Charlotte Engmann
Ein Afrikanisches Wiegenlied Version: v1.0
Am Flughafen von Tunis bestiegen die beid...
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Charlotte Engmann
Ein Afrikanisches Wiegenlied Version: v1.0
Am Flughafen von Tunis bestiegen die beiden Vampire ein Taxi. In einem Arabisch, das seit hunderten von Jahren veraltet war, nannte Lukas eine Adresse am Stadtrand. Der Taxifahrer zögerte, nicht willens, in dieses heruntergekommene Viertel zu fahren, doch ein paar große Dinar‐Scheine vertrieben sein Unbehagen. Er startete den alten Peugeot und fuhr seine Passagiere durch die Nacht, die schon bald dem Morgen weichen würde …
Sie waren erst wenige Straßen weit gefahren, da fielen Perdita die Augen zu. Die Siebzehnjährige sank zur Seite und lehnte sich mit dem Kopf an Lukas’ Schulter. Fürsorglich legte er einen Arm um sie, während er sie prüfend musterte. Selbst im Schlaf verschwand die Anspannung aus dem schmalen, bleichen Gesicht nicht. Wäre sie noch ein Mensch, dunkle Ringe würden ihre grünen Augen umschatten. Selbst zu Lebzeiten mager, fast schon unterernährt, sah Perdita jetzt aus wie ein Supermodel für Kindergrößen. Sie braucht einen ruhigen Tag, um richtig auszuschlafen, dachte Lukas. Die anstrengende Reise vom Siebengebirge nach Tunis war für die junge Vampirin einfach zu viel gewesen. Vor allem die ständige Angst vor der Sonne und der damit verbundenen Gefahr hatte an ihren Nerven gezerrt. Zudem weigerte sie sich beharrlich, sich anständig zu ernähren. Seit Perdita im letzten Monat als Vampirin erwacht war, lebte sie von dem Blut, das Lukas ihr besorgte, doch selbst ging sie nie auf Jagd. Ob sie je daran gedacht hatte, das er dieses Blut genau aus jener Quelle schöpfte, aus der sie sich zu trinken weigerte? Sobald die Sache mit Waidinger geklärt ist, werde ich sie das Jagen lehren, beschloss Lukas. Im Moment hatten sie dringendere Probleme. Sie mussten einem mächtigen Schwarzmagier das Handwerk legen, bevor dieser die Welt komplett beherrschte und somit ins Chaos stürzte. Aus diesem Grund waren sie nach Tunesien gereist, wo Lukas’ alter Freund Bashar lebte. Der Magier würde ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Er ließ seine Gedanken in die Vergangenheit wandern, während das Taxi durch die nächtlich leeren Straßen brauste. Schließlich erreichten sie einen großen Friedhof, an dessen südlichem Ende ein alter Palast lag. Hohe Mauern schützten das Anwesen vor spähenden Augen und ungebetenen Besuchern.
Einige Meter vor dem Palast kam das Taxi zum Stehen. Weiter würde er sich dem Haus der Dschinns nicht nähern, erklärte der Fahrer entschlossen und hielt die Hand für ein saftiges Bakschisch auf. Lukas zog weitere Dinar‐Scheine aus seiner Hosentasche. Als der Taxifahrer danach griff, fing er dessen Blick ein. Schnell und gnadenlos wie ein Falke, der einen Hasen jagt, schlug er den Tunesier in seinen Bann. Seine Eckzähne verwandelten sich in lange, spitze Fänge, die mühelos in das weiche Fleisch des Halses eindrangen und die Schlagader fanden. Warm und süß strömte das Blut in Lukas’ Kehle. Doch der Genuss währte nicht lange. Lukas löste sich von seinem Opfer, ehe er tödlichen Schaden anrichten konnte. Er brauchte nicht viel zum Überleben, vorausgesetzt, er kam regelmäßig in den Genuss seiner Mahlzeiten und wurde nicht in kraftraubende Kämpfe verwickelt. Die Wunden des Taxifahrers verheilten zu zwei punktförmigen Narben wie von Mückenstichen. Bewusstlos sackte der Mann gegen die Autoscheibe. In ein paar Stunden würde er aufwachen und den Vorfall vergessen haben. Lukas weckte Perdita, sie nahmen das Gepäck aus dem Kofferraum und gingen die letzten Schritte zu Fuß. Kalt wehte der Nachtwind um ihre Ohren. Der Asphalt, die Wände der Häuser und die gemauerten Grabhügel des Friedhofs hatten längst die Sonnenhitze verströmt, die sie während des Tages aufgesogen hatten. In der Ferne leuchteten die Lichter der Stadt, aber dieses Viertel erhellten nur vereinzelte Lampen und das Licht der Sterne am wolkenlosen Firmament. Eine Gänsehaut überzog Lukas’ Rücken. Verwundert schaute er sich um. Es war nicht die Kälte, die ihn erschauern ließ. Irgendetwas stimmte nicht, war anders, als es sein sollte. Prüfend sog er Luft durch die Nase.
Der Geruch, den er seit jeher mit den arabischen Städten im Norden Afrikas verband, berührte seine Sinne und weckte Erinnerungen an den Duft von Orangen, Feigen und exotischen Gewürzen. Er vermeinte, die Wüste zu riechen, den brennendheißen Sand und die muffigen Ausdünstungen der Kamele. Hinzu kam der üblich scharfe Geruch einer Großstadt, in der zu viele Menschen auf zu engem Raum lebten. Aber darunter lag noch ein anderes Aroma, irgendwie süßlich und zugleich herb wie Moschus. Befremdet trat er an das doppelflügelige Tor, das den Zugang zu Bashars Palast verschloss. Er griff nach dem Türklopfer, als Perdita schnell nach seinem Arm griff, um ihn zu stoppen. »Es ist nicht verschlossen.« Sie legte eine Hand auf den linken Türflügel und schob ihn langsam ein Stück auf. »Seltsam …« Lukas ließ seinen Seesack zu Boden gleiten und bedeutete Perdita mit einem kurzen Wink beiseitezutreten. Vorsichtig drückte er den Torflügel weiter auf, bis er freien Blick ins Innere hatte. Nichts und Niemand war im Halbdunkel der Toreinfahrt zu erkennen. Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Warum war Bashars Haus unverschlossen, der Riegel zerbrochen? Wachsam trat Lukas durch das Tor. Nach ungefähr vier Metern erreichte er den ersten Innenhof des alten Palastes. Bei seinem letzten Besuch sorgte hier ein Springbrunnen für erfrischende Kühle, und große Topfpflanzen spendeten erholsamen Schatten. Jetzt war der Brunnen versiegt. Zerrissene Palmwedel und zerfetzte Äste bedeckten die bunten Bodenkacheln. Tonscherben lagen in alle Ecken verstreut. Die filigranen Gitter vor den Fenstern waren zerbrochen. Es sah aus, als hätte ein Mob gewütet. »Das ist nicht normal, oder?«, flüsterte Perdita in seinem Rücken. Sie hatte den Seesack und ihren eigenen Rucksack in die Toreinfahrt geräumt, ehe sie Lukas gefolgt war. Trotz ihrer lockeren Worte
klang ihre Stimme angespannt, als sie bemerkte: »Oder steht Bashar auf diesen Verlorenen‐Tempel‐Look?« Lukas schüttelte den Kopf. Im Gegenteil! Bashar legte höchsten Wert auf die Ausstattung seiner Paläste. Die edelsten Materialien, das feinste Dekor und die teuersten Möbeln waren gerade gut genug für ihn. Mit der Pracht seiner Domizile ließ er Sultan und Pharao vor Neid erblassen. Die Frage, warum er nicht mit all seiner Macht daran arbeitete, die Zerstörung zu beheben, ließ Lukas das Schlimmste ahnen. Er hastete zurück zu den beiden Gepäckstücken und zog aus seinem Seesack das antike Schwert, das für einige Umwege und Schwierigkeiten auf ihrer verschlungenen Reiseroute gesorgt hatte. Auf der geraden, kurzen Klinge funkelten Schriftzeichen einer längst vergessenen Sprache. Prüfend schwang Lukas die ungewohnte Waffe ein paarmal hin und her. Seine eigene Klinge lag besser in der Hand, war länger und besser ausgewogen – aber er hatte sie zu Hause gelassen. Es war schwer genug gewesen, ein Schwert über die Grenzen zu schmuggeln. Jetzt musste er sich mit der Waffe begnügen, die ihm zur Verfügung stand. »Ich weiß nicht, was los ist«, teilte er Perdita mit. »Aber es gefällt mir ganz und gar nicht. Bleib dicht hinter mir und halte Augen und Ohren offen.« Seine junge Begleiterin nickte stumm. Ihr Blick huschte über die Mauern und Torbögen. Ihr Körper vibrierte regelrecht vor Anspannung, aber wenn sie Angst verspürte, verbarg sie es gut. Lukas drang tiefer in den Palast ein. Die Zerstörung war allgegenwärtig. Marmorne Statuen lagen zerbrochen auf dem Boden, die hölzernen Möbel waren in tausend Splitter zerschlagen, die seidig‐luftigen Vorhänge in Fetzen gerissen. Als wäre ein Tornado durch die Hallen und Gänge gefegt, war nicht ein einziges Stück der Einrichtung heil geblieben.
Die Tür zu Bashars Studierzimmer stand offen, schien aber intakt zu sein. Auf der Schwelle blieb Lukas ruckartig stehen. »Was war das?« Perdita sah ihn an. »Was?« »Da war ein Geräusch. Es könnten Schritte gewesen sein.« Lukas runzelte die Stirn. Er war sich nicht sicher, was er gehört hatte. Vermutlich Mäuse oder Ratten, die das leer stehende Haus erobern wollten. Oder den Wind, der sich in den zerfetzten Vorhängen verfing. Vielleicht aber auch … Wachsam betrat er Bashars Studierzimmer. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, die einfach nur verwüstet waren, hatte hier offensichtlich eine Schlacht getobt. Brandspuren verdunkelten die Wände. Der Geruch von verbranntem Fleisch und verwesenden Leichen zerrte an Lukas’ Nerven. Der große Arbeitstisch, Bashars ganzer Stolz, lag in Trümmern. Aber die schweren Truhen, die die Bücher und Schriftrollen des Gelehrten bargen, waren verschwunden. Wer immer Bashar angegriffen hatte – und an dieser Erklärung zweifelte Lukas nicht im Geringsten –, der Magier hatte seine Feinde hier zurückgeschlagen und seinen kostbarsten Besitz in Sicherheit gebracht. Oder sein Wissen war in die Hände eines unbekannten Gegners gefallen. Ein lautes Keuchen ließ Lukas herumwirbeln. Perdita stand schwankend vor einem Alkoven. Ihr bleiches Gesicht hatte sich grünlich verfärbt, und hastig schlug sie die Hand vor den Mund, um einen Brechreiz zu unterdrücken. Eiskalt schwemmte die Angst über Lukas hinweg. Innerhalb eines Lidschlages stand er neben Perdita und ihrem grässlichen Fund: In dem Alkoven lag eine schwarz verbrannte Leiche. Lukas fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken. Einen schrecklichen Moment lang glaubte er, sie hätten Bashar gefunden. Doch dann registrierte er den fauligen Geruch, der von dem
Kadaver aufstieg. Selbst der Leichnam eines zweitausend Jahre alten Magiers würde nicht so erbärmlich stinken. Auch war diese Gestalt zu klein und zu dürr, und wo die Haut nicht zu fleischlicher Kohle verbrannt war, schimmerte sie wie grauer Gelee. »Das ist nicht Bashar«, stellte er erleichtert fest. Er ging in die Hocke, um den grausigen Fund näher zu betrachten. Er bemerkte die dolchartigen Reißzähne, die auffallend großen Füße und die falschen Proportionen der Arme und Beine, die zu lang für einen Menschen waren. »Das ist ein Ghoul!« Fluchend richtete er sich auf. »Ein Ghoul?« »Eine Kreatur der Finsternis, die Leichen frisst. Und wo einer ist, sind andere nicht weit.« Lukas fuhr herum. Er kniff die Augen zusammen und spähte durch den Raum. Obwohl er im Dunkeln sehr gut sehen konnte, entzogen sich Ghouls selbst seinem Blick, wenn sie absolut reglos verharrten. Außerdem vermochten es diese Wesen, sich vollkommen lautlos zu bewegen, sodass nicht einmal die feinen Ohren eines Vampirs sie hören konnten. Plötzlich bewegte sich etwas vor der Tür. Lukas verwandelte sich in einen Schatten aus Geschwindigkeit. Im Bruchteil einer Sekunde erreichte er die Tür und schlug sie krachend gegen den Rahmen. Ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönte. Drei Finger – von Tür und Rahmen abgequetscht – klackerten zu Boden. Aus den Gliedern tropfte schwarzes Blut. Im nächsten Moment verstummte der schrille Schmerzensschrei wie abgeschnitten. Lukas packte sein Schwert fester. »Wir brauchen Feuer!« Perdita eilte los. Fieberhaft durchwühlte sie die Trümmer, während sich Lukas gegen die Tür stemmte. Auf der anderen Seite hörte er Schmatzgeräusche, glucksende Laute und meckernde
Stimmen. Ob die Ghouls über ihren verwundeten Kameraden herfallen?, überlegte Lukas angewidert. Zuzutrauen wäre es ihnen. Unvermittelt erschütterte ein schwerer Schlag die Tür. Fingernägel, hart wie Eisen, kratzten über die Außenseite. Lukas hörte Holz splittern. Mit aller Kraft drückte er gegen die Tür – doch die Ghouls waren stärker. Seine Füße rutschten über den Boden, während die Tür langsam aber stetig aufgedrückt wurde. Heiseres Hohngelächter schallte in seinen Ohren. Perdita schrie entsetzt auf. Lukas wandte den Kopf. Die junge Vampirin hatte es geschafft, eine notdürftige Fackel zu entzünden. Und im schwachen Schein der Flammen erblickte Lukas zwei Ghouls, die sich dem Mädchen näherten. Unbemerkt waren sie durch einen Seiteneingang hereingeschlichen. Fluchend sprang Lukas zurück. Die Tür schnellte auf. Ein paar Ghouls stürzten herein, von ihrem eigenen Schwung in das Studierzimmer getragen. Doch lange bevor sie wieder auf ihre plumpen Füße kamen, erreichte Lukas Perdita. Sein Schwert teilte eine der Kreaturen in zwei Hälften. Kopf und Torso platschten auf die Fliesen, kurz bevor die zweite Grauhaut das gleiche Schicksal erlitt. Schwarzes Blut spritzte Lukas ins Gesicht und floss zäh über den Boden. Dann war der Rest der Meute heran. Rücken an Rücken schwangen Lukas und Perdita ihre Waffen, er sein Schwert, sie die Fackel. Immer wieder stieß ein Ghoul den anderen vorwärts, um die Vampire abzulenken, damit die übrigen ungehindert angreifen konnten. Lukas fühlte, wie lange Krallensein Hemd zerfetzten. Plötzlich lag der Duft von Blut in der Luft – sein Blut, frisch genossen von seinem
jüngsten Opfer. Die Ghouls johlten triumphierend. Kurz flackerte Schmerz durch seinen Arm, doch er schenkte ihm keine Beachtung, denn die langen Wunden verheilten schnell. In seinem Rücken schrie Perdita auf, halb vor Schmerzen, halb vor Zorn. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze. Die Verwandlung in die Bestie Vampir setzte ein. Auch Lukas spürte, wie die Fangzähne aus seinem Oberkiefer schossen. Seine Fingernägel verwandelten sich in lange Krallen, die den Klauen der Ghouls in nichts nachstanden. Schnell und tödlich wie eine Hornisse wehrte er die Attacken der Leichenfresser ab. Doch zum Angriff konnte er nicht übergehen. Zu sehr war er damit beschäftigt, Perdita vor den Attacken der Ghouls zu bewahren. Die Angst saß dem unschuldigen Mädchen im Nacken. Abscheu und Grausen beherrschten ihre Bewegungen. Die Kreaturen der Finsternis besaßen für sie einen Schrecken, den Lukas schon vor Jahrhunderten vergessen hatte. »Pass auf!« Im letzten Augenblick riss Lukas Perdita vor einer heranschnellenden Klaue zurück und in seine Arme. Sofort sprangen ihn von hinten zwei Grauhäute an. Die erste schlug seine Krallen in Lukas’ Schultern, die andere umklammerte seine Beine. Lukas taumelte, schubste Perdita in eine Ecke. Die Schmerzen der Wunden nicht achtend, schwankte er rückwärts, bis er die Wand in seinem Rücken spürte. Mit einem entschlossenen Ruck schmetterte er die beiden Kreaturen, die an ihm hingen, gegen das steinerne Hindernis. Aufkreischend ließen die Ghouls von ihm ab und tauchten zurück in die Gruppe der Leichenfresser. Jetzt ging Lukas zum Angriff über. Er packte den ersten Ghoul, der in seine Reichweite kam, und schleuderte ihn in die Gruppe der Grauhäute. Ein harter Tritt schickte den nächsten Leichenfresser als Luftpost quer durch den Raum.
Die Kreatur donnerte gegen ein Fenster. Das filigrane Holzgitter und die Läden zersplitterten, und kreischend stürzte der Ghoul aus dem Haus. Die ersten Strahlen der Sonne fluteten in das Studierzimmer. Schreiend stoben die Leichenfresser auseinander. Ihr schrilles Gebrüll gellte in Lukas’ Ohren. Glasscherben zersprangen in winzige Splitter. Perdita ließ ihre Fackel fallen und presste sich die Hände auf die Ohren. Instinktiv drängte sie sich weiter in den Schatten an der Wand, um den tödlichen Strahlen der Sonne zu entkommen. Lukas schüttelte den Kopf, um das Klingeln in seinen Ohren zu vertreiben, während die Ghouls voller Panik flüchteten. Die Nacht war um, ihre Zeit unerbittlich abgelaufen; sogar ihre Toten mussten sie zurücklassen. Aber auch für die Vampire wurde es Zeit, ein sicheres Versteck zu finden. Lukas riss einen Ärmel seines zerfetzten Hemdes ab und wischte damit das klebrige, schwarze Blut der Ghouls von der Klinge seine Schwertes. »Komm!« Sanft legte er den Arm um Perdita und schob sie aus dem Studierzimmer. Wortlos folgte sie ihm durch die Gänge, die mit dem Steigen der Sonne immer heller erleuchtet wurden. Das Mädchen wimmerte leise. Selbst die schwachen Strahlen schmerzten. Endlich erreichten sie eine Treppe, die sie in den Keller führte. Am Ende der Stufen öffnete sich ein Gewölbe mit einer schweren Tonnendecke. Doch obwohl dieser Raum Schutz vor dem Sonnenlicht bot, wusste Lukas ein besseres Versteck. Hinter einer Wand verbarg sich eine geheime Kammer, von der allein Bashar und er Kenntnis hatten. »Sesam, öffne dich«, murmelte er scherzhaft.
Ein Druck auf die richtige Wandplatte, und ein schmaler Durchlass öffnete sich. Der Raum dahinter lag in vollkommener Dunkelheit, die selbst für die Augen eines Vampirs schwer zu durchdringen war. Doch mit einiger Anstrengung konnte Lukas die hellen Umrisse einiger Windlichter erkennen. Kurz schloss er die Augen. Er konzentrierte sich, und mit einer Bewegung und einem Gedanken ließ er die Kerzen entflammen. »Hier kann uns nichts passieren«, erklärte er Perdita. Während sich die Tür lautlos hinter ihnen schloss, legte er beide Hände auf ihre Schultern und betrachtete sie aufmerksam. Hell leuchteten die Tränen in ihren Augen. »Wird das immer so sein? Dann will ich kein Vampir mehr sein!«, brach es aus ihr hervor. Sie klammerte sich so fest an Lukas, dass seine Rippen schmerzten. Ihr ganzer Körper zitterte vor Anspannung und Schrecken. Weinend barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Beruhigend streichelte er ihren braunen Schopf. Für ihn war der Kampf mit den Ghouls nur ein kleines, unbedeutendes Zwischenspiel. Er war es gewohnt, sein Recht oder seine Ansprüche mit dem Schwert durchzusetzen; so war es zu seinen Lebzeiten gewesen und auch noch lange danach. Das Einzige, was ihn beschäftigte, war die Frage, warum die Grauhäute angegriffen hatten. »Ein Vampir zu sein bedeutet nicht, jede Nacht gegen Schwarzmagier oder Ghouls zu kämpfen«, versicherte er Perdita. »Normalerweise greifen die Leichenfresser keine Vampire an. Sie fressen nichts, was sich bewegt. Irgendetwas oder irgendjemand muss sie aufgehetzt haben.« Über Perditas Kopf hinweg starrte er die Wand an. Was war mit Bashar geschehen? Wo befand sich der Magier jetzt? Die Vorstellung, die Ghouls hätten ihn überwältigt und verschleppt, war beunruhigend – aber nicht überzeugend.
Kleine, spitze Zähne, die sich in seine Schulter bohrten, rissen ihn aus seinen Überlegungen. Endlich hatte der Durst Perditas Scheu überwunden, und gierig trank sie das Blut, das aus seinen Wunden quoll. »Alles wird gut.« Er massierte Perditas Rücken, bis ihre Muskeln sich entspannten und sie sich von ihm löste. Gesättigt strahlte ihr Gesicht, und ihre Augen leuchteten mit der intensiven Freude, die nach überstandener Todesangst eintritt. Mit einem kecken Grinsen wischte sie die letzten roten Tropfen von ihren Lippen. »Ich hoffe, Bashars Hilfe ist den ganzen Ärger wert«, meinte sie trocken. »Das ist sie.« Lukas warf einen Blick durch den Raum, der offensichtlich für sie vorbereitet worden war. Zwei Feldbetten waren mit sauberen Decken und Kissen ausgestattet. In der Ecke befand sich ein Eimer mit frischem Wasser zum Waschen, und ein Kohlebecken würde sie mit Wärme versorgen. An der Stirnwand stand auf einer hüfthohen Blumensäule eine antike Öllampe. Lukas zog die Augenbrauen hoch. Ahnungsvoll nahm er die Lampe auf und rieb über die mit Ornamenten verzierte Oberfläche. Rauch quoll aus der Öffnung für die Flamme. Der graue Dunst verdichtete sich. Aus der formlosen Wolke wuchsen Arme und Beine, Kopf und Torso wurden erkennbar – eine Frau nahm Gestalt an. Lange, lockige Haare umflossen ein herzförmiges Gesicht mit großen Augen und fein geschwungenen Lippen. Ihren Körper bedeckten eine enge, taillierte Jacke mit luftigen Ärmeln und eine weit bauschende Hose. Die nackten Füße steckten in zierlichen Sandalen, die für einen Aufenthalt im Harem geeignet waren. Allein dass dem leicht durchsichtigen Körper jede Farbe fehlte, als wäre die Frau einem Schwarzweiß‐Film entsprungen, störte die Perfektion der Erscheinung.
»Guten Morgen, Amira«, grüßte Lukas auf Arabisch. »Welche Freude, dich wiederzusehen.« »Ihr seid zu gnädig zu einer einfachen Dienerin, Ritter Lukas«, erwiderte Amira in der gleichen Sprache. »Mein Herr Bashar hat mir aufgetragen, Euch in seinem bescheidenen Heim willkommen zu heißen. Nennt Eure Wünsche, und sie werden Euch erfüllt.« »Dann möchte ich zuerst einmal wissen, wo sich Bashar befindet. Wie geht es ihm, und was ist geschehen? Wir sind von Ghouls überfallen worden.« »Wir ebenso. Der Überfall geschah vor zwei Nächten. Mein Herr Bashar vertrieb die Ghouls, die jedoch großen Schaden im Palast anrichteten. Er zog sich daraufhin in seinen Wüstenpalast zurück. Mich beauftragte er, hier auf Euch zu warten, denn ihr hattet ja Euren Besuch angekündigt. Einen zweiten Angriff der Ghouls hat er jedoch nicht erwartet. Ich bitte untertänigst um Entschuldigung, Ritter Lukas.« Anmutig neigte sie das Haupt. »Vergeben und vergessen.« Lukas wandte sich an Perdita, die verständnislos dem Gespräch gelauscht hatte, und erklärte ihr, was er soeben erfahren hatte. »Was ist sie?«, flüsterte Perdita. »Ein Lampengeist? Ich dachte, die gäbe es nur im Märchen.« Sie stutzte. »Oh … Natürlich, warum auch nicht. Magier, Vampire, Werwölfe und Ghouls. Warum also keine Lampengeister.« Sie lächelte schief. »Bashar ist nicht zufällig so reich, weil er die Schätze aus dem Berg Sesam geborgen hat?« »Du meinst, Ali Bashar und die vierzig Räuber? Zuzutrauen wäre es ihm.« Lukas zwinkerte ihr zu, ehe er sich wieder an Amira wandte. »Kannst du uns zu Bashar bringen?« »Sobald die Sonne untergegangen ist«, antwortete sie.
*
Die Frauengestalt zerfloss. Amira verwandelte sich wieder in eine Wolke grauen Rauches, die sich rasch ausdehnte, bis sie die beiden Vampire vollkommen umschlossen hatte. Lukas spürte Bewegung, als säße er in einem Flugzeug. Leichte Übelkeit überkam ihn. Jenseits des grauen Nebels zogen leuchtend bunte Streifen vorbei. Dann wurde es dunkel. Die Bewegung versiegte, und der Nebel löste sich vollständig auf. Über ihren Köpfen strahlten in wunderbarer Klarheit die Sterne der Wüste. Im Schoß der sandigen Berge ruhte ein Märchenpalast wie aus 1001 Nacht: Schlanke Türme umrahmten eine hohe Kuppel aus Gold und Marmor. Mächtige Mauern mit winzigen Fenstern schützten den Palast vor der Wüste mit ihren schwankenden Temperaturen, dem ewigen Sand und den gefährlichen Stürmen. Als hätte man ihre Ankunft erwartet, eilten drei Diener herbei. Zwei huschten mit dem Gepäck davon, der dritte führte die beiden Reisenden in den Palast. Durch prächtige Hallen und luftige Arkaden erreichten sie die inneren Gemächer und dort Bashars Ruheraum, wo sich der Diener unauffällig zurückzog. Sanft glühende Kohlebecken vertrieben die Kälte, bauchige Windlichter die Dunkelheit. Seidige Vorhänge teilten ein bescheidenes Gemach von dem weitläufigen Raum ab. Für Bequemlichkeit sorgten drei Diwane und einige Beistelltische. Auf dem mittleren Sofa ruhte Bashar, und sein Anblick traf Lukas wie ein Schock. Der Magier war krankhaft abgemagert, ähnelte mehr einem Ghoul als einem Menschen. Seine braune Haut lag faltig über morschen Knochen. In dünnen Strähnen klebten der grauweiße Bart und das käsigweiße Haupthaar an seinem Schädel. Er hob eine zittrige Hand zum Gruß, während er die beiden Gäste mit brüchiger Stimme willkommen hieß. »Du siehst furchtbar aus«, entfuhr es Lukas. Hart setzte er Amiras Lampe auf einem der runden Tischchen ab.
Bashars spröde Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Der Preis für zu viele Feuerzauber in zu kurzer Zeit. Aber deine Begleiterin könnte auch ein wenig mehr Fleisch auf den Kippen vertragen.« »Ich befürchte, sie verträgt gar kein Fleisch mehr.« Lukas nahm auf einem Diwan Platz und winkte der jungen Vampirin, sich neben ihn zu setzen. »Ihr Name ist Perdita, und sie ist Blut von meinem Blut. Perdita, dies ist Bashar, der Gelehrte. Wir sind alte Freunde.« »Ungefähr so alt, wie ich im Moment aussehe«, meinte Bashar, der seinen Zustand mit Fassung und Humor ertrug. Neugierig musterte er das längliche Stoffpaket, das Perdita neben sich ablegte, doch er fragte nicht nach dem Inhalt. »Was meinen Sie mit im Moment?«, hakte die junge Frau nach. »Heißt das, die Kraft für Ihre Zauber entziehen Sie Ihrem eigenen Körper?« Sie blickte Lukas an. »Benutzt Waidinger deshalb die Spieluhren?« »Spieluhren?« Bashar zog eine salzfarbene Augenbraue hoch. »Soweit wir wissen, besitzt Franz Waidinger zur Zeit zwei Spieluhren, in die er äußerst mächtige und gefährliche Dämonen gebannt hat: Der eine ist der personifizierte Krieg, der andere verbreitet die Pest«, antwortete Lukas, ohne sich den Hass und die Wut auf den Dämonenbeschwörer anmerken zu lassen. »Ich verstehe. Und deshalb bist du zu mir gekommen.« Je länger Bashar mit seinen Gästen deutsch sprach, desto fließender wurde seine Rede. »Aber die junge Dame hatte zuerst nach der Quelle meiner Macht gefragt. Nun, ein Magier besitzt die Gabe, über magische Kräfte zu gebieten. In der Regel verwendet er seine eigene Zauberkraft, um Leib und Leben zu schützen. Will er größere Dinge vollbringen, beschwört er die magischen Geschöpfe des Diesseits und des Jenseits, damit diese seine Wünsche erfüllen. Wie die meisten Nekromanten gebietet Waidinger über jene Geschöpfe, die dem Tod verhaftet sind wie Ghouls, Leichengeister und Dämonen.
Ich dagegen schöpfe aus der unendlichen Macht der Wüste. In meinen Diensten stehen die liebliche Amira und einige geringere Dschinns. Doch der Angriff der Ghouls kam zu überraschend, als dass ich sie zu Hilfe hätte rufen können. Also musste ich auf meine eigenen Kräfte zurückgreifen, um mein Heim zu verteidigen. Wie ihr seht, ist dies nicht sehr ratsam, aber mein geschwächter Zustand wird nicht von Dauer sein.« »Das ist gut zu hören, denn ich befürchte, ohne deine Hilfe ist die Welt dem Untergang geweiht.« Lukas machte eine dramatische Pause. »Aber zuerst einmal eine gute Nachricht. Ich habe ein Geschenk für dich.« Er griff nach dem länglichen Paket neben Perdita, schlug den Stoff zurück und enthüllte das darin befindliche Schwert, das er Bashar reichte. »Mein Schwert!« Die Freude brachte die Kraft zurück in Bashars Hände. Er legte die Waffe auf seinen Knien ab und zog andächtig die altertümliche Schrift nach. Die Zeichen funkelten golden auf und verblassten wieder. »Wo hast du es gefunden?« »Waidinger bot es mir im Tausch gegen eine der erwähnten Spieluhren an«, gestand Lukas. Sein Magen zog sich zusammen bei der Erinnerung an die Geschehnisse, von denen er nun berichten musste. Auch Perdita sah unglücklich aus. Sie schlüpfte aus den Schuhen und zog die Füße auf den Diwan. Mit der für sie typischen Geste drückte sie ein Samtkissen gegen ihre Brust. »Wusstest du, dass ein Dämon in die Spieluhr gebannt ist?«, fragte Bashar. »Nein, sonst hätte ich sie niemals hergegeben. Aber als ich es erfuhr, war es zu spät: Waidinger hat mir den Dämon auf den Hals gehetzt, und ich wäre an einer Überdosis Pest gestorben, wäre da nicht Perdita gewesen.« »Du hast ihr Blut genommen?« Lukas nickte kurz.
»Ich verstehe die Gefahr«, erklärte Bashar. »Ein Dämon, der sogar einen mächtigen Vampir wie dich töten könnte, ist eine Bedrohung für die Untoten und die Unsterblichen gleichermaßen. Und erst recht für die Menschen. Aber wie kann dieser Dämon den Weltuntergang beschwören?« »Krieg und Pestilenz sind zwei Reiter der Apokalypse.« »Ah, wir befinden uns also in der christlichen Mythologie.« Bashar lehnte sich bequem auf den Kissen zurück. »Glaubst du eigentlich immer noch, die Erde sei eine Scheibe?« Lukas zuckte mit den Schultern. »Ich erinnere dich ja nur ungern daran, aber du hast deinen drei Kollegen gegenüber behauptet, der Stern von Bethlehem sei ein Komet, der alle achtzig Jahre an der Erde vorbeizieht – und sie sollten nicht weiterreisen.« Bashar bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Er sah auch ganz danach aus.« »Sie haben den Stern von Bethlehem gesehen?« Perdita riss die Augen auf. »Sie meinen: Bashar ist die Kurzform für Balthasar? Sie sind einer der heiligen drei Könige?« »Zum einen waren es drei heidnische Gelehrte und keine Könige, und zum anderen lägen seine Gebeine dann wohl im Kölner Dom«, rief Lukas lachend. »Nein, Bashar ist der vierte Weise aus dem Morgenland, der zu Hause geblieben ist, weil er den Stern von Bethlehem für einen Kometen gehalten hat.« Bashar machte eine obszöne Geste, die schon zu Lukas’ Lebzeiten in Vergessenheit geraten war. »Ob an den Prophezeiungen des Johannes etwas Wahres dran ist, sei dahingestellt«, beendete er den Glaubensdiskurs. »Konzentrieren wir uns lieber auf Waidinger: Du meinst also, er will das Quartett der apokalyptischen Reiter vervollständigen?« »Aber warum sollte er den Weltuntergang wollen?«, warf Perdita ein. »Was hat er davon, wenn die Welt untergeht und es nur noch Himmel oder Hölle gibt? Selbst ein so grausamer und gemeiner Kerl
wie Waidinger kann das nicht wollen.« »Wer will schon ernsthaft eine Atombombe werfen? Dennoch besitzen mehr als genug Staaten diese Mörderwaffen«, sagte Lukas sachlich. Er musste Bashar mit Argumenten überzeugen. »Allein mit der Bedrohung durch die Apokalypse kann Waidinger die Untoten und Unsterblichen erpressen. Und er könnte die ganze Welt mit einer nie dagewesenen Pestepidemie heimsuchen, für die er als Einziger ein Heilmittel kennt. Von Kriegen und Hungersnöten will ich erst gar nicht reden.« Bashar blinzelte müde. »Ich werde darüber nachdenken.« Lukas setzte zu einer verärgerten Antwort an, doch der Magier bat ihn mit einer Geste zu schweigen. »Meine Kräfte sind erschöpft. Ich bedarf der Ruhe. Wir werden morgen weiterreden.« Er rief nach einer Dienerin. »Yasmeena wird euch zu euren Zimmern geleiten. Wenn ihr noch einen Wunsch habt, wendet euch an sie.« Sie verabschiedeten sich von Bashar und folgten Yasmeena zu den Gastgemächern. Während Perdita das Innere des Palastes bestaunte, galt Lukas’ Bewunderung der Dienerin. Obwohl sie ihre Figur unter einem weiten Hemd und bauschigen Hosen verbarg, konnte er die vollen Rundungen ihres Körpers erahnen. Das leuchtende Rot ihrer Kleidung betonte das schimmernde Schwarz ihrer Haut, und das kurz geschnittene dunkle Haar brachte ihren schönen Hals zur Geltung. Lukas bemerkte, wie Durst und Begehren erwachten. Der Taxifahrer in Tunis hatte lediglich sein Bedürfnis nach Nahrung gestillt. Aber von Yasmeena zu trinken, würde ein sinnlicher Genuss sein. Er stellte sich vor, wie glatt und warm sich ihre Haut unter seinen Händen anfühlen würde. Wie er seine Zähne in ihren Hals versenken und das süße Blut seine Kehle hinab fließen würde. Ob Bashar etwas dagegen hat?, überlegte er. Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er etwas gesagt. Außerdem wollte er ja nur ein wenig naschen. Yasmeena würde
unversehrt und unbescholten von dannen ziehen »Das ist … das ist unglaublich!«, jubelte Perdita, als sie die Gastgemächer erreichten. »Ich fasse es nicht. Das ist wirklich mein Zimmer?« Begeistert begann sie, die Suite aus Wohnraum, Schlafzimmer und Bad zu erkunden. »Ihre Zimmer liegen nebenan«, erklärte Yasmeena. Über einen kurzen Verbindungsflur erreichten sie die nächste Suite. An der Tür blieb sie stehen. »Wenn Sie noch einen Wunsch haben …« Lukas fing ihren Blick ein. »Ja, habe ich …« Ihre Augen wurden weich und leer, als sie tiefer in seinen Bann geriet. Sanft umfing er mit beiden Händen ihr Gesicht und hauchte einen Kuss auf ihre vollen Lippen. Yasmeena stöhnte leise auf. Unbewusst klammerte sie sich an das Revers seiner Jacke. Sie bot ihm ihre Lippen dar, und diesmal küsste er sie lange und genüsslich. Ihr Rosenduft stieg in seine Nase. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Zärtlich drang er mit der Zunge in ihren Mund ein, um ihre Wärme und ihren Atem zu trinken. Sie presste ihre Hüften gegen seine. Seine Hände glitten tiefer, streichelten ihre Wangen, ihren Hals und erreichten schließlich ihre Schultern … Ein entsetzter Schrei hallte durch die Gänge. Lukas zuckte zurück. Er kannte die Stimme.
* Perdita starrte den Dämon an. Wie Feuer glühten seine Augen. In seinem nachtschwarzen Gesicht leuchtete grellweiß das mörderische Gebiss einer Hyäne. Arme und Beine waren knorrig wie Äste, sein Körper verdreht und krumm wie ein verbrannter Baum. Dornenartige Haare krönten den Schädel mit den negroiden Zügen.
Den finstersten Albträumen Afrikas entsprungen, war der Dämon als dunkle Rauchschwaden durch das hölzerne Fenstergitter gedrungen. Und Perdita war sich sicher – todsicher: Diese Kreatur zählte nicht zu Bashars dienstbaren Geistern. Ihr eigener Schrei riss sie aus der Schreckensstarre. Das Bett im Rücken wissend ließ sie sich fallen, rollte rückwärts ab und kam auf der anderen Seite der Schlafstatt auf die Füße. Sie griff nach einer brennenden Öllampe, die auf dem Nachttisch stand, und schleuderte sie dem ungebetenen Gast entgegen. Der Dämon verwandelte sich blitzschnell in Rauch und ohne ihn zu verletzen, flog die Lampe durch ihn hindurch. Klirrend fiel sie zu Boden. Öl ergoss sich auf den Teppichboden und entzündete die feine Wolle. Perdita rannte zur Tür. Im letzten Moment sah sie, wie die Klinke sich bewegte, und warf sich zur Seite. Die Tür flog auf, und Lukas erschien auf der Schwelle. Mit einem Blick erfasste er die Situation. »Lauf zu Bashar! Und nimm Yasmeena mit!« Er stürmte ins Zimmer. In einer fließenden Bewegung riss er ein Kohlebecken von seinem Ständer und warf die bronzene Schale dem Dämon entgegen. Perdita eilte aus dem Raum. Die Angst verlieh ihren Schritten Flügel. Sie packte Yasmeena, die entgeistert hinter Lukas stand, und zerrte sie hinter sich her. »Lauf!«, schrie die Vampirin. »Lauf um dein Leben!« Sie rannten durch die Korridore. Hinter ihnen ertönte blechernes Scheppern, das dumpfe Poltern umstürzender Möbel. Perdita hörte Lukas fluchen. Weitere Gegenstände donnerten zu Boden. Wie lange konnte Lukas den Dämon aufhalten? Offensichtlich nicht lange. In einem winzigen Innenhof schwebte
ihnen unvermittelt eine dunkle Rauchwolke entgegen. Perdita stoppte so abrupt, dass Yasmeena gegen sie prallte. Sie schwankte, kämpfte um ihr Gleichgewicht. Der Atem des Dämons wehte ihr entgegen, heißer, trockener Wüstenwind aus der Esse des Teufels. Perdita zuckte zurück. »Weg hier!« Sie stieß Yasmeena in den nächsten Korridor. Doch die Frau war zu langsam. Fluchend packte Perdita sie und warf sie sich kurzerhand über die Schulter. Das zusätzliche Gewicht spürte sie kaum. Leichtfüßig lief sie dem Dämon davon. »Bashar!« Erleichtert stürmte sie in das Schlafzimmer des Magiers. Hellwach saß er auf seinem Bett. Perdita ließ Yasmeena von der Schulter gleiten. Die Frau eilte an die Seite des Magiers. Am Bettrand fiel sie weinend auf die Knie und griff nach Bashars Hand. »Ein Dämon!« Perdita rang nach Atem. »Ein schwarzer Dämon mit glühenden Augen und Zähnen wie eine Hyäne. Er kann sich in Rauch verwandeln.« Ihr Herz glich einem Kolibri, der gegen die Gitterstäbe ihres Brustkorbes ankämpfte. Ihr war übel vor Angst – und gleichzeitig hatte sie es so satt, von Ghouls, Geistern und Dämonen angegriffen zu werden. Heiß schwemmte der Zorn über sie hinweg. »Schnell. Die Wunderlampe!« Bashar zeigte auf ein Holzgitter, das Perdita auf den ersten Blick für eine Wandverzierung gehalten hatte. Dann bemerkte sie das Schloss in einer der Zierleisten. »Hier, der Schlüssel.« Bashar warf ihr einen schmalen Metallstift zu. Geschickt fing ihn Perdita auf, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn um. Die Gittertüren schwangen auf. Yasmeena keuchte auf, und Perdita fuhr herum. Der Dämon hatte sie eingeholt! Wie eine hungrige Hyäne lauerte er auf der Schwelle zum Schlafzimmer. Sein gieriger Blick wanderte
durch den Raum, musterte einen Anwesenden nach dem anderen. Perdita griff nach der Wunderlampe und rieb über das Messing wie sie es zuvor bei Lukas gesehen hatte. Ein heller Nebelstreif entwich der Lampe. Amira erschien. Verunsichert verharrte der Dämon auf der Schwelle. »Vernichte ihn!«, befahl Perdita selbstbewusst. Die Zuversicht, dass ihnen nun geholfen werden würde, vertrieb ihre Angst. Der Lampengeist schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann kein verwandtes Wesen vernichten.« »Halte ihn auf.« Trotz der Gefahr war Bashars Stimme ruhig und bestimmend. »Ich brauche ein wenig mehr Zeit, um ihn zu bannen.« »Ich höre und gehorche, mein Herr Bashar.« Amira verschwand, verpuffte wie ein Nebelstreif in der Wüste. Einen Herzschlag später erschien sie wieder. Sie trug einen schweren Sack in den Händen, den sie dem Dämon vor die Füße warf. Die Nähte platzten auf, und weißgelber Couscous rieselte heraus. Hungrig stürzte sich der Dämon auf das Essen. »Perdita!«, rief Bashar. »Bring mir das Klangholz, das auf dem obersten Brett liegt.« Die junge Vampirin erwachte wie aus einem Albtraum. Noch war die Gefahr nicht gebannt, aber Amira verschaffte ihnen wertvolle Zeit, damit Bashar seine Zauber wirken lassen konnte. Hastig ergriff sie das rechteckige Klangholz und den dazu gehörigen Schlegel und brachte beides dem Magier. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Amira weitere Säcke herbeischaffte und Hirse, Kohl und Kichererbsen an den Dämon verfütterte. In ungezügelter Gier verschlang er die Speisen, als wäre sein Magen ein Fass ohne Boden. Er kroch über den Boden, um selbst die letzte Erbse, das letzte Körnchen Hirse aufzulecken. »Perdita, ich brauche deine Kraft«, schreckte Bashar sie auf. Die Erinnerung, wie Lukas seine Zähne in ihr Fleisch geschlagen
und ihrem Körper das Blut ausgesaugt hatte, jagte eisige Schauer über ihren Rücken. Niemals wieder wollte sie diesen Schrecken erleben. Niemals! Stumm schüttelte sie den Kopf. »Es bleibt uns keine andere Wahl«, redete Bashar auf sie ein. »Der Kampf mit den Ghouls hat mich meine ganze Magie gekostet. Ich kann Abiku nicht bannen, wenn du mir nicht hilfst.« »Was ist mit ihr?« Perdita wies mit dem Kinn auf Yasmeena. »Sie ist eine Sterbliche«, wehrte Bashar ab. »Du bist die Einzige, die helfen kann. Und uns läuft die Zeit davon. Meine Vorräte sind bald erschöpft!« Perdita warf einen Blick über die Schulter. Das Gemüse war Amira bereits ausgegangen. Nun brachte sie kandierte Früchte, frische Feigen und süße Datteln, gefüllt mit grünem Marzipan. Ob süß oder sauer, frisch oder getrocknet, der Dämon schaufelte das Obst in seinen Mund, als hätte er seit Wochen, oder sogar seit Monaten nichts mehr gefressen. »Perdita!« Der Ruf erscholl von der Tür. Lukas schob sich blitzschnell an dem Dämon vorbei und eilte zu den anderen. Seine Kleidung war zerrissen, aber seine Wunden längst wieder verheilt. Perdita lächelte ihn erleichtert an. Er würde nicht zulassen, dass der Magier sie verletzte. »Tu, was Bashar von dir verlangt!«, befahl Lukas mit unwiderstehlicher Autorität. Ehe Perdita bemerkte, was sie tat, hatte sie zugelassen, dass Bashar ihre Hände ergriff. Eisige Kälte breitete sich in ihren Fingern aus, zog über die Handgelenke und die Arme hinauf. Sie wollte sich losreißen. Doch Lukas wisperte in ihr Ohr: »Lass es geschehen! Wehr dich nicht!« Perditas Widerstand erlosch. Reglos verharrte sie, während die
Kälte weiter über ihren Körper kroch, als würde ihr sämtliche Wärme und Kraft aus den Adern gesaugt. Die Kälte erreichte ihr Herz und ließ es still stehen; sie stieg in ihren Kopf, und ihre Sinne schwanden …
* Lukas fing Perdita auf und barg ihren bewusstlosen Körper in seinen Armen. Er warf Bashar einen missmutigen Blick zu. »Darüber reden wir noch.« Der Magier nahm seine Worte mit einem Nicken zur Kenntnis, ehe er das Klangholz aufnahm. Dank Perdita hatte er neue Kraft gewonnen und schlug nun mit dem Schlegel einen einfachen, gleichmäßigen Rhythmus. Lukas warf einen Blick auf Amira. Wie die Male zuvor, verschwand der Lampengeist und kehrte mit etwas Essbarem wieder. Diesmal war es eine lebende Ziege. Amira brach dem Tier das Genick und riss ihm die Beine aus, die sie nach und nach an den Dämon verfütterte. Bashar hatte Recht, ihnen rannte die Zeit davon. Aber der Magier würde es schon richten. Lukas suchte Augenkontakt mit Yasmeena und versicherte ihr: »Keine Angst, wir werden mit dem Dämon schon fertig.« Die schwarze Schöne biss sich auf die Lippen. Ihre Körpersprache verriet, sie wollte Lukas glauben. Aber solange der Dämon unter ihnen weilte, solange hatte sie Grund, diesen zu fürchten. Bashar räusperte sich und hob die Stimme zu einem einschläfernden Singsang. »Ich wollt’, ich wär’ ein großes Brot – dann hättest du zu fressen – dann würden Hunger mir und Not – das Herz nicht mehr zerpressen.«
Der Dämon riss den Kopf hoch. Plötzlich spürte Lukas einen leichten Luftzug, der von dem Klangholz ausging. Bashar sang weiter. »Ich wollt’, ich wär’ ein großes Feld – mit vielen süßen Früchten, – gleich pflückte ich die schönsten ab, – um dir das Mahl zu richten.« Eingelullt von Bashars Gesang verlor der Dämon an Substanz. Seine Glieder waberten und lösten sich in Rauch auf, ebenso der Torso. »Ich wollt’, ich wär’ ein weißer See – aus Milch von satten Kühen, – dann würden dir die Wangen bald – wie rote Blumen blühen«, beendete Bashar das afrikanische Wiegenlied. Der Kopf des Dämonen wurde zu Rauch. Der Luftzug schwoll an. Wind strömte durch den Raum, traf auf die dunkle Wolke und fegte sie auseinander. Rauchfetzen schwebten davon, entwichen durch die Fenster oder verpufften, als sie die Wände oder Decke berührten. Das Klangholz fiel aus Bashars nun wieder kraftlosen Händen und wurde von Yasmeena geistesgegenwärtig aufgefangen. Mit Schreck und Abscheu im Gesicht sprang sie auf, eilte zum Wandschrank, warf das Instrument hinein und schlug die Türen zu. »Ich danke dir, Yasmeena«, sagte Bashar leise. »Wenn du bleiben möchtest, bleibe. Und wenn du die Gesellschaft deiner Lieben vorziehst, dann gehe zu ihnen.« Wortlos lief Yasmeena aus dem Zimmer. »Amira, auch dir gilt mein Dank«, wandte sich Bashar an den Lampengeist. »Doch bevor ich dich für heute entlasse, möchte ich dir auftragen, die Ordnung in meinem Haus wieder herzustellen.« »Euer Wunsch ist mir Befehl, mein Herr Bashar.« Ein Händeklatschen ließ die Überreste der Ziege verschwinden, ebenso die Säcke, Schüsseln und Schalen, in denen sie Nahrung für den
Dämon gebracht hatte. Amira neigte den Kopf zum Gruß und verschwand, um die Gästegemächer zu richten. Lukas bettete Perdita auf einen Diwan im hinteren Teil des Raumes. Er würde sie später zu Bett bringen, nachdem ihm Bashar einige Fragen beantwortet hatte. Er trat an das Bett des Magiers. Tiefe Falten hatten sich in die Wangen des Gelehrten gegraben. Die dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen, doch sein Blick war hellwach. »Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich Lukas. »Erschöpft und übermüdet. Aber noch flieht mir der Schlaf.« Bashar zwang ein Lächeln auf die Lippen. »Und du?« »Durstig. Ich könnte ein Kamel aussaugen.« Zu geschwächt, den Arm zu heben, deutete Bashar eine einladende Geste mit den Fingern an. »Meine Ställe stehen dir offen.« »Später.« Lukas zog einen Sessel heran, nahm Platz und streckte die Füße aus. Obwohl er im Plauderton sprach, ließ er eine gewisse Härte in seiner Stimme mitschwingen, als er fragte: »Also, was hast du mit Perdita gemacht?« »Ich habe mich ihrer Macht bedient, um den Dämon zu bannen.« Lukas setzte sich auf. »Ihrer Macht? Willst du damit sagen, Perdita sei eine Magierin?« »Sie besitzt die Gabe. Und ich würde sie gerne als Schülerin aufnehmen, doch ihr Vampire würdet es ihr nicht gestatten. Oder habt ihr eure Meinung geändert?« »Nein. Ein Vampirmagier ist zu gefährlich, um frei über die Erde zu wandeln. Und ich spreche aus Erfahrung.« Lukas wandte den Kopf, bis er Perditas braunen Schopf sehen konnte. Trotz – oder gerade wegen – ihrer Jugend sorgte sie ständig für Überraschungen. »Sie ist sehr tapfer«, stellte Bashar fest. »Die meisten Sterblichen würden daran zerbrechen, wenn man sie aus ihrem gewohnten
Leben reißen und unter Ghouls, Dämonen und Schwarzmagier werfen würde. Eine außergewöhnliche junge Frau.« »Vermutlich ist gerade ihre Jugend der Schutz vor Wahnsinn und Verzweiflung.« Lukas rieb sich den Nacken. Er fragte sich, was die Zukunft noch alles für sie bereit hielt. Nun, sie würden sehen, was die Jahrhunderte brachten. Vorausgesetzt, sie überlebten die nächsten Wochen. »Was war das eigentlich für ein Dämon?«, kehrte er zu den aktuellen Ereignissen zurück. »Sein Name ist Abiku«, antwortete Bashar. »Er stammt ursprünglich aus Nigeria. Die dort lebenden Yoruba erzählen, er könne sich in Rauch verwandeln und so selbst die dichtesten Dornenhecken durchdringen. Er gilt als unersättlich, weil er keinen Magen habe, und am liebsten verschlingt er kleine Kinder. Je jünger, je lieber.« »Kein Wunder, dass er Perdita zuerst angefallen hat.« Lukas strich eine rotblonde Strähne aus seiner Stirn. Eine Gänsehaut überzog seine Arme. »Ein dauernd hungriger Dämon – das klingt, als hätte Waidinger seinen dritten Reiter gefunden.« »Unwahrscheinlich. Abiku zählt nicht zu den Dämonen, die das Christentum kennt. Wenn Waidinger die vier Reiter zusammenruft, müssen sie alle aus dem gleichen Umfeld stammen. Außerdem gebietet ein Magier am besten über die Geistwesen seiner eigenen Kultur. Selbst Waidinger wird sich an die Dämonen seiner Heimat halten, ganz besonders, wenn er so mächtige Wesen wie Hunger und Pest beschwören will.« Bashar strich sich nachdenklich über den Bart. »Ich kenne nur einen Mann, der über Abiku gebieten würde: meinen Freund und ehemaligen Schüler Nkosi. Ich werde ihn fragen müssen.« »Morgen ist auch noch Zeit.« Lukas wandte sich um Gehen. »Schlaf jetzt. Wir sehen uns dann morgen Abend.«
* Leise stöhnend rieb sich Perdita die Stirn. Lukas reichte ihr einen Lederschlauch, und gierig trank sie von dem süß duftenden Inhalt. Doch kaum war ihr Durst gestillt, setzte sie das Mundstück ab und verzog das Gesicht. »Was ist das?«, fragte sie leicht angeekelt. »Kamelblut.« Lukas nahm ihr den Lederschlauch ab, verschloss ihn und stellte ihn neben Perditas Bett ab. Zum Glück hatte Bashar den Dämon gebannt, bevor Amira sämtliche Tiere an den Nimmersatt verfüttern konnte. »Wie fühlst du dich?« »Total verkatert.« Perdita setzte sich in ihrem Bett auf, lehnte den Rücken an die Wand, zog die Decke hoch bis ans Kinn und kuschelte sich in den warmen Wollstoff. »Bashar hat den Dämon besiegt, nicht wahr?« »Sonst säßen wir nicht hier.« Kurz fasste Lukas zusammen, was an dem Abend geschehen war, nachdem Perdita das Bewusstsein verloren hatte. Nur dass sie die Gabe der Magie in sich trug, verschwieg er ihr. Als er geendet hatte, erkundigte sie sich: »Ihr scheint wirklich alte Freunde zu sein, du und Bashar. Wann und wo habt ihr euch kennen gelernt?« »Im heiligen Land, während des dritten Kreuzzuges.« Lukas setzte sich bequemer auf Perditas Bett, winkelte das rechte Bein an und zog es unter das linke. Kurz überlegte er, was und wie viel er über seine Vergangenheit erzählen sollte, dann entschied er sich für die Wahrheit. Seine Bluttochter hatte es verdient, seine Geschichte zu erfahren. Zumindest das meiste davon. »Damals war ich noch ein sterblicher Ritter. Und wenn ich ehrlich bin, zog ich aus Abenteuerlust ins Heilige Land, und nicht aus religiöser Überzeugung. In der Nähe von Damaskus fiel ich einem
Schwarzmagier in die Hände – einem französischen Ritter namens Guillaume de Bellard – und der hat mich dem Teufel geopfert.« Er griff nach dem Schlauch mit Kamelblut und trank einen großen Schluck. Die Erinnerung an die letzte Nacht seines sterblichen Lebens tauchte in seinem Gedächtnis auf. In einer uralten Katakombe hatte man ihn auf einen heidnischen Altar gefesselt. Die Teufelsanbeter, die ihre Gesichter und Kleidung unter Kapuzenmänteln verborgen hatten, intonierten disharmonische Gesänge. Rußende Kerzen verbreiteten flackerndes Licht. Plötzlich stieg die Temperatur sprunghaft an. Einige Stimmen verstummten vor Erstaunen. Eine dunkle Wolke breitete sich über dem Altar aus. Lukas schrie in Todesangst, doch der Knebel erstickte seine Schreie. Er riss und zerrte an seinen Fesseln, doch vergebens. Aus der Wolke schälte sich der Umriss eines Teufels, einer geflügelten Albtraumkreatur mit Messern statt Fingern und zwei Fangzähnen, die wie Dolche aus seinem Maul hervorstachen. Mit einem sinnlichen Vergnügen schlug der Dämon seine Fänge in Lukas’ Herz und trank und schlürfte und saugte das Blut aus seinen Adern. Gnädige Dunkelheit umfing den sterbenden Ritter. Unwillig schüttelte Lukas die Erinnerung an längst vergangene Zeiten ab. Er räusperte sich. »Sie hielten mich für tot und ließen mich in der Gruft zurück. Doch in der nächsten Nacht erwachte ich zum Vampir. Ich wusste nicht, was mit mir geschehen war oder warum ich noch lebte. Aber es interessierte mich auch nicht. Denn in diesen Stunden beherrschte mich nur ein Gedanke: Ich musste meinen fürchterlichen Durst stillen. Wie im Fieberwahn durchsuchte ich die Katakombe, bis ich schließlich einen Toten fand, den ich für eine frische Leiche hielt. Ich schlug meine Zähne in seinen Hals und trank sein Blut.«
»Was geschah dann?«, fragte Perdita aufgeregt, da Lukas verstummte. Teils fasziniert, teils mitleidig lauschte sie dem Bericht seiner Vampirwerdung. »Die vermeintliche Leiche erwachte und schleuderte mich mit einem Zauber quer durch den Raum.« Lukas lachte kurz und trocken. »So habe ich Bashar kennen gelernt. Ein verfeindeter Magier hatte ihn in der Katakombe gefangen gesetzt, und nur dank seiner Magie hatte er die Gefangenschaft überlebt. Gemeinsam gelang uns die Flucht, und Bashar half mir, Guillaume de Bellard das Handwerk zu legen. Ich blieb dann bei ihm, bis ich mich an meine neue Existenz gewöhnt hatte …« Er verstummte, und Schweigen breitete sich aus. Lukas versuchte mühsam, die wiederkehrenden Erinnerungen an die ersten furchtbaren Nächte seiner Existenz zu verdrängen, während Perdita offensichtlich das Gehörte erst verdauen musste. Zögerlich erkundigte sie sich: »Ich weiß, du befürchtest, dass Waidinger die vier Reiter der Apokalypse auf die Welt loslassen wird. Aber glaubst du wirklich daran, ich meine, an Gott und das alles, was in der Bibel steht?« »Du stellst Fragen!« Lukas grinste. »Lass uns ein andermal darüber reden, wenn wir mehr Zeit für Theologie und Philosophie haben, okay?« Er stand auf. »Bashar wartet im Observatorium auf uns.« »Ich komme.« Perdita sprang aus dem Bett. Sie griff nach ihren Kleidern und verschwand hinter einem Paravent, um ihr Nachthemd gegen einen grünen Pullover und eine schwarze Hose zu tauschen. »Glaubst du, Waidinger steckt hinter den Angriffen?«, rief sie hinter dem Sichtschutz aus Holz und Papier hervor. »Weder die Ghouls noch dieser Abiku machten einen besonders lebendigen Eindruck.« »Bashar meint, nur ein afrikanischer Zauberer könnte über Abiku gebieten. Aber ich bin mir sicher, wir werden es herausfinden, und
zwar noch heute Nacht.« Perdita trat hinter dem Paravent hervor. »Sollte er sich nicht erst ein wenig erholen?« »Das gäbe seinem Gegner Zeit, einen weiteren Angriff vorzubereiten.« Lukas steckte die Hände in seine Hosentaschen. »Außerdem: Die großen Zauber bewirkt er sowieso mit der Magie seiner Dschinns. Die eigenen Kräfte sind ja nur ein Bruchteil seiner Macht.« »Aber der entscheidende«, murrte Perdita. Sie gab sich keine Mühe, ihren Unmut zu verbergen, während sie hinter Lukas durch den Palast schlurfte. Am Ende eines langen und verwinkelten Korridors erreichten sie das Observatorium, das unter dem großen Kuppeldach seinen Platz gefunden hatte. In unerwarteter Harmonie vereinigte Bashars private Sternwarte modernste Technik und arabische Wohnkultur. Die Nischen des Gewölbes und die Türbögen verzierten Tropfsteine aus Stuck, bunte Fliesen umrahmten die hufeisenförmigen Bögen der Arkadengänge. Die Mitte der runden Halle beherrschte ein gewaltiges Teleskop, von einem Reigen aus Computern und Monitoren umgeben. Geschickt geraffte Vorhänge trennten einen Seitenraum ab, in dem Bashar seine Gäste erwartete. Der Gelehrte stand an einem achteckigen Mahagoni‐Tisch, einen Computerausdruck in der einen, ein gelbstichiges Pergament in der anderen Hand. In den vergangenen Stunden hatte er an Gewicht gewonnen, wie Lukas zufrieden bemerkte. Bashar wirkte nur noch leicht unterernährt, und das beigefarbene Djellabah – das lange Kapuzengewand – schlotterte nicht mehr ganz so offensichtlich um seine Glieder. »Ganz schön beeindruckend«, kommentierte Lukas die moderne Ausstattung der Sternwarte. »Und du meinst, Astronomie und Astrologie lassen sich vereinbaren?« »Wenn sich selbst das mächtige Meer der Macht des Mondes beugt und ihn mit Ebbe und Flut verehrt, wie kann da der
Erdenmensch den Einfluss der Sterne verleugnen?«, antwortete Bashar gewichtig – ehe er seine Worte mit einem Lachen entschärfte. »Nur weil wir die Bahnen der Sterne berechnen, heißt das nicht, dass sie keine astrologische Bedeutung mehr haben. Und selbst unser kleines Sonnensystem wird immer wieder überrascht von Erscheinungen wie Kometen oder Supernoven.« »Oder der Stern von Bethlehem«, fügte Lukas spöttisch hinzu. »Oder der Stern von Bethlehem …« Mit einem Lächeln überging Bashar diese prägende Episode seines Lebens. Er wandte sich an die junge Vampirin. »Wie ich sehe, bist du wieder wohlauf, Perdita. Und ich möchte dir für deine Hilfe danken. Ich weiß nicht, wie ich ohne dich über Abiku hätte siegen können.« Er reichte ihr ein kleines Schächtelchen, das auf dem Tisch gestanden hatte. »Bitte, nimm dies an als Dank und als Entschuldigung für jedes Unrecht, das dir widerfahren ist.« Perdita zögerte einen Moment, ehe sie das Geschenk mit einem schlichten »Danke« akzeptierte. Doch als sie die Schmuckschachtel öffnete, erstrahlte ihr Gesicht vor Freude. »Danke! Der ist ja wunderschön!« Sie nahm den Goldring mit dem grünen Edelstein aus der Schachtel und hielt ihn ins Licht. »Das ist ja ein echter Smaragd. Aber das kann ich doch nicht annehmen!« »Sicher kannst du.« Bashar steckte den Ring an ihren Finger. »Und wenn du in Not bist, drehe den Ring einmal im Uhrzeigersinn.« Perdita sah den Gelehrten groß an, und Lukas unterdrückte ein Lächeln. Betont geschäftig griff er nach der Landkarte, die zuoberst auf dem Schreibtisch lag. »Du hast herausgefunden, wer uns Abiku auf den Hals gehetzt hat?«, fragte er wie beiläufig. »Ja. Leider.« Schatten der Trauer zogen über Bashars Gesicht. »Zuerst habe ich den Ort bestimmt, an dem Abiku beschworen wurde, um mein Haus anzugreifen: eine versandete Wüstenoase
ganz in der Nähe. Als Nächstes habe ich Amira dorthin geschickt, damit sie sich umsieht.« »Und wen hat sie gesehen?«, fragte Lukas gespannt einen Moment später, da der Magier eine Pause machte. »Meinen Schüler Nkosi.« Bashar senkte den Blick auf seine Hände, die sich an den Rand des Schreibtisches klammerten. »Er ist allein und anscheinend in einem bedenklich schlechten Zustand.« Lukas legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid. Aber wir werden ihm einen Besuch abstatten müssen.« »Du hast Recht.« Bashar seufzte vernehmlich. »Ich muss herausfinden, warum er meinen Tod will.« Lukas sah an sich herab. In Erwartung eines Kampfes trug er Lederjacke und ‐hose, dazu ein Hemd aus grobem Leinen. Auf seiner Brust verbreitete sein Schutzamulett gegen böse Zauber beruhigende Kühle. Fehlte nur noch die passende Bewaffnung. Doch als er Bashar danach fragte, schüttelte dieser den Kopf. »Keine Waffen. Ich will ihn lebend. Wegen unserer Freundschaft.« »Wie du meinst«, antwortete Lukas, von der Richtigkeit der Entscheidung nicht überzeugt. »Perdita, du wartest hier. Wir sind bald zurück.« Bashar nahm die Wunderlampe, die zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch stand, und rief Amira herbei. Er wies sie an, ihn und Lukas zu der Oase zu bringen, wo sie Nkosi ausfindig gemacht hatte. Wie zuvor verwandelte sich der Lampengeist in grauen Nebel, der die Männer umhüllte und aus dem Palast trug. Als sich die Dunstschwaden auflösten, standen sie in der Wüste. Die Temperatur fiel rapide ab, jetzt, da die Nacht ihren Siegeszug hielt. Hoch oben am Firmament glitzerten die Sterne wie Eiskristalle. Die schmale Sichel des Mondes erhob sich langsam über die Dünen. Die letzten Überreste eines ehemals üppigen Palmenhaines trotzten der Übermacht des weißen Sandes, der die
menschlichen Bewohner der Oase schon längst vertrieben hatte. Nur noch einige niedrige Häuser zeugten von der einstigen Besiedlung, längliche, weiß verputzte Gebäude mit halbrunden Tonnendächern, wie sie heute noch als Lagerhäuser verwendet wurden. Doch ein Haus unterschied sich von den anderen, denn es war mit schwarzen Schriftzeichen bemalt. Durch die leere Türöffnung fiel ein unregelmäßiger Streifen Licht. Dumpfe Trommelschläge, begleitet von einem monotonen Gesang, drangen aus dem Haus. Lukas spürte, wie das Schutzamulett auf seiner Brust erkaltete. Und das bedeutete, ganz in der Nähe wurde ein Zauber gesprochen wurde, die Macht der Magie beschworen. Bashar versteifte sich. »Nkosi! Ich erkenne seine Stimme. Er ruft die Geister der Savanne.« Je näher sie dem Haus kamen, desto lauter wurden die Trommelschläge, eindringlicher der Gesang. An der Tür blieben sie stehen und blickten in das Innere des Hauses, das aus einem einzigen, ungefähr drei mal fünf Meter großen Raum bestand. Der Boden war mit weißem Sand bedeckt, die Wände im Innern wie außen mit schwarzen Schriftzeichen bemalt. Aber nicht mit Farbe, wie Lukas’ Geruchssinn verriet, sondern mit getrocknetem Blut. In einem Kreis aus zwölf Schalen mit brennendem Öl saß Nkosi. Lukas hätte ihn fast nicht wieder erkannt. Der einst so attraktive Afrikaner war krankhaft aufgedunsen, seine schwarze Haut grau verfärbt. Seine vormals helle Kleidung war zerlumpt und verdreckt. Die sonst sorgsam gepflegten Haare hatten sich in ein verfilztes Gestrüpp verwandelt, und seine Augen blickten beängstigend leer und starr. Steif wie eine Puppe schlug Nkosi seine Trommel, und ohne die Bewegung seiner Hände hätte Lukas ihn für einen Toten gehalten. »Nkosi.« Bashar trat in das Haus und vor seinen Schüler hin. »Nkosi!« Der Afrikaner erstarrte. Die Trommel verstummte, sein Gesang
erstarb. In seinen Augen glomm der Funke des Erkennens auf. Seine Lippen bewegten sich, doch es dauerte einen Moment, bis sein Mund Worte formte. »Du bist Bashar muss ich töten muss ich dich.« Lukas zuckte zusammen. Weniger die Worte, denn die Stimme erschreckte ihn. Heiser und tonlos – das war nicht die Stimme eines Lebenden. »Du willst mich töten? Wieso?« Bashar klang ebenfalls erschrocken, aber gleichzeitig fest entschlossen, das Rätsel von Nkosis Verhalten zu lösen. »Ich bin dein Freund. Was habe ich dir getan, dass du nach meinem Leben trachtest?« »Der Meister befiehlt Nkosi gehorcht.« Mit ungelenken Bewegungen stellte Nkosi die Trommel beiseite und stand auf. »Der Meister? Ich bin dein Meister. Ich habe dich gelehrt, die Geister zu rufen und ihre Kräfte zu nutzen. Ich war dein Lehrer und du mein Schüler.« »Der Meister befiehlt Nkosi gehorcht«, wiederholte der Afrikaner. Wie eine Marionette streckte er die Arme aus und hob die Beine. Dabei stieß sein Fuß gegen eine Schale mit Öl. Das Gefäß kippte um. Brennendes Öl floss über den Sand und entzündete sein zerlumptes Hosenbein. Doch Nkosi beachtete das Feuer nicht. Er griff nach Bashar und legte die Hände um dessen Hals. Lukas reagierte. Innerhalb eines Lidschlags fegte er an Bashar vorbei und stieß Nkosi zurück. Im Fallen erwischte der Afrikaner seinen Ärmel und riss ihn mit sich. Die Kontrahenten stürzten zu Boden. Nkosi fiel rücklings auf einige Ölschalen, erstickte mit seinem Gewicht deren Feuer und zerbrach die Gefäße. Lukas holte aus und rammte seinem Gegner die Faust ins Gesicht. Nkosi nahm den Hieb ungerührt hin. Er schlug Lukas in den
Rücken. Rippen brachen mit einem hässlichen Knacken. Schmerzgepeinigt brüllte Lukas auf. Die Verwandlung in die Bestie Vampir setzte ein. Aus Zähnen wurden Fänge, aus Fingern Krallen. Mit der Wut eines gereizten Raubtiers landete er zwei weitere Hiebe in Nkosis Gesicht. Da umklammerte ihn der Afrikaner mit beiden Armen. Unbarmherzig presste Nkosi Lukas’ Leib zusammen. Weitere Rippen zersplitterten. Die Lungenflügel wurden zusammengedrückt, das Herz zu Brei zerquetscht. Lukas’ Schreie verstummten vor Qual und Pein. Eiskalt pulsierte die Angst durch seine Adern. Das war kein Mensch mehr und auch kein Magier, mit dem er rang, sondern ein überlegener Gegner, dessen Kräfte durch die Mächte der Finsternis gespeist wurden. Nur noch ein heiseres Krächzen entfloh seinen Lippen, als er nach der Hilfe seines Freundes rief. In einem letzten Aufbäumen warf er sich zur Seite. Halb blind vor Schmerzen, am Rande der Bewusstlosigkeit zog er seinen Gegner mit sich und schmetterte ihn gegen die Wand. Die mörderische Umklammerung löste sich. Lukas wurde schwindelig vor Erleichterung. Schon spürte er, wie die Heilung einsetzte, da packte ihn Nkosi und schleuderte ihn quer durch den Raum. Lukas schlug gegen die Wand. Ihm wurde schwarz vor Augen …
* Brennender Schmerz holte Lukas ins Bewusstsein zurück. Obwohl er nur kurz weggetreten war, hatte sich die Situation
grundlegend gewandelt. Bashar lag auf dem Boden, bis zur Unkenntlichkeit abgemagert und zu Tode erschöpft. Von dem Afrikaner fehlte jede Spur. »Wo ist Nkosi?«, keuchte Lukas am Rande der Panik. Wenn er nicht sofort auf die Beine kam, waren sie ihrem Gegner auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Amira bringt ihn in die Gruft, wo wir uns das erste Mal begegnet sind«, flüsterte Bashar. »Und dort wird er bleiben, bis meine Kräfte zurückgekehrt sind und ich ihn aus seinem Zustand erlösen kann.« Erleichterung flutete durch Lukas. Offensichtlich hatten sie diesen Kampf gewonnen, wenn auch mit knapper Mühe und Not. Er ließ sich auf den weichen Sand sinken. »Was meinst du mit Zustand?«, hakte er nach. »Nkosi hat mich und euch angegriffen, weil er unter dem Bann eines anderen Magiers steht.« Bashars Stimme klang belegt. »Während du gekämpft hast, habe ich versucht, diesen Bann zu lösen. Obwohl ich gescheitert bin, konnte ich erkennen, wer den Bann verhängt hat.« »Waidinger!« Es stand außer Frage. Doch der Nekromant gebot allein über die Toten und jene, die dem Tod verhaftet waren. Und das bedeutete, Nkosi war schon tot gewesen, als sie die Oase betreten hatten. Waidinger hatte ihn ermordet und in seine Marionette, in einen Zombie verwandelt. Lukas’ Herz krampfte sich zusammen. Indirekt trug er die Schuld an Nkosis Tod. Es gab keinen Zweifel mehr, er und Waidinger befanden sich im Krieg. Der Nekromant hatte vorausgesehen, dass Lukas Bashar um Hilfe bitten würde, und versucht, seinen angehenden Verbündeten im Vorfeld auszuschalten. Dass er dabei über die Leichen Unschuldiger ging, geschah nicht zum ersten Mal. Die Fronten waren also geklärt. Es wurde Zeit, die Truppen zu versammeln und das Schlachtfeld
zu bestimmen … Fortsetzung folgt