ISAAC ASIMOV, RICHARD BERNARD, ROBERT SILVERBERG, CHARLES A. STEARNS, JOHN WYNDHAM
Ein anderes Zeitalter und weitere S...
94 downloads
567 Views
734KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ISAAC ASIMOV, RICHARD BERNARD, ROBERT SILVERBERG, CHARLES A. STEARNS, JOHN WYNDHAM
Ein anderes Zeitalter und weitere SF-Storys
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Inhaltsverzeichnis John Wyndham
Ein anderes Zeitalter (Time Stops Today) Übersetzt von Leni Sobez Isaac Asimov
Tatsachen ohne Zusammenhang (No Connection) Übersetzt von Axel Melhardt Richard Bernard
Die Geheimwaffe Robert Silverberg
Der Drachenvogel (Lair of the Dragonbird) Übersetzt von Robert Arol Charles A. Stearns
Die Goldenen (The Golden Ones) Übersetzt von Leni Sobez
als erstes, recht viel Spaß bei der Lektüre unseres heutigen Storybandes: John Wyndham bietet Ihnen eine Zeitverset zungsgeschichte; Isaac Asimov führt Sie in die ferne Zu kunft der Erde und ihrer Bewohner; Richard Bernard denkt sich einen Trick aus, die überraschenden Invasoren loszu werden; Robert Silverberg versucht den geheimnisumwit terten Drachenvogel zu retten; und Charles A. Stearns ent larvt einen bestellten Attentäter. Mit dieser Auswahl bieten wir unseren Kurzgeschichtenliebhabern einen besonders schmackhaften Cocktail. In den nächsten Wochen kommen dann wieder die Freunde von Space Operas voll auf ihre Kosten. Hier unsere Vorschau: UZu 535: DIE REBELLEN VON MALVUS von Peter Dan ner. Der Wissenschaftliche Rat setzt James Trevor ohne des sen Wissen ein Gerät ein, das seine Gedanken lenken soll. Als Trevor schließlich diese Überwachung bemerkt, gelingt es ihm, sich davon zu befreien. Allerdings wird dabei sein Gehirn angegriffen und er entwickelt einen tödlichen Haß gegen Terra – einen Haß, der der Erde gefährlich wird … UZu 536: UNSICHTBARE FÄDEN (Bit of Tapestry) von Cleve Cartmill. Webb Curtain muß sterben. Der Große Plan
des Monitors verlangt es. Doch alle noch so klug inszenier ten Anschläge gegen Curtain mißlangen bisher. Die drei rät selhaften Schwestern haben ihre Hand im Spiel. Wird es ihnen auf die Dauer gelingen, dem Monitor einen Strich durch die Rechnung zu machen und Webb Curtain vor sei nem vorgesehenen grausamen Schicksal zu bewahren? UZu 537: MENSCHHEIT IN KETTEN von Claus Hart mann. Bryce Bennet schließt sich einer Untergrundbewe gung gegen die verhaßten sirianischen Invasoren an. Er hat nicht viel Glück, denn kurz darauf wird er gefangengenom men und hingerichtet. Als er wieder erwacht, erinnert er sich genau seiner letzten Minuten. Trotzdem lebt er noch – oder wieder? Aber der Mann mit Bennets Gedächtnis gleicht dem Hingerichteten äußerlich überhaupt nicht. Was ist passiert? UZu 538: SPRUNG IN DIE ZEIT (The Coils of Time) von A. Bertram Chandler. Der Raumfahrer Christopher Wilkin son wollte nichts anderes, als sein tödlich verunglücktes Mädchen wiederfinden. Nur darum stellte er sich den Zeit reiseversuchen Dr. Henshaws zur Verfügung. Doch die Ver setzung führt ihn nicht in die Vergangenheit, sondern auf die Parallelvenus. Auf dieser Welt scheint alles gegen ihn zu sein. Er wird zur berüchtigten Berühmtheit – gnadenlos ge jagt von verschiedenen Interessengruppen … Diese spannenden und mitreißenden Romane erwarten Sie also in den nächsten Wochen. Versäumen Sie nicht, sie sich rechtzeitig zu besorgen. Mit herzlichen Grüßen Ihre Utopia-Redaktion
Ein anderes Zeitalter
John Wyndham
1. Kapitel Wenn man morgens aufwacht, so sollte man, wenigstens meiner Meinung nach, ganz sanft in das Bewußtsein zu rückgleiten, denn sonst hat man nur allzu leicht das Gefühl, als sei irgendein Teil seines Selbst nicht mehr rechtzeitig zurückgekommen. Und wenn es außerdem noch etwas gibt, was mir gar nicht behagt, dann ist es der scharfe Ellbogen einer Frau, der sich einem in die Rippen bohrt; um ganz genau zu sein, es ist mir gleichgültig, wessen Ellbogen es ist, am wenig sten paßt es mir aber, wenn es zufällig der meiner Frau ist Schließlich gehört es zu den Aufgaben einer Frau, zu be greifen, daß sie das nicht tun darf. Was ich diesmal dazu sagte, kam direkt aus meinem Un terbewußtsein,. „Na, weißt du!“ fauchte Sylvia. „Natürlich, ich bin ja nur deine Frau, George, aber, na schön – trotzdem.“ Mein Zeitbewußtsein kehrte mit Verzögerung zurück. „Tut mir leid“, brummte ich, „aber verdammt noch mal! Was ist denn eigentlich los?“
„Das weiß ich auch nicht“, gab Sylvia zu, „aber irgendwie habe ich ein ganz komisches Gefühl. Irgend etwas ist nicht in Ordnung.“ „Mein Gott!“ stöhnte ich und knipste das Licht an. Selbstverständlich sah alles genauso aus wie sonst. „Ah nungen?“ fragte ich; es mochte etwas spöttisch geklungen haben. „Du brauchst mich gar nicht so anzufauchen, George. Wie war’s damals, an dem Sonntag, als ich ahnte, daß wir einen Autounfall haben würden?“ „Welcher Sonntag? Sonntage gibt’s viele.“ „Na ja, der natürlich, an dem wir dann wirklich einen Un fall hatten; damals hatte ich dasselbe Gefühl wie eben jetzt.“ Ruckartig setzte ich mich im Bett auf. Die Uhr war ein Hochzeitsgeschenk; nach einiger Zeit kam ich zu der Ver mutung, daß ihre Zeiger auf 3 Uhr 15 standen. Ich lauschte, hörte aber nichts, absolut nichts. Aber schließlich weiß man ja, wie das mit Ahnungen so geht. „Ich schau doch lieber nach. Wo, meinst du denn, könnte es gewesen sein?“ fragte ich. „Was gewesen sein?“ „Was du gehört hast.“ „Aber ich habe doch gar nichts gehört. Es ist doch nur so ein komisches Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmt.“ Erleichtert ließ ich mich in die Kissen zurückfallen, „Und was soll ich dagegen tun?“ „Was kann man da schon tun? Es ist doch nur so ein Ge fühl.“ 7
„Warum, beim Himmel, läßt du mich dann nicht …?“ begann ich. Im gleichen Moment ging das Licht aus. „Da hast du’s!“ rief Sylvia triumphierend. „Ich wußte es doch!“ „Na schön. Dann ist’s jetzt vorbei!“ Ich zog die Bettdek ke herauf,. „Willst du denn nicht nachschauen?“ fragte sie. „Eine durchgeschlagene Sicherung kann bis morgen früh warten“, erklärte ich. „Aber vielleicht ist es keine Sicherung.“ „Ach, zum Teufel damit“, knurrte ich und kuschelte mich tiefer in die Kissen. „Eigentlich hätte ich gedacht, daß du gern wissen möch test, was los ist“, maulte sie. „Interessiert mich nicht, Ich möchte nur schlafen, sonst nichts.“ * Als ich wieder erwachte, war es strahlend heller Tag. Die Sonne schien herein und tauchte die gegenüberliegende Wand in blasses Gold. Ich räkelte mich behaglich und griff nach einer Zigarette. Als ich sie anzündete, fiel mir das Licht ein. Ich knipste ein paarmal das Licht an und aus, das heißt, ich versuchte es; erfolglos. Auf der hübschen Elek trouhr war es immer noch 3 Uhr 15, aber meine Armband uhr zeigte 7 Uhr. Ich legte mich zurück und genoß die er sten Züge meiner Zigarette. 8
Sylvia schlief noch. Ich gab der Versuchung nach, zur Abwechslung einmal meinen Ellenbogen in ihre Rippen zu bohren; sie sieht so dekorativ und sanft aus, wenn sie schläft. „Ugh-uh-uh“, machte sie und zog die Steppdecke über die Ohren, denn sie gehörte nicht zu den Menschen, die den jungen Morgen mit einem Jubelruf begrüßen. Fast im gleichen Augenblick kam es mir vor, als sei et was nicht ganz in Ordnung. Ich lauschte. Aber die gewohn ten Motorengeräusche, das Summen des Verkehrs auf der Hauptstraße, das Zuschlagen einer Wagentür in unserer Straße, das Klirren von Milchflaschen, die übrigen Anzei chen von Leben ringsum, sie fehlten; nicht einmal Vogel gezwitscher hörte ich. Über der ganzen Nachbarschaft lag eine geradezu unheimliche Stille, ein verdächtiger Frieden. Je angestrengter ich lauschte, desto unnatürlicher kam mir das Ganze vor. Schließlich sprang ich aus dem Bett und ging zum Fenster. „Teufel!“ knurrte Sylvia hinter mir her und zog die Bettdecke enger um sich. Ich glaube, ich blieb einige Minuten am Fenster stehen, bevor ich mich umwandte. „Sylvia“, sagte ich, „hör mal. Etwas ganz Komisches ist passiert.“ „Ugh“, antwortete sie. Das war deutlich untertrieben, aber ich überhörte es. „Komm doch und sieh selbst. Wenn du’s nicht auch siehst, muß ich verrückt sein.“ Der Ton, in dem ich das sagte, mußte sie aufgeweckt ha ben. Sie schlug die Augen auf. „Was ist es denn?“ „Komm her und schau selbst“, wiederholte ich. Sie gähnte, schob die Decke zurück und sich selbst aus 9
dem Bett. Sie schlüpfte in Pantoffel, die aus einem mir un verständlichen weiblichen Grund mit Federn besetzt waren, zog einen Morgenrock an und stelzte durch das Zimmer. „W-was?“ begann sie, schloß den Mund und starrte hinaus. * Wir wohnen in einem Vorort. Es ist ein hübscher Vorort, und auch die Leute hier sind reizend. Ein Häuschen gleicht so ziemlich dem anderen, jedes hat eine Garage und einen Garten. Sie sind nicht groß, weder die Häuschen, noch die Gärten, aber immerhin groß genug, daß die Ehepaare damit beschäftigt sind. Das unsere liegt an einem Hügel, und von den Schlafzimmerfenstern aus sieht man auf eine Reihe ähnlicher Häuschen, und die Straße, an der sie liegen, läuft mit der unseren parallel; ihre Gärten grenzen an die unse ren. Zwischen den Gärten steht ein hoher Holzzaun, der von Grundstück zu Grundstück weiterläuft. An schönen Tagen können wir sogar bis zu den niederen Hügeln hinübersehen, an deren Hängen in hübschen, baumbestandenen Gärten ähnliche Häuschen stehen wie die unseren; meistens aber trennt eine dicke, rauchige Ne belschicht diese beiden Wohnbezirke. Der Blick auf hohe Kamine, städtische Lagerhäuser und die nackten Rück wände einiger Kinos ist vielleicht nicht besonders aufre gend, aber er vermittelt uns ein Gefühl der Weite, und wir sehen ein ganz schönes Stück Himmel. Das Unangenehme an diesem Morgen war der Umstand, daß dieser Himmel so 10
ziemlich alles war, was wir sahen. Neben uns waren der Rasen und die Blumenbeete; da hinter kam die Hecke, die den Gemüsegarten abtrennte. Dort sollten sich eigentlich die Reihen der Erbsen, Bohnen und Kahlköpfe bis zu einem Birnbaum auf der linken und einem Pflaumenbaum auf der rechten Seite hinziehen und bis zu den Erdbeerbeeten reichen, an die sich dann die Kräuterecke anschloß. Aber das taten sie nicht; sie began nen zwar dort, wo sie beginnen sollten, aber nur ungefähr in halber Länge, dann war einfach Schluß damit. Hinter einer glatt abgebrochenen Kante war brauner, sandig aus sehender Boden, aus dem da und dort kleinere oder größere Büschel häßlichen, groben Grases starrten. Es war mageres Dünenland, nur fehlten die Hügel; es breitete sich vor unse ren Augen aus, bis es in weiter Ferne in sanfte Wellen und schließlich in bräunlichgrüne Hügel überging. Schweigend standen wir da und starrten hinaus. „Soll das vielleicht ein Scherz sein?“ flüsterte Sylvia schließlich unsicher. Sylvia hat für unliebsame Überraschungen zwei ver schiedene Reaktionen. Entweder faßt sie Ereignisse, die ihr nicht erfreulich vorkommen, als Scherz auf, oder ich muß irgendwie daran schuld sein, ganz gleich, was es ist. Ich möchte durchaus nicht behaupten, daß ich auch nur ahnte, was sie auf den Gedanken brachte, ich könne eine ganze Landschaft einfach verschwinden lassen; jedenfalls konnte ich der Wahrheit entsprechend antworten, daß niemand davon mehr überrascht sei als ich selbst. 11
Ich stand noch immer da und starrte vor mich hin. Links lag der Garten der Saggitts, der auf der gleichen Höhe wie der unsere auf dieselbe komische Art abgeschnitten war. Jenseits davon war jener Drurys – oder wenigstens das, was noch davon übrig war. Nicht nur, daß er genauso abge schnitten war wie unserer, von ihm war sogar nur noch ein Streifen von ungefähr sechs Fuß Breite übrig; dahinter war nichts als Sand, Sand, Sand … * Sylvia kam zurück. Sie war sehr verstört. „Auf der Vorder seite sieht es genauso aus“, berichtete sie. „Der Garten ist da, der Gehsteig aber nur noch zur Hälfte, und dann geht das gleiche Zeug an. Die halbe Garage ist auch weg.“ Ich schob das Fenster in die Höhe und blickte nach rechts; so konnte ich gerade noch das Garagendach sehen. Es schien den gleichen Anblick zu bieten wie sonst, aber dann bemerkte ich, was los war. „Die halbe Garage der Gunners ist verschwunden“, stell te ich fest. Und so war es auch. Das Garagendach stieg ungefähr bis auf Handbreite zum Dachfirst an, und dann schien es glatt abgeschnitten zu sein. Wo der Rest davon sein sollte – und wo eigentlich das Haus der Gunners hätte stehen müssen – wiegten sich dicke Grasbüschel im sanften Wind. „Gott sei Dank“, seufzte Sylvia erleichtert. Das war durchaus nicht herzlos gemeint, keineswegs; aber schließ 12
lich haben wir unseren neuen Convertible erst seit ein paar Wochen. „Wir müssen beide träumen“, stellte ich ziemlich er schüttert fest. „Aber es ist doch nicht möglich, daß wir beide das glei che träumen“, wandte sie ein. Darüber hätte man natürlich debattieren können, aber dafür war jetzt kaum die richtige Zeit. Ich warf mich in meine Kleider und lief hinaus, um zu sehen, was eigentlich los war. Die Vorderseite war so, wie Sylvia sie geschildert hatte. Ich ging den Gartenweg ent lang, öffnete das Türchen und trat auf die Gehsteighälfte hinaus. Die Kante – dort, wo der Sand begann – sah aus, als sei sie mit einem scharfen Messer abgeschnitten wor den. Ich beugte mich hinunter, um genauer sehen zu kön nen – und erhielt einen heftigen Schlag auf den Kopf. Das kam so unerwartet, daß ich mich vorsichtig aufrich tete. Dann streckte ich die Hand aus, um festzustellen, wo her der Schlag gekommen war. Meine Finger trafen auf eine glatte Fläche, die weder heiß noch kalt war und so hart wie Stein zu sein schien. Ich hob die andere Hand und ta stete eine größere Fläche ab. Ich machte mir Sorgen, denn das war zwar nicht sehr ungewohnt, was ich da feststellte, aber auch nicht gerade normal. Man stelle sich nur eine Glasscheibe vor, die eine absolut glatte, nicht reflektieren de Oberfläche hat … Den Sand und das Gras drüben konnte ich nicht errei chen; die durchsichtige Mauer erhob sich genau dort, wo 13
die normalen Dinge aufhörten. Als ich dastand und ver blüfft hindurchsah, bemerkte ich etwas Seltsames: das Gras drüben bewegte sich, aber ich spürte um mich herum nicht den leisesten Lufthauch. Ich überlegte eine Weile und ging dann zur Garage. Dort suchte ich meinen schwersten Hammer aus der Werkzeug kiste und fand einen Kanister, der halb mit schlammigem Petroleum gefüllt war. Draußen schüttete ich den Kanister inhalt an die durchsichtige Wand. Es war ganz komisch, wie das Zeug mitten in der Luft irgendwo anklatschte und dann langsam nach unten tropfte. Dann packte ich den Hammer fest am Griff und schlug zu, so fest ich nur konn te. Er sprang zurück und prellte meine Hand so sehr, daß ich ihn fallen ließ. Ein weiteres Ergebnis ließ sich nicht feststellen. Als ich meine Untersuchungen an der Rückseite des Hauses fortsetzte, sah ich, daß die gleiche unsichtbare Bar riere dort endete, wo das begann, was von unserem Garten noch übrig war. Es war geradezu grotesk, wie sie sogar den Pflaumenbaum in zwei Teile zu zerschneiden schien; so weit ich von der Seite aus sehen konnte, war der Stamm hinten ganz flach und die Äste schienen ebenfalls abge schnitten zu sein, so daß das Ganze aussah wie eine Baum attrappe auf einer Bühne. Ich wollte, ich hätte um den Baum herumgehen können, um festzustellen, wie er von der anderen Seite wirklich aussah, aber diese Mauer mach te es unmöglich. Grob geschätzt mußte das noch normale Gebiet, das von 14
der unsichtbaren Mauer eingeschlossen war, etwa achtzig Meter im Quadrat haben. Jenseits der Mauer erstreckten sich nach allen Richtungen Dünen, nichts als langweilige Dünen, und nur in weiter Ferne waren die Hügel genau dort zu sehen, wo sie sonst auch standen. Ich war nicht die Spur klüger, als ich ins Haus zurückkehrte.
2. Kapitel Sylvia, die den meisten Zwischenfällen des Lebens nach einer Tasse Kaffee zuversichtlicher gegenübersteht, ver wünschte den Elektroherd, weil die Platten nicht heiß wur den. „Ach, da bist du ja. Kannst du mal die Sicherung in Ordnung bringen?“ „Nun ja …“, begann ich zweifelnd, ging aber doch und sah nach. Wie erwartet, war die Sicherung absolut in Ord nung, und das sagte ich ihr auch. „Unsinn“, erklärte Sylvia, „nichts geht mehr.“ „Ganz im Gegenteil, eine ganze Menge geht vor sich“, entgegnete ich. „Obwohl gerade das … Jedenfalls, der springende Punkt ist der: wo soll der Strom herkommen?“ „Wie soll ich …?“ begann sie, aber dann begriff sie plötzlich. Sie öffnete wieder den Mund, wußte aber nicht, was sie hätte sagen können und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. „Ich geh mal ‘rüber zu den Sag gitts“, erklärte ich. Es war nun nicht so, daß ich von den Saggitts viel Hilfe 15
erwartete, aber allmählich hatte ich das Gefühl, ein wenig Gesellschaft wäre ganz angenehm. Mit Doug Saggitt komme ich gut aus, wenn er auch etwas älter ist als ich, vielleicht sieben- oder achtundvierzig. Seine Haare werden schon etwas schütter und grau, und obwohl er noch kein richtiges Fossil ist, verstehe ich nicht, warum Rose ihn ge heiratet hat; schließlich ist sie erst einundzwanzig und sieht so lecker aus, daß alle Jungens hinter ihr herpfeifen. Mir scheint, manche Mädchen kriegen eines Morgens, wenn sie noch nicht richtig aufgewacht sind, vom Leben einen kleinen Stups. ,He’, sagt es, ,Zeit, daß du heiratest.’ ,Was, ich?’ sagt das Mädchen. ,Ja, natürlich, du – und sonst noch jemand, selbstverständlich’, sagt das Leben. ,Aber zuerst möchte ich doch noch ein bißchen Spaß haben’, ent gegnet das Mädchen. ‚Vielleicht, vielleicht auch nicht’, antwortet das Leben geheimnisvoll. ,Vielleicht hast du morgen das Gesicht voller häßlicher Flecken, oder du ver lierst bei einem Autounfall ein Bein, oder …’ So geht es eine ganze Weile weiter, bis das Mädchen vor Angst halb gelähmt ist, vor sich selbst davonläuft und ei nen Doug Saggitt heiratet. Bald dämmert der jungen Frau, daß sie weder häßliche Flecken im Gesicht, noch einen Fuß verloren hat, daß sie gar nicht besonders viel Spaß, aber Doug Saggitt am Hals hat, und dann überlegt sie sich, ob Doug Saggitt wirklich genau das ist, was die Flüsterstimme des Lebens gemeint hatte. Nun ja, das alles ist zwar nur meine ganz persönliche Theorie, aber sie bewahrt mich wenigstens davor, das zu denken, was alle Leute in der 16
Straße denken, wenn sie Rose zu sehen bekommen: ,Ich kann nicht verstehen, weshalb sie gerade den geheiratet hat.’ * Jedenfalls ging ich also zum Haus der Saggitts hinüber und drückte auf den Klingelknopf. Es sah ganz so aus, als seien die Saggitts und wir in der Sache drinnen – ganz gleich, was es war –, und zwar nur wir allein; denn die unsichtbare Barriere jenseits ihres Hauses ging quer durch das Haus der Drurys, schnitt einfach eine Seitenwand ab und ließ dar über hinaus kaum eine Handbreit des Hausrestes stehen. Es sah recht gefährlich aus, obwohl kein Anzeichen darauf hindeutete, daß es zusammenfallen könnte. Während ich wartete, schaute ich es mir genau an und überlegte, daß es – genau wie der Pflaumenbaum und die anderen Gegen stände, die von der unsichtbaren Mauer durchschnitten wa ren – durch eine möglicherweise magnetische Kraft an der unsichtbaren Oberfläche gehalten zu werden schien. Wieder drückte ich auf die Klingel, diesmal sehr lang. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe. Die Tür ging auf, und eine Hand warf ein paar in ein Stück Schreibpapier gewickelte Münzen heraus. Sie machte eine ungeduldige Geste, als ich die Münzen nicht annahm; die Tür ging ein Stückchen weiter auf und Roses Kopf erschien im Spalt. „Oh“, sagte sie, „ich dachte, es sei der Milchmann. Was ist …?“ Sie unterbrach sich mitten in der Frage. Ihre Au 17
gen wurden groß und größer, als sie die Aussicht hinter mir bemerkte. „W-w-was ist denn da passiert?“ stotterte sie. „Darüber möchte ich ja gerne mit Doug sprechen“, er klärte ich ihr. „Er schläft noch“, antwortete sie geistesabwesend und starrte dorthin, wo die andere Hälfte der Straße hätte sein sollen. „Nun …“, begann ich, da kam Sylvia gerannt. „George!“ rief sie vorwurfsvoll, „das Gas brennt auch nicht!“ „Wundert dich das? Schau doch mal, wo das Gaswerk war!“ knurrte ich und deutete irgendwohin auf die Dünen. „Aber wie soll ich denn Frühstück kochen?“ „Hm. Kochen? Das kannst du nicht“, gab ich zu. „Das ist doch lächerlich. George, du mußt irgend etwas unternehmen.“ „Und was, zum Teufel, meinst du denn, daß ich tun kann?“ Sylvia musterte mich und wandte sich dann an Rose. „Männer sind doch wirklich hilflos und zu nichts nütze“, stellte sie mitleidheischend fest; eine Antwort darauf erüb rigte sich, so eindeutig klang das. Rose sah sich noch immer voll ungläubigen Staunens um. „Wenn du Doug aus seinem Bett ausgraben würdest, könnten wir wenigstens eine Beratung darüber abhalten“, schlug ich vor. 18
Sylvia und ich warteten in der Diele. Es war nicht be sonders gemütlich, denn Sylvia nahm ihre Igelstellung ein; sie rollte sich sozusagen zu einer Kugel des Schweigens zusammen und richtete die Stacheln auf. Bei diesem Spiel bin ich sonst immer der dumme Hund, aber diesmal moch te ich nicht. Ich weiß nicht, was sie mehr irritiert. Dougs Auftritt vollzog sich in einem Morgenrock; das Kinn war stoppelig, und was von seinen Haaren noch übrig war, stand nach allen Seiten auseinander. Hinter ihm kam Rose. Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund hatte sie es für zweckmäßig gehalten, sich in ein elegantes Neglige zu werfen. „Was, zum Teufel, geht denn da vor?“ wollte Doug wis sen. „Hör mal“, versuchte ich energisch zu werden, „bevor wir überhaupt weiterreden, wird jeder von euch endlich damit aufhören, mich anzubellen, als ob ich daran schuld wäre. Du siehst selbst, was passiert ist, und du weißt ge nausoviel wie ich auch.“ „Es gibt weder Strom noch Gas“, brummte Sylvia belei digt. „Und der Milchmann hat sich auch verspätet“, beklagte sich Rose. „Verspätet!“ wiederholte ich hilflos und setzte mich. „Na schön“, sagte Sylvia, „wenn schon ihr Männer nichts tun wollt …“, und griff zum Telefon. * 19
Fasziniert beobachtete ich sie. Wer hat schon einmal eine Frau gesehen, die ein absolut schweigsamer Apparat aufs gröblichste beleidigt? Das ist eine Schau. Ich sah Doug an und er mich. „Was geht hier eigentlich vor?“ fragte er mißtrauisch und machte eine Handbewe gung zum Fenster hin. „Und was soll das heißen, George? Wo ist …“ Er wurde durch Sylvias Rückkehr unterbrochen. In ihren Augen standen Tränen, und sie drückte ein Taschentuch an die Nase. Ihr Zorn hatte sich in angstvollen Schrecken verwandelt. „Da ist eine Wand – man kann sie nur nicht sehen“, be richtete sie. „Wand – Blödsinn“, stellte Doug entschieden fest. „Was erlaubst du dir eigentlich?“ Sylvia hatte überra schend schnell zu sich selbst zurückgefunden. Doug ging hinaus, um selbst nachzusehen. „Jetzt weißt du also genausoviel wie ich“, sagte ich, als er zurückkam. „Und was sollen wir jetzt tun?“ Allgemeines Schweigen. „Ich habe kein Brot mehr“, meinte schließlich Rose recht kläglich, „und der Bäcker wird auch kaum kommen.“ „Ich glaube, ich habe noch ein Brötchen übrig“, tröstete Sylvia. „Das ist lieb von dir, Sylvia, aber glaubst du wirklich, daß du es entbehren kannst?“ „Um Himmels willen!“ rief ich. „Um uns herum passie 20
ren die ausgefallensten Dinge, und ihr beide schnattert über nichts anderes als Gas, Strom und Brot.“ Sylvia kniff die Augen zusammen, aber dann erinnerte sie sich daran, daß wir ja nicht allein waren. „Du brauchst gar nicht so zu schreien! Was sollen wir denn sonst tun?“ fauchte sie gereizt. „Darüber brauchen wir jetzt noch nicht nachzudenken“, antwortete ich. „Zuerst müssen wir einmal herausfinden, was überhaupt passiert ist, und erst dann können wir sehen, was sich dagegen unternehmen läßt. Hat jemand eine Idee?“ Offensichtlich hatte niemand eine. Doug schlenderte zum Fenster und stand eine ganze Weile dort, vor sich die geisttötenden Meilen und Meilen von Dünen. Sylvia und Rose saßen da und überließen, echt weiblich, den Männern das Nachdenken. „Ich habe eine Theorie“, sagte ich schließlich. „Sie muß aber gut sein“, bemerkte Doug düster. „Laß hören.“ „Mir scheint, irgend jemand hat uns unwissentlich zum Ge genstand eines Tests oder Experiments gemacht“, bot ich an. Doug schüttelte den Kopf. „Wenn ‚unwissentlich’, was ich auch annehme, dann ist das nicht ganz das richtige Wort. Ich bin mir dessen ganz bewußt, was da draußen los ist.“ „Ich meine, jemand hat ein Experiment gemacht, und wir sind nur die ganz zufälligen Opfer.“ „Experiment? Meinst du, man hat vielleicht eine Atom bombe geworfen, oder etwas getan, was alle anderen Men schen ausgerottet und nur uns übriggelassen hat? Weil…“ 21
„Das meine ich nicht“, unterbrach ich ihn, und ich er klärte ihm, was ich mir vorstellte. Obwohl alle Spuren von Gebäuden sich in Nichts aufgelöst hatten, war die Gelände formation annähernd die gleiche geblieben; wir schienen in einer Art unsichtbarem Glaskasten zu sitzen. Jedenfalls waren um uns herum Mauern, und vielleicht saß auf diesen Mauern auch ein Dach, denn die Luft war bei uns völlig unbewegt. Das konnten wir aber auch später noch feststel len. Innerhalb dieser Mauern war alles unverändert – aber jenseits hatte sich alles verändert – bis auf die Bodenfor mation, ganz allgemein gesprochen. Es konnte natürlich auch genau umgekehrt sein. Jedenfalls war der Inhalt des unsichtbaren Glaskastens ganz anders als dessen Umge bung. Folglich mußte diese Umgebung von irgendwoher oder nach irgendwohin bewegt worden sein. Aber gleich zeitig war doch eindeutig festzustellen, daß sie noch am gleichen Platz lag, wenn er jetzt auch ganz anders aussah. Also konnte diese Umgebung nicht räumlich bewegt wor den sein, und so blieb nur noch die einzige andere Mög lichkeit: die Versetzung in ein anderes Zeitalter. * Diese ruhige und meiner Überzeugung nach logische Erklä rung wurde schweigend hingenommen. Dann ergriff Doug das Wort: „Wenn eine Atombombe abgeworfen wurde, viel leicht auch mehrere, und wir hatten das zufällige Glück, im Schutz dieses Glaskastens, oder was es ist, zu sein …“ 22
„… dann würde doch da draußen kein Gras wachsen“, vollendete ich für ihn den Satz. „Nein, es muß etwas ande res geschehen sein. Dieses eingeschlossene Fleckchen muß durch eine andere Dimension in einen anderen Zeitstrom versetzt worden sein – vielleicht könnten wir auch sagen: vorversetzt in die Zukunft. Ich wüßte nicht, wie man die Sache sonst erklären könnte.“ „Hm“, murmelte Doug. „Und du meinst wirklich, das wäre die Erklärung, he?“ Alles schwieg. Dann wandte sich Sylvia im Konversa tionston an Rose: „Mein Mann liest die fesselndsten Schmöker, meine Liebe. Über Mädchen, zum Beispiel, die nur im BH und Schlüpfer durch den unendlichen Raum strolchen – ich weiß nicht, was damit gemeint ist; aber ent setzlich grausame Kämpfe zwischen Sternenwelten; über die hübschesten Dinge, die man Mutanten, Roboter oder so ähnlich nennt, und über Männer, die über einige hundert Lichtjahre auf Raumspähtrupp gehen und so weiter. Furchtbar kompliziert. Und die Geschichten haben lauter ganz interessante Titel. ‚Erschütternde Erzählungen’, ‚Phantasie und Wissenschaft’…“ „Hör mal“, fuhr ich dazwischen, „vielleicht kannst du mir erklären, was hier vorgeht? Vielleicht findest du was in ‚Weibliche Schönheit’, ,Wahre Bekenntnisse’, ‚Glückli ches Lieben’ oder ‚Herzklopfen-Magazin’?“ „Wenigstens kommen da drinnen Dinge vor, die wirk lich passieren können“, fauchte Sylvia mich wieder an. „Euklid hat in seinem ersten Buch alles über das Dreieck 23
gesagt, und er hat damit allerhand Erfolg gehabt.“ „Na, und was haben deine Magazine damit zu tun? Die mit ihren Geschichten, die überhaupt niemals passieren können?“ knurrte Sylvia. „Das weiß ich auch nicht. Das eine aber weiß ich be stimmt: um uns herum passiert gerade etwas, was eigent lich nie geschehen kann. Schau dir’s doch an! Und wenn ich versuche, es zu verstehen, dann gibst du mir höhnische Antworten!“ „Höhnische Antworten!“ äffte Sylvia mich nach. „Das mag ich. Ich wollte doch nur Rose erklären… Und wenn jemand höhnisch ist, dann…“ „Ja“, sagte Rose entschieden, als wolle sie damit eine Frage beantworten. Für kurze Zeit zog sich jeder beleidigt in sich selbst zu rück. Doug unterbrach schließlich das Schweigen. „Glaubst du wirklich, daß irgendeine Kraft oder Energie der vierten Dimension dahintersteckt?“ Ich nickte, denn ich war froh, daß wir wieder zur Sache kamen. „Nun ja, schließlich kann es auch jede andere Di mension und ihre Wirkung sein“, gab ich zu. „So ähnlich dürfte es wohl zugegangen sein.“ „Und was ist eigentlich eine vierte Dimension?“ wollte Rose wissen. Ich versuchte zu erklären: „Nun, das ist – na schön, eine Art Ausdehnung in einer Richtung, die man nicht wahr nehmen kann. Nehmen wir mal an, wir leben in einer zwei dimensionalen Welt; da könnten wir nur Länge und Breite 24
wahrnehmen. Und dann stelle dir vor, du findest in diesem flachen Land ein Viereck.“ „Welches Viereck?“ „Nur irgendein Viereck. Nichts sonst.“ „Oh“, sagte Rose; es klang nicht sehr überzeugt. „Und dieses Viereck könnte zum Beispiel die Grundflä che eines Würfels sein – nur kannst du natürlich den Rest des Würfels nicht wahrnehmen. Wenn nun jemand von au ßerhalb diesen Würfel aufnimmt und ihn an irgendeiner anderen Stelle niedersetzt, so würde er, soweit es dich be trifft, plötzlich verschwinden und an einer anderen Stelle wiederauftauchen. Und du würdest es einfach nicht verste hen, was passiert ist.“ „Na schön, das würde ich bestimmt nicht verstehen. Aber – na und?“ * Verblüfft überlegte ich mir, wie man so etwas überhaupt heiraten konnte. „Verstehst du denn nicht?“ fragte ich ge duldig weiter. Aber Sylvia fiel ein: „Nein, das verstehen wir nicht. Und außerdem sehe ich nicht ein, was es uns praktisch nützen würde, wenn wir’s verstünden.“ „Na ja, um genau zu sein, nicht praktisch natürlich“, gab ich zu. „Schön.“ Sie wandte sich an Rose. „Hast du einen Petro leumofen, meine Liebe?“ fragte sie. Rose nickte, und sie gingen zusammen hinaus. 25
„Ein Jammer mit diesen Frauen“, begann ich.
„Ja, ja“, beeilte Doug sich zu sagen. „Aber deine Theorie
– meinst du sie ernst?“ „Natürlich. Was könnte es sonst sein? Ich nehme an, daß dieser Abschnitt, m dem wir uns befinden, irgendwie ange hoben wurde – möglicherweise um einige tausend Jahre in die Zukunft.“ „Das ist schwer zu schlucken. Ich glaube eher, das hat einige Ähnlichkeit mit dem, was Sylvia von den Magazi nen erzählte, oder?“ „Vielleicht“, sagte ich verwirrt. „Es könnte aber doch so sein, daß irgendwann und irgendwo jemand unbedingt ver suchen wird, ein Stückchen aus dieser Vergangenheit he rauszuheben. Das muß einem geglückt sein, und zufällig sind wir nun diejenigen, die gerade in der Zeit und an dem Ort leben, den er sich dafür ausgesucht hat.“ Er murmelte wieder etwas von Schluckbeschwerden und fuhr dann fort: „Angenommen, du hast recht. Und was pas siert dann?“ „Ich stelle mir vor, daß jemand kommen wird, der nach sehen will, wie das Experiment verlaufen ist. Wahrschein lich werden wir wenig davon verstehen, denn die Leute werden uns weit voraus sein. Sie wollen wahrscheinlich alles über uns und unsere Zeit wissen, aber es wird nicht leicht sein, es zu erfahren. Ich nehme an, daß sich auch die Sprache sehr verändert haben wird.“ „Dann müssen wir also Diagramme des Sonnensystems zeichnen und all das Zeug?“ 26
„Warum?“ fragte ich erstaunt. „Na weil – ach, nein, natürlich – das ist doch nur, wenn man auf andere Planeten kommt, nicht wahr?“ * Wenig später kamen Sylvia und Rose mit Kaffee zurück. Dessen Wärme und Duft schufen eine wesentlich bessere Laune. Doug meinte schlürfend: „George glaubt, daß wir wahrscheinlich bald Besuch bekommen.“ „Woher?“ wollte Rose wissen. Sie schien sehr interes siert zu sein. Dieses Mädchen hat doch eine sehr fatale Fähigkeit, dumme Prägen zu stellen. „Wie …?“ begann ich. Dann schwieg ich wieder. Ich saß so, daß ich zum Fenster hinaussehen konnte, und da be merkte ich, daß sich in dem flachen Tal vor mir etwas be wegte. Ich konnte nicht feststellen, was es war, aber es war ganz eindeutig, daß irgend etwas eine Staubwolke aufwir belte, die sich bewegte. „Es könnte sogar sein, daß sie schon auf dem Weg hierher sind“, fuhr ich fort. Wir stellten uns ans Fenster und sahen hinaus. Das Ding, ganz gleich, was es war, bewegte sich nicht sehr schnell vorwärts, aber in Richtung auf uns zu. „In Georges Büchern haben sie immer riesige Köpfe und keine Haare“, überlegte Sylvia laut. „Wie entsetzlich schrecklich!“ rief Rose, und ich glaubte zu bemerken, daß Doug ein bißchen beleidigt dreinsah. 27
„Was werden sie wohl wissen wollen?“ fragte er. „Mir kommt’s ungefähr wie ein Examen vor, auf das man nicht vorbereitet ist.“ „Ich glaube, es ist besser, ich gehe hinüber und ziehe mich passender an“, meinte Sylvia. „Du meine Güte, das muß ich ja auch“, pflichtete ihr Ro se bei. „Und, Doug, du mußt dich unbedingt kämmen – und rasiert hast du dich auch noch nicht.“ „Du bist auch noch nicht rasiert, George“, bemerkte Syl via spitz. „Schaut mal“, erwiderte ich, „wir stehen jetzt vor der er staunlichsten Begegnung aller Zeiten, und woran denkt ihr? Na schön, dann eben…“
3. Kapitel Der sich bewegende Gegenstand war noch einige Meilen entfernt, als ich im Badezimmer fertig war. Aber jetzt sah ich ihn viel deutlicher; es war ein länglicher, kistenähnli cher Apparat mit einer transparenten Art von Karosserie, in der sich von Zeit zu Zeit die Sonne spiegelte. Er bewegte sich ungefähr mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Mei len pro Stunde, so schätzte ich, aber trotz des unebenen Bodens war diese Bewegung auffällig ruhig. Leider war das Untergestell des Apparates zu sehr vom Staub verhüllt, als daß ich hätte erkennen können, wie er angetrieben wur de. 28
Ich ging zu Sylvia hinüber. Sie hatte ein weiches, blaues Wollkleid angezogen, das ihr sehr gut stand. Der Ausdruck ihrer Zufriedenheit darüber schwächte sich deutlich ab, als sie mich sah. „Nein, wirklich, George! So kannst du doch nicht herumlaufen!“ Sylvia holte tief Atem, aber in diesem Augenblick hör ten wir von draußen Dougs Stimme: „He, beeil dich! Die sind gleich da, George!“ Ich ging zu ihm hinunter. Wir schlenderten das übrigge bliebene Stück meines Gartens entlang, Sylvia und Rose folgten uns. An der unsichtbaren Mauer blieben wir stehen und beobachteten das sich nähernde Fahrzeug. Es schien durch eine Art von Tausendfüßlerantrieb fortbewegt zu werden, der alle Geländeunebenheiten automatisch aus glich. Ungefähr zwölf Meter vor uns hielt es an. Die ganze uns zugekehrte Breitseite öffnete sich; die Seitenwand glitt an Angeln am Fuß des Fahrzeuges herab und bildete eine Art Rampe. Vier Männer, die drinnen saßen, standen auf, schritten über die Rampe und sahen uns an. Ich bemerkte, wie neben mir tief Atem geholt wurde. „Mein Gott, nein, so etwas!“ murmelte Sylvia. „Ooh, oooh!“ stöhnte Rose, als habe ihr jemand eine rie sige Schachtel Pralinen geschenkt. Ich selbst sah nicht ein, daß – nun ja, ich will fair fein. Diese vier Männer waren großartige Ausgaben der Spezies Mann, das ist sicher. Groß, breitschultrig, mit gewölbter Brust und schmalen Hüften und all das – aber schließlich war auch Tarzan so, und ein paar andere auch. Von einem 29
Mann verlangt man noch ein bißchen mehr als ein schönes Äußeres. Tatsache aber war, daß es einige der bestausse henden Männer waren, die mir je begegnet sind – aber die schönsten Männer – na ja. Es war mir auch ziemlich gleichgültig, wie sie angezogen waren. Sie trugen Tuniken von kräftiger, gelber Farbe mit brau nen Mustern an den Kanten, in der Taille gegürtet, unge fähr knielang. An den Beinen hatten sie enge Hosen oder Gamaschen aus einem braunen Material, und auch die mit Riemen geschnürten Schuhe waren gelb. Hüte trugen sie nicht, und ihr blondes Haar wirkte über den sonnenbraunen Gesichtern wie gebleicht. Alle vier waren über zwei Meter groß. * Aus der Art, wie sie uns anschauten, war mir sofort klar, daß sie vor einem Rätsel standen. Sie berieten sich unter einander, dann sahen sie uns wieder an. Man konnte fest stellen, daß sie lachten, aber das sah unter den gegebenen Umständen nicht nach Wohlwollen aus. Wegen der Wand zwischen uns konnten wir keinen Laut ihrer Unterhaltung vernehmen, nicht einmal den Klang ihrer Stimmen erken nen. Wieder debattierten sie; dann schienen sie sich einig zu werden. Einer von ihnen ging zum Fahrzeug zurück und erschien wieder mit einem Instrument in der Hand, das ei nem Theodoliten ähnelte. Er befestigte ihn auf einem Sta tiv, stellte ihn ein und drückte dann einen Schalter. Sofort 30
verspürten wir eine Luftbewegung, als blase der Wind durch ein Loch in der Mauer. Dann ließen sie das Instru ment stehen, wo es stand, und die vier Männer näherten sich uns. Ich hob ihnen meine offene Hand entgegen, um ihnen zu zeigen, daß unsere Absichten friedlicher Natur waren. Sie sahen verwirrt drein. Einer sagte zum anderen: „Komisch, ich dachte, Hitler sei 1945 gestorben?“ Ich ließ die Hand sinken. „Oh, Sie sprechen Englisch?“ fragte ich. „Ja, natürlich“, antwortete der Mann, der mir am näch sten stand, „weshalb auch nicht?“ „Nun ja – ehm – ich dachte …“, begann ich, gab es dann aber auf. „Mein Name ist George Possing“, erklärte ich ihm. Er runzelte die Stirn. „Sie müßten eigentlich Julian Speckleton sein“, meinte er. Ich sah ihn erstaunt an. „Aber nein“, erwiderte ich kalt, „ich bin aber wirklich nicht – ich heiße George Possing,“ „Das verstehe ich nicht“, murmelte er nachdenklich. „Ist doch ganz einfach. Ich bin Possing, und von einem, der Speckleton heißt, habe ich überhaupt noch niemals ge hört.“ „Und Sie gehören nicht zum Subatomunternehmen?“ Wahrscheinlich sah ich ihn ziemlich verständnislos an. „Das Subatomunternehmen, das die Solarraketen ent wickelt“, erklärte er ungeduldig. „Niemals was davon gehört“, brummte ich. 31
„Hm“, machte er, „irgend etwas muß da schiefgegangen sein. Paladanov wird sehr wütend darüber sein.“ Ich hatte den Eindruck, daß ich eigentlich die anderen vorstellen sollte, aber als ich mich umsah, bemerkte ich, daß es überflüssig war, denn sie redeten bereits miteinan der. Der Mann neben mir fragte mich, wer Doug sei. Ich sagte es ihm. „Und welchen Tag habt ihr hier, welches Da tum?“ wollte er wissen. Ich gab es ihm. Er pfiff überrascht durch die Zähne, „Fünfunddreißig Jahre Zeitabweichung! Irgend jemand wird dafür eine ganz ordentliche Zigarre kriegen. He, Bur schen!“ Sie beachteten ihn gar nicht. Einer von ihnen hatte Doug zum Loch in der unsichtbaren Mauer gezogen und zeigte ihm dort etwas. Die anderen beiden schwatzten mit Sylvia und Rose, sogar recht angeregt. Sylvias Augen strahlten, und sie musterte den einen von ihnen so ungeniert, daß er ein wenig rot wurde. „He!“ rief der Mann, diesmal lauter. Die anderen unter brachen die Unterhaltung und gingen zu ihm hinüber. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, wie Sylvia und Rose einander ansahen. Sie kicherten wie Schulmädchen und flüsterten miteinander. „Mal herhören“, sagte der Mann neben mir. „Da ist ein hoffnungsloses Durcheinander passiert. Keiner von diesen Burschen hier ist Speckleton.“ * 32
Alle vier sahen uns der Reihe nach an. „Na, und wenn schon; ich wüßte nicht, was mir das ausmachen sollte“, bemerkte der eine und sah Rose an, die prompt errötete. „Mir auch nicht“, erklärte der zweite. „Da ist genau das Klima, das ich mag.“ Und Sylvia wurde noch roter als Ro se. „Vielleicht“, sagte der neben mir, „aber der springende Punkt ist der, daß wir hier nichts zu suchen haben. Kein Speckleton; keine Pläne. Diese Leute da stammen aus der Zeit von vor fünfunddreißig Jahren.“ „Das macht mir absolut nichts aus“, versicherte ihm ei ner der anderen. „Nette Menschen“, fügte er hinzu. Und die Mädchen kicherten. „Trotzdem, es ist und bleibt eine Pleite. Und was jetzt?“ „Auf Befehle warten“, riet der eine prompt. „Wird am besten sein. Dann sind wir wenigstens gleich zur Hand, wenn sie den Fehler korrigieren“, ergänzte der andere. „Na gut. Ich gebe mal einen Bericht durch.“ Rose war immer noch ein wenig rosig angehaucht, und mit einem nicht mißzuverstehenden Anflug von Geziertheit spielte sie die Gastgeberin: „Sie müssen doch nach all die sem Staub entsetzlich durstig sein. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee haben?“ Ohne zu zögern nahmen sie das Angebot an. Doug und ich blieben zurück und beobachteten sie, wie sie sich durch die Hecke zwängten, welche die beiden Gärten trennt. 33
„Schöne Bescherung“, stellte ich fest. Vielleicht dachte George infolge seines höheren Alters ein wenig philosophischer als ich. Ruhig bemerkte er: „Ich muß alles dir überlassen, George. Deine Mutmaßungen wa ren goldrichtig.“ „Ha“, antwortete ich und sah den anderen nach, die eben im Haus verschwanden. „Ja. Irgendwie muß es da eine Zeitverschiebung gegeben haben. Auch damit, daß wir rein zufällig in die Geschichte hineingeraten sind, hast du recht gehabt.“ „Ha“, sagte ich noch mal. „Es könnte uns eine ganze Menge nützen, wenn ich nur verstehen würde, wie es hier weitergeht, falls kein Fehler passiert ist.“ „Das ist doch gar nicht so schwierig. Einer dieser Kerle da hat mir es zu erklären versucht. Siehst du, in ein paar Jahren werden hier an diesem Fleck die Büros der Sonnen raketen-Gesellschaft, Inc. stehen, und ein Mann namens Julian Speckleton hat die Planungsarbeiten unter sich. Okay? Und die Burschen, die diese Zeitverschiebung aus führen, lassen ganz einfach einen Teil dieser Zeitsperre verschwinden, bis zu – ehm – der Zeit, die wir hier gerade haben, genau wie es eben uns gerade passiert ist.“ „Aber wofür soll das gut sein?“ „Da treten dann die Burschen in Aktion. Sie kommen an und fotografieren alle Pläne und Dokumente, die sie inter essieren.“ „Ich sehe immer noch nicht ein, weshalb. Sie müssen uns doch um Jahrhunderte voraus sein.“ 34
„Sicher. Aber so, wie sie arbeiten, haben sie bestimmt irgendwo noch eine zweite Zeitoperation laufen. Jetzt kommt ein Bursche namens Paladanov in die Geschichte. Sie geben ihm die Fotos der Dokumente, dann kehren sie die Zeitoperation um und machen sie rückläufig.“ * Das überlegte ich mir. „Ich verstehe immer noch nicht …“ begann ich. „Da liegt ja eben die Feinheit“, antwortete Doug. „Der Büroblock geht zurück bis zu dem Sekundenbruchteil, von dem sie ausgegangen sind, damit es den Anschein hat, als sei nichts angetastet worden. Aber dieser Paladanov und sein Team spielen da nieht mit, noch nicht jedenfalls. Er muß von dem Ort, wo er sein sollte, für ein paar Minuten verschwinden, so lange mindestens, daß er die Fotos alle bekommen kann, so daß sie im Haus sind, wenn er zurück kommt.“ „Das ist ja entsetzlich verwirrend.“ „Nun ja, und wenn dieser Paladanov zum gleichen Se kundenbruchteil zurückkehrt, zu dem er weggegangen ist, dann hat er die Fotos nicht bei sich – sie waren in diesem Sekundenbruchteil nicht in seinem Haus. Verstehst du jetzt?“ „Ich glaube nicht. Aber das ist auch schrecklich kompli ziert. Warum übertragen sie Paladanov nicht einfach hier her und sagen ihm ein paar Dinge, die ihm ein paar Jahre 35
oder Generationen Vorsprung vor seinen Konkurrenten geben? Das wäre doch wesentlich einfacher.“ „Selbstverständlich wäre das einfacher. Aber was wür den diese Leute damit gewinnen? Irgendwo ist da ein Schwindel dahinter, das ist doch immer so. Vielleicht ha ben Paladanovs Arbeitgeber Geld hinterlegt oder hineinge steckt, und das soll sich natürlich rentieren, das könnte doch sein? In diesem Fall würde der Schwindel, je länger er dauert, desto mehr Informationen herauslocken. Oder es könnte genausogut sein, daß sie gerade umgekehrt arbeiten und Kopf an Kopf mit ihren Konkurrenten um die Ge heimnisse im Rennen liegen, die sie einander abzuluchsen trachten. Das wäre doch eine nette, saubere Arbeit.“ Er überdachte genüßlich bewundernd seinen genialen Gedankengang. „Eines weiß ich“, fügte er hinzu, „falls und wenn wir in unsere Zeit zurückkommen, werde ich als er stes mein Haus und den Grund dazu kaufen.“ „Aber schau mal“, wandte ich ein, „das ist doch verrückt – und unpatriotisch.“ „Wieso? Ich sehe nicht ein, daß ein Informationsbüro in der Zeit – falls sich die Zeit nach Belieben verschieben läßt – verrückter sein sollte als eines im Raum. Wenn es richtig geführt wird, läßt sich jede Menge Geld damit verdienen. Und unpatriotisch? Das hängt doch von der Entfernung ab, oder? So, wie ich es sehe, wäre es schlecht gewesen, 1938 den Deutschen Radar zu geben. – Aber der Trick mit dem Trojanischen Pferd hätte zu keiner Zeit sehr viel ausge macht.“ 36
„In der Moral der beiden Geschichten sehe ich aber gar keinen Unterschied“, erklärte ich verächtlich. „Vielleicht haben sie überhaupt keine Moral“, meinte Doug. „Darüber habe ich auch gerade nachgedacht“, gab ich unbehaglich zu und sah zu seinem Haus hinüber. Man schien dort recht vergnügt zu sein, denn man hörte die Frauen kichern und die Männer unnatürlich laut lachen. „Glaubst du nicht, wir sollten …?“ fragte ich und machte eine Kopfbewegung nach drüben. Auch Doug horchte einen Augenblick lang. „Vielleicht sollten wir wirklich“, gab er zu. Wir drehten uns auf dem Absatz herum und gingen durch den Garten auf das Haus zu. An der Tür blieb er plötzlich stehen. „Ehm – ziemlich große und kräftige Burschen, die beiden, nicht wahr? – Bä renkräfte vermutlich, oder?“ meinte er zögernd. Auch da mußte ich ihm recht geben.
4. Kapitel Ich fürchte, über die drei nun folgenden Tage muß ich ei nen barmherzigen Schleier breiten. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, daß zwei respektabel erzogene Mädchen, die noch dazu verheiratet waren … Bitte, ich kann von mir zwar behaupten, daß ich das alles nicht so ohne weiteres hingenommen hätte. Ich erklärte 37
Sylvia, als ich sie einmal allein erwischte, was ich darüber dachte. Ihre Antwort war nicht sehr nett: „Willst du nicht endlich aufhören, dich in meine Ange legenheiten einzumischen?“ fragte sie spitz. „Aber es ist nicht deine Angelegenheit, über die ich mich beklage“, betonte ich, und das war ja auch nur allzu verständlich. „Wenn es dir nicht paßt, daß Alaric mein Freund ist, dann sag es ihm doch. Du wirst dann schon sehen, was er dazu meint.“ Alaric war, wie ich glaube, so ungefähr der größte von den vieren. „Es ist mir ganz gleich, wessen Freund er ist“, wandte ich ein, „ich meine nur, daß …“ „Na schön. Was meinst du dann eigentlich?“ fragte sie, und das klang ziemlich gereizt. „Hast du ihm etwas vorzu werfen? Vielleicht würde er sich das ganz gern anhören.“ „Ich rede ja gar nicht von ihm, sondern einzig und allein von dir.“ „Na und?“ „Wenn sich eine verheiratete. Frau einem anderen Mann sozusagen an den Hals wirft …“, begann ich wieder. „Ich dachte, du wolltest nicht von ihm sprechen?“ „Zum Teufel, das tu ich ja auch nicht. Ich möchte nur darauf hinweisen …“ „Na, schau mal“, sagte sie, „du hast doch wirklich genug Spaß daran, daß eine deiner verdammten blöden Magazin geschichten wahr wird. – Welches Recht hast du also, dich 38
in die meinen und meinen Spaß einzumischen?“ „Das ist etwas ganz anderes“, betonte ich. „Jedenfalls habe ich nicht darum gebeten, daß sie wahr werden. Es ist ganz einfach passiert.“ Plötzlich und ganz unerwartet beruhigte sich Sylvia wie der. „Ja“, antwortete sie träumerisch, „so geht es den Frauen mit der Liebe – es passiert ganz einfach“, fügte sie freundlich hinzu. „In diesen blöden Geschichten macht sich das ja ganz gut, aber …“, wandte ich ein. Ihre träumerische Ruhe war plötzlich dahin. „Blöde Ge schichte!“ rief sie, „und die deinen sind mindestens genau so blöd!“ Sie lachte schrill. „Schließlich sind die meinen aber harmlos und sauber“, gab ich zu bedenken. „Na, und die meinen gehen alle immer ganz moralisch aus, und das müssen sie auch“, entgegnete sie. „Ich mache mir weniger Sorgen darum, wie sie ausge hen“, erklärte ich. „Was willst du denn dagegen tun?“ fauchte sie mich an. Sie schien irgendwie nicht zu verstehen oder verstehen zu wollen, daß meine Unterredung mit ihr ja das war, was ich dagegen tun wollte. Doug, das gebe ich unumwunden zu, hatte eine direktere Methode, sein Mißfallen auszudrücken, wenn sie auch nicht erfolgreicher war als die meine. Wie ich hörte, legte er Rose ganz einfach übers Knie und drosch ihr die Spinne reien aus. Er arbeitete gerade ziemlich angestrengt, als 39
Damon, von Roses Heulen angezogen, herbeigelaufen kam. Er nahm Doug ganz ruhig beim Kragen und am Ho senboden und ließ ihn zum Fenster hinausfallen. Dann mußte natürlich Rose getröstet werden, so daß die ganze Geschichte sich schließlich um kein Haar änderte. Doug widmete anschließend den größten Teil seiner Zeit der Überlegung, wieviel des Geländes um uns von dem Sonnenraketenkonzern mit Beschlag belegt werden könnte – oder belegt worden war, je nachdem wie man die Sache ansah – und wie er sich das nötige Kapital verschaffen konnte. * Am Nachmittag des dritten Tages schlenderte der Mann, der sich zuerst mit mir unterhalten hatte, mit einem zufrie denen Lächeln von seinem Fahrzeug zum Haus. „Jetzt ha ben sie den Fehler gefunden“, berichtete er. „Einer unserer Computer hatte eine Hemmung, und da spielte er verrückt. Jetzt ist er aber wieder ganz in Ordnung.“ „Ich bin froh, daß Sie mir das sagen“, antwortete ich. Mir erschien es absolut nicht wahrscheinlich, daß ein in Ordnung gebrachter Computer mein aus den Fugen gegan genes Eheleben wieder aufs richtige Gleis zu schieben vermochte. „Selbstverständlich kommt wieder alles in die Reihe“, meinte er verständnisvoll und nickte. „Man wird Sie wie der dahin zurückversetzen, wo Sie herkommen, und dann 40
kommt Speckleton mit seinem Sonnenraketenbüro herein. Paladanov wird einen höllischen Krach schlagen. Als ob das was ändern würde! Der arme Narr wird nie begreifen, daß seine Zeit vorbei ist. Ganz gleich, wie lange er auch hierzubleiben hat, man kann ihn innerhalb von ein paar Minuten jederzeit wieder in seine Zeit zurückschicken. Sie natürlich werden auf die tausendstel Sekunde genau in Ihre Zeit zurückversetzt – die Toleranzen sind außerordentlich gering.“ „Wahrscheinlich wird es so kommen“, antwortet ich lustlos. „Jedenfalls, wir sind jetzt drei Tage hier beisam men, und während dieser Zeit hat meine Frau…“ „Oh“, meinte er leichthin, „diese Zeit müssen Sie ganz einfach streichen.“ „Das meinen Sie vielleicht“, bemerkte ich bitter. Viel leicht war es besser, nicht mehr davon zu sprechen. Ich sah hinaus aufs wüstenähnliche Gelände, das uns umgab. „Es wäre nett, wenn ich erfahren könnte, wo und wann wir die se Zeit verbrachten“, bat ich. „Und wie ist denn dieses gan ze Gelände hier so geworden, wie es jetzt ist?“ „Das?“ Er schüttelte den Kopf. „Das kann ich auch nicht genau sagen. Irgendwie muß es etwas erwischt haben, mei nen Sie nicht auch? Wahrscheinlich ist das während des zweiten Atomkrieges passiert. Na gut. Ich glaube, ich muß den Burschen jetzt sagen, daß wir von hier verschwinden. Wo sind sie denn eigentlich?“ „Ich weiß es zwar nicht, aber ich habe eine ganz be stimmte Ahnung“, meinte ich verdrossen. 41
Ich stand mit Doug auf dem schmalen Terrassenweg vor seinem Haus. Die Szene, die sich am Ende meines abge schnittenen Gartens abspielte, war nicht gerade erbaulich für uns; jenseits der unsichtbaren Mauer kletterten die vier Männer in ihr Fahrzeug. Diesseits, also auf unserer Seite, standen Sylvia und Rose eng umschlungen, als wollten sie sich gegenseitig stützen und trösten. In den Händen hielten sie Taschentücher. Manchmal wedelten sie damit zu dem Fahrzeug hinüber, dann betupften sie wieder ihre Augen. Wir standen da und sahen dieser Aufführung in düster brü tendem Schweigen zu. „Endlich verschwinden sie“, seufzte Doug. „Ich habe mir schon überlegt, ob sie sich ganz bei uns niederlassen wollten.“ „Wie lange haben wir noch?“ fragte ich. Er sah auf seine Uhr. „Ungefähr fünf Minuten.“ „Sollten wir irgend etwas Bestimmtes tun?“ fragte ich. „Nein. Sie sagten nur, es würde eben so passieren.“ Das Fahrzeug schob sich langsam von uns weg. Sylvia und Rose winkten ihm heftig nach, und die Männer drinnen winkten zurück. Ein paar hundert Meter weiter blieb es plötzlich stehen. Das war offensichtlich eine Sicherheits entfernung. Wir sahen genau die vier uns zugewandten Köpfe unter der transparenten Haube. Sie beobachteten uns. Die Mädchen klammerten sich noch immer aneinander und winkten heftig. „Hör mal“, wandte ich mich an Doug. „Das verstehe ich immer noch nicht. Wenn alles bis auf eine tausendstel Se 42
kunde in diese Zeit zurückversetzt wird, in der wir waren – wie sollten wir uns je daran erinnern, daß es jemals …“ Ich wurde mitten im Satz unterbrochen und bekam gleichzeitig die Antwort: ich saß in meinem Bett, das Licht brannte, und auf der elektrischen Uhr war es fünfzehn nach drei. Neben mir weinte Sylvia in ihr Kissen. Ich sprang aus dem Bett und ging zum Fenster. „Wir sind wieder da“, sagte ich. Sylvia nahm keine Notiz davon. Sie fuhr fort, in ihr Kis sen zu schluchzen, als habe sie mich gar nicht gehört. „Heute nachmittag gehe ich zu Groves“, kündigte ich beim Frühstück an. Sylvia blickte auf. Offensichtlich war sie an diesem Morgen nicht ganz auf der Höhe. „Ich werde ihn besuchen, um die Scheidungsformalitä ten mit ihm zu besprechen“, bemerkte ich nachdrücklich. Sie starrte mich an, riß sich zusammen und war im glei chen Augenblick wieder ganz in Form. „Soll das vielleicht ein Scherz sein?“ fragte sie. „Scherz? Und dein Benehmen? Soll das vielleicht ein Scherz gewesen sein?“ „Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest“, behauptete sie. Ich sah sie an, sehr scharf sogar. Aber sie blinzelte nicht einmal. „Aber hör mal“, sagte ich, „du willst mir doch nicht vormachen, daß du dich an dein unmögliches Be nehmen überhaupt nicht mehr erinnerst?“ „Willst du mich unbedingt beleidigen?“ fragte sie eisig. 43
„Vergiß nicht, ich habe Zeugen. Die Saggitts werden es bestätigen.“ „Wie interessant, George. Was denn – und wo – und wann?“ „Na schön. Diese glattgesichtigen …“, begann ich. Sylvia schüttelte verständnislos den Kopf. „Vielleicht hätte ich allen Grund, böse zu sein, George. Aber ich will dir noch mal verzeihen.“ „Du – du willst mir – mir – verzeihen?“ „Schließlich ist es absolut nicht anständig, einen anderen Menschen für seine Träume verantwortlich zu machen. Ich nehme an, dieser ganze Unsinn hat mit diesen hirnver brannten Geschichten zu tun, die du immer lesen mußt, be vor du zu Bett gehst. Wenn du nur endlich versuchen woll test, Geschichten zu lesen über Dinge, die wirklich passie ren können, George …“ Als ich mich auf den Weg ins Büro machte, erschien al les ziemlich normal; man hätte überhaupt nie auf den Ge danken kommen können, daß sich irgend etwas Unge wöhnliches ereignet haben könnte. Als ich mich genau um sah und den Fußweg unter die Lupe nahm, stellte ich mir vor, daß ich die haarfeine Rißlinie sehen könnte, aber auch das hätte ich nicht mit Sicherheit behaupten können. Doug kam gerade in dem Augenblick durch die Haustür, als ich daran vorbeiging. „Hallo, George.“ Er warf einen Blick in die vertraute Runde. „Heute ist Mittwoch“, stellte er fest. „Ich habe mich am Telefon erkundigt – und gestern war Dienstag. Und trotzdem liegen drei Tage dazwischen. Verrückt, meinst du nicht auch?“ 44
„Ich bin froh, daß du davon anfängst“, erklärte ich. „Ge rade spielte ich schon mit dem Gedanken, ich sei verrückt geworden.“ Er sah mich prüfend an. „So, dann erzählt deine dir das also auch. Komisch, meine macht’s genauso.“ Wir sahen einander an. „Das ist – eine Verschwörung oder so ähnlich“, bestätig te ich. „Möglicherweise“, gab Doug zu. „Aber ich weiß nicht recht, was wir dagegen tun können. Ich würde eine gute Tracht Prügel empfehlen. – Diesmal würde uns niemand dabei unterbrechen.“ „Hm – ich glaube nicht, daß Sylvia …“, begann ich. „Wert, daß du einen Versuch machst. Wirkt Wunder“, riet Doug. Und dann fuhr er mit geheimnisvoll veränderter Stimme fort: „Ich bin gerade dabei, mich genau wegen die ses Grundbesitzes hier zu erkundigen. Und wie steht’s mit dir? Machst du mit?“ Für mich wurde die Geschichte allmählich zu dem Traum, für den Sylvia sie angeblich hielt, aber Doug sprach offensichtlich vom Geschäft. „Gib mir ein paar Tage Zeit“, schlug ich vor. „Okay, es hat keine Eile“, meinte er, bevor wir uns trennten. Beinahe hätte ich alles vergessen, jedenfalls war ich nahe. daran. Zwischen Sylvia und Rose herrschte eine ungewöhnliche Eintracht, und wenn ich mir die ganzen Er eignisse rückschauend durch den Kopf gehen ließ, erschie nen sie mir selbst auch immer phantastischer. – Und dann 45
sah ich mir Sylvia an. Ich konnte mir wirklich nicht vor stellen, daß … Aber unglücklicherweise fiel etwa eine Woche später mein Blick auf eine Zeitungsanzeige. Dort hieß es: Für Emmeline, die Gattin von Alfred Speckleton, ein Sohn Julian.
46
Tatsachen ohne Zusammen
hang
Isaac Asimov Raph war ein typischer Amerikaner seiner Zeit. Und er war bemerkenswert häßlich – nach den amerikanischen Stan dards unserer Zeit. Das Knochengerüst seines Kiefers zeig te kolossale Ausmaße, die darübergespannte Muskulatur stand dem kaum nach. Die bogenförmige, breite Nase zwang die kleinen, schwarzen Augen weit auseinander. Er besaß einen breiten Nacken, einen wuchtigen, massiven Körper, spachtelförmige Finger mit stark gekrümmten Nä geln. Wäre er aufrecht gestanden, auf seinen dicken, mit aus geprägten Ballen versehenen Beinen, so hätte er wohl über zweieinhalb Meter in die Höhe geragt. Ob er aber nun saß oder stand – sein Gewicht näherte sich unweigerlich dem Viertel einer Tonne. Seine Stirn krümmte sich in einem wohlgeformten Bo gen, und das Volumen seines Schädels brauchte keinen Vergleich zu scheuen. Geschickt führten seine riesigen Finger eine Schreibfeder, und sein Verstand sponn ver schlungene Fäden, während er sich über den Tisch beugte. Und tatsächlich – seine Frau und die meisten seiner ame 47
rikanischen Landsleute hielten ihn für einen gutaussehenden Mann. Was wieder einmal deutlich zeigt, welche Veränderun gen im Geschmack im Laufe der Zeit auftreten können. Raph, junior, war eine verkleinerte .Ausgabe unseres ty pischen Amerikaners. Er war noch ein Jüngling und hatte noch nicht den jugendlichen Haarpelz seiner Kindertage abgelegt. Er breitete sich wie ein dunkler, dichtgelockter Teppich über seinen Brustkasten und Rücken aus. Aber allmählich wurde diese Haarpracht bereits schütter, und vielleicht in einem Jahr würde man ihm das erste Hemd schenken, wel ches die stolzgeschwellte, nackte Haut der Erwachsenen bedeckte. Doch vorderhand trug er nur die strapazierfähigen Hosen und kratzte sich vergnügt an seiner Lieblingsstelle – weni ge Zentimeter oberhalb des Zwerchfells. Er war neugierig – und vielleicht auch ein wenig gelangweilt. Es war ja ei gentlich ganz nett, seinen Vater im Museum zu besuchen, wenn es von vielen Leuten bevölkert war. Heute aber war Ruhetag, und die leeren Gänge hallten dann so einsam. Außerdem kannte er ohnehin alles, was in dem Museum zur Schau stand – in der Hauptsache Steine und Knochen. Junior sagte: „Was ist das?“ „Was ist was?“ Raph hob seinen Kopf und blickte über seine Schulter. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem erfreuten Ausdruck. „Oh, das ist ziemlich neu. Das ist eine Rekonstruktion des Urprimaten. Die Nord-Strom-Gruppe 48
hat sie mir geschickt. Ist es nicht eine hervorragende Ar beit?“ Und er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, noch immer innerlich überaus über dieses neue Ausstellungs stück erfreut. Frühestens in einer Woche würde er den Ur primaten in die permanente Ausstellung aufnehmen kön nen. Zuerst mußte er einen ins Auge fallenden Platz mit einer entsprechenden Umgebung herrichten. Jetzt stand die Figur noch in seinem eigenen Büro. Raph, junior, hingegen betrachtete die „hervorragende Arbeit“ mit ganz anderen Gefühlen. Was er sah, war nur eine spindeldürre Figur von mäßiger Größe, mit dünnen Armen und Beinen, mit Haaren bedeckt, die ein häßliches, flaches Antlitz mit übergroßen, hervortretenden Augen be saß. Er fragte: „Nun gut, aber was ist das nun wirklich, Pa?“ Raph sah ungeduldig auf. „Das ist ein Lebewesen, das vor vielen Millionen Jahren gelebt hat. Zumindest nehmen wir das an. So, nehmen wir an, hat es ausgesehen.“ „Warum?“ ließ der Junge nicht locker. Raph gab es auf. Offensichtlich mußte er seinem Sohn diese Angelegenheit von Anfang an erklären, um wieder in Ruhe arbeiten zu können. „Also – wir können erstens zum Beispiel aus der Form der Knochen auf die Lage der Muskel schließen, weiter erkennen wir aus den Knochen die Ansatzpunkte der Seh nen und die Nervenbahnen. Aus den Zähnen können wir die Art der Verdauung, die dieses Wesen besessen hat, er sehen, aus den Fußknochen die Art der Fortbewegung. Den 49
Rest besorgen wir uns dann aus den Gesetzen der Analogie – also aus der äußeren Erscheinung, die wir von Tieren, die heute noch leben, kennen, und die einen ähnlichen Ske lettaufbau besitzen. Aus diesem Grund ist er auch mit ei nem roten Pelz bedeckt. Die meisten der heutigen Primaten – das sind kleine, bedeutungslose Kreaturen, die bereits fast ausgestorben sind – sind rothaarig und besitzen kahle Hautverhärtungen am Rücken…“ Junior hastete um die Gestalt herum, um sich von der Aussage seines Vaters persönlich zu überzeugen. „… sowie einen langen, fleischigen Schnorchel und kur ze, knorpelige Ohren. Ihre Nahrung scheint wenig speziali siert zu sein, daher sind auch die Zähne für alle Arten von organischen Nahrungen konstruiert. Es handelt sich bei ihnen um Nachtwesen – daher auch die großen Augen. In Wirklichkeit ist das alles ziemlich einfach. Nun – stellt dich das zufrieden, junger Freund?“ Nachdem Junior nachgegrübelt und nachgeforscht hatte, was in seiner Erinnerung noch zu finden sei, sagte er mit Geringschätzung in der Stimme: „Für mich, allerdings, sieht das aus wie ein Ekah. Ganz einfach ein alter, häßli cher Ekah.“ Raph starrte ihn an. Er hatte ihn offensichtlich nicht ver standen. „Ein Ekah?“ fragte er, „was ist ein Ekah? Ist das eine Märchengestalt, von der du in letzter Zeit gelesen hast?“ „Märchengestalt? Sag einmal, Pa, gehst du denn nie zum Archivar?“ 50
Diese Frage war nicht leicht zu beantworten, denn „Pa“ tat es niemals – oder zumindest niemals, seitdem er sich zu den Erwachsenen rechnen durfte. Als er noch ein Kind war, hatte der Archivar als Bewahrer der geschriebenen, erzählten und aufgenommenen Geschichten der Mensch heit natürlich eine unheimliche Anziehungskraft für ihn besessen. Aber inzwischen war er herangewachsen … Vermittelnd sagte er: „Gibt es denn da neue Geschich ten, in denen Ekahs vorkommen? Ich kann mich nicht erin nern, welche gefunden zu haben, als ich noch jung war.“ „Du verstehst mich nicht, Pa.“ Man konnte fast der Mei nung sein, der junge Raph mußte sich bemühen, einen in sich aufgestauten Ärger zurückzuhalten, der seinen Vater sicherlich beleidigt hätte. Sorgsam seine Worte wählend, erklärte er: „Die Ekahs sind wirkliche, reale Lebewesen. Sie kamen von der ANDEREN Welt. Hast du nicht einmal davon gehört? Wir haben es in der Schule gelernt, ja, es waren sogar Artikel darüber im Gruppen-Magazin. In ih rem Land stehen sie auf dem Kopf – nur wissen sie es nicht. Und sie sehen genauso aus wie das alte Ur-Ding hier.“ Raph versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen. Er hatte das Gefühl, daß es angebracht sei, sein halberwachse nes Kind nach archäologischen Daten zu fragen. Er zöger te; Und schließlich – er hatte tatsächlich einiges darüber gehört. Es hatte da gewisse Gerüchte über riesige Konti nente auf der anderen Seite der Erde gegeben. Er erinnerte sich jetzt, daß man darüber gesprochen hatte, daß sie sogar 51
bewohnt sein sollten. Aber das war alles nur sehr undeut lich in seiner Erinnerung. Vielleicht war es doch nicht so klug, sich immer nur für die unmittelbare Umgebung sei nes eigenen Fachgebiets zu interessieren. Er fragte seinen Sohn: „Gibt es irgendwo unter unseren Gruppen Ekahs?“ Junior nickte heftig: „Der Archivar sagte, daß sie eben sogut wie wir denken können. Sie besitzen Maschinen, die durch die Luft gehen können. So sind sie zu uns gekom men.“ „Junior!“ rief Raph streng. „Ich schwindle nicht“, erklärte Junior beleidigt. „Frage doch den Archivar selbst und finde heraus, was er dazu zu sagen hat.“ Sorgfältig ordnete Raph seine Papiere. Es war zwar Ru hetag, aber ohne Zweifel würde er den Archivar in dessen Wohnung antreffen. * Der Archivar war ein älterer Angehöriger der Nord-StromGruppe. Nur wenige Mitglieder der Siedlung konnten sich an die Tage erinnern, an denen er dieses Amt noch nicht bekleidet hatte. Er hatte diesen Posten in voller Über einstimmung mit seinen Mitbürgern erhalten, und er ver richtete seine Arbeit zur Zufriedenheit aller. Schließlich war er ja auch aus denselben Gründen Archivar, aus denen Raph Verwalter des Museums war. Er liebte diese Arbeit, 52
er hatte schon immer diesen Beruf ergreifen wollen, er konnte sich überhaupt keine andere Tätigkeit vorstellen. Die Sozialstruktur der Gurro-Gruppen ist schwer zu ver stehen. Der Aufbau war so locker, daß das Wort „Struktur“ beinahe unpassend erscheint. Der einzelne Gurro ergriff die berufliche Laufbahn, für die er die meiste Neigung ver spürte. Die Arbeit, die so übrigblieb und doch getan wer den mußte, wurde entweder gemeinsam erledigt oder aber von einzelnen Gurros, die von der Gruppe als Ganzes ab wechselnd dazu bestimmt wurden. Wenn man es so einfach schildert, so klingt dieses System fast zu einfach, als daß es auch funktionieren könnte. Aber in den fünftausend Jahren, die seit der ersten freiwilligen Gruppenbildung unter den Gurros vergangen sein sollen, hatte sich dieses System als zwar kompliziert und wandelbar – aber auch als durchaus praktisch erwiesen. Wie es Raph angenommen hatte, traf er den Archivar in dessen Wohnung. Raph war sich bewußt, daß er nun die unangenehme Aufgabe hatte, eine alte und ungerechtfertig terweise vernachlässigte Bekanntschaft wieder aufleben zu lassen. Natürlich hatte er immer wieder von den Nach schlagwerken aus der Bibliothek des Archivars Gebrauch gemacht – aber dies war niemals in Form eines persönli chen Besuchs geschehen. Seit den Tagen seiner Kindheit, als er noch ein eifriger Student zu Füßen des überlegenen Wissens gewesen war, war die alte Freundschaft immer mehr in der Vergessenheit versunken. Der Raum, den er jetzt betrat, war mehr oder weniger 53
mit Aufnahmen vollgestopft, die nur zu einem geringen Umfang durch Druckwerke ergänzt wurden. Der Archivar vermengte seine Begrüßungsworte mit einigen Entschuldi gungen. „Verschiedene Sendungen sind in den letzten Tagen von anderen Gruppen hereingekommen“, erklärte er. „Es dauert Tage, bis man alles katalogisiert hat; so finde ich nur schwer die Zeit, die ich eigentlich für mich selbst brauche.“ Er entzündete eine Pfeife und stieß umfangreiche Rauch wolken in die schale Luft. „Es sieht so aus, als müßte ich mich nach einem Assistenten umsehen, der sich ganz in den Dienst dieser Aufgabe stellt. Wie wäre es denn mit Ih rem Sohn, Raph? Er treibt sich immer in meiner Nähe her um – so wie Sie es vor zwanzig Jahren ja selbst getan ha ben.“ „Sie erinnern sich an diese Zeiten?“ „Wahrscheinlich besser, als Sie es selbst tun. Glauben Sie, daß Ihrem Sohn diese Arbeit Freude machen könnte?“ „Vielleicht ist es am besten, wenn Sie selbst mit ihm sprechen. Es könnte durchaus sein. Wenn ich ehrlich sein soll, so kann ich nicht gerade behaupten, daß ihn die Ar chäologie fasziniert.“ Raph ergriff spielerisch eine Auf nahme und betrachtete eingehend die Aufschrift. „Hm, von der Joquin-Tal-Gruppe. Die ist ja ziemlich weit von hier entfernt.“ „Stimmt“, nickte der Archivar. „Ich habe ihnen natürlich auch einiges von unserem Material gesandt. Die Arbeit un serer Gruppe ist auf dem ganzen Kontinent geschätzt und 54
geachtet“, sagte er mit beträchtlichem Stolz. „Tatsächlich“, fuhr er fort und deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife auf seinen Gesprächspartner, „fand auch Ihre eigene Arbeit über die ausgestorbenen Primaten eine weitverbreitete Be achtung. Ich habe zweitausend Exemplare versandt. Das ist ziemlich viel – für Archäologie.“ „Nun, der Archäologie wegen bin ich auch gekommen – deswegen und wegen einer Geschichte, die Sie angeblich meinem Sohn erzählt haben.“ Raph suchte nach den richti gen Worten. „Er behauptet, Sie hätten ihm von Kreaturen erzählt, die man Ekahs nennt und die unsere Antipoden sein sollen. Ich möchte Sie nun bitten, mir zu berichten, welche Informationen Sie darüber besitzen.“ Der Archivar sah gedankenverloren vor sich hin. „Nun, ich kann Ihnen sagen, was ich auswendig darüber weiß, aber wir können natürlich auch in die Bibliothek hinüber gehen, um dort nachzuschlagen.“ „Es ist nicht notwendig, daß Sie extra für mich die Bi bliothek am Ruhetag öffnen. Geben Sie mir nur einen un gefähren Überblick. Ich kann dann selbst noch nachschla gen.“ Der Archivar biß etwas fester auf das Mundstück seiner Pfeife, schob seinen Stuhl bequem zurück und sah über den Kopf seines Gegenübers hinweg gedankenvoll ins Leere. „Nun“, begann er, „ich glaube, die ganze Geschichte fing mit der Entdeckung der Kontinente auf der anderen Seite an. Das war vor fünf Jahren. Davon haben Sie ja wahrscheinlich gehört.“ 55
„Ich kenne nur die nackten Tatsachen. Ich weiß, daß die se Kontinente existieren. Ich kann mich noch erinnern, daß ich davon träumte, welch wunderbare neue Gebiete der ar chäologischen Forschung hier brachlägen. Aber das ist auch schon alles.“ „Also – da gibt es vieles, was ich Ihnen noch erzählen kann. Sie müssen zum Beispiel wissen, daß wir diese neuen Kontinente niemals direkt entdeckt haben. Vor ungefähr fünf Jahren erreichte eine Gruppe von Lebewesen, die nicht zu den Gurros gehörte, die Ost-Küsten-Gruppe in ei ner Flugmaschine – die, wie wir später herausfanden, durchaus auf wissenschaftlichen Grundlagen basierte, und zwar auf dem Auftrieb der Luft. Sie beherrschten eine Sprache, waren offensichtlich intelligent und nannten sich selbst Ekahs. Die Gurros der Ost-Küsten-Gruppe erlernten die fremde Sprache – sie ist ziemlich einfach, wenn auch einige unaussprechliche Laute vorkommen –, und ich be sitze sogar eine Grammatik von ihr, wenn Sie daran inter essiert sein sollten …“ Raph winkte ab. Der Archivar fuhr fort: „Die Gurros dieser Gruppe mit der Unterstützung derjenigen der Eisen-Berge-Gruppe – die ja, wie Sie wissen, auf Eisenverarbeitung spezialisiert sind – stellten Duplikate dieser fliegenden Maschine her. Ein Flug über den Ozean wurde unternommen, und ich kann mit Stolz sagen, daß ich eine hübsche Anzahl von Büchern über diese ganze Themengruppe besitze – Bücher über die Flugmaschine, über eine neue Wissenschaft, die 56
man Aerodynamik nennt, über neue geographische Details, ja sogar über eine neue Philosophie, die sich auf der Plura lität der intelligenten Lebensformen aufbaut. Das alles ha ben die Gruppen der Ost-Küste und der Eisen-Berge gelei stet. Eine bemerkenswerte Leistung für fünf Jahre. Jedes einzelne Werk ist übrigens in unserer Bibliothek vorhan den.“ „Und die Ekahs – halten die sich noch immer bei der Ost-Küsten-Gruppe auf?“ „Hm – ich bin ziemlich sicher, daß sie noch dort sind. Sie haben es abgelehnt, zu ihrem eigenen Kontinent zu rückzukehren. Sie nennen sich ‚politische Flüchtlinge’.“ „Poli… was?“ „Das ist ein Begriff ihrer eigenen Sprache“, erklärte der Archivar, „und wir kennen keine Übersetzung.“ „Also – warum denn politische Flüchtlinge? Warum nicht geologische Flüchtlinge oder m-tata-Flüchtlinge? Ich denke doch, daß ein Wort auch einen Sinn ergeben sollte.“ Der Archivar zuckte seine Schultern. „Ich kann Sie nur auf die Literatur verweisen. Sie behaupten, keine Verbre cher zu sein. Ich kann Ihnen nur das berichten, was ich selbst gehört habe.“ „Also gut. Wie sehen sie denn aus? Haben Sie Fotogra fien von ihnen?“ „In der Bibliothek.“ „Haben Sie meine ,Grundlagen der Archäologie’ gele sen?“ „Ich habe das Buch durchgeblättert.“ 57
„Erinnern Sie sich an die Zeichnung vom Urprimaten?“ „Ich fürchte nicht.“ „Dann – glaube ich – wird es sich wohl doch als not wendig erweisen, in die Bibliothek zu gehen.“ „Bitte, sicher.“ Der Archivar brummte diese Worte vor sich hin, als er aufstand. * Der Administrator der Nord-Strom-Gruppe bekleidete eine Position, die sich im Wesentlichen nicht von der des Mu seums-Verwalters unterschied – oder von der des Archi vars oder von irgendeinem anderen Beruf. Wenn man einen Unterschied erwartete, so mußte man sich eine Gesellschaft vorstellen, in der die Fähigkeit für einen solchen Beruf nur selten vorkommt. All die Arbeiten in einer Gruppe – in der eine „Arbeit“ als eine regelmäßige Beschäftigung definiert ist, deren Früchte der Allgemeinheit und dem Ausübenden selbst zu gute kommen – werden prinzipiell in zwei Teile geteilt: Erstens die „freiwillige Arbeit“, zweitens die „Gemein schaftsarbeit“. Jeder Beruf innerhalb dieser ersten Katego rie ist jedem anderen gleichwertig. Wenn ein Gurro Freude daran hat, Gräben auszuheben, so muß man seinen Wunsch respektieren und seine Arbeit ehren. Wenn nun niemand an solchem Scharren Freude fand, und es doch notwendig für die Allgemeinheit erschien, so wurde diese Tätigkeit zu einer Gemeinschaftsarbeit, die je nachdem durch Losent 58
scheid oder nach einer gewissen Reihenfolge von den Mit gliedern der Gruppe erledigt wurde – manchmal ziemlich unangenehm für den einzelnen Gurro, aber nichtsdestowe niger unausweichlich. So kam es, daß der Administrator in einem Haus lebte, das nicht größer oder luxuriöser war als alle anderen, daß er nicht den Vorsitz über hundert Tagungen führte, daß er keinen besonderen Titel trug, wenn man von der Benen nung seines Berufes absah, und daß er nicht beneidet, ge haßt oder verehrt wurde. Es machte ihm Spaß, den Handel zwischen den Gruppen in die Wege zu leiten, die gemeinsamen Geldmittel der Gruppe zu verwalten und die seltenen Streitfälle, die sich in der Gruppe erhoben, zu schlichten. Natürlich erhielt er keine gesonderten Nahrungs- oder Energieaufwendungen für die Erledigung einer Arbeit, die er ohnehin gern tat. Raph ging also nicht zum Administrator, um sich eine Erlaubnis einzuholen. Es war weit eher eine Art der ge rechtfertigten Berichterstattung. Der Ruhetag hatte noch nicht geendet. Friedlich saß der Administrator in seinem bequemen Lehnstuhl, paffte an einer Zigarre und hielt ein Buch in seiner Hand. Und obwohl sechs Kinder und eine Ehefrau an und für sich etwas Zeitloses an sich haben, lag eine typische Atmosphäre über der ganzen Wohnung. Sobald Raph in das Zimmer trat, empfing ihn ein vielfa ches Begrüßungsgebrüll, das er durch Abdecken seiner Oh ren abwehrte, denn sofern die kleinen Administratorchens (einziger anwendbarer Titel; Anmerkung des Autors) einen 59
Beruf hatten, so war es etwas mit der Lärmerzeugung. Es war offensichtlich – es handelte sich um ihre Lieblingsbe schäftigung. Der Administrator beruhigte sie wieder. Raph nahm eine Zigarre an. „Ich habe die Absicht, die Gruppe für eine gewisse Zeit spanne zu verlassen, Lahr“, sagte er. „Meine Arbeit macht es notwendig.“ „Wir werden Sie vermissen, Raph. Ich hoffe, daß es nur für kurz ist.“ „Das hoffe ich auch. Wieviel haben wir denn in der Ge meinschaftskasse?“ „Oh, ich bin sicher, es wird für Ihre Zwecke ausreichen. Wohin wollen Sie denn reisen?“ „Zur Ost-Küsten-Gruppe.“ Der Administrator nickte gedankenvoll und stieß eine Wolke bläulichen Rauches von sich. „Unglücklicherweise sind wir der Ost-Küste noch eine Kleinigkeit schuldig, so daß wir Ihren dortigen Aufenthalt nicht einfach verrechnen können – ich kann Ihnen dies in meinen Aufzeichnungen zeigen, falls Sie es wünschen –, aber die Gemeinschafts kasse wird selbstverständlich die Reisespesen und sonsti gen Unkosten auf sich nehmen.“ „Ausgezeichnet. Und wie sieht es für mich auf der Öf fentlichen Dienstliste aus?“ „Hm – da muß ich mir die Unterlagen holen. Entschul digen Sie mich bitte einen Augenblick.“ Raph beugte sich vor, um den Jüngsten der Familie ein 60
wenig in den Bauch zu kneifen. In gespielter Wildheit hatte sich der Kleine mit gefletschten Zähnen an ihn herange macht – ein kleines, schwarzes Fellbündel, mit der typi schen langen Kinderschnauze, die sich noch nicht von dem tierischen Vorbild vergangener Jahrmillionen hinweggebil det hatte. Der Administrator kam mit einer dicken Mappe unter dem Arm zurück und setzte eine riesige Brille auf. Um ständlich blätterte er in der Mappe, schubste einzelne Blät ter in die richtige Lage und glitt mit seinem Finger langsam eine lange Liste entlang. Er sagte: „Es handelt sich nur um die Wasserversorgung, Raph. Sie sind für nächste Woche zu Instandhaltungsarbei ten eingeteilt. Sonst fällt für zumindest zwei weitere Wo chen nichts an.“ „Bis dahin bin ich wieder zurück. Besteht die Aussicht, daß bei der Wasserversorgung jemand für mich ein springt?“ „Hm – das werde ich schon organisieren. Im Notfall kann ich noch immer meinen Ältesten schicken. Er kommt langsam in das Alter, wo er sich einen Beruf aussuchen muß, und er kann ruhig einmal auch dies ausprobieren. Vielleicht macht es ihm Freude, an den Dämmen zu arbei ten.“ „Ja? Dann sagen Sie mir das. Dann kann er für mich ein springen – für immer!“ Der Administrator lächelte freundlich. „Verlassen Sie sich nicht darauf, Raph. Wenn er nämlich einen Weg fin 61
det, den Schlaf zu einer nützlichen Beschäftigung zu ma chen, so wird das sicherlich sein Beruf. Warum wollen Sie zur Ost-Küste – sofern Sie darüber sprechen wollen?“ „Vielleicht werden Sie lachen, aber ich habe soeben he rausgefunden, daß es sogenannte Ekahs gibt.“ „Ekahs? Ja, ich weiß davon.“ Der Administrator streckte seinen Finger aus. „Das sind Kreaturen von jenseits des Ozeans. Stimmt es?“ „Stimmt! Aber das ist noch nicht alles. Ich komme gera de vom Archivar. Dort habe ich dreidimensionale Repro duktionen gesehen, Lahr, und es handelt sich bei diesen Wesen um den Urprimaten – oder zumindest beinahe. Auf alle Fälle sind es Primaten, intelligente Primaten. Sie besit zen kleine Augen, flache Nasen und vollständig andere Kieferknochen – sie sind sicherlich mit dem Urprimaten ziemlich nahe verwandt. Ich muß sie sehen, Lahr.“ Der Administrator hob seine Schultern. Er hatte an der Sache selbst kein Interesse. „Warum? Ich frage nur, weil ich davon nichts verstehe, Raph. Hat es für Sie eine Bedeu tung, diese Wesen zu sehen?“ „Eine Bedeutung?“ Raph konnte offensichtlich eine sol che Frage nicht verstehen. „Wissen Sie nicht, was in den letzten Jahren geschehen ist? Haben Sie meine Bücher nicht gelesen?“ „Nein“, sagte der Administrator bestimmt. „Ich würde sie nicht einmal lesen, um mich vor der Müllabfuhr zu drü cken!“ Raph gab zurück: „Was nur beweist, daß Sie sich an 62
scheinend eher für Müllabfuhr als für Archäologie eignen. Aber das macht ja nichts. Ich habe jedenfalls, auf mich al lein gestellt, in den letzten zehn Jahren für meine Theorie gekämpft, die besagt, daß der Urprimat ein intelligentes Wesen war, das eine hochentwickelte Zivilisation besessen hat. Bis jetzt hatte ich außer der logischen Notwendigkeit hierfür keinerlei Beweise anzubieten – und solche Beweise werden nur von den wenigen Archäologen akzeptiert. Sie verlangen immer nach etwas Handgreiflichem. Sie verlan gen nach den Überresten einer Gruppe, nach Gebrauchsge genständen, Kunstwerken oder Büchern – verstehen Sie? Alles, was ich anzubieten hatte, war ein Skelett mit einer riesigen Gehirnhöhle. Himmel – wovon erwarten denn die se Leute, daß es zehn Millionen Jahre überlebt. Metall ver geht, Papier vergeht, Filmrollen vergehen. Nur Gestein bleibt zurück. Und Knochensubstanz, die versteinert ist. Und genau das habe ich. Einen Schädel, in dem ausreichend Platz für ein Gehirn ist. Und auch Steine selbst, alte, scharfe Steinmesser. Aus Kieselstein, den wir vom Meeresboden heraufgeholt haben.“ „Nun“, sagte Lahr, „da haben wir ja die Gebrauchsge genstände.“ „Es handelt sich um Kiesel aus der Frühsteinzeit. Sie werden einfach nicht akzeptiert. Diese Idioten halten sie für Naturprodukte, um glückliche Formungen der Erosion.“ Dann lächelte er mit wissenschaftlichem Eifer: „Aber wenn die Ekahs intelligente Primaten sind, habe ich meine Theorie praktisch bewiesen.“ 63
*
Raph hatte schon früher Reisen unternommen, die ihn al lerdings noch nie nach Osten geführt hatten; so beeindruck te ihn die Abnahme der landwirtschaftlichen Anbaufläche sehr. In früherer Zeit waren die Gruppen der Gurros voll kommen unspezialisiert gewesen. Jede von ihnen konnte sich selbst versorgen, und der Handel war eher eine freund schaftliche Geste denn eine Notwendigkeit. So verhielt es sich auch jetzt noch mit den meisten Gruppen. Seine eigene Nord-Strom-Gruppe war hier viel leicht typisch. Ungefähr fünfhundert Meilen von der Küste entfernt, in fruchtbarem Farmland, blieb die Landwirtschaft der hauptsächliche Broterwerb. Der Strom lieferte Fische, und es gab eine gut entwickelte Milchverwertung. Es wa ren auch die Nahrungsmittelexporte, die die gute Lage in der Gemeinschaftskasse geschaffen hatten. Während er nun weiter nach Osten kam, nahm der Anteil der landwirtschaftlich genutzten Flächen immer mehr ab. Die Gegend ging mehr und mehr in ein Industriegebiet über. In der Ost-Küsten-Gruppe fand Raph einen Umschlag platz, der seinen Reichtum hauptsächlich den Schiffen zu verdanken hatte. Der Bevölkerungsreichtum lag über dem Durchschnitt, die Häuser standen dichter als gewöhnlich beieinander – ja oft näher als hundert Meter. Raph konnte es sich kaum vorstellen, in solch einem 64
engverbauten Gebiet zu hausen. Am Hafen war es noch schlimmer, als er die Unmengen von Gurros beobachtete, die Schiffe beluden und Ladungen löschten. Der Administrator der Ost-Küsten-Gruppe war ein noch junger Mann, der – erst kurz im Amt – noch voller Freude über seine Tätigkeit zu Sein schien. Strahlend begrüßte er den prominenten Fremdling. Raph aß sich durch eine exzellente Mahlzeit und wurde eingehend über die genaue Herkunft eines jeden Gerichtes informiert. In seinen provinziellen Ohren erhielten das Fleisch von der Prärie-Gruppe, die Kartoffeln aus der Wald-Gruppe im Nordosten, der Kaffee der LandengenGruppe, der Wein der Pazifik-Gruppe, das Obst der Gruppe der Großen Seen eine exotische und wunderbare Bedeu tung. Während man an den dicken Zigarren sog – Süd-InselnGruppe –, brachte er das Gespräch auf die Ekahs. Der OstKüsten-Administrator wurde ernst und ein wenig unruhig. „Sie sollten mit Lernin sprechen. Er wird Ihnen gern je de Hilfe zuteil werden lassen. Sie sagten, Sie wüßten etwas über die Ekahs?“ „Ich würde gern etwas über die Ekahs wissen. Sie ähneln einer ausgestorbenen Lebensform, mit der ich mich be schäftigt habe.“ „Das ist also Ihr Interessengebiet. Ich verstehe.“ „Vielleicht können Sie mir einige Details über ihr Auf tauchen berichten. Administrator“, schlug Raph höflich vor. 65
„Mein lieber Freund, zu dieser Zeit war ich noch nicht Administrator, so daß ich keine direkten Informationen be sitze. Doch die Aufzeichnungen sind ja ausführlich. Diese Gruppe von Ekahs, die in ihrer fliegenden Maschine – Sie haben von diesen aeronautischen Gegenständen ja gehört?“ „Ja, ja.“ „Ja … Nun, offensichtlich waren es Flüchtlinge.“ „Das habe ich schon erfahren. Trotzdem behaupten sie, keine Verbrecher zu sein. Stimmt das nicht?“ „Ja – so eigenartig es auch klingen mag. Sie geben zu, verurteilt worden zu sein, leugnen aber, ein Verbrechen begangen zu haben. Anscheinend hatten sie eine andere Meinung als ihr Administrator.“ Raph nickte wissend: „Aha. Und sie weigerten sich, sich einem Gemeinschaftsurteil zu beugen.“ „Es ist noch verwirrender. Sie behaupten, daß es keine Gemeinschaftsentscheidung gegeben hat. Sie behaupten, daß der Administrator die Politik nach eigenem Gutdünken führt.“ „Und er wurde nicht abgelöst?“ „Anscheinend sind diejenigen, die der Meinung sind, daß er abgelöst werden sollte, Verbrecher – so wie unsere Ekahs.“ Raph schwieg ungläubig. Schließlich sagte er: „Ergibt das in Ihren Ohren einen Sinn?“ „Nein, ich wiederhole nur ihre Worte. Natürlich stellt die Sprache der Ekahs eine nicht unbeträchtliche Schwierigkeit dar. Einige Klänge können wir nicht einmal wiederholen: 66
dieselben Worte haben oft nach der Satzstellung oder der Modulation verschiedene Bedeutung. Oft kommt es vor, daß Worte dieser Sprache auch nach sorgfältigster Über setzung noch immer ein Rätsel darstellen.“ „Sie müssen überrascht gewesen sein, hier Gurros vorzu finden“, meinte Raph, „wo sie doch einer anderen Spezies angehören.“ „Überrascht!“ Die Stimme des Administrators fiel zu ei nem Flüstern herab: „Das kann man wohl sagen. Nun – diese Informationen wurden noch nicht freigegeben – ich hoffe, Sie werden sie für sich behalten. Diese Ekahs töteten fünf Gurros, ehe wir sie entwaffnen konnten. Sie besaßen einen Gegenstand, der metallische Kügelchen durch eine kontrollierte chemische Reaktion ausschleudert. Wir konn ten bereits Duplikate herstellen. Selbstverständlich betrach ten wir ihre Untat nicht als Verbrechen, wo doch anzuneh men ist, daß sie uns nicht als Intelligenzwesen erkannten. Es ist offensichtlich“, erklärte der Administrator und lä chelte ein wenig schmerzlich, „daß wir gewissen Tieren ihrer Heimat ähnlich sehen. Zumindest behaupten sie es.“ Raph stieß enthusiastisch hervor: „Himmel! Das haben sie behauptet? Haben sie Einzelheiten erzählt? Was für Tiere?“ Der Administrator zögerte: „Nun – ich weiß nicht recht. Sie haben einen Namen in ihrer Sprache. Welche Bedeu tung das hat, weiß ich freilich nicht. Sie bezeichnen uns als riesige ,Bären’!“ „Riesige was?“ 67
„Bären! Ich habe nicht die geringste Idee, was das ist, außer, daß sie uns anscheinend ähnlich sehen. Ich habe noch nichts von ,Bären’ in Amerika gehört.“ „Bären. Bären.“ Raph stolperte über dieses Wort. „Das ist sensationell. Sie müssen wissen, Administrator, daß eine Diskussion über unsere Ahnen im Gang ist. Lebende Tiere, die mit dem Gurro sapiens verwandt sind, wären von emi nenter Bedeutung.“ Freudig erregt rieb sich Ralph seine riesigen Hände. Der Administrator weidete sich an der Überraschung, die seine Worte hervorgerufen hatten. Er fügte hinzu: „Eine weitere Tatsache ist, daß sie sich selbst mit zwei Namen benennen.“ „Zwei Namen?“ „Ja. Bis jetzt kennt noch niemand den Unterschied, so sehr auch die Ekahs versuchen, ihn uns plausibel zu ma chen. Wir wissen nur, daß es sich um einen allgemeinen und einen speziellen Namen handelt. Der Grund dieses Un terschieds ist uns unbekannt.“ „Ich verstehe. Und ,Ekah’?“ „Das ist der spezielle. Der allgemeine lautet“ – der Ad ministrator stolperte über die ungewohnten Silben – „Schim-pan-se. Ja, so klingt es. Und hier gibt es nun eine Gruppe, die Ekahs heißt, andere Gruppen haben andere Namen. Sie alle aber heißen Schim… Nun, ich habe den Namen ja schon genannt.“ Der Administrator wollte noch einige andere interessante Details zum besten geben, doch Raph unterbrach ihn. 68
„Kann ich morgen mit Lernin sprechen?“ „Natürlich.“ „Das werde ich dann auch tun. Danke vielmals für Ihre Freundlichkeit, Administrator.“ * Lernin war ziemlich schmächtig. Er wog wohl kaum über zweihundertfünfzig Pfund. Er schien auch auf einem Bein ein wenig zu lahmen. Doch keine dieser Tatsachen hinter ließ bei Raph einen starken Eindruck, nachdem Lernin zu sprechen begonnen hatte. Lernin war ein Denker, der seine Energie auf andere übertragen konnte. Die erste Hälfte der Konversation wurde von Raphs Un geduld beherrscht. Lernins Zwischenbemerkungen waren spitz und scharf wie das Aufflackern eines Blitzes. Dann entstand plötzlich eine Verlagerung des Schwerpunktes – Lernin übernahm das Kommando. „Sie werden mich schon entschuldigen, liebwerter Freund“, sagte er mit der ihm charakteristischen Würde, die seine Worte irgendwie leutselig erscheinen ließ, „wenn ich Ihr Problem als unwichtig erachte. Nein, oh, nein“, er hob seine Hand mit langen, schlanken Fingern, „nicht, um es ganz einfach auszudrücken, nur für mich, weil mein Interesse einfach auf anderen Gebieten liegt, sondern auch für die Ge samtheit der Gruppen uninteressant – uninteressant für jeden einzelnen Gurro von einem Ende der Welt zum anderen!“ Dieser Gedanke war niederschmetternd. Im ersten Mo ment war Raph tief beleidigt. Sein Gefühl zeichnete sich in seinen Zügen ab. 69
Schnell fügte Lernin hinzu: „Das alles mag grob, unhöf lich und unzivilisiert klingen. Aber ich muß zuerst noch einige Erklärungen dazu abgeben. Ich muß es erklären, weil Sie schließlich auch Soziologe sind und mich verste hen werden.“ Zornig entgegnete Raph: „Mein Lebenswerk ist für mich wichtig. Ich kann keine anderen Interessen voranstellen.“ „Worüber ich zu sprechen gedenke, sollte wichtiger sein als das Lebenswerk eines jeden Gurros – und wenn es auch nur darum geht, unser aller Leben zu retten.“ Raph begann eine Reihe von Vermutungen zu hegen: angefangen von einem schlechten Scherz bis zu einer Gei stesverwirrung, wie sie sich manchmal im Alter einstellt. Aber Lernin war gar nicht so alt. Mit beeindruckender Leidenschaft sagte Lernin: „Die Ekahs dieses anderen Kontinents bedeuten für uns eine Ge fahr; sie sind uns gegenüber nicht freundlich eingestellt.“ „Woher wollen Sie das wissen“, antwortete Raph auto matisch. „Niemand hat mit den Ekahs, die zu uns gekommen sind, mehr Kontakt gehabt als gerade ich. Ich habe festge stellt, daß sie einen Verstand besitzen, der Gefühle kennt, die uns vollkommen fremd sind. Ich habe eigenartige Tat sachen gesammelt, die für uns schwer zu interpretieren sind, deren Grundrichtung aber auf jeden Fall eine beunru higende Tendenz aufzeigt. Ich will einige anführen. Ekahs, sofern sie in organisier ten Gruppen leben, bringen sich gegenseitig aus unerfindli 70
chen Gründen periodisch um. Ekahs halten es für ausge schlossen, daß man in einer anderen Art als in der von Ameisen miteinander leben kann – also in großen, wild zusammengewürfelten Gesellschaften –, und gestatten es auch nicht, daß eine andere Gesellschaftsstruktur neben der ihren existiert. Oder – um in der Terminologie der Soziolo gie zu sprechen –, sie sind Herdentiere ohne wirklich sozial zu sein, so wie wir Gurros sozial sind, ohne Herdentiere zu sein. Sie haben Verhaltensmaßregeln ausgearbeitet, die, wie man uns sagte, schon den Jungen beigebracht werden, die aber im allgemeinen aus Gründen obskurer Natur nicht beachtet werden. Und so weiter, und so weiter, und so wei ter.“ „Ich bin Archäologe“, erklärte Raph steif. „Ich habe an den Ekahs nur biologisches Interesse. Wenn mir die Krümmung ihrer Oberschenkelknochen bekannt ist, so kümmere ich mich wenig um die Probleme ihrer kulturel len Struktur. Sobald ich die Form eines Schädels verfolgen kann, so ist es unwichtig für mich, inwieweit die Form der Ethik für mich geheimnisvoll bleibt.“ „Glauben Sie nicht, daß diese Abweichungen uns auch hier, in unserer Heimat, berühren könnten?“ „Wir sind doch durch sechstausend oder noch mehr Mei len quer über den Ozean von ihnen getrennt“, wehrte Raph ab. „Wir haben unsere Welt, sie die ihre. Es besteht kein Zusammenhang zwischen uns.“ „Kein Zusammenhang“, sagte Lernin grübelnd. „Das haben auch schon andere gedacht. Tatsachen ohne Zusam 71
menhang. Und doch haben uns die Ekahs erreicht. Andere können ihnen folgen. Es wurde uns berichtet, daß diese an dere Welt von nur wenigen beherrscht wird, die ihrerseits wieder von einem eigenartigen Drang nach Sicherheit be herrscht werden, den sie mit dem Begriff ,Macht’ vermen gen, einem Begriff, der anscheinend besagt, daß man sei nen eigenen Willen über den Gesamtwillen der Gemein schaft stellt. Was nun, wenn sie diese ,Macht’ auch auf uns ausdehnen wollen?“ Raph versuchte, diesen Gedankengängen zu folgen. Das Ganze war vollkommen lächerlich. Lernin sagte: „Diese Ekahs behaupten, daß ihre Welt und die unsere in der Vergangenheit näher beieinanderla gen. Sie berichten von einer weitverbreiteten wissenschaft lichen Annahme, die man den ,Kontinentaldrift’ nennt. Das zumindest dürfte Sie interessieren, wo es doch anders schwer zu erklären wäre, daß wir einen Urprimaten besit zen, der so eng mit einer Spezies verwandt ist, die sechs tausend Meilen von uns entfernt ist – einer Spezies, die nicht fossil ist; die Ekahs leben!“ * Die Schleier hoben sich von dem Gehirn des Archäologen, als er aufsah – seinen Blick auf sein Interesse gerichtet, das nun nicht mehr durch irgendwelche Wahnvorstellung ge trübt erschien: „Aha, das hätten Sie früher sagen sollen!“ „Ich bringe dies nur als Beispiel, um Ihnen zu zeigen, 72
welche Vorteile Sie erzielen können, wenn Sie mitmachen und uns helfen. Es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt. Diese Ekahs sind Physiker, so wie viele hier in der Ost-Küsten-Gruppe – nur mit einem wesentlichen Unter schied, der durch die unterschiedlichen Sozialstrukturen gegeben ist. Da sie ja praktisch wie in Bienenstöcken le ben, denken sie auch wie in Bienenkulturen – ihre Wissen schaft ist das Resultat einer Ameisengesellschaft. Im ein zelnen sind sie langsam und einfallslos; in der Menge ge sehen, liefert jeder eine Krume, die unterschiedlich von der Krume des nächsten ist – so ist ein riesiges Gedankenge bäude schnell errichtet. Hier bei uns ist der einzelne unend lich klüger, aber er muß allein arbeiten. Ich nehme an, daß Sie zum Beispiel keine Ahnung von Chemie haben.“ „Einige fundamentale Kenntnisse, aber nicht mehr“, gab Raph zu. „Das überlasse ich natürlich den Chemikern.“ „Ja, ganz natürlich. Aber ich bin Chemiker. Und doch wissen diese Ekahs, obwohl sie mir geistig unterlegen sind und in ihrer eigenen Weit nicht einmal Chemiker sind, mehr über Chemie als ich. Zum Beispiel – wußten Sie, daß es Elemente gibt, die sich von selbst auflösen?“ „Unmöglich“, rief Raph aus. „Die Elemente sind ewig, unveränderlich …“ Lernin lachte: „So haben Sie es gelernt, so wurde es mir beigebracht. So habe ich selbst andere gelehrt. Und doch haben die Ekahs recht. Ich habe ihre Aussagen in meinen Laboratorien überprüft – sie haben recht, bis ins kleinste Detail. Uran ist der Ursprung eines solchen selbständigen 73
Zerfalls. Sie haben doch schon von Uran gehört, oder? Weiter habe ich Energiestrahlungen entdeckt, die über die des Urans hinausgehen, die auf Spurenelemente zurückge hen müssen, die mir unbekannt waren, die jedoch mit den Berichten der Ekahs übereinstimmen. Diese fehlenden Elemente passen genau in das soge nannte ‚periodische System der Elemente’, das manche Chemiker in die Wissenschaft einführen wollten. Nun – ,sogenannt’ ist jetzt wohl nicht mehr der passende Aus druck.“ „Warum“, fragte Raph, „erzählen Sie mir das alles? Hüft mir das bei meinem Problem weiter?“ „Vielleicht“, gab Lernin ironisch zurück, „werden sogar Sie noch auf den Wert dieser Entdeckung kommen. Sie müssen sich vor Augen halten, daß die Menge der vom Uran produzierten Energie absolut konstant bleibt. Kein bekannter äußerer Einfluß kann einen Wechsel herbeifüh ren – und als eine Folgeerscheinung dieses Energieverlusts verwandelt sich das Uran mit absolut konstanter Ge schwindigkeit in Blei. Einige unserer Wissenschaftler ma chen sich diese Tatsache zunutze, um mit Hilfe dieses Zer falls das wahre Alter der Erde zu bestimmen. Verstehen Sie: um das Alter einer gewissen Gesteinsschicht in der Erde zu bestimmen, muß man versuchen, ein Gebiet zu finden, in den sich Spuren von Uran befinden – ein Ele ment, das ja ziemlich weitverbreitet ist –, und in dem man nun die Menge des vorhandenen Bleis mißt – wobei ich hinzufügen möchte, daß sich natürliches Blei und Blei, 74
welches durch den Zerfall des Urans entstanden ist, weit gehend unterscheiden –, um schon ganz einfach bestimmen zu können, wie lange eben diese Gesteinsschicht bereits feste Formen angenommen hat. Wenn man nun ein Fossil in dieser Schicht findet, so hat es selbstverständlich dassel be Alter. Oder habe ich nicht recht?“ „Himmel!“ rief Raph aus und sprang auf seine nunmehr etwas zittrigen Beine. „Schwindeln Sie mich nicht an? Kann man das wirklich tun?“ „Es ist durchaus im Bereich des Möglichen, ja, es ist so gar ziemlich leicht. Ich sagte Ihnen ja schon, daß unsere Verteidigungschance zu diesem späten Zeitpunkt nur noch in der Zusammenarbeit der einzelnen Wissenschaften liegt. Mein Freund, wir haben hier eine neue Gruppe gebildet, mit Wissenschaftlern aus vielen verschiedenen Gruppen und Gebieten, und wir wollen, daß Sie sich uns anschlie ßen. Falls Sie sich dazu entschließen könnten, wäre es für uns ein leichtes, unseren Versuch, das Alter der Erde zu bestimmen, auf solche Gebiete auszudehnen, in denen rei che Fossilvorkommen zu vermuten sind. Was haben Sie dazu zu sagen?“ „Ich werde Ihnen helfen.“ * Es ist zweifelhaft, ob es unter den Gruppen der Gurros je mals zuvor ein gemeinschaftliches Unternehmen gegeben hat, welches auf einer derartig breiten Basis aufgebaut war. 75
Wie wir schon vermerkt hatten, war die Ost-KüstenGruppe ein Handel- und Umschlageplatz. Es lag wohl kaum außerhalb der gegebenen Möglichkeiten, ein Schiff zu konstruieren, das imstande sein würde, den Atlantik zu überqueren, wo doch der ständige Handel die gesamte Kü ste Amerikas umfaßte. Was nun aber wirklich ungewöhn lich war, war die Zusammenarbeit der einzelnen Gurros von verschiedenen Gruppen, von verschiedenen Wissensund Interessengebieten. Nicht, daß sie alle darüber glücklich gewesen wären. Raph, zum Beispiel, suchte an diesem Morgen verzwei felt nach Lernin. Seit seiner Ankunft in der Ost-KüstenGruppe waren inzwischen sechs Monate vergangen. Lernin seinerseits suchte nach nichts anderem als nach einer Möglichkeit, die Arbeiten noch schneller voranzu treiben. Als sich die beiden an den Docks trafen, biß Lernin so eben das Ende einer Zigarette ab und machte sich auf den Weg zu einer Zone, in der Rauchen noch nicht verboten war. Er sagte: „Sie, mein Freund, scheinen Sorgen zu ha ben. Ich gehe wohl recht in der Annahme, daß es sich hier bei nicht um den Baufortschritt unseres Ozeanschiffes han delt?“ „Ich mache mir Sorgen“, gab Raph zu, „über den Bericht der Expedition, die das Alter von Gesteinen untersucht hat.“ „Oh – und der gefällt Ihnen nicht?“ „Nicht gefallen?“ explodierte Raph förmlich. „Haben Sie den Bericht gesehen?“ 76
„Ich habe einen Durchschlag bekommen. Ich habe ihn mir angesehen – ja, ich habe sogar Teile daraus gelesen. Aber ich habe – wie Sie sicherlich wissen – wenig Zeit, und so ist mir wahrscheinlich der Kernpunkt entgangen. Würden Sie mich bitte aufklären?“ „Gern. In den letzten Monaten wurden drei der Gebiete, die ich als fossilreich bezeichnet habe, untersucht. Das er ste Gebiet lag in der Gegend der Ost-Küsten-Gruppe selbst. Ein weiteres lag an der Pazifikküste, in der Nähe des Gro ßen Golfs, und ein drittes im Gebiet der Große-SeenGruppe. Ich habe mit Absicht darauf bestanden, diese Ge biete als erste zu untersuchen, da es sich um die ertrag reichsten Fundgegenden handelt, die außerdem noch ziem lich weit voneinander entfernt sind. Wissen Sie, zum Bei spiel, welches Alter der Felsen, auf dem wir stehen, nach der Aussage dieser Leute haben soll?“ „Ich denke, zwei Milliarden Jahre war die höchste Zahl, die ich in dem Bericht bemerken konnte.“ „Stimmt – und diese Zahl wird für die ältesten Gesteine angegeben – für eine noch feurigglühende Basaltschicht. Die oberen Schichten allerdings – die hiesigen Sediment ablagerungen, in denen sich Fossilien des Urprimaten dut zendweise finden lassen – wie alt, glauben Sie, sollen diese Schichten sein? Fünfhundert Billionen Jahre! Was soll das bedeuten? Verstehen Sie das vielleicht?“ „Billionen?“ Lernin sah verzweifelt gegen den blauen Himmel und schüttelte seinen Kopf. „Das ist eigenartig.“ „Das ist noch nicht alles. Die Gegend um die Pazifik 77
Küsten-Gruppe ist ungefähr einhundert Billionen Jahre alt und – so wurde es mir zumindest berichtet – das Gebiet bei den Großen Seen fast achtzig Billionen Jahre.“ Lernin sagte: „Und die anderen Messungen? Diejenigen, die nicht in den von Ihnen bezeichneten Gebieten vorge nommen wurden?“ „Das ist nun das eigenartigste Ergebnis von allen. Die meisten dieser Messungen wurden in Schichten angestellt, die nicht besonders fossilienreich sind. Man ging nach ei nem Schema vor, das sich hauptsächlich auf geologische Tatsachen bezog. Und sie bekamen sinnvolle Resultate – von einer Million bis zu zwei Milliarden Jahre, je nach der Tiefe und der geologischen Vergangenheit der untersuch ten Schichten. Nur die von mir ausgesuchten Gebiete brachten diese schrulligen und unmöglichen Ergebnisse.“ Lernin überlegte: „Was sagen die Geologen dazu? Kön nen sich da nicht einige Irrtümer eingeschlichen haben?“ „Zweifellos. Aber es wurden über fünfzig vernünftige und exakte Messungen gemacht. Für ihr Interessengebiet haben sie ihre Theorien bestätigt und sind damit zufrieden. Sicher – es gibt drei Ausnahmen, die sie aber mit einigem Gleichmut als unbekannte Faktoren abtun. Ich sehe das a ber völlig anders. Diese drei Messungen haben irgend et was zu bedeuten.“ Raph unterbrach abrupt seinen Gedan kengang. „Wie sicher sind Sie eigentlich, daß die Radioak tivität eine absolute Konstante ist?“ „Sicher? Kann man überhaupt bei irgend etwas ganz si cher sein? Nichts, was wir bisher kennen, beeinflußt den 78
radioaktiven Zerfall, und die Ekahs bestätigen diese An nahme auch eindeutig. Und weiter, mein Freund, wenn Sie damit andeuten wollen, daß die Radioaktivität in der Ver gangenheit heftiger gewesen ist, warum denn dann ausge rechnet in diesen Gebieten mit reichen Fossilvorkommen? Warum dann nicht überall?“ „Ja – warum eigentlich? Das ist ein anderer Gesichts punkt dieses Problemkreises, der anscheinend täglich mehr an Bedeutung gewinnt. Überlegen Sie einmal. Wir haben also gewisse Gebiete, in denen es anscheinend in der Ver gangenheit lebhaftere radioaktive Prozesse gegeben, hat. Und wir haben Gebiete, in denen es eine besondere Häu figkeit von Fossilien gibt. Warum fallen diese beiden Ge biete zusammen, Lernin?“ „Eine ganz augenscheinliche Antwort springt einen hier doch förmlich an, mein Freund. Wenn Ihr Urprimat in ei ner Zeit lebte,, in der es in gewissen Gebieten eine beson ders intensive Radioaktivität gegeben hat, so müßten ein fach einzelne Individuen in diese Gegenden kommen, um dort zu sterben. Sie wissen ja, daß überstarke Radioaktivi tät tödlich wirken kann. Die Radioaktivität und die Fossili en – hier haben Sie den Grund!“ „Warum keine anderen Lebewesen?“ wollte Raph wis sen. „Nur der Urprimat kommt häufig vor, und er war intel ligent. Er hätte sich nicht von einer gefährlichen Strahlung einfangen lassen.“ „Vielleicht war er eben doch nicht so intelligent. Schließlich ist das auch nur eine Theorie von Ihnen und 79
keine bewiesene Tatsache.“ „Sicherlich war er wesentlich intelligenter als seine Zeitgenossen mit beträchtlich kleinerem Gehirnvolumen.“ „Vielleicht nicht einmal das. Sie lassen sich ein wenig von romantischen Träumereien einfangen, mein Freund.“ „Vielleicht tue ich das wirklich.“ Raphs Stimme sank beinahe zu einem Flüstern herab. „Mir scheint, ich kann mir eine riesige Zivilisation vorstellen, Bilder vor meinen Augen zum Leben erwecken, die vielleicht eine Million Jahre in der Vergangenheit liegen – oder noch weiter zu rück. Eine große Stärke, eine große Intelligenz, die voll kommen vom Erdboden verschwunden ist, abgesehen von diesem feinen Flüstern in den versteinerten Knochen, die eine gewaltige Höhlung verbergen, in der einst ein Gehirn existierte, abgesehen von den Knochen einer fein gebauten, fünffingrigen Hand, in der sich die deutlichen Anzeichen kreativer Geschicklichkeit feststellen lassen – Finger, de nen ein Daumen gegenübersteht. Sie müssen intelligent gewesen sein!“ „Was hat sie dann umgebracht?“ Lernins Schultern ho ben sich in einem fragenden Zucken. „Viele Milliarden Lebewesen der verschiedensten Gattungen haben sie über lebt.“ Beinahe zornig sah Raph auf. „Freiwillig kann ich Ihre Gruppe nicht weiter begleiten, Lernin. Diese andere Welt zu besuchen würde sicherlich sehr nützlich sein, wenn ich mich mit meinen eigenen Studien beschäftigen könnte. Wenn ich mich aber nach Ihren Zielen richte, so kann dies 80
nur eine Gemeinschaftsarbeit für mich bedeuten. Ich kann mein Herz nicht dafür erwärmen.“ Lernins Kieferknochen spannten sich. „Das wäre nicht fair, mein Freund. Viele unter uns müssen ihre eigenen Inter essen zeitweilig opfern. Wenn wir sie an die Spitze unseres Denkens stellten und die andere Welt auf der Basis unseres provinziellen Denkens untersuchten, so würde unser großes Ziel nicht erreicht werden. Mein Freund, wir können keinen einzigen unserer Mitarbeiter entbehren. Wir müssen alle so arbeiten, als ob unser Leben von der sofortigen Lösung des Problems der Ekahs abhängen würde, was es, glauben Sie es mir, mein Freund, auch wirklich und wahrhaftig tut.“ In Raphs Gesichtszügen zeichnete sich Widerwillen ab. „Auf Ihrer Seite steht eine unsichtbare Befürchtung, die Sie wegen dieser schwachen, dummen, kleinen Kreaturen he gen. Auf meiner Seite habe ich ein bedeutsames intellektu elles Problem, welches mich persönlich noch dazu ausge sprochen interessiert. Zwischen diesen beiden Tatsachen kann ich keine Verbindung sehen, keinen wie auch immer gearteten Zusammenhang.“ „Das kann ich auch nicht. Aber hören Sie mir einen Au genblick zu. Eine kleine Gruppe unserer besten und ver trauenswürdigsten Männer kehrte vorige Woche von dieser anderen Welt zurück. Es war kein offizieller Besuch, so wie es der unsere sein wird. Die Gruppe stellte keinerlei Kontakte her. Es war einfach Spionage, über die ich Ihnen jetzt berichten will. Ich hoffe, ich kann mich auf Ihre Ver schwiegenheit verlassen.“ 81
„ Selbstverständlich.“ „Unsere Männer gelangten in den Besitz von EkahEreignis-Blättern.“ „Wie bitte?“ „Das ist ein konstruierter Begriff, der diese Dinger be schreibt. Gedruckte Informationen erscheinen täglich in den verschiedensten Bevölkerungszentren der Ekahs, in denen von den laufenden Ereignissen und Geschehnissen des Tages berichtet wird, und in denen auch Werke enthal ten sind, die man als Literatur bezeichnen könnte.“ Raphs Interesse schien momentan geweckt zu sein: „Das scheint mir eine ausgezeichnete Idee zu sein.“ „Ja, der Grundgedanke ist es. Nur scheint sich die Vor stellung der Ekahs von interessanten Ereignissen haupt sächlich auf solche asozialer Natur zu beziehen. Aber las sen wir das. Ich will darauf hinaus, daß die Existenz der beiden amerikanischen Kontinente zur Zeit eine durchaus bekannte Tatsache ist – und man nennt sie überall ein ,neues Land voller Möglichkeiten’. Alle Teile der Bevölke rung der Ekahs betrachten es mit begierigen Augen. Es gibt viele von ihnen, das Land ist dicht bevölkert, ihre Wirt schaft ist irrational. Sie wollen neues Land, und das ist es, was Amerika für sie ist – neues und leeres Land!“ „Nicht leer“, wies Raph milde auf die Existenz der Gur ros hin. „Für sie ist es leer“, beharrte Lernin auf seinem Stand punkt. „Das ist eine ungeheure Gefahr. Ein Land, das von Gurros bewohnt wird, ist in ihren Augen leer und uner 82
schlossen. Sie werden danach trachten, es an sich zu rei ßen, um so mehr, als sie oft versuchen, sich gegenseitig Gebiete abzujagen.“ Raph zuckte mit den Achseln. „Selbst wenn es so ist, so werden sie …“ „Ja, ich weiß. Sie sind schwach und dumm. Das haben Sie vorhin behauptet, und sie sind es auch. Aber nur, wenn man das Einzelindividuum betrachtet. Wenn sie ein Ziel vor Augen haben, werden sie sich zusammenschließen. Si cherlich – sie werden wieder auseinanderfallen, wenn es erst einmal erreicht ist. Aber zu dem gegebenen Zeitpunkt werden sie sich vereinen und zu einer starken Kraft wer den, wie wir es selbst nicht fertigbringen – betrachten Sie nur Ihr eigenes Beispiel. Und ihre Waffen sind in dem Feuer, des ununterbrochen schwelenden Konfliktes ge schärft und bereit. Ihre fliegenden Maschinen, zum Bei spiel, geben exzellente Kriegsmaschinen ab.“ „Wir haben doch Duplikate gebaut.“ „In welcher Menge? Wir haben auch ihre explosiven Chemikalien analysiert und hergestellt, aber nur im Labo ratorium. Auch ihre Feuerwaffen und gepanzerten Fahr zeuge sind uns kein Geheimnis – wir haben sie auf Ver suchsgeländen erprobt. Dann gibt es da noch etwas. In den letzten fünf Jahren haben sie etwas entwickelt, von dem nicht einmal unsere Ekahs eine Ahnung haben.“ „Was soll das sein?“ „Wir wissen es nicht. Die Ereignis-Blätter berichten da von – der angewendete Name hat für uns keinerlei Bedeu 83
tung –, und in ihren Worten schwingt nacktes Entsetzen über diese Waffe mit; sogar bei diesen mordlüsternen E kahs. Nichts deutet darauf hin, daß diese Waffe bisher verwendet wurde, oder daß alle Ekah-Gruppen sie besitzen, aber sie wird immer wieder als Druckmittel eingesetzt. Das alles wird Ihnen wahrscheinlich klarer werden, wenn Ihnen diese Beweise und Anzeichen direkt präsentiert werden, sobald wir unsere Reise erst einmal unternommen haben.“ „Aber was ist das für eine Waffe? Sie sprechen davon, als ob es sich um ein wahres Schreckgespenst handelte.“ „Wieso ich – sie sprechen davon, wie von einem Schreckgespenst. Was könnte für einen Ekah schon ein Schreckgespenst sein? Das ist der erschreckendste Aus blick dabei. So weit wir wissen, hat es etwas mit dem Bombardement eines Elementes zu tun, welches sie Pluto nium nennen – von dem weder wir noch unsere Ekahs je mals gehört haben –, durch Gegenstände, die man Neutro nen nennt, von denen unsere Ekahs behaupten, daß es sich um subatomare Partikel ohne elektrische Ladung handelt, was uns vollkommen lächerlich vorkommt.“ „Und das ist alles?“ „Ja, das ist alles. Wollen Sie bitte Ihre Entscheidung zu rückstellen, bis wir Ihnen einige dieser Ereignis-Blätter gezeigt haben?“ Raph nickte widerwillig. „Also gut, ich werde warten.“ *
84
Raphs träge Gedanken kreisten in ihren ausgefahrenen Ge leisen, als er allein vor dem Hafen stand. Ekahs und der Urprimat. Eine lebende Kreatur mit unbe rechenbaren Gewohnheiten, und ausgestorbene Lebewesen, die zu ungeahnten Höhen aufgestiegen sein mußten. Eine solide Gegenwart mit Explosivwaffen und Neutronenbom bardement, und eine ruhmreiche, mysteriöse Vergangen heit … Tatsachen ohne Zusammenhang. Tatsachen ohne jeglichen Zusammenhang.
85
Die Geheimwaffe
SF-Story von Richard Bernard Es war gerade Mittagszeit, als sie kamen. Wie aus dem Nichts gezaubert, schwebten im wolkenlosen Himmel mehrere kugelförmige Gebilde. Einen Moment schienen die Kugeln reglos in der Luft zu verharren, dann gingen Sie langsam nieder. Harperville, ein typisches Städtchen des amerikanischen Mittelwestens, lag inmitten eines kleinen Talkessels, der von einer Hügelkette begrenzt wurde. Die brütende Mit tagshitze dieses wunderschönen Julitages, die durch die völlige Windstille noch drückender war, hatte alle Bewoh ner des kleinen Ortes von den Straßen vertrieben. Besser gesagt, von der Main Street, der einzigen Straße, die eine solche Bezeichnung überhaupt verdiente, denn die von ihr abgehenden Abzweigungen waren lediglich bessere Feld wege. So blieb die Landung der Kugeln fast unbemerkt, zumal auch viele Bewohner Harpervilles sich um diese Zeit eines kleinen Nickerchens erfreuten. Die Kugeln waren zudem fast geräuschlos auf den umliegenden Hügeln niedergegan gen und bildeten so einen Ring um Harperville. Joe Smith, ein Farmer in den besseren Jahren, hatte sich gerade seine Verdauungszigarette angesteckt, während sei 86
ne Frau damit beschäftigt war, die eben geleerten Teller und die Reste des Mittagsmahls in die Küche zu tragen. Plötzlich blieb Mrs. Smith mit einem Ausruf der Überra schung am Fenster stehen und deutete aufgeregt hinaus. Brummelnd erhob sich ihr in seiner beschaulichen Ruhe gestörter Gatte und trat neben sie ans Fenster. Was sollte es um diese Tageszeit schon zu sehen geben, fragte er sich im stillen. Jedoch dann riß auch er erstaunt die Augen auf! Narrte ihn eine Fata Morgana? Er hatte doch lediglich ein kleines Glas Whisky geleert, das konnte ihn doch selbst bei dieser sengenden Hitze nicht betrunken machen! Nur wenige hundert Meter von seinem kleinen Gehöft stand eine gewaltige Kugel auf drei Teleskopfüßen auf ei ner kleinen Anhöhe! Die Sonne wurde so stark von dem silberglänzenden Metall der Kugel reflektiert, daß Joe Smith geblendet die Augen schließen mußte. Es war ihm nicht möglich, irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. „Was meinst du, Joe, ist das unsere neue Geheimwaffe, von der die Presse immer soviel schreibt?“ fragte seine Frau. „Keine Ahnung“, erwiderte Joe achselzuckend. „Auf jeden Fall sind es aber Raumschiffe. Warte mal, ich glaube, da steigen welche aus.“ „Ja, wahrhaftig!“ bestätigte seine Frau seine Beobach tungen. Zuerst hatte sich an der Kugel ein immer breiter wer dender Spalt gezeigt, dann schob sich eine Art Rampe ins Freie, die sich auf den Boden senkte. Gleich darauf verließ 87
eine lange Reihe unförmiger Gestalten in metallisch schimmernden Raumanzügen das Himmelsschiff. Sie for mierten sich zu einer Art Schützenlinie, an die sich rechts und links ebensolche Gestalten anschlossen, die dort un vermutet in Smiths Blickwinkel traten. Sie müssen Harperville umzingelt haben, dachte Joe, sonderbar sehen sie aus in ihren Raumanzügen! Wie We sen von einem anderen Stern! Dennoch hatte er keine Furcht, denn gerade dieser Tage hatten Presse und Television von neuen Waffen berichtet und dabei auch von der Erprobung neuer Raumfahrzeuge gesprochen, mit denen die ersten weiteren Expeditionen ins All unternommen werden könnten, nachdem bisher nur einige Erdumkreisungen in Raketenkapseln erfolgt waren. Das mußten diese Kugeldinger da sein, und wahrscheinlich spielte man gleich mal Manöver damit! Je näher jedoch die Fremden kamen, desto zweifelnder wurde Joes Gesichtsausdruck, Die Gestalten in den Raum anzügen waren ja alle viel kleiner als es normal ausge wachsene Soldaten sonst sind, die man ja eigentlich in den Anzügen vermuten mußte! Außerdem gingen die Figuren mehr in die Breite, erheblich mehr als Joe, der doch gewiß nicht schmalschultrig war! Dann fiel Joe auch der Gang der Fremden auf, der weit eher dem Watscheln einer Ente, als dem Gang eines Men schen glich. In den Greifklauen der Raumanzüge hielten die Gelandeten Instrumente, die einem Staubsauger nicht unähnlich sahen. 88
Wie auf ein unhörbares Kommando blieben die Fremden jetzt stehen und richteten die Mündungen der „Staubsau ger“ auf irgendwelche Ziele in der Ortschaft. Joe Smith trat unwillkürlich einen Schritt zurück, seine Frau am Arm mit sich ziehend, denn er hatte genau in die drohende Mündung eines solchen Gerätes geblickt. Jedoch schien das Ganze nur ein etwas unpassender Scherz der so sonderbar aussehenden Soldaten zu sein, denn es fiel kein Schuß, es blitzte auch kein Energiestrahl auf. Nichts geschah, obwohl die fremden noch immer in dersel ben Stellung verharrten und lediglich fächerförmige Bewe gungen mit den „Staubsaugern“ ausführten. Nichts geschah! Joe verspürte völlig überraschend ein eigenartiges Ge fühl im Kopf. Ein Summen, das in einen prickelnden Schmerz überging, dem eine leichte Benommenheit folgte. Es wurde ihm momentan unmöglich, eine schnelle Bewe gung auszuführen, die Glieder schienen auf einmal blei schwer zu sein. Die Hitze, dachte Joe, ob das ein Hitz schlag ist? Langsam drehte er sich zu seiner Frau herum, verharrte jedoch erschrocken in dieser Bewegung. Was war nur mit Bessy los? Steif und hölzern, wie eine aufgezogene Puppe, ging sie durch das Zimmer, ging mit geistesabwe sendem, ausdruckslosem Blick an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. „Bessy, was ist mit dir?“ wollte er sie anrufen, aber kein Wort kam über seine Lippen, die Zunge versagte ihm den Dienst, und die Worte wurden zu einem stammelnden Lal len … 89
*
Automatenhaft trat Bessy durch die Tür ins Freie. Auch Joe fühlte einen inneren Zwang, auf die Straße hinauszugehen, aber doch nicht so stark, daß er diesem Gefühl hätte unbe dingt folgen müssen. Als Joes Blick seiner Frau durch die offene Haustür folgte, sah er etwas Sonderbares. Soweit es sein Blickwinkel erlaubte, konnte er überall die Bewohner Harpervilles ihre Häuser verlassen sehen. Alle bewegten sich genauso marionettenhaft wie Bessy es tat. Und alle strebten schweigend und gleichmäßig einem gemeinsamen Ziel zu: dem Raumschiff, das Joe zuerst er blickt hatte. Es schien, als ob dieses eine magische Anzie hungskraft auf die biederen Bürger von Harperville aus üben würde, aber Joe begriff, daß alle diese Menschen un ter Hypnose standen. Er Wunderte sich allerdings, weshalb er selbst diesen hypnotischen Befehl nur so schwach fühlte? Jeder andere Harperviller hatte sein Haus so verlassen, wie ihn der Gedankenbefehl der Fremden erreichte, denn nur diese konnten die Urheber dieser Hypnose sein, das war Joe klar. So ging beispielsweise die ehrbare Mrs. Taylor, die als sittsame Tugendwächterin bekannt und gefürchtet zugleich war, nur mit einem Nachthemd bekleidet dahin, ohne sich dieses anstößigen Verhaltens bewußt zu sein. Daß Sheriff Miller statt der Reitstiefel Filzpantoffel trug, paßte auch wenig zu dem schneidigen Eindruck, den Miller sonst zu machen pflegte. 90
Joe überlegte kurz, was er tun sollte. Dann jedoch ging er mit den gleichen monotonen Bewegungen, die er bei den anderen beobachtet hatte, durch die Tür und schloß sich der stummen, unheimlich-grotesken Demonstration an, die die Unterlegenheit des menschlichen Geistes gegenüber den fremden Invasoren zum Ausdruck brachte… Joe Smith war einer der letzten, die sich schweigend auf dem Platz vor dem Raumschiff aufstellten, umringt von den Fremden, die noch immer ihre Hypnosestrahler auf die Menschen gerichtet hatten. Soweit wie möglich näherte Joe sich einem der Fremden und betrachtete ihn verstohlen. Wie er schon vorher gesehen hatte, war der Fremde nicht sehr groß, kaum 145 cm hoch, dafür aber breit, unheimlich breit. Die Sichtscheibe des Raumanzuges gab einen Blick auf das Gesicht frei. Dieser Blick bewies Joe endgültig, sofern er noch Zweifel gehabt hätte, daß die bisher stum men Wächter von einem anderen Planeten kamen! Joe erkannte drei Augen, eines mitten auf der Stirn, die eine rötliche Färbung zeigten, die sonderbar mit der sonst grünen Hautfarbe kontrastierte! Die untere Gesichtshälfte wölbte sich weit vor, und erinnerte so an das Gebiß eines Pferdes. Dieser Eindruck wurde noch dadurch unterstri chen, daß diese Lebensform keine eigentliche Nase besaß. Zwei Öffnungen unmittelbar über dem Gebiß des Fremden schienen die Funktionen von Nasenlöchern auszuüben. Der Gesichtsausdruck dieser Wesen hatte etwas Kaltes, Dro hendes an sich, das Joe einen leisen Schauer über den Rük ken jagte. 91
Auf einmal kam Bewegung in die stumme Phalanx der Wächter. An der Stelle, die direkt vor der Kugel lag, öffne te sich der Ring, so daß der Blick auf eine weitere Gruppe der unerwünschten Besucher aus dem All frei wurde, die gerade das Schiff über die Rampe verließ. Sie bestand aus fünf Personen. Zwei waren wie die ande ren gekleidet, die Joe bisher zu Gesicht bekam. Sie trugen einen Kasten an zwei Tragegriffen, den sie unmittelbar vor den ersten der schweigend in ihrer Trance verharrenden Menschen auf den Boden stellten. Ihnen folgten drei andere Gestalten, eine davon trug ei nen goldschimmernden Raumanzug, die anderen hingegen hatten rotschimmernde Raumanzüge an. Das mußten die Anführer der Monster sein, ging es Joe durch den Kopf. Neugierig ließ er keinen Blick von dieser Gruppe, hütete sich dabei aber sorgsam vor jeder schnellen Bewegung. Der Himmel mochte wissen, was ihm blühte, wenn diese Monster merkten, daß er ihrem hypnotischen Einfluß we niger ausgesetzt war als die anderen Menschen! Wahr scheinlich würde man ihn auf der Stelle umbringen, etwas Besseres traute Joe den finsteren Fremdlingen nicht zu. Ihr Eindruck war eben zu unmenschlich, obwohl auch Men schen durchaus unmenschlich sein können! Der Goldschimmernde und seine beiden andersfarbigen Begleiter blieben etwa zehn Schritte vor den ersten Men schen stehen. Zwischen ihnen und den Menschen stand der Kasten auf dem Boden. Auf einen Wink des Goldschim mernden beugte sich einer der Soldaten über den Kasten 92
und machte sich daran zu schaffen. Er drehte an einigen Knöpfen; darauf schoben sich zwei Antennenstäbe aus dem Kasten. Verwundert beobachtete Joe weiter. Er schrak zusam men, als unerwartet eine Stimme aus dem Kasten dröhnte. „Wir kommen vom Planeten Tanal der Sonne Brixa, aus dem System, das ihr Menschen Pegasus nennt“, erklärte die Stimme aus dem Kasten. „Dieses Gerät ist ein mechani scher Dolmetscher, der unsere und eure Sprachlaute gegen seitig verständlich macht. Ich heiße Xar-Thong und bin der Großadmiral dieser Flotte.“ Joe schaute genauer hin und bemerkte, daß der Goldfar bene sein Gebiß bewegte. Er war es also, der zu ihnen sprach. Die Stimme fuhr fort: „Wir haben diesen Planeten, den ihr Erde nennt, schon lange beobachtet und wissen, daß ihr Menschen noch keine Raumflotte besitzt. Jedenfalls konn ten wir noch nie Raumschiffe entdecken, außer kleinen Raketen, die ihr ins All geschossen habt. Ihr steht also am Beginn des Raumfahrt-Zeitalters.“ Die Stimme schwieg einen Augenblick und fuhr dann in erhobenem Tonfall fort: „Wir haben beschlossen, diesen Planeten zu besetzen, um eine mögliche Bedrohung unserer Interessen von vorn herein auszuschalten. Unsere Flotte von zehn Raumkreu zern ist nur die Vorhut, die Hauptmacht wird uns folgen, sobald wir die Richtigkeit unserer bisherigen Beobachtun gen festgestellt haben. Wir werden euch nun in die Kreuzer verladen, um euch in aller Ruhe verhören zu können. Dann 93
kommt ihr auf den Planeten Dert, eine unwirtliche Welt mit vielen Bodenschätzen, die wir urbar machen wollen, die uns aber durch ihre harten Lebensbedingungen zuviel Op fer kostet, so daß wir nur Verbrecher oder andere Gefange ne dort einsetzen! Wir könnten euch auch töten, aber wir sind eine humane Rasse und hoffen, daß ihr dies zu schät zen wißt?“ Xar-Thong schwieg und sah sich beifallheischend um, aber die hypnotisierten Menschen nahmen zwar seine Wor te auf, zeigten jedoch keine Reaktionen. weder im positi ven noch im negativen Sinn. Dies mochte dem Großadmiral der Tahaler einfallen, denn er fuhr fort: „Natürlich können wir von euch keine Antwort erwarten, solange ihr im Banne der Hypnostrahlen steht. Dieser Bann wird erst aufgehoben, wenn ihr in den Raumkreuzern untergebracht seid, vorher verbietet uns dies die Vorsicht. Wir werden nun beginnen, euch in die Schiffe zu verladen. Sagt also eurer bisherigen Heimat Lebewohl, denn ihr werdet sie nie wiedersehen!“ Ein höhnisches Lachen bildete den Schlußpunkt dieser Rede, die ein so furchtbares Schicksal für die Bewohner von Harperville heraufbeschwor, die noch am Vormittag nichtsahnend ihren gewohnten Tätigkeiten nachgegangen waren! Auf einen Wink des Befehlshabers gruppierten sich die Tahaler um die Menschen und begannen, kleine Gruppen zusammenzustellen, die sich wohl auf die einzelnen Raum kugeln verteilen sollten. 94
Joe suchte fieberhaft nach einem Ausweg aus dieser un heilvollen, aussichtslos erscheinenden Situation. Tief in Gedanken versunken, achtete er nicht genug auf seine Um gebung, und so passierte es! Er lief unversehens gegen einen der Wärter, zuckte zu sammen und machte eine instinktive Bewegung, die den Wächter ein Stück zurückstieß! Joe hätte sich selbst ohrfei gen können, jedoch half keine späte Reue – sein Versteck spiel war beendet! Zwei Wächter drangen auf ihn ein, kräftige Greifklauen packten trotz heftiger Gegenwehr seine Arme, weitere Ta haler sprangen hinzu. Sie schleiften Joe nach vorn, stießen ihn vor die drei Offiziere, die ihn überrascht betrachteten. Wieder kam die Stimme Xar-Thongs aus dem Überset zer: „Weshalb bist du immun gegen unsere Befehle? Weißt du, daß dies deinen sofortigen Tod bedeutet? Rede, Erden mensch!“ Joe wischte sich den Schweiß von der Stirn, der nicht nur von der Hitze, die immer noch nicht nachgelassen hat te, herrührte. „Ich weiß es selbst nicht“, murmelte er und hörte seine Stimme danach in ihm unverständlichen Lauten aus dem Übersetzer dringen. „Vielleicht hängt es mit meinem Schädelbasisbruch zu sammen?“ fragte Joe, mehr zu sich selbst sprechend, als an die Tahaler gewandt. Xar-Thong jedoch fuhr auf, nachdem einer der Rotgekleideten etwas zu ihm gesagt hatte, das aber Joe nicht verstand. „Das wird es sein, Mann von der Erde, eine andere Erklärung gibt es kaum! Irgendwelche 95
strukturellen Veränderungen des Gehirns wirken manch mal einer hypnotischen Beeinflussung entgegen! Wir müs sen dich nun liquidieren, wir können es uns in der Enge des Schiffes nicht leisten, dich von den anderen Menschen ab zusondern, und bei ihnen können wir dich auch nicht las sen! Wir wissen nicht, über welche Fähigkeiten du noch verfügst, du könntest eine Gefahr für uns bilden! Dein Tod ist also beschlossen. Hast du uns noch etwas zu sagen? So sprich.“ Joe wurde es weich in den Knien. Warum mußte er zu letzt noch so unvorsichtig werden? Gewiß, die Aussicht, auf einem fremden Planeten zu sterben, war auch nicht ro sig, aber kommt Zeit, kommt Rat, sagt ein altes Sprich wort, und der Mensch hofft, solange er lebt! Fieberhaft zermarterte Joe sein Gehirn nach einem rettenden Ausweg. Wie oft hatte Joe utopische Bücher gelesen, soweit es seine Feldarbeit erlaubte, aber diese Situation war noch viel phantastischer und doch zugleich realer. „Nun?“ forschte die unerbittliche Stimme Xar-Thongs. „Hast du noch etwas zu sagen oder nicht? Deine Zeit ist um!“ Unwillkürlich warf Joe bei diesen Worten einen Blick auf seine Armbanduhr. Da, ein kühner, ja fast verrückter Einfall durchzuckte ihn! Ein fast absurder Einfall, aber es war die letzte Chance, die sich ihm bot, und er mußte seine letzte Karte ins Spiel bringen. Das letzte Pokerspiel seines Lebens begann! Aber der Einsatz war Tod oder Leben für ihn, und das rechtfertigte alle Mittel! Noch einmal warf er 96
einen Blick auf die Armbanduhr, dann straffte sich seine Gestalt, so daß Xar-Thong unwillkürlich einen Schritt zu rückwich, einen Verzweiflungsangriff seines Gegners be fürchtend. Doch Joe tat nichts dergleichen, sondern sprach plötzlich sinnlose Worte vor sich hin, die einem Code ähnelten. Dann hob Joe lauschend seinen Kopf und ein befreites Aufatmen löste sich von ihm. „Jawohl, zehn Raumkreuzer!“ rief er laut, ehe ihn einer der Tahaler hindern konnte, und seine Worte lösten ein fremdsprachiges Echo des Übersetzers aus. „Start erfolgt umgehend?“ rief Joe dann in fragendem Ton. Mehr konnte er nicht sagen. Eine Greifklaue legte sich über seinen Mund und finstere Blicke trafen ihn. „Was soll das bedeuten?“ herrschte Xar-Thong ihn an, während sein Gesicht eine dunkelgrüne Färbung annahm. Joe bemühte sich, triumphierend zu lächeln. „Ich habe unsere Raumflotte alarmiert“, erklärte er dann mit fester Stimme. „Ihr könnt mich nun ruhig töten, meine Pflicht habe ich getan und kein Tahaler wird der Vernich tung entgegen, wenn auch nur einem Menschen ein Haar gekrümmt wird!“ In dem Gesicht des Großadmirals stritten Überraschung und Unglaube miteinander. Dann lachte er höhnisch: „Wo soll denn eure Raumflotte sein, du Erdenmurm? Glaubst du, du könntest uns zu Narren halten?“ „Auf unserem Nachbarplaneten, der Venus“, antwortete 97
Joe, scheinbar ruhig und gefaßt, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug. Aber es half alles nichts: er hatte das Po kerspiel um sein Leben und das der anderen Menschen be gonnen und mußte nun bis zum guten oder bitteren Ende bluffen! Er fuhr fort, ohne einen Blick auf den Großadmiral zu werfen, der überrascht aufgehorcht hatte: „Natürlich haben wir eure Beobachter geortet. Wir haben alle Vorbe reitungen zu einer gewaltigen Falle für euch getroffen. Nun“ – Joe lächelte breit, obwohl es ihn eine ungeheure Mühe kostete – „Ihr seid prompt in unsere Falle gegangen. Jedoch hast du mir eine Chance gegeben, noch einmal zu sprechen. So will ich dir auch eine Chance geben: Fliegt sofort zu eurem Heimatplaneten zurück und ich werde un sere Flotte von einer Verfolgung abhalten. Laßt mich los“, wandte er sich an die Wächter, die auf einen Wink Xar-Thongs gehorchten und mit großen Augen der unerwarteten Entwicklung folgten. Joe reckte befreit seine Glieder, einen neuen Blick auf seine Uhr werfend, dann wandte er sich erneut an den An führer der Tahaler, dabei ein kleines Gerät aus der Tasche ziehend: „Glaubst du mir noch immer nicht? Gut, ich wer de es dir beweisen. Folge mir mit deinen Leuten und dem Übersetzer, aber laß vorher den Abtransport meiner Mit menschen stoppen, sonst kann ich für dein Entkommen nicht mehr garantieren!“ Xar-Thong zögerte noch einen Moment, bevor er über seinen Helmfunk Anweisungen erteilte. Dann wandte er sich wieder Joe zu: „Nun gut, wir wollen uns überzeugen! 98
Wenn du nicht gelogen hast, wollen wir deinem Rat folgen und diesen Planeten verlassen! Hast du uns aber belogen, dann …“ Er vollendete diesen Satz nicht, aber Joe legte auch keinen gesteigerten Wert darauf, denn langsam brann te ihm der Boden unter den Füßen. „Folgt mir also“, forderte er die Tahaler auf. Ohne auf sie zu achten, setzte er sich in Richtung seines Hauses in Bewegung. Dabei kam er an Bessy vorbei, deren Gesichts züge immer noch keinerlei Regung zeigten. Laut sagte er: „Ihr kennt sicher ein HSFG, ein HyperSprech-Funk-Gerät?“ „Ja, aber nicht ein solches!“ erwiderte Xar-Thong, auf das kleine Gerät weisend, das Joe immer noch in der Hand hielt, nur von Zeit zu Zeit ein Stellrädchen manipulierend. „Nun, im Prinzip ist es aber sicher dasselbe“, entgegnete Joe dreist. „Mit diesem Gerät habe ich vorhin unsere Flotte auf der Venus alarmiert, und die Bilder des Starts werden gleich in den Nachrichten des Fernsehens gezeigt werden. Wird euch dieser Beweis genügen?“ „Du meinst, eure Television wird jetzt schon die Nach richten mit den Bildern des Starts eurer angeblichen Flotte bringen?“ fragte Xar-Thong zweifelnd. „Wie sollte das möglich sein?“ „Du vergißt den Hyperfunk“, lächelte Joe mit gespielter Zuversicht. „Dadurch gelangen natürlich auch Funkbilder in Sekunden von der Venus bis zur Erde, das ist doch klar, nicht wahr? Genügt euch das nun, ja oder nein?“ „Wenn tatsächlich eure Nachrichten bringen, was du er 99
klärst, dann wollen wir dir glauben“, stimmte Xar-Thong nach kurzem Zögern Joes Plan zu. „Wieviel Zeit verbleibt uns dann noch, bevor eure Flotte hier eintrifft?“ „Eine knappe halbe Stunde“, meinte Joe nachdenklich. Unterdessen hatte er mit den ihn begleitenden Tahalern sein Haus erreicht. Von den mißtrauischen Blicken der ihm folgenden Tahalern nicht aus den Augen gelassen, ging er hinein. Joe wandte sich dem TV-Apparat zu und warf einen Blick auf den eingestellten Sender, dann auf die Uhr auf dem Schrank im Wohnzimmer. Ja, sie stimmte mit seiner Armbanduhr überein, nun hing alles an einem seidenen Fa den! Ungeduldig folgte Xar-Thong jeder Bewegung Joes mit lauernden Blicken, dann zog er einen kurzen Stab aus sei nem Gürtel. „Dies hier ist ein Desintegrator“, erklärte er unduldsam, „entweder du beweist uns nun die Wahrheit deiner Worte oder der Desintegrator verwandelt dich in ein Häufchen Staub!“ „Nur ruhig Blut“, meinte Joe, und das meinte er auch zu sich selbst, denn der geringste Fehler konnte ihm ein schnelles Ende bringen. „Es geht ja schon los!“ Die Augen starr auf die Uhr gerichtet, packte er dann fest zu und drückte entschlossen die Einstelltaste nieder. Gebannt ruhten alle Augen auf dem TV-Schirm. Zuerst rauschte und pfiff es kurz im Apparat, dann flackerte der Bildschirm unruhig, bevor sich ein klares Bild formte. Zugleich kam eine Stimme aus dem Apparat, während 100
das Bild endgültig die Gestalt eines Nachrichtensprechers brachte: „… bringen wir eine alarmierende Nachricht: Au ßerirdische Raumschiffe landeten im Westen der USA. Damit wurde der Kampf durch die Außerirdischen herauf beschworen, so daß die Flotte der Erde nunmehr nur noch erbarmungslos zurückschlagen kann! Sie sehen jetzt Bilder von der Venus, die uns soeben per Hyperfunk übermittelt wurden! Erleben Sie selbst den Start unserer Erdflotte, meine Damen und Herren!“ Das Bild des Sprechers ver blaßte, neue Bilder tauchten auf. Dazu drang das Heulen einer Alarmsirene aus dem Lautsprecher des TV-Appara tes. Man sah einen dschungelbewachsenen Planeten, von dem aus sich Hunderte von Raumschiffen, langgestreckte Riesenkreuzer, daneben gigantische Kugelschlachtschiffe, umgeben von pfeilschnellen Zerstörern, alles durcheinander, jedoch in tadelloser Formation, in den Himmel erhoben. Immer wieder zuckten die Blitze der startenden Raumschif fe empor, es war ein Bild der Kraft, der Stärke einer Raum flotte, äußerst beeindruckend, ungeheuer imponierend. Als Joe Smith sich aus der Verzauberung dieses so oft gesehenen Bildes löste, und sich nach den Tahalern umsah, war er allein im Raum. Als er zur Tür ging, stolperte er über den in der Eile von den Tahalern zurückgelassenen Überset zer und rieb sich fluchend seinen Knöchel, der sofort blau anlief. Er hinkte bedächtig zur Tür und trat hinaus. Eine leichte Brise kam auf, der Wind nahm zu, so, als woll te er den Geruch des Fremden, Unheimlichen verwehen, so 101
wie dort drüben zehn Raumkugeln sich in den Himmel er hoben und verschwanden, verweht im Weltraum … Eine erstarrte Menschengruppe aber erwachte aus ihrer Hypnose und betrachtete verwundert und kopfschüttelnd sich und ihre Umgebung. Wie war man nur hier hinausge kommen?“ „O Gott, wie entsetzlich!“ schrie Mrs. Taylor er schrocken, nachdem sie ihre dürftige Kleidung gewahrte, und raste davon, so schnell sie ihre dürren Beine trugen. * Mrs. Smith trug das Abendessen auf. „Ich verstehe immer noch nicht“, sagte sie kopfschüttelnd, „was die Fremden eigentlich in die Flucht schlug?“ Joe Smith paffte eine große Rauchwolke behaglich in die Luft, was ihm einen mißbilligenden Blick seiner Ehehälfte eintrug, ehe er antwortete: „Nun, was wohl anderes als mein Hörgerät in Verbin dung mit einem zum x-tenmal wiederholten SF-Film ,Angriff vom Mars!’ den ich schon auswendig kannte?“ „Alter Quatschkopf, daß du nie ernst sein kannst!“ schimpfte Mrs. Smith erzürnt, jedoch ihr Gatte lächelte nur vielsagend … Es gibt halt auch Geheimwaffen, die keiner kennt, dach te er und schmunzelte stillvergnügt …
102
Der Drachenvogel
Robert Silverberg Dan Elliot saß im dumpfen Dämmerlicht des Vestend-Bar, an der Peripherie von Venus City, und grinste sein Spie gelbild in dem fleckigen Glas hinter der Theke spitzbü bisch an. „Meinen herzlichen Glückwunsch“, sagte er zu sich selbst. „Du bis jetzt stolzer Besitzer der SPACE NEEDLE II.“ Fünf Jahre hatte er gebraucht, aber die Sache war es wert. Was er von der Versicherung für seine abgestürzte SPACE NEEDLE bekommen hatte, war gerade so viel ge wesen, daß er sich die Anzahlung auf das neue Schiff hatte leisten können, und von da bis zur letzten Rate waren fünf Jahre vergangen. Jetzt aber – jetzt gehörte das Schiff ihm. Das war natür lich ein Grund zum Feiern. Zu dumm nur, daß er nun prak tisch ohne einen roten Heller dastand! So war der einzige Ort, wo er das Ereignis begießen konnte, eine üble Spelun ke wie das Vestend. Plötzlich stieß ihn jemand von hinten an, und der Drink in seiner Hand schwappte über die Theke. „He, kannst du nicht aufpassen, Bürschchen?“ ertönte eine rauhe Stimme. Elliot drehte sich um. „Wieso, ich habe doch gar nicht …“ 103
„Oh, aufbegehren auch noch?“ Die ersten Gäste begannen sich umzudrehen. Elliot maß seinen Gegner – ein untersetzter, stämmiger, schwer zu beschreibender Mann, in dessen Gesicht eine Narbe leuchtete, die sich von einem Ohr bis zur Kinnlade zog. „Ich suche keinen Streit“, sagte Elliot. „Aber wenn …“ Eine Faust schoß aus dem Nichts heran und schleuderte ihn nach hinten gegen die Theke. Er raffte sich wieder auf, verpaßte dem untersetzten Mann einen Schlag in die Ma gengrube und ließ eine rechte Gerade auf dessen Kinnspit ze folgen. Der andere taumelte … Und da mischte sich auch schon ein dritter in den Kampf ein. Elliot spürte, wie eine Faust über sein Gesicht radierte. Er wehrte einen Tritt gegen seinen Unterleib ab und schlug sich einen Weg quer durch den Raum, ohne Rücksicht auf irgend jemanden. Mittlerweile hatte sich das Lokal in einen Haufen stolpernder, fluchender, um sich schlagender Män ner verwandelt, während der Bartender flugs „in der Ver senkung“ untertauchte. Elliot stürztet durch die aufgebrachte Meute und ent deckte den Kerl, der zuerst losgeschlagen hatte. Er packte ihn beim Kragen und stieß ihn zu Böden, gerade als je mand brüllte: „Achtung, der Tisch!“ Er wirbelte herum – zu spät! Der heransausende Tisch krachte mit einem häßlichen Geräusch gegen seinen Hin terkopf, und er klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Bewußtlos lag er am Boden. 104
Ein nasser. Fetzen klatschte kalt auf sein Gesicht, und eine tiefe Stimme sagte: „Kümmere dich um ihn. Bringe ihn hier ‘raus. Er dürfte nicht sonderlich verletzt sein …“ * Langsam öffnete Elliot die Augen. Er befand sich nicht mehr im Vestend, sondern in einem geräumigen, ge schmackvoll eingerichteten Büro. Hinter einem auf Hoch glanz polierten Schreibtisch saß ein gedrungener fetter Mann mit Backen, die beim Sprechen wackelten. Zu seiner Linken stand ein muskelbepackter, nicht allzu intelligent dreinblickender Kerl, dessen tief gebräuntes Gesicht darauf schließen ließ, daß er ein Raumfahrer war. „Wie fühlen Sie sich, Mr. Elliot?“ fragte der fette Mann. „In Ordnung, glaube ich.“ Er rieb sich den Hinterkopf. „Was ist passiert?“ „Sie gerieten in eine Schlägerei. Glücklicherweise konn te Sam hier Sie noch herausholen.“ Elliot blickte auf seinen unbekannten Wohltäter. „Besten Dank, Freund.“ Sam zuckte nur mürrisch die Achseln. Der Fette legte die Fingerspitzen aufeinander und beugte sich begierig vor. „Sagen Sie – sind Sie nicht der Daniel Elliot, der vor fünf Jahren mit einem Raumschiff im Dschungel abstürz te?“ fragte er. 105
„Ja, das bin ich“, antwortete Elliot. Der Fette nickte. „Mr. Elliot“, sagte er, „ich hörte, Sie seien in der Nähe des Venusischen Tempels des Lichtes gewesen – und hät ten mit eigenen Augen den Drachenvogel gesehen. Können Sie mir sagen, ob das Ding ein Roboter ist – oder ein wirk liches Lebewesen?“ Elliot grinste. Er hatte den legendären Vogel vom Dschungel aus gesehen – sicher vor einer Entdeckung durch die venusischen Priester, die den Vogel anbeteten; aber selbst aus dieser Entfernung hatte er erkennen können, daß das Ding „lebendig“ war. Kein Roboter hätte sich mit einer solchen Geschmeidigkeit und Anmut bewegen kön nen … „Es gibt ihn wirklich, und er ist ein lebendiges Wesen“, erklärte Elliot. Der Dicke lächelte hinterhältig und verschlagen. „Das hatte ich gehofft, Mr. Elliot. Ich will diesen Vogel haben. Sie sind der einzige, der mich zu ihm führen kann.“ Elliot erhob sich und fixierte den Dicken. „Ohne mich, Mister“, lehnte er ab. „Ich kann den Dschungel nicht aus stehen – und ebensowenig den Gedanken, an der Jagd nach dem Lieblingsgott der Venusianer teilzunehmen.“ Die Augen des fetten Mannes verengten sich. „Wissen Sie, wer ich bin?“ kam die abrupte Frage. Elliot schüttelte den Kopf. Das war ein Fehler; sein Na cken schmerzte noch immer vom Aufprall des Tisches, und die Bewegung ließ ihn zusammenzucken. 106
„Sie sprechen mit! Houston Blayne“, knurrte Sam. Elliot starrte schweigend vor sich hin. Er kannte Hou ston Blayne – dem Namen und seiner Stellung nach. Blay ne war der Bevollmächtigte des Interplanetaren Arbeits amtes. Die ganze Venus unterstand seiner Aufsicht. „Sie waren in eine Schlägerei in einer Taverne verwik kelt, Mr. Elliot“, erinnerte Blayne sanft. „Ich kann Ihnen dafür die Pilotenlizenz entziehen. Aber das wäre noch nicht das Schlimmste. Es könnte sogar der Verdacht aufkom men, Sie seien – äh – alkoholisiert gewesen, als sie mit der SPACE NEEDLE abstürzten. Da wäre es natürlich nicht zu verantworten, daß man Sie in der SPACE NEEDLE II he rumfliegen läßt, das leuchtet Ihnen doch auch ein, oder?“ Elliot erkannte jetzt die Zusammenhänge. Der ganze Vorfall in der Bar war inszeniert worden. Blayne hatte ihn auf gerissene Weise festgenagelt, damit er ihn zum Dra chenvogel führen würde, ob er wollte oder nicht. Und der Fette konnte alles das, was er ihm angedroht hatte, auch wahrmachen. Er hatte Elliot in der Hand. „Na schön, Blayne“, sagte Elliot steif. „Wann geht es los?“ „Am Dienstag“, erwiderte Blayne. „Und ich möchte Sie lieber gleich warnen, Elliot – wir werden sehr aufeinander achtgeben müssen. Sollte ich von dieser kleinen Reise nicht zurückkehren, so würden gewisse Papiere in meinem Safe Ihnen allerhand Schwierigkeiten bereiten. Schaffen wir es aber, dann kommen Sie auf Ihre Kosten.“ „Was meinen Sie damit?“ 107
Blayne lächelte. „Ich glaube, zehntausend Kredit dürften genügen. Voraussetzung ist natürlich, daß wir den Dra chenvogel auch wirklich mitbringen.“ * Am nächsten Tag brachen sie von Venus-City-Nord auf – Blayne und Elliot. Sam folgte ihnen bis zum Stadtrand, winkte dann und kehrte zurück. Die ersten paar Tage verlief die Reise gar nicht so übel. Der kleine Jeep rollte über den moosartigen Untergrund, als befinde er sich auf einer normalen Landstraße. Da war ein mühsamer Fußmarsch durch den üppigen venusischen Dschungel die reinste Hölle dagegen, erinnerte sich Elliot. In nur vier Tagen legten sie die gleiche Strecke zurück, für die Elliot fünf Wochen benötigt hatte, als er mit seinem Schiff einige hundert Kilometer weiter südlich abgestürzt war. Nachts lösten die zwei Männer einander ab, indem der eine hinten im Jeep schlief und der andere Wache hielt, auf der Lauer nach irgendwelchen wilden Tieren. Bei einer solchen Gelegenheit war es auch, daß Elliot sich einer Ver suchung gegenübersah, der er beinahe nicht widerstehen konnte. Es geschah in der ersten Nacht – während Blayne schlief. Elliot ging langsam auf und ab. Eine halbe Stunde vor Beendigung seiner Wache vernahm er ein leises, krat zendes Geräusch, das von einem der schwingenden Peit schenbäume über ihnen herrührte. 108
Er sah hoch und fluchte. Eine der faustgroßen, purpurro ten Venusspinnen ließ sich aus dem hohen Geäst an einem dicken, klebrigen Faden herab. Sie schwebte knapp zwei Meter über Blaynes Gesicht – diesem feisten, schmierigen Gesicht, das selbst im Schlaf noch wie ein Abbild des Bö sen anmutete. Elliot spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Es wäre so schrecklich einfach, die Spinne weiter herabsinken zu las sen, damit sie über Blaynes widerwärtiges Gesicht krie chen, ihr Gift verspritzen konnte… Nein …! Er rang die Versuchung nieder und zog seinen Strahler. Ein grelles Bündel leuchtend goldenen Feuers zer riß das Dunkel der Nacht, und die Spinne verging in ihrem Netz. Blayne schreckte augenblicklich aus seinem Schlaf auf. „Was war das?“ „Ich habe Ihnen gerade Ihr unwürdiges Leben gerettet“, sagte Elliot ausdruckslos. „Eine Spinne. Kam von diesem Baum herunter. Schlafen Sie jetzt wieder; Ihre Wache be ginnt erst in einer halben Stunde.“ Blayne schauderte, wälzte sich herum und setzte seinen Schlaf fort. Bei Tag fuhr Elliot. Sie drangen immer weiter in den ve nusischen Dschungel ein, und Venus City – ein grauer Fleck in der Ferne – entschwand bald ganz ihren Blicken. Es war heiß im Dschungel, heiß und feucht. Elliots Haar klebte auf seiner Stirn, Schweiß rann in seine Augen, Dunst vernebelte die Windschutzscheibe. Nach einer Weile 109
brachte er den Jeep zum Halten. Blayne wischte sich den Schweiß von seinem Doppel kinn und sah auf. „Was ist?“ fragte er ungeduldig. „Übernehmen Sie jetzt das Steuer“, bat Elliot. „Ich bin fertig.“ „Nein“, entgegnete Blayne. „Sie fahren. Das ist Ihre Auf gabe – dafür habe ich Sie ja angestellt. Also, weiter. Na los!“ Elliot ließ den Jeep wieder anfahren. Es war nicht das erstemal, daß er sich als Handlanger hergab, aber dies hier stellte wohl den absoluten Tiefpunkt an Erniedrigung dar. Nie zuvor hatte er jemanden so sehr gehaßt wie Blayne – und auch; noch nie war er in einer so kläglichen Lage ge wesen wie jetzt, wo er nicht einmal etwas dagegen tun konnte. Kalte Wut stieg in ihm hoch. Er war ein erfahrener Raumschiffpilot, ein Mann mit großer Reaktionsfähigkeit und einem wichtigen, verantwortungsvollen Beruf. Eine kleine Unvorsichtigkeit hatte er begangen – und schon war er unter Blaynes erbarmungslosem Daumen gelandet. Er konnte diese Pille nicht so einfach schlucken; er mußte sich krampfhaft dazu überwinden. Es wäre ihm eine wahre Freude gewesen, den fetten Kerl ins Jenseits zu befördern – doch wußte er, daß er nie wieder ein Raumschiff führen würde, wenn er ohne den Kommissionär nach Venus City zurückkehrte. Blayne hatte sich doppelt und dreifach abge sichert, und es wäre völlig zwecklos, sich dagegen aufzu bäumen. 110
* Am Abend des vierten Tages geschah das Unglück. Der Jeep rollte über den moosigen Pfad zwischen den mächtigen, schleimbedeckten Bäumen, als Elliot plötzlich ein tauähnliches Ding entdeckte, das an einer Liane herun terglitt und sich direkt vor den Jeep fallen ließ. „Eine Schlange!“ schrie er und riß das Steuer herum. Der Jeep schlingerte. „He, passen Sie auf!“ knurrte Blayne. Aber da war es schon zu spät. Das rechte Vorderrad schlug gegen einen verborgenen Felsbrocken, und der Jeep kippte krachend auf die Seite. Elliot war benommen, doch wußte er, daß es noch im mer schnell zu handeln galt. Er sprang aus dem umgestürz ten Jeep, Blayne hinterher. Die Baumschlange, die den Un fall verursacht hatte, näherte sich ihnen schnell, und von ihren weißen Zähnen troff das Gift. Sie schnellte angriffslustig nach vorn, aber Elliot ließ sich nicht überraschen. Wild umklammerten seine Finger den Nacken der Bestie. Er hielt den kleinen Schädel mit ausgestrecktem Arm von sich. Der rund vier Meter lange Leib der Schlange ringelte sich um Elliots Hals und Brustkorb, wobei er ihm den ei nen Arm gegen die Seite preßte. Der Raumschiffpilot spür te den trockenen, widerlichen Geruch des Reptils, und er mußte sich beinahe übergeben. Er schnappte nach Luft und 111
verstärkte seinen Griff um den Nacken der Schlange; drückte mit aller Kraft zu. Es war jetzt lediglich die Frage, wer von ihnen länger aushielt. Elliots Augen begannen sich zu verschleiern. Wo, zum Teufel, steckte denn dieser fette Idiot Blayne? „Blayne!“ brüllte er. Doch Blayne gab keine Antwort, Mit einer letzten, ver zweifelten Kraftanstrengung preßten seine Finger sich noch mehr zusammen. Irgend etwas knackte. Die Schlange erzitterte unter ei nem konvulsivischen Schauer, und die nun leblosen Schlingen fielen von Elliot ab. Bebend vor Anspannung richtete er sich auf. Als die Schlange zu Boden klatschte, durchschnitt ein Nadelstrahl die Luft und ließ den Schädel des Reptils auf flammen. „So, das hätten wir geschafft“, sagte Houston Blayne er leichtert. Elliot wirbelte herum und starrte ihn an. „Warum, zum Teufel, haben Sie nichts unternommen? Das hätte mich das Leben kosten können! Warum benutzten Sie nicht das Messer?“ Blayne zuckte die Achseln. „Sie kamen ja selbst zurecht. – Und jetzt tun Sie etwas wegen des Wagens, wenn ich bit ten darf!“ Elliot unterdrückte einen Fluch und wandte sich ab. Der Anblick von Blayne machte ihn krank, und er wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, sich an Blayne zu rächen, ohne da 112
durch auf die Geldsumme für diesen Job verzichten zu müssen. Es gab jedoch keine. Er bückte sich und untersuchte den Wagen. „Die Vor derachse ist gebrochen“, sagte er nach einigem Überlegen. „Da läßt sich nichts machen.“ „Nichts?“ „Außer Sie wollen sie mit ein paar Lianen zusammen binden“, spottete Elliot. „Für eine Umkehr ist es jetzt zu spät“, entschied Blayne. „Packen Sie also Ihre Sachen. Wir legen den Rest des We ges zu Fuß zurück. Bis zum Lager des Drachenvogels kann es nicht mehr weit sein.“ Heiß brannte die Begierde in den Augen des fetten Man nes. Elliot starrte ihn eine Weile an, dann begann er zu pa cken. * Einen Tag später erreichten sie das Ufer des KhathylFlusses – eines breiten, trägen Stromes, der sich fast über den ganzen Kontinent dahinwand. Elliot und Blayne versteckten sich hinter dem Gebüsch. „Sehen Sie dort hinüber“, sagte Elliot. Er wies auf eine Insel, die etwa hundert Meter vom Flußufer entfernt war. „Was ist dort?“ fragte Blayne. „Der Tempel. Sehen Sie das große, weiße Gebäude? – Übrigens, die Eingeborenen kommen nie auf diese Seite des Flusses. Auf der anderen gibt es viel reichere Jagdgründe.“ 113
„Ich möchte den Feldstecher“, flüsterte Blayne. Elliot reichte ihm das Fernglas, und der fette Mann starr te begierig auf die Insel. „Was zu sehen?“ „Nur Eingeborene“, erwiderte Blayne. Er reichte den Feldstecher zurück, und Elliot betrachtete die blauhäutigen Eingeborenen, die über die ganze Insel verstreut waren. „Haben sie gar keine Wachen?“ fragte Blayne. Elliot schüttelte den Kopf. „Nein. Sie glauben fest daran, daß der Drachenvogel sie vor jeglichen Eindringlingen be schützen wird.“ „Schön“, meinte Blayne. „Um so einfacher für uns. Wann kann es losgehen?“ Elliot blickte auf den Mann neben ihm, sah das Verlan gen in seinem Gesicht, die Gier des Jägers. „Seien Sie nicht ungeduldig“, warnte er. „Es ist beinahe schon Mittag. Wenn sie ihr Programm inzwischen nicht geändert haben, wird der Drachenvogel um Punkt zwölf Uhr in Erscheinung treten.“ Die Minuten schlichen geradezu dahin. Blayne sah fort während auf seine Uhr und blickte gespannt über das Was ser hinweg zur Insel. In genau dem Augenblick, als der Minutenzeiger der Uhr sich über die „12“ schob, ertönte plötzlich ein Dröhnen wie von einer riesigen Kesselpauke. Der Ton hallte hohl zu ihnen herüber. Eine Gruppe von Eingeborenen, die ein dunkelfarbiges Tier von der Größe eines mittleren Schafes trug, marschierte in geordneter Prozession auf den Tempel 114
zu. Dort wurde das Tier auf einem Altar vor dem Eingang niedergelegt. Wieder ertönte ein dumpfes Dröhnen. „Da kommt er“, murmelte Elliot. Die Eingeborenen traten ehrfurchtsvoll zurück, und die Tore des Tempels schwangen langsam nach außen. Der Drachenvogel erschien. Blayne schnappte vor Überraschung so laut nach Luft, daß Elliot besorgt um sich blickte. „Er ist wunderbar“, keuchte der fette Mann. „Schöner noch, als ich es mir je erträumt hätte!“ „Allerdings“, bemerkte Elliot grimmig. Er nahm Blayne den Feldstecher aus den zitternden Fingern und richtete ihn auf die Insel. Der Drachenvogel schritt würdevoll über den kleinen Platz vor dem Altar. Er hatte beinahe die Größe eines aus gewachsenen Mannes, war halb Vogel, halb Reptil, und bewegte sich auf kraftvollen Tatzen voran, die mit dia mantharten, funkelnden Krallen bewehrt waren. Der helle Sonnenschein gleißte auf seinem metallischen Gefieder, setzte den schimmernden Reihen von Schuppen, die seinen langen, schwanenartigen Hals bedeckte, strahlende Glanz lichter auf. „Geben Sie mir den Feldstecher“, keuchte Blayne. Er riß ihn an sich und starrte gebannt hindurch. „Mein Gott, was für ein Prachtexemplar! Die absolute Trophäe wird das!“ „Trophäe?“ Elliot war fassungslos. „Trophäe! Ich dach te, Sie wollten ihn fangen!“ 115
„Seien Sie doch kein Narr! Wie sollten wir ein lebendes Wesen dieser Größe durch den Dschungel befördern? Und dann müßten wir einen Käfig aus Chromstahl haben! Nein, ich werde ihn abschießen. Den Schädel, das Gefieder, die Schuppen und Krallen können wir mitnehmen – das dürfte genügen.“ Elliots Gesicht verfinsterte sich, und er fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Der Drachenvogel – eine Trophäe! Der Gedanke ekelte ihn an. Er sah weg, sah hinüber zur Insel. Der Drachenvogel hatte sich nun daran gemacht, die Op fergabe zu verzehren. Er zerriß sie nach Art von Raubtieren mit seinen Krallen und dem mächtigen Schnabel. „Es wird ganz leicht sein“, fuhr Blayne fort. „Ich jage ihm eine Kugel in den Körper, damit er nicht beschädigt wird, und dann verwenden wir die Strahler, um uns der Eingeborenen zu entledigen.“ „Sie wollen was?“ „Es wird ihnen nicht einmal zu Bewußtsein kommen, was geschieht. Eine schnelle, saubere und vor allem huma ne Methode… Himmel, was für ein wunderbares Geschöpf ist das doch!“ Blayne hob sein Gewehr und zielte sorgfältig. * Einen langen Augenblick hing das Gewehr so in der Luft, während Elliot zusah, wie Blaynes dicker Finger sich um den Abzug krümmte. Dann jedoch senkte er es. 116
„Nein“, sagte er. „Ich traue meiner Zielsicherheit nicht. Ich könnte den Vogel ruinieren, und das würde ich mir nie verzeihen.“ Er reichte Elliot das Gewehr. Elliot nahm es widerstre bend – fühlte die Kühle des Laufes, fühlte die Schwere des Kolbens. „Schießen“, befahl Blayne. „Nein, ich nicht“, wehrte sich Elliot. „Es war keine Rede davon, daß ich …“ „Das ist mir völlig egal!“ sagte Blayne rundheraus. „Ich bitte Sie nicht, den Vogel zu schießen … Ich befehle es Ihnen!“ Heiß loderte die Wut in Elliots Augen. Er sah den Dra chenvogel vor sich, wie er gerade sein Opfer zerriß, sah jenes schöne, erhabene Haupt durchbohrt von einer häßli chen kleinen Kugel, sah das rauchende Gewehr in seinen Händen – er konnte kaum gegen den jähen Drang an, das Gewehr herumzuschwingen und damit Blayne den aufge dunsenen Schädel einzuschlagen. „Ich tue es nicht!“ erklärte er. „Ich werde diesen Vogel nicht erschießen.“ „Sie sind ein Narr, Elliot! Sie wissen ganz genau, wenn wir den Vogel nicht bekommen, erhalten Sie auch kein Geld. Warum also …?“ „Ich tue es nicht!“ „Na schön“, sagte Blayne kalt. „Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen noch herumzustreiten; dafür ist die Zeit zu kostbar. Der Vogel kann jeden Augenblick wieder im 117
Tempel verschwinden. Geben Sie mir das Gewehr. Ich werde es selbst besorgen – und später rechne ich mit Ihnen ab.“ Schweigend gab Elliot dem fetten Mann das Gewehr zu rück. Blayne ergriff es, spannte den Hahn, visierte das Ziel an. Zum zweitenmal krümmte sein Finger sich um den Ab zug. Und plötzlich, in einem Ausbruch bitterer Einsicht, er kannte Elliot, daß er für immer jede Selbstachtung verlie ren würde, wenn er jetzt zuließ, daß dieser Finger den Ab zug auslöste. Mochte es ihn kosten, was es wollte, er durfte nicht untätig zusehen, wie dieser fette Schlächter eines der schönsten, der wundervollsten Dinge umbrachte, die je ge lebt hatten – nur damit er es als Trophäe heimbringen konnte! All die unterdrückte Wut, die sich in ihm seit seiner er sten Begegnung mit Blayne aufgestaut hatte, kam zum Durchbruch. Sich völlig klar über die Bedeutung dessen, was er tat, riß er die Hand hoch und hieb sie mit aller Wucht gegen den Lauf des Gewehres, gerade als Blayne abdrückte. Krachend löste sich der Schuß, platzte wie ein Donner grollen mitten in die Stille hinein, und ein Eingeborener sank zu Boden. Blayne starrte ihn fassungslos an. „Sie verdammter Narr!“ brüllte er. Der fette Mann sprang auf. Er schwang das Gewehr 118
hoch und ließ es in Elliots Richtung niedersausen. Der Pilot duckte sich und sprang gleichzeitig zur Seite. Der Kolben zischte wenige Zentimeter über seinem Kopf durch die Luft. Blayne – aus dem Gleichgewicht gebracht – taumelte nach vorn, und Elliot stürzte sich auf ihn. * Der fette Mann sank unter Elliots Angriff auf ein Knie, doch stellte sich heraus, daß er stärker war, als der Raum fahrer angenommen hatte. Die Fettschicht verbarg solide Muskeln. Grunzend kämpfte sich Blayne hoch und schleuderte El liot zur Seite. Ungeheurer Haß glühte in Blaynes Augen, und Elliot wußte, daß sein eigenes Gesicht eine wutverzerrte Maske war. Dies würde ein Kampf auf Leben und Tod werden, hier am Ufer jenes trägen venusianischen Stromes. Die beiden Männer umkreisten einander lauernd. Blayne schwang einen affenartigen Arm, und Elliot tänzelte zu rück. „Sie wissen, was Ihnen blüht“, schrie Blayne. „Sie wer den den Rest Ihres Lebens auf der Venus dahinsiechen, wenn ich nicht wieder erscheine!“ „Dieses Risiko nehme ich auf mich, Blayne. Aber den Drachenvogel werden Sie nicht töten, das garantiere ich Ihnen!“ Er senkte den Kopf und rammte ihn in Blaynes Magen 119
gegend, ohne den Hagel von Schlägen zu beachten, der auf seinen Nacken und die Schultern niederprasselten. Er trieb Blayne bis an den Rand des Wassers zurück, mußte jedoch von ihm ablassen, als sich dessen Finger in seinen Hals gruben. Er riß sich los, und Blaynes Hände hinterließen grellrote Striemen auf seinem Fleisch. Blut vermengte sich mit Schweiß. Eine Wolke von Venusmücken senkte sich auf sie herab und surrte um ihre Köpfe. Blaynes Faust krachte in seinen Magen, aber der Pilot rang den Schmerz nieder und landete einen Schlag in der Fettmasse, die wie ein Polster den Unterleib des anderen bedeckte. Blayne stöhnte auf und taumelte zurück. Elliot sprang ihn an und packte ihn. Er hatte Mühe, den fetten Leib des Gegners vollends zu umklammern. Dann, ganz langsam, hob er den sich windenden Blayne in die Höhe. „Jetzt – befehle – nur!“ preßte er haßerfüllt hervor, noch während er den schweren Körper hochstemmte, um ihn dann zu Boden zu schleudern. Doch da brach der andere Elliots Umklammerung. Er mußte ihn loslassen, und Blayne stürzte schwer zu Boden. Sofort war der Pilot über ihm, und sie rollten die schmale Uferböschung hinab, dem Fluß entgegen. Gerade noch am Rand des Wassers gelang es Elliot, ihren Fall zu bremsen, und er befreite sich aus der Umklammerung. Aber schon war Blayne wieder auf den Beinen. Elliots erster Schlag durchbrach die Deckung seines Ge gners. Der fette Mann taumelte zurück, verlor den Halt un 120
ter den Füßen und stürzte vom Uferdamm hinab ins träge dahingleitende Wasser. Ein gellender Schrei kam über sei ne Lippen, als er aufschlug, und sofort schoß eine Fontäne empor, die gegen Elliots Beine klatschte. Plötzlich kam Bewegung in das Wasser. Ein Strudel bildete sich unter der Oberfläche des Flusses, und Blaynes Körper wurde zum Mittelpunkt eines turbulenten Knäuels von saurierartigen Wesen. Noch ein einziges Mal schrie er auf, dann hatten ihn die messerscharfen Zähne in die Tiefe gezerrt. Ein roter Fleck begann sich an der Oberfläche zu bilden, der schließ lich langsam den trägen Flußlauf hinunterglitt. Dann war das Wasser wieder still Und ruhig. * Elliot stand schwer atmend auf dem Uferdamm und wisch te die Mücken, die sich während des Kampfes über ihn hergemacht hatten, angewidert von seinem Körper. Er beo bachtete, wie die roten Streifen stromabwärts zogen; und wußte, daß er nun sein eigenes Leben für Blaynes Tod verwirkt hatte. Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er hatte kei ne andere Wahl gehabt … Langsam begann er sich vom Flußufer zu entfernen. Plötzlich erfüllte ein Rauschen die Luft hoch über ihm. Er sah empor, direkt in die lodernde Sonne, und einen Au genblick später kauerte er am Boden. Der Drachenvogel senkte sich auf metallischen Schwingen zu ihm herab. Elli 121
ot erinnerte sich nur zu gut an das, was jene funkelnden Krallen mit dem Opfertier vor dem Tempel gemacht hat ten. Und dann… ,Erschrecke nicht’, sagte eine sanfte leise Stimme. ,Du brauchst keine Angst zu haben – denn du hast mir einen großen Dienst erwiesen, Daniel Elliot.’ Der Drachenvogel setzte graziös am Boden auf, und da bemerkte Elliot die hohe Intelligenz, die in den goldenen Augen des Geschöpfes lag. Es schien fast, als könne das Ding seine Gedanken lesen. ,Ich kann deine Gedanken lesen, Daniel Elliot’, kam die telepathische Antwort auf seine unausgesprochene Frage. „Du – du bist also ein intelligentes Lebewesen?“ Eine schwache Spur von Schmerz klang in der geistigen Stimme mit, als der Vogel erwiderte: ,Ich bin der letzte meiner Rasse. Wir beherrschten schon die Venus, da hatten deine Vorfahren noch nicht einmal gelernt, Feuer zu machen. Aber …’ Nach kurzem Zögern fuhr der Vogel fort: ,Nun, wie dem auch sei, es ist für euch belanglos. Ich werde von den Eingeborenen als Gott verehrt, und ich wüßte nicht, warum ich etwas dagegen unternehmen sollte. Sie bringen mir Nahrung und sorgen sich um mein Wohl ergehen. Als Gegenleistung dafür hypnotisiere ich ihre Feinde und beschütze auf diese Weise die kleine Insel. Es ist ein angenehmes Leben, und ich bin schon alt …’ „Wie alt?“ fragte Elliot. 122
‚Einige tausend Jahre nach eurer Zeitrechnung’, erwiderte der Drachenvogel. „Und du …?“ Der Drachenvogel unterbrach ihn. ,Nein, Daniel Elliot; ich will keine Fragen beantworten. Ich möchte dir lediglich das zurückzahlen, was ich dir für die Rettung meines Lebens schulde. Dieser Blayne bedrohte deine Zukunft. Ich kann dir aus deiner Not helfen und ihn doppelt bestrafen, indem ich seine Pläne zunichte mache. Sei von nichts, was du jetzt siehst, überrascht, Daniel El liot!’ Der Drachenvogel verblaßte ein wenig, und plötzlich war er kein fremdes Wesen mehr. Vor Elliot stand ein fet ter, abstoßender – in einem Wort, da stand … Houston Blayne! „Sieh nicht so verdattert drein, Elliot“, ertönte Blaynes bissige Stimme. „Du würdest dich wundern, was eine rich tige Hypnose alles vollbringen kann!“ Elliot rieb sich die Augen und sah ein zweitesmal hin. Aber es war noch immer Blayne, mit einem selbstgefälligen Lä cheln auf den wulstigen Lippen. „Ich werde dich jetzt für deine Tat belohnen“, sagte Blaynes Stimme. „Du und ich werden dem verschiedenen Mr. Blayne jeden einzelnen Kredit, den er zusammenge rafft hat, in völlig gerechter Weise abknöpfen und auch die Papiere aus seinem Safe holen.“ „Aber – du meinst, du willst Blaynes Platz einnehmen?“ 123
fragte Elliot, der sich in einen Traum versetzt glaubte. „Vorläufig, ja.“ Die fette Gestalt Blaynes verschwamm und formte sich wieder zu dem Drachenvogel. ‚Steige auf meinen Rücken, Daniel Elliot…’ Sekunden später kreisten sie hoch in den Lüften und flo gen Venus City entgegen.
124
Die Goldenen
Charles A. Stearns Jathan, der Evangelist von den Sternen, stand da und ver krampfte seine großen, häßlichen Hände in den Falten sei nes wallenden Gewandes, so daß die Knöchel seiner Fäuste weiß hervortraten. Fast drei Stunden lang hatte seine Ge fährtin sich damit vergnügt, ihren Mann zu übersehen und angelegentlich mit dem bestaussehenden männlichen We sen in der Diele des Sternkreuzers zu flirten. Es war ein junger Mann mit klassischen Gesichtszügen in der knall blauen Netzuniform der Nebenmonde; auf den Schultern trug er Halbmonde aus purem Gold, und diese bezeichne ten das großartige Geschöpf als einen der mächtigen Sola rianer. Im allgemeinen war Jathan nicht von Eifersucht geplagt. Er redete sich immer selbst ein, daß Alanias unschuldig Flirts genauso zu ihr gehörten, wie ihr rotes Haar; auf ih rem Heimatplaneten war rotes Haar außerordentlich selten, und jeder, der es hatte, war sehr stolz darauf und rechnet sich zu den auserlesensten Geschöpfen dieser Welt. Aber jetzt fühlte er sich aus irgendeinem Grund an sein eigenes, farbloses Geiergesicht erinnert, dem nicht einmal der braune Vollbart ein bißchen männlichen Charme zu geben vermochte; von seinem langen Haar hatte einmal ein 125
unverschämter Barbier von Nassus behauptet, es sei „der gräßlichste männliche Haarschopf, der ihm je unter die Schere geraten sei“. Er dachte daran, daß unter den Falten seines häßlichen, unförmigen Gewandes ein riesiger, plumper Körper stak; und selbst der Geist, der in diesem unschönen Leib wohnte, mochte von dieser weltgewandten Gesellschaft als dürftig und schäbig bezeichnet werden. Wenn jemand nicht von Geburt Solarianer war, dann konnte er auch niemals einer werden, und damit hatte er sich abzufinden. Aber schon als Kind, aufgewachsen in der primitivsten Umgebung seiner abgelegenen Welt, hatte Jathan davon geträumt, einmal dieser glorreichen Elite an zugehören, und er beneidete diesen smaragdäugigen Bur schen, der keinerlei Respekt vor seinem Alter zeigte. Alania war wie ein Kind, und sie war ihm so treu und vertrauensvoll ergeben, daß er ihr tausende Male solche Fehler hätte vergeben können, obwohl sie es doch als Ehre betrachten mußte, die Frau eines Bruders der Wahrheit zu sein, das Prestige des Gewandes unter allen Umständen und zu jeder Zeit zu wahren. Als er Alania damals begegnete, war sie die unwissende Tochter eines kulturfeindlichen, barbarischen Häuptlings von Sardis IV. Ihr Vater hatte ihm am Hochzeitstag schon erklärt, daß sie gelegentlich wohl eine ordentliche, seelen stärkende Tracht Prügel benötige, um sie gebührend an ihre schlichte Herkunft zu erinnern. Aber die Statuten der Bru derschaft untersagten es, die Frau zu schlagen, und die ein zig mögliche andere Lösung – die nicht ausdrücklich ver 126
boten war – ließ sich nicht verwirklichen. Ein Bruder, ein geengt von einem schweren, knöchellangen Rock, konnte ganz einfach den Fuß nicht hoch genug heben. Nun zupfte sie schon eine ganze Weil an seinem Ärmel. „Was ist denn jetzt los?“ fragte Jathan. „Hast du diesen Solarianer bemerkt, Jathan? Ist er nicht groß, und sieht er nicht sehr überlegen aus? Komm, gehen wir doch zu ihm hinüber, damit wir uns ein wenig mit ihm unterhalten können.“ Jathan zuckte zusammen, als sich dieser feine Dolch in sein Herz bohrte. „Das wäre anmaßend von zwei Angehö rigen eines Kolonistenvolkes“, antwortete er. „Außerdem“, fügte er nach kurzer Überlegung hinzu, „zweifle ich daran, daß er auch nur um Fingerbreite größer ist als ich.“ Schmollend quetschte Alania ihre Nase an das Bullauge der Luftschleuse. Sie sah nicht sehr viel, denn ihr Platz bot nur einen kleinen Blickwinkel. „Wir kommen überhaupt niemals mit interessanten Leuten zusammen“, klagte sie. „Zieh deine Unterlippe ein“, riet er. „Jeder der gewöhn lichen Menschen, mein liebes Kind, den die Bruderschaft zu unterrichten sucht, ist wichtig und interessant. Die Randsiedler, die Kolonisten, die Goldgräber, selbst die Menschen der Kolonien jenseits der Polaris sind wichtig. Sie sind das frische Blut, die Arbeiter, diejenigen, die den Aufbau vorantreiben, die strahlende Hoffnung der mensch lichen Rasse.“ „Ach, du mußt mir nicht das ganze Glaubensbekenntnis vorkauen“, maulte Alania. „Außerdem, wenn du nicht mit 127
ihm reden willst – ich werde es tun; er sieht sehr freundlich aus und ich halte ihn für einen Demokraten.“ „Das sind durchaus nicht die Eigenschaften, die ich an ihm sehe“, antwortete Jathan. „Aber ich weiß genau, daß es eine schreckliche Szene geben wird, wenn ich nicht auf deine Marotte eingehe.“ Er ging in die Diele hinüber und ließ sich dem Solarianer gegenüber in einen Stuhl fallen. Der lächelte verwirrend, zeigte eine blendendweiße Reihe von Zähnen und nickte auf eine Art, die man mit sehr viel gutem Willen als freundlich und demokratisch hätte be zeichnen können. „Ziemlich öde Reise, nicht wahr?“ sagte der Solarianer. „Nur dann, wenn man nicht fähig ist, sich seiner ewigen Seele zu bedienen“, antwortete Jathan säuerlich. „Ach, dann sind Sie also einer von diesen Philosophen der Wega, oder? Ich habe schon viel davon gehört. Großar tige Arbeit, die Sie bei den Barbaren vollbringen. Und, wissen Sie, wegen des Ursprunges der Langeweile haben Sie ganz recht.“ Er lachte. „Jedenfalls habe ich aber keinen Grund zur Klage. Ich bin erst auf Alpha Centauri an Bord gekommen. Wissen Sie, Arzt; Bestimmung: Terra. Ich bin Lapius Valdo, Solarianer, von der Aesculapgesellschaft der Venus.“ „Es heißt, daß Solarianer niemals krank sind“, knurrte Jathan. „Würden Sie Ihre Geschicklichkeit nicht besser auf so verpesteten Planeten wie Procyon VI oder Gamma Ca pella einsetzen, als auf der Erde?“ „Das würde ich auch sagen“, gab Valdo zu und lächelte 128
entwaffnend. „Aber, sehen Sie, mein Besuch auf der Erde gilt nur einigen Freunden – um genau zu sein, einem der reichen Bürgerregenten. Deshalb trage ich ja auch diese etwas auffällige Uniform. Protokoll, wissen Sie; ich kom me mir selbst ein bißchen albern vor.“ Jemand trat Jathan heftig auf die Ferse. „Seht!“ machte er und warf seiner Frau einen durchdringenden Blick zu; sie hatte es sich inzwischen auf dem Stuhl neben ihm ge mütlich gemacht. „Verzeihung, was meinten Sie?“ fragte Lapius Valdo. „Ich möchte Sie gern mit meiner Frau bekanntmachen, die zufällig eine Wilde vom Satellitensystem der Wega ist. Alania, meine Liebe, dieser Mann hier ist Lapius Valdo von der Venus.“ „Wie aufregend!“ rief Alania und streckte ihm ihre zarte Hand entgegen. „Ich hätte nicht einmal davon zu träumen gewagt, daß wir einen so vornehmen Passagier an Bord haben könnten.“ Der Solarianer sprang auf und ergriff ihre Hand. „Die Philosophen der Wega sind sehr tüchtig“, sagte er und lachte. „Sind alle Frauen der Wega so schön?“ „D-du m-meine Güte“, stammelte Alania. „Ist es wahr, daß alle Terraner und andere Solarianer entsetzlich reich sind, daß sie reisen, wohin sie Lust haben, nur das tun, was ihnen behagt und fast keiner von ihnen arbeitet?“ Lapius Valdo lachte laut. „Glücklicherweise stimmt das nur für die Erde“, antwortete er. „Es gibt wichtigere Dinge als Reichtum und Muße.“ 129
„Das ist eine Binsenwahrheit“, bemerkte Jathan mür risch. Das überhörte Alania. „Und werden wir nahe an der Er de vorbeikommen?“ „Natürlich. Die Lunarstation liegt ungefähr auf dem hal ben Weg der Wega-Arcturus-Tour. Das Schiff legt dort für ungefähr sechs Stunden an, um Passagiere und Frachten abzuladen und aufzunehmen und den Treibstoffvorrat zu ergänzen. Sie werden also praktisch auf etwa eine halbe Million Meilen an die Erde herankommen.“ Er bedachte Alanias vollerblühte Figur mit einem wohlgefälligen Blick. „Ich habe eine großartige Idee. Wollen Sie nicht mit mir kommen und den Nachmittag auf der Erde verbringen? Mein Freund Carter, der Bürgerregent, wird sich freuen, Sie als seine Gäste zu begrüßen, und Mrs. Carter wird Ih nen sehr gefallen.“ „Mrs. Carter?“ fragte Alania. „Das ist ein sehr eigenarti ger Titel.“ „Das ist provinziell“, erklärte Valdo; „es kennzeichnet sie als verheiratete Frau.“ „Mrs. Alania“, sagte sie, um zu hören, wie würdig es klang. „Jathan, sag ja, bitte, bitte.“ „Ja, bitte, kommen Sie mit“, drängte Valdo gewandt. „Die Erde hat nicht oft das Glück, vornehme Weganer zu sehen – und wer weiß, Bruder Jathan, vielleicht gelingen Ihnen ein paar Bekehrungen.“ „Genausogut könnte ich versuchen, die heidnischen Göt ter selbst zu bekehren“, brummte Jathan. Trotzdem fühlte 130
er sich sehr geschmeichelt, als vornehmer Gast bezeichnet zu werden. Valdos Stimme nahm einen traurigbesorgten Ton an. „Es gibt viele Terraner, die eine philosophische Betreuung bitter entbehren“, behauptete er, „glauben Sie mir, Wega ner.“ Jathan sah ihn forschend an, denn hinter diesen Wor ten vermutete er einen verborgenen Sinn. „Ich sterbe vor Sehnsucht, mit ihnen zusammenzukom men“, rief Alania und legte ihrem Mann die Arme um den Hals. „Oh, Jathan, Liebling, eine solche Chance werden wir niemals mehr haben. Schau, wir schwenken von der Bahn ab. und dort draußen ist die historische alte Luna. Sag, daß wir’s tun!“ „Der Mond sieht genauso aus wie jeder andere G-2 Mond, den ich je gesehen habe“, murrte Jathan, „kahl und langweilig.“ „Sie dürfen mir glauben, daß das ganze Universum nichts Ähnliches aufweist“, sagte Valdo. „Carters Raum kutsche wird uns von der Station abholen. Wenn Sie mit kommen wollen, verspreche ich Ihnen, daß Sie rechtzeitig um Weiterflug zurück sind.“ Alania hatte begonnen, Jathans Nacken mit ihren Fin gerspitzen zu massieren. „Bitte, laß das“, befahl er. Aber Alania wußte nur allzu genau, daß Jathans Nacken sozusagen seine Achillesferse war, und daß er es außeror dentlich genoß, ihre Fingerspitzen dort zu fühlen. Er mur melte immer noch etwas wie „sündige Zeitvergeudung“ 131
vor sich hin, als er wegging, um sich um das Gepäck zu kümmern. * Drei Gepäckstücke hatte Alania mitzunehmen nötig gefun den, und dazu kam noch eine riesige, abgenützte, unmo derne Tasche für ihn. Er klemmte zwei davon unter die Arme und nahm die anderen beiden in die Hände und kämpfte sich dann durch eine dichtgedrängte Menge zum Ausstieg, wo Alania und der freundliche, demokratische Solarianer auf ihn warteten. An seiner Tasche riß der Henkel ab. Es war soviel hin eingestopft, daß sie mehr als hundert Pfund wog. Sie fiel auf die Zehen eines dicken Ligurianers. Der schrie: „Autsch, verdammt!“ Dann sah er Jathans weißes Gewand, tippte an seine haubenartige Mütze, murmelte: „Verzei hung, Bruder!“ und lächelte schmerzlich. „Der Schmerz in deiner großen Zehe, Bruder, ist nur ein schwacher Abklatsch jenes Schmerzes, den ich fühle“, antwortete Jathan. „Und mehr noch; da ich anscheinend verrückt geworden sein muß, bin ich für meine Taten nicht. verantwortlich.“ Der fette Ligurianer sah ihn verwundert an. Jathan bückte sich und angelte nach der Tasche. Jemand trat ihm auf die Hand; sein Kopf krachte gegen die Knie einer nach vorn drängenden Dame, die in venusianischen Glakpelz gehüllt war, und ihm entfuhr ein sehr unbrüderli 132
ches Wort. Was die ganze Geschichte noch verschlimmer te, war der vernichtende Blick, den Alania ihm dafür zu warf. Kurz danach – die Stimmung war noch immer ziemlich frostig – senkten sich die drei in der schlanken, kleinen Rakete mit dem großen, goldenen Emblem in weiten Spira len der Erde entgegen. Die Kontinente der ehrwürdigen Königin der Planeten schwammen wie smaragdene Schmuckstücke in den ame thystfarbenen Ozeanen. Lapius Valdo zeigte auf die grünen Matten und erklärte, daß dort die Paläste der Bürgerregen ten standen, von denen jeder über beträchtliches Kolonial eigentum und eine Stimme im galaktischen Rat verfügte. Alle Industrie- und Handelszentren seien unterirdisch ange legt. Das kleine Raumschiff senkte sich auf eine unschuldig aussehende Wiese, die sich urplötzlich auftat und sie ver schluckte. Die Tür am Ausstieg schwang auf; sie traten in einen unterirdischen Gang, dessen Rollboden sie durch sanft erleuchtete, in weichen Kurven verlaufende Tunnels nach oben brachte, und sie schließlich in einem großen Rundbau mitten in der Villa selbst ablieferte. Dieser Rund bau hatte in der Kuppel eine Art Planetarium, nur daß eini ge der Himmelskörper sich unter den anderen riesig, grün und strahlend hervorhoben. „Diese hellen Gestirne“, flüsterte Valdo, „sind jene Pla neten, die im Alleinbesitz des Regenten Carter sind. Ihm gehören achtzehn solcher Sterne und außerdem hat er noch 133
ein riesiges Besitztum im Solarsystem.“ „Ich kann mir nichts Lächerlicheres vorstellen“, erklärte Jathan mürrisch, „als daß ein Stern einem einzigen Men schen gehören sollte. Eine Welt gehört sich selbst.“ Valdo lachte. „Vom ethischen Standpunkt aus haben Sie sicher recht; aber Carter ist einer der mächtigsten Terraner. Wenn wir schon von unseren Gastgebern sprechen – da kommen sie gerade.“ Er nickte unauffällig in Richtung ei nes der zahlreichen Bogengänge, die vom Rundbau aus gingen. „Was sollen wir sagen?“ fragte Alania flüsternd. „Eine besondere Grußform ist nicht nötig.“ „Das liegt auch völlig außerhalb meiner Absichten“, knurrte Jathan. Die beiden Terraner trugen einfache, blaue Chitons von genau gleichem Schnitt und gleicher Farbe, nur daß um die Taille der Frau ein mit schimmernden Steinen besetzter Gürtel geschlungen war. Bürgerregent Carter war ein schlanker Mann mit eisengrauem Haar; seine Frau war ebenfalls schlank wie er, aber dunkelhaarig, und hatte tief liegende, tragische, blaue Augen. „Sie erwarten uns“, sagte Valdo. „Und doch“, sagte Jathan fast zu sich selbst, „habe ich kaum einmal ausdruckslosere Augen gesehen als die, mit denen sie uns anschauen.“ Aber der Regent kam ihnen herzlich entgegen. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme, die Macht und Autorität ausdrückte, „Willkommen, Weganer, auch Ihr, Lapius Val 134
do, in unserem Heim. Wir sind glücklich. Euch unsere Gä ste nennen zu dürfen.“ Er verbeugte sich. Auch Jathan rang sich eine kleine Verbeugung ab. „Ich fürchtete“, polterte er, „daß Ihr dieses unvorhergesehene Eindringen zweier Barbaren mißbilligen würdet.“ „Neue Gesichter sind uns immer angenehm“, antwortete der Regent und sah Jathan forschend an, als versuche er, sich an ein ähnliches Gesicht zu erinnern. „Sagt mir doch, wie lautet Euer Titel?“ „Ich habe keinen Titel“, erwiderte Jathan, „ich bin nur ein Lehrer von der Wega, und in einem Missionsauftrag unterwegs nach Arcturus.“ Der Regent und seine Frau tauschten einen Blick aus. War es wirklich Erleichterung, die Jathan zu bemerken glaubte? Alania drehte sich auf dem Absatz herum und bewunderte, das Kinn in der Luft und den Mund offen, die Weite der Halle. Alle sahen ihr schweigend zu. „Vielleicht würdet Ihr gern Eure Gemächer aufsuchen, damit Ihr vor dem Dinner noch ein wenig ruhen könnt“, schlug der Regent vor. „Heute werden wir auf dem Dach speisen. Von dort ist die Aussicht wundervoll. Wenigstens war ich einmal dieser Meinung.“ Seine Stimme klang müde. „Großartiger Vorschlag“, pflichtete Valdo bei. „Und, Bruder Jathan, ich kann Ihnen sagen, daß Sie hier die herr lichsten Dampfbäder Terras finden, wie sie nicht einmal der Vergnügungspalast von Varna zu bieten hat. In diesem ter ranischen Haushalt gibt es nicht einmal Roboter, die einem lästig fallen. Alles ist automatisch und regelt sich selbst.“ 135
„Ob Sie es glauben oder nicht“, antwortete Jathan, „es gibt sogar Haushalte, die ohne diesen Firlefanz auskom men.“ Seine Haltung versteifte sich plötzlich, er warf seinen haarigen Kopf zurück und schien einige Sekunden lang in der Luft zu schnüffeln; im Rundbau herrschte tiefstes Schweigen. „Was hast du denn, Jathan?“ fragte Alania. „Was ist denn los?“ „Ich weiß es nicht genau“, erklärte Jathan, „aber es gibt Häuser, in denen es nach Tod riecht – wie hier.“ Mrs. Carter schrie leise auf und legte ihre Hand auf den Mund. Regent Carter legte seinen Arm um ihre Schultern; in seinem Gesicht zuckte es vor Erregung. „Jathan, wie kannst du nur!“ wies Alania ihn zurecht. „Ich schäme mich, daß ich meine Gedanken oft laut aus spreche“, entschuldigte sich Jathan, „bitte, vergebt mir.“ Aber der Regent und seine Frau zitterten noch immer. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton hervor. „Ich bin überzeugt“, erklärte Lapius Valdo, „daß Bruder Jathan nur irgendeiner abstrakten Eingebung Worte verlie hen hat, wie es bei Philosophen üblich ist. Zweifellos hat er nichts Persönliches gemeint, Regent.“ „Schon gut“, antwortete Mrs. Carter mühsam. „Wenn unsere Gäste von der Wega auf den blauen Teppich treten wollen, wird er sie zu ihren Gemächern bringen. Und, Val do, Ihr wohnt im Ostflügel, wie gewöhnlich.“ „Ja. Mit Euch, Valdo, werde ich mich später unterhal ten“, versprach der Regent. „Meine Gattin fühlt sich nicht 136
ganz wohl, und ich muß sie bitten, sich hinzulegen. Ver zeiht, Bruder Jathan, daß ich Euch verlasse, aber wir sehen uns zum Dinner wieder.“ * Jathan und Alania taten, wie ihnen geraten, und der Tep pich brachte sie zur Tür eines so herrlichen Appartements, daß Alania in Entzückensschreie ausbrach, herumlief und alles berührte, um sich davon zu überzeugen, daß alles echt war. Wovor fürchten sie sich? fragte sich Jathan, aber er fand keine Antwort auf dieses Geheimnis. Er ging zu dem gro ßen Fenster des Schlafzimmers und sah auf einen der zahl reichen, dreieckigen Gärten hinab, die jeweils zwischen zwei Flügeln eingebettet lagen und in kleinen, erlesenen Terrassen mit Gehwegen, Blumenbeeten, überdachten Brü cken zu einer weiten, baumbestandenen Wiese abfielen. Die ganzen Anlagen wurden von kleinen munter plät schernden Bächen durchzogen. Das Fenster, stellte er fest, war kein eigentliches Fenster, sondern nur eine Öffnung, die auf einen Balkon ging, und hatte nicht einmal Vorhänge. Genauso züchtig konnte man auch in einem Aquarium schlafen. Aber Alania brachte mit einer leichten Handbewegung jeden einzelnen Knopf, der ihr in die Augen fiel, in Aktion. Es waren bereits acht feingewürzte, gehackte Eier angekommen, ein Tablett mit belegten Broten, eine Platte mit appetitlich 137
aussehenden Grillgerichten, ein neues Seidenkleid, das un sichtbare Augen genau ihrer Figur angepaßt hatten; ferner hatte sie einen Knopf entdeckt, mit dem man das Fenster un durchsichtig machen und einen Sternenhimmel mit über dem Ozean aufsteigendem Mond herbeizaubern konnte, und dieser Ozean schien sich vor ihren Füßen auszubreiten. Alania war von all diesen Wundern wie erschlagen, aber besonders das letzte betrachtete sie mit zwar mißtraui schen, trotzdem aber glücklichen Augen und legte sich, erschöpft von all dem Neuen, auf die seidenglänzende Bettdecke. Die schlechte Laune ihres Mannes dagegen hielt immer noch an. „Jathan, Liebster“, sagte sie nach einer Weile, „in zwei oder drei Wochen kommt wieder ein Schiff von der Wega. Wollen wir nicht hierbleiben und darauf warten? Eine so liebliche, ruhige Welt habe ich noch niemals gesehen. Arc turus XII wird kahl, steril und kalt sein, ganz bestimmt. Und man behauptet, er sei von diesen scheußlichen Whee nies bewohnt; auf der galaktischen Messe letztes Jahr ha ben wir doch einen gesehen.“ Er schüttelte den Kopf. „Diesen alten Planeten müssen wir hinter uns bringen. Er hat eine Aura des Bösen. Diese Frau ist viel zu traurig. Der Palast ist zu schön. Der Him mel ist zu vollkommen. Und wenn du es genau wissen willst, dann kann ich auch das auffällige Interesse des Sola rianers nicht leiden, das er dir gegenüber zeigt.“ „Welch ein Unsinn! Er ist nur sehr höflich und zuvor kommend – wie alle Solarianer.“ 138
„Ich mag auch die Art nicht, wie dieser Kerl sich in der Luftschleuse an dich drängte.“ „Das war reiner Zufall. Aber du! Du hast mit diesen Koffern sämtliche Leute dort belästigt!“ „Ich habe es satt, mit Valdo verglichen zu werden“, fauchte Jathan. „Und ich bin es leid, niemals ein Haus für mich selbst zu haben, niemals ein paar Wochen nacheinander an einem Ort bleiben zu können. Ich kann diese alten Frachtraketen nicht mehr sehen, ich möchte endlich einmal nicht mehr raumkrank sein oder vor Wilden davonlaufen müssen. Und meine Arme tun mir ständig weh von all den Einspritzun gen gegen die verschiedensten Krankheiten, von denen ich nie im Leben gehört habe.“ „Das ist alles nur für ein paar Jahre“, erklärte Jathan barsch, „und außerdem – wir haben doch uns“, fügte er et was freundlicher hinzu. Sie drückte ihr Gesicht in die Kissen. „Was läßt euch so überzeugt sein, daß das ausreicht?“ fragte sie. Jathan war der Sproß einer Familie von randalierenden Kriegsherren der Wega, und die Bruderschaft hatte seinen Geist niemals ganz zähmen können. „Dann bleibt da, wenn du willst!“ brüllte er. „Ich werde dableiben!“ rief sie und schleuderte einen Pantoffel nach ihm. *
139
Jathan ging in den Garten hinaus, murmelte in seinen Bart und riß ein paar Blumen die Köpfe ab, denn ab und zu er reichte seine Laune einen kritischen Punkt, und dann stellte er sich vor, daß jede der Blumen Lapius Valdo sei. Jenseits des Tales versank die Sonne in einem Strahlen kranz von Farben, und die Berge im Osten trugen kostbar aussehenden, rosafarbenen Schmelz auf ihren Gipfeln. Er wußte, daß dies gefrorener Wasserdampf war und vermute te, daß die Berge, wie übrigens alles hier, künstlich und innen hohl waren, um riesigen Kühlmaschinen in ihrem Innern verbergen zu können. Mechanische Gärtner arbeiteten – trotz Valdos gegentei liger Versicherung – unermüdlich zwischen Blumen und Buschwerk. Flache, mit Armen versehene Rasenmäher be wegten sich rasch da und dort über die weitgeschwungenen Wiesen. Unter den Bäumen standen Hunderte von klar sichtbaren Ungeheuern, deren sichelartige Arme, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, Bewegungen ausführten. Am Ende eines jeden Armes hatten sie tödlich scharfe Scheren, und die Messer fraßen sich in das Gezweig, schnitten und kappten, bis jeder Baum im ganzen Tal fein säuberlich nach einem Modell zugeschnitten war und einer dem ande ren zum Verwechseln ähnlich glich. Von einem der Bäu me, an dem eines der Ungeheuer arbeitete, flatterte angst voll ein langhalsiger Vogel auf, und die sinkende Sonne tauchte ihn in rosenfarbenes Licht. Am Rande eines Blumenbeetes neben einem Spring brunnen saß ein schlanker, dunkelhaariger Junge von etwa 140
acht Jahren und spielte im Wasser. Jathans Laune hob sich merklich bei seinem Anblick. Der Junge blickte auf. „Wer bist du?“ fragte er. „Ich bin Jathan, der Evangelist, und es ist sehr freundlich von dir, mich zu fragen.“ „Und ich bin Daryl.“ „Der Sohn meiner Gastgeber, nicht wahr?“ Daryl schüttelte den Kopf. „Terraner haben kaum Kin der“, antwortete er, „denn sie würden sich an sie klammern und Dynastien gründen. Dann wäre aber auf der Erde nicht mehr genügend Raum, und die Menschen würden sich zu sammendrängen. Weißt du, was eine Dynastie ist?“ „Ich weiß, was es heißt, die Natur zu vergewaltigen. Wer bist du dann? Wer sind deine Eltern?“ Daryl sah bestürzt drein. „Woher soll ich das wissen, wenn doch beide schon vor meiner Geburt gestorben sind?“ fragte er. „Ich stamme aus der Brutanstalt von Karse, und dieses Jahr verbringe ich bei Regent Carter. Aber letzte Nacht hörte ich sie sagen, daß sie mich vielleicht wegschicken wollen.“ „Hm“, machte Jathan nachdenklich. Er war sich gerade darüber klar geworden, daß er dem seltensten Phänomen des Jahrzehnts gegenüberstand, einem der Reagenzglaskin der eines jetzt verworfenen Experiments vom Mars, das vor einigen Jahren durchgeführt worden war. Er fühlte ein ungeheures Mitleid mit diesem verlassenen Waisenkind. Seine Hand in der Tasche schloß sich um etwas Rundes, Kaltes. Er nahm es heraus und reichte es dem Jungen. „Ein 141
Geschenk“, erklärte er mit großartiger Miene. * Das Ding bestand aus mehreren zusammengeschweißten, konzentrischen Metallringen, die von einer klaren, glashar ten Substanz umschlossen wurden. In dem damit geformten Hohlraum waren mehrere kleinere Kugeln, einige davon so winzig wie ein Zündholzkopf; sie schienen im Raum zu schweben – und das taten sie auch wirklich. Daryl nahm den Gegenstand und untersuchte ihn schweigend. „Man sagte mir, daß es eines der Wunder unseres Zeital ters sei“, erklärte Jathan. „Es wurde mir wenigstens von einem ehemaligen Philosophen von Tithon gegeben, der mir auf seinem Sterbebett erzählte – obwohl es auf Tithon nur notorische Lügner gibt –, daß es das einzige Stück die ser Art sei, das überhaupt existiere. Du wirst bemerken, daß innerhalb des Platinringes eine Miniaturnachbildung des Sternensystems der Spica schwebt. Diese kleinen Himmelskörper bewegen sich im gleichen Verhältnis wie dieses Sternensystems selbst, obwohl du einige Wochen brauchen wirst, um die Bewegung festzustellen.“ „Vielen Dank“, sagte Daryl, „das ist sehr interessant. Ich glaube, die Ringe sind nicht aus Platin, sondern eine ma gnetische Legierung, die Carbalith heißt.“ „Hm. Vielleicht hast du recht“, antwortete Jathan. „Ich habe es nicht allzu genau angesehen. Aber genug davon. Weshalb will man dich wegschicken?“ 142
„Ich – ich glaube, weil sie sich vor etwas fürchten. Ich kann nur sagen, daß irgend etwas Schlimmes hier gesche hen wird, und sie wollen mich dann nicht hierhaben. Das weiß ich aus dem, was sie sagen.“ „Fürchten – und wovor?“ fragte Jathan gespannt und umklammerte die Schulter des Knaben. „Ich weiß es nicht.“ * Er mußte diesen verschlungenen Pfaden mindestens eine halbe Stunde lang gefolgt sein, und die Dämmerung war schon hereingebrochen; plötzlich hörte er über sich, genau an seinem Ohr, eine Stimme. Er sah auf, und unmittelbar vor seinen erstaunten Augen bemerkte er eine der schön sten Frauen, die er jemals gesehen hatte. Sie saß auf der Balustrade des kleinen Balkons, der zu dem Flügel gehörte, der dem seinen gegenüberlag. Sie trug ein hauchdünnes, durchsichtiges Gewand, das nur an einer der elfenbeinfar benen Schultern von einer Spange zusammengehalten wur de. Das Gewand flatterte und schmiegte sich dann wieder so an ihren Körper, daß auch dem asketischsten Mann bei ihrem Anblick das Herz schneller schlagen mußte. Sie er schien ihm mehr als eine Nymphe denn als Sterbliche, und sie lächelte ihn ob seines Staunens freundlich an. „Ich heiße Cybela“, sagte sie. „Ich möchte wetten, Sie sind der Lehrer von der Wega, der heute nachmittag ange kommen ist. Wir müssen uns unbedingt unterhalten. Ich 143
bin auch eine Barbarin.“ „Ich fühlte, daß Ihr keine Terranerin seid“, antwortete er, „denn die gehen schließlich nicht nackt.“ Sie kicherte. „Oh, seien Sie nicht so prüde, Weganer. Ich gehöre dem Bürgerregenten. Schauen Sie nicht so entsetzt drein. Es ist eine alte Sitte auf diesem Planeten, Konkubi nen zu halten, und die sind unser Hauptexportmittel auf Cygnus XVII.“ „So ist das also“, bemerkte Jathan, der schon viel von den Mädchen auf Cygnus XVII gehört hatte. „Und was soll daran schlecht sein, möchte ich wissen? Jedenfalls – ich werde in einer Woche, oder vielleicht auch in zweien, von hier verschwinden. Vielleicht sogar schon früher. Zu öde hier, und dieser bedauernswerte alte Mann ist noch nicht einmal in die die Nähe meiner Tür gekom men.“ „Was – bedauernswerter alter Mann?“ fragte Jathan mit zugeschnürter Kehle. „Ach, der Bürgerregent. Würden Sie es für möglich hal ten, daß er schon hoch in den achtzigern und seine Frau fast ebenso alt ist? Den Terranern sieht man ihr Alter nie mals an, bevor sie nicht mehr als hundert Jahre alt sind. Ihr scheint es übrigens nichts auszumachen, daß ich hier bin. Die Terraner sind so unermeßlich reich, daß sie immer wieder etwas Neues zu ihren Vergnügen finden müssen, aber ich glaube, das gelingt ihnen in Wirklichkeit niemals. Sie sind nur Schwärmer und die ungemütlichsten Leute, die ich je gesehen habe. Ich hasse kalte Fische, Sie nicht 144
auch? Jedenfalls glaube ich aber, daß sie lange nicht so in tellektuell sind, wie sie immer tun. Es scheint hier zum gu ten Ton zu gehören, immer gelangweilt dreinzuschauen.“ „Man muß sich nur wundern, wozu sie überhaupt le ben“, bemerkte Jathan. Sie pfiff leise durch die Zähne. „Sagen Sie, was meinen Sie eigentlich damit?“ Er sah sie forschend an, und das war ein schwieriges Un terfangen, wenn man die Möglichkeiten bedachte, die da von abhalten konnten. „Ich spreche nur die .Wahrheit, nicht in Rätseln“, erwiderte er, „hier, an diesem Ort, geht etwas Übles vor.“ „Mich würde es nicht wundern, wenn Sie recht hätten“, antwortete sie und beugte sich verführerisch über die Balu strade. Er zog sich würdevoll zurück. „Na, na, ich beiße doch nicht“, meinte sie. „Aber sagen Sie mir: Wer sind Sie, und weshalb sind Sie hier?“ * Als Jathan und Alania den Lift zum Dach nahmen, stand Lapius wartend da und lächelte ihnen entgegen. Er hatte sich mit noch mehr blitzendem Gold behängt als vorher. Sein Lächeln galt aber Alania. „Unsere Gastgeber werden gleich kommen“, sagte er, „möchten Sie nicht inzwischen einen Aperitif aus einem dieser Brunnen hier nehmen?“ Jathan schüttelte den Kopf. „Ist irgend etwas nicht in Ordnung?“ fragte Valdo. 145
„Andere Leute könnten Ihnen vielleicht eine bessere Antwort darauf geben“, erklärte Jathan. „Jedenfalls werde ich aber meinen Gastgebern gegenübertreten. Und wenn ich erfahre, welche Tragödie hier gespielt wird, werde ich sofort die Sicherheitspolizei benachrichtigen.“ Valdo sah besorgt drein. „Das dürfen Sie nicht tun“, riet er, „sicher will der Regent nicht, daß die Polizei sich ein mischt. Ich werde versuchen, Ihnen zu sagen, was hier vor geht. Sehen Sie, ich bin aus einem sehr ernsten, delikaten Grund hier. Auf Alpha Centauri Regis hörte ich, daß Re gent Carter und seine Frau sich darauf vorbereiten, den Gral zu nehmen.“ „Den Gral?“ „Ich fürchte, das ist wirklich nur eine sehr freundliche Umschreibung für das, was man sonst als Selbstmord be zeichnet. Es wird für Sie schwierig sein, das zu verstehen; aber, sehen Sie, die Terraner sind eine sehr verbrauchte Rasse mit wenig Lebenswillen. Und natürlich sind sie Schrullen im wahrsten Sinne des Wortes mehr ausgesetzt als andere.“ Er lächelte freudlos. „Die letzte dieser Schrullen ist die, daß sie sich der Euthanasie ergeben, aber nicht den Mut aufbringen, sie zu vollziehen. Deshalb werben sie die be rüchtigte Sirianer Mörder-Liga an. Der Mörder wird im voraus bezahlt, um hierher zu kommen und ihnen in einem Augenblick, wo sie es am wenigsten erwarten, das Leben zu nehmen. Man sagte mir, daß man vermutet, es geschehe deshalb, um dem Leben neue Süße abzugewinnen, indem 146
man es bis ins Ungewisse verkürzt und so bedroht erschei nen läßt, daß die Gralsanwärter abends niemals mit der Si cherheit zu Bett gehen können, am Morgen wieder zu er wachen.“ „Und ich bezeichne mich selbst immer als Barbaren!“ „Sie haben ganz recht. Es ist entsetzlich. Aber ich fürch te, wir sind bereits zu spät gekommen.“ „Um sie von ihrer Idee abzubringen?“ „Das nicht. Ich glaube, sie fürchten sich bereits so sehr, daß sie zugeben, das Leben sei trotz allem sehr schön; zu fällig weiß ich aber, daß der Kontakt mit der Liga schon aufgenommen wurde, und ein Mörder wurde auch bereits in dieser Angelegenheit ausgesandt.“ „Kann er denn nicht zurückgerufen werden?“ „Niemals. Sehen Sie, für die Mörder-Liga des Sirius ist es nun eine Ehrensache. Sie kriegen immer ihren Mann. Deshalb haßt und fürchtet man sie ja auch in der ganzen Galaxis, und aus diesem Grund sind sie auch so teuer. Sie sind alle Meister der Verkleidung und der illegalen Einrei se. In diesem Augenblick kann der Mörder schon innerhalb dieser Mauern sein.“ „Ja“, sagte Jathan nachdenklich. „Und das Herz eines Mörders kann auch in der lieblichsten Brust schlagen.“ „Genau. Schließlich war es aber äußerst verrückt von ih nen, und – seht! Da kommen sie.“ *
147
Der Bürgerregent und seine Frau traten ein und nickten den Gästen würdig zu. Beide sahen drein, als gingen sie zu ei ner Beerdigung. Samtschwarz mit blitzenden Sternen wölbte sich der Himmel über dem weißgedeckten Tisch, auf den Zauberhände dampfende Schüsseln und Terrinen gestellt hatten, die auf einen einfachen Wunsch hin ebenso wieder verschwanden. Die Luft war völlig ruhig und un bewegt. Selbst Jathan war trotz seiner furchtbaren Ahnung von der Schönheit und Ruhe dieses kleinen Planeten beein druckt; wie ein weicher Mantel lag die bezaubernde Nacht über dem Palast. Der Regent führte eine Gabel mit Gemüse zum Mund, leg te sie aber wieder auf den Teller zurück. „Ich bin nicht sehr hungrig“, behauptete er, und beide blickten Jathan an. Es lag kein Vorwurf darin, es war eher der Blick eines in die Falle gegangenen Kaninchens. „Ihr schätzt mich falsch ein“, erklärte Jathan, „ich bin nicht Euer Feind. Außerdem wäre es mir ganz unmöglich, Eure Nahrung in diesen Synthesegeräten, die Ihr hier ver wendet, zu vergiften.“ Die Terraner starrten ihn an. „Was wißt Ihr von solchen Dingen wie Synthesegeräten?“ fragte Valdo. „Mein Mann“, erklärte Alania, „war einer der berühmte sten Physiker der Wega, bevor er Bruder wurde und alles aufgab.“ „Dann seid Ihr also nicht der Mörder?“ rief der Regent. „Wer seid Ihr denn?“ 148
„Die Bruderschaft“, antwortete Alania, „ist als eine Or ganisation von Wissenschaftlern bekannt, die sich seit Ge nerationen dessen bewußt ist, daß die moralischen Grund sätze der Menschheit und das richtige Verhältnis zum Le ben immer mehr in Verfall geraten, denn der Fortschritt in den physikalischen Wissenschaften ist zu stürmisch. Er hat in diesem Bereich seine gefühlsmäßige Begrenzung über schritten. Sehen Sie, das alles weiß ich auswendig. Ich zweifle nur, daß ein Sinn dahintersteckt.“ „Deshalb“, erklärte Jathan nachdrücklich, „kann es auch solche Menschen wie diese Mörder geben. Das ist auch der Grund, daß die Sehnsucht nach dem Tod, der Todes wunsch, sich allgemein so verbreitet hat. Ich glaube nun, daß die mächtigen Terraner unsere Dienste dringender be nötigen als die Barbaren.“ Mit einer unabsichtlich erschei nenden Bewegung griff er über den Tisch nach einem Salz faß, das zwischen dem Regenten und dessen Frau stand und warf es über das Geländer; klirrend zerbarst es im Steingarten darunter. „Warum tust du das?“ fragte Alania. „Dieses Salzfaß enthielt Kristalle, die gerade ein tödli ches Cyanogengas entwickelten, das nun von unseren Gastgebern eingeatmet wird. Du wirst bemerkt haben, daß heute kein Wind weht, und das Gas liegt schon in der Luft.“ „Aber wie wußtet Ihr das?“ fragte der Regent. „Aus der prismatischen Wirkung des Lichtes auf die Kristalle“, antwortete Jathan. „Auch hat das Gas für eine 149
empfindliche Nase einen schwachen, aber deutlich wahr nehmbaren Geruch. Meine Nase ist, wie ich schon sagte, sehr empfindlich und gut geschult. Zweifellos werden wir morgen früh ziemliche Kopfschmerzen haben.“ „Wenn wir morgen noch leben …“, meinte Mrs. Carter. „Irgend etwas hat sich hinter diesen Palmenkübeln am Dachrand bewegt“, flüsterte Alania, „ich habe es gesehen.“ * Lapius Valdo sprang von seinem Stuhl auf und verschwand im Schatten; kurz danach tauchte er mit der zappelnden Gestalt eines Mädchens in seinen Armen wieder auf. Es war Cybela, aber jetzt trug sie eine lange, glänzende Waffe in der Hand, die Jathan als eine tödliche Abart eines Para lysegewehrs erkannte; sie versuchte, Valdo damit zu läh men, indem sie es wie einen Prügel benützte und damit auf seinen Kopf einschlug. Das ist – zugegeben – eine Mög lichkeit, ebensogut wie jede andere. Aber er bekam die Waffe zu fassen, packte Cybela und warf sie grob in seinen Stuhl am Tisch. „Ah!“ machte er, „sie ist stark wie ein Tiger.“ „Sie!“ sagte Mrs. Carter, „das hätte ich doch wissen sol len.“ Ungeachtet dessen, was Cybela ihm am Nachmittag gesagt hatte, erschien es Jathan, als habe ihre Stimme einen sehr entschiedenen Unterton jener grünäugigen Gemüts bewegung, von der sonst nur ganz gewöhnliche Barbaren geplagt wurden.“ 150
„Viele Mörder führen ein Doppelleben“, meinte Valdo lächelnd. „Vielleicht kennt Ihr einige von ihnen ganz ge nau, und eines Tages dann …“ Er fuhr sich mit den Fingern vielsagend über die Kehle. „Aber …“, begann Cybela. Valdo verdrehte ihr das Handgelenk, und so konnte sie nicht weitersprechen. Einige Sekunden lang waren nur ihre schweren Atemzü ge zu vernehmen. „Aber sie ist nicht der Mörder, Valdo“, erklärte Jathan, „der Mörder sind Sie!“ Lapius Valdo grinste gutmütig. „Und weshalb behaupten Sie das, Philosoph?“ „Weil ich sah, wie Sie die Gasfilter aus Ihren Nasenlö chern nahmen; es ist erst einen Augenblick her, und Sie warfen sie dann über die Dachkante. Ich hatte Sie schon seit einigen Stunden im Verdacht – denn ich war dessen sicher, seit ich mit Ihnen zusammengetroffen bin, daß Sie nicht der Solarianer sind, für den Sie sich ausgaben.“ Das Grinsen erstarb. „Wie konnten Sie zu dieser Vermu tung kommen?“ „Sie waren viel zu freundlich, zu freundlich, zu wenig arrogant. Ein wirklicher Solarianer würde nie hinter mei nem Rücken mit meiner barbarischen Frau anbändeln; er ginge viel direkter vor. Ohne Zweifel hätte ich Sie hier und jetzt getötet, wären Sie wirklich ein Solarianer.“ Lapius Valdo lachte schallend, und seine Augen hingen in gieriger Bewunderung an Alania. „Ich hoffte soviel für uns beide“, sagte er, „aber jetzt müßt ihr alle sterben – 151
wenn du nicht mit mir kommen willst, meine Liebe. Willst du? Nein? Na schön, dann muß ich wohl euch alle vernich ten, denn ich muß meine Aufgabe vollenden. Unsere Ehre, unsere Geschichte muß rein und unbefleckt erhalten blei ben. Gut. Gut, dann werde ich also jetzt versuchen, Ge schäft und Vergnügen miteinander zu verbinden.“ „Haben Sie nichts vergessen?“ polterte Jathan. „Was sollte das sein?“ fragte Valdo und ließ für den Bruchteil einer Sekunde das Gewehr sinken. „Ich mag Suppe nicht“, brüllte Jathan und schleuderte ihm schnell den Inhalt einer Suppenterrine ins Gesicht. * Cybela sprang auf, packte Valdos rechten Arm und zwang ihn, die Waffe fallen zu lassen, aber er schüttelte sie ab, rannte zur Dachkante und verschwand über das Geländer. Einen Augenblick später hatte Jathan auch schon ent deckt, wie ihm das gelingen konnte. Eine dünne Seiden schnur hing von einem winzigen Haken herab. Jathan, der kein Akrobat war, ließ sich vorsichtig an der Schnur hinun tergleiten in der Hoffnung, sie möge ihn aushalten. Er ver brannte sich zwar die Hände, aber er gelangte in den Gar ten. Eine dunkle Gestalt bewegte sich über die Wiese unter ihm. Mit großen Sprüngen, welche die Bewunderung der übrigen Brüder hervorgerufen hätten, setzte er ihr nach, und er kam ihr auch näher, denn der Mond schien sehr hell. 152
Aber gerade in dem Augenblick, wo ihm die Gestalt zum Greifen nahe schien, verbarg der Schatten eines Bau mes den Flüchtling; Jathan blieb einen Augenblick schwer atmend stehen und sah sich um, wohin Valdo verschwun den sein konnte. Um sich herum konnte er die Wiese über blicken, aber nichts bewegte sich auf ihr. Gerade im richtigen Augenblick vernahm er das leise Wispern in seinem Rücken. Er wirbelte herum und sah ei nen der fünfzig Fuß hohen Leviathan-Baumbeschneider, der sich gerade zu ihm herabbeugte. In letzter Sekunde warf er sich zur Softe, aber der Robo ter ging, ohne ihn zu beachten, geschäftig seiner Arbeit nach, und seine zahllosen Finger schnippten und kappten an den Zweigen des Baumes. Jathan ging zum Palast zurück. * „Ist er entkommen?“ – fragte der Regent. „Ich konnte ihn nicht fangen.“ Cybela, auf die niemand mehr geachtet hatte, sprach nun mit scharfer Stimme: „Ich glaube, Ihr wißt, Bürgerregent, daß Ihr und Eure Frau unter Arrest steht, weil Ihr versucht habt, den Gral zu nehmen. Ihr werdet damit ziemliche Schwierigkeiten haben, denke ich.“ „Und wer seid Ihr?“ „Wenn ich nicht irre“, erklärte Jathan, „dann ist sie die leichtfertigste Polizistin des Universums.“ 153
„Galaktische Patrouille“, erklärte Cybela. „Und ich glaube, Sie sind der Meinung, meine Arbeit sei so ange nehm wie Kirschen naschen. Vor einiger Zeit hörten wir von dieser kleinen Eskapade, und deshalb habe ich mich hier festgesetzt. Ich wollte schon immer mal einen Siria ner-Mörder fangen.“ Jathan hatte sich in sein Appartement begeben und kam nun mit ihrem Gepäck zurück, „Für uns wird es Zeit, Re gent. Wir müssen abreisen. In einer knappen Stunde müs sen wir auf dem Weg zum Arcturus sein.“ „Ihr werdet hier gebraucht“, sprach der Regent und beugte das Haupt. „Es gibt so viele Menschen hier, die den Sinn des Lebens verkennen. Auch wir haben das getan, und jemand muß uns wieder den Weg zeigen.“ „Vielleicht werden wir auf diesen Planeten zurückkeh ren, der so schön, so geliebt und von der Geschichte so ausgezeichnet ist. Und jetzt ist er so dekadent. Im Augen blick aber …“ Jathan wandte sich an seine Frau. „Kommst du mit mir?“ „Was denkst du wohl!“ rief sie und schlang ihre Arme um seinen Hals. „O je“, sagte Cybela, und winkte Jathan verschmitzt zu, „wenn ich nicht hierbleiben müßte, um den Regenten und seine Frau vor Gericht zu bringen, würde ich auch mit kommen. Barbaren sind so ungewöhnlich männlich. Aber ich muß bleiben und hinter Laphis Valdo nachjagen, scha de. Ihr dürft mir glauben, daß ich diesen Schuft mitnehmen werde.“ 154
Jathan ließ seinen Bück über die monderhellten Wiesen schweifen. Der riesige Baumbeschneider war gerade mit seinem Baum fertig geworden und ging zum nächsten. „Ich glaube nicht, daß Sie Valdo mit zurücknehmen können“, erklärte er. „So? Sie glauben nicht?“ „Wenigstens nicht alles von ihm“, antwortete Jathan. „Höchstens Teile.“ Aber das Schauspiel des Augenblicks mit seiner unge heuren Spannung wurde in dem Moment zur Wirkungslo sigkeit verurteilt, als der Henkel der Reisetasche abriß. Die Tasche plumpste auf den Boden und zerbarst. Dutzende von glänzenden, kugelförmigen Modellen des Sternensy stems der Spica rollten vor ihre Füße. Und Alania kniete nieder, ohne ein Wort zu sprechen, und half ihm, sie einzusammeln.
Utopia-Zukunftsroman erscheint wöchentlich Im Druck- und Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt, Pabel-Haus. Einzelpreis 0,80 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr. 18. Die Gesamther stellung erfolgt im Druck- und Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt. Verantwortlich für die Herausgabe und den Inhalt in Österreich: Eduard Verbik; Alleinvertrieb und -auslieferung in Öster reich: Zeitschriftenvertrieb Verbik & Pabel KG – alle in Salzburg, Bahnhofstr 15. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustim mung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manu skriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Scan by Brrazo 07/2006
155