Achim Hiltrop präsentiert
Folge 9: Ein Vampir in Belgravia Die hölzernen Planken knarrten unter Colins Schritten, währe...
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 9: Ein Vampir in Belgravia Die hölzernen Planken knarrten unter Colins Schritten, während er unruhig auf dem Deck des Schleppers umherging. Möwen zogen kreischend ihre Kreise über der Themse. Der Himmel war schiefergrau, und ein kalter Regen peitschte seit Tagen über die Stadt hinweg. Es gab Momente wie diese, in denen sich Colin Mirth nach Indien zurücksehnte. Oder Arizona. Oder Ägypten. Oder Sizilien. Oder irgendwo, wo es warm war und nicht ständig regnete. "Hatschi!" Archibald Moore grummelte eine Verwünschung und schneuzte sich mit einem ohrenbetäubenden Trompetenstoß die Nase. "Entschuldigung." "Gesundheit", sagte Colin und betrachtete nachdenklich auf die graubraunen Wasser der Themse, in denen die Regentropfen kleine Kreise erzeugten. "Können wir nicht schneller fahren?", fragte Archibald den Kapitän des kleinen Schiffes. "Nicht hier, Sergeant, nicht mitten in den Docks", Kapitän Coburn schüttelte bedauernd den Kopf und zeigte auf die riesigen Dampf- und Segelschiffe, zwischen denen er den Schlepper hindurch manövrieren mußte. Colin nickte. Coburn und sein Schiff gehörten zu dem Personal der Royal Victoria Docks, einem der vielen Hafenbetriebe, welche die Ufer der Themse im Osten der Stadt säumten. Das Royal Victoria Dock war vor über zwanzig Jahren in Betrieb genommen worden und hatte seinerzeit damit prahlen können, das erste Lagerhaus für tiefgefrorenes Fleisch in Großbritannien zu besitzen. Der Grund für die Anwesenheit der beiden Polizisten von Scotland Yard war allerdings ein anderer. "Gleich da drüben", rief Coburn, während sein Schiff das Heck eines majestätischen Schoners umrundete, "da warten schon die anderen auf uns!" Colin ging zum Bug des Schleppers und lehnte sich über die Reling. Durch den strömenden Regen konnte er eine Gruppe von Leuten auf einer Kaimauer ausmachen, die auf die Ankunft des Schleppers zu warten schien. Einer von ihnen winkte ihm mit einer Laterne zu. Colin winkte zurück. "So, da wären wir, Gentlemen." Zufrieden lenkte Coburn sein Schiff an die Kaimauer heran. "Ahoi!" "Ahoi, Skipper! Sind das die Polizisten?", rief einer der Männer zurück. "Sergeant Mirth und Sergeant Moore von der London Metropolitan Police", kam Archibald dem Kapitän mit seiner Antwort zuvor. "Und wurde gesagt, Sie hätten etwas für uns?" Der Mann mit der Laterne zeigte auf das schmutzige Wasser des Hafenbeckens. "Von hier aus kommen wir leider nicht dran. Mit dem Boot müßten Sie sie eigentlich erreichen können, Sir!" Colin kniff die Augen zusammen und zog die Krempe seines Zylinders tiefer ins Gesicht. Der Schlepper war längsseits gegangen, und nun peitschte ihm der kalte
Colin Mirth Regen direkt in die Augen. Aber der Mann hatte Recht – dort , wo die Wellen träge gegen die Mole schwappte, dümpelte ein regloser Körper im brackigen Wasser. "Versuchen Sie es hiermit", schlug Archibald vor. Er reichte Colin eine lange hölzerne Stange, an deren Spitze ein Haken angebracht war. Colin nickte, nahm die Stange entgegen und atmete tief durch. Dann begann er, behutsam nach dem Leichnam zu fischen. Zuerst gelang es ihm nicht, den treibenden Körper unter Kontrolle zu bekommen. Nach einigen Versuchen jedoch schaffte er es schließlich, die Leiche an das Boot heranzuholen. "Fassen Sie mal mit an", wies er Archibald an. Archibald brummte eine unwirsche Erwiderung, dann beugte er sich weit über die Reling vor und packte mit einer behandschuhten Hand beherzt zu. "Ich habe sie." "Ich auch, Archie." Gemeinsam hievten sie den leblosen Körper an Bord, welcher mit einem widerlich dumpfen Geräusch auf die Planken klatschte. "Allmächtiger", entfuhr es Archibald. Der Kapitän des Schleppers und die Männer auf der Kaimauer bekreuzigten sich. Vor ihnen lag die unbekleidete Leiche einer jungen Frau. Wie lange sie in der Themse getrieben hatte, würde ihnen der Gerichtsmediziner vielleicht sagen können. Jedenfalls war sie lange genug im Wasser gewesen, daß sich die Ratten, welche die weitläufigen Docks bevölkerten, an ihr gütlich hatten tun können. Was aber bemerkenswert war, war die außergewöhnliche Blässe ihrer Haut. "'Oft sah ich einen zeitig Abgeschiednen; aschfarb von Ansehn, mager, bleich und blutlos'", flüsterte Colin. "Henry VI, Teil 2, 3. Akt, 2. Szene." Er kniete neben der Frau nieder und betrachtete nachdenklich ihren Hals. Genau über der Halsschlagader befand sich ein winziges Loch. "Sehen Sie sich das mal an", sagte er und zeigte seinem Kollegen die Stelle. Archibald legte die Stirn in Falten. "Sie meinen, das ist...?" "Ich meine gar nichts", unterbrach ihn Colin mürrisch. "Ich bin genau so ratlos wie Sie, Archie." "Aber Sie müssen doch zugeben..." "Ja, ja", winkte Colin ab. Er stand auf und ging einige Schritte auf und ab. "Genau wie bei den anderen beiden", sagte Archibald tonlos. * "Und Sie sind sicher, das es kein Vampir gewesen sein kann?", fragte Archibald Moore, als er am Abend mit Colin an ihrem üblichen Tisch im Red Lion saß. Colin seufzte und trank sein zweites Pint in einem Zug leer. Diese Diskussion wiederholte sich jetzt, seit vor drei Wochen die erste Leiche mit punktierter Halsschlagader in der Themse gefunden worden war. Seit heute waren es nun drei Opfer, die sich zu einer mysteriösen Serie von Todesfällen aufaddierten. Immer fand man die charakteristischen Löcher in den Hälsen der Opfer, und jedesmal waren die Körper völlig blutleer. Abergläubisch, wie Archibald nun einmal war, hatte er sich schon recht früh darauf versteift, daß ein Vampir in London sein Unwesen treiben mußte. "Nein, Archie. Es gibt keine Vampire", wiederholte Colin geduldig. "Glauben Sie mir, wenn es welche gäbe, wüßte ich davon." "Vielleicht sind Sie nur noch keinem begegnet", warf Archibald ein. "Ich bin keinem begegnet, weil es keine gibt", entgegnete Colin.
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Colin Mirth "Aber Werwölfe gibt es doch auch", protestierte Archibald, "das haben Sie selbst gesagt!" Colin winkte dem Barkeeper, noch zwei Bier zu zapfen. "Gewiß, Archie, gewiß. Werwölfe gibt es natürlich. Im Dschungel von Indien. Ein uraltes Volk, das nicht vom Affen, sondern vom Wolf abstammt. Aber das hat nichts mit Vampiren zu tun." "Das verstehe ich nicht", widersprach sein Kollege. "Es gibt doch da diverse Berichte aus Deutschland und dem Balkan von Toten, die in ihren Gräbern schmatzen und nicht verwesen. Manche sollen sogar wieder aus dem Grab hervorgekommen sein, um den Lebenden aufzulauern. Was hat es denn damit auf sich?" Colin zuckte gleichgültig mit den Achseln. "Wenn ein Toter nicht verwest, dann deutet das darauf hin, daß der Sarg außergewöhnlich luftdicht verschlossen war, würde ich sagen." "Es wurden aber auch Gräber geöffnet, in denen die Toten ihr Leichentuch hinuntergeschlungen hatten und die Särge von innen beschädigt waren", gab Archibald zu bedenken. "Unsinn", schnaubte Colin. "Wenn diese Berichte den Tatsachen entsprechen, dann kann es sich nur um bedauernswerte Geschöpfe gehandelt haben, die man im scheintoten Zustand beerdigt hat." Archibald erschauderte. "Meinen Sie wirklich?" "Es erscheint mir plausibler als die andere Alternative", Colin nahm sein frisches Bier entgegen und prostete seinem Kollegen damit zu, "es gibt nämlich keine Vampire." * "Ich hätte gerne hierfür eine Erklärung", sagte Inspector William Pryce und ließ die Tageszeitung klatschend auf dem Tisch des Besprechungszimmers landen. Archibald Moore und Doktor Ebenezer MacKinnon zuckten unwillkürlich zusammen. Colin griff nach der Zeitung und schmunzelte. "Der Daily Mirror, Sir?" "Die Schlagzeile, Sergeant Mirth", grollte Pryce ungeduldig, "lesen Sie die Schlagzeile!" Colin räusperte sich. "'Ein Vampir terrorisiert London'", intonierte er dann, "'Polizei steht vor einem Rätsel. Drei Menschen ausgesaugt. Weiter auf Seite vier.'" Er schüttelte den Kopf. "Unglaublich." "Das kann man wohl sagen", rief Pryce, "ich habe in zwanzig Minuten eine Besprechung mit dem Superintendent! Was glauben Sie wohl, Gentlemen, warum er mich zu sich gerufen hat?" Archibald machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch der Inspector ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Es hat den Anschein, daß einer von uns jemandem von der Presse vertrauliche Informationen hat zukommen lassen", sagte Pryce schneidend. Sein Blick fiel auf Colin. "Nun, Sergeant, haben Sie mir vielleicht etwas zu sagen?" "Wegen der Vampirgeschichte?", fragte Colin verblüfft. Pryce wußte, daß Colin früher als Geisterjäger für den Secret Service unterwegs gewesen war, und Colin wiederum wußte, daß sein Vorgesetzter nichts von übernatürlichen Phänomenen hielt. Er wich dem Blick des Inspectors nicht aus. "Falls es Sie beruhigt, Sir, ich glaube ebenso wenig wie Sie an Vampire." Der Inspector schürzte nachdenklich die Lippen. "Ihre Tante, Sergeant, ist die nicht gelegentlich journalistisch tätig?" Colin zuckte gelassen mit den Schultern. "Wenn Sie auf die Klatschgeschichten aus der High Society anspielen, die Mrs. Carmichael ab und zu für die Times schreibt: ja. Aber erstens käme ich nie auf die Idee, vertrauliche Informationen an meine Seite 3
Colin Mirth Verwandten weiter zu geben, und zweitens würde es Mrs. Carmichael mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht im Traum einfallen, jemals etwas für die Herausgeber eines Revolverblattes wie den Daily Mirror zu schreiben." Die Miene des Inspectors entspannte sich ein wenig. Dann sah er in die Runde. "Nun gut. Hat jemand sonst einen Vorschlag, wo wir die undichte Stelle suchen sollten?" MacKinnon zog die Stirn kraus. "Ich habe da einen Assistenten, für den ich nicht unbedingt die Hand ins Feuer legen würde." "Sehr schön, Doktor", sagte Pryce, "dann entlassen Sie ihn, ehe er noch mehr ausplaudert. Was können Sie uns sonst über unsere drei Toten erzählen?" Der Gerichtsmediziner breitete seine Unterlagen auf dem Tisch aus. "Edwin Landry, 26 Jahre alt, tot aufgefunden am Sonntag, dem zweiten September. Mortimer H. Murray, 41 Jahre alt, tot aufgefunden am Donnerstag, dem dreizehnten September. Und gestern, am Montag dem vierundzwanzigsten, schließlich Miss Elvira Tomkins. Einundzwanzig Jahre alt. Alle wurden tot aus der Themse geborgen, in Holborn, Southwark und in den Docklands. Alle hatten eine punktierte Halsschlagader, und alle Leichen waren beinahe blutleer." Pryce runzelte die Stirn. "Haben die drei irgendwelche Gemeinsamkeiten? Außer, daß sie alle drei tot sind, meine ich?" MacKinnon schaute ihn ratlos an. "Was ich meine, ist Folgendes", erklärte Pryce, "wir haben es allem Anschein nach mit einem Serientäter zu tun. Bei den bisherigen Serienmörder-Fällen, die ich in meiner Laufbahn bearbeitet habe, gab es aber immer mindestens eine Einzelheit, die allen Opfern zu Eigen war... so, als ob dieser Punkt die Opfer für den Mörder erst interessant gemacht hat." "Wenn es sich also ausnahmslos um junge, blonde Frauen handeln würde—", begann Archibald. "Tut es aber nicht", unterbrach ihn der Arzt kopfschüttelnd. "Wir haben zwei männliche und ein weibliches Opfer. Zwei junge und ein altes Opfer. Die Fundstellen liegen weit auseinander und geben keinen Aufschluß darüber, wo die Morde tatsächlich stattgefunden haben." "Doch", wiedersprach Colin nach einer langen Pause. "Bitte?", fragte Pryce überrascht. "Die Morde haben flußaufwärts stattgefunden", sagte Colin langsam, "westlich von Holborn." "Zumindest einer von ihnen", räumte MacKinnon ein. "Also, wonach suchen wir?" Pryce kratzte sich am Hinterkopf. "Wir suchen", sagte Colin gedehnt, "nach einer älteren Lady." "Warum denn das?", fragte Archibald überrascht. Colin lächelte schief. "Er hat bereits einen jungen und einen älteren Gentleman, aber erst eine junge Lady auf dem Gewissen. Eine ältere Dame fehlt ihm noch." Pryce nickte ernst. "Ein Muster, in der Tat. Aber Sie setzen voraus, daß es nach den vier Fällen keine weiteren geben wird." "Oder er fängt von vorne an, wenn er das Set komplett hat", sagte Colin. "Vielleicht ist er schon fertig", rief MacKinnon. "Er hat einen jungen Mann, eine junge Frau und einen älteren Mann... Bube – Dame – König!" "Ich muß doch sehr bitten, Doktor", polterte Pryce, "dies ist eine ernste Angelegenheit! Der Superintendent will Resultate sehen!" "Was ist mit dem Blut passiert?", fragte Archibald plötzlich. Alle Augen richteten sich auf den Gerichtsmediziner. "Woher soll ich das wissen, Sergeant? Am Tatort war jedenfalls keins", entgegnete MacKinnon. Seite 4
Colin Mirth "Je nachdem, wie lange die Körper bereits im Fluß lagen, ist vermutlich das meiste Blut, das bei der Ermordung vergossen wurde, längst fortgewaschen worden", gab Colin zu bedenken. "Vielleicht hat sie jemand ausgesaugt", schlug Archibald leise vor. "Wie lange braucht ein Mensch, um zu verbluten?", wandte sich der Inspector an den Gerichtsmediziner. MacKinnon seufzte. "Das ist sehr unterschiedlich, Sir. Es hängt zum einen von Gewicht, Größe und Alter der jeweiligen Person ab... diese Faktoren bestimmen das Volumen des vorhandenen Blutes. Und dann natürlich die Art der Verletzung, die der Person zugefügt wurde. Eine gerissene Arterie läßt Sie schneller verbluten als eine weniger dramatische Verletzung." "Bei einem Loch in der Halsschlagader dürfte der Tod also sehr schnell eingetreten sein, richtig?", vergewisserte sich Colin. "Relativ schnell, ja", nickte der Arzt. "Nur mal angenommen, es war doch ein Vampir", sagte Archibald, "könnte es dann nicht sein, daß er... äh..." Er verstummte verlegen, als er den finsteren Blick auffing, den Pryce ihm zuwarf. "Reden Sie nur weiter, Sergeant Moore", sagte der Inspector eisig. "Nun, Sir, es könnte doch sein, daß er sie ausgesaugt und dann in die Themse geworfen hat", sagte Archibald, "rein theoretisch." Pryce seufzte, verkniff sich aber einen Kommentar zu der Hypothese seines abergläubischen Sergeants. Mißmutig sah er auf seine Taschenuhr. "Tja, Gentlemen, ich werde dann mal sehen, wie ich den Superintendent bei Laune halte. Guten Tag!" * "Hätten wir ihm sagen sollen, daß wir gestern abend im Pub über das Thema gesprochen haben?", fragte Archibald besorgt, als er und Colin wieder ihr Büro erreicht hatten. "Vielleicht hat uns jemand belauscht und es dem Daily Mirror erzählt." "Das können wir nicht beweisen, Archie", sagte Colin zerknirscht, "aber Sie haben schon recht, ich mußte auch daran denken. Es könnte durchaus sein. Wir müssen in Zukunft eben noch vorsichtiger sein." Wenige Augenblicke später pochte es an der Tür, und MacKinnon steckte den Kopf herein. "Kommen Sie mal mit", sagte er aufgeregt, "man bringt mir gerade wieder eine neue Leiche aus der Themse hoch!" * Zehn Minuten später standen Colin, Archibald und der Arzt neben dem vierten blutleeren Toten. Diesmal handelte es sich um die Leiche eines jungen Mannes, welche man in unmittelbarer Nähe des Towers aus der Themse geborgen hatte. "Hatte sich im Gitter des Verrätertors verhakt", bemerkte MacKinnon. Colin stutzte. "Das Verrätertor?" "Der Zugang für Boote zum Verlies des Towers", flüsterte Archibald. "Ich weiß", entgegnete Colin, "ich wunderte mich nur. Damit haben wir nämlich eine Gemeinsamkeit unserer vier Opfer gefunden." "Und zwar?", fragte Archibald. "Alle vier wurden am Nordufer der Themse angespült. Halten Sie das für Zufall?" MacKinnon schürzte die Lippen. "Kommt ganz auf die Strömungsverhältnisse in der Themse an." Seite 5
Colin Mirth Colin zuckte mit den Achseln. "Ich halte es für unwahrscheinlich, daß alle vier Leichen kreuz und quer durch den Fluß getrieben sind, ehe sie alle vier am gleichen Ufer ankamen. Wahrscheinlicher ist es, daß alle am Nordufer in die Themse geworfen wurden und parallel zur Uferlinie im Fluß drifteten." MacKinnon beugte sich interessiert über die Leiche und warf einen prüfenden Blick auf den Hals des Toten. "Es gibt noch eine Gemeinsamkeit, Gentlemen." Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Ein Loch in der Halsschlagader?" "In der Tat." "So!", rief Archibald aufgebracht. "Machen Sie, was Sie wollen, Colin. Ich weiß, was ich zu tun habe!" Colin sah ihn überrascht an. "Und das wäre?" "Ich gehe", sagte Archibald mit bebender Stimme, "Knoblauch kaufen." "Mein lieber Sergeant Moore", sagte Colin betont langsam, doch sein Kollege hörte ihm nicht mehr zu. Verwünschungen brummend stapfte er ohne ein Wort des Grußes an ihm vorbei. Hinter ihm fiel die Tür lautstark ins Schloß. "Ich muß doch sehr bitten!", rief MacKinnon ihm nach. Colin seufzte ergeben. "Ich muß mich für meinen Kollegen entschuldigen, Doktor. Ich fürchte, diese Vorstellung von einem Vampir, der in London sein Unwesen treibt, wird allmählich zu einer fixen Idee." "Nun, ich muß zugeben, ganz abwegig ist der Gedanke nicht, Sergeant", sagte der Gerichtsmediziner leise, nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie niemand belauschte. "Ich meine, so ganz unter uns, halten Sie es denn für völlig ausgeschlossen, daß... äh..." Colin strafte ihn mit einem eisigen Blick. "Ich hatte Sie immer für einen rationalen Wissenschaftler gehalten, Doktor." MacKinnon scharrte verlegen mit den Füßen. "Entschuldigen Sie, Sergeant. War nur so ein Gedanke. Vielleicht ist meine Phantasie mit mir durchgegangen." "Ja", sagte Colin ruhig, "vielleicht." "Tja, dann schlage ich vor, daß ich den jungen Mann noch ein letztes Mal eingehend untersuche, während Sie die Vermißtenanzeigen wie üblich nach passenden Personenbeschreibungen absuchen und... Augenblick mal!" MacKinnon blieb wie angewurzelt stehen. "Was ist denn, Doktor?" Der Arzt kniete sich neben dem Tisch hin und betrachtete die rechte Armbeuge des Toten mit einem Vergrößerungsglas. "Das ist ja merkwürdig." Colin sah ihm neugierig über die Schulter. "Was denn?" "Das hier, Sergeant", sagte MacKinnon und kratzte sich ratlos am Kinn. "Verflixt! Jetzt weiß ich gar nicht, ob das bei den anderen auch so war... Wo habe ich jetzt nur die Protokolle abgelegt?" * Colin eilte mit großen Schritten über die Straße und wich dabei nur knapp einem Bus aus. Die Pferde, die das Fahrzeug zogen, schnaubten ungehalten und der Busfahrer rief ihm etwas hinterher, doch Colin achtete nicht auf sie. Zielstrebig ging er auf ein vornehmes Wohnhaus am Belgrave Square zu. Mit federnden Schritten stieg er die Stufen zur Haustür hinauf. Er betätigte die Türglocke, und wenige Augenblicke wurde ihm geöffnet. Ein junges Hausmädchen sah ihn fragend an. "Sie wünschen?" Colin hielt ihr seinen Dienstausweis hin. "Sergeant Mirth, Scotland Yard. Ich hätte gerne einen Moment mit Mister Landry gesprochen, wenn es möglich ist." Seite 6
Colin Mirth Sie schüttelte den Kopf. "Mister Landry empfängt keine Besucher. Dies ist ein Trauerhaus, Sir." "Ich weiß", sagte Colin mitfühlend, "und leider ist der Tod von Mister Landrys Sohn auch der Anlaß meines Besuches." Das Mädchen stand einen Moment lang unschlüssig in der Tür, machte aber keine Anstalten, Colin eintreten zu lassen. "Es tut mir leid, Sergeant", sagte sie dann, "aber ich habe meine Anweisungen." "Also schön", sagte Colin mit gespielter Gleichgültigkeit, "aber bitte fragen Sie Mister Landry doch, ob er Interesse an einer Aufklärung des Falles hat oder ob es ihm lieber ist, wenn halb London wochenlang über die mögliche Todesursache spekuliert." Sie biß sich nervös auf die Unterlippe. "Selbstverständlich, Sir." Sie wollte sich gerade umdrehen und tun, was Colin ihr aufgetragen hatte, als sie bemerkte, daß es äußerst unhöflich gewesen wäre, ihn draußen auf der Straße stehen zu lassen. Widerwillig hielt sie ihm die Tür auf. "Wenn Sie bitte so lange hier drinnen warten möchten?" Zufrieden, daß sein kleiner Plan aufgegangen war, betrat Colin das Haus. "Ich warte gleich hier in der Halle", sagte er bescheiden, "machen Sie sich meinetwegen keine Umstände." "Wie Sie wünschen", sagte sie. Sie ließ ihn allein und trippelte die Treppe hinauf. Colin hörte gedämpfte Stimmen von oben, während er im Eingangsbereich auf und ab ging und die Bilder an den Wänden betrachtete. Er zählte drei Kupferstiche aus Paris und vier aus Rom. Er überlegte gerade, woher er das Motiv des achten Bildes kannte, als er Schritte auf der Treppe vernahm. "Sind Sie der Gentleman von Scotland Yard?" Colin drehte sich um und sah einen Mann von etwa sechzig Jahren auf sich zukommen. Er war hochgewachsen und schlank und machte einen aristokratischen Eindruck. Sein gutaussehendes Gesicht wurde jedoch von dunklen Schatten unter seinen Augen entstellt. "Mein Name ist Mirth. Ich ermittle in den Themse-Morden, Sir. Darf ich Ihnen zunächst mein Beileid—" "Die Themse-Morde", sagte der Mann spöttisch, "die Vampir-Morde, meinen Sie wohl. Die ganze Stadt spricht von nichts anderem mehr!" "Bei allem Respekt, Sir, ich bin nicht davon überzeugt, daß wir es hier mit Vampirismus zu tun haben. Ich bin sicher, es gibt eine völlig plausible Erklärung für diese schrecklichen Vorfälle. Sie sind George Landry?" Der Hausherr nickte müde. "Und warum, Mister Mirth, sind Sie davon überzeugt, daß der Mörder meines Sohnes kein Vampir ist?" Colin zuckte mit den Schultern. "Weil ich definitiv weiß, daß es keine Vampire gibt, Sir." Landry seufzte schwer. "Das macht Sie in London in diesen Tagen zu einer Minderheit, Sergeant." "Mein Vorgesetzter, der mich mit den Ermittlungen beauftragt hat, sieht das ganz genau so wie ich, Sir", versicherte Colin ihm. "Scotland Yard beteiligt sich nicht an der Verbreitung der absurden Gerüchten, die in der Stadt kursieren." "Da bin ich aber froh, daß Sie das sagen", sagte Landry säuerlich, "weil vor einer Stunde nämlich einer von Ihren Kollegen hier war und mich allerlei wirres Zeug über meinen Sohn fragte." Colin fühlte sich, als ob ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Er räusperte sich verlegen. "War er ungefähr einen Kopf kleiner als ich und ein paar Pfund schwerer?" "Ja", antwortete Landry finster.
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Colin Mirth Colin zwang sich, ruhig zu bleiben. Er würde gleich im Anschluß an dieses Gespräch ein ernstes Wörtchen mit Archibald Moore reden müssen – aber nun galt es, die Beherrschung zu bewahren, um Mister Landry nicht völlig zu verärgern. "Meine aufrichtige Entschuldigung, Sir", sagte er kleinlaut, "ich kann mir nicht erklären, was in meinen Kollegen gefahren sein muß." "Ich auch nicht. Darum habe ich ihn auch aus dem Haus geworfen", sagte Landry in einem nüchternen Tonfall. "Sie wollten mir aber eine Frage stellen, sagte Daphne." "Nun ja", Colin wählte seine Worte mit Bedacht, "ist Ihnen vielleicht bekannt, ob Ihr Sohn in den letzten Tagen in ärztlicher Behandlung war?" Landry runzelte die Stirn. "Warum fragen Sie das?" "Nun, Sir, wir haben Einstichlöcher in seinen Armen gefunden, welche von Transfusionsnadeln oder ähnlichem stammen könnten", erklärte Colin. "Daher die Frage." "Mein Sohn war sein ganzes Leben lang in ärztlicher Behandlung, Sergeant", brummte Landry, "aber Transfusionen hat ihm bestimmt keiner seiner Ärzte gegeben." Colin stutzte. "Ach nein? Warum denn nicht?" Landry sagte es ihm. * Es war bereits dunkel, als Colin das Haus der Witwe Murray erreichte. Im Schein der Gaslaternen sah er, wie die Haustür von innen geöffnet wurde und Archibald Moore das Gebäude verließ. Im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um, um sich von der Frau zu verabschieden. "Vielen Dank für Ihre Zeit, Mrs. Murray", hörte Colin ihn sagen, "und denken Sie daran, was ich gesagt habe: viel Knoblauch!" Als die Tür ins Schloß fiel, drehte Archibald sich um – und erschrak fast zu Tode, als er bemerkte, daß Colin inzwischen unmittelbar hinter ihm stand. "Meine Güte, haben Sie mich erschreckt", keuchte er, "was um Himmels Willen machen Sie hier?" "Das gleiche könnte ich Sie fragen", knurrte Colin. "Ich ermittle", sagte Archibald pikiert, nachdem sein Puls sich wieder halbwegs normalisiert hatte, "und ich habe der armen Mrs. Murray gerade noch einige Verhaltensregeln empfohlen... nur für den Fall, daß der Vampir noch einmal zurückkehrt, der ihren Mann—" "Sie haben was?!", rief Colin. "Verhaltensregeln", wiederholte Archibald gereizt, "über den Umgang mit Vampiren. Sie wissen schon, Kruzifixe, Knoblauch—" Weiter kam er nicht. Colins rechte Hand ballte sich unwillkürlich zur Faust und beschrieb einen Bogen, welcher abrupt und schmerzhaft an Archibalds Kinn endete. Der Sergeant fiel um wie vom Blitz getroffen. Colin blieb schwer atmend stehen. Dann setzte er sich neben seinem bewußtlosen Kollegen auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. * "Mir ist kalt", brummte Archibald. Flatternd öffneten sich seine bleischweren Augenlider. "Das liegt an dem Eisbeutel, Sergeant", sagte die bläulich schimmernde Gestalt eines bärtigen, kahlköpfigen Mannes, welche neben ihm zu schweben schien. "Soll ich Ihnen einen frischen holen?" Seite 8
Colin Mirth "Eisbeutel?", echote Archibald. Seine Hand tastete nach seinem Kopf und fand eine kalte Masse, die seinen Schädel bedeckte. "Was für ein Eisbeutel?" "Er hat eine Gehirnerschütterung, Efendi", sagte die blaue Gestalt besorgt. "So feste habe ich nun auch nicht zugeschlagen, Abdul", hörte Archibald die Stimme von Colin Mirth. Archibald schlug die Augen auf und sah an die stuckverzierte Decke und den Kronleuchter in Colins Wohnzimmer. Er lag auf dem Sofa vor dem Kamin, in dem einige Holzscheite brannten. Colin saß in seinem Lieblingssessel am Fenster und nippte an einem Drink. "Möchten Sie auch einen?", fragte er höflich, "das ist ein Sazerac. Eine Erfindung aus den ehemaligen Kolonien. Die beste seit der Sache mit dem Tee." "Sie machen mir Spaß", grunzte Archibald und betastete behutsam sein malträtiertes Kinn. "Erst schlagen Sie mich nieder, und jetzt bieten Sie mir einen Cocktail an?" "Zur Versöhnung", sagte Colin milde. Er gab Abdul einen Wink, und Sekunden später hatte der Flaschengeist dem Sergeant einen Sazerac gemixt. Achibald nahm einen vorsichtigen Schluck. "Puh", meinte er dann, "was ist denn da drin?" "Whiskey", sagte Colin, "unter anderem." "Ich hätte lieber einen richtigen Whiskey", brummte Archibald und stellte sein Glas weg. Er hatte kaum ausgesprochen, da hielt Abdul ihm ein Glas mit einer honiggelben Flüssigkeit hin. "Bitte sehr." Verdutzt nahm Archibald das Glas entgegen. "Wie konnten Sie nur diese armen Menschen mit Ihren Gespenstergeschichten ängstigen?", sagte Colin kopfschüttelnd, "haben Sie eine Ahnung, was in denen vorgeht?" Archibald nippte an seinem Whiskey. "Der ist besser", stellte er fest und fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen. "Ein Single Malt?" Abdul nickte. "Der Beste, den der Efendi im Schrank hat." Colin stand auf und ging dozierend im Zimmer umher. "Archibald, wir haben es hier mit den Hinterbliebenen von Mordopfern zu tun. Mordopfer, die auf grausamste Art gequält und umgebracht wurden." Er blieb stehen. "Und Sie gehen hin und erzählen den armen Leuten Unsinn über Knoblauch und Kruzifixe." "Das ist kein Unsinn", protestierte Archibald, "jeder weiß doch, daß Kruzifixe und Knoblauch gegen Vampire helfen!" "Es gibt keine Vampire", sagten Colin und Abdul gleichzeitig. "Schön", rief Archibald, "dann erklären Sie mir doch mal, warum alle unsere Opfer keinen Tropfen Blut mehr im Körper hatten! Warum? Weil es ihnen jemand ausgesaugt hat. Sie wissen schon, 'Zu saugen, saugen, recht das Blut zu saugen!'" "Henry V, 2. Akt, 3. Szene." Colin nippte an seinem Drink. "Nun gut. Nehmen wir zum Beispiel mal den jungen Edwin Landry. Wissen Sie, was mir sein alter Herr heute erzählt hat?" "Nein. Was denn?" "Der junge Mister Landry war hämophil", verkündete Colin triumphierend. Archibald runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. "Ich verstehe nicht, was Edwin Landry sexuelle Neigungen mit der Sache zu tun haben", gestand er nach einer Weile. Colin rollte ungeduldig mit den Augen. "Hämophil, Archie, nicht homophil! Hämophile Menschen sind Menschen mit extrem dünnflüssigen Blut." "Dünnflüssiges Blut?", fragte Archibald verwirrt.
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Colin Mirth "Dünnflüssiges Blut", wiederholte Colin. "Blut, welches äußerst langsam – wenn überhaupt – gerinnt. In der Times stand vor ein paar Monaten ein Bericht darüber. Es gibt da einen deutschen Physiologen, der im letzten Jahr eine Publikation über das Thema geschrieben hat. Er scheint damit in der Fachwelt für ziemliche Aufregung gesorgt zu haben." Archibald nippte an seinem Drink. "Wenn sich nun so jemand verletzt..." "... dann verblutet er", führte Abdul den Gedanken zu Ende, "und zwar schneller als normale Menschen." "Das wäre eine Erklärung", räumte Archibald ein, "jetzt wäre es interessant zu wissen, ob die anderen Mordopfer das gleiche Problem hatten." "Ich war auf dem Weg, genau das herauszufinden, als Sie mir zuvorgekommen sind", erinnerte Colin ihn mit vorwurfsvoller Stimme. "Schon gut", erwiderte Archibald mürrisch, "aber diese These bringt uns immer noch nicht weiter. Warum sind alle vier kurz nacheinander gestorben? Und warum trieben sie nackt in der Themse?" Colin schnippte mit den Fingern. "Da sagen Sie was, Archie. Ganz einfach, der Mörder hat bei seinen Taten die Kleider seiner Opfer zwangsläufig mit Blut befleckt. Darum hat er sie entkleidet und nackt in den Fluß geworfen. Das Wasser hat die Blutspuren von den Leichen gewaschen, und die verräterischen Kleidungsstücke hat der Mörder wohlweislich vernichtet." "Und wenn es nun doch ein Vampir ist, der uns nur glauben machen will, ein Mensch hätte so gehandelt?" "Es gibt keine Vampire", sagten Abdul und Colin gleichzeitig. "Was macht Sie da so sicher, verdammt noch mal?!" Colin und der Flaschengeist wechselten einen Blick. "Sag' du es ihm, Abdul." Abdul räusperte sich. "Den letzten Vampir haben wir 1874 in Neapel vernichtet." * "Es gab auf der ganzen Welt nur noch drei Vampire", erzählte Colin, als er und Archibald am nächsten Morgen den Eaton Square entlang schlenderten, "einen hat Abdul unter einem seiner früheren Meister vernichtet, den zweiten hat Kardinal LeBlanc schon vor Jahrzehnten in Paris zur Strecke gebracht, und den dritten schließlich habe ich in Italien erledigt." "Wie können Sie so sicher sein, daß er wirklich der Letzte seiner Art war?", fragte Archibald skeptisch. "Er hat es uns gesagt, Archie. Ganz einfach." Archibald blieb wie angewurzelt stehen. "Er hat es Ihnen gesagt? Ist das alles?" Colin grinste listig. "Wenn Sie ein übernatürliches Wesen wären, Archie, und ich würde Ihnen mit den Bannsprüchen des Euridicus drohen, würden Sie mir auch die Wahrheit sagen." "Aber getötet haben Sie ihn dann trotzdem", hakte Archibald nach. "Er war ein Untoter, Archie", korrigierte Colin geduldig, "ich habe ihn vernichtet, nicht getötet." "Wie auch immer. Wenn er doch nun ahnte, was ihm ohnehin blühte, könnte er Sie dann nicht belogen haben?" Colin stutzte. "Warum hätte er das tun sollen?" "Damit Sie unvorbereitet sind, wenn Sie noch einmal einem Vampir begegnen", sagte Archibald vorsichtig, "so wie jetzt zum Beispiel."
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Colin Mirth Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Archie, Sie können es einfach nicht lassen, was? Vertrauen Sie mir, Sie werden mich nicht von Ihrer Theorie überzeugen. Ich kenne die Wahrheit über Vampire, nicht nur die gängige Folklore." "Wie sie meinen", entgegnete Archibald gleichgültig. Colin deutete auf ein nahegelegenes Wohnhaus. "Da vorne ist es. Nummer dreiundvierzig. Hier hat Elvira Tomkins gearbeitet. Archie, wenn wir jetzt da hineingehen—" "Ich weiß schon", winkte Archibald ab, "kein Wort über Vampire. Ich werde schweigen wie ein Grab." "Fein." Colin ließ ihm den Vortritt. "Nach Ihnen." * "Das arme, arme Ding", murmelte Lady Penelope Aldritch mit zitternder Stimme, "das arme, arme Ding." Colin hatte Lady Aldritch vor einigen Monaten anläßlich einer Dinnerparty im Hause von Lord Fairfax kennengelernt. Er hatte mit Bestürzung feststellen müssen, daß es sich bei Elvira Tomkins um die Köchin des adeligen Ehepaares gehandelt hatte. "Stand Miss Tomkins eigentlich schon lange in Ihren Diensten?", fragte Colin höflich. "Zu Weihnachten wären es zwei Jahre gewesen", sagte Lady Aldritch, "sie hatte vor uns nur einen anderen Arbeitgeber. Sie war ja noch so jung... ach, das arme Ding!" Colin nickte ernst, und Archibald machte sich eifrig Notizen. "Sagen Sie, Lady Aldritch, ist Ihnen bekannt, ob Miss Tomkins in letzter Zeit in ärztlicher Behandlung war?", erkundigte Colin sich. Lady Aldritch dachte kurz nach. "Ich weiß nicht... obwohl, sie hätte sicher mal zum Arzt gehen sollen. Sie war ja immer so blaß. Ich meine, nichts gegen eine vornehme Blässe, aber das arme Ding war ja kalkweiß!" Colin und Archibald wechselten einen Blick. Extreme Blässe paßte durchaus ins Krankheitsbild einer Hämophilen. "Haben Sie mal beobachtet, ob Miss Tomkins sich im Haushalt verletzt hat?", fragte Colin. "Ich meine, als Köchin hat sie sich vielleicht mal irgendwann geschnitten..." Lady Aldritch schüttelte den Kopf. "Wenn das so wäre, dann wäre das doch sicherlich in der Küche geschehen. Sie werden verstehen, daß ich dazu nichts sagen kann, Sergeant Mirth." Colin unterdrückte einen Stoßseufzer. "Gewiß, Madam." "Aber jetzt, wo sie es sagen...", Lady Aldritchs Gesicht hellte sich auf, "ich erinnere mich daran, daß sie sehr anfällig war für blaue Flecken. Sobald sie sich irgendwo gestoßen hatte, bekam sie große blaue Flecken. Ich hatte immer ein wenig Angst, die Leute könnten denken, wir würden sie verprügeln oder Gott weiß was mit ihr anstellen... ach, das arme, arme Ding!" Colin stand auf und gab ihr einen galanten Handkuß. "Vielen Dank für diese Auskunft, Lady Aldritch. Sie haben uns sehr geholfen." "Ach, das freut mich aber, Sergeant. Sagen Sie, wenn Sie Ihre Tante sehen, bestellen Sie ihr bitte einen schönen Gruß. Und fragen Sie sie bitte auch, ob sie zufällig eine gute Köchin kennt, die sie uns empfehlen könnte?" * "Das vierte Opfer hieß Herman Randolph", sagte Doktor MacKinnon zufrieden. "Er wurde bereits von seinen Angehörigen identifiziert."
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Colin Mirth Colin und Archibald saßen dem Gerichtsmediziner an dessen Schreibtisch gegenüber und machten sich Notizen. "Wir haben inzwischen herausgefunden, daß mindestens zwei der Opfer unter Hämophilie litten, Doktor", sagte Colin. "Trifft das auch auf diesen Mister Randolph zu?", erkundigte Colin sich. MacKinnon nickte. "Ich habe seine Angehörigen auf das Thema angesprochen, und sie haben unseren Verdacht bestätigt." "Wir reden also über möglicherweise vier verblutete Hämophilie-Patienten...", sagte Archibald langsam. "... denen jemand Halsschlagader und Armvenen punktiert hat", ergänzte Colin nachdenklich. "Das ergibt keinen Sinn, Gentlemen", wandte MacKinnon ein. "Angenommen, jemand hätte versucht, bei den Opfern eine Bluttransfusion vorzunehmen, dann hätte dieser Jemand nur in die Armvene gestochen, keinesfalls aber in die Halsschlagader. Und wenn man dabei festgestellt hätte, daß man es mit einem Hämophilie-Patienten zu tun hat, hätte die Transfusion sofort abgebrochen werden müssen, um die Blutung mit einem festen Druckverband zu stillen. Andernfalls... nun ja, wie Sie sehen, sind diese Menschen verblutet." "Nun, ein Malheur bei einer Bluttransfusion wäre eine mögliche Erklärung", sagte Colin, "aber gleich vier davon?" Archibald blätterte in seinen Notizen. "Wir sollten vielleicht einen Arzt konsultieren. Sagten Sie nicht, der junge Mister Landry wäre permanent in ärztlicher Behandlung gewesen, Colin?" Colin nickte. "Bei einem gewissen Doktor Tuttle." MacKinnon legte die Stirn in Falten. "Doktor Horace Tuttle?" "Schon möglich. Wieso?" "Ach, nichts. Ein Studienkollege. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß, wenn Sie ihn aufsuchen." * Wenige Stunden später nahmen Colin und Archibald im Behandlungszimmer von Doktor Horace Tuttle in seinem Haus in der Ebury Street Platz. "Doktor Tuttle wird gleich bei Ihnen sein", sagte die Krankenschwester, die Tuttle assistierte, und zog die Tür hinter sich zu. Kaum waren sie unter sich, sprang Colin auf und ging um den Schreibtisch des Arztes herum. Er nahm ein Buch aus dem Regal und begann darin zu blättern. "Habe ich doch richtig gesehen", bemerkte er triumphierend, "das hier ist die Publikation von dem deutschen Mediziner, von denen ich Ihnen erzählt habe, Archie. Schmidt hieß er. Jetzt erinnere ich mich wieder." Ehe er das Buch an seinen Platz zurückstellen konnte, wurde die Tür erneut geöffnet, und Doktor Tuttle trat ein. Verdutzt registrierte er, daß Colin in einem seiner Bücher las. "Guten Tag, Gentlemen", sagte er höflich, "wer von Ihnen beiden ist der Kranke?" Colin legte das Buch beiseite und zog seinen Dienstausweis hervor. "Niemand von uns ist erkrankt, Doktor Tuttle. Wir sind von Scotland Yard und würden Ihnen gerne einige Fragen stellen. Ich bin Sergeant Mirth, und mein Kollege ist Sergeant Moore." "Sehr erfreut", erwiderte Tuttle. "Worum geht es denn?" "Wie ich sehe, beschäftigen Sie sich mit Erkenntnissen über Blut und Blutgerinnung, Doktor", stellte Colin sachlich fest.
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Colin Mirth "Ja, das ist richtig. Man könnte sagen, daß das Thema Blut so etwas wie ein Steckenpferd von mir ist", räumte Tuttle zögernd ein. "Dann war Edwin Landry bei Ihnen ja in besten Händen", fuhr Colin fort. Tuttle atmete hörbar ein. "Tut mir leid, Sergeant, ich kann Ihnen nicht folgen." "Nun, angesichts seiner Krankengeschichte—" "Entschuldigung, Sergeant, aber das geht zu weit", protestierte Tuttle, "ich kann und darf Ihnen keine Auskünfte über meine Patienten geben!" Colin zuckte mit den Achseln. "Wie Sie wünschen. Ich kann auch eine richterliche Anordnung erwirken, mit der wir dann Ihre Praxis durchsuchen dürfen. Sie können uns unsere Fragen aber auch gleich jetzt und hier beantworten, das erspart uns allen viel Mühe." Tuttle verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. "Schön, Gentlemen. Fragen Sie." "Haben Sie Mister Landry behandelt?", fragte Archibald. "Ja, das habe ich." "Und Sie wußten, daß er unter Hämophilie leidet", ergänzte Archibald. Tuttle hob abwehrend die Hände. "Hören Sie, ich war sein Hausarzt. Selbstverständlich war mir sein Gesundheitszustand bekannt." "Haben Sie noch andere hämophile Patienten?", hakte Colin nach. Tuttle sah ihn ausdruckslos an. "Nicht, daß ich wüßte." Archibald blätterte in seinem Notizbuch ein paar Seiten zurück. "Waren vielleicht Herman Randolph, Elvira Tomkins oder Mortimer H. Murray mal bei Ihnen in Behandlung?" "Diese Namen sagen mir nichts", entgegnete Tuttle brüsk, "ich kann mich nicht an alle Namen von Leuten erinnern, die vielleicht nur einmal in meiner Praxis waren. Wenn Sie solche Informationen haben wollen, sprechen Sie bitte mit der Schwester. Sie kann Ihnen vielleicht sagen, ob diese Personen in unserer Kartei auftauchen." "Das werden wir gerne tun", sagte Colin. "Schön", brummte Tuttle. "Wäre das dann alles?" * "Sie haben nicht ernsthaft geglaubt, daß die Namen aller vier Mordopfer in seiner Patientenkartei auftauchen würden, oder?", fragte Archibald, als sie die Praxis erfolglos verließen. "Das wäre ja nun auch zu einfach gewesen." "Selbstverständlich", stimmte Colin ihm zu, "aber der gute Doktor hat uns auch so eine Menge verraten." Archibald hob überrascht die Augenbrauen. "Er hat doch praktisch gar nichts gesagt!" "Ja, aber wie er geschwiegen hat, war sehr aufschlußreich", grinste Colin. "Denken Sie nach, Archie! Wir reden hier über einen Mediziner, der sich für die Forschung an Blut und Blutgerinnung interessiert – und er hat direkten Kontakt zu mindestens einem Hämophilie-Patienten." Sein Kollege zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. "Das wäre natürlich ein gefundenes Fressen für ihn, wenn ich das mal so ausdrücken darf." "Tja, wer weiß", sagte Colin und breitete die Arme aus, "vielleicht kommt man ja als Arzt so an Erkenntnisse, mit denen man berühmt werden kann." "So wie dieser Schmidt." Archibald nickte. "Aber ein Patient genügt dazu nicht. Er müßte seine Erkenntnisse irgendwie verifizieren... mit anderen Hämophilie-Kranken nämlich." "Sie sagen es, Archie." "Aber die drei anderen waren nicht bei ihm in Behandlung", wandte Archibald ein.
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Colin Mirth "Das wissen wir nicht", widersprach Colin finster. "Wir wissen nur, daß ihre Namen nicht in der Patientenkartei erscheinen. Möglicherweise wußte Tuttle das auch, sonst hätte er uns gar keinen Einblick in seine Unterlagen gewährt. Und das läßt nur einen Schluß zu, Archie." * Ein dünner blauer Lichtstrahl schob sich unter der Tür hindurch wie ein Bogen Papier. Im Inneren des Hauses angekommen, nahm Abdul wieder seine normale Gestalt an. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sein Eindringen unbemerkt geblieben war, öffnete er leise die Haustür. "Die Luft ist rein, Efendi", wisperte der Flaschengeist. Colin und Archibald, die sich an der nächsten Häuserecke versteckt gehalten hatten, sprinteten zu ihm herüber. "Danke, Abdul", sagte Colin atemlos, als er das Haus betrat. Archibald folgte ihm auf dem Fuße. "Wohin zuerst?", fragte Archibald, der sich mit gezücktem Revolver in der Eingangshalle von Doktor Tuttles Haus umsah. Im Erdgeschoß lag die Praxis, in der sie heute bereits gewesen waren. In den oberen Stockwerken befand sich wahrscheinlich die Privatwohnung des Arztes. Abdul horchte einen Moment lang angestrengt. "Im Keller ist jemand", flüsterte er. "Bitte nicht wieder ein Golem", knurrte Archibald sarkastisch. Colin schmunzelte. "Ich hatte auch gerade ein déjà-vu, Archie." * Eine Stufe der Kellertreppe knarrte unter Archibalds Gewicht, und er hielt sofort inne. Das häßliche Geräusch hallte unerträglich laut durch das stille Haus. Colin erstarrte in der Bewegung und wagte nicht zu atmen. Abdul schrumpfte zu einem winzigen blauen Lichtpunkt zusammen. Einige bange Sekunden lang geschah nichts. "Man hat uns nicht gehört", flüsterte Archibald dann leise. "Gehen wir weiter", schlug Colin vor. Vorsichtig setzten sie einen Fuß vor den anderen. Es gelang ihnen, ohne weiteren verräterischen Lärm das Ende der Treppe zu erreichen. "Jemand ist hinter dieser Tür, Efendi", sagte Abdul, welcher sich bereits wieder in seinen Normalzustand zurückverwandelt hatte. Colin lauschte an der schweren eisenbeschlagen Eichentür, auf die der Flaschengeist zeigte. Sie war jedoch zu dick, als daß er etwas hören können. Nur diesem Umstand war es wohl auch zu verdanken, daß sie vorhin unbemerkt geblieben waren. "Abdul", sagte Colin leise, "ich möchte, daß du dich da drinnen einmal umsiehst und uns anschließend Bericht erstattest." "Sehr wohl, Efendi." Abdul schwebte auf die Tür zu. "Aber unauffällig", warnte Archibald ihn. "Natürlich, Sergeant Moore." Die Farbe wich aus Abduls Körper, bis er fast völlig transparent und beinahe unsichtbar war. Dann verschwand er mit dem gesamten Oberkörper in der Tür und spähte in den benachbarten Raum. Archibald fummelte mit der linken Hand in seiner Manteltasche und zog eine dicke Knoblauchzehe hervor. Verlegen hielt er sie Colin hin. "Möchten Sie auch eine? Nur für den Fall, daß... äh..." Colin warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Seite 14
Colin Mirth In dem Moment wurde Abdul wieder sichtbar. Aufgeregt wandte sich der Flaschengeist an Colin: "Efendi, Ihr hattet recht! Der Doktor führt etwas im Schilde, und zwar gerade jetzt!" "Es ist jemand bei ihm?", fragte Archibald entsetzt, "ein neuer Patient?" "Ein neues Opfer", korrigierte Colin ihn. "Abdul, sei bitte so freundlich und öffne die Tür." "Selbstverständlich, Efendi." Abdul ließ die Fingergelenke knacken wie ein Pianist, legte die Hände an den Türrahmen und drückte zu. Mit einem ohrenbetäubenden Krach platzte die Tür mitsamt dem Rahmen aus der Wand. "Hände hoch! Scotland Yard!" Archibald sprang mit vorgehaltener Waffe in den Raum. Colin folgte ihm auf dem Fuße, während Abdul sich diskret zurückzog, um nicht gesehen zu werden. Den Polizisten bot sich ein bizarrer Anblick. In seinem Keller hatte sich Doktor Tuttle ein Labor eingerichtet, in welchem er offenbar in seiner Freizeit forschte und experimentierte. Der Arzt stand wie vom Donner gerührt in der Mitte des Raumes – in der einen Hand eine Spritze, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Auf einem Operationstisch lag eine unbekleidete junge Frau, deren Blöße nur von einem dünnen Laken verdeckt war. Tuttle hatte seine Nerven bemerkenswert schnell wieder unter Kontrolle. "Was machen Sie hier? Was erlauben Sie sich?", herrschte er die Polizeibeamten an. "Doktor Tuttle, wir müssen Sie festnehmen", sagte Archibald höflich. "Das ist ja wohl die Höhe!", rief Tuttle, "Sie befinden sich auf privatem Grund und Boden, Sergeant! Ich werde mich über Sie beschweren, jawohl!" Colin ignorierte die Schimpfkanonade des Mediziners. Ungerührt ging er um den Operationstisch herum und beugte sich über die dort liegende Frau. Ihre Augen waren geschlossen, und sie atmete tief und gleichmäßig. Ihre blasse Haut war an einigen Stellen von großflächigen blauen Flecken verunstaltet. Colin runzelte die Stirn und schnupperte vorsichtig am Gesicht der Frau. "Ah ja, dachte ich's mir doch. Chloroform", stellte er zufrieden fest. Dann drehte er sich zu Tuttle um und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. "'Blutsauger, der die Schlafenden vertilgt!'", intonierte er. Tuttle sah ihn verständnislos an. "Wie bitte?" "Henry VI, Teil 2, 3. Akt, 2. Szene", erklärte Colin und grinste Archibald triumphierend an. "Was genau hatten Sie gerade mit Ihrer Patientin vor, als wir hier unangemeldet hereinplatzten, Doktor?" "Dies ist mein Labor", entgegnete Tuttle schnippisch, "ich arbeite hier. Davon verstehen Sie nichts, Gentlemen." "Oh, ich verstehe genug", rief Archibald. "Dort drüben steht noch ein Operationstisch. Und das hier ist eine Apparatur für Bluttransfusionen, nicht wahr?" Tuttle gestikulierte mit der Spritze vor Archibald herum. "So begreifen Sie doch, Sergeant, meine Arbeit hier ist wichtig! Wenn ich Erfolg habe, könnten wir Hämophilie-Patienten heilen!" Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Dann wären Sie berühmt", bemerkte er. "Nein!", schrie Tuttle mit sich überschlagender Stimme, "dann wäre ich unsterblich!" Archibald brachte behutsam ein paar Schritte Distanz zwischen sich und den Arzt, der noch immer die Spritze in der Hand hielt. "Was ist in der Spritze, Doktor?" "Ha!", rief Tuttle, "wenn ich Ihnen das sage, werden Sie mich doch nur um die Früchte meiner Arbeit berauben!" Colin ging langsam weiter durch das Labor, bis er und Archibald sich auf entgegengesetzten Seiten des Arztes befanden. Tuttle mußte sich fortwährend umsehen, um beide Polizisten im Auge zu behalten. Seite 15
Colin Mirth "Niemand will Ihnen Ihre Ergebnisse wegnehmen." Colins Stimme war ruhig; er sprach betont langsam, wie mit einem Kind. "Wir sind hier, weil wir wissen wollen, woran die Toten gestorben sind, die wir in der Themse gefunden haben." "Ach, so", sagte Tuttle irritiert, "das war lediglich ein bedauernswerter Rückschlag, nichts weiter." "Ein Rückschlag?", echote Archibald ungläubig. Tuttle machte eine wegwerfende Handbewegung. "Wir hatten versucht, dem Phänomen mit einer Transfusion zwischen zwei Hämophilie-Patienten zu begegnen. Die Theorie sah so aus, daß sich bei einem solchen Vorgang das Blut beider Patienten derartig anreichern würde, daß es zu einer Wiederherstellung normaler Gerinnung kommen würde. Sie wissen schon, minus mal minus ergibt plus", erklärte er ungeduldig, als er Archibalds verständnisloses Gesicht sah. "Und für dieses Experiment mußten vier Menschen sterben", sagte Colin bestürzt. Der Arzt zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Sie hatten sich alle freiwillig gemeldet. Genau so wie Mrs. Bannister hier." Colin runzelte die Stirn. "Wenn Sie eine Transfusion vornehmen wollen, wer ist dann die zweite Person?" Tuttle blinzelte überrascht. "Ist das denn nicht offensichtlich, Sergeant?" Archibald begriff es als Erster. "Sie selbst! Sie leiden auch unter Hämophilie! Daher auch Ihre Besessenheit..." "Wählen Sie Ihre Worte mit Bedacht", sagte Tuttle pikiert, "ein Selbstversuch ist eine hochgradig ehrenvolle Angelegenheit unter Medizinern." In dem Moment schnellte Colins Faust nach vorne. Sein Schlag traf die Nieren des Doktors mit voller Wucht, so daß er mit einem Schmerzensschrei die Spritze fallen ließ. Sie zersplitterte klirrend auf dem Boden. Colin legte dem Arzt die Hand auf die Schulter. "Ich glaube, wir haben da bei der Polizei auch ein paar Mediziner, die sich gerne einmal mit Ihnen unterhalten würden, Doktor Tuttle." * "Es kommt nicht oft vor, daß uns der Superintendent persönlich lobt", stellte Archibald fest, als sie am nächsten Abend im Red Lion saßen. "Er war sicherlich erleichtert, daß diese unsägliche Vampirgeschichte damit aus der Welt ist", vermutete Colin und nippte an seinem Bier. "Horace Tuttle", brummte Ebenezer MacKinnon, der die beiden Polizisten an diesem Abend erstmals begleitete, "wer hätte das gedacht? Auf der Universität war er eigentlich ganz normal." "Menschen ändern sich", bemerkte Archibald. "Und Menschen ändern ihre Meinungen." "Heißt das, Sie glauben jetzt nicht mehr daran, daß es Vampire gibt?", schmunzelte Colin. "Habe ich doch noch nie getan", beteuerte Archibald und prostete seinem Kollegen zu. "Großartig", seufzte Colin erleichtert. Der Gerichtsmediziner räusperte sich verlegen. "Und was ist mit Hexen? Gibt es die?"
Demnächst: "Das Versprechen des Flaschengeists"
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