachtete, was ich vor einer Weile gelesen hatte.
Lieber Bruder, ich bedaure, daß Du mir gegenüber wieder Mißtrauen äußerst. Wenn Du heimkehrst, zahle ich Dir meine Schuld zurück. Du bekommst die Summe, auf die wir uns neulich bei Deinem Besuch geeinigt haben, die Hälfte vom gegenwärtigen Verkaufswert des Hauses. Ich verhehle nicht, daß ich es nicht für vernünftig halte, ein Grundstück zu veräußern, dessen Wert mit jedem Jahr steigt. Deshalb bin ich froh, daß Du Dich mit der Rückkehr nicht beeilst. Vielleicht lösen die Kinder bis dahin ihre Wohnungsprobleme, und wir kommen darauf zu172
rück, worauf wir uns geeinigt hatten, als Du mir vor Deiner Abreise das Grundstück und das Geld anvertraut hattest. Damals sah das Deinerseits wie eine selbstlose Geste aus, Du bist mit leeren Händen weggefahren. Aber ich war nur auf dem Papier der Besitzer des Grundstücks, und das Gold konnte mich und meine Familie im Krieg den Hals kosten. Du kannst mir nicht übelnehmen, daß ich beim Bauen nicht an eine Wohnung für einen Abenteurer gedacht habe, der irgendwo ein angenehmes Leben führte, während ich hier geschuftet habe. Übrigens habe ich damals geglaubt, ich könnte Dir das Geld einmal ohne Probleme in bar zurückzahlen. Es ist nicht meine Schuld, wenn das bei den jetzigen Verhältnissen nicht mehr möglich ist. Ich hoffe, daß Dir dieser Brief als Quittung genügt. Wie Du gewünscht hast, lasse ich auch die Kinder unterschreiben. Prag, den 14.10.1965 Antonín Ezechiáš Oldřich Ezechiáš Hanka Ezechiášová Hanka hielt den Brief lange in der Hand, ohne aufzublicken. „Es war für Sie eine schlimme Enttäuschung, als Ihr Vater Sie aufforderte, den Brief zu unterschreiben“, sagte ich. „Die Villa war das Letzte, was Ihrer Familie geblieben war. Sie waren einen Lebensstandard gewohnt, den Sie nur aufrechterhalten konnten, solange Ihr Vater lebte. Wenige Monate nach dem Besuch Ihres Onkels und kurz, nachdem der Brief abgeschickt worden war, ist er gestorben. Da haben Sie Tomáš Drozd geheiratet.“ „Ja“, flüsterte sie. Ihre Augen waren unergründlich wie ein See aus geschmolzenem Teer. „Damals war ich 173
ein dummes achtzehnjähriges Mädchen. Ich habe ihn geliebt …“ „Sie haben ihn nicht geliebt“, unterbrach ich sie. „Sie liebten das sorglose Leben reicher Leute, in dieser Vorstellungswelt sind Sie aufgewachsen. Und ein solches Leben sollten Ihnen die Gemälde sichern, die Sie über die Grenze schmuggeln wollten. Als das fehlschlug, war Tomáš für Sie nur wertloser Ballast. Sie haben die Wahrheit gesagt, als Sie mir erzählten, die ganzen Jahre hätten Sie lediglich dahinvegetiert – die Frau eines Epileptikers, dazu verurteilt, mit einer egoistischen Mutter und einem verkommenen, rücksichtslosen Bruder unter einem Dach zu leben. Aber das Schlimmste kam noch auf Sie zu. Die Rückkehr Ihres Onkels Luiz.“ „Schweigen Sie!“ schrie sie hysterisch. „Sie wissen nicht, worüber Sie reden. Es war gerade umgekehrt, die Rückkehr von Onkel Luiz hat alle meine Probleme gelöst. Er war auf meiner Seite, er wußte, daß Olda ein Halunke ist. Onkel Luiz wollte seinen Anteil auf mich übertragen und als Gegenleistung das Haus in Borovec nehmen. Hätte sich Olda nicht den Brief angeeignet, könnte Onkel Luiz noch leben!“ „Der letzte Satz ist wahr.“ „Ich habe immer die Wahrheit gesagt. Mehr konnte ich Ihnen nicht verraten – immerhin ist er mein Bruder. Er ist verdorben, ekelhaft, ich hasse ihn, aber ich mußte an meine Mutter denken. Sie hat ihn immer mehr geliebt als mich. Es hätte sie getötet, wenn sie erfahren hätte, daß …“ Sie preßte die Hand an den Mund, der Brief fiel zu Boden. „Wo ist er? Er ist geflohen! Olda war außer sich vor Angst, schon zwei Tage lang benahm er sich wie unzurechnungsfähig …“ Sie trat den Umschlag in den feuchten Lehm. „Gestatten Sie!“ Ich zog den Brief unter ihrem Schuh hervor. „Es wäre schade darum. Leutnant Pavrovský wird ihn noch brauchen.“ 174
Sie warf sich auf mich, ihre Fingernägel gruben sich in meine Arme wie Dornen. „Nein! Das werden Sie nicht tun! Mischen Sie sich nicht ein – lassen Sie ihn. Bitte, ich gebe Ihnen, was Sie wollen …“ „Was wollen Sie mir geben? Sie haben mir schon einmal etwas angeboten.“ „Ja – mich“, sagte sie wütend. „Damals haben Sie mich abgewiesen. Soll ich dieses Angebot wiederholen?“ Ich versuchte mich aufzurichten, aber sie verkrallte sich fester an mich. „So etwas bietet man nicht mit solchen Augen an“, sagte ich leise zu ihr. „Das würde kein Mann annehmen.“ Sie erschlaffte. „Was wollen Sie dann? Geld?“ „Sie wollen mich bestechen, damit ich einen Mörder laufenlasse?“ Hanka ließ mich los und trat einen Schritt zurück. „Er geht von allein zugrunde. Belasten Sie sich nicht damit, einmal würden Sie das vielleicht bereuen.“ Sie wandte sich ab und stand da wie das Standbild eines trauernden Engels auf dem Grabmal verlorener Hoffnungen. Ich mußte sie bewundern. Sie hatte bisher kein falsches Wort gesagt, keine überflüssige Bewegung gemacht. „Die Polizei denkt doch, Tomáš hätte das alles getan, nicht wahr?“ Ihr Gesicht lag im Schatten, aber ihre Stimme verriet sie. „Ich weiß nicht, was Leutnant Pavrovský denkt“, erwiderte ich. „Aber ich weiß, daß Ihr Mann keinen Selbstmord verübt hat. Gestern habe ich nämlich mit ihm gesprochen.“ „Wann?“ Der Trauervogel wedelte zum letzten Male mit den Flügeln und flog gen Himmel. Vor mir stand eine Frau, die zu allem entschlossen war. „Als er begriffen hatte, wie das alles wirklich war. Ratlos, verzweifelt und unfähig zu einer Entscheidung, erinnerte er sich an einen Menschen, der ihn fünf Jahre an der Hand geführt und bis zum Diplomingenieur ge175
bracht hatte. Hätte er Josef angetroffen, würde er heute noch leben. Und er würde mir meine Reifen bezahlen, wie er versprochen hatte, weil er noch nicht wußte, daß er die Gehaltszahlung nicht mehr erlebt.“ Hanka öffnete den Mund, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. „Wenige Stunden später ist er mit Ihnen nach Borovec gefahren. Wie haben Sie ihn dazu bringen können? Was haben Sie ihm erzählt, daß er noch an der Wahrheit zweifelte? Hatte er auch gehört, wie Sie mit Ihrem Bruder sprachen – und hielt er das ebenso wie Lukáš für einen Aufschrei des Mörders, den ein böser Traum quält? Oder war ihm schon alles gleich? Der arme Kerl hat Sie geliebt. Sie brauchten ihn nicht zu ermorden, er hätte Sie nicht angezeigt.“ „Ich habe ihn nicht ermordet“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich war nicht dort …“ „Sie waren dort. Sie haben die Spielzeugautos mitgebracht. An dem Nachmittag, als ich mit Lukáš zu Ihnen gekommen bin, hatten Sie die Modelle noch nicht. Sie sind zu zweit nach Borovec gefahren, mit dem Trabant, und Sie sind allein mit dem Moped Ihres Bruders zurückgekommen, das er vergangenen Dienstag dortlassen mußte, weil ihm das Benzin ausgegangen war. Das Benzin haben Sie aus dem Trabant genommen. Aber es blieb genug übrig, um Ihren Mann zu töten. Er bekam einen epileptischen Anfall, nicht wahr? Ich verstehe nichts davon, vielleicht läßt sich das provozieren. Oder Sie haben einfach die Gelegenheit genutzt. Sie erinnerten sich daran, wie Olda einst Ihren Mann in die Garage geschleppt und eingesperrt hatte. War es nicht so?“ „Ja“, sagte sie ruhig. „Es war so – ungefähr. Ich habe Tomáš in der Garage liegenlassen. Er hatte den Wagen gestartet, plötzlich wurde ihm übel, er konnte noch aussteigen und ist hingefallen. Ich war zu Tode erschrocken und rannte fort, in den Wald, wie lange, weiß ich nicht 176
mehr. Tomáš hatte mir gestanden, daß er Onkel Luiz und Frau Malásková ermordet hat. Vor Aufregung hat er wohl den Anfall gekriegt. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Als ich endlich zurückkam, war er schon tot. Mir wurde klar, daß das die beste Lösung war. Ein Selbstmord bedeutete schließlich ein Geständnis. Ich nahm das Moped und fuhr heim.“ Frau Drozdová war eine vorzügliche Spielerin. Sie bluffte bis zum Schluß, aber ich hatte die besseren Karten in der Hand. „Wieso saß Ihr Mann am Steuer, und nicht Sie? Als Epileptiker konnte er keine Fahrerlaubnis haben?“ Sie lächelte nachsichtig. „Tomáš wollte auch nicht am Steuer sitzen, sondern nur den Wagen aus der Garage fahren. Ich ging inzwischen das Spielzeug holen.“ „Für die kurze Zeit haben Sie den Wagen in die Garage gefahren?“ Sie antwortete mit einem Schulterzucken. „Und wie war es am Donnerstag? An dem Tag, als ich mit Ihrem Mann zusammengetroffen bin, als er mich zusammengeschlagen und in den Wald geschleppt hat? Er war doch wegen des Trabant gekommen, um die defekte Elektrik zu reparieren. Wollte er allein heimfahren?“ „Das weiß ich nicht, offenbar ja. Viele Leute fahren ohne Fahrerlaubnis.“ „Das stimmt“, sagte ich. „Doch als ich hinkam, stand Ihr Wagen nicht dort. Weder draußen, noch in der Garage. Dort stand nur das Moped.“ Sie tat verwundert. „Wissen Sie das bestimmt?“ „Ja, und ich weiß auch, wo der Wagen war. In Brandýs oder schon auf dem Rückweg. Mit Frau Malásková. Lebte sie noch?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Weil Sie gefahren sind. Ihrem Mann haben Sie wahrscheinlich gesagt, Sie wollten eine Probefahrt machen. Das tut man gewöhnlich nach einer Reparatur. Frau Ma177
lásková hat in Brandýs auf Sie gewartet. Sie haben sie in der Heilanstalt angerufen, das hatten Sie Lukáš versprochen. Getötet haben Sie die Frau unterwegs bei den einsamen Feldern. Und welch ein günstiger Zufall: Als Sie zur Villa kamen, schleppte mich Ihr Mann gerade in den Wald. Was hätten Sie getan, wenn er vor dem Haus auf Sie gewartet hätte? Wären Sie weitergefahren? Hinter dem Dorf sind Teiche, dort läßt sich eine Leiche besser verstecken. Allerdings hätten Sie riskiert, gesehen zu werden. Die alte, kleine Frau in den Sumpf zu ziehen, war kein Problem. Als Ihr Mann zurückkam, machte er Ihnen eine Szene. Damals glaubte er noch, ich wäre Ihr Liebhaber. Er sagte Ihnen, was er mit mir angestellt hatte. Das paßte Ihnen ausgezeichnet ins Konzept. Es ist nicht verwunderlich, wenn eine beleidigte Frau nach einem Streit schmollend in den Wald läuft. Sie nahmen ein Messer mit. Denn Sie brauchten einen Beweis, daß ich an dem Abend in Borovec war. Die Reifen haben Sie zerstochen und nicht Ihr Mann. Und um den Verdacht endgültig auf mich zu lenken, haben Sie nachts die Pistole unter der Treppe versteckt. Sie wußten ja, daß ich nicht hier war. Zufälligerweise hat ein betrunkener Zigeuner die Waffe gefunden und behalten.“ „Was für eine Pistole?“ lispelte sie. „Die Pistole, mit der Sie Frau Malásková erschossen haben, damit sie nicht sagen konnte, warum Luiz Ezechiáš ermordet wurde. Sie wußte, mit wessen Geld und auf wessen Grundstück die Barrandover Villa gebaut war. Sie wehrte sich dagegen, daß Ihr Onkel darauf verzichten wollte. Die beiden beabsichtigten zu heiraten, Frau Malásková wollte die Zukunft ihres Enkels sichern. Und weil sie auch ein Mensch aus einer anderen Zeit war, fiel ihr nichts besseres ein, als Lukáš Geld und Besitz zu verschaffen.“ Das Spiel war zu Ende. Es war ein mitleidsloses, blutiges Spiel, bei dem die Herzdame die übrigen Karten 178
ohne Rücksicht auf deren Wert gestochen hatte. Zum letztenmal versuchte Hanka zu bluffen. „Es war Olda“, sagte sie mit krampfhaftem Bemühen, ruhig zu bleiben. „Er ist geflohen! Sie wissen selber, daß er Angst hat …“ „Er hat Angst vor Ihnen. Weil er weiß, daß Sie zu zweit mit dem Wagen weggefahren und allein mit dem Moped zurückgekommen sind. Gestern hat er begriffen, daß Sie jeden beseitigen, der Sie des Mordes an Luiz Ezechiáš überführen könnte. Olda hatte keinen Grund, seinen Onkel zu ermorden. Im Gegenteil, der Brief hatte für ihn nur Wert, solange Luiz Ezechiáš lebte. Nach seinem Tode wäre das nur ein wertloses Stück Papier gewesen. Ich bin kein Jurist, vielleicht würden die Ansprüche etwas gelten, wenn ein Testament zugunsten Ihres Bruders vorhanden wäre. Und das haben Sie befürchtet, als Olda Ihnen am Dienstagabend triumphierend den Brief gezeigt hat, den Sie Ihrem Onkel nicht hatten entlocken können. Der alte Mann wollte Ruhe haben – aber er hat nicht gedacht, daß er sie so bald und auf solche Weise findet.“ Hanka taumelte, ich stürzte zu ihr und packte sie am Arm. „Wie können Sie nur …“, flüsterte sie. „Sie waren doch dabei. Ich konnte das gar nicht tun!“ „Doch, das konnten Sie. Sie brauchten mich dort als Zeugen, daß Sie fortgegangen waren, und als Tatverdächtigen. Dazu habe ich noch beigetragen, als ich hineinging. Damit hatten Sie nicht gerechnet. Sie dachten, ich würde mich vor dem Hund fürchten. Sie hatten großes Glück, daß wir uns nicht im Garten begegnet sind. Denn Sie sind nicht zu Frau Malásková gegangen, sondern durch den Wald hinunter zum Tor. Sie haben Ihren Onkel erschossen. Dabei haben Sie einen Augenblick genutzt, als auf der Straße ein Laster vorbeifuhr – und dort fahren viele. Außerdem bellte der Hund. Sie muß179
ten von der Pistole wissen, wahrscheinlich lag sie immer in der Werkstatt. Dann sind Sie auf einem Umweg zu Frau Malásková gegangen. Lukáš hat Sie kommen und nicht weggehen sehen. Er ist nur ein kleiner Junge, der sich einreden ließ, Sie hätten auf ihn gewartet. Sicherheitshalber haben Sie ihn mit den Spielzeugautos geködert, sogar mit dem Versprechen, Sie würden ihm die ganze Sammlung schenken. Übrigens – wissen Sie, daß sie mehrere Hunderttausend Kronen wert ist?“ Sie hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an mich. „Nein! Nein! Das ist nicht wahr!“ Ihr Gesicht vergesse ich bis an mein Lebensende nicht. „Sagen Sie, daß das nicht wahr ist“, bettelte sie. Ein starker Scheinwerfer durchschnitt die Finsternis. Ein Polizeiauto mit Blaulicht und ein weiterer Wagen erschienen auf der Baustraße. Ich kniff die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich Leutnant Pavrovský aus dem zweiten Wagen steigen. Aus dem ersten stieg ein uniformierter Polizist, gefolgt von einem jungen Mann. Es war Oldřich Ezechiáš. Ein weißer Schatten huschte davon. Ich schrie auf, doch die Polizisten hatten Hanka schon gesehen. Der Leutnant und zwei Männer jagten ihr nach. Ich stürzte hinterher und war ihnen gegenüber im Vorteil, weil ich das Gelände kannte. In die Richtung, in die Hanka floh, führte nur ein einziger Weg. Er endete bei dem Hochhaus, der monströs schönen Dominante der Baustelle. Auf beiden Seiten war er lediglich von Baugruben voller klebrigem Lehm gesäumt. Hanka wußte das nicht, sie konnte mir nicht entkommen. Ich verlor keine Zeit wie die Männer hinter mir, die mehrmals in blinde Abzweigungen rannten. Trotzdem war Hanka im Gebäude verschwunden, als ich ankam. Hinter mir hörte ich die Flüche der Männer, die durch den Dreck stapften und über Balken stolperten. 180
Sie antworteten auf meine Rufe. Meine Stimme hallte im Skelett des zwölfstöckigen Gebäudes wie in einem Dom. Sie übertönte das Klappern der Schuhe auf der Stahltreppe. Ich starrte in das dunkle Geflecht von Stahlträgern, sah aber nichts. Mein Blick fiel auf einen Mast an der Seitenwand. Nach wenigen Schritten stand ich auf der Plattform und drückte einen Knopf, die Hexe begann zu steigen. Sie fuhr unendlich langsam, trotzdem war sie schneller als das Mädchen auf der Treppe. Bald erblickte ich Hanka über mir. Ihre Kräfte waren versiegt, sie hing über dem Treppengeländer, das Gesicht von den Haaren verdeckt. Ich schrie warnend auf und hielt den Aufzug an. Es war zu spät. Die weiße Gestalt hatte sich noch weiter vorgebeugt und war über das Geländer gefallen. Sie flog lautlos an mir vorbei wie ein weißer Vogel mit angelegten Flügeln. Ich hörte nicht einmal das Aufschlagen ihres Körpers. Langsam fuhr ich wieder hinunter. „Das werden Sie büßen müssen“, fuhr mich Leutnant Pavrovský an. „Warum, zum Teufel, habe ich Sie freigelassen?“ „Vielleicht, um Ihnen das zu bringen.“ Ich gab ihm den Brief. Er überflog ihn, wobei er röchelnde Laute von sich gab, und steckte ihn unwirsch in die Tasche. „Konnten Sie sie nicht aufhalten? Oder wollten Sie das nicht?“ „Nein.“ Ich wußte nicht, auf welche der beiden Fragen ich antwortete. „Sie war schneller. Es war ein Zufall, daß sie gerade dorthin geflüchtet ist.“ Hanka lag zwischen uns. Der weiße Mantel war mit Lehm bespritzt, aber das Gesicht war sauber und unverletzt. Der Tod hatte gnädig alle Spuren dunkler Leidenschaften getilgt, die sie zu den Verbrechen getrieben hatten. Sie sah wieder aus wie das Schulmädchen, das un181
längst, erst vor einer Woche, durch den Zaun bei der roten Villa mit dem alten Hund gesprochen hatte. „Schreiben Sie sich keine Verdienste zu, die Sie nicht haben“, sagte Leutnant Pavrovský eisig. „Den Brief brauche ich nicht. Ihr Bruder ist zu uns gekommen. Wir haben sie gleich gesucht, sie war von Anfang an verdächtig. Nachdem wir die Leiche von Frau Malásková gefunden hatten, rettete sie nur der angebliche Selbstmord ihres Mannes vor der Verhaftung. Uns fehlte ein Motiv, und das ist immer …“ „Wo ist Lukáš?“ unterbrach ich ihn. „Hat er Sie nicht angerufen?“ „Natürlich. Deshalb sind wir geradewegs hierher gekommen.“ „Sie sollten nicht mit Autos auf die Baustelle fahren! Wären Sie leise gekommen, könnte alles anders aussehen“, warf ich ihm vor. „Warum haben Sie nicht angehalten, als er Ihnen zugewinkt hat? Sie konnten ihn doch nicht übersehen. Wo ist er?“ „Was reden Sie da?“ sagte der Leutnant aufgeregt. „Uns hat niemand zugewinkt, wir haben niemanden gesehen! Wo soll er sein? Warten Sie doch!“ Ich rannte den Weg zurück, auf dem ich vor wenigen Minuten Hanka Drozdová verfolgt hatte, lief die Baustraße entlang, an meinem Wagen vorbei. Er war mir zu langsam. Ich raste auf den zerfahrenen Wegen dahin, unten floß unheilvoll die Moldau, vor mir spannte sich der abgebrochene Brückenbogen. An der Straßengabelung sah ich mich um. Die kleine Gestalt im roten Pullover war nirgendwo zu erblicken. Mein vor Entsetzen gelähmtes Hirn versuchte zu überlegen, ob sich Hanka und Lukáš begegnet sein konnten. Die Zeit verschwamm zu einem einzigen Strom unglaublicher, grauenvoller Ereignisse. Mit schwacher Stimme rief ich nach dem Jungen. Niemand antwortete mir. Ich wankte hinunter zum Flußufer, das mit Gesträuch und 182
dichtem Unkraut bewachsen war. Hinter dem ersten Strauch fand ich ihn. Er lag zusammengerollt da, das Gesicht in den Armen geborgen. Ich kniete mich neben ihn nieder und hörte nur meinen keuchenden Atem. „Lukáš“, sagte ich. „Mein Junge …“ Das weiße Köpfchen bewegte sich, die verschlafenen Augen blinzelten mich erstaunt an. Lukáš gähnte und richtete sich auf. „Ach, Sie sind das? Wie ist es ausgegangen? Habe ich alles richtig gemacht?“ „Ja, Lukáš. Alles ist okay.“
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Paul Evertier Man stirbt nicht ungefragt Kriminalroman Ganzleinen mit Schutzumschlag, etwa 250 Seiten, etwa 6,- Mark
Leseprobe Es war kein guter Tag, dieser 27. Juli 1982. Bereits am zeitigen Vormittag begann ich das zu ahnen. Gegen acht hatte ich Kommissar Antoine Crampon in der Sûreté meine Aufwartung gemacht, um mir einige Auskünfte zu holen über einen Klienten, der mir sozusagen unter den Händen weggestorben war. Henri Laborde war nichts weiter gewesen als ein kleiner Devisenschieber, doch irgendwelche großen Haie hatten sich an seine Fersen geheftet. In seiner Not wandte er sich an mich. Vielleicht hätte er das besser nicht tun sollen. Zwei Tage darauf jedenfalls konnte er sich an niemanden mehr wenden. In einer Vorstadtspelunke setzte ein Dolchstoß all seinen Problemen ein rasches Ende. Antoine Crampon allerdings beschäftigte das kaum. Eine Messerstecherei unter Ganoven – mehr war das für ihn nicht. Ich war ein bißchen erbittert, als ich das zur Kenntnis nehmen mußte. Ein kleiner Fisch wie Henri Laborde, das fiel unter die Routine. Entweder klärte sich die Sache im Alleingang auf, oder sie wurde nicht aufgeklärt. Niemand regte sich auf, niemand würde ihn vermissen, solange die Presse ihr Maul nicht aufriß. Ein Fall für die Statistik und erledigt. Ja, die Sûreté! Und wenn ich Sûreté sage, dann meine ich die Pariser Polizeipräfektur am Quai des Orfèvres und nicht die Sûreté Nationale. Eine Angewohnheit von mir, die ich wohl mit den meisten Parisern teile. Die Sûreté also! Mit ohnmächtigem Ingrimm beo-
bachtete ich seit geraumer Zeit, wie sie mehr und mehr in den Sog politischer Interessen und Machtkämpfe geriet. Die Rücksichtnahme auf das Wohl und Wehe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens spielte eine immer größere Rolle, und so hatte man jetzt mehr damit zu tun, Skandale zu vertuschen, als Kriminalfälle aufzuklären. Da brauchte ich nur an die Diamanten-Affäre unseres Expräsidenten Giscard d’Estaing zu denken. Die Galle konnte einem hochkommen! Und wie es schien, war das Schwergewicht der gesamten Arbeit mittlerweile hinübergewandert zur Direktion der Politischen Polizei und zur Generalinspektion des Sicherheitsdienstes. Friedensdemonstranten oder die streikenden Arbeiter von Renault beschäftigten sie allemal mehr als die Leiche eines harmlosen Gauners. Doch vielleicht tat ich Crampon auch unrecht. Wer konnte schon gegen den Strom schwimmen in einer solchen Institution? Heilfroh war ich, daß ich mit dem ganzen Klüngel nichts mehr zu tun hatte. An meiner Erbitterung änderte das jedoch ebensowenig wie an der Tatsache, daß Crampon uninteressiert war und blieb. Statt dessen hatte er mich hier hinausgeschleppt, auf den Parkplatz an der Gare de l’Est, und ich durfte mir nun einen toten mausgrauen Herren beschauen, der über die Kofferraumklappe seines ebenfalls mausgrauen, sehr altmodischen VW-Käfers gebeugt lag, als wollte er nur mal rasch nach den Scheibenwischern sehen. Jemand hatte ihm durch die Schläfe geschossen, dem mausgrauen Herrn, und es hatte nicht einmal sonderlich geblutet. Der Ambulanzwagen stand schon da, der Arzt hob den einen Arm des Toten an und ließ ihn wieder zurückfallen, und die Spurensicherung war mitten in ihrer aufwendigen Geschäftigkeit. Das alles regte mich wahrlich nicht mehr sonderlich auf. Ich hatte das während meiner Laufbahn einige hundert Male gesehen, und
Crampon hätte schon stärkeres Geschütz auffahren müssen, um mir mehr als nur ein mittelmäßiges Interesse abzugewinnen. Es ging mir um Henri Laborde an diesem Vormittag und um nichts sonst. Mit leiser Ungeduld schaute ich dem mir sattsam bekannten Gehabe des Kommissars zu. Er räusperte sich, schimpfte und stampfte um den Toten herum, knurrte den Arzt an, die Kriminaltechniker und seine Inspektoren, daß es kaum zum Aushalten war. Allerdings handelte es sich bei dem erschossenen Mann auch nicht um einen kleinen Ganoven, vermutlich war er überhaupt kein Ganove gewesen. Er hieß Adolphe Brume, wie aus seinen Papieren hervorging, und er war mittlerer Angestellter einer großen und bekannten Pariser Maklerfirma; Spezialität: Devisen- und Kapitaliengeschäft. Möglicherweise war es das, was meinem Antoine die Laune verdarb. Brumes Geldbörse war zwar nicht üppig gefüllt – Leute seiner Rangordnung verdienten wohl nicht allzuviel –, aber dennoch ausreichend, und es fand sich auch noch eine Schlafwagenkarte für den Schnellzug Frankfurt am Main – Aachen — Paris. Diese Reise hatte er in der vergangenen Nacht zurückgelegt, was unschwer aus den Stempeln der Grenzübergangsstelle in seinem Paß zu ersehen war, und wohnhaft war er hier in der Stadt, 32 Rue Sarrette. Devisen! Laborde hatte auch mit Devisen zu tun! Doch dann wies ich diese Überlegung weit von mir. Zwischen den beiden Fällen konnte es keine Zusammenhänge geben, absolut nicht. Laborde und dieser Brume im Auftrag seiner Firma – das waren zwei Welten. Immerhin kannte ich Crampon gut genug, um von Stund an ein leises, unterschwelliges Mißtrauen in mir wachzuhalten. Der Kommissar hatte unterdessen seine Aufmerksamkeit einem untersetzten, breitschultrigen jungen Mann in kleinkariertem Anzug zugewandt. Der Mann
sah so ausländisch aus, daß es auch Crampon nicht entgangen war. „Also Sie haben den Toten gefunden?“ herrschte er den Fremden an. „Wann war das genau? Und haben Sie etwas angefaßt oder verändert? So reden Sie doch, Mensch!“ Der Mensch redete nicht, sondern zuckte nur hilflos die Achseln. „Der Mann ist Schwede“, mischte sich da einer der Inspektoren ein. Es war Couleuvre, den ich nicht leiden konnte. „Sie müssen langsam und deutlich sprechen, Chef; er versteht nicht viel Französisch.“ „Auch das noch!“ stöhnte Crampon, aber er dachte gar nicht daran, deswegen nun seine Sprechweise zu ändern. „Unglaublich!“ krakeelte er vielmehr weiter. „Ein Schwede – und findet für uns die Leichen! Und das mitten am hellen Vormittag an der Gare de l’Est! Nächstens bringen sie uns die noch im Koffer hierher. Vielleicht abgemurkst in Stockholm oder sonstwo.“