Reidunn Stuedahl
Ein Glück, daß es Oma und Opa gibt Warum Großeltern und Enkel so wichtig füreinander sind
s&c by ab E...
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Reidunn Stuedahl
Ein Glück, daß es Oma und Opa gibt Warum Großeltern und Enkel so wichtig füreinander sind
s&c by ab Eingebettet in viele Geschichten, Zeugnisse und Zitate schildert die norwegische Psychotherapeutin und Pädagogin Reidunn Stuedahl, selbst Großmutter, was Nähe und vertrauter Umgang für Großeltern und Enkelkinder bewirken können. Frei von Erziehungspflichten können die Älteren das Beisammensein mit den Jüngeren genießen und ihnen helfen, ihren eigenen Weg auch in Problemlagen zu finden. ISBN 3-89530-029-2 Originalausgabe: Besteforeldre og Barnebarn. Livets dessert. Übersetzung aus dem Norwegischen: Lo Deufel 1999 Beust Verlag Umschlagdesign: Markus Härle für GAIA Text Illustrationen von Katja Lechthaler Fotografien von Florentine Schwabbauer und Hansjörg Künzel
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Eingebettet in viele Geschichten, Zeugnisse und Zitate schildert die norwegische Psychotherapeutin und Pädagogin Reidunn Stuedahl, selbst Großmutter, was Nähe und vertrauter Umgang für Großeltern und Enkelkinder bewirken können. Frei von Erziehungspflichten können die Älteren das Beisammensein mit den Jüngeren genießen und ihnen helfen, ihren eigenen Weg auch in Problemlagen zu finden. Die Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkindern ist für beide Teile von viel größerer Bedeutung als gemeinhin angenommen wird. Großeltern sind nicht nur willkommene Babysitter und Helfer bei Elternüberlastung. Dieses Buch zeigt auf, daß es auch eine eigenständige Beziehung zwischen Oma, Opa und den Enkeln und Enkelinnen gibt. Für beider seelischen Haushalt spielt der andere eine lebensnotwendige Rolle. Lustige und einfühlsam treffende Illustrationen sowie brillant stimmungsvolle Fotografien machen das durchgehend vierfarbig gehaltene Buch zu einem sinnlichen Erlebnis.
Inhalt EINLEITUNG ........................................................................... 9 VOM VERHÄLTNIS ZWISCHEN DEN GENERATIONEN ................................................................................................... 11 1 Das erste Enkelkind.......................................................... 12 Die erste Begegnung ................................................................13 Großvater-Freude......................................................................14 Ohne eigenes Zutun ein Kind bekommen .............................14 Ewig leben durch die Enkel ....................................................15 Sollen Großeltern helfen? ........................................................16 Verantwortungen definieren....................................................16 Großelterlicher Liebeskummer ...............................................17 2 Wärme und Nähe.............................................................. 19 Uneigennützige Liebe ..............................................................20 Wiederentdeckung der Langsamkeit......................................21 Den Augenblick genießen .......................................................22 Förderung menschlicher Qualitäten .......................................23 Ausbildung der Liebesfähigkeit..............................................24 Ruhepol Beständigkeit .............................................................25 Großeltern sind auch nur Menschen ......................................27 Lebenswichtige Urerfahrungen: Persönliche Wertschätzung... .......................................................................28 ... und Interesse .........................................................................31 Von der Macht der Worte ........................................................32 3 Wandel der familiären Beziehungen............................... 34 Einzigartige Gefühlstiefe .........................................................36 Enkel steigern das Selbstwertgefühl ......................................38 Eltern und Großeltern sehen einander mit anderen Augen .39
Enkelkinder sehen ihre Eltern in anderem Licht ..................40 4 Andere Altersstufen, andere Kommunikationsformen. 41 Ganz wichtig: Frühzeitiger Kontakt... ...................................42 ... und anhaltendes Interesse....................................................42 Können Jugendliche und Großeltern einander verstehen? ..43 Die Bedeutung von Großeltern für die Entwicklung Jugendlicher ..............................................................................45 Natürlicher Beziehungswandel ...............................................48 5 Ersatzgroßeltern ............................................................... 49 Kinder wissen, was sie brauchen ............................................50 Gesucht: Ersatzgroßeltern .......................................................51 Großmutterschoß zu verleihen ................................................52 VOM MITEINANDER........................................................... 54 6 Kinderbetreuung............................................................... 55 Großeltern als Krisenhelfer .....................................................56 Wenn Großväter Vaterfreuden nachholen.............................57 Wie kleine Kinder Großväterherzen erweichen ...................59 Großmütter: Es gibt solche und solche ..................................61 Pro und kontra: die Oma als Kinderfrau................................62 Kinder hüten kann ermüden ....................................................63 Kinderhüten will dosiert sein ..................................................64 Wenn die Oma arbeitet ............................................................65 Feste Dates ................................................................................67 Distanziertere Großeltern ........................................................70 Auch Großeltern müssen ihr eigenes Leben führen .............70 7 Alltags- und Ferienzeiten ................................................. 72 Alle unter einem Dach .............................................................73 Wenn die Großeltern in der Nachbarschaft leben ................75 Kein Problem: Eine Stunde Fahrzeit......................................75
Nicht unbedingt ein Hindernis: Mehrstündige Fahrzeiten ..76 Durch Ländergrenzen getrennt ...............................................77 Unvergeßliche Wochenenden und Ferien .............................80 Die gute alte Zeit: Großeltern gestern....................................81 Glückliche Sommertage bei Oma und Opa ...........................82 Die Großeltern bei der Arbeit erleben ...................................82 Verschwiegene Gefühle ...........................................................83 8 Bindeglied zur Vergangenheit ......................................... 84 In Gedanken ist Uroma lebendig ............................................85 Einordnung in den Stammbaum .............................................86 Nichts ist spannender als selbst Erlebtes... ............................86 ... Alltägliches aus grauer Vorzeit... .......................................87 ... und Geschichten über die eigene Familie .........................88 Vielsagende Erinnerungsstücke ..............................................89 Ein mythischer Stein ................................................................90 9 Vermittler von Kulturschätzen ....................................... 91 Mit Oma und Opa ins Museum und Theater ........................92 Bitte, lies mir etwas vor!..........................................................93 Vorlesen erweitert den Wortschatz ........................................94 Märchenwelten..........................................................................95 Märchen, nein danke ................................................................96 Märchen als Sesamöffnedich ..................................................97 Märchen erfinden......................................................................98 Märchen als Seelentherapie...................................................100 Märchen fürs Krankenhaus ...................................................101 Märchen und Spiel..................................................................103 Eine Sage, vor Ort erzählt .....................................................104 10 Vermittler von Wissen und Knowhow........................ 106 Praktische alltägliche Fertigkeiten .......................................107 Künstlerische Talente fördern ...............................................109
Leibesübungen ........................................................................110 Erfahrungen in der Natur .......................................................113 Hilfe bei den Hausaufgaben ..................................................114 11 Gemeinsame Mahlzeiten .............................................. 116 Omas Kochschule ...................................................................117 Liebe geht durch den Magen .................................................118 12 Erziehungsfragen.......................................................... 121 Gebot 1 : Großeltern mischen sich nicht ein .......................122 Gebot 2: Den Enkeln nicht nach der Pfeife tanzen ............125 Gebot 3: Eltern müssen den Großeltern Spielraum zubilligen ...................................................................................................127
Gebot 4: Kinder müssen wissen, wer ihnen was zu sagen hat ...................................................................................................128
13 Krankheit Alter und Tod ............................................. 130 Einsamkeit oder Gemeinsamkeit? ........................................131 Angst vor Alter und Tod? ......................................................132 Vorbereitung der Enkel auf den Tod....................................135 Erinnerungen an die Verstorbenen .......................................137 Jugendliche und Alter ............................................................139 Öffentliche Kontaktbörsen für Junge und Alte...................143 MÖGLICHE ERSCHWERNISSE...................................... 145 14 Räumliche und emotionale Distanzen......................... 146 Wenn jeglicher Kontakt fehlt ................................................147 Weshalb Großeltern und Eltern den Kontakt unterbinden 148 Gemeinsam und doch einsam ...............................................149 Auswirkungen räumlicher Trennungen ...............................150 15 Eifersucht....................................................................... 153 Eifersucht zwischen Enkeln... ...............................................154
... Eltern und Ex-Schwiegereltern ........................................155 16 Scheidung....................................................................... 158 Wie läßt die Ehe sich noch retten? .......................................159 Kinder wie Großeltern bewältigen Scheidungen langsam 160 Großeltern als seelische und praktische Helfer ..................162 Von geschiedenen Müttern und ihren Müttern ...................163 Wenn der neue Lebensgefährte alte Bande durchtrennt ....164 Wenn der Kontakt mit den leiblichen Großeltern abreißt .165 Kinder haben ein gesetzliches Recht auf Umgang mit den Großeltern ................................................................................167 17 Stieffamilien................................................................... 169 Wenn die Eltern neue Lebenspartner finden .......................169 Trauerarbeit und Integrationszwänge ..................................171 Von Stiefenkeln und Stiefgroßeltern....................................175 Ermessensfragen: Geschenke... ............................................177 ... Einladungen... .....................................................................177 ... und Ferien............................................................................178 18 Großeltern als Pflegeeltern .......................................... 179 Omas als Tagesmütter ............................................................180 Großeltern als Ersatzeltern ....................................................180 Für und wider: Großeltern als Pflegeeltern .........................181 Kampf um die Anerkennung als Pflegeeltern .....................183 19 Adoptierte Enkelkinder................................................ 185 Adoption, ein gewöhnungsbedürftiger Schritt ....................186 Es ist soweit: Das Kind trifft ein ..........................................187 Traumatisierte Adoptivkinder ...............................................188 Wo Großeltern besonders helfen können ............................189 EIN WORT ZUM SCHLUß ................................................ 192
EINLEITUNG »Ein großartiges Erlebnis, rein von der Schokoladenseite«, sagt Opa über den Kontakt zu seinem Enkel. »Es ist einfach überwältigend, die kleinen Ärmchen um den Hals zu spüren«, fügt Oma hinzu. Viele Großeltern fühlen sich den Enkeln herzlicher verbunden als seinerzeit ihren gleichaltrigen Kindern. Wer weiß, vielleicht gibt es in ihrer Gefühlswelt einen Raum, zu dem nur Enkelkinder Zugang haben. Und freudestrahlend halten sie es dann im Arm, dieses Neugeborene, das die Familienbindung über Generationen hin stärkt und durch das sich gewissermaßen die Hoffnung auf ewiges Leben erfüllt. Oma und Opa müssen ihr Kindeskind nicht erziehen, sondern dürfen ihren warmen Gefühlen freien Lauf lassen. Dies stimuliert lebenswichtige Emotionen des Kindes und fördert seinen Reichtum an menschlichen Qualitäten. Seine Fähigkeit zur Nähe im Zusammenleben mit anderen verdankt ein Erwachsener womöglich der engen, vertrauten Beziehung, die ihn als Kind mit den Großeltern verbunden hat. Und sein positives Selbstbild mag darin wurzeln, daß ihm liebevolle Großeltern in der Kindheit Achtung und Geborgenheit schenkten. Offensichtlich ist das Band zwischen Großeltern und Enkelkindern um so inniger und dauerhafter, je früher es geknüpft wird. Nur zu gern vermitteln Großeltern dem Kind die kulturellen Werte, die sie selbst schätzen. Sie lesen ihm Reime, Merkverse und Märchen vor, erzählen ihm Anekdoten über seine Eltern und andere Familienmitglieder. Das Kind saugt diese Geschichten aus dem Leben von anno dazumal begierig auf und möchte immer wieder seine Lieblingsmärchen hören. Ebenso gut kann es ihm tun, einfach schweigend mit Oma und Opa den Alltag zu verbringen. Denn nicht selten empfinden Kinder, die in unserer hektischen Welt aufwachsen, ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Geborgenheit, Ruhe und Nähe. Und diese finden sie häufig am ehesten bei Großeltern, die voll -9-
und ganz für sie da sind. Daß sie vier Großeltern haben, hatten oder haben sollten, darüber sind sich anscheinend alle Kinder im klaren. Können sie nicht mit ihnen zusammen sein, so denken sie trotzdem an sie. Oft führt die Scheidung der Eltern zum plötzlichen Abbruch der Großeltern-Enkel-Beziehung. Dies vermag seelische Probleme aufzuwerfen, ja sogar das Selbstbild zu beeinträchtigen. Daher tun wir gut daran, dafür zu sorgen, daß Kinder mit wenigstens einem Teil ihrer biologischen Großeltern Kontakt pflegen können. Nicht ohne Grund gibt es seit Mitte 1998 ein Gesetz, das Kindern das Recht auf Umgang nicht nur mit beiden Eltern, sondern auch mit engen Bezugspersonen wie den Großeltern sichert. Wie ich auf die Idee kam, dieses Buch zu schreiben? Nun, zu beschäftigen begann mich das Thema, als Gleichaltrige um mich herum Großeltern wurden, ich selbst aber noch enkellos war. Großeltern, mit denen ich ins Gespräch kam, waren überaus gern bereit, mir ihre Gedanken und Erfahrungen mitzuteilen. Darüber hinaus entnahm ich der Literatur mancherlei Wissenswertes über Großeltern und Enkel. Besonders viel habe ich aus dem Buch Grandparent Power von Arthur Kornhaber, Sondra Forsyth und Betty Prashker gelernt; es beruht auf Interviews mit 300 Großeltern und ebenso vielen Enkeln, und ich habe einige ihrer Aussagen hier zitiert. Wertvolle Unterstützung fand ich bei der Psychologin Vigdis Torsteinsson; sie hörte mir zu, las meine Notizen und spornte mich auf ihre Art zu immer größerem Eifer an. Mit diesem Buch habe ich aufzeigen wollen, wie wichtig der Kontakt zwischen Großeltern und Enkeln für beide Seiten sein kann. Vielleicht werden sich manche Großeltern zwischen den Zeilen wiedererkennen und begreifen, daß Enkelkinder auch kleinen, alltäglichen gemeinsamen Aktivitäten hohe Bedeutung beimessen. Kurz vor Erscheinen dieses Buches bekam meine Tochter einen Sohn und machte mich damit zur Oma. Und nun hoffe ich sehr, daß mir das, was ich beim Verfassen gelernt habe, helfen wird, meinem ersten Enkel etwas Wertvolles auf den Lebensweg mitzugeben. -10-
VOM VERHÄLTNIS ZWISCHEN DEN GENERATIONEN
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1 Das erste Enkelkind
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Eines Tages ist es soweit: Das erste Enkelkind kommt zur Welt. Starke Gefühle überkommen die meisten Großeltern in dem Moment, in dem sie erfahren, daß ihr Kind ein Kind bekommen hat. Das Neugeborene kräftigt die Familienbande, die sich nun auf die soeben nachgefolgte Generation erweitern. Ja, man kann sogar sagen, daß das Enkelkind in gewisser Weise für ein Weiterleben bürgt.
Die erste Begegnung Die Nachricht von der Geburt weckt in vielen Großeltern das brennende Verlangen, ihr Enkelkind zu sehen und zu berühren. So kurz die erste Begegnung in der Klinik oder daheim auch ausfällt, sie prägt sich unauslöschlich ins Gedächtnis ein: Die wenigsten können den Anblick des winzigen Enkelkinds vergessen und die Empfindung, als sie es zum ersten Mal im Arm hielten. Eine Großmutter hat dies in folgende Worte gekleidet: »Enkel zu bekommen, das zählte zu den wichtigsten Ereignissen meines Lebens. Es gab meinem Leben eine vollkommen neue Wendung und einen neuen Sinn. Ich sah mich in einem größeren Zusammenhang, als Glied einer Kette von Menschen, die deinem neuen jungen Leben vorausgegangen sind. Meine Großeltern, meine Eltern, meine eigenen Kinder - ich war erfüllt von einer ererbten Liebe, von dem Bewußtsein, daß du einer von uns bist, erfüllt von einem erweiterten Gemeinschaftsgefühl, da wir alle nun über Generationen hinweg verbunden sind mit diesem Kind: mit dir.« Wenn Großeltern das Neugeborene auf den Arm nehmen dürfen, dann steht ihnen die Freude ins Gesicht geschrieben. Und ab sofort ist nicht mehr die Rede vom Nachwuchs der Tochter oder Schwiegertochter: Fortan sprechen sie von »ihrem« Enkelkind. -13-
Großvater-Freude Oft sind es die Großmütter, die einem neugeborenen Enkelkind am nächsten stehen. Aber auch Großväter können schon Säuglingen ebenso innig verbunden sein. Durch die Nachricht von der Geburt, gestand ein Mann, fühlte er sich mit einem Schlag als stolzer Großpapa: »Ein Freudenschauer durchrieselte mich: Mein Sohn hatte ein Kind bekommen. Damit war ich Großvater eines Jungen, der meinen Namen und den der Familie weiterführen wird. Auf der Stelle verspürte ich eine Bedeutung, die mir bislang völlig fremd gewesen war.« Manchen Männern sind Familienbande und Nachkommenschaft wegen des Erhalts ihres Familiennamens sehr wichtig. So klein er ist, bürgt ihr Enkelsohn doch dafür, daß - wenn die Stricke nicht reißen - der männliche Zweig der Familie fortbesteht. Auf seinen ersten Enkel ist der Großvater daher besonders stolz. Andere Opas nehmen das freudige Ereignis weit gelassener auf: »Sicher, es ist schön für meine Tochter, ein Kind bekommen zu haben. Was mich betrifft, bin ich in erster Linie an meiner Tochter interessiert. Was geht mich ihr Kind an?« Dieser Mann verspürte kein Bedürfnis nach Kontakt mit seinem Enkel, solange dieser ein Säugling war. Später jedoch, ab dem Alter von etwa drei Jahren, kam er dem Kind wesentlich näher. Wie ihm ergeht es wohl vielen Männern: Sie interessieren sich eher für größere Kinder, mit denen sie sich unterhalten können.
Ohne eigenes Zutun ein Kind bekommen In jungen Jahren waren die Großeltern aktiv mit der Gründung einer Existenz beschäftigt und mit der Erziehung der -14-
Kinder, die sie in die Welt gesetzt hatten. Diesmal ist es anders: Ohne daß sie dazu beigetragen haben, ist ein Baby zur Welt gekommen, das ihnen ähnlich nahe steht wie ihre eigenen Kinder. Plötzlich sind sie, um es mit Margaret Mead zu sagen, ohne eigenes Zutun mit einem neuen Erdenbürger biologisch verbunden. Für Mead, die mit Freunden viel über das Thema Großeltern gesprochen hatte, tat sich mit dieser Einsicht eine Seite des Großmutter-Werdens auf, die so bislang niemand auf den Punkt gebracht hatte. Auch sie selbst hatte es zuvor nicht bedacht: Zwischen Großeltern und Enkeln besteht immer, gleich ob sie sich häufig sehen oder so gut wie nie, ein unsichtbares Band.
Ewig leben durch die Enkel Meist bringt die Geburt eines Kindes die Familienmitglieder einander näher. Den Großeltern macht sie die Verbindung zwischen Vorfahren und Nachkommen stärker bewußt. Eine Oma hat dies folgendermaßen ausgedrückt: »Es war so: Meine Tochter Maria hatte ein Kind bekommen, ich somit meinen ersten Enkel. Der kleine Lars war erst sieben Wochen alt, als seine Mama an Lungenentzündung erkrankte. Maria wohnt nur 50 Meter von mir 1 entfernt. Paul, mein Schwiegersohn, konnte nicht daheim bleiben; als Selbständiger muß er zusehen, daß er Geld verdient. Mich aber verlangte es danach, mit dem Baby zusammen zu sein. Das wollte ich schon die ganze Zeit, und ständig sehnte ich mich nach Lars. Jetzt, da Maria krank war, sah ich meine Chance gekommen. Maria mußte sich ausruhen, schlafen und abschalten. Ich nahm mir also ein paar Tage frei, ging zu Maria und holte Lars zu mir. Es war mitten im Winter und kalt. Ich legte Lars in eine kleine Wiege vor dem offenen Kamin, damit er es angenehm warm hatte. Dann geschah es: Ich nahm ihn hoch, und in diesem Augenblick spürte ich etwas, was ich wahrhaftig nie -15-
zuvor erlebt hatte. Ich stand da, hielt den Kleinen im Arm und blickte ihm in die Augen. Und da sah ich, daß ich ewig leben kann. Es war ein enormes Gefühl, das zu begreifen: Der Kleine und seine Mama und ich - ja, so geht das Leben weiter. Ich spürte es körperlich wie einen Faden, wie eine durchgehende Nabelschnur. Es war herzergreifend, und es war mir wichtig. Ich kann es bisweilen immer noch so empfinden.« In der jähen Erkenntnis dieser Großmutter äußert sich, auch wenn es abgedroschen klingen mag, die Macht der Blutsbande. Durch das Enkelkind setzt sich das Leben fort, diese ins Philosophische überhöhte Feststellung bedeutet konkret: Im Bewußtsein der Enkel leben die Großeltern weiter. Die Enkel werden Fotos zeigen, werden mit Freunden und, wenn die Zeit gekommen ist, ihren Kindern über Oma und Opa sprechen und diese so im Gedächtnis bewahren.
Sollen Großeltern helfen? Was tun, wenn die frischgebackene Oma offeriert, nach der Geburt eine Weile bei Mutter und Kind zu wohnen und Hilfe zu leisten? Hier und da nehmen junge Eltern das Angebot dankbar an. Andere wollen ihre kleine Familie lieber abschirmen. Zwar zeigen sie das Baby gern her, möchten aber ansonsten mit ihm allein sein und sich ungestört an ihr Elterndasein gewöhnen. In solchen Fällen müssen die Großeltern sich mit Geduld wappnen und abwarten. Zumeist ist irgendwann die Zeit dafür reif, daß sie gebraucht werden.
Verantwortungen definieren Manche Frauen stürzen in dem Augenblick, in dem sie Großmama geworden sind, herbei und wollen das Zepter in die Hand nehmen. Unwillkürlich fragt man sich, weshalb es ihnen so schwerfällt zu akzeptieren, daß nun einmal die Mutter dem -16-
Kind am nächsten steht. Und weshalb sie nicht verstehen, daß sie sich ein wenig zurückhalten und warten müssen, bis sie um Hilfe gebeten werden. Welche Auswirkungen dies haben kann, beobachtete ich auf einem mir gut bekannten Bauernhof: Obwohl jede Generation ihre eigene Wohnung hat, leben alle unter der Fuchtel der Großmutter. Als Familienzuwachs kam, hatte die Oma ihr Enkelkind von der Wiege auf ständig bei sich - mit dem Ergebnis, daß ihre Tochter erst nach Jahren erschrocken feststellte, welch wesentliche Mutter-KindErfahrungen ihr auf diese Weise vorenthalten geblieben waren. Großelterlicher Übereifer kann in der Tat ernsthafte Probleme bereiten. Großeltern sollten sich also im Hintergrund halten und den Eltern die volle Verantwortung für das Kind überlassen. Diese werden ihre Aufgabe in der Regel meistern. Allerdings wollen durchaus nicht alle Großeltern behilflich sein. Manche schrecken vor der Übernahme neuer Verpflichtungen zurück. Sie wollen ihr Enkelkind zwar gern sehen, machen jedoch deutlich, daß mit ihrer Hilfe, zum Beispiel beim Babysitten, nicht zu rechnen ist. Viele haben den Jugendaufruhr ihrer Kinder noch frisch in Erinnerung und wollen es tunlichst vermeiden, sich abermals ähnlich quälenden Reaktionen auszusetzen. Nun, vielleicht hilft ihnen gerade diese Großelternsituation verstehen, daß jeder sein eigenes Leben führen muß. Am besten sollten alle Beteiligten ihre Rolle gegenüber dem Kind klar definieren und gemeinsam klären, wer wofür die Verantwortung übernimmt.
Großelterlicher Liebeskummer Die Tochter erwartete ein Kind. Ihre Mutter freute sich ganz offensichtlich auf das Enkelkind von dem Moment an, als sie von der Schwangerschaft erfuhr. Da der Tochter jedoch ein wichtiges Examen bevorstand, entschloß sie sich gemeinsam mit ihrem Partner zu einem Schwangerschaftsabbruch. Die verhinderte Großmutter verstand die Beweggründe des jungen Paares. Trotzdem trauerte sie sehr, als der Abbruch vollzogen war. Für sie war es, als hätten die beiden ihr Enkelkind getötet. -17-
In einem anderen Fall konnte die werdende Großmutter die Schwangerschaft der Freundin ihres Sohnes zunächst nicht akzeptieren. Denn ihr Sohn hatte mit seiner Partnerin verabredet, vor Abschluß des Studiums kein Kind in die Welt zu setzen. Seine Freundin wurde trotzdem schwanger und wollte das Kind haben. Nachdem seine Mutter sich gegen das Kind gesträubt hatte, fühlte sie sich schließlich doch zu ihrem Enkel hingezogen und fuhr gleich nach der Geburt in die Klinik. Dort aber wurde ihr der Einlaß verwehrt: Das Krankenhauspersonal hatte klare Anweisungen bekommen, von der Familie des Vaters niemanden einzulassen. Kurz darauf beendete die junge Mutter die Beziehung mit dem Vater ihres Kindes. Obwohl dieser und auch seine Mutter sich zunächst gegen den Familiennachwuchs ausgesprochen hatten, wollten sie nun als Vater und Oma gern das ihre tun. Es war ein Schock für sie, von dem Kind ferngehalten zu werden, ja es nicht einmal sehen zu dürfen. Die abgewiesene Großmutter findet seitdem keine Ruhe. Es quält sie die Vorstellung, daß das Kind ihres Sohnes in nächster Nähe wohnt, ohne daß sie es je treffen darf. Es gelingt ihr nicht, die Gedanken an das Enkelkind zu verdrängen. Immerzu fragt sie sich, wie es ihm ergehen, wie es aussehen, wem es ähneln mag. Sie hatte sich darauf eingestellt, als Oma für das Kind da zu sein. Daß sie ihren Enkel nicht sehen darf, vermag den großmütterlichen Drang, es zu umhegen, nicht zu ersticken.
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2 Wärme und Nähe
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Früher lebten wir in Drei-Generationen-Familien oder zumindest in unmittelbarer Nähe der nächsten Verwandten. Kinder wuchsen in ständigem Kontakt mit der Verwandtschaft auf. Innerhalb der Familie half man einander. Ehe die gesetzliche Sozialversicherung diese Funktion übernahm, diente die Großfamilie als Auffangbecken, das Solidarität und Sicherheit bot. Erkrankte ein Mitglied, so betraf dies die gesamte Familie. Heutzutage genießt die Individualität Vorrang. Davon zeugen 12,4 Millionen Einpersonenhaushalte - rund ein Drittel aller privaten Haushalte in der Bundesrepublik. Nur noch knapp jeder vierte deutsche Haushalt gilt als Familie mit Kindern - unvollständige Familien mit alleinerziehenden Müttern und Vätern eingerechnet. Auch wenn, wie diese und andere Indizien belegen, der familiäre Zusammenhalt geschwächt ist, so hat doch die Großeltern-Enkel-Beziehung Bestand. Heute leben die Menschen weit länger, sind rüstiger und haben weniger Kinder als früher. Folglich gibt es, gemessen an der Anzahl der Enkel, mehr Großeltern als je zuvor. Manche kleinen Kinder sehen ihre Großeltern fast ebenso oft, wie es vor mehreren Generationen üblich war. In Dänemark sehen ein Drittel aller Kleinkinder täglich oder mehrmals die Woche, etwa drei Viertel der unter sechsjährigen Kinder alle vierzehn Tage oder öfter ihre Großeltern; nur eines von hundert Kindern sieht seine Großeltern so gut wie nie. Die Verhältnisse in Deutschland dürften ähnlich sein.
Uneigennützige Liebe Das Band zwischen Großeltern und Enkeln ist ein ganz besonderes. Bewunderung, Wärme, Achtung und Fürsorglichkeit strömen von den Großeltern hin zum Kind. Diese Liebe ist ein Geschenk aus völlig freien Stücken. Die Kinder müssen sie sich nicht »verdienen«, und womöglich finden sie eine solch uneigennützige Aufmerksamkeit ausschließlich bei Oma und Opa. Sie genießen es, bedingungslos geliebt zu werden, so wie sie sind, genießen es, ohne Zurechtweisung geschätzt zu werden. Sie genießen die -20-
Ruhe, die sie in der zärtlichen Obhut der Großeltern umgibt.
Wiederentdeckung der Langsamkeit Über das Lebensgefühl unserer rastlosen Gesellschaft sagt der Lyriker Rolf Jacobsen: ››Ab und zu muß etwas lange währen, sonst verlieren wir darüber, wie schnell sich alles mit und um uns dreht, bald den Verstand.« Uns pressiert es ohne Unterlaß. Wir haben furchtbar viel zu tun, bilden wir uns ein, und müssen alles schon bis vorgestern erledigt haben. Während wir uns mit jemandem unterhalten, sind wir in Gedanken bereits beim nächsten Vorhaben. Deshalb sind wir in keinem Augenblick voll gegenwärtig. Auch ich verhielt mich keinen Deut anders. Wenn ich auf der Straße einen Bekannten traf und er vorschlug, sich für ein Schwätzchen irgendwo hinzusetzen, entgegnete ich: »Ein anderes Mal gern, aber jetzt habe ich keine Zeit.« Eines Tages erhielt ich darauf eine Antwort, die mich zur Besinnung brachte: »Immer mit der Ruhe, der Strom der Zeit geht nie aus.« Stimmt, dachte ich mir. Es gibt genügend Zeit. Wir müssen uns lediglich fragen, wie wir sie gebrauchen. Das aber vergessen wir bei unserer modernen Lebensweise nur zu leicht. Vielmehr beschleunigen wir unaufhörlich unser Tempo. Wir hasten voran, hasten von einem zum ändern, ohne je auch nur einen einzigen Augenblick voll da zu sein. Vielen Kindern gelingt es ebensowenig, im Hier und Jetzt zu leben. Laufend hämmern neue Eindrücke auf sie ein. Dies führt zu der Erwartungshaltung, es habe dauernd etwas zu geschehen. Anscheinend können diese Kinder nicht einmal für kurze Zeit Langeweile ertragen. Während meiner Tätigkeit beim Kindernotruf erhielt ich zahlreiche Anrufe von Kindern, die über Langeweile klagten. Sie fragten, was sie tun könnten. Für gewöhnlich bat ich sie, sich auf einen Stuhl zu setzen und zehn Minuten lang gar nichts zu tun. Sollte ihnen dann immer noch nichts eingefallen sein, so dürften sie gern erneut anrufen. Das taten manche tatsächlich - um zu erzählen, welch lustige Idee -21-
ihnen gekommen war. Der springende Punkt dabei ist: Die Kinder entwickelten eigenständig Ideen. Sie fanden Zugang zu ihrem quicklebendigen Wesenskern, der vor Einfallen nur so sprudelt und Vorschläge von anderen überflüssig macht. Nicht gewöhnt, Impulse aus sich selbst herauszuholen, hatten ein paar gute Worte und ein kurzes Innehalten ihnen geholfen, zu ihrem eigenen schöpferischen Ich vorzudringen. Viele Großeltern haben die dafür notwendige innere Ruhe. Mit ihnen können sich die Kinder ein Weilchen müßig hinsetzen, sich ganz einfach dem Augenblick hingeben und so den Kontakt zu sich selbst finden.
Den Augenblick genießen Viele Senioren sind sich darüber im klaren, daß ihre Zeit allmählich zur Neige geht. Sie versuchen, im Jetzt zu leben und die Augenblicke auszukosten, die ihnen noch verbleiben. Daher gelingt es ihnen oft gut, sich dem Zusammensein mit Kindern voll hinzugeben. Und die Kinder erfahren so, daß man sich wohlfühlen kann, auch ohne ständig etwas zu tun. Gemeinsam mit den Großeltern leben sie in den Tag hinein und lernen zum Augenblick sagen: Verweile doch, du bist so schön. Still neben Oma und Opa sitzend, fühlen sie sich geborgen und spüren, daß sie dem anderen nahe sind. Ein achtjähriger Junge verbrachte seine Freizeit ständig bei der Oma. Gefragt, welch spannende Sachen er bei ihr denn treibe, erwiderte er: »Wir tun gar nichts, wir sitzen einfach da.« Ein solches Schweigen ist nicht leer. Großeltern und Enkel können stundenlang beisammen sein, ohne ein Wort miteinander zu reden - aber danach haben sie das Gefühl, sie hätten sich allerhand gesagt. Wie ein derart gutes, vertrautes Verhältnis zwischen den Generationen entsteht? Rückblickend antworten Erwachsene: schlichtweg durch die vielen gemeinsam verbrachten Stunden. Wenn sie an ihre Kindheit zurückdenken, erscheint es ihnen, als hätten Oma und Opa unbegrenzt Zeit für sie gehabt.
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Förderung menschlicher Qualitäten Die Beziehung zwischen Enkeln und Großeltern ist einzigartig und gegen Störungen des Eltern-Kind-Verhältnisses -23-
gefeit. Großeltern und Enkel können einen direkten Kommunikationsdraht entwickeln, der andere Personen ausschließt. Im Gefühlshaushalt von Großeltern gibt es offenbar einen Raum, den nur ein Enkel auszufüllen vermag. Ebenso scheint es auch im Gemütsleben des Kindes einen Bereich zu geben, zu dem nur Großeltern Zugang haben. Der regelmäßige Umgang mit Oma und Opa weckt und fördert lebenswichtige Gefühle. Er macht das Kind reich an menschlichen Qualitäten, die sich möglicherweise nur im Kontakt mit liebevollen Großeltern entfalten können. Ein nahes Verhältnis zu den Großeltern kann für die Entwicklung eines Kindes also von entscheidender Bedeutung sein. Margaret Mead zum Beispiel wuchs mit einer Oma auf, die ihr zur wichtigsten Bezugsperson wurde. Und als Sozialanthropologin ist ihr deutlich bewußt, daß vor allem diese Großmutter ihr menschliche Werte vermittelt hat. Eine innige Beziehung zu seinen Großeltern vermag einem Enkel zu geben, was anderen Kindern vorenthalten wird: Sie vermag ein latentes Potential zu aktivieren und so zur Bildung einer an Qualitäten reichen Persönlichkeit beizutragen. Eines Tages bemerkte Margaret Mead unter den Angehörigen ihres engsten Freundeskreises gemeinsame Charakterzüge. Wie sich herausstellte, hatten diese Freunde von zumindest einem Großelternteil Achtung und Liebe erfahren und allesamt diese Charaktereigenschaften durch den engen Kontakt mit Oma oder Opa entwickelt. Ich fand diese Aussage äußerst spannend. Zum Spaß fragte ich meine Freunde nach ihrer Kindheit und ihrem Verhältnis zu den Großeltern. Und ich brachte in Erfahrung, daß viele von ihnen ebenfalls bedingungslos geliebt wurden von Großeltern, zu denen sie in sehr vertrauter Beziehung standen. Vielleicht verdanken auch sie genau diesem Tatbestand den ausgeprägten Reichtum ihrer Persönlichkeit.
Ausbildung der Liebesfähigkeit Großeltern sind dem Enkel zugetan. In ihrer Obhut umhüllt Wärme und Geborgenheit das Kind, das diese zarten Gefühle erwidert. So entspinnt sich ein sehr inniger Kontakt, bei dem -24-
beide Seiten offen und frei miteinander umgehen können. Er fördert die Fähigkeit des Kindes, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Im späteren Leben kommt ihm dies zugute: Es fällt ihm leichter, sein Zusammenleben mit Partnern, Familie und Freunden, das nun einmal auch Verpflichtungen mit sich bringt, harmonisch zu gestalten. Indem die Großeltern Herzenswärme ausstrahlen und das Kind diese nicht nur aufnimmt, sondern auch zurücksendet, wird die Liebesfähigkeit von Enkeln und Großeltern gleichermaßen entwickelt. Während ich dieses Buch schrieb, wurde Israels Premier Jitzchak Rabin getötet. Bei der Trauerfeier bewies seine 17jährige Enkelin, welche Stärke sie im Umgang mit ihrem Großvater entwickelt hatte. Im Beisein von 22 Präsidenten, 25 Premierministern und mehreren Majestäten gelang es ihr, sich an der Bahre unter Tränen mit folgenden Worten vom Großvater zu verabschieden: »Große Menschen haben dich gepriesen, doch rühmten sie nicht deine sanften Liebkosungen. Noch dein vielsagendes, scheues Lächeln, das mit deinem Tod verschwunden ist. Was bleibt mir nun anderes übrig, als von dir Abschied zu nehmen und dir ›Ruhe in Frieden‹ zu wünschen, mein Held? Die Engel, in deren Obhut du jetzt weilst, mögen dich behüten, Großvater. Wir werden dich immer lieben.« Tags darauf konnten wir in der Zeitung lesen, daß es die Worte von Rabins Enkelin waren, die die Israelis sowie viele Staatsoberhäupter tief ergriffen, ja zu Tränen gerührt hatten.
Ruhepol Beständigkeit Geborgen haben sie sich bei den Großeltern gefühlt, sagen Erwachsene, weil diese so zuverlässig und ihre Reaktionen berechenbar waren. Man wußte im voraus, wie sie reagieren würden. Sie blieben ihrem Wesen immer treu. Ein junges Mädchen erfuhr die Sicherheit und Stabilität im Haus der Großeltern als gesunden Gegenpol zum unsteten Boheme-Leben -25-
seiner Eltern.
Ältere Menschen sind beständiger und ruhiger. Unsere Eltern sind noch jünger, oft jeden Tag anders aufgelegt und beschäftigt, führen ihr eigenes aktives Leben, und zwischen drin gibt es immer wieder Ärger mit Mama. Senioren halten sich beim Essen und allen anderen alltäglichen Verrichtungen an feste Zeiten. Um diese Uhrzeit wird der Wetterbericht gehört, um jene die Nachrichtensendung. Bis zu einem gewissen Grad brauchen wohl die meisten Kinder ein System und Wiederholungen. Viele Großeltern haben feste Gewohnheiten: Bestimmte Dinge tun sie zu bestimmten Zeiten und stets auf die gleiche Weise. Viele -26-
Enkelkinder können voraussagen, wie sie in gewissen Situationen reagieren. Kinder fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, wie man ihnen begegnen und was von ihnen erwartet wird.
Großeltern sind auch nur Menschen Heutige Großeltern sind zwar nicht »von gestern«, aber noch in gestriger Zeit aufgewachsen. Damals wurde Kindern weniger Aufmerksamkeit geschenkt als heutzutage. Kinder hatten zu gehorchen und keine hohen Ansprüche zu stellen. Oftmals mußten sie nach der Pfeife ihrer Eltern tanzen. Nur wenige lernten, anderen ihre Gefühle zu zeigen. Daher verbergen viele Senioren nach wie vor ihr Innenleben. Sehr wenige Enkelkinder erfahren, was ihre Großeltern denken und fühlen. Trotzdem meint Stephan, zehn Jahre alt, seine vier sehr jugendlichen und aktiven Omas und Opas gut zu kennen: »Alle meine Großeltern sind etwas Besonderes. Opa Max ist handwerklich sehr geschickt, er macht uns allerhand selber, gedrechselt und so. Oma Hilde kauft uns sehr schöne Sachen, feine Weihnachtsgeschenke und anderes. Das ist aber nicht der Grund dafür, daß ich sie mag. Ich mag sie, weil sie so arg lieb ist, so nett, so hilfsbereit und so. Oma Ellen sagt das mehr mit Worten, sie ist auch sehr lieb. Sie malt Bilder von uns, jetzt gerade eines von mir, und das finde ich echt stark, darauf bin ich ein bißchen stolz. Und Opa Frank ist - na ja, ziemlich verrückt, aber so gesehen auch sehr nett. Ich kann nicht sagen, daß ich eine Oma oder einen Opa lieber mag. Nein, ich mag alle vier gleich gern. Und mit zwei Omas und zwei Opas bin ich wirklich gut dran.« Stephans Großeltern zeigen zwar nicht, was sie denken und fühlen, geben sich aber ihrem Enkel gegenüber so, wie sie sind. Vielleicht fällt es Großeltern leichter, für Kinder zu sorgen, als -27-
sich ihnen gegenüber als Mensch zu öffnen. Wenige Kinder erfahren, worüber Oma und Opa sich freuen, was sie mögen und was nicht, was sie bekümmert und ängstigt, was sie über die Zukunft denken und so weiter. Fürchten die Großeltern, von ihrem Podest zu stürzen, wenn sie zu viel von sich preisgeben? In gewisser Hinsicht ist ihre Reserve berechtigt. Ständiges Seufzen und Klagen strapaziert die Nerven jedes Zuhörers - und wird für Enkel zur übermäßig schweren Bürde. Nur zu leicht bekommen Kinder ein schlechtes Gewissen, wenn die Großeltern etwas bedrückt, während es ihnen selbst gut geht. Dieses unnötige Schuldgefühl kann sie befangen machen und eine Unsicherheit erzeugen, die womöglich im späteren Leben das Verhältnis zu anderen Menschen prägt. Dennoch schadet es im Grunde nicht, wenn Enkel die hinter der Großelternfassade verborgenen menschlichen Seiten kennenlernen. Ein persönliches Verhältnis zu den Großeltern kann es Enkeln erleichtern, auch als Erwachsene ihr warmes, inniges Verhältnis zu Oma und Opa zu bewahren. Und es kann allgemein das Verständnis des Kindes für ältere Menschen fördern. Dies erweist sich als äußerst wertvoll: Es verleiht dem Kind eine Sicherheit im Umgang mit fremden Erwachsenen, die ihm später zugute kommt, zum Beispiel bei Vorstellungsgesprächen.
Lebenswichtige Urerfahrungen: Persönliche Wertschätzung... Ein Kind muß erfahren, daß andere Anteil nehmen an dem, was es tut und sagt. Ihm dies zu geben, dafür eignet die Großelternrolle sich bestens. Eine Oma hat treffend bemerkt: »Wir müssen respektieren, daß Kinder kleine Menschen sind. Müssen für sie da sein, mit ihnen sprechen, ihnen zuhören.« Kinder reifen dadurch, daß Erwachsene ihnen zu verstehen geben, wie wertvoll sie sind. So lernen sie sich selbst kennen, ohne sich unsicher fühlen zu müssen. Allein gelingt ihnen dies -28-
nicht. Sie sind angewiesen auf Signale von uns, die ihnen helfen, sich ihres Selbstwerts zu vergewissern. Indem wir Erwachsenen ihnen mit Respekt begegnen, unterstützen wir die Entwicklung ihres Selbstwertgefühls. Ein Kind, das sich selbst achtet, kann aus sich selbst Kraft schöpfen und von seinem inneren Energiepotential besseren Gebrauch machen. Der großelterliche Zuspruch wirkt wie Vitamine. Er regt das Wachstum der seelischen Kräfte an und vermehrt die Bausteine für das positive Selbstbild des Kindes. Ein Kind, das sich geborgen fühlt, kommt in den meisten Situationen gut zurecht. In Gesellschaft von Kameraden grübelt es nicht ängstlich darüber nach, was die anderen von ihm halten. Vielmehr kann es seine Energien sinnvoller nutzen und ungezwungen mit anderen spielen. Und deshalb macht es anderen Spaß, mit ihm zusammen zu sein. Kinder mit positivem Selbstverständnis sind nicht nur bei ihren Spielgefährten beliebt, sondern auch in der Schule begünstigt. Statt von Versagensängsten geplagt zu werden, können sie all ihre inneren Kräfte zum Lernen verwenden. So manche Großeltern freuen sich an ihrem Enkelkind, als sei es das prächtigste Menschlein auf Erden. Bewundernd sehen sie zu, wie das Individuum in ihm von Tag zu Tag mehr zum Vorschein kommt. Regina kenne ich seit ihrer Geburt. Da ihr Vater sehr krank war, wohnte sie in den ersten Lebensjahren oft für lange Phasen bei den Großeltern. Als ich sie fragte, wie sie diese Zeiten erlebt hatte, erzählte sie sofort von ihrem Großvater: »Das Besondere an ihm ist, daß er mich immer respektiert hat. Für ihn war ich stets Regina. Wenn ich mit ihm zusammen bin, habe ich das Gefühl, daß ich ein feiner Kerl bin.«
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Regina strahlte, als sie von ihrem Opa sprach. Ich hatte mich immer schon gewundert, weshalb sie so durch und durch authentisch wirkt. Alles was sie sagt und tut, wirkt unmittelbar und echt. Bereits als kleines Kind schien sie ganz aus sich heraus zu leben. Erst heute ahne ich, daß Regina dies dem jahrelangen nahen Umgang mit den Eltern ihrer Mutter verdankt. Die Großeltern verhalfen ihr zu einer beneidenswerten -30-
Stärke, zu der Stärke, einfach so zu sein, wie sie ist. Regina fühlt sich selbstsicher genug, um leicht zu ertragen, daß nicht alle sie mögen können. Sie traut sich, der Welt ihr Gesicht zeigen, ohne sich zu verstellen. Man tut sich auf Dauer leichter im zwischenmenschlichen Kontakt, wenn man nicht ständig meint, eine Rolle spielen zu müssen, um geliebt zu werden. Regina kann ihre Energien auf Wichtigeres und Wesentlicheres konzentrieren.
... und Interesse Die Achtung und Bewunderung der Großeltern vitalisiert im Kind ruhende Fähigkeiten. Zahlreiche prominente Künstler und Kulturschaffende zum Beispiel haben ihre herausragende Persönlichkeit und menschlichen Qualitäten entwickelt, weil sie ein enges Verhältnis zu liebevollen Großeltern hatten. Nehmen wir Maxim Gorki: Nach dem Tod seines Vaters zog er mit seiner Mutter zu deren Eltern. Wie es war, als die Großmutter in sein Leben trat, hat er anrührend geschildert: »Bevor sie kam, war es, als ob ich schlief, von Nacht umhüllt. Sie aber weckte mich, führte mich hinaus ins Licht, verspann alles um mich her zu einem unversehrbaren Netz, verflocht alles ringsum zu buntem, farbenfrohem Spitzenwerk und wurde mir sogleich zum Freund fürs ganze Leben. Sie war der Mensch, der mir zeitlebens am nächsten stand, den ich am besten verstand und immer noch am meisten zu schätzen weiß. Ihre selbstlose Liebe zur Welt hat mich reich gemacht, sie gab mir Festigkeit und Stärke für ein hartes Dasein.« Gorkis Großmutter hat im Enkelkind »den Menschen geschaut«. Sie weckte das schlummernde Bewußtsein des Jungen und zeigte ihm den Weg zum geistigen Leben. Ähnliches gilt für Margaret Mead. Abends pflegte sie ihrer Oma zu erzählen, was sich am Tag ereignet hatte. Die Großmutter hörte zu, warf hier und da etwas ein und stellte -31-
Fragen, die ihre Enkelin zum Nachdenken anregten. Schon als junges Mädchen besuchte Margaret Mead die Südseeinsel Samoa, um sozialanthropologische Feldforschung zu betreiben. Sie mußte in einem Dorf auf einem fremden Kontinent allein zurechtkommen. Dort konnte sie mit niemandem über ihre Arbeit sprechen. Um so reger war ihr Briefwechsel mit der Großmutter: »Oma war diejenige, der ich über meine Erfahrungen bei der Feldforschung schrieb. Es war zunächst die gedankliche Kommunikation mit ihr, die mir half, überhaupt meine Gedanken zu formulieren. Beim Schreiben wurden die Gedanken klarer. Der Briefwechsel mit Oma verhalf mir dazu, mir darüber klar zu werden, was ich da eigentlich trieb.« Margaret Meads Gedanken formten sich aus, indem sie Worte zu Papier brachte, doch damit nicht genug: Die Worte sollten möglichst genau treffen, was sie der geliebten Oma mitteilen wollte. So brachte der Briefwechsel Licht ins Dunkel und machte ihr selbst bewußt, woran sie arbeitete. Das Interesse der Großeltern hat wahrscheinlich viele Enkel stimuliert und ihr Denkvermögen geschärft.
Von der Macht der Worte Bemerkungen lieber Großeltern können nachhaltige Bedeutung gewinnen. Manchmal hat schon ein kleines Wort nahezu zauberische Wirkung. Meine Freundin Tina schreibt ein Gutteil ihres Selbstwertgefühls ihrem Großvater zu. An einen Vorfall erinnert sie sich genau. Sie war zehn Jahre alt und zu Besuch bei ihrem Opa. An jenem Tag fand bei ihm zu Hause eine Versammlung des Gemeinderats statt. Tina hatte die Aufgabe übernommen, für die Gäste belegte Brötchen zu herzurichten. Schön farbenprächtig geriet ihr eine der Platten, die sie in der Küche freudig zusammengestellt hatte - ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob und wie die bunte -32-
Herrlichkeit schmecken würde. Als sie die Platte servierte, bemerkte sie im Nu, daß der Großvater die Kombination merkwürdig fand. Doch Opa verkniff sich jeden Kommentar -, um dann vor dem versammelten Gemeinderat voll der Anerkennung zu sagen: »Das ist ja die reinste Augenweide, toll, Tina. Mensch, du könntest Essen für den König zubereiten!« Tina ist dieses Lob ihres Großvaters unvergeßlich und die Empfindung, in jenem Augenblick gewachsen zu sein, so frisch, als hätte sie es gestern erlebt. Heute ist sie eine standfeste, selbstsichere Person, die beruflich wie privat Unwesentliches von Wesentlichem trennen kann. Als Fundament dient ihr das gesunde Selbstwertgefühl. Und zu diesem hat ihr der Großvater verhelfen.
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3 Wandel der familiären Beziehungen
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Die Geburt eines Kindes verändert oft das Verhältnis der Familienangehörigen und verleiht ihren Begegnungen einen neuen Inhalt. Dabei unterscheidet sich freilich die Eltern-KindBeziehung grundlegend von der zwischen Großeltern und Enkel. Eltern tragen die Hauptverantwortung für die Erziehung der Kinder. Sie haben sie zu versorgen und ihnen all das zu vermitteln, was ein Kind in unserem Kulturkreis daheim erfahren muß. Zum Wohl der Kinder müssen sie ihnen Grenzen des Erlaubten setzen. Das kann dazu führen, daß sie dauernd angespannt darauf lauern, was ihre Sprößlinge wohl als nächstes anstellen mögen. Kein Wunder, wenn sie sich über kurz oder lang hin- und hergerissen fühlen: Einerseits ist es notwendig, daß sie ihren Nachwuchs erziehen, andererseits möchten sie sich mit ihm des Lebens freuen. Viele Kinder halten ihre Eltern für streng und anspruchsvoll und reagieren negativ auf sie. Das gefällt den Eltern verständlicherweise nicht, und so entstehen Spannungen, die der Vertrautheit des Umgangs schaden. Dabei waren die Eltern, ehe sie Kinder bekamen, häufig ganz anders. Unangestrengt amüsierten sie sich mit den Kids ihrer Verwandtschaft. Ich werde nie vergessen, mit welcher Wärme mein zehn Jahre älterer Vetter sich über meinen Vater geäußert hat: In seiner Kindheit, sagte er, sei mein Vater eine seiner wichtigsten Bezugspersonen gewesen. Ich konnte mir schwer vorstellen, daß mein gestrenger Vater mit meinem Vetter gespielt, ihm Märchen vorgelesen hatte und übermütig wie ein kleiner Junge mit ihm herumgetollt war. Das hatte er mit mir nie getan. Als mein Vetter es mir erzählte, fühlte ich mich gekränkt und verspürte so etwas wie Neid. Heute weiß ich, daß mein Vater mit seinem Neffen freier umgehen konnte, weil er für ihn nicht als Erzieher verantwortlich war. Großeltern sind gegenüber ihren Enkeln in derselben glücklichen Position. Ohne unmittelbare Erziehungspflichten können sie sich mit den Enkeln unbesorgt vergnügen und ihren liebevollen Gefühlen freien Lauf lassen.
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Einzigartige Gefühlstiefe Nach Aussage vieler Großeltern stellt das Gefühl für die Enkel alle anderen Empfindungen in den Schatten. Es übertrifft die Liebe, die sie für die eigenen Kinder empfanden, als diese noch klein waren. Eine Großmutter bekundet: »Ich kann fast körperlich spüren, daß meine Liebe zu meinem Enkel stärker ist als die zu meinen eigenen Kindern. Dabei habe ich diese ebenfalls geliebt. Aber mit ihnen mußte im Alltag nun einmal alles klappen. Ich mußte stillen und hatte neben meiner Berufstätigkeit noch den Haushalt und die Kinder zu versorgen. Das ist jetzt mit meinen Enkeln ganz anders: Habe ich Sehnsucht nach ihnen, kann ich sie für ein paar Stunden zu mir holen. Oder sie bleiben über Nacht bei mir. Mit ihnen kann ich beisammen sein, wenn es mir gerade paßt.« Als sie ihre kleinen Kinder aufzogen, lastete auf den Großeltern ein Berg von Verpflichtungen. Das tägliche Leben stellte hohe Anforderungen. Über dem Zwang, alles beizeiten und richtig zu erledigen, blieb selten Zeit, sich in aller Ruhe den Kindern zu widmen. Es mangelte ihnen ganz einfach an Muße und Geistesgegenwart, um die Gemeinschaft mit den Kindern zu genießen. Nun endlich, nach langen Jahren harter Arbeit, haben die Großeltern sich und anderen zur Genüge ihre Tüchtigkeit im Berufs- und Privatleben bewiesen. Jetzt brauchen sie sich nicht mehr so sehr ins Zeug zu legen. Sie verfügen über ein stärkeres Selbstvertrauen, mehr Nachsicht und Verständnis. Sie begegnen ihren Enkeln mit einer gelassenen Ruhe, die sie ihren Kindern nicht haben entgegenbringen können. Aufgrund ihrer Lebenserfahrung lassen sie auch einmal die Zügel locker. Offen für die Erlebniswelt des Enkels und zufriedener mit ihrem eigenen Leben, können sie es ungehinderter genießen, daß jedes Kind ein Wunder ist. Das Enkelkind ermöglicht ihnen, all die Erlebnisse und Erfahrungen nachzuholen, die ihnen bei ihren Kindern entgangen sind. Manche verspüren gar Gewissensbisse bei dem Gedanken, wie wenig Anteil sie an der einzigartigen -36-
Erlebniswelt ihrer Kinder genommen haben. Wie gern wären sie mit ihren Kindern ebenso locker umgegangen wie jetzt mit den Enkeln! Aber so ist nun einmal das Leben: Sie haben die eigenen Kinder erziehen müssen, während sie nun mit den Enkeln ungezwungener umgehen dürfen. Da ist es nur natürlich, daß sie für die Enkel intensivere Gefühle entwickeln. Dementsprechend meinen viele Kinder, von den Großeltern mehr Zuneigung zu erfahren als von den Eltern. Kornhaber zitiert hierzu ein zwölfjähriges amerikanisches Mädchen: »Sie sind anders als meine Eltern. Ich schäme mich beinahe, wenn ich es sage: Sie sind sehr stolz auf uns, geradezu von uns bezaubert. Nicht mehr als meine Eltern, nehme ich an, doch sie zeigen es deutlicher. Ich weiß nicht, was ich getan habe, um ihre Liebe zu verdienen und daß sie so viel Aufhebens um mich machen. Wenn meine Freunde dabei sind, ist mir das manchmal fast peinlich. Trotzdem bin ich wirklich froh, daß es so ist.« Möglicherweise haben Kinder ein schlechtes Gewissen, wenn sie sagen, daß sie von den Großeltern mehr geliebt werden als von den Eltern. Wahrscheinlich meinen sie, keine Liebe dürfe stärker sein als die zwischen Eltern und Kind. Eine Amerikanerin erklärt, weshalb Eltern-Kind- und GroßelternEnkel-Liebe sich drastisch unterscheiden können: »Es gibt niemanden, der mir mehr bedeutet hätte als meine Großeltern. Nicht nur, weil sie mir verständlich machten, daß ich eine Vergangenheit und eine Zukunft habe, sondern auch, weil ihre Hingabe und ihr Stolz auf mich frei waren von jeglichem Besitzanspruch. Das ist der Tanz der Familie durch die Generationen, ein Menuett, bei dem alles um so schwieriger wird, je näher wir uns sind: Wir sind fähig, Eigenarten unserer Großeltern zu akzeptieren und sogar zu lieben, die wir an unseren Eltern niemals akzeptieren würden. Und umgekehrt können Großeltern sich an uns erfreuen, ohne die Last der Verantwortung zu übernehmen.« -37-
Eltern und Kind stehen einander am nächsten, und genau deshalb ist ihre Beziehung gespickt mit Problemen und Konflikten. Zwischen Großeltern und Enkel hingegen liegt eine »Puffergeneration«, die ein freieres Miteinander ermöglicht.
Enkel steigern das Selbstwertgefühl Unsere Gesellschaft verherrlicht die Jugend und setzt den Wert des Alters niedrig an. Einen Teil der Verantwortung für ein kleines Kind zu tragen gibt dem Selbstwertgefühl neue Nahrung. Viele Großeltern, die für ein Enkelkind sorgen, haben das Gefühl, sie »sind wieder wer«. Ihre soziale Umwelt sieht, daß sie etwas für die Gesellschaft geleistet haben und sich nach dem Aufziehen der eigenen Kinder nun auch noch um die nächste Generation kümmern. Das Enkelkind schenkt ihrem Leben einen neuen Sinn. Dieses kleine Wesen verbindet sie mit einer Generation, die den Fortbestand der Gesellschaft nach ihrem Tod sichern wird.
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Eltern und Großeltern sehen einander mit anderen Augen Den Eltern des Kindes entgeht es nicht, daß ihre Eltern sich mit dem Enkel entfalten, manchmal so sehr, daß sie kaum wiederzuerkennen sind. Gegenüber dem Enkel verhalten ihre Eltern sich vollkommen anders als seinerzeit ihnen gegenüber. Jetzt, als Großeltern, spielen sie gern mit dem Kind, toben mit ihm herum und legen herzliche Gefühle an den Tag, aber auch Besonnenheit. Oft sind es die Männer, die sich durch die Großvaterrolle am auffallendsten wandeln. Mit dem Enkelkind gehen sie viel lockerer um als mit ihren Kindern, spielen und freuen sich mit ihm und verfolgen interessiert, wie es die Welt erlebt. Opa tut fast alles, ja er krabbelt sogar auf dem Boden herum, um dem Kind eine Freude zu machen und ihm ein Lachen zu entlocken... Auch wenn die Eltern sich freuen, daß ihrem Kind derart engagierte Großeltern beschert sind, so kann es sie zugleich schmerzen. Angesichts der hingebungsvollen Liebe ihrer Eltern zum Enkel mögen sie sich übergangen fühlen und innerlich seufzen, daß sie als Kind diese Zuwendung auch gebraucht hätten. Ungeachtet dessen haben sie nun die Chance, ein nuancenreicheres Bild von ihren Eltern zu gewinnen. Dann werden sie ein neues Gefühl von Achtung und Zärtlichkeit für ihre Eltern empfinden und eine wärmere Beziehung zu ihnen entwickeln. Jahrelang haben die Großeltern die Verantwortung für ihre Kinder getragen. Sie haben sie großgezogen und für sie gesorgt, bis sie selbständig genug waren, um das Elternhaus zu verlassen. Eltern fällt es nicht immer leicht, zu verstehen, daß ihre Kinder erwachsen sind. Selbst wenn ihre Söhne und Töchter schon etliche Jahre allein und unabhängig leben, so sehen sie in ihnen doch das Kind, das sie einst zu versorgen hatten. Es dauert einige Zeit, bis sie einsehen, daß sie auf die Entscheidungen dieser jungen Menschen keinen Einfluß mehr haben. Und vielleicht haben sie es immer noch nicht ganz begriffen, wenn -39-
das erste Enkelkind die Bühne betritt. Mit diesem Ereignis sind Töchter und Söhne wie verwandelt. Es scheint, als hätte eine Urkraft sie zu verantwortungsbewußten Müttern und Vätern gemacht. Behutsam und fürsorglich, wie es im Buche steht, kümmern sie sich um das Neugeborene. Nun, da sie Eltern und Erzieher geworden sind, erringen die Kinder einen anderen gesellschaftlichen Status. Dies beeinflußt oft positiv ihre Wahrnehmung durch die ältere Generation: Indem die Großeltern eine neue Achtung für ihre Kinder aufbringen, können sie diese endlich als lebenstüchtige Erwachsene anerkennen.
Enkelkinder sehen ihre Eltern in anderem Licht Wenn Eltern dem Kind von ihrer Kindheit erzählen, so wissen Großeltern über dieselben Eltern ganz andere Geschichten zu berichten. Kinder pflegen sehr hellhörig zu werden, wenn sie von Oma und Opa erfahren, wie ihre Eltern als Kinder gewesen sind, was sie gemocht und was sie getrieben haben. Meist freuen sie sich zu hören, daß sie ihnen ähneln. Und ganz besonders freut es sie zu hören, daß auch die Eltern allerlei Streiche gespielt und so manches Verbotene angestellt haben. Bilder und Anekdoten aus Vaters und Mutters Kindheit vermögen dem Kind ein recht genaues Bild von der Persönlichkeit seiner Eltern zu vermitteln.
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4 Andere Altersstufen, andere Kommunikationsformen
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Während das Kind zum Erwachsenen heranwächst, macht es gewaltige Entwicklungen durch. Entsprechend gewaltig sind die Anforderungen an die Großeltern: Wird es ihnen gelingen, den vertrauten Umgang zu wahren, wenn sich das Kleinkind zum Schulkind, dann zum Teenager und schließlich zum jungen Erwachsenen mausert?
Ganz wichtig: Frühzeitiger Kontakt... Die frühe Kindheitsphase ist die wichtigste. Sie prägt die Formen des späteren Kontakts. Für ein kleines Menschenbündel Verantwortung tragen, bringt in uns eine Saite zum Klingen. Wem wird nicht warm zumute, wenn sich ein Baby an ihn schmiegt? Wer bleibt völlig ungerührt von der weichen Haut und dem süßlichen Duft des Kindes, von seinem offenen Blick und Geplapper auf dem Wickeltisch? Lassen wir eine Oma zu Wort kommen: »Der frühe Kontakt war wichtig, die herrlichen Augenblicke, als ich die Kinder kurz nach ihrer Geburt wickelte. Ihnen fühle ich mich heute näher als den anderen Enkelkindern.« Offensichtlich wird die Beziehung zu den Enkeln um so tiefer und beständiger, je eher sie beginnt. Hat sie sich bereits im Säuglings- oder Kleinkindalter angebahnt, so kann sich ihre Qualität durchaus auch dann noch behaupten, wenn die Enkel Jugendliche oder längst erwachsen sind.
... und anhaltendes Interesse Wie läßt sich das warme, intime Verhältnis erhalten, wenn das Kind in die Schule kommt? Schließlich begegnet es dort einer neuen Welt, die es vor andere Aufgaben und Anforderungen stellt. Hausaufgaben und Unternehmungen mit Kameraden werden ihm wichtig. Das Kind beginnt über Dinge zu sprechen, mit denen Oma und Opa sich nicht auskennen. Und irgendwann -42-
entwickelt es vielleicht Gedanken, die ihnen vollkommen fremd sind. So manches, was Enkel und Großeltern vermeintlich nicht teilen können, vermag den Verlust von Innigkeit zu bewirken. Dazu muß es aber nicht zwangsläufig kommen. Sind beide Seiten interessiert und offen, läßt sich das Vertrauensverhältnis bewahren. Zahlreiche Fälle belegen, daß die enge Beziehung zu den Großeltern auch dann noch halten kann, wenn die Enkel bereits erwachsen sind. Kornhaber berichtet von einem Schüler, der sich für ein Praktikum in einem Altenpflegeheim entschied. Der Heimleiter lobte die Geduld des Jungen, seine außergewöhnliche Fürsorglichkeit, sein Talent, zu allen Kontakt zu finden, und insbesondere, daß es ihm gelang, selbst notorische Nörgler zum Lächeln zu bringen. Der Junge entgegnete ihm schlicht: »Großmutter ist irgendwie immer bei mir. Daher weiß ich, was in den Alten vorgeht.« Der Junge hatte sich seiner Großmutter sehr nahe gefühlt. Einen Teil der Fürsorge, die sie ihm hatte zukommen lassen, gab er nun an andere weiter. Durch den Kontakt zu ihr hatte er Achtung vor und mitmenschliches Verständnis für alte Menschen gewonnen, das Jungen seines Alters höchst selten aufbringen. Seine Freunde schüttelten den Kopf darüber, daß er freiwillig Alte pflegen wollte. Alte, das waren für sie Gestalten, die sich mühsam über die Straße schleppten. Sie kamen ihnen eher wie Wesen von einem anderen Stern denn als Menschen vor. Eine Verständigung mit ihnen schien unvorstellbar.
Können Jugendliche und Großeltern einander verstehen? Die Großeltern unserer Tage gehören einer gänzlich anderen Epoche an als ihre Enkel. Seit der Geburt meiner Tante im Jahr 1901 hat eine beispiellose technische Entwicklung unsere Gesellschaft gründlich verändert. So kann sich meine Tante noch erinnern, wie alle über das unglaublich helle Licht staunten, als der Haushalt ihrer Familie an das Stromnetz -43-
angeschlossen wurde. Dieselbe Tante erhielt neulich einen Anruf von einem Verwandten in einem Dorf bei Murmansk. Das war starker Tobak für sie. Rational konnte sie sich zwar erklären, daß die Stimme vom Handy über Satellit zu ihrem Telefon im Altersheim übertragen wurde, aber gefühlsmäßig, sagte sie, konnte sie es schwer begreifen. Ähnlich mag es Großeltern ergehen, die sich bemühen, ihre Enkel - Kinder des elektronischen Zeitalters also - zu verstehen. Ihre Bezugspunkte mögen dermaßen verschieden sein, daß sie kaum verstehen, wovon die Enkel sprechen. Auch für Regina, heute 25 Jahre alt, gibt es Themen, die sie mit dem Großvater nicht bereden kann: »Das sind Dinge, von denen er eben nichts weiß und nichts versteht. Eine Zeitlang habe ich versucht, da ein Stück weiterzukommen. Ich wollte gern, daß er alles versteht - mich und auch, warum ich so und so reagiere. Da sagte er: ›Aber Ginerl, das ist so lange her, ich kann mich nicht erinnern, wie es war.‹ Er hätte mich so gern verstanden, aber es gelang ihm nicht. Da begriff ich, daß es Dinge gibt, über die er vielleicht nicht reden kann. Aber das ist nicht so wichtig. Darauf kommt es ja gar nicht an. Es geht mehr darum, daß man beisammen ist und einander respektiert.« Regina akzeptiert, daß ihr Opa nicht alles verstehen kann. Es ist nun einmal so im Leben: Obwohl zwei Menschen einander nahestehen und nachvollziehen können, was der andere fühlt und erlebt, mögen sie sich in bestimmten Bereichen nichts zu sagen haben. Die meisten Kinder lernen, daß man nicht mit jedem auf dieselbe Weise spricht. Was man sagt und wie man es sagt, hängt davon ab, mit wem man sich unterhält. Diese Regel beherzigen auch Enkelkinder gegenüber ihren Großeltern. Der zehnjährige Stephan etwa erklärt: »Mit ihnen spreche ich nicht über dieselben Themen wie mit meinen Freunden, Fußball zum Beispiel. Meine Großeltern und ich reden über das, was in der Familie passiert und so, oft auch übers Wetter.« -44-
Manche Enkel verlieren nach und nach die enge Vertrauensbeziehung zu ihren Großeltern. Andere wählen bewußt Themen aus, über die sich mit ihnen am besten sprechen läßt. Wiederum andere bekunden, mit den Großeltern über alles reden zu können. Ihre Oma, sagt die 27jährige Norwegerin Kirsten, versteht alles, was sie ihr erzählt. Kirsten ist mit Mutter, Bruder, Oma und Opa in einem gemeinsamen Haushalt aufgewachsen mit zwei Mamas und einem Papa, wie sie es formuliert. Mit ihrer Mutter, erklärt sie, habe sie keinen guten Kontakt, weil diese sehr konservativ sei und meine, alles habe nach ihrem Kopf zu gehen. Die Oma dagegen sei mit ihren 85 Jahren erstaunlich offen, auch für neue Gedanken. Sie verfolge interessiert aktuelle gesellschaftliche Vorgänge und habe seit jeher Anteil an Kirstens Leben genommen. Mit ihrer Großmutter kann Kirsten über alles reden. Ihre Oma steht ihr sehr nahe, und bei ihr fühlt sie sich rundum wohl. Freundinnen fragen Kirsten immer wieder, warum sie so oft ihre Oma besucht und gelegentlich sogar den Samstagabend mit ihr verbringt.
Die Bedeutung von Großeltern für die Entwicklung Jugendlicher Die Pubertät ist bekanntlich eine sehr schwierige Phase des Umbruchs. Durch die starken körperlichen Veränderungen sind viele Jugendliche mit sich selbst beschäftigt. Vor allem aber setzt ihnen ihre emotionale Instabilität zu, die einhergeht mit dieser Zeit der Vorbereitung auf ihre Rolle als Erwachsene. In traditionellen Kulturen tritt die heranwachsende Generation in die Spuren der älteren. Die Jüngeren lernen von den Alten, orientieren sich an ihnen und wissen, wie sie sich in welchem Alter verhalten werden. Unsere moderne Gesellschaft hingegen betont die individuelle Freiheit. Wir ermuntern Jugendliche, eigenständige Wege zu gehen und herauszufinden, welche Rolle ihnen für ihr späteres Leben zusagt. Einer verwirrenden Vielfalt von Lebensanschauungen ausgesetzt, sollen sie sich eine eigene Meinung und Wertevorstellung bilden. Die Eltern nachzuahmen -45-
bringt sie bei der Suche nach ihrer individuellen Identität nicht weiter. Vielmehr müssen sie, um zu einem selbständigen Standpunkt zu finden, die Eltern und ihre Einstellungen mit Abstand betrachten. Und so reißen sich die meisten mit Macht von der elterlichen Lebenswelt los. Dabei können sehr harte, zornige Worte fallen, die Vater und Mutter ihrem Kind nicht im schlimmsten Alptraum zugetraut hätten. Das Zuhause ist wie auf den Kopf gestellt, und die Eltern reagieren erschrocken und verletzt darauf, daß und mit welcher Heftigkeit ihr Kind sich von ihnen distanziert. In dieser Lage tut es Enkeln gut, Großeltern zu haben, die sie bedingungslos akzeptieren und immer das Positive in ihnen sehen. Gleich welche Erfahrung die Großeltern mit den eigenen pubertierenden Kindern gemacht haben: Diese Situation steht für sie auf einem anderen Blatt. Sie haben ihr Enkelkind vor allem ganz einfach gern. Sie hören ihm geduldig zu und fallen ihm bei seinen Erklärungen und Behauptungen nicht ins Wort. Sie zeigen Verständnis dafür, daß es seine eigene Meinung zu vertreten versucht. Vielleicht können nur Großeltern, die gute Zuhörer sind, vollauf respektieren, was Jugendliche sagen. Zuhören kann den jugendlichen Enkeln helfen, ihre Gedanken aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und so zu bemerken und einzugestehen, daß ihre Standpunkte nicht immer ganz haltbar sind. Und eventuell gelangen sie auf diese Weise zu einer anderen Auffassung. Ohne ihre eigene Ansicht ins Feld zu führen, sondern allein durch Zuhören und Verständnisbereitschaft können Großeltern also ihre Enkel dazu bringen, ihre Meinung zu festigen und die eine oder andere Theorie zu verwerfen. Mit Hilfe verständnisvoller Großeltern können Jugendliche eigenständig Standpunkte und Lebenseinstellungen entwickeln, die ihnen richtig und gut erscheinen. Hat sich der offene, vertraute Umgang bewahrt, dann können Großeltern in der heiklen Pubertätsphase eine außerordentlich wertvolle Hilfe sein. Da sie eine Generation von den Enkeln trennt, betreffen deren Konflikte mit den Eltern sie nicht. Und weil sie nicht Teil der Lebenswelt sind, von der sich die Jugendlichen befreien wollen, stellen sie keine Bedrohung dar. -46-
Vielmehr können die Enkel ohne Furcht, sich etwas zu vergeben, mit ihnen reden und diskutieren. Die Großeltern verstehen sie und akzeptieren sie bedingungslos. Sie lassen sie ausreden, ehe sie Kommentare, Fragen und Bedenken vorbringen. Mitunter sind die Großeltern die einzigen Erwachsenen, von denen die Pubertierenden sich etwas sagen lassen; während sie dem Wort ihrer Eltern keine Beachtung schenken, hören sie ohne weiteres auf Einwände oder Ratschläge ihrer Großeltern. In vereinzelten Fällen hilft einzig die Unterstützung der Großeltern die ärgsten Dummheiten -47-
vermeiden. Wie steht es aber, wenn Großeltern die elterliche Erziehungsaufgabe übernehmen und Enkelkinder bei ihnen aufwachsen? Gegen wen soll sich dann die jugendliche Rebellion richten? Gegen die Großeltern oder gegen die Eltern? Bei Fachleuten habe ich darauf keine Antwort gefunden, doch Karin, 35 Jahre alt, hat mir ihre Geschichte erzählt: Bei Karins Geburt wohnten ihr Vater und ihre Mutter noch bei ihren Großeltern mütterlicherseits. Danach ließen die Eltern sich scheiden, zogen aus und gaben Karin ganz in die Obhut der Großeltern. Oma und Opa übernahmen die Erziehung. Die Mutter wohnte in der Nähe. Sie kam jeden Abend nach der Arbeit vorbei, um dann nach Hause zu ihrem neuen Partner zu gehen. Während dieser kurzen Begegnungen stieß Karin häufig mit ihrer Mutter zusammen. Ihr Jugendaufruhr richtete sich nur gegen die Mutter, nicht aber gegen die Großmutter, die sie erzogen hatte. Im Gegenteil, so Karin, sei die Großmutter ihr in der Zeit der harten Auseinandersetzungen mit der Mutter eine große Hilfe gewesen: »Oma hat mich immer unterstützt, wenn ich mit Mutter Streit hatte.« Ich nehme an, daß man dieses Phänomen überall dort beobachten kann, wo die Elterngeneration die absolute Autorität über ihre Kinder verloren hat.
Natürlicher Beziehungswandel Die Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln entwickelt und verändert sich im Laufe der Jahre und mit dem Alter. Anfänglich ist das Kind klein und hilfsbedürftig, während seine Großeltern meist noch gut bei Kräften sind. Mit der Zeit vollzieht sich ein Rollentausch. Während das Kind seine volle Stärke als erwachsener Mensch entwickelt, werden die Großeltern allmählich gebrechlich. Und dies kann auf beiden Seiten neue, durchaus positive Gefühle wachrufen. -48-
5 Ersatzgroßeltern
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Anscheinend haben Kinder das Bedürfnis nach Nähe zu älteren Menschen, also Personen im Alter von Großeltern. Es gibt Kinder, die keine Großeltern haben, aber Kontakt mit Menschen knüpfen, die dann gegebenenfalls den Part der Großeltern übernehmen.
Kinder wissen, was sie brauchen Viele Kinder machen mit bewundernswerter Zielsicherheit Menschen aus, die ihnen genau das geben, was ihnen fehlt. Kinder, die zu ihren leiblichen Großeltern keinen Kontakt haben, suchen und finden oftmals einen geeigneten Ersatz. Die Tochter einer russischen Exilfamilie zum Beispiel konnte sich in Frankreich zu keiner Oma flüchten, wenn sie der Schuh drückte. Doch sie fand von selbst den Weg zu einer benachbarten Familie, in der sie allzeit willkommen war: »Die Nachbarsfrau war immer da. Ich ging einfach zu ihr und habe dort auch gegessen. Sie konnte gut kochen, hat oft Kuchen gebacken und andere Leckereien zubereitet, und sie spendierte stets eine große Tasse Tee. Der Mann saß über seinen Briefmarken, und manchmal hat er mir auch etwas darüber erzählt.« Die Nachbarsfrau und ihr Mann waren an dem Mädchen interessiert. Sie nahmen sich die Zeit, ihm mit Muße zuzuhören. Bei ihnen fand das Mädchen, was es daheim vermißte: uneingeschränkte Anerkennung, Fürsorge und Aufmerksamkeit. Ein kleines Mädchen aus Schweden wiederum war ständig zu Besuch bei einem Silberschmied. Dieser hatte seinen Laden und seine Werkstatt im Erdgeschoß des Mietshauses, in dem das Mädchen wohnte. Er hielt die hohe, weiße Tür unten im Treppenhaus für seine kleine Besucherin immer offen: »Ich entsinne mich, daß ich neben Herrn Valeby sitzen durfte, während er arbeitete. Er war groß und dunkel. Er hatte buschige Augenbrauen und klare -50-
blaue Augen. Es war gut, bei ihm zu sein. Ich weiß noch, wie er sich zu mir niederbeugte und fragte, wie es in der Schule war, was ich gemacht hatte. Er sah mir zu, hörte mir zu. Ja, ich erinnere mich auch an seinen Blick. Ich sog bei ihm ein bißchen von der Wärme auf, die ich zu Hause nicht bekam. Ich kann mich an den besonderen Geruch in der Werkstatt erinnern. Diesen Geruch mache ich heute noch sofort aus, wenn ich ähnliche Geschäfte betrete.« Dies hat sich in den 40er, 50er Jahren in Stockholm zugetragen. Damals waren die Menschen weniger verschlossen als heute und Kinder konnten sich leichter mit einem Erwachsenen anfreunden, der ihnen gab, was sie brauchten.
Gesucht: Ersatzgroßeltern Zahlreiche Senioren sehnen sich nach Umgang mit Kindern. Ebenso gibt es Kinder, denen der offenbar notwendige Kontakt zu alten Menschen fehlt. Wenn es ihnen nicht gelingt, ihn von selbst aufzunehmen, können ihnen die Eltern unter die Arme greifen. Wie war's mit einer Annonce in der Tageszeitung? Die Eltern des zweijährigen Sven haben eine Anzeige mit einem hübschen Bild des Jungen aufgegeben. Sie suchten jemanden in der Nähe ihres Wohnorts in Ostnorwegen, der Sven die weit -51-
entfernt im Westen lebenden Großeltern ersetzen würde. Dazu waren Laila und Uwe nur zu gern bereit. Die beiden wohnen auf dem Land und können gut mit Kindern umgehen. Mit ihnen unternimmt Sven alles mögliche, vom Spielen auf dem Hof bis hin zur Ferienfahrt ins Gebirge ohne Mama und Papa. Er ist darüber sehr glücklich: »Ich bin gern bei Laila und Uwe. Wir füttern zusammen die Hühner, dann sammeln wir Beeren und spielen Ball. Danach sitze ich auf Uwes Schoß, und er liest mir Märchen vor. Laila und Uwe sind jetzt meine Oma und mein Opa.« Laila und Uwe haben den Jungen ins Herz geschlossen, als wäre er ihr leibliches Enkelkind. Sie sind stolz auf ihn wie echte Großeltern. Sie wissen, daß sie Sven nicht wegschieben werden, sollten sie eines Tages eigene Enkel haben. Sven hat in ihrer Familie einen festen Platz eingenommen. Weitere Möglichkeiten, Ersatzgroßeltern zu finden, sind Aushänge am schwarzen Brett von Geschäften oder Altersheimen sowie Inserate in Wochenblättern oder geeigneten Zeitschriften. Mir sind solche Annoncen schon des öfteren aufgefallen: Mal sind es die Eltern, die für ihre kleinen Kinder Großeltern suchen, mal bekunden Kinder und Jugendliche, daß sie sich eine Oma oder einen Opa wünschen. Wer den Kontakt mit Kindern vermißt und die Freuden des Großelternseins erleben will, ist demnach nicht angewiesen auf biologische Nachkommen, im Gegenteil: Er kann sich seine Enkel sogar aussuchen.
Großmutterschoß zu verleihen In einer norwegischen Kleinstadt gibt es ein attraktives Angebot für Kinder und Eltern. Dort haben findige Frauen nach einem Großmutterfest eine Wiegenstube eingerichtet. Denn ihrer Ansicht nach haben vielbeschäftigte Elternpaare heutzutage zu wenig Zeit und Ruhe füreinander. Die Liebe, versichern sie, ist ein empfindliches Pflänzchen, das Pflege und Nahrung braucht. -52-
Deshalb hüten jeden Samstagabend vier Frauen in einem Kindergarten vier Kinder, die dort auch übernachten können. Insgesamt zwölf Frauen lösen sich bei diesem Service ab. »Hier können Kinder auf einem Großmutterschoß sitzen, auch wenn er bloß eine Leihgabe ist«, sagt Lilli, die Leiterin der Initiative, während sie Christines Windel wechselt. Die Zweijährige - sie hat schon einmal hier übernachtet - brabbelt vergnügt vor sich hin. Die Eltern finden das Angebot phantastisch und haben über die Wiegenstube nur Gutes zu sagen. Sie wissen, daß sie den erfahrenen Frauen ihre Kinder bedenkenlos anvertrauen können. Die Kleinen dürfen sich im Fernsehen die Kinderstunde anschauen und, weil Samstag ist, etwas naschen. Dann klettern sie aufs Sofa zur Märchenstunde mit Lilli. Und Lilli weiß, wie man Märchen erzählt! Mit großen Augen sitzen die Kinder da und hängen an ihren Lippen. Vergessen sind Süßigkeiten und Limo. Dann dürfen sie so lange aufbleiben, wie sie wollen - eine Freiheit, die das Privileg von Großmüttern ist.
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VOM MITEINANDER
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6 Kinderbetreuung
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Die meisten Großeltern sind gern mit ihren Enkeln zusammen und freuen sich, wenn sie gebeten werden, die Kleinen zu betreuen. Einige tun dies täglich, während die Eltern arbeiten, andere bringen die Enkel zum Kindergarten oder holen sie von dort ab. Wieder andere springen im Bedarfsfall ein, etwa bei Krankheiten oder Krisen in der Familie.
Großeltern als Krisenhelfer Hilfsbereite Großeltern dienen vor allem in Familien mit Kleinkindern gleichsam als Feuerwehr. In kleinen wie großen Krisen stehen sie den Eltern zur Seite, zum Beispiel im Fall von Erkrankung, Scheidung und Arbeitslosigkeit. Sie sind in jeder Notlage bereit, die Enkel zu versorgen, sofern sie nicht weiter als eine Fahrstunde entfernt wohnen. Da sie großzügig Hilfe leisten, gelten Großeltern in vielen Familien als Schutzengel. Das ist in zahlreichen, wenn nicht allen Ländern der Welt der Fall. Manche Eltern möchten ihre Jüngsten nicht einem Kindergarten oder einer Tagesstätte, sondern lieber Oma und Opa anvertrauen. Diese freut es oft sehr, täglich mit dem Enkelkind Zusammensein zu dürfen. So manche sind bereits Rentner, andere lassen sich sogar beurlauben, um die Kinder betreuen zu können. Als ich Frauen fragte, wie es sei, Oma und Tagesmutter zugleich zu sein, leuchteten ihre Gesichter auf und bekamen ganz weiche Züge. Hier eine der Antworten: »Jetzt als Rentnerin habe ich genügend Zeit. Ich bin nun Michaels Tagesmutter. Es macht mir sehr viel Spaß, morgens aus dem Haus zu gehen und von früh bis spät bei ihm zu sein. Es ist nachgerade ein Privileg, mit Kindern Zusammensein zu dürfen. Es stimmt einen ganz einfach froh. Grund dafür ist all das, was im Lauf des Tages geschieht, und nicht zu vergessen der Kontakt mit dem Kind. Allein physisch ist er herrlich. Dann dieses hübsche Lächeln, das einem dauernd beschert wird, dieses -56-
spontane Reagieren, diese Dankbarkeit. Es ist einfach ein Geschenk. Wer das in seinem Leben nicht erlebt hat, muß eine seltsame Leere in sich spüren.« Im tagtäglichen Miteinander entsteht zwischen Großeltern und Enkeln ein dichtes Netz aus Körpersprache, gemeinsamen Rhythmen und Gefühlen. Während die Großeltern so mit dem Enkelkind gleichermaßen verwachsen, entwickeln sie ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich durchaus sehr lange bewahren kann. Eine Großmutter erzählte mir, daß sie anfänglich für ihr erstes Enkelkind Tagesmutter gespielt hatte. Als der Junge mit zwei, drei Jahren in die Tagesstätte kam, holte sie ihn zweimal in der Woche ab, und zwar ein paar Stunden früher, als die Eltern es zu tun pflegten. Alle Beteiligten waren damit zufrieden. Es läßt sich also einrichten, zu bestimmten Zeiten mit dem Enkel zusammenzusein. Im geschilderten Beispiel müssen die Eltern nicht jeden Tag von der Arbeit zur Tagesstätte hetzen, um das Kind noch rechtzeitig abzuholen. Während die Oma einspringt, können sie in aller Ruhe andere Besorgungen erledigen, bis es Zeit wird, das Kind zu Bett zu bringen. Und das Kind wiederum kann den engen Kontakt mit der Großmutter genießen.
Wenn Großväter Vaterfreuden nachholen Die Vater-Kind-Beziehung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Heute stehen junge Väter ihren Sprößlingen emotional sehr viel näher, als es vor ein bis zwei Generationen üblich war. Ebenso fühlen Großväter sich ihren Enkeln stärker verbunden als früher. Drei Viertel der Großväter stehen im ersten Lebensjahr ihres Enkels noch im Berufsleben. Rund ein Viertel hingegen befindet sich bei Geburt des ersten Enkels bereits im Ruhestand. Viele Rentner sind zu diesem Zeitpunkt noch zu rüstig, um die Hände -57-
in den Schoß zu legen, und wollen sich in ihrer Umgebung gern aktiv betätigen. Manche haben das Glück, daß eine zum Greifen nahe, wichtige Aufgabe wartet: Das Enkelkind braucht Obhut, während die Eltern arbeiten. Einige Großväter ergreifen die Chance und springen als Tagesväter in die Bresche. Einer von ihnen berichtet: »Als Tagespapa hat man ein prächtiges Rentnerdasein. Als Opa und Rentner werde ich ständig daran erinnert, daß die Kindheits- und Jugendjahre meiner Kinder schnell wie ein Blitz an mir vorbeigegangen sind. Durch Harald habe ich eine zweite Gelegenheit, die Entwicklung eines Kindes zu erleben. Zugleich tut es mir wohl, noch für etwas nütze zu sein.« ; Während ihrer Berufstätigkeit werden viele Männer voll und ganz von der Arbeit in Anspruch genommen. Oft fehlen ihnen die Zeit und Energie, sich ihren kleinen Kindern zu widmen. Eben diese Lebenserfahrung kann dazu beitragen, daß sie als Großvater andere Wertmaßstäbe setzen und eventuell wie Haralds Opa das Versäumte nachholen, indem sie als Tagesvater endlich aus unmittelbarer Nähe die Entwicklung eines Kindes begleiten. Ein Ruheständler verdankt dem Kontakt mit seiner Enkelin nach eigenen Worten ein neues Leben. Er war im Alter von 50 Jahren an Prostatakrebs erkrankt. Aufgrund seines Leidens und der kräftezehrenden Therapie befand er sich in einer elenden Verfassung, als er mit 64 Jahren Großvater wurde. Während sowohl seine Frau als auch die Mutter der kleinen Lina arbeiten mußten, konnte er vormittags zu Hause auf Lina aufpassen. Und fast wie durch ein Wunder erblühte er dabei zu neuem Leben. Heute - zehn Jahre später spricht er sogar von seiner Neugeburt.
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Wie kleine Kinder Großväterherzen erweichen Nicht alle Großväter suchen die unmittelbare Nähe zum kleinen Erdenbürger - vielleicht weil sie in ihrer langen harten Berufstätigkeit ihre Gefühle haben drosseln müssen. Das Enkelkind bietet ihnen die womöglich letzte Chance, ihr emotionales Reservoir wieder aufzutanken. Babys erweichen beinahe jedes Herz: Der Anblick eines solch winzigen, schutzlosen Wesens läßt kaum einen Menschen ungerührt. Selma Lagerlöf beschreibt, was dem gefühlsarmen Jan widerfuhr, als ihm sein neugeborenes Enkelkind in die Arme gelegt wurde: »Da stand er nun, und in den Händen hielt er etwas Warmes, Weiches, das in einen großen Schal eingewickelt war. Der Schal gab gerade nur den Blick auf das kleine, runzlige Gesichtchen und die winzig kleinen Händchen frei. Da versetzte ihm etwas so einen Stoß, daß er mitsamt dem Kind erbebte. Dieser Stoß kam von keinem der Umstehenden, vielmehr war es, als ginge er von dem kleinen Mädchen selber auf ihn über, oder umgekehrt von ihm zu dem kleinen Mädchen, das vermochte er nicht genau zu sagen. Gleich darauf fing das Herz in seiner Brust zu pochen an, wie es nie zuvor gepocht hatte, und auf einmal war er nicht mehr frostig und schlecht gelaunt und auch nicht grimmig, sondern alles war gut. Die Hebamme verstand, was da geschah, und fragte Jan, ob er denn noch nie jemanden so sehr gemocht habe, daß er davon Herzflattern bekam. Nein, das hatte Jan noch nie erlebt. Aber im gleichen Augenblick verstand er, was es war, was sein Herz so in Gang gebracht hatte. Und damit nicht genug. Er begann auch zu ahnen, was sein Leben lang mit ihm schiefgelaufen war. Denn wer in seinem Herzen nichts spürt, weder -59-
Trauer noch Freude, der konnte sicher kein richtiger Mensch sein.«
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Die rührende Hilflosigkeit des Säuglings appelliert an den Fürsorgeinstinkt, und sich um ein Baby kümmern, stellt eine einzigartige Chance dar, unterdrückten Gefühlen freien Lauf zu lassen. Der Großvater muß keine Leistung erbringen, damit er und das Kind sich wohl fühlen. Es macht nichts, wenn er sich unbeholfen anstellt. Das einzige, was von ihm verlangt wird, ist offenes, ehrliches Bemühen um das Wohlergehen und die Bedürfnisse des Kindes. Begegnet er ihm aufmerksam, wird vom Kind eine lebhafte Initiative ausgehen, da es den Kontakt zu den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung sucht. Einige Großväter erklärten, sie hätten am ehesten Kontakt zu den Enkeln gefunden, denen sie auch die Windeln gewechselt haben. Andere bestätigten, sich am besten mit den Enkelkindern zu verstehen, die sie zuweilen allein betreuen mußten. Ein Großvater sollte es getrost wagen und sich anbieten, gelegentlich für ein paar Stunden die Enkel zu hüten. Allerdings sollten deren Eltern - und seine Ehefrau besser abwesend sein, um nicht die Aufmerksamkeit der Kinder vom Opa abzulenken. Allein hat dieser Gelegenheit, die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Enkels zu gewinnen. Auf diese Weise finden die beiden leichter zueinander. Opa mag sich dabei noch so unbeholfen vorkommen: Das Kind kümmert sich nicht darum, sondern genießt ganz einfach seine Nähe. Nicht wenige Männer sagen, ihnen falle die Annäherung an etwas größere Kinder leichter. Sie wollen lieber mit dem Enkel schon etwas unternehmen können, eine kleine Wanderung zum Beispiel. Das Kind wird sich an Opas Hand geborgen fühlen und die Welt als großes Wunder erleben. Dabei ist es nicht einmal erforderlich, daß die zwei sich unterhalten. Nähe kann ebensogut aufkommen, wenn sie schweigend nebeneinander hergehen.
Großmütter: Es gibt solche und solche Für gewöhnlich ist vornehmlich die Mutter für die Pflege des Säuglings verantwortlich. Braucht sie dabei Rat und Hilfe, wendet sie sich zumeist an die eigene Mutter. Die Großmutter -61-
väterlicherseits bleibt oftmals ein wenig im Abseits. Ein altes Sprichwort weiß: ››Ein Sohn ist ein Sohn, bis er ein Weib hat, eine Tochter bleibt zeitlebens eine Tochter.« Läßt die Tochter sich scheiden, sehen Großmütter den Kontakt zu Enkelkindern meist nicht gefährdet. Anders liegt der Fall, wenn der Sohn sich von seiner Frau trennt. Großmütter väterlicherseits sind sich darüber sehr wohl im klaren. Wollen sie den guten Draht zu den Kindern geschiedener Söhne nicht verlieren, dann erweist sich ein freundschaftliches Verhältnis zu den Omas mütterlicherseits als hilfreich. Mitunter bemühen sich beide Großmütter mit vereinten Kräften um eine ausgewogene Beziehung. Um einen gleich guten Kontakt mit den Enkeln zu ermöglichen, können sie sich die Aufgaben, beispielsweise die Kinderbetreuung, aufteilen oder gemeinsam erledigen. Eventuell fühlt die eine Oma sich diesem, die andere jenem Enkel stärker verbunden. Um so besser, wenn es beiden gelingt, einander gegenseitig und die jeweilige Beziehung zu den Kindern zu akzeptieren.
Pro und kontra: die Oma als Kinderfrau Nach einiger Zeit als Tagesmutter fühlen sich so manche Omas ziemlich ausgelaugt. Schließlich kann es zur Belastung werden, jeden Tag gebunden zu sein. Vermutlich sind davon besonders Frauen betroffen, die das Neinsagen nie gelernt haben. Vielfach sind sie in Elternhäusern aufgewachsen, in denen sie zu gehorchen, statt etwas für sich selbst zu fordern hatten. Und nicht selten gingen sie dann Ehen ein, ohne je eine Ausbildung, geschweige denn die Chance zu erhalten, sich ein eigenes Leben aufzubauen und dadurch Selbstbewußtsein zu entwickeln. Diese Großmütter gehören in unserer Gesellschaft zu der letzten Generation von Frauen, die voll und ganz in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter aufgegangen sind. Sie haben sich ihr Leben lang ausschließlich um den Haushalt und die -62-
Kindererziehung gekümmert. Sie haben sich mit aller Kraft für andere eingesetzt und wenig Rücksicht auf sich selbst genommen. Da wundert es wenig, wenn sie, nachdem die Jungen endlich flügge sind und das Leben ruhiger verläuft, Lust verspüren, allmählich etwas für sich zu tun. Doch kaum kommen Enkel zur Welt, vergessen sie ihre Bedürfnisse wieder. Ohne zu Überlegen erklären sie sich bereit, die Kinder zu hüten. Erst nach einiger Zeit entsinnen sie sich, daß sie zumindest kurz mit dem Gedanken gespielt hatten, sich endlich einmal etwas zu gönnen. Und möglicherweise ist dieser Wunsch, nachdem er wegen des Enkelkindes schleunigst verschüttet wurde, noch lebendig. Zu spät muß es dafür keineswegs sein. So könnte die Oma sich überlegen, wie sie ihre Zeit am liebsten verbringen möchte. Wenn Vater und Mutter des Kindes ihre Arbeit ein wenig reduzieren, könnten die drei wechselweise das Kinderhüten übernehmen. Oder die Eltern nehmen sich wöchentlich oder vierzehntägig einen Tag frei. Dann hätte Oma einen oder zwei Wochentage zur freien Verfügung, etwa um einen Kurs zu besuchen; gegebenenfalls könnte sie dafür an anderen Tagen die Kinder betreuen. Wenn sie ab und zu nach dem Lustprinzip leben und ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen darf, findet sie vielleicht wieder mehr Freude am Zusammensein mit dem Enkel - und umgekehrt. Außerdem können die beiden dadurch eine streßfreiere, emotional stärkere Bindung entwickeln.
Kinder hüten kann ermüden Müdigkeit muß nicht von Unlust zeugen, das Enkelkind zu betreuen. Vielmehr ist es nur natürlich, wenn das Zusammensein mit einem lebhaften kleinen Wicht ältere Menschen anstrengt. Viele Großmütter müssen sich um Enkel kümmern, egal wie erschöpft sie sind. Was sollen sie tun, wenn die Kräfte nachlassen, sie die kleine Nervensäge aber noch stundenlang hüten müssen? Ist das Kind bereits einsichtig genug, können sie frei heraus sagen, daß sie müde sind und eine kleine Ruhepause benötigen. Hat das Kind verstanden, wie seine Oma sich fühlt, -63-
wird es sich selbst beschäftigen und bemühen, nicht zu stören. Anschließend kann Oma es mit frischer Kraft einrichten, daß beide gemeinsam sich etwas Schönes gönnen. Und das Kind wird bemerken, daß es viel lustiger ist, mit der Oma zusammenzusein, wenn sie wieder munter ist. Auf diese Weise lernt es, daß es sich lohnt, auf andere Rücksicht zu nehmen und sie eine Weile in Ruhe zu lassen. Die aufopferungswillige Seniorin wiederum übt sich endlich darin, ihr Anrecht auf Rücksichtnahme durchzusetzen. So einfach regelt sich das Problem freilich nicht immer. Genügend Großmütter jammern andauernd über Erschöpfung, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Das tut weder ihnen noch den Enkeln gut: Kinder geraten durch ständiges Klagen leicht aus dem seelischen Gleichgewicht. Sie bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn sie meinen, ihre Gesellschaft mache die Oma müde. Eltern sollten daher mögliche Alternativen erwägen, ehe sie widerstrebende Großeltern drängen, die Enkel zu betreuen. Damit Enkel und Großeltern ihr Zusammensein aufrichtig genießen können, sollten Oma und Opa hinreichend ausgeruht sein. Nur dann können sie mit ganzem Herzen bei der Sache sein.
Kinderhüten will dosiert sein Vermutlich teilen Rentnerinnen, die berufstätig waren, ihre Zeit bewußter ein als andere. Eine meiner Bekannten zog, als sie alleinerziehende Mutter wurde, zurück in ihre Heimatstadt, weil sie ihre Tochter in engem Kontakt zur Oma aufwachsen lassen wollte. Zu ihrer Enttäuschung aber wehrte sich ihre Mutter, eine ehemalige Krankenschwester und nun Rentnerin, vehement gegen die Rolle der Kinderfrau: »Ich habe fünf Kinder großgezogen, auch zwei meiner Enkelkinder haben bei mir zu Hause gewohnt - mein Leben lang habe ich Kinder gehütet. Ich habe das meine getan. Als Großmutter will ich jetzt endlich die Möglichkeit haben, selbst zu -64-
entscheiden, wann die Kinder bei mir sein dürfen. Ich bin gern mit meinen Enkeln zusammen, gewiß, aber das muß fein dosiert sein.« Ebenso hält es eine andere Seniorin. Soeben in den Ruhestand getreten, achtet sie sorgsam auf ihre eigenen Bedürfnisse. Schon lange hat sie sich auf das Rentnerdasein gefreut, um endlich tun und lassen zu können, wonach ihr der Sinn steht: reisen, Kurse besuchen, Sport treiben, Freunde treffen, sich selbst verwirklichen. Sie läßt sich nicht zum Babysitten drängen: »Sicherlich versuche ich, so oft wie möglich zu helfen, wenn es notwendig ist. Aber es kommt auch vor, daß ich nein sage, wenn sich ein Termin mit meinen Plänen überschneidet.« So muß es sein. Nur wenn Großmütter sich aus freien Stücken um die Enkel kümmern, können sie und die Kinder das Miteinander genießen. Manche Großmütter finden es sehr aufreibend, mehrere Enkel gleichzeitig zu beaufsichtigen. Andere sehen sich im Gegenteil entlastet, weil sich die Kinder dann eher selbst beschäftigen. Mehr Kinder machen nicht unbedingt mehr Arbeit. Sie meistern viele Situationen besser, als Erwachsene es ihnen zutrauen. So können sie ihre Spielsachen gut selbst finden und anschließend wieder aufräumen. Und nicht selten fühlen sie sich sogar wohler, wenn man ihnen etwas mehr Verantwortung überträgt. Einige Großeltern haben gute Erfahrungen damit gemacht, sich mit anderen Omas und Opas zusammenzutun. Vier Augen sehen mehr als zwei, auch beim Kinderhüten. Obendrein können die Senioren sich dabei gut kennenlernen und nette Stunden miteinander verbringen.
Wenn die Oma arbeitet Zahlreiche Großmütter (in Norwegen gut die Hälfte) sind im ersten Lebensjahr ihres ersten Enkels noch berufstätig. Und nicht wenige üben ihren Beruf weiterhin aus, wenn das Kind -65-
etwa vier Jahre alt ist. Ich habe mich gefragt, in welchem Maß sie sich ihren Enkeln widmen. Tun sie es weniger als Hausfrauen und Rentnerinnen? Oder mehr? Genaue Untersuchungen gibt es darüber nicht, doch habe ich viele Frauen getroffen, die im Arbeitsleben stehen und sich sehr intensiv um die Enkel kümmern. Oft holen sie die Kleinen vom Kindergarten ab oder bringen sie hin. Oder sie spielen Babysitter, wenn die Eltern abends ausgehen, ein Wochenende verreisen oder allein verbringen möchten. Eine Bekannte, die von ihrem Beruf sehr beansprucht wird, sprang ein, als Sohn und Schwiegertochter kurzfristig eine Auslandsreise antreten mußten. Vormittags versorgte wie gewöhnlich eine Praktikantin die Enkel. Meine Bekannte löste sie nachmittags ab. Bei unserem nächsten Treffen, kurz nachdem die Eltern endlich wieder heimgekehrt waren, wirkte sie überaus erschöpft. Ob sie sich nicht zuviel zugemutet habe, fragte ich. Aber nein, erwiderte sie. Sie würde es jederzeit wieder tun. Sie genieße das Zusammensein mit den Kleinen und meine, sie sollten von Personen betreut werden, an die sie gewöhnt sind. Berufstätige Großmütter opfern bis zu zwei Urlaubswochen für ihre Enkel; manche nehmen sie auch mit in ihr Wochenendhaus. Während viele ihrer Kolleginnen Freizeit mit dem Enkel wahrscheinlich nicht für erholsam halten, sind ihnen die gemeinsamen Erlebnisse mit den Kindern sehr wohl einige Urlaubstage wert. Es mag sein, daß ich das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln in zu rosaroten Farben ausgemalt habe. Eine Reihe von berufstätigen Großmüttern meint jedenfalls, meine Schilderungen träfen eher auf Omas zu, die tagsüber zu Hause sind. Diese hielten mehr Kontakt zu den Enkeln. Ich kann es sehr gut verstehen, wenn Großmütter neben der Arbeit wenig Zeit für Unternehmungen mit den Enkeln finden, obwohl sie sich nach den Kindern sehnen. Gleichwohl sollten sie sich ehrlich fragen, ob sie die Bedeutung dieses Kontakts womöglich unterschätzen. Andererseits bitten erwachsene Töchter eher Mütter mit Berufserfahrung um Hilfe als solche, die ausschließlich Hausfrau gewesen sind. Vielleicht kommen sie -66-
aufgrund ihrer ähnlichen Lebenserfahrung besser miteinander aus. Die Enkel wiederum können auch mit berufstätigen Omas angenehme Erlebnisse haben. Ihre Begegnungen mögen zwar seltener und kürzer sein, aber den Kindern trotzdem sehr viel bedeuten. Letzteres sage ich aufgrund der Erfahrung eines Freundes: In all den Jahren seiner Kindheit wohnte im Elternhaus auch sein Großvater. Er war es, der dem Jungen Geborgenheit und Halt gab. In der Erinnerung erscheint es meinem Freund, als wäre sein Opa immer da gewesen und hätte unendlich viel Zeit für ihn gehabt. Dabei weiß er, daß sein Großvater keineswegs immer zugegen war. Denn dieser war berufstätig und zudem kulturell interessiert. Mehrere Abende pro Woche fuhr er ins Stadtzentrum, um mal ein Konzert, mal eine Veranstaltung zu besuchen. Wie konnte der Junge dennoch den Eindruck gewinnen, sein Opa sei allzeit für ihn da? Nun, zum einen schenkte der Großvater ihm in den Stunden, die sie miteinander verbrachten, volle Aufmerksamkeit. Zum anderen war er kein unsteter Mensch, sondern blieb sich und seinen Gewohnheiten treu. Das Beispiel dieses Großvater läßt sich auf berufstätige Großmütter übertragen: Die Qualität des Miteinanders hat unter Umständen sehr viel mehr zu bedeuten als die Quantität.
Feste Dates Viele Berufstätige sehen ihre Enkel erstaunlich häufig. Eine 58jährige Großmutter zum Beispiel tanzt mit den zwei Enkelkindern einmal die Woche Ballett. Sie sagt: »Die Enkel haben Vorrang, auch wenn ich noch so viel zu tun habe. Schließlich kann ich nicht darauf warten, daß ich in fünf bis sechs Jahren vielleicht die Zeit habe, Oma zu sein. Ich will meine Enkel hier und heute erleben!« Möglicherweise können berufstätige Großmütter besser mit vollgespickten Terminkalendern leben. Viele sorgen für ein Treffen mit dem Enkelkind, so oft ihr dichter Zeitplan es -67-
erlaubt. Trotz hoher Arbeitsbelastungen gelingt es ihnen, regelmäßigen Kontakt zu halten und die Enkel einmal die Woche oder zumindest mehrmals im Monat zu sehen. Eine meiner Bekannten ist Bibliothekarin. Sie holt ihre Enkel an einem bestimmten Wochentag von Schule und Kindertagesstätte ab. Dann essen sie gemeinsam bei ihr zu Hause. Dort haben die Kinder besondere Spiele und Gewohnheiten. Die Oma liest ihnen Märchen und andere Geschichten vor, ehe sie sich schlafen legen, und bringt sie am nächsten Morgen zur Schule und Tagesstätte. Andere berufstätige Großmütter aus meinem Bekanntenkreis nehmen sich den Mittwoch- oder Freitagnachmittag für die Enkel frei und arbeiten dafür an anderen Tagen länger. Eine holt mittwochs den zweieinhalbjährigen Sohn ihrer Tochter bei der Tagesmutter und dann seine vierjährige Cousine, die Tochter ihres Sohnes, von der Kindertagesstätte ab. Anschließend geht sie mit den Kindern ins Café. Zunächst ärgerte sich das Mädchen, daß der Vetter es aus der Position der Jüngsten in der Familie verdrängte. Nach und nach jedoch akzeptierte es den Kleinen, und inzwischen mag es ihn sehr. Eng aneinandergerückt, trinken Cousin und Cousine ihre Limonade und essen Kuchen. Für sie sind das festliche Stunden. Nach einer halben Stunde steigen die drei ins Auto, um das älteste Enkelkind, die erstgeborene Tochter des Sohnes, von ihrer Chorstunde abzuholen. Dann endlich fahren sie heim zu Oma. Dort essen sie »Großmamabrei« -Reisbrei, den Oma, wenn sie Zeit hat, in Riesenportionen zubereitet und einfriert. Das Mittwochsprogramm ist stets dasselbe. Kinder mögen feste Rhythmen und Gewohnheiten. Vorauszusehen, was geschieht, verstärkt das Gefühl von Geborgenheit. Und die Großmutter schätzt das Zusammensein sehr. Denn es spendet ihr, sagt sie, frische Energien, die den ziemlich harten Berufsalltag meistern helfen. Eine weitere Bekannte arbeitet im Gesundheitssektor. Da sie eine großartige Oma hatte, fühlt sie sich geradezu verpflichtet, ihren Enkeln ebenfalls eine solch wertvolle Erfahrung zukommen zu lassen. Sie sieht kein Hindernis darin, daß ihre zwei einzigen Enkelkinder weit entfernt in Südschweden -68-
wohnen. Zu jedem Geburtstag reist sie an. Sie will den Kindern zeigen, wie wichtig sie ihr sind. Und deshalb möchte sie die Tage, die ihnen selbst sehr viel bedeuten, unbedingt mit ihnen verbringen. Wenn die Eltern verreisen, nimmt sie sich frei und fährt zu den Kindern. Es sei wichtig, sagt sie, auch im Alltag zusammenzusein. Und daher besucht sie etwa einmal im Monat die Enkel. Wie die Eltern berichten, sprechen die Kinder ständig darüber, was Oma gesagt und mit ihnen unternommen hat. Trotz der räumlichen Entfernung nimmt die Großmutter einen bedeutenden Platz in ihrem Leben ein.
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Distanziertere Großeltern Soviel zu Großmüttern, die trotz ihrer Berufstätigkeit regen Kontakt mit ihren Enkeln pflegen. Andere gehen ganz in ihrer Arbeit auf und widmen sich kaum ihren Enkeln, denen sie entsprechend wenig zu bieten haben. Es gibt aber auch Rentnerinnen und Hausfrauen, denen die Nähe zu den Enkeln wenig bedeutet. Das muß Kindern nicht schaden. Sie brauchen nicht unbedingt engen Kontakt zu allen vier Großeltern. Der vertrauliche Umgang mit einer Oma oder einem Opa genügt, allerdings ist seine Regelmäßigkeit wichtig. So erst kann das Kind die menschlichen Qualitäten entwickeln, die sich nur durch den innigen Kontakt zu den Großeltern frei entfalten können.
Auch Großeltern müssen ihr eigenes Leben führen Selbst wenn sie sich für ihre Enkel engagieren, glauben berufstätige Großmütter oft, zu wenig Zeit für die Kinder zu erübrigen. Möglicherweise entwickelt sich aber allmählich ein vertrauteres Verhältnis, wenn die Enkel den Kinderschuhen entwachsen. Größeren Kindern können Erwachsene leichter als gleichwertige Partner begegnen. Es kommt der Entwicklung einer ebenbürtigen Beziehung übrigens entgegen, wenn die Großeltern ihr eigenes, von der Familie unabhängiges Leben führen. Wenn Großeltern, Kinder und Enkel sich nicht zu dicht auf der Pelle sitzen, entwickeln sie wesentlich unverkrampfter Verständnis füreinander. Großeltern, die eigenen Interessen nachgehen, klammern nicht. Sie sind für ein befriedigendes, ausgefülltes Leben nicht auf ständigen Kontakt zu Kindern und Enkeln angewiesen. Kornhaber berichtet von einem Jugendlichen, der ein sehr enges Verhältnis zu seiner 85 Jahre alten Großmutter hatte. Gebrechlich geworden und kaum mehr zum Gehen fähig, fühlte die Oma sich in ihren vier Wänden einsam. Am liebsten hätte sie den Enkel ständig um sich gehabt. Das trieb den Jungen in -70-
die Zwickmühle: So viel er seiner Oma verdankte und so gern er ihr etwas Positives zurückgeben wollte, so sehr wollte er zugleich sein eigenes Leben führen. Ihm war klar, daß er mit ihr über dieses Problem sprechen mußte. Doch die Zeit ging dahin, ohne daß er es über sich brachte. Eines Tages starb sie. Während seiner tiefen Trauer spürte der Junge auch Erleichterung. Immerhin hatte er seiner Großmutter in der letzten Zeit doch noch Freude machen können. Und es war ihm erspart geblieben, ihr sagen zu müssen, daß er sie auf Dauer nicht mehr so oft würde besuchen können, wie sie hoffte. Er mußte sich also nicht vorwerfen, sie im Stich gelassen zu haben, sondern konnte mit all den guten Erinnerungen an sie weiterleben.
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7 Alltags- und Ferienzeiten
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Die räumliche Entfernung gibt den Ausschlag dafür, wie häufig Großeltern und Enkel sich treffen. Liegt die Grenze bei einer Stunde Fahrzeit, sehen sie einander mehrmals die Woche, wenn nicht täglich. Am »pflegeleichtesten« ist die Beziehung, wenn die Kinder gefahrlos auf eigene Faust zu Oma und Opa gehen können. Allerdings gilt die Faustregel »kurze Wege = guter Kontakt« nicht ohne Ausnahme. Großeltern können mehrere Fahrstunden entfernt wohnen und trotzdem, wenn sie in den Ferien längere Zeit gemeinsam verbringen, ein inniges Verhältnis zu den Enkeln aufbauen. Ebenso gibt es Großeltern, die in der nächsten Nachbarschaft leben, aber so gut wie gar nicht mit den Enkeln verkehren. Sie treffen die Kinder bestenfalls bei den üblichen Familienfeiern.
Alle unter einem Dach Früher wahrte man geringere Distanz. Innerhalb der Familie kümmerte man sich umeinander. Oft wohnten drei Generationen unter einem Dach. Maxim Gorki, Jean Paul Sartre, Margaret Mead und andere bekannte Persönlichkeiten sind mit Eltern und Großeltern in einem Haushalt aufgewachsen. Mead zufolge waren die Großeltern sehr wichtig für das Wohlbefinden ihrer Familie, für ihre eigene Entwicklung sowie die ihrer Geschwister: »Meine Oma, die Mutter meines Vaters, lebte bis zu ihrem Tod im Jahre 1927 mit uns zusammen. Sie hatte entscheidenden Einfluß auf mein Leben. Mutter sorgte stets dafür, daß Oma das beste Zimmer bekam, groß und sonnig und möglichst mit offenem Kamin. Dorthin gingen wir nach der Schule, oder Vater, wenn er von der Arbeit heimkam, immer zuerst. Dort machten wir unsere Hausaufgaben, an einem Tisch aus Kirschbaumholz. Dort saß Oma am Feuer. Aufrecht und intensiv hörte sie uns zu, hörte auch allen Bekannten meiner Mutter und unseren Freunden zu.« -73-
Wie Mead berichtet, schien ihre Großmutter unendlich viel Zeit zu haben. Sie war stets präsent und brachte allen Gesprächspartnern Achtung und Interesse entgegen. Die Ruhe und Harmonie, die sie ausstrahlte, tat den Angehörigen wohl, wenn sie von der alltäglichen Hektik in Schule und Beruf heimkehrten. Durch ihre Menschlichkeit wurde sie den Kindern zu einem bedeutenden Vorbild, dem sie nachzueifern versuchten. Eine meiner Bekannten wohnt mit Kindern und Enkelkindern in einem schönen Zweifamilienhaus. Sie alle nehmen Anteil aneinander und sehen sich aufgrund der Nähe recht häufig: »Wir sitzen oft gerade beim Frühstück, wenn die Kinder heraufkommen, um sich zu verabschieden, bevor sie in die Tagesstätte gehen. Das ist sehr nett, und an manchen Tagen ist das der einzige Kontakt, den wir mit ihnen haben.« Es ist indes nicht immer einfach, fährt sie fort, unter demselben Dach zu wohnen. Ihr Mann ist Journalist, sie selbst am Theater tätig. Manchmal arbeiten sie den ganzen Tag zu Hause. Dabei wollen sie nicht gestört werden: »Doch die Enkel wissen nun einmal, daß wir daheim sind. Es ist schwer, ihnen begreiflich zu machen, daß wir arbeiten und uns nicht mit ihnen unterhalten können. Wir können zwar sagen: »Jetzt paßt es nicht, kommt doch lieber ein andermal.« Aber dann sehe ich die betrübten Gesichter und fühle ich mich schlecht.« Ihre Enkel müssen nur die Treppe hinaufspringen, um Oma und Opa zu besuchen. Das tun sie vielleicht zu oft, meint sie und seufzt, mitunter käme es ihr vor, als hätten sie und ihr Mann gar kein eigenes Zuhause. In solchen Momenten wünscht sie sich weit weg. Aber alles in allem, so ihr Fazit, sei es von großem Vorteil, mit den Enkeln unter einem Dach zu wohnen.
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Wenn die Großeltern in der Nachbarschaft leben In kleinen Ortschaften wohnen Verwandte oft nah beieinander. Ich bin soeben auf eine Insel mit 800 Einwohnern gezogen. Manche junge Leute kehren auf sie zurück, nachdem sie eine Familie gegründet haben. Viele Einheimische sind miteinander verwandt. Die meisten Kinder, mit denen ich gesprochen habe, können ihre Großeltern zu Fuß oder mit dem Fahrrad schnell erreichen. Sie sind, auch wenn beide Eltern ganztags arbeiten, nach der Schule nicht ganz auf sich allein gestellt. Sie wissen, daß Großeltern in der Nähe sind, die bei Bedarf helfen und trösten. Eine Großmutter berichtet von einer ähnlichen Lebenssituation in Oslo. Oft kommen die Enkel nach der Schule bei ihr vorbei: »Meine Enkel wohnen in der Nähe. Sie kommen oft zu mir, besonders wenn in der Schule etwas vorgefallen ist. Sie kommen aus eigenem Antrieb. Der Weg ist nicht gefährlich, sie können ihn gut allein zurücklegen.« Wenn Kinder in ihren Großeltern gute Zuhörer finden, dann erzählen sie ihnen gern, was sie in der Schule erlebt haben. Das Interesse der Großeltern hilft ihnen, Details zu erinnern und die Berichte auszubauen. So lernen sie das Erzählen und üben sich darin, zu beschreiben, was um sie und in ihnen vorgeht. Das kann ihnen später von Nutzen sein, etwa in Situationen, in denen es darauf ankommt, sich gut auszudrücken.
Kein Problem: Eine Stunde Fahrzeit Am bequemsten haben es Großeltern, die in der Nähe ihrer Enkel wohnen, also nicht mehr als eine Fahrstunde entfernt. Ihnen fällt es leicht, Beistand zu leisten, zum Beispiel Babysitter zu spielen und die Kinder zu sich zu nehmen, wenn die Eltern -75-
verreisen. Kinder und Großeltern kommen einander übrigens besser näher, wenn sie mehrere Tage gemeinsam verbringen. Eine Seniorin bestätigt: »Es ist schön, die Enkelkinder zu betreuen, und am Alltäglichen teilzuhaben. Ich versuche, sie auf die gewohnte Weise zu Bett zu bringen, doch habe ich mehr Zeit zum Vorlesen als die Eltern. Ich habe auch die Zeit, abends mal Pfannkuchen zu backen. Als ihre Oma nehme ich es mir heraus, sie ein wenig zu verwöhnen.«
Nicht unbedingt ein Hindernis: Mehrstündige Fahrzeiten Stundenlang fahren, bloß um einen Abend mit den Enkeln zu verbringen? Das kommt für manche Senioren nicht in Frage. Andere tun es ohne weiteres und betreuen die Kinder, wenn die Eltern abends fort müssen. Nach dem gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen bringen sie die Enkel vielleicht noch zur Kita oder in die Schule, ehe sie sich auf den Heimweg begeben. Wie eine Großmutter mir erzählt hat, reist sie gern ein paar Stunden, um die Enkelkinder in ihrer vertrauten Umgebung zu besuchen. Sie findet es wichtig, bisweilen bei ihnen daheim zu sein und zu einem Teil ihres Alltaglebens zu werden. Die Kinder freuen sich offenbar jedesmal, Oma bei sich zu haben. Nach Omas Abreise erinnern sie sich noch lange an die gemeinsamen Stunden. Anderen Großeltern ist es lieber, wenn die Kinder zu ihnen kommen. Ein Seniorenpaar aus meinem Bekanntenkreis hat die Enkel gelegentlich bei sich, während die Eltern einen Abendkurs besuchen. Sie nehmen die Kleinen auch gern zum Wandern mit. Am liebsten sind sie am Meer, sagt die Oma: »Fast jedesmal, wenn die Kinder bei uns sind, unternehmen wir einen kleinen Ausflug. Zu jeder Jahreszeit fahren wir an einen bestimmten -76-
Badestrand. Im Winter machen wir dort Feuer, um Würstchen zu braten. Während ich das Essen organisiere, gehen die Kinder gern angeln. Merkwürdigerweise beißt bei ihnen tatsächlich oft ein Fisch an. Im Sommer baden wir und sammeln Muscheln. Die Kinder kommen ohne Hilfe zurecht und von selbst darauf, was sie tun können. Dort am Strand ist es besser, wenn man sich gar nicht einmischt. Es ist ruhig und friedlich, und sie sind die ganze Zeit mit irgend etwas Wichtigem beschäftigt.« Und wie die Eltern berichten, sprechen die Kinder viel von diesen Ausflügen. Eine weitere befragte Großmutter nimmt gern einige Stunden Fahrt in Kauf, um die beiden Töchter ihres Sohnes zu hüten. Umgekehrt kommen auch die Enkelinnen - sie sind zwei und fünf Jahre alt - oft zu ihr und ihrem Mann. Sie fühlen sich dort wie daheim. Die ehemaligen Kinderzimmer sind für die Enkel eingerichtet; die Oma hat die Spielsachen ihrer Kinder aufbewahrt und einige neue angeschafft. Jedes Mädchen hat sein eigenes Zimmer, Bett und Spielzeug. Es muß sein Zimmer genauso aufräumen wie daheim. Auch der Tagesablauf unterscheidet sich wenig von dem des Elternhauses. Abends sitzen sie auf dem Sofa, und Opa liest vor oder erzählt von alten Zeiten. Wenn sie sich schlafen legen, setzt sich Oma noch eine Weile ans Bett und redet mit ihnen über das, was sie am Tag erlebt haben.
Durch Ländergrenzen getrennt Ich kenne Kinder, deren Großeltern in Frankreich, Dänemark und den Niederlanden wohnen, und Senioren, deren Enkel in Schweden, den USA, Großbritannien und Island leben. Es mag Eltern zunächst betrüben, daß ihre Kinder in ein anderes Land ziehen und dort eine Familie gründen. Obwohl die Reisewege immer kürzer werden, sehen die Angehörigen sich meist selten. Oft scheitert ihr Plan, sich öfter zu treffen, an finanziellen und praktischen Problemen, und es bleibt vielleicht bei einer -77-
Begegnung pro Jahr. Viele Familien halten es so, daß die Großeltern zu Weihnachten anreisen und die Enkel Oma und Opa im Sommer besuchen. Auch die Sprache kann sich als Problem erweisen, wenn Enkel in einem anderen Land aufwachsen. Zum Glück schnappen kleine Kinder schnell Worte und Redewendungen in der Sprache der Großeltern auf. Und selbst Senioren, die sich mit Fremdsprachen schwertun, eignen sich in der Regel zumindest einige Brocken an. Damit läßt es sich in den ersten Lebensjahren der Enkel durchaus über die Runden kommen. Denn für Gespräche mit kleineren Kindern bedarf es nicht vieler Worte, auch nicht am Telefon: Sobald die Kleinen die Stimmen der Großeltern erkennen, ist der Kontakt wiederhergestellt. Oft liegt den Großmüttern am meisten daran, den Kontakt zu den Enkeln aufrechtzuerhalten. Mit allen Mitteln, mit Briefen, Anrufen, Fotos etc., versuchen sie dafür zu sorgen, daß sie sich bis zum nächsten Wiedersehen den Enkeln nicht entfremden. Eine Oma bekam von ihrem Enkel zu Weihnachten eine Zeichnung. Sie nahm diese als Vorlage für einen Wandteppich, den sie dem Jungen zum Geburtstag webte - eine gelungene Überraschung: Der Teppich gefällt dem Jungen sehr, er hängt in seinem Zimmer. Die Eltern sind gleichermaßen verantwortlich dafür, daß der Kontakt nicht abbricht und die Großeltern nicht in Vergessenheit geraten. Es hilft zum Beispiel, wenn sie oft über Oma und Opa sprechen, Bilder aus gemeinsam verbrachten Zeiten zeigen, Briefe schreiben und diesen Kinderzeichnungen beifügen. Einige betroffene Großeltern meinen, am leichtesten lasse sich der Kontakt zu Enkeln im Ausland bewahren, solange die Kinder noch klein sind. Mit zunehmendem Alter werde es schwieriger. Dies bekräftigt eine Großmutter, deren Enkel, zwei Jungen im Teenageralter, in den Niederlanden leben. Sie spürt deutlich, daß die beiden den vertrauten Umgang mit ihr weniger dringend benötigen als früher. Ihr Mann, der Opa väterlicherseits, ist vor einigen Jahren gestorben, und sie fragt sich manchmal, ob die Enkel zu ihm besseren Kontakt gehalten hätten. Die Jungen verändern sich stärker denn je, und zwischen den Treffen -78-
ereignet sich jede Menge. Einen Großteil ihrer Zeit verbringen sie bereits außerhalb des Elternhauses. Ihre aushäusigen Lebensgewohnheiten und inzwischen auch ihre Gedanken sind der Oma fremd. Überdies fällt das Sprachproblem nun schwerer ins Gewicht, obwohl die Großmutter genügend Niederländisch kann, um über einfache Dinge zu sprechen, und die Jungen Omas Sprache beherrschen. Sie verstehen sich gut, wenn sie von der Vergangenheit und über den verstorbenen Opa reden. Doch reichen die Sprachkenntnisse der Oma nicht aus, um sich über die Themenwelt der Jugendlichen zu unterhalten. Guten Kontakt zu heranwachsenden Enkeln zu wahren, das ist meist schwierig genug, wenn man dieselbe Sprache spricht und natürlich noch schwieriger, wenn Sprachbarrieren zu überwinden sind. Ein in Norwegen verheirateter Niederländer bemerkte mit Bedauern, daß die Verbindung zu seinen Eltern in der Heimat abzureißen drohte. Seine beiden Jungen sprachen zwar ein wenig Niederländisch, aber ihr Großvater kein bißchen Norwegisch. Dieser beschäftigte sich ohnehin lieber mit größeren Kindern, mit denen man sich unterhalten kann. Als die Enkel endlich alt genug waren, versuchten sie ihrem Opa von ihren Interessen, die er hätte teilen könnte, zu erzählen. Doch ihnen fehlten die treffenden niederländischen Worte. So verstummten ihre Gespräche mit dem Großvater rasch, bis ihnen die Lust daran verging. Machte es überhaupt noch Sinn, fragten sich die Beteiligten, sich zu treffen? Schließlich ließ sich ein Enkel für ein Jahr von der Schule befreien und verbrachte diese Zeit bei seinen Großeltern. Der Aufenthalt hat ihn mit der niederländischen Sprache und Kultur vertraut gemacht. Dadurch kann er nun von Norwegen aus mit ihnen in Verbindung bleiben. Auch sein Bruder profitiert davon, daß er in den Niederlanden gelebt hat, und ist den Großeltern wieder näher gekommen. Ich kenne einen weiteren Fall, in dem ein Norweger ein Jahr im Heimatland seiner Großeltern, in Deutschland, zugebracht hat. Er arbeitete in einem Architekturbüro in Köln und wohnte währenddessen bei seiner Großmutter. Seither, sagt er, hat er das Gefühl, in beiden Ländern zu Hause zu sein. -79-
Unvergeßliche Wochenenden und Ferien Lassen Sie mich an dieser Stelle von einer Seniorin berichten, die sich engagiert für den Zusammenhalt ihrer sogenannten Großfamilie - diese umfaßt sämtliche Nachkommen ihrer Eltern - einsetzt. Damit die Mitglieder in Verbindung bleiben, sollen ihre Enkel mit denen ihrer Schwester sowie allen Elternhäusern gut vertraut sein. Deswegen nimmt die Dame nicht nur ihre, sondern auch die Enkel ihrer Schwester gern mit, wenn sie zu Verwandten fährt. Die Kinder haben auf diese Weise schon viele gemeinsame Reisen unternommen, wenngleich sie nicht immer alle dabei waren. Sie alle haben bereits mehrmals die Elternhäuser ihrer Vettern und Cousinen besucht. Sich gemeinsam in einer fremden Umgebung bewegen, festigt den Zusammenhalt: Ständig gibt es etwas zu tun. Zwei Kinder passen auf das Gepäck auf, während die anderen Leckereien einkaufen. Alles steht im Zeichen der Gemeinschaft. Den Kindern sind diese Reisen unvergeßlich. Über die Osterferien, die sie zusammen auf einer Hütte in den Bergen verbringen, sagt die Großmutter: »Sogar als Jugendliche fahren sie noch sehr gern mit uns in die Berge. Unsere Hütte liegt ganz abgeschieden. Es gibt weit und breit keinen Skilift und keine Abfahrtspiste, nur Natur. Im großen Aufenthaltsraum können wir alle unterbringen. Wir legen Wert auf ein Haus, das allen offensteht.« Viele Großeltern nehmen die Kinder gern in den großen Ferien zu sich. Das Beisammensein nimmt ruhigere Formen an, wenn es sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Doch was tun, wenn die Großeltern väter- und mütterlicherseits sich darum zanken, wer die Enkel bei sich haben darf? Ein Osloer Seniorenpaar war diesen Streit leid. Es zog aufs Land und hat es nie bereut. Seither verbringen die Enkel ihre Sommerferien bei ihm. Die Großeltern sind länger mit ihnen zusammen als in der Stadt, die gemeinsamen Tage ruhiger und harmonischer, der Umgangmiteinander besser und natürlicher. Die Großeltern sind zufrieden. Die Kinder fühlen sich bei ihnen wohl und frei und -80-
schwärmen von den Ferien auf dem Land. Einem Erbbauernhof zu entstammen, ist ein zunehmend seltener Glücksfall, eignet er sich doch ideal für Familientreffen. Das Wissen um Vorfahren, die auf dem Hof gewohnt und gearbeitet haben, vermag den Zusammenhalt von Cousins und Cousinen zu festigen. Eine junge Frau erzählt über ihre Großmutter mütterlicherseits: »Oma hatte uns jeden Sommer bei sich, damit wir uns aneinander gewöhnen. Sie wollte uns außerdem mit dem Hof vertraut machen, den die Familie seit Generationen bewirtschaftete. Die Zeit, die wir dort zusammen verbrachten, hat ein starkes Band zwischen uns geschmiedet: Selbst als Erwachsene sind wir immer noch unzertrennlich.« Von früher Kindheit an haben alle Vettern und Cousinen den Sommer auf dem Bauernhof verlebt. Die Wärme und Offenheit der Großmutter hat ihren Umgang geprägt. Die Enkel haben, auch nachdem die Großmutter gestorben ist, herzlichen Kontakt. Sie betrachten einander als feste Bezugspersonen. Sie wissen, von wem sie in welcher Situation den besten Rat erhalten, und sind jederzeit bereit, den anderen zu helfen. Und das wird bei diesen Vettern und Cousinen zeitlebens so bleiben. Sehr viele Erwachsene denken, wenn sie sich an die Ferien ihrer Kindheit erinnern, an Besuche bei den Großeltern. Ein Aufenthalt bei Oma und Opa kann ein herrliches, unvergeßliches Ferienerlebnis sein. Ohne fortwährende Aufsicht der Eltern fühlen sich die Kinder frei, wobei Freiheit zugleich Verantwortung heißt.
Die gute alte Zeit: Großeltern gestern Heutzutage klagen berufstätige Großeltern häufig über Zeitmangel. Hatten die Menschen früher tatsächlich mehr Zeit? Diese Frage trifft den Punkt nicht genau. Viele arbeiteten dort, wo sie wohnten, hatten den ganzen Tag zu tun und arbeiteten obendrein womöglich noch nachts. Das war ein hartes Leben, -81-
sicherlich. Doch es war nicht beherrscht von dem Zeitdruck und der Hektik, die uns so sehr zusetzen. Wollten Großeltern ihre Enkel um sich haben, mußten sie deswegen seltener als heute die Arbeit niederlegen. Wenn es sich einrichten ließ, sahen die Kinder ihnen bei der Arbeit zu. Es mag sein, daß die Großeltern weniger mit dem Kind sprachen und diskutierten. Dafür aber war ihre wortkarge Gemeinschaft vielfach erfüllt von Wärme, Fürsorglichkeit und auch Achtung.
Glückliche Sommertage bei Oma und Opa Eine Bekannte hat mir von den Sommerferien bei ihren Großeltern erzählt, die sich auf einem kleinen Hof annähernd selbst versorgten. Gemeinsam mit Geschwistern, Vettern und Cousinen verbrachte sie dort, in einer Bucht auf einer Insel Westnorwegens, jeden Sommer. Die Großmutter war eine umgängliche Person und bei den Dorfbewohnern hoch angesehen. Auch den Enkeln imponierte es sehr, was sie alles konnte: Kühe, Ziegen und Geflügel versorgen, Beeren sammeln und einmachen. Im Backhaus bereitete sie Hardanger-Fladen zu, die sie, wenn die Kinder nicht zu Besuch waren, verkaufte. Sie schneiderte und stickte die hübschesten Sachen, Trachtenkleider für alle vier Enkelinnen sowie ihre Tochter und Schwiegertochter. Wehmütig denken die Enkel zurück an die Zeiten, in denen sie auf Laken mit Hardanger-Stickerei und Kissen gebettet waren, die Großmutter bestickt hatte.
Die Großeltern bei der Arbeit erleben Es waren beneidenswerte Kinder, die Großmutter bei der Arbeit helfen durften. Drei, vier Enkel folgten Oma auf den Fersen wie eine Kükenschar. Sie begleiteten sie in den Stall, hockten sich hin und sahen ihr zu. Oder sie durften schon kleine Arbeiten verrichten wie die Zitzen der Kühe mit Fett einreihen und versuchen, sie zu melken. Sie durften die Hühner füttern -82-
und die Küken streicheln. Sie schauten Großmutter beim Backen und Entsaften und Einmachen zu. Ja, das taten sie oft, untätig dasitzen und zusehen. Hauptsache, sie waren mit Oma zusammen. Großvater hatte ein Fischerboot, eine Fischräucherei und eine Schreinerwerkstatt. Morgens weckte er die Kinder. Sie halfen ihm, das Netz einzuholen, und waren auch beim Ausnehmen der Fische dabei. Abends warfen sie gemeinsam das Netz wieder aus.
Verschwiegene Gefühle Wie viele Norweger sprachen diese Großeltern nicht über Gefühle. Und sie lasen auch nicht vor, erzählten keine Geschichten, sangen keine Lieder, unterhielten sich nicht ernsthaft mit den Kindern und nahmen sie nicht auf ihren Schoß. Dennoch vertonten sich die Sommer bei ihnen zu einer paradiesischen, an Geborgenheit, Erlebnissen und Gefühlen reichen Sinfonie. Obwohl die Großeltern nicht viel Worte machten, kam ihre Liebe zu den Kindern deutlich zum Ausdruck. Da war das Zusammensein während der Arbeit. Und da waren die freundlichen Gesten - zum Beispiel wenn sie als Jugendliche spät in der Nacht von einem Fest zurückkamen. Da hatte Großmutter, sozusagen als Betthupferl, Grießbrei gekocht und Saft bereitgestellt. Die Achtung der Großeltern, ihre Wärme und wortlose Liebe verschmolzen zu einem Gesamteindruck, der sich den Enkeln unauslöschlich eingeprägt und die Großeltern zu den neben den Eltern wichtigsten Menschen in ihrem Leben gemacht hat. Das Verständnis für grundlegende Werte wie Respekt vor der Arbeit auf einem Hof und der natürlichen Herstellung von Lebensmitteln ist den Enkeln in Fleisch und Blut übergegangen. Es schwingt gleichsam als Grundton in ihrer Lebensmelodie mit.
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8 Bindeglied zur Vergangenheit
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Großeltern stellen das beste natürliche Bindeglied zur Vergangenheit dar. Sie wissen von den Vorfahren zu erzählen und davon, wie das Leben einst verlief. Sie vermögen Interesse und Verständnis für die Kultur vergangener Tage zu wecken. Angesichts der Tatsache, daß Kinder mehr denn je im Hier und Jetzt leben und das Gestern aus ihrer Gedankenwelt ausklammern, behaupten manche, Kinder hätten keinen Bezug zur Vergangenheit und könnten mit Erinnerungen und historischen Themen wenig anfangen. Viele sind, wie ich, anderer Ansicht. Ich weiß aus Erfahrung, wie gespannt Kinder zuhören, wenn meine Generation ihnen von der guten wie unguten alten Zeit erzählt. Das deutet darauf hin, daß sie unbewußt Anbindung an die Vergangenheit suchen. Und nur wenn wir über diese Bescheid wissen, meine ich, können wir die Gegenwart verstehen. Wir Erwachsene sollten Kindern diesen Weg aufzeigen.
In Gedanken ist Uroma lebendig Die Mutter hatte der vierjährigen Sarah von den Eltern und Großeltern ihrer Eltern erzählt. Es war an einem klaren Vollmondabend, da ging die Familie spazieren. Sarah blickte lange zum Himmel hinauf. Schließlich hob sie ihren Teddybär, damit er den Mond grüßen könne, und sagte: »Hallo Opa, sitzt du da oben und trinkst mit Uroma Tee?« Nach den Erzählungen der Mutter hatte Sarah das Gefühl, ihre Vorfahren ziemlich gut zu kennen. Jetzt seien diese im Himmel, hatte sie erfahren. Sarah stellte sich das himmlische Leben ähnlich vor wie das der Menschen auf Erden. Nachdem sie ältere Menschen hatte beisammensitzen und Tee trinken sehen, dachte sie, das täten ihre Großeltern und Urgroßeltern im Himmel auch... Wie man sieht, gewinnen kleine Kinder Berichten über die Vergangenheit sehr persönliche und lebendige Seiten ab.
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Einordnung in den Stammbaum Irgendwann wollen Kinder Auskunft über ihre verstorbenen Verwandten. Mein Mann und ich hatten, als unsere Tochter noch klein war, nicht sehr engen Kontakt zu unseren Familien. Vielleicht war meine Tochter gerade deshalb im Alter von drei bis vier Jahren brennend an ihren Vorfahren interessiert. Sie hörte nicht auf, nach ihnen zu fragen: »Wie hieß der Vater deines Vaters? Wie hieß dessen Vater? Wie hieß die Mutter deines Vaters, wie der Vater deiner Mutter?« Und so weiter und so fort. Sie fragte mir Löcher in den Bauch. Also zeigte ich ihr Fotos und versuchte, sie mit den Personen vertraut zu machen. Ein paar Monate lang wiederholte sie unablässg ihre Fragen. Ich verstand, daß sie mich nicht piesacken wollte. Irgend etwas trieb sie innerlich um. Vermutlich brauchte sie eine klare Vorstellung von ihrer Verwandtschaft, um sich in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können. Eines Tages stellte sie das Fragen ein. Anscheinend war ihre Neugier befriedigt. Seitdem bin ich überzeugt, daß wir alle bewußt oder unbewußt das Bedürfnis haben, unseren Stammbaum zu kennen. In der bunten Welt, in der wir leben, zählt die Familie zu den wichtigsten Grundwerten. Die Kenntnis von den Ahnen mag für Kinder daher wichtiger sein als je zuvor. Wir Erwachsene sollten versuchen, ihnen dieses Wissen zu vermitteln. Und das können aufgrund ihres Alters und ihrer Erfahrungen am besten die Großeltern.
Nichts ist spannender als selbst Erlebtes... Zwei Kinder schmiegen sich an ihren Uropa und betteln, er möge ihnen vorlesen. Etwas aus dem Buch über das Leben auf der Nordsee. Sie wissen: Sobald er einige Zeilen daraus vorgelesen hat, wird er Geschichten aus seinem Leben erzählen. -86-
»Uropa kann so gut erzählen! Er hat uns erzählt, wie es war, als er klein war. Auch vom Krieg hat er uns erzählt. Er weiß viele spannende Sachen aus alten Zeiten zu berichten.« Aneinandergekuschelt auf seinem Schoß, saugen die Kinder Uropas Worte auf. Er schildert das Leben auf der Nordsee; dort war er im Zweiten Weltkrieg im Einsatz. Was Uropa selbst erlebt hat, hören die Kinder noch lieber als die Geschichten, die er ihnen aus Büchern vorliest. Uropa hat ihnen Respekt vor der Vergangenheit eingeflößt. Vielleicht wecken seine Erzählungen auch ihr historisches Interesse. Bei anderen Gelegenheiten bringen die Kinder das Buch über den Weltkrieg herbei, krabbeln auf Uropas Schoß und bitten: »Uropa, erzählst du uns bitte von damals, als du im Gefängnis Grini warst?« Zwischen Vorlesen und Erzählen zu wechseln ist für beide Seiten ideal. Beim Vorlesen über Zeiten und Geschehnisse, die man aus eigener Erfahrung kennt, blühen die Erinnerungen auf. Auf einmal erzählt man von Dingen, die man vermeintlich längst vergessen hat. Kinder verlangen nicht sehr viel. Besonders gern hören sie von einfachen, alltäglichen Themen und Begebenheiten, an denen Oma, Opa oder wie hier der Uropa beteiligt war.
... Alltägliches aus grauer Vorzeit... Die Kinder wissen, daß ihr Uropa auf ein langes, erfülltes Leben zurückblickt. In seiner Gegenwart spüren sie hautnah den Atem der Vergangenheit. Es interessiert sie, wie es Kindern in der Zeit erging, als Uropa noch ein kleiner Junge war: »Uropa, bitte erzähl uns von deiner Schulzeit!« Und Uropa erzählt, wie es war, als er zur Schule ging: daß er eine Zwergschule mit zwei Klassenzimmern besuchte, daß er nur jeden zweiten Tag Unterricht hatte, daß die Schüler mit Bleistift schrieben, daß sie ihr Federmäppchen und eine -87-
Streichholzschachtel zeichnen mußten, daß sie damals keine Blumen malen durften... Die Kinder hängen an seinen Lippen. Uropa schildert weiter, wie ein Schultag verlief: mit dem Rezitieren von Psalmen und Abhören von Hausaufgaben. Ach ja, und streng war der Lehrer, sehr streng. Und Uroma sagt, daß es früher kein Fernsehen gab. Nein sowas! Was haben die Leute statt dessen getan? Da habe die Familie abends beisammengesessen, sich unterhalten oder Geschichten und Märchen erzählt, erwidert Uroma. Die Kinder lauschen gespannt. Staunend hören sie, daß man früher keinen Kühlschrank hatte, sondern vor jeder Mahlzeit in den Keller gehen mußte, um Milch und Lebensmittel zu holen.
... und Geschichten über die eigene Familie Die Kinder betrachten Familienfotos. Sie wollen Anekdoten aus dem Leben ihrer Angehörigen hören. Sie lieben Geschichten wie die vom Anschluß ans Stromnetz. Ehe Uropa zu erzählen beginnt, schafft er die passende Atmosphäre: Er zündet Kerzen an und schaltet die elektrische Beleuchtung aus. »Die elektrischen Leitungen waren endlich installiert und der große Augenblick gekommen. Die gesamte Familie war andächtig versammelt. Mein Vater drehte den Schalter, und da geschah es: Es wurde hell, phantastisch hell, und zwar im ganzen Zimmer.« Heute, da so gut wie jedes Wochenendhäuschen über Strom verfügt, wissen die wenigsten Kinder, wie es ist, wenn nur ein Öllämpchen Licht spendet. Um so faszinierter lauschen die Kleinen im Schein des Kerzenlichts dem Bericht des Urgroßvaters. An der Stelle, an der sein Vater zum ersten Mal den Schalter betätigt, stellt Uropa das Licht wieder an. Das gibt den Kindern eine Ahnung von der dramatischen Wirkung des elektrischen Lichts auf ihre Vorfahren. Vielleicht können sie nun eher deren Lebensgefühl nachvollziehen und sich -88-
vorstellen, wie sich die Familie abends um eine spärliche Lichtquelle versammelte. Wenn sie wissen, wie solche und ähnliche Veränderungen ihre Familie bewegt haben, dann werden sie besser begreifen, welch einschneidende technische und gesellschaftliche Entwicklungen sich in den Tagen ihrer Groß- und Urgroßeltern vollzogen haben.
Vielsagende Erinnerungsstücke Uropa stapft mit den Kindern auf den Dachboden. Dort zeigt er ihnen den kleinen Holzschlitten, den er als Kind benutzt hat, und seine alten Skier. Die Kinder studieren die Bindungen, heben die Skier an und staunen, wie schwer sie sind. Sie können es kaum glauben, daß Opa und Uropa als kleine Jungen auf solchen Brettern Ski gelaufen sind. Sie fassen die handgestrickten groben Wollstrümpfe an, die Kinder früher getragen haben, und schütteln sich. Mit Grauen hören sie, wie fürchterlich diese Strümpfe gekratzt haben und wie es Kindern im Herbst davor gegraust hat, bald Wollstrümpfe anziehen zu müssen, an die sie sich nur langsam wieder gewöhnten. Das Berühren der Gegenstände gibt den Kinder eine Vorstellung davon, wie sich Uropa als Kind gefühlt hat. Sie begreifen, daß sich ihre Kindheit ganz anders gestaltet als seine.
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Sie sind froh, heute zu leben, auch wenn sie mitunter ahnen, daß ihnen die eine oder andere sonnige Seite des Daseins vorenthalten bleibt. Ich besitze noch Möbel und anderes Inventar aus dem Haus von Groß- und Urgroßeltern, darunter Sofas, Schränke, Sessel, Eßzimmerstühle, Spiegel, Lampen und diverse Geräte. Sie werden benutzt wie eh und je. Ich denke an die Eltern meiner Mutter, wenn ich auf dem Stuhl und dem Sofa sitze, auf die ich als Kind zu Oma auf den Schoß stieg. Ich denke an die Eltern meines Vaters, wenn ich mich in dem Spiegel betrachte, der bei ihnen zu Hause hing. Und die Wandteppiche, die vor über hundert Jahren auf dem Familienhof gewebt wurden, lassen mich an die Vorfahren meines Vaters denken. Auf der Rückseite der schönsten Stücke ist vermerkt, woher sie stammen und wem sie einst gehört haben. Dadurch kommen wir immer mal wieder auf diese Verwandten zu sprechen. Kinder entwickeln eine stärkere Beziehung zu verstorbenen Familienangehörigen, wenn wir derartige Erbstücke aufbewahren.
Ein mythischer Stein Einst diente am Rand des Weges, der aus meinem Heimatort nach Norden in den Wald führte, ein zwei Meter hoher Steinbrocken als Glücksbringer. Reisende pflegten einen kleinen Stock oder Stein auf den Findling zu werfen, damit er ihnen auf der meilenlangen Passage durch die unsicheren Wälder Glück bringe. Als ich einmal mit meinen Schülern vor diesem Stein stand und ihnen erzählte, was ich darüber wußte, da berührte sie offenbar der Hauch der Geschichte. Erfreut sah ich, daß sie daraufhin Steinchen auf den Findling warfen. Sie erklärten, dabei an all die zu denken, die einst auf diesem gefährlichen Weg reisten. Dasselbe zu tun, was andere vor ihnen taten, gäbe ihnen das Gefühl Kontakt zur Vergangenheit zu haben. Damals wie heute freut es mich, wenn Geschichten aus verflossenen Tagen Kinder ergreifen.
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9 Vermittler von Kulturschätzen
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Ob sie ihren Enkeln vorlesen oder Geschichten erzählen, mit ihnen ins Museum, ins Theater oder in den Zirkus gehen: Großeltern teilen der jungen Generation nur zu gern kulturelle Werte mit, die sie selbst zu schätzen wissen.
Mit Oma und Opa ins Museum und Theater Der erst vier Jahre alte Marius liebt es, mit Oma ins Museum zu gehen. Er betrachtet es als selbstverständlich, daß sie beide ein Museum besuchen, wenn er das Wochenende bei ihr verbringt. Sobald er Omas Wohnung betritt, fragt er: »Wohin gehen wir diesmal, Oma?« Auch Oma liebt diese gemeinsamen Unternehmungen. Sie hat längst gemerkt, daß sie keine besonderen Kenntnisse besitzen muß, um für Kinder einen Museumsbesuch unterhaltsam zu gestalten. Das für Erwachsene Wissenswerte steht schließlich auf den Informationstafeln der Ausstellungsräume. Oma und Marius bleiben vor den Schaukästen stehen, und sie liest ihm die Erklärungen in kindgerechter Sprache vor. Ansonsten verhält sie sich ziemlich passiv. Sie versucht, das Museum mit kindlichen Augen zu sehen. Dem Jungen gefällt das Seefahrtsmuseum am besten. Immer wieder möchte er dorthin und wird es nicht müde, dieselben Erläuterungen zu hören, in die Kabinen zu spähen, die Kleider zu bestaunen und all die anderen Sachen, die auf See benutzt wurden. Ihn fasziniert das damalige Leben an Bord, das sich von der ihm bekannten Alltagswelt vollkommen unterscheidet. Und die Oma findet es mindestens ebenso spannend zu sehen, wofür ihr Enkel sich interessiert. Indem Marius selbst entscheiden darf, was er sich ansehen will, wird er sich seiner Vorlieben bewußt. Auf diese Weise unterstützt Oma ihn bei der Entwicklung einer starken Persönlichkeit. Zahlreiche Großeltern setzen Theaterbesuche mit den Enkeln auf das Unterhaltungsprogramm. In der Regel wählen sie Vorstellungen aus, die dem Enkelkind vermutlich gefallen werden, Puppentheater zum Beispiel, Kindervorstellungen der -92-
großen Bühnen oder Tanztheater. Manche sehen sich zu bestimmten Anlässen dasselbe Stück an, so etwa an Weihnachten immer den Nußknacker. Kinder haben ein Faible für Wiederholungen. Auch der anschließende Besuch in einem kleinen Café oder Restaurant kann sich zu einer Tradition entwickeln, an der beide Seiten hängen. Fast alle Kinder lieben es, mit denselben Menschen dieselben Lokale aufzusuchen und jedesmal dasselbe zu bestellen. Sie können sich an einfachen, preiswerten Gerichten freuen. Das Beisammensein und das Ritual bedeuten ihnen bei diesen gemeinsamen Unternehmungen wohl am meisten.
Bitte, lies mir etwas vor! Diesen Wunsch erfüllen sehr viele Großeltern ihren Enkeln häufig. Eine Oma, die ihre zwei Enkelkinder regelmäßig an einem Tag in der Woche bei sich hat, liest den beiden vor dem Schlafengehen vor. Sie sitzen auf dem Sofa, Oma in der Mitte, ein Kind an jeder Seite. Die Kinder hängen an diesen Stunden so sehr, daß sie sich manchmal aufgeregt vergewissern: »Du, haben wir heute Zeit zum Lesen?« »Wenn wir uns jetzt beeilen, haben wir dann Zeit zum Lesen, Oma?« Auf ihre Lesestunden wollen diese und andere Enkel keinesfalls verzichten. Und damit sie nicht entfallen, sind sie sogar bereit, sich schnell bettfertig zu machen oder Oma und Opa ein bißchen zu helfen. Die Behauptung, Kinder hätten keine Beziehung zu Sagen und Märchen, mag stimmen - solange sie keine zu hören bekommen. Astrid Lindgren zum Beispiel hatte als kleines Mädchen daheim niemanden, der ihr vorlas. Doch sie fand schnell Menschen, die ihr gaben, was sie suchte. Daher war sie ständig zu Besuch bei der Nachbarin Christin, deren Tochter Edith ihr vorlas und so zeigte, was Staunen bedeutet: »Es begann in Christins Küche, als ich etwa fünf -93-
Jahre alt war. Bis dahin war ich wie ein kleines Tier, das mit Augen, Ohren und allen Sinnen nur Natur in sich aufnahm. Davon, daß es auch Kultur gab, wußte ich nichts, bis ich unerwartet damit in Berührung kam, als ich auf meinen kleinen Beinen in Christins Küche stapfte. Christin war die Frau unseres Melkers und, mehr noch, Ediths Mutter. Diese Edith, gesegnet sei sie jetzt und in alle Ewigkeit, las mir das Märchen vom Riesen Bam-Bam und der Fee Viribunda vor und versetzte damit meine Kinderseele in Schwingungen, die bis heute nicht mehr verebbt sind.« Einem Kind vorlesen, ist das nicht etwas sehr Simples und Alltägliches? Durchaus nicht. Astrid Lindgrens Worte erhellen, wie wichtig das Vorlesen, wenn ein Kind zur rechten Zeit in seinen Genuß kommt, sein kann: Daß Edith ihr ein Märchen las, beeinflußte entscheidend Lindgrens Werdegang. Es weckte in ihr eine Regung, die ihr den Weg zu den großen Schätzen ihrer Kultur bahnte.
Vorlesen erweitert den Wortschatz Großeltern können sich Zeit nehmen, zumeist jedenfalls. Das ist einer ihrer Vorzüge. Sie haben die Zeit, innezuhalten und über Dinge zu sprechen, die ihre Enkel beschäftigen. Sie haben auch die Zeit, den Kindern so manches zu erklären, was sie nicht verstehen. Eine als Bibliothekarin arbeitende Großmutter (ich habe sie schon einmal erwähnt) achtet beim Vorlesen sehr darauf, daß die Kinder den Text tatsächlich verstehen. Worte sind wichtig für Kinder, meint sie. Menschen benötigen Worte, um denken zu können: Worte sind Mittel, die Welt zu beherrschen. Ein sicheres Sprachgefühl und ein reicher Wortschatz tragen entscheidend dazu bei, daß Kinder in der Schule und Gesellschaft gut zurechtkommen. Ihren Wortschatz müssen die Kinder beizeiten erwerben, und zwar zu Hause. Es ist Aufgabe der Familie, ihnen einen gewissen Wortschatz mitzugeben. -94-
Vielfach jedoch kommen Eltern, so gern sie es täten, zu wenig dazu, ihnen vorzulesen. Diese Lücken vermögen Großeltern und Urgroßeltern zu stopfen. Sie können den Kindern in aller Ruhe Geschichten vorlesen und dabei unbekannte und schwer verständliche Worte erklären.
Märchenwelten Es scheint, als wohne Märchen eine spezielle Kraft inne. Seit undenklichen Zeiten erzählen überall auf dem Globus Großeltern ihren Enkelkindern Märchen, bei uns, in Griechenland und vielen anderen Ländern, immer beginnend mit den Worten: »Es war einmal...« Weltweit haben Märchen sich ihre uralten Motive und Formen bewahrt. Zu den allen gemeinen, wiederkehrenden Themen zählt der Gegensatz von gut und böse. Dabei wird das Gute belohnt, das Schlechte vernichtet. Die Schilderung von üblen Taten mag noch so dramatisch und fesselnd sein: Dank seiner sittlichen Überlegenheit trägt das Gute den Sieg davon. Auf diese Weise vermitteln Märchen Kindern in aller Welt von jeher eine universelle Moral und Ethik. Ob Kinder von heute, würden sie mehr Märchen hören, schärfer zwischen recht und schlecht zu unterscheiden wüßten? Es macht nichts, wenn man sich an kein einziges Märchen erinnert. Denn zum Glück gibt es Märchenbücher, und daraus vorlesen kann genauso viel Spaß machen wie freies Nacherzählen. Ein gutes Märchenbuch hat den Vorzug, die geeigneten Worte und anschauliche Schilderungen zu liefern. Mit ihrer universellen Themenwahl sprechen die alten Märchen Kinder unmittelbar an. Vielleicht verstehen Kinder sie besser als wir Erwachsene. Sie begreifen sofort, weshalb der Prinz sich in Aschenputtel verliebt. Würden wir diesen Sachverhalt mit neuen eigenen Worten erzählen, könnte die Pointe darunter leiden oder die Botschaft zu kompliziert klingen. In Büchereien zum Beispiel hilft man gern, Märchenbücher mit dem vollständigen Originaltext zu finden. Ich selbst achte bei Märchen aus anderen Ländern auf sorgfältig Übersetzungen. -95-
Ich meide Ausgaben, in denen gestrichen wurde, was Kindern vermeintlich Angst einjagt. Mir scheint es falsch zu sein, Teile altbekannter Märchen auszulassen. Ich denke, man sollte der Ganzheitlichkeit halber auf kein einziges Detail verzichten. Und auch die - an dieser Stelle zum dritten Male angeführte - Oma und Bibliothekarin vertritt die Ansicht, daß Geschichten und Märchen, die Unschönes enthalten, Kindern nicht schaden. Sie meint, Kinder nähmen Beschreibungen des Bösen als notwendigen Teil des Märchens an. Kinder würden nicht verinnerlichen, was sie nicht verstehen, und unter Bösem nur leiden, wenn wir Erwachsene uns dergleichen zuschulden kommen lassen. Nach dem Vortrag braucht das Kind allerdings unbedingt eine kleine Pause, damit es die Geschichte auf sich einwirken lassen kann. Wenn Kinder Märchen malen wollen, sollte man sie nicht daran hindern: Dadurch wird das Märchenstunden-Erlebnis besonders gut bewahrt. Es empfiehlt sich jedoch, daß sie erst nach dem Ende der Erzählung zu malen beginnen. So lernen sie, eins nach dem anderen zu tun und ihr Augenmerk auf das zu richten, was augenblicklich Vorrang hat. Heutzutage verstreuen Kinder oft ihre Aufmerksamkeit und denken an zu vieles gleichzeitig. Die Märchenstunde kann vorführen, wie man sich auf eine Angelegenheit konzentriert. Am besten sollte nichts anderes Aufmerksamkeit auf sich lenken, Radiomusik zum Beispiel. Hintergrundmusik kann, so wohlgemeint sie sein mag, die Konzentration auf den Märchenstoff erheblich beeinträchtigen.
Märchen, nein danke Seit alters werden Märchen erzählt, doch manch einem Erwachsenen gefällt das nicht mehr. Was man anfassen, selbst erfahren und nachvollziehen kann, findet er in Ordnung, Märchen und anderes Gaukelwerk aber nicht. Wie die Bibliothekarin in meinem Städtchen mir berichtet hat, wollen viele Eltern ihren Kindern keine Märchen vorlesen. Märchen seien Traumgespinste und Phantastereien, sagen sie. Kinder -96-
sollten Geschichten hören, die sich auf die Realität beziehen und aus denen sie etwas Konkretes lernen können. Denn ihre Erziehung müsse darauf abzielen, daß sie sich heute und in Zukunft in unserer technologisch orientierten Welt behaupten können. Ich bezweifle, daß Kinder auf diese Weise am besten gedeihen. Ich glaube nicht, daß unser überlieferter Märchenund Sagenschatz die Entwicklung rationaler Fähigkeiten hemmt. Vielmehr meine ich, daß Phantasie und Vernunft einander ergänzen und Kinder diese beiden Seiten ihrer Persönlichkeit entwickeln müssen, um sich in der High-Tech-Zivilisation von morgen behaupten zu können. Mir sind Führungsleute der freien Wirtschaft begegnet, die beide Antennen ausgefahren - und vielleicht gerade deshalb ihre Spitzenpositionen erreicht haben. Eine allzu einseitige Gewichtung, ob der kühlen Logik oder schwärmerischen Imagination, erweist sich allemal als ungünstig.
Märchen als Sesam-öffne-dich Märchen bieten Kindern etwas ganz Besonderes: Sie erschließen ihnen die Welt der Phantasie und Magie. In Märchen ist das Unmögliche möglich. Maxim Gorki - er verbrachte den Großteil seiner Kinderjahre bei den Eltern seiner Mutter - blieben die Märchenstunden mit seiner Großmutter bis ans Ende seiner Tage in Erinnerung: »Sie erzählt geheimnisvoll mit leiser Stimme, beugt sich zu mir vor und sieht mir mit geweiteten Pupillen in die Augen, als wolle sie mir belebende Kräfte ins Herz gießen. Sie erzählt, und es ist wie Gesang. Ihre Worte klingen so einfach und wohlgefällig. Ihr zuzuhören ist unbeschreiblich angenehm.« Maxim Gorki hörte zu und bat um immer mehr. Seine Großmutter schenkte ihm einen kostbaren Schatz an Märchen, Sagen und Legenden. Eine Zeitlang teilte er sogar das Bett mit -97-
ihr. Da lag er, sah und hörte ihr zu, bis er einschlief: »Großmutter liegt lange wach, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und erzählt mit leiser, bewegter Stimme. Sie kümmert sich scheinbar nicht im geringsten darum, ob ich ihr überhaupt zuhöre. Und immer weiß sie ein Märchen zu wählen, das die Nacht noch bedeutend schöner macht.« Die Intensität dieser Erfahrungen verdankte Gorki wohl nicht zuletzt dem inneren Engagement, mit dem seine Großmutter erzählte. Ihre Liebe zu Märchen und Geschichten steckte das Kind an und beeinflußte seine Persönlichkeitsentwicklung. Vielleicht wurde in diesen Märchenstunden die Vorstellungskraft geweckt, die der Kreativität des Schriftstellers Gorki zugute kam. Die Macht der Märchen ist ungebrochen. Sie gewährt Kindern Zugang zu Seiten ihrer Persönlichkeit, die ihnen ansonsten in unserer materiellen Welt verschlossen blieben. In alten Zeiten wurden Märchen erzählt, um eine allgemeinverbindliche Moral zu vermitteln und grundsätzliche Aspekte des menschlichen Daseins aufzuzeigen. Anscheinend haben viele Erwachsene für diese Botschaft keine Antenne mehr. Kinder aber, glaube ich, nehmen sie wie ehedem hellhörig auf.
Märchen erfinden Märchenstunden können die Phantasie so stark anregen, daß Kinder sich selbst Geschichten ausdenken möchten. Da tut es gut, Großeltern zu haben, die verstehen, wie wichtig es einem Kind ist, eigene Worte zu finden. Die erst fünfjährige Sarah ersinnt gern Märchen, die ihre Oma dann aufschreibt: »Oma und ich haben gemeinsam zwei Märchenbücher gemacht. Ich male ein Bild, sage Oma, was sie schreiben soll, und das tut sie dann.« Sarah illustriert die Erzählungen mit ihren Zeichnungen, und Oma fügt die Seiten zu einem Buch zusammen. Sarah liebt diese -98-
Bücher und hegt keinen Zweifel daran, daß es ihre Werke sind. Dabei macht es gar nichts aus, daß sie noch nicht schreiben konnte. Sie ist stolz auf ihre Bücher und zeigt sie bereitwillig her. Ich kann's verstehen: Die Märchen sind rührend und üppig illustriert.
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Märchen als Seelentherapie Hören wir nicht alle gern Märchen? Schließlich rühren sie an Emotionen, die uns unterschwellig bewegen. Dies gilt um so mehr für Kinder: Oft wecken sie traurige oder erschreckende Gefühle, von denen das Kind nicht einmal ahnt, daß sie in ihm schlummern, die aber mit Vorgängen seines Unterbewußtseins einhergehen. Wir Erwachsene mögen befürchten, uns falsch verhalten zu haben, wenn ein Kind bekümmert ist. Es gibt aber keinen Grund zur Besorgnis, im Gegenteil. Es mag durchaus hilfreich sein, wenn das Kind traurige Gefühle entwickelt. Indem sein Mitleid für unglückliche Märchengestalten erwacht, kann es seinen eigenen unterdrückten Gefühlen Luft machen. Etwas von seinem verborgenen Schmerz heftet sich sozusagen an sein Mitgefühl mit den Märchenfiguren, um mit diesem wieder zu verschwinden. Wir Erwachsene sollten uns dabei nicht einmischen. Das Kind weiß genau, welche Märchen es braucht. Es wird immer wieder dieselben Geschichten hören wollen, solche nämlich, die Gefühle ansprechen, die es noch nicht bearbeitet hat. Wir sollten ihm die gewünschten Märchen getrost immer wieder vorlesen: Im Kind ruht die Kraft, die es benötigt, um mit dem Erzählstoff seinen Bedürfnissen entsprechend umzugehen. Auf diese Weise sind Märchen und andere Erzählungen in der Lage, Kindern bei der Bewältigung verdrängter Gefühle zu helfen. Lassen Sie mich hier von einem vierjährigen Mädchen berichten. Wieder und wieder wollte es das Märchen von Hansel und Gretel hören - kein Wunder, wenn man weiß, daß es als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs. Das Leitmotiv des Märchens - die Angst, verlassen zu werden - traf haargenau die wunde Stelle dieses Kindes, das von klein auf unter der häufigen Trennung von der Mutter litt. Nur zu gut konnte das Mädchen die Verzweiflung nachempfinden, die Hansel und Gretel überfällt, als sie sich im dunklen Wald verirrten. Genauso traurig und mutterseelenallein hatte es sich an den häufig wechselnden Orten gefühlt, an denen es untergebracht war, wenn die Mutter arbeiten mußte. Durch das -100-
Märchen schöpfte das Mädchen Mut. Geborgen auf Omas oder Opas Schoß, konnte es wagen, Hansels und Gretels Gefühl der Verlassenheit zu teilen. Ohne daß es ihm bewußt war, vermengte sich seine eigene Trauer darüber, allein gelassen worden zu sein, mit der von Hansel und Gretel. So befreite es sich nach und nach von seinem verschütteten Kummer. Jedesmal wenn es das Märchen hörte und mit Hansel und Gretel litt, entledigte es sich eines Teils seines verdrängten Schmerzes, bis es schließlich davon erlöst war.
Märchen fürs Krankenhaus Als mir eine Interviewpartnerin erzählte, daß sie im Krankenhaus gichtkranken Kindern Märchen vorgelesen habe, spitzte ich die Ohren. Denn ich habe selbst bei meiner Arbeit mit gichtkranken Kindern zu tun gehabt. Daher weiß ich, daß viele von ihnen eine Reihe von Operationen über sich ergehen lassen müssen, vor denen sie sich sehr fürchten. Und manche weigern sich danach, darüber zu sprechen, was man mit ihrem Körper gemacht hat. Es scheint, als hindere eine innere Blockade sie an der Wahrnehmung ihrer schmerzlichen Erlebnisse, als versperre sie ihren Gefühlen den Aufstieg ins Bewußtsein. Körper und Psyche versuchen mit aller Kraft, diese Gefühle fernzuhalten. Dies führt dazu, daß sich die Muskeln verspannen. Doch ein verkrampfter Körper erholt sich, darin ist man sich im Gesundheitswesen längst weitgehend einig, von einer Operation langsamer als ein entspannter. Daher besteht die Gefahr, daß ein Kind, das über seine schmerzhaften Krankenhauserlebnisse nicht reden will, für seine Genesung mehr Zeit benötigt. Hier helfen Märchen weiter. Kinder lernen ihre Gefühle zuzulassen und zu bewältigen, indem sie sich von den Konflikten zwischen Gut und Böse in den Märchen mitreißen lassen. Schilderungen grausamer Szenen können befreiend wirken: Soll sich doch der Troll mit dem Messer ins eigene Fleisch schneiden und seinen Magen öffnen, damit er mehr essen kann! Ähnliches empfindet der mißhandelte kleine Patient -101-
tief in seinem Innern. Es genügt, wenn Erwachsene ihm regelmäßig Märchen vorlesen, ohne über seine Krankheitserfahrungen zu sprechen. Die Erinnerung an die Operation wird allmählich ihren alptraumhaften Charakter verlieren, der Körper damit gelöster und das Kind eventuell rascher gesund.
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Märchen und Spiel Märchen vermögen der kindlichen Phantasie wunderbare Schwingen zu verleihen. Kinder gehen in der Welt der Phantasie so selbstverständlich ein und aus, wie andere Lichtschalter betätigen: Sie treten in sie ein, und schon sind Teddybär und Puppe lebendige Wesen. Sie verlassen sie, und im Nu ist der Teddy wieder ein bloßes Spielzeug. Phantasie und Wirklichkeit wohnen im Kind Seite an Seite. Kinder verwandeln Puppen in Menschen, um mit ihnen begeistert Rollenspiele zu spielen. Sie bestimmen selbst, ob das Spiel fröhlich oder traurig sein soll, wer welche Rolle übernimmt, zum Beispiel die von Mutter, Vater und Kind (die nächsten Angehörigen sind ungemein beliebte Vorlagen)... Meiner Überzeugung nach besitzen alle Kinder ein reiches Phantasiepotential. Allerdings benötigen sie Impulse von Erwachsenen, um es »anzuzapfen«. Und das können dank ihrer Lebenserfahrung oft die Großeltern besonders gut: Ohne Angst, sich eine Blöße zu geben, machen sie ungehemmt die von den Kinder erdachten Spiele mit. Sie werde wieder zum Kind, sagt eine Großmutter, wenn sie mit ihren Enkelinnen, der fünfjährigen Sarah und dreijährigen Luise, spielt. Bereitwillig schlüpft sie in die Rollen, die sich die Kinder ausdenken und ihr zuweisen. Um die freie Entfaltung der kindlichen Phantasie nicht zu behindern, hält sie sich etwas zurück, als Sarah und Luise beschließen, mit Oma nach Afrika (das kennen sie aus Büchern) zu reisen. Die Mädchen spielen die Hauptrollen, versteht sich, Oma dient sozusagen als Komparsin. Sarah gibt die Anweisungen: »Wir schwimmen im Meer, wir haben ein Boot, die Schublade da ist unser Boot. Wir fahren nach Afrika.« Angespornt von Omas Spaß, lassen die zwei die Zügel ihrer nahezu unerschöpflichen Vorstellungskraft schießen und begeben sich auf ihre Reise nach Afrika. Derlei Spiele sind wichtig für die Entwicklung, denn durch sie lernen Kinder, ihre -103-
Phantasie und Kreativität aktiv einzusetzen. Wenn Sarah und Luise Puppentheater spielen, hilft Oma ihnen beim Gestalten von Bühne und Requisiten. Sie entdeckt eine Schachtel, aus der sie eine kleine Bühne machen. Bleistifte und Kugelschreiber werden zu agierenden Figuren. Wer ist wer? Das bestimmt Regisseurin Sarah, sagt ihre Oma: »Sie leitet gewissermaßen das Spiel, Luise und ich machen mit.« Natürlich spielt das Trio auch Theater mit »richtigen«, sprich lebendigen Schauspielern. Die Kinder arbeiten spontan die Charaktere aus, verteilen die Parts auf ihr Dreierensemble und reißen mit ihrem Eifer die Oma mit, die sich über den Einfallsreichtum der Kinder von ganzem Herzen freut.
Eine Sage, vor Ort erzählt Im Labyrinth von Knossos auf Kreta erzählte ich einst zwei kleinen Mädchen die griechische Sage vom Ungeheuer Minotauros. Bekanntlich mußten die Athener Minotauros einem Zwitter aus Mensch und Stier, der im Labyrinth von Knossos hauste - alljährlich sieben junge Männer und sieben Jungfrauen opfern. Um dem ein Ende zu machen, reiste der Königssohn Theseus nach Kreta. Dort verliebte er sich in Ariadne, die Tochter des Königs von Kreta, und erzählte ihr von seinem Plan, Minotauros zu töten. Ariadne riet ihm, auf dem Weg ins Labyrinth ein Garnknäuel abzuwickeln, da ohne Hilfe niemand wieder herausfände. Theseus tat wie geheißen. Er folgte dem Brüllen des Minotauros, fand ihn im Innern des Labyrinths, erlegte ihn und kehrte auf der Spur des Garns wohlbehalten zurück. Die Mädchen, damals sechs und acht Jahre alt, lauschten hingerissen. Angelangt am dramatischen Höhepunkt der Erzählung, dem Tod des Minotauros, gestattete ich mir eine kleine Flunkerei. Ich zeigte auf den Boden des Raums und sagte, genau hier habe Theseus das Ungeheuer getötet. An der Stelle zu stehen, an der sich das Drama (angeblich) zugetragen hatte, -104-
beeindruckte die Mädchen dermaßen, daß ihre Phantasie außer Rand und Band geriet: Mit heute 28 Jahren behauptet die eine der beiden immer noch felsenfest, an der Stelle, wo Minotauros verendete, einen Blutfleck auf dem Boden gesehen zu haben. (Solch ein Fleck war weit und breit nicht zu sehen.) Mir war es damals wichtiger, die Phantasie der Kinder anzuregen, als mich an den Wortlaut der Sage zu halten. Und dazu stehe ich heute noch: Indem wir ihre Vorstellungskraft fördern, können wir Kindern außerordentlich fruchtbare Anstöße für ihre weitere Entwicklung geben.
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10 Vermittler von Wissen und Knowhow
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Großeltern sind im statistischen Durchschnitt zwischen 52 und 57 Jahre alt, wenn ihr erstes Enkelkind vier Jahre zählt. Geboren während des Zweiten Weltkriegs oder in der Nachkriegszeit, sind sie in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit aufgewachsen. Inzwischen hat sich in der westlichen Welt ein beachtlicher Wohlstand entwickelt, und nicht wenige Senioren bekunden, es sei ihnen nie so gut gegangen wie heute. Nun, da ihre Kinder auf eigenen Beinen stehen, haben sie ausreichend Muße, Hände und Geist nach eigenem Gutdünken zu betätigen. Und die Kenntnisse und Weisheiten, die sie sich im Lauf ihres Lebens angeeignet haben, wollen sie ungern mit ins Grab nehmen, sondern lieber an ihre Enkel weitergeben.
Praktische alltägliche Fertigkeiten Uropa lebte mit der Familie unter einem Dach. Er nahm sich kleiner Reparaturen im Haus an, und die Kinder sahen ihm oft dabei zu. Nachdem Urgroßvater gestorben war, zeigte es sich, daß sein Knowhow nicht verloren war: Wie er, so verstanden die größeren Kinder sich aufs Reparieren. Damit kann die Familie Instandhaltungkosten sparen. Früher erwarben Jungen wie Mädchen eine Vielzahl praktischer Fertigkeiten, indem sie am Alltagsleben der Großeltern teilhatten. Dabei dienten diese als gleichgeschlechtliches Vorbild. Mädchen lernten speziell weibliche, Jungen eingeführte männliche Traditionen weiterführen. Das ist zum Teil heute noch so. Bei Opa im Bastelkeller lernt er, Werkzeug zu gebrauchen und unter Anleitung das ein oder andere herzustellen, verrät dieser Junge: »Opa bringt mir das Schreinern bei, so wie er es von seinem Opa gelernt hat. Nur wenn ich sein Werkzeug durcheinanderbringe, wird er ein bißchen sauer.« Traditionell blieben Kinder mit der Großmutter eher zu Hause, während sie sich mit dem Großvater mehr draußen aufhielten. Zuweilen trifft man dieses Muster noch an. So -107-
berichtet ein Enkel: »Opa zeigt mir, wie man Blumen und Gemüse anbaut. Ich sehe gut zu, wie er sät und Pflanzen setzt. Opa sagt, er habe das von seinem Opa gelernt. Irgendwie lerne ich also von meinem Ururgroßvater. Wenn ich groß bin, werde ich meinen Kindern dasselbe beibringen.« Für diesen Jungen gewinnt der Gartenbau eine besondere Bedeutung. Abgesehen von praktischen Dingen lernt das Kind, sich als Glied in der Kette seiner Vor- und Nachfahren zu begreifen. So bleibt nicht nur ein Spezialwissen über Generationen hinweg bewahrt, sondern auch die Achtung davor und die Freude daran. Die elfjährige Doris lernt bei ihrer Oma allerlei Handarbeitstechniken: »Oma kann gut nähen. Es ist gemütlich, wenn wir beisammensitzen und nähen. Sie hat mir auch Stricken und Häkeln beigebracht. Sie bringt mir alles mögliche bei, was sie von ihrer Oma gelernt hat. Die hat es wiederum von ihrer Mutter gelernt. Wenn ich stricke, wickle ich zunächst die Wolle so auf, wie Oma es mir gezeigt hat. Dabei denke ich an Oma und Uroma und spüre, daß uns etwas verbindet.« Männer hacken Holz, reparieren Fahrräder, das Auto und das Haus, Frauen kümmern sich um Kinder, Küche und Kirche, diese konventionelle Arbeitsteilung weicht mehr und mehr auf. Heute bringt ein Großvater Kindern durchaus manches bei, was einst »Weibersache« war. Ein 14jähriges Mädchen zeigte mir seine hübschen Flechtbänder mit den Worten: »Opa hat mir gezeigt, wie man die Bänder macht. Er weiß es aus einem Bastelbuch.« Man muß also nicht unbedingt ein Meister sein, um anderen Kenntnisse zu vermitteln. Um seiner Enkelin zu demonstrieren, wie leicht es ist, aus Büchern zu lernen, zeigte dieser Großvater -108-
seiner Enkelin das Buch, dem er die Anleitung entnommen hat. Ebenso führen Großmütter Enkelkinder in früher exklusiv männliche Aufgabengebiete ein. Oma läßt den Enkel helfen, wenn sie mal wieder das Fahrrad reparieren muß - und der Junge findet es vollkommen normal, daß seine Oma einen Reifen flicken kann. Waren die geschlechtsspezifischen Vorbilder und Verhaltensmuster noch vor ein bis zwei Generationen sehr ausgeprägt, so verwischen sie sich nun zunehmend auf eine selbstverständliche Art und Weise.
Künstlerische Talente fördern Bevorzugt vermitteln Großeltern ihren Enkeln natürlich jene Fertigkeiten, die sie besonders hoch schätzen und gut beherrschen. Ich kenne eine Kunstmalerin, die den Dienstagnachmittag zum Tag der offenen Tür für ihre Enkel erklärt hat. Wer Lust zum Malen hat, findet sich ein, so Johanna: »Oma kann super malen. Meine Cousine Hélène und ich sind jeden Dienstag bei ihr. Anfangs haben wir gezeichnet, dann kamen Aquarelle an die Reihe, und jetzt malen wir mit Ölfarben. Oma läßt uns zwischen verschiedenen Vorlagen wählen: Die sehen wir uns an, müssen sie aber nicht nachmalen. Oma steht nicht hinter uns, wenn wir malen. Sie zeigt uns nur, was wir machen sollen, dann läßt sie uns allein. Wir malen, so gut wir es können, und sagen Bescheid, wenn wir Hilfe brauchen. Oma sitzt da und liest. Das ist sehr gemütlich. Ich finde es gut, daß sie mir nicht genau sagt, was ich zu tun habe. Sie meint, es kann sein, daß ich auf eine andere Art male. Und die soll sich ungestört entfalten können.« Die Großmutter konzentriert sich darauf, den Kindern Techniken zu erklären, aber ihre Anlagen nicht zu zerstören. Sie hält sich diskret im Hintergrund, um die Kinder zu selbständigem Arbeiten anzuregen. Nur wenn sie gefragt wird, gibt sie weitere Anleitungen. Sie weiß, daß Kinder besser -109-
aufpassen, wenn sie selbst um Hilfe bitten.
Leibesübungen Johannas engagierter Sporttrainer kostet nichts: Es ist ihr Großvater. Er hat früher in mehreren Sportarten Preise gewonnen. Johanna erzählt: »Opa wollte gern, daß eines von uns Enkelkindern in seine Fußstapfen tritt. Er hat mich beobachtet und sich gedacht, daß ich es zu etwas bringen kann. Letztes Jahr bekam ich zum Geburtstag eine große Damen-Diskusscheibe. Seitdem trainieren wir. Das macht mir sehr viel Spaß. Ich glaube, Opa gefällt es auch - das ist mir übrigens wichtig. Dieses Jahr hat er mir zum Geburtstag einen 600-GrammWettbewerbsdiskus geschenkt. Damit kann man gut üben. Wenn der Sommer vorbei ist und die Touristen abgereist sind, wollen wir am Strand 10Meter-Abstände markieren und dort üben.« Ihr Opa versucht Johanna zu vermitteln, daß sie auch Mißerfolge akzeptieren muß: »Manchmal bin ich schlecht in Form. Opa versucht mir begreiflich zu machen, daß alle gelegentlich Niederlagen einstecken müssen. Es hat eben jeder mal einen schlechten Tag. Wenn er so etwas sagt, fühle ich mich gleich wieder wohl. Oder Opa sagt: Diesmal schaffen wir's. Dann gebe ich alles, was in mir steckt, und erziele auch etwas bessere Ergebnisse.« Johanna macht es nichts aus, wenn Großvater sie korrigiert, im Gegenteil. Sie kann gewiß sein, daß er sie prächtig findet, einerlei wie sie beim Training abschneidet. Mit seiner Hilfe lernt sie unter anderem eigene Fehler und Schwächen hinzunehmen. Diese Gelassenheit wird ihr in anderen Lebenssituationen, der Schule zum Beispiel, zugute kommen. Sie kann Johanna helfen, -110-
sich nicht von Mißerfolgen entmutigen zu lassen und unnötig Energie zu verschwenden auf verzagtes Grübeln darüber, was sie falsch gemacht hat.
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Großeltern hoffen, daß sich ihre Enkelkinder in dieser Welt, die ziemlich hart und brutal geworden ist, ohne Schaden an Leib und Seele behaupten können. Ein anderer Großvater hat sich daher zum Ziel gesetzt, seinem Enkel das Rüstzeug dafür mitzugeben, daß er sich in seinem Umfeld gut durchsetzen kann. Er hat ihm, berichtet der Junge, sogar beigebracht, sich zu schlagen: »Opa hat mir gezeigt, wie man kämpft. Wenn ich will, kann ich jetzt all meine Klassenkameraden kurz und klein schlagen. Opa hat mir aber auch gesagt, daß ich nie einen Streit anfangen soll.« Dieser Großvater will das seine dafür tun, daß sich sein Enkel gegen Gleichaltrige verteidigen kann. Er hofft, daß der Junge eine Stärke entwickelt, die anderen den Schneid abkauft, wenn sie sich mit ihm anlegen. Manche werden diese Einstellung grundsätzlich ablehnen. Was den Wert der Schulung in Selbstverteidigung angeht, werden jedoch viele dem Großvater zustimmen: Zumindest kann sie dazu beitragen, Jungen und Mädchen in einer zunehmend gewalttätigen Gesellschaft den Rücken zu stärken.
Erfahrungen in der Natur Reginas Großvater wiederum geht mit seiner Enkelin gern wandern, und auch Regina liebt diese Ausflüge: »Opa teilt mit mir alles, was er liebt. Er nimmt mich mit in den Wald, in die Natur. Er versucht mich einzubeziehen in das, was ihn interessiert. Das tut er nicht, um mich zu belehren, sondern weil er mich in seiner Welt gern dabei haben will. Statt zu sagen: ›Regina, jetzt mußt du in den Wald gehen‹, sagt er: ›Komm, jetzt ist es so schön im Wald.‹ Und da bekomme ich gleich i Lust auf einen Spaziergang.« Auch Christian, zehn Jahre alt, geht oft mit seinem Opa hinaus in die Natur: -113-
»Am schönsten ist es, mit Opa zu wandern - er bringt mir sehr viel über die Natur bei. Er kennt die Namen von allen Pflanzen und Vögeln.« Auf erholsamen Ausflügen mit den Großeltern Pflanzen und Tiere kennenzulernen, das ist etwas ganz anderes als der Schulunterricht in Biologie. Das Kind ist interessierter und aufnahmefähiger für lehrreiche Eindrücke.
Hilfe bei den Hausaufgaben Hausaufgaben können eine Menge Probleme bereiten: Viele Eltern sind sehr ehrgeizig. Sie wollen, daß die Kinder es später zu mehr bringen als sie selbst und ihrem Vorbild nicht nachstehen. Weil die schulischen Leistungen als Sprungbrett für spätere Berufschancen gelten, überwachen sie streng die Erledigung der Hausaufgaben. Ich hatte mit mehreren Schülern zu tun, denen der Vater bei den Schulaufgaben geholfen hatte. Erbrachten sie nicht die erhofften Leistungen, erzählten sie, war der Vater zumeist tief enttäuscht oder gar wütend. Im Verein mit dem allgemeinen Leistungsdruck führt dies leicht dazu, daß Kinder Versagensängste entwickeln. Damit ist ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Das Kind fürchtet, schlecht abzuschneiden, verwendet wertvolle Energie darauf, diese Angst in Schach zu halten, hat daher weniger Energie, sich auf das Lernen zu konzentrieren, und erzielt schlechtere Schulnoten, als es seiner Begabung entspricht. Die Großeltern haben ein entspannteres Verhältnis zu dem Kind als seine Eltern. Sie lieben es so, wie es ist, und regen sich nicht maßlos auf, wenn ihm hier und da etwas mißlingt. Sie bringen die Geduld auf, die vonnöten ist, um das Kind ohne Druck seine Fähigkeiten erproben zu lassen. Sie unterstützen es darin, Probleme auf eigene Weise zu bewältigen. Kornhaber zitiert das Urteil eines achtjährigen Jungen: »Opa ist besser. Papa wird wütend, aber Opa hat immer Zeit, mich auf meine Art arbeiten zu lassen. Er erklärt mir alles, was ich nicht verstehe. Mein -114-
Vater hat nie dafür Zeit, weil er sehr hart arbeiten muß und danach müde ist. Opa hat jetzt seinen Platz eingenommen.« Manche Kinder stünden in der Schule besser da, würden ihnen statt der Eltern die Großeltern bei den Hausaufgaben helfen - diese These ist, glaube ich, gar nicht so verwegen.
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11 Gemeinsame Mahlzeiten
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Miteinander essen ist etwas Besonderes, und das Gefühl von Zusammengehörigkeit kann schon beim gemeinsamen Kochen aufkommen. Ein uraltes Motiv, das sich hinter dem Zubereiten eines Mahls verbirgt, ist Freigebigkeit. Diese erstreckt sich von dem Wunsch, die Bedürfnisse seiner Lieben zu befriedigen, über die Fähigkeit zum Verzicht bis hin zur Bereitschaft, für andere sein Leben hinzugeben. Stets war die Sorge für das Essen vornehmlich Frauensache. Daß Essen und Trinken in Gesellschaft mehr Spaß macht, ist eine Binsenweisheit, doch scheint die Tradition des Essens im Kreis der Familie verlorenzugehen. Nicht selten speisen Erwachsene zwar gern mit Freunden, überlassen die Kinder aber weitgehend sich selbst. Eine gemeinsame Mahlzeit, das gibt es in einigen Familien an keinem einzigen Tag der Woche mehr: Jeder hat einen anderen Tagesrhythmus und ißt allein für sich. Hastig verschlingt man in der Küche im Stehen einen Bissen, ehe man sich wieder aus dem Staub macht. Andere Familien treffen sich immerhin noch einmal am Tag zum Mittag- oder Abendessen oder legen zumindest Wert auf das gemeinsame Sonntagsessen. Dieser Trend ist bedauerlich, denn die vertrauten Zusammenkünfte am Familientisch helfen das Gefühl von Geborgenheit und Zusammenhalt zu stärken, besonders wenn sie feste Rituale befolgen. Zum Glück lassen sich nicht alle Familien von ihren Vorlieben und Bräuchen abbringen. Dort geht man vielleicht sonntags zu den Großeltern essen, backt zum Geburtstag den Kuchen, ohne den ein Geburtstag kein Festtag wäre, und kann sich Weihnachten ohne das altbewährte Festtagsmenü nicht vorstellen.
Omas Kochschule Solange Frauen in der Rolle der Hausfrau und Mutter aufzugehen hatten, war die Küche ihre unangefochtene Domäne. Die Küche war das Herz des Hauses, der Aufenthaltsraum der Familie. Hier wurde das Essen zubereitet und in der Regel auch gespeist. Enkelkinder verbrachten zahllose Stunden bei Oma in der Küche, und manchmal war es das gemeinsame Kochen und -117-
Essen, das Vertrautheit schuf. Kornhaber zitiert eine amerikanische Seniorin, die sich als Kind ständig in Großmutters Küche aufhielt: »Ich erinnere mich, wie ich in der Ecke auf einem Schemel saß - so einem, auf dem böse Kinder sonst zur Strafe sitzen mußten. Ich saß einfach da und sah Oma in der Küche zu. Mir war nicht bewußt, wieviel ich auf die Weise lernte: Als ich erwachsen war, bemerkte ich, daß ich, ohne darüber nachzudenken, dieselben Tätigkeiten verrichten konnte. Nie hat mir jemand beigebracht, wie man zum Beispiel Essen zubereitet, Gewürze mischt, bei Tisch serviert. Schließlich begriff ich, daß ich all dies gelernt hatte, während ich dasaß und Oma zuschaute - nur durch Zusehen. Dabei verflog die Zeit im Nu. Wir wechselten kaum ein Wort. Manchmal fragte Oma mich, ob ich kosten wolle. Oder sie lächelte mich an. Oma war eine sehr stille Person. Aber wenn sie etwas fertiggestellt hatte, trat sie einen Schritt zurück, tat einen tiefen Atemzug und sah mich an. Dann hatte ich immer das Gefühl, wir hätten das zusammen gemacht.« Vielen von uns ergeht es ähnlich: Eines Tages stellen wir überrascht fest, daß wir kochen können, ohne es je bewußt gelernt zu haben. Wir haben es als Kind Erwachsenen »abgeschaut«, häufig den Omas. Heute sind etwa die Hälfte der Großmütter Hausfrauen, und viele haben ihre Enkelkinder gern bei der häuslichen Arbeit um sich. Berufstätige haben dazu zwar seltener Gelegenheit, doch auch ihre Küche kann für die Enkel zu einem Hort der Geborgenheit werden.
Liebe geht durch den Magen Großmutters Küche, dieser Ausdruck steht traditionell für nahrhaftes, gutes Essen. Gerade in unserer modernen Zeit mögen viele Kinder Omas schlichte Hausmannskost. Henrik, -118-
vier Jahre alt, schwärmt: »Oma kann toll kochen und backen, besonders Pfannkuchen.« Einem anderen Jungen schmeckt nichts besser als die Frikadellen, die Grütze und der Reisbrei seiner Großmutter. Pfannkuchen und andere klassische Leib- und Magenspeisen von Kindern gibt's heute oftmals nur noch bei der Oma, weil viele Eltern sich kaum noch Zeit zum Kochen nehmen. Als Rentnerinnen oder Hausfrauen nehmen Großmütter sich eher die Zeit, nach altbewährten Rezepten für und gemeinsam mit den Enkeln zu kochen. Und Kinder sitzen gern bei Oma in der Küche und sehen ihr beim Kochen zu, ganz so, wie es früher üblich war. Auch beim Kochen bedeutet ihnen das Gemeinschaftserlebnis oft ebensoviel wie das Essen selbst. Weihnachten ist immer noch ein beliebter Anlaß, die Enkel in der Küche um sich scharen. Eine Oma erzählt: »Für die Enkelkinder gibt es vor Weihnachten einen Backtag. Ich bin sehr traditionsbewußt. Jedes Jahr backen wir dicke Pfefferkuchenmänner aus Hefeteig. Dabei machen auch die Jungen begeistert mit. Sie lieben dieses Gebäck, und alle ihre Freunde sollen Pfefferkuchenmänner bekommen.«
Nachdem die Großmutter es seit Jahren so gehalten hat, ist sie -119-
eine routinierte Organisatorin. Sie hält sich etwas im Hintergrund, so daß die Enkel gut beschäftigt sind und sie selbst nach dem Backtag nicht völlig erschöpft ist. Die Kinder backen eifrig nach Omas Rezept, das so einfach wie gut ist. Das Gebäck gelingt ihnen ausgezeichnet, und die Künstler sind stolz auf ihr Werk. Obwohl einige Jungen schon zu Teenagern herangewachsen sind, backen sie jedes Jahr kräftig mit vielleicht weil sie nur so an ihre geliebten Pfefferkuchenmänner kommen. Außerdem, meint ihre Großmutter, wollen sie sich dieses Gemeinschaftserlebnis nicht entgehen lassen. Wie sehr Kinder solche Erfahrungen schätzen, soll das folgende Beispiel eines Siebenjährigen illustrieren. Seine Freunde haben Omas, die gern kochen und backen, und dem Jungen von den gemütlichen Stunden erzählen, in denen sie zusammen Karamelbonbons machen oder für eine andere Leckerei Eigelb schlagen. Der Junge meint, es fehle ihm etwas. Denn seine Großmutter ist berufstätig und mag nicht kochen. Anscheinend hindert unsere moderne »Hamburger«-Zeit diesen Jungen nicht daran, seine Großmutter an einem Idealbild zu messen, das von einer jahrhundertealten weiblichen Rollenerwartung ausgeht: Ihre Liebe soll sich darin äußern, daß sie für ihn Essen zubereitet. Eigentlich, möchte man meinen, könnte der Junge sich so wohl fühlen wie seine Freunde, wenn er mit seiner Oma in der Küche etwas ißt, das aus der Imbißbude stammt. Aber nein. Dieser Junge fühlt sich vielmehr betrogen und denkt, er sei das einzige Enkelkind auf Erden, das eine Großmutter hat, die sich zu kochen weigert.
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12 Erziehungsfragen
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Die Verantwortung für die Kindererziehung tragen, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, vorrangig die Eltern. Nachdem die Großeltern ihre Erziehungspflichten erfüllt haben, sind sie nun frei davon. Sie können das Zusammensein mit den Enkeln unangestrengt genießen und sich ungehindert ihren Gefühlen hingeben. Vielleicht kann die herzliche Nähe zwischen Großeltern und Enkeln genau deshalb bestehen, weil die Fragen der Erziehung ihr Verhältnis zueinander wenig berühren. Weil Großeltern mit den Enkeln stärker auf der Gefühlsebene verkehren, empfinden die Kinder das Beisammensein mit ihnen als eine wichtige Alternative zum Elternhaus.
Gebot 1 : Großeltern mischen sich nicht ein Im Normalfall kommen also die Eltern ihrer Erziehungsaufgabe nach, und die meisten Großeltern akzeptieren, daß sie sich dabei nicht einzumischen haben. Im Vertrauen auf das Verantwortungsbewußtsein und die Fähigkeiten ihrer Kinder halten die Großeltern sich von Erziehungsfragen weitgehend fern. Eine Großmutter und Hausfrau schildert ihre Erfahrung: »Ich versuche, mich herauszuhalten. Meine Kinder habe ich erzogen, und sie machen es wohl im großen und ganzen nicht viel anders als ich. Während ich vielleicht zu mild und nachgiebig war, sind meine Kinder etwas strenger. Sie haben studiert, sie haben ihren Terminplan, sie müssen feste Tagesabläufe einhalten. Aber sie sind dabei liebevoll, achten die Kleinen und lassen sie auch einmal die erste Geige spielen.« Frei von Spannungen ist die Beziehung zwischen erziehenden Eltern und Großeltern allerdings nicht immer. Eine Rentnerin, mit der ich gesprochen habe, hat dies hautnah erfahren: In den ersten Jahren ihrer Ehe wohnte sie bei ihrer verwitweten Mutter. -122-
Diese war erst fünfzig Jahre alt, als ihre Tochter mit Ehemann und Baby bei ihr einzog. Jetzt ist die Rentnerin selbst Großmutter. Über ihr Verhältnis zu Tochter und Schwiegersohn sagt sie: »Ich bin sehr vorsichtig und scheue mich, mit ihnen Methoden der Kindererziehung zu diskutieren. Es ist schwierig, dabei zu beraten. Man sieht Sachen, die falsch sind, aber es wäre eventuell vollkommen verkehrt, es im selben Augenblick zu sagen. Manchmal sage ich zwar meine Meinung, doch grundsätzlich habe ich große Scheu davor, die beiden zurechtzuweisen. Womöglich reagieren sie darauf nur mit genervtem Stirnrunzeln und Stöhnen. Ich finde, es ist häufig besser, etwas abzuwarten und ein Zuspitzen der Probleme zu vermeiden. Mein Mann und ich wohnten mit den Kindern bei meiner Mutter, und das war nicht einfach. Oft sagte meine Mutter gar nichts, und doch kam ihre Mißbilligung deutlich zum Ausdruck. Bisweilen hingen die Spannungen geradezu greifbar im Raum. Es war weiß Gott nicht leicht: Ich trug die Verantwortung für meine Kinder und mußte zugleich Rücksicht nehmen auf meine Mutter und auch auf meinen Mann. Wegen der Wohnungsnot waren damals viele Menschen in der gleichen Situation. In dem Mietshaus, in dem wir wohnten, teilten zahlreiche Frauen mein Schicksal - das übrigens auch für die Schwiegermütter und Großmütter furchtbar war.« Aufgrund ihrer bedrückenden Erfahrungen setzt diese Großmutter alles daran, unbedachte und scharfe Worte zu vermeiden, und wartet, bis die Luft nicht mehr dick ist. Viele teilen ihre Auffassung und plädieren dafür, hitzigen Konfrontationen auszuweichen. In der Tat läßt es sich sachlicher diskutieren, wenn die Gemüter sich beruhigt haben. »Abwarten und Tee trinken«, dies ist fürwahr ein gutes Lebensprinzip sofern man nicht zu lange wartet. Denn Probleme lassen sich auf -123-
Dauer nicht unter den Teppich kehren. Es reinigt die Luft, wenn man über den Konflikt reden kann.
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Gebot 2: Den Enkeln nicht nach der Pfeife tanzen Auch wenn Großeltern sich nicht in Erziehungsfragen einmischen, legen sie meist sehr wohl Wert darauf, daß die Enkel in ihren vier Wänden gewisse »Dos & Dont's« beherzigen. Vielfach reicht es, wenn Oma und Opa vorführen, wie sie was zu tun pflegen. Kinder sind sehr anpassungsfähig und gewöhnen sich rasch an andere »Hausordnungen«. Sobald sie erfaßt haben, welcher Verhaltenskodex bei den Großeltern gilt, werden sie sich ihm reibungslos unterordnen. Gute Manieren liegen den meisten Großeltern ebenfalls am Herzen. Eine Großmutter gestand in einem Interview: »Viele würden mich wohl als etwas zu strenge Großmama bezeichnen. Ich finde es aber wichtig, den Kindern Grenzen zu setzen. Wir sollten ihnen auf jeden Fall ein wenig Benehmen beibringen nach den Regeln der guten alten Kinderstube. Kinder sollen die Rechte anderer respektieren lernen.« Diese Großmutter erwartet, daß die Enkel jene Sitten und Manieren erlernen, die man ihr als Kind anerzogen und deren Nutzen sie erfahren hat. Die Kinder akzeptieren dies und befolgen, ohne ständig ermahnt werden zu müssen, bei der Oma bestimmte Benimmregeln. Eines Tages kommt es den Kindern vielleicht zugute, wenn sie wissen, wie man sich benimmt, meint die Großmutter. In der Tat könne derlei Kenntnisse das Selbstvertrauen stärken und sich als hilfreich erweisen, wenn die Enkel sich in neue Umgebungen einfügen müssen. Manche Großeltern wagen von den Enkeln nichts zu fordern. Im Glauben, nur gemocht zu werden, wenn sie den Kindern alles recht machen, verkneifen sie sich jeden Hinweis auf ihre Hausregeln. Damit erweisen sie sich selbst wie auch den Enkeln einen Bärendienst. Insgeheim wünschen sich alle Kinder Harmonie und wissen, daß sie sich dafür entsprechend benehmen müssen. Das aber können sie nur, wenn sie wissen, -125-
was man von ihnen erwartet. Kennen sie die Regeln nicht, fühlen sie sich leicht orientierungslos und verunsichert. Sie werden unruhig und laut - und die Großeltern früher oder später erschöpft. Den Kindern entgeht nicht, daß Oma und Opa sich ärgern. Dabei hätten sie allen Betroffenen die Unannehmlichkeiten ersparen können, wenn sie schlicht und ergreifend ihre Hausordnung bekanntgegeben hätten. Ein weiterer Trugschluß ist es, zu meinen, Kindern tut man Gutes, wenn man möglichst viel Aufhebens um sie macht. Alles stehen und liegen zu lassen, wenn die Enkel zu Besuch kommen, und den Kindern nach der Pfeife zu tanzen, nimmt dem Zusammensein seine Natürlichkeit. Wonach Kinder sich in erster Linie sehnen, sind wohlgeordnete Verhältnisse. Sie suchen das Gefühl von Ruhe und Aufgehobensein, das ihnen das tägliche Einerlei gibt. Folgende Aussage einer Oma bekräftigt dies: »Das Zusammensein mit den Enkeln ist... ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll... es ist gewissermaßen ganz alltäglich. Die Enkel sind einfach da und fügen sich in unseren Alltag ein. Ich habe meine Angehörigen gern um mich. Familie, das ist es eigentlich, was im Leben zählt. Die Eltern arbeiten, und ich möchte den Kindern Geborgenheit schenken. Sie sollen ein zusätzliches Zuhause haben und wissen: Wenn es Probleme gibt, können sie immer zu mir kommen.« Die Enkelkinder fügen sich problemlos in den Alltag ein. Zu wissen, daß Oma und Opa sich um sie kümmern, genügt ihnen. Das bloße Beisammensein bedeutet ihnen mehr als sämtlicher Aufwand, den manche Großeltern betreiben.
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Gebot 3: Eltern müssen den Großeltern Spielraum zubilligen Eine junge Frau klagte mir ihr Leid: Die Eltern ihres Lebensgefährten mögen ihren zweijährigen Sohn sehr, respektieren allerdings nicht die Grenzen, die Mutter und Vater dem Jungen setzen. Weder sie noch ihr Partner haben etwas dagegen, daß der Kleine mitunter bei Oma und Opa übernachtet. Die Großeltern scheren sich keinen Deut darum, daß der Junge zur vorgeschriebenen Zeit ins Bett zu gehen hat. Außerdem zündet der Großvater, sobald der Junge schläft, bestimmt seinen Glimmstengel an und qualmt im Haus! Weil es ein kleines Kind verstöre, wenn daheim verboten ist, was bei den Großeltern erlaubt ist, will die Mutter unbedingt, daß ihr Sohn nicht aus seinen Gewohnheiten gerissen wird. Dazu befragt, meinte eine Mutter dreier Kinder belustigt, die Eltern sollten doch die Kirche im Dorf lassen. Denn Kinder begriffen schnell, daß andernorts andere Regeln herrschen, ohne daß davon die heimischen berührt werden. Es sei nur zu empfehlen, Kinder mit anderen Orten und Gepflogenheiten vertraut zu machen, damit sie lernen, sich in der Welt zurechtzufinden. Eine weitere Interviewpartnerin war baß erstaunt, daß Eltern über Schwiegereltern jammern, die ihr Enkelkind gern zu sich nehmen. Es müsse doch herrlich sein, ein freies Wochenende zu haben in der Gewißheit, daß sich das Kind in guten Händen befindet - und obendrein den Großeltern Freude bereitet. Früher oder später sei es für ein Kind von Vorteil, nicht starr auf die Gewohnheiten des Elternhauses fixiert zu sein. Ich teile die Einstellung, daß Eltern den Großeltern das Recht einräumen sollten, bei sich zu Hause eigene Maßstäbe anzusetzen. Andere Orte, andere Sitten - dies beizeiten zu erfahren, kann Kindern nur guttun.
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Gebot 4: Kinder müssen wissen, wer ihnen was zu sagen hat Es gibt gar nicht so wenige Großeltern, denen gemeinsame Besuche ihrer Kinder und Enkel ein Greuel sind. Hier ein Bericht von zwei Betroffenen: »Wir begreifen es als Glück, Enkel zu haben. Daher sollten wir uns freuen, doch uns graut fast vor jedem Besuch. Die Enkel sind eigentlich in Ordnung. Wenn sie allein da sind und bei uns übernachten, gibt es kaum Probleme. Wir versuchen, ihnen klare Grenzen zu setzen, und das respektieren sie. Wenn aber die Eltern dabei sind, sind die Kinder wie ausgewechselt wie auf Knopfdruck. Tischmanieren, meinen wir, sollte es noch geben. Wir mögen es nicht, wenn beim Essen wild herumgekleckert und geschmiert wird. Doch was sollen wir tun? Wir haben schon öfter unsere Meinung gesagt, aber nichts erreicht -, außer daß die Eltern sauer auf uns werden und uns pingelig finden. Liegen wir wirklich so falsch? Sollen wir als Großeltern den Mund halten und alles hinnehmen?« Frustriert stehen diese Großeltern vor dem Dilemma, daß die Kinder sich gut betragen, wenn sie die Großeltern allein besuchen, im Beisein ihrer Eltern aber außer Rand und Band geraten. Wahrscheinlich herrschen bei den Großeltern strengere Tischsitten als im Elternhaus. Damit kommen die Kinder im Prinzip gut zurecht. Wenn sie »ausrasten«, dann meist, weil es sie irritiert, wenn ihre Eltern und Großeltern geteilter Meinung sind. Ein weiteres Beispiel: Eine Familie besucht übers Wochenende die Großeltern. Es wird Abend, und die Eltern sagen den Kindern, es sei an der Zeit, schlafen zu gehen. Prompt entgegnen die Großeltern, es sei gerade so gemütlich und die Kinder sollten doch ausnahmsweise einmal etwas länger -128-
aufbleiben dürfen. Die Eltern reagieren verstimmt, was den Kindern nicht entgeht. Der Einwand der Großeltern erscheint den Kindern als Versuch, die Autorität der Eltern zu untergraben, und stachelt sie dazu an, sich als Nervensägen aufzuführen. Es kann Kinder zutiefst verunsichern, wenn Erwachsene und erst recht ihre wichtigsten Bezugspersonen - sich über die widersprüchlichen Anforderungen an sie streiten. Für manche Kinder ist das Grund genug, völlig auszunippen. Um Wiederholungsfälle zu vermeiden, sollten Eltern und Großeltern in den jeweiligen Punkten reinen Tisch machen. Sie sollten vereinbaren, wer den Kindern wann welche Anweisungen gibt. Gelingt es ihnen nicht, sich zu einigen, sollten sie erwägen, die Hilfe von Familientherapeuten oder anderen Experten in Anspruch zu nehmen.
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13 Krankheit Alter und Tod
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Letztendlich ist jeder allein und auf sich selbst angewiesen, behauptet eine wenig tröstliche Lebensweisheit. Manche Menschen scheinen es darauf anlegen zu wollen, daß sie sich bewahrheitet: Sie verkriechen sich, wenn es ihnen schlecht geht und sie krank werden. Ob sie wirklich allein sein wollen, wenn der Tod naht, sei dahingestellt. Andere hoffen und schätzen es von ganzem Herzen, daß nahe Verwandte ihnen im Krankheitsfall beistehen. Sie sind dankbar, wenn sie auf dem Sterbebett ihre engsten Angehörigen um sich haben.
Einsamkeit oder Gemeinsamkeit? Mit zunehmendem Alter verändern Enkel und Großeltern sich auf unterschiedliche Weise. Während die Enkel sich vom hilflosen Kind zum selbständigen Jugendlichen und Erwachsenen entwickeln, beschreiten die Großeltern den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Zwar leben die Menschen heute viele Jahre länger und bleiben dabei rüstiger als frühere Generationen, aber irgendwann schwinden nun einmal die Kräfte. Die Minderheit der Senioren ist längere Zeit auf Beistand angewiesen; viele sind bis zum letzten Tag wohlauf. Lediglich ein Drittel der über 67jährigen braucht Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen. Das Schicksal, bettlägerig zu werden, ereilt zwar die Hälfte, aber im Regelfall nur für kurze Zeit: oft für weniger als einen Monat vor dem Tod. Ehe es Einrichtungen wie den ambulanten Pflegedienst und Seniorenheime gab, wohnten alte Menschen normalerweise bei ihrer Familie. Manche wollen nach wie vor ihren Lebensabend bei den Angehörigen verbringen und wohnen mit der Familie unter einem Dach. Andere hingegen bleiben lieber in ihrer Wohnung oder begeben sich in ein Altersheim. In Notfällen, etwa bei Erkrankung, ziehen einige auch vorübergehend zu den Verwandten, oder diese wechseln sich nach dem Rotationsprinzip bei der Versorgung und Pflege der Alten in ihrer Wohnung ab. Zum Glück ist es häufig so, daß die Gegensätze zwischen Eltern und Kindern, je älter sie werden, verblassen und beide Generationen zu einem annehmbaren -131-
Miteinander finden. Und so können ihnen, bevor die Alten sich dankend verabschieden, noch ein paar gute gemeinsame Jahre vergönnt sein. Leider gibt es aber auch den traurigen Fall, daß Senioren gegen ihren Wunsch kaum Kontakt mit ihrer Familie haben. Angewiesen auf fremde Hilfe, fristen viele in öffentlichen Einrichtungen ein freudloses Dasein. Das Personal hat oft zu wenig Zeit für individuelle Fürsorge, und die Angehörigen lassen sich vielleicht bestenfalls zu Weihnachten blicken. Als sie noch berufstätig waren, haben diese Alten oft auf vieles verzichtet, um den Kindern ein schönes Zuhause und gute Bildungschancen zu bieten. Doch wo sind sie, ihre Töchter, Söhne und Enkel? Sie scheinen sie vergessen zu haben. Also sitzen die Alten wie abgeschoben herum. Niemand regt sie zur Aktivität an, schenkt ihnen Zuwendung und gibt ihrem Leben einen Sinn. Andere wiederum kapseln sich selbst von ihrer Familie ab. Sie wollen auf ihre alten Tage niemandem zur Last fallen. Laßt mich in Frieden sterben, sagen sie, im Krankenhaus wird man sich schon um mich kümmern. Vielleicht meinen sie, es sei unwürdig, sich ihren Kindern und Enkeln gegenüber schwach zu zeigen. Was tun, wenn die Angehörigen sie aber häufiger sehen möchten und denken, das täte auch den Großeltern gut? Soll die Familie den Wunsch nach Alleinsein respektieren oder nicht? Dies muß wohl letztendlich jeder selbst abwägen.
Angst vor Alter und Tod? An dieser Stelle sei die für unser Thema wichtige Frage aufgeworfen: Wie wirkt es sich auf die Enkel aus, wenn ihnen der Kontakt mit altersschwachen Großeltern verwehrt ist? Werden sie das Sterben stets als furchterregend begreifen? Denn Kinder entwickeln, sagen Psychologen, dann Angst vor dem Tod, wenn sie ihn nicht als natürlich erleben, das heißt sich ausgeschlossen fühlen in dieser Situation, die ihnen einen vertrauten Menschen raubt. Diese Angst mag ihnen später erneut zusetzen, wenn geliebte Menschen oder sie selbst erkranken. -132-
Wer hingegen als Kind ungezwungen das Dahinschwinden und Sterben der Großeltern hat miterleben dürfen, wird weit eher in der Lage sein, Krankheit und Tod als natürlichen Teil des Lebens anzunehmen. Viele Enkel akzeptieren ihre Großeltern weiterhin von Herzen, auch wenn diese noch so alt und schwach sind. Kornhaber berichtet von zwei amerikanischen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, und ihrem engen Kontakt zu den gealterten Großmüttern. Er zitiert den achtjährigen Jungen: »Meine liebe Oma ist sehr alt. Sie braucht einen Gehstuhl und hat viele Runzeln. Oft sitzen wir nahe beisammen und lassen es uns dabei gut gehen. Sie summt ein Lied für mich, und ich streichle ihre hübschen Fältchen.« Seine gute Beziehung zur Oma hatte der Junge bereits als Kleinkind entwickelt. Damals war die Oma seine Tagesmutter, und ihr Äußeres spielte gar keine Rolle. Würden sie sich erst jetzt kennenlernen, stünden die Chancen äußerst schlecht dafür, daß die beiden einander verstehen, geschweige denn eine derart innige Beziehung aufbauen könnten. Ebenfalls in frühester Kindheit entstanden und liebevoll wie ehedem ist das Verhältnis des 13jährigen Mädchens zu seiner Großmutter: »Oma hat ein krankes Bein und muß an Krücken gehen, aber ich kann immer noch auf ihrem Schoß sitzen, während sie von ihrer Jugend erzählt. Ich schmuse viel mit ihr. Es hört sich vielleicht merkwürdig an, aber ich mag es, ihr nahe zu sein. Ich mag ihren Geruch, halte ihr die Hand und hab's gern, wenn sie mir die Wange streichelt. Sie ist so lieb. Sie kann nun mal nicht gut gehen. Aber sprechen kann sie. Und sie kann mir besser als irgend jemand anders auf der Welt den Rücken kraulen.« Die körperlichen Gebrechen der Großmutter schaden der -133-
Liebe nicht im geringsten: Das Mädchen mag seine Oma so, wie sie ist - runzlig, gehbehindert, fast taub. Beide bleiben sich nahe und akzeptieren sich. Die Alterserscheinungen werden vom Enkelkind kaum wahrgenommen. Sie gehören zur Oma, zum Opa dazu und fallen nicht ins Gewicht, wenn die Enkel von klein auf in herzlichem Kontakt zu den Großeltern stehen. Regina wiederum hat im Alter von fünf Jahren ihren Vater verloren, und ihr Opa hat dessen Platz eingenommen. Nun treibt die Angst vor Großvaters Tod sie um: »Papa starb sehr früh. Daß alte Menschen sterben müssen, weiß ich. Aber sobald ich im Film jemanden sterben sehe, habe ich Angst, das könnte auch Opa bald passieren.« Sie träumt sogar von Großvaters Tod, erzählt Regina. In ihren Träumen wird er zu einer Art Glasfigur. Das ist sehr schön, sagt sie, während ihr zugleich davor graut, ihren Opa zu verlieren. »Ich weiß, daß alte Leute plötzlich sterben können. Wer kann schon garantieren, daß er neunzig wird?« Reginas Angst ist untrennbar verbunden mit den Gefühlen, die sie beim Tod ihres Vaters empfand. In der allgemeinen Unruhe fand damals niemand Zeit, sich um die Kleine zu kümmern. Sich selbst überlassen in ihrem Kummer und Schmerz, ist Regina mit ihrer »Trauerarbeit« bis heute nicht am Ende, und die Vorstellung, abermals einen solchen Verlust zu erleiden, macht ihr Angst. Ändern kann sie an der Situation nichts: Opa ist alt und die Zahl seiner restlichen Lebensjahre begrenzt. Früher oder später muß Regina ohne ihn leben. Aber sie könnten es sich beide leichter machen, wenn sie über ihre Gedanken und Gefühle offen sprechen würden. Gemeinsam der Realität ins Auge zu sehen, dies würde das Beisammensein bereichern, die Beziehung vertiefen und die Ängste abbauen. Über den Verlust eines geliebten Menschen kommen auch und gerade Senioren schwer hinweg. Kornhaber berichtet von einer Frau, die der Tod ihres Mannes schwermütig machte. Enkelbesuche waren ihr auf einmal zu unruhig, und bald brach -134-
sie jeglichen Kontakt zur Tochter ab. Diese und ihre Familie begriffen zum Glück, daß die tieftraurige Oma Beistand benötigte, und brachten sie in einer psychiatrischen Klinik in der Nähe ihres Wohnorts unter. Die Großmutter war damit einverstanden und sehr schnell auf dem Weg der Besserung. Als sie nach kurzer Zeit entlassen wurde, nahm sie das Angebot an, bei der Familie ihrer Tochter zu wohnen. Die Psychotherapie hatte ihr geholfen, die Trauer zu überwinden: Sie konnte wieder lachen und mit den Enkeln spielen. Im Zusammenleben mit ihren Angehörigen erwachte ihre alte Freude am Leben. Auch ältere Menschen sollten sich also nicht scheuen, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Vorbereitung der Enkel auf den Tod Manche Großeltern sprechen offen über ihr Alter und ihre Beschwerden. Sie erzählen von den Anzeichen, die ihnen zu verstehen geben, daß der Tod naht. Kinder lassen sich leicht beeinflussen, so auch von der Einstellung der Erwachsenen gegenüber Alter, Krankheit und Tod. Reden Großeltern unbefangen darüber, werden ihre Enkel das Sterben als eine natürliche Erscheinung annehmen lernen. Eine Bekannte berichtete mir in diesem Zusammenhang von ihrem Großvater. Dieser wohnte mit der Familie unter einem Dach und hatte daher genügend Gelegenheit, mit den Enkeln zu reden. Die Kinder nahmen es vollkommen natürlich auf, als er ihnen offenbarte, daß er krank sei und bald sterben werde. Sie waren also gewissermaßen mit allen Wassern gewaschen, als er schließlich für immer die Augen schloß. Tags darauf gingen sie in sein Zimmer - und staunten nicht schlecht, daß Opa noch auf seinem Bett lag. Sie rannten zur Mutter und fragten: »Warum liegt Opa hier? Er wollte doch in den Himmel!« Die Mutter entgegnete: »Nur seine Seele ist zum Himmel gefahren, sein -135-
Körper liegt noch hier.« Mit dieser Antwort waren die Kinder zufrieden. Jetzt wußten sie: So ist der Tod. Alles ist Kindern verständlich, wenn man es ihnen in einfachen, für sie plausiblen und leicht verständlichen Worten erklärt. Wird man gebrechlich, sagen viele alte Menschen, dann ist es gut, bei einem seiner Kinder eine feste Bleibe zu haben. Auch zahlreiche junge Leute meinen, es sei am besten, im Kreis der nächsten Angehörigen zu sterben. Andere hingegen halten es für eine zu hohe Belastung, altersschwache Eltern oder Großeltern bei sich aufzunehmen: Wie sollten sie, ohnehin überlastet, Zeit und Energie für einen pflegebedürftigen Verwandten aufbringen? Dem halten nicht wenige aus eigener Erfahrung entgegen, daß die Pflege eines geliebten alten Menschen durchaus positive Erlebnisse einschließt, welche die Mühe mehr als aufwiegen. Ein von Kornhaber befragtes Enkelkind sagte über seine liebe Oma, die im Kreis der Familie verschied: »Oma ist immer da. Ihr Körper schrumpft, er wird von Tag zu Tag ein bißchen kleiner. Aber Oma schrumpft nicht. Nur ihr Körper wird kleiner.« Obwohl sterbenskrank, nahm diese Großmutter noch aktiv am Familienleben teil. Im Bett erzählte sie weiterhin Geschichten und brachte ihrem Enkelkind das Stricken bei. Umgeben von ihren Lieben, war ihr ein sanfter Abschied vom Leben vergönnt. Das Beisammensein mit ihr berührte die Familie sehr stark. Die Angehörigen, Kinder wie Eltern, konnten hautnah die Krankheitsphasen erleben und unvergeßliche Gespräche über Siechtum und Tod mit einem Menschen führen, der weiß, daß sein Ende naht. Krankheit und der Gedanke an den Tod wurden für sie zu einem natürlichen Teil des Alltagslebens. Indem sie der Oma halfen, ihr zuhörten und mit ihr sprachen, erfuhren sie, wie es ist, wenn man stirbt. Und indem sie erlebten, wie gut es ihr trotz alledem in ihren letzten Tagen ging, schwand ihre eigene Angst vor dem Tod.
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Erinnerungen an die Verstorbenen Zur Vorbereitung auf das baldige Dahinscheiden zählt das Aushändigen von Erbstücken. Dies macht das Thema Tod faßbar. Meine Großmutter zum Beispiel verteilte nach und nach ihren Schmuck an die Enkel. Der Tochter ihrer Tochter vermachte sie eine Kette mit folgenden Worten: »Du weißt ja, daß ich bald sterben werde. Nun sollst du diese Goldkette bekommen, die meine Mutter mir geschenkt hat. Ich hoffe, du wirst manchmal daran denken, daß meine Mutter und ich sie getragen haben. Durch dich bleibt die Kette in unserer Familie. Eines Tages wirst du sie weitergeben an deine Tochter oder deine Enkelin.« Immer wenn sie Schmuck verschenkte, versuchte Oma eine warme, angenehme Stimmung zu schaffen. Sie erzählte von dem Schmuckstück und den Personen, denen es einst gehört hatte: ihren Eltern, Großeltern oder noch älteren Vorfahren. So hefteten sich die Erinnerung an diese besondere Stunde und ein Hauch Familiengeschichte an jedes Halsband, jeden Ring und Armreif: »Oma hat diese Halskette getragen, und vor ihr hat es ihre Mutter getan. Oma und ich haben gemeinsam schöne Stunden erlebt. Es ist, als wäre Oma bei mir, wenn ich die Halskette anlege.« Vielleicht werden dieselben Worte gesprochen und dieselben Geschichten erzählt, wenn eines Tages die Enkel diese Erbstücke ihren Nachkommen überreichen. Lassen Sie mich hier von Lise erzählen: Lise hatte eine sehr enge Beziehung zu ihrem Uropa, der in einer kleinen Wohnung im ersten Stock ihres Elternhauses lebte. Lises Eltern führten ein hektisches Leben, aber der Uropa war zum Glück immer da. Gab es Probleme, setzte sich Lise auf seinen Schoß. Dann strich er ihr immer wieder übers Haar oder streichelte ihr die Wange, wobei er summte oder ein Lied für sie sang. -137-
Fühlte Lise sich besonders bedrückt, schlich sie nachts zu ihm hinauf und schlüpfte zu ihm ins Bett. Als der Uropa knapp 90 Jahre alt war, bereitete er Lise darauf vor, daß er nicht mehr lange leben würde. Kurz nachdem er seinen 90. Geburtstag gefeiert hatte, starb er. Als sie im Taxi vom Begräbnis heimfuhr, weinte Lise bitterlich. In der einen Hand hielt sie Uropas Baskenmütze, in der anderen seine goldene Uhr. Sie strich sich damit über die Wangen, und es war, als brächten diese Hinterlassenschaften ihr den geliebten Uropa wieder ein bißchen zurück. Und so halfen diese Erbstücke Lises Trauer ein wenig lindern.
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Geliebte Omas und Opas leben in der Erinnerung fort. Ihren Enkeln wird warm ums Herz, wenn sie an die Verstorbenen denken. Sie entsinnen sich gern der guten gemeinsam verbrachten Zeiten. Der sechsjährige Sven beispielsweise spricht oft von seinem Großvater, der gestorben ist. Er protestiert, wenn jemand sagt, sein Opa sei tot: »Nein, Opa lebt, aber er ist im Himmel.« Viele Enkel tragen die Erinnerung an die Großeltern für alle Zeit in sich, als Kinder, als Jugendliche und als Erwachsene. In schwierigen Lebenslagen rufen sie sich die Worte ihrer Großeltern ins Gedächtnis zurück und nehmen sie als guten Rat. Sie halten Zwiesprache mit den Großeltern - ganz so, als stünden sie ihnen noch leibhaftig bei. Ihre Großmutter sei schon vor vielen Jahren gestorben, nicht aber die innige Liebe zu ihr, gestand eine längst erwachsene Enkelin: »Oma hat mir eine Sicherheit gegeben, die mich überall begleitet, gleich wo ich mich aufhalte. In komplizierten Situationen habe ich stets an sie gedacht. Ich kenne sie so gut, daß ich weiß, wozu sie mir bei Problemen, mit denen ich heute zu kämpfen habe, raten würde. Wo auch immer in der Welt ich mich gerade befinde: Der Gedanke an meine Oma hilft mir, Schwierigkeiten zu meistern.« Gute Ratschläge von Eltern erscheinen selbstverständlich und dringen vielleicht deshalb weniger tief unter die Haut als jene von Großeltern. Diese kluge Großmutter ist sozusagen ein liebenswertes Gespenst, das als wichtige Wegweiserin die Enkelin durch das Leben geleitet.
Jugendliche und Alter Unmittelbar am Alterungsprozeß der Großeltern teilzuhaben, dieses Erlebnis vermag die Grundeinstellung der Enkel zum Alter nachhaltig zu prägen. Es lehrt, daß das Alter schwere Stunden bescheren kann, aber auch viele beglückende Momente. -139-
Auf Jugendliche, die dies erfahren haben, übt das negative Bild unserer modernen Gesellschaft vom Alter wenig Einfluß aus. Vertraut mit den Sonnen- und Schattenseiten des Lebensabends, sind sie in der Lage, Alterserscheinungen als integralen Bestandteil des Lebens zu akzeptieren - später einmal vielleicht auch am eigenen Leibe. Unbestritten haben sie Kindern, die nie mit alternden Verwandten in engere Berührung gekommen sind, eine Menge voraus. Kindern, denen diese Erfahrung fehlt, mögen ältere Menschen stets so fremd sein wie Wesen von einem anderen Stern, zumal der Jugendkult, dem unsere Gesellschaft frönt, ein gelassenes Hinnehmen des Älterwerdens nicht gerade fördert. Sie werden Angst und Ekel empfinden, wenn sie dereinst an sich selbst Zeichen des Alterns wahrnehmen, und krampfhaft versuchen, jünger auszusehen, als sie sind. Eine derart negative Haltung kann sich auch dann einstellen, wenn eine rege und innige Großeltern-Enkel-Beziehung jäh endet. Kornhaber berichtet von einem jungen Mädchen, das ein herzliches Verhältnis zu seiner Großmutter hatte. Als jedoch seine Eltern sich scheiden ließen, brach die Oma unvermittelt den Kontakt ab. Ihre Enkelin reagierte darauf mit verzweifelter Verständnislosigkeit: »Alle alten Menschen erinnern mich an Oma. Ich finde es furchtbar, diese Leute herumhumpeln zu sehen. Ich glaube, ich werde mich lieber umbringen, als so zu werden wie sie.« Als die Großmutter sich von heute auf morgen abwandte, war dieses Mädchen so sehr gekränkt, daß es dem Alter nur Schlechtes abgewinnen kann. Noch ist es jung genug, um den Gedanken an das eigene Altern entrüstet von sich weisen zu dürfen. Es schiebt die Vorstellung deswegen so weit von sich, weil sie an eine nicht verheilte Wunde rührt. Henning mußte eine ähnliche Erfahrung machen: Als Kind traf er seine Großeltern fast täglich. Als man ihm eines Tages sagte, daß Oma und Opa auf eine Urlaubsreise gehen wollten, glaubte er das. Doch dann dauerte der Urlaub ewig, und die Großeltern kehrten nicht zurück. Schließlich erfuhr Henning, -140-
weshalb die enge Verbindung abgerissen war: Sein Opa war in Rente gegangen und mit der Oma an einen fernen Ort gezogen, von dem die beiden insgeheim lange geträumt hatten. Dies zu wissen, tröstete den Jungen nicht. Er vermißte schmerzlich das tägliche Beisammensein.
Vielleicht wollen Großeltern, mag man einwenden, Enkeln die Trennung erleichtern, indem sie vorher nicht mit ihnen darüber sprechen. Dies haben sie in Hennings Fall eindeutig nicht erreicht. Und sie tun es wahrscheinlich höchst selten: Kinder brauchen Zeit, um sich an neue Situationen zu gewöhnen, erst recht daran, daß vertraute Bezugspersonen aus -141-
ihrem Leben entschwinden. Henning wurde von dem schmerzhaften Gefühl, verlassen und betrogen worden zu sein, aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Schlaflosigkeit setzte ihm zu, und er ließ in der Schule nach. Vielleicht hätte er die Trennung besser verkraftet, hätte man ihn auf sie vorbereitet und mit ihm besprochen, wie sich trotz der weiten räumlichen Entfernung weiterhin Kontakt halten ließ. So aber verkehrte seine tiefe Trauer sich in Wut und seine Liebe in Haß. Urplötzlich im Stich gelassen, zürnte er den Großeltern mehr und mehr: »Ich werde böse, wenn mir alte Leute auf dem Gehsteig begegnen. Am liebsten würde ich sie alle verhauen.« Es gibt - leider! - zahlreiche Jugendliche, die ähnliches durchgemacht haben und ihre bittere Enttäuschung an allen Senioren auslassen. Und leider werden manche davon gewalttätig, wenn ihre Wunden aufbrechen. Weshalb häufen sich die Berichte über Gewalt- und Diebstahlsdelikte, die von Jugendlichen an Senioren verübt werden? Ich kann es mir nicht anders erklären als damit, daß die Täter nicht auf eine gute Beziehung zu Großeltern zurückblicken können. Diese legt nämlich den Grundstein für ein positives Seniorenbild. Jugendliche, die darauf aufbauen können, betrachten es als selbstverständlich, daß auch das Wort von älteren Menschen etwas gilt. Sie helfen Senioren gern einmal über eine Straße und zeigen sich in vielen anderen Situationen hilfsbereit. Jugendliche hingegen, denen diese Erfahrung - vielleicht weil die Großeltern nichts mit ihnen zu tun haben wollten - fehlt, wissen zu wenig über alte Menschen. Deshalb haben sie keine Hemmungen, ihnen Leid zuzufügen. Hätten liebevolle Großeltern ihnen Nähe und Wärme gespendet, würde es ihnen gewiß nicht im Traum einfallen, alten Leuten, die ihnen zufällig begegnen, zu schaden. Wenn es so ist, daß Jugendliche Alte auf der Straße niederschlagen, nur weil diese ihnen fremd sind, dann müssen wir als erstes wohl Bekanntschaft stiften. Wir müssen dafür sorgen, daß alle Kinder die Chance erhalten, mit Senioren -142-
vertraut zu werden. Dies versetzt sie in die Lage, eine positive Einstellung zu alten Menschen und dem Alter an sich zu entwickeln.
Öffentliche Kontaktbörsen für Junge und Alte Viele Senioren verzweifeln schier aus Einsamkeit. Sie vermissen den Kontakt mit Enkeln und sehnen sich nach der Gesellschaft junger Leute. Der alten Generation mehr Gelegenheit zu verschaffen, sich um die junge zu kümmern, wäre eine sinnvolle Aufgabe der Öffentlichkeit. Unter anderem ließen sich in Kindergärten und Schulen Besuchszeiten für Senioren einrichten. Vorstellbar wäre, daß eine Person ein bis zwei Tage pro Woche eine Kindergruppe oder Schulklasse besucht. Eine dauerhafte Regelung wäre für alle Beteiligten sicher das beste. So könnten die Kinder einen älteren Menschen kennenlernen, der gewissermaßen die Großeltern ersetzt. Die Gruppenoma und der Klassenopa könnten Märchen vorlesen, von alten Zeiten erzählen, sich mit den Kindern unterhalten oder ihnen bei den Schulaufgaben helfen. Mancherorts sind solche Einrichtungen bereits bekannt. Der Montessori-Kindergarten »Dreiklang« in Oslo teilt sein Quartier mit einer Rentnergruppe. Die Senioren schauen gern morgens vorbei, um die Kinder zu begrüßen. Sie fragen, wie es ihnen geht, und interessieren sich für ihre Spiele, Zeichnungen und Bastelarbeiten. Die Kinder besuchen ebenfalls die Rentner und tragen an Geburtstagen ein Lied vor. In dem Gebäude kennt jeder jeden, und man geht unverkrampft miteinander um. Hin und wieder, am Nikolaustag zum Beispiel, unternehmen die Jungen und die Alten gemeinsam etwas. Auch Museen und Ausstellungen besuchen sie zusammen. In einem Osloer Stadtteil hat man ein Projekt in die Wege geleitet, bei dem Jugendliche allein wohnenden Senioren ein wenig zur Hand gehen. Die rund sechzig Ruheständler freuen sich über den frischen Wind in ihren vier Wänden. Auch die -143-
Teenager profitieren davon, konstatiert ein 83jähriger Rentner. Sie verdienen sich ein zusätzliches Taschengeld und machen wertvolle Erfahrungen. Ein weiteres Beispiel: Vor vielen Jahren besuchte ich in Dänemark eine Begegnungsstätte, die als Alten- und Jugendtreff zugleich diente. Die Senioren benutzten die Räume in der ersten Tageshälfte, die Jugendlichen nachmittags und abends. Beide Gruppen arbeiteten zusammen, organisierten gemeinsame Veranstaltungen und waren mit dieser Ordnung äußerst zufrieden. Alle kannten einander, akzeptierten sich und wechselten ein paar Worte, wenn sie sich begegneten. In diesem Ort mußte kein Mitglied des Altenzentrums fürchten, von jungen Leuten auf der Straße überfallen zu werden. Und mit Sicherheit taten diese Jugendlichen auch anderen Senioren nichts zuleide.
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MÖGLICHE ERSCHWERNISSE
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14 Räumliche und emotionale Distanzen
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Je geringer die Distanz zwischen den Wohnungen der Großeltern und ihrer Angehörigen ist, desto besser sind natürlich die Voraussetzungen für einen regen Kontakt und eine herzliche, vertraute Beziehung. Die räumliche Nähe begünstigt in der Regel die emotionale Bindung, doch hat auch diese Regel ihre Ausnahmen.
Wenn jeglicher Kontakt fehlt Die meisten Enkel pflegen guten Kontakt mit mindestens einem Großelternteil. Manche jedoch haben, gleich aus welchen Gründen, von klein auf weder mit einer Oma noch mit einem Opa Verbindung. Trotzdem ist allen Kindern bewußt, daß sie zwei Großmütter und zwei Großväter haben; das gilt auch, wenn diese schon vor ihrer Geburt verstorben sind. Kinder denken, auch wenn sie sie nicht kennen, häufiger an ihre Großeltern, als man meinen könnte. Ein achtjähriger Junge sagt: »Ich habe Bilder von meinen Großeltern gesehen, sie jedoch nie getroffen. Ich denke oft an sie, weiß aber nicht, wie sie sind. Ich würde gern wissen, ob ich ihnen ähnlich bin.« Kinder wissen, daß sich Eigenschaften vererben. Betrachten sie Fotos von den Großeltern, suchen sie unwillkürlich nach äußeren Ähnlichkeiten. Sie betrübt die Vorstellung, wieviel sie versäumen, weil sie ihre Großeltern nicht persönlich kennen. Dies ist zwangsläufig der Fall, wenn Freunde von schönen Erlebnissen mit ihren Omas und Opas erzählen. Am ärgsten leidet ein Kind wohl dann, wenn seine Großeltern zwar in der Nachbarschaft wohnen, ihm jedoch der Kontakt verwehrt ist. Ich weiß von einem Jungen, dessen Großeltern einen Katzensprung entfernt leben, ihn aber nicht sehen mögen. Er kennt das Haus, in dem sie wohnen, darf es aber nicht betreten. Seine Gedanken kreisen um die Großeltern, und allmählich wird er wütend auf sie. Weshalb darf er sie nicht treffen? Weshalb enthalten sie ihm vor, was für seine Freunde -147-
selbstverständlich ist? Nur zu leicht kann sein Kummer in Aggression umschlagen und in generelle Feindseligkeit gegenüber alten Menschen.
Weshalb Großeltern und Eltern den Kontakt unterbinden Die durchschnittliche Lebenserwartung ist gestiegen, und es gibt mehr Senioren als je zuvor. Gleichzeitig denken wir mehr an uns selbst und sind weniger auf die Familie fixiert. Manche Senioren lehnen die Großelternrolle ab mit der Begründung, sie empfänden kein Bedürfnis nach Kontakt mit den Enkeln. Es spricht viel für die Vermutung, daß sie sich selbst betrügen. Kornhabers Mitarbeiterteam hat 300 Großeltern nach ihrer Enkelbeziehung befragt. Einige antworteten, sie würden keinen Kontakt halten und ihn auch nicht wünschen. Doch die Umfrage machte sie nachdenklich: Nachdem sie jahrelang geglaubt hatten, ihre Kindeskinder nicht zu brauchen, keimten in ihnen Zweifel auf. Auf einmal sehnten sie sich nach den Enkelkindern und bedauerten die Entfremdung - zu spät: Die Enkel waren zu alt, um noch eine innige Verbindung zu ihnen aufbauen zu können. Eine Großmutter erklärte mir ihre Abwehrhaltung folgendermaßen: »Ich habe drei Kinder. Sie werden immer meine Kinder sein, zumal ihnen ständig etwas widerfährt, für das ich geradestehen muß. Mir genügt es vollauf, ihre Mutter zu sein. Ich will mir nicht noch mehr zumuten.« Andere Großeltern nennen andere Gründe. Mitunter haben sie selbst noch Kinder, die Aufsicht benötigen, und weder Zeit noch Kraft, weitere Verpflichtungen einzugehen. Oder sie wollen sich selbst verwirklichen, wollen endlich das Leben genießen, ohne für andere Verantwortung zu tragen. Ob sie auf diesem Weg tatsächlich glücklicher und zufriedener werden, ist fraglich. -148-
Zuweilen verhängen die Eltern die Kontaktsperre. Meist tun sie es, weil sie ihren als Generationenkonflikt sattsam bekannten Abnabelungsprozeß noch nicht abgeschlossen haben. Obwohl sie erwachsen und selbst Vater oder Mutter sind, erscheint es ihnen unmöglich, mit den Eltern wieder in Verbindung zu treten. Darüber vergessen sie das Kontaktbedürfnis ihrer Kinder. Sie geben Enkeln und Großeltern keine Chance, einander kennenzulernen, obwohl jede Seite von der Existenz der anderen weiß.
Gemeinsam und doch einsam Es gibt Großeltern, die nur aus Pflichtgefühl Kontakt halten und sich auf Treffen mit den Enkeln einlassen. Sie sind an den Kindern im Grunde nicht interessiert. Deshalb läßt das Zusammensein mit den Enkeln sie kalt. Kornhaber zitiert zwei Geschwister, fünf und sieben Jahre alt, die einmal im Monat ein Wochenende bei den Großeltern verbringen: »Was es bringt, bei den Großeltern zu sein? Die sitzen den ganzen Tag vor der Glotze! Wir möchten mit ihnen sprechen, aber sie reden nicht mit uns. Wir fragen, ob sie mit uns Karten spielen wollen, aber sie haben keine Lust. Wir sitzen da und sehnen uns nach ihnen, doch sie sind offenbar nicht an uns interessiert.« Kinder haben ein sehr feines Gespür; sie merken sofort, ob man an ihnen ein echtes Interesse hat oder nicht. Falls nicht, gewinnen sie den Eindruck, ohne sie ginge es dem Gegen über genausogut oder gar besser. Da es sie nach emotionaler Nähe zu den Großeltern verlangt, kann ihnen ein unbeteiligter, gefühlskalter Umgang mehr schaden als nützen..
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Auswirkungen räumlicher Trennungen Sie sind hinlänglich bekannt, die Rentner, die im Reisen ihren neuen Lebenszweck entdecken. Und wenn sie dabei an ihre Enkelkinder denken, ihnen Ansichtskarten schicken und liebe Grüße, dann erscheint aus ihrer Sicht alles in Butter. Denn Erwachsene können über lange Trennungszeiten hinweg unveränderte Zuneigung bewahren - besser jedenfalls als Kinder. Daß Kinder häufigeren Kontakt benötigen, um eine Beziehung aufrechterhalten zu können, wissen sie oftmals nicht. Daher ahnen sie nicht, welchen Kummer lange Abwesenheiten (und erst recht abrupte Kontaktunterbrechungen) einem Kind bereiten. In den ersten Lebensjahren, etwa bis zum Alter von fünf oder auch zehn Jahren, brauchen Enkel die Großeltern am meisten. Normalerweise ebbt mit dem Schuleintritt das Kontaktbedürfnis ein wenig ab. Aber jedes Enkelkind ist anders. Manch eines bedarf der engen Bindung noch im Erwachsenenalter. Die neunjährige Karin hat keine Verbindung zu den Großeltern mehr, seit diese umgezogen sind. Fast täglich war sie bei ihrer Omi. Doch das ist aus und vorbei, klagt sie: »Wir hatten es so schön! Nach der Schule ging ich zu Omi. Sie machte Waffeln, und ich erzählte von der Schule. Mit Omi konnte ich über alles sprechen. Sie hat immer alles verstanden. Aber dann zogen sie fort. Inzwischen hat Omi mich bestimmt vergessen. Wie konnte sie mich nur verlassen? Sie ist doch meine Omi. Ich hätte sie so oft gebraucht.« Karin war lange Zeit außer sich. Sie weinte sich nach ihrer lieben Omi die Augen aus. Es hätte ihr gutgetan, die Großeltern zu besuchen, zu sehen, wo und wie sie wohnen, sich an Omis Schulter auszuweinen und über den Trennungsschmerz zu sprechen. Dann hätten sie gemeinsam konkrete Pläne für die Fortsetzung ihres Kontakts schmieden können. Oft tritt der umgekehrte Fall ein, und die Enkel ziehen mit den Eltern an einen anderen Wohnort. Tobias, sechs Jahre alt, stand -150-
seiner Großmutter sehr nahe. Dann zog er mit seinen Eltern fort. Obwohl er seine Oma mehrmals im Jahr trifft, ist Tobias unzufrieden: »Am Telefon sagt Oma immer, daß sie mich vermißt. Aber wenn wir uns treffen, umarmt sie mich nur, und dann geht sie mit Mama und Papa ins Wohnzimmer. Da sitzen sie und sprechen miteinander als Erwachsene. Mich kleinen Kerl vergißt sie ganz.« Kommt Tobias' Oma endlich zu Besuch, hält sie sich mit den Eltern im Wohnzimmer auf. Tobias ist zwar dabei, fühlt sich aber zurückgesetzt. Seine Sehnsucht nach der Oma ist so stark, daß er es nicht ertragen kann, wenn sie sich den Eltern widmet. Er fühlt sich tief verletzt. Er glaubt Omas schönen Worten nicht mehr, glaubt nicht, daß sie ihn vermißt hat und sich freut, ihn wiederzusehen. Schmerzliche Enttäuschung beginnt seine Zuneigung zurückzudrängen. Tobias ist drauf und dran, das innige Verhältnis zu seiner Oma zu verlieren. Hier sollten Eltern und Oma sich bemühen, die Reaktion des Kindes auf die Trennung zu verstehen. Würde die Oma sich unmittelbar nach der Ankunft mehr Tobias und weniger den Eltern zuwenden, dann würde der Junge sich nicht übergangen fühlen, wenn die Erwachsenen sich später eine Weile unterhalten möchten. Bei einer meiner Forschungsreisen kam ich mit den Großeltern zweier netter Jungen ins Gespräch. Die Jungen waren damals vier und sieben Jahre alt. Gut ein Jahr zuvor hatten sich ihre Eltern scheiden lassen. Nun wohnten die Kinder bei der Mutter. Besuchten sie den Vater, dann wohnten sie mit ihm bei seinen Eltern. Bei den Großeltern fühlten sie sich wohler als in Papas kleinem Appartement. Vor allem fanden sie dort eine vertraute, heimelige Umgebung vor. In der unruhigen Zeit während der Scheidung der Eltern hatte ihnen dieses Zuhause Geborgenheit und Stabilität geschenkt. So wurden die Großeltern für ihre Enkel außerordentlich wichtige Bezugspersonen. Nun aber, nachdem der Großvater in Rente gegangen war, hatten sie sich eine Wohnung an der Costa del Sol gekauft, um auf ihre alten Tage die Winter in Spanien zu -151-
verbringen. Ich hoffte sehr, daß die Kinder mit Hilfe der Großeltern die Trennung gut verkraften würden. Wie man kleine Kinder auf eine längere Trennung vorbereiten kann? Ganz einfach: indem man vor der Abreise mit ihnen darüber spricht. Man sollte gemeinsam überlegen, welche Auswirkungen die Trennung für alle Betroffenen haben wird und was man tun kann, damit der Kontakt nicht abreißt. Zum Beispiel könnten die Enkel ihre Großeltern in den Weihnachtsferien besuchen. Telefongespräche, Briefe und »klingende Briefe« auf Tonkassetten helfen die Kommunikation in Gang halten. Vielen Großeltern gelingt es, in Langzeiturlauben mit ihren Enkeln in Verbindung zu bleiben. Dabei hängt die Qualität der Verbindung in erster Linie davon ab, ob die Großeltern wirklich verstehen, wie Kinder Trennungen erleben.
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15 Eifersucht
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In jeder Liebesbeziehung kann Eifersucht aufkommen. Der Eifersüchtige leidet darunter, daß das Objekt seiner Liebe vermeintlich oder tatsächlich - einer dritten Person mehr Zuwendung, Vorteile oder Geschenke zukommen läßt oder von dieser erhält. Er fühlt sich zurückgesetzt, benachteiligt, verletzt. Eifersucht kann dazu führen, daß man Rachsucht entwickelt. Vielleicht ist Eifersucht eine Form von Haß.
Eifersucht zwischen Enkeln... Ungleiche Behandlung ertragen Kinder in der Regel schwer. Allerdings fällt es nicht immer leicht, seine Enkel unterschiedslos zu behandeln. Zum einen entwickeln viele Großeltern eine besonders starke Bindung an ein bestimmtes Enkelkind; dies mag das erstgeborene, das am nächsten wohnende oder auch das Kind sein, das ihnen am meisten ähnelt. Zum anderen machen auch die Kinder Unterschiede; meist ziehen sie ein Großelternteil den anderen vor. Ungleiche Behandlung gibt es also auf beiden Seiten. Sie ist an sich nichts Unnormales und hat nicht zwangsläufig mit Ungerechtigkeit zu tun. Es kommt darauf an, wie die Erwachsenen und die Kinder mit ihr umgehen. Die meisten Kinder werden akzeptieren, daß ihre Großeltern sie unterschiedlich behandeln, wenn dem klare, einsichtige Kriterien zugrunde liegen. So kann man ihnen erklären, daß nun einmal jedes Kind anders geartet ist und Anspruch daraufhat, daß man seinen individuellen Bedürfnissen und Anlagen entgegenkommt. Das leuchtet Kindern zumeist ein. Ebenso akzeptieren sie, daß Kinder je nach Altersstufe anders behandelt werden. Das jüngere Kind weiß somit, daß es nicht willkürlich benachteiligt wird, sondern lediglich das entsprechende Alter zu erreichen hat. Der zehnjährige Harald lebt bei seinem Vater, der mit seiner zweiten Frau eine neue Familie gegründet hat. Er hat zwei Halbbrüder: Erik und Uli, sechs und drei Jahre alt. Über seine Großmutter väterlicherseits sagt Erik:
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»Oma mag Harald lieber als mich. Sie ist mehr an Harald interessiert als an mir.« Erik wünscht sich mehr Nähe. Er leidet unter dem Gefühl, daß die Oma Harald ihm vorzieht. Seine Mutter kann ihm nicht sagen, ob sein Eindruck berechtigt ist oder nicht. Eventuell geht die Oma bloß wegen des Altersunterschieds mit Harald anders um als mit Erik. Möglicherweise aber steht Harald ihr tatsächlich näher, weil sie ihn am längsten kennt und sich mit seiner Mutter besser versteht als mit ihrer neuen Schwiegertochter. Eriks Mutter mag sich täuschen, wenn sie meint, die Schwiegermutter lehne im Grunde ihres Herzens die zweite Heirat ihres Sohnes und deswegen die jüngeren Enkel ab... Was auch immer die Ursache ist, das Problem ließe sich klären, würde man nur darüber sprechen. Vielleicht würde die Oma ihr Verhalten ändern, wenn jemand ihr Eriks Reaktion begreiflich macht. Sollte sie ihn trotzdem weiterhin vernachlässigen, könnte die Mutter sich nach einer Ersatzoma für Erik und Uli umsehen.
... Eltern und Ex-Schwiegereltern Es sind überwiegend die Mütter, die nach der Scheidung die Hauptverantwortung für die Erziehung der Kinder tragen. Und zumeist sind alleinerziehende geschiedene Mütter für jede Hilfe dankbar. Mitunter jedoch hört man den Vorwurf, die ehemaligen Schwiegereltern täten des Guten zuviel. Dem liegt häufig Eifersucht zugrunde: Hängen die Enkel sehr an ihren Großeltern, mag es der Mutter vorkommen, als würde ihr die Liebe der Kinder entzogen. Da sie sich in den seltensten Fällen über ihre Empfindung im klaren ist, kann sie diese nicht nüchtern darlegen. Statt dessen äußert sich ihre Eifersucht in Sticheleien und ungerechtfertigter Kritik an den ExSchwiegereltern: Sie verwöhnen die Kinder zu sehr, achten nicht auf ordentliche Kleidung, lassen die Kinder zu lange vor dem Fernseher hocken... -155-
Ein Großelternpaar ging gerade in den Ruhestand, als der Sohn sich von seiner Frau trennte. Die beiden boten an, tagsüber die Kinder zu betreuen. Das wurde zunächst erfreut angenommen. Also holten Oma und Opa morgens Enkel und -156-
Mutter ab, fuhren die Mutter zur Arbeit, verbrachten den Tag mit den Kindern und fuhren danach die kleine Familie wieder heim. Man sollte annehmen, daß ihnen die Schwiegertochter für die Hilfe dankbar war. Doch es trat das Gegenteil ein: Von heute auf morgen brach die Mutter den Kontakt zu den ExSchwiegereltern ab. Da sie nun einmal das Sorgerecht hatte, mußten die Großeltern sich in ihr Schicksal fügen. Der Bruch schmerzte sie sehr. Ich habe nur mit ihnen gesprochen, nehme aber an, daß die Enkel nicht weniger litten. Ohne Vorwarnung hatten sie die zwei Bezugspersonen verloren, die sich stets Zeit für sie nahmen und sich für alles, was sie taten, interessierten. Mehrere Großeltern haben mir erzählt, daß sie als Tageseltern für ihre Enkel gesorgt hatten, bis ihnen wie aus heiterem Himmel der Kontakt verwehrt wurde. Einige dürfen ihre Enkel überhaupt nicht mehr, andere nur unter Aufsicht ein paar Stunden im Jahr sehen. Mir sind Fälle zu Ohren gekommen, in denen die Schwiegertochter ihren Ex-Schwiegervater oder ExMann wegen Inzest verklagt hat und diese trotz Freispruchs ihre Enkelkinder oder Kinder nicht mehr treffen dürfen. Es gibt Großeltern, die erschüttert berichten, daß ihr Sohn aus Verzweiflung über die Trennung von seinen Kindern Selbstmord begangen oder das Enkelkind sich aus demselben Grund umgebracht hat. Selbst wenn die Großeltern nur mittelbar betroffen sind, so fügen solche Trennungen ihnen doch großes Leid zu. Und die Kinder verlieren die Verbindung zu ihren nächsten Verwandten.
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16 Scheidung
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Nie gab es so viele Scheidungen wie heute. Allein im Jahr 1997 ließen sich in Deutschland 187.802 Ehepaare scheiden Tendenz steigend. Über die Hälfte der geschiedenen Paare hatten mindestens ein gemeinsames Kind. Mit anderen Worten: 1997 mußten 163.112 Minderjährige die Zweiteilung ihres Zuhauses erleben.
Wie läßt die Ehe sich noch retten? Viele Erwachsene haben es nicht gelernt, Konflikte zu lösen. Sie sind völlig hilflos, wenn sich Eheprobleme häufen. Manch einer macht sich auf und davon und läßt Partner oder Partnerin im Regen stehen. Nur zu oft im Leben spitzen Konflikte sich deswegen zu, weil man nicht miteinander reden kann. Und viele Ehen hätten gerettet werden können, wären die Paare imstande gewesen, über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Möglicherweise ließe sich die Zahl der Scheidungen drastisch reduzieren, könnte man den Ehepartnern dazu verhelfen, dieses und jenes aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Rückblickend sagen viele, sie hätten sich nie scheiden lassen, wenn sie geahnt hätten, was auf sie zukommt. Denn die Kirschen in Nachbars Garten schmecken auch nicht viel besser, und Zorn kann verrauchen, wenn wir zu verstehen versuchen, wie der Partner die Probleme erlebt. Verständnis füreinander hilft Wogen glätten und führt das Paar vielleicht wieder zusammen. Für das Wohl und Wehe des einzelnen ist in Afrika vielfach heute noch die ganze Familie verantwortlich. Bei Ehekrisen springen zuerst die Geschwister ein. Sie hören in Ruhe zu und helfen den Ehepartnern, einander Gehör zu schenken. In schwierigeren Fällen mischen sich außerdem die Eltern ein, schließlich sogar das Familienoberhaupt. Fast immer findet sich eine Lösung, die dem Paar das Zusammenleben neu ermöglicht. Ähnlich hielt man es früher wohl auch in Europa, und manche Familien halten es immer noch so: In einer Ehe - das Paar hatte zwei jugendliche Kinder krachte es vor einigen Jahren ernsthaft. Der Mann hatte eine junge Frau -159-
kennengelernt und war im Begriff, sich von seiner Familie zu trennen. Da griffen seine Schwiegereltern ein. Besorgt um das Wohlergehen ihrer Enkelkinder wie auch ihrer Tochter, führten sie mit dem Paar ein langes Gespräch - und tatsächlich: Der Mann gab seine Scheidungspläne auf. Im geschilderten Fall übten die Großeltern keinen Druck aus. Vielmehr halfen sie den Ehepartnern, endlich Tácheles zu reden, einander zuzuhören und so mehr Verständnis für die Standpunkte und Reaktionen des anderen aufzubringen. Gemeinsam dachten sie darüber nach, welch hohen Preis sie und ihre Kinder für eine Trennung bezahlen müßten. Die Gespräche schufen eine stabile Grundlage für ein weiteres Zusammenleben. Das Paar kam sich wieder näher. Heute, viele Jahre später, leben die beiden immer noch zusammen und kommen, wie es scheint, gut miteinander aus. In dieser Ehe brachte der Einsatz von nahen Verwandten also eine positive Wende. Doch es dürften die wenigsten Ehepaare sein, die ein Einmischen der Eltern in ihre Probleme akzeptieren würden. Eheliche Mißstimmungen lassen sich schwer verbergen. Aufmerksam gewordene Großeltern möchten oft gern helfen, hüten sich aber wohlweislich vor einem unverblümten Eingreifen. Als Umweg bietet es sich an, scheinbar unbefangen über die Sorgen zu sprechen, die einem die Enkel machen. Berichte über die unerfreulichen Veränderungen -Ängste, Unruhe, mangelnder Konzentrationsfähigkeit, Überempfindlichkeit, Bettnässen, Schlafstörungen etc. -, die man jüngst an den Kindern wahrgenommen hat, bringen die Streithähne vielleicht zur Besinnung. Und womöglich gibt das Paar sich dann größere Mühe, wieder zueinander zu finden.
Kinder wie Großeltern bewältigen Scheidungen langsam Wie sollen Eltern, die nicht mehr miteinander sprechen können, ihre Kinder über die anstehende Scheidung unterrichten? Es wundert wenig, daß ihnen dies schwerfällt. Viele schieben es immer wieder auf. Zieht am Ende ein -160-
Elternteil aus, ohne daß zuvor ein Wort darüber verloren wurde, so kann dies einem Kind sehr weh tun. Auf eine solch umwälzende Veränderung seiner Lebensumstände muß ein Kind unbedingt vorbereitet werden. Thomas war knapp fünf Jahre alt, als seine Eltern sich scheiden ließen. Niemand hatte ihm erklärt, was vor sich ging. Als junger Erwachsener hält er Rückschau: »Eines Sonntags packte Mama ihre Koffer, und Opa kam, um uns abzuholen. Wir zogen zu Oma und Opa. Ich dachte nicht sehr viel darüber nach. Schließlich hatten Mama und ich die Großeltern oft besucht. Eigentlich habe ich mich nur gefreut, denn ich hatte Oma schrecklich lieb.« Thomas machte die Abwesenheit des Vaters, da dieser häufig auf Reisen gewesen war, zunächst scheinbar wenig aus. Doch irgendwann, zunächst noch ganz unbewußt, begann er allmählich, den Vater zu vermissen. Und schließlich empfand er es als schwere Verletzung, sang- und klanglos verlassen worden zu sein. Eltern ahnen oft nicht, wie wichtig es ist, Kinder vor der Trennung hinreichend zu informieren, und wieviel schon kleine Kinder begreifen können. Kinder jeden Alters muß man in verständlichen Worten über die Sachlage aufklären, um ihnen spätere Probleme zu ersparen. Das sollten beide Eltern gemeinsam tun. Dies bestätigt die Erinnerung eines 18jährigen Jungen: »Ich werde meinem Vater nie verzeihen, daß er nicht dabei war. Für mich wäre es besser gewesen, wenn er mir zusammen mit meiner Mutter reinen Wein eingeschenkt hätte. Aber er war wohl zu feige, mir in die Augen zu sehen. Alles war Heuchelei gewesen. Die Verlassene saß da und sollte alles erklären, während er, der uns verlassen hatte, woanders war, mitten auf der Schwelle zu einem neuen Leben.« Nochmals: Die Eltern müssen mit ihren Kindern rechtzeitig -161-
und gemeinsam über die Scheidung und ihre Konsequenzen sprechen. Großeltern können ihnen diese Pflicht nicht abnehmen, zumal die Scheidung eines ihrer Kinder sie meist sehr grämt und betroffen macht. Manche Großeltern werden mit der Scheidung nie fertig, in der Regel, weil sie sich mit ihr nicht gründlich genug auseinandersetzen. Das bleibt für die Enkel nicht ohne Folgen, versteht sich. Diese Folgen können unterschiedlicher Natur sein. Ein Großelternpaar zum Beispiel hatte die Frau des einzigen Sohnes wie eine lang vermißte Tochter begrüßt. Auch die Schwiegertochter, eine Vollwaise, betrachtete die Schwiegereltern wie ihre leiblichen Eltern. Als der erste Enkel auf die Welt kam, blühten die Großeltern auf, als wäre ihnen neues Leben eingehaucht worden. Die beiden Familien waren innig miteinander verbunden - bis der Sohn eine jüngere Partnerin fand und sich von seiner Frau trennte. Die Großeltern vergötterten ihren Sohn dermaßen, daß sie sich weigerten, den Grund für die Trennung bei ihm zu suchen. Flugs machten sie als Sündenbock die Schwiegertochter aus und brachen die Verbindung mit ihr und dem so sehr geliebten sechsjährigen Enkel ab. Vielleicht wäre dies nicht geschehen, hätten sie sich die Zeit genommen, ihre Gefühle in Ruhe zu ordnen und auf die Stimme der Liebe in ihnen zu hören.
Großeltern als seelische und praktische Helfer Der Beistand von Großeltern vermag Kindern in der schwierigen Zeit der Trennung ihrer Eltern wertvollen Halt zu geben. Inzwischen erwachsene Betroffene haben mir dies bestätigt. Die Scheidung seiner Eltern, erzählte ein 31 jähriger Mann, erschien ihm wie der Verlust seines Zuhauses. Später war das Haus der Großeltern der einzige Ort, an dem er sich heimisch fühlte. Eine Frau wiederum berichtete: »Hätte ich bei der Scheidung von Mutter und Vater meine Großeltern nicht gehabt, wäre ich wohl kaum -162-
zurechtgekommen. Ich wäre wahrscheinlich ein vollkommen anderer Mensch geworden.« Viele Betroffene sagen dasselbe: Sie wissen nicht, wie sie die Scheidung der Eltern verkraftet hätten ohne die Gewißheit, daß ihre Großeltern jederzeit für sie da waren. Auch ein Schularzt unterstreicht aus seiner Erfahrung, daß Großeltern in dieser Phase eine unschätzbare Unterstützung sind: Ihnen kann das Kind getrost seine verwirrenden Gedanken und Gefühle offenbaren. Bei ihnen kann es weinen, bis seine Tränen versiegt sind und seine positiven Kräfte wieder wirksam werden. Überdies gelingt es Großeltern weit eher als Eltern, in der Zeit vor und nach der Scheidung Kindern die notwendigen klaren Grenzen zu setzen. Viele Großeltern leisten außer seelischer auch praktische Hilfe. Sie nehmen Kleinkinder auf, bis der Sturm der elterlichen Gefühle sich gelegt hat, und betreuen - wenn sie in der Nähe wohnen - nach dem Unterricht die Schulkinder. Eine Großmutter zog nach der Scheidung vorübergehend zu ihrer Tochter und ihren zwei Enkeln. Sie führte den Haushalt, und die Kinder fühlten sich geborgen, weil zu Hause immer eine erwachsene Bezugsperson auf sie wartete: ihre Oma, die ihnen mit Engelsgeduld zuhörte.
Von geschiedenen Müttern und ihren Müttern Nur ein Viertel (9,5 Millionen) der insgesamt 37,5 Millionen privaten Haushalte in Deutschland sind Familien mit Kindern. Dazu zählen auch Paare ohne Trauschein mit mindestens einem Kind und 1,2 Millionen unvollständige Familien mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern. Anders ausgedrückt: Zwar leben die meisten Kinder bei ihren leiblichen Eltern, seien es nun Väter und Mütter mit oder ohne Trauschein, doch immerhin zehn Prozent leben bei einem Elternteil, der mit einem Stiefelternteil liiert ist. Und eine beachtliche Anzahl Minderjähriger wächst bei alleinerziehenden Eltern, -163-
überwiegend den Müttern, auf. Nur fünf Prozent (in Großstädten 20 Prozent) der frisch geschiedenen Elternpaare beantragten Mitte der 90er Jahre das gemeinsame Sorgerecht, das ihnen nach deutschem Gesetz zusteht. Jeder zweite Vater ohne Sorgerecht hatte bereits ein Jahr nach der Scheidung keinen Kontakt mehr zu seinem Kind. Oft greift niemand der alleinerziehenden Mutter bei der Aufgabe unter die Arme, den Alltag zu organisieren und den Kindern ein Zuhause zu erhalten. Wenn sie von Angehörigen Hilfe erfährt, dann am ehesten von ihren Eltern. Die Oma mütterlicherseits steht der kleinen Restfamilie oft näher als die Großmutter väterlicherseits. Letztere rückt leicht etwas ins Abseits - nicht nur, wenn ihre Enkel bei der geschiedenen Mutter wohnen. Bleiben die Kinder nach der Scheidung der Eltern beim Vater, leben sie nämlich meist in Stieffamilien. Es gibt aber doch auch alleinerziehende Väter? Ja, und sie nehmen den Beistand ihrer Angehörigen bei der Kinderbetreuung sehr in Anspruch - wie es heißt, weit mehr als alleinerziehende Mütter.
Wenn der neue Lebensgefährte alte Bande durchtrennt Was geschieht, wenn die alleinerziehende Mutter einen neuen Partner findet? Mehrere Großeltern haben mir von neuen Lebensgefährten erzählt, die Unmögliches verlangen: Sie wollen, daß das Kind den Vater sowie dessen Eltern vergißt und daß ihre Eltern an die Stelle der Großeltern väterlicherseits treten. Etliche Mütter werden auf diese Weise genötigt, den ExGatten und dessen Eltern fernzuhalten. Das empfindet ein Kind, das sich nach seinen vertrauten Großeltern sehnt, als ganz und gar unnatürlich, ja grausam. Unter dieser Voraussetzung gelingt es ihm nicht, sich den Eltern des neuen Partners der Mutter zu öffnen. Darf es jedoch weiterhin seine leiblichen Großeltern treffen, dann finden auch die »neuen« Großeltern leichter Zugang zu seinem Herzen. -164-
Wenn der Kontakt mit den leiblichen Großeltern abreißt Ich habe mit Großeltern gesprochen, die auf einen Schlag von ihren Enkeln getrennt wurden. Teils hatten sie jahrelang die Kleinen als Tageseltern betreut. Betroffen waren vorwiegend die Eltern des Vaters, in einem Fall jene der Mutter. Die Großeltern vermissen ihre Enkel über die Maßen und zerbrechen sich den Kopf über ihr Befinden. Nicht weniger hart ist das Los für die Kinder. Sie müssen auf den geliebten Vater und seine Eltern verzichten. Sie dürfen sie nicht mehr treffen, womöglich daheim nicht einmal über sie sprechen. Die Trauer über den Verlust nagt an ihnen, und nicht selten bewirkt der auf Dauer unlösbare Konflikt tiefe Depressionen und schwerwiegende Störungen der Persönlichkeitsentwicklung. Einige meiner Gesprächspartner dürfen ihre Enkel gelegentlich sehen. Ihr Sohn macht für sie einen Termin aus, oder sie rufen selbst die Mutter an, um eine Verabredung zu treffen. Da die Großeltern wissen, wie labil ihr Kontakt zur Mutter ist, hüten sie sich davor, heikle Themen anzusprechen. Sie beschränken sich im Gespräch auf das für eine klare Abmachung Notwendige und vermeiden persönliche Äußerungen aus Angst, die Mutter der Kinder könnte daran Anstoß nehmen. Manche Großeltern dürfen ihre Enkel nur ein paar Stunden jährlich unter Aufsicht treffen. Die Mutter eines geschiedenen Vaters hat mir erzählt, wie schwierig die Begegnungen unter dem wachsamen Blick der Mutter sind: Solange die Mutter zugegen sei, verhalte sich das Kind so, als sei es an der Oma kein Fünkchen interessiert. Sobald aber die Mutter für einen Augenblick den Raum verließe, flüstere es: »Oma, ich hab' dich so lieb!« Vom Jugendamt haben die mir bekannten Großeltern in solchen Fällen wenig Hilfe erfahren. Vielmehr schien es ihnen, als wollte man ihnen noch mehr Steine in den Weg legen. Ich kann mich nur wundern, daß die Behörden nicht wahrhaben wollen, wie wichtig es für Kinder ist, den guten Kontakt zu -165-
leiblichen Verwandten beibehalten zu dürfen.
Leider lassen aber auch Großeltern ihre Enkel im Stich. Mona war zwölf Jahre alt, als ihre Eltern sich scheiden ließen. Sie stand in einer sehr engen Beziehung zu ihrer Oma väterlicherseits, die sich lange als Tagesmutter um sie gekümmert hatte. Nach der Scheidung brach die Großmutter den Kontakt zur Ex-Schwiegertochter und zu Mona ab. Noch Jahre -166-
später machen Mona Traurigkeit und Verlustgefühle zu schaffen. Sie sehnt sich schmerzlich nach ihr, kann häufig nicht einschlafen und ist tief deprimiert: »Oma hielt mich für das liebste Kind auf der Welt. Wenn wir uns jetzt treffen, will sie nicht einmal mit mir reden. Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe.« Die Liebe zwischen der Oma und ihr war eine von Monas schönsten Kindheitserfahrungen. Weshalb hat die Oma sie aufgekündigt? Nach und nach hat Mona das herrliche Gefühl, Omas Liebling und ein prächtiges Mädchen zu sein, verloren. Statt dessen wird sie von Selbstzweifeln geplagt und sucht den Fehler bei sich. Kinder neigen zu der irrigen Annahme, mit ihnen stimme etwas nicht, wenn sich jemand von ihnen abwendet. Dabei hat dies oft eine ganz andere Ursache. In Monas Fall könnte ein Mißverständnis vorgelegen haben: Vielleicht interpretierte die Oma die Tatsache, daß Mona nach der Scheidung bei der Mutter blieb, als Parteinahme gegen den Vater. Und damit hätte sie das Kind vollkommen zu Unrecht bestraft.
Kinder haben ein gesetzliches Recht auf Umgang mit den Großeltern In Deutschland verpflichtet seit 1998 das Kindschaftsrecht Eltern dazu, mit ihren Kindern Kontakt zu pflegen. Umgekehrt gesteht es den Kindern das Recht auf Umgang mit beiden Eltern zu. Gesetzlich gesichert ist außerdem das Recht auf Umgang mit nahen Verwandten wie Geschwistern und Großeltern. (In Frankreich wurde ein entsprechendes Gesetz bereits 1970 verabschiedet.) Väter und Mütter dürfen persönliche Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Großeltern ohne triftigen Grund nicht behindern. Im BGB, § 1685, Abs. l heißt es hierzu: Können sich die Parteien nicht einigen, wird die Besuchsordnung durch das öffentliche Recht bestimmt. Wo Eltern nicht selbst für ihre Kinder sorgen können, wird das Sorgerecht oft den Verwandten übertragen. -167-
»Großeltern und Geschwister haben ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient.«
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17 Stieffamilien
Viele Geschiedene verheiraten sich erneut. 1997 wurden in der Bundesrepublik 422.778 Ehen geschlossen. Unter den Heiratspartnern befanden sich über 90.000 geschiedene Männer und mehr als 100.000 geschiedene Frauen. Wenn Eltern wieder heiraten, bringt das viele Kinder und auch ihre Großeltern in die schwierige Situation, ein familiäres Verhältnis zu fremden Menschen entwickeln zu müssen.
Wenn die Eltern neue Lebenspartner finden Eines Tages heiratete Annas geschiedener Vater zum zweitenmal. Anna erzählt, wie er ihr die Neuigkeit beigebracht hat: »Eines Tages rief Papa an und sagte, er und Brigitte hätten geheiratet. Sie hätten mit ihren Eltern in -169-
kleinem Rahmen Hochzeit gefeiert. Als Grund nannte er, daß sie ein Kind erwarteten«. Anna hat darauf nicht negativ reagiert, sondern sogar dem Vater gratuliert. Erst Jahre später brachen die Gefühle aus ihr heraus: »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll... In dem Moment, als es geschah, nahm ich das Gefühl, verletzt zu sein, gar nicht wahr. Wie so vieles andere wurde es einfach auf Eis gelegt. Aber früher oder später macht sich so etwas bemerkbar. Bei mir ist das jetzt passiert, und zwar so: Ich habe mich mit Papa gezankt. Was letztendlich der Auslöser dafür war, weiß ich gar nicht mehr. Jedenfalls fühlte ich mich ungerecht behandelt, oder er tat etwas nicht, was von ihm erwartet wurde. Es verging eine Woche, dann kamen sie hoch, all die unterdrückten Gefühle von damals, als er wieder heiratete.« Man bringt Kinder in Schwierigkeiten, wenn man sie auf den Einzug des neuen Partners oder der neuen Partnerin nicht vorbereitet. Das gilt auch, wenn das Kind bei dem betreffenden Elternteil nicht lebt, sondern ihn nur besucht. Peter war sechs Jahre alt, als seine Eltern sich scheiden ließen. Danach wohnte er bei der Mutter und besuchte den Vater regelmäßig. Er freute sich immer auf den Besuch, und die zwei verbrachten schöne gemeinsame Stunden. Nichtsahnend traf er eines Tages ein, um von seinem Vater, einer Frau und zwei kleinen Kindern begrüßt zu werden. Sein Vater nahm sich wenig Zeit, um Peter die Situation zu erklären. Er sagte kurzerhand, daß er wieder geheiratet hätte und die drei nun Peters Stiefmutter und Stiefgeschwister wären. Von da an war nichts mehr wie früher. Peter blieb weitgehend sich selbst überlassen, fühlte sich ausgegrenzt und litt darunter. Peters Vater hätte wissen sollen, daß Kinder familiäre Veränderungen nicht im Handumdrehen verkraften. Er hätte Peter rechtzeitig informieren und sich nach Peters Ankunft im Kreis der neuen Familie zunächst wie früher ein Weilchen allein mit ihm befassen müssen. Dies hätte Peter das Gefühl gegeben, -170-
daß sein Vater ihn unverändert liebt, und es ihm ermöglicht, offener auf den angeheirateten Familienzuwachs zuzugehen. Einschneidend ist die Veränderung erst recht dann, wenn der Elternteil, bei dem das Kind lebt, einen neuen Partner findet. Vergißt die Mutter oder der Vater über dem Liebesglück, das Kind zu fragen, wie es sich fühlt, dann ist es wahrhaftig nicht leicht, Kind zu sein. Nachdem das Kind den täglichen Kontakt mit dem einen Elternteil hat aufgeben müssen, muß es den anderen nun mit Stiefmutter oder Stiefvater, eventuell auch Stiefgeschwistern, teilen - und obendrein auch sein Zuhause. Seit der Scheidung der Eltern lebt Sarah bei der Mutter. Diese hat sich völlig verändert, seitdem sie mit Olaf liiert ist. Sie hört nicht mehr richtig zu, wenn Sarah etwas sagt. Sarah fühlt sich beiseite geschoben und meint, die Mutter kümmere sich nur noch um Olaf. Sie ist eifersüchtig und böse. Sie fragt sich, wie sie die Mutter dazu bringen kann, sich ihr zu widmen? Einige Male schon hat sie sich im Wald versteckt, damit die Mutter sie vermißt und sich um sie ängstigt. Geschlagene Ewigkeiten wartete sie dort, aber die Mutter kam nicht, um sie zu suchen. Also ging Sarah wieder heim, allein und noch trauriger als zuvor... Bald wird Olaf einziehen. Dann wird Sarahs Zuhause sich abermals verändern. Während ihre Mutter sicher viel Zeit und Energie darauf verwandt hat, Olaf kennenzulernen, soll Sarah ihn sofort akzeptieren. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Kinder können die fremden Menschen, die ihre Eltern heimbringen, nicht so schnell als Familienmitglieder anerkennen. Verheiraten beide Eltern sich wieder und zählt man die neuen Großeltern hinzu, dann tragen viel zu viele Erwachsene an das Kind die Erwartung heran, daß es eine Art Verwandtschaftsverhältnis zu ihnen entwickelt. Es ist fürwahr ein Streß, all dies unter einen Hut bringen zu müssen.
Trauerarbeit und Integrationszwänge In der skizzierten Situation können Großeltern, wenn ihr Interesse am Enkelkind ungebrochen ist, helfen. Und zwar -171-
indem sie fragen, wie es ihm geht, und aufmerksam zuhören, wenn es ihnen sein Herz ausschüttet. Indem sie es nicht ausschimpfen, weil es auf die Frau/den Mann, welche/r Vaters beziehungsweise Mutters Platz eingenommen hat, negativ reagiert. Indem sie es unzensiert reden lassen und Verständnis dafür zeigen, daß es schwer ist, das alltägliche Leben mit fremden Menschen zu teilen, können Großeltern es dem Enkelkind erleichtern, sich mit den »Eindringlingen« anzufreunden. Auch Großeltern haben Mühe, sich daran zu gewöhnen, daß neue Partner in das Zuhause ihrer Kinder und Enkelkinder eindringen. Haben sie ihre Trauer über den Verlust der geliebten Schwiegertochter oder des Schwiegersohns noch nicht aufgearbeitet, begegnen sie den neuen Lebensgefährten ihrer Kinder zunächst verschlossen. Selbst wenn sie sich ihrer Ablehnung nicht bewußt sind, vermag diese alles, was sie sagen und tun, zu durchtränken und auch die Enkel zu beeinflussen. Nicht verarbeitete Trauer der Großeltern kann Kinder also in ihrer Abwehrhaltung gegenüber den Stiefeltern bestärken und ihnen die Integration in die neue Familie erschweren. Kinder benötigen Zeit, um über ihren Kummer hinwegzukommen. Die Scheidung der Eltern und die schwerwiegenden Folgen hinterlassen Narben. Es ist nur allzu verständlich, wenn Kinder sich zunächst nicht auf ihre Stieffamilie einlassen wollen. Eine Frau hat mir geschildert, wie sie sich als Mädchen in der Anfangsphase des Zusammenwohnens mit Stiefmutter und Stiefgeschwistern verhalten hat. Da sie und ihr Bruder keine Kritik üben durften, mußten sie alles in sich hineinfressen. Der Maulkorb hinderte sie daran, sich ungezwungen in die neue Familiensituation einzufügen. Für den Druck, unter dem sie standen, brauchten sie ein Ventil. Luft machten sie sich, indem sie durch hinterlistige Bemerkungen den Vater gegen die Stiefmutter aufbrachten und sich diebisch freuten, wenn die beiden sich stritten. Das verschaffte ihnen zwar momentane Befriedigung, machte aber langfristig die Situation für alle nur noch schlimmer. Die Kinder hätten sich gewiß eher anpassen können, hätten die Erwachsenen ihnen nicht den Mund verboten. Sie hätten -172-
akzeptieren müssen, daß Kinder nun einmal ihr eigenes Gefühlsleben haben. Außerdem hätte es den Kindern geholfen, ihren Ärger und Kummer bei den Großeltern loszuwerden. Dann wäre es ihnen leichter gefallen, auch positive Eindrücke von der Stieffamilie gelten zu lassen.
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Von Stiefenkeln und Stiefgroßeltern Früher oder später ist es soweit, und das Kind trifft seine Stiefgroßeltern. Nach der Scheidung seiner Eltern lebte Lars bei seinem Vater und dessen neuer Lebensgefährtin Ingrid. Eines Tages stellte Ingrid Lars und seinen Vater ihren Eltern vor. Ihre Mutter wirkte sehr überrascht und begrüßte sie lächelnd: »Du bringst also nicht nur einen Mann mit, sondern gleich eine komplette Familie, Ingrid. Nun, da brauche ich nicht auf ein Enkelkind zu warten.« Dann wandte sie sich Lars zu und fragte, ob sie seine Oma werden dürfe. Der Junge dachte eine Weile nach und antwortete aufrichtig: »Eine Oma habe ich schon, aber du kannst ja meine Zweitoma sein.« Das war gut gekontert, wie Ingrids Mutter fand. Sie streichelte ihm die Wange und sagte: »Ja, deine Zweitoma will ich gern sein.« Lars handelte richtig, als er in Worte faßte, wie er die Situation empfand. Und Ingrids Mutter tat gut daran, dies zu respektieren. Mißverständnisse und Verletztheiten lassen sich eher vermeiden, wenn die Beteiligten wissen, woran sie miteinander sind. Darüber sprechen zu können, was man voneinander erwartet, stellt die Weichen für eine ehrliche, gute Beziehung. Gibt es den Fall, daß Stiefgroßeltern »richtige« Großeltern werden? Wenn ja, wie wirkt sich das auf die Beziehung des Kindes zu seinen leiblichen Großeltern aus? Nun, manchmal werden die Stiefkinder von Sohn oder Tochter tatsächlich wie eigene Enkel aufgenommen, andere Male entsteht wenig Nähe. Laila brachte in ihre Ehe mit Arne den damals vierjährigen Tom mit. Später bekam Tom einen Halbbruder, den inzwischen fünfjährigen Jan. Laila ist Vollwaise. Toms Großeltern -175-
väterlicherseits wohnen eine halbe Fahrstunde, Arnés Eltern hingegen nur einen Steinwurf entfernt. Bei diesen sind die zwei Jungen häufig zu Besuch. Tom hat mir erzählt, daß Jans Oma nun auch seine Oma sei. Er wunderte sich über meine Frage, ob sie Unterschiede mache zwischen ihm und Jan. Nein, davon habe er nichts bemerkt! Anne wiederum brachte in die Ehe mit Theo einen zehnjährigen Sohn mit. Sie und Theo haben gemeinsam einen Sohn, den jetzt vier Jahre alten Jochen. Theos Mutter wohnt einige Minuten zu Fuß entfernt. Die Familie besucht die Oma oft, aber meist ohne den ältesten Sohn. In diesem Fall hat das Kind zur Stiefgroßmutter nicht dieselbe Beziehung wie zu einer leiblichen Großmutter - womöglich, weil es schon älter war, als die neue Familie gegründet wurde. Daß es nicht gerade leicht ist, herzlichen Kontakt mit älteren Stiefenkeln zu knüpfen, bekunden viele Stiefgroßeltern. Hier die Feststellung einer Betroffenen: »Man gewinnt am ehesten Kontakt mit den Kindern, denen man bereits die Windeln gewechselt hat. Vielleicht besteht zwischen Großeltern und dem leiblichen Enkelkind ein direkter Draht, der eine Tiefe und Fülle der Bindung ermöglicht, die sich nicht ersetzen läßt.« Darüber läßt sich streiten. Die einen sagen, Stiefgroßeltern könnten zum Stiefenkel eine ebenso gute Beziehung aufbauen wie zu einem leiblichen Enkelkind. Voraussetzung sei lediglich, daß sie mit dem Kind vom Säuglingsalter an in Verbindung stehen. Die anderen meinen, die wahre Großelternrolle sei auf die eigenen Nachkommen beschränkt, nicht zuletzt weil Stiefenkel bereits Großeltern haben. Fest steht die Tatsache, daß manche Stiefgroßeltern nur ihre eigenen Enkel lieben, gleich aus welchen Gründen. Andere sind offenherziger, nehmen freudig am Leben der neuen Familie teil und schließen alle Kinder in ihr Herz. Ich weiß von einer Großmutter, die bereitwillig die Stiefkinder ihres Sohnes betreut, ohne sich darum zu scheren, daß sie angeheiratete Enkel sind. Jede Familie findet ihre eigene Ordnung. In der Regel -176-
entstehen keine unlösbaren Konflikte, solange alle Beteiligten offen und ehrlich miteinander umgehen.
Ermessensfragen: Geschenke... Ebenso beschenken manche Stiefgroßeltern ausschließlich ihre leiblichen Enkelkinder, andere dagegen gleichwertig auch ihre Stiefenkel. Erlend blieb bei seinem Vater, als dieser eine zweite Ehe einging. Er hat eine Stiefschwester und nun auch zwei Halbbrüder. Die Eltern seiner Stiefmutter bemühen sich, die Geschwister gleich zu behandeln. Sie beschenken unterschiedslos alle vier Kinder, die Eltern von Erlends Mutter jedoch nur ihn allein. So bekommt Erlend mehr Geschenke als seine Geschwister, die bloß von zwei Großelternpaaren bedacht werden. Wie können Großeltern, die auf Gerechtigkeit Wert legen, dafür sorgen, daß sich kein Kind zurückgesetzt fühlt? Indem sie darauf achten, daß alle gleichwertige Geschenke erhalten? Oder indem sie den Kindern akzeptieren helfen, daß nun einmal jedes in einer besonderen Situation steckt? Hierfür gibt es keine feste Regel, sondern jeder muß wohlbedacht seinen Weg finden.
... Einladungen... Ein Familienfest steht an, eine Hochzeit zum Beispiel oder eine Konfirmation, und man will es mit der gesamten Familie feiern. Was tun, wenn die Großeltern geschieden sind und sich strikt weigern, ihre Ex-Ehepartner und deren neue Lebensgefährten zu treffen? Hier eine Geschichte mit Happy-End aus dem wahren Leben: Eine frischgebackene Mutter wollte unbedingt, daß an der Taufe ihre beiden Eltern und die zweite Frau ihres Vaters teilnahmen. Es war schon viele Jahre her, daß die Eltern die sehr schwierige Scheidung hinter sich gebracht hatten. Die Mutter lebte allein. Sie und ihre »Nachfolgerin« - die übrigens das Taufkleid genäht -177-
hatte - hatten sich nie kennengelernt. Die Kindsmutter meinte, die Zeit dafür sei überreif. Sie lud die Mutter sowie den Vater und dessen Frau zu sich nach Hause ein. Zum Glück kamen die drei recht gut miteinander aus. Bei der Taufe fanden sie dann den richtigen Tonfall, und seitdem sind alle drei engagierte Großeltern. Die Tauffeier hat eine Familie geeint. Ohne diesen Anstoß, so die Kindsmutter, hätten die drei sich bestimmt nie auf eine Begegnung eingelassen. Aber man dürfe ein solches Treffen niemandem ersparen: Übel gehe es nur aus, wenn einer dem Expartner noch nachtrauert - und das könne man nicht genau wissen, solange man die Probe aufs Exempel nicht macht.
... und Ferien Ferien, insbesondere die langen Sommerferien, können schon für eine »normale« Familie ein kniffliges Thema sein. Noch komplizierter wird es durch Scheidungen und erst recht, wenn man obendrein auf Stieffamilien und Stiefgeschwister beider Seiten Rücksicht nehmen muß: Wann sollen und können alle Geschwister beisammen sein? Wann bei ihren Zweitfamilien, wann bei den leiblichen Großeltern? Welche Kinder sollen zusammen sein? Welche Großmütter sollen welche Kinder betreuen? Wer soll wann welche Kinder zu sich nehmen? In solchen Fällen müssen die Sommerferien, aber auch die Oster- und Weihnachtsferien, rechtzeitig organisiert werden. Bei der Planung sollte die Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder im Vordergrund stehen.
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18 Großeltern als Pflegeeltern
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In allen Teilen der Welt gibt es Großeltern, die Elternaufgaben übernehmen. In Entwicklungsländern versorgt vielfach die Großmutter die Kinder berufstätiger Eltern. Verwaiste Kinder aus der Türkei finden bei Großeltern in Deutschland wieder ein Zuhause. In den USA wachsen 30-50 Prozent der Kinder bei ihren Großeltern auf. Dort wohnen mehr als drei Millionen Kinder mit den Großeltern unter einem Dach, und so manche amerikanische Großmutter hat den Beruf aufgegeben, um ihre Enkel zu betreuen. Inzwischen haben sich Vereinigungen etabliert, die sich für die Interessen von Großeltern einsetzen und entsprechende Kurse anbieten.
Omas als Tagesmütter Wir hören von Omas in Rußland, die sich tagsüber um ihre Enkel kümmern, und hören dasselbe über Großmütter in Albanien. In europäischen wie allen anderen Ländern der Welt werden zahllose Kleinkinder während der Arbeitszeit ihrer Eltern von Großeltern betreut, bevorzugt den Großmüttern. Oft gehen die Eltern aus dem Haus, ehe die Kinder aufgewacht sind, und kehren heim, wenn sie bereits schlafen. Es kann geschehen, daß sie ihre Eltern nur sonntags zu sehen bekommen. Auch Kinder im Vorschulalter werden im Alltag von ihren Omas versorgt. Etliche Großmütter springen also nicht nur gelegentlich als Babysitter ein, sondern tragen bis zum Schuleintritt oder gar noch länger die Hauptverantwortung für die Erziehung ihrer Enkelkinder.
Großeltern als Ersatzeltern In vielen Ländern legen Eltern die Kindererziehung komplett in die Hände der Großeltern. Ungezählte Haushalte dieser Erde müssen ohne Eltern auskommen, weil diese an Orten Geld verdienen, an die sie ihre Kinder nicht mitnehmen können. Eine aus Bosnien stammende junge Freundin von mir vermißt sehnlich ihre Großmutter. Da ihre Mutter arbeiten mußte, wuchs -180-
sie bis zum Eintritt in die Schule bei der Oma auf. Später verbrachte sie ihre Ferien dort. Ich kenne zwei norwegische Frauen, die nach der Scheidung der Eltern den Großeltern überlassen wurden. In beiden Fällen hatten die jungen Familien bei den Eltern der Mutter gewohnt. Mit der Scheidung zogen die Väter, kurz danach auch die Mütter aus und ließen ihre kleinen Töchter in der Obhut der Großeltern zurück. Aus den Mädchen sind inzwischen erwachsene Frauen geworden, und beide betrachten ihre Großeltern als ihre eigentlichen Eltern. Großeltern springen aus einer Vielzahl von Gründen ein, etwa wenn die Eltern schwer erkranken, wegen Alkohol- oder Drogenabhängigkeit ein unstetes Leben führen oder eine Haftstrafe verbüßen. Zum Teil überlassen die Eltern ihnen das Kindergeld und zahlen eventuell noch etwas dazu, um die Kosten für Essen, Kleidung und andere notwendige Ausgaben zu decken. Wären die Großeltern als Pflegeeltern ihrer Enkel offiziell anerkannt, würden sie ein festes Pflegegeld beziehen.
Für und wider: Großeltern als Pflegeeltern Die steigenden Lebenshaltungskosten machen es Großeltern zunehmend schwer, allein für die Enkel aufzukommen. Die Anerkennung als Pflegeeltern bringt zwei Vorteile: Erstens erhalten die Großeltern Unterhaltsgeld aus öffentlichen Mitteln, zweitens bleiben die Kinder bei Verwandten. Eine Unterbringung bei Pflegeeltern kann erfolgen, wenn Eltern ihre Unzulänglichkeit erkennen und das Kind freiwillig den Behörden übergeben oder wenn den Eltern das Sorgerecht entzogen wird. Im letzteren Fall sind z. B. in Norwegen die Behörden wenig gewillt, Großeltern das Sorgerecht zu übergeben. Ich weiß sogar von einer Mutter, die das Jugendamt bat, die Vormundschaft zu übernehmen und die Großeltern als Pflegeeltern einzusetzen, deren Kinder aber trotzdem einer anderen Familie zugewiesen wurden. -181-
Ob das Entziehen des Sorgerechts und Zuweisen an Pflegeeltern tatsächlich notwendig und sinnvoll ist, erscheint oftmals zweifelhaft. Denn es deutet vieles darauf hin, daß selbst in »schlechten« Elternhäusern starke Zuneigung besteht, die so manche Nachteile aufwiegen kann. Selbst wenn Kinder es bei ihren Eltern schwer haben, sind sie häufig zu Hause besser oder jedenfalls nicht schlechter aufgehoben als bei fremden Menschen.
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Gegen den Einsatz von Großeltern als Pflegeeltern führen Fachleute vornehmlich zwei Argumente ins Feld: Erstens könnten Großeltern in einen Loyalitätskonflikt zwischen ihren Enkeln und ihren Kindern geraten, zumal wenn ihr Verhältnis zu den letzteren ungeklärt ist. Diese Gefahr besteht in der Tat, läßt sich aber mildern, indem man den Großeltern hilft, an ihrer inneren Haltung zu arbeiten. Zweitens sei es fraglich, ob Eltern von Kindern, die auf die schiefe Bahn geraten sind, sich als Erzieher ihrer Enkel eignen. Dazu möchte ich bemerken, daß die Beziehung zu den Enkeln nicht zwangsläufig von den Spannungen geprägt ist, die das Verhältnis zu den eigenen Kindern belastet haben. Immerhin hatten die Großeltern Zeit, Lebenserfahrung zu sammeln. Grundsätzlich betrachte ich die Möglichkeit, bei leiblichen Verwandten aufwachsen zu dürfen, als ein kostbares Gut. Man sollte ihren Wert keinesfalls unterschätzen, entsprechende Fördermaßnahmen ergreifen und sehr viel bereitwilliger als bisher Großeltern als Pflegeeltern anerkennen.
Kampf um die Anerkennung als Pflegeeltern Daß sich Hartnäckigkeit durchaus auszahlt, wenn man es mit dem Amtsschimmel aufnehmen will, ist nichts Neues. Wie Beispiele belegen, lohnt sie sich auch beim Kampf um die Anerkennung als Pflegeeltern. Hier der Fall Siri: Siri lebte nach der Scheidung zusammen mit ihrer Tochter Elisabeth. Elisabeth war noch sehr jung, als sie schwanger wurde. Siri sorgte dafür, daß Elisabeth mit ihrem Freund vor und nach der Geburt beim Vater in Dänemark wohnen konnte. Als das Kind drei Monate alt war, kehrte Elisabeth zurück und ließ Siri das Baby versorgen. Ein halbes Jahr später rief die Jugendfürsorge Siri an, um ihr mitzuteilen, daß Elisabeth auf das Sorgerecht verzichtet hatte. Dem Sozialamt hatte Elisabeth erklärt, daß ihr Kind bei der Großmutter lebe, weil sie selbst sich nicht um es kümmern könne. Daraufhin hatte man, ohne die Verhältnisse zu prüfen, Elisabeth dazu gebracht, ein Papier zu -183-
unterzeichnen, das ihr das Sorgerecht entzog. Siri, die sich der Enkelin eng verbunden fühlte, legte dagegen Widerspruch ein und forderte ihre Anerkennung als Pflegemutter - vergeblich. Prompt machte Siri sich mit den Vorschriften vertraut und richtete ihr Zuhause wie verlangt ein. Ihr Lebensgefährte zog zu ihr und dokumentierte schriftlich seine Bereitschaft, als Vater für das Kind einzutreten. Damit waren die formellen Voraussetzungen erfüllt. Siri verdankt es ihrem unnachgiebigen Engagement, daß sie als Pflegemutter ihrer Enkelin anerkannt wurde. Sie empfiehlt allen Großeltern, es ebenso zu halten, wenn die Gefahr besteht, daß elterliches Sorgerecht entzogen wird.
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19 Adoptierte Enkelkinder
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Allein im Jahr 1996 wurden in Deutschland 7.420 Kinder adoptiert. Über die Hälfte von ihnen (3.978, davon 75 aus anderen Ländern) wurden von ihren Stiefeltern und rund 500 Kinder aus dem In- und Ausland von Verwandten adoptiert; 3.065 deutsche und 485 nichtdeutsche Kinder kamen zu ihnen unbekannten Adoptiveltern.
Adoption, ein gewöhnungsbedürftiger Schritt Neun von zehn Personen reagieren ablehnend auf die Nachricht, daß ihre Söhne oder Töchter Kinder adoptieren wollen, anstatt eigene Kinder in die Welt zu setzen. Manche sind geradezu geschockt von der Vorstellung, ein fremdes Kind in die Familie aufzunehmen. Eine Seniorin gibt offen zu: »Ich war außer mir, als ich hörte, daß Hans und Eise keine Kinder bekommen können. Denn das bedeutet, daß ich nie Enkel haben werde. Die beiden haben sich zur Adoption entschlossen, aber für mich ist ein Adoptivkind nicht dasselbe wie ein leibliches Enkelkind. Ich weiß wirklich nicht, ob ich es einmal gern haben und so annehmen kann, als wäre es mein Enkel.« Während die meisten sich allmählich mit dem Entschluß ihrer Kinder anfreunden, sträuben einige sich hartnäckig, ein Adoptivkind als Enkel anzunehmen. Mir kam folgender Fall zu Ohren: Weil er und seine Frau keine Kinder bekommen konnten, entschloß der älteste Sohn einer Bauernfamilie sich zur Adoption. Seine Eltern begehrten auf, als er sie davon unterrichtete. Sie drohten dem Sohn mit Enterbung, da sie ihren seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Erbbauernhof nicht auf andere übergehen lassen wollten. Das junge Paar aber hatte den Adoptionsantrag bereits gestellt. Nach der langen, nervenaufreibenden Zeit des Wartens und des Schriftverkehrs mit den Behörden wollte es vom eingeschlagenen Weg nicht -186-
abweichen, und so verzichtete der Sohn auf den Hof. Diesen übernahm ein jüngerer Bruder, der bereits Kinder hatte. Damit hatten die Großeltern durchgesetzt, daß die Erbfolge nicht unterbrochen wurde. Ich muß zugeben, daß ich sie verstehen kann. Denn auch meine Familie besitzt einen sehr alten (bis auf 1670 zurückdatierten) Erbhof. Ich weiß tatsächlich nicht, wie ich selbst mich in dieser Situation verhalten hätte. Nun aber zur Fortsetzung der Geschichte: Der älteste Sohn baute ein Haus und verließ den Hof. Das Adoptivkind, ein süßer kleiner Junge, eroberte mit seinem Charme alle Herzen. Auch die Großeltern entwickelten eine liebevolle Beziehung zu ihm. Wer weiß, womöglich hätten sie sich im Bewußtsein, daß er eines Tages den Hof übernehmen würde, reservierter verhalten. So aber konnten sie sich unbekümmert an dem Kleinen freuen. Er ist zwar nicht ihr leiblicher Enkel, aber der liebenswerte Fratz ist ihnen eng ans Herz gewachsen.
Es ist soweit: Das Kind trifft ein Haben die Eltern des Paares sich an den Gedanken einer Adoption gewöhnt, nehmen sie eifrig am Bemühen ihrer Kinder um die Anerkennung als Adoptiveltern teil. Dann heißt es voller Spannung warten, wann dem Paar welches Kind zugeteilt wird. Es ist für alle Beteiligten, auch für die werdenden Adoptivgroßeltern, eine Zeit der Vorbereitung auf die Aufnahme des Kindes. Wenn das Paar sein Kind endlich zu sich holen kann, scharren die Großeltern meist schon ungeduldig mit den Füßen. Doch sie sollten sich weiterhin etwas gedulden, denn: Sobald ein Kind das Licht der Welt erblickt, sucht es den Kontakt zur Mutter, deren Bewegungen und Stimme es im Mutterleib kennengelernt hat. Wird es schon während der Schwangerschaft zur Adoption freigegeben, trennt man es vielleicht unmittelbar nach der Geburt von der Mutter. Dann wird es von Menschen versorgt, deren Geruch, Bewegungen und Stimmen ihm fremd sind. Die Ankunft bei den Adoptiveltern -187-
bedeutet eine erneute Umstellung. Ein großes Freudenfest ist daher nicht der beste Empfang für ein Adoptivkind, gleich ob es aus dem In- oder Ausland kommt. Die meisten Adoptiveltern wissen dies. Damit nicht zu viele Eindrücke auf das Kind einstürmen, hüten sie es bis zur Eingewöhnung im Schoß der Kernfamilie. Die Anwesenheit von Großeltern beim Eintreffen des Kindes empfiehlt sich nur, wenn diese bei der täglichen Betreuung eine aktive Rolle spielen sollen.
Traumatisierte Adoptivkinder Ein ausländisches Adoptivkind hat oftmals physisch und psychisch sehr schmerzliche Erfahrungen durchgemacht. Es mag geistig träge und gänzlich desinteressiert an seiner Umgebung erscheinen. Vielleicht hat es sehr früh seine Mutter verloren, danach an vielen verschiedenen Orten gelebt und bereits mehrere Trennungen erfahren müssen. Es mag bleibende körperliche Schäden haben oder infolge von Unter- und Mangelernährung klapperdürre Arme und Beine und einen aufgetriebenen Bauch. Wie dem auch sei, selten ist es ein »Traumkind«, das die Adoptiveltern in Empfang nehmen. Viele verwirrende Eindrücke sind auf das Kind in einer Lebensphase eingeprasselt, in der es ein stabiles Umfeld mit einer überschaubaren Zahl vertrauter Bezugspersonen am dringendsten gebraucht hätte. Womöglich hat es erfahren, daß es niemandem vertrauen kann. Dies war der Fall bei einem Jungen, der in einem Kinderheim gelebt hatte, seit er vier Tage alt war. Er war zweieinhalb Jahre alt, als seine Adoptiveltern ihn in seinem Heimatland abholten: »Wir kamen überhaupt nicht an ihn heran. Er starrte bloß mit leerem Blick vor sich hin und verzog keine Miene, als wir ihn am Ohr zupften. Er sprach kein Wort - das Personal dachte, er sei stumm. Er konnte auch nicht kauen, sondern wurde immer noch mit der Flasche oder mit Suppe ernährt. Einen riesigen -188-
Bauch hatte er, sehr dünne Arme und Beine. Er hatte sich offenbar vollkommen abgekapselt, sozusagen als Schutzpanzer vor dem schmerzlichen Umhergeschubstwerden. « Solche Reaktionen zu verstehen und zu akzeptieren ist für Adoptiveltern nicht einfach - zumal sie voll froher Erwartung und Hoffnung sind. Im geschilderten Fall waren sie derart enttäuscht, daß sie ihren Entschluß zeitweise bereuten. Sie hatten jedoch keine Wahl mehr. Nach einiger Zeit hatte sich der Junge in ein offenes, fröhliches Kind verwandelt, und heute sagen die Eltern, er sei die größte Bereicherung ihres Lebens. Haben Adoptivkinder sich immer wieder von Menschen verlassen gefühlt, so fürchten sie natürlich, daß ihre neuen Bezugspersonen sie ebenfalls eines Tages allein lassen werden. Manche klammern sich deshalb krampfhaft an einen der beiden Elternteile, lassen ihn nicht aus den Augen und beginnen zu weinen, wenn sie ins Bett gebracht werden. Die auserwählte Person fühlt sich wie ein Gefangener und sehnt sich nach Ablösung. Es können Monate vergehen, bis das Kind auch den anderen Elternteil, die Großmuttter oder den Großvater an sich heranläßt. Stabile Verhältnisse mit ausreichend Ruhe, geregeltem Essen und Schlaf lassen es nach und nach die panische Angst vor dem Verlassenwerden verlieren. Dann können auch die Großeltern sich um das Kind kümmern und die Eltern als zuverlässige Bezugspersonen ergänzen. Dem Kind tut diese Geborgenheit unendlich wohl. Eines Tages wird es anfangen, darauf zu vertrauen, daß man es nicht mehr im Stich lassen wird, und wagen, daran zu glauben, daß es eine feste Bleibe hat. Dann endlich wird es entspannt das Beisammensein mit seinen neuen Eltern und Großeltern genießen.
Wo Großeltern besonders helfen können Großeltern haben Zeit und starke Arme für das verunsicherte, kontakt- und liebebedürftige Adoptivkind. Und das ist gut so. Denn so können sie dem kleinen Wesen die Fürsorge zukommen lassen, die es so verzweifelt braucht. -189-
Diese Fürsorge braucht das Kind auch und gerade, nachdem seine Anspannung sich gelegt hat: Oftmals brechen im Unterbewußtsein verschüttete bittere Erlebnisse nun, da das Kind stark genug ist, sich ihnen zu stellen, in Form von Alpträumen hervor. Hier können Großeltern, wenn sie Zeit und Geduld, Lebenserfahrung und Sensibilität mitbringen, äußerst wertvolle Hilfe leisten. Aktiv tun müssen sie wenig, lediglich verstehen, daß das Kind seine Erinnerungen bewältigen muß, und zulassen, daß es sich bei ihnen und den Eltern seiner schmerzlichen Gefühle entledigt. Irgendwann ist diese belastende Phase abgeschlossen. Dann muß das Kind seine Energien nicht mehr auf die Bewältigung der Vergangenheit verwenden, sondern kann den Blick nach vorne richten. Haben sie diesen Schritt gemacht, holen die meisten Adoptivkinder versäumte Entwicklungen sprunghaft nach, um sich schon bald kaum noch von Gleichaltrigen zu unterscheiden. Kommt nichts dazwischen, darf sich das Kind ganz normal des Lebens freuen - bis zur Pubertät: Die kann Adoptivkindern und ihren Eltern nämlich besonders heftig zusetzen. Wie andere Jugendliche begehren auch Adoptivkinder gegen die Eltern auf. Allerdings gilt es in ihrem Fall das zusätzliche Problem zu bewältigen, daß für Adoptiveltern und -kinder das Argument der Erbanlagen nicht greift. Im trotzigen Kampf um die Abnabelung und Suche nach der eigenen Identität brüskieren so manche Jugendliche ihre Adoptiveltern mit dem Argument: »Du bist ja nicht meine richtige Mutter! Du bist ja gar nicht mein Vater!« Ein Kind zu haben, das in der Pubertät steckt, ist ein schweres Los. Noch schwerer ist es, wenn es sich um ein adoptiertes Kind handelt. Ich habe von Adoptiveltern gehört, die sich wie Mäuse in einer Falle fühlten und sich zeitweilig fragten, ob es richtig war, ein Kind zu adoptieren. Auch viele adoptierte Kinder finden in der Pubertät eher Verständnis bei den Großeltern als bei den Eltern. Kornhaber führt die Aussage des 15jährigen Robert an: »Bei meinen Großeltern fühle ich mich wohl. Es ist -190-
seltsam: Ich habe das Gefühl, sie seien meine wirklichen Großeltern. Daran zweifle ich nie. Wenn ich auf meine Adoptiveltern sauer bin, dann möchte ich am liebsten meine wahren Eltern suchen. Aber es kommt mir nie in den Sinn, nach meinen leiblichen Großeltern zu suchen.« Jugendliche müssen nun einmal Abstand von den Eltern gewinnen. Das ist auch für sie nicht einfach - und es ist wie Balsam auf der Seele, Großeltern zu haben, denen man seine Sorgen und Sehnsüchte anvertrauen kann. Großeltern zu haben, die zuhören und verstehen. Großeltern zu haben, die sichere Häfen sind auf der turbulenten Seefahrt, die adoptierte Enkel auf dem Weg zum Erwachsenendasein zurücklegen müssen.
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EIN WORT ZUM SCHLUß Maxim Gorki hat über seine Großmutter geschrieben: »Bevor sie kam, war es, als ob ich schlief, von Nacht umhüllt. Sie aber weckte mich, führte mich hinaus ins Licht, verspann alles um mich her zu einem unversehrbaren Netz, verflocht alles ringsum zu buntem, farbenfrohem Spitzenwerk.« Gorkis bereits an früherer Stelle zitierte Worte bringen trefflich zum Ausdruck, welch unvergleichliche Bedeutung einer Großmutter (und genausogut einem Großvater) im Leben eines Enkels zukommen kann. Großeltern können Kinder fürwahr »erwecken«: sie an ihren individuellen Wesenskern heranführen und an den reichen Quell von menschlichen Qualitäten, die auf Entfaltung warten. Für die Großeltern ist der Kontakt mindestens ebenso wertvoll wie für die Enkel. Frei von Erziehungspflichten können sie das Zusammensein mit den Enkeln in vollen Zügen genießen. Gefühle erwachen aus ihrem Schlummer, und das Dasein bekommt wieder einen Sinn. Der Kontakt stellt sich fast von selbst her, solange die Kinder noch klein sind. Schwieriger mag es sein, die Nähe und das Vertrauen zu wahren, wenn die Enkel in die Schule kommen und noch schwieriger mit Beginn der Pubertät. Doch für zahlreiche Jugendliche bleiben die Großeltern eine emotionale Stütze. Zuweilen sind sie gar die einzigen Erwachsenen, mit denen die jugendlichen Rebellen ungezwungen diskutieren können. Dank ihrer Lebenserfahrung und Gelassenheit vermögen Großeltern Heranwachsenden den Halt zu bieten, der es ihnen erleichtert, ihren eigenen, unabhängigen Standpunkt zu finden. Andere Jugendliche holen sich bekanntlich lieber bei Gleichaltrigen Rat und wollen möglichst ohne Einmischung der älteren Generationen zurechtkommen. Heutzutage sind manche an Internetkontakten weitaus stärker interessiert als an der unmittelbaren Kommunikation mit Älteren. Sie leben, als wäre -192-
die Welt soeben erst erschaffen worden. Doch durch den Verzicht auf zwischenmenschliche Beziehungen zu und Gedankenaustausch mit alten Menschen laufen sie, die dereinst die Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen sollen, Gefahr, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Was können wir also heute dafür tun, damit sie morgen in der Lage sind, für uns zu sorgen? Ich meine, man muß das Vergangene kennen, um die Gegenwart sinnvoll zu gestalten. Großeltern tragen die Vergangenheit in sich und können den Enkeln davon erzählen. Alte und Junge erleben die Welt auf unterschiedliche Weise. Die Jungen achten vielleicht mehr auf Details, stellen wichtige Fragen und machen die Alten auf neue Probleme aufmerksam. Die Alten wiederum erkennen Tiefenschichten und innere Zusammenhänge, wo die Jungen nur das Äußere sehen. Indem junge Menschen ihre frisch gewonnenen Eindrücke mit der Weisheit und Erfahrung der Älteren paaren, stellen sie die Weichen für Erkenntnis, Toleranz und Sinnhaftigkeit. Gemeinsam können Alte und Junge Probleme der Gesellschaft von morgen klären und für uns alle bessere Daseinsbedingungen schaffen.
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