Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.472 � .472
Brian Elliot �
Ein Dämon läuft � Amok � 2 �
De...
17 downloads
604 Views
896KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.472 � .472
Brian Elliot �
Ein Dämon läuft � Amok � 2 �
Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet. Schon seit nahezu drei Stunden schüttete es wie aus Eimern. Die Scheibenwischer mühten sich ab, im Sekundenintervall für eine winzige Zone klarer Sicht zu sorgen. Pierre Seignol hockte vornübergebeugt da und umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Aus zusammengekniffenen Augen versuchte er, jenseits der Windschutzscheibe mehr als die beiden Scheinwerferkegel zu erkennen. Aber es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Er überlegte schon seit einigen Kilometern, ob er nicht besser den Wagen an den Straßenrand steuern und das Ende des sintflutartigen Regens abwarten sollte. Aber erstens kannte er die Strecke fast auswendig, und zweitens war es nicht mehr weit bis zu den Randbezirken von Paris. *** Dort gab es ein Bistro, das noch um diese Nachtzeit geöffnet hatte. Und dort war es angenehmer als hier im Wagen. Da würde er wesentlich besser auf das Ende des Sauwetters warten können. Bei Gelegenheiten wie dieser verfluchte Pierre seinen Job. Aber er war ehrlich genug, um einzusehen, daß er gut dafür bezahlt wurde und sehr viel Freizeit besaß. Und außerdem herrschte ja nicht immer so ein Weltuntergangswetter wie heute Nacht. Bei klarem Wetter war die Fahrt von Liancourt nach Paris nicht mehr als eine Spazierfahrt. Pierre Seignol transportierte für seinen Brötchengeber dreimal in der Woche Frischfleisch vom Schlachthof in Liancourt zu den neuen Markthallen der Millionenstadt. Meistens fuhren sie zu zweit, denn zu seinem Job gehörte auch das Ent-
laden des Lastwagens am Ziel. Doch ausgerechnet gestern hatte sich der Blinddarm seines Kollegen entschlossen, sich zu entzünden. Da ein Ersatzmann nicht so schnell zu bekommen war, hatte er sich heute Abend eben allein auf den Weg gemacht. Die Strecke hinter sich zu bringen, war kein Problem für ihn. Und beim Entladen würde ihm schon irgend jemand helfen. Seine Gedanken schweiften ab zu Jacqueline. Er war versucht, bei dem Gedanken an sie und ihre Zärtlichkeiten die Augen zu schließen, doch er unterließ es. Dafür schaltete er das Radio wieder an. Vielleicht bekam er jetzt einen vernünftigen Sender mit Musik rein. Vor einer halben Stunde hatte er das Gerät verärgert ausgeschaltet. Er hatte vor der Wahl zwischen Opernarien, einem politischen Kom3 �
mentar und einer Studiodiskussion zwischen Kriegsveteranen kapituliert. Jetzt aber war das Glück ihm hold. Aus dem Lautsprecher klang angenehme Tanzmusik; das Orchester Bert Kaempfert mit »Wonderland by night«. Er summte leise mit und spürte, wie die Müdigkeit allmählich wieder nachließ. Seine Laune besserte sich sogar etwas. Seine Gedanken kehrten zu Jacqueline zurück. Vier Monate lag es nun zurück, daß er sie kennen gelernt hatte. Sie hatten sich eines Nachts in den Markthallen getroffen und sich dabei nur angeschaut. Beim zweiten Treffen hatten sie dann ein paar Worte gewechselt; und von da an hatte so etwas wie ein stilles Einverständnis zwischen ihnen bestanden. Ohne viel Worte hatten sie zueinander gefunden. Sie war keine Schönheit im landläufigen Sinne, besaß dafür aber einen prächtigen gradlinigen Charakter. Und ihr ein wenig draller Körper war reichlich mit fraulichen Attributen ausgestattet, was er ganz besonders schätzte. Jacqueline wußte ganz genau, daß er sich doch nicht würde scheiden lassen, obwohl er wiederholt von seiner langweilig gewordenen Ehe und seiner ewig nörgelnden Frau gesprochen hatte. Ihm war dies auch bewußt. Oft genug schämte er sich auch des Gefühls, beide Frauen zu
betrügen. Doch wenn er dann wieder in Paris weilte, dann genoss er es ganz einfach, bei Jacqueline all das zu finden, was ihm in seiner Ehe versagt blieb. Jäh wurde er aus seinen angenehmen Gedanken gerissen. Sein Fuß sprang förmlich auf das Bremspedal. Die Bremsen kreischten durch die Nacht. Der schwere Wagen schlitterte noch einige Meter weit auf der nassen Fahrbahn, ehe er hielt. Pierre beugte sich noch weiter vor und spähte hinaus. Jetzt konnte er den kleinen Renault deutlich erkennen. Der Kleinwagen war wohl von der Straße abgekommen und stand nun in einer leichten Kurve neben dem Straßenrand vor einem Baum. Es war nicht zu erkennen, ob er dagegen gekracht oder kurz davor zum Stehen gekommen war. Pierre schob den ersten Gang wieder ein und fuhr langsam an. Als die Scheinwerfer den Wagen jetzt voll erfassten, konnte er erkennen, daß es tatsächlich zu einem Unfall gekommen war. Und er vermochte auch eine undeutliche Bewegung hinter den regennassen Scheiben auszumachen. Nur wenige Schritte hinter dem Wagen hielt Pierre erneut an. Er nahm den Gang raus und ließ die Handbremse einrasten. Dann starrte er überlegend durch die Windschutzscheibe hinaus. Da draußen hatte es einen Unfall 4 �
gegeben. Vielleicht war der Fahrer verletzt und wartete auf Hilfe. Daß er, Pierre, diese Hilfe auch leisten würde, das war selbstverständlich. Pierre war als immer hilfsbereiter und auch stets spontan helfender Mensch bei seinen Freunden und Kollegen bekannt. Was ihn aber jetzt zögern ließ, war der Gedanke, in den Regen hinaus zu müssen. Doch der Unglücksfahrer nahm ihm glücklicherweise die Entscheidung ab. * Die Fahrertür des Renault schwang auf. Eine dunkle Gestalt wurde sichtbar. Sie löste sich vom Wagen und hastete geduckt auf den Lkw zu. Pierre glaubte, erkennen zu können, daß die Gestalt ein Bein nachzog, war sich aber nicht sicher. Froh darüber, den Wagen nicht verlassen zu müssen, rutschte er herüber und öffnete die Beifahrertür. Er erschauerte kurz, als ein Windstoß Nässe und Kälte hereinwehte. Sein Blick fiel auf die dunkle Gestalt, die in diesem Augenblick neben ihm auftauchte. Er erkannte einen Farbigen, einen noch ziemlich jungen Burschen in Jeans und Lederjacke. Pierre rutschte zurück auf seinen Platz und bedeutete dem Neger durch eine Handbewegung einzusteigen. Der Bursche triefte bereits vor Nässe. Er
schüttelte sich kurz wie ein Hund, ehe er der Aufforderung folgte. Hastig schloß er die Tür und sperrte so Nässe und Kälte wieder aus. »Hallo«, sagte Pierre und musterte seinen Fahrgast ungeniert von der Seite. Er schätzte ihn auf höchstens Mitte Zwanzig. Seinem Aussehen nach mußte seine Wiege auf den Westindischen Inseln gestanden haben. Der Farbige nickte ihm lächelnd zu. Er zog seine Jacke fröstelnd vor der Brust zusammen und verschränkte die Arme. »Verdammtes Sauwetter«, stellte er dann seufzend fest. Pierre verstand ihn nicht und schaute ihn fragend an. Sein Fahrgast begriff schließlich und erklärte in gebrochenem Französisch, daß er kein Französisch spreche. Auf seine Frage antwortete Pierre, daß er sich durchaus leidlich in Englisch zu verständigen vermochte. Und so erfuhr er, während er den Wagen weiter durch Nacht und Regen steuerte, daß der junge Farbige Johnny hieß, von Jamaika stammte und sich auf einem Europatrip befand. Es mochte etwa eine Stunde her sein, daß er in der leichten Kurve von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet worden war. Seine Fahrt nach Paris hatte aus diesem Grunde ein vorübergehendes Ende an einem Baum gefunden. Der Wagen war hinüber, erklärte er. Aber er besaß Freunde in Paris, 5 �
mit deren Hilfe er das Wrack in den nächsten Tagen abzuschleppen gedachte. Er zeigte sich hocherfreut, daß der Franzose ebenfalls nach Paris fuhr. Pierre hingegen war froh, daß er für die letzten Kilometer Unterhaltung hatte. Und es bereitete ihm doch ein wenig Vergnügen, bei dieser Gelegenheit seine Kenntnisse der englischen Sprache aufzufrischen. So schien die Zeit bei angeregter Unterhaltung wie im Fluge zu vergehen. Bald schon wurden die Straßenlaternen zahlreicher; und das flache Land wich immer mehr vor den Häusern zurück. Sie hatten die ersten Randbezirke von Paris erreicht. Pierre bog bald darauf ab, um das Bistro anzusteuern. Der Regen hatte zwar nachgelassen, aber Pierre wollte jetzt eine Tasse Kaffee nicht missen. Auch sein Beifahrer zeigte sich nicht abgeneigt. Anschließend würde er die Fahrt zu den Markthallen fortsetzen. Dort würde er Johnny absetzen. Aber es wurde nichts daraus. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde war das kleine Bistro geschlossen. Fluchend fuhr Pierre weiter. »Ich fahre durch zum Markt«, erklärte er. »Es hat keinen Sinn, jetzt eine andere Kneipe zu suchen, die noch geöffnet hat. Kaffee können wir auch am Großmarkt bekommen. Von da aus kannst du dann sicher
weiter zu deinen Freunden gelangen.« Der Farbige nickte nur. Er war auf einmal reichlich schweigsam geworden. Hin und wieder warf er dem Fahrer einen raschen, prüfenden Seitenblick zu, ehe er scheinbar interessiert aus dem Fenster blickte. »Wie weit ist es noch?« »Die nächste Seitenstraße links rein, dann sind wir da«, entgegnete Pierre. Er konzentrierte sich auf den Verkehr, der hier in der Nähe des Großmarktes stärker wurde. Und so sah er nicht, wie sich der Gesichtsausdruck des Farbigen plötzlich veränderte. In den dunklen Augen loderte es auf. Ein harter, grausamer Zug legte sich über seine Züge. Erst als Johnny vor sich hinzumurmeln begann, wurde Pierre aufmerksam. Er sah zur Seite und erschrak. Sein Fahrgast hockte zusammengesunken auf dem Sitzpolster, hielt die Arme von sich gestreckt und starrte blicklos geradeaus. Dazu murmelte er eine Reihe unverständlicher Wörter. »He, was ist los? Johnny, ist dir nicht gut?« Aber er erhielt keine Antwort. Wie es schien, nahm der Farbige seine Worte überhaupt nicht wahr. Pierre hatte die Heizung im Wagen auf halbe Leistungsstärke eingestellt. Es war angenehm, aber nicht zu warm. Jetzt aber begann er 6 �
plötzlich zu schwitzen. Im Führerhaus war es auf einmal heiß geworden, als würde er in einer Sauna und nicht in einem Lieferwagen sitzen. Kopfschüttelnd stellte er fest, daß der Regler der Heizung immer noch auf halbe Kraft stand. Rasch zog er ihn bis auf Null herunter. Aber es schien noch heißer zu werden. Seine Augen begannen zu tränen. Er fuhr sich mit dem Jackenärmel über die Augen, ehe er sein Fahrzeug an den Straßenrand lenkte, auskuppelte und abbremste. Er zog die Handbremse an und kurbelte das Seitenfenster herunter. Tief sog er die kalte Nachtluft in die Lunge. Vorübergehend fühlte er sich besser, doch das Gefühl währte nicht lange. In seinem Kopf wurde ein Gong angeschlagen, dessen Dröhnen sich vibrierend durch seinen Körper fortpflanzte. Das Murmeln neben ihm war zu einem monotonen Singsang angeschwollen. Er riß den Kopf herum und erstarrte in der Bewegung. Die dunklen, funkelnden Augen waren nun auf ihn gerichtet. Sie bohrten sich förmlich in die seinen, drangen bis auf den Grund seiner Seele vor und rissen den Strom seiner Gedanken auseinander. Er kam nicht mehr dazu, seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen und eine Frage zu formulieren. Sein eigener Wille wurde innerhalb weniger Atemzüge aufgesogen,
als hätte er nie existiert. Als er wenige Minuten später den Wagen wieder in den Verkehrsfluß einreihte, da handelte er bereits nach einem fremden, unausgesprochenen Befehl. * Das Geräusch war nur leise, kaum hörbar. Und doch reichte es aus, um sie aus dem Schlaf aufschrecken zu lassen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, daß sie nicht mehr träumte, sondern wach war. Da war ein Geräusch gewesen, entsann sie sich. Gehörte es in ihren Traum oder war es dafür verantwortlich zu machen, daß sie aufgewacht war? Sie richtete sich ein wenig im Bett auf und lauschte mit geschlossenen Augen. Doch sie schien sich getäuscht zu haben. Bis auf das leichte, monotone Ticken der Uhr war nichts zu hören. Es war anscheinend noch tiefste Nacht, denn es war stockdunkel in ihrem Schlafzimmer. Trotzdem zog sie die Uhr auf ihrem Nachttisch zu sich heran, bis sie die Leuchtziffern deutlich erkennen konnte. 4 Uhr 26. Noch knapp zwei Stunden, dann würde der Wecker klingeln und das tägliche Zeremoniell einläuten. Es begann jeden Morgen mit dem Wecker, dem hastigen Frühstück und dem Gang zur Arbeit. Es gipfelte stets in dem heissersehnten Fei7 �
erabend und dem anschließenden Plauderstündchen mit ihren Freundinnen. Und es endete meistens damit, daß sie am späten Abend müde zu Bett ging. Heute jedoch würde ihr Tagesablauf anders sein. Die alltägliche Routine würde durch Pierre unterbrochen werden. Seit sie ihn kannte, sehnte sie die Tage, an denen er kam, herbei. Obwohl er dreimal in der Woche nach Paris kam, konnten sie sich nur einmal wöchentlich, hin und wieder auch zweimal in der Woche sehen. Früher hatte sie den Gedanken, einmal die Geliebte eines verheirateten Mannes zu sein, immer sehr weit von sich gewiesen. Ja, sie hatte sogar damals stets voller Verachtung auf eine ihrer Kolleginnen herabgesehen, nur weil diese ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hatte. Doch dann war ihr Pierre begegnet. Obwohl sie sich anfangs dagegen gesträubt hatte, mußte sie jedoch schnell ihre Meinung revidieren. Inzwischen war ihr klar, daß sie Pierre liebte. Klar war ihr aber auch, daß sie ihn sich wohl immer würde mit einer anderen, seiner Ehefrau, teilen müssen. Diese Vorstellung hatte sich tief in ihrem Innern festgesetzt und fraß an ihr. Trotzdem aber freute sie sich jedes Mal auf seinen Besuch. Sie wollte nichts anderes, als die wenigen Stunden des gemeinsamen
Glücks genießen. Pierre würde, wenn er seine Arbeit in den Markthallen, dem ehemaligen Bauch von Paris, rasch erledigen konnte, gegen 6 Uhr 30 kommen. Dann blieben ihnen noch drei Stunden, bis sie zur Arbeit mußte. Jacqueline Butenier drehte sich auf die andere Seite. Sie wollte noch ein wenig schlafen, um dann später das Frühstück für Pierre und sich zu machen. Aber da war plötzlich wieder das Geräusch. Es kam aus dem Korridor. Und es hörte sich an, als würde ein Schlüssel im Schloß herumgedreht werden. Tatsächlich vernahm sie, wie die Wohnungstür leise geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ihr Herz begann, in freudiger Erwartung rascher zu schlagen. Pierre! Das konnte nur er sein. In der vergangenen Woche hatte sie ihm einen Zweitschlüssel für ihre Wohnung gegeben. Und jetzt kam er früher als erwartet, um sie zu überraschen. Jacqueline griff schon nach ihrer Bettdecke, entschloss sich aber anders und ließ sich wieder zurücksinken. Sie beschloss, sich noch schlafend zu stellen, um zu sehen, wie Pierre darauf reagieren würde. Also schloß sie die Augen und versuchte, möglichst gleichmäßig zu atmen. Gleichzeitig spitzte sie die Ohren. Leise Schritte näherten sich der 8 �
Schlafzimmertür, verhielten einen Moment und entfernten sich dann wieder. Wenig später erklangen gedämpfte Geräusche aus dem Badezimmer. Und dann kamen die Schritte wieder näher. Die Tür wurde geöffnet. Jacqueline riskierte ein Auge und konnte die vagen Umrisse einer großen Gestalt im Türrahmen erkennen. Das war Pierre, daran konnte es keinen Zweifel geben. Er kam mit langsamen, lautlosen Schritten näher, bis er neben dem Bett stand. Stoff raschelte leise, als er sich über sie beugte. Sie schloß rasch das Auge wieder und stellte sich schlafend. Und dann zuckte sie doch zusammen, als seine Hand plötzlich ihre Wange berührte. Sie erschauerte unter seiner Berührung. »Komm, Pierre.« Er antwortete nicht. Dem Rascheln seiner Kleidung und seinem schwereren Atmen konnte sie aber entnehmen, daß er sich auszog. Sie lächelte. Pierre benötigte keine besondere Aufforderung, das wußte sie bereits. Schließlich hatte er es ihr oft genug gesagt, daß er ganz vernarrt in ihren Körper war. Sie selbst versuchte seit Jahren schon mit mehr oder weniger Erfolg, einige ihrer Meinung nach überflüssige Kilos loszuwerden. Aber ihr Ziel, ein Idealgewicht zu erreichen, war dank Pierre in weite Ferne
gerückt. Fand sie sich selbst zu mollig, so ließ Pierre keine Gelegenheit aus, ihr zu zeigen, daß er gerade das an ihr liebte. Plötzlich drang ein rhythmisches Klopfen an ihre Ohren. Es klang, als würde es aus dem Nebenzimmer kommen. Sie richtete sich lauschend auf. Das Klopfen wurde zu einer Art monotonen Melodie. »Pierre, was ist das? Wo kommt das her? Ist da noch jemand in der Wohnung?« »Nein, Cherie. Du täuschst dich. Das kommt aus dem Treppenhaus oder vom Nachbarn.« Eine seltsame Erregung hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie hatte nichts mit Pierre zu tun. So entging ihr auch, wie fremd und tonlos seine Stimme geklungen hatte. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem fremdartigen Rhythmus, den irgend jemand auf einer Trommel oder einem ähnlichen Instrument schlug. Jeder Schlag hallte in ihrem Kopf nach und trieb sie weiter von der Realität fort. Ihr wurde deshalb nicht bewußt, daß Pierre plötzlich völlig still geworden war. Er schien überhaupt nicht mehr da zu sein. Aber dann bewegte er sich raschelnd. Seine Hand tastete nach der Bettdecke, fand sie und schlug sie zur Seite. Die Matratze ächzte leise, als er zu ihr kam. 9 �
Die Bewegung der Matratze unter ihr riß sie aus ihrer Erstarrung. Ihr war, als würde sie zum zweiten Mal in dieser Nacht aus dem Schlaf erwachen. Ihre Hand tastete zum Nachttisch hinüber. Das Licht flammte auf, als sie den Knopf der Nachttischlampe drückte. Im gleichen Augenblick, als sich ihre Körper unter der Bettdecke berührten, drehte sie sich um. Der Schrei blieb ihr im Halse stecken. Das Grauen packte sie mit seinen unsichtbaren Klauen, schüttelte sie und schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte sich oft über die alten Gruselfilme im Fernsehen mit ihren ach so schrecklichen Monstern amüsiert. Doch jetzt, da sie Auge in Auge einem Ungeheuer gegenübersaß, das furchtbarer war als alles, was die Maskenbildner und Trickspezialisten bisher geschaffen hatten, da gefror ihr das Blut in den Adern. Zitternd hielt sie die Hände vor die Brust gepresst, als könne sie so den wilden Schlag ihres Herzens beruhigen. Vor Schrecken zur Salzsäule erstarrt, blickte sie direkt in die riesigen Insektenaugen, die aus Hunderten von Pupillen zu bestehen schienen. Als sich jetzt der Kopf des Ungeheuers etwas bewegte, brach sich das Licht der Nachttischlampe glitzernd in den Facettenaugen. Die Bettdecke bewegte sich raschelnd. Ihre Augen folgten unwillkürlich der Bewegung. Die
Decke wurde ein Stück zur Seite geschlagen und ein dunkler, behaarter Arm wurde sichtbar. Er war in der Mitte abgeknickt und endete in etwas, das sie an die Schere eines Hummers erinnerte. Nur war dies hier um ein Vielfaches größer. Aus weitaufgerissenen Augen starrte sie auf die Knochenschere. Langsam öffnete sie sich, um sich dann mit einem klickenden Geräusch zu schließen. Dabei näherte sie sich unaufhaltsam ihrem Gesicht. Sie wollte die Augen schließen, wollte den grauenhaften Anblick einfach ignorieren. Aber es gelang ihr nicht. Wie hypnotisiert hielt sie den Blick auf die monströse Klaue gerichtet. Als sie plötzlich auf sie zuschnellte und dabei aufschnappte, öffnete sich ihr Mund zum erlösenden Schrei. Doch zu spät. Der Hieb, der sie traf, ließ ihr nur noch Zeit zu einem röchelnden Laut. Dann kippte sie zur Seite auf das sich rasch rötende Leinen. Die nächsten Hiebe, die ihr junges Leben auslöschten, spürte sie schon nicht mehr. * London. Die ungünstige Wetterlage über Nordwesteuropa hatte dazu beigetragen, daß sich über der Millionenstadt an der Themse schon seit 10 �
Tagen eine Dunstglocke wölbte. Es wurde tagsüber nicht richtig hell. Ein schmutziggrauer Himmel spannte sich über der Stadt und sorgte zusammen mit dem an den Themseufern aufsteigenden Nebel für die Atmosphäre, die so typisch für London sein soll. Jedenfalls gehört für die Bewohner des Kontinents dieses Wetter und London zusammen. Fragt man dagegen einen Londoner, so erhält man bestimmt zur Antwort, daß das Wetter schon seit Jahren nicht mehr so schlecht gewesen ist. Die Touristen strömten in Scharen nach Soho rein, denn erst bei diesem Wetter wirkten die schmalen, düsteren Gassen mit ihren alten, geheimnisumrankten Häusern so richtig. Der Londoner aber zuckte die Achseln, knurrte sich aus zusammengebissenen Zähnen »keep smiling« und »take it easy« zu und würzte eventuell noch seinen Tee mit einem guten Schuß Rum. Ansonsten nahm er das Wetter eben wie es war. So auch die beiden Männer, die schweigend vor ihren dampfenden Teetassen hockten. Anscheinend hingen sie ihren Gedanken nach. Während der Jüngere in seine Teetasse starrte, als gäbe es auf deren Grund etwas Interessantes zu sehen, versuchte der andere wohl, mit seinen Blicken Löcher in die Zimmerwand zu bohren.
Draußen, in einem Nebenraum, läutete in diesem Augenblick das Telefon. Es riß beide Männer aus ihrem gedankenversunkenen Zustand. Ihre Blicke richteten sich auf das Telefon auf dem Schreibtisch. Sekunden später klingelte es. Der Weißhaarige griff danach und meldete sich. Er lauschte kurz, dann reichte er seinem Gegenüber den Hörer. »Für Sie, Tony. Der Inspektor ist dran.« Tony Wilkins nahm den Hörer entgegen. »Hallo, David. Was gibt's? Hat die Fahndung schon Erfolg gehabt?« Er trank seinen Tee in kleinen Schlucken, während er aufmerksam zuhörte. Dann, nach einer Weile, verabschiedete er sich und legte auf. »Immer noch nichts«, erklärte er achselzuckend. »Der Yard hat die Fahndung auf das gesamte Land ausgeweitet und auch Interpol eingeschaltet. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß er das Land längst verlassen hat. Für einen Mann mit seinen Fähigkeiten dürfte das überhaupt kein Problem sein. Ich hoffe nur, daß er nicht schon wieder nach Jamaika zurückgeflogen ist.« »Damit müssen wir sogar rechnen, Tony. Flanders ist tot und damit ist der alte Neger gerächt. Für Johnny Blaine gibt es damit keinen Grund 11 �
mehr, noch hier zu bleiben. Seine Band ist auch bereits aufgelöst worden. Wenn er wieder in seiner Heimat ist, dann werden wir ihm wohl oder übel folgen müssen. Ich werde keine Ruhe finden, ehe wir dem Burschen nicht das Handwerk gelegt haben. Hoffen wir, daß wir von Yaguth bald Informationen erhalten werden. Noch drei Stunden, dann können wir ihn wieder rufen.« »Ja, es ist zum aus der Haut fahren, wenn man hier stunden- und tagelang untätig rumsitzen muß und nur darauf wartet, daß etwas geschieht. Lange halte ich das nicht mehr aus. Ehrlich gesagt, bin ich von unserem Freund Yaguth ja sehr enttäuscht. Als wir ihn nach der Flucht von Johnny Blaine herbeiriefen, da hatte ich erwartet, daß er uns sofort weiterhelfen würde. Aber seine Informationen waren ja mehr als dürftig. Und jetzt sind schon sechs Tage vergangen, ohne daß wir mehr wissen.« »Hm, Tony, auch ich werde allmählich ungeduldig. Aber wir können Yaguth keinen Vorwurf machen. Er tut alles in seiner Macht stehende für uns, das können Sie mir glauben. Allerdings sind auch einem Dämon gewisse Grenzen gesetzt, so merkwürdig uns das auch erscheinen mag. Yaguth ist einfach nicht in der Lage, die Ausstrahlung des Gesuch-
ten zu orten, weil der sich so gut abschirmt. Erst dann, wenn Blaine seine magischen Kräfte anwendet, kann Yaguth dies feststellen und auch herausfinden, wo er sich in dem bestimmten Augenblick aufhält. Dann wird alles Weitere an uns liegen. Dumm an der Sache ist natürlich, daß wir ihn erst dann wieder aufspüren können, wenn er vielleicht wieder mordet. Das werden wir nicht verhindern können. Und natürlich ist es von Nachteil, daß sich Yaguth nicht von sich aus mit uns in Verbindung setzen kann. So kann es passieren, daß er Blaine schon vor drei Stunden ausfindig gemacht hat, ohne daß wir es wissen. Wir hätten ohnehin mit ihm vereinbaren sollen, daß wir ihn alle zwei oder höchstens drei, aber nicht sechs Stunden rufen. Dadurch können wir zuviel Zeit verlieren.« »Ja, das meine ich auch«, stimmte Tony zu. »Und ich denke, wir sollten keine Zeit mehr vergeuden. Er wird unsere Gründe sicher verstehen, wenn wir ihn jetzt schon rufen.« Er wartete die Antwort des Professors erst gar nicht ab, sondern hob den rechten Arm. Mit den Fingern machte er eine rasche schlenkernde Bewegung. Dazu sprach er deutlich die drei vorgeschriebenen Worte aus. Sie gehörten einer uralten Sprache an, die nie der Verständigung 12 �
zwischen Menschen gedient hatte. Einige Sekunden lang blieb es still im Raum, doch dann ertönte hinter ihm ein zischendes Geräusch, als würde aus einem Überdruckventil Dampf entweichen. Tony drehte sich langsam um und sah sich unvermittelt der Haushälterin des Professor gegenüber. Nur für Sekundenbruchteile war er überrascht. Dann konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Dämon, den er durch seine Beschwörung herbeigerufen hatte, war schon ein seltsames Wesen. Schon damals auf Jersey, als er zum ersten Mal mit einem leibhaftigen Dämon konfrontiert worden war, hatte er überrascht feststellen müssen, daß Yaguth absolut nicht der landläufigen Vorstellung von einem furchterweckenden Dämon entsprach. Yaguth war eigentlich mehr ein kauziger Typ, der zudem noch ein Faible für theatralische Auftritte besaß. Bisher war er ihm und dem Professor in immer anderer Gestalt erschienen. Dabei hatte er bewiesen, daß er über eine enorme Phantasie verfügte. Es war ein Kinderspiel für ihn, dank seiner magischen Fähigkeit jede gewünschte Gestalt anzunehmen. Tony fragte sich jedoch hin und wieder, ob der Dämon überhaupt einen Körper besaß. Er hielt es für durchaus möglich, daß ihnen Yaguth seine jeweilige Erschei-
nungsform nur vorgaukelte. Auf Fragen in dieser Richtung hatte Tony jedoch bisher nur ausweichende Antworten erhalten. Die Zeit sei noch nicht reif für ihn, war ihm erklärt worden. Irgendwann in naher Zukunft würde er Antworten auf all seine Fragen erhalten. Tony blieb nichts anderes übrig, als dies zu akzeptieren. Ebenso mußte er es als gegeben hinnehmen, daß ein »weißer« Dämon oder Magier niemals von sich aus mit Menschen in Verbindung treten oder in Handlungen eingreifen darf, sondern nur dann, wenn er durch eine Beschwörung gerufen wird. Dies sei laut Yaguth Teil eines uralten Gesetzes. Wer es brach, wurde damit automatisch zu einem Ausgestoßenen. Allerdings schien dieses ungeschriebene Gesetz nicht für die andere Seite zu gelten, denn die Anhänger der »Schwarzen Magie« übertraten es ständig. Tonys Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als der Dämon in Frauengestalt zu sprechen begann. Er begleitete seine Worte mit lebhaften Gesten, die so gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung passten. »Er ist aktiv geworden. Ich habe den Mann, der sich Johnny Blaine nennt, ausfindig machen können. Es ist nach eurer Zeit vor einer Stunde geschehen. Er hat ein neues Opfer gefunden in der Stadt, die ihr Paris 13 �
nennt. Für einen Augenblick habe ich seine Gedanken erkennen können. Es war merkwürdig. Er ist er selbst und ist es doch nicht. Mehr habe ich nicht feststellen können, denn der Kontakt brach sofort ab, als er mich bemerkte. Sucht ihn in jener Stadt. Er muß vernichtet werden, denn ich ahne viel Blut und Tod voraus. Er ist von dem krankhaften Zwang befallen, morden zu müssen. Ein Mann namens Pierre Seignol und eine Frau namens Jacqueline sowie die Rue Clemont werden euch den Weg weisen. Ruft mich wieder, wenn ihr mich braucht. Viel Glück.« * Jacques Roussac lehnte an der Theke und trank seinen Pernod in kleinen, genießerischen Schlucken. Er schien vollauf mit sich selbst und seinem Getränk beschäftigt zu sein. Die gelegentlichen Blicke, die er durch den Raum schickte, schienen mehr seiner Langeweile als einem Interesse zu entspringen. Tatsächlich aber hielt er Augen und Ohren offen. Seine wachsamen Sinne registrierten alles, was um ihn herum vorging. Kein lautes Wort und keine Bewegung entging ihm. Seine besondere Aufmerksamkeit galt den beiden Männern am Eck-
tisch. Sie hatten eine Flasche Rotwein und Gläser vor sich stehen, tranken aber kaum. Ihre Unterhaltung war dafür um so angeregter. Aber wer sie genauer beobachtete, konnte feststellen, daß sie ständig auf dem Sprung zu sein schienen. Jacques bedauerte es außerordentlich, daß an den Nebentischen kein Platz mehr frei war. Der Inhalt des Gespräches interessierte ihn ungemein. Sein Interesse war beruflicher Art, denn er war Kriminalbeamter. Im Auftrag von Interpol ermittelte er in einer Rauschgiftsache, die ihn bereits kreuz und quer durch Europa geführt hatte. Einer der beiden Männer am Tisch war Luigi Maccio, einer der Bosse des großen Rauschgiftringes. Sein Gesprächspartner, vom Aussehen her wohl aus dem Nahen Osten stammend, war vermutlich ein wichtiger Lieferant. Gegenstand ihrer Unterhaltung war sicher die Lieferung eines Postens Stoff. Ein junger Farbiger in Jeans und speckiger Lederjacke trat ein. Er warf einen prüfenden Blick in die Runde, ehe er auf die Theke zusteuerte. Vom Wirt nach seinen Wünschen befragt, bestellte er Rum mit Cola. Der Kommissar warf ihm einen raschen Blick zu und stufte ihn als harmlos ein. Aber plötzlich rastete in seinem Gehirn etwas ein. Sein fotografisches Gedächtnis meldete sich. 14 �
Vor seinen geistigen Augen entstand das Fahndungsfoto wieder, welches er erst vor wenigen Stunden in der Hand gehalten hatte. Es war ihm von den Kollegen bei der Sûreté überreicht worden, als er heute morgen dort eine Lagebesprechung abgehalten hatte. Ein Fall wie dieser konnte nicht nach Art der Film- und Fernsehkrimi-Helden von einem Einzelgänger erledigt werden. Hier bedurfte es des Einsatzes eines ganzen Polizeiapparates. Er schloß kurz die Augen und rief sich das Foto noch einmal komplett ins Gedächtnis zurück. Als er dann die Augen wieder öffnete, musterte er den jungen Neger flüchtig. Ja, er war es. Ein Zweifel war nicht möglich. Der Mann, der nur wenige Schritte von ihm entfernt seine »veredelte« Cola trank, war Johnny Blaine. Kommissar Roussac hatte sich am Morgen das Fahndungsfoto und den dazugehörenden Bericht nur flüchtig angesehen, da ihn der Rauschgiftfall völlig in Anspruch nahm. Doch der kurze Blick hatte ausgereicht, um das Bild und die Daten in seinem Gedächtnis zu speichern. So wußte er jetzt, daß der Mann wegen mehrerer grausiger Morde vom New Scotland Yard gesucht wurde. Der Yard hatte Interpol eingeschaltet, weil vermutet wurde, daß der Flüchtige die Insel bereits verlassen haben könnte. Nun, dies
war ja auch der Fall. Besonders eingeprägt hatte sich ihm dabei der Hinweis der britischen Kollegen, daß der flüchtige Mörder über starke hypnotische Kräfte verfüge und deshalb ganz besonders um Vorsicht gebeten werde. Sein erster Gedanke war, den Mann sofort dingfest zu machen. Aber er schob ihn rasch beiseite. Es paßte ihm absolut nicht ins Konzept, daß ausgerechnet hier und jetzt dieser Bursche auftauchen mußte. Gewiss, es war seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Leute wie diesen aus dem Verkehr zu ziehen und die Allgemeinheit vor ihm zu schützen. Aber wenn er ihn jetzt verhaftete, dann waren die beiden Oberdealer gewarnt. Dann würden sie wissen, daß sie beschattet wurden. Sie würden sich augenblicklich aus dem Staub machen. Das aber würde bedeuten, daß er und etliche Kollegen einige Monate umsonst gefahndet hatten. Und das konnte er nicht riskieren, dazu ging es um zuviel. Ihm stellte sich nun die Frage, welcher der beiden Fälle in diesem Moment Vorrang besaß. Da war auf der einen Seite ein wahrscheinlich geistesgestörter Massenmörder, der seine Opfer grausam verstümmelt hatte und der, solange er sich in Freiheit befand, jederzeit wieder zuschlagen würde. Auf der anderen 15 �
Seite waren da zwei Männer mit der hinter ihnen stehenden Organisation, welche durch ihre schmutzigen Geschäfte indirekt für den Tod vieler Menschen verantwortlich zu machen waren. Schließlich kam der Kommissar doch noch zu einer Lösung seines Problems. Er trank sein Glas aus, bestellte lautstark ein neues Getränk und verließ den Schankraum in Richtung Toiletten. Zum Glück befand sich dort gerade niemand. Rasch schlüpfte er in eine der Kabinen und zog die Tür hinter sich zu. Roussac zog sein Walkie-Talkie aus der Jackentasche, schaltete es ein und hielt es an die Lippen. »Hier K an A 1 und A 2. Bitte kommen!« Nachdem es leise im winzigen Lautsprecher geknackt hatte, wiederholte er den Ruf. »Hier A 1. Ich höre.« Wieder knackte es, dann meldete sich auch A 2. Flüchtig dachte der Kommissar daran, wie einfallslos doch die Codebezeichnungen waren. K galt für ihn, den Kommissar, und A 1 und 2 für seine beiden Assistenten. Aber was soll's, dachte er. Schließlich heiligt noch immer der Zweck die Mittel. »Ich befinde mich noch im Le Tartaran und beobachte die beiden Verdächtigen. Sobald sie das Bistro verlassen, heftet euch unauffällig an
ihre Fersen. Richtet euch darauf ein, daß sie sich trennen. Informiert sofort A 3 bis 8, daß sie sich auf Abruf bereithalten sollen. Vor wenigen Minuten hat ein farbiger Massenmörder das Bistro betreten. Der Bursche wird von Interpol gesucht. Ich werde ihn verhaften, sobald unsere beiden Vögel das Lokal verlassen haben. Sollte der Farbige früher gehen, werde ich ihm folgen und ihn draußen kassieren. Ende.« Nachdem seine Gesprächspartner ihre Instruktionen kurz bestätigt hatten, schaltete er ab und verstaute das handliche Gerät wieder. Dann betätigte er die Spülung und verließ die Toilette. Unwillkürlich atmete er erleichtert auf, als er beim Betreten des Schankraumes feststellte, daß sich noch alle Personen an ihren Plätzen befanden. * Noch vor gar nicht allzu langer Zeit war Cuba Libre sein Lieblingsgetränk gewesen, doch nun schmeckte es ihm absolut nicht. Trotzdem aber trank er sein Glas hastig aus und bestellte sofort Nachschub. Während er trank, versuchte er, sich zu erinnern. Aber wie auch schon an den vergangenen Tagen, so war dies auch heute ein vergebliches Unterfangen. 16 �
Es war nicht so, daß er unter totalem Gedächtnisverlust litt, sondern nur so, daß er sich nicht an Einzelheiten aus der zurückliegenden Zeit zu erinnern vermochte. Er wußte, wer er war und woher er stammte. Noch vor einigen Tagen hatte er sich zusammen mit Freunden in London aufgehalten. Sie hatten gemeinsam Reggae-Musik gemacht. Aber jetzt befand er sich allein in Paris. Aber warum? Was wollte er hier? Und was war in London geschehen? Hin und wieder waren kurzfristig unverständliche Bilder in seinem Geist entstanden. Blut und fürchterlich zugerichtete Gestalten hatte er flüchtig gesehen. Ebenso waren fremde Gesichter und Namen aufgetaucht, um dann wieder in den Tiefen seines Unterbewusstseins zu verschwinden. Was hatten Namen wie Flanders und McCorry zu bedeuten? Und wer waren der Weißhaarige, der wie ein Gelehrter aussah, und der Bursche mit der Kamera? Am meisten aber bedrückte ihn das Bild des riesigen, monströsen Insekts, das ihm immer wieder erschienen war. Johnny Blaine zermarterte sich das Gehirn auf der Suche nach einer Antwort auf all die drängenden Fragen; Doch es war hoffnungslos. Je mehr er sich darauf konzentrierte, um so mehr spürte er, wie ihm seine
Gedanken entglitten. Er konnte nur darauf hoffen, daß irgendwann sein Gedächtnis wieder exakt funktionieren würde. Er trank aus und ließ sich einen neuen Drink geben. Vielleicht, so dachte er in einem Anflug von Sarkasmus, wird es besser, wenn ich mir den Kragen einmal richtig vollschütte. Aber er kam nicht mehr dazu, seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Das Gefühl einer drohenden Gefahr stellte sich so unvermittelt und heftig ein, daß er beinahe zusammenzuckte. Er warf einen unauffälligen Blick in die Runde. Acht der neun Männer, die sich an diesem frühen Abend außer ihm im Lokal befanden, stufte er wenig später als unverdächtig ein. Der neunte Gast aber, der einige Schritte von ihm entfernt am Tresen lehnte und scheinbar gelangweilt seinen Pernod trank, schien ihn zu beobachten. Also ging von ihm die Gefahr aus. Johnny beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen. Nachdem er bezahlt hatte, verließ er das Bistro und trat auf die Straße hinaus. Ein Ziel besaß er nicht, also wandte er sich nach links. Als er nach etwa hundert Schritten vor der Auslage eines Ladens stehen blieb, zeigte ihm ein rascher Seitenblick, daß sich sein Verdacht bestätigte. Der Untersetzte mit der Cordhose und der abgewetzten Lederjacke 17 �
verließ gerade das Lokal. Er wandte sich in Johnnys Richtung, überquerte aber schon nach wenigen Schritten die Straße. Drüben vertiefte auch er sich in das Studium eines erleuchteten Schaufensters. Erst als Johnny weiterging, setzte auch er seinen Weg fort. Jetzt gab es für Johnny keinen Zweifel mehr. Er stand unter Beobachtung und wurde verfolgt. Aber warum? Und von wem? Es gab nur eine Möglichkeit, Antworten auf diese Fragen zu erhalten. Johnny bog in die nächste schmale Gasse zwischen zwei Häusern ein. Er befand sich hier in einem der ältesten Stadtteile von Paris. Die dunklen, heruntergekommenen Gebäude erinnerten ihn an die Slums seiner Heimat. Hier gab es nur wenige Straßenlaternen. So verschlang ihn auch schon nach wenigen Schritten die Finsternis. Die weichen Sohlen seiner Turnschuhe ermöglichten es ihm, fast völlig lautlos tiefer in die Gasse einzudringen. Rechter Hand erkannte er eine dunkle Toreinfahrt, in die er sofort einbog. Nur aus wenigen Fenstern drang schwaches Licht. Meistens hatte es den bekannten Blaustich, der darauf hinwies, daß die Leute vor dem Fernsehgerät hockten. Nach wenigen Schritten stieß er mit dem Knie gegen ein Hindernis. Er blieb stehen und tastete mit den
Fingern danach, da es hier bereits stockfinster war. Das Hindernis entpuppte sich als eine Mülltonne. Er wollte weitergehen, da schob sich plötzlich ein Schleier vor seine Augen. Für einen winzigen Moment schien er körperlos durch die Dunkelheit zu schweben. Als das Gefühl vorbei war, da war er nicht mehr Johnny Blaine. Ein Fremder hatte von seinem Geist Besitz ergriffen. Mit einer mechanischen Bewegung griff er in die Innentasche seiner Jacke und holte zwei Schlagzeugstöcke hervor. Er legte sie vor sich auf die Mülltonne. Dann streckte er die Arme von sich, schloß die Augen und begann, leise vor sich hin zu murmeln. Nach wenigen Sekunden schwieg er wieder. Die Augen hielt er jedoch geschlossen und lauschte in die Finsternis hinein. Als er leise, kaum hörbare Schritte vernahm, die sich näherten, da zog sich für Sekundenbruchteile ein triumphierendes Grinsen über sein Gesicht. Er nahm die Schlagzeugstöcke, drehte sie herum und begann, mit dem dickeren Ende auf den Müllbehälter zu klopfen. Die ersten Schläge schienen ziemlich wahllos zu erfolgen, doch schon bald wurde eine monotone Tonfolge erkennbar. Die Töne klangen dumpf durch die Nacht. Ein schwaches Echo brach sich an einer Mauer und verlor sich 18 �
in der Finsternis. Die Schritte aus der Gasse wurden von den Schlägen übertönt. Aber schon bald darauf wuchsen die dunklen Umrisse einer Gestalt vor dem Trommler in die Höhe. Sie blieb nur zwei Schritte vor ihm abwartend stehen. Einige Sekunden lang noch schwang er die Stöcke, dann beendete er sein Spiel; gerade, als in der Hauswand über ihm ein Fenster aufgerissen wurde. Eine schrille Stimme stieß üble Verwünschungen aus und verlangte die sofortige Einstellung des Lärms. Nachdem tatsächlich Stille eingekehrt war, wurde das Fenster krachend wieder geschlossen. Der Trommler ließ die Stöcke in der Jackentasche verschwinden. Er trat zu der reglosen Gestalt und hielt ihr die Hände kurz an die Stirn. Dabei murmelte er einige leise, unverständliche Worte. Von dem Mann kam keine Reaktion. Erst als er einige Fragen stellte, antwortete der untersetzte Mann in der Lederjacke mit monotoner Stimme. * Es war ein trüber, nasskalter Dezembertag. Doch den zahlreichen Touristen schien das nichts auszumachen. Paris war schließlich bei jedem Wetter eine Reise wert.
In kurzen Abständen kämpften sich Reisebusse aus diversen Ländern durch das Verkehrsgewühl um den Arc de Triomphe. Sie hielten kurz an, spieen ihre lebende Fracht aus und verschwanden wieder, um nach der vereinbarten Zeit zurückzukommen und sie wieder aufzunehmen. In Kompaniestärke strömten die Touristen die Champs-Elysees hinauf und hinunter, um dort so viel wie möglich von dem Zauber der vielbesungenen Weltstadt aufzuschnappen. Da Weihnachten, das Fest der Konsumgüter, vor der Tür stand, waren die Touristen diesmal nicht in der Überzahl. Eine sicher ebenso große Menge Einheimischer hastete von Geschäft zu Geschäft auf der Suche nach den letzten Geschenken. In diesem Gewühl fiel der untersetzte Mann in der grauen Cordhose und der abgetragenen Lederjacke nicht auf, obwohl er sich seltsam verhielt. Aber die Leute, die an ihm vorbeiströmten, waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihm mehr als nur einen flüchtigen Blick zu widmen. Den Blick starr geradeaus gerichtet, bewegte sich der Mann mit bedächtig wirkenden Schritten inmitten der dahinflutenden Menschenmenge vorwärts. Daß man ihn wegen seiner unangemessen langsamen Gangart ständig anrempelte, schien ihn überhaupt nicht zu stö19 �
ren. Ja, er schien es noch nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Plötzlich blieb er ruckartig stehen. Neben ihm, aus einer Passage heraus, erklang Bing Crosbys »White Christmas«, Doch im gleichen Moment mischten sich fremde, störende Töne mit den Weihnachtlichen Klängen. Der Mann wandte langsam den Kopf, bis sein Blick auf einen jungen Farbigen fiel, der in der Passage auf dem Boden hockte und auf einer primitiven Trommel schlug. Die Blicke der beiden Männer kreuzten sich. Einem aufmerksamen Beobachter wäre dabei aufgefallen, daß die Augen des Farbigen kurz aufglühten, als lodere in ihnen ein Feuer. Doch dann zeigte sein Blick wieder Desinteresse. Der Kopf des Untersetzten ruckte herum. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Nach zwei Schritten prallte er mit einer älteren Frau im Pelzmantel zusammen. Sie ließ ihre Einkaufstaschen fallen. Der Mann jedoch kümmerte sich nicht um sie. Unbeirrt ging er weiter. Einen Moment starrte die Frau auf ihre auf dem Boden verstreuten Utensilien, ehe sie den Mann mit einigen Schimpfworten bedachte, die so gar nicht zu ihrem damenhaften Äußeren passten. Dann aber war sie mit zwei schnellen Schritten bei dem Mann und packte ihn am Arm. »He, Sie Flegel, schauen Sie mal,
was Sie da angerichtet haben«, fauchte sie ihn an. »Wissen Sie nicht, wie Sie sich einer Dame gegenüber zu benehmen haben?« Ihre weiteren Worte gingen in einem schrillen Schrei unter, als der Mann handelte. Seine Hand schoß vor, ergriff ihre; und mit einem Ruck zog er sie zu sich heran. Ehe sie zu reagieren vermochte, griff er mit der anderen Hand zu. Ihm war nicht die geringste Anstrengung anzusehen, als er die zappelnde und schreiende Frau brutal zum Schweigen brachte. Den schlaffen Körper ließ er einfach zu Boden fallen. Als wäre nichts geschehen, setzte er wie ein Schlafwandler seinen Weg fort. Das Ganze hatte sich so schnell abgespielt, daß nur wenige der Passanten den Vorfall richtig mitbekommen hatten. Doch jetzt klang der erste Entsetzensschrei auf. Während jemand lauthals nach der Polizei rief, begnügten sich andere damit, um Hilfe zu rufen. Den Mann bekümmerte das wenig. Er schritt weiter, wobei er sich nicht der Mühe unterzog, den ihm entgegenkommenden Leuten auszuweichen. Ein junger Mann, den er anrempelte, revanchierte sich, indem er ihm den Ellenbogen in die Seite rammte. Doch der Untersetzte reagierte nicht und ging weiter. Zurufe der anderen Passanten, die 20 �
Zeuge des Mordes gewesen waren, machten den jungen Mann darauf aufmerksam, daß mit dem anderen etwas nicht stimmte. Er eilte ihm nach, packte ihn am Arm und riß ihn herum. »Rufen Sie die Polizei«, bat er einen neben ihm Stehenden. »Ich halte ihn solange fest, damit er kein Unheil mehr anrichtet.« Aber es blieb beim Wollen. Die Hand des Mannes verkrallte sich plötzlich in seiner Hemdbrust. Er fühlte sich auf einmal angehoben. Überrascht ließ er los. Mühelos hob ihn der Mann mit einer Hand etwa einen halben Meter vom Boden hoch, um ihn dann wuchtig wieder auf den Boden zu stellen. Der junge Mann überwand jedoch rasch seine Verwunderung. Sein rechter Arm schoß vor. Der wuchtige Handkantenhieb traf den Mörder seitlich am Hals. Der zuckte jedoch nicht einmal zusammen. Vielmehr griff er mit der anderen Hand zu. Entsetzensschreie wurden laut. Die Leute mussten mit ansehen, wie er den sich verzweifelt wehrenden Mann mit einer Hand würgte. Jetzt erst brach das Chaos aus. In den dichten Kreis der ihn umringenden Neugierigen kam Bewegung. Die Leute versuchten, die Flucht zu ergreifen. Aber viele der hinter ihnen Stehenden drängten ihrerseits nach vorne, um ja nichts zu verpas-
sen. Ihre Schreie schienen den Unheimlichen aufzuputschen. Wirkte er immer noch wie ein Schlafwandler, so bewegte er sich doch relativ rasch und zielstrebig. * Er hatte sich auf eine alte Frau gestürzt, als die Polizei endlich eintraf. Es war mit Schwierigkeiten verbunden gewesen, bis zum Schauplatz des blutigen Geschehens vorzudringen. Der Verkehr auf der ohnehin schon überlasteten Prachtstraße war mittlerweile völlig zusammengebrochen. Schaulustige säumten die Straße, wobei sie sich aber auf eine vorsichtige Distanz zu dem Amokläufer zurückgezogen hatten. Die, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befunden hatten, waren in die Geschäfte geeilt. Man hatte die Türen verschlossen und drückte sich jetzt von Innen die Nasen an den Scheiben platt, um ja keine Einzelheit zu versäumen. Nur die bedauernswerte alte Frau hatte zu spät die Gefahr erkannt, die sich ihr genähert hatte. Die Beamten, die jetzt am Tatort eintrafen, vermochten ihr nicht mehr zu helfen. Einen Moment standen sie wie erstarrt da, ehe sie sich von dem Anblick losreißen konnten. Zu sechst kreisten sie den Mörder 21 �
ein. Der blieb ruhig stehen und blickte ihnen entgegen. Seinem Blick und Gesichtsausdruck nach schien er seine Umwelt überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Er wirkte wie ein Schlafwandler, der mit offenen Augen durch die Gegend wanderte und dabei an jedem Hindernis seine Zerstörungswut ausließ. Der Mann reagierte nicht auf Zurufe. So warteten die Beamten nicht erst ab, bis er wieder aktiv wurde. Zwei von ihnen waren unbemerkt in seinen Rücken gelangt. Nun sprangen sie vor, hoben ihre Schlagstöcke und schlugen zu. Sie trafen ihn im Nacken und am Hinterkopf. Doch sie blieben verblüfft stehen. Ihre Schläge erzielten überhaupt keine Wirkung. Nicht einmal den Kopf schüttelte der Untersetzte. Vielmehr wandte er sich plötzlich um und griff zu. Obwohl seine Bewegungen alles andere als schnell waren, gelang es ihm, einen der beiden Flics an der Schulter zu packen. Mit einem harten Ruck riß er ihn zu sich heran. Der entsetzte Beamte hob noch seinen Schlagstock, aber eine Faust schloß sich mit so festem Griff um sein Handgelenk, daß er den Gummiknüppel aufschreiend losließ. Verzweifelt hieb er dem Gegner die linke Faust ins Gesicht, erzielte aber keine Wirkung damit. Auch sein Kollege, der ihm sofort zu Hilfe eilte, mußte feststellen, daß
der Unheimliche die Schläge nicht einmal zur Kenntnis nahm. Seine rechte Hand schoß vor und legte sich um den Nacken seines Opfers. Der Uniformierte zappelte und schlug um sich, bis er erschlaffte. Als der Unheimliche den reglosen Körper losließ, da sprangen die Beamten zurück. Ohne daß Befehle oder Kommandos erforderlich waren, zückten sie ihre Schusswaffen und eröffneten das Feuer auf den Berserker. Alle Schüsse trafen, doch keiner fällte den Mann. Entsetzt konnten sie aus nächster Nähe erkennen, wie die Projektile im Körper einschlugen. Nur wenig Blut trat aus den Einschusslöchern aus. Bei einem Streifschuss am Hals war zu sehen, daß das Blut fast augenblicklich gerann. Der Amokläufer wankte nicht. Kein Laut entrang sich seinen Lippen. Er drehte sich herum und marschierte unbeirrt auf einen der feuernden Beamten zu. Der ließ schreckensbleich seine leergeschossene Waffe sinken und taumelte zurück. Seine Kollegen gaben noch ein paar Schüsse ab, doch auch sie vermochten den Vormarsch nicht zu stoppen. Den Beamten blieb nur noch die Flucht. Ihre Waffen waren leergeschossen. Da sie nicht auf einen derartigen Fall vorbereitet waren, hatten sie keine Ersatzmagazine bei sich. Die befanden sich in ihren 22 �
Fahrzeugen. Während sie zu ihren Streifenwagen rannten, erschien ein Kamerateam des Fernsehens auf der Bildfläche. Sie hatten in der Nähe gefilmt und waren, als die ersten Schüsse gefallen waren, sofort herbeigeeilt. Sie kamen gerade zurecht, um den zweiten Teil des Dramas auf Zelluloid zu bannen. Hastig versorgten sich die Beamten mit neuer Munition und luden ihre Waffen nach. Die bereits über Funk angeforderte Verstärkung mußte jeden Augenblick eintreffen. Sie würden Maschinenpistolen mitbringen. Die Beamten hofften jedoch, daß das Problem bis dahin gelöst sein würde. Wieder eröffneten sie das Feuer aus nächster Nähe. Jetzt aber gingen sie zielbewusster vor. Auf allen vieren bewegte der Fremde sich weiter auf die Beamten zu. Es war, als würde ihn ein geheimnisvoller Instinkt leiten. Die Passanten in den Geschäften und auf der Straße glaubten sich als Zuschauer bei Filmaufnahmen. Hier schien ein Gruselfilm gedreht zu werden. Aber auch die Naivsten unter ihnen konnten erkennen, daß dies hier grausame, fürchterliche Realität war. Was war das nur für ein Mensch? War es überhaupt ein Mensch? Das waren die Fragen, die die Schaulustigen bewegten.
Einer der Beamten setzte schließlich einen Schluss-Strich unter das Drama. Minutenlang herrschte Stille, dann klang Stimmengewirr auf; leise zuerst, doch dann wie eine Lawine zu größerer Lautstärke anwachsend. Die Schaulustigen kamen wie Ratten aus ihren Löchern hervor. Nachdem die Gefahr gebannt war, brandeten sie heran, um ihre Sensationsgier zu befriedigen. Es galt, wenigstens einen Blick aus nächster Nähe auf den reglosen Körper des Amokläufers zu werfen. * An einem Kiosk im Flughafen erstand Tony Wilkins einen Stadtplan von Paris. Während er und der Professor auf den Zubringerbus zur Stadt warteten, entfalteten sie den Plan. Sie fanden die Rue Clemont in der Innenstadt verzeichnet, nicht weit vom neuen Großmarkt entfernt. Wenig später verließen sie den Bus am Place de la Concorde. Sie nahmen sich ein Taxi und ließen sich vom Fahrer ein Hotel empfehlen. Dort angelangt, erledigten sie die Formalitäten und deponierten ihr spärliches Gepäck in den Zimmern. Da sie sehr früh abgereist waren, beschlossen sie, zuerst das ausgefallene Frühstück nachzuholen. Professor Fitzpatrick, der bereits einige Male in Paris gewesen war, erin23 �
nerte sich an ein in der Nähe gelegenes Cafe, in dem auch ein britisches Frühstück serviert wurde. Während sie den ausgezeichneten Tee genossen, besprachen sie ihre weiteren Pläne. »Suchen wir zuerst diesen Pierre Seignol, von dem Yaguth sprach«, schlug Tony vor. »Wenn er in dieser Rue Clemont wohnt, dürfte das kein Problem sein. Dann brauchen wir nur noch festzustellen, in welcher Verbindung er zu Johnny Blaine steht. Ich hoffe nur, daß er nicht bereits sein Opfer geworden ist.« »Damit müssen wir rechnen«, entgegnete der Professor. »Die Tatsache, daß Yaguth ihn hier aufgespürt hat, zeigt, daß er wieder aktiv geworden ist. Ich habe so ein ungutes Gefühl, als ob wir wieder zu spät gekommen sind. Wir hätten doch schon heute Nacht aufbrechen sollen. So haben wir wahrscheinlich wertvolle Zeit vergeudet.« »Sie sollten ein wenig mehr zugreifen, Professor«, schlug Tony grinsend vor. »Ich glaube, Ihr ungutes Gefühl stammt allein aus der Magengegend. Wenn ich zum Frühstück auch nur Tee zu mir nehmen würde, dann würde ich längst drei Fuß tief unter der Erde wohnen. Stärken sie sich erst einmal, dann werden wir weitersehen. Aber Spaß beiseite; ich fürchte, Sie haben recht. Johnny Blaine dürfte mit Sicherheit auch hier wieder
Unheil angerichtet haben. Ich frage mich nur, was er überhaupt damit bezweckt, wahllos Leute umzubringen. Die ganze Geschichte erscheint überhaupt sehr unsinnig. Daß er den Tod seines Großvaters gerächt und dafür Flanders umgebracht hat, verstehe ich ja noch. Aber warum auf so eine mysteriöse Art und Weise? Und warum die anderen Morde? Dafür kann es überhaupt kein Motiv geben.« Fitzpatrick hatte Tonys Rat befolgt und zum Toast gegriffen. Jetzt kaute er seelenruhig und blickte sein Gegenüber nur nachdenklich an. Erst als er die Scheibe vertilgt hatte und zur nächsten griff, bequemte er sich zu einer Antwort. »Es gibt momentan nur eine Erklärung für Johnny Blaines Verhalten. Ich habe bereits zwischendurch mal mit Yaguth darüber gesprochen. Seine Informationen sind zwar nach wie vor recht dürftig, aber es läßt sich daraus erkennen, daß Blaine gar nicht unser eigentlicher Gegner ist. Er scheint nur das Werkzeug eines anderen zu sein. Und dieser Jemand verfügt über immense Fähigkeiten. Um seine Identität feststellen zu können, müssen wir aber auf jeden Fall Blaine stellen und unschädlich machen. Dann erst werden wir wissen, wessen Willen ihn lenkt.« *
24 �
Der Mann, von dem in diesem Augenblick die Rede war, bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, die die Champs-Elysees hinunterströmte. Seine Augen funkelten; und ein bösartiges, triumphierendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er war zufrieden mit sich. Sein Experiment war gelungen. Bald schon würde er wieder über all seine Kräfte verfügen. All das, was in den vergangenen Jahrhunderten in Vergessenheit geraten war, tauchte allmählich wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins empor. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er wieder so mächtig und gefürchtet sein wie damals. Dann würde er in der Lage sein, jene aufzuspüren, die dafür verantwortlich waren, daß man ihn damals vor unzähligen Generationen in eine Falle gelockt und ihm die Erinnerung geraubt hatte. Jahrhundertelang hatte er als normaler Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten leben müssen. Sein Leben war ein Dahinvegetieren gewesen. Winzige, nicht fassbare Fragmente seiner verlorenen Erinnerung hatten zu permanenten Alpträumen geführt. Erst im Augenblick seines körperlichen Todes war er sich wieder bewußt geworden, was er einstmals gewesen war – ein mächtiger, gefürchteter Magier. Es war ihm
gelungen, seinen Geist in den von Johnny Blaine zu transferieren. Allmählich hatte er den menschlichen Geist beeinflussen können. Jetzt besaß er die völlige Kontrolle über ihn. Es gab keinen Johnny Blaine mehr, der einmal einer seiner menschlichen Abkömmlinge gewesen war. Er war dem Mann, der seinen Tod verursacht hatte, von Jamaika nach London gefolgt. Dort hatte er blutige Rache genommen. Gleichzeitig hatte er damit begonnen, das Potential seiner früheren Kräfte und Fähigkeiten zu erforschen und sich nutzbar zu machen. Dies stand nun fast vor dem Abschluss. Bald schon würde er wieder so mächtig wie einst sein. Dann würde sein Rachefeldzug beginnen. Jene weißen Magier, die ihn damals bezwungen hatten, würden seinen Zorn zu spüren bekommen. Schon jetzt erfüllte ihn eine unbändige Freude bei dem Gedanken an seine Rache. Der junge Farbige setzte unbeirrt seinen Weg fort. Er kümmerte sich nicht um die Menschen, die in die Gegenrichtung eilten. Sie alle waren begierig darauf, noch etwas von dem Drama mitzubekommen, welches er vorhin inszeniert hatte. Weit hinter ihm waren erst vor wenigen Minuten die letzten Schüsse verklungen. Als er den Arc de Triomphe passiert hatte, winkte er sich ein Taxi 25 �
heran. Er ließ sich in den Sitz fallen und nannte dem Fahrer sein Ziel. Während sich der klapprige Citroen durch das Verkehrsgewühl kämpfte, starrte er angestrengt nach draußen. Für den Taxifahrer und jeden Passanten wirkte er wie jemand, der zum ersten Mal hier war und aufmerksam das Straßenbild in sich aufnahm. Tatsächlich aber glitten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Zehn Tage waren inzwischen vergangen, seit er aus London geflohen war. Zu jener Zeit hatte er erst über einen Teil seiner Kräfte verfügen können. Damals hatte er Flanders zu einem weiteren Test benutzen wollen. Aber zwei Männer waren ihm dabei in die Quere gekommen. Der eine hieß Fitzpatrick und war ein Bekannter von Flanders. Den Namen seines Begleiters hatte er nicht feststellen können. Nachdem Flanders zum Insektenmonster geworden war, hatte er die beiden Männer attackiert. Doch es hatte sich herausgestellt, daß die beiden ebenfalls über magische Kräfte verfügten. Sie hatten sich damit das Monster vom Hals gehalten. Als sie dann zum Angriff auf ihn übergegangen waren, da war er verwirrt gewesen und geflohen. Vorher aber hatte er noch für den Tod von Flanders gesorgt. Damals vor zehn Tagen hatte er
sich noch in einer Phase der Unsicherheit befunden. Sein Geist und der von Johnny Blaine hatten erbittert um die Vorherrschaft über den Körper gerungen. Seine Fähigkeiten hatten sich ihm nur zögernd offenbart. So war er geflohen, statt sich zum Kampf zu stellen. Er hatte England verlassen und war aufs Geratewohl nach Frankreich gelangt. Von hier aus beabsichtigte er nun, da er fast wieder über seine volle Macht verfügte, in die Karibik zurückzukehren, um dort nach seinen Feinden von einst zu forschen. Aber jetzt beschloss er, seine Pläne zu ändern. Die beiden Männer konnten irgendwann zu einer Gefahr für ihn werden. Dazu aber wollte er es nicht mehr kommen lassen. Fitzpatrick und sein Begleiter mussten sterben! * Die Rue Clemont war eine kleine unbedeutende Nebenstraße, etwa zehn Gehminuten von dem Ort entfernt, an dem sich früher einmal der berühmte »Bauch von Paris« befunden hatte. Hier wohnten anscheinend überwiegend Leute aus den unteren sozialen Schichten. Die meisten Häuser warteten sicher schon seit Jahren auf eine Renovierung. Aber wahrscheinlich mangelte es an den nötigen Mitteln oder am 26 �
Interesse. Tony und der Professor hatten die Metro ganz in der Nähe verlassen und die Rue Clemont zu Fuß erreicht. Nun trennten sie sich, um jeder eine Straßenseite abzusuchen. Ihr Wissen war recht dürftig; und sie konnten nur hoffen, daß das Glück ihnen hold sein würde. Vom Dämon Yaguth hatten sie nur die Namen Pierre Seignol, Jacqueline und Rue Clemont erhalten. Sie wussten nicht einmal, ob es zwischen diesen einen Zusammenhang gab. Zwei Stunden waren vergangen, als sie die Suche ergebnislos abbrachen. Sie hatten sämtliche Haustüren inspiziert. Nur einmal war der Name Seignol an einer Klingel zu lesen gewesen. Doch die Hoffnung des Professors hatte sich nicht erfüllt. Die dort wohnende allein stehende Frau besaß keinen Verwandten namens Pierre. Darüber hinaus kannte sie auch niemanden gleichen Namens in dieser Straße. Sie trafen sich am Ende der Straße. Während Tony nur mit den Achseln zuckte, begnügte sich der Professor mit einem leichten Kopfschütteln. »Also Fehlanzeige«, resümierte Tony. »Was nun, das ist die Frage. Ein Königreich für eine Idee.« »Ein ganzes Königreich ist mir zuviel. Aber ein Glas Wein würde mir schon reichen, Tony. Ich würde
vorschlagen, daß wir uns in jenes Bistro dort hinten begeben. Gewöhnlich kennen Wirte eine ganze Menge Leute aus der näheren Umgebung. Vielleicht kann uns der Wirt weiterhelfen.« Tony stimmte dem Professor begeistert zu. Allerdings war es nicht allein die Möglichkeit, dort einen Hinweis zu erhalten, sondern auch die Tatsache, daß er großen Appetit auf ein Glas Tee mit Rum verspürte. Das Wetter war nämlich recht scheußlich. Tonys Schulfranzösisch reichte gerade aus, um dem Wirt klarzumachen, was sie zu trinken wünschten. Das Weitere überließ er seinem Begleiter, der die Sprache fast perfekt beherrschte. Als die bestellten Getränke kamen, wandte sich der Professor an den Wirt. »Verzeihen Sie, Monsieur. Wir kommen aus England und wollen hier einen Bekannten besuchen. Leider wissen wir nur seinen Namen und daß er hier in der Straße wohnen soll. Da er uns seine Hausnummer nicht mitgeteilt hat und auch nicht im Telefonverzeichnis steht, suchen wir uns jetzt die Hacken nach ihm ab. Vielleicht kennen Sie ihn. Er heißt Pierre Seignol.« Man sah dem Wirt an, daß er intensiv nachdachte. Aber nach wenigen Sekunden schon schüttelte 27 �
er verneinend den Kopf. »Tut mir leid. Ich lebe schon fast seit 30 Jahren in dieser Straße. Aber den Namen habe ich hier noch nie gehört. Es gibt da nur in Nr. 87 eine Johanna Seignolle. Die ist aber allein stehend und hat keine Verwandten mehr. Nein, ich glaube nicht, daß der hier wohnt. Wissen Sie, dies hier ist ein Viertel, in dem sich in den letzten Jahren kaum etwas verändert hat. Aber warten Sie mal, ich werde den alten Gustave fragen. Der kennt hier wirklich jeden.« Er schritt zu einem der Tische hinüber und beugte sich zu einem kahlköpfigen Greis hinab. Der Alte hockte vornübergesunken am Tisch, das Glas mit Rotwein vor sich mit der Hand umklammernd, als fürchte er, es würde ihm jemand wegnehmen. Er lauschte, dann überlegte er eine geraume Weile, ehe er den Kopf schüttelte. »Nein«, verkündete der Wirt nur, als er zu ihnen zurückkam. »Kennen Sie vielleicht eine Jacqueline?« versuchte es der Professor erneut. »Sie ist wahrscheinlich die Freundin von Pierre.« »Nun, es gibt hier in unserer Straße bestimmt 20 Jacquelines«, machte der Wirt jedoch seine Hoffnungen zunichte. »Da kann ich Ihnen jedes Alter und jedes Kaliber bieten. Aber versuchen Sie Ihr Glück doch mal in der nächsten Polizeista-
tion. Sie finden sie in der nächsten Querstraße auf der linken Seite. Vielleicht…« Von draußen klang das auf- und abschwellende Geheul einer Sirene herein und unterbrach ihn. Er verließ seinen Platz hinter dem Tresen und eilte zum Fenster. »Ein Krankenwagen und die Polizei«, verkündete er wenig später lauthals. »Sie halten vor Nr. 44.« Er kam zu den beiden Engländern zurück. »Dort wohnt unter anderem Jacqueline Butenier. Sie ist etwa Mitte Dreißig und arbeitet bei einer Großhandlung für Fleisch. Man munkelt, daß sie doch noch einen Freund gefunden hat, nachdem es jahrelang so aussah, als würde sie als Jungfer enden.« Er wunderte sich über den Blick, den sich seine beiden Gäste zuwarfen, ehe der Jüngere einen Zehnfranc-Schein auf die Theke knallte. Kopfschüttelnd sah er ihnen nach, wie sie im Laufschritt sein Lokal verließen. * Als sie sich dem bewussten Haus näherten, hatten sich bereits gut zwei Dutzend Schaulustige eingefunden. Sie belagerten die Flics, die eine provisorische Absperrung vor der Haustür bildeten. 28 �
Tony und der Professor mischten sich unter die Menge. Sie spitzten die Ohren, doch aus den Gesprächsfetzen, die sie aufschnappten, konnten sie heraushören, daß offenbar niemand wußte, was in dem Haus geschehen war. Während Tony seine Pocketkamera zückte und einige Aufnahmen machte, sah sich der Professor aufmerksam um. Sein Blick fiel schließlich auf eine junge Frau. Sie hockte hinter dem Steuer ihres am Straßenrand geparkten Kleinwagens. Irgend etwas an ihrer Haltung und ihrem Blick ließ ihn aufmerksam werden. Er gab Tony einen Wink und schlenderte gemächlich zu dem Wagen hin. Erst nachdem er gegen die Seitenscheibe geklopft hatte, reagierte die Frau. Sie mochte etwa Mitte 20 sein. Ihr apartes Gesicht wurde von einer dunkelblonden Mähne umrahmt. Gerötete Augen wiesen darauf hin, daß sie geweint hatte. Der Professor nickte ihr zu und bedachte sie mit einem aufmunternden Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen, Mademoiselle? Ich habe den Eindruck, daß Sie etwas sehr bedrückt.« Die junge Französin sah ihn einen Moment lang zögernd an. »Jacqueline ist tot«, murmelte sie dann; und erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Fitzpatrick beweis, daß er ein ech-
ter Gentleman war. Er reichte ihr ein Papiertaschentuch und wartete geduldig ab, bis der Tränenstrom versiegt war und die Spuren notdürftig beseitigt waren. »Meinen Sie etwa Jacqueline Butenier?« erkundigte er sich mit leiser Stimme. Sie nickte nur. »Woher wissen Sie denn, daß sie tot ist?« »Sie ist eine Arbeitskollegin von mir. Gestern ist sie nicht zur Arbeit gekommen. Da wir auch heute nichts von ihr gehört haben, sind meine Kollegin Maria und ich zu ihr gefahren. Wir wollten nachsehen, ob sie erkrankt ist. Maria ist raufgegangen. Ich habe noch Zigaretten besorgt und wollte nachkommen. Aber da kam mir Maria auch schon völlig aufgelöst entgegen. Sie hat sie gefunden. Es muß schrecklich gewesen sein.« »Ist sie umgebracht worden?« »Ja. Maria sagte mir, daß sie ganz fürchterlich zugerichtet worden ist. Ich kann es immer noch nicht glauben. Sie war immer so nett und ruhig. Wer kann so etwas nur getan haben?« »Ich hoffe, daß es die Polizei bald herausfinden wird, damit der Schuldige seiner gerechten Strafe zugeführt werden kann. Aber sagen Sie mir bitte noch, ob Sie einen Mann namens Pierre Seignol kennen. Ich suche ihn, weiß aber nicht, wo er 29 �
wohnt. Er soll mit einem Mädchen namens Jacqueline befreundet sein.« Die junge Frau nickte heftig. »Ja, wir wissen im Betrieb, daß Jacqueline seit einigen Wochen einen Freund hat. Aber sie hat immer nur Andeutungen über ihn gemacht. Ich glaube, er heißt Pierre und kommt von auswärts. Soviel ich weiß, besuchte er sie nur ein- oder zweimal in der Woche. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.« »Das genügt mir auch schon. Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Sie haben mir sehr geholfen. Au revoir.« Der Professor lächelte ihr zu und verließ sie. Er gesellte sich wieder zu Tony und erstattete ihm Bericht. Der Reporter hörte aufmerksam zu. »Also sind wir doch zu spät gekommen«, stellte er anschließend fest. »Jetzt können wir diese Jacqueline nicht mehr nach Pierre fragen. Bleibt uns nur noch die Polizei. Die muß uns helfen, ihn aufzuspüren. Ich fürchte, nur über ihn kommen wir an Blaine heran. Und außerdem sollten wir uns mal die Leiche ansehen. Ich bin sicher, daß das Mädchen auf die gleiche Weise umgekommen ist, wie die Opfer in London.« Professor Fitzpatrick stimmte ihm zu. Ihr Versuch, von den Flics ins Haus durchgelassen zu werden,
scheiterte wenig später jedoch an der Sturheit der Beamten. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als darauf zu warten, daß die Kripoleute nach Abschluss ihrer Untersuchungen das Haus verließen. * Sandra Dennison war Fotomodell. Zwar gehörte sie nicht zu den Topmodellen, doch sie konnte sich über Aufträge nicht beklagen. Ihr Typ war gerade für Werbefilme sehr gefragt. Es lag noch nicht allzu lange zurück, daß sie am Beginn einer Filmkarriere gestanden hatte. Zumindest hatte sie dies damals gehofft. Nach mehreren unbedeutenden Statistenrollen war sie von einem unbekannten Regisseur für eine Nebenrollen engagiert worden. Es sollte ein Horrorfilm, eine Variante des berühmten Dracula-Themas werden. Der Regisseur hatte als Hauptdarsteller einen rumänischen Adligen verpflichtet, der ihnen sogar sein Schloß in den Karpaten als perfekte Kulisse zur Verfügung gestellt hatte. Doch nachdem das Filmteam dort angekommen war, hatte sich der Hausherr als verrückter Mörder entpuppt. Unter dem krankhaften Zwang stehend, ein Vampir zu sein, hatte er mehrere Mitglieder des Filmteams 30 �
umgebracht und ihnen das Blut ausgesaugt. Nach einer Flucht durch die Gewölbe des Schlosses waren die Überlebenden entkommen. Der Reporter Tony Wilkins, der als Freund des Regisseurs in ihrer Begleitung gewesen war, hatte den Mörder nach hartem Kampf unschädlich machen können. Sandra hatte damals noch lange nach der Rückkehr aus Rumänien unter Alpträumen gelitten. Sie und der Reporter waren sich in jener Zeit näher gekommen. Er hatte ihr geholfen, über die schrecklichen Ereignisse hinwegzukommen. Ihre Pläne hatte Sandra damals aufgegeben. Sie begnügte sich seither mit Werbefilmen und -fotos. Mit Tony verband sie inzwischen mehr als nur Freundschaft. Gemeinsam hatten sie in den vergangenen Monaten einige haarsträubende Abenteuer überstanden. Ihr Verhältnis zueinander war für einen Außenstehenden nicht so recht durchschaubar. Oft wirkten die beiden wie ein Liebespaar. Hin und wieder jedoch sah es auch nur so aus, als würde nur reine Freundschaft sie verbinden. Sandra mußte sich auch selbst eingestehen, daß sie sich über ihre Gefühle zu Tony nicht ganz im klaren war. Sie glaubte zwar, ihn zu lieben, war sich aber manchmal nicht sicher. Tony schien ihre Gefühle zu erwidern, machte aber auch oft nur
den Eindruck, als würde er sie nur als »Kumpel« schätzen. Momentan jedoch verspürte sie eine gewisse Sehnsucht nach ihm. Ihr nächster Auftrag würde sie erst wieder in drei Tagen in die Studios führen. Sie beschloss, diese Zeit mit Tony zu verbringen. Aber Tony war nicht zu Hause zu erreichen. Auch in der Redaktion des Sunday Star wußte man nicht, wo er sich augenblicklich aufhielt. Das war nicht ungewöhnlich, denn bei seinen Recherchen als Kriminalreporter des Blattes konnte er sich nicht immer ordnungsgemäß abmelden. Sandra versuchte ihr Glück anschließend bei Professor Fitzpatrick. Doch sie bekam nur dessen Haushälterin ans Telefon. Die resolute alte Dame erklärte ihr, daß der Professor sehr früh am Morgen verreist sei. Das Ziel seiner Reise habe er ihr nicht genannt. Die Frage, ob er von Tony Wilkins begleitet wurde, vermochte sie ihr ebenfalls nicht zu beantworten. Doch die junge Frau gab noch nicht auf. Sie vermutete, daß Tony einer interessanten Spur folgte. Ihre Abenteuerlust erwachte. Ohne zu zögern griff sie erneut zum Telefon und wählte New Scotland Yard an. Sie ließ sich mit Inspektor Simms verbinden und hatte das Glück, ihn auch anzutreffen. Der Inspektor und Tony waren 31 �
gute Freunde; und auch Sandra kannte ihn inzwischen sehr gut. Wenn jemand wußte, wo Tony stecken konnte, dann er. Diesmal war ihr das Glück hold. Inspektor Simms erklärte ihr lachend, daß er erst vor etwa zwei Stunden erfahren hatte, wo Tony und der Professor steckten. Sandra bedankte sich und legte auf. Sie überlegte einen Moment, dann kramte sie ihre Reisetasche hervor und trat vor den Kleiderschrank. * Kommissar Dubois wirkte eher wie ein typischer »Bürohengst« als wie ein tatkräftiger Kriminalbeamter. Als ihm die beiden Engländer vor dem Haus in der Rue Clemont ihre Geschichte erzählt hatten, da hatte es ausgesehen, als würde es ihn überhaupt nichts angehen. Aber dann war er rasch und spontan zu einem Entschluss gekommen. Zwei seiner Leute sahen sich unversehens mit der Tatsache konfrontiert, mit der Metro ins Büro zurückzufahren, weil ihr Chef die beiden Briten mitnahm. Im Büro der Sûreté angelangt, meldete der Kommissar sofort ein Ferngespräch nach London an. Während er auf das Zustandekommen der Verbindung wartete, beschäftigte er sich eingehend mit einigen Papieren,
ohne sich um seine Gegenüber zu kümmern. Das änderte sich jedoch, nachdem er das Gespräch geführt hatte. »Entschuldigen Sie bitte mein abweisendes Verhalten, meine Herren. Was Sie mir vorhin erklärten, klang ein wenig seltsam und machte Sie natürlich stark verdächtig. Aber mein Kollege vom Yard hat mir Ihre Identität und einen Teil Ihrer Angaben bestätigt. Den Rest müßten Sie mir aber noch einmal eingehend erklären, damit ich die Zusammenhänge verstehen kann. Mich würde interessieren, welchen Verdacht Sie im Zusammenhang mit dem Mord an Jacqueline Butonier haben.« Der ältere Mann, der sich ihm als Simon C. Fitzpatrick vorgestellt und ausgewiesen hatte, wechselte einen raschen Blick des Einverständnisses mit seinem jungen Begleiter. »Natürlich, Kommissar. Wenn Sie einmal in Ihren Fahndungsblättern nachsehen, dann werden Sie ein Ersuchen des Yard über Interpol finden. Gesucht wird wegen mehrfachen Mordes ein Farbiger aus der Karibik namens Johnny Blaine. Er ist noch vor wenigen Tagen als Musiker in London aufgetreten. Bei einem Auftritt haben wir ihn kennen gelernt. Damals war er noch völlig normal. Aber dann drehte er innerhalb weniger Tage durch und brachte mehrere Leute auf grausame Weise um. Als Mordwaffe benutzte 32 �
er ein sichelartiges Messer. Was diesen Burschen jedoch so ungeheuer gefährlich macht, ist die Tatsache, daß er über außergewöhnlich starke hypnotische Fähigkeiten verfügt. Es ist ihm sogar gelungen, etwa 30 Augenzeugen eines Mordes vorzugaukeln, der Täter sei ein riesiges Insektenmonster. Die Leute haben später Stein und Bein geschworen, daß sie tatsächlich so etwas gesehen haben. Mr. Wilkins kannte nicht nur den Täter, sondern auch eines seiner Opfer. Dies und unsere Freundschaft mit Inspektor Simms brachten uns dazu, uns mit diesem Fall zu beschäftigen. Vor wenigen Tagen, als wir ihn als Täter ermittelt hatten, ist er uns im letzten Augenblick entwischt. Da wir vermuteten, daß er auf dem Umweg über den Kontinent in seine Heimat zurückkehren würde, veranlassten wir die Fahndung über Interpol. Nun zu unserer Anwesenheit hier und dem toten Mädchen in der Rue Clemont. Der flüchtige Mörder hatte bei Gesprächen mit den Mitgliedern seiner Band wiederholt die Rue Clemont in Paris sowie die Namen Pierre Seignolle und Jacqueline erwähnt. Deshalb sind Mr. Wilkins und ich auch hierher gekommen. Wir hofften hier eine Spur des Gesuchten zu finden. Als wir vorhin von dem Vorfall hörten, ergab sich natürlich die Ver-
mutung, Johnny Blaine könnte schon wieder ein Opfer gefunden haben. Wenn Sie uns die Leiche des armen Mädchens zeigen würden, dann würden wir Ihnen sagen können, ob unsere Befürchtungen eingetreten sind.« Der Kommissar verschränkte seine Arme vor seinem stattlichen Bauch und lehnte sich zurück. Er fixierte die beiden Männer vor sich eine Weile, als hätte er zwei ertappte Sünder vor sich. »Gut, nun weiß ich Bescheid. Ich sehe auch keine Veranlassung, an der Richtigkeit Ihrer Angaben zu zweifeln. Aber finden Sie nicht auch, daß es allein Sache der Polizei ist, nach flüchtigen Mördern zu fahnden? Wissen Sie, in den Fernsehkrimis macht es sich ja immer ganz gut, wenn die Polizei durch clevere Amateurdetektive arbeitslos gemacht wird. Aber in der Praxis sieht das leider völlig anders aus. Wenn dieser Mann tatsächlich so gefährlich ist, wie Sie betonen, dann sollten Sie gerade unseren Leuten überlassen, ihn dingfest zu machen. Schließlich sind wir für solche Aufgaben ausgebildet worden.« »Sie haben recht, Kommissar«, ging der Professor auf ihn ein. »Es ist uns auch normalerweise überhaupt nicht daran gelegen, den Detektiv zu spielen. Doch in diesem Fall muß ich Ihnen leider sagen, daß 33 �
Ihre Ausbildung nicht ausreicht. Wenn Sie schon einmal Gelegenheit hatten, einem Hypnotiseur im Variete zuzuschauen, dann wissen Sie, daß dieser ein Hilfsmittel wie Pendel etc. und einige Minuten Zeit benötigt, um Leute in Trance zu versetzen. Johnny Blaine aber ist in der Lage, ohne jegliche Hilfsmittel innerhalb weniger Sekunden mehreren Menschen gleichzeitig seinen Willen aufzuzwingen. So hart es klingen mag; aber Ihre Leute haben gegen ihn nur dann eine Chance, wenn sie ihn sofort niederschießen, sobald sie ihn sehen. Und das dürfte wohl nicht in ihrem Interesse sein. Zu leicht kann es dabei den Falschen erwischen. Aufgrund meiner Forschungen bin ich in der Lage, mich gegen die hypnotische Kraft zu schützen. Halten Sie mich bitte nicht für überheblich, Kommissar, wenn ich Ihnen sage, daß Mr. Wilkins und ich derzeit die einzigen verfügbaren Menschen sind, die Johnny Blaine Paroli bieten können. Allerdings haben wir nicht die Absicht, ihn in Einzelgängermanier aufzuspüren und unschädlich zu machen, sondern wollen Ihnen unsere Hilfe anbieten.« Kommissar Dubois schaute ihn einige Minuten lang nur schweigend an, ehe er kopfnickend zustimmte. »Nun gut«, entschied er. »Ich glaube Ihnen und nehme Ihre Hilfe gern an.«
Mit diesen Worten reichte er seinem Gegenüber die Fotos, die ihm ein Assistent kurz zuvor erst gebracht hatte. Der Professor betrachtete sie aufmerksam, ehe er sie seinem Begleiter übergab. Deutlich vermochte der Kommissar die Betroffenheit auf den Gesichtern der beiden Engländer zu erkennen. »Ja, es besteht kein Zweifel«, bestätigte Fitzpatrick. »Hier war Johnny Blaine am Werk. Das Opfer weist eindeutig die gleichen Verletzungen auf wie die Getöteten in London. Sie werden es selbst noch feststellen können, wenn Sie sich von Scotland Yard die Unterlagen dieses Falles kommen lassen. Inspektor Simms wird Ihnen diese Amtshilfe sicher gerne leisten.« Nachdem er die Fotos verstaut hatte, erhob sich der Kommissar. Er bat seine Besucher, ihm zu folgen. Sie verließen sein Büro und betraten einen nahe gelegenen Raum, der einem kleinen Kino ähnelte. Tatsächlich wurde er als Vorführraum genutzt. Der Kommissar sprach kurz mit einem weißbekittelten Mann, dann wurde das Licht gelöscht. Wenig später flimmerten die Szenen über die Leinwand, die am Morgen dieses Tages auf den Champs-Elysees aufgenommen worden waren. *
34 �
Keiner der Passanten interessierte sich für den am Straßenrand abgestellten Lieferwagen. Der Aufschrift nach gehörte er einer Fleischgroßhandlung in Liancourt. Daß der Fahrer hinter dem Steuer hockte und anscheinend schlief, störte niemanden. Sicher hatte er eine harte Tour hinter sich und regenerierte seine Kräfte für die Rückfahrt. Aber der Eindruck täuschte, denn der junge Mann, der die Arme und den Kopf auf das Lenkrad gelegt hatte, hielt lediglich die Augen geschlossen. Er versuchte verzweifelt, Ordnung in den jagenden Strom seiner Gedanken zu bekommen. Immer wieder entstand vor seinen Augen das grausige Bild, das sich ihm geboten hatte, als er aufgewacht war. Noch im Halbschlaf hatte er die Hand nach Jacqueline ausgestreckt, hatte ihren warmen, weichen Körper spüren wollen. Doch der Körper, den seine Finger berührten, war kalt und starr gewesen. An das, was danach geschehen war, vermochte er sich nur noch vage und wie durch einen Schleier hindurch zu erinnern. Endlos lange Zeit hatte er benötigt, um endlich zu begreifen, daß er sich nicht mehr in einem Alptraum befand. Wie in Trance hatte er sich dann angezogen und war aus der Wohnung getaumelt. Stundenlang war er anschließend ziellos durch die Stra-
ßen gewandert, ehe er wieder in der Lage gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war schließlich in die Rue Clemont zurückgekehrt, um seinen Wagen dort wegzufahren. Minutenlang hatte er mit sich gekämpft, ehe er davongefahren war. Noch einmal in die Wohnung zurückzukehren, war ihm zu riskant gewesen. Also konnte er nur hoffen, daß die Polizei dort keine Spuren finden würde, die auf ihn hindeuten würden. Sicher würden sie die falschen Schlüsse daraus ziehen. Doch das berührte ihn nicht sonderlich. Weitaus mehr beschäftigte ihn eine andere Frage. Wer hatte Jacqueline umgebracht? Aber stundenlanges Brüten hatte zu keinem Ergebnis geführt. Es schien einfach keine Erklärung dafür zu geben. Wenn ein Unbekannter in die Wohnung eingedrungen war, warum war er dann nicht aufgewacht? Und warum hatte der Eindringling ihn verschont und nur Jacqueline getötet? Gab es überhaupt einen Unbekannten? Er wagte nicht, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Doch unwillkürlich wanderten seine Gedanken zurück zum vergangenen Morgen. Verblüfft mußte er feststellen, daß seine Erinnerung immer verschwommener wurde. Zusammen mit nebelhaften, unverständlichen 35 �
Eindrücken tauchte das Bild eines jungen Farbigen in seinem Gedächtnis auf. Aber sobald er glaubte, sich genau an ihn erinnern zu können, verwandelte sich sein Bild in das eines riesigen monströsen Insekts. Er stöhnte auf und preßte die Finger gegen die Schläfen. Bohrende Kopfschmerzen befielen ihn plötzlich. Ihm war, als würde hinter ihm jemand leise sprechen. Aber als sich Pierre hinter dem Steuer aufrichtete, bemerkte er, daß er sich allein im Führerhaus seines Wagens befand. Trotzdem aber fühlte er sich auf eine merkwürdige Art beobachtet. Rasch sah er sich um, doch im Augenblick befand sich kein Passant in seiner Nähe. Zudem war bereits die Dämmerung hereingebrochen. Die nächste Laterne befand sich in einiger Entfernung. Er war allein, soweit er es erkennen konnte. Das Gefühl aber blieb und wurde noch intensiver. Jetzt vermochte er auch eine Stimme zu hören, die lauter unverständliches Zeug vor sich hinzumurmeln schien. Gleichzeitig verspürte er ein Kribbeln, das sich rasch über seinen Körper ausbreitete. Der Kopfschmerz schwoll an und ebbte wieder ab, in einem monotonen Rhythmus. Es war, als würde in seinem Schädel eine Trommel geschlagen. Erst Minuten später
begriff er, daß in seiner Nähe tatsächlich jemand leise trommelte und daß die Schläge in seinem Kopf dröhnend nachhallten. Und mit dieser Erkenntnis kam auch die Erinnerung zurück. Aber er vermochte sich nicht mehr damit zu beschäftigen, denn in diesem Moment legte sich ein Schleier vor seine Augen. Sein Ich löste sich auf und machte etwas Fremdem Platz. Als sich sein Blick wieder klärte, sah er zwei Polizisten, die sich seinem Wagen langsam zu Fuß näherten. Noch vor wenigen Minuten wäre er bei ihrem Anblick in panische Furcht verfallen, doch jetzt sah er sie nur gleichmütig an. Gleichzeitig begann er, sich mit langsamen Bewegungen auszuziehen. Seine Bewegungen wurden jedoch schon bald rascher und zielstrebiger, während er sich seiner Kleidung entledigte. * »He, Louis, sieh dir den mal an. Der Kerl scheint nicht ganz dicht zu sein.« Der Flic war stehen geblieben und hatte seinen Kollegen am Arm gepackt. Der wußte erst nicht, was gemeint war, doch als sein Blick der ausgestreckten Hand des Kollegen folgte, sah er es auch. In der Tat; der Mann verhielt sich nicht gerade so, wie man es von 36 �
einem normalen Bürger erwarten konnte. Sich auf offener Straße in seinem Auto auszuziehen, das war nun wirklich nicht die feine Art. »Hm, entweder total beknackt oder besoffen wie tausend Mann«, gab er seine Meinung dazu kund. »Na, egal, was mit ihm los ist, den müssen wir aus dem Verkehr ziehen. Komm, Alain, schauen wir mal nach, wo Monsieur der Schuh drückt. Vielleicht hat er Liebeskummer und will sich jetzt in einem Meer aus Tränen ertränken. Und das können wir doch nicht zulassen.« Alain nickte nur grinsend. Sie legten keine übermäßige Eile an den Tag, als sie sich dem Fahrzeug näherten. Es war inzwischen dunkel geworden und dies war keine belebte Straße. Noch führte die Situation nicht zu einem öffentlichen Ärgernis. Dazu konnte es aber jeden Moment kommen, sobald ein Passant vorbeikam oder wenn jemand aus dem Fenster sah. Der Lieferwagen stand außerhalb des Lichtkreises der nächsten Laterne. So konnten sie erst aus nächster Nähe sehen, daß der Mann sein Werk inzwischen beendet zu haben schien. Sein Oberkörper war bereits nackt. Sie verständigten sich kurz, ehe sie sich trennten. Alain trat an die Fahrertür heran, während sein Kollege den Wagen umrundete, um sich
der Tür von der anderen Seite zu nähern. Man mußte schließlich mit allem rechnen. So mancher Zeitgenosse wurde rabiat, sobald er einer Uniform ansichtig wurde. Der Beamte lockerte den Gummiknüppel an seinem Gürtel, dann packte er den Türgriff. Mit einem entschlossenen Ruck riß er die Tür auf und – prallte zurück. Nach einigen Sekunden schloß er die Augen. Als er sie danach wieder öffnete, bot sich ihm jedoch noch der gleiche Anblick. Aber er weigerte sich zu glauben, was ihm seine Augen vermittelten. Stumm und reglos starrte er den Mann an, der nur noch zur Hälfte ein Mann war. Beine und Unterleib waren nicht mehr menschlich. Sie schienen einem ins Riesenhafte vergrößerten Insekt zu gehören. Und während er fassungslos auf das Unmögliche starrte, nahm die unheimliche Verwandlung ihren Fortgang. Für einen Moment sah es aus, als würden sich die Umrisse des Oberkörpers auflösen. Sie verschwammen, um sich anschließend zu verformen. Der Flic erlebte mit aufgerissenen Augen mit, wie sich der Schädel des Mannes aufblähte und in die Länge zog, wie Fühler aus der Stirn hervorwuchsen und sich ein Maul mit furchterregenden Beißzangen bildete. Die Augen wuchsen rasch 37 �
zu Untertassengröße an, wölbten sich nach außen und unterteilten sich schließlich in unzählige winzige Facetten, in denen sich das Licht glitzernd brach. Als die unheimliche Kreatur sich herumdrehte und ihn ansah, da wich Alain mit einem Aufschrei zurück. Er riß seinen Schlagstock aus der Halterung und hob ihn abwehrbereit, kam sich jedoch im gleichen Moment ein wenig lächerlich damit vor. Erst jetzt dachte er an seinen Kollegen, der eigentlich längst auf der anderen Seite die Tür geöffnet haben müßte. Aber vermutlich war sie verschlossen. Als sich hinter ihm jemand räusperte, fuhr er erschreckt zusammen. Er ruckte herum und holte aus. Aber es war nur Louis, der lautlos hinter ihn getreten war. Auch sein Gesicht zeigte den Ausdruck ungläubigen Staunens. »Was, zum Teufel, ist das denn?« fragte er mit belegter Stimme. »Ich kann's einfach nicht glauben. Siehst du auch, was ich sehe? Oder leide ich an Halluzinationen? Sag doch was, Alain.« Doch Alain schüttelte nur den Kopf. Er war nicht in der Lage zu sprechen. Der Schreck lähmte seine Stimme. Und dann ging alles sehr schnell. Mit einer gleitenden Bewegung schwang sich das Monster aus dem
Führerhaus. Es überragte die Polizisten um gut zwei Köpfe, als es sich vor ihnen drohend aufrichtete. Auch Louis zückte nun seinen Schlagstock. Aber er kam nicht mehr dazu, ihn einzusetzen. Das Ungeheuer war mit einem weiten Schritt bei ihm. Sein Arm, der in einer monströsen Krebsschere endete, zuckte plötzlich vor. Louis schrie auf und griff sich an den Hals. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Fassungslos starrte er auf die blutverschmierte Klaue, die sich erneut zum Schlag hob. Dann senkte er den Blick und sah auf das Blut, das vor ihm auf den Boden tropfte. Erst jetzt schien er den brennenden Schmerz am Hals zu spüren. Der Schlagstock entfiel seiner Hand, und seine Knie knickten ein. Verwundert stellte er fest, daß sich ihm auf einmal der Boden rasend schnell näherte. Als er zu Boden schlug, riß Alain seine Pistole hervor. Aber er beging den Fehler, zielen zu wollen. Das Monster ließ ihm nicht mehr die Zeit zu einem Schuß. Ein rascher Hieb fegte seinen Arm zur Seite. Der Schmerz ließ ihn die Hand öffnen. Die Waffe flog in hohem Bogen davon, prallte auf und rutschte über das Straßenpflaster davon. Während Alain noch den Schlagstock hob, war das Insektenmonster auch schon bei ihm. Die haarigen Arme, die so dünn und zerbrechlich 38 �
aussahen, aber so ungemein kräftig waren, schossen vor, packten ihn und zogen ihn, ehe er zu reagieren vermochte, in eine tödliche Umklammerung. Er hieb verzweifelt auf das Ungeheuer ein, doch seine Anstrengungen blieben vergebens. Immer fester wurde der Griff, und immer mehr verringerte sich sein Abstand zu den unheimlichen Beißzangen. Als sie dicht vor seinem Gesicht klickend auf- und zuschnappten, da öffnete er den Mund zu einem Schrei. Doch er brachte nur noch ein ersticktes Röcheln hervor, denn im gleichen Moment schien sich eine Riesenhand um sein Herz zu schließen und erbarmungslos zuzudrücken. Schmerz schoß wie flüssige Glut durch seine Adern. Vor seinen Augen wogten bunte Schleier. Als er im Griff der Kreatur zusammensackte, da hatte sein Herz zu schlagen aufgehört. Dies alles hatte sich innerhalb weniger Minuten abgespielt. Während dieser Zeit hatte sich kein Passant in die dunkle Nebenstraße verirrt. Obwohl hinter etlichen Fenstern zu beiden Straßenseiten Licht brannte, schien keiner der Anwohner etwas bemerkt zu haben. Jetzt aber näherten sich die Scheinwerfer eines Autos. Noch ehe es von den Scheinwerferkegeln erfasst werden konnte, lief das Rieseninsekt um den Lieferwagen herum.
Es orientierte sich kurz, dann eilte es in eine Toreinfahrt hinein, wo es von der Dunkelheit augenblicklich verschluckt wurde. Nur Sekunden später öffnete sich die rückwärtige Tür des Lieferwagens. Eine dunkle Gestalt schwang sich hinaus und folgte dem Monster. * Tony pustete angestrengt. Die Erfahrung lehrte ihn, eine französische Zwiebelsuppe nur zu verzehren, wenn sie etwas abgekühlt war. Der Professor hingegen schien über eine Antihitzebeschichtung an Zunge und Gaumen zu verfügen. Er ließ sich die Suppe bereits munden. »Nanu, ist Ihnen die Suppe etwa zu heiß?« fragte er mit scheinheiligem Grinsen. »Ja, das ist sie. Wahrscheinlich hat man mir eine echte, hausgemachte Zwiebelsuppe serviert, während Ihre aus der Dose kommt und nur aufgewärmt worden ist«, konterte Tony. Sie saßen im Speisesaal ihres Hotels beim Abendessen. Den ganzen Nachmittag hatten sie bei Kommissar Dubois verbracht. Der Beamte hatte sie, nachdem er sein anfängliches Misstrauen überwunden zu haben schien, Einblick in die Ermittlungsergebnisse nehmen lassen. Für den Professor und Tony war 39 �
klar gewesen, daß der unglückliche Kommissar Roussac nicht mehr am Leben gewesen war, als er auf den Champs-Elysées Amok gelaufen war. Sie waren überzeugt davon, daß er von Johnny Blaine getötet und zum Zombie gemacht worden war. Kommissar Dubois hatten sie jedoch erklärt, daß sein Kollege lediglich unter extremer Hypnose gestanden hatte. Sein eigener Wille sei dabei so absolut ausgeschaltet worden, daß er wie ein Roboter gehandelt hatte. Diese Erklärung war von dem Kriminalisten auch akzeptiert worden. Gegen Abend hatten sie die Sûreté verlassen und waren in ihr Hotel zurückgekehrt. Der Dämon Yaguth, vom Professor in seinem Hotelzimmer herbeibeschworen, hatte nur die Achseln gezuckt und war wieder verschwunden. »Also wieder warten, bis etwas geschieht«, stellte Fitzpatrick fest, nachdem auch Tony seine Suppe gemeistert hatte. »Ich fürchte, uns bleibt im Augenblick keine andere Wahl. Schließlich dürfte es wenig Sinn haben, durch die Straßen zu laufen und aufs Geratewohl nach einem Mann zu suchen, von dem wir nur den Namen kennen. Wenn wir nur wüssten, welche Rolle dieser Pierre in diesem Fall spielt und wo wir ihn suchen könnten, dann könnten wir wenigstens
etwas unternehmen. Aber so…« Tony ließ den Satz unvollendet und machte eine hilflose Geste. Sein Gesicht hellte sich aber sofort auf, als er den Kellner sah, der sich mit dem Servierwagen ihrem Tisch näherte. Doch das Schicksal meinte es an diesem Abend nicht gut mit ihnen. Noch vor dem Kellner war einer der befrackten dienstbaren Geister bei ihnen. Er hüstelte dezent und deutete eine Verbeugung an. »Telefon für Sie, Mister Fitzpatrick. Wenn Sie mir bitte zur Rezeption folgen würden.« Der Professor erhob sich und folgte ihm hinaus. Er beeilte sich, denn er ahnte, daß der Anruf wichtig sein würde. An der Rezeption angelangt, griff er zum bereitliegenden Hörer und meldete sich. »Hallo, Professor, ich glaube, daß ich Ihre Hilfe benötige«, ließ sich der Anrufer vernehmen. Fitzpatrick erkannte den Kommissar sofort an der Stimme wieder. »Worum geht es, Kommissar?« »Nun, es scheint, als wäre Ihr Johnny Blaine wieder aktiv geworden. Soeben ist uns der Mord an zwei Polizisten gemeldet worden. Eine Augenzeugin will ein Monster als Täter gesehen haben. Ich denke, das wird Sie interessieren. Meine Leute und ich werden jetzt zum Tatort rausfahren. Wenn Sie und Ihr Begleiter kommen würden, 40 �
wäre ich Ihnen dankbar. Der Tatort liegt in der Rue Gerard, nicht weit von der Rue Clemont entfernt.« »Wir sind schon unterwegs, Kommissar. Danke, bis gleich.« Er legte auf und eilte in den Speisesaal zurück. Tony beschäftigte sich bereits mit seinem Filet. Aber als er den Professor heranhasten sah, ließ er Messer und Gabel sinken. »Ich fürchte, wir werden dem guten Essen wohl jetzt Adieu sagen müssen«, stellte er mit einem bedauernden Blick auf seinen Teller fest. Der Professor nahm sich erst gar nicht die Zeit, sich zu setzen. Er blieb neben Tony stehen und berichtete ihm mit leiser Stimme von dem Inhalt des Anrufers. Tony hörte aufmerksam zu. Dann nahm er einen Schluck Wein und schnitt sich noch ein ordentliches Stück Fleisch ab. Kauend erhob er sich und eilte hinter dem Freund her. Der Professor strebte wieder auf die Rezeption zu. Er fragte den Nachtportier nach der besten und schnellsten Möglichkeit, zur Rue Gerard zu gelangen. Der Mann empfahl ihnen ein Taxi, da sie mit der Metro zweimal würden umsteigen müssen. Und außerdem hielt er es nicht für ratsam, um diese Zeit noch mit der Metro zu fahren. In letzter Zeit war es zu einem besorgniserregenden Anstieg von Raubüberfällen in den Schächten und Zügen gekom-
men. Wenige Minuten später saßen sie in einem Citroen, dessen Fahrer sich in halsbrecherischem Tempo seinen Weg durch das nächtliche Paris bahnte. * Sandra Dennison folgte dem livrierten Pagen, der sich an ihrem Koffer abschleppte. Sie lächelte unwillkürlich, als sie sich Tonys Gesichtsausdruck vorzustellen versuchte. Er würde sicher ganz schön perplex sein, wenn sie ihm bald gegenübertreten würde. Ihr Lächeln schwand jedoch, als sie an der Rezeption erfuhr, daß Tony erst vor wenigen Minuten in Begleitung des Professors das Hotel verlassen hatte. Aha, dachte sie, die Herren sind zu einem Bummel durch das Pariser Nachtleben aufgebrochen. Enttäuscht ließ sie sich ihr Zimmer zeigen. Sie packte ihren Koffer aus, dann zog sie sich um und ging hinunter in die Hotelbar. Dort wollte sie auf die beiden Nachtschwärmer warten. Aber nach dem zweiten Martini hielt sie es nicht mehr aus. Sie war auf einmal nicht mehr davon überzeugt, daß Tony und der Professor einen Streifzug durch diverse Bars unternahmen. Das vage Gefühl einer drohenden Gefahr ließ sie immer 41 �
unruhiger werden. Sie verließ die Bar und begab sich zur Rezeption. Der Nachtportier saß über ein Buch gebeugt und addierte eifrig Zahlenkolonnen. Er sah jedoch sofort auf. Als Sandra ihn anlächelte, war sein Diensteifer kaum zu bremsen. »Sagen Sie, Monsieur, haben Sie eine Ahnung, wohin Mr. Wilkins und Mr. Fitzpatrick gefahren sein könnten?« »Das kann ich Ihnen sogar ziemlich genau sagen, Mademoiselle. Sie sind zur Rue Gerard gefahren. Ich habe ihnen ein Taxi bestellt.« »Gibt es in dieser Rue Gerard eine bekannte Bar oder ein Cabaret, in dem sich die Herren befinden können?« Der Nachtportier demonstrierte eifriges Nachdenken, indem er seine Stirn in Falten legte. Nach einigen Sekunden schüttelte er den Kopf. »Nein«, teilte er dann das Ergebnis seiner Überlegungen mit. »Die Rue Gerard ist eine kleine, völlig unbedeutende Nebenstraße. Dort gibt es meines Wissens nur zwei oder drei kleine Bistros und Stehkneipen. Für Touristen, die das Pariser Nachtleben studieren wollen, ist das genau die falsche Gegend. Aber warten Sie mal. Bevor die Herren losgefahren sind, erhielt Mr. Fitzpatrick einen Anruf von der Polizei. Wenn Sie einen Moment Zeit haben, dann kann ich mich mal erkundigen. Ich habe da einen guten Bekannten bei
der Sûreté.« Er wartete Sandras zustimmendes Kopfnicken erst gar nicht ab und griff zum Telefon. Seinen Gesprächspartner überschüttete er förmlich mit einem Wortschwall. Dann lauschte er und murmelte einige Male »Oui, oui«, ehe er wieder auflegte. »In der Rue Gerard hat es einen Mordfall gegeben. Er wird von Kommissar Dubois bearbeitet. Und dieser Kommissar hat Mr. Fitzpatrick gebeten, zum Tatort zu kommen. Warum, das wußte mein Freund nicht.« Sandra strahlte ihn an. »Danke, Sie haben mir sehr geholfen. Würden Sie mir wohl jetzt noch ein Taxi rufen? Ich hole nur noch meinen Mantel.« Der Franzose deutete eine Verbeugung an und versprach, sofort für das Gewünschte zu sorgen. Gekonnt rasch ließ er die ihm zugeschobene Banknote in seiner Jackentasche verschwinden. Sandra eilte zu ihrem Zimmer, warf sich ihren Mantel über und hastete zurück. Als sie das Portal durchschritt, fuhr ihr Taxi bereits vor. »Typisch Tony«, dachte sie belustigt, als sie sich ins Polster sinken ließ, »kaum einen Tag in Paris und schon wieder in einen Kriminalfall verwickelt.«
42 �
* � »He, Gustave, wäre die kleine Blonde nichts für dich?« Das Gelächter der beiden Freunde begleitete diese Frage. Der Gefragte schüttelte energisch den Kopf. In einer theatralischen Geste hob er abwehrend die Arme, als könne er so alles Unheil der Welt von sich abhalten. »Um Gottes willen, das kann doch nicht euer heiliger Ernst sein. Was soll ich denn mit der? Die hat doch 'ne Figur wie 'ne Trauerweide. An der hängt doch alles.« Er lachte, weil ihn dieser Vergleich selbst am meisten amüsierte. Doch das Lachen verging ihm, denn Jean stellte fest, daß das Mädchen gerade deshalb so gut zu ihm passen würde. Wieder bogen sich Jean und Maurice vor Lachen. Gustave verzog nur das Gesicht und machte eine abfällige Handbewegung. »Ihr Knallköpfe wisst ja überhaupt nicht, wovon ihr redet. Zwei Pernod, und ihr glaubt, mit richtigen Männern reden zu dürfen. Also schweigt nun, ehe euch mein Zorn trifft.« Wieder erntete er Gelächter. Das lag zum einen an seinen Worten und seiner gespielten Entrüstung und zum anderen an den Schwierigkeiten, die ihm seine Zunge beim Formulieren bereitete. Die zahlreichen Drinks, die er sich im Laufe des
Abends einverleibt hatte, machten sich bemerkbar. Maurice stieß Jean den Ellenbogen in die Seite und deutete eine Verbeugung in Richtung ihres Freundes an. »Sehr wohl, großer Guru der Hinterhöfe. Wir haben deine Worte vernommen. Nun denn, hüllen wir uns also in Schweigen.« Eine Weile hielten sie sich auch daran und setzten ihren Weg schweigend fort. Doch schon nach wenigen hundert Metern war die Sache vergessen; und sie begannen wieder herumzualbern. Die drei Freunde befanden sich nach einem Barbesuch auf dem Heimweg. In dem zweitklassigen Lokal hatten sie sich prächtig amüsiert. Nur die gepfefferten Getränkepreise hatten verhindert, daß sie sich hatten vollaufen lassen. So waren sie nur reichlich angetrunken. Schon bald darauf zogen Jean und Maurice wieder über ihren Freund her. Die Blondine, die nach ihrem Striptease von der provisorischen Bühne herabgestiegen war und sich für einen Moment auf Gustaves Schoß gesetzt hatte, bot ja genügend Ansatzpunkte für weitere Lästereien. Als sie ihr Weg an einer finsteren Toreinfahrt vorbeiführte, blieb Maurice stehen. Er fingerte mit unsicheren Bewegungen an seinem Hosenschlitz herum. »He, Jungs, wartet mal einen 43 �
Moment. Ich hab' einen Druck auf der Blase, daß mir gleich die Tränen kommen. Ich muß erst mal einen ablassen.« Er verschwand in der Einfahrt. Die Freunde blieben stehen. Sie hörten, wie Maurice leise vor sich hinfluchte, begleitet von einem charakteristischen Geräusch. Doch dann klangen andere, nicht zu identifizierende Laute an ihre Ohren. Es klang, als ob… Gustave packte seinen Freund am Arm und zog ihn mit sich. Gemeinsam rannten sie in die Finsternis hinein. Einige Meter vor sich konnten sie undeutlich zwei sich heftig bewegende Schatten erkennen. Sie hoben sich jedoch nur schwach gegen den dunklen Hintergrund ab. Nur soviel war zu erkennen, daß eine der beiden schattenhaften Gestalten wesentlich größer als die andere war. Unterdrücktes Stöhnen klang vor ihnen auf. »Maurice, was ist los? Will dir da einer an die Wäsche?« Doch als Antwort erhielten sie nur dieses gequälte Stöhnen, begleitet von Kratzen und Scharren. Und dann stieß Maurice plötzlich einen Schrei aus, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Doch der Schrei erstickte augenblicklich in einem gurgelnden Ton. Jean riß sein Feuerzeug aus der Tasche und knipste es an. Was er
jedoch im schwachen Licht der zuckenden Flamme sah, ließ ihn mit einem Aufschrei zurücktaumeln. Das Feuerzeug erlosch. Gustave besaß entweder bessere Nerven oder hatte nichts erkennen können. »He, Jean, mach das Licht noch mal an«, verlangte er. Doch Jean reagierte nicht. Er starrte nur in die Finsternis, dorthin, wo die beiden Schatten jetzt ineinander zu verschmelzen schienen. Gustave nahm ihm schließlich das Feuerzeug aus der zitternden Hand. Er betätigte den Zünder und streckte die Hand weit von sich, um möglichst viel sehen zu können. Auch er konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als er das Ungeheuer deutlich sah. Es ließ gerade Maurices leblosen Körper los. Der gewaltige Schädel mit den Riesenaugen, die das Licht funkelnd reflektierten, ruckte herum. Gustave spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken rann. Für einen endlos lang erscheinenden Augenblick setzte sein Denken aus. Als es wieder einsetzte, da schienen sich seine Gedanken in einer Spirale von ihm fortzubewegen. Jeans erneuter Schrei riß ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Er hörte, daß sein Freund davonlief. »Bleib hier, du Feigling!« rief er. »Wir müssen Maurice helfen.« Aber Jean hörte nicht auf ihn. 44 �
Seine hastigen Schritte verklangen rasch. Gustave kämpfte sekundenlang mit sich. Es war so einfach, sich jetzt herumzuwerfen und ebenfalls davonzulaufen, zu flüchten vor dem Unheimlichen, Unfassbaren. Aber etwas hielt ihn zurück. Es mochte Neugier sein, aber auch der Wunsch, dem Freund zu helfen. Er wußte es selbst nicht. Er wollte wissen, was dieses unglaubliche Wesen da vor ihm war. Hatte es auf den ersten Blick ausgesehen wie ein Verrückter, der sich maskiert hatte, so vermochte er jetzt doch zu erkennen, daß es einfach kein Mensch sein konnte. Der Schock dieser Begegnung hatte den Alkohol in seinem Körper schlagartig neutralisiert. Sie standen sich auf wenige Schritte gegenüber und schienen sich zu belauern. Gustave dachte daran, daß die meisten Tiere eine panische Furcht vor Feuer hatten. Vielleicht galt das auch für dieses ins Riesenhafte vergrößerte Insekt. Rasch griff er mit der anderen Hand zu und drehte die Düse des Feuerzeuges auf, bis die Flamme zentimeterweit hervorschoss. Er nahm all seinen Mut zusammen und trat einen Schritt vor, den »Mini-Flammenwerfer« dabei wie eine Waffe vorgestreckt. Das Monster hob die klauenbewehrten Arme und schien eine abwehrende Bewe-
gung zu machen. Gustaves Blicke suchten rasch den Boden ab. Doch in dem minimalen Lichtkreis um ihn herum war nichts zu sehen, was er als Waffe hätte verwenden können. In diesem Augenblick flackerte die Flamme kurz auf und erlosch zischend. Sekundenlang starrte Gustave verwirrt auf das Feuerzeug in seiner Hand, dann schleuderte er es entschlossen dem Ungeheuer entgegen. Sofort wich er um zwei Schritte zurück. Dem leichten, klatschenden Geräusch nach hatte er getroffen, doch er bezweifelte, daß sein Wurfgeschoß überhaupt eine Wirkung erzielt hatte. Und dann wuchs auch schon der Schatten vor ihm zu bedrohlicher Größe an. Gustave warf sich herum. All sein Mut verließ ihn nun schlagartig. Jetzt beherrschte ihn nur noch der Gedanke an Flucht. Aber er kam nicht weit. Ein fürchterlicher Schlag zwischen die Schulterblätter ließ ihn förmlich vornüber schießen. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, vermochte das Gleichgewicht jedoch nicht mehr zu halten. Er prallte gegen ein Hindernis, das polternd umstürzte und ihn mit zu Boden riß. Im gleichen Moment, in dem er das Hindernis als Mülltonne erkannte, war das Monster auch schon über ihm. Gustave nahm 45 �
einen eigentümlichen, beißenden Geruch wahr, ehe ein fürchterlicher, brennender Schmerz seine Empfindungen auslöschte. * Die Frau mochte Anfang 50 sein. Sie machte einen resoluten Eindruck. Den Kommissar und seine beiden Begleiter hatte sie in ihr Wohnzimmer geführt. Sie bot sich trotz der späten Stunde an, ihnen Kaffee zu kochen, doch der Kommissar lehnte dankend ab. Nachdem die Männer Platz genommen hatten, begann sie zu berichten, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Sie trat ans Fenster und schob die Übergardine ein wenig zur Seite. »Von hier aus habe ich es gesehen. Wissen Sie, ich hatte den alten Film mit Jean Gabin im Fernsehen eingeschaltet. Aber ich kannte ihn schon, weil die ja dauernd Wiederholungen bringen. Deshalb bin ich zwischendurch einige Male aufgestanden und habe ein wenig aus dem Fenster geschaut. In unserer Straße gibt's zwar nichts zu sehen, aber man wird ja viel zu träge, wenn man nur vor der Flimmerkiste hockt. Es muß so gegen 20 Uhr 30 gewesen sein, als ich aus dem Fenster geschaut habe. Und dabei habe ich die beiden Polizisten gesehen. Sie kamen drüben auf der anderen Seite und näherten
sich gerade dem Lieferwagen. Den Lieferwagen habe ich übrigens schon am späten Nachmittag dort drüben gesehen, als ich von der Arbeit kam. Mir war so, als hätte der Fahrer hinter dem Steuer gehockt und geschlafen, aber ich kann mich auch getäuscht haben. Jedenfalls saß jemand im Führerhaus, als der eine Polizist um den Wagen herumging und die Tür aufmachte. Es…« »Haben Sie auch etwas gehört?« wurde sie von Professor Fitzpatrick unterbrochen. Madame Legrange starrte ihn einen Moment an, ehe sie den Kopf schüttelte. Doch dann schloß sie für einige Sekunden die Augen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Doch ja, jetzt wo Sie mich danach fragen, fällt es mir wieder ein. Vorhin ist es mir überhaupt nicht bewußt geworden, daß ich auch etwas gehört habe. Es hörte sich an, als würde da draußen jemand auf einer Trommel herumgeschlagen haben. Aber es klang ziemlich dumpf, als würde es weit entfernt gewesen sein. Ich habe jedoch nicht darauf geachtet.« Der Professor und Tony tauschten einen raschen Blick aus. Dann nickte er dem Kommissar zu. »Bitte, Madame, erzählen Sie weiter.« »Also, der eine Polizist öffnete die Wagentür. Da im gleichen 46 �
Moment das Licht im Führerhaus anging, konnte ich es deutlich erkennen. Ich habe ihn… äh… es ganz genau gesehen. Ich verlange nicht, daß Sie mir glauben, Kommissar. Wenn mir jemand diese Geschichte erzählen würde, dann würde ich ihm sicher kein Wort glauben. Aber ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich dieses… dieses Ding dort draußen wirklich gesehen habe. Es war etwas größer als die beiden Männer und sah wie eine riesengroße Heuschrecke aus. Aber so etwas kann es ja nicht geben. Vielleicht war es ein Verrückter, der sich maskiert hat. Schlimmer noch als dieser Anblick war aber, was dann geschah. Ich habe mit ansehen müssen, wie die beiden Männer umgebracht worden sind. Es war schrecklich, Kommissar. Ich habe hier hinter der Gardine gestanden und nicht gewagt, mich zu bewegen. Aber selbst wenn ich Sie sofort angerufen hätte, wären Sie viel zu spät gekommen. Es ging alles viel zu schnell.« Sie blickte von einem zum anderen, hob die Arme in einer hilflosen Gebärde und ließ sie wieder sinken. Der Kommissar ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Er warf dem Professor einen raschen Blick zu, ehe er sich wieder an die Frau wandte.
»Weiter, Madame. Was geschah dann?« »Nun, nachdem der zweite Polizist zu Boden fiel, kam ein Auto. Aber bevor es nahe genug herangekommen war, ist das… äh Ungeheuer geflüchtet. Es ist um den Wagen herumgelaufen und dort drüben irgendwo verschwunden. Wohin, das habe ich nicht erkennen können. Das Auto ist einfach weitergefahren, ohne anzuhalten. Der Fahrer war wahrscheinlich betrunken. Ich bin dann sofort ans Telefon geeilt und habe Sie angerufen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich fürchte auch, wenn ich noch mehr von dem erzähle, was ich gesehen habe, daß ich noch in der Klapsmühle landen werde.« Der Kommissar ging nicht auf ihre Worte ein. Er trat neben sie ans Fenster und sah hinaus. Scheinbar andächtig sah er seinen Leuten zu, die drüben auf der anderen Straßenseite geschäftig um den Lieferwagen herumeilten. »Nein, da brauchen Sie nichts zu befürchten«, erklärte Professor Fitzpatrick. »Wir glauben Ihnen, Madame. Außer Ihnen haben nämlich schon andere Menschen dieses Monster gesehen. Aber es existiert nicht wirklich, da können Sie beruhigt sein. Man hat Sie nämlich hypnotisiert. Sie haben also nur das gesehen, was man Ihnen suggeriert hat. 47 �
Sagen Sie, haben Sie den Lieferwagen schon früher mal hier in der Straße gesehen? Saß vielleicht mal ein Farbiger am Steuer? Oder haben Sie im Laufe des Abends einen Farbigen in der Nähe gesehen?« Madame Legrange schüttelte spontan den Kopf. »Nein, den Wagen habe ich nie zuvor gesehen. Man achtet ja auch nicht so auf Lieferwagen, von denen Tausende in Paris herumfahren. Ob der Mann hinter dem Steuer ein Farbiger war, habe ich nicht erkennen können. Als ich nach Hause kam und ihn sah, da hatte er die Arme und den Kopf auf das Steuer gelegt gehabt. Farbige habe ich allerdings in den vergangenen Stunden mehrere gesehen. In dieser Straße wohnen viele Nordafrikaner und Leute aus der Karibik.« »Was ist dort drüben auf der anderen Seite?« mischte sich der Kommissar unvermittelt in das Gespräch. »Haben Sie eine Ahnung, wohin der Täter verschwunden sein kann?« »Dort drüben ist direkt hinter dem Lieferwagen eine Toreinfahrt, durch die man auf die Hinterhöfe gelangt. Dort gibt es sicher einige Verstecke.« »Danke, Madame. Sie haben uns sehr geholfen. Kommen Sie doch bitte morgen früh zu mir ins Büro, damit wir das Protokoll aufnehmen können.« Der Kommissar wandte sich an
seine Begleiter. »Ich denke, wir sollten uns dort drüben auf den Hinterhöfen umsehen. Der Kerl hat zwar bereits einen zu großen Vorsprung, aber ich will mich nicht allein auf die Großfahndung verlassen. Vielleicht finden wir dort eine Spur.« * Finsternis empfing sie, als sie in das labyrinthartige Gewirr der Gassen, Toreinfahrten und Hinterhöfe eindrangen. Der Kommissar hatte sich und seine Begleiter mit Stablampen ausgerüstet. Sie folgten den schmalen Lichtkegeln und bahnten sich ihren Weg vorbei an Mülltonnen, Gerümpel und Autowracks, die hier still vor sich hinrosteten. Wiederholt schien es, als würde es nicht mehr weitergehen, wenn Mauern oder niedrige Anbauten ihnen den Weg versperrten. Aber ein paar Schritte nebenan oder zurück ging es dann wieder weiter. Einige Male erfassten die Lichtkegel hastige Bewegungen. Aber es waren nur Katzen und Ratten gewesen, die vor den Männern geflüchtet waren. Es war bereits nach Mitternacht. An den Rückfronten der Häuser zeigten nur noch wenige erleuchtete Fenster an, daß nicht alle Bürger schliefen. Aus manchen Wohnungen drangen Musik und Wortfetzen hinaus in die Nacht. 48 �
Die Männer leuchteten jede dunkle Ecke aus, schauten in Schuppen und Ställe und richteten ihre Stablampen in jede Toreinfahrt. Aber ihre Suche schien ergebnislos zu verlaufen. Das Gelände war zu unübersichtlich; und das Licht ihrer Lampen reichte nicht aus, jeden finsteren Winkel zu erhellen. Ihnen war schon bald klar geworden, daß sie nur ein Zufall weiterbringen würde. Doch es sah nicht so aus, als würde er ihnen zu Hilfe kommen. Der Kommissar fand sich bereits damit ab, bei Tageslicht an der Spitze einer Hundertschaft von Polizisten noch einmal die Hinterhöfe zu durchkämmen. Sie hatten gerade einen primitiven Hühnerstall umgangen und näherten sich einer Toreinfahrt, die sich finster von der Hausfassade abhob. Vor ihnen ragten dunkle Silhouetten von Häusern in die Höhe und kündigten an, daß das Areal der Hinterhöfe hier aufhörte. Sie waren an der Parallelstraße angelangt. Der Kommissar ließ noch einmal den Lichtkegel seiner Stablampe herumwandern, als sie sich dem Durchgang zur Straße zuwandten. Der Lichtfinger glitt an ein paar Mülltonnen vorbei, verhielt plötzlich und wanderte zurück. Tony sah es sofort und stieß den neben ihm stehenden Professor an. Mit ein paar raschen Schritten waren sie bei dem Kriminalbeamten und starrten über-
rascht auf das Paar Füße am Boden. Die Füße ragten hinter einem der Abfallbehälter hervor. Sie gehörten einem jungen Mann, dessen blutüberströmter Körper verkrümmt hinter den Kübeln lag. Seine Kleidung war zerrissen. Das bleiche Licht enthüllte die fürchterlichen Wunden an Hals und Oberkörper. Und es ließ sie deutlich die Todesangst im Gesicht und den gebrochenen Augen erkennen. Während sich der Kommissar und Fitzpatrick über den reglosen Körper beugten, trat Tony zurück und ließ seine Stablampe kreisen. Er hatte plötzlich das Gefühl, als würde im nächsten Augenblick noch etwas Entscheidendes geschehen. Nach ein paar Schritten in die Finsternis hinein fand er seine dumpfe Ahnung bestätigt. Vor ihm, auf den ersten Stufen einer Treppe, die anscheinend in den Keller führte, lag ein weiterer verkrümmter Körper in einer Blutlache. Vorhin, als sie sich zur Einfahrt gewandt hatten, war ihnen der Blick auf die Kellertreppe durch eine halbhohe Mauer verwehrt gewesen. Tony beugte sich über den Körper. Hier kam jede Hilfe zu spät, das war auch für einen medizinischen Laien erkennbar. Und noch etwas erkannte er. Hier war Johnny Blaine am Werk gewesen. Tony preßte die Kiefer zusammen, bis sie knirschten, als er sich wieder 49 �
aufrichtete. Vier Tote in einer Nacht! Sie mussten Blaine unbedingt unschädlich machen, bevor er noch weiteres Unheil anrichtete. Es schien, als würde er jetzt völlig wahllos morden. Ein schwaches Stöhnen ließ ihn plötzlich zusammenzucken. Er fuhr herum und richtete die Stablampe nach links. Dort befanden sich ebenfalls zwei niedrige Mauern zu beiden Seiten einer Kellertreppe, die zum nächsten Haus gehörte. Von dort schien das Geräusch ertönt zu sein. Vorsichtig näherte sich der Reporter jener Stelle, bereit, sofort reagieren zu müssen. Nach zwei Schritten hielt er jedoch überrascht inne. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Der Scheinwerferkegel hatte einen nackten Mann auf der Kellertreppe erfasst. Er richtete sich gerade auf. Als das Licht ihn traf, hob er die Hand schützend vor die Augen. Tony nahm den Lichtkegel ein wenig zur Seite. »Wer sind Sie? Wo bin ich hier?« Da der Nackte langsam sprach, verstand Tony seine Fragen. Er kratzte seine Französischkenntnisse zusammen und antwortete. »Mein Name ist Wilkins. Wo Sie hier sind, kann ich Ihnen aber nicht sagen. Ich weiß es selbst nicht. Darf ich um Ihren Namen bitten? Und
können Sie mir sagen, wie Sie in diesem Zustand hierher gekommen sind?« Der Mann schaute an sich hinunter, als würde er erst jetzt seinen paradiesischen Zustand bemerken. »Ich… ich bin Pierre Seignol.« Tony beugte sich vor. Eine Art Alarmglocke schlug in seinem Innern an und brachte seine Nerven zum Vibrieren. Seine Gedanken überschlugen sich für einige Sekundenbruchteile. Pierre Seignol! Der Mann, den sie so fieberhaft suchten. »Pierre, was haben Sie mit Jacqueline gemacht?« beschloss Tony, die anzuwenÜberrumpelungstaktik den. Aufmerksam musterte er den Nackten und wartete auf dessen Reaktion. Auf die dumpfen, monotonen Trommelschläge, die von irgendwoher aus der Finsternis zu ihnen drangen, achtete er nicht. Und so nahm er auch nur unbewußt wahr, daß die Trommelei bald darauf wieder verstummte. Die entstehende Stille wurde jedoch von einem Poltern und einem erstickten Schrei durchschnitten. Die Geräusche kamen aus der Toreinfahrt. * Der Reporter richtete sich auf und � fuhr herum. Angestrengt lauschte er � 50 �
in die Finsternis hinein. Der Lichtkegel seiner Stablampe verlor sich wirkungslos an der Mauer. In die Einfahrt vermochte er von seinem Standort aus nicht hineinzusehen. Sein Instinkt sandte plötzlich eine Warnung aus. Sie kam jedoch um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Ein wuchtiger Hieb traf seinen Arm und riß ihm die Lampe aus der Hand. Sie polterte zu Boden und rollte die Kellertreppe hinunter. Ehe er zu reagieren vermochte, griffen Hände nach seiner Kehle. Sofort drückten sie erbarmungslos zu. Der Überraschungseffekt lähmte Tony entscheidende Sekunden lang. Dann jedoch erwachte sein Selbsterhaltungstrieb. Seine Arme schössen vor. Er packte die Handgelenke und versuchte, den Würgegriff zu lösen. Doch seine Kräfte schienen dazu nicht auszureichen. Der Druck um seinen Hals verminderte sich nicht; im Gegenteil, er schien ständig zuzunehmen. Tony spürte, wie sich die Haut des Nackten unter seinen Fingern zu verändern begann. Sie wurde hart und rauh. Außerdem gewann er den Eindruck, daß die Arme ein wenig dünner wurden. Und auch die Finger an seiner Kehle fühlten sich auf einmal anders, fremdartig an. Sie waren zu Klauen geworden, die sich ihm noch schmerzhaft in die Haut einschnitten. Die Stablampe lag unten am Fuß
der Kellertreppe. Ihr Lichtkegel war gegen die Wand gerichtet. So konnte Tony nur die Umrisse seines Gegners erkennen. Aber er wußte auch so, was in diesen Sekunden geschah. Pierre Seignol war im Begriff, sich in ein Insektenmonster zu verwandeln. Also war auch er ein Opfer des Magiers aus der Karibik geworden. Farbige Schleier begannen vor Tonys Augen zu wogen. Verzweifelt versuchte er, Luft in seine gequälten Lungen zu pumpen, doch der mörderische Druck an seinem Hals verhinderte dies. Von seiner Begegnung mit James Flanders her war ihm noch bekannt, daß dem Monster nicht mit normalen Mitteln beizukommen war. Es lag erst wenige Tage zurück, daß er sich in London in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Damals war James Flanders, ein bekannter des Professors, von Johnny Blaine mit Hilfe der Schwarzen Magie in ein riesiges, mordlustiges Insekt verwandelt worden. Tony und der Professor waren von ihm überraschend attackiert worden. Nur durch den Einsatz magischer Kräfte waren sie dabei dem sicheren Tod entgangen. Also würde ihm auch jetzt nur noch eine Beschwörung helfen können. Er ließ die Arme des Gegners los und vollführte mit der rechten Hand eine rasche, gleitende Bewegung. Doch als er die dazugehörige Formel 51 �
aussprechen wollte, traf ihn der Schock. Über seine Lippen kam nur ein trockenes, unartikuliertes Krächzen. Aus! Dieser Gedanke durchzuckte sein Gehirn. Er hatte zu spät reagiert. Jetzt war er verloren. Es gab keine Chance mehr für ihn. Schwindel erfasste ihn. Tony spürte, wie seine Knie einknickten. Noch einmal versuchte er, sich gegen das Unvermeidliche aufzubäumen; versuchte, seine letzten Kräfte zu mobilisieren. Und in diesem Moment drang, wie aus weiter Ferne und wie durch eine Watteschicht gedämpft, eine Stimme an seine Ohren. Er verstand nicht, was sie sagte. Aber wie durch ein Wunder schwand plötzlich der tödliche Druck an seiner Kehle. * Als die ersten leisen Trommelschläge an sein Gehör drangen, richtete sich Professor Fitzpatrick auf. Er trat rasch einen Schritt zurück und lauschte in die Finsternis hinein. Die monotonen Geräusche klangen zwar danach, als säße der Trommler mindestens zwei Häuserblocks entfernt. Doch der Professor hatte den Eindruck, als würde sich die Geräuschquelle in der Nähe befinden. Er mußte an den unglücklichen James Flanders denken, der vor eini-
gen Tagen in London ums Leben gekommen war. Auch er hatte stets, bevor er seine Anfälle bekam, Trommelschlag vernommen. Und dann war da noch der mysteriöse Johnny Blaine, der als Schlagzeuger in einer Band tätig gewesen war. Es war nicht auszuschließen, daß er in der Nähe war. Vielleicht war er es auch, der trommelte. Mit angespannten Sinnen lauschte der Professor. Die rechte Hand hielt er erhoben, bereit, beim geringsten Anzeichen einer Gefahr eine Beschwörung durchzuführen. Ein erstickter Aufschrei ließ ihn herumwirbeln. Im Lichtkegel der Lampe des Kommissars sah er das Unglaubliche, Unfassbare. Allerdings war der Anblick des Toten, der sich plötzlich vom Boden erhoben hatte, für ihn längst nicht so unglaublich wie für den Kriminalbeamten. Dubois wich entsetzt zwei Schritte zurück. Die Hand mit der Lampe zitterte leicht. In der Tat bot der Tote einen furchtbaren Anblick. Gesicht, Hals und Brust waren vom bereits angetrockneten Blut bedeckt. Weit klaffte die Wunde am Hals auf. Sekundenlang stand er reglos da, dann hob er die Arme wie ein Schlafwandler an und setzte sich langsam in Bewegung. Der Kommissar sorgte mit einem weiteren Schritt für einen größeren 52 �
Abstand. Er wechselte die Lampe in die linke Hand und griff nach seiner Dienstwaffe. »Halt, stehen bleiben!« Als der unheimliche Mann nicht reagierte, hob er die Pistole. »Die wird Ihnen nichts nützen«, ließ sich da der Professor vernehmen. »Denken Sie an Ihren Kollegen auf den Champs-Elysees. Dies dürfte eine ähnliche Situation sein.« »Aber der Mann ist doch tot. So tot, wie jemand nur sein kann, dem man die Kehle durchgeschnitten hat. Ich kann mich doch nicht so sehr irren. Das gibt's doch nicht. Oder hat man uns vielleicht schon hypnotisiert?« »Nein, ich glaube nicht. Ich erkläre es Ihnen später, Kommissar.« Fitzpatrick richtete seine Hand gegen den wandelnden Toten. Doch er kam nicht dazu, seine Beschwörung anzubringen. Ein raschelndes Geräusch hinter ihm veranlaßte ihn, sich rasch umzudrehen. Seine Linke mit der Taschenlampe zuckte hoch, und sein Daumen schob den Auslöser vor. Der bleiche Lichtkegel enthüllte ihm einen weiteren Angreifer, der plötzlich aus dem Nichts heraus vor ihm aufgetaucht zu sein schien. Auch er sah mehr tot als lebendig aus. Und auch seine Kehle hatte jemand aufgeschlitzt. Während der Professor überrascht auf die Erscheinung starrte, ver-
nahm er einen unterdrückten Schmerzenslaut. Etwas Metallisches polterte zu Boden. Er riskierte einen raschen Seitenblick und sah, wie der Kommissar seine rechte Hand schlenkerte. Die Pistole lag zu seinen Füßen. Fitzpatrick stieß einen Warnruf aus. Doch Dubois reagierte um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der Angreifer war mit einem plötzlichen Schritt bei ihm. Seine Hand schloß sich um das rechte Handgelenk des Kommissars. Der Griff war so fest, daß der Franzose aufstöhnend in die Knie ging. Aber dann reagierte er, hob die Linke und knallte dem Gegner die Stablampe wuchtig gegen die Stirn. Den weiteren Verlauf des Kampfes vermochte der Professor nicht mehr zu verfolgen. Er war bereits zu lange abgelenkt worden. Das rächte sich jetzt, denn gerade als er den Kopf herum nahm, traf ihn ein Hieb an der linken Schläfe. Er taumelte zurück, bis die Hauswand ihn aufhielt. Mit Entsetzen stellte er fest, daß sich von seinem Kopf aus ein lähmendes Gefühl über seinen Körper ausbreitete. Er begann, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren. Seine Knie knickten ein. Langsam rutschte er an der Wand herab. Der Schmerz trieb ihm das Wasser in die Augen. Mühsam gelang es ihm, die Lampe festzuhalten. Es kos53 �
tete ihn eine gewaltige Kraftanstrengung, sie schließlich zu heben und auf den Angreifer zu richten. Nur verschwommen nahm er die Gestalt wahr, die sich ihm nun bis auf eine gefährliche Distanz genähert hatte. Er schloß einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. Als er den Kommissar wieder aufschreien hörte, reaktivierte er mit einem energischen Ruck seine Kräfte. Als besäße seine rechte Hand einen eigenen Willen, so rasch vollführte sie eine schlenkernde Bewegung. Er rief die drei magischen Worte dazu. Die zungenbrecherischen Worte einer längst toten Sprache flossen leicht von seinen Lippen. Der Erfolg zeigte sich sofort. Die dunkle Gestalt vor ihm verharrte plötzlich in der Bewegung. Sie blieb einen Moment lang reglos stehen, ehe sie im Zeitlupentempo in sich zusammensank und zu Boden schlug. Auch von der gegenüberliegenden Wand her erklang das Geräusch eines fallenden Körpers. Fitzpatrick vollführte eine weitere Handbewegung, begleitet diesmal nur von einem Wort. Nichts geschah, doch er wußte, daß er jetzt durch einen unsichtbaren Schutzschild gegen Angriffe mit magischen Kräften geschützt sein würde. »Wo ist eigentlich Ihr Begleiter?« Die überraschende Frage des Kommissars ließ Fitzpatrick zusammen-
zucken. Es war alles so schnell gegangen, daß er überhaupt nicht auf Tony geachtet hatte. Wo mochte er wohl stecken? Er lauschte kurz, doch außer entferntem Motorengeräusch und Musikfetzen, die aus irgendeiner Wohnung drangen, war es still. Der Professor richtete sich ächzend auf. In seinem Kopf summte es unaufhörlich. Er ignorierte es und setzte sich in Richtung Hinterhof in Bewegung. Der Kommissar folgte unaufgefordert. Als sie den Hofraum erreichten, nahmen sie zur Linken eine schwache Bewegung wahr. Das diffuse Licht, das aus einigen Fenstern in den oberen Stockwerken drang, reichte nicht aus, um etwas erkennen zu können. Erst das Licht ihrer Lampen riß die merkwürdige Szenerie aus der Dunkelheit. Sie sahen Tony im Würgegriff eines splitternackten Mannes. Deutlich war zu erkennen, daß der Reporter seinem Gegner völlig hilflos ausgeliefert war. Der Professor riß den Arm hoch. Seine Beschwörung ließ den Nackten zusammenzucken. Dann nahm er langsam die Hände vom Hals seines Opfers. Sein Körper wand sich zuckend, ehe er zu Boden stürzte. Reglos blieb er schließlich dort liegen. Auch Tony wankte und drohte zu stürzen. Doch die beiden Männer 54 �
waren rasch genug bei ihm, um ihn zu stützen. Der Kommissar stieß einen erstickten Laut aus. »Da, sehen Sie«, forderte er auf. »Habe ich Halluzinationen? Oder sehen Sie auch, was ich sehe, Professor?« Er hielt den Scheinwerferkegel voll auf die zusammengekrümmte Gestalt zu seinen Füßen gerichtet. In seiner Stimme schwang das Entsetzen mit, das er bei dem Anblick empfand. Professor Fitzpatrick warf nur einen raschen Blick auf den Mann, dessen Körper sich in einem Umwandlungsstadium befand. Zu einem großen Teil hatte er sich bereits in ein riesiges, grauenhaftes Insekt verwandelt. Der Anblick war nicht neu für den Professor, deshalb wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Reporter zu. »Das ist nur eine Suggestion«, versuchte er, den Kommissar zu beruhigen. »Dieser Johnny Blaine ist in der Nähe und versucht, uns zu hypnotisieren. Versuchen Sie einfach zu ignorieren, was Sie sehen. Das wird Ihnen im Augenblick helfen.«
ten und entlohnte den Fahrer. Hier schien sie an der richtigen Stelle zu sein. Die Männer, die eifrig am und um das Fahrzeug beschäftigt waren, trugen zwar keine Uniformen, doch sahen sie ganz nach Polizisten aus. Von Tony und dem Professor konnte sie jedoch von ihrem Standort aus nichts sehen. Nun, vielleicht hielten sie sich gerade hinter dem Lieferwagen auf. Sie setzte sich also in Bewegung und näherte sich mit energischen Schritten dem erstbesten der Männer. Der trat auf sie zu und breitete die Arme aus, um ihr den Weg zu versperren. »Polizei. Gehen Sie bitte dort drüben weiter, Mademoiselle.« Offensichtlich hielt er sie nur für eine Frau, die hier ihre Neugier zu befriedigen suchte. Wenn sie erst einmal hier stehen blieb, um zu gaffen, dann würden sich noch mehr Neugierige einfinden. Trotz der späten oder besser frühen Stunde waren schon etliche Köpfe in den Fenstern aufgetaucht, und manche Gardine bewegte sich verdächtig. Aber Sandra ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Sie schenkte ihm ihr stets wirkungsvolles Lächeln, während sie ihre Französischkennt* nisse zusammenkramte. Mit einem flüchtigen Bedauern dachte sie Als der geparkte Lieferwagen in � daran, daß sie damals in der Schule Sicht kam, ließ Sandra das Taxi hal- doch besser daran getan hätte, sich 55 �
mit den Vokabeln zu befassen als den Lehrer anzuhimmeln. »Entschuldigen Sie bitte, Monsieur. Ich suche Kommissar Dubois und die beiden Engländer, die ihn begleiten. Können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann?« Entweder wirkte ihr Lächeln bereits oder aber ihr Akzent tat ein Übriges, denn die Fassade der obrigkeitlichen Strenge zerbröckelte zusehends. Er erwiderte ihr Lächeln und deutete eine galante Verbeugung an. »Oh, ich bin untröstlich, Mademoiselle. Sie kommen um eine Viertelstunde zu spät. Der Kommissar und Ihre beiden Landsleute befinden sich seitdem irgendwo dort auf den Hinterhöfen.« Er zeigte mit dem Arm die Richtung an. »He, Moment. So geht's aber nicht«, rief er erstaunt, als die junge Frau einfach losmarschierte. Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr und hielt sie am Arm zurück. »Sorry, Mademoiselle. Aber da können Sie jetzt nicht hin. Wenn Sie mit dem Kommissar oder mit Ihren Landsleuten sprechen wollen, dann werden Sie auf sie warten müssen. Auf die Hinterhöfe kann ich Sie nicht lassen. Dort treibt sich wahrscheinlich ein verrückter Mörder herum. Kommen Sie, Mademoiselle, setzen Sie sich in meinen Wagen. Dort läßt es sich angenehmer warten als
hier auf der Straße. Und bei der Gelegenheit können Sie mir sagen, was Sie vom Kommissar wollen. Vielleicht kann ich Ihnen auch weiterhelfen. Übrigens, mein Name ist Barclain.« »Nein, danke«, wehrte Sandra sein Angebot höflich, aber bestimmt ab. »Ich will nur Mr. Wilkins privat sprechen. Während ich auf ihn warte, werde ich mir noch ein wenig die Beine vertreten.« Sandra nickte ihm lächelnd zu und ging. Normalerweise hätte sie sein Angebot angenommen. Es würde sicher angenehmer im Wagen sein als hier in der Kälte auf der Straße. Aber sie war von zu großer Unruhe erfüllt, als daß sie sich jetzt hätte still in einen Wagen setzen können, um zu warten. Das Gefühl, daß sich Tony in Gefahr befand, wurde immer intensiver und bestimmte ihr Denken. Sie mußte zu ihm. Sicher würde sie ihm helfen können. Barclain sah ihr nach, bis sie aus dem Lichtkreis der nächsten Laterne in die Dunkelheit hinübergewechselt war. Dann wandte er sich achselzuckend ab. Schade, dachte er, die Kleine sieht verdammt lecker aus. Hat sicher eine Bombenfigur. Er hätte sich gerne näher mit ihr befasst. Die junge Engländerin schritt schneller aus, als sie einen genügenden Abstand zu dem Kriminalbeamten zu haben glaubte. Ihre Blicke 56 �
suchten die Häuserfronten zu ihrer Rechten ab. Als sie eine Lücke zwischen zwei Häusern fand, die gerade breit genug war, einen Pkw hindurchzulassen, bog sie kurzentschlossen ein. Keinen Moment dachte sie an die Gefahr, der sie sich aussetzte. Ihr wurde nicht bewußt, daß sie sich genauso leichtsinnig verhielt, wie die Frauen in Romanen und Filmen, über die sie sich immer aufregte. Nur die Sorge um Tony trieb sie vorwärts. In Situationen wie dieser wurde ihr stets klar, daß sie Tony mehr liebte, als sie sich selbst eingestehen wollte. Schon nach drei Schritten nahm sie undurchdringliche Finsternis auf. Doch während sie sich langsam Schritt für Schritt an der Wand entlangtastete, passten sich ihre Augen allmählich an. Sie vermochte rechts von sich vage eine Tür zu erkennen, die wohl den Seiteneingang des Hauses darstellte. Daneben standen einige hüfthohe Behälter an der Wand, von denen ein ekelhafter Geruch ausging. Etwas raschelte leise vor ihr in der Dunkelheit; und sie verhielt in der Bewegung. Jetzt beschlich sie doch ein leichtes Gefühl der Furcht. Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Doch als es still blieb, setzte sie ihren Weg fort, in sicherem Abstand an den Mülltonnen vorbei. Gerade erreichte sie den Hof, da
ragten plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, die Umrisse einer großen, dunklen Gestalt vor ihr auf. Ehe sie zu reagieren vermochte, spürte sie die flüchtige Berührung einer Hand an der Stirn. Gleichzeitig drangen leise, unverständliche Worte an ihre Ohren. Sie riß den Mund zu einem Schrei auf. Aber sie kam nicht mehr dazu, Furcht und Entsetzen in die Nacht hinauszuschreien. Da war etwas in der flüsternden Stimme vor ihr, das ihren Willen abrupt lähmte. * Johnny Blaine hockte mit geschlossenen Augen in seinem Versteck. Trotzdem aber sah er das Bild, auf das er sich konzentrierte, deutlich vor sich. Als stände er neben ihnen, so sah er die beiden Männer, die sich um einen Dritten bemühten. Zu ihren Füßen lag die Kreatur, halb Mensch, halb Insekt, die ihren Auftrag nicht hatte erfüllen können. Der verdammte Reporter lebte noch. Und Johnny konnte es nicht verhindern, daß er langsam wieder zu Kräften kam. Fitzpatrick, der andere Magier, hatte gerade noch im letzten Augenblick einen magischen Schirm errichtet, der die Dreiergruppe vor seinen Angriffen schützte. Bisher hatte der Schutzschild seinen wütenden Attacken standgehal57 �
ten. Er hatte unablässig Ströme lautloser, tödlicher Energien durch die Nacht gejagt. Wie Blitze waren sie in den Schutzschirm eingeschlagen, hatten ihn verformt, zusammengepresst aber nicht durchschlagen können. Er wußte nur zu gut, daß der Gegner nicht mehr sehr lange in der Lage sein würde, die enorme geistige Konzentration beizubehalten, die erforderlich war, um den Schild stabil zu halten. Der Schutz bezog seine Energie aus dem Geist und verzehrte in gleicher Weise sowohl die psychischen als auch die physischen Kräfte. Irgendwann in den nächsten Minuten würde Fitzpatrick zusammenbrechen. Dann würde er seine Gegner mit einem Schlag vernichten können. Aber auch seine Aktionen begannen sich bemerkbar zu machen. Bohrender Kopfschmerz ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Wenn der Zusammenbruch des Gegners nicht innerhalb kürzester Zeit erfolgte, dann würde auch er in Schwierigkeiten geraten. Die Kopfschmerzen würden verhindern, daß er die erforderliche Konzentration aufbrachte. Und dann kam der Moment, den er befürchtet hatte. Der Reporter, von der Attacke erholt, griff nun in das Geschehen ein. Auch er errichtete einen Schild, um so Fitzpatrick Gelegenheit zu geben, seine Kräfte
zu regenerieren. Resigniert erkannte Blaine, daß er heute wieder den kürzeren ziehen würde. Aber noch einmal vereinte er all seine geistige Energie zu einem gewaltigen Stoß gegen den Schild. Für Sekundenbruchteile gewann er den Eindruck, als würde er nachgeben, doch nahezu im gleichen Augenblick wurde sein Angriff zurückgeworfen. Einer Welle gleich überschwemmten Vibrationen sein Gehirn und drohten seinen Schädel zu zersprengen. Aufstöhnend zog er sich zurück. Während er lautlos durch die Finsternis davoneilte, überlegte er, wie er sich seiner Gegner entledigen konnte. Zusammen waren die verdammten Engländer einfach zu stark für ihn. Er mußte sie einzeln in eine Falle locken und dann vernichten. Erst dann würde er ungestört seine weiteren Pläne durchführen können. Gerade wollte er den Bereich der Hinterhöfe verlassen, da erklangen leise Schritte vor ihm. Gegen den nur unmerklich helleren Hintergrund einer Einfahrt hoben sich die Umrisse eines Körpers ab. Den Konturen nach mochte es sich um eine Frau handeln. Er blieb reglos stehen, um sie vorbeizulassen. Im Moment lag ihm nichts an einer Begegnung, zumal die Kopfschmerzen nur allmählich 58 �
nachließen. Doch dann, als sie dicht vor ihm ebenfalls im Schritt verharrte, weil sie wohl seine Anwesenheit spürte, entschied er sich blitzschnell anders. Seine Hand schoß vor und berührte ihre Stirn mit einem magischen Zeichen. Gleichzeitig murmelte er eine kurze Beschwörungsformel. Kaum war ihr Wille gelähmt, stieß er brutal mit seinen Gedanken in ihr Bewußtsein vor. Als er ihre Gedanken kurz sondierte, da zuckte er zusammen. Erfreut erkannte er, daß ihm der Zufall ein unerwartetes Geschenk machte. Die Gedanken der Frau waren beherrscht von dem Namen Tony Wilkins, von dem Mann also, den er zu vernichten trachtete. Ein Plan nahm rasch Gestalt in seinem Hirn an. Er gab der Frau einen kurzen Gedankenbefehl. Sie drehte sich um und schritt davon, der Straße zu. Er folgte ihr lautlos. Als sie auf die Straße traten, hielten sie sich rechts. Etwa eine halbe Stunde lang schritten sie wortlos nebeneinander her, bis sie sich in ausreichender Entfernung von der Rue Gerard befanden. Sie kamen an der Miniaturausgabe eines Parks vorbei. Das schwache Mondlicht enthüllte eine winzige Rasenfläche, einige Büsche, ein Reiterstandbild und zwei Bänke. Auf einen Wink von ihm hin nahm die Frau Platz. Er setzte sich neben sie.
Für jeden Passanten mochte es aussehen, als handle es sich um ein Liebespaar, das ungeachtet der Jahreszeit den Mondschein genoss. Er gab ihr einen kurzen Befehl, und sie begann zu erzählen. Hin und wieder warf er eine kurze Frage ein. Als sie geendet hatte, da wußte er alles über Sandra Dennison, ihr Verhältnis zu Tony Wilkins und den Zweck ihres Aufenthaltes in Paris. Wenig später erhob er sich und setzte seinen Weg fort. Wie ein gut dressierter Hund folgte sie ihm. Als an der nächsten Kreuzung ein Taxi vorbeifuhr, winkte er es heran. Um keinen Verdacht zu erwecken, ließ er die Frau zuerst einsteigen. Nachdem er neben ihr Platz genommen hatte, nannte er dem Fahrer das Ziel. Zufrieden lehnte er sich zurück. Bald schon würde er triumphieren können. Dann würde er seine ärgsten Widersacher aus dem Weg räumen können. * Der Nachtportier schaute dienstbeflissen auf, als die junge Engländerin durch die Empfangshalle näher kam. Doch beim Anblick des Mannes neben ihr erstarb sein Lächeln abrupt. Sein Gesicht nahm jenen abweisenden Ausdruck an, den allein er für richtig im Umgang mit Farbigen hielt. Miss Dennison steuerte mit langsa59 �
men Schritten geradewegs auf ihn zu. Einen Moment lang hoffte er, der Neger würde einen anderen Weg einschlagen und damit zeigen, daß er nicht der Begleiter der Frau war. Aber der Bursche tat ihm nicht den Gefallen und blieb beharrlich an ihrer Seite. Da beschloss er, ihn so gut wie zu ignorieren. Er blickte der jungen Frau aufmerksam ins Gesicht. Sie lächelte, doch ihr Lächeln erschien ihm wie eine aufgesetzte Maske. Es wirkte irgendwie gezwungen. Die Engländerin schien Probleme zu haben. Hingen sie etwa mit dem Burschen an ihrer Seite zusammen? Auszuschließen war das nicht, denn der Schwarze machte einen äußerst unsympathischen Eindruck. Dazu trug sein stechender Blick ebenso bei wie seine ungepflegte Kleidung. Am besten, ich schmeiße ihn raus, beschloss der Portier. Solche Typen haben ohnehin in unserem Haus nichts verloren. Aber er kam nicht mehr dazu, seinen Gedanken die Tat folgen zu lassen. Ein plötzliches Aufblitzen in den Augen des Farbigen zog seinen Blick wie ein Magnet an. Erstaunt registrierte er, daß er noch nie solche Augen gesehen hatte. Sie waren dunkel, strahlen aber in einem eigentümlichen Glanz. Und auf ein-
mal schienen sich die Pupillen langsam, aber stetig auszudehnen. Ein Gefühl des Unbehagens ergriff plötzlich von ihm Besitz. Er wollte den Blick abwenden, wollte dem Kerl klarmachen, daß er hier nichts zu suchen hatte. Doch eine unheimliche Kraft schien seinen Kopf in eisernem Griff zu halten, so daß er gezwungen war, unablässig in diese seltsamen Augen zu starren. Eine unerklärliche Lähmung hatte seine Stimmbänder erfasst und verhinderte, daß er sich räusperte. Die Sekunden schienen sich bereits zu Minuten aufgetürmt zu haben, als der Schwarze seinen Arm hob. Mit der Hand fuhr er vor den Augen des Portiers hin und her. Dazu murmelte er irgendeinen Kauderwelsch vor sich hin. Einen Atemzug lang hatte der Franzose das Gefühl, abrupt in eiskaltes Wasser getaucht, um anschließend der Hitze eines Backofens ausgesetzt zu werden. Dann aber setzten seine Empfindungen abrupt aus. Sein Wille war völlig ausgeschaltet. Mit gleichgültiger Miene und monotoner Stimme beantwortete er die Frage nach der Zimmernummer von Tony Wilkins. Ebenso unbeteiligt wirkte er, als er der jungen Engländerin ihren Zimmerschlüssel aushändigte und anschließend die Anweisungen des Farbigen entgegennahm. 60 �
Als das ungleiche Paar dann dem Lift zustrebte, da schaute er ihnen nicht nach. Sein Blick war auf einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand gerichtet. Sekunden später zeigte die Leuchtanzeige an, daß der schon leicht antiquierte Lift in der 2. Etage hielt. Ein leichter Ruck ging durch seinen Körper. Er schloß die Augen und fuhr sich mit der Hand darüber. Als er sie wieder öffnete, schüttelte er verwundert den Kopf. Ihm war, als sei gerade etwas Seltsames, Außergewöhnliches geschehen. Aber anscheinend hatte er nur für einen Moment mit offenen Augen geträumt. Achselzuckend wandte er sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu. * »Mir reicht's für heute«, erklärte Kommissar Dubois kategorisch. »Kommen Sie, meine Herren. Den Rest können meine Leute erledigen. Wir werden hier nicht mehr gebraucht. Und ich habe das Gefühl, daß wir alle ein paar Stunden Schlaf sehr nötig haben. Vorher aber werden Sie mir noch einiges erklären müssen. Wissen Sie, ich habe meinen Kollegen absichtlich noch nichts von dem berichtet, was wir hier erlebt und gesehen haben. Schließlich habe ich
keine Lust, für verrückt erklärt zu werden. Als Kommissar kann ich es nicht riskieren, daß sich meine Leute hinter meinem Rücken nur noch an die Stirn tippen. Allerdings könnte ich es dann auch keinem verübeln. Ich selbst kann immer noch nicht glauben, daß ich das alles nicht nur geträumt habe. Und mir fehlt jede Erklärung für das Vorgefallene. Sie aber, so glaube ich, werden mir da sicher ein wenig auf die Sprünge helfen können. Oder nicht?« Ihm entging nicht, daß die beiden Engländer einen raschen Blick des Einverständnisses wechselten. Inzwischen war die Nacht dem Morgengrauen gewichen, so daß er die Gesichter seiner Begleiter deutlich zu erkennen vermochte. »Ja, da haben Sie recht, Kommissar«, stimmte ihm Fitzpatrick zu. »Es gibt da noch einiges zu erklären. Lassen Sie uns irgendwohin gehen, wo wir ungestört sein werden. Danach aber werde ich sicher den Rest des Tages verschlafen.« »Gut, ich kenne da ein Bistro, nicht weit von hier, das in wenigen Minuten öffnen wird. Lassen Sie uns dorthin gehen«, schlug der Kriminalbeamte vor. »Dort werden wir auch frühstücken können. Ein heißer Kaffee wird uns sicher gut bekommen.« »Endlich mal eine gute Idee«, fand Tony grinsend und setzte sich in Bewegung. Der Kommissar erteilte seinen 61 �
Leuten noch einige Anweisungen; dann verließen sie den Tatort. Obwohl sich das Bistro nach seinen Worten nicht weit entfernt befinden sollte, nahmen sie dennoch die Metro. Sie fuhren nur eine Station weit und stiegen auf eine andere Linie um. An der nächsten Haltestelle stiegen sie wieder aus und bahnten sich ihren Weg durch die Masse der dahinhastenden morgendlichen Berufspendler zurück an die Oberfläche. Als sie dann tatsächlich nach nur wenigen Metern das Restaurant erreichten, wurde es gerade geöffnet. Der Wirt begrüßte den Kommissar wie einen alten Bekannten. Nach einem kurzen Wortwechsel führte er die frühen Gäste in einen winzigen Nebenraum. Ein Tisch und vier Stühle bildeten das gesamte Mobiliar. Der Wirt versprach, ihnen in wenigen Minuten ein erstklassiges Frühstück zu servieren, ehe er sich zurückzog. Nachdem sie Platz genommen hatten, sah der Kommissar den Professor erwartungsvoll an. Der lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Einen Moment lang schloß er die Augen, als müsse er sich auf das konzentrieren, was er nun zu sagen hatte. »Was halten Sie von übersinnlichen Wahrnehmungen und Magie?«
Der Kommissar wirkte einen Augenblick recht ratlos, dann zuckte er die Achseln. »Darüber habe ich mir eigentlich noch nie Gedanken gemacht«, gab er dann zu. »Das war für mich immer etwas, das ins Reich der Phantasie gehört. Vorhin ist mein Glaube an die Realität doch etwas ins Wanken geraten. Jetzt jedoch, aus einem gewissen Abstand heraus betrachtet, bin ich überzeugt davon, daß es für die ganze Geschichte eine logische, akzeptable Erklärung gibt. Wenn Sie eine klare Antwort wollen, Professor, dann kann ich Ihnen nur sagen, daß ich an Magie und den ganzen Hokuspokus nicht glaube.« »Nun denn, das ist eine klare Antwort. Aber Sie begehen den gleichen Fehler wie die breite Masse des Volkes. Es ist ja schließlich sehr einfach, all das, was man nicht sehen, hören oder fühlen kann, als nichtexistent und absurd abzulehnen. Aber was halten Sie davon, wenn ich Sie vom Gegenteil überzeugte? Ich bin in der Lage, Ihnen zu beweisen, daß die Magie durchaus keine Erfindung des menschlichen Geistes ist. Und danach werden Sie unser vorheriges Erlebnis in einem völlig anderen Licht sehen. Ich…« Er unterbrach sich, da der Wirt mit einem voluminösen Tablett erschien. Der Übertreibung konnte man ihn tatsächlich nicht bezichtigen, denn 62 �
was er auftischte, ließ keine Wünsche offen. Vor allem die beiden Engländer waren freudig überrascht. Das kontinentale Standard-Hotelfrühstück erfüllte jeden Briten mit Grausen. Hier aber fühlten sie sich sofort wieder in ihre Heimat versetzt. Die Männer griffen deshalb erst einmal kräftig zu. Eine Zeitlang war nur das Klappern von Besteck und Geschirr zu vernehmen. »Professor, ich hatte Sie bisher für einen ernsthaften Menschen gehalten«, nahm der Kommissar das Gespräch schließlich wieder auf. Er trank noch einen Schluck des dampfenden Kaffees und stellte die Tasse geräuschvoll wieder zurück. »Aber nach dem, was Sie mir vorhin erzählt haben, kommen mir doch leichte Zweifel. Mir scheint, Sie gehören auch zu jenen Zeitgenossen, die die Spinnereien anderer Leute für bare Münze nehmen. Wenn Sie daran Spaß haben, dann bitte sehr. Aber mir bleiben Sie damit bitte vom Leibe. Wenn Sie mir keine vernünftige Erklärung für die Vorkommnisse vorhin bieten können, dann lassen Sie es sein. Ich bin nicht bereit, mir obskure Geistergeschichten anzuhören.« Fitzpatrick ließ sich jedoch durch diese klaren Worte nicht beeindrucken. Er behielt sein verbindliches Lächeln bei. »Gut, Kommissar, das waren deut-
liche Worte. Aber ich weiß sehr gut, wovon ich spreche. Und ich habe auch nicht die Absicht, Sie zu bekehren, sondern werde Ihnen nur Tatsachen bieten. Was Sie jetzt sehen werden, ist eine Demonstration magischer Kräfte. Mit Hilfe einer einfachen Beschwörung werde ich nun einen leibhaftigen Dämon herbeirufen. Ich denke, das wird Sie überzeugen.« Er hob seine rechte Hand in Augenhöhe. Während er etwas Unverständliches vor sich hinmurmelte, bewegte er in rascher Folge die Finger. Zunächst geschah nichts. Doch dann erfüllte plötzlich ein durchdringendes Summen den Raum. Der Kommissar fuhr entsetzt zurück, als sich die Tischdecke vor ihm plötzlich bewegte. Es sah aus, als befände sich ein Tier unter der blauweißkarierten Decke, das sich zappelnd einen Weg in die Freiheit zu bahnen versuchte. Seltsamerweise aber fielen Geschirr und Besteck nicht herunter. Alle Gegenstände auf dem Tisch machten die Bewegungen mit, als seien sie am Tischtuch festgeklebt. Ein blendender Blitz zuckte plötzlich auf und ließ die Männer die Augen schließen. Als sie sie wieder vorsichtig öffneten, bot sich ihnen der gewohnte Anblick. Der Frühstückstisch befand sich 63 �
wieder im Normalzustand. Auch das summende Geräusch war nicht mehr zu vernehmen. Während sich der Professor und Tony verwundert anstarrten, schüttelte der Franzose nur abwehrend den Kopf. »Wenn Sie glauben, daß Sie mich mit solchen Taschenspielertricks beeindrucken oder sogar überzeugen können, dann haben Sie sich aber gewaltig getäuscht.« »Tut mir leid, Kommissar«, entgegnete Fitzpatrick achselzuckend. »Da ist etwas Unvorhergesehenes geschehen, das ich mir nicht erklären kann. Nun werden wir ein wenig umdisponieren müssen.« Wieder hob er die Rechte und fuchtelte damit vor den Augen seines Gegenübers herum. Was er dazu sagte, verstand der Kommissar nicht. Ehe er jedoch eine Frage zu formulieren vermochte, spürte er, wie sich sein Körper augenblicklich versteifte. Von einem Atemzug zum anderen schwand sein Bewußtsein. Ihm wurde nicht mehr bewußt, wie unsichtbare Finger nach seinem Gehirn griffen. Sie tasteten sich durch seinen Geist, nahmen ihm behutsam Bruchstücke seiner Erinnerung und ersetzten sie durch andere, falsche Fragmente. Als wenige Minuten später der Wirt kam und nach weiteren Wünschen fragte, fand er die drei Män-
ner in angeregter Unterhaltung vor. � * »Ich möchte nur wissen, was mit Yaguth los ist«, meinte Tony kopfschüttelnd, als sie sich mit müden Schritten dem Pult des Portiers näherten. »Ich bin ebenso ratlos wie Sie, Tony. Es ist in all den Jahren noch nie geschehen, daß Yaguth nicht erschienen ist, wenn ich ihn gerufen habe. Aber ich denke, wir werden gleich den Grund dafür erfahren. Sobald wir uns in meinem Zimmer befinden, werden wir ihn erneut rufen. Und danach werde ich mit Sicherheit für die nächsten Stunden mein Bett nicht mehr verlassen. Ja, ja, man sollte sich in meinem Alter nicht mehr die Nächte auf diversen Hinterhöfen um die Ohren schlagen. Vielleicht sollte ich mich doch langsam zur Ruhe setzen.« Tony grinste ihn an. »Aber, aber, Professor. Sie sind doch höchstens doppelt so alt wie ich. Da zieht man sich doch noch nicht aufs Altenteil zurück. Dann müßte ich aber auch schon mal vorsorglich meinen Rentenantrag ausfüllen, denn ich bin mindestens ebenso geschlaucht wie Sie.« Der Nachtportier hüstelte diskret und unterbrach so ihr Gespräch. Er schaute sie so lange fragend an, bis sie ihm ihre Zimmernummern nann64 �
ten. Wortlos händigte er ihnen die Schlüssel aus. Der Blick, mit dem er sie dabei bedachte, war nicht zu definieren. Tony warf ihm einen prüfenden Blick zu. Irgendwie kam ihm das Verhalten des Burschen nicht ganz geheuer vor. Aber er war zu müde, um sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Vielleicht, so sagte er sich, ist der ganz einfach auch nur hundemüde. Er hat ja schließlich die ganze Nacht hier gehockt. Er wandte sich ab und strebte dem Lift zu. Der ein wenig antike Gitterkäfig sah ja nicht gerade vertrauenerweckend aus, aber er war heilfroh, jetzt nicht die Treppen in den zweiten Stock hinaufsteigen zu müssen. Rumpelnd setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung und hielt oben mit einem Ruck, der sie leicht in die Knie gehen ließ. Wenig später schloß der Professor seine Zimmertür auf. Er steuerte schnurstracks auf den Sessel zu und ließ sich hineinfallen. Tony folgte ihm, schloß die Tür hinter sich und hockte sich auf die Bettkante. Einen Moment lang saßen die Männer schweigend da und hingen ihren Gedanken nach. Als der Professor dann die Hand hob, schlug das Telefon an. Fitzpatrick sah Tony fragend an. Der zuckte nur mit den Achseln. Da griff der Professor zum Hörer. Er lauschte einige Sekunden lang, ehe
er den Hörer wieder auf die Gabel knallte. Dann erhob er sich langsam. »Der Portier«, erklärte er, noch ehe Tony seine Frage zu formulieren vermochte. »Er hat unten den Kommissar am Apparat. Es soll sehr wichtig sein, was uns Dubois zu sagen hat. Also, dann will ich mich mal auf den Weg machen. Mal sehen, was es gibt.« »Warum hat der Portier das Gespräch denn nicht auf diesen Anschluss gelegt?« »Nun, er sagte mir, daß hier die Telefone nur einfache Hausanschlüsse sind. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als runterzugehen. Aber danach werde ich mich wohl sofort langlegen.« Auch Tony erhob sich. Er gähnte ausgiebig. Sie haben mal wieder recht, Professor. In unserem schlappen Zustand können wir sowieso nichts mehr unternehmen. Schlafen wir uns also erst einmal aus, ehe wir Yaguth rufen und weitere Schritte planen. Ich werde mich jetzt auch langmachen. Sollte tatsächlich etwas sehr Wichtiges sein, dann sagen Sie mir gleich Bescheid. Ansonsten würde ich sagen, daß wir uns in vier Stunden treffen.« Der Professor zeigte mit einem Kopfnicken an, daß er einverstanden war. *
65 �
Tony war nicht nur körperlich, sondern auch geistig müde. Er konnte es daran feststellen, daß er all dem, was ihm im Kopf herumging, nicht mehr zu folgen vermochte. Seine Gedanken formulierten sich nur vage und glitten davon. Trotzdem aber wurde er mit einem Schlage hellwach, als er den Schlüssel ins Schloß schob. Es war nicht abgeschlossen. Seine Sinne spannten sich. Wie unsichtbare Fühler begannen sie, die unmittelbare Umgebung abzutasten und nach einer Gefahr zu suchen. Doch sie meldeten ihm nichts, das er als gefährlich einstufen konnte. Aber er wollte kein Risiko eingehen und handelte sofort. Rasch hob er die rechte Hand zur vorgeschriebenen Bewegung, während er mit leiser Stimme die Beschwörungsformel zitierte. Er spürte, sah und hörte nichts, wußte aber, daß er nun auf den Schutz des magischen Schirms vertrauen konnte. Dennoch waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt, als er langsam die Klinke herunterdrückte und die Tür behutsam aufschob. Ein rascher Rundblick durchs Zimmer zeigte ihm, daß sich hier in seiner Abwesenheit nichts verändert hatte. Aber dann sah er genauer hin, und er verhielt in der Bewegung. Deutlich zeichneten sich unter der Bettdecke die Umrisse eines Körpers
ab. Wer oder was auch immer da in seinem Bett lag, das vermochte er von der Tür her nicht zu erkennen. Sein Bett? Einen Moment lang fühlte er sich irritiert. Sein Blick wanderte von der Zimmernummer an der Tür zum Schlüsselanhänger und zurück. Aber er konnte den Gedanken, im falschen Zimmer zu sein, sofort verwerfen. Wenn man das Zimmer Nr. 222 bewohnte, dann konnte man kaum diese Nummer verwechseln. Also war dies hier sein Zimmer. Er zog lautlos die Tür hinter sich ins Schloß. Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Bett. Der dicke, fleckige Teppichboden dämpfte seine Schritte. Als er das Fußende erreicht hatte, erkannte er einen dunkelblonden Haarschopf, der sich tief ins Kopfkissen eingewühlt hatte. Die Haare waren etwa schulterlang und ließen auf eine Frau schließen. Allerdings wußte Tony aus Erfahrung nur zu gut, daß man heutzutage manche Langhaarige zur Geschlechtsbestimmung doch etwas näher in Augenschein nehmen mußte. Aber in diesem Moment räkelte sich der Eindringling seufzend. Ein schlanker Arm kam zum Vorschein und beseitigte augenblicklich seine Zweifel. Der Arm war nackt und von der Farbe, wie sie aus der Verbindung von Kaffee und Sahne entsteht. 66 �
Irgendwie weckten der Anblick der Haare und des Armes eine Erinnerung in ihm. Aber er war sich nicht sicher, zumal es ihm auch sehr unwahrscheinlich vorkam. Und doch begann sein Herz jetzt in einer Art freudiger Erwartung zu klopfen, als er seine vorsichtigen Schritte zur anderen Seite des Bettes lenkte. Dann sah er sie. Seine vage Ahnung wurde zur Gewissheit. Sandra! Sie schlummerte friedlich vor sich hin. Ein leichtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als würde sie ein äußerst angenehmes Traumerlebnis haben. Tony blickte auf sie hinab und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wenn sie ihn hatte überraschen wollen, dann war ihr das auch hundertprozentig gelungen. Doch er befand sich nun im Widerstreit der Gefühle. Sie sah hinreißend aus, und ihm wurde jetzt erst richtig bewußt, wie viel er für sie empfand. Zudem hatten sie sich, durch die zurückliegenden Ereignisse bedingt, schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Doch so sehr er sich auch freute, sie zu sehen, so sehr bereitete ihm die Situation auch Kopfzerbrechen. Sie konnte nicht hier bleiben. Sie mußte sofort nach London zurück. Solange Johnny Blaine noch nicht unschädlich gemacht war, schwebte sie in ständiger Gefahr. Es war nicht auszudenken, was geschehen konnte,
wenn er von Sandras Existenz erfuhr. Der Bursche war unberechenbar. Und außerdem hatte sich gezeigt, daß er und der Professor bei den Auseinandersetzungen mit Blaine ihre volle Konzentration benötigten. Da konnte er sich keinen Augenblick von der Sorge um Sandra ablenken lassen. Nein, so bedauerlich es auch für sie sein mochte, es war besser, wenn sie schon mit der nächsten Maschine zurückflog. Das Problem war nur, es ihr auch plausibel zu machen. Sandra konnte nämlich ganz schön eigensinnig sein. Nun, sie mußte es einfach einsehen. Tony ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Mit leiser Stimme murmelte er die beiden Wörter, durch die sich der Schutzschirm wieder auflöste. Der Schirm war eine feine Sache, wenn es galt, Angriffe abzuwehren. Doch wenn man eine Frau in den Arm zu nehmen beabsichtigte, dann stellte er ein unüberwindliches Hindernis dar. * Trotz seiner Müdigkeit beeilte sich der Professor. Mit raschen Schritten erreichte er das Pult des Portiers. Sein Argwohn erwachte schlagartig, als er sah, daß sich der Telefonhörer auf der Gabel befand. Der Portier bedachte ihn mit einem seltsamen 67 �
Blick, ehe er mit der Hand auf die Tür hinter seinem Rücken deutete. »Dort drin, Mr. Fitzpatrick. Ich habe den Anruf auf unseren zweiten Anschluss umgelegt, um meinen Apparat nicht so lange zu blockieren. Gehen Sie ruhig rein. Dort können Sie ungestört sprechen.« Der Professor nickte ihm dankend zu und steuerte auf die Tür mit der Aufschrift »Privat« zu. Als er die Tür aufstieß, fiel sein Blick auf einen wuchtigen, altertümlichen Schreibtisch mit einem ebenso antiquierten Sessel. Auf der Tischplatte stand ein weiteres Telefon, dessen Hörer neben dem Gerät lag. Sein Argwohn schwand, während er die Tür hinter sich schloß. Rasch umrundete er den Schreibtisch und nahm in dem Sessel Platz. Dann griff er zum Telefonhörer. »Hallo, Kommissar. Was…« Er unterbrach sich verblüfft, denn das; Freizeichen klang an sein Ohr. Da war niemand mehr am anderen Ende der Leitung. Hatte es dem Kripobeamten zu lange gedauert? Oder war die Verbindung vielleicht getrennt worden? Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit. Der Gedanke daran ließ ihn aufspringen. Der Hörer fiel polternd auf die Tischplatte. »Eine Falle«, fuhr es ihm durch den Kopf. Augenblicklich handelte er. Doch seine Reaktion erfolgte um
den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Im gleichen Moment, in dem er die Hand bewegte und die Formel sprach, wurde die Tür aufgerissen. Blaine stand vor ihm, die Arme ausgestreckt. Das Gesicht vor Wut und Hass verzerrt, schleuderte er dem Professor einige Worte entgegen. Deren Sinn konnte er nicht verstehen, doch die Wirkung bekam er augenblicklich zu spüren. Ein leichtes, kaum wahrnehmbares Prickeln auf der Haut zeigte ihm an, daß der unsichtbare Schutz um seinen Körper entstand. Doch so unfassbar kurz die Zeitspanne auch war, die das Schutzfeld benötigte, um seinen Körper zu umhüllen, die Beschwörung des Gegners verhinderte es fast. Der Professor fühlte sich von den Beinen gerissen. Eine unsichtbare Kraft stemmte sich gegen seinen Körper. Er taumelte rückwärts, mit den Armen in der Luft rudernd, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Aber dann stießen seine Kniekehlen gegen den Sessel, und er stürzte hintenüber. Der nur zum Teil wirksame Schutzschirm verhinderte, daß er schwer aufschlug. Es war, als würde er auf eine Schaumgummimatte fallen. Aber Blaine attackierte ihn weiter. Der schwere Sessel hob plötzlich neben ihm vom Boden ab. Wie von Geisterhänden bewegt, schwebte er 68 �
zur Decke empor, um dann blitzschnell auf ihn herunterzustoßen. Fitzpatrick schloß die Augen und konzentrierte sich mit gewaltiger geistiger Anstrengung auf den Schutzschirm. Gleichzeitig wälzte er sich ruckartig zur Seite. Der Sessel machte die Ausweichbewegung jedoch mit. Ein furchtbarer Schlag preßte ihm plötzlich die Luft aus den Lungen. Er schrie gequält auf. »Aus«, dachte er. »Er hat mich erwischt. Ich habe zu spät reagiert.« Aber ein anderer Teil seines Geistes beschäftigte sich unabhängig davon mit der Situation und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Er stockte diesmal in der Klemme, daran gab es keinen Zweifel. Der Schutzschirm war nur zu etwa 90 Prozent wirksam. Er benötigte all seine geistige Kraft, um zu verhindern, daß er sich auflöste. Das bedeutete, daß er sich völlig auf die Defensive konzentrieren mußte. Sobald er in seiner Konzentration nachließ, würde er Blaine Gelegenheit geben, ihn zu überwältigen. Ihm wurde schlagartig klar, daß Blaine ihm diese Falle gestellt hatte, weil er wußte, daß er sich seiner Gegner nur einzeln entledigen konnte. Jetzt würde er ihn ausschalten, um sich dann in aller Ruhe Tony vornehmen zu können. Diese Erkenntnis trug noch einmal dazu bei, daß er sich gegen das
Unvermeidliche, Unabwendbare aufbäumte. Er mußte es riskieren, trotz seiner geistigen und körperlichen Schwäche eine Attacke zu wagen. Ein Blick zeigte ihm, daß der Schwarze ebenfalls all seine Kräfte aufbieten mußte, um seine Angriffe gegen ihn fortführen zu können. Jetzt hob er wieder beide Arme und schickte mit einem wilden Ruf seine magischen Kräfte aus. Knirschend hob sich der schwere Schreibtisch vom Boden ab. Knackend lösten sich die Schrauben, mit denen er im Fußboden verankert gewesen war. Langsam stieg er in die Höhe. Da handelte Fitzpatrick. Er ließ den Schutzschirm zusammenbrechen. Seine rechte Hand kam hoch, bewegte sich blitzschnell. Kaum waren die magischen Wörter verklungen, da jagte eine der am Boden liegenden Schrauben wie ein Geschoß auf Blaine zu. Der riß seine Arme hoch. Doch seine Abwehr kam zu spät. Während neben dem Professor der Schreibtisch krachend zu Boden polterte, schrie der Farbige vor Schmerzen auf. Das Geschoß hatte seine linke Hand getroffen, die er in einer Reflexbewegung hochgerissen und vor die Stirn gehalten hatte. Der Professor sah, wie die Schraube eine Wunde riß, die sofort heftig blutete. Er wollte mit einer weiteren Beschwörung nachsetzen, 69 �
um die Situation zu seinen Gunsten zu bereinigen. Aber heute schien das Glück nicht auf seiner Seite zu sein. Aus dem neben ihm zu Boden krachenden und umstürzenden Schreibtisch löste sich eine Schublade und prallte ihm gegen die Seite. Der Anprall war nicht stark, doch er reichte aus, um ihn einen Moment abzulenken. Diesen winzigen Augenblick nutzte sein Gegner. Ein Hurrikan schien plötzlich durch das Zimmer zu toben. Er packte den Professor mit brutalem Griff, hob ihn hoch und schleuderte ihn wie ein Bündel Lumpen gegen die Wand. Dumpfer Schmerz in seinem Hinterkopf trieb ihm das Wasser in die Augen. Er fand nicht einmal mehr die Zeit, einen Schrei auszustoßen, ehe ihn Finsternis einhüllte. So sah er nicht mehr das triumphierende Grinsen, das das Gesicht des Schwarzen zu einer Grimasse verformte. Blaine trat langsam näher. Verachtung lag in seiner Bewegung, als er dem reglosen Körper in die Seite trat. Dann hob er die Hand, schlenkerte sie in rascher Folge und sprach laut und deutlich zwei unverständlich klingende Wörter. Ein Ruck fuhr durch den Körper zu seinen Füßen. Er schien sich zu versteifen, um dann weiter reglos dazuliegen. Der Schwarze drehte sich um und
ging hinaus. Ein seltsames Feuer loderte in seinen Augen. Der Portier nahm keine Notiz von ihm, als er dicht an ihm vorbeiging. Mit raschen Schritten strebte er dem Lift zu. * »O Tony, da bist du endlich«, hauchte sie. Ihr Lächeln vertiefte sich. Sie reckte ihm ihre Arme entgegen. Dabei verrutschte die Bettdecke und gewährte ihm eine Einsicht, die schlagartig den letzten Rest von Müdigkeit vertrieb. Sekundenlang starrte er auf ihren formvollendeten Busen, als sähe er so etwas zum ersten Mal. Aber dann riß er sich von dem herrlichen Anblick los und zog sie an sich. »Hallo, Darling«, konnte er gerade noch murmeln, ehe ihm ein samtweiches Lippenpaar den Mund verschloss. Nach einer Weile löste er sich sanft aus ihrer Umarmung und richtete sich auf. Ihren enttäuschten Blick quittierte er mit einem Lächeln. Rasch zog er sich aus. Sie rückte ein wenig zur Seite, als er zu ihr unter die Bettdecke schlüpfte, dann schmiegte sie sich sofort an ihn. Etliche Fragen lagen ihm auf den Lippen. Er wollte wissen, warum sie gekommen war und, vor allen Din70 �
gen, wie sie ihn gefunden hatte. Aber, zum Teufel, das hatte noch Zeit. Er war schließlich nur ein Mann, und ein schwacher dazu, wenn's drauf ankam. Zudem wurde Sandra sofort aktiv und brachte ihn damit auf ganz andere Gedanken. Wenig später wälzte sie sich auf ihn. Er preßte sie an sich, als wolle er sie nie wieder loslassen. Seine Gedanken begannen sich von ihm zu entfernen und sich von der Realität zu lösen. Flüchtig kam ihm in den Sinn, daß er das Zusammensein mit ihr noch nie so intensiv empfunden hatte. Aber dennoch war da etwas, das seine Gedanken zurück in die Wirklichkeit holte. Er versuchte, zu erfassen, was anders war. Doch das Gefühl war zu vage, um es definieren zu können. Er sah Sandra nachdenklich an. Sie hatte sich wieder von ihm herabgerollt und lag jetzt neben ihm, die Augen geschlossen. Mit den Fingern fuhr sie ihm sanft über die Brust. Und plötzlich wußte er, was ihn gestört hatte. Sandra war zwar mit großem Eifer bei der Sache gewesen, doch jetzt, im Nachhinein, gewann er den Eindruck, als sei sie nur eine Schauspielerin, die ihre Rolle gespielt hatte. Aber dieser Gedanke erschien ihm doch zu abwegig. Nein, es ergab einfach keinen Sinn.
Die einzig vernünftige Erklärung war die, daß er doch müder war, als er sich eingestehen wollte und daß er sich deshalb alles mögliche einbildete. Er richtete sich langsam auf und schwang die Beine aus dem Bett. »Was ist?« erkundigte sich Sandra mit schläfriger Stimme. Tony beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie sacht auf die Nasenspitze. »Nichts, Darling. Ich komme sofort wieder.« Nackt wie er war, schritt er zu der schmalen Tür hinüber, hinter der sich die winzige Toilette verbarg. Als er sie kurz darauf wieder verließ, fiel sein Blick auf das Bett. Er verharrte in der Bewegung. Eine Art Alarmglocke schlug in seinem Gehirn an. Das Bett war leer! Gerade wandte er den Kopf nach rechts, da nahm er aus dem linken Augenwinkel heraus eine flüchtige Bewegung wahr. Instinktiv trat er einen Schritt zurück. Jedoch nicht rasch genug, denn die herabsausende Flasche traf mit einem häßlichen, klatschenden Laut seine Schulter. Die Wucht des Hiebes ließ ihn in die Knie gehen. Als er sich mit den Händen abstützen wollte, schrie er auf. Flüssiges Feuer schien durch seinen linken Arm zu schießen und sich über Schulter und Brust auszubreiten. Er knickte seitlich weg und 71 �
rollte über den Boden. Tränen des Schmerzes verschleierten seinen Blick. So sah er die Szene nur wie durch eine Fensterscheibe, über die Regenwasser läuft. Sekundenlang schien sein Denken auszusetzen. Er empfand die Situation als unwirklich. Ihm wollte nicht in den Sinn, daß es Sandra war, die da vor ihm stand und die Weinflasche erneut zum Schlag hob. Aber sie war es! Sandra, das Mädchen mit dem sanften Gesicht und dem makellosen Körper, hatte ihn niedergeschlagen und schickte sich nun an, ihr Werk zu vollenden. Endlos lang schienen die Sekunden dahinzutropfen. Erst im letzten Augenblick gelang es ihm, sich aus seiner Erstarrung zu lösen und sich zur Seite zu rollen. Dicht neben ihm krachte die Flasche dumpf auf den Boden. Sein Blick hatte sich inzwischen geklärt. Und so konnte er jetzt erkennen, daß Sandras Gesicht vollkommen ausdruckslos war. Ihre Augen schienen durch ihn hindurch in unbestimmte Fernen zu starren. Kein Zweifel, sie stand unter einem fremden Einfluß. Und es war klar, unter wessen. Diese Erkenntnis brachte Tony blitzartig auf die Beine. Mit der rechten Hand griff er zu und packte Sandra am Handgelenk. Er versuchte,
ihr die Flasche zu entreißen. Doch sie befreite sich mit einem wilden Ruck aus seinem Griff, ohne daß sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Tony wich drei Schritte zurück. Sein linker Arm fühlte sich seltsam taub an, und in seiner Schulter schien das Höllenfeuer zu brennen. Er fand, daß er sich in seinem Zustand nicht auf ein Handgemenge einlassen konnte. Aus Erfahrung wußte er, welche immensen Kräfte jemand entwickeln konnte, dessen Geist unter magischer Kontrolle stand. Also hob er rasch die Hand und schleuderte ihr eine Beschwörung entgegen. Mitten in der Bewegung erstarrte sie zur Statue. Tony starrte sie zögernd an. Das Nahe liegende war jetzt, sie durch eine weitere Beschwörung aus dem Bann des fremden Willens zu befreien. Aber er verfügte nicht über die nötige Zeit. Er ahnte, daß sich auch der Professor in Gefahr befand. Sicher hatte Johnny Blaine nicht nur ihm eine Falle gestellt. Der Anruf vorhin! Tony fuhr herum und eilte zur Tür. Doch gerade noch rechtzeitig sah er an sich herunter und machte kehrt. Rasch schlüpfte er in seine Kleidung. Bevor er das Zimmer verließ, warf er Sandra einen entschuldigenden Blick zu. Flüchtig mußte er an Aphrodite 72 �
denken. Sandra glich einer Statue dieser Göttin der Schönheit. Nur die Weinflasche in ihrer Hand wirkte dabei sehr störend. Doch jetzt konnte er sich nicht um sie kümmern. Er hängte das Schild mit der zweisprachigen Aufschrift »Bitte nicht stören« außen an die Tür und schloß ab. Zusätzlich belegte er die Tür mit einem magischen Schutz. So konnte während seiner Abwesenheit niemand hier eindringen. * Nach dem ausgiebigen Frühstück war Kommissar Dubois entgegen seiner ursprünglichen Absicht doch ins Büro gefahren. Auch er war ganz schön müde gewesen, doch hatte er inzwischen den so genannten toten Punkt überwunden. Außerdem brachte es sein Beruf mit sich, daß er sich längst daran gewöhnt hatte, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Während er auf die Tatortfotos und den ersten Obduktionsbefund wartete, beschäftigte er sich mit dem Protokoll über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Aber immer wieder unterbrach er sich und starrte vor sich hin. Verwundert schüttelte er mehrmals den Kopf über das seltsame Phänomen. Er empfand es als äußerst merkwürdig, daß er sich an bestimmte Szenen detailgetreu, an
andere aber nur sehr verschwommen zu erinnern vermochte. Er ließ seine Gedanken schließlich noch einmal an den Ausgangspunkt zurückkehren und machte sich eifrig Notizen. Als er sie dann zusammenfasste, kam er zu einem verblüffenden Ergebnis. Er konnte sich an jeden Teil der nächtlichen Ereignisse nur ungenau erinnern, der die beiden Engländer betraf. Eine Weile versuchte er, den Grund dafür herauszufinden. Aber seine Bemühungen blieben ergebnislos. Schließlich erhob er sich und trat an die Tür, die sein Büro mit dem Vorzimmer verband. Er schob sie einen Spaltbreit auf und steckte den Kopf hindurch. »Angela, kommen Sie bitte mal zum Diktat.« Sekunden später nahm die junge, zierliche Stenotypistin vor seinem Schreibtisch Platz. Erwartungsvoll schaute sie ihn an, den Bleistift gezückt. Der Kommissar lehnte sich zurück, verschränkte die Hände vor dem. Bauch und schloß die Augen. Dann begann er, das Protokoll zu diktieren. Das Telefon unterbrach ihn schon nach den ersten Sätzen. Unwillig über die Störung nahm er ab. »Dubois«, bellte er in die Muschel. »Hallo, Kommissar. Sie scheinen ja mal wieder sehr gutgelaunt zu sein. Ich denke, das Obduktionsergebnis dürfte Sie interessieren.« 73 �
»Klar, Doktor. Schließlich warte ich darauf schon einen halben Tag. Also, dann schießen Sie mal los.« »Da haben Sie aber Glück, daß es noch pflichtbewusste Polizeiärzte gibt«, ging Doktor Ledoux auf den lockeren Ton des Kommissars ein. »Eigentlich wollte ich ja erst den Bericht schreiben und Ihnen den auf dem Dienstwege zukommen lassen. Aber ich kenne ja Ihre Neugier. Also dann, der Tod dürfte bei beiden vor 12 Stunden eingetreten sein, wobei ich eine Toleranzgrenze von einer Stunde rechne. Aber…« »Sind Sie sich da auch ganz sicher, Doktor?« unterbrach ihn der Kommissar. Er hatte rasch zurückgerechnet, wobei er an den Fingern abgezählt hatte. »Es sind jetzt genau sechseinhalb Stunden her, daß ich noch eines der Opfer lebend gesehen habe. Es ist gerade in dem Augenblick getötet worden, als wir den Tatort erreichten. Wie erklären Sie sich das?« »Überhaupt nicht. Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich herausgefunden habe.« Seine Stimme klang ein wenig verärgert. Der Arzt mochte es nicht, wenn man sein Können in Zweifel zog. Schließlich befand er sich bereits seit gut 23 Jahren im Polizeidienst. »Gut, lassen wir das erst einmal, Doktor«, lenkte der Kommissar ein. »An diesem Fall ist sowieso einiges
rätselhaft. Was, meinen Sie, kommt als Tatwaffe in Betracht? Wir haben nämlich den Tatort samt Umgebung auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden. Der Täter muß sie mitgenommen haben, als er sich aus dem Staub gemacht hat.« »Hm«, machte der Doktor, offensichtlich wieder versöhnlich gestimmt. »Beiden Opfern ist die Kehle aufgeschlitzt worden. Das führte eindeutig zum Tode. Die übrigen Kratzwunden sind unbedeutend. Auf den ersten Blick scheint die Tat mit einem Messer ausgeführt worden zu sein. Aber ich habe mir die Wundränder besonders genau angesehen. Danach kann ich jedoch nur Vermutungen über die Mordwaffe äußern. Demnach könnte es eine Art Sichel mit sehr unebener Schneide gewesen sein. Mehr können Sie meinem Bericht entnehmen. Ich werde mir nämlich jetzt den Burschen vornehmen, den Sie verhaftet haben.« »Gut, Doktor. Tun Sie das. Mich würde nämlich auch interessieren, ob der Kerl tatsächlich unter Hypnose oder nur unter Drogeneinfluß steht. Wenn er vernehmungsfähig ist, sagen Sie mir bitte Bescheid. Bis dann – und danke, Doktor.« Er legte auf. Einen Moment lang überlegte er, dann griff er erneut zum Telefon und wählte die Nummer der Zentrale. »Geben Sie mir das Hotel Artos«, 74 �
verlangte er. Wenig später meldete sich der Hotelportier. »Hier Surete, Kommissar Dubois. Ich muß dringend Mr. Fitzpatrick oder Mr. Wilkins sprechen. Verbinden Sie mich bitte mit einem der beiden Herren.« »Tut mir leid, die Herren wohnen nicht bei uns«, bekam er nach einigen Sekunden des Schweigens zur Antwort. »Wie, was soll das heißen? Sind sie schon abgereist?« »Nein. Wir haben keine Gäste dieses Namens. Hier haben weder ein noch ein Wilkins Fitzpatrick gewohnt. Vielleicht haben sie den Namen des Hotels verwechselt, Kommissar.« Dubois wollte aufbegehren, besann sich aber dann doch anders. »Ja, das ist möglich. Entschuldigen Sie bitte die Störung.« Er legte auf und erhob sich. Hier war etwas faul. Daß die beiden Engländer im Artos abgestiegen waren, war sicher. Ließen sie sich etwa verleugnen? Der Kommissar holte seine Dienstwaffe aus dem Schreibtisch und schob sie in das Holster. Er verließ sein Büro. Im Vorzimmer war die Stenotypistin damit beschäftigt, seinen Bericht abzutippen. »Wo sind Lavalle und Perlier?« »Die sind noch unterwegs in einem Mordfall. Da hat es heute morgen eine Messerstecherei in der
Metro gegeben.« »Hm, alles muß man hier alleine machen«, knurrte der Kommissar. »Ich fahre jetzt raus zum Hotel Artos in der Avenue de Bretagne. Sollte einer der beiden innerhalb der nächsten Stunde kommen und ich mich bis dahin noch nicht gemeldet haben, schicken Sie ihn zu mir raus. Alles klar?« »Klar, Chef.« Angela nickte dienstbeflissen, während sie sich Notizen machte. Als Dubois den Raum verlassen wollte, vernahm er hinter sich ein leises Knirschen. Er drehte sich um und sah die junge Frau kauen. »Aber, aber.« Er drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Schon die zweite Scheibe Knäckebrot heute. Haben Sie keine Angst, daß Sie dick und fett werden?« Sie wollte etwas darauf erwidern, aber da schlug schon die Tür hinter ihm zu. Stirnrunzelnd starrte sie auf die Brotscheibe, ehe sie sie mit einem entsagungsvollen Seufzer in die Schreibtischschublade legte. * Tony sah, daß der Fahrstuhlkorb sich gerade auf dieser Etage befand. Da der Weg über die Treppe nach unten länger dauern würde, wandte er sich dem Lift zu. Dabei passierte er das Zimmer des 75 �
Professors. Er klopfte mehrere Male an die Tür und rüttelte an der Klinke. Aber die Tür war verschlossen, und von drinnen war kein Laut zu vernehmen. Also war der Professor noch unten. Mit raschen Schritten war Tony am Fahrstuhl, schlug die schmiedeeiserne Tür hinter sich zu und drückte den Knopf für das Erdgeschoß. Wenige Sekunden später setzte sich der Korb rumpelnd in Bewegung. Es ging jedoch in die falsche Richtung. Anscheinend hatte jemand im 3. oder 4. Stock etwas früher als er auf den Anforderungsknopf gedrückt. »Typisch«, dachte Tony. »Immer wenn man's besonders eilig hat, kommt einem etwas dazwischen.« Ungeduldig sah er zu, wie die Kabine den dritten Stock passierte. Dort war niemand. Im Schneckentempo ging es weiter. Endlich rastete der Lift in der obersten Etage ein. Verwundert sah Tony, daß auch hier niemand vor der Gittertür stand. Im gleichen Augenblick war ihm, als würde ihm mit einem Ruck der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie ein Stein fiel der Liftkorb in die Tiefe. Tony blieb keine Zeit des Überlegens, ob es sich um einen technischen Defekt oder um einen Angriff handeln mochte. Blitzschnell riß er
die Hand hoch und rief die Formel. Sekundenbruchteile später prallte die Kabine im Keller; unter Donnergetöse auf. Obwohl vom Schutzschirm umgeben, wurde Tony von den Füßen gerissen, angehoben und gegen die Seitenwand geschleudert. Die Wucht des Aufpralls wurde zwar zum überwiegenden Teil kompensiert, nahm ihm jedoch den Atem. Eine Weile blieb er benommen liegen, ehe er sich aufrichtete. Es kostete ihn Mühe, sich über die Trümmer hinweg einen Weg nach dorthin zu bahnen, wo er die Tür vermutete. Staubschleier lagen in der Luft und dämpften noch die geringe Helligkeit, die von oben her in den Schacht fiel. Es schien, als sei beim Aufprall all der Dreck aufgewirbelt worden, der sich hier unten im Laufe mehrerer Generationen angesammelt hatte. Keuchend stand Tony vor den Umrissen der eisernen Tür und suchte nach einem Öffnungsmechanismus. Aber nachdem er mehrere Male mit den Fingern die Umrisse entlanggefahren war, ohne daß er eine Klinke oder etwas Ähnliches gefunden hatte, gab er es auf. Er trat zurück, soweit es die Trümmer zuließen. Der Schutzschirm löste sich auf, als er den gedanklichen Befehl gab. Die rechte Hand richtete er gegen die Tür. Kaum hatte er die Formel ausgesprochen, 76 �
da schien ein blendender Blitz aus seinen Fingern zu schießen. Schmetternd schlug er in die Wand ein. Mörtel prasselte zu Boden, als die Eisentür aufschwang. In den Lärm hinein glaubte Tony eine Stimme zu hören. Er warf den Kopf in den Nacken. Sein Blick glitt die Schachtwände empor. Irgendwo über ihm fiel gedämpftes Licht durch eine Öffnung. Flüchtig glaubte er die Umrisse eines Kopfes dort oben zu sehen. Aber gleichzeitig gewahrte er noch eine Bewegung in der Höhe. Einen Atemzug lang starrte er mit weitaufgerissenen Augen reglos hinauf, ehe er sich zur Seite warf. Dicht neben ihm schlug die Stahltrosse krachend auf. Instinktiv schloß er die Augen und barg das Gesicht schützend in den Armen. Aber dennoch fuhr ihm etwas glühendheiß über die Wange. Sekunden später spürte er, wie ihm das Blut über das Kinn rann und in den Hemdkragen tropfte. Er wollte liegen bleiben und sich seiner Müdigkeit und dem Schmerz hingeben. Aber er verdrängte diese Empfindungen gewaltsam und zwang sich auf die Beine. Als er wieder in die Höhe blickte, war dort oben nichts mehr zu sehen. Aber er war sicher, daß es Blaine gewesen war. Er hatte sich wohl davon überzeugen wollen, ob sein Anschlag gelungen war.
Über das, was von der Liftkabine übrig geblieben war, kletterte Tony hinweg nach draußen. Immer noch wogten Staubschleier und verbargen das Ausmaß der Zerstörung vor seinen Blicken. Stimmengewirr drang an seine Ohren, als er die Kellertreppe emporstieg. Oben angelangt, riß er die Tür auf und prallte mit einem halben Dutzend lärmender Menschen zusammen. Er musterte sie flüchtig und atmete unwillkürlich auf, als er keinen Farbigen unter ihnen entdecken konnte. Sie verstummten und blickten ihn an, als sei er ein Wesen aus einer anderen Welt. Dann aber prasselten eine Unmenge von Fragen auf ihn nieder. Er verstand nur einen Teil davon, zumal sie alle gleichzeitig auf ihn einredeten. »Der Fahrstuhl ist abgestürzt«, erklärte er, eine Atempause nutzend. »Mir ist aber nichts passiert. Ich habe noch einmal Glück gehabt.« Durch eine Lücke zwischen den ihn umringenden Leuten hindurch fiel sein Blick auf den Portier. Der Bursche stand seelenruhig hinter seiner Rezeption und starrte ihn an, als sei absolut nichts geschehen. Und in diesem Moment drang ein schwaches, entferntes Geräusch an seine Ohren. Es wurde von dem Lärm um ihn herum fast völlig verschluckt. Aber als er kurz die Augen schloß und sich darauf 77 �
konzentrierte, vermochte er es deutlich zu hören. Und er erkannte es wieder. Ein dumpfes, rhythmisches Klopfen. Blaines tödliche Trommel! Tonys Körper versteifte sich. Er ahnte, was in den nächsten Minuten geschehen würde. In London hatte er es vor wenigen Tagen erst mit eigenen Augen sehen können. Doch diesmal würde er versuchen, es zu verhindern. Er riß die Augen auf und setzte sich in Bewegung. Die neugierige Meute um ihn herum wollte jedoch mehr von ihm wissen. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Entschlossen bahnte er sich seinen Weg. Als er endlich in der Halle war, sah er gerade noch den Portier durch eine Tür hinter seiner Rezeption verschwinden. Tony sah sich rasch um. Niemand zu sehen. Aber das hatte nichts zu besagen. Sicher lauerte Blaine irgendwo auf ihn. Wahrscheinlich hatte er den Professor bereits außer Gefecht gesetzt. Und jetzt wollte er mit seinem zweiten Widersacher abrechnen. Tony zögerte. Rasch wägte er seine Chancen ab. Er fragte sich, ob er allein Blaines magischen Kräften gewachsen sein würde. Vielleicht wäre es besser, er würde sich zurückziehen und versuchen, von Yaguth Hilfe zu erhalten. Aber nach der Pleite heute Morgen
war es fraglich, ob der Dämon überhaupt erscheinen würde. Und außerdem konnte jede Minute, die er hier mit nutzlosen Überlegungen verbrachte, dem Professor das Leben kosten. Das gab den Ausschlag. Tony rannte los. Im Laufen ließ er den Schutzschirm wieder entstehen. Schließlich wollte er sich nicht überrumpeln lassen. Die Tür hinter der Rezeption war verschlossen. Aus dem Raum dahinter erklang lautes rhythmisches Getrommle, das aber in diesem Augenblick verstummte. Da die Tür keinen sonderlich stabilen Eindruck machte, beschloss Tony, hier konventionelle Methoden anzuwenden. Er trat rasch einige Schritte zurück, nahm Anlauf und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Türfüllung. Krachend und splitternd brach das Schloß aus dem Rahmen. Vom eigenen Schwung vorwärtsgerissen, schoß Tony in den Raum hinein. Er kam ins Stolpern, fing sich aber nach zwei Schritten wieder. Stumm starrte er auf das ungeheuerliche Bild, das sich ihm bot. * Der Kommissar ließ den Wagen gegenüber dem Hotel ausrollen. Er zog den Zündschlüssel ab. Bevor er ausstieg, überzeugte er sich noch 78 �
einmal davon, daß seine Dienstwaffe geladen war. Normalerweise gab er nichts auf Ahnungen und dergleichen, aber jetzt beherrschte ihn doch das Gefühl, daß schon die nächsten Minuten etwas Entscheidendes, Furchtbares bringen würden. Sein Blick glitt rasch über die Fassade des Hotels, während er die Straße überquerte. Äußerlich machte das Artos keinen guten Eindruck, doch war es innen für seine Preisklasse relativ luxuriös eingerichtet. Dubois kannte es von früheren Besuchen her und wußte von dem guten Ruf des Hauses. Um so erstaunter war er, als er den Eingang aufstieß und die Empfangshalle leer vorfand. Er sah sich um und stellte fest, daß im Hintergrund neben dem Fahrstuhl eine schmale Tür offen stand. Soweit er sich erinnerte, befand sich dahinter die Treppe zum Keller. Von dort erklang gedämpftes Stimmengewirr. Rasch eilte der Kommissar hin. Auf halber Höhe der Treppe blieb er stehen und lauschte. Deutlich konnte er die Stimmen vernehmen. Zwar redeten da unten mehrere Leute durcheinander, aber schon nach wenigen Augenblicken wußte er, was hier geschehen war. Er konnte den Gesprächen entnehmen, daß beim Absturz des Fahrstuhls ein Engländer nur leicht verletzt worden war.
Ein Engländer? Der Kommissar wurde hellhörig und eilte die Treppe vollends hinab. Nach einer Gangbiegung sah er vier Frauen und drei Männer vor sich. Sie waren eifrig diskutierend in die Begutachtung der Trümmer vertieft. Fitzpatrick und Wilkins befanden sich jedoch nicht dabei. Dubois trat hinter die Leute und legte einem der Männer die Hand auf die Schulter. »Können Sie mir sagen, wo der Verletzte ist?« »Sind Sie Arzt?« wurde er daraufhin gefragt. Der Kommissar nickte nur. Er wollte jetzt keine wertvolle Zeit mit Erklärungen vergeuden. »Hier ist er nicht«, stellte der Mann nach einem kurzen Rundblick fest. »Vielleicht ist er oben in der Halle. Wenn nicht, dann fragen Sie an der Rezeption nach.« Dubois ließ den Mann los, warf sich herum und eilte behende die Kellertreppe hinauf. In der Halle war immer noch niemand zu sehen. Er trat an die Rezeption heran. Gerade als er den Klingelknopf auf der Theke betätigen wollte, fiel sein Blick auf die Tür mit der Aufschrift »Privat«. Er erkannte sofort, daß die Tür mit Gewalt geöffnet worden war. Während er um die Rezeption herumlief, fuhr seine Hand unter die Jacke und schloß sich um den Griff seiner 79 �
Waffe. Einige Sekunden lang verharrte er lauschend, ehe er mit der linken Hand die beschädigte Tür aufstieß. Was er sah, veranlaßte ihn, die Waffe herauszureißen und zu entsichern. Vor ihm, in der Mitte des Raumes, standen sich der Reporter und ein junger Farbiger gegenüber. Beide hielten den rechten Arm erhoben und die Hände mit gespreizten Fingern auf ihr Gegenüber! gerichtet. Zwischen beiden aber loderten meterhohe Flammen auf. Vergeblich suchte der Kommissar nach dem Brandherd. Es gab anscheinend keinen, denn die Flammen züngelten etwa eine Handbreit über dem Boden aus der Luft heraus. Die Gesichter beider Männer waren wie von einer gewaltigen Anstrengung verzerrt, obwohl sie einander völlig reglos gegenüberstanden. Plötzlich begann sich die Flammenwand zu bewegen, Langsam, aber stetig schob sie sich auf den Farbigen zu. Der schloß einen Moment die Augen. Und als er die Hand bewegte und etwas rief, da stoppte die Vorwärtsbewegung des Feuers. Sekunden später raste es auch schon auf den Briten zu, türmte sich vor ihm auf und drohte ihn zu verschlingen. Wilkins trat rasch zwei Schritte
zurück. Er bewegte die Finger und rief etwas Unverständliches. Wieder kam der Flammenvorhang zum Stehen. Lange Feuerzungen lösten sich und glitten zu dem Farbigen hinüber. Gierig schienen sie nach ihm zu lecken. Aber sie erreichten ihn nicht, denn auch er rief zwei, drei Worte, die der Kommissar nicht verstand. Nahezu gleichzeitig erloschen die Flammen. Für einige Sekunden hatte der Kommissar den Eindruck, sich in einem Wachsfigurenkabinett zu befinden. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Wieder rief der Farbige etwas, wobei er die rechte Hand schlenkerte. Der Kommissar glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Aus den Fingern des Negers zuckten plötzlich Blitze hervor. Er schleuderte sie förmlich gegen seinen Kontrahenten. Aber dieser warf sich rechtzeitig zur Seite. An der Stelle, an der er sich gerade noch befunden hatte, verpufften die Blitze harmlos in der Luft. Bisher war die Aufmerksamkeit des Kommissars durch das mysteriöse Geschehen voll in Anspruch genommen worden. Jetzt aber warf er einen raschen Blick zur Seite. Er erschrak. Unwillkürlich stieß er einen Schreckenslaut aus. Er schloß die Augen. Aber als er sie wieder aufriss, hatte sich seine Hoffnung nicht erfüllt. Ihm bot sich 80 �
noch der gleiche, fürchterliche Anblick. Da hob er seine Pistole und schoß. * Mit einem raschen Blick erfasste Tony die Situation. Dennoch verstrichen wertvolle Sekunden, ehe er sich von der Überraschung erholt hatte. Während er noch auf den Portier starrte, der sich bereits zum Teil in ein monströses Insekt verwandelt hatte, griff Blaine an. Er stand breitbeinig mitten im Zimmer, die Arme erhoben. Hass loderte wie das Höllenfeuer in seinen Augen. Seine Beschwörung ließ einen Wirbelsturm entstehen, der wütend nach Tony griff und ihn von den Beinen zu reißen suchte. Doch sein Schutzschirm kompensierte die Gewalten zum überwiegenden Teil. Er wurde nur ein wenig durchgerüttelt. Leider verurteilte ihn der Schutzschirm zur Passivität. Solange er seine Gedanken auf seine Stabilität konzentrieren mußte, würde er keine Beschwörung durchführen können. Und er hatte nicht die Absicht, untätig darauf zu warten, daß Blaine vielleicht doch eine Möglichkeit fand, ihn zu bezwingen. Er wollte Blaine hier und jetzt das Handwerk legen. Also mußte er sich etwas einfallen lassen. Der Farbige setzte seine Attacken
fort. Kaum war der magische Sturm abgeflaut, hoben Geisterhände den schweren Schreibtisch an und ließen ihn bis unter die Decke schweben. Das Möbelstück wies bereits einige Beschädigungen auf, als wäre es schon einmal aus der Höhe herabgestürzt. Tony ahnte, was jetzt kam. Unwillkürlich stemmte er beide Beine fest gegen den Boden und spannte seine Muskeln an. Und in diesem Augenblick sah er den Professor. Bis vor wenigen Augenblicken hatte ihn der Schreibtisch verdeckt. Tony konnte jedoch nicht mehr als einen flüchtigen Blick riskieren, um sich nicht ablenken zu lassen. Aber was er gesehen hatte, reichte aus, um unbändigen Zorn zu empfinden. Der Professor lag reglos am Boden, zu Füßen des Insektenmonsters, dessen Umwandlung nun fast abgeschlossen war. Die Augen seines Freundes waren weit geöffnet, der Blick aber starr und ohne Leben. War er tot? Doch in diesem Moment erfolgte der Angriff. Wie ein Geschoß raste das Möbelstück auf Tony zu. Er konzentrierte all seine geistige Kraft auf den Schirm. Der Anprall ließ ihn zwei Schritte zurücktaumeln. Im gleichen Augenblick gab er den Schirm auf. Als besäßen seine Finger ein Eigenleben, so blitzschnell führten sie die vorgeschriebene Bewe81 �
gung aus. Die magischen Worte flössen aus seinem Munde. Noch ehe der nun arg deformierte Schreibtisch den Boden berührte, raste er auf Blaine zu. Aber der warf sich instinktiv zur Seite; und das Möbelstück prallte krachend gegen die Wand, wo es sich endgültig in seine Bestandteile auflöste. Tony ließ rasch die nächste Beschwörung folgen. Eine Flammenwand erschien aus dem Nichts heraus und wälzte sich knisternd auf Blaine zu. Der konterte mit einer Beschwörung, die das Feuer sofort stoppte. Da wurde die Tür aufgerissen. Kommissar Dubois stürmte mit gezückter Waffe ins Zimmer. Tony sah ihn nur aus den Augenwinkeln heraus. Aber er konnte sich jetzt nicht um ihn kümmern. Zum Glück traf das auch auf Blaine zu. Der war jetzt vollauf mit ihm beschäftigt, so daß er dem Beamten nichts anzuhaben vermochte. Sekundenlang versuchte Tony, seinen Gegner mit dem magischen Feuer zu erreichen, doch Blaine wies seine Attacken zurück. Dann gelang es ihm sogar, die Flammen zum Erlöschen zu bringen. Sofort erzeugte er Blitze, die er wütend gegen Tony schleuderte. Sie verfehlten ihn nur um wenige Zentimeter, als er sich zur Seite warf. Gerade, als er die Hand bewegte, um zu kontern, drang der
Aufschrei des Kommissars an seine Ohren. Dann peitschten in rascher Folge drei Schüsse durch den Raum. Die Wände warfen den Schall dröhnend zurück. Doch Tony ließ sich nicht eine Sekunde lang ablenken. Auch er versuchte es jetzt mit magischen Blitzen. In rascher Folge schleuderte er sie gegen den Gegner. Doch Johnny Blaine verschanzte sich jetzt seinerseits hinter einem Schutzschirm. Tony konnte es daran erkennen, daß ihn die Blitze zwar trafen, doch wenige Zentimeter vor seinem Körper erloschen. Aber er attackierte ihn unablässig weiter. Wieder schoß der Kommissar jetzt. Unwillkürlich registrierte Tony weitere drei Schüsse. Und dann erklang ein grauenhaftes Geräusch hinter ihm, ein schrilles Zirpen, das in seinen Ohren vibrierte. Erstaunt sah Tony, wie sein Gegenüber plötzlich die Augen verdrehte, daß nur noch das Weiße sichtbar war. Blaine stöhnte auf und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Im gleichen Augenblick traf ihn einer der Blitze in die rechte Schulter. Er wurde herumgewirbelt und gegen die Wand geworfen. Tony sah deutlich den großen Brandfleck in seinem Pullover. Tony erkannte seine Chance. Rasch schleuderte er einen weiteren 82 �
Blitz auf Blaine, gerade als dieser die rechte Hand vom Kopf löste und auf ihn richten wollte. Der Blitz traf Blaines Hand. Dennoch kam kein Schmerzenslaut über seine Lippen. Aber der Kommissar schrie auf. Instinktiv warf sich Tony zur Seite, als er das leise, schabende Geräusch neben sich vernahm. Das Insektenmonster wankte an ihm vorbei. Es gab zirpende Töne von sich. Tony sah, daß die Kugeln des Kommissars es getroffen hatten, noch bevor die Umwandlung vollständig abgeschlossen worden war. Nur so war es zu erklären, daß eines der riesigen Facettenaugen völlig zerstört war. Schwärzliches Blut quoll langsam aus der Wunde. Überrascht bemerkte Tony, daß sich das monströse Wesen bereits wieder zurückverwandelte. Das linke Bein war bis zum Knie wieder das eines Menschen. Die scherenartigen Beißzangen klickten, während es sich torkelnd dem Farbigen näherte. Blaine stöhnte auf und versuchte, dem drohenden Verhängnis auszuweichen. Er hob die linke Hand und murmelte unablässig vor sich hin. Er schien nicht mehr zu wissen, daß magische Zeichen nur mit der rechten Hand wirksam wurden. Das Ende für Johnny Blaine kam so rasch, daß ihm niemand mehr zu helfen vermochte.
Im Augenblick des Todes stieß Blaine einen gurgelnden Schrei aus, den die vorzuckenden Beißzangen jedoch rasch erstickten. Ein erstaunter Ausdruck trat in seine Augen, ehe sein Körper langsam an der Wand herabrutschte. Das Monster brach über seinem Körper zusammen und hauchte zuckend sein unnatürliches Leben aus. Und während es starb, vollzog sich mit dem Körper eine unheimliche Wandlung. Wenige Minuten später lag dort der nackte Körper des Portiers. Der Kommissar räusperte sich einige Male, ehe er sich mit belegter Stimme an Tony wandte. »Was… was war das? Träume ich – oder…?« »Gedulden Sie sich noch einen Augenblick, Kommissar«, bat Tony. Er wankte zu einem der noch intakten Sessel in der Ecke des Zimmers und ließ sich hineinfallen. Der Kampf hatte ihn die letzten Energiereserven gekostet. Er fühlte sich völlig ausgelaugt und hatte nur den einen Wunsch, die Augen zu schließen und einzuschlafen. Aber noch war es nicht soweit. Sein Blick fiel auf den reglosen Körper von Professor Fitzpatrick. Mit einer müden Handbewegung und leiser Stimme beschwor er den Dämon Yaguth herbei. * � 83 �
Diesmal klappte es. Aus dem Nichts heraus stand ein hochgewachsener plötzlich Mann in der Uniform eines französischen Generals mitten im Raum. Tony mußte unwillkürlich grinsen, als er sah, daß der Kommissar automatisch Haltung annahm. Er starrte einen Augenblick auf die leergeschossene Waffe in seiner Hand, ehe er sie mit einer entschuldigenden Geste einsteckte. »Hallo, Tony«, grüßte der vermeintliche General. Tony begnügte sich mit einem Kopfnicken. Er deutete mit der Hand auf die beiden Leichen an der gegenüberliegenden Wand und dann auf den Professor. »Sag mir, Yaguth, droht noch Gefahr von Blaine? Und was ist mit dem Professor geschehen? Lebt er noch?« Der Dämon in der Menschengestalt schüttelte den Kopf. »Nein, der abtrünnige Dämon, der sich Blaines Geist und Körper bemächtigt hatte, ist vernichtet. Der Kommissar hat genau im richtigen Augenblick geschossen. Es war der Moment, in dem die Transformation unmittelbar vor dem Abschluss stand. Zu diesem Zeitpunkt bestand noch eine geistige Verbindung zwischen Blaine und dem von ihm geschaffenen Monster. Als die Kugeln in das Gehirn ein-
schlugen, bewirkte das einen geistigen Schock bei dem Dämon. Der Tod des Insektenmonsters verursachte auch seinen Tod. Im Augenblick des Todes vernichtete Blaines Geist den Eindringling, der sich in seinem Gehirn eingenistet und der seinen Willen unterdrückt hatte. Und was unseren Freund, den Professor, betrifft, so kann ich dich beruhigen. Er ist nur paralysiert. Das werden wir gleich beheben. Allerdings hat er großes Glück gehabt. Wäre der Kommissar nur fünf Minuten später gekommen, dann wäre der Professor bereits von dem Monster getötet worden. Leider können wir uns nicht auf die richtige Art und Weise bei dem guten Kommissar dafür bedanken, denn wir müssen ihm leider die Erinnerung an uns nehmen. Es tut mir leid, Kommissar. Aber es ist in Ihrem Interesse, daß Sie sich später nicht mehr an alles erinnern können.« Befriedigt darüber, daß nun alles erledigt war, hatte Tony die Augen geschlossen. Die Erklärungen des Dämons, die protestierenden Worte des Polizeibeamten und die Beschwörung Yaguths, das alles drang nur noch wie durch Watte gedämpft an seine Ohren. Die Stimme des Professors, der sich wenig später ächzend vom Boden aufrappelte, bekam er schon nicht mehr mit. 84 �
* � Im Halbschlaf wälzte er sich herum und suchte eine bequemere Schlafstellung. Als seine Hand dabei jedoch gegen ein Hindernis stieß, tauchte er unvermittelt aus seinen wirren Träumen empor. Mit geschlossenen Augen tastete er erneut nach dem Hindernis. Unter seinen Fingern spürte er warme, seidenweiche Haut. Er ließ seine Hand weitergleiten und entdeckte wohlvertraute Rundungen. Unwillkürlich seufzte er auf. Jetzt wußte er wieder, wo er sich befand. Für einen Moment hatte er befürchtet, sich noch mitten zwischen Dämonen, Monstern und teuflischen Schreckgestalten zu befinden. Aber das war zum Glück nur ein Traum
gewesen. Sandra an seiner Seite und das Hotelzimmer in Paris, das war glücklicherweise die Realität. Flüchtig dachte er noch an die vergangene Nacht, an den Bummel durch das Nachtleben von Paris, an den vielen Champagner und an den krönenden Abschluß mit Sandra. Als er vorsichtig die Augen öffnete, sah er, daß es bereits Tag war. Licht fiel durch einen Spalt in der Gardine ins Zimmer. Aber er schloß die Augen wieder. Tony fühlte sich unendlich müde und zerschlagen. Also schob er sich näher an Sandra heran und schmiegte sich an sie. Mit dem Gedanken, daß es doch eine gute Idee gewesen war, einfach mal für ein Wochenende nach Paris rüberzufliegen, schlief er wieder ein.
ENDE �
85 �