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Für den Eskimo dauert der Weg ins Jenseits ziemlich lange...
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VAMPIR-Redaktion, Rainer Delfs, Postfach 1109, 2723 Scheeßel
Für den Eskimo dauert der Weg ins Jenseits ziemlich lange. Seinem Jagdleben entspricht es, daß er nach seinem Tod eine Wanderung beginnt, die unter einem unvorstellbar riesi gen Fell hindurchführt. Dabei kann es passie ren, daß den Eskimo der Tod ein zweites Mal ereilt. Ob er freilich in den Himmel oder in die Unterwelt gelangt, hängt davon ab, wie man den Eskimo bestattet hat. Die Unterwelt auf dem Meeresgrund ist ziemlich warm, der Himmel hingegen kalt. Wer in die Unterwelt kommt, darf Robben jagen, wer in den Him mel kommt, Vögel. Zwar kennt auch der Es kimo den Beruf des Schamanen, man kennt Hexen, Schutzgeister, die magische Flucht, man vertraut auf Beschwörungen, veranstaltet eindrucksvolle Zauberschauspiele, doch die Mythen liebt dieses Volk nicht, besonders dann nicht, wenn die Handlung kompliziert wird. Im nordwestlichen Amerika gibt es noch star kes Stammes- und Clandenken. Jeder Clan kann seinen eigenen Mythos aufweisen. Keine Seltenheit war es, wenn ein Tierahne sich mit einer menschlichen Frau zu vermählen wünschte. Hohes Ansehen genießen die Schutzgeister, denen zuliebe die Geheim bünde hin und wieder auch menschliche Opfer brachten. Bei den Maskentänzen der Bünde gingen im allgemeinen magische Fähigkeiten von den Schutzgeistern über. Auch in Kalifor nien kannte man bei den indianischen Stäm men Schamanen. Ihre Aufgaben unterschieden sich nur wenig von denen der nördlich leben den Indianer. Als eine Besonderheit galten Schwitzhäuser, die man für geweihte Plätze hielt. Als solche waren sie schon vor der Ent stehung des Menschen für das mythische Ge schehen von Bedeutung. Einige Indianerstämme im Osten glauben an das Vorhandensein mystischer Kräfte. Zauber gesang spielt eine erhebliche Rolle. Beispiels
weise sind die Eulen mit ihrem Gesang für die Dämmerung verantwortlich zu machen, und die Grillen sorgen im Sommer dafür, daß der Mais reif wird. Die Algonkin verehren als Mythenhelden den großen Hasen Manabusch. In den Mythenerzählungen kämpfen Donner vögel in Gestalt riesiger Adler mit Unterwelt schlangen. Zu den Walddämonen sagt man auch „Falschgesichter". Tiermythen sind auch von den Athapasken, einem anderen indiani schen Stamm, überliefert. Moschusratte und Biber haben danach die Erde erschaffen. In der „Historia de los Mexicanos por sus pinturas", etwa Anfang des 16. Jahrhunderts entstanden, kann man lesen, daß die Schöp fung im 13. Himmel stattfand. Mächtiger Mann bei einigen mexikanischen Völkern war der Zauberer, „brujo" genannt. In der Mythensammlung „Popo! Vuh" steht eine Geschichte über den Ursprung der Welt und die Schaffung des Menschen zu einer Zeit, als es die Götter und die Unterwelt noch gab, aber noch keine Sonne. Es ist sozu sagen ein Götter-Horror in Reinkultur. Bald nach der ersten Weltordnung erschufen Cucu matz und Hurracan verschiedene Menschenge schlechter. Einige von ihnen mußten zugrun degehen, weil sie den Götterkult, zu dem sie allein geschaffen waren, nicht zufriedenstel lend ausführen konnten. Die Menschen der ersten Schöpfung wurden allesamt zu Tieren. Danach kamen Menschen aus Ton und solche aus Holz. Weil das aber alles nichts Rechtes war, wurden sie durch die Stammeltern eines Heroengeschlechts ersetzt , Xpiyacoc und Xmucane. Ihre Söhne Hun Hunahpu und Vu cub Hunahpu waren begeisterte Ballspieler. Weil sie dabei aber zuviel Krach machten, zo gen sie sich den Zorn der Unterweltgötter zu, wurden in deren Reich geholt, wo sie zu al lerlei Experimenten herangezogen wurden. So wurde aus dem Kopf des einen Bruders die
Frucht eines Jicara-Baumes. Durch diese Frucht wiederum empfing eine unterweltliche Fürstentochter auf magische Weise die zwei te Zwillingsgeneration, Hunahpu und Xbalan que. Wegen ihrer Schwangerschaft soll die Für stentochter sterben. Die Todesboten der Un terwelt, Euien, zeigen ein falsches Herz bei ihren Auftraggebern vor. Der Fürstentochter gelingt die Flucht an die Oberwelt, zusammen mit ihren Kindern. Bei Schwiegermutter Xmu cane findet sie Unterschlupf. Die Fürstentoch ter und ihre Zwillinge müssen viele Proben bestehen, doch sie werden allesamt bestan den. Wo es geht, säubern sie die Welt von Unholden. Einer ihrer Gegner ist „Sieben Arara", der sich als Sonne ausgibt, ohne es zu sein. Als sie einmal Ball spielen — nach dem sie das Ballspielgerät ihrer Väter gefun den haben —, erscheinen prompt vier Unter welt-Eulen mit dem Auftrag, Hunahpu und Xbalanque vor die Fürsten der Unterwelt zu bringen. Damit aber ihre Angehörigen stets wissen, wie es ihnen in der Unterwelt ergeht und ob sie noch am Leben sind, pflanzen die beiden Brüder noch zwei Maisstauden. Auf dem Weg in die Unterwelt lauern in tiefen Schluchten große Gefahren. Riesenvögel pik ken nach ihnen, spitze Pfähle drohen sie auf zuspießen. Sodann müssen sie über den Blutund Eiterfluß setzen. An einem Kreuzweg, dessen vier Pfade mit verschiedenen Farben gekennzeichnet sind, müssen sie die richtige Farbe auswählen. Die Fürsten der Unterwelt, vierzehn an der Zahl, haben sich eine weitere Probe ausge dacht: Neben jedem sitzt eine Holzpuppe, und die Zwillinge müssen nicht nur den Fürsten aus Fleisch und Blut herausfinden, sondern ihn auch noch namentlich nennen. Weitere Ge fahren drohen im Haus der Finsternis, im Haus der Kälte, im Haus des Jaguars, im Haus des Feuers, im Haus der Fledermäuse und im Haus der Messer. Im Haus der Fleder mäuse wird beispielsweise einem der Brüder von einer Fledermaus der Kopf abgerissen, doch wie stets ist ein hilfreiches Tier (hier ein Kaninchen) zur Stelle, das den Kopf wieder
dorthin setzt, wohin er gehört. Zum Dank er halten die Tiere von den Brüdern ihre zukünf tige Nahrung zugewiesen. Bei dem Kaninchen mag's ein Möhrchen gewesen sein. Dann sie gen die Brüder auch noch im Ballspiel gegen die feindlich gesinnten Unterweltler. Undank ist auch der Unterwelt Lohn: Die Brüder wer den in einen Erdofen gestürzt und verbrannt. Zwei Zauberer raten den Unterwelt-Fürsten, die Asche zu zermahlen und ins Wasser zu werfen. Als dies geschieht, werden die Brüder wieder lebendig. Die Fürsten werden ge opfert. Fortan haben die Unterweltlichen kaum noch Macht über die Bewohner der Oberwelt. Auch die Väter der Zwillinge werden wieder lebendig. Der eine erhält großzügig die Sonne zum Geschenk, der andere den Mond. Weit verbreitet war der Brauch, den Dämonen wie den Göttern Menschen und Menschenherzen zu opfern. Zu den gefürchteten Ungeheuern gehört der Wer-Jaguar, nicht minder groß ist die Furcht vor dem alten haarigen Blitzweib, ebenso vor den Toten. Man glaubt beispiels weise im Osten Brasiliens, daß sie zu jeder Tages- und Nachtzeit ums Dorf lungern. In Australien ist das Ferntöten recht beliebt, also durch Analogiezauber. Der aus Holz oder Lehm hergestellte Gegner wird durchbohrt oder in Brand gesteckt. Wir hätten natürlich diese Übersicht noch wei ter ausbauen können, doch dann wäre ein hal bes Buch daraus geworden oder eine wissen schaftliche Arbeit, und das war nicht der Sinn unserer Zusammenstellung. Sie kennen sich nun aber ein wenig in den Sitten und Gebräu chen einzelnerVölker aus, was in einigen Fäl len beim Lesen der Romane eine zusätzliche Hilfe sein kann. In der nächsten Woche haben wir eine Menge interessanter Leserpost zu beantworten. Dar auf freut sich heute schon Ihre VAMPIR-Redaktion Rainer Delfs Postfach 1109 2723 Scheeßel
Der auffallend dicke Mann lehnte mit gleichgültigem Gesicht an dem wuchtigen Marmorpfeiler. Er mach te einen völlig abwesenden Ein druck, wirkte in dem Getriebe der Menschen, die gleich ihm das Auk tionshaus Carruthers & Soames auf gesucht hatten, sogar deplaziert. Doch dieser Eindruck täuschte ge waltig. Schon viele Menschen hatte Dick Tucker auf diese Weise hinters Licht geführt. Der reiche Antiquitä tenhändler war mit allen Salben ge schmiert. Er kannte alle Kniffe und Tricks, um die vielen Lämmlein an zulocken, die begierig darauf warte ten, von ihm geschoren zu werden. „Sieh mal an, dieser verdammte Aasgeier ist auch da", zischelte ein hagerer Mann mit einem gelblichen Gesicht wütend seinem Nachbarn
ins Ohr. „Wir müssen aufpassen, sonst schnappt er uns die schönsten Stücke vor der Nase weg." So leise diese Worte auch gespro chen worden waren, der, dem sie gal ten, hatte sie dennoch gehört. In den von dicken Speckwülsten fast ver deckten kalten Augen blitzte es kurz auf. Der fleischige Mund verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. Das war die einzige Reaktion. Dann wandte sich die Aufmerksam keit des dicken Mannes wieder dem Auktionator zu. Schon über eine Stunde dauerte die Versteigerung. Es handelte sich aus nahmslos um Kunstgegenstände, denn Carruthers & Soames liebten keine Auktion quer durch den Ge müsegarten. Sie waren stolz darauf, unter den vielen Pfandhäusern Lon
6 dons das erste Haus am Platz zu sein. de, war mehr oder weniger alter kit Deshalb taten sie alles, um ihren vie schiger Tand. Und dann kam das letzte Stück un len Dauerkunden - die meisten da von waren Wiederverkäufer - ent ter den Hammer. Es war ein Gemäl gegenzukommen. Sie ordneten ihre de. Mit einer Breite von vielleicht Waren nach Sachgebieten. An die dreißig Zoll und einer annähernd sem Tag - es war ein kalter regneri gleichen Höhe konnte es nicht gerade scher Apriltag -versteigerte Mr. Ed als klein bezeichnet werden. Der Ba ward Corry, so hieß der vereidigte rockrahmen wies bereits schwere Auktionator, Erzeugnisse der Kunst. Schäden auf. Drei der vier Ecken Sicher, es war auch Ramsch dabei. waren angesplittert, hatten den Eigentlich galt das für die meisten Stuck verloren. Nur hier und da war noch ein Rest von Gegenstände, die Goldfarbe zu er heute den Besitzer Die Hauptpersonen des Romans: kennen. wechselten. Die Uromazda — Der König erwacht aus Der Saaldiener ganz alten Hasen urzeitlichem Schlaf — und wird zu ei hob das Gemälde unter dem Publi nem Dämon, der die Erde in die Ver gangenheit schleudern will. hoch. Von dem kum hielten sich Cliff Farrell — Ein Zeitungsreporter, Rahmen rieselten noch zurück. Sie den die Eifersucht gepackt hat. Iris Carrington — Sie erlebt die kleine Gipsbrok warteten mit Ar schrecklichsten Augenblicke ihres Le ken auf den Erdbo gusaugen auf den bens — als sie das magische Sperr feld überwindet und in einen dämo den. Augenblick, der nischen Tempel gelangt. Doc Murray — Ein schottischer Arzt, ihnen die „Perlen" „Das Mindestan der im Hintergrund die Faden zieht. dieser heutigen gebot liegt bei zehn Bill Watkins, Hal Perkins — Hubschrau berpiloten, die ein unwahrscheinliches Versteigerung zei Pfund", sagte der Abenteuer erleben. gen würde. Auktionator mit einem etwas ver Und tatsächlich, krampften Lä sie wurden nicht enttäuscht. Einige schöne alte Ge cheln. Er schien um Entschuldigung mälde wurden ausgerufen, ein alter dafür zu bitten, daß ein solch min Biedermeierschrank folgte, dann derwertig aussehender Gegenstand zwei ausgesprochen kostbare Iko überhaupt verauktioniert wurde. Wenn es wenigstens ein richtiges nen. Aber es war seltsam - Dick Tucker Gemälde gewesen wäre. Aber auch blieb ruhig. Nicht ein einziges Mal davon konnte kaum die Rede sein. bot er mit, obwohl er sonst wie der Das Bild bestand aus einer einförmig Teufel hinter Ikonen her war. Der dunklen Fläche. Nur an manchen Blick seiner Augen blieb kalt - und Stellen zeigten sich, wenn man sehr genau hinschaute, etwas hellere abwartend. Farbtöne. Aber das war auch alles. „Ich würde hundert Pfund darauf Ein richtiges Motiv war nicht zu er wetten, daß sich Tucker heute einen kennen, noch nicht einmal der An besonders dicken Fisch an Land zie flug irgendwelcher Konturen. hen will", flüsterte der Hagere grim Kein Wunder also, daß nach Corrys mig. Ankündigung Gelächter aufkam. Es Doch vorerst deutete nichts darauf gab kaum jemand unter den Anwe hin. Die Versteigerung ging weiter, senden, der dem Auktionator auch näherte sich allmählich ihrem Ende. nur die kleinste Chance gab, dieses Das, was jetzt noch ausgerufen wur Gemälde an den Mann zu bringen.
7 Corry hob den Auktionshammer. „Zehn Pfund zum ersten", er blick te suchend umher, doch niemand traf Anstalten, ein Gebot abzugeben. „Zehn Pfund zum zweiten." Das Gelächter verstärkte sich. Gleich würde der Hammer fallen. Und das bedeutete nach dem Brauchtum die ses alten und ehrwürdigen Hauses, daß das Gemälde bei der nächsten Auktion für die Hälfte des Mindest preises, also für fünf Pfund, zur Ver steigerung kommen würde. Edward Corry hob das kleine sil berne Hämmerchen, um den Schluß strich unter diese peinliche Situation zu ziehen. „Und zum dritten!" Doch bevor der Hammer die über hundert Jahre alte Eichenplatte des Stehpults berührte und die Auktion beendete, geschah etwas, womit kei ner der hier Versammelten noch ge rechnet hatte. Ein tiefes lautes „Hier!" erscholl, und Dick Tuckers Arm reckte sich in die Höhe. Einen Augenblick lang herrschte Ruhe. Es war die Ruhe der Sprachlo sigkeit, der kompletten Verblüffung. Die Köpfe fuhren herum, obwohl die Stimme Tuckers fast jedem hier be kannt war. In dem hageren Mann hinter Dick Tucker stieg die düstere Ahnung hoch, eine einmalige Gelegenheit verpaßt zu haben. Tucker war be kannt für seine Nase. Sicher verbarg sich unter der dunklen Schicht des Gemäldes eine bedeutende Kostbar keit - vielleicht sogar das Werk eines alten Meisters. Sauber hatte das die ser Kerl hingekriegt. Alle hatte er schon wieder aufs Kreuz gelegt. Und jetzt war der Schatz sein und dazu der Triumph, selbst alte Hasen ge leimt zu haben. Ein leiser Fluch entfuhr den ver kniffenen Lippen. Woher Tucker nur
seine Informationen hatte? Schließ lich war er nicht allwissend. Es war bezeichnend für die hier anwesenden Menschen, daß sie alle, den Auktionator mit eingeschlossen, der gleichen Ansicht waren. Es konnte einfach keinen Zweifel daran geben, daß Tucker wieder einmal ei nen seiner berühmten Coups gelan det hatte. Schon morgen würde halb London Bescheid wissen - und dar über lachen. Tucker grinste, als er hinter dem Pfeiler hervorkam und auf die Estrade zuging. Seine Hand wedelte dabei mit einer Zehnpfundnote durch die Luft. „Hier ist das Geld", sagte er zu Mr. Corry mit jener falschen Freund lichkeit, hinter der sich blanker Hohn verbirgt. Dann nahm er dem Saaldiener das Bild aus den Händen. Der Mann wollte protestieren, denn es war in diesem vornehmen Haus nicht üblich, daß ein Käufer die ge rade erworbene Ware selber hinaus trug. Doch Tucker winkte ab und verließ mit langsamen, ein wenig ge zierten Schritten den Auktionssaal. Man sah ihm an, wie sehr er diesen Auftritt genoß. Kaum hatte die Saaltür sich hinter ihm geschlossen, als die bleierne Stil le von den Menschen wich. Wütendes Geschimpfe wurde laut. Alles dräng te sich um den unglücklichen Auktio nator, der buchstäblich in Fragen erstickte. Er rang die Hände, ver suchte Antwort zu geben, aber der Lärm war so groß, daß er seine eige nen Worte nicht hören konnte. Doch endlich schwiegen die Men schen, teils erschöpft, teils deswegen, weil ihnen die Fragen ausgegangen waren. „So glauben Sie mir doch", sagte Mr. Corry mit müder Stimme. „Ich kenne die Herkunft des Bildes nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, daß es vor
8 sechs Monaten bei Carruthers & Soames als Pfand hinterlegt wurde. Da die Frist mittlerweile abgelaufen ist, sollte es heute versteigert wer den." Um sich weiteren Fragen zu entziehen, eilte er schnell zu der na hen Tür, riß sie auf und verschwand in dem dahinterliegenden Gang. Es dauerte noch eine gute halbe Stunde, bis der Auktionssaal sich endlich geleert hatte. Keiner der noch eben hier Versammelten ver ließ mit einem guten Gefühl diese Stätte. Und es gab auch keinen unter ihnen, der zumindest in seinen Ge danken diesen verdammten Tucker heute nicht schon mehrfach zum Teufel gewünscht hatte.
Leise summend bog der Bentley in die breite, protzig wirkende Auf fahrt der freistehenden Villa ein. Sie war im Tudorstil erbaut und von Tucker erst vor wenigen Jahren re noviert worden. Eine knappe Stunde später stand Tucker im großen Salon. Sein Diener hatte gerade das Gemälde mit einem neuen, wenn auch nicht genau pas senden Rahmen versehen und neben dem Kamin an die Wand gehängt. Smith war als Diener eine Spitzen kraft. Er hatte schon in sehr vorneh men Häusern gedient. Zu Tucker war er nur gekommen, weil dieser unverheiratete Neureiche - denn das war sein neuer Herr für Smith - ihm ein Salär zahlte, das mindestens dop pelt so hoch war, als sonst üblicher weise gezahlt wurde. Deshalb machte Smith auch ein ausdrucksloses Gesicht, als ihn Tuk
ker gutgelaunt fragte, ob ihm das Bild gefallen würde. „Nun", begann er zögernd, „ich bin kein solcher Kenner wie Sie. Deshalb kann ich mir schlecht ein Urteil..." „Reden Sie doch nicht solchen Sums", unterbrach Tucker ihn bru tal. „Für Sie ist das kein Bild, sondern nur schwarzes Gekleckse. Stimmt's?" Die Schultern des Dieners straff ten sich. Er war es nicht gewohnt, daß so mit ihm geredet wurde. Wie schon so oft in den vergangenen Mo naten seit er den Dienst bei Tucker angetreten hatte, bereute er seinen damaligen Entschluß. Doch dieses Gefühl, das wußte Smith schon jetzt, war spätestens am darauffolgenden Tag verflogen. Waren Tuckers Ma nieren auch schlichtweg katastro phal, seine Großzügigkeit war die ei nes Königs. Und er tat alles, um diese Perle eines Dieners an sein Haus zu fesseln. Es schmeichelte seinem Selbstbewußtsein, einen Mann in seinen Diensten zu wissen, der schon Butler bei einem Earl gewesen war. „Wenn Sie mich so fragen, dann muß ich Ihnen zustimmen", antwor tete Smith und erwartete einen Zor nesausbruch seines Brotherrn. Aber zu seiner Verblüffung fing Tucker laut zu lachen an. Er ver schluckte sich beinahe dabei. Das dicke Gesicht wurde krebsrot. „Was, glauben Sie denn, was ich von diesem Dreck halte", antwortete er endlich und wischte sich die vom Lachen naßgewordenen Augen trok ken. „Nichts halte ich davon, sogar we niger als nichts!" Smith sah ihn aus großen Augen an. „Aber - aber warum haben Sie es dann gekauft?" Aus Tuckers Gesicht verschwand das Lachen.
9 „Ich hatte meine Gründe dafür", entgegnete er kurz. Dann trat er dicht vor das Gemälde und begann es aufmerksam zu studieren. Smith fühlte, daß er jetzt überflüs sig war. Er verbeugte sich gemessen und verließ den Salon. Kaum war er draußen, als Tucker ein kleines Lederfutteral aus der Ho sentasche zog. Es enthielt ein kleines hochwertiges Vergrößerungsglas, das mit einer winzigen Taschenlam pe kombiniert war. Tucker schluckte, als er die Linse hochnahm und dabei das kleine Lämpchen einschaltete. Gleich wür de es sich zeigen, ob es richtig gewe sen war, dem Instinkt zu folgen. Vie le Millionen Pfund hatte Tucker die sem Ahnungsvermögen bereits zu verdanken. Millionen, die er inner halb von nur zehn Jahren im Anti quitätenhandel verdient hatte. An gefangen hatte seine Tätigkeit da mit, daß er die Speicher alter Bau ernhäuser von allem unnützen Bal last entrümpelte. Natürlich brauchte der Bauer, oder wer es auch immer sein mochte, den Abtransport der „unnützen" Gegenstände nicht zu bezahlen. Diese Kosten übernahm Tucker, der später die entrümpelten Dinge genau auf ihren Wert unter suchte. Dabei kam ihm auch das Glück zu Hilfe. So entdeckte er auf seinen Rei sen kreuz und quer durch England und Schottland Bilder alter Meister, wertvolle Stilmöbel und, in Geheim fächern alter und verrotteter Schreibtische, sogar beträchtliche Mengen an Goldmünzen und zum Teil wertvollen Schmuck. Bereits nach einem Jahr hatte Tucker seine erste Pfundmillion ver dient gehabt. Danach zog er dieses Geschäft in weit größerem Maßstab auf. Das Glück blieb ihm treu. Es folgte
ihm wie ein ergebener Hund. Ob auf der Insel oder auf dem Kontinent, seine Schatzsucher wurden immer wieder fündig. Und so war es bis zum heutigen Tag geblieben. Es war ein ausgesprochener Zufall gewesen, daß er auf dieses Gemälde gestoßen war. Eigentlich war die Pflichtvergessenheit einer Aufsichts person daran schuld. Sie hatte sich von Tucker bestechen lassen, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich im La ger ein wenig umzusehen. Das hatte er ausgiebig getan. Und dabei war er auf dieses seltsame Bild gestoßen. Ein Bild, das in Wirklich keit gar keines war, denn eine fast gleichmäßig dunkle Fläche, die an keiner Stelle irgendwelche Umrisse zeigt, kann kaum als Bild gelten. Tucker war allein in dem Lager gewesen - für genau eine halbe Stun de. Diese Zeit war fast abgelaufen, als er auf das Bild stieß. Er betrach tete es kurz, blickte sich verstohlen um und holte dann ein kleines Fläschchen aus seiner Hosentasche. In dem Fläschchen war eine wasser klare Flüssigkeit enthalten. Tucker träufelte einen Tropfen davon auf sein Taschentuch und fuhr damit sanft über eine Ecke des Bildes. Und dann sah er, daß unter der Einwirkung der Lösung ein wenig von der dunklen Färbung ver schwand und eine andere Farbe - es war ein purpurnes Rot - zum Vor schein kam. Tucker hatte aufgekeucht unter dieser Entdeckung. Für ihn war es jetzt sonnenklar, daß die dunkle Farbe nur eine Tarnung war, unter der sich wahrscheinlich eine seltene künstlerische Kostbarkeit verbarg. Als Tucker nach dieser Entdek kung das Haus von Carruthers & Soames verließ, war er fest ent schlossen gewesen, dieses Bild an sich zu bringen. Nicht deswegen, weil
10 er sich hier ein Bombengeschäft er hoffte. Das hatte Tucker seit langem nicht mehr nötig. Nein, hier wurde ein Grundzug seines Wesens ange sprochen: die Entdeckerfreude. Ge wiß keine unedle Eigenschaft, aber sie verband sich mit einem niederen Charakterzug: der Genugtuung dar über, seinen Konkurrenten wieder einmal einen groben Nasenstüber geben zu können - ihnen aufs neue zu zeigen, daß er, Dick Tucker, im Anti quitätengeschäft unbestrittener Kö nig war. Genau das hatte er heute geschafft, dachte er triumphierend, bevor er das Vergrößerungsglas an die Augen setzte. Ein leises glucksendes Lachen entfuhr seinen Lippen. Doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst. Die kleinen Äuglein funkelten wie die eines beutegieri gen Raubvogels. Die kleine, aber sehr lichtstarke Lampe warf einen grellen münzen großen Lichtfleck auf die alte Lein wand. Tucker grunzte zufrieden. Er hatte Zeit, sehr viel Zeit. Und wenn er die ganze kommende Nacht hier verbringen mußte - er würde nicht eher schlafen gehen, bis er das Ge heimnis des Bildes gelüftet hatte. Der Lichtfleck wanderte über das Bild. Tucker wollte nichts riskieren. Bevor er das scharfe wasserklare Lösungsmittel anwandte, wollte er zuerst auf diese Weise versuchen, ei nige Aufschlüsse über den Hinter grund des Bildes zu erhalten. Doch das einzige, was ihm die Lampe und die scharfe Lupe zeigten, war der Hauch von Purpur, den Tuk ker unter der dunklen Deckfarbe zu erkennen glaubte. Merkwürdig, Tucker fröstelte es plötzlich. Auch sein Puls ging schneller. Sogar seine Haare stellten sich hoch. Manche Menschen beachten diese warnenden Vorzeichen, geben dem
Instinkt nach und gehen dadurch der Gefahr aus dem Weg. Doch Dick Tucker war kein solcher Mensch. Er fühlte zwar, daß sich sein Körper un gewohnt benahm. Aber er maß dem kein übermäßiges Gewicht bei. War um auch? Tucker war ein vom Glück verwöhnter Erfolgsmensch. Wie hät te er auf die Idee kommen können, daß mit dem Bild etwas nicht in Ord nung war, ja, daß es sich bei ihm um ein Werkzeug von unsagbar finste ren Wesenheiten handelte? Unmög lich, daß Dick Tucker einen solchen Einfall haben konnte. Er war ein wirklichkeitsbezogener Mensch, Al les, was er mit seinen Sinnen ge danklich nicht verarbeiten konnte, war für ihn entweder steriles intel lektuelles Gefasel oder dummer Aber glaube. Nein, Tucker stand fest auf dem Boden der Wirklichkeit - und er war stolz darauf. Das einzige, was er tat, war, sich ei ne seiner langen Zigaretten anzu zünden. Gierig zog er den Rauch in seine Lungen. Er konnte es kaum er warten, seine Arbeit fortzusetzen. Eine geheimnisvolle Macht schien in ihm zu wirken und ihn anzutreiben. Und dann ging er wieder ans Werk. Langsam wanderte der grelle Licht fleck dem Mittelpunkt des Bildes zu. Da! Was war das? Die eigenartige dunkle Substanz begann dort, wo das Licht jetzt weilte, zu verblassen, auf geheimnisvolle Art durchsichtig zu werden. Und dann breitete sich das unfaßliche Phänomen aus, erfaßte schließlich die ganze Mitte des Bil des. Je mehr dieser Prozeß voran schritt, um so klarer und deutlicher wurde das, was sich unter der Deck farbe verborgen hatte. Ohne Zweifel, es war ein Gemälde. Und doch war es keins, konnte keins sein, denn seit wann ist ein Bild le bendig?
11 Und genau das war hier der Fall. Hohe, düster wirkende Bäume wieg ten sich im Wind. Sie umgaben ein langes Geviert. Von seinem Grund stiegen auf allen Seiten Treppen in die Höhe. Und auf diesen Treppen hockten menschenähnliche Wesen. Sie glichen hautüberzogenen Skelet ten. Ihre Köpfe waren gesenkt. Lan ges strähniges Haar fiel bis auf die Knie nieder. In der Mitte der Anlage wuchs eine mächtige, runde, rotgeflammte Mar morsäule in die Höhe, die die auf den Stufen sitzenden Geschöpfe knapp überragte. Die Säule verbreiterte sich an ihrem oberen Ende zu einer Plattform. Auf ihr stand ein altar ähnliches Gebilde. Der riesige Vier kant war aus einem Stück gehauen. Doch der Stein, aus dem er bestand, war so schwarz, wie kein Stein je auf der Erde gefunden werden kann. Auf dem Vierkant stand ein stei nerner Sarg. Er hatte seltsamerweise keinen Deckel. Die Gestalt, die in dem Sarg lag, war bis auf das Haupt in schwarze Tücher eingehüllt. Die Augen waren von wimpernlosen Li dern überdeckt. Der Schädel war nackt, trug nicht ein einziges Haar. Um ihn schlang sich ein goldener Reif. Erst bei genauerem Hinsehen war zu bemerken, daß es ein kunst voll gearbeiteter Schlangenkörper war. Er besaß zwei Köpfe, dafür kei ne Schwanzspitze. Beide Köpfe tra fen sich in der Stirnmitte. Ihre lan gen gespaltenen Zungen hielten eine schwarze kreisrunde Scheibe. Schwarz ist schwarz, das klingt sehr einfach. Eine tiefere Abstufung im Sinne einer mehr oder minder großen Schwärze erscheint unlo gisch. Und doch überzeugte der Anblick der Scheibe davon, daß schwarz nicht gleich schwarz ist. Oder war es überhaupt keine Farbe? Verbarg
sich hier ein anderes Phänomen? War es vielleicht keine Scheibe? Über den Himmel zogen dunkle Wolken. Ein großer Vogel mit dunk lem Gefieder näherte sich. Er kurvte mehrmals über den Platz und stieß dabei ein mißtönendes Kreischen aus, dann schoß er wie ein Pfeil nach oben und wurde mehr und mehr zu einem schwarzen Punkt. Dick Tucker hatte zuerst nur leise aufgekeucht, als das unfaßliche Ge schehen vor seinen Augen abrollte. Auch er dachte zuerst an eine Täu schung seiner Sinne, war überzeugt davon, daß der ganze Spuk in weni gen Sekunden vorbei sei. Aber als sich diese Hoffnung nicht erfüllte, ja, als sich die Lebendigkeit in dem Bild sogar auszuweiten be gann, die Konturen voller und deut licher wurden, da wußte Tucker, daß es mit dem Bild seine Richtigkeit hatte. Das einfache, unkomplizierte und vom Rauch des Intellekts noch nicht vernebelte Gehirn erfaßte, was es mit dem Gemälde auf sich hatte. Kindheitserinnerungen wurden wach. Erzählungen, in denen es von bösen Geistern nur so wimmelte. Von Hexen, Zauberern und Dämo nen. Die dem Bild entströmende, immer drohender werdende Aura signali sierte allerhöchste Gefahr. Tucker wollte sich abwenden. Zu erst die Augen und dann den ganzen Körper. Aber er konnte es nicht. Die dem Bildnis entströmende infernalische Strahlung durchdrang bereits seinenj gesamten Leib, umspülte sein Ner vengeflecht und unterbrach es. Die Befehle des Gehirns erreichten die Muskeln nicht mehr. Dick Tucker wußte selbstver ständlich nicht, was es mit diesem dämonischen Angriff auf sich hatte. Dazu war sein eher primitives Ge
12 hirn nicht fähig. Er wußte nur, daß er in großer Gefahr schwebte und daß eine unsichtbare Kraft auf sei nen Körper einwirkte, die selbst die kleinste Bewegung verhinderte. Doch Tucker besaß eine große ani malische Stärke. Wenn er seine ge samte Kraft mobilisierte, dann muß te es ihm gelingen, sich diese unsicht baren Fesseln abzustreifen - dachte er. Und Tucker strengte sich an. Das Blut stieg ihm dabei zu Kopf und färbte ihn krebsrot. Auch in seinen Augen war die kolossale Anstren gung zu erkennen. Sonst dunkel braun, waren sie jetzt fast schwarz. Doch alle seine Mühen waren ver gebens. Was nützte Tucker jede noch so große Willensanstrengung, wenn die Nervenleitungen nicht mehr funktionierten. Während sich Tucker mit begin nender Verzweiflung abmühte, dem Fesselfeld zu entrinnen, änderte sich auch das Bildnis. Die dunkle Farbab deckung war völlig verschwunden. An seiner Stelle leuchtete jetzt ein purpurnes Rot. Es sah nicht wie eine Farbe aus, sondern wie glühendes Magma. Das seltsame Rot umgab den ge samten inneren Komplex, der aus dem Geviert mit den es umgebenden Bäumen, den gespenstischen Lebe wesen und der Säule mit dem altar ähnlichen Gebilde sowie dem darauf ruhenden steinernen Sarg bestand. Tucker keuchte laut und durch schnitt damit die schreckliche Stille. Seine breite Brust hob und senkte sich unter schnellen Atemzügen. Allmählich begannen sich die Ge danken in seinem Gehirn selbständig zu machen und gleich einem wüsten Reigen durcheinanderzutanzen. Doch noch immer hatte sein Geist die gefährliche Schwelle zum Wahn sinn nicht überschritten. Aber auch
dieser letzte Schritt blieb Tucker nicht erspart. Urplötzlich, von einer Sekunde zur anderen, vergrößerte sich das Antlitz der im Sarg liegenden Kreatur, wäh rend sich alle anderen Darstellungen des Bildes verkleinerten. Dieser Pro zeß dauerte so lange, bis das Haupt das ganze Bild ausfüllte. Dabei öff neten sich langsam die Augen des Wesens. Es war ein zutiefst grausames Ant litz. Menschliche und nichtmenschli che Elemente verwoben sich darin. Menschlich waren die Form des Ge sichts, die Nase und auch die Ohren. Nichtmenschlich dagegen waren die Augen. Sie waren nicht, wie es bei menschlichen Augen der Fall ist, in Pupille, Regenbogenhaut und wei ßer Hornhaut unterteilt - hier flammte der gesamte Augapfel in ei nem düsteren Rot. Nichtmenschlich waren auch der lippenlose messer scharfe Mund und das Fehlen eines Kinns. Aus den Augen des Wesens brach ein überwältigender Kraftstrom. Er schlug nach Tuckers Bewußtsein, wie es ein schwerer Hammer tut, mit dem ein Schmied einem Stück glü henden Eisens die richtige Form gibt. Es war doch tot! Wieso lebt es plötzlich? O mein Gott, was ist nur los mit mir ... Sicher träume ich ... Gleich wache ich auf, und alles ist wieder gut. Es wird so dunkel. Nein! Ich falle! Herrgott! Hilf mir! Jäh brachen Tuckers verzweifelte Gedanken ab - sein Bewußtsein ver sank in der Schwärze des Unbewuß ten. Auch der jammervolle letzte Ge danke an Gott - seit seiner Kindheit hatte Tucker nicht mehr an ihn ge dacht - half ihm nichts mehr. Und dann erreichte das dramati sche Geschehen seinen grausigen Höhepunkt. Aus den glühenden Au gen brach ein funkelnder Licht
13 strahl. Er bohrte sich an der Stelle in den Leib seines Opfers, unter der das Herz Tuckers pochte. Einen Augenblick lang passierte nichts. Der Lichtstrahl wirkte wie eine magische Brücke. Doch irgend wie ging von dem Funkeln etwas un geheuer Wildes aus, etwas, was mit der gierigen Erwartung eines Raub tieres verglichen werden kann, be vor es sein Opfer schlägt. Der letzte Akt begann. Plötzlich weitete sich der Lichtstrahl. Gleich zeitig schien etwas in diese Strahlen röhre hineinzufließen, etwas Rotes, Dampfendes, Wallendes. Und dann verfiel Tuckers Gesicht. Die Röte darin verschwand, wurde zuerst zur Blässe, dann zum kalkigen Weiß. Die Augäpfel sanken tief in ih re Höhlen zurück, der Mund klaffte jäh auseinander, mit einer pendeln den Bewegung fiel der Kopf nach vorn auf die Brust. Erst in diesem Augenblick löste sich die unheimliche magische Ver bindung. Auch das Fesselfeld gab nunmehr den nutzlos gewordenen Körper wieder frei. Die Gestalt schwankte kurz hin und her, dann klappte sie in der Mitte wie ein Ta schenmesser zusammen und schlug schwer, mit einem lauten Poltern, zu Boden. Kaum war das geschehen, als das Gemälde wieder verblaßte. Die Um risse in der Mitte des Bildes ver schwanden, ebenso die Purpurfarbe an den Rändern. Unsichtbare Hände schienen es anschließend in ein dunkles Gespinst zu wickeln, in ei nen dämonischen Kokon. Dies ge schah so lange, bis das Gemälde wie der so aussah wie noch vor einer knappen Stunde - dunkel und nichtssagend.
Heftige Windboen griffen nach der langen dunklen Wolkenbank und setzten sie in Bewegung. In der Wol ke bildete sich ein schmaler Spalt. Für wenige Sekunden zeigte sich die helle Scheibe des vollen Mondes. Sei ne silbernen Lichtfinger eilten zur Erde und verjagten für kurze Zeit die pechschwarze Nacht. Jäh wurde das kleine Hochplateau in dieses bleiche Licht getaucht. Es lag ziemlich im Zentrum des DUN NET HEAD, des nördlichsten Punk tes des schottischen Hochlandes. Ein auf- und abschwellendes Brausen lag in der Luft. Es war der Wellen schlag des nahen atlantischen Ozeans. Der DUNNET HEAD war ein wil des Gewirr von bizarren Felsklippen und tiefen Klüften. Große Felsbrok ken lagen überall herum, wahllos, als seien sie von Riesenhänden nach hier geworfen worden. An manchen Stel len stachen spitze Felsnadeln in den Himmel. Es war eine düstere Landschaft. In ihr wohnte kein Leben. Nirgendwo war auch nur der kleinste Grashalm zu entdecken, selbst die noch an spruchsloseren Moose schienen die ses Gebiet zu meiden. Und dasselbe galt für die Tierwelt. Nur manchmal ertönte vom nahen Meer das Krei schen von Seemöwen herüber. In ruhigen Vollmondnächten, dann, wenn das Meer ruhig war, wurde der hier herrschende Ein druck einer fast absoluten Leblosig keit besonders deutlich. Wie eine Mondlandschaft wirkte dann dieses Gebiet. Starr und lebensfeindlich. Und inmitten dieser beklemmen den felsigen Einöde lag die kleine Hochfläche. Das Eigenartige an ihr war, daß trotz der vielen, verstreut umherliegenden Felstrümmer eine geometrische Form zu erkennen war. Und wenn man sehr genau hin
14 sah, dann erkannte man sogar die lung. Sie zeigte eine Begräbniszere Form eines länglichen Gevierts. Die monie. Der Sarg stand auf einem ho Länge mochte ungefähr hundert hen marmornen Sockel. Die Säule Yard, die Breite etwa fünfzig Yard war innen hohl. Nach der Zeremonie betragen. Genau in der Mitte des würde der Sarkophag in die Tiefe Vierecks häuften sich besonders vie schweben, gehalten von der magi le Felsentrümmer. Der Zahn der Zeit schen Kraft der Priester. hatte kräftig daran genagt. Trotz Der Marmorsockel war von einer dem war bei einigen dieser Felsblök Art Arena umgeben. Allerdings war ke noch eine annähernd runde Form sie nicht rund, sondern viereckig. zu erkennen. An manchen Stellen, Von allen Seiten stiegen tribünenar wo die Verwitterung aus welchen tig Treppen in die Höhe. Auf ihnen Gründen auch immer noch nicht so saßen die Angehörigen einer Rasse, weit vorgeschritten war, zeigte sich die schon zu einer Zeit auf der Erde schwach eine rötliche Maserung. wandelte, als gerade die Entwick Es geschah, als das Mondlicht die lungsepoche der Säugetiere begann. Hochfläche in seinen magischen Sie entstammten einem früheren Schein hüllte. Zuerst war das Knak Zweig der Evolution. Gewisserma ken kaum zu hören. Doch es wurde ßen das Ergebnis eines Experiments rasch immer lauter. Schließlich im großen Laboratorium der Natur. mischten sich platzende Geräusche Eine mit Vernunft begabte Kombi mit hinein. Einige Felsklötze - es wa nation. Elemente aus dem Echsen ren die in der Mitte des Vierecks - be reich waren genauso darin vertreten gannen zu zittern. Gleichzeitig er wie die der Vogelwelt. Hinzu kamen tönten dumpfe wuchtige Schläge. Ei - war es eine Laune der Natur oder ne unterirdische Kraft schien am war es ein weit vorausschauender Versuch - Elemente, die erst in Mil Werk zu sein. Bevor diese unheimlichen Laute lionen Jahren beim Homo sapiens ertönten, erwachte in der unter dem zum Zuge kommen sollten. Felsboden liegenden Grabkammer Sie waren nicht sehr zahlreich ge ein erschreckend fremdartiges We wesen. Schließlich waren sie nur das sen zu neuem Leben. Ergebnis eines Versuchs. Doch Ver Zuerst flammte Licht auf. Das suche haben - manchmal - die Eigen Licht war leicht rötlich, entströmte schaft, ein eigengesetzliches Leben dem Mauerwerk der Grabkammer, zu entwickeln, Wege zu beschreiten, mächtigen aufeinandergetürmten die von der Versuchsanordnung Felsblöcken. Eine eigentliche Quelle nicht vorgesehen sind. war nicht zu erkennen. Und genau das war bei diesen Le Die Baumeister dieser unterirdi bewesen der Fall gewesen. Ihre gei schen Grabstätte verdienten höchste stigen Fähigkeiten entwickelten sich Anerkennung. Die Fugen des zyklo geradezu atemberaubend schnell. pischen Mauerwerks waren kaum zu Schon sehr bald waren sie in der La sehen. Und die Wände waren so sorg ge, mit den Kräften ihres Geistes auf fältig geglättet, daß man ruhigen die Materie einzuwirken. Sie ver Gewissens von einer plangeschliffe vollkommneten sich darin und er nen Fläche sprechen konnte. langten schließlich eine Meister Der große steinerne Sarkophag schaft, die sie zu Halbgöttern mach stand in Längsrichtung. Die Wand te. dahinter trug eine farbige Darstel So kam es, daß sie die Natur überli
15 steten, sie allmählich sogar be herrschten. Das ging viele tausend Jahre so. Sie waren inzwischen zu ei nem großen Volk geworden. Indu strie besaßen sie keine. Warum auch. Sie brauchten keine Maschinen. Ihr mächtiger Geist konnte die Materie beliebig manipulieren. Ja, sie waren sogar in der Lage, sich blitzartig an jeden gewünschten Orí zu versetzen. Und bald - so dachten sie damals frohlockend - bald konnten sie mit dieser Fähigkeit sogar die fernen Sterne erreichen. Doch bevor es dazu kam, wurden sie von einer rätselhaften Krankheit befallen. Schon nach wenigen Son nenumläufen standen sie dicht vor der Ausrottung. Und auch die Übrig gebliebenen wußten, daß die Tage ihres Erdenlebens gezählt waren. Es war diese Erkenntnis, die in Uro mazda, dem letzten König des lura nischen Volkes, eine Idee aufblitzen ließ. Eine Idee, die ihn, wenn sie zum Erfolg führte, unsterblich machen würde. Die letzten Luraner - von den Mil lionen waren nur noch wenige tau send übriggeblieben - waren bereit, dem König mit den Kräften ihres Geistes beizustehen. Vielleicht ge lang es auf diese Art, die tückische Krankheit zu besiegen. Vielleicht war es sogar möglich, in einer fernen Zukunft wiederzukehren. So verrückt diese Hoffnung auch klingen mochte, verrückt im Hin blick auf die Unlogik eines solchen Gedankens, für diese Geschöpfe war eine solche Hoffnung absolut nicht unlogisch. Sie wußten, daß der Geist etwas Unzerstörbares darstellte. Er würde ewig bestehen. Wenn es also einem von ihnen gelang, nicht nur geistig, sondern auch körperlich zu überdauern, dann konnte es ihm nicht nur aufgrund der Fähigkeiten seines Geistes, sondern auch mit dem
riesigen Wissen im Gedächtnisspei cher seines Gehirns durchaus gelin gen, die Rasse wiedererstehen zu lassen. Schließlich - was ist Materie? Gefrorene Energie! Und was ist Energie? Widerschein des Geistes! Sie ist nicht die Lampe - sie ist auch nicht das Licht - aber sie ist die Wär me in dem Licht. Der Geist steht also weit darüber. Warum sollte ihm nicht möglich sein, alles, was einmal war, neu zu er schaffen? Dem schaffenden Geist ist nichts, buchstäblich nichts unmög lich. Das also wußten diese Geschöpfe. Der König, obwohl noch gesund, wurde in einen Sarg gelegt und nach einer feierlichen Zeremonie in der unterirdischen Grabkammer beige setzt. Doch das war nur der erste Teil, der zweite - entscheidende Teil folgte anschließend. Die letzten Luraner führten den Befehl ihres Königs aus. Sie bündel ten ihre geistenergetischen Kräfte und legten dieses Feld um den stei nernen Sarkophag. Sie gaben für die Errichtung dieses Feldes das letzte Quentchen ihrer Kraft - und ihre seelischen Potenzen noch dazu. Letz tere waren überdimensionaler Na tur, damit zeitunabhängig. Darauf kam es an. Als die Zeremonie vorbei war, gab es keine Luraner mehr. Die toten Körper gingen den Weg allen Flei sches. Sie verwesten und wurden zu grauem Staub, der von dem Wind allmählich hinweggefegt wurde. An alles hatten diese gutmütigen, zutiefst friedfertigen Geschöpfe ge dacht, nur an eines nicht - an das Wirken dämonischer Geistigkeiten. Sie hatten keine Ahnung von diesen Mächten. Sie lebten gewissermaßen in einem Paradies, das die ganze Er de umfaßte. Sie kannten keine Nah rungssorgen, wußten nicht, was Leid
16 und Schmerz bedeuten. Ihre meta physischen und paranormalen Ga ben waren dermaßen ungeheuerlich, daß dies auch ganz verständlich war. Wie hätten sie also von der Existenz anderer, unendlich bösartiger We senheiten wissen können? Und es geschah! Dämonische Kräfte durchstießen das um den Körper des Königs liegende höherdi mensionale Kraftfeld und bemäch tigten sich des Leibes. Und dann warteten sie ab. Der Faktor Zeit hatte für sie keine Be deutung. Was ist schon Zeit für sie! Nichts. Eine endliche Größe, nichts weiter. Während außerhalb der Grab kammer die Zeit verrann, die erdge schichtlichen Epochen vorüberzogen und ein Zeitalter dem anderen folgte, blieb sie in der Kammer stehen. Der Wassertropfen, der kurz nach der Beendigung der Zeremonie damit begonnen hatte, die Wand herunter zurinnen, befand sich fast noch auf demselben Fleck, als es in der Grab kammer dunkel wurde und der Mil lionen Jahre andauernde Schlaf des Königs seinen Anfang nahm. Und er war nur um Bruchteile eines Zolls weitergeflossen, als das Licht wieder aufflammte - obwohl draußen Äo nen vergangen waren. Der Deckel des Sarkophags hob sich wie von Geisterhänden getra gen. Infernalische Augen öffneten sich in einem Gesicht, das nicht mehr das eines Luraners war. Gewiß, die Züge stimmten noch so einigerma ßen. Doch sie wirkten eigenartig verschoben, entbehrten jetzt jegli cher Symmetrie. Vollkommen verändert hatten sich die Augen. Hier hatte eine komplette Umwandlung stattgefunden. Aus den sanften Augen eines Luraners waren die mordgierigen Augen eines Dämons geworden.
Und was war mit der Psyche des Königs? Wo waren die edlen Schwin gungen seines Geistes geblieben? Es gab sie nicht mehr. Wenigstens nicht mehr in der irdischen Dimen sion. Dämonische Energien hatten sie vertrieben und brutal aus dem angestammten Körper verjagt. Was jetzt in dieser Hülle steckte, war von gänzlich anderer Qualität. Mit diesem die Zeiten überdauern den Körper hatten die finsteren Göt ter ein Vehikel in die Zukunft gefun den. Und dieser kostbare Körper be saß ein Gehirn, in dem das ungeheu re Wissen einer ganzen Rasse gespei chert war. Wie gesagt, der geistige Inhalt war ein anderer geworden. Sogar der Körper Uromazdas hatte sich verän dert. Damit veränderten sich automa tisch auch die körperlichen Bedürf nisse, insbesondere die Art der Nah rungsaufnahme. Ist sie bei einer dä monischen Kreatur nicht gesichert, dann zersetzt sich ihr Körper binnen kurzer Zeit zu einem ekelhaft stin kenden Brei. Doch daran hatten sie gedacht. Nie hätten sie diesen entscheidenden Punkt vergessen können. Sie arran gierten alles. Sie waren es, die für das Auftauchen des geheimnisvollen Bildes verantwortlich waren, und sie trugen die Schuld an dem schreckli chen Tod Dick Tuckers. Und dann manifestierte sich ein neues Phänomen. Die Kopfhaut des Königs rötete sich plötzlich. Je mehr dieser Prozeß voranschritt, um so greller wurde auch das Licht in den funkelnden Augen Uromazdas. Le ben floß in den Körper hinein - ge stohlenes Leben. Verstandesmäßig war die Art der Übertragung nicht zu fassen. Wäh rend in London Dick Tucker wie eine Frucht ausgepreßt wurde und dabei
17 sein Leben verlor, gewann hier, viele hundert Meilen nördlich, ein anderes Geschöpf sein Leben zurück. Ein Ge schöpf aus einer Vergangenheit, in der noch Saurier die Erde bevölker ten. Endlich hob sich der Vorhang zum vorläufig letzten Akt. Dunst legte sich über den Körper Uromazdas und verhüllte ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Es war ein tiefschwarzer Nebel, so schwarz wie das Dunkel zwischen den Sternen. Er wallte um den Leib, als handle es sich bei ihm um eine lebendige Substanz. Der Eindruck einer zielge richteten Geschäftigkeit ging von ihm aus. Und dann, urplötzlich, verschwand das wolkige Gebilde. Uromazda wurde wieder sichtbar. Aber es war nicht der König. Was jetzt in dem steinernen Sarg lag, war ein völlig normal aussehender Mensch aus dem zwanzigsten Jahr hundert. Ein Mann, groß und schlank, um vierzig Jahre alt. Er hat te dunkle leichtgewellte Haare und eine hohe Stirn. Nur der Gesichts schnitt und die schmalen Lippen erinnerten noch schwach an das alte Gesicht. Auch die Augen waren jetzt menschlich. Ebenso das jetzt vor handene gut entwickelte Kinn. Kein Zweifel, aus Uromazda war ein Mensch geworden. Aber eines hatten die dämonischen Geistigkeiten nicht geschafft - die sem „Menschen" die Ausstrahlung der Beseeltheit zu geben. Sie ver mochten viel - aber das konnten sie nicht. Doch dieses Manko störte sie nicht. Wer sollte es entdecken? Und wenn es wirklich einen Menschen gab, der dies vermochte - wer würde ihm glauben? Niemand. Die Menschheit unserer Tage ist schließlich aufge klärt, läßt sich kein X für ein U vor
machen. Die Menschen haben ihren Verstand hervorragend entwickelt. Er ist ein unbestechlicher Richter. Er akzeptiert nur Dinge, die seine Sinne wahrnehmen können. Alles andere ist nicht vorhanden - darf nicht vor handen sein. Und genau das wußten die dämo nischen Intelligenzen - und freuten sich darüber. Für sie war die Um wandlung optimal. Sie hatte erfolgen müssen - denn wie sonst hätte Uro mazda sich unter Menschen men gen können? Mit einer elastischen Bewegung erhob sich der Mann. Es war genau der Augenblick, als sich das Mond licht über das Hochplateau legte. Die Muskeln des Mannes funktionierten mit einer Geschmeidigkeit, als wä ren sie in dauerndem Training. Uromazda wußte genau, was er jetzt zu tun hatte. Zwar beherrschte ein fremder Geist seinen Körper, aber sein Gehirn war noch das des Königs der Luraner - mit allen In formationen, die darin gespeichert waren. Und eine dieser Informationen be sagte, daß er sich nach der geglück ten Erweckung genau in die Mitte des Raumes zu stellen hatte. Von die sem Zentrum aus konnten seine te lekinetischen Kräfte die beste Wir kung erzielen. Uromazda hob die Arme. Und dann, von seinem Gehirn gesteuert und entsprechend dosiert, sandte er unterscheidlich starke geistige Füh ler aus. Sie griffen tief hinein in die atomare Struktur des Felsens, ver änderten sie und formten durch die se Veränderung die Materie um. Sie formten sie mit dem Ziel um, die tief unter dem Boden befindliche Grab kammer verlassen zu können. Es war so einfach wie das Öffnen einer Tür. Die Decke wurde förmlich in die Höhe gerissen, bis sie oben aus
18 dem Felsboden fuhr und ein Stück Nachthimmel in die Grabkammer hineinblickte. Und dann schwebte Uromazda selbst an die Oberfläche. Der stürmi sche Wind hatte inzwischen den Himmel blankgefegt. Kein Wölkchen zeigte sich. Das nun ungehinderte Mondlicht übergoß die Landschaft mit seinem fahlen, bleichen Schein. Uromazda empfand nicht das ge ringste Gefühl, als er zwischen den erratischen Steintrümmern stand, denen man kaum noch ihre frühere Bestimmung ansah. Kein wehmuts voller Gedanke an eine längst im Schutt der Zeit versunkene Epoche, in der hier noch tropische Wälder ge standen hatten und diese Kultstätte von einem heiligen Hain umgeben war. Andere, unsagbar finstere Gedan ken wurden jetzt in diesem Gehirn gedacht. Ein böses Lächeln verzerrte den Mund und gab dem Antlitz ein fratzenhaftes Aussehen. Es gab eine Möglichkeit, der irdi schen Entwicklung einen Knick zu geben. Ab jetzt gab es sie. Mit diesem Körper und vor allen Dingen mit die sem Gehirn. Nach so vielen ergebnis losen Versuchen bot sich eine neue Chance. Sie wog schwerer als alle fehlgeschlagenen Chancen der Ver gangenheit. Sie war auch von gänz lich anderer Art. Denn sie bot die Möglichkeit, die Zeit zu manipulie ren und ganz weit zurückzugehen. Die hochaufgerichtete einsame Gestalt wirkte wie ein drohendes steinernes Monument, nicht aber wie ein Wesen aus Fleisch und Blut. Der Wind heulte auf, fuhr wütend in das nahe Meer hinein und peitschte die Wellen zu schweren Wogen. Kra chend brachen sie sich an dem zer klüfteten Ufer. Von irgendwo ertön te das angstvolle Kreischen einer Seemöwe.
Am Horizont erschienen neue dunkle Wolkenformationen. Sie nä herten sich mit rasender Geschwin digkeit und bedeckten bald den gan zen Himmel. Die Natur selbst schien angstvoll aufzuschreien unter der finsteren, dämonischen Ausstrah lung dieser Kreatur. Wieder lächelte Uromazda. In der nächsten Zeit würde er sich ein we nig umsehen, würde die Geschöpfe kennenlernen, die sich voller Stolz Menschen nannten. Für ihn waren sie bereits keine Lebewesen mehr, sondern nur noch Kreaturen auf Ab ruf. Sie glichen Bildern, die ver schwanden, wenn sie die Dunkelheit fraß. Und genau das würde auch passieren. Nur war es keine gewöhn liche Dunkelheit, sondern die Fin sternis im Abgrund der Zeit. Dieser Abgrund war ihr Schicksal. Stürzten sie hinein, dann hieß das, daß sie nie gelebt hatten, daß sie in der Gegen wart bestenfalls als Traumprodukte eines schlafenden Gottes gelten konnten. Sein Erwachen löschte den Traum aus - und auch die Erinne rung an ihn.
Der Tod des bekannten Antiquitä tenhändlers sorgte längere Zeit für Gesprächsstoff. In Londons Regen bogenpresse erschienen lange Arti kel, die sich mit seinem plötzlichen Ableben beschäftigten. Eines der Blätter, es war der SUNDAY MIR ROR, verstieg sich sogar zu der Be hauptung, daß sein jäher Tod etwas mit dem seltsamen Bild zu tun haben könnte. Schließlich hatte er es an sei nem Todestag gekauft.
19 „Hier stimmt doch etwas nicht", schrieb Chefredakteur Arthur Sulli van höchstpersönlich. „Dieser vitale, und wie wir alle wissen, kerngesun de Mann ersteigert ein Bild bei Car ruthers & Soames, freut sich diebisch darüber, seine Konkurrenten überli stet zu haben, und geht mit dem Bild nach Hause - um dort eines geheim nisvollen Todes zu sterben. Die To desursache ist nicht minder unge wöhnlich. Doc Mortimer, der die Lei che genau untersuchte, war fas sungslos. ,Blutleere sei es', antworte te er ratlos auf meine Frage. ,Völlige Blutleere. Nicht einen einzigen Tropfen hat er in seinen Adern ge habt.' Ich weiß", so fuhr Mr. Sullivan fort, „daß ich mir jetzt den Anschein gebe, an Hexen, Gespenster und sogar an Vampire zu glauben. Aber jetzt stelle ich an Sie die Frage: Wo ist das Blut von Dick Tucker geblieben? In der Geschichte der Medizin ist kein der artiger Fall bekannt." Der Chefredakteur rätselte noch weiter über dieses Thema nach. Er konnte nicht wissen, daß er mit sei ner Behauptung den Kernpunkt der mysteriösen Angelegenheit getrof fen hatte. Aber auch die Schadenfreude kam zu Wort. Besonders von Tuckers frü heren Kollegen. Es gab kaum einen darunter, der dem auf so tragische Weise ums Leben gekommenen Mann eine Träne nachweinte. Sie waren sogar herzlich froh, diesen ge fräßigen Hecht in ihrem Karpfen teich endlich losgeworden zu sein. Da Tucker nicht einen einzigen Er ben hatte, fiel sein ganzer Besitz an den Staat. Mister Smith, Tuckers Diener, stand von einem Tag auf den anderen auf der Straße. Doch bei sei ner Qualifikation brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Das Bild wurde ebenfalls vom
Staat vereinnahmt, und, wie das ge samte Sachvermögen, versteigert. Es erzielte einen hohen Preis. Dafür sorgte schon der düstere Ruf, den das Gemälde seit Tuckers Tod besaß. Aber wer erwartet hatte, daß das Bild sicher bald neuen Gesprächs stoff bieten würde, der würde ent täuscht. Sein neuer Besitzer, es war ein schottischer Earl, ein alter ver kalkter Okkultist, wartete umsonst auf irgendein wundersames Phäno men. Es geschah nichts. Das Bild hing in der Galerie des Earls wie all die an deren Bilder auch. Wer konnte auch wissen, daß seine Aufgabe erfüllt war. Es hatte nach seiner Erschaf fung durch dämonische Geistigkei ten einem Körper die dringend not wendige erste Mahlzeit verschafft. Und damit war seine Funktion been det.
Genau zwei Jahre waren seit dem Tag vergangen, an dem sich die un terirdische Grabkammer öffnete. Für die Einwohner von Thursopoole, einem kleinen Flecken nordöstlich der Kreisstadt Thurso, war dies ein . Tag wie jeder andere. Es war ein Freitag. Und da auch im hohen Nor den Schottlands der Freitag ein Zahltag ist und ein braver Schotte guten Whisky durchaus zu schätzen weiß, waren die zwei Kneipen der kleinen Ortschaft bis zum Platzen gefüllt. Eine davon, auf dem verrosteten Blechschild über der Eingangstür prangte stolz der Name „Red Lion", diente hauptsächlich der minderbe
20 mittelten Schicht als Zufluchtsort in schweren Stunden. Der Wirt des „Royal Oak" dagegen prahlte damit, daß seine Stammgäste ausnahmslos Honoratioren seien und kein abge rissenes Volk. Dafür war, gewisser maßen als Ausgleich, der „Red Lion" meist besser besucht. Der Wirt dieses Etablissements hieß Hank Bull. Und genauso sah er auch aus. Von massiger Gestalt, mit kleinem Schädel und tückischblik kenden Augen. In seinen jungen Jahren war er ein eher mittelmäßi ger Boxer gewesen. Von dieser Tä tigkeit zeugten ein ausgefranstes Ohr und eine krummgeschlagene Nase. Im Augenblick ärgerte er sich über den alten Bill Slater. Der etwa sech zigjährige Mann trank sonst still vor sich hin. Er liebte es gar nicht, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Doch heute benahm er sich so, wie ihn der Wirt noch nie erlebt hatte. Er führte an der langen Theke das gro ße Wort und traktierte die gaffenden Männer mit düsteren Geschichten. Und erzählen konnte der Alte her vorragend. Er war so eine Art Natur begabung. Die Männer, die ihm zu hörten - und das taten die meisten vergaßen darüber das Trinken. Wel cher Wirt hat das schon gern? „Glaubt mir", fuhr Slater gerade mit seiner hohen Fistelstimme fort, „wirklich, da oben tut sich was. Ich habe es deutlich sehen können, als ich mit meinem Boot die steilen Klip pen passierte. Ich hab es zuerst nicht glauben wollen, dachte, meine Augen spielten mir einen Streich." Slater schüttelte den Kopf und nahm an schließend einen tiefen Schluck. In der verräucherten Pinte war es plötzlich mucksmäuschenstill ge worden. Die letzten Worte des Alten waren daran schuld. Mit gespannten Gesichtern schauten die Männer auf
Slater und konnten es kaum erwar ten, daß er weitersprach. Sogar Hank Bull vergaß seinen Zorn und beugte sich über die Theke. Er war ein we nig schwerhörig. „Und - was hast du gesehen?" Sla ters Nebenmann, ein kleiner, mickrig aussehender Kerl, konnte den Fort gang des Berichts nicht mehr erwar ten. Slater sah ihn strafend an. Er lieb te es nicht, gedrängt zu werden. Aber dann sprach er doch weiter. „Kann's nicht genau sagen. Da oben sieht alles auf einmal so anders aus. So fremd." Er blickte fragend, mit einem fassungslosen Ausdruck in den Augen, in die Gesichter der atemlos zuhörenden Männer. „Könnt ihr euch vorstellen, daß von heute auf morgen Klippen verschwinden? Was würdet ihr denken, wenn eure Augen dies sähen? Ha! Ich will es euch sagen: Ihr würdet glauben, in eurem Schädel sei eine Schraube lok ker!" Der Alte nickte düster. „Genau das dachte ich zuerst auch! Ich war der Ansicht, das wäre daran schuld." Slater deutete auf das noch halb ge füllte Schnapsglas. „Ich sagte des halb niemandem ein Sterbenswört chen von meiner Entdeckung und fuhr am nächsten Tag wieder hin aber stocknüchtern." Er machte eine Pause und blickte triumphierend um sich. „Und jetzt ratet mal, was ich dann gesehen habe!" Slater hielt inne und wartete. Doch es kam keine Ant wort. Dafür war die Spannung der Männer fast körperlich zu spüren. „Der Anblick war derselbe." Slater sprach diese letzten Worte langsam und bedeutungsvoll. Es war eigenartig, daß genau in diesem Au genblick die Sonne hinter dem Hori zont versank und ein diffuses Halb dunkel in den Schankraum einzog. Den Männern wurde kalt. Es wa ren harte Männer. Gewöhnt an
21 schwere Knochenarbeit. Sie waren sicher nicht zartbesaitet, eher grob schlächtig. Sicher, sie waren nicht imstande, das in ihnen hochsteigende dunkle Gefühl definieren zu können. Sie spürten es nur, und sie wußten in stinktiv, daß etwas nicht in Ordnung war. „Hat sich noch was anderes verän dert - außer den fehlenden Klip pen?" fragte einer. Slater nickte heftig. „Ja, alles ist ir gendwie anders." Er schluckte, sah sich ratlos um. „So fremd. Als ob ir gendwer dabei wäre, diesen Küsten strich auf den Kopf zu stellen." Der Alte zuckte mit den Schultern. „Mehr kann ich euch nicht sagen. Seht es euch selbst an." Er hob sein Glas und trank es in einem Zug aus. Anschließend versank er in dump fes Brüten und gab auf keine Frage mehr eine Antwort. Was an einem Freitag seit Men schengedenken nicht mehr passiert war, heute geschah es: Die Kneipe leerte sich lange vor Mitternacht. Unter den Männern kam keine rech te Stimmung mehr auf. Sie standen oder saßen unlustig bei ihren Glä sern, fanden keine Worte, um mitein ander ins Gespräch zu kommen. So kam es, daß einer nach dem anderen die Pinte verließ. Nicht grölend, wie es sonst der Fall war, sondern schweigsam. Begreiflich, daß die Frauen dieser Männer ausnahmslos an ein Wunder glaubten, als sich ihre Ehepartner so zeitig, und dabei sogar nüchtern, wieder zu Hause einfan den. Sie freuten sich darüber und versuchten, diese Freude auf ihre Männer zu übertragen. Aber was sie auch anstellten - sie hätten keinen Erfolg. Ja, es trat sogar der umge kehrte Effekt ein. Die unerklärliche
dunkle Bedrückung zog letzten En des auch die Frauen in ihren Bann.
Die erste Etappe eines gewaltigen kosmischen Plans war erfolgreich verlaufen. Zuerst langsam, fast un merklich, doch immer auffallender änderte sich die Struktur der Mate rie. Die im ganzen Universum vor handenen dämonischen Energien sorgten durch einen Umwandlungs prozeß dort für neue Materie, wo dies notwendig war. Es war ein zutiefst magischer Pro zeß. Verwitterte Fragmente began nen zu wachsen, dehnten sich aus und nahmen ihre alte Gestalt wieder an. Zerschmetterte steinerne Mar morsäulen fügten sich zusammen und richteten sich auf, wie von Gei sterhänden bewegt. Treppen bilde ten sich. Auch der Boden der ehema ligen Kultstätte entstand. Mächtige, viele Tonnen schwere Felsblöcke, die der neuen Gestaltung im Weg waren, rollten zur Seite, als wären es leichte Murmeln. Einmal, als es nicht anders ging, hob sich ein solcher Block ein fach in die Luft und senkte sich an einer anderen Stelle wieder zu Bo den. Alles fügte sich zusammen wie ein riesiges Puzzlespiel - die Kultstätte der Luraner, Begräbnisort ihres letz ten Königs, erstand in naturgetreuer Wiedergabe. Wohlgemerkt, hier han delte es sich nicht um eine bloße Ko pie. Es war das Original. Mit allen Schrunden und Rissen, die es schon damals, kurz vor der Auslöschung ihrer Erbauer, gehabt hatte. Denn nur bei einer totalen Identi
22 tät war die Manipulation der Zeit möglich. Diese absolute Überein stimmung bildete gewissermaßen das Zündholz, das den Scheiterhau fen der jetzigen Zeit entflammen konnte. Die Zeitdimension würde sich än dern, sich buchstäblich zurückkrüm men - aus der Asche der jetzigen Zeit würde ein anderer Himmel, eine an dere Zeit wiederauferstehen. Eine Zeit, in der es außer den Luranern noch keine vernunftbegabten Wesen auf der Erde gab. Die ganze Ent wicklung danach würde im Abgrund der Zeit versinken - als ob sie nie stattgefunden hätte. Uromazda mußte es dann leicht fallen, die harmlosen und friedlichen Angehörigen seines Volkes allmäh lich in eine ganz bestimmte Richtung zu drängen. Eine Richtung, die in im mer finsterere Bereiche führte. So also sah dieser grausige Plan aus. Und zweifellos waren die Chan cen zu seiner Verwirklichung sehr groß, so widersinnig sich das auch anhören mag. Was das dämonische Heer bis heute nicht vermocht hatte, die Dämonisierung der gesamten Er de, diese Möglichkeit war jetzt gege ben. Jetzt, wo sie ein unvergleichli ches Werkzeug besaßen - den Körper und das Gehirn Uromazdas. Mit dem Wiedererstehen des Bau werks war eine der beiden Voraus setzungen für den dämonischen Plan Uromazdas geschaffen. Die zweite fehlte noch: die Wiedererschaffung des heiligen Hains. Auch er gehörte zu dem Territorium der Kultstätte und durfte nicht vernachlässigt wer den. Doch hier sahen sich die dämoni schen Geistpotenzen vor eine beson dere Art von Schwierigkeit gestellt. Vor dem Leben. Denn auch der Pflanzenwelt wohnt Leben inne. Um hier ebenfalls erfolgreich zu
sein, benötigen sie für die Neufor mung ebenfalls Leben, sogar Leben höherer Art. Am besten die Vital kraft menschlicher Körper. Gelang das, dann war auch die zweite Voraussetzung bald erfüllt. Dann bedurfte es nur noch einer kurzen Phase der Konsolidierung bis zu der titanischen magischen Opera tion. Nun, die dämonische Geisterwelt sah in der Beschaffung lebendiger Vitalkraft keine großen Schwierig keiten. Sie hatten schon ganz andere Dinge gemeistert. Auch hier würden sie erfolgreich sein. Was waren schon Menschen? Diese nur dem Genuß zu gewandten Wesen besaßen keine Wi derstandskraft mehr, waren ver weichlicht und gefühllos geworden. Es war nicht schade um sie.
Die dunkle Wetterfront über den Azoren ballte sich noch dichter zu sammen. Wind löste die bleierne Stil le ab. Er wurde zum Sturm, dann zu einem wütenden Orkan. Er fuhr in das Meer und wühlte es auf. Immer tiefer fuhren seine Finger in den ko chenden Gischt, bis das Meer mit turmhohen Wogen antwortete. Doch das Zentrum des Orkans ver harrte nicht auf derselben Stelle, sondern wanderte. Eine für dieses Gebiet höchst ungewöhnliche Tatsa che. Aus genügend großer Höhe wirk ten die sich immer schneller bewe genden Wolkenungetüme wie ein lan ger Pfeil, der von einer unsichtbaren Sehne abgeschnellt worden war und gleich sein Ziel treffen mußte.
23 Hank Bull, Wirt des „Red Lion", blickte besorgt durch das offene Fenster. Von Südwesten näherte sich eine rabenschwarze Wolkenfront. Sie reichte über die ganze Breite des Horizonts. Und vor dieser Wolke, ge rade noch im Blau des Himmels schwebend, flüchtete eine andere, ebenfalls dunkle Wolke. Sie war im Vergleich zur ersten nur klein, war nur ein Stäubchen dagegen. Hank kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Und dann machte er ein verblüfftes Gesicht. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Die kleine Wolke entpuppte sich als ein riesiger Vogelschwarm. Es konn te keinen Zweifel geben - die Tiere flüchteten vor dem herannahenden Unwetter. Slater, er war im Augenblick der einzige Gast, beobachtete ebenfalls den Himmel. Draußen war es im Au genblick noch ruhig. Kein noch so winziges Lüftchen bewegte die Blät ter der wenigen Sträucher und Bäu me. Slaters Hand zitterte, als er das volle Schnapsglas zum Mund führte und in einem einzigen Zug leerte. Er sagte nichts, stierte aus blutunter laufenen Augen auf das schnell nä her kommende Wetter. „Das ist kein Sturm", murmelte der Wirt mit dumpfer Stimme. ,,Das ist ein Orkan." Doch Slater gab keine Antwort. Er hatte die Worte wohl gar nicht ge hört. Er wollte das Glas erneut zum Mund führen, merkte aber auf hal bem Weg, daß es leer war. Mit einer mehr mechanischen Bewegung griff Hank Bull nach der Flasche und füll te ihm das Glas nach. Und dann hörten die beiden Män ner einen seltsamen Ton. Es war ein hohes, auf und ab schwellendes Brausen. Von Sekunde zu Sekunde verstärkte es sich.
Kaum waren diese Töne an ihre Ohren gedrungen, als ein klagendes Heulen ertönte. Ein schwarzer Schatten wischte durch die aufste hende Tür und preßte sich winselnd an die Beine des Wirts. Es war Blak ky, der Schäferhund Bulls. Das Tier hatte seine Augen weit geöffnet. In kurzen Abständen lief ein Zucken über das prachtvolle Fell. Die Rute legte sich zurück, bog sich zwischen die Hinterläufe. Es war nicht zu ver kennen, das Tier starb fast vor Angst. Doch die beiden Männer sollten nicht mehr dazu kommen, über die seltsame Reaktion des Vierbeiners nachzudenken. Eine andere Macht griff ein. Nicht die Macht des Stur mes, sondern die Macht finsterer, le benfressender Dämonie. Der Plan war genial und daher, wie alles Geniale, sehr einfach. Dä monische Macht hatte den Sturm nach hier gelenkt. Sie würde auch dafür sorgen, daß es in einer Stunde kein Thursopoole mehr gab. Und das galt für die Häuser ebenso wie für die Menschen dieses Marktfleckens. In dem Schankraum flammte ur plötzlich ein rotes Licht auf. Es war ein düsteres, drohendes Licht. Es zeigte sich nicht nur hier, es zeigte sich in der Ortschaft überall da, wo sich Menschen aufhielten. Und diese Aura verströmte eine derart mächtige Ausstrahlung der Bösartigkeit, daß die Menschen wie gelähmt waren. Noch nicht einmal schreien konnten sie, als das Verhäng nis nach ihnen griff. Aus der ovalen Lichterscheinung lösten sich ruten förmige Auswüchse, Tentakel der Hölle. Sie hatten Ähnlichkeit mit Schlangen, die auf ihre Opfer zuglei ten. Wie spielend wanden sie sich durch die Luft und kamen dabei den Menschen immer näher. Hank Bull und der alte Slater
24 starrten mit vor Entsetzen geweite ten Augen auf das sich nähernde Verhängnis. Sie wußten nicht, was es damit auf sich hatte, aber sie fühlten, daß sich der Tod in dem roten Licht verbarg. Bull, der herkulische Bull, wollte schreien, wollte seine Not hinaus brüllen - aber kein Ton kam über seine Lippen. Die Stimmbänder ver sagten ihm den Dienst. Nun gut, wenn er das nicht konnte, dann wür de er eben fortlaufen, fuhr es ihm durch den Sinn. Trotz seines unge schlachten Äußeren war der Wirt ein wieselflinker Mann. Und im Schup pen stand sein Motorrad. Die starke Maschine würde ihn in Windeseile von hier forttragen. Doch Bulls und auch Slaters Füße rührten sich nicht vom Fleck, waren mit dem Boden verbunden, als wären sie ein Bestandteil von ihm. Die tentakelförmigen Auswüchse tanzten näher, bewegten sich vor den Männern in einem infernalischen Reigen. Endlich - das Heulen des nahenden Orkans war schon fast ein Brüllen schien sich die Geduld in den tanzen den roten Lichtschlangen erschöpft zu haben. Sie verhielten einen kur zen Augenblick in völliger Reglosig keit und zuckten dann auf ihre Opfer zu. Ihr Sterben war um keinen Deut anders als das Sterben Dick Tuckers. Auch hier war es den Gesichtern der beiden bedauernswerten Opfer deutlich zu entnehmen, wie das Le ben aus ihnen herausströmte. Während dieses dämonischen Pro zesses erweiterten sich die Licht schläuche. Eine rot wallende Sub stanz war in ihnen zu sehen. Die vitale Lebenskraft in Gestalt des Blutes verließ die Körper. Es krachte dumpf. Die beiden nun toten Körper waren wie zwei Bündel
alter Lumpen zu Boden gestürzt. Im selben Augenblick erlosch auch das Licht. Das Poltern war kaum verklun gen, als der zum Wirbelsturm gewor dene Orkan zugriff. Jetzt war er an der Reihe. Er hatte nun die Aufgabe, Thursopoole in kleine Stücke zu zer schlagen. Und das tat er auch. Der Sturm war so gewaltig, daß ihm nicht ein einziges Haus widerstand. Selbst schwere Steine wurden durch die Luft gewirbelt, als seien es Daunen federn. In der Luft lag ein Heulen und Kreischen, als ob sich die Ge samtheit aller Hexen hier ein Stell dichein gäbe. Vom Himmel war nichts mehr zu sehen. Er hatte sich verhüllt, um das Schreckliche nicht mit ansehen zu müssen. Es gab buch stäblich nicht einen einzigen Qua dratzoll, der unangetastet blieb. Der Wirbelsturm wirkte wie ein gewalti ger Pflug, der an dieser Stelle seine Ackerfurchen zog. Als das Sturmzentrum genau über dem aus schweren Steinen gefügten „Red Lion" war, zitterte und bebte es für wenige Sekunden. Doch dann -es sah aus, als ob eine Riesenfaust nach ihm griff - wurde es aus dem Boden gerissen und gleich darauf in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst. Steine, Bretter, Flaschen und Haus rat wirbelten durch die Luft, krach ten näher oder weiter entfernt zu Boden, um dann wieder erneut von der Gewalt des heulenden Infernos ergriffen zu werden. Das Meer sekundierte auf seine Weise. Haushohe Wellen krachten gegen die Klippen der nahen Küste. Die Brecher waren so stark, daß sie beim Aufprall viele Tonnen schwe rer Felsen aus dem Erdreich brachen und beim Zurückfluten knorrige, über hundert Jahre alte Eichen ent wurzelten und mit sich schleppten,
25 Archäologie studiert. Der jetzt Zweiunddreißigj ährige arbeitete seit drei Jahren beim Edinburgher DAILY MIRROR. Seine spannenden Feuilleton-Artikel über sensationel le Ausgrabungen hatten ihn schon weithin bekannt gemacht. Wie bereits erwähnt, Fortuna war dem jungen Mann sehr gewogen. Nur in einer Beziehung nicht: in der Liebe. Und dabei sah Cliff gut aus. Für die Vorstellungen mancher Mädchenherzen vielleicht um eine Spur zu hart. Er war eben kein Scho koladenbubi, sondern ein Mann mit festen Konturen. In der vergangenen Nacht hatte er zum erstenmal seit langer Zeit schlecht geschlafen. Immer wieder geisterte ein junges stolzes Mäd chengesicht durch seine Träume das Gesicht von Iris Carrington. Ge stern abend, anläßlich des hundert jährigen Bestehens des DAILY MIR ROR, hatte sie ihm zornglühend die Freundschaft aufgekündigt. Der Anlaß dazu war ein anderer junger Mann gewesen. Anthony Barney war der Sohn von einem der drei Junge gesunde Männer können Herausgeber. Es hatte eine ausgelas meist gut schlafen. Und wenn sie in sene Stimmung geherrscht. Das erle ihrem Beruf erfolgreich sind, dann sene Bankett und die süffigen Weine können sie es oft ganz besonders gut. hatten die Mitarbeiter der alten und Die harte Arbeit zwingt den Körper ehrwürdigen Zeitung in einen Tau zu nächtlicher Regeneration. mel der Euphorie versetzt. Die aus Clifford C. Farrell, von seinen gezeichnete Kapelle spielte heiße Freunden nur Cliff genannt, war ein Rhythmen. Auf dem Tanzboden solcher Mann. Er war mit einer Grö wurde es sehr eng. ße von sechs Fuß und acht Zoll und Cliff war erst gekommen, als das mit seinem athletischen Körper so Fest bereits in vollem Gange war. gar ein Baum von einem Mann. Und Das Flugzeug, das ihn von Griechen erfolgreich war er auch. Nicht nur land nach Edinburgh gebracht hatte, deshalb, weil ihn die Glücksgöttin in war verspätet gelandet. beruflicher Hinsicht über die Maßen Cliff hatte sich auf das Wiederse mit ihren Gunstbeweisen verwöhn hen mit Iris schon sehr gefreut. Kein te, sondern weil er auch außerge Wunder bei einem jungen Mann, der wöhnlich hart arbeiten konnte. in ein außergewöhnlich hübsches Cliff Farrell war Journalist. Er Mädchen verschossen ist. hatte Zeitungswissenschaften und Ja, und dann war es passiert! Iris
als würde es sich bei ihnen lediglich um Streichhölzer handeln. Nur an einer Stelle geschah das nicht. Dort, wo sich die luranische Kultstätte befand, regte sich kein Lüftchen. Totenstille herrschte. Selbst der ohrenbetäubende Lärm des Wirbelsturms drang nicht nach hier. Das Meer war an dieser Stelle der nahen Küste glatt wie ein Tisch. Nicht die kleinste Welle kräuselte seine Oberfläche. Nur mit einem scharfen Fernglas bewaffnet hätte man die Stelle erkennen können, welche die Grenze markierte. Wie ein riesiges, auf den Kopf gestelltes U schirmte sie den Bereich des dämo nischen Wirkens ab. Hinter ihr war das Chaos, waren Zerstörung und Tod.
26 tanzte mit diesem Barney. Daran war zwar nichts zu beanstanden. Schließlich war Cliff kein muffiger Moralapostel. Aber wie sie mit ihm tanzte - eng umschlungen und Wan ge an Wange! Als Cliff den Festsaal im „Clarendon" betrat, hatte er die beiden sofort gesehen. Zuerst war Unbehagen in ihm aufgestiegen, dann Ärger und zuletzt heißer Zorn. Denn Iris ließ keinen Tanz aus, und sie tanzte immer nur mit Anthony Barney. Und dieser geschniegelte Lackaffe war mächtig stolz darauf. Das war ihm vom Gesicht abzulesen. Er schmuste auch kräftig mit Iris, die ihn förmlich dazu ermunterte. Was die Frau nur hatte? Wie konnte sie sich so hirnrissig benehmen. Abgese hen davon mußte sie ihn, Cliff, doch schon längst bemerkt haben. Warum blickte sie nicht zu ihm herüber? Später hatte er sich die junge Re porterin geschnappt. Kurz vor Ende einer Tanzpause, die Kapelle machte sich bereits für den nächsten Tanz fertig, stand Cliff plötzlich neben Iris und ihrem Gigolo. Cliff hatte den Kerl überhaupt nicht beachtet, hatte sich die ver dutzte Miß gegriffen und zog sie mit leichter, doch nachdrücklicher Ge walt auf die Mitte der Tanzfläche. Iris hatte sich ihm zu entziehen ver sucht. Aber es war ihr nicht gelun gen. „Laß mich los! Sofort läßt du mich los!" hatte sie gezischt und ihn dabei aus ihren grünen Augen wütend an gefunkelt. Und dann hatte Cliff mit ihr reden wollen. Aber lag es an dem Alkohol, den er sich bereits voller Ärger ein verleibt hatte und der seine Stimme lauter werden ließ, oder an Iris' Wut über den erzwungenen Tanz - jeden falls gab ein Wort das andere. Rede und Gegenrede wurden rasch immer heftiger.
Vor Zorn war Iris totenbleich ge worden. Ihre Augen hatten geglüht, als würde Eisen in ihnen geschmol zen. Wenn sie ihren Kopf schüttelte, und das hatte sie während des in haltsreichen Disputs des öfteren ge tan, dann umwogten die naturblon den Haare wie eine weiße Flamme das schmale ausdrucksvolle Gesicht. Noch nie hatte Cliff sie so schön gese hen. „Das war unser letzter Tanz", sagte sie kalt. „Unser allerletzter! Merk dir das!" Sie wollte sich seinem Arm ent ziehen, der immer noch um ihre Tail le lag. Doch Cliff dachte nicht daran, sie jetzt schon freizugeben. Erst wollte er ihr noch kräftig die Meinung sa gen. Und das tat er dann auch. Er sagte ihr, daß sie ein unmögliches Beneh men an den Tag gelegt hatte und daß er dem Schicksal dankbar sei, sie so erlebt zu haben. „Beser jetzt als später - nun weiß ich wenigstens Bescheid! Mit mir kann man das nicht machen." Das waren Cliffs letzte Worte. Dann hatte er sich kühl verbeugt und Iris freigegeben. Wie eine Rake te war sie davongezischt, hin zu die sem schadenfroh grinsenden Fatz ken. Wie gesagt, Cliff konnte in der dar auffolgenden Nacht sehr schlecht schlafen. Zu sehr war sein Stolz durch das unbegreifliche Benehmen von Iris verletzt. Doch endlich kam der Augenblick, wo die Müdigkeit die Oberhand gewann und Cliffs Bewußtsein in ei nen bleiernen Schlaf hinabzog. Cliff wohnte in der Nicolson Street. Von seinem hübsch eingerichteten Apartment im Dachgeschoß einer al ten, erst vor einem Jahr renovierten Villa hatte er einen wundervollen Blick über den Queen's Park. Es war
27 eine ruhige Wohngegend. Vom Lärm und dem hektischen Getriebe einer Großstadt war hier kaum etwas zu spüren. Der Wecker klingelte. Cliff hatte ihn heute ausnahmsweise auf eine spätere Uhrzeit gestellt. Er hatte ei nen Tag Urlaub genommen und dar auf gehofft, ihn mit Iris gemeinsam zu verbringen. Aber das war jetzt vorbei. Cliff erhob sich fluchend. Dann ging er ins Bad. Ein ausgiebiges Duschbad würde ihm guttun. Und anschließend würde er ein kräftiges Frühstück zu sich nehmen. Nach dem Frühstück schenkte er sich eine weitere Tasse Kaffee ein es war die dritte - und rauchte eine Zigarette. Dann dachte er über den verpfuschten gestrigen Abend nach. Doch dieses Nachdenken sollte nicht lange dauern. Das Telefon schrillte. Cliff griff hinter sich und hob den Hörer ab. „Farrell!" meldete er sich mür risch. Ein sehr bekanntes Lachen ant wortete ihm. Es war das Lachen der Sekretärin seines obersten Chefs. Miß Mabel Atkinson hieß die schon etwas ältliche Perle. Sie verdiente es, so genannt zu werden. Der DAILY MIRROR war für sie nicht nur ihr Arbeitsort, sondern auch gleichzeitig ihr Zuhause. Sie war mit der Zeitung verheiratet. Morgens war sie die er ste und abends die letzte - daran hat ten sich die anderen Mitarbeiter der Zeitung bereits so gewöhnt, daß es schon gar nicht mehr auffiel. „Ja, was ist?" Cliffs Stimme klang nicht gerade begeistert. Er ahnte dumpf, daß aus dem heutigen Ur laubstag wohl nicht viel werden würde. „Der Chef bittet Sie dringend, so fort zu kommen. Er will Sie unbe dingt sprechen." Miß Atkinsons
Stimme klang plötzlich ungewohnt ernst. „Warum? Was will er denn? Ich habe heute doch Urlaub!" Die Sekretärin antwortete ein we nig zögernd: „Es ist etwas passiert. Eine Katastrophe im Norden des Hochlands. Sie sollen wahrscheinlich für O'Flannägan einspringen. Sie wissen ja, er muß sich noch schonen. Sein Bein will noch nicht so richtig." „Eine Katastrophe? Was für eine Katastrophe? Menschenskind, ich bin doch kein Sensationsreporter! Was soll ich da?" Cliff war wütend. Es war nicht das erstemal, daß ihn der Chefredakteur zu Aufgaben her anzog, die mit Feuilletonarbeiten absolut nichts zu tun hatten. „Mehr kann ich Ihnen nicht sagen", antwortete die Miß vorsichtig. „War ten Sie nur kurze Zeit ab. Mister Brooks wird Sie sicher genau infor mieren." Einige nichtssagende Worte folg ten. Das Gespräch war schon been det, als die Sekretärin wie beiläufig fragte: „Hat es Ihnen gestern auch gefallen? Das Fest war doch großar tig, nicht wahr?" Cliff kamen diese Worte wie der blanke Hohn vor. Die gute Atkinson hatte ihn gewiß nicht schadenfroh aufziehen wollen. Dazu war sie gar nicht der Typ. Trotzdem waren diese Worte nicht geeignet, in Cliff helles Entzücken wachzurufen. Er brumm te eine unwirsche Antwort und legte den Hörer auf. Doch der Journalist sollte über die Katastrophe, von der die Sekretärin gesprochen hatte, schon wesentlich eher informiert werden. Als er das Haus verließ, den Schlüssel zur Ga rage in der Hand, drangen die gellen den Rufe eines Zeitungsjungen an seine Ohren. „Schreckliches Unglück vernichtet Thursopoole! Wirbelsturm hat
28 wahrscheinlich alle Einwohner getö tet! Das Dorf ist dem Erdboden gleichgemacht!" Immer wieder schrie der Junge diese unheilvollen Worte mit seiner dünnen hellen Kinderstimme. Im Nu hatte sich eine Menschentraube um ihn gebildet. Schon nach kurzer Zeit hatte er alle Extrablätter verkauft. Vergnügt pfeifend radelte er davon, um frischen Nachschub zu holen. Cliff hatte gerade noch eines der letzten Blätter ergattern können. Knallige rote und schwarze Schlag zeilen bedeckten es. Unter dem Text befand sich ein großes Foto. Es zeigte Thursopoole aus der Luft, bezie hungsweise das, was von ihm nach dem Stürm übriggeblieben war. Nichts war übriggeblieben. Selbst die Grundrisse der ehemaligen Häu ser waren nicht mehr auszumachen. Der gesamte Erdboden sah wie um gepflügt aus. Wo waren die Häuser? Wo die Stallungen für das Vieh? Wo die Tiere und vor allen Dingen - wo waren die Menschen? Nichts, buch stäblich nichts war zu sehen. Die aufgerissene Erde sah aus, als hätte Thursopoole nie an dieser Stelle exi stiert. Cliff wußte sofort, was auf ihn wartete. O'Flannagan war krank, und er mußte dessen Aufgabe über nehmen. Brooks war bekannt dafür, daß er das Feuilleton nur als eine Art notwendiges Übel ansah. Eine Zei tung wie der DAILY MIRROR brauchte eben so etwas. Aber die Liebe des Chefredakteurs gehörte dieser Sparte ganz gewiß nicht. Und das bekam Cliff sofort zu spü ren, als er in Brooks pompösem Büro saß. Der dicke, bullig wirkende Mann hinter dem riesigen Schreib tisch blickte ihn stirnrunzelnd an, als er den Mißmut in den Augen seines Untergebenen erkannte. „Einer muß hin. Und das sind Sie.
Einen anderen kann ich nicht ent behren." Brooks nahm sich eine sei ner langen Zigarren aus dem Käst chen auf seinem Schreibtisch, präpa rierte sie sorgfältig und steckte sie liebevoll in Brand. Cliff bot er keine an. Aber der brauchte sich darüber nicht zu wundern. Der Chefredak teur war für seinen Geiz weit und breit bekannt. Niemand in der Zei tung konnte sich rühmen, je von ihm einmal etwas angeboten bekommen zu haben. „Was soll ich dort tun?" fragte Cliff ein wenig anzüglich. Brooks sah ihn zunächst wortlos an. Dann lachte er breit. Aber seine Augen lachten nicht mit. Sie blickten ihn kalt an. „Was Sie dort tun sollen? Ist doch einfach! Sich umschauen, wenn möglich recherchieren und so weiter. Aber das wissen Sie ja alles selbst." Er schaute auf die Uhr. „Sie müssen sich beeilen. Der Hub schrauber fliegt in einer knappen Stunde von hier ab. Sie wissen ja, von welchem Platz er startet." Brooks Augen erhielten einen ste chenden Ausdruck, ein Zeichen da für, daß er ungeduldig wurde. An scheinend begriff er nicht, daß Far rell immer noch im Sessel saß und keine Anstalten machte, das Aller heiligste wieder zu verlassen. „Ist noch was?" fragte er ein wenig maliziös. „Nein, nichts mehr", antwortete Cliff kurz. Zu Brooks fand er keine Antenne. Das würde sich auch kaum ändern. Er erhob sich und ging zur Tür. Als er die Klinke in der Hand hatte, fiel ihm noch etwas ein. Cliff drehte sich wieder um. „Ich muß mich eigentlich wundern. Fast vor unserer Haustür liegt eine Sensation allerersten Ranges. An sich ein gefundenes Fressen für je
29 den Reporter. Und jetzt treten solche Schwierigkeiten auf, einen Mann dorthin zu schicken. Woran das nur liegen mag?" Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. Brooks lächelte dünn. Immer, wenn er so lachte, wurde er gefähr lich. „Bilden Sie sich nur nicht ein, daß Sie dort oben eventuellen Ruhm ern ten. Sie bleiben nicht lange oben. Vielleicht zwei bis drei Tage, bis die Vorarbeiten abgeschlossen sind. Da nach werden Sie abgelöst." In die tiefliegenden Augen trat ein Glit zern, als er fortfuhr: „Tja, wenn Sie es unbedingt heute schon wissen wollen", sagte er gedehnt - der hämi sche Unterton war nicht zu überhö ren - „Miß Carrington wird Sie ablö sen." Er leckte mit der Zunge über ei ne Stelle des Deckblatts seiner Zi garre und klebte es wieder fest. „Äh sie hat zwar heute und auch morgen noch keine Zeit, aber dann will sie unbedingt hin." Das Gesicht des Dik ken verzog sich zu einer Grimasse falscher Freundlichkeit. „Aber das macht Ihnen ja sicher nichts aus, nicht wahr?" So ein falsches Biest, dachte Cliff zuerst erbittert, als Brooks ausgere det hatte. Das hat sie sich schlau aus gedacht. Ich soll also für sie die Vor arbeit leisten, damit sie sich, wenn ich Erfolg haben sollte, ins gemachte Bett legen kann. Nein, nicht mit mir. Cliff lachte laut auf. Die Situation erschien ihm plötzlich so lächerlich, daß alle Traurigkeit in ihm wegge blasen wurde. Was war er doch für ein dummer Kerl gewesen. Und da bei war doch alles so sonnenklar. Dieser Anthony war der Sohn des al ten Barney. Was den DAILY MIR ROR anbetraf, hatte er allein das Sa gen. Seine beiden Mitherausgeber waren keine Fachleute und hüteten sich deshalb, dem alten Fuchs in sei
ne Pläne und Absichten hineinzure den. Einer kleinen Reporterin konnte doch gar nichts Besseres passieren, als mit dem jungen Schnösel zu poussieren. Verhältnisse dieser Art sind vorzüglich geeignet die Karriere voranzutreiben. Gerade wollte sich die Scham über sein häßliches Denken in Cliff ein schleichen, als Brooks indigniert sei ne rechte Braue hob. „Warum lachen Sie so laut? Freuen Sie sich darüber, daß Miß Carrington Sie ablöst?" Wieder lachte Cliff. Diesmal sogar fröhlich - und sehr erleichtert. „Ich gönne ihr die Chance von Her zen", erwiderte er freundlich. „Aber auf mich können Sie nicht zählen. Ich gehe zwar nach Thursopoole, aber nicht für den DAILY MIR ROR!" Cliff sah Brooks beinahe herzlich an. „Was soll das heißen?" fragte der Chefredakteur kurz. Er hatte sich aufgerichtet und sah plötzlich sehr wachsam aus. „Nicht viel - nur daß ich kündige, und zwar auf den morgigen Tag. Sie wissen sicher, ich arbeite auf Hono rarbasis und stehe in keinem Ange stelltenverhältnis. Deshalb kann ich gehen, wann immer es mir gefällt. Alles klar, Mr. Brooks?" Herrgott, war es schön, mit diesem Kerl einmal so reden zu können. Cliff wartete keine Antwort ab und ver ließ das Zimmer. Als er die Tür hin ter sich ins Schloß zog, sah er Brooks an seinem Schreibtisch sitzen. Etwas kaum Glaubliches war passiert dem fast allmächtigen Chefredak teur war vor Verblüffung die Zigar re aus der Hand gefallen.
30 Mein Gott, dachte Cliff erschüt tert. Er beugte sich über den toten, übel zugerichteten Körper des Man nes. Dann fragte er leise: „Wo haben Sie ihn gefunden?" „Ungefähr eine halbe Meile von hier in einem Gehölz", antwortete Doc Murray. „Von den zweihundert sechsundzwanzig Menschen, die in Thursopoole lebten, ist er bisher der einzige, den wir entdecken konnten." Der Arzt war Mitglied einer gro ßen Wagenkolonne, die von der Kreisstadt Thurso nach hier aufge brochen war, um Hilfe zu bringen. Einheiten der Armee waren eben falls hier. Immer wieder brummten ihre großen Hubschrauber suchend durch die Luft. Doch auch ihnen war bisher kein Erfolg beschieden gewe sen. Cliff merkte, daß. der Arzt herum druckste. Anscheinend war ihm et was aufgefallen. Wahrscheinlich wußte er nicht, ob seine Entdeckung den Journalisten interessierte. Cliff fragte ihn. Murray machte ein verlegenes Ge sicht. „Es ist seltsam", antwortete er. „Es ist fast unmöglich, ich habe es zuerst nicht glauben wollen. Stellen Sie sich nur vor - in dem Körper ist nicht ein einziger Tropfen Blut mehr." Er schüttelte den Kopf so stark, daß die schlohweißen Haare flogen. „Ich begreife das nicht. Noch nie habe ich so etwas gesehen." Seine Hand fuhr hoch und krampfte sich so stark um Cliffs Oberarm, daß es schmerzte. „Wissen Sie, was das heißt?" fragte der Arzt mit dumpfer Stimme. Cliff gab keine Antwort. Nebel haft stieg eine Erinnerung in ihm auf. Vor zwei Jahren - der mysteriö se Tod des Antiquitätenhändlers Dick Tucker hatte er geheißen - die Zeitungen waren damals voll davon
gewesen. Die Leiche Tuckers hatte der Medizin ebenfalls Rätsel aufge geben. Als man sie fand, glich sie ei ner vertrockneten Mumie. Auch sie war vollkommen blutleer gewesen. Ob Doc Murray diesen Fall kannte? Er fragte ihn. Der alte Arzt nickte heftig. „Klar kenne ich diese mysteriöse Ge schichte. Die Fachblätter waren da mals voll davon. Doch eine Erklä rung hat man bis heute nicht gefun den. Es sei denn ..." Murray machte eine Pause und schwieg. „Was meinen Sie?" fragte Cliff ge spannt. Der kantige schottische Schädel ruckte herum. Dunkle forschende Augen musterten den Journalisten eindringlich. Irgendwie kam sich Cliff vor wie in einer Prüfung. „Es gibt für mich keinen Zweifel", antwortete Murray endlich. „Hier ist Vampirismus im Spiel!" Anschei nend fiel es ihm sehr schwer, diese Worte auszusprechen. Cliff war über diese Worte so ver blüfft, daß er den Alten sekunden lang nur anstarren konnte. Sein Ge hirn, sein ganzes logisches Denken sträubte sich gegen diese Erklärung. Vampirismus - schon lange hatte er dieses Wort nicht mehr gehört. Blut saugende menschliche Ungeheuer. Tagsüber schliefen sie in ihren Grä bern. Nachts dagegen wachten sie auf, voller Gier nach warmem Blut. Sie entstiegen ihren Särgen und überfielen Menschen. Tranken sie aus, wie man Wasser aus einer Fla sche trinkt. Das war alles, was Cliff über dieses Thema wußte. Bis heute war er der Überzeugung gewesen, hier handle es sich um ein Schreckmittel für kleine Kinder. Doch jetzt, nach der düsteren Prognose Murrays, fühlte er eine dunkle Ahnung in sich auf keimen-.
31 „Aber wie soll das möglich sein?" fragte Cliff. „Der Orkan hat ihn und die anderen Einwohner von Thurso poole getötet, daran gibt es doch kei nen Zweifel." Murray schien seine Worte nicht verstanden zu haben. Sein Blick war irgendwie abwesend, so, als ob er gar nicht hier stehen würde. Doch dann, ganz plötzlich, wurden die Augen des Arztes wieder scharf und klar. „Ich weiß, wo das Bild ist", sagte er dann übergangslos. „Das Bild - welches Bild?" fragte Farrell überrascht. „Das Gemälde, das Tucker vor sei nem Tod in der Auktion gekauft hat." Murray hatte auf einmal ein seltsames Leuchten in den Augen. Er schien von einer Idee gepackt zu sein. Cliff begriff diese Worte nicht. Was meinte Murray damit? Er fragte ihn. „Ich kann es Ihnen nicht erklären. Nicht, weil ich es nicht will - ich weiß selber nicht, warum ich hier einen magischen Zusammenhang vermu te." Murrays Augen blickten sehr ernst, als er dem Journalisten die Hand auf die Schulter legte und sag te: „Sie müssen mir vertrauen! Ich kenne mich ein wenig in diesen Din gen aus. Sicherlich mehr, als Sie ah nen." Er blickte auf das mit Zeltbah nen umwickelte Bündel auf dem Erdboden. „Das war einmal ein Mensch. Ein Mensch wie Sie und ich. Er ist getötet worden - bevor der Or kan wütete. Es gibt keine andere Er klärung für den unbegreiflichen Zu stand der Leiche. Ich will versuchen, dieses Rätsel zu lösen." Murray hatte diese Worte mit lei ser Stimme gesprochen. Doch Cliff spürte die eiserne Härte, die in ihnen schwang. „Sie sagten eben, daß Sie einen ma gischen Zusammenhang vermuten. Was meinen Sie damit?"
Wieder blickte Murray auf den jungen Mann. Einen Augenblick zö gerte er, dann schien er sich endlich durchgerungen zu haben. „Nun gut, ich will es Ihnen erklä ren. Sie sind nicht der Mann, der mich zuerst anhört und anschließend in der Zeitung einen höhnischen Ar tikel über den verrückten Doc Mur ray schreibt. Ich werde Ihnen heute abend alles erläutern - in meinem Wohnwagen, bei einer guten Tasse Tee. Einverstanden?" Cliff nickte zustimmend. „Einver standen!" Dann wies er auf das ma kabre Bündel. „Was ist damit?" „Ich schicke gleich zwei Männer her. Ich werde die Leiche morgen mit nach Thurso nehmen. Meine Unter suchungen sind noch langst nicht ab geschlossen."
Der dunkelhaarige Mann in dem langen togaähnlichen Gewand be trachtete voller Stolz sein Werk. Die Kultstätte war im alten Glanz wiedererstanden. Das große Geviert mit den Treppen, die arenaförmig in die Höhe stiegen, in der Mitte der Anlage die sich nach oben zu einer Plattform verbreiternde rotge flammte Marmorsäule und der riesi ge pechschwarze Vierkant, der als Altar diente. Umgeben wurde die Anlage von hochragenden Bäumen. Sie besaßen kein ausladendes Laubdach, stachen schmal und spitz in den Himmel. Ir gendwie erinnerten sie an Pappeln, doch sie waren um das Mehrfache größer. Ihre Äste trugen keine Blät ter oder Nadeln - ihr Laub wirkte
32 wie eine groteske Kreuzung aus beidem. Nur eines hatten sie mit richti gen Blättern gemeinsam - die grüne Farbe. Wie die Kultstätte waren auch die Bäume - der heilige Hain der Anlage - keine Nachschöpfungen. Sie waren das Original. Die gesamte Anlage war bis auf die geringste Kleinigkeit identisch mit der Kultstätte der Lu raner. Um es noch genauer zu sagen: Sie war nicht nur identisch - sie war es selbst. Hinter den Bäumen öffnete sich der Blick dagegen auf eine schotti sche Landschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Felsübersäte Hoch flächen mit tiefen Einschnitten, manchmal unterbrochen von kar gem Boden, auf dem es selbst Ziegen schwer hatten, Nahrung zu finden. In den Augen des Mannes lag ein böses Lächeln. Er sah hinaus - aber die da draußen nicht hinein! Das heißt, sie konnten natürlich etwas sehen, aber nicht die jetzige Wirk lichkeit. Selbst scharfe Ferngläser würden ihnen nur die gewohnte Landschaft zeigen. Die magische Tarnung war vollkommen - dachte Uromazda. Doch auch ihr Fehlen hätte den Menschen nichts geholfen. Uromaz das magische Kraft war so groß, daß er jeden Angriff abwehren konnte. Warum er trotzdem zu der Tarnung griff, hatte seinen Grund in der leicht zu begreifenden Tatsache, daß er Kraft sparen wollte. Sicher, er hätte sich genügend davon beschaf fen können - lebendige Geschöpfe gab es schließlich auf der Erde ge nug. Aber das wiederum hätte Zeit gekostet. Und das wollte Uromazda nicht. Er konnte es kaum erwarten, endlich mit der Zeitmanipulation be ginnen zu können, die Erde wieder in jenen Zustand zu versetzen, der vor vielen Millionen Jahren geherrscht
hatte. Das Werkzeug dazu war geschmie det - der Hammer, der die jetzige Zeit mit einem gewaltigen Schlag zer schmettern sollte, war bereits erho ben. Hier, von diesem Punkt, würde die Umwandlung ihren Anfang neh men. Von dieser Stelle, die aufgrund ihrer vollkommenen Übereinstim mung mit der Vergangenheit auf die jetzige Zeit wie ein Krebsgeschwür wirken mußte. Diese Kultstätte war gewisserma ßen die Verankerung für den magi schen Hebel Uromazdas. Ohne sie war selbst ein noch so großes magi sches Wissen zum Scheitern verur teilt. Doch mit dieser Verankerung und den magischen Möglichkeiten der dämonischen Geistigkeiten des Universums war die Umwandlung nur noch ein Kinderspiel.
„Verdammt, was ist das?" fluchte Bill Watkins mit halblauter Stimme. Seine Finger betätigten nervös ver schiedene Stellhebel, unter anderem auch die für die Stellung der Roto ren. Bill wollte den Schrauber tiefer gehen lassen. Er befand sich genau zwölfhundert Yard über dem Boden. Von hier oben aus war nichts zu se hen, was sein besonderes Interesse wecken konnte. Der junge Pilot hatte diese Höhe auch nur deshalb aufge sucht, weil es ihm sein Staffelkapi tän so befohlen hatte. „Bei Erreichen dieser Höhe Thur sopoole und das Umland fotografie ren - Radius etwa fünf Meilen! An schließend gehen Sie bis auf Baum wipfelhöhe runter. Den Boden sorg
33 fältig beobachten. Vielleicht finden Sie was. Irgendwo müssen die Toten doch geblieben sein." So hatte der Befehl gelautet. Bis jetzt war auch alles glattgegangen. Bill hatte das Gebiet des ehemaligen Thursopoole und das angrenzende Umland wie befohlen sorgfältig fo tografiert, immer so, daß sich die ein zelnen Aufnahmen gegenseitig überlappten. Und jetzt hatte er den zweiten Teil seiner Aufgabe erledigen wollen das Absuchen des Erdbodens von der Luft aus. Doch es war nicht zu fassen, er brachte den verdammten Kasten einfach nicht nach unten. Irgendein Widerstand schien von unten auf den Schrauber einzuwirken und ihn im mer wieder nach oben zu drücken. Als dieser Gedanke Bill durch den Kopf fuhr, schalt er sich einen Nar ren. So ein Quatsch! So weit war er doch noch nicht, daß er am hellichten Tag weiße Mäuse sah. „Was ist denn los?" unterbrach die Stimme des Kopiloten seinen selbst kritischen Gedankengang. Hal Per kins, so hieß der Rotschopf mit dem sommersprossenübersäten Gesicht, sah ihn besorgt an. „Ich krieg die Kiste einfach nicht runter", erwiderte Bill Watkins wü tend. „So was habe ich noch nie er lebt. Verdammt, es geht nicht, ich kann machen, was ich will." „Versuch's mal mit 'ner Schleife!" riet Hal. Bill sah ihn ärgerlich an. „Schleife oder nicht - was hat das damit zu tun, daß ich die Mühle nicht auf die Erde bringe?" Aber dann folgte er doch dem Rat. Die Maschine beschrieb einen wei ten Bogen. Wieder fuhren Bills Fin ger über die verwirrende Anord nung der zahlreichen Hebel und Knöpfe.
Und siehe da - es klappte. Der Schrauber gehorchte dem Piloten wieder. Langsam sackte er nach un ten. „Na, was sagst du jetzt!" Perkins hatte ein unverschämtes Grinsen aufgesetzt. „Nicht klagen - erst Hal fragen!" setzte er genüßlich hinzu. „Ach, hör doch auf mit dem Stuß!" erwiderte Watkins gereizt und drückte dabei den Schrauber immer weiter nach unten. Wenig später war er auf Baumwipfelhöhe. Jetzt hieß es genau aufpassen. Tat man es nicht, dann machte man schneller mit dem Boden Bekanntschaft, als man glaubte. Bill flog das Gebiet in Form eines langgestreckten Rechtecks ab. Überall lagen die Überreste des Dorfes herum. Hier waren es Teile eines Dachstuhls, dort deformierter Hausrat, anderswo die schrecklich zugerichteten Kadaver von Kühen oder Ziegen. Doch Überreste von Menschen fanden sich nirgends, so sorgfältig der Pilot auch vorging. „So, nur noch zwei Wendungen, dann haben wir es geschafft", mur melte Watkins. Er ließ den Schrau ber ein weiteres Stück nach vorn fliegen, auf die Küste zu. Doch dann passierte etwas höchst Ungewöhnliches. Die Maschine wur de plötzlich langsamer, obwohl Wat kins die Geschwindigkeit nicht zu rücknahm. Es war ungefähr so, als ob der Schrauber von einer klebri gen Stubstanz umgeben wäre, die immer mf.hr von seiner Fahrt auf fraß. „Herrgott noch mal!" explodierte der Pilot. „Fängt das denn schon wie der an?" Wut schoß in ihm hoch. Er drückte den Gashebel bis zum An schlag hinunter. Der Motor jaulte auf, als wäre er ein gequältes lebendiges Wesen. Die Zelle des Schraubers bebte und
34 schlingerte plötzlich wie ein Schiff, sackte das Wrack nach unten. Es war das sich durch eine schwere See von den Kräften, die dem Hub schrauber kurz vorher noch so ver kämpfen muß. „Hör auf! Flieg zurück! Hier nichtend zugesetzt hatten, seltsa stimmt was nicht", rief Perkins mit merweise jetzt überhaupt nicht beschwörender Stimme. In seinem mehr behindert. Gesicht zeigte sich Angst. Bevor jedoch die Maschine auf Watkins lächelte dünn. Seine Fin schlug, machten die Männer noch ei ger betätigten das Seitenruder. Un ne ungeheuerliche Entdeckung. säglich langsam, fast widerwillig, Dann, von einer Sekunde zur ande beschrieb die Maschine einen Bogen. ren, wurde es dunkel um sie. Für nur wenige hundert Yard ver brauchte der Motor eine Energie, die sonst für eine zigmal größere Strecke ausgereicht hätte. Und dann, von einem Augenblick zum anderen, verschwand das Zer ren, und der Schrauber flog wieder normal. Die beiden Piloten hatten unsag Perkins stieß einen befreiten Seuf zer aus. „Gott sei Dank! Ich habe bares Glück gehabt. Ausgerechnet mich schon als Englein gesehen. Bin dort, wo der Hubschrauber aufprall gespannt, was die da unten sagen te, stand dichtes Gehölz. Es wirkte werden." Der Kopilot lehnte sich zu wie eine Feder, neutralisierte den rück und zog eine Zigarettenschach größten Teil der Aufprallenergie. tel aus einer Tasche seiner Kombina Und da die Absturzhöhe nur knappe dreißig Yard betragen hatte, blieb es tion. Doch ehe er sich eines seiner ge bei einigen blauen Flecken und einer liebten Stäbchen anzünden konnte, leichten Gehirnerschütterung. beschrieb der Hubschrauber einen Am Tag darauf besuchte Staffel neuen Bogen - zurück in die alte kapitän Edward Clark seine beiden Richtung. Mit verkniffenem Gesicht Männer, um Näheres über den ihm hockte Bill Watkins hinter dem rätselhaften Unfall zu erfahren. Die Steuerknüppel. Der Motor dröhnte, verunglückten Piloten waren in ei er lief auf Hochtouren. nem Sanitätszelt untergebracht „Nein!" schrie Perkins entsetzt. worden. Gestern erschien der Trans „Bist du denn verrückt geworden? port nach Thurso noch zu riskant. Sofort zurück!" Perkins griff nach Und jetzt, nach der genauen Diagno links, wollte schnell den Hebel betä se von Doc Murray - in Ermangelung tigen, der ihm Gewalt über den eines Militärarztes hatte man ihn um Hilfe gebeten -, war die Einweisung Schrauber gab. Doch ehe er ihn erreichte, passierte in ein Lazarett bereits nicht mehr es auch schon. Ein schrilles Krei notwendig. Der Arzt hatte gelächelt, schen ertönte, gefolgt von reißenden als Clark um ein Gespräch mit seinen brechenden Lauten. Angstvoll blick Männern bat. „Aber selbstverständlich können te Perkins nach. oben. Er stöhnte tief und verzweifelt auf, als mit einem Sie das", sagte er zuvorkommend. lauten Knall die Rotorwelle brach „Nur - ich muß dabeisein, damit Sie und davonwirbelte. Wie ein Stein die beiden nicht zu Tode fragen."
35 Natürlich hatte Clark dagegen nichts einzuwenden gehabt. „Ich hab den Flug bis kurz vor dem Augenblick des Absturzes mit ange sehen", sagte der Offizier kopfschüt telnd, während sie auf das etwas ab seits gelegene Sanitätszelt zugingen. Die Flugstaffel hatte auf freiem Feld ihr Biwak aufgeschlagen. Eine ande re Möglichkeit bot sich nicht. Häuser gab es in dieser Gegend nicht mehr. Murray gab auf die mehr zu sich selbst gesprochenen Worte des Staf felkapitäns keine Antwort. Dafür zuckte für den Bruchteil einer Se kunde in seinen schiefergrauen Au gen ein helles Licht auf. „Wie an einer Leimrute habe ich mich gefühlt", sagte wenig später Bill Watkins nuschelnd. Er hatte beim Absturz zwei seiner Vorder zähne verloren. „Um den Schrauber schienen sich unsichtbare Fesseln zu legen. Ich gab Vollgas, kam aber trotzdem nicht voran. Die Kiste blieb schließlich sogar stehen. Und dann", Watkins zögerte mit dem Weiter sprechen und schielte zu Hal Perkins hinüber, der rechts neben ihm lag. „Ja und - was war dann?" fragte Clark ungeduldig. Der Pilot räusperte sich. Für einen kurzen Augenblick machte er einen verärgerten Eindruck. Mit Sicher heit verwünschte er jetzt seine un vorsichtige Redseligkeit. „Ja, also wir beide haben was gese hen", gab er mit belegter Stimme Antwort. „Was gesehen?" fragte der Offizier. Er warf Doc Murray einen hilfesu chenden Blick zu. „Wie ein Tempel hat es ausgesehen - mit merkwürdigen Bäumen." „Tempel? Bäume?" Clark sah Wat kins mit einem eigenartigen Blick an. Dem Piloten war dieser Blick nicht entgangen. Das Blut stieg ihm ins
Gesicht, und seine Augen funkelten vor Wut. „Jetzt glauben Sie wohl, ich sei reif für die Klapsmühle, nicht wahr? Aber ich bleibe dabei. Und Perkins hat es auch gesehen. Es war während des Absturzes." Clark beruhigte den aufgeregten Mann. Nachdem er den beiden Pilo ten gute Besserung gewünscht hatte, verließ er mit dem Arzt das Zelt. „Was sagen Sie dazu?" fragte er kurz darauf den Arzt. „Meinen Sie die Sache mit dem rät selhaften Tempel?" Der Offizier nickte. Man sah es ihm deutlich an, was er von der Beobach tung seiner Männer hielt. Murray hatte sich längst seine Meinung gebildet. Innerlich mußte er lachen. Clark war nicht der Mann, mit dem man über dieses Phänomen diskutieren konnte. Dieser reine Verstandesmensch akzeptierte nur das, was sich objektiv beweisen ließ. Der Arzt überlegte. Er mußte eine Antwort finden, die einigermaßen einleuchtend klang und außerdem die beiden Piloten vor dem Verdacht schützte, nicht mehr ganz richtig im Kopf zu sein. Das konnte ihnen scha den. „Die medizinische Wissenschaft kennt viele solche Fälle", log er kräf tig drauflos. „Einer glaubt etwas Sonderbares zu sehen, und teilt es ei nem anderen mit. Stehen beide unter einem starken Streß und besteht so gar Gefahr, das Leben zu verlieren, dann kommt es vor, daß auch die an dere Person glaubt, diesen Anblick gehabt zu haben." „Die beiden sind also", begann Clark zögernd, „nun, Sie können sich denken, was ich meine - kurzum, halten Sie die beiden noch für nor mal?" Murray nickte beruhigend. „Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sie
36 brauchen sich deshalb keine Sorgen lange, denn Lord Oliver liebte es, zu machen." Vorgespräche zu führen, bevor man Der hochgewachsene drahtige zum eigentlichen Thema kam. Mann nahm diese Worte erleichtert Es war schon Nachmittag, als der zur Kenntnis. Es war also nur die Butler endlich den Auftrag erhielt, Schockwirkung gewesen. Er streckte die Gäste in die Bildergalerie zu füh Murray die Hand hin. „Vielen Dank, ren. Doc. Mir ist eben ein Stein von der „Leider kann ich mich Ihnen nicht Seele gefallen." anschließen", sagte der Earl bedau Als er sich kurz darauf von dem ernd. „Meine Gicht - Sie verstehen." Arzt verabschiedete, sah dieser ihm Natürlich verstanden Clifford gedankenvoll nach. Wenn du wüß Farrell und Doc Murray ihn. Sie wa test, dachte er. Aber es ist gut, daß du ren sogar froh darüber, den alten es nicht weißt. Es gäbe eine Panik. Schwätzer für einige Zeit entbehren Die beiden Piloten würde er zuerst zu dürfen. mit großer Gewissenhaftigkeit be Ein Trick hatte ihnen Eintritt bei fragen. Danach würde er sie davon dem Earl verschafft. Er war sehr überzeugen, Opfer einer Fehlleitung einfach gewesen. Da Cliff Journalist ihrer Gehirne gewesen zu sein. war, fiel es ihm nicht schwer, sein Anliegen in einem langen und aus führlichen Brief an Seine Lordschaft glaubhaft zu vertreten. In diesem Schreiben erinnerte er den Earl an den rätselhaften Tod von Dick Tuk ker, der kurz vorher im Auktions haus Carruthers & Soames ein Ge mälde ersteigert hatte. Der Butler musterte die beiden „Mich hat dieses Ereignis damals Herren diskret. Kein Zweifel, ihre sehr interessiert", hatte Cliff ab Anzüge stammten nicht von einem schließend erklärt. „Da mich meine führenden Schneider. Auch die berufliche Tätigkeit in wenigen Ta Schuhe machten nicht den Eindruck, gen nun ganz überraschend nach von einem Künstler seines Fachs an Durness führt, wäre ich Eurer Lord gemessen worden zu sein. schaft sehr verbunden, wenn ich mir Aber immerhin, ihr Äußeres war das Gemälde einmal ansehen dürf sonst durchaus ansprechend und vor te." allen Dingen grundsolide. Der ge Cliff hatte den Brief in Edinburgh schulte Blick des herrschaftlichen geschrieben und aufgegeben. Doc Dieners erkannte dies sofort. Und ihr Murray und er hatten dem Ort des Auftreten war durchaus ,,comme il Unheils den Rücken gekehrt und faut". Daran gab es absolut nichts waren nach hier gereist. Da sie nur auszusetzen. Hinzu kam, daß sie Sei wenige Tage in Edinburgh verbrin ner Lordschaft, Earl Oliver Charing gen würden, hatte Cliff den Arzt in ham, bereits seit Tagen avisiert wa seiner Wohnung notdürftig unterge ren. Butler James sah also keinen bracht. Grund mehr, den Besuch seinem Schon wenige Tage später war die Herrn vorzuenthalten. Antwort des Earls eingetroffen. Auf Der Austausch der Höflichkeiten handgeschöpftem Büttenpapier mit kann übergangen werden. Er währte einer neunzackigen Krone. Es war
37 eine Einladung an ihn und Mr. Mur ray. Sie war sehr höflich verfaßt. Der Earl drückte darin seine Hoffnung aus, daß vielleicht durch den Besuch ein Schleier von dem Geheimnis des Bildes gelüftet werden könnte. Und nun standen sie in der Galerie. Der Butler wies auf ein Bild hin, das etwas abseits hing, dicht neben einer Portiere, die den Zugang zu einem offensichtlich kleinen Raum ver deckte. „Da hängt es", sagte er in lapidarer Kürze. „Selbstverständlich können Sie es auch herunternehmen, damit Sie es aus der Nähe betrachten kön nen." Dieses Anerbieten war den beiden Männern gerade recht. Der Butler half ihnen sogar beim Abnehmen des Gemäldes. Und als er sie nach weni gen Minuten bat, sich entfernen zu dürfen, da seine Tätigkeit ihm ein weiteres Verweilen nicht erlaube, da gaben sie noch freundlicher ihre Zu stimmung. „Und jetzt?" fragte Cliff gespannt. „Was wollen Sie tun, um dem Bild sein Geheimnis zu entreißen?" Der Arzt lächelte, gab aber keine Antwort, sondern machte sich an ei nem länglichen dunkelbraunen Le deretui zu schaffen, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Cliff machte große Augen, als Murray das kleine Kristallfläsch chen aus dem Etui zog. Es war mit ei ner wasserklaren Flüssigkeit gefüllt. „Damit werde ich es besprühen", sagte der Doc und schraubte an dem Verschluß. „Wird man ihm die Behandlung hinterher ansehen?" fragte Cliff mit unbehaglicher Miene. Murray schüttelte seinen mächti gen Schädel. „Da können Sie ganz beruhigt sein. Niemand wird etwas merken. Wenn es stimmt, und ich bin fest überzeugt davon, daß das Ge
mälde ein magisches Werkzeug in den Händen dämonischer Mächte war oder vielleicht noch ist, dann wird durch die Tinktur nur der ma gische Firnis vernichtet, mehr nicht." Das Bild, das in Wirklichkeit gar keines war, lag auf einem kleinen runden Barocktischchen. Obwohl die vielen Fenster in der Galerie für genügend Licht sorgten, nahm Mur ray trotzdem das Licht einer kleinen, aber starken Taschenlampe zu Hilfe. Dann blickte er Farrell fest an. Cliff fröstelte es unter dem Blick die ser machtvollen Augen. Er konnte sich nicht erinnern, je in solche Au gen geschaut zu haben. Seltsam, mußte er unwillkürlich denken, von Tag zu Tag erschien ihm der Arzt rätselhafter. Auch seine Ausstrah lung war anders, unendlich stärker als vor einer guten Woche. An diesem Tag hatte ihm Murray den entsetz lich zugerichteten Toten gezeigt. Zu diesem Zeitpunkt war er ihm wie ein biederer schottischer Landarzt vor gekommen. Aber diesen Eindruck hatte Cliff jetzt nicht mehr von ihm. Wieder lächelte der seltsame Mann. Es war ein warmes Lächeln. „Machen Sie sich über mich keine Gedanken - vertrauen Sie mir ein fach." Ohne auf eine Erwiderung zu war ten, bückte sich der Arzt und goß ei nige Tropfen der Flüssigkeit auf das Bild. Cliff fiel auf, daß er hauptsäch lich die Bildmitte mit der geheimnis vollen Tinktur präparierte. Der Journalist bückte angestrengt auf diesen Bereich. Doch es tat sich nichts. Die dunkle Färbung schien nicht zu reagieren. War es überhaupt eine Farbe und wenn, was verbarg sie? Wie ein Blitz kam Cliff dieser Gedanke. Schließlich, von einem Ge mälde konnte doch überhaupt nicht die Rede sein. Das sah aus wie einge rahmte dunkle Farbe, nichts weiter.
38 Ein leises Murmeln drang an seine Ohren. Es war Murray, der sprach. Cliff hörte genauer hin. Aber das half ihm nichts. Was der Arzt sprach, waren keine richtigen Worte, wenig stens keine einer bekannten Spra che. Sie hörten sich eher an wie eine sinnlose Aneinanderreihung von Konsonanten und Vokalen. Ob das eine Beschwörung war? dachte Cliff. Er versuchte, die Situation lächerlich zu finden - aber er konnte es nicht. Im Gegenteil, Cliff spürte mit einer geradezu schmerzhaften Deutlich keit die Wirkung der magischen Handlung. In ihm und um ihn wurde es vollkommen still. Die Stille wurde lastend. Gleich zeitig - oder kam es Cliff nur so vor wurde das Licht in der Bildergalerie dunkler. Cliff atmete tief durch. Sein Herz klopfte plötzlich einen rasen den Trommelwirbel. Das war der Augenblick, als Mur ray erneut einige Tropfen der magi schen Tinktur auf das Bild goß und dabei einen scharfen befehlenden Schrei ausstieß. Fast in der gleichen Sekunde kam Leben in das Bild - unsagbar wildes gespenstisches Leben. Cliff zwickte sich in den Arm. Es schmerzte, also träumte er nicht. Die dunkle Farbe wurde auf ge heimnisvolle Art und Weise durch sichtig. Cliff erblickte einen Tempel, sah menschenähnliche Geschöpfe auf Treppenstufen sitzen. Seine Au gen blieben auf einer sich nach oben verbreiternden Säule hängen, auf dem schwarzen vierkantigen Altar. Ein Sarg lag darauf und in dem Sarg eine mächtige Gestalt. Und dann mußte er sich anstren gen, um nicht laut aufzuschreien. Von außen, vom Rand des Bildes wogte es rot auf den Tempel zu, dü ster und unheilvoll. Unter dem An prall stürzten die Säulen zusammen,
ebenso der Altar. Der Sarg erlitt das selbe Schicksal. Aber es war sonder bar, er war leer. Die aufgebahrte Ge stalt war aus ihm verschwunden. Und dann, ganz unvermittelt, zuck te es in dem Bild gleißend auf. Die Lichterscheinung war von einer der artigen Helligkeit, daß Cliff auf stöhnte und die Augen schloß. Ein beißender Geruch drang in seine Na se. Der Geruch von Schwefel und Ammoniak. „Es ist vorbei", hörte der Journalist die Stimme Murrsays. Sie klang er schöpft, als ob sein Körper eine schwere Anstrengung hinter sich hätte. Cliff öffnete die Augen. Murray stand lächelnd vor dem runden Ba rocktischchen. Das Bild lag noch auf dem alten Platz. Auch bei noch so scharfem Hinschauen war an ihm nicht die kleinste Veränderung zu bemerken. Cliff trat näher und beugte sich über den Tisch. Je länger er auf die dunkle Farbe blickte, um so mehr hatte er das Empfinden der Befreiung. Das be drückende Gefühl war verschwun den, und das Bild sah jetzt aus, wie alle Bilder aussehen. Dieses Bild war mit Sicherheit kein Kunstwerk. Aber das war auch nicht seine Be stimmung gewesen. Cliff richtete sich auf und blickte in ein von schwerer Anstrengung ge zeichnetes Gesicht. Murrays Augen lagen tief in den Höhlen, darunter la gen dicke blaue Ringe. „Es war wohl sehr schwer?" fragte er den Arzt. Der Doc nickte. „Sie haben recht. Doch das, womit ich kämpfte, war nur ein armseliger magischer Rest. Mit der gesamten Kraft wäre auch ich nicht fertig geworden." Seine Au gen blickten so ernst, wie Cliff es an ihm noch nie gesehen hatte. „Wissen Sie jetzt mehr?" fragte er
39 leise. „Viel mehr", antwortete der alte Arzt. „Viel mehr, und doch noch viel zuwenig." Das Knarren einer Tür unterbrach das Gespräch. Es war der Butler. Er verneigte sich höflich und fragte: „Haben Sie es genug angesehen, oder soll ich das Bild noch auf dem Tisch liegen lassen?" Murray machte eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, Sie können es wieder aufhängen. Unsere Aufgabe ist beendet." Der Butler machte ein verblüfftes Gesicht. Er konnte sich die letzten Worte Murrays nicht erklären. Aber er hatte keine Lust, lange darüber nachzudenken. Dazu war ihm dieser Besuch zu unwichtig. Es war nicht einfach, sich der Neu gier des Earls auf höfliche Weise zu entziehen. Seine Lordschaft wollte einfach nicht begreifen, daß sein Be such nur gekommen war, um dem Kunstgenuß zu frönen. Er begriff es schon deshalb nicht, weil er ganz ge nau wußte, daß das sogenannte Ge mälde als Kunstwerk nicht einen einzigen Schuß Pulver wert war. Er hatte es schon gewußt, als er das Bild auf der Auktion kaufte. Es war nicht billig gewesen, aber der Lord hatte die Geldausgabe trotzdem nicht ge scheut. Nicht deshalb, weil er ahnte, welches Geheimnis sich mit diesem Bild verband. Wie hätte es auch dazu kommen können? Sondern einfach aus dem Grund, etwas zu besitzen, das im Ruf Schwarzer Magie stand. Außerdem war der Lord Okkultist aus Überzeugung. Mag sein, daß ihn dies ebenfalls beeinflußt hatte. Als ihn die beiden Männer verlas sen hatten, kam ihm ein Gedanke. So kam es, daß Seine Lordschaft höchstpersönlich die Bildergalerie aufsuchte. Das hört sich ganz einfach an, war es aber nicht, denn die gicht
verknoteten Beine machten diesen Weg über viele Treppen und lange zugige Korridore zu einer Tortur. Der Butler wollte seinem Herrn hel fen, ihn stützen, aber der Earl hatte wütend abgewinkt. „Nein, ich gehe allein", hatte er energisch gesagt, wobei er das Wort „allein" scharf betonte. Und dann stand er vor dem Bild. Fast eine Viertelstunde lang. Seine Augen - sie waren trotz seines hohen Alters noch sehr scharf - glitten auf merksam über die dunkle Deckfarbe. Aber sie entdeckten nichts. Eigenar tig, noch nie war ihm das seltsame Gemälde - wenn man einen dunklen Farbüberzug überhaupt als Gemälde bezeichnen kann - so langweilig er schienen. Der Earl empfand nicht mehr das Gefühl eines verborgenen Geheimnisses, das er sonst immer in sich gespürt hatte, wenn er vor dem Bild stand. Eigentlich, dachte Seine Lordschaft ärgerlich, hatte er sich kindisch benommen, als er es für teures Geld gekauft hatte. Abgese hen davon, daß es sich hier in der Ga lerie sehr deplaziert ausnahm. Oliver Charingham mußte unwillkürlich lächeln, als seine Augen ein Stück zur Seite wanderten und auf einem großen Gemälde hängenblieben. Es war das Bildnis eines Ahnherrn. Ein schlanker Gentleman, ganz in Schwarz mit reicher Silberspitze ge kleidet. Er trug eine gepuderte Pe rücke und ein Schönheitspfläster chen unter dem linken Auge. Seine linke Hand hielt einen Ebenholz stock. An dem kleinen Finger der an deren Hand glitzerte ein großer Sa phir. In den grauen Augen schien ein spöttisches Lächeln zu funkeln. „Ja, du hast recht", flüsterte Seine Lordschaft. Und dann sagte er einen Satz, der zu dem vornehmen blauen Blut der Charinghams wirklich nicht paßte. Er grinste dabei. „Ich schmeiß
40 es auf den Mist." Der Rückweg fiel ihm wesentlich leichter. Seine Füße fühlten plötzlich keine Schmerzen mehr. Als Butler James seinem Herrn begegnete, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu dürfen - der Earl pfiff vergnügt einen uralten Gassenhauer vor sich hin.
Der kleine Sportwagen jagte an Laxford Bridge vorbei und war kurz danach auf der A 838, die das nördli che Hochland durchquert. Die rasen de Fahrt ging weiter, streifte den Südrand des herrlichen Reay Forest und führte dann am Nordufer des Loch Shin entlang. Das Verdeck des Kabrioletts war heruntergeklappt. Der Wind fuhr durch den weißblonden Haarschopf der Fahrerin und wirbelte ihn durcheinander. Doch die junge Frau achtete nicht darauf. Sie nahm auch nicht die Na turschönheiten des wilden schotti schen Hochlandes in sich auf. Ob wohl sie den Wagen sicher durch die vielen engen Kurven steuerte, waren ihre Gedanken ganz woanders. Und diese Gedanken schienen durchaus nicht freundlicher Natur zu sein. Die großen smaragdgrünen Augen fun kelten zornig, und die Lippen, wun derschön geschwungene Lippen üb rigens, waren eng zusammenge preßt. Seit ihrer Abfahrt aus Edinburgh beschäftigten sie diese Gedanken. Und je weiter die Stadt hinter ihr zu
rückfiel, um so mehr steigerte sie sich hinein. „Mr. Clifford Farrell hat gekün digt. Er war nicht einverstanden da mit, daß er", Brooks hatte kurz gehü stelt, „daß er für Sie die Vorarbeiten machen sollte." Iris Carrington war aus Paris zu rückgekommen, wo sie eine wichtige Sitzung der EG beobachtet hatte, um darüber eine Reportage zu schrei ben. Brooks nüchterne Worte wirkten auf die Reporterin wie ein Hammer schlag. Sie hatte vorgehabt, sich mit Cliff auszusprechen. Daß dieser dumme Kerl nicht bemerkt hatte, daß ihr scheinbarer Flirt mit Antho ny Barney überhaupt nichts zu be deuten gehabt hatte! Iris war wütend gewesen, daß Cliff so spät auf dem Jubiläumsfest erschienen war. Wel che Frau hat das schon gern? Und sie erfuhr es erst am nächsten Tag, daß Cliffs Maschine aus Athen mit gro ßer Verspätung gelandet war. Doch da hatte sie Cliff nicht mehr errei chen können. Dieser Hornochse! Es war doch blödsinnig, so zu reagieren. Ob sie ihn im Katastrophengebiet treffen würde, dachte sie im nächsten Au genblick hoffnungsvoll. Iris hatte von Brooks erfahren, daß Cliff auf eigene Faust Nachforschungen an stellen wollte. Der Journalist war fi nanziell unabhängig. Das Vermögen, das er von seinen Eltern geerbt hatte, war groß genug, um ihm ein behagli ches Leben zu sichern. Er konnte es sich leisten, dort zu arbeiten, wo es ihm paßte. Iris biß sich auf die Lippen. Sie liebte diesen großen Bären. Sie liebte ihn mehr, als es ihrem Innenleben guttat. Und sie war fest überzeugt davon gewesen, daß er dieses Gefühl
41 in gleicher Stärke erwiderte. Aber sie war sich dessen jetzt nicht mehr so sicher. Wie hätte er sonst so han deln können. Es war Nachmittag, als Iris in Thurso eintraf. Sie besorgte sich im CALEDONIAN ein Zimmer, ließ ih ren Koffer hinaufschaffen und machte sich dann ein wenig frisch. Als sie später den vornehm einge richteten Gästeraum betrat, war von ihrer zornigdüsteren Stimmung nichts mehr zu bemerken. Ihr Ge sicht war wieder glatt, und ihre Au gen funkelten unternehmungslustig. Sie war sich plötzlich gewiß, ihren Bären recht bald hier oben zu tref fen. Es gibt merkwürdige Ereignisse. Begebenheiten, die so unwahr scheinlich anmuten, daß man Mühe hat, daran zu glauben. So zum Bei spiel, wenn sich alte Schulfreunde, die sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen haben, ausgerechnet in ei ner fremden Stadt in die Arme lau fen. Der rote Sonnenball schickte sich gerade an, im Meer zu versinken. Für wenige Sekunden glich die glatte Wasseroberfläche einer riesigen, mit Purpur gefüllten Kristallschale. Auch der Himmel stand während dieser Zeit in Flammen. Die kleinen Wölkchen, die darüber hinzogen, sa hen aus wie in Blut getauchte Watte bäuschchen. Der rote Schein hüllte auch die Gaststube in sein magisches Licht. Das Reden verstummte. Von irgend wo war ein bewunderndes „Ah!" zu hören. Das war der Augenblick, in dem Iris das Gastzimmer betrat. Sie ver spürte einen rechtschaffenen Hunger. Und das CALEDONIAN machte durchaus den Eindruck, über eine gute und schmackhafte Küche zu verfügen.
Sie blickte suchend um sich. Die Tische waren alle besetzt. Es schien Iris bestimmt zu sein, ihren Hunger in einem anderen Lokal der Stadt stillen zu müssen. Schade, dachte sie bedauernd. Sie wäre gern hiergeblieben. Sie wollte sich schon abwenden, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, daß an ei nem der kleineren Ecktische Men schen aufstanden. Sie hatten an scheinend schon bezahlt. Nur ein einzelner Herr blieb noch sitzen, ein schon älterer Mann mit einem kanti gen Schädel und Augen, die sie selt sam zwingend musterten. Es waren graue Augen, groß und so tief, daß Iris unwillkürlich erschauerte. Zögernd ging sie auf den Tisch zu. „Ist hier noch frei?" fragte sie leise mit einer ihr unbegreiflichen Befan genheit. Der alte Herr nickte freundlich. „Aber sicher! Setzen Sie sich nur. Mein Bekannter wird noch genü gend Platz haben." Iris bestellte ihre Mahlzeit. Wäh rend sie auf das Essen wartete, kam sie mit dem sympathischen Mann ins Gespräch. Schon bald wurde daraus eine rege Unterhaltung. Sie wurde kurz unterbrochen, als die Kellnerin mit dem Speisetablett kam. Das Pfeffersteak war von ausge zeichneter Qualität, zart und sehr saftig. Iris aß mit Appetit. Dazu trank sie einen vollmundigen, etwas herben Rotwein. Ihr Tischnachbar wünschte ihr lächelnd eine gute Mahlzeit. Später, der Bekannte schien sich zu verspäten, zündete sich Iris eine Zi garette an und lehnte sich behaglich zurück. Sie würde sich noch eine Weile unterhalten und dann früh zu Bett gehen. Müdigkeit stieg in ihr hoch. Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen. Doch zu einem Gespräch sollte es
42 nicht mehr kommen. Das Ereignis trat ein, als Iris gerade den Mund zu einer Frage öffnen wollte. Eine Männerstimme drang an ihre Ohren, eine ihr sehr bekannte Män nerstimme. Sie bat um Entschuldi gung für die Verspätung. Und dann brach diese Stimme plötzlich ab. Der Mann, der an den Tisch getreten war, hatte in diesem Augenblick die junge Frau erblickt. Einen Augenblick lang sahen sich Iris und Cliff in die Augen. Cliff brach als erster das Schweigen. Doch in seinem Gesicht zeigte sich kein Ausdruck der Freude. „Schon mit der Arbeit in Thurso poole angefangen?" fragte er. Iris hätte ihn für diese Frage ohr feigen können. Sie klang so nachläs sig und barg in sich nicht die Spur ei nes größeren Gefühls. So fragt man einen flüchtigen Bekannten, dachte sie bitter. Es stieg ihr heiß in die Au gen. Doch Iris beherrschte sich, zwang die Tränen wieder zurück. O nein, diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Im Gegenteil, sie würde es ihm zeigen. Und das tat sie dann auch. „Ja, sonst wäre ich bestimmt nicht hier", erwiderte sie herausfordernd. „Wenigstens ein Reporter des DAI LY MIRROR muß doch hier sein, oder nicht?" Cliff preßte die Lippen aufeinan der, gab aber keine Antwort. Er hatte keine Lust, sich mit Iris in aller Öf fentlichkeit zu streiten. Der dumme Zufall, der sie beide hier zusammen geführt hatte, würde nicht lange an dauern. Doc Murray - an seinen Tisch hatte sich Iris gesetzt - war dem kleinen, mehr hintergründigen Disput auf merksam gefolgt. Aber nicht so, daß man es ihm anmerkte. Er machte ein ausdrucksloses Gesicht. Junge ver liebte Leute, dachte er amüsiert. Im
mer waren es die gleichen Streiterei en, und immer wieder, oder meistens folgte dann die Versöhnung. „Ich werde mich jetzt schlafen le gen", sagte Clifford Farrell höflich zu dem Arzt, wobei er geflissentlich an Iris vorbeisah. „Wenn es Ihnen recht ist, dann könnten wir uns morgen zum Frühstück hier treffen." Cliff sah den Doc fragend an. Murray nickte. „In Ordnung. Ich bin um sieben Uhr hier unten." Als der Journalist nach einer kur zen Verbeugung das Gastzimmer verließ, beobachtete der Arzt die junge Frau unter gesenkten Lidern. Selbst er mußte anerkennen, daß sie jetzt, in einem Zustand höchster Er regung, ausgesprochen schön wirkte. Nicht schön aufgrund eines glatten Gesichts, sondern schön im Hinblick auf die Wirkung, die von der Erre gung ausging. Das Gesicht wurde abwechselnd rot und blaß. Die grünen Augen fun kelten in heißer Wut, und die schlan ken ausdrucksvollen Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Dabei hob sich der Busen unter raschen Atem zügen. Iris glich einer zornglühen den Rachegöttin, die dabei ist, ihren Feind mit einem feurigen Blitz zu vernichten. Kaum hatte Farrell den Raum ver lassen, als sich die junge Miß mit ei ner abrupten Bewegung erhob. Sie machte gerade den Mund auf, um sich zu verabschieden, als Murray ihr zuvorkam. „Wollen Sie nicht noch etwas hier bleiben und einem alten Mann ein wenig Gesellschaft leisten?" fragte er. Iris lag eine patzige Antwort auf der Zunge, aber sie ließ die Worte un ausgesprochen, als sie in die Augen Murrays blickte. In ihnen las sie Wärme und Verstehen. Iris schämte sich ein wenig.
43 Warum eigentlich nicht, dachte sie. Wenn sie jetzt ins Bett ging, würde sie sicher keinen Schlaf finden. Das kurze Gespräch dauerte bis elf Uhr. Murray hatte keine Miene ver zogen, als die Reporterin ihn nach seinen Erlebnissen befragte. Ge schickt steuerte er das Gespräch so, wie es seinem Plan entsprach. Iris Carrington merkte nicht, daß sie ihr ganzes Leben vor ihm ausbreitete. Und es fiel ihr auch nicht auf, daß der Arzt mit bestimmten Hinweisen ihre berufliche Neugier und ihren Ehrgeiz weckte. Schon gar nicht kam sie auf die Idee, daß ihr Tischnach bar dies aus einer ganz bestimmten Absicht heraus tat. Wie hätte sie auch wissen können, daß sie in Mur rays Plan eine wichtige Rolle zu übernehmen hatte. Und als sich Iris von dem Arzt verabschiedete, war sie der festen Überzeugung, den alten Mann meisterhaft ausgefragt zu ha ben. Sie gratulierte sich dazu, die zwei Stunden in das Gespräch inve stiert zu haben. Sie wußte nun alles, was Murray - und Cliff! - auch wuß ten. Damit hatte sie sich einen guten Teil zeitraubender Recherchenar beit erspart. So kam es, daß die junge Reporte rin sich trotz des verunglückten Wie dersehens einigermaßen zufrieden niederlegte. Sie würde es diesem stu ren Hornochsen zeigen, dachte sie noch, als der Schlaf über sie kam. Und sie wußte auch bereits, wie sie das anzustellen hatte.
Staffelkapitän Edward Clark war als pflichtbewußter Offizier be
kannt. Außerdem war er sehr ehr geizig, wollte seinen Konkurrenten immer ein Stückchen voraus sein. Die Kombination dieser beiden Ei genschaften war es, die den Offizier nach der Unterredung mit den zwei Hubschrauberpiloten in der darauf folgenden Nacht nicht schlafen ließ. Während seine Augen ins Dunkel starrten, vergegenwärtigte er sich jeden einzelnen Punkt des Berichts. Anschließend dachte er an die Worte des Mechanikers, der von ihm den Auftrag erhalten hatte, den Motor des Schraubers zu untersuchen und ihm anschließend das Ergebnis mit zuteilen. Larry Simpson, so hieß der Mecha niker, war bereits am frühen Abend zu ihm gekommen. Er war ziemlich aufgeregt gewesen. „Ich begreife das nicht", hatte er kopfschüttelnd gesagt. „Der Motor war schon hinüber, als die Maschine noch in der Luft war. Sie hätte ohne hin landen müssen," „Wieso landen müssen?" hatte Clark verwundert gefragt. „Ich hab den Flug doch beobachtet. Bis zu dem mir unerklärlichen Absturz sah alles ganz normal aus." Er hatte kaum ausgesprochen, als er sich an etwas erinnerte. Es war nur eine Kleinig keit gewesen, doch vielleicht gab sie einen Hinweis. „Halt!" sagte er schnell, bevor Simpson auf seine Frage antworten konnte. „Noch etwas! Der Schrauber beschrieb einen weiten Bogen. Dann, ganz plötzlich, wurde er schneller. Mir kam es fast so vor, als nähme er einen Anlauf. Man konnte es sogar deutlich an dem sich verstärkenden Dröhnen des Motors hören. Watkins jagte ihn richtig hoch." Der Staffel kapitän machte eine kurze Pause und kniff die Augen zusammen. Simpson blieb ruhig vor dem Offizier stehen. Er kannte ihn schon lange
44 und wußte, daß er diesen Erinne rungsprozeß nicht stören durfte. „Ja", fuhr Clark nachdenklich fort, „und dann passierte das, was ich mir bis heute nicht erklären kann, die Geschwindigkeit der Maschine nahm trotzdem plötzlich rapide ab. Eine kaum glaubliche Tatsache." Simpson hob ratlos seine Schul tern. „Das ist mir auch unbegreiflich. Aber eines stimmt: Die Kolben müs sen geglüht haben. Sie standen kurz davor, sich an den Wänden festzu fressen." Das waren die Worte des Mechani kers gewesen. Erst sie hatten Clark zu weiterem Nachdenken veranlaßt. Und dieses Nachdenken war schuld daran, daß er keinen Schlaf finden konnte. Denn nun erhielten die Worte Wat kins' ein ganz anderes Gewicht. Wie hatte er sich ausgedrückt? Die Fahrt des Schraubers hätte sich mehr und mehr verlangsamt, obwohl er, Wat kins, den Motor unter Vollgas laufen ließ. Wie Fesseln hätte es sich um die Maschine gelegt. Unsichtbare Fes seln, die das Flugzeug umklammer ten und festhielten. Kein Zweifel, die beiden Aussagen ergänzten sich gegenseitig. Im Grun de genommen bestätigte der Bericht des Mechanikers sogar die Auffas sung des Piloten. Konnte es sein, daß die beiden Männer tatsächlich etwas gesehen hatten? Vielleicht verbarg sich etwas auf dieser mit Felsen übersäten Hochfläche, irgend etwas Unheimli ches! Clark fuhr bei diesem Gedan ken ein Schauer über den Rücken. Doch dann wies er diesen Gedanken weit von sich. Unmöglich! Wenn da wirklich etwas war, dann mußte die se Macht, oder was es auch sonst im mer sein mochte, sich unsichtbar machen können. Und daran konnte der junge Offizier nicht glauben.
Doch Clark rang sich zu einem Entschluß durch. Morgen kam Gene ral John Cormac nach hier, um den Fortgang der Untersuchungen zu in spizieren. Sicher gab es dann eine Gelegenheit, mit ihm über den rät selhaften Absturz zu sprechen. Er mochte dann entscheiden, was zu ge schehen hatte. Für ihn kam es jetzt darauf an, möglichst frühzeitig die Ordonnanz des Generals zu erwi schen. Fast immer oblag ihnen die Termingestaltung während einer Inspektionsreise. Und da der Ab sturz einer Militärmaschine nicht ei ne alltägliche Angelegenheit bedeu tete, war Clark guten Mutes, den Ge neral sprechen zu können. Dieser Plan übte eine wohltuende Wirkung auf den psychischen Zu stand des Offiziers aus. Die Unruhe verschwand, und der Schlaf über nahm endlich das Kommando.
Der Brigadegeneral traf schon am frühen Morgen in dem Militärlager ein. Er kam mit einem Hubschrau ber. Seine Begleitung bestand nur aus seinem Ordonnanzoffizier und zwei Herren seines Stabes. Schon eine Stunde später ergab sich für Clark die Gelegenheit, Cap tain Whyler, so hieß der Ordonnanz offizier, zu unterrichten. Der Staf felkapitän hatte Glück, daß Whyler seinen Bericht sehr ernst nahm und ihm versprach, noch heute vormittag einen Termin für ihn zu arrangieren. Und tatsächlich - er hielt Wort. Schon knapp zwei Stunden später betrat Clark das Quartier John Cor macs. Es war ein großes, bequem
45 ausgestattetes Zelt. Es war in mehrere Räume unter teilt. Clark mußte einige Minuten im vordersten Raum, einer Art Diele, warten. Kurz darauf sprang er wie elektri siert von dem Klappstuhl hoch, als eine tiefe Stimme laut seinen Dienst rang und seinen Namen brüllte. Und dann stand er vor dem Briga degeneral. Blitzschnell schweiften seine Augen über die klobig wirken de Gestalt. John Cormac war der Typ eines al ten Haudegens. Er war groß und da bei sehr breit. Dichtgewachsene eis graue Borsten bedeckten den ecki gen Schädel. Die scharfe, förmlich aus dem Gesicht springende Adler nase und der bis auf die Kinnecken herunterhängende Schnauzbart ver liehen ihm ein betont martialisches Aussehen. Doch dieser erste Eindruck änder te sich in dem Augenblick, als der Brigadegeneral seinen Mund auf machte und dabei in seinen grauen Augen ein leichtes Lächeln auf glomm. Die Strenge verschwand aus dem Gesicht - an ihre Stelle trat ein väterlicher Ausdruck. „Nun, junger Mann, was führt Sie zu mir? Von dem Hubschrauberab sturz habe ich bereits in London er fahren." Er schwieg und blickte Clark nachdenklich und zugleich ein wenig überrascht an. „Meine Ordon nanz hat mir von einer haarsträu benden Geschichte erzählt, die Sie ihm berichtet hätten." Cormac brach ab und sah den in straffer, militäri scher Haltung vor ihm stehenden jungen Mann abwartend an. „Kommen Sie! Setzen wir uns doch." Er wies auf zwei bequem aus sehende Klappstühle. „Im Sitzen er zählt es sich besser." Und dann berichtete der Staffel kapitän. Er tat es in knapper, präzi
ser Form, brachte alle wesentlichen Einzelheiten, vergaß nichts, was nur entfernt von Wichtigkeit sein konn te. „Genauso war es gewesen", sagte er abschließend, wobei er seinem hohen Vorgesetzten fest in die grauen Au gen blickte. „Aber ich weiß nicht, was sich hinter diesem mir unerklärli chen Phänomen verbirgt. Ich finde einfach keine Erklärung. Deshalb habe ich mich auch nicht getraut, ei ne andere Hubschrauberbesatzung mit der Klärung dieser mysteriösen Angelegenheit zu beauftragen." Der General hatte ruhig zugehört. Nicht ein einziges Mal unterbrach er Clark. Ab und zu zog er kräftig an seiner kurzen Stummelpfeife, um anschließend eine mächtige Qualm wolke in die Luft zu blasen. Doch wenn er auch nicht fragte - seine Au gen forschten um so mehr. Nicht für eine einzige Sekunde ließen sie den Vortragenden los. Als der Offizier geendet hatte, dachte der General nach. Mit dem Gespür eines Menschen, der schon viele Jahre eine Tätigkeit ausübt, die ihn immer wieder mit jungen Men schen zusammenbringt, wußte er, daß Clark die Wahrheit sprach. Cormak wußte, daß das weitere Vorgehen gar nicht so einfach war. Unmöglich, den Grund für die un umgängliche Nachforschung be kannt zu machen. Der General hatte aus verständlichen Gründen nicht das geringste Interesse daran, von maßgebenden militärischen Kreisen für einen Spinner gehalten zu wer den. Jetzt hieß es sehr vorsichtig zu sein. Das galt auch für seine Antwort an Clark. Cormac wurde es heiß bei diesen Gedanken. Verflucht, das war ein schwerer Brocken. Aber anderen teils - geschehen mußte etwas. Und wenn - so unwahrscheinlich das
46 auch war - sich wirklich herausstel len sollte, daß etwas nicht stimmte, dann um so besser. Dann war immer noch Zeit genug, die Wahrheit zu enthüllen. Das lange Nachdenken des Gene rals bereitete Clark direkt physische Qualen. Schon begann er, sich wegen dieser verrückten Idee innerlich zu verfluchen. So ein Quatsch, Cormac einzuweihen! Der General unterbrach die Selbstvorwürfe seines Untergebe nen. „Ich werde die Sache selbst in die Hand nehmen. Glauben Sie mir - das Phänomen wird sich sehr bald entschleiern. Und damit auch die Ur sache." „Jawohl!" sagte Clark gehorsam. Was hätte er auch anderes sagen sol len. Cormac nickte freundlich. „Und was ist mit den Suchflügen?" fragte er dann wie nebenbei. „Wir haben buchstäblich jeden Quadratzoll der Fläche untersucht. Doch außer Trümmern und den Lei chen verendeter Tiere haben wir nichts gefunden. Nur eine einzige Leiche wurde bisher entdeckt." Der General nickte kurz. Diese Tatsachen waren ihm alle schon be kannt. Das war auch der eigentliche Grund für sein Hiersein. Von der Re gierung war er mit allen Vollmach ten versehen worden. „Ausgeschlossen, daß wir die Su che abbrechen, bevor wir weitere Opfer gefunden haben", hatte Lord Warfield, der Verteidigungsminister, ihm mit erregter Stimme gesagt. „Suchen Sie - suchen Sie meinetwe gen so lange, bis Sie Klarheit erlangt haben!" „Hat sich die Suche bisher nur auf den Luftraum beschränkt?" fragte Cormac überflüssigerweise, denn er kannte die Antwort.
„Außerhalb Thursopooles ja", er widerte Clark. „Aber wie mir Cap tain Whyler erzählte, soll sich das ja ab morgen ändern." Der General erhob sich. „Vielen Dank", sagte er herzlich. „Glauben Sie mir, Ihre Ausführun gen waren mir sehr wichtig. Sie ha ben sich richtig verhalten." Der Staffelkapitän wurde rot im Gesicht. Er wußte, daß dieses Lob sehr ungewöhnlich war. Trotz seiner freundlichen, oft sogar väterlichen Art war John Cormac in dieser Be ziehung ausgesprochen sparsam. Kein Wunder also, daß der junge und ehrgeizige Mann das Zelt mit einem besonders glücklichen Gefühl ver ließ. General Cormac blickte ihm lä chelnd nach. Er wußte um den See lenzustand des Mannes. Das Lob würde eine wichtige Funktion erfül len. Es gab Clark die Überzeugung, daß der General seinen Bericht nicht als dummen Mumpitz abtat, obwohl er, Cormac, mit keiner Silbe dazu Stellung genommen hatte. Doch dann wurde das Gesicht des hohen Offiziers ernst. Jetzt mußte dringend etwas geschehen, um die mysteriöse Angelegenheit aufzuhel len. In seinem Gehirn begann sich ein Plan abzuzeichnen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er zu Ende ge dacht war. Ja, das war der beste Weg, um sich Gewißheit zu verschaffen. Und er besaß darüber hinaus den großen Vorteil, daß niemand ins Vertrauen gezogen werden mußte.
47 Wie es im hohen Norden Schott lands oft der Fall ist - das am Vortag noch schöne und sonnige Wetter schlug in der Nacht jäh um. Schuld daran war ein umfangreiches östli ches Tief. In wenigen Stunden ver trieb es den schwachen, von den Azo ren kommenden Hochdruckkeil. Der Himmel bedeckte sich mit hohen Wolkengebirgen. Iris erwachte erst um neun Uhr. Sie hatte mit voller Absicht so lange geschlafen. Zum einen wollte sie Cliff nicht begegnen - sonst glaubte er womöglich noch, sie liefe ihm nach - und zum anderen erforderte der vor ihr liegende Tag viel Energie und Ausdauer. Deshalb wollte sie aus schlafen. Das war der beste Weg, um Kraft zu tanken. Nach dem ausgezeichneten Früh stück rauchte sie noch in aller Ge mütsruhe eine Zigarette. Merkwür dig, mußte Iris denken, sie spürte nichts! Nicht jenes Gefühl, das die Menschen mit Vorliebe dann be schleicht, wenn Gefahr droht, oder wenn bei einer Aufgabe das Risiko besonders groß ist. Das Lächeln verschwand aus ihren Augen als sie an die Worte des Arztes dachte. „Ich bin mir sicher, daß sich auf der Hochfläche irgend etwas verbirgt. Etwas Dunkles und sehr Gefährliches. Ich bin auch überzeugt davon, daß die Hubschrauberbesat zung sich nicht geirrt hat. Denn das, was ich auf dem Gemälde gesehen habe, glich in verblüffender Weise dem Bild, das die Männer in dem ab stürzenden Flugzeug gesehen haben wollen. Es gibt für mich nicht den mindesten Zweifel daran, daß hier ein Zusammenhang bestehen muß. Ein ebensolcher Zusammenhang wie zwischen diesem Dick Tucker und dem einzigen Toten, den wir nach der Naturkatastrophe hier gefunden ha ben."
Die Stunden nach dem Frühstück verbrachte Iris damit, sich in den verschiedensten Geschäften Thursos mit den Dingen zu versehen, die sie für die Ausführung ihres Plans zu benötigen glaubte. Hauptgegenstän de waren ein kleines, aber sehr stabi les Schlauchboot und zwei Paddelru der. Außerdem noch einen derben wetterfesten Overall mit Kopfhau be. Dann noch wasserdichte Schuhe und einige andere Dinge. Ein kleiner Fotoapparat, ein Feldstecher und ei ne Taschenlampe waren auch dar unter. Kurz nachdem die Sonne den Zenit ihrer Bahn erreicht hatte, passierte Iris Carrington die letzten Häuser Thursos. Der Motor des kleinen Sportwagens schnurrte zufrieden vor sich hin. Nach genau sieben Meilen bog die Nebenstraße nach links ab in eine immer wilder werdende Einöde. Das wellige Hügelgelände verlor sich. Statt dessen zeigten sich zerklüftete Felsformationen und enge schartige Schluchten. Mehr und mehr nahmen die kargen Wiesen ab. Dafür häuften sich die wie wahllos herumliegenden Felsbrocken. Manche von ihnen wa ren nicht größer als Billardkugeln, auf anderen konnte man dagegen fast spazierenlaufen. Miß Carrington spürte, wie das Unbehagen in ihr hochstieg und sich allmählich zum Gefühl der Angst verdichtete. Doch Iris war zu willensstark, um dieser Regung nachzugeben. Sie kämpfte gegen die dunklen Schatten an, die in ihre Seele eindringen woll ten. Es war nicht einfach, sie zu ver treiben, doch Iris schaffte es schließ lich. Der starke Wind war abgeflaut. Die dicken dunklen Wolken am Him mel bewegten sich kaum vorwärts. Ein fernes Brausen drang an ihre
48 Ohren. Die schmale Straße ringelte sich in vielen Windungen in die Tiefe. Vor bei an tiefen Einschnitten und bizarr geformten Felsen. Das schwache Brausen wurde allmählich lauter. Während der ganzen Fahrt kam ihr kein Auto und auch kein Motor rad entgegen. Von Menschen mit Pferdefuhrwerken ganz zu schwei gen. Endlich, nach einer weiteren hal ben Stunde, war die mühsame Fahrt zu Ende. Nach mehreren Kurven führte die Straße durch einen schmalen Einschnitt. Die Felsen ka men hier so nahe zusammen, daß man jeden Augenblick erwarten konnte, in einen Tunnel hineinzu fahren. Doch dieses Gefühl trog. Plötzlich traten die Felsen auseinander. Vor Iris' Augen zeigte sich ein flach zum Meer abfallendes Tal. Auf der nörd lichen Seite wurde es durch eine ganze Kette schroff aufragender Klippen abgegrenzt. Eine davon hat te eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Schädel einer riesigen urweltli chen Echse. Iris seufzte erleichtert auf. Es stimmte, was der Arzt ihr gesagt hat te. Diese Felsen schirmten die Hoch fläche von dem Meer ab. Jene Hoch fläche, auf der die beiden Flieger den seltsamen Tempel mit den vielen Bäumen gesehen haben wollten. In der Reporterin wuchs das Ge fühl der Skepsis. Natürlich hatte sie sich Murray gegenüber nichts von dieser Skepsis anmerken lassen glaubte sie - um den alten Arzt nicht zu verärgern. Iris wollte diesen so überaus sympathischen Mann unter keinen Umständen verletzen. Daß er an dunkle Wesenheiten, an Geister und Vampire glaubte, war seine Sa che. Ihre dagegen war es, zu bewei sen, daß die angeblich von geheim
nisvollen Geschöpfen beherrschte Hochfläche nichts anderes war als eine mit viel Geröll bedeckte Ebene. Genau das hatte sich Iris vorge nommen. Wenn es ihr gelang, auf das Plateau zu kommen und dort eine Reihe von Aufnahmen zu machen, dann waren die entwickelten Bilder unanfechtbare Beweisstücke. Zeig ten sie das, was Iris erwartete, näm lich eine Fläche mit vielen Felsblök ken und sonst nichts, dann erwiesen sich die Beobachtungen der beiden Piloten als Erzeugnisse einer durch die Todesangst überreizten Phanta sie. Doch alles das war für Iris letzten Endes nicht so entscheidend wie ihr heißer Wunsch, dem „Bären" zu be weisen, daß sie ihn zur Lösung dieser Aufgabe nicht brauchte. Was würde er nur für ein Gesicht machen, wenn sie wieder auftauchte und Doc Mur ray anhand der Bilder nachweisen konnte, daß er - und damit auch Cliff - sich geirrt hatten? Iris lachte bei diesem Gedanken laut auf und lenk te den Sportwagen in eine Felsspalte, die gerade so groß war, daß sie den Wagen aufnehmen konnte. Hier war er gut verborgen. Die nächste halbe Stunde war der Vorbereitung gewidmet. Iris lud das Schlauchboot, die beiden Paddel und alle anderen Dinge aus, die sie mit nehmen wollte. Sie schwitzte, als sie mit dem Bla sebalg das Boot aufpumpte. Aber auch damit wurde Iris schließlich fertig. Dann zog sie sich um. Ihre Kleider verstaute sie im Kofferraum. Schließlich war es soweit. Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Eine Zeit also, die für ihr Vor haben früh genug war. Vorsichtig bestieg sie das Boot. Es tanzte in der leicht kabbeligen See. Gut, daß sie auf dem Wasser kein Neuling war, mußte sie unwillkür
49 lich denken. Immerhin würde es ein gewisses Geschick erfordern, die bis in das Meer reichenden Steilklippen zu umrudern. Denn das mußte sie, wenn sie auf das Plateau gelangen wollte. Nur jenseits dieser Klippen gab es eine Aufstiegsmöglichkeit. Iris hatte sich heute vormittag aus gezeichnetes geografisches Karten material von Thurso und Umgebung besorgt und es mit großer Sorgfalt studiert. Tatsächlich, es stimmte! Nur hin ter den Klippen gab es eine Möglich keit, die Hochfläche zu erreichen. So zeigte es wenigstens die Karte. Aber das hatte nicht viel zu besagen. Si cher gab es noch andere, unbekannte Wege nach oben. Vielleicht sogar sol che, bei denen man nicht gezwungen war, ein Boot zu benützen. Iris hatte sich aber nicht die Mühe gemacht, danach zu suchen oder bei Einheimi schen darüber Erkundigungen ein zuziehen. Das hätte keinen Sinn ge habt. Die Zeit war zu knapp. Lieber nahm sie die Mühe mit dem Boot auf sich. Es herrschte eine lange Dünung. Immer wieder zog sie das Schlauch boot ins Meer hinein, um es eine kur ze Weile später wieder sanft an die Küste zurücktreiben zu lassen. Iris ruderte aus Leibeskräften. Doch das plumpe Boot kam nur langsam vor wärts. Fast eine ganze Stunde dauerte die elende Plackerei. Iris war am ganzen Körper klatschnaß. Ihre Arm- und Rückenmuskeln waren vor Anstren gung fast gefühllos geworden. Wieder rollte die Dünung auf das felsige Ufer zu. Jetzt galt es aufzu passen. Es war nicht einfach, hier an Land zu gehen. Wenn sie nicht acht gab, dann wurde das Boot wieder ins Meer zurückgetragen. Schäumend brach sich die Welle an den Felsen und übersprühte sie über
und über mit weißem Gischt. Iris wartete den richtigen Moment ab und sprang dann über Bord. Die Bootsleine hatte sie sich um ihr Handgelenk geschlungen. Das Was ser reichte ihr nur wenig über die Knie. Trotzdem mußte sie kämpfen. Die zurückströmende Flut zog so stark an ihr, daß sie alle Kraft auf bieten mußte, um nicht umgerissen zu werden. Doch dann kam die nächste Welle. Sie schlug über ihrem Kopf zusam men und riß sie mit dem Boot nach vorn. Halb blind, eingehüllt in eine Wolke von weißem Gischt, stolperte sie weiter. Und dann hatte sie es endlich ge schafft. Hustend und spuckend tau melte sie die Böschung nach oben. Sie blickte um sich. Schon nach kur zer Zeit hatte sie gefunden, was sie suchte. Halblinks von ihr standen zwei Felsen so nahe beieinander, daß sich durch die dazwischenliegende Spalte gerade ein Mensch hindurch zwängen konnte. Wenn sie das Boot dazwischenklemmte und es außer dem noch gut vertäute, dann war es erstens gegen Sicht geschützt und konnte zweitens von den Wellen nicht erfaßt und aufs offene Meer getragen werden. Bevor Iris das Boot verstaute, zog sie sich um. Die in dem Beutel ver packten Kleider waren trocken ge blieben. Die erst vor wenigen Stun den gekaufte derbe Hose und das nicht minder strapazierfähige bunt gemusterte Hemd waren für ihr Vorhaben gerade das richtige. Die dicken Lederstiefel hatten Profil sohlen. Sie würden ihr einen guten Halt geben. Jetzt lagen die Klippen links von ihr. Aber auch hier war es steil. Si cher, man brauchte keine Bergstei gerausrüstung, um auf die Hochflä che zu kommen, aber der Weg nach
50 oben würde nicht einfach sein. Ein Schauder erfaßte Iris bei dem An blick. Wo sie auch hinsah, es gab nichts als weißlichgraue, wie ver brannt aussehende Erde und Felsen. Felsen jeder Größe und jeder Ge stalt. Manche sahen wie abgeschlif fen aus, andere wirkten bizarr. Doch das war es nicht, was Iris hat te erschauern lassen. Es war viel mehr das Gefühl der Trostlosigkeit, das über dieser Szenerie wie ein dunkles Tuch ausgebreitet lag. Still war es hier, grenzenlos still, wenn man von dem Brausen des Wassers absah. Iris horchte. Nein, auch Vo gelstimmen hörte sie nicht. Gab es hier überhaupt etwas, was lebte? Jetzt kam es darauf an, möglichst schnell die Aufgabe hinter sich zu bringen. Sie legte sich den Tragrie men ihrer Kamera so um den Hals, daß er nicht drückte, und marschier te vorwärts. Nach ihrer Schätzung würde sie mindestens, eine, wenn nicht sogar zwei Stunden für den beschwerlichen Weg brauchen. Nach einer Stunde hatte Iris das größte Stück geschafft. Vor ihr lag nur noch ein dichtes bandförmiges Gewirr steiler Felsen. Sie bestanden aus weißem Kalkstein und besaßen eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Gebiß eines prähistorischen Sau riers. Bis sie die Felsen hinter sich hatte, würde sie nochmals eine halbe Stunde benötigen, schätzte Iris. Sie seufzte leise auf. Der Durst quälte sie zunehmend. Wahrscheinlich war das Salzwasser daran schuld, das sie beim Weg durch die Brandung hatte schlucken müssen. Kleine Steinchen knirschten unter ihren Füßen. Das waren auch die einzigen Laute in dieser beklemmen den Einöde. Iris schaute zum Him mel. Die Wolken hatten sich noch weiter verdichtet, waren von blei grauer Fräbung. Sie bewegten sich
nicht, sondern standen regungslos am Himmel. Es herrschte vollkom mene Windstille. Je mehr sich das Felsband näherte, um so mehr verstärkte sich in Iris das unbehagliche Gefühl. Wie eine Grenze sah das Band aus, dachte die Reporterin. Abschreckend und dro hend. Und was war das? Obwohl es nicht heiß war, schien die Luft an. dieser Grenze zu flimmern. Iris schaute genauer hin. Ja, ihre Augen hatten richtig gesehen. Die Luft flimmerte! Genauso wie erhitzte Luft, die nach oben steigt und da durch die Konturen der dahinterlie genden Gegenstände verwischt. Aber wie konnte das möglich sein? Es war kühl, beinahe kalt Ihre Beob achtung war, physikalisch gesehen, unmöglich. Wieder griff der Schauder nach Iris. Sie schluckte. Konnte es sein, daß sich tatsächlich hier etwas ver barg - etwas Dunkles, Unheimli ches? Für einen Augenblick ging die Phantasie mit Iris durch. Sie mußte an die vielen Berichte der vergangenen Jahre denken, die sich mit fliegenden Untertassen befaßt hatten. Konnte es sein, daß ... Die Reporterin dachte diesen Ge danken nicht zu Ende. Sie kam gar nicht mehr dazu. Sie war während ihres geistigen Monologs nicht ste hengeblieben, sondern automatisch weitergelaufen. Das rätselhafte Flimmern war nur noch wenige Yard von ihr entfernt, als sie um ei nen spitzen Felsen bog. Dicht dane ben stand ein anderer Felsen. Iris ging durch die Spalte. Sie mußte da bei höllisch aufpassen, daß sie nicht stürzte. Der Boden war gerade an dieser Stelle von vielen schmalen und breiteren Rissen durchzogen. Gerade hatte sie wieder eine Bo denspalte übersprungen, als sie das
Bein des Mannes sah. Ein gezackter Felsvorsprung verdeckte den übri gen Körper. Der Fuß steckte in ei nem Militärstiefel. Iris fühlte plötzlich einen eisigen Klumpen in ihrer Magengegend. Ihr Herz fing wie verrückt an zu trom meln, gleichzeitig fühlte sie eine läh mende Schwäche in sich hochstei gen. Das Blut brauste in ihren Ohren. Es dauerte länger als eine Minute, bis sie sich endlich überwunden hat te und um den Felsvorsprung herum weiterging. Was sie jetzt sah, war geeignet, selbst sie, der hartgesottenen Repor terin des DAILY MIRROR, das Grauen zu lehren. Es gab dieses eine Bein - und ein anderes, angewinkeltes. Sonst gab es nichts mehr, keine Fortsetzung des übrigen Körpers - keinen Rumpf und erst recht nicht einen Schädel. Wo sie hätten sein sollen, war nur weißlichgraue Asche zu erkennen. Ihre Konturen entsprachen den Um rissen eines menschlichen Leibes. Der Anblick war derart, daß Iris wie gelähmt stehenblieb. Einen Au genblick lang war sie versucht, an ei ne Sinnestäuschung zu glauben. Aber dieser Gedanke verschwand schon nach wenigen Sekunden, als sich nichts änderte. Die junge Frau stützte sich schwer atmend gegen den überhängenden Fels. Übelkeit stieg in ihr hoch. Minutenlang blieb sie in dieser Stellung. Sie glich mehr einer leblo sen Statue als einem lebendigen Menschen. Erst jetzt, in diesem Au genblick, empfand sie, wie einfältig ihr Vorhaben eigentlich war. Dum mer Ehrgeiz hatte sie zu diesem Ent schluß getrieben, und der Ärger über Cliff. Sie wollte es ihm zeigen. Mein Gott, wie idiotisch von ihr! Jetzt be kam sie die Quittung für ihr kindi sches Verhalten. Denn jetzt, das
51 fühlte Iris genau, jetzt wurde es ernst. In diesem flüchtigen Augenblick machte sie eine neue Entdeckung. Sie betraf das schon von ihr beobachtete Flimmern der Luft. Es durchschnitt den vor ihr liegenden, grausig zuge richteten Körper genau an der Tren nungslinie zwischen unverbranntem und verbranntem Körper. Wie ein Messer schnitt es hindurch. Ohne sich über ihr Tun im klaren zu sein, bückte sich die Reporterin und griff nach einem Steinchen und warf es nach vorn. Sie keuchte auf, als sie das Unbe greifliche sah - kaum war der. Stein durch das Flimmern hindurch, als seine Geschwindigkeit jäh aufgehal ten wurde und er auf den Boden plumpste. Wieder nahm Iris einen kleinen Stein hoch. Diesmal warf sie ihn mit aller Kraft. Auch er wurde aufgehal ten, ohne jedoch seine Geschwindig keit völlig zu verlieren. Dazu war wohl der Schwung zu groß gewesen. Er flog also weiter, wenn auch we sentlich langsamer. Und dann pas sierte das Unglaubliche: Der Stein verschwand, als hätte es ihn nie ge geben. Das seelische Tief hatte Iris inzwi schen verlassen. Ihr Verstand über nahm wieder die Oberhand und ver trieb die letzten depressiven Ge fühlsreste. Jetzt war sie wieder die kühl analysierende Reporterin. Und kaum war das geschehen, als ihr ein neuer, unerklärlicher Um stand auffiel. Die Leiche vor ihr war bis unter das Becken verbrannt. So verbrannt, daß auch die Knochen durch die Hitze zerfallen waren. Es mußte eine blitzartige Hitzeent wicklung gewesen sein, denn sonst wäre die Trennungslinie nicht wie mit einem Rasiermesser geschnitten. Wahrscheinlich, nein mit Sicherheit
52 war der Mann arglos in das Flim merfeld hineingelaufen, zwar nicht mit seinem gesamten Körper, denn dann wären die Beine nicht ver schont geblieben. Das war also klar. Aber was war mit den beiden Steinen? Warum glühten sie unter der Hitze nicht auf? Wurden vielleicht nur organische Stoffe von ihr ergriffen? Und was war mit dem zweiten Stein? Wieso war er plötzlich verschwunden? Was sollte sie tun? Weitergehen konnte sie nicht. Sie hatte kein Inter esse, auf ähnliche Weise zu enden wie der Mann, dessen toter Körper zu ih ren Füßen lag. Doch Iris brauchte nicht lange zu überlegen. Schließlich gab es doch nur eine Möglichkeit. Und die hieß: sofort zurück! Sie würde alles dar ansetzen, die verantwortlichen Män ner zu zwingen, sich selbst zu über zeugen. Ihr war jetzt klar, daß die beiden Hubschrauberpiloten durch aus nicht wirr im Kopf gewesen wa ren, als sie ihre Beobachtung ge macht hatten. O nein, jetzt wußte Iris Carrington, daß sie die Wirklichkeit gesehen hatten. Eine Wirklichkeit, die sich hinter einer perfekten Tar nung verbarg. Und die sogar imstan de war, sich wirksam zu schützen. Vorsichtig ging Iris zurück. Wenn sie doch nur schon wieder in Thurso wäre! Was Cliff nur zu ihrem Erleb nis sagen würde? Und dann dieser seltsame Arzt, der - erst jetzt fiel es ihr auf - so bemüht gewesen war, die Neugier in ihr zu steigern. Eigentlich war er daran schuld, daß sie sich auf den Weg gemacht hatte. Ein neuerli cher Gefühlsumschwung fand in ihr statt. Es war doch gut gewesen, daß sie nach hier gekommen war. Wer hätte sonst diesen grausigen Fund gemacht? Abgesehen von der Ent deckung, daß anorganische Materie nicht von der Hitze erfaßt wurde,
wenn sie mit dem geheimnisvollen Flimmerfeld in Berührung kam. Daß sie sogar verschwand, als gäbe es ein Loch in der Luft. Dieses Bewußtsein gab Iris neue Kraft. Die Beklemmung fiel von ihr ab. Was sich auch immer auf der Hochfläche verbarg, bald würde es entdeckt werden. Und sie, die Repor terin Iris Carrington, würde es sein, die den Anstoß dazu gab. Iris war so in diesen Gedanken vertieft, daß sie nicht auf die Spalte achtete, die sich gähnend vor ihr auf tat. Iris stieß einen gellenden Schrei aus, als ihr Körper stürzte. Instinktiv schossen ihre Arme nach vorn, grif fen nach dem Fels. Sie bekam ihn zu fassen, versuchte, sich mit ihren Fin gern an den Stein zu krallen. Den brennenden Schmerz beim Abrieb ihrer Haut spürte sie nicht. In solchen Augenblicken beherrscht der Selbsterhaltungstrieb alle Funk tionen und Empfindungen des Kör pers. Das Loch war an die zwanzig Fuß tief, doch Iris hatte es ihren Händen zu verdanken, daß der Sturz ver langsamt wurde. Der Aufprall war aber immer noch so wuchtig, daß die Reporterin minutenlang halb be täubt auf dem Boden lag. Entschei dend war weiterhin, daß der Boden hier unten mit einer dicken weichen Sandschicht bedeckt war. Der Sturz wurde abgefedert, und die Knochen blieben heil. Nur langsam ließ das Dröhnen in ihrem Kopf nach. Auch das Denk vermögen benötigte eine geraume Zeit, um sich wieder zu stabilisieren. Sie stöhnte dumpf auf und versuch te, sich zu erheben. Hoffentlich war nichts gebrochen, dachte sie voller Furcht. Niemand würde sie hier unten finden. Ein unendlich qualvoller Tod wäre die
53 unausweichliche Folge. Es gab kaum eine Stelle ihres Kör pers, die nicht schmerzte. Doch Iris biß die Zähne zusammen. Selbstmit leid und Jammern halfen ihr nicht weiter. Jetzt mußte sich zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Kurz darauf stand sie. Zwar noch schwankend und vor Schmerzen stöhnend, aber immerhin, sie stand. Und dann war endlich auch das Feuerwerk in ihren Augen zu Ende. Schattenhafte Umrisse zeigten sich. Das hier unten annähernd kreis runde Loch hatte einen Durchmesser von vielleicht fünfzehn Fuß. Das von oben einfallende Licht schaffte eine dämmrige Beleuchtung. Iris' Augen saugten sich an der Felswand fest, tasteten jeden Qua dratzoll sorgfältig ab. Irgendwie mußte sie ja wieder an die Oberflä che kommen. Doch je mehr Iris Ausschau hielt, um so mehr mußte sie erkennen, daß es selbst der geübteste Bergsteiger nicht schaffen würde, ohne Ausrü stung nach oben zu gelangen. Gewiß, die Wände waren uneben, das hatte ihren Sturz ja auch gemildert, aber diese Unebenheiten waren viel zu gering, um den Füßen einen Halt bie ten zu können. Die Reporterin wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Ihr Todesur teil. Sie würde hier langsam aber si cher verschmachten müssen. Iris' Verstand weigerte sich zu nächst gegen die Erkenntnis. Ausge schlossen, daß hier das Ende, der Tod, auf sie lauerte. Die Zeit verrann. Sekunden wur den zu Minuten und Minuten zu Stunden. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Das auf dem Grund des Lo ches herrschende Zwielicht wurde allmählich zur Finsternis. In Iris erwachte ein eisiges Gefühl. Ein Gefühl zunehmender Angst. Sie
schaltete ihren Verstand ein, ver suchte, sich dieser Angst zu erweh ren. Sicher würde bald Hilfe kom men. Vielleicht konnte der Arzt, die ser Murray, der Suchmannschaft wertvolle Hinweise geben, denn er würde sicher ahnen, wohin sie ihr Weg geführt hatte. Dieser Gedanke verschaffte Iris nur wenige Minuten Erleichterung. Denn derselbe Verstand, der sich eben noch diese Möglichkeit ausge dacht hatte, war jetzt emsig dabei, die Wahrscheinlichkeit dafür zu überprüfen. Das Ergebnis war nie derschmetternd. Noch nicht einmal eins zu tausend dafür, daß man sie hier fand. Die Zeit verging weiter. Der Him mel war ganz dunkel geworden. Und dann begann es zu regnen. Es war der reinste Platzregen. Gleichzeitig wurde es empfindlich kühl. Iris war im Nu vollkommen durch näßt. Unwillkürlich tastete sie sich am Fels entlang, um den besten Standort zu finden. Aber die vom Himmel herunterrauschenden Was serfluten erreichten sie überall. Doch dann, in einem Augenblick allerhöchster Verlassenheit, regi strierte ihr Körper etwas, was es hier unten unmöglich geben durfte: einen Luftzug. Iris dachte zuerst, er käme von oben, denn ihre Ohren hörten das Orgeln des Windes. Ein heftiger Sturm schien ausgebrochen zu sein. Sie hob den Arm, um die Quelle des Luftzuges zu ermitteln. Aber dicht über ihrem Kopf herrschte völlige Windstille. Der Luftzug war nur in der Höhe ihres Oberkörpers zu spü ren. Er war auch nicht heftig, son dern glich mehr einem sanften Fä cheln. In der Reporterin blitzte eine Idee auf. Plötzlich erinnerte sie sich, daß sie eine kleine, aber starke Taschen lampe mit sich führte.
54 Sie zog sie aus der Hosentasche und knipste sie an. Der Lichtkegel wan derte über die trief nassen Wände ih res Gefängnisses. Obwohl die Lampe selbst noch gar nichts zu besagen hatte, ihr Licht er füllte Iris mit Trost und Zuversicht. Sie wußte nicht, warum das so war, denn der Luftzug allein bedeutete noch keine Rettung. Es war denkbar, daß er aus einer winzigen Spalte kam, die Verbindung zur Oberfläche hatte. Woher also mochte der Luftzug kommen? Iris rutschte ein wenig in dem nassen Sand. Die Lampe, bezie hungsweise ihr Lichtkegel, rutschte mit, zeigte auf eine andere Stelle des Felsens. Nur diesem Zufall war es zu ver danken, daß Iris' Augen eine wahr haft entscheidende Entdeckung machten. Eine heiße Woge stieg in ihr hoch und vertrieb die Kälte. Sie schluckte. Und dann scheute sie sich, zu der gegenüberliegenden Wand zu gehen. Sie hatte Angst davor, daß sich ihre Hoffnung als Seifenblase entpuppte. „O nein!" flüsterte sie inbrünstig. „O nein, bitte nicht!" Sie faßte sich schließlich ein Herz und ging mit kleinen, zögernden Schritten auf die Wand zu und blieb davor stehen. Und dann sah sie, daß ihre Augen sie nicht getäuscht hatten. Ungefähr sechs Fuß über dem Erdboden blick te sie in einen Spalt hinein. Nur aus ihrer jetzigen Perspektive war er zu erkennen, denn er wurde von einer seitlich vorspringenden Felsplatte fast völlig verdeckt. Dahinter ver barg sich die dreieckige Spalte. Iris hob den Arm und leuchtete mit dem Strahl ihrer Taschenlampe in die dunkle Öffnung. Er traf auf Felsen, die ähnlich aussahen wie hier unten. Der Gedanke, der Iris' Gehirn
durchzuckte, war klar. Sie mußte versuchen, in diese Spalte zu gelan gen. Sie war zwar nicht besonders groß, aber kriechend mochte es ge hen. Immerhin, der Luftzug kam von dort her. Die Spalte mußte also eine Verbindung zur Oberfläche haben. Iris konnte nur darauf hoffen, daß sie groß genug war für ihren Körper. Aber das Hineinkommen war nicht einfach. Es gelang ihr auch nur deshalb, weil die Felsplatte vor der Spalte ihren Fingern genügend Halt bot. Mühsam zog sie sich hoch, wobei sie mit den Füßen nach winzigen Er hebungen in der Wand suchte. Die Taschenlampe hatte sie sich in den . Mund gesteckt. Einen Augenblick lang schienen ihre Kräfte nicht zu reichen, um sich hochzustemmen. Doch die Verzweif lung mobilisierte das letzte Quent chen Energie in ihr. Und dann hatte sie es geschafft. Ihr Oberkörper ragte bereits in die Spal te hinein. Ihre Hände, sie waren blutverschmiert, griffen nach vorn, während ihre Füße nachhalfen. Langsam, doch stetig schob sie sich weiter. Die Höhle zog in einem Win kel von ungefähr zwanzig bis dreißig Grad nach oben. Allmählich wurde der Luftzug stärker, ein Beweis da für, daß Iris sich dem Ende des Ein schnitts näherte. Die Reporterin blieb für einen Au genblick ruhig liegen. Sie versuchte, sich zu sammeln - aber sie konnte es nicht. Wer hätte es auch in diesem Moment tun können? Denn eines war klar - wenn die vor ihr liegende Öffnung zu klein war, um ihren Kör per durchzulassen, dann war sie ver loren. Dann war ihr bestimmt, so lange in ihrer jetzigen Lage zu ver harren, bis der Tod eintrat. Zurück in das Loch konnte sie nicht mehr. Iris verbannte diesen schreckli chen Gedanken aus ihrem Bewußt
55 sein und schob sich schneller nach dem Einschnitt, dann ihre Schultern, vorn. Sie setzte dazu ihre letzten endlich ihre Hüften, schließlich ihre Kraftreserven ein. Ihre Psyche hielt Beine. Iris hatte es geschafft, sie war die furchtbare Belastung nicht mehr wieder frei! lange aus. Iris wollte Gewißheit, Wie ein leuchtender Blitz schoß endlich Gewißheit. diese Erkenntnis durch ihr Gehirn. Wieder griff ihr Arm nach vorn, Sofort kam die Reaktion. Iris spürte wieder suchten ihre abgeschürften plötzlich ihren Körper nicht mehr. Finger einen neuen Angriffspunkt, Sie hatte das Empfinden, von einer dunklen, alles verschlingenden Woge sich weiterschieben zu können. Und dann passierte es - während ergriffen und fortgetragen zu wer eines hastigen Atemzuges. Ihre stra den. Und dann, von einem Augen pazierten Lungen gierten nach Luft. blick zum anderen, erlosch das Den Iris' Mund öffnete sich. Ein schep ken in ihr. perndes Geräusch drang durch die Stille, als die Taschenlampe aus ih rem Mund fiel und auf dem stark ge neigten felsigen Untergrund sofort ins Rutschen geriet. Die Hand der Reporterin fuhr zurück, um nach der Lampe zu greifen. Doch ihre Finger waren durch die Anstrengung be reits gefühllos geworden. Sie stießen Uromazda erwachte aus seiner an die Lampe, anstatt sie zu um Ruhephase. schließen. Sekunden später hörte Er war sofort hellwach. Es war so Iris einen blechernen Ton - die Ta weit, sang es triumphierend in ihm. schenlampe war in das Loch hinein Heute war der Tag gekommen, an gefallen. Dunkelheit legte sich wie dem er, Uromazda, die Erde in ein ein dickes Tuch über die Frau. neues Zeitalter führen würde. In ei Iris war wie betäubt. Dieser Zu nes, das schon seit Äonen versunken stand betraf ihren Geist, aber nicht war und das in wenigen Stunden aus ihren Körper. Dieser schob sich un dem Schutt der Jahrmillionen wie der auftauchen würde. Alles, was aufhaltsam weiter voran. Ihre Hand suchte nach einem neu sich dazwischen ereignet hatte - von en Halt, um sich ein weiteres Stück damals bis zum heutigen Tag - wür nach vorn schieben zu können. Der de zu Nebel werden, sich verflüchti Luftstrom verstärkte sich weiter. gen - als habe es nie existiert. Herrgott! Wie lange mußte sie noch Und dann - Uromazdas Augen auf die Entscheidung warten? glühten in einem überwältigenden Kaum hatte sie diesen Gedanken Feuer - dann würde es nur noch Lu gedacht, als ihre andere Hand ins raner auf der Erde geben. Luraner, Leere griff. Sie fuhr nach unten und die ihm Untertan waren und in ihrer anschließend nach oben - der Höh geistigen Entwicklung von ihm ge steuert wurden. Diese Erde würde zu lenanfang war erreicht. Iris keuchte laut. Ihr armer, ge einer Brutstätte eines neuen Men schundener Körper aktivierte die schen werden. Eines Menschen, der letzten Energiereste. Wieder ein allein die Dunklen Götter anerkann Ruck - und noch einer - und wieder te. einer. Erst schob sich der Kopf aus Uromazda verscheuchte diese Ge
56 danken. Warum sollte er Zeit verlie ren? Um jede Minute war es schade. Im Gegensatz zu anderen dämo nisch-magischen Handlungen, die nach einer strengen Regel genau um Mitternacht stattfinden müssen, war der Zeitpunkt für Uromazdas Vor haben um Punkt zwölf Uhr mittags. Uromazda schlüpfte in ein neues Gewand. Es besaß eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Kaftan. Das lange, bis auf den Erdboden reichen de Obergewand war über und über mit phantastischen Zeichen verse hen, die Buchstaben glichen. Zwi schen diesen Zeichen waren blutrote und tiefschwarze Flecken zu erken nen. In ihnen waberte und wallte es. Was Uromazda da trug, war keine Kleidung im eigentlichen Sinn. Uro mazdas Gewand war ein Produkt seines Geistes. Materialisierte dämo nische Energie, wenn man so will. Zu einem Muster verwoben, das in sich alle Möglichkeiten dämonischer Ma gie vereinte. Es war also weit mehr als ein bloßes Gewand, war auch mehr als ein Werkzeug - es war eine Art magischer Brunnen, aus dem Uromazda schöpfen konnte. Mit sei nen magischen Formeln als Schöpf kelle. Der letzte König der Luraner machte sich auf den Weg. Er hatte nicht lange zu gehen, nur bis zu der rotgeflammten Marmorsäule im Mittelpunkt des großen Gevierts. Plötzlich verdunkelte sich die Son ne. Sie verschwand nicht hinter ei ner Wolke, verlor nicht deshalb ihren Schein - der Sonnenball selbst ver dunkelte sich, so, als wollte er erlö schen. Die Tierwelt reagierte ebenfalls. Vögel suchten ihre Nester auf, Raub tiere ließen ab von ihrer Jagd und versteckten sich. Selbst der Wind hörte auf zu we hen. Nicht nur hier oben im nörd
lichsten Teil Schottlands, nein, über all auf der Welt. Die Wolken am Himmel hielten an in ihrer Fahrt. Jeder Schritt Uromazdas glich ei nem gewaltigen Gongschlag. Und je mehr er sich seinem Ziel näherte, um so lauter wurden die Töne und um so angstvoller duckte sich die Natur. Der König der Luraner empfand diese mehr und mehr sich verstär kende Aura der Angst wie ein erfri schendes Bad. Und dann stand Uromazda vor der sich nach oben verbreiternden Mar morsäule. Er legte seine linke Hand auf eine bestimmte Stelle des Steins. Kaum hatte er das getan, als sich in dem Marmor eine mannshohe Öff nung auftat. In dem Dunkel dahinter zeigte sich eine Wendeltreppe. Der König schritt hinein. Sofort verschloß sich die Tür. Wenig später wurde Uromazda wieder sichtbar. Er stand jetzt auf der Plattform - genau vor dem schwarzen Vierkant. Mit diesem Stein hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. In ihm war die überwältigende geistige Energie einer ganzen Rasse gespeichert. Die Kraft von Geschöpfen, die bereits vor Millionen Jahren dicht davor ge standen hatten, den Kosmos zu be herrschen. Und jetzt schickte sich Uromazda an, diese titanischen Kräfte zu akti vieren, ihren Millionen Jahre wäh renden Schlaf zu beenden. Die kleine schwarze Scheibe in sei ner Stirnmitte half ihm dabei. Sie war ein Teil des goldenen Reifs, der sich ihm um das Haupt schlang als Zeichen seines Königtums. In diesem „Dritten Auge" würden sich in weni gen Augenblicken die gesamten gei stigen Energien Uromazdas wie im Brennpunkt einer Linse konzentrie ren. War dieser Moment erreicht, dann kam es zur magischen Verbin dung mit dem schwarzen Block.
57 Der Blick des Königs schweifte kurz über die Tempelsäuleh und die Bäume hinweg, verlor sich am Hori zont. Ein Horizont, der bald ganz an ders aussehen würde. Da, wo jetzt die Brandungswellen an den Klippen nagten, erstreckte sich dann eine weite Savanne. Uromazda drehte sich um, blickte über die öde, trostlo se Felslandschaft. Auch sie ver schwand bald im Abgrund der Zeit, um einer anderen, strotzenden Ur waldlandschaft Platz zu machen. Riesige, heute unbekannte Bäume reckten sich dann in den heißen Himmel. Ein Urwald, bis zum Ber sten angefüllt mit wildem, bestien haften Leben. Und hier, zwischen Urwald und Savanne, stand das geistig-magische Zentrum Lurans, der ersten mensch lichen Rasse auf der Erde. Uromazda blickte auf die Sonne. Jetzt, in diesem Augenblick, hatte sie den Zenit ihrer Bahn erreicht. Das dämonische Ungeheuer konzentrier te sich. Von einem Augenblick zum anderen wurden die dunkelrot glü henden Augen blicklos, kehrten sich nach innen. Minutenlang geschah nichts. Der König stand vor dem Block, wirkte nicht mehr wie ein lebendiges Wesen, sondern wie ein in Stein gehauenes Monument. Nur die schwarze Schei be in seiner Stirnmitte zeigte Leben. In ihr wogte und wallte es. Und dann, unvermittelt, trat die Schwärze aus der Scheibe heraus wie ein dünner Nebel. Der Nebel ver dichtete sich, wurde immer kompak ter, erhielt mehr und mehr das Aus sehen einer festen Substanz. Es sah aus, als ob die Scheibe immer dicker würde. Der magische Prozeß hatte eine Ausstrahlung unbeschreiblicher Wildheit. Gierige Erwartung und sa tanische Dämonie waren ihre Kom
ponenten. Die immer noch wachsen de und sich auf den schwarzen Block zubewegende schwarze Säule pen delte leicht hin und her wie der zum Zustoßen bereite Leib einer Viper. Immer noch stand Uromazda in tiefer Versenkung auf seinem Platz. Sein Geist war in Kontakt mit den finsteren Wesenheiten des dämoni schen Kontinuums. Die ganze darin enthaltene Kraft floß jetzt in den Körper des Königs und von ihm in die schwarze Scheibe. Uromazda diente als eine Art Stromschiene, als Verbindung zwischen diesem Kos mos und einem anderen Raum. Ei nem Universum der Dämonie. Der aus der Scheibe herauswach sende Tentakel war nur noch wenige Zoll von seinem Ziel entfernt. Über der Oberfläche des Blocks huschte eine Art Flirren. Es ähnelte dem Kräuseln einer bisher spiegelglatten Wasseroberfläche, wenn ein plötzli cher Windstoß darüberfährt. Die Spitze des Tentakels zitterte, schien sich aus dem schwarzen „Ma terial" herauslösen zu wollen, um endlich die Verbindung herstellen zu können. Ungeduldig ruckte und zuck te es in ihr. Der dämonische Wachstumspro zeß ging schneller voran. Immer kleiner wurde der Abstand. Und je näher sich die magische Brücke auf ihr Ziel zuschob, um so heftiger wur den die Bewegungen der aus der schwarzen Scheibe herauswachsen den schwarzen Substanz. Jetzt war es soweit! Die Verbin dung war geschaffen. Der Tentakel erstarrte zur Reglosigkeit, schien auf etwas zu warten. Und genau in dieser Sekunde er wachte Uromazda. Seine Augäpfel rollten zurück, nahmen wieder die normale Stellung ein. Ein tiefer Atemzug hob die dämonische Brust. Ein Atemzug bösartigster Freude.
58 Es war soweit. Jetzt stand Uro mazda die geistige Potenz einer ganzen Rasse zur Verfügung und da zu die Energien aller dämonischen Wesenheiten des Kosmos. Jetzt galt es nur noch, diese titanischen Ener gien richtig einzusetzen, sie auf einen ganz bestimmten Punkt zu lenken, um die gewünschte Wirkung zu er zielen. Doch das war für Uromazda eine Kleinigkeit. Die Hauptschwierigkeit war die Schaffung der magischen Brücke gewesen. Sie war die not wendige Bedingung für den wahr haft ungeheuerlichen Plan, den Kos mos an der Stelle, wo sich die Erde befand, zu verändern. Die magischen Formeln, die der König jetzt sprechen mußte, nahmen mehrere Stunden in Anspruch. Und das konnte auch nicht anders sein, wenn mit ihrer. Hilfe ein ganzer Pla net in die Vergangenheit gestürzt werden sollte. Diese Formeln gliederten sich in bestimmte Gruppen und Untergrup pen. Die Reihenfolge mußte streng gewahrt werden, wenn man keinen Fehlschlag riskieren wollte. Hierbei half Uromazda das magische Ge wand. Es wirkte wie ein Sugge stionsapparat und vermittelte ihm je de einzelne Zeile der zum Teil schwierigen, weil unverständlichen Formeln direkt in sein Gehirn hin ein. Auch die phänomenalen geisti gen Fähigkeiten dieses Geschöpfs hätten nie und nimmer ausgereicht, dies aus eigener Kraft tun zu können. Bei allen magischen Prozeduren gibt es ähnliche Hemmnisse, die von Stu fe zu Stufe schwieriger werden. Schwellen, mit Absicht geschaffen, um Vorwitzigen den Eintritt in diese Räume unmöglich zu machen. Nur Eingeweihten steht der Zutritt offen. Hier verhalten sich Schwarze und Weiße Magie durchaus gleich.
Uromazda begann mit der ersten Formel. Kaum hatte er das erste Wort gesprochen, als sich ein leichter Schatten vor den Sonnenball legte. Es war keine Wolke oder hochstei gender Qualm. Dieser Schatten war nicht physikalisch zu erklären, denn er war der Widerschein des schwar zen Feuers aus dämonischer Unter welt. Langsam, doch stetig wie ein Uhr werk, zog der Wärme und Licht spendende Himmelskörper seine Bahn am Himmel. Doch je mehr er sich dem Zenit entfernte, um so mehr nahm das Dunkel zu. Und das tat es nicht nur an dieser Stelle. Überall war diese Erscheinung zu erkennen. Der Himmel verlor seine Bläue, wur de allmählich grau. Auf der ganzen Erde war diese Er scheinung zu sehen. Auch dort, wo finstere Nacht herrschte. Die Sterne wurden blasser, verloren ihren fun kelnden Glanz. Das fahle, bleiche Licht des Mondes verdunkelte sich ebenfalls, wurde zu einer nur noch schwach glänzenden Scheibe, deren Schein immer weiter abnahm. Die Tiere reagierten in panischer Furcht. Argentiniens riesige Rinder herden setzten sich innerhalb weni ger Minuten immer wilder in Bewe gung. Sie rannten alles nieder, Zäu ne, Menschen, ja sogar feste Häuser. Vögel schwirrten angstvoll durch die Luft, wußten nicht, wo sie sich verstecken sollten. Die Menschen in den Ländern, in denen die Nacht herrschte, wachten auf. Sie wußten nicht warum. Sie fühlten nur, daß ihnen Gefahr droh te. Sie fühlten es nicht nur aufgrund ihrer eigenen Unruhe, sondern auch am Verhalten ihrer Haustiere, die sich völlig ungewohnt benahmen. Selbst die Pflanzen wurden von dieser Untergangsstimmung erfaßt. Blüten starben ab, als hätte sie star
59 ker Frost getroffen. Bäume warfen ihre Früchte ab und falteten ihre Blätter zusammen. Und noch etwas passierte. Nicht in anderen Teilen der Welt, sondern am Ort des dämonischen Geschehens. Konturen zeigten sich plötzlich dort, wo früher nie welche waren. Umrisse fremdartiger Häuser und anderer Bauten. Gleichzeitig begann die bisherige reale Wirklichkeit zu verschwimmen, auf seltsame Art durchsichtig zu werden. Und je weiter Uromazda mit sei nem dämonischen Zauber kam, um so mehr schritt dieser Prozeß voran. Immer mehr verstärkte sich dabei das ekstatische Leuchten in den Au gen des Wesens, das im Begriff war, einen Zeitraum von vielen Millionen Jahren auszulöschen. Die letzte Gruppe der magischen Formeln war an der Reihe. War sie beendet, dann war auch das Werk vollbracht. Endgültig vollbracht. Das Licht hatte sich noch weiter abgeschwächt. Die Sonne schien sich hinter einem immer dichter werden den Vorhang zu verstecken. Es be gann schon zu dämmern, obwohl es erst früher Nachmittag war. Und jetzt begann Uromazda damit, laut zu sprechen. Mit hoch erhobe nem Haupt schleuderte er den Strom dunkler Worte in den sterbenden Himmel. Wer ihn so sehen würde, der müßte den Eindruck gewinnen, der Leibhaftige selbst stünde dort - die zur Person gewordene Verdichtung alles Bösen in diesem Universum. Satan, der sich anschickte, diese Welt in Besitz zu nehmen.
Genau in dem Augenblick, als Uro mazda mit seiner Beschwörung be gann, erwachte Iris aus ihrer Be wußtlosigkeit. Ihre Augen öffneten sich. Wenige Sekunden lang war ihr Blick verständnislos. Sie lag auf dem Boden. Und dieser Boden war kein weiches, bequemes Bett, sondern harter Fels. Mit einem leisen Wehlaut richtete sie sich auf. Ihr Rücken schmerzte schier unerträglich. Sie fühlte sich wie gerädert. Doch dann kehrte die Erinnerung zurück. Die Fahrt mit dem Schlauch boot - die verkohlte Leiche - das ge heimnisvolle Flirren - der Sturz in das Loch und wie sie sich daraus hat te befreien können. Iris blickte auf ihre Armbanduhr. Gott sei Dank hatte sie keinen Scha den genommen. Es war eine Digital uhr. Gerade war eine neue Minute abgelaufen. Die Reporterin blickte ungläubig auf die Zahlen. Erst eine Viertel stunde nach zwölf? Iris wandte ihre Augen ab, richtete sie zum Himmel. Tatsächlich, es stimmte. Die Sonne war nur wenig von ihrem höchsten Punkt entfernt. Eigenartig, für diese Tageszeit hätte es heller sein müssen. Doch Iris dachte nicht weiter dar über nach. Statt dessen drehte sie sich um. Sie tat es aus einem unbe stimmten Gefühl heraus. Es gibt Minuten, in denen man glaubt, der Verstand spiele einem ei nen Streich. Man ist fest davon über zeugt, Opfer einer Fata Morgana zu sein. Wenn sich aber später heraus stellt, daß dieser Glaube falsch war, daß sich die Fata Morgana als reale Wirklichkeit entpuppt, dann ist man meistens der Überzeugung, Opfer ei nes mehr oder weniger wundersa men Zufalls geworden zu sein. So auch bei Iris Carrington. Der Anblick raubte ihr die Fassung. Der
60 Tempel - die hochragende Marmor säule mit dem altarähnlichen Block genau so hatten die Piloten des Hub schraubers das Bild, das sie kurz vor dem Agsturz gesehen haben wollten, geschildert. Iris schluckte ind kniff die Augen zusammen. Doch der Anblick blieb, veränderte sich nicht - das war der Tempel. Aber wie kam es, daß sie ihn erst jetzt sehen konnte? Warum nicht schon früher? Nicht schon, als sie die Leiche entdeckt hatte? Und dann erinnerte sie sich an das seltsame Flimmern. Ebenfalls an die beiden Steine, die sie geworfen hatte, und von denen einer verschwunden war. Konnte es sein, daß es sich bei diesem Flimmern um ein Feld han delte, das in der Lage war, etwas vor zutäuschen, was gar nicht existierte? Iris holte tief Atem. Sie würde gleich auf diese Frage eine Antwort finden. Dort, dicht über dem Erdbo den, war der Spalt, durch den sie ge klettert war. Wo aber war die Leiche - und wo die andere Spalte, in die sie hineingestürzt war? Die Reporterin dachte kurze Zeit nach, dann hatte sie die Lösung. Sie bückte sich und hob einige Steinchen vom Erdboden. Vorsichtig ging sie zurück und warf immer wieder eines der Steinchen. Es dauerte nicht lange, bis sie das Flimmerfeld entdeckt hatte. Sie warf wieder ein Steinchen. Es war wie gestern. Der Stein fiel in das Flimmern hinein, verlangsamte sei ne Fahrt und verschwand, als hätte er nie existiert. Nun wußte Iris Bescheid. Ein fast unmöglicher Zufall hatte ihr gehol fen, das Sperrfeld zu überwinden. Ein Zufall in Gestalt eines Loches, in das sie hineingestürzt war und aus dem sie durch einen Spalt wieder hinausgelangte - auf die andere Seite
des Sperrfeldes. Iris war viel zu sehr Reporterin, um nicht jenes gewisse Kribbeln in ihrem Inneren zu spüren, jene Neu gierde, die einen Reporter voran treibt. Die hinter ihr liegende Mühsal war vergessen, ebenso alle körperli che Erschöpfung. Auch an den Ab sturz dachte sie nicht mehr, der ihr beinahe zum Verhängnis geworden war. Jetzt dachte sie nur an eines: das vor ihr liegende Geheimnis zu entschleiern. Nicht weit von ihr, vielleicht zwan-. zig Yard entfernt, stand ein riesiger Baum. Von dort aus hatte sie eine be sonders gute Sicht auf den Tempel. Kaum war Iris der Gedanke ge kommen, als sie ihn auch schon in die Tat umsetzte. Sie schaute kurz um sich und eilte dann mit langen ge schmeidigen Schritten auf ihr Ziel zu. Es war ein eigenartiger Baum. Noch nie hatte Iris einen solchen Baum gesehen. Die Rinde war derart borkig, daß sie wie zerrissen aussah. Und das Laub? Nein, das war kein normales Blattwerk, das waren lan ge grüne Dolche. Bei dem Anblick überkam ein son derbares Gefühl die junge Frau, Sie spürte, daß sie vor einem Anachro nismus stand, daß es diesen Baum ei gentlich gar nicht in der Gegenwart geben durfte. Doch diese Gedanken rissen in dem Augenblick ab, als sie den Mann auf der Marmorsäule bemerkte, einen Mann, der ein sonderbares Gewand trug. Iris griff in eine der vielen Taschen ihres Anzugs. Zu ihrer Ausrüstung, die sie sich gestern in Thurso gekauft hatte, gehörte auch ein zwar kleiner, aber sehr leistungsfähiger Feldste cher. Sie setzte ihn an die Augen, um besser sehen zu können. Das Antlitz des Mannes vor dem
61 schwarzen Vierkant war ihr zuge kehrt. Iris erblickte auch den schwarzen rüsselförmigen Aus wuchs, der an der Stirn seinen An fang nahm und bis zu dem schwar zen Steinblock führte. Sie sah auch, daß der Mann redete, ja, sie konnte ihn jetzt sogar hören. Doch die Worte waren ihr total unverständlich. Iris spürte nur, daß es schreckliche Wor te waren. Sie spürte es nicht mit ih rem Verstand, sondern mit ihrem In stinkt. Sie setzte das Glas einen Augen blick ab. Vielleicht gab es eine Mög lichkeit, noch näher an den Tempel heranzukommen. In diesem Augenblick wurde die Stimme des Mannes lauter. Iris wur de von einem tiefen Schauder ge packt. Mein Gott, was ist das? dachte sie entsetzt. Sie blickte zum Himmel und sah zu ihrem Schrecken, daß sie in die Sonnenscheibe hineinblicken konnte, ohne daß es ihren Augen et was ausmachte. Tatsächlich, das Licht nahm ab, die Sonne verdunkel te sich. Auch der Himmel hatte seine Bläue verloren, sah aus wie Blei. Iris zitterte am ganzen Körper. Sie spürte, daß hier etwas unvorstellbar Grausiges im Gange war. Aber was? fragte sich die Reporterin; Und dann erblickten ihre Augen etwas, das wie Nebel aussah und doch kein Nebel war. Unzweifelhaft - es waren Umrisse von Gegenstän den, von Häusern, die unsagbar fremd aussahen und von anderen Dingen, die sie nicht einordnen konnte. Und je länger der Mann dort oben redete, um so mehr verdichteten sich die Konturen, gewannen zusehends an Fülle. Iris wimmerte leise auf und wand te ihren Kopf nach rückwärts, sie wollte das Schreckliche nicht mehr mit ansehen.
Doch was sie dort erblickte, war nicht dazu geeignet, ihr Ruhe zu ver schaffen. Die hinter ihr liegenden Klippen sahen auf einmal seltsam durchsichtig aus, wie dicker Nebel, der rasch dünner wird. Und dann machte Iris eine Entdek kung, die ihr Entsetzen ins Grenzen lose steigerte. Ihre Hand - der Feld stecher - ja, sogar ihr ganzer Körper war in diesen schaurigen Prozeß mit einbezogen. Eine sonderbare Leichtigkeit ergriff sie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, selbst ein Nebel geworden zu sein. Auch ihr Denken vollzog sich langsamer, so, als bewe ge es sich durch eine zähe Masse. Sie fühlte es ganz deutlich - ihr Körper war dabei, sich aufzulösen. Ebenfalls ihr Gehirn und auch ihre Seele. Diese Erkenntnis besaß den Charakter der absoluten Gewißheit. Damit war die Grenze erreicht. Iris schrie laut und gellend auf - bevor der Dämon vor dem Altar seine schrecklichen magischen Formeln zu Ende gesprochen hatte. Ihr Körper, trotz seiner bereits verringerten Masse immer noch ein Körper, lehnte sich gegen den Stamm. Dieses Anlehnen sollte große Fol gen haben. Ein winziges, kaum er kennbares Stück der borkigen Rinde brach ab - damit griff die immer noch bestehende jetzige Zeit verän dernd in die Struktur eines Gebietes ein, das bis ins letzte Atom wieder zum Original einer Millionen Jahre zurückliegenden Vergangenheit ge worden war. Eine zwingende Vor aussetzung für das Gelingen des dä monischen Plans. Sicher, eine Ver änderung hatte bereits stattgefun den, allein dadurch, daß Iris' Füße diesen Boden betreten hatten. Aber diese Tatsache wäre zu unerheblich gewesen, zu geringfügig, um das sa tanische Werk zu gefährden. Doch bei dem winzigen Rindenstück war
62 es anders. Hier war organische Ma terie verändert worden - eine viel komplexere Materie als leblose Stei ne. Und das sollte bedeutsame Fol gen haben. Es war wie das jähe Zurückziehen eines dunklen Vorhangs. Ein schwarzer Wisch huschte über die Szenerie wie ein davoneilender Schatten. Und dann schien die Sonne wieder in altem Glanz - die dunklen Schwa den hatten sich verzogen. Iris' weit aufgerissene Augen er blickten noch mehr. Ihr Körper ver festigte sich wieder, gewann seine alte Struktur zurück. Gleichzeitig verschwanden die fremden Umrisse, wurden immer durchsichtiger, wa ren in wenigen Sekunden überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Plötzlich hörte Iris einen heulen den Aufschrei. Einen Schrei höchster höllischer Wut. Der Mann vor dem schwarzen Steinblock hatte ihn aus gestoßen. Uromazdas Augen richte ten sich auf die Frau, die seinen Plan zunichte gemacht hatte. Vorläufig zunichte gemacht hatte, dachte sein dämonisches Gehirn. Er, der letzte König der Luraner lebte noch. Und solange das der Fall war, solange gab es auch einen neuen Anfang. Doch dieses Weib mußte bestraft werden. So bestraft, wie noch kein Mensch bestraft worden war. Uromazdas Augen vergrößerten sich, wurden zu Kraterseen, ange füllt mit flüssiger Lava. Und dieser Lava entströmte eine derartige Woge wilder Energie, daß Iris' Körper blitzartig gelähmt wurde. Und dann schickte sich diese Ener gie an, jede Faser des Körpers in Be sitz zu nehmen. Iris war immer noch nicht bewußt los. Wahrscheinlich lag dies in der Absicht der dämonischen Kreatur. Bewußtlose sind unempfindlich,
nehmen nichts wahr, erleiden keine Qualen. Das Grauen in ihr wuchs und wuchs, wurde zu einer schrecklichen Qual, unter der sich ihr Geist wand und krümmte. Sie konnte nicht mehr denken, sie konnte nur noch fühlen. Genau in diesem Augenblick ge schah etwas, das mit den nichtssa genden Worten Zufall, Schicksal oder auch Fügung nur angedeutet werden kann. Uromazdas Gesicht veränderte sich plötzlich auf grausige Weise. An vielen Stellen schien die Haut förm lich zu explodieren. Sofort verschwand die Bedrängnis und Lähmung von Iris. Doch sie konnte sich trotzdem nicht rühren. Wie gebannt blickte sie auf das grausige Sterben des Dä mons, der jetzt, nach vielen Millionen Jahren, derselben Seuche zum Opfer fiel, die auch das Volk der Luraner vom Erdboden getilgt hatte. Daß sie in einem Augenblick ausbrach, in dem ein Menschenleben auf dem Spiel stand, kann kaum als purer Zu fall abgetan werden. Eine Tatsache, die ihren Wahrheitsgehalt noch er weisen wird. Der Mann vor dem Altar taumelte. Sein Gesicht war nur noch ein einzi ger schrundiger Eiterherd. Der Pro zeß schritt fort und erfaßte den gan zen Körper Uromazdas. Und dann fiel der König in dem Augenblick zu Boden, als der Tempel zusammenstürzte. Eine riesige Staubwolke stieg hoch. Als sie nie dersank, war alles verschwunden, was in den letzten Tagen auf dämo nische Weise entstanden war - der Tempel ebenso wie der heilige Hain. Alles sah wieder so aus wie vor der Erweckung Uromazdas - die Hoch fläche, die vielen herumliegenden verwitterten Felstrümmer und die Klippen.
63 Iris stieß ein heiseres Stöhnen aus. Der Szenenwechsel war so radikal, daß ihr Bewußtsein ihn nicht ertrug und in die Dunkelheit der Wahrneh mungslosigkeit flüchtete.
Das strenge Gesicht der Schwester hellte sich ein wenig auf, als sie den hochgewachsenen jungen Mann be merkte, der sich ihr mit raschen Schritten näherte. Bevor er zu einer Frage ansetzen konnte, sagte sie: „Ein halbes Stünd chen, aber nicht mehr. Der Schock hat Miß Carrington stark mitgenom men." Cliff dankte und ging auf das in ei ner Ecke des breiten Gangs liegende Krankenzimmer zu, wobei er den riesigen Strauß roter Rosen krampf haft an sich preßte. Er klopfte kurz. Ein leises „Her ein!" drang an seine Ohren. Vorsich tig drückte Cliff auf die Klinke. Und dann stand er in dem hellen Raum. Einige kleine Sonnenstrahlen hatten sich durch das Blättergewirr der großen Linde ihren Weg gebahnt und spielten auf dem weißen Leinen des Bettes. Die beiden jungen Menschen blickten sich in die Augen. Aller Streit war vergessen. Sie hatten sich wieder. Allein das zählte. „Eigentlich ist Doc Murray daran schuld, daß ich diesen verrückten Einfall hatte", sagte Iris später, nachdem Cliff ihr verschiedene Fra gen beantwortet hatte. „Ohne ihn wäre ich nie auf diesen Gedanken gekommen." Sie blickte Cliff fragend an. „Was
hältst du von ihm? Er ist ein unge wöhnlicher Mensch. Voller Güte und mit einer unbeschreiblichen Kraft ausstrahlung." Sie runzelte ein we nig die Stirn. „Ich werde es nie be greifen. Warum hat er mich zu die sem gefährlichen Unternehmen ver leitet? Es hätte mich leicht das Leben kosten können." Iris sprach nicht weiter, als sie in Cliffs bedrücktes Gesicht blickte. „Was ist?" fragte sie erschrocken und schmiegte sich zärtlich an ihn. „Ich habe Murray gestern getrof fen", sagte Cliff langsam. „Ja - und?" fragte Iris ein wenig ungeduldig. „Es war Murray, ganz unzweifel haft war es der Doc - aber er war es auch wieder nicht." Iris begriff diese Worte nicht. „Wieso?" fragte sie verständnislos. „Stell dir vor, er hat mich nicht er kannt ! Sagte mir sogar, ich sollte ihn nicht belästigen, sondern mich zum Teufel scheren - Reporter könne er nicht ausstehen." Cliff machte eine ratlose Geste. „Ich verstehe es nicht. Ich hab versucht, trotzdem mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber er hat mich dann rausgeworfen. Begreifst du das? Einfach rausgeworfen hat er mich." Cliff schüttelte den Kopf. „Das war nicht der Doc, den wir kannten - nein, das war er ganz und gar nicht. Das war ein entsetzlich sturer und dickköpfiger Schotte, nichts weiter." Iris streichelte seine Hand. „Denk nicht mehr darüber nach! Denken wir überhaupt nicht mehr darüber nach, was an Dunklem hinter uns liegt. Ich habe es in den vergangenen Tagen versucht, aber keine Antwort auf meine Fragen finden können." Sie kuschelte sich an ihn. „Wir haben uns - das ist die Hauptsache."
64 Die geistige Potenz Randolph Ken beiden jungen Leute, die ihm wert dalls eilte ihrem Ziel, dem kosmi volle Werkzeuge gewesen waren. Be schen Zentrum, entgegen. Die Ge sonders Iris Carrington. Nur sie war fahr für die Erde war abgewendet. aufgrund ihrer geistigen Struktur Das Zusammenspiel zwischen den fähig gewesen, den schweren Weg zu WÄCHTERN des Universums und gehen. Die WÄCHTER hatten ihm ihm als ihrem Werkzeug hatte sich dazu geraten. aufs neue bewährt. Kendalls Gedanken rissen ab. Er Es war ein befreites Lachen, das wurde von einer unbeschreiblichen Kendall von sich gab, als er an den Sehnsucht gepackt. Nur das Eintau schottischen Arzt dachte, dessen chen in das majestätische blaue Körper ihm für wenige Tage als Leuchten konnte diese Sehnsucht Wohnstatt gedient hatte, und an die stillen. ENDE
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Die Satansklaue von P. Oubina
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