Mikaël Ollivier | Raymond Clarinard
e-Den Aus dem Französischen von Maren Partzsch
edition quinto
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Mikaël Ollivier | Raymond Clarinard
e-Den Aus dem Französischen von Maren Partzsch
edition quinto
Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Titel der französischen Originalausgabe: E-den © Éditions Thierry Magnier, 2004 édition quinto bei Terzio
© Möllers & Bellinghausen Verlag GmbH, München 2007 1. Auflage 2007 Übersetzung: Maren Partzsch Lektorat: Dorothea Cerpnjak Covergestaltung: Christine Paxmann unter Verwendung eines Fotos von Kirsten Riedt DTP: Ingo Engel, München Druck und Bindung: fgb, Freiburger Graphische Betriebe Printed in Germany ISBN 978-3-89835-869-9 www.terzio.de
Serge, einer der erfolgreichsten Drogenfahnder der Kriminalpolizei, wollte mit seinem Sohn Goran eigentlich einen ruhigen Urlaub in der Bretagne verbringen. Doch aufgrund zahlreicher, mysteriöser Komafälle unter Jugendlichen wird er schon kurz nach seiner Abreise zurückgerufen. Die neue hochkomplexe Cyberdroge E-den, die die Konsumenten in ein virtuelles Paradies befördert, fordert zahlreiche Opfer und scheint sich rasend schnell zu verbreiten. Serge ahnt nicht, dass auch sein eigener Sohn in Gefahr ist, denn er hat sich in die Komapatientin Mel verliebt und will ihr ins Paradies E-den folgen. Mithilfe der unberechenbaren Wissenschaftlerin Sylvia versucht Serge, die Jugendlichen aus ihrem Koma zu befreien. M. Olliviers spannende Zukunftsvision kombiniert 2 für Jugendliche wichtige Themen: Liebe und Drogen. Die von ihm kreierte Cyberdroge wirkt erschreckend real, weil der Wunsch, in eine andere (paradiesische) Welt abzutauchen und eine andere Identität anzunehmen, derzeit mit der virtuellen SecondlifeWelt schon Realität ist.
Für Darya, Madeleine und Camille
Prolog
Der Himmel über Evergreen und der Whale Bay ist auch heute makellos blau. Mel steht wie jeden Morgen auf der obersten Terrasse ihres Hauses. Es ist zwar noch ziemlich früh, aber um nichts auf der Welt will sie das bevorstehende Schauspiel versäumen. Zu ihrer Linken erstrecken sich die grünen Hügel bis an den Horizont und weitere Anwesen thronen verstreut über der Bucht. Zu ihrer Rechten windet sich eine Straße bis zur Stadt, die Mel von der Terrasse aus nicht sehen kann. Der warme, sanfte Wind erhebt sich und treibt eine friedlich fliegende Schar Wildenten vor sich her. Sie kreisen über dem Meer und verschwinden dann in Richtung Landesinnere. Das junge Mädchen stützt sich auf die Brüstung und atmet tief ein. Sie genießt die leicht salzige, mit dem Duft von Gebüsch vermischte Luft. In der Ferne schlummern die Funny Islands. Sie schimmern grüngolden im Sonnenlicht. Der Vergnügungspark, der sich über die Inseln ausbreitet, und die Brücken, die sie miteinander verbinden, sind noch nicht geöffnet. In der Nacht, wenn es dort drüben am lebendigsten ist, beobachtet Mel gerne das Spiel der Lichter über der Bucht. Doch morgens wartet sie auf etwas anderes. Gleich geht es los. Das junge Mädchen hat noch nicht gegessen. Sobald ihre Mutter aus der Stadt zurück ist, wird sie das Frühstück herrichten. Mel kann also ruhig auf der Terrasse bleiben, um das Meer zu bewundern. Später wird sie vielleicht am Privatstrand unterhalb des Hauses baden gehen, und ihre Mutter wird mit einem Picknick dazukommen. Anschließend
könnten sie zusammen einen Einkaufsbummel machen. Ihre Mutter liebt das. Danach Kinoabend und quatschen… Plötzlich steigt aus der Bucht ein langes, helles Pfeifen auf und Mels Herz macht vor Glück einen kleinen Sprung. Jeden Morgen kommen sie zur gleichen Zeit, um für sie zu singen. Anfangs sind es nur Wasserwirbel, kaum wahrnehmbare Schatten unter der Oberfläche. Mel zählt heute fünf. Manchmal sind es mehr, manchmal weniger, aber sie kommen immer zur gleichen Zeit. Langsam taucht ein erster, von Wassertropfen glitzernder Rücken aus dem ruhigen Wasser auf und wieder unter. Danach ein weiterer, und noch einer… Das Ballett beginnt. Die Wale begleiten sich gegenseitig mit ihrem Gesang, sie rollen und drehen sich im Meer, um Mel eine Freude zu machen. Natürlich weiß Mel, dass auch die Bewohner der anderen großen Villen den Anblick genießen, doch ganz tief in ihrem Innern ist sie davon überzeugt, dass die Wale nur für sie kommen. Die Melodie wird lauter, das Pfeifen und Vibrieren mischt sich zu einem Konzert, dessen sie nie überdrüssig wird. Schließlich springt einer der Wale, zweifellos der jüngste, ganz aus dem Wasser, um dann wie schwerelos zurückzufallen. Eine Wasserfontäne erhebt sich. Das ist das große Finale. Zufrieden schaut Mel ihnen nach, wie sie tauchen und sich in Richtung Meer entfernen. Morgen werden sie zurück sein, und das Mädchen wird sich wieder zum Rendezvous auf der Terrasse einfinden. Mel überlegt wie es wäre, ihnen eines Tages in die Fluten zu folgen. Doch ein Hupen reißt sie aus ihren Gedanken und sie merkt plötzlich, dass sie Hunger hat. Sie wendet ihren Blick zur Straße und sieht das rote Sportcoupé ihrer Mutter, die vom Einkaufen zurückkommt, genauso pünktlich wie die Wale. Noch ein vollkommener Tag. Doch auch davon bekommt Mel nie genug.
1 Goran – 07/04
Was bestimmt unser Leben? Anstatt wie geplant heute Abend in der Bretagne zu sein, bin ich in Paris, in meinem Zimmer, und schaue ins Dunkel. Ich denke an sie. An Mel. Ich habe den Eindruck, nicht mehr derselbe zu sein wie noch heute früh, habe das Gefühl, dass heute passiert ist, worauf ich unbewusst immer schon gewartet habe.
Papa und ich haben das Haus um 9 Uhr verlassen. Im Auto schmollte ich der Form halber, dabei konnte ich vor lauter Vorfreude kaum stillsitzen. „Hör auf sauer zu sein, Goran!“, seufzte mein Vater. „Ich bin nicht sauer!“ „Seit wir losgefahren sind, hast du kein einziges Wort gesagt. Ich finde es auch nicht gut, dass ich nur vier Urlaubstage habe.“ „Du hast versprochen, dass wir zwei Wochen zusammen verbringen.“ „Ich weiß. Und ich versichere dir, dass ich lieber vierzehn Tage mit meinen Eltern und meinem Sohn in der Bretagne verbringen würde, als…“ Seufzend ließ er den Satz unvollendet. „Was ist es diesmal?“, fragte ich. „Ein besetztes Haus in Barcelona. Zwölf Überdosen.“ „Mit PulpX?“
„Ja. Sie waren noch Kinder, die meisten in deinem Alter. Die Vorstellung, dass du einer von ihnen sein könntest, macht mich krank.“ Da besteht keine Gefahr. Wenn man Serge Poirets Sohn ist, der Sohn des bekanntesten Drogenfahnders der Bundespolizei, dann besteht keine Gefahr, dass man dieses Zeug anrührt. Meine ganze Kindheit lang hörte ich nur von Überdosen, von irgendwo tot aufgefundenen Kindern, von inhaftierten Dealern, von Heroin, von Crack, von PulpX und von Thrill. Als wir auf die Achtspurige einbogen, kam der Verkehr plötzlich ins Stocken. „Was ist denn nun schon wieder los?“, wunderte sich mein Vater. „Es sieht aus, als sei dort vorne eine Demo.“ An der Mautstelle glaubte ich Spruchbänder und Fußgänger zu erkennen. „Das erinnert mich an meine Jugend“, meinte mein Vater. „Damals waren die Autos noch nicht kodiert. Man musste anhalten, um bei der Auffahrt auf die Autobahn ein Ticket zu ziehen und um beim Verlassen die Maut zu bezahlen. Zu jedem Ferienbeginn das Gleiche: Stau an der Mautstelle bei Saint-Arnoult und drei Stunden später bei Rennes.“ „Drei Stunden!?“ „Ja, die Autos durften damals viel schneller fahren als heute. Dein Großvater fuhr immer hundertfünfzig.“ „Wow!“ „In dreieinhalb Stunden war man in Dinard.“ Meter um Meter näherten wir uns der Mautstelle. Der Verkehr wurde wirklich von einer Demo behindert. Es war wieder mal eine Versammlung gegen Benzinmotoren. Seit Jahrzehnten gibt es umweltschonende Motoren, aber die Regierungen haben um der dicken Kohle willen beschlossen, die letzten natürlichen Erdölreserven auszuschöpfen. Der Preis
für Elektroautos wird künstlich so hoch gehalten, dass sich kaum jemand eines leisten kann. Abgesehen von Staatskarossen, Bussen, Krankenwagen und Dienstwagen wie Papas, müssen deswegen alle mit Benzin fahren. Mein Freund Peri und ich haben im Intranet der europäischen Schulbehörde eine Unterschriftensammlung gestartet. Wir haben schon mehr als eine Million elektronischer Unterschriften für die Abschaffung von Benzinmotoren gesammelt. Endlich war die Straße vor uns wieder frei. In fünf Stunden würden wir in Dinard sein. Papa stellte die vorab in den Computer eingegebene Route ein und schaltete den Autopiloten an. Dann kletterte er nach hinten, um ein Nickerchen zu machen. Er war am Vorabend sehr spät aus dem Büro gekommen… oder, genauer gesagt, erst heute am frühen Morgen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, begann das Funkgerät zu krächzen: „Serge! Norah an Serge!“ Mein Vater setzte sich seufzend auf: „Was? Ich erinnere dich daran, dass ich seit fünf Stunden und dreiundvierzig Minuten im Urlaub bin.“ „Nur in deinen Träumen!“, antwortete Norah. „Was ist nun wieder los?“ „Alarmstufe Rot.“ „Wie das?“ „Du wirst in der Wohnung von Maxime Grehant erwartet.“ „Grehant! Das ist ein Witz, oder?“ „Oh nein! Hier herrschen Hektik und Durcheinander. Es ist ernst, Serge. Ich sende dir die Adresse.“ Mein Vater kletterte wütend zurück nach vorne. Ich verstand nicht was los war, aber eines war mir klar: Dass die vier Urlaubstage mit meinem Vater nun auch noch geplatzt waren. Ich würde wieder einmal alleine in die Bretagne müssen. „Maxime Grehant“, sagte ich, „ist doch der…“
„Genau der!“, antwortete mein Vater mit gepresster Stimme. „Der Maxime Grehant. Möglicherweise unser zukünftiger französischer Präsident.“ „Und Dinard?“ „Vergiss Dinard. Alarmstufe Rot, Goran. Es tut mir wirklich leid, aber wir müssen umkehren.“ „Wir?“ „Ich hab leider keine Zeit mehr, dich dort abzusetzen.“ Ich musste lächeln. Ich liebe die Bretagne, ich liebe meine Großeltern – trotz ihres altmodischen Musikgeschmacks – und selbst wenn ich nun dazu gezwungen sein sollte, in Paris zu bleiben, so wollte ich doch vor allem eines: mit meinem Vater zusammen sein. „Würdest du bitte in Dinard anrufen, um dort Bescheid zu sagen“, bat mich mein Vater. „Um diese Zeit dürften sie wohl noch nicht im Restaurant sein.“ „Ist das Gerät nicht eigentlich nur für dienstliche Anrufe?“ „War ich nicht eigentlich auf dem Weg in den Urlaub?“ Papa war zur manuellen Steuerung zurückgekehrt und nahm die nächste Ausfahrt. Bei Oma und Opa war der Anrufbeantworter dran: „Sie sind bei Claire und Benjamin Poiret. Hinterlassen Sie uns eine Nachricht nach dem Signalton, oder versuchen Sie uns im Restaurant Moulinet unter folgender Nummer zu erreichen…“
Eine Dreiviertelstunde später hielten wir in der Avenue Foche vor dem Haus Nummer 52. Genau in dem Moment begann es zu regnen. „Warte im Auto auf mich. Es sollte nicht lange dauern.“ Mein Vater lief zur Tür des Mehrfamilienhauses, entkam den vom dreckig gelben Himmel fallenden Wassermassen aber nicht.
Wie immer in der Regensaison war der Schauer eine halbe Stunde später genauso plötzlich wieder zu Ende wie er begonnen hatte, und der Asphalt trocknete schnell. Ich hatte die Funksender inzwischen fünf Mal durchlaufen lassen und konnte nicht mehr stillsitzen. Also stieg ich aus und ging auf den Posten zu, der vor dem Wohnhaus Wache schob. „Ich bin der Sohn des Kriminalbeamten Poiret. Er hat sich eben über das Funkgerät im Auto gemeldet. Er will, dass ich zu ihm komme.“ Der Posten ließ mich problemlos passieren. Im dritten Stock fand ich schließlich eine angelehnte Tür. Auf Zehenspitzen ging ich in das luxuriöse Appartement. Ärzte und Polizisten in Uniform und Zivil wuselten umher. Sie waren so beschäftigt, dass niemand Notiz von mir nahm. Norah sah ich in einem Büro telefonieren. Ich schlich durch den Flur. An seinem Ende stand eine Tür weit offen. Je näher ich kam, desto deutlicher unterschied ich zwei Männerstimmen. Die eine war die meines Vaters und auch die Stimme des anderen erkannte ich schnell, so oft hatte ich sie im Fernsehen gehört: Maxime Grehant, der bekannte Politiker. „Mel ist vergangene Woche sechzehn geworden“, sagte er zu meinem Vater. „Natürlich war ich wieder mal am anderen Ende der Welt! Sie hat es mir sehr übel genommen, dass ich an ihrem Geburtstag nicht hier war… Melanie findet sich nur schwer mit dem Tod ihrer Mutter ab.“ „Ihre Gattin ist vor zwei Jahren gestorben, stimmt das?“, fragte mein Vater. Die Antwort hörte ich nicht mehr, denn eine hinter der offenen Tür auf dem Bett liegende Silhouette fesselte meine ganze Aufmerksamkeit. Blass, schlank und schön. Inmitten eines weißen Lichthofs, erleuchtet von einem Strahl, in dem Millionen Staubteilchen wie mikroskopische Glühwürmchen tanzten. Melanie, Mel.
Wie in einem Traum. In meinem Traum. Die plötzliche Offenbarung des Sinns, den ich für mein Leben gesucht hatte?
2 Serge – 07/04
Das letzte Mal, als ich es geschafft habe, mit meinem Sohn in die Ferien zu fahren, da war ich, glaube ich, sogar noch verheiratet. Seitdem hindert mich jedes Mal irgendetwas daran: ein besetztes Haus in Prag, das ein neuartiges Dreckszeug leer gefegt hat, eine Dealerbande in Stockholm, die ihre Bankangelegenheiten mit Sprengstoff regelt, eine knifflige Überwachung in Chartres… Doch nie war etwas so dringlich wie heute.
Maxime Grehant sah mich mit finsterer Mine an, um mir klar zu machen, dass ich schnellstens Erklärungen finden musste. „Ja, Monsieur Poiret, meine Frau starb vor zwei Jahren bei einem Autounfall, aber ich verstehe nicht, warum Sie das interessiert.“ Maxime Grehant, der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Europäischen Parlament, Präsident der Internationalen Waffenstillstandskommission zur Beilegung innerstädtischer Konflikte in Amerika und Träger all der anderen Titel, die ich vergessen habe, ist kein höflicher Typ. Man hat keine Zeit freundlich zu sein, wenn man für das Amt des französischen Präsidenten kandidiert, der letzten Station auf dem Weg zur Präsidentschaft der Europäischen Föderation. Dabei ist es sein eigener Wunsch gewesen, dass ich mich um die Angelegenheit kümmere. Zweifellos weil ich der Erfolgreichste in meiner Abteilung bin. Ich mache meine Arbeit einfach so gut wie möglich. Und weil der von seiner Umgebung „Herr Präsident“
genannte zwar Wunsch sagt, aber Befehl meint, haben meine Vorgesetzten nicht eine Sekunde gezögert, mich aus meinem Urlaub zurückzupfeifen. „Ihre Tochter ist die meiste Zeit allein?“ Anstatt einer Antwort traf mich ein weiterer finsterer Blick. Doch das genügte mir. Natürlich verbrachte seine Tochter Melanie die Tage allein. Oder jedenfalls ohne ihn. Keine Mutter mehr, der Vater abwesend, und zuviel Geld: leider die klassische Kombination in meinem Metier. Ohne zynisch sein zu wollen: Die Kleine langweilte sich in ihrem Luxusleben zu Tode. Nur dass sie noch nicht tot war. Eine Überdosis, aber nicht tot. Sie lag dort auf ihrem Bett. Übrigens recht niedlich, das Mädchen. Ein hübsches „Dornröschen“, für meinen Geschmack nur ein wenig zu prominent. Und doch war sie ein Opfer wie alle anderen, wie sie mir zu oft begegnen. Und kaum älter als Goran. Meine Kollegin Norah kümmerte sich bereits um die Transferformalitäten. Wir hatten ein Mädchen im Koma und es mussten umfassende Untersuchungen angestellt werden, eine ständige medizinische Betreuung war nötig, vorzugsweise isoliert. Angesichts der Identität des Vaters war all das nicht schwer zu erreichen. Ich hatte gerade unseren Gerichtsmediziner einen Jet-Injektor aufsammeln lassen, als Grehants schneidende Stimme mich herumfahren ließ. „Wer ist das denn?“ Er schaute in Richtung Zimmertür, und ich tat es ihm nach. Goran! Goran stand da! Ich hatte keine Zeit, mich zu fragen, wie er es geschafft hatte, in Grehants Appartement zu schlüpfen. Grehant war wütend. Während ich ziemlich hilflos die Geschichte mit der misslungenen Ferienfahrt hervorstieß,
bedeutete ich Norah, Goran zum Auto zurückzubringen und bei ihm zu bleiben, bis ich kam. Nachdem ich Grehant beruhigt und ihm versichert hatte, dass ich dem Fall meine volle Aufmerksamkeit widmen würde, fuhren Norah, Goran und ich zu uns. Eine Weile folgten wir wortlos dem Rettungswagen, der Melanie und ihren Vater mitgenommen hatte. Dann bogen wir ab. Ich werde die Kleine morgen sehen. Doch wenn das, was ich vermute, sie in diesen Zustand versetzt hat, dann kann sie nicht in Paris bleiben. Norah versuchte erfolglos, ein Gespräch in Gang zu bringen. Obwohl ich Goran nicht zur Rede gestellt hatte, machte er den ganzen Rückweg lang den Mund nicht auf. Er wirkte abwesend. Ich habe immer versucht, meinen Sohn vor dem zu schützen, was mein Beruf mir Widerwärtiges auf dieser Welt zeigt. Deswegen war ich tief betrübt, dass ich ihn diesmal nicht vor dem Anblick eines Kindes, das blass wie der Tod auf seinem Bett lag, hatte bewahren können. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, indem ich ihm versicherte, dass Melanie nicht tot sei, und dass es gelingen würde, sie da wieder raus zu holen. Doch ich glaube, er hat mir nicht zugehört. Schweren Herzens setzte ich ihn einige Minuten später zu Hause ab und fuhr mit Norah weiter in Richtung Hauptkommissariat. Mitfühlend redete sie mir zu, Goran käme darüber hinweg, er sei stark. Gewiss, mein Junge ist stark. Seit seine Mutter uns verlassen hat, ist er nicht ein Mal zusammengebrochen, hat keine Dummheiten gemacht. Ein paar schwierige Momente gabs vielleicht, doch das waren Kleinigkeiten, wenn ich an so manche Fünfzehnjährige denke, die ich kenne. Ich meinerseits versuche, so oft wie möglich mit Goran zusammen zu sein, trotz meines verrückten Jobs. Doch jetzt, mit Fräulein Melanie Grehant am Hals und ihrem Vater im Nacken, bin ich mir nicht sicher, wann ich wieder darauf hoffen kann, Zeit für meinen Sohn zu finden.
Inzwischen sitze ich hier in meinem Büro. Norah ist zu sich nach Hause gefahren, nachdem sie alle verfügbaren Akten durchgesehen hat. Eins ist sicher: Was Melanie ins Koma hat fallen lassen, war weder PulpX noch Thrills. Bei ihnen ist es meistens eine Reise ohne Rückkehr: kein Koma, nur endgültiges Dunkel. Also ist es etwas anderes, ich habe das schon vermutet. Dies Andere, von dem man schon seit einigen Wochen hört, wird jetzt bei der Polizei sicher höchste Priorität bekommen. Jetzt, da die Tochter eines großen Bonzen betroffen ist. Nach Norahs Recherchen hat es bereits ein Dutzend ähnlicher Fälle gegeben. Offiziell! In Wirklichkeit gibt es sicher noch mehr. Natürlich muss man die Laborergebnisse abwarten… Es ist spät. Ich bin müde und ein wenig deprimiert. Ich denke an meinen Goran, der zu Hause allein ist. Schläft er vielleicht schon? Oder – wahrscheinlicher – zappt er seine Sorgen weg? Ich werde heute Nacht nichts Neues herausbekommen. Ich werde heimfahren. Draußen erhellen Tausende Lichter die Wohnblocks. Die Menschen in der Stadt sind immer noch geschäftig, amüsieren sich, gehen spazieren. Es wäre wunderbar, wenn ich schon morgen ein Mittel fände, um „Dornröschen“ aus ihrem künstlichen Schlaf zu holen. Aber ich fürchte, der Kuss eines Märchenprinzen wird nicht ausreichen.
3 Goran – 10/04
Zum ersten Mal verbringe ich die Ferien allein in Paris. Papa taucht ab und zu kurz auf, aber er ist von der Grehant-Sache völlig mit Beschlag belegt. Er kommt selten vor Mitternacht nach Hause und muss oft schon los, wenn ich noch schlafe. Tagsüber kommt Madame Bin Son für die Hausarbeit und um mir beim Essenmachen zu helfen. Ich mag sie sehr, auch wenn ich momentan lieber allein wäre. Abends arbeitet sie in einem kleinen Restaurant unten im Haus, und seit drei Jahren hilft sie uns im Haushalt. Seit Mama fort ist und wir in die Avenue des Gobelins gezogen sind, mitten ins Chinesenviertel. Gerade habe ich das Ha Kao∗ gegessen, das sie mir heraufgebracht hat. Es war lecker, obwohl ich es nicht einmal warm gemacht habe. Seit vier Tagen habe ich zu nichts mehr Lust. Ich drehe mich im Kreis, ich suche erfolglos nach einem Inhalt für meine Tage. Die Sonne, der Regen, die Leute, die mit mir sprechen… alles scheint mir weit weg und fremd. Papa hat versucht mich zu überreden, trotz allem nach Dinard zu fahren, aber ich wollte nicht. Ich glaube, ich hätte es nicht ausgehalten, am herrlichen Meer zu stehen. Ich wäre in den Tiefen des Abgrunds versunken, der sich in mir aufgetan hat, seit ich Mel gesehen habe. Das Bild ihres so blassen Gesichts geistert durch jeden meiner Gedanken. Das Bild ihres im Licht ausgestreckten Körpers macht jede Sekunde bitter, die sich eine nach der ∗
weiße, (z.B. mit Krabben) gefüllte Teigtaschen
anderen wie Stunden hinziehen. Als hätte ich Fieber, eine unbekannte Krankheit, die meinen Körper belastet, mir weh tut und gleichzeitig meine Sinne schmerzlich schärft. Ist das Liebe? Das, wovon alle Welt spricht, und was ich so ungeduldig kennen lernen wollte? Ich dachte, es wäre schön. Auch heute habe ich nichts anderes getan, als fernzusehen. Dabei ist sehen ein viel zu großes Wort! Sagen wir lieber, ich habe den ganzen Tag damit verbracht, auf dem Sofa gegenüber der Screenwand rumzuliegen, mit dem Daumen ständig auf der Fernbedienung. Nichts konnte meine Aufmerksamkeit wirklich fesseln. Nicht einmal der Anblick meiner Mutter, die eine Werbesendung moderierte. Ich mag ihre neue Frisur genauso wenig wie ihre neue Nase. Und auch die blauen Augen stehen ihr überhaupt nicht. In unserer Familie haben alle braune Augen, was ist schlecht daran? Vorher gefiel sie mir besser, als sie nur meine Mutter war, und kein Fernsehstar. Wie gewöhnlich bin ich bei RIP TV und seinen Nachruf-Clips hängen geblieben. Dieser Sender ist so schlecht, dass er schon wieder gut ist. Wie können die Leute nur dafür zahlen, dass man Fotomontagen ihrer Toten, ihre Hochzeits- oder Tauffilme zeigt? Oft verlangen sie, dass das Lieblingslied des Verstorbenen im Hintergrund läuft, oder ein Gedicht, gelesen von einem seiner Kinder. Die Reicheren können sich eine Direktübertragung des Begräbnisses oder eine Teilnahme an der Talkshow Life goes on leisten, wo sie über den oder die Verstorbene reden. Und dann gibt es da noch den Slogan in den Werbeunterbrechungen: Have a great obituary with Rest In Peace TV∗. Kaum zu glauben, dass dieser Scheiß zu den zehn zuschauerstärksten von zweihundertfünfundsiebzig Sendern gehört! Aber weit hinter Euro Live, meinem Lieblingssender. Auch heute Abend habe ich ihn eine Stunde lang geschaut, ohne zu ∗
Der beste Nachruf auf Ruhe In Frieden TV.
zappen. Ich sehe diese Live-Bilder der Überwachungskameras aus den großen europäischen Städten sehr gerne. Das ist die Wirklichkeit, da kann immer etwas passieren. Einmal zeigten sie Bilder aus Italien, von Mailands Vorstadtstraßen. Plötzlich scherte ein Auto aus. Von einem Augenblick zum anderen waren zehn Autos ineinander verkeilt, Rauch, Glassplitter überall. Ich bin damals vom Sofa hochgeschreckt, mein Herz raste mit hundert Stundenkilometern. Das passierte im gleichen Augenblick in Italien, und ich erlebte es mit, als wäre ich dort, live im Fernsehen. Heute Abend haben sie Bilder von den sozialen Brennpunkten in München gezeigt, da ist aber nichts passiert. Der Kommentator kündigte an, dass sie gleich nach Marseille umschalten würden, wo soeben ein bewaffneter Überfall stattgefunden hat. Von einer Sekunde auf die andere war ich von München weg und in einem Supermarkt, wo drei maskierte Typen mit Waffen in den Händen die Leute an der Hauptkasse bedrohten. Eine Minute später zeigten Hubschrauberaufnahmen, wie die Polizei das Gebiet abriegelte. Das war besser als irgendein Film, denn es passierte echt und wurde direkt übertragen. Zwanzig Minuten später stürmte die Polizei den Laden, gleich nach der Werbung. Zwei der Räuber wurden erschossen, der dritte festgenommen. Als die Eingreiftruppe in die Gruppe feuerte, hat der Kommentator so geschrien, dass er anschließend kaum noch einen Ton herausbrachte. Aber heute beeindruckte mich das genauso wenig wie eine alte isländische Sitcom. Ich zappte weiter und stieß schließlich auf etwas, das mich doch noch auf die Füße brachte: Maxime Grehant mitten in einer Wahlkampfrede. Im Hintergrund sah man die europäische und die französische Flagge, davor Bilder von Jugendlichen in besetzten Häusern, in
Tränen aufgelöste Eltern, Kinder in Krankenhäusern, Einblendungen aus Leichenhäusern, dazu trug Grehant seine Rede wie ein großer Schauspieler vor: „Jeden Tag erliegen Jugendliche neu der Versuchung. Dies ist die Folge von fünfundzwanzig Jahren Nachsicht, den Leuten nach dem Mund reden und Schwäche. Dies ist der Preis, den wir für die schändliche Nachsichtigkeit von Hampelmännern zahlen müssen, die nacheinander an der Spitze dieses Landes standen. Es ist höchste Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen. Es ist Zeit, die Macht einem Mann zu geben, der Ihr Vertrauen verdient, einem Mann, der sich energisch durchsetzt! Die Dealer stehen vor unserer Tür, vor Ihren Türen! Jeden Tag tauchen neue Drogen auf, noch verführerischer, noch härter, noch gefährlicher, noch tödlicher. Machen Sie nicht den Fehler zu denken, dass es nur die anderen trifft. Es geht hier um Ihre Kinder!“ Ich hörte ihm zu und sah wieder Mel vor mir, auf ihrem Bett, bewusstlos und wunderschön. Das Klingeln des Telefons riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich aktivierte mit der Fernbedienung das Telefon und vor Grehants Gesicht erschien in einer Ecke Peri. Ich nahm das Gespräch an und das lächelnde Gesicht meines Freundes erschien im Vollbildmodus an der Screenwand. „Na, was machst du denn zu Hause?“ „Wir sind am Ende doch nicht in die Bretagne gefahren.“ „Ich weiß, ich habe versucht, dich dort anzurufen, und mit deinem Großvater gesprochen. Was ist los?“ „Vaters Arbeit.“ „Und du bist schon die ganze Zeit allein in Paris und rufst mich nicht an?“ „Jaaa… Ich war… Ich musste nachdenken.“ „Worüber?“ „Nichts Besonderes. Ich wollte nur allein sein.“
„Na toll! Sag’s einfach, wenn ich dich störe!“ „Aber nein… Ich bin sogar ganz froh, dass du anrufst.“ „Sehen wir uns dieses Wochenende?!“ „Ähm… Ja! Warum nicht!“ Ich hatte plötzlich echt Lust, Peri zu treffen und ihm von Mel zu erzählen. Wozu sind Freunde sonst da? Zumal Peri in dieser Kategorie wirklich der Beste ist.
4 Serge – 11/04
Ich habe das Gefühl, das mir alles über den Kopf wächst. Ich sitze hier in einem Hotelzimmer in Berlin und denke an meine Unterhaltung mit Goran. Eine Unterhaltung, in der ich mich hätte schlauer verhalten sollen. Jedenfalls weniger distanziert… Ich weiß nicht… Ich habe einfach zu viel am Hals. Nach drei Stunden Bahnfahrt bin ich heute in Berlin angekommen. Die Zeit unterwegs reichte gerade, um mit Norah Zwischenbilanz zu ziehen. Die deutschen Drogenfahnder hatten uns heute früh angerufen: Sie haben in einem besetzten Haus sechs Jugendliche, alle um die Zwanzig, im Koma gefunden. Natürlich haben Norah und ich die Gelegenheit genutzt. Wieder dieses neue Zeug. Und gleich sechs auf ein Mal. Bis sich der Inter Federal Express dem Neu-Anhalter Bahnhof näherte, dem riesigen internationalen Bahnhof in der westlichen Vorstadt der deutschen Hauptstadt, hatten wir genug Zeit darüber nachzudenken, was wir die Kollegen fragen wollten. Wir wurden vom Leiter der deutschen Drogenfahndung empfangen, einem jovialen Koloss. Er begrüßte uns wie alte Freunde. Ich habe wirklich schon mit ihm gearbeitet, mich aber immer bemüht den Warsteiner-Fall zu vergessen, so schlimm ist das gewesen. Nach einem kurzen Stopp vor dem mitten im neuen Verwaltungs- und Finanz-Berlin gelegenen Hotel, haben wir uns direkt zum Hauptkommissariat begeben. Dort zeigte man
uns die Jet-Injektoren und anderen Kram, der im Haus gefunden worden war. Nichts wirklich Neues eigentlich. Dinge vom Sperrmüll. Die Opfer, vier Jungen und zwei Mädchen, hatten von kleineren Geschäften gelebt. Soweit unsere deutschen Kollegen wissen, hat die Bande vor ein paar Tagen einen großen Coup gelandet. Doch das eingenommene Geld haben sie sofort wieder ausgegeben, zweifellos für das, was ihnen diese Hinfahrt in die Welt der Träume ermöglicht hat. „Angesichts der Knete, die sie auf den Kopf gehauen haben, muss das Zeug sehr teuer sein“, meinte Norah zu mir. Unsere Gegenüber diskutierten derweil auf Deutsch miteinander, wechselten aber schnell wieder ins Englische: „Es ist nicht das erste Mal, dass sie so ein Tauschgeschäft gemacht haben“, erklärte mir der Koloss mit zynischem Grinsen. „Tatsächlich beobachten wir sie schon eine Zeit lang gemeinsam mit der Kripo.“ Einbrüche, illegaler Datenraub von Cybercafés aus, alles um schnell ans große Geld zu kommen und um es sofort wieder auszugeben. „In letzter Zeit hat sich die Frequenz ihrer kriminellen Aktivitäten erhöht“, setzte der Deutsche fort. „Sie waren mehr und mehr auf Entzug“, kommentierte ich. Wir haben es also wirklich mit einer klassischen Droge zu tun, die abhängig macht. Der einzige Unterschied ist diese Überdosis in Form eines Komas. Die Opfer zeigen alle die gleichen Symptome: Die Vitalfunktionen sind intakt, aber sie müssen künstlich beatmet und ernährt werden, und die Hirnstromkurven bleiben hoffnungslos platt. Die Körper sind da, aber der Geist ist abgetaucht. Wir verbrachten den Rest des Tages damit, Indizien abzuklopfen. Ohne ein echtes Ergebnis. Die Deutschen versprachen, die Hehler zu ermitteln, die mit der Bande in Kontakt standen. Und sie luden uns zum Abendessen ein.
Wir aßen in einer sympathischen Bierstube zu Abend, am Fuß eines riesigen Hochhauses aus Glas und Stahl in der Innenstadt. Trotz des hervorragenden Biers war ich in Gedanken woanders. Ich wollte ins Hotel zurück, um meinen Sohn anzurufen. Das konnte ich erst am späten Abend. Norah ist nach dem Essen nach Paris zurückgefahren. Sie wird dort alle Informationen aus Berlin mit unseren eigenen Dossiers abgleichen. Die Arme. Dieser Fall beginnt gerade erst, aber die Belastung setzt ihr schon zu. Sie ist sichtlich erschöpft. Ich muss daran denken, ihr bald zwei oder drei Tage freizugeben, damit sie verschnaufen kann. Vorhin habe ich dann über das VisioNet in meinem Zimmer zu Hause angerufen. „Goran? Ich bin’s, Papa. Alles klar?“ „Ja…“ Er sah zwar nicht so aus, als wäre alles klar, doch ich wollte nicht insistieren. „Ist Madame Bin Son dagewesen?“ „Keine Bange, ja…“ „Ich komme sobald ich kann zurück, weißt du, aber hier…“ „Ja, ja, Norah hat’s mir erzählt…“ Die gute Norah. Sie hat Goran vom Zug aus angerufen, sogar ohne dass ich sie darum gebeten habe. „Hör zu, Großer, ich habe mir überlegt… Es wäre vielleicht besser, wenn du für ein paar Tage zu deiner Mutter…“ Ich wusste, was er antworten würde, aber ich musste es dennoch versuchen. „Kommt nicht in Frage!“ „Goran…“ „Paps, spinn nicht rum! Sie hat ganz sicher keine Zeit für mich!… Und dann, ich in Stockholm, da ist’s stinklangweilig…“
„So kannst du das nicht sagen. Du weißt, dass du ihr sehr wichtig bist…“ Ich wusste genau, dass das Gegenteil der Fall war. Der Richter übrigens auch. Ansonsten hätte er mir nie das Sorgerecht für meinen Sohn zugesprochen, bei meinem bescheidenen Gehalt. Es ist nicht so, dass Goran Karina, meiner Exfrau, egal wäre. Nein, sie hat nur ständig Wichtigeres zu tun, als sich um ihn zu kümmern. Karriere ist ihr Zauberwort. „Außerdem“, fügte ich hinzu, „Pedro ist nett…“ Pedro, nett?! Manchmal wäre es wirklich besser, ich würde die Klappe halten!
5 Goran – 11/04
Warum halten Eltern uns ständig für doof? Was denkt mein Vater bloß? Dass ich der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen kann? Dass man mich beruhigen muss, indem man mir sagt, dass meine Mutter mich trotz allem liebt, dass sie an mich denkt? Oh nein, da ist mir die Wahrheit lieber. Pedro ist nicht nett. Er ist dumm, eingebildet, vulgär, egoistisch, und seinetwegen hat meine Mutter uns sitzen lassen. Wegen eines Werbespotregisseurs, wegen seines Geldes, seines Appartements mit Panoramapool mitten in Stockholm, seiner großen Karre, seinen Privatfeten, und vor allem für den Job als Fernsehstar, den er ihr auf dem Silbertablett serviert hat. Dazu die Aussicht auf einen kleinen Besuch in der Praxis von Europas teuerstem Schönheitschirurgen. Genau das hätte ich meinem Vater am liebsten entgegen geschleudert. Ich weiß nicht, wie lange ich mit meiner Wut im Bauch da saß, aber lange genug. Mein Vater schaute seltsam, dort ganz allein vorm VisioNet seines Hotelzimmers. Hinter ihm konnte ich Berlins Wolkenkratzer erkennen, die so oft als Filmkulisse dienen. Insbesondere der Turm des E. C. mit seiner EuropaCola-Flaschen-Form. Als ich den das letzte Mal gesehen habe, ist er am Schluss von Berlin under attack explodiert. Der neueste Blödsinn aus Eurollywood, mit Leonardo DiCaprio in der Rolle des Präsidenten der Europäischen Gemeinschaft. Er rettet die freie Welt, indem er das Steuer eines Militärjagdbombers übernimmt. Zum Verzweifeln. „Goran“, sagte mein Vater plötzlich. „Alles klar? Du sagst nichts mehr!“
„Geht schon… Kann Peri übers Wochenende zu mir kommen?“ „Peri? Ja, natürlich.“ „Wann kommst du nach Hause?“ „Montag Abend“, antwortete mein Vater. „Okay.“ Einen Augenblick lang blieb es still, dann: „Du fehlst mir, weißt du.“ „Du mir auch, Paps.“ „Ich rufe dich morgen wieder an.“ „Okay. Vergiss nicht, Peris Eltern eine Mail zu schreiben wegen des Wochenendes.“ „Das mache ich gleich.“ Wir beendeten das Gespräch. Und plötzlich fühlte ich mich sehr allein. Ich habe den Eindruck, dass es Papa in seinem Hotelzimmer genauso geht, und ich bin froh, dass ich schließlich doch nichts über meine Mutter und ihren Idioten Pedro gesagt habe. Mein Vater hat so schon genug Sorgen.
6 Goran – 13/04
Wenn ich das Wochenende mit Peri verbringe, sei es bei ihm oder bei mir, gehen wir normalerweise nicht nach draußen. Aber diesmal habe ich am Sonntagmorgen Lust gehabt, ein Stück spazieren zu gehen. Samstag haben wir uns mit Madame Bin Sons Leckerbissen und mit Filmen und Musik vollgestopft. Ich habe Peri am ICPro haushoch besiegt. Meine Mutter und Pedro hatten mir die VR-Helme der neuesten Generation zu Weihnachten geschenkt. (Manchmal hat es schon Vorteile, eine Mutter zu haben, die mit einem stinkreichen Idioten abhaut!) Ich hatte Lust auf frische Luft. Außerdem war noch keine Gelegenheit, mit Peri über das einzige Thema zu sprechen, das jedes meiner Neuronen beschäftigte. Es war also Sonntag, der autofreie Tag in Paris. Die Saison der Smogalarme naht. Deshalb blies der künstliche Wind sanft einen parfümierten Hauch durch die Straßen. Das Rauschen der Ventilatoren ersetzte angenehm das der Autos und der Himmel war fast blau. Es war warm, ich hatte Lust auf Grün, und so gingen wir in Richtung Jardin du Luxembourg. An der Avenue du Port-Royal hielt uns eine Personenkontrolle an. Es waren junge Frauen, denen wir unsere Aufenthaltsgenehmigungen für die Zone 3 zeigten. Sie wünschten uns mit solch strahlendem Lächeln einen schönen Vormittag, dass Peri bis zu den Haarwurzeln errötete. Als wir schließlich weitergehen konnten, stellte er mir endliche die Frage, auf die ich seit dem Vorabend gewartet hatte: „Woran arbeitet dein Vater zurzeit?“
Peri hat sich schon immer sehr für Papas Arbeit interessiert. Es fasziniert ihn, dass Papa Polizist ist, noch dazu bei der Drogenfahndung. Endlich der erhoffte Anlass, um von Mel zu erzählen. „Er hat ein Mädchen im Koma gefunden. Eine Überdosis, aber nicht tot. Eine merkwürdige Sache.“ Peri schaute ganz seltsam. Man hätte meinen können, diese Neuigkeit habe ihm einen Schlag versetzt. „Ich glaube, es handelt sich um eine neue Droge“, sagte ich weiter. „Hast du etwas darüber gehört?“ Peris Bruder Iannis besucht im dritten Jahr die Journalistenschule und bereitet seine Diplomarbeit zum Thema neue Kriminalität und Dealernetzwerke vor. Ich habe Peri mehrmals vorgeschlagen, Iannis – um ihm bei seinen Recherchen zu helfen – meinem Vater vorzustellen, aber er hat das immer abgelehnt. Iannis müsse alleine zurechtkommen, wenn er ein großer Reporter werden wolle. „Im Koma?“, wiederholte Peri mit seltsamer Stimme. „Ja. Ich habe sie gesehen. Ganz blass, wie tot lag sie da. Sie heißt Mel. Na ja… Melanie, aber man nennt sie Mel.“ „Und weiter?“ „Nichts. Ich darf dir nicht sagen, wer sie ist. Top secret.“ „Hör auf so ne Show abzuziehen! Los, wer ist sie?“ „Melanie Grehant. Die Tochter von…“ „Melanie Grehant?“ „Ja. Deswegen herrscht auf einmal Panik. Alarmstufe Rot für alle Einheiten in Europa.“ Peri runzelte die Stirn und wir gingen wortlos durch den Jardin du Luxembourg. Auf einer Bank saßen drei Mädchen vom Lycée. Sie rauchten heimlich, nutzten aus, dass die Sicherheitsleute sich am anderen Ende des Parks befanden. Als wir an ihnen vorbei kamen, habe ich den Bauch eingezogen. Dabei fiel mir ein, dass ich am Morgen vergessen hatte,
meinen Pillencocktail zu nehmen. Bei meiner Geburt ist nämlich meine genetische Veranlagung zu Übergewicht, Bluthochdruck und Kurzsichtigkeit festgestellt worden, und die wird seitdem von einer roten und einer blauen Kapsel täglich in Schach gehalten. In der Nähe des Teichs spielten Kinder mit ferngesteuerten Ekranoplanen, ein paar Leute mit Antismogfiltern unter der Nase liefen vorbei, andere saßen auf den öffentlichen Stühlen und lasen in aller Ruhe. Seit ich von den Ermittlungen erzählt hatte, war Peri mächtig nachdenklich. Ich war mir sicher, dass Iannis schon ähnliche Fälle erwähnt hatte, aber Peri ist immer sehr verschlossen, wenn es um seinen Bruder geht. Peri will immer gerne wissen, was mein Vater macht, doch er vertraut mir nie etwas über Iannis Recherchen an. Gewöhnlich ist mir das völlig egal. Aber das war bevor Mel in mein Leben getreten ist.
7 Serge – 14/04
Ich habe zumindest einen schönen Abend mit meinem Sohn verbracht.
Heute früh bin ich aus Berlin zurückgekommen. Sobald ich im Büro war, rief ich Goran an, denn ich telefoniere nicht gerne vom Zug aus, dort hat man keine Ruhe. Ich schlug Goran vor, heute Abend zusammen Essen zu gehen. Der Tag verging wie im Flug. Im Büro trugen wir in einer Besprechung alles zusammen, was wir zu dem Fall haben. Das ging leider schnell. Wir haben nur zwanzig Komafälle und zwei oder drei Tote, die wir wohl mit zu den Opfern zählen müssen, sobald die diversen Laborergebnisse in unseren PCs eingegangen sind. Hoffentlich setzt die Tatsache, dass die Tochter eines einflussreichen Politikers dieses Zeug konsumiert hat, genug Geld- und Personalmittel frei, um endlich einmal eine neue Droge gleich am Anfang unter Kontrolle zu bekommen, anstatt warten zu müssen, bis ihre Verbreitung unkontrollierbar geworden ist. Wir klagten gerade über die mageren Indizien, als Norah mir einen seltsamen Blick zuwarf und sagte: „Serge?“ „Was?“ Ich hob den Kopf und schaute sie an. Ihre großen schwarzen Augen sahen mich intensiv, fast besorgt an. „Weißt du, wegen all dem…“ „Ja…“
„Es gäbe da schon noch eine Möglichkeit…“ „Was für eine Möglichkeit?“ „… mehr darüber zu erfahren, Serge“, stieß sie sichtlich hin und her gerissen hervor. Ich erriet, worauf sie hinaus wollte. Gleich würde das Schreckgespenst aus dem Warsteiner-Fall seine grässliche Fratze zur Tür hereinstrecken. „Sprich weiter“, sagte ich in einem Tonfall, der das Gegenteil signalisierte. Sie senkte betreten den Kopf. „Sylvia…“ Da war es. Ich musste an mich halten, um nicht zu explodieren und antwortete schroff. „Nein. Wir brauchen sie nicht. Und ich will auch nichts mehr davon hören! Kapiert?“ Ich hätte noch einiges hinzufügen können, doch Norah verstand mich auch so. Wortlos tippte sie Buchstaben und Zeichen in den Rechner. Unser Schweigen war bleiern.
Abends schien alles vergessen. Doch ich fühlte mich immer noch jämmerlich, weil ich so heftig auf den Vorschlag meiner Kollegin reagiert hatte. Ich führte Norah und Goran in ihre Lieblings-Sushibar aus, bei uns zu Hause um die Ecke. Goran setzte sich zwischen uns, und wir redeten über Gott und die Welt. Anfangs kam mir mein Sohn etwas angespannt vor, aber dank Norahs Gegenwart hob sich seine Stimmung bald. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie zwölf Jahre jünger ist als ich, aber sie kommt viel besser mit Goran zurecht als ich. Manchmal könnte man meinen, sie wären Geschwister! Vor unserer Nase zogen auf dem Rollband des Tresens Kochbananen-Sushi und mariniertes Bisonfilet-Sushi vorbei
und verteidigten ihr Dasein gegen traditionelle Reispastetchen mit rohem Fisch. Da man die Teller stückweise bezahlen muss und sie wie bei Sushi üblich nicht gut gefüllt sind, wird es sich fatal auf meinen Kontostand auswirken, dass wir den ganzen Konvoi der kleinen Gerichte vernichtet haben. Doch ich fühlte mich zum ersten Mal seit Beginn des neuen Falls wieder wohl, und so wollte ich nicht wegen eines SushiExzesses herumnörgeln. Der Abend verging viel zu schnell. Als wir draußen auf dem Fußweg standen, war mir klar, dass Goran und Norah ihn noch nicht beenden wollten. Ich selbst war ziemlich k. o. Ein paar Meter weiter in der Avenue des Gobelins hatte vor kurzem ein angesagtes VR-Café eröffnet. Dort konnte man in Rollenspiele förmlich eintauchen. Es gab das Beste vom Besten auf dem Gebiet der VR. Norah liebte das, und mein Goran konnte es natürlich kaum erwarten, dort auch hinein zu kommen, aber für Minderjährige ohne Begleitung war es verboten. Aus Prinzip hielt ich erst dagegen. Aber nicht wirklich ernsthaft. Ihren Vorschlag hingegen, sie zu begleiten, habe ich abgelehnt, was ihnen übrigens keinen großen Kummer zu bereiten schien. Ich fürchte mich etwas vor diesem VR-Zeug. Die Vorstellung dafür zu bezahlen, dass man dem echten Leben für eine Weile entfliehen kann, erinnert mich einfach zu sehr an meine Arbeit. Sie mussten mir versprechen, die Zeit im Auge zu behalten, und ich blieb allein zurück.
Ich bemühe mich, nicht öfter als einmal pro Sekunde an den Namen zu denken, den Norah genannt hat. Sylvia. Heute Nacht werde ich wieder keinen Schlaf finden.
8 Goran – 21/04
Wenn keine Schule ist, gewöhnt man es sich schnell ab, morgens früh aufzustehen. Zwei Ferienwochen und die Maschinerie ist rostig.
Um 7 Uhr 30 kam ich schlaftrunken und wie im Blindflug in die Küche. „Ich habe auf dich gewartet“, sagte mein Vater und hob den Blick von der Kaffeetasse. „Was hab ich angestellt?“, antwortete ich, sofort in der Defensive. Mein Vater lächelte. „Nichts! Ich habe nur auf dich gewartet, damit wir zusammen frühstücken können.“ Ich kam mir blöd vor, weil ich so aggressiv reagiert hatte. Ich ließ mich auf einen Stuhl plumpsen und kratzte mich gähnend am Kopf. „Wir sehen uns zur Zeit nicht oft“, fuhr mein Vater fort. „Also habe ich mir gesagt, das Büro kann ruhig eine halbe Stunde länger warten.“ Ohne aufzustehen streckte ich mich Richtung Kühlschrank, holte den Orangensaft heraus und spülte mit einem Schluck davon meine rote und blaue Kapsel runter. „Da fällt mir ein, ich habe meine vergessen!“, entfuhr es meinem Vater. Er erhob sich, um seine Medikamentenschachtel aus dem Schrank zu holen.
Während ich ihm zusah, hatte ich wie immer ein ungutes Gefühl. Denn ohne diesen Cocktail, den er seit seinem zwanzigsten Geburtstag täglich einnimmt, wäre mein Vater wohl schon tot. Die zweiundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit eines Infarkts vor vierzig war auf einer simplen DNA-Sequenz aufgespürt worden. Ich wäre ohne meine Blauen und Roten übergewichtig und hätte Astigmatismus und Bluthochdruck! Diese genetische Früherkennung, die seit kurzem ab dem ersten Schwangerschaftsdrittel Pflicht ist, ist genauso wunderbar wie erschreckend. Manchmal verstehe ich die Gegner dieser Tests, allen voran meinen Großvater. Zumal die Pillen jetzt auch noch durch eine intrauterine DNA-Modifikation ersetzt worden sind! Opa, mit siebenundsechzig Jahren und 115 Kilo, hat nie in seinem Leben eine Pille genommen. Er ist der beste Beweis dafür, dass genetische Modifikationen nicht zwingend notwendig sind. Mit dem letzten Schluck Kaffee spülte mein Vater seine gelben Pillen runter. Dabei sah er nicht viel ausgeschlafener aus als ich. Ich weiß, dass er Schlafprobleme wegen seines Jobs hat. Ich ebenso. Je mehr Tage sich zwischen mich und Mels Anblick schieben, umso mehr beherrscht ihr Bild mein ganzes Denken. Es genügt, dass ich beim Einschlafen kurz an sie denke, und schon bin ich reif für zwei Stunden Tango mit meinem Kopfkissen. Seit langem habe ich mir nicht mehr die Zeit genommen, meinen Vater genau anzuschauen. Mir fiel auf, dass er auf einen Schlag mächtig alt geworden ist. Ich nehme an, dass er genau das gleiche über mich denkt, jetzt, wo ich ihn um gut fünf Zentimeter überrage! „Warum machst du diese Arbeit?“, fragte ich ihn. Papa schaute mich erstaunt an. „Was meinst du damit?“
„Du wirst schlecht bezahlt, du schläfst schlecht, und beschwerst dich, dass man dir nicht die Mittel zur Verfügung stellt, die du bräuchtest, um korrekt arbeiten zu können, du fühlst dich, als würdest du gegen Windmühlen kämpfen… Warum machst du also diesen Job?“ Papa lehnte sich zurück. Er überlegte und antwortete dann: „Irgendjemand muss ihn schließlich machen, oder?“ „Ist das alles?“ Insgeheim bin ich immer sehr stolz auf ihn gewesen. Im Stillen, denn gegenüber den Kumpels ist es nicht einfach, wenn man einen Vater hat, der Bundespolizist ist. Als ich noch klein war, sah ich in ihm eine Art Filmheld, einen, der für das Recht eintritt, der jeden Morgen aus dem Haus geht, um das Böse zu bekämpfen. Meine Mutter hingegen hat diesen Aspekt immer ausgeblendet und nur das miserable Gehalt, die ständigen Dienstreisen und den Abschaum der Welt gesehen, und das schlug ihr aufs Gemüt. „Man kann dieses Teufelszeug nicht im Umlauf lassen, ohne auch nur den kleinen Finger zu rühren!“, sagte mein Vater. „Ich behaupte nicht, dass ich die Welt besser mache, aber… zumindest tue ich, was ich kann, damit es nicht noch schlimmer wird!… Ich tue das auch für dich. Und für deine Kinder später.“ Ich nahm all meinen Mut zusammen, um endlich die Frage zu stellen, die mir seit Tagen auf der Zunge lag: „Und wie weit bist du in der Sache mit… der Tochter des Politikers?“ „Nicht weit. Wir tappen völlig im Dunkeln. Na ja, nicht ganz, wir kommen voran, aber nur langsam. Wir haben mehrere Fälle zusammengefasst und dabei gemerkt, dass der Stoff, der sie in diesen Zustand versetzt hat, schon seit einer Weile in Umlauf ist, aber…“ „Und sie? Ist sie…“ „… immer noch im Koma.“
„Im Krankenhaus?“, fragte ich. Meine Stimme klang unsicherer, als mir lieb war. „Ja, in Brüssel. Wir haben alle sich gleichenden Fälle an einen Ort zusammengelegt, unter intensiver medizinischer Überwachung. Aber wir wissen noch nicht, wie die Droge funktioniert. Im Labor haben sie in den Jet-Injektoren nichts gefunden. Auf den ersten Blick spritzen sie sich etwas völlig Harmloses in die Venen. Es ist echt ein Rätsel.“ Immer noch im Koma. In Brüssel. Die ersten konkreten Neuigkeiten von Mel seit zwei Wochen. Sie ließen mein Herz bis in den Schädel hinauf trommeln. Drei Stunden später schaffte ich es einfach nicht, in Geschichte der alten Jordan zuzuhören. Wir besprechen gerade die Erforschung des Weltalls im 20. Jahrhundert. Ein Thema, das ich in- und auswendig kenne. Es ist ein weiteres Lieblingsthema meines Großvaters, neben den genetischen Manipulationen und dem alten vergammelten Rap. Er regt sich darüber auf, dass wir seit dreißig Jahren kein Lebewesen mehr ins All geschickt haben. In seiner Jugend gab es Raumfähren, Raketen, Sonden zur Erkundung des Sonnensystems, den Traum von einer internationalen Raumstation im Orbit. Sein Vater hatte sogar die ersten Schritte eines Menschen auf dem Mond live im Fernsehen miterlebt! Als ich klein war, erzählte er mir ständig davon, wenn es um den Weltraum ging, war er nicht zu bremsen. Für ihn ist es ein Verbrechen gegen die Menschheit, dass die Regierung die Weltraumforschung völlig aufgegeben hat. Dafür gehört all das jetzt zum Lernstoff in der Zehnten, genau wie die ägyptischen Pyramiden oder der Zusammenbruch der Vereinigten Staaten von Amerika. Die ferne Stimme meiner Geschichtslehrerin lullte mich ein, und ich dachte an Mel, an das, was mein Vater mir anvertraut hatte, an Peris seltsames Verhalten im Jardin du Luxembourg, als ich auf das Thema zu sprechen gekommen war. Ich habe
seitdem öfter darüber nachgedacht, und ich bin sicher, dass er mir etwas verheimlicht. Etwas in Bezug auf seinen Bruder Iannis. Mein Gefühl sagt mir, dass ich mich an ihn wenden muss, um mehr über das zu erfahren, was Mel ins Koma gebracht hat. Ich unterbrach die Verbindung zu der Internetseite, mit der meine Klasse gerade arbeitete, und gab Iannis Paraschou in die Suchfunktion des Online-Adressbuchs ein. Ich kenne Iannis gut. Er ist acht Jahre älter als Peri und war immer nett zu mir. Er ist gleichzeitig sehr witzig und ein wenig Furcht einflößend. Er strahlt ein erstaunliches Selbstvertrauen aus. Eigentlich ist er ein Angeber. Aber gut, er liebt Peri, und das ist das Wichtigste. Das Adressbuch nennt mir sieben E-Mail-Adressen. Ich wähle die mit dem gleichen Provider wie Peris.
9 Serge – 23/04
Von Zeit zu Zeit sollte ich mal mehr als drei Stunden am Stück schlafen.
Norah ist gegen 19 Uhr gegangen, seitdem hocke ich alleine in diesem miesen Polizeiturm in Pureaux-Ouest und grübele vor mich hin. Mein Sohn ist zu Hause. Anstatt bei ihm zu sein und meine Zeit deprimiert vorm Fernseher totzuschlagen, hocke ich vor meinem PC und starre mit leerem Blick den funkelnden Beton- und Glasgiganten der Grande-Défense gegenüber an. Abgesehen von der Opferzahl kommt in dieser Ermittlung nichts voran! Seit meiner Rückkehr aus Deutschland sind drei neue Fälle dazu gekommen: ein völlig aus der Bahn Geworfener in einem dubiosen Hotel in Lissabon, eine Prostituierte in Sarajevo und der Agent einer Popgruppe, den man im Koma liegend in seiner Suite in Budapest gefunden hat. Die Popgruppe wird uns noch Probleme machen: Sie hat angedroht, Krach zu schlagen, was nicht gut für uns wäre. Wenn die Journalisten so richtig aufmerksam werden, müssen wir ihnen das Märchen erzählen, dass wir eine Spur hätten oder was weiß ich. Kurz, ihnen einen Knochen vorwerfen und derweil beten, dass sie nicht zufällig auf die Grehant-Tochter stoßen. Als ich von dem Musikagenten gehört habe, habe ich Brüssel angerufen, damit sie die Sicherheitsmaßnahmen rund um die Station verstärken, auf der die Komapatienten liegen.
Norah hat Recht. Und genau das macht mir Sorge. Möglicherweise werden wir noch eine ganze Weile im Trüben fischen, während die Opfer immer mehr werden, das „Gemüse“, wie die im Brüsseler Krankenhaus eingesetzten Kollegen sie so freundlich nennen. Ja, Norah sieht es richtig. Es gäbe da schon eine Lösung, eine Lösung, die mir seit einer Woche nicht mehr aus dem Kopf geht, und die einen Namen hat: Sylvia Corso, eine hoch qualifizierte Wissenschaftlerin, wahrscheinlich die beste auf ihrem Gebiet. Und ihr Gebiet sind unter anderem synthetische Drogen, die härtesten, die radikalsten, die, mit denen man das große Geld machen kann, das ganz große. Die wunderschöne, brillante Sylvia Corso hätte sicher eine Idee zu dem Problem. In der Tat, wenn jemand weiß, was dieses neue Zeug ist und woher es kommt, dann ist sie es. Da ist nur ein kleines Detail, das stört: Sylvia Corso ist verrückt. Es kommt nicht in Frage, dass ich noch mal mit ihr zusammenarbeite! Lieber sterbe ich! Als ich das letzte Mal den Fehler gemacht habe, mich auf sie einzulassen, brauchte ich ein ganzes Jahr, um die Scherben einzusammeln und wieder zusammenzukleben. Seitdem arbeite ich mit Norah. Seit dem Warsteiner-Fall, als der Typ, zu dem Sylvia uns geführt hatte, drei meiner Kollegen erschossen und einen vierten zum Rollstuhlfahren verdammt hat. Warsteiner habe ich ins Leichenhaus geschickt. Sylvia ist mir an dem Tag entwischt. Doch ein wenig später ist sie von den Russen geschnappt worden, die wegen einer anderen Geschichte, auch in Verbindung mit Warsteiner, hinter ihr her waren. Das ist Sylvia Corso. Diese Schlange hatte immer mehrere Eisen im Feuer. Jetzt vermodert sie in der Dunkelheit einer finsteren Festung. Ich hoffe sie hat dort die Zeit, über all ihre miesen Manipulationen nachzudenken!
Dennoch hat Norah Recht, verdammt Recht. Nur die in ihrer Zelle kaltgestellte Sylvia könnte mir helfen, das Rätsel um diesen Scheißdreck zu lösen, der seine Opfer ins Koma schickt, ohne dass wir auch nur ahnen wie. Dafür müsste ich nur die Russen kontaktieren und mich nach Kaliningrad begeben. Ein kurzer Besuch in der Festung, ich treffe Sylvia, stelle ihr meine kleinen Fragen und komme schnurstracks in die Zivilisation zurück. Ganz einfach…
Nie im Leben! Niemals werde ich mich mit dieser Teufelin in ihrem Verlies treffen, um sie um Hilfe zu bitten! Eher krepiere ich!
10 Serge – 26/04
Festgeschnallt sitze ich auf meinem Platz im Passagierabteil der Orlyonok-3, beiße die Zähne zusammen und sehne mich nach der Landung. Hätte man mir früher gesagt, dass ich mich je an Bord einer dieser Maschinen wiederfinden würde, mit 400 Stundenkilometern knapp zehn Meter über der Oberfläche der Ostsee, ich hätte sicherlich nur gelacht. Doch im Moment habe ich nicht die geringste Lust zu lachen. Denn mit einem Aufbrüllen seiner leistungsstarken Düsen wendet die Orlyonok-3 soeben heftig über ihre rechte Tragfläche, und ich habe das Vergnügen, die schiefergrauen Wellen nur wenige Meter unter uns wahrzunehmen. Die Orlyonok-3 ist ein Ekranoplan. Ein Monstrum, sowohl Flugzeug und Boot als auch keines von beiden. Eine russische Spezialität, die sehr praktisch ist, um im Landesinneren Seen oder die inzwischen völlig vom Ozean abgetrennten Reste des kaspischen, baltischen oder des Mittelmeeres zu überqueren. Schneller als ein Boot, wirtschaftlicher als ein Flugzeug ist sie in der Lage auf jeder einigermaßen ebenen Fläche zu landen, auf einem Strand, einer Autobahn, und bei schwerem Wetter kann sie sich Dutzende Meter über das Wasser erheben. Ein echtes kleines Wunderwerk. Ich hasse diese Maschinen. Sie stinken: eine grässliche Mischung aus Plastik, erhitztem Leder und Treibstoff. Sie machen einen Höllenlärm. Und vor allem schütteln sie einen schrecklich durch. Schon klar, ich bin nicht an Bord der Luxusversion! Nein, ich sitze im engen Passagierabteil einer Orlyonok der Militärpolizei aus
Kaliningrad. Also bezüglich des Komforts – Schwamm drüber. Keine Stewardessen, keine Erfrischungsgetränke, kein Knabberzeug. Nur zwei Riesen in grüner Uniform, mit rasierten Schädeln und genauso liebenswert wie die grauen Fluten der Ostsee. Dazu eine Handvoll leerer Sessel, die schwarzen Muschelschalen ähneln. Man gerade, dass keine Helmpflicht besteht! Dass ich diese Orlyonok nicht mag, liegt aber nicht in erster Linie daran, dass sie mich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, eine handbreit über dem eiskalten Meer schonungslos durchrüttelt. Nein, dass ich sie nicht mag, liegt daran, dass sie mich jede Sekunde der düsteren Insel Katorga ein Stück näher bringt. Und damit Sylvia. Katorga. Ich bin sicher, dass Goran sehr aufgeregt wäre, wenn er wüsste, dass ich nur noch wenige Kilometer von ihr entfernt bin. Als er ein kleiner Junge war, liebte er den Film Zuchthaus Katorga. Eine dämliche Geschichte um einen stolzen Helden, der zu Unrecht eingesperrt ist, und dem es schließlich gelingt zu fliehen. Gerechtigkeit siegt! Totaler Quatsch! Von Katorga kann man nicht fliehen. Soweit ich mich erinnere, wurde dieser Horror vor gut dreißig Jahren konstruiert. Anfangs war es eine Gasförderplattform oder etwas in dieser Art. Als sie stillgelegt wurde, hat ein russisches Unternehmen sie übernommen, das auf Sicherheit und Bewachung spezialisiert ist, eine dieser Strukturen, die nach Polizei riechen und schmecken, es aber nicht sind. Die fragliche Firma hat dann damit begonnen, die Räumlichkeiten an die Moskauer Behörden zu vermieten. Nach einem einfachen Prinzip: Die ehemalige Plattform ist in eine in den Fluten verankerte Festung verwandelt worden. Ein ideales Gefängnis, das ausschließlich per Ekranoplan erreichbar ist. Pech für mich. Einmal auf der künstlichen Insel eingeschlossen, bewacht von bis an die Zähne bewaffneten
Typen, von Kameras und Robotern, gibt es kein Entkommen mehr. Man kann nur noch seine Strafe absitzen. Soeben hat die Orlyonok-3 heftig umgeschwenkt. Ich bin sicher, dass der Pilot das absichtlich macht. Wir sind nicht mehr weit weg, und von meinem Platz aus ist schon die riesige Silhouette der mit Antennen und Radars gespickten Gefängnisfestung zu sehen. Wie ein Meeresungeheuer, an dessen dunklen Flanken die Gischt leckt, hebt sie sich vom apokalyptisch gelben Himmel ab. Katorga ist zum größten Teil russisch verwaltet, so wie die meisten Insassen Russen sind. Aber eben nicht nur. Das System erschien den verschiedensten Regierungen der Welt so verführerisch, dass zwischen der Europäischen und der Russischen Föderation eine Vereinbarung getroffen wurde. Gegen eine horrende Summe nehmen die Geschäftsleute, die diesen Drei-Sterne-Albtraum leiten, selbst die unbeliebtesten Zeitgenossen auf: hartgesottene Kriminelle, die als nicht resozialisierbar gelten, und deren Bewachung Europa lieber anderen anvertraut. Das ist kein schönes Arrangement, doch jeder scheint dabei auf seine Kosten zu kommen. Außer den Gefangenen, nehme ich an. Aber ich brauche nur an Sylvia zu denken, und sofort stört mich die Abscheulichkeit dieses Systems schon weniger. Die Triebwerke des Ekranoplan jaulen auf, er beginnt langsamer zu werden. Wurde man bisher schon tüchtig durchgerüttelt, so wird es nun unerträglich. Wenn dieses Monstrum nicht bald landet, gerät mir mein Magen noch außer Kontrolle. Katorga ragt inzwischen mehrere Dutzend Meter über uns auf und verdunkelt mit seinen finsteren Gräten die gelbliche Färbung des Abendhimmels. Die Orlyonok-3 hat auf der Wasseroberfläche aufgesetzt und wird gleich auf dem speziell für sie errichteten Betonstrand zum Stehen kommen. In einigen
Minuten werde ich aussteigen können. Der Gefängnisleitung ist mein Besuch natürlich angekündigt worden, und man hat mir versichert, dass alles für eine Unterredung mit Sylvia bereit ist. Alles ist bereit, nur ich nicht.
11 Goran – 26/04
Iannis Antwort ist endlich gekommen:
Mein Vater ist heute früh mal wieder nach ich weiß nicht wohin abgereist. Doch bei dem Gesicht, das er gemacht hat, ist es zweifellos ein Ort, an den er nicht gerne reist. Als ich vorhin Peri traf, habe ich ihm nur ungern verschwiegen, dass ich Kontakt zu seinem Bruder aufgenommen habe. Eigentlich sollten wir uns alles sagen, denn schließlich sind wir Blutsbrüder, Freunde fürs Leben. Ich fühle mich, als würde ich diesen Schwur brechen. Wegen eines Mädchens, das ich nur ein Mal gesehen habe, und von dem ich nichts weiß. Nach dem Kino erklärte ich ihm, dass ich den Abend nicht mit ihm verbringen kann, weil ich mit meiner Mutter, die gerade in Paris ist, zu Abend essen werde. Das war natürlich gelogen. Meine Mutter ist zwar wirklich in Paris, aber ich habe sie gestern Abend getroffen. Ein blöder
Abend. Wir zwei haben uns wirklich nichts mehr zu sagen. Ich hasse ihr neues Leben, ihren neuen Look, ihren neuen Job, ihren neuen Typen. Und sie kann es nicht lassen, schlecht über Papa zu reden. Wir haben uns ziemlich wütend getrennt. Ich bin mit einem miesen Gefühl im Bauch nach Hause zurück. Meine Mutter fehlt mir, aber nicht die Frau, zu der sie geworden ist. Nachdem ich mich vorm Kino von Peri getrennt hatte, rannte ich los, um nicht zu spät zu meiner Verabredung zu kommen. Madame Bin Son war bei uns. Ich begrüßte sie schnell und linkte mich um 16 Uhr 59 in das Forum ein. Um 17 Uhr tauchte Iannis Nick in der Liste auf. Ich schickte ihm eine erste Nachricht: > > >
Goran: Ferrylan Ich bin hier. Ferrylan: Goran Hey. Triff mich im Privatchat. Goran: Ferrylan OK
Zehn Sekunden später konnte unsere virtuelle Unterhaltung ohne Zeugen und in Echtzeit weitergehen. > Also Goran, was möchtest du wissen? Hast du von den Typen gehört, die Drogen genommen haben und dann ins Koma gefallen sind? > Ja. Warum interessiert dich das? Wie gesagt, für die Schule. > Ich glaube dir nicht. Perikles hätte mir davon erzählt. OK. Ich habe einen Freund, der eine Freundin im Koma hat. Ist das wirklich eine Droge, die das auslöst?
> Mehr oder weniger. Es ist eine Droge, aber sie ist anders als die anderen. Ihr Name? > Unwichtig. Es gibt mehrere. Warum fragst du nicht lieber deinen Vater anstatt mich? Mein Vater weiß nicht viel darüber. > Schon klar. Das fällt nicht wirklich in seinen Bereich. Es ist keine Droge im eigentlichen Sinn, eher eine Zugangsmöglichkeit zu einer besseren Welt. ??? > Diese Typen im Koma, denen geht es in Wirklichkeit sehr gut. Sie haben sich in eine Art Gruppe begeben, an einen paradiesischen Ort, wo man sich treffen kann. Ich verstehe gar nichts. > Es ist schwer zu erklären. Die, die diese Substanz nehmen, treffen sich dort. Es ist ein Ort, an dem man wirklich lebt, aber besser als hier. Das heißt, dass es diesen Leuten im Koma gut geht? > Ja. Sie sind nur anderswo. Und kann man sie treffen? > Darüber kann ich dir hier nichts erzählen. Interessiert dich das wirklich Ja. > Dann treffen wir uns in Nanterre. Am Riesenrad. Um 20 Uhr 30. Ich werde dort sein. Volltreffer! Ich war sicher gewesen, dass Iannis gut über diese Geschichte Bescheid wusste. Er war schon immer neugierig, immer einen Schritt voraus, wirkte skrupellos, wusste immer über alles Bescheid, was ein bisschen faul ist. Er ist wirklich sehr nett, aber auch seltsam. Mein Vater – ich weiß nicht
warum – mochte Iannis noch nie, während er Peri sehr gern hat. Um 20 Uhr kam ich mit der U-Bahn in Nanterre an. Es ist sicher zwei Jahre her, dass ich zum letzten Mal hier gewesen bin. Als ich klein war, kamen meine Eltern mindestens ein Mal im Monat mit mir her. Es ist ein faszinierender Ort: überall Lichter, Süßigkeitenbuden, Karussells, Musik, Videoleinwände, VR-Hallen… Der größte Vergnügungspark Europas, eine ganze Freizeitstadt, überspannt von seinem berühmten Sternenweg, einem Lichtstrahl, der zwischen dem Mont Valerien und dem höchsten Turm der Grande-Défense verläuft. Ein halbstündiger Spaziergang in den Lüften für nur fünfunddreißig Euro. Nanterre ist aber vor allem der letzte Ort, an dem man echte Fritten essen kann: echte Kartoffelstäbchen, die in heißes Öl getaucht werden. Die Europäische Hygieneüberwachungskommission strengt sich mächtig an, den Verkauf verbieten zu lassen, aber bisher hat das französische Parlament gut gegengehalten. So schlemmte ich auf dem Weg zum Riesenrad – es thront in über zweihundert Metern Höhe in der Luft – eine Maxi-Tüte, und verbrannte mir ohne jede Reue die Finger beim Genuss dieser einzigartigen Mischung aus Knusprigem, Fett und Salz. Iannis kam pünktlich. Wortlos zog er mich in ein Pendelflugzeug des Riesenrads. Nur einen tiefen Atemzug später standen wir in den Wolken und konnten den Park überblicken, Paris und die blinkenden Lichter seiner Vorstadt, soweit das Auge eben reicht. Es war mild und der nachmittägliche Regenschauer hatte den Himmel so weit gereinigt, dass man den Mond erahnen konnte, gelb und dreiviertel voll. Das ist in Paris selten, doch in Dinard kann man ihn von Opas Garten aus noch ganz genau erkennen. Manchmal im Winter, in kalten, trockenen Nächten, kann man sogar ein paar Sterne sehen.
„Also Goran“, legte Iannis los. „Was suchst du genau?“ „Auskünfte über…“ „Hör auf zu lügen. Du sprichst mit dem Richtigen, aber wenn du mir weiter nur Quatsch erzählst, dann hau ich ab.“ Er schaute mir direkt in die Augen, und ich hatte das Gefühl, mein Inneres würde sich mit einer feinen Raureifschicht überziehen. „Möchtest du dort jemanden treffen?“ „Ähm…“ „Es ist einfach und ungefährlich. Das könnte sogar die schönste Erfahrung deines Lebens werden.“ „Aber… Es ist eine Droge und…“ „Vergiss, was du über Drogen weißt. Das ist etwas anderes. Möchtest du sie Wiedersehen, diese ,Freundin deines Freunds’?“ Mir missfiel die Ironie, die jäh Iannis Stimme färbte. Aber, ja, ich wollte Mel Wiedersehen. Um jeden Preis. „Für dich, weil du ein Freund bist, macht das sechshundert Euro. Wenn du die Summe hast, kontaktierst du mich, und ich besorge dir eine Hin- und Rückreise ins Paradies. Aber Achtung: auch nur ein Wort zu deinem Vater über unsere Vereinbarung und ich stoppe sofort alles.“ Das Pendelflugzeug war wieder auf dem Boden angekommen, und Iannis verschwand, ohne noch etwas hinzuzufügen. Ich blieb für eine weitere Fahrt an Bord – wie unter Schock. Sechshundert Euro! Wie stellte er sich das vor, wie sollte ich an eine solche Summe kommen? Doch ich habe eben erfahren, dass Mel lebt, irgendwo, und dass Iannis mir helfen kann, sie zu treffen. Ist das nicht jeden Preis wert?
12 Serge – 24/04
Ich werde eine zweite Nacht in der kleinen, für Gäste reservierten Suite auf Katorga verbringen. Gestern Abend, kaum angekommen, wurde ich von Direktor Komarov und einem Trupp grün uniformierter Barbaren empfangen. Sie hielten riesige telemetrische Maschinengewehre in den Händen, trugen schusssichere Westen und anatomische Helme, die sie altgriechischen Fußsoldaten aus Plastik ähneln ließen, dazu Mikros, Zielerfassungssysteme mit integriertem Infrarot, schwere Antirutschstiefel und noch viel Schönes, das ich mir zu erwähnen spare. Schön wie in den Filmen, aber unendlich viel echter, und darum wirklich gefährlich. Zugegeben, einige der auf der Gefängnisinsel beherbergten Personen machen tatsächlich Angst, sind zweifelsfrei gefährlich, blutrünstig, tobsüchtig, besessen, krank. Und Sylvia befindet sich nicht zufällig hier unter ihnen. Ich folgte meiner Eskorte, deren martialischer Schritt von den Metallwänden der langen, aseptischen Gänge widerhallte, bis wir vor einer Reihe Eisengitter anhielten. Sie wurden von Frauen bewacht, die gerüstet und behelmt waren wie die Männer. Sie ließen Komarov und mich ein, während die Kerle auf der anderen Seite der Gitter zurückblieben. Der Hochsicherheitsbereich des Frauentrakts. Dort war Sylvia eingesperrt, seitdem es ihr gelungen war, eine Mitgefangene während eines Spaziergangs zu massakrieren. Ich habe nicht einmal versucht zu verstehen warum.
Als wir uns dem Befragungsraum näherten – auf Katorga gibt es keinen Besuchsraum – fühlte ich Schweiß meinen Rücken hinunter rinnen. Dies lag sowohl an der drückenden Atmosphäre des Ortes, als auch an der Begegnung, die ich fürchtete. Zumal ich mich noch nicht von der Überfahrt erholt hatte. Unsere Gruppe stoppte abrupt vor einer schweren, gepanzerten Tür, die von zwei bewaffneten Wächterinnen flankiert war. Sie unterhielten sich mit Komarov auf Russisch. Auf ein Zeichen von ihm betätigte eine der Frauen die automatische Türöffnung. Die Tür glitt quietschend zur Seite. Widerwillig trat ich ein. Sofort schloss sich die Tür hinter mir wieder. Ich befand mich in einem fensterlosen Raum, dessen Wände, Decke und Bodenbretter weiß gestrichen waren. In der Mitte stand ein schwarzer Tisch, dessen Beine am Boden befestigt waren, ein bequemer Sessel und… sagen wir, ein anderer Sessel, nun ja, eher ein Stuhl, erheblich weniger einladend. Er war sichtlich ungemütlich und hart, und verziert mit Festschnallgurten für Handgelenke und Knöchel. Dort saß Sylvia. Festgezurrt, unbeweglich, den Kopf gesenkt. Die Frau, die ich Jahre früher so sehr geliebt hatte, war kaum wiederzuerkennen. Ihre langen schwarzen Haare, auf die sie so stolz gewesen war, hatte man abgeschnitten, auf ein paar rebellische Löckchen reduziert. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. All die strengen Reden, die ich mir seit meiner Abreise aus Paris zurecht gelegt hatte, waren vergessen. Ich konnte nur ihren Vornamen murmeln: „Sylvia?“ Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war leichenblass. Eine feine, für mich neue Narbe, lief oben von ihrer linken Schläfe bis zur Mitte der Wange. Ihr rechter Wangenknochen war gezeichnet
von einem bösen Bluterguss und ihre Unterlippe blutete noch ein wenig. Hatte sie vielleicht keine Lust gehabt, einen Besucher zu sehen? Sie blickte mich lange mit ihren grünen Augen an. Einen kurzen Moment lang glaubte ich, dort ein amüsiertes Lachen aufblitzen zu sehen, dann erloschen ihre großen, tiefliegenden Augen. Sie senkte den Kopf und ich stand da wie ein Idiot. Eins war klar: Sie würde jetzt nicht mit mir reden. Nach einem ein wenig zu gut begossenen Abendessen im Appartement des braven Direktors lag ich den Rest der Nacht wach. Vielleicht wegen des Wodkas. Sicherlich wegen meiner Übermüdung und des brüllenden Windes über den zügellosen Wellen, die im Halbdunkel an Katorgas Flanken schlugen. Aber vor allem wegen Sylvias Augen, ihren müden Gesichtszügen und meinem dummen Schuldgefühl. Wie hatte ich sie in dieser Hölle dahinvegetieren lassen können? Doch das war gestern. Heute, gleich nach dem Aufstehen und trotz einer Migräne, die mein Gehirn zermarterte, bat ich darum, Sylvia wiederzusehen. Ich fühlte mich ihr gegenüber immer noch genauso schlecht im Hinblick auf das, was sie hier ertragen musste, aber ich war fest entschlossen, Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Nach einem schlechten Kaffee und den üblichen Formalitäten nahmen mich die Dienst habenden Amazonen abermals in ihre Mitte und brachten mich zum Hochsicherheitsbereich des Frauentrakts. Kaum dass ich den Befragungsraum betreten hatte, begriff ich, dass die Karten über Nacht neu verteilt worden waren. Sylvia war wieder auf ihrem armseligen Stuhl festgeschnallt, doch als sie bei meinem Eintreten den Kopf hob, war sie wie verwandelt. Zwar sah sie noch immer aus, als würde sie sich mit Knallfröschen frisieren, und das Gesicht war noch von der Narbe durchzogen und mit einem Bluterguss geschmückt, aber
ihr Blick war ein ganz anderer. Ihre großen grünen Augen funkelten stärker denn je. Lebendig, intensiv, gefährlich und betörend. Ich konnte es nicht fassen. „Willst du noch lange so stehen bleiben?“ Immer noch diese warme, spöttische Stimme. Diesmal stand ich vor der Sylvia, die ich kannte. Die Prüfungen, die sie durchgemacht hatte, schienen sie kaum verändert zu haben. Ich stotterte irgendeinen Blödsinn, ich weiß nicht mehr was, und setzte mich ihr gegenüber in den Sessel. „Es freut mich, dich zu sehen, Serge“, fuhr sie fort. Eine Weile sprach sie so weiter, fragte mich nach Neuigkeiten, wie es Goran ginge, ob ich immer noch in meinem kleinen Appartement in Paris lebte, und so fort. Ich schaffte es nicht, die Kontrolle über das Gespräch zu bekommen. Nachdem sie so eine gute halbe Stunde geplaudert hatte, meinte sie schließlich: „Und wenn du mir erklären würdest, was dich hierher führt? Ich weiß zwar, dass du das Meer liebst, aber dennoch…“ Und da ist mir endlich bewusst geworden, dass sie sich ganz offen über mich lustig machte, mit ihrem wundervollen, reizenden Lächeln und ihren Schalk blitzenden, smaragdgrünen Augen. „Ich will ein paar Dinge von dir wissen“, sagte ich so kühl wie möglich. „Ohne Witz? Willst du wissen, ob ich gut behandelt werde? Ob man hier Zimmer mit Meerblick für ein Jahr reservieren kann?“ Es fiel mir sehr schwer, nicht wütend zu werden. Das war etwas, das sie schon früher sehr gut beherrscht hatte: mich aufzuregen. Zu der Zeit, als sie noch für mich arbeitete. Nun ja, sagen wir lieber zu der Zeit, als sie sich meiner bediente, für ihre dreckigen kleinen Verschwörungen. Sie regte mich auf,
und sie faszinierte mich. So schön, so lebendig, so gefährlich. Wie ein dummer Nachtfalter hatte ich freudig meine Flügel an ihrem Licht verbrannt. Und in einem Befragungszimmer, in dem es im Grunde sie war, die die Fragen stellte, war ich drauf und dran, den gleichen Fehler zu wiederholen. Ich erzählte ihr von der neuen Droge, den Opfern im Koma, dem Fehlen toxischer Substanzen im Blut, behielt aber den Namen Grehant für mich. Da unterbrach sie mich und verschob die Fortsetzung unseres Gesprächs auf den Nachmittag. Ich wäre beinahe ausgeflippt, aber das hätte ihr zu viel Genugtuung bereitet. So musste ich mich noch ein paar Stunden gedulden, bis Madame in ihrer Zelle – die ich mir, um mich zu rächen, so widerwärtig wie irgend möglich vorstellte – ihr Mittagessen zu sich genommen hatte. Derweil gab sich Komarov alle Mühe, mich zufrieden zu stellen. Ich war wütend, das wusste er. Doch er konnte nichts dagegen tun. Ich ebenso wenig. Sylvia hatte die Zügel bereits fest in der Hand. Ich hätte niemals einen Fuß auf Katorga setzen dürfen! Am Nachmittag kehrte ich in den Befragungsraum zurück, in dem Sylvia auf mich wartete, noch verführerischer als am Morgen. Wie schaffte sie es nur, so anziehend zu wirken, denn eigentlich war sie doch unmöglich angezogen, in dieser schrecklichen, ausgewaschenen blauen Anstaltskleidung der Gefangenen des Hochsicherheitstrakts. „Serge, ich habe nachgedacht“, sagte sie, ohne mir auch nur die Zeit zum Hinsetzen zu geben. „Ich glaube, ich kann dir helfen…“ Na bitte, sie versuchte wieder anzutäuschen. Bei ihr musste man sehr wachsam sein. „Du kannst mir helfen?“, ich war auf der Hut. „Aber willst du mir helfen?“
Ihr strahlendes Lächeln vergrößerte sich. Es gelang mir nicht, die Oberhand zu gewinnen. Sie dirigierte mich schon wieder wohin sie wollte. „Ich will, Serge, wirklich. Unter einer Bedingung…“ Natürlich! Bei Sylvia Corso hat alles seinen Preis. „Ich höre“, brummte ich. Sie schaute mich aus ihren schönen grünen Augen direkt an. „Hol mich hier raus.“ Nun war ich dran mit Lächeln. „Vergiss es!“
13 Serge – 28/04
Heute früh bin ich in Richtung Paris abgereist. Mir tat es kein bisschen Leid, Katorga Adieu zu sagen. Und ich bin fest entschlossen, es nie wieder zu betreten. Adieu der Ostsee, dem Beton und vor allem den Ekranoplanen. Wirklich wahr, seit mehrere hundert Kilometer zwischen diesem traurigen Gefängnis und mir liegen, fühle ich mich viel besser. Ich sitze am Gang eines dieser stromlinienförmigen Wagen des Inter Fédéral Express, den ich vor nicht mal einer Stunde in Berlin genommen habe. Ich lasse mich von der Geschwindigkeit wiegen und gebe mich der Müdigkeit hin. Auch wenn ich weiß, dass ich besser nicht einschlafen sollte. Nicht vor Paris. Nicht bevor ich zu Hause bin. Ich nehme mir vor, dort erst einmal eine brühend heiße Dusche zu nehmen, ohne Rücksicht auf die Wasserrationierungsgesetze. Draußen geht langsam die Sonne unter und taucht die weite deutsche Ebene in ein seltsames braunes Licht. Lange schwarze Wolken ziehen über den Abendhimmel, an denen der Wind beharrlich rupft. Das Schauspiel ist wunderbar, aber ich versuche, es nicht zu bewundern. Ich versuche, mich nicht zu oft zum Fenster zu wenden. Damit mein Blick sich nicht mit Sylvias triumphierendem Blick trifft.
Mir war sehr bald bewusst geworden, dass das Biest mich in der Hand hat! Es widerstrebte mir sehr, sie aus ihrem Loch heraus zu holen. Doch wenn ich sie dort verrotten lasse, gibt es
wenig Hoffnung, in unserem Fall voranzukommen. Und das weiß sie. Gleich nach unserer zweiten Unterredung am Vorabend hatte ich kapituliert. Angesichts meiner Position und angesichts des Falls, an dem ich arbeite, habe ich das Recht besondere Verfahren einzuleiten, die sogar in einer privaten Einrichtung wie Katorga rechtsverbindlich sind. Norah hat in Paris problemlos grünes Licht von unseren Vorgesetzten bekommen. Und Komarov ist meinen Anweisungen ohne Zögern nachgekommen. Man könnte meinen, Sylvia wusste, dass es ein Kinderspiel sein würde, sie herauszuholen. Tatsächlich bin ich der Einzige, der Zweifel hat, mehr als nur Zweifel, Befürchtungen gar. Vor allem jetzt, da Sylvia auf dem Platz neben mir am Fenster sitzt. Dabei kann sie mir theoretisch nicht entwischen, nicht einmal wenn ich einschlafe. Denn Katorgas Bewohner haben am Tag ihres Einzugs Anrecht auf einen kleinen chirurgischen Eingriff: Man pflanzt ihnen einen Mikrosender für die Satellitenortung ein, der einer winzigen grauen Scheibe ähnelt und in ihrem linken Arm ein kleines Stück unterhalb der Schulter sitzt. Ich verfüge über ein Gerät, das es mir erlauben würde, den Spuren des Fräuleins zu folgen, sollte sie versuchen, sich in Luft aufzulösen. Nicht zu vergessen die Patrouillen der Europäischen und der Russischen Föderation, die sich sofort an ihre Fersen heften würden, denn die Daten von Sylvias Sender werden direkt in die europäischen und russischen Satellitenortungssysteme eingespeist. Es besteht also keine Gefahr, dass sie sich einen Spaß daraus macht, mir unter der Nase weg zu entwischen. Trotzdem habe ich kein Vertrauen. Ich kann nicht. Ich bin absolut sicher, dass sie selbst in diesem Moment, während wir in der Ferne Pappelreihen vorbeiziehen sehen, die langsam in der
beginnenden Nacht verschwinden, darüber nachdenkt, wie sie den Sender loswerden kann. In Paris ist alles vorbereitet. Sobald wir ankommen, werden wir zusätzlich zu dem Sender noch ein zweites kleines Spielzeug hinzufügen, das wir „Heuler“ nennen. Das ist eine hübsche kleine Halskette, die sie permanent tragen muss, und die auf ihre biometrischen Daten eingestellt ist. Sollte sie versuchen, sie abzunehmen, sei es auch nur um zu duschen, beginnt das Schmuckstück unerträglich laut zu kreischen, was sofort alle in der Nähe befindlichen Ordnungshüter auf den Plan rufen wird. Ich bin sicher, dass Sylvia dieses charmante Geschenk sehr schätzen wird. Während der Zugfahrt bemühte sich meine Begleiterin, so reizend wie möglich zu sein. Ich bemerkte die Blicke, die uns die anderen Passagiere zuwarfen, freundliche Großmütterchen und eifersüchtige Einzelreisende. Sie meinen offensichtlich, wir wären ein hübsches Paar. Was für ein Albtraum! Hingegen hütet sich meine Gefangene, mir jetzt schon nützliche Informationen zu geben. Sie besteht darauf, erst die Komapatienten zu sehen, was bedeutet, dass wir, kaum in Paris angekommen, nach Brüssel Weiterreisen werden. Doch zu allem anderen schweigt sie. Sie war nur bereit, mir zu sagen, dass wir es mit einem Produkt zu tun haben, das über alles hinausgeht, was bisher auf dem Markt ist. Als wenn ich das nicht wüsste! Ihrem sowohl amüsierten als auch geheimnisvollen Blick nach zu urteilen, fühle ich wohl, dass sie davon überzeugt ist, wir seien auf dem Holzweg, weil wir nach einem Narkotikum suchen, etwa nach einem hochwirksamen, synthetischen wie die vom Typ PulpX. Ich ahne vor allem, dass sie uns, sobald sie kann, irreführen wird. Für sie ist die Gelegenheit doch einfach zu günstig. Ich jedenfalls fühle mich schon als Verlierer, denn sie sitzt hier neben mir, und noch immer hält sie die Fäden in der Hand.
Ich kann es kaum erwarten, dass der Zug im Ostbahnhof ankommt. Norah wird uns am Bahnhof erwarten und sobald wir aus dem Fédéral Express ausgestiegen sind, endet für mich vorerst die enge Bewachung. Ich will so schnell wie möglich wieder bei Goran sein, und damit in einer Art Normalität.
14 Goran – 28/04
Ich könnte mich ohrfeigen. Ich bin so ein Trottel. Wie konnte ich glauben, dass niemand etwas merken würde?!
Ich saß im Spanischunterricht, als aus dem Lautsprecher mein Name schallte: „Goran Poiret wird in Madame Marchals Büro erwartet.“ Madame Marchai ist die Konrektorin: mit Dutt, gelben Zähnen, Rugbyspielerfigur, und einer Stimme wie ein klingonischer Opernsänger – eben wie in den alten Star Trek Filmen, die unser Filmwissenschaftslehrer uns bei einem Ausflug ins Filmarchiv gezeigt hat. Madame Marchai, die wir seitdem Worf nennen, ist der Albtraum aller Schüler auf dem Lycée. Als ich aufstand, fühlte ich meinen Magen in die Kniekehlen sacken. An jedem anderen Tag hätte ich Angst gehabt, meinem Vater wäre etwas passiert: ein Unfall, eine verirrte Kugel, der Messerstich eines Junkies auf Entzug. Die gewöhnlichen Gespenster im Leben eines Polizistensohns. Doch diesmal wusste ich sofort, warum man mich rief, und ich war nicht stolz darauf, als ich das Klassenzimmer unter Peris erstauntem Blick verließ. Es wurde nicht besser, als Norah mich mit finstererem Blick als gewöhnlich im Büro der Konrektorin sitzend erwartete. „Goran, setzen Sie sich“, sagte Worf mit ihrem rauen Timbre zu mir. Dann wandte sie sich an Norah: „Mademoiselle…“ „Zawass“, stellte Norah sich vor.
„Zawass, ja genau“, wiederholte die Konrektorin als sie den Namen in ihren Papieren fand. „Ich habe Sie angerufen, weil in unseren Unterlagen steht, dass Sie zu kontaktieren sind, wenn Gorans Eltern abwesend sind.“ „Ja“, antwortete Norah sichtlich angespannt. „Ich habe Madame Sorensen in Stockholm eine Nachricht hinterlassen, ebenso bei Monsieur Poiret zu Hause, aber…“ „Gorans Vater ist auf einer Auslandsdienstreise. Er kommt heute Nachmittag zurück. Was ist passiert?“ „Vielleicht möchte Goran es Ihnen selber erzählen.“ Nein. Goran wollte absolut nichts sagen. Zwar wusste ich genau, dass Schweigen mein Problem nicht lösen würde, aber es war stärker als ich. „Nicht?“, insistierte Worf und schaute mich dabei an. „Gut. Na dann…“ Sie drehte den Computerbildschirm zu uns und öffnete ein Videodokument. In den folgenden Minuten sah man mich über den Zaun des Lycées klettern, in ein Fenster des TechnologieGebäudes einsteigen, die Treppen bis zum Saal 203 hochsteigen und mich vor einen PC setzen, wobei ich mich ständig besorgt umschaute. „Diese Bilder wurden gestern Nachmittag von unseren Überwachungskameras aufgezeichnet“, erklärte Madame Marchai. Norah sah mich mit großen Augen an. „Wozu bist du an einem Sonntag hergekommen?“ „Das wüssten wir auch gerne!“, fügte die alte Schachtel bekräftigend hinzu. In den alten Star Treks können sie jemanden innerhalb von Sekunden von einem Ort an einen anderen beamen. Dabei entstanden diese Filme Ende des 20. Jahrhunderts! Wie ist es möglich, das wir Jahrzehnte später nicht fähig sind, das Gleiche zu tun, und ich gezwungen war, wie ein Gefangener in
Worfs Büro zu sitzen und unter ihren und Norahs anklagenden Blicken Löcher in den Boden zu starren. Ich weigerte mich, ihnen zu sagen, dass ich mich Sonntag heimlich ins Lycée geschlichen hatte, um mich – ohne Spuren zu hinterlassen, von einem fremden PC aus – in das Bankkonto meiner Großeltern zu hacken. Mit den leistungsstarken Geräten im Lycée hatte ich kaum zehn Minuten gebraucht, um die angeblich sicheren Codes der Bank zu knacken und eine Überweisung in Höhe von 600 Euro auf das anonyme Konto, das Iannis mir per E-Mail genannt hatte, zu tätigen. Ein Kinderspiel. Ich hatte an die winzigsten Details gedacht, nur nicht an die offensichtlichsten: die Überwachungskameras, die in jedem Winkel der Schule sitzen. Es gibt derart viele, überall, nahezu unsichtbare Kameras, im Lycée, in den Straßen, den Restaurants, der U-Bahn, in den Gängen unseres Wohnblocks, dass man sie gar nicht mehr bemerkt, sie ganz und gar vergisst. Rund um die Uhr gefilmt zu werden, ist fast wie gar nicht gefilmt zu werden. Es ist so natürlich geworden wie blond oder dunkelhaarig zu sein, wie die täglichen Widrigkeiten, der Smog oder die Durchgangskontrollen auf den Straßen. „Goran?“, fragte Norah. „Was hast du an dem PC gemacht?“ Ich sah weiter den Fußboden an, während Madame Marchai wieder das Wort ergriff: „Natürlich hat Goran die Spuren seines Tuns von der Festplatte gelöscht.“ „Goran!“, wiederholte Norah nun lauter. „Wenn Sie uns weiterhin eine Erklärung verweigern, Goran, zwingen Sie uns dazu, disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen!“ Zehn Minuten später, Minuten, die mir wie Stunden vorgekommen waren, stand ich auf der Straße, Norah neben mir, die meinen dreitägigen Ausschluss vom Unterricht in der Hand hielt.
„Was ist das für ein Blödsinn?“, fragte sie, wobei sie nur mühsam ihre Wut zügeln konnte. Ich schaute sie an, antwortete aber nicht. „Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich Besseres zu tun habe, als her zu kommen, um deine Strafen gegenzuzeichnen?“ „Doch, natürlich!“, erwiderte ich finster. „Alle Welt hat Besseres zu tun, als sich um mich zu kümmern. Du, mein Vater, meine Mutter… jeder!“ „Schluss, Goran! Versuch nicht die Tatsachen zu verdrehen. Du weißt genau, dass dein Vater so viel Zeit wie irgend möglich mit dir verbringt. Zurzeit ist im Büro viel los, und genau darum kann er es nicht brauchen, dass du anfängst, irgendwelchen Quatsch zu machen. Wirklich nicht! Und überhaupt: Sprich nicht in diesem Ton mit mir.“ Ich seufzte und marschierte grummelnd los: „Du bist nicht meine Mutter.“ Norah stimmte mir sofort zu: „Nein, ich bin nicht deine Mutter. Zum Glück für dich, denn ansonsten – das schwör ich dir – wüsste ich schon, wie ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfe.“ Wortlos gingen wir weiter zur U-Bahn-Station. Auf dem Bahnsteig sprach Norah in weniger drohendem Ton weiter: „Gut. Nun mal in Ruhe. Wirst du mir, ja oder nein, erzählen, was du an dem PC getrieben hast?“ „Nein.“ „Wie, nein?“ „Ich habe nichts Schlimmes getan“, antwortete ich und dachte das Gegenteil. „Vertrau mir, Norah.“ „Wenn es nichts Schlimmes ist, warum erzählst du es mir dann nicht?“ „Einfach so.“ „Wie, einfach so? Wir sind doch Freunde, oder? Freunde haben keine Geheimnisse.“
Auf die Art konnte es noch lange weitergehen. Ich musste mir ein Ablenkungsmanöver einfallen lassen. Noch bevor sich die U-Bahn-Türen hinter uns geschlossen hatten, kam mir eine geniale Idee. Als der Wagen sich leise in Bewegung setzte, begann ich also: „Norah…“ „Was?“ „Warum sagst du meinem Vater nicht endlich, dass du in ihn verliebt bist?“ Norah wurde so schnell rot wie eine gentechnisch veränderte Tomate und stammelte: „Aber… was… wovon sprichst du?“ Dass sie ihn liebt, ist so sichtbar wie die Nase mitten in ihrem hübschen Gesicht. Nur mein Vater sieht nichts. „Weißt du“, fügte ich lächelnd hinzu. „Wenn du darauf wartest, dass er den ersten Schritt macht, dann wird das nie was!“ „Hör damit auf, Goran. Das ist doch Quatsch! Dein Vater ist mein Chef, und…“ „Ich dachte, wir wären Freunde, und dass Freunde keine Geheimnisse haben?“ Wütend, dass sie in ihre eigene Falle getappt war, sah sie mich funkelnd an. Die restliche Strecke bis zu mir daheim schwiegen wir. Als wir am Fuß unseres Wohnblocks ankamen, lehnte Norah es ab, zum Mittagessen mit rauf zu kommen. „Ich muss los. Dein Vater kommt heute Nachmittag zurück, und ich habe noch tausend Probleme zu lösen, bevor ich ihn am Bahnhof abhole. Du gehst rein und bleibst bis heute Abend brav dort, verstanden?“ „Ja.“ „Nur damit du es weißt, ich werde Madame Bin Son anrufen, um das zu kontrollieren!“ „Ich geh nicht weg. Versprochen.“
Sie seufzte und küsste mich vor dem Weggehen auf die Wange. Ich nutzte die Gelegenheit um ihr zuzuraunen: „Erzählst du Papa davon?“ „Er wird sicher merken, dass du vom Lycée suspendiert bist.“ „So früh wie er morgens geht, würde mich das wundern!“ „Na, mal sehen… Du bist auf jeden Fall gewarnt.“ „Schon klar.“ „Ich hoffe, du machst keine Dummheiten, Goran!?“ „Mach dir keine Sorgen.“ Und sie verschwand.
Ich weiß sehr wohl, was ich gerade mache. Ich weiß sehr wohl, dass es eine Dummheit ist. Eine große Dummheit sogar. Tief drinnen schreit mein Instinkt, dass ich in eine Katastrophe hineinschlittere. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich etwas getan, wofür ich mich schäme, etwas, das meinen Großvater, meine Großmutter, Norah und meinen Vater enttäuschen wird, wenn sie es erfahren. Dennoch kann ich es nicht lassen. Ich will verstehen, will wissen, will die Veränderungen, die in mir vorgehen bis ans Ende durchstehen. Ich will Mel Wiedersehen, und mit ihr, da bin ich mir sicher, werde ich endlich zu mir selbst finden. Was immer passiert, und auch wenn der Angstkloß in meinem Hals weiter wächst, morgen um zehn Uhr werde ich dort sein, wo Iannis sich mit mir verabredet hat.
15 Goran – 29/04
Eben rief Papa an, um mir zu sagen, dass er zum Abendessen kommt. Morgen reist er früh nach Brüssel weiter, doch vorher können wir einen ruhigen Abend miteinander verbringen. Gute Neuigkeiten, denn nach dem Tag, den ich heute erlebt habe, möchte ich nicht alleine zu Hause sein. Ich werde uns ein kleines Abendessen zubereiten, so wie Opi es mir beigebracht hat. Das wird mir helfen, mich zu beruhigen und die beklemmenden Eindrücke zu vergessen, die ich aus der großen Pariser Vorstadt mitgebracht habe. Hätte ich doch nur Eindrücke mitgebracht…
Von Chartres und seiner Umgebung kenne ich nur die berühmten Windkraftanlagen, die sich entlang der Autobahn aneinander reihen. Sie machen aus Beauce einen der hässlichsten Landstriche Frankreichs, aber auch einen der reichsten. Seit Chartres als Zone 6 klassifiziert wurde, setzt jedenfalls niemand mehr einen Fuß dorthin. Es ist eine Zone ohne Recht und Ordnung, die am Rande des breiten Pariser Stadtgürtels und nur dreißig Kilometer von den kleineren Vororten der nächsten Großstadt entfernt liegt. Als der Zug langsamer wurde, dachte ich noch an die Mail, die Großmutter mir nach Hause geschickt hatte:
Ich habe sie nicht geöffnet, weil ich wusste, was sie enthielt: Ärger. Ich musste am PC des Lycée einen Fehler beim Spuren verwischen gemacht haben, und Omi, die 39 Jahre lang als Informatikingenieurin gearbeitet hat, dürfte nicht länger als zwei Minuten gebraucht haben, um den Hacker zu lokalisieren. Danach war ich natürlich zwangsläufig als verantwortlich für die Umleitung der sechshundert Euros entlarvt. Was ich nicht verstehe, ist, dass sie mir eine Mail schickt, anstatt direkt meinen Vater anzurufen. Der Anblick von Chartres Bahnhof riss mich aus meinen Überlegungen. Kaputte Fensterscheiben, aufgebrochene Türen, das Dach zur Hälfte verbrannt, ein Abfallberg, auf dem sich eine Ratte und eine Möwe stritten, Wände voller Graffitis. Da verstand ich, warum die anderen Passagiere des Zugs mich seltsam ansahen, als ich nach dem letzten Bahnhof den Halteknopf für Chartres drückte. Seit langer Zeit stieg niemand mehr in Chartres aus. Man überlegte sogar, die Haltestelle nicht mehr zu bedienen, wie in so vielen Zone-6-Städten, die Züge nur noch durch Tunnel geschützt durchführen. Warum nur hatte Iannis sich an solch einem Ort mit mir verabredet? Der Zug fuhr sofort weiter, und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als ich mich alleine auf dem verlassenen Bahnsteig wiederfand. Im Westen verfärbte sich der gelbe Himmel orange. Ein Gewitter kam auf, nichts Überraschendes angesichts der anormalen Hitze, die seit den frühen Morgenstunden herrschte.
Mit einem Kloß im Hals marschierte ich los. Doch auf der Schwelle der eingetretenen Bahnhofstür blieb ich gleich wieder stehen. Die Halle war voller Menschen. Männer und Frauen schliefen auf dem Boden, auf Kartons, eingerollt in Decken. Ein widerlicher Geruch sprang mich an, das Blut pochte in meinen Schläfen, und ich ging rückwärts wieder hinaus, betend, dass ich niemanden geweckt hatte. Ich umrundete das Gebäude, dessen Umzäunung aufgebrochen war, und ging schnell in Richtung Innenstadt. Der Treffpunkt, den Peris Bruder ausgesucht hatte, war zumindest leicht zu finden: die Kathedrale. Sie war riesig, stand hoch über der Stadt, überragte Straßen und Gebäude. Je weiter ich mich vom Bahnhof entfernte, umso schneller ging ich. Die Fenster entlang der verdreckten, stinkenden und matschigen Straßen waren zugemauert und die zerbrochenen Scheiben in den höheren Stockwerken mit Decken abgedichtet. Nur der Widerhall meiner Schritte schien diese Geisterstadt zu beleben. Meine einzige Sorge war, jemandem zu begegnen. Doch die Stadt schlief, erholte sich zweifellos mühsam von einer der berüchtigten Zone-6-Nächte. Erst als ich an der Kathedrale ankam, merkte ich, dass ich nicht alleine war. Als ich die Augen hob, um das riesige, herrliche Bauwerk zu bewundern, sah ich die Vögel, die dort hoch oben hockten. Sie saßen auf den Statuen, auf den Wasserspeiern, in den kleinsten Winkeln des Gemäuers, bis hoch hinauf zu den zwei Türmen, die in den Himmel ragten, wie früher die Raketen. Sogar die Dächer der Stadt waren von ihnen besetzt, die Kamine, jeder Schieferfirst, Giebel, Balken, jedes Geländer. Tausende Tauben, Schwarzdrosseln, Krähen, Möwen. Nachdem ich sie gesehen hatte, nahm ich ihr Tapsen auf den Regenrinnen wahr, das Rascheln ihrer Flügel, den Lärm ihrer Schnäbel, die sie an Steinen wetzten. Seltsamerweise sang, gurrte oder zwitscherte keiner von ihnen.
Sie waren genau wie die Stadt: stumm und angespannt, aber vor allem beunruhigten sie mich. Auf meiner Uhr war es 9 Uhr 50. Mir blieben zehn Minuten. Ich wagte es nicht in das Innere der Kathedrale zu gehen, auch wenn ich gerne gesehen hätte, wie es dort aussah. Denn ich war sicher, dass die Kathedrale voller Menschen wäre, wie der Bahnhof und zweifellos all die Häuserblocks rundum mit ihren tristen Fassaden. Chartres Ruhe verbarg ein wimmelndes Leben, dessen gefährliche Vibrationen spürbar waren. Während ich vor der Kathedrale auf und ab ging, hatte ich das Gefühl, durch ein Minenfeld zu stolpern. Um 9 Uhr 55 hörte ich, dass jemand kam. Ich war davon überzeugt, dass es Iannis war, also folgte ich meinem Gehör und ging den Schritten entgegen. Aber aus einer kleinen Straße kam eine struppige Frau. Genauso überrascht wie ich hielt sie einen Moment inne, bevor sie ein scheußliches Lächeln aufsetzte. „Na, schönes Kind, hast du Mama und Papa verloren?“ Sie war halbnackt, hatte mehr Dreck als Kleider am Leibe, war erschreckend mager und blass. Ihre fiebrigen Augen lagen tief in den dunklen Höhlen. „Was hast du bei dir?“ „Wie bitte?“, erwiderte ich mit unsicherer Stimme. „Was hast du zu verkaufen?“ „Zu verkaufen?“ „Ich habe Geld, schau, die Nacht war gut!“ Sie holte Euroscheine hervor, die ich nur aus dem Museum kenne. Seit weit vor meiner Geburt benutzt niemand mehr Bargeld. „Aber ich habe nichts zu verkaufen, Madame, ich warte auf einen Freund, und…“ „Du hast eine hübsche Uhr, Süßer.“
Sie begann sich mir zu nähern, als eine gebieterische Stimme uns zusammenschrecken ließ: „Lass ihn in Ruhe!“ Ich drehte mich um und sah Iannis, der auf die Frau zuging und mir dabei zuzwinkerte. Sobald sie ihn sah wurde die Frau anschmiegsam wie eine hungrige Katze. Peris Bruder nahm sie etwas zur Seite. Überrascht sah ich, dass sie die Scheine gegen ein Tütchen weißes Puder tauschten. Die Frau verschwand sofort, woher sie gekommen war, und Iannis kehrte breit lächelnd zu mir zurück. „Also? Gefällt dir die Zone 6?“ „Warum hast du dich hier mit mir verabredet?“ „Kennst du einen anderen Ort, an dem es keine Kameras gibt? Keine Kameras, keine Polizei… Das wahre Leben eben!“ „Das, was du der Frau verkauft hast, war…“ „Welche Frau?“ Ich fragte nicht weiter nach, ich war zu schockiert von dem, was ich eben über den Bruder meines besten Freunds entdeckt hatte. Iannis war ein Dealer, und dealte nicht nur mit dem, weswegen ich hierher in diese albtraumhafte Stadt gekommen war. Ich folgte ihm in die Kathedrale. Der majestätische Eindruck und die Größe des Bauwerks wirkten im Inneren noch gewaltiger. Dort war es sehr dunkel, trotz des Tageslichts, das durch die zerbrochenen Scheiben hereinfiel. Viele Menschen wohnten hier, die meisten schliefen auf Kartons oder unter zusammengeschusterten Zelten, doch manche erwachten gerade, machten eine Art Morgentoilette oder kochten Kaffee auf behelfsmäßigen Feuerstellen. Ich folgte Iannis dichtauf, wobei ich versuchte den finsteren Blicken auszuweichen, die mir von Zeit zu Zeit begegneten. „Mach Dir keine Sorgen. Mit mir zusammen kann dir nichts passieren.“
Und wirklich: die Blicke wurden freundlicher sobald sie auf Iannis fielen. Sie wurden gar unterwürfig und dienstbeflissen. Tief hinten in der Kathedrale schüttelte Iannis einem Schrank von Mann mit kühler Miene und kahl geschorenem Schädel die Hand. Er bewachte eine Tür, auf der Sakristei stand. Sie führte in einen von Fackeln erhellten Raum, in dem mein Gastgeber sich so etwas wie ein Büro eingerichtet zu haben schien. Er zeigte auf einen Stuhl. „Gut. Ich habe die Überweisung erhalten. Weißt du, wie es funktioniert?“ „Was?“ „Das, was du holst.“ „Nein.“ Iannis öffnete einen Safe in einer Wandnische, aus dem er ein durchsichtiges Röhrchen und einen kleinen Jet-Injektor herausnahm. „Du schraubst das Röhrchen auf den Injektor und spritzt dir das Mittel in die große Vene in der Armbeuge. Das ist ganz einfach und schmerzfrei. Aber mach das nur, wenn du auf einem Bett liegst, denn du wirst sofort spüren, wie es zu wirken beginnt und du abreist.“ Iannis muss mir angesehen haben, dass ich ängstlich war, denn er fügte lächelnd hinzu: „Das ist ungefährlich, Goran. Keine Abhängigkeit, keine Nebenwirkungen. Nur Glück! Das Zeug sollte es auf Rezept geben!“ Er kam zu mir rüber und hielt mir die Sachen hin. Aber als ich sie nehmen wollte, umklammerte seine Hand meine. „Kein Wort zu deinem Vater!“, sagte er mit kehliger Stimme. In seinen Augen, die mich fixierten, lag so viel Härte, wie ich sie noch nie bei ihm gesehen hatte. „Falls du mit dem hier erwischt wirst, Goran: Wir kennen uns nicht!“ „Alles klar.“
„Es ist mir ernst, Goran. Wir sind hier nicht auf dem Schulhof. Du machst dir keine Vorstellung, wie tief du dann in der Scheiße steckst, wenn dein Vater das mit mir herausfindet.“ „Verstanden.“ „Gut. Du bist ein schlauer Junge. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Ich weiß, dass mein Bruder seine Freunde gut auswählt.“ Ich für meinen Teil war mir da nicht recht sicher. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Ich war dabei, mitten in Zone 6 etwas zu kaufen, von dem ich kaum wusste, was es war. Und das alles hinter dem Rücken meines Vaters, meiner Großeltern, meines besten Freundes. „Ich fahr jetzt nach Paris rein“, sagte Iannis. „Soll ich dich mitnehmen?“ Nicht bis zum Bahnhof gehen zu müssen, dort nicht auf den nächsten Zug warten zu müssen, war eine echte Erleichterung. „Zwischen Tagesanbruch und Mittag ist es hier safe“, erklärte mir Iannis, während wir durch die Kathedrale Richtung Ausgang gingen. „Die restliche Zeit sollte man die Gegend hier besser meiden.“ „Aber wie konnte die Stadt so enden?“, fragte ich naiv. „Das ist der Preis, der gezahlt werden muss, um anderswo seine Ruhe zu haben! Warum glaubst du, haben wir in Paris eine Kriminalitätsrate von Null Prozent? Die Welt hat sich nicht geändert, die Menschheit noch weniger! Man macht nur dort, wo die Touristen sind oder die Leute, die ihre Steuern bezahlen, groß reine. Die die Kulissen beschmutzen, Menschen oder Vögel, die pfercht man weit weg zusammen, und überlässt sie sich selbst.“ Iannis großer Geländewagen stand in einem Garten hinter der Kathedrale, bewacht von einer Bande verdreckter Bengel, an die er Geldstücke verteilte.
Beim Starten machte der Motor einen derartigen Lärm, dass Tausende Vögel sich von den Dächern der Stadt in den tief orangefarbenen Himmel erhoben, an dem sich die Wolken bedrohlich zusammenballten. Vorne im Auto sitzend sah ich Chartres Straßen vorbeiziehen, in denen ganz langsam das Leben erwachte, seine zwielichtige und armselige Bevölkerung, und ich stellte mir vor, wie es in der Nacht sein würde. Auch wenn die Fernsehnachrichten nie davon berichten, weiß ich doch durch meinen Vater, dass die Zone 6 jede Nacht Schauplatz von Bandenkriegen, Morden und jedwedem Handel ist. Hier herrscht das Recht des Stärkeren, hier gibt es nur reines Überleben, kein Leben.
Den Rest des Tages verbrachte ich zu Hause damit, dem Gewitter über Paris zuzuschauen. Ich hatte eine weitere Mail von Omi erhalten, einen Anruf von meiner Mutter und einen von Peri. Ich habe niemanden zurückgerufen, und weitere Anrufe nicht angenommen, bis auf den von Papa. Ich fühle mich unruhig und bedrückt, durch den Besuch in Chartres, aber vor allem durch das, was ich von dort mitgebracht habe. Das Röhrchen enthält eine farblose Flüssigkeit, und ich war mehrmals versucht, sie in die Toilette zu kippen. Ich habe das Zeug schließlich unter meinem Bett versteckt. Ich fühle mich wie ein Verräter an meinem Vater.
16 Serge – 30/04
Heute Abend in Brüssel habe ich das seltsame Gefühl, alleine und am Ende der Welt zu sein, und ich meine wieder Gorans Stimme zu hören, der mich fragt, warum ich diese Arbeit mache.
Gestern konnte ich zumindest noch einen Abend mit meinem Sohn verbringen. Er hatte uns ein gutes, einfaches Abendessen zubereitet. Das hat er von meinem Vater. Man sagt ja, dass manche Geschmäcker oder Talente eine Generation überspringen. Das würde erklären, warum ich gerade mal ein gefriergetrocknetes Omelette zubereiten kann. Goran wirkte in Gedanken, abwesend, angespannt. Das ging uns beiden so! Während wir vor dem Fernseher aßen, sprachen wir kaum, waren beide in unsere Gedanken vertieft. Ich wollte, konnte ihm nicht von Katorga und Sylvia erzählen. Und worüber wollte er nicht sprechen? Je mehr Zeit vergeht, je größer Goran wird, umso schwieriger ist es, mit ihm zu kommunizieren. Manchmal sehe ich ihn in Gedanken wieder, wie er als kleines Kind war. Damals war alles noch einfach. Wenn ich von einer Dienstreise zurückkam, sprang er in meine Arme, wir spielten, wir lachten. Kaum zu glauben, dass ich es damals fast nicht erwarten konnte, dass er älter würde, damit ich ihm die Welt so richtig zeigen könnte! Von Mann zu Mann! Tja, nun entdeckt er die Welt alleine. Es ist nicht einfach, Vater zu sein. Sohn auch nicht. Ich erinnere mich noch gut an meine Jugend!
Die Reise heute Morgen von Paris nach Brüssel verlief ohne Zwischenfälle. Norah und ich waren angespannt, als wir Sylvia aus ihrer Zelle im Polizeigebäude in Puteaux-Ouest herausholten. Sie war nicht wieder zuerkennen. Völlig verändert verglichen mit jener Frau, die ich nur vier Tage zuvor auf Katorga gesehen hatte. Keine rebellischen Locken mehr, ihre kurzen Haare waren sorgfältig frisiert, ihre Nägel lackiert, ihr Gesicht dezent geschminkt. Zu einer weißen Bluse trug sie ein elegantes Kostüm. Der einzige Bruch in dieser Metamorphose: Ihr Kragen war bis zum letzten Knopf geschlossen, um den „Heuler“ zu verdecken, den ich ihr „geschenkt“ hatte. Während der Fahrt sprachen wir kein Wort. Als wir den Zug in Brüssel-Nord verließen, wurden wir von den Typen des örtlichen Drogendezernats empfangen. Im Konvoi begleiteten sie uns in Richtung Krankenhaus. Ich hörte, wie Norah sie vor Sylvia warnte, während diese mit hocherhobener Nase so tat, als interessiere sie sich im Detail für die Architektur des Bahnhofsviertels. Sie bemühte sich gar nicht, ihr verfluchtes Lächeln zu verbergen. Ich hatte meine Partnerin genauestens über unsere „Klientin“ informiert, da man sich mit ihr niemals in Sicherheit wähnen durfte. Der Konvoi verließ den achtspurigen Brüsseler Ring und nach einigen Umwegen parkten wir auf dem vollen Parkplatz der Spezialklinik des AZ-VUB∗ ein. Hier war eine Etage speziell für die Behandlung unserer mysteriösen Komapatienten eingerichtet worden. Andere Polizisten in Zivil, mit Schnellfeuerpistolen erwarteten uns. Ich verstand den Grund für die verstärkte Bewachung erst, als wir den dritten Stock erreichten, den berühmten „Gemüsemarkt“, ∗
Academisch Ziekenhuis van de vrije Universiteit Brüssel/Akademisches Krankenhaus der Freien Universität Brüssel
wie ihn die meisten Kollegen zynisch nennen. Maxime Grehant war unangekündigt gekommen, um seine Tochter zu sehen. „Grehant persönlich“, flüsterte Sylvia hinter mir so bewundernd, dass ich in Sorge geriet. „Was macht er hier?“ Ich hatte ihr wohlweislich nichts von Melanie erzählt. Und ich hätte ihr auch weiter nichts darüber gesagt, wenn der Politiker nicht durch unsere Ermittlungen gestolpert wäre wie ein Elefant durch den Pozellanladen. Umrahmt von einer Eskorte Rugbystürmer im Sonntagsstaat kam er direkt auf uns zu marschiert. Seine Kiefer mahlten nervös, und obwohl er versuchte, es zu verbergen, so war es doch offensichtlich, dass er eben geweint hatte. Aus nur noch einem Meter Entfernung funkelte er mich mit seinen geröteten Augen an und stieß hervor: „Holen Sie sie mir da raus, Poiret, verstanden?“ Ich bin es gewöhnt, mit Eltern von Drogensüchtigen zu sprechen. Nicht dass ich dies gerne täte, aber ich tue es. Nur dass die fraglichen Eltern normalerweise nicht Präsidentschaftskandidaten sind. „Wir tun unser Möglichstes, Monsieur“, setzte ich an. „Das interessiert mich nicht! Ich will Resultate!“, unterbrach er mich sofort. „Das dauert schon drei Wochen… Ich warne Sie, Poiret, ich mache Sie persönlich für das Überleben meiner Tochter verantwortlich. Also halten Sie sich ran, mein Freund, halten Sie sich ran, oder…“ „Oder?“, fragte eine Frauenstimme. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer das gefragt hatte! Reflexartig zog ich den Kopf zwischen die Schultern. Ich war mir sicher, dass Grehant explodieren würde. Doch nichts geschah. Er schwieg, schaute Sylvia nur an und verschwand wortlos mit seinen Leibwächtern im Fahrstuhl.
Ich ergriff Sylvias Arm und zog sie in einen der beiden großen Säle, in denen die Opfer medizinisch betreut werden. „Fang nicht an, Ärger zu machen!“, fauchte ich. „Ja, Chef!“, lächelte sie völlig unbeeindruckt von meiner jämmerlichen Autoritätsdemonstration. Gefolgt von unseren belgischen Kollegen gingen wir zwischen zwei Bettreihen durch. Insgesamt zwanzig Betten standen hier und ich wusste, dass es im zweiten Saal ungefähr genauso viele waren. Momentan lagen auf dieser Etage der AZ-VUB-Polyklinik dreiundzwanzig Patienten, alle mit den gleichen Symptomen. Einzig Melanie Grehant hatte Anrecht auf ein rund um die Uhr bewachtes Einzelzimmer. „Es ist also ein Mitglied der Familie Grehant hier“, flüsterte Sylvia. „Ja“, antwortete ich. „Untersteh dich, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, außer mit Norah und mir. Oder ich bezahle dir höchstpersönlich eine Hochgeschwindigkeitsreise zurück nach Katorga!“ Meine Drohung machte auch diesmal keinen Eindruck auf Sylvia. „Keine Sorge, mein Großer. Du kennst mich doch!“ Unter Norahs besorgtem Blick näherte sich Sylvia dem nächstbesten Bett. Darin lag ein etwa zwanzigjähriger Mann. Sein Gesicht war mit winzigen Messfühlern bedeckt und sein Körper steckte in einem eng anliegenden schwarzen Anzug. Alles war an verschiedene Monitore fürs EKG, die Beatmungsgeräte und die künstliche Ernährung angeschlossen, und eine hoffnungslos platte Hirnstromkurve wurde aufgezeichnet. Die Messfühler am Anzug dienen auch zur Muskelstimulation des Patienten, um einen zu großen Muskelmasseabbau zu verhindern. Das System ermöglicht ebenso eine ständige Hautmassage gegen das Wundliegen.
Diesbezüglich hatte das arme „Gemüse“ nichts zu befürchten. Man könnte sie sogar über Monate in diesem Zustand halten, Jahre gar, solange das Herz durchhielt. „Das sieht gut aus“, stellte Sylvia fest. „Sie haben das Nötige getan.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen und konzentriertem Blick beobachtete sie minutenlang die Augenlider des jungen Mannes. Norah und ich tauschten zweifelnde Blicke aus. Was suchte sie? „Also“, fragte Norah schließlich mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme. „Was können Sie uns sagen?“ Sylvia drehte sich mit einem breiten Lächeln, das meine Kollegin nicht entschlüsseln konnte, zu ihr um. Doch ich kannte dieses Lächeln nur zu gut. Ein Lächeln, das sagt: Sprich noch einmal in diesem Ton mit mir und ich schmeiß dich aus dem Fenster. „Gut, Sylvia, du hast genug gesehen!“, schaltete ich mich ein. „Wir brauchen jetzt etwas Konkretes.“ „Und ich brauche ein Labor“, erwiderte sie mir und wandte sich wieder dem Komapatienten zu. Norah und ich schauten uns überrascht an. „Ein Labor? Was faselst du da?“ Sylvia richtete sich auf, wandte endlich die Augen von dem jungen Mann ab. „Ich glaube, ich weiß, was diese jungen Leute in Morpheus Arme geschickt hat.“ „Na, und?“, unterbrach Norah sie. Ohne ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu widmen, sprach Sylvia nervenaufreibend langsam weiter. „Ich glaube sogar, dass ich euch helfen kann, einige von dort zurück zu holen.“ „Raus damit, Sylvia!“, stieß ich hervor, genervt von ihrem Gehabe.
Sie schaute mich an, als würde sie an meinen Fähigkeiten, ihre Aussagen zu verstehen, zweifeln, und meinte dann: „Das ist E-den.“ „Eden?“, fragte ich überrascht. „Eden wie Paradies, mit Adam und Eva und der Schlange?“ „Teilweise“, antwortete Sylvia, „teilweise… aber wenn ich mehr darüber herausbekommen soll, und um sicher zu gehen, muss ich unsere lieben Schläfer näher untersuchen. Ich nehme an, dass man bisher nicht daran gedacht hat, sie mit dem Onirometer zu untersuchen?“ „Ich habe keine Ahnung…“ „Natürlich nicht. Für euch ist die Hirnstromkurve platt, zwecklos hier weiter zu forschen. Na dann brauche ich also ein kleines Labor, vorzugsweise hier, Platz ist ja genug da, dazu die Blutanalysen und Hirnstromkurven der Damen und Herren, und ich brauche ein Onirometer, das neueste Modell wenn möglich. Das war’s fürs erste. Ich sage euch dann, was ich später noch an Ausstattung brauche.“ Norah trat näher zu mir. „Wir können sie hier nicht alleine lassen!“ Natürlich nicht. Sylvia antworte an meiner Stelle. Die Freude in ihren Augen war so offensichtlich, dass ich sie am liebsten auf der Stelle erwürgt hätte. „Serge kann ja hier bleiben, um mich zu bewachen! Er liebt es, mich zu bewachen. Oder, Serge?“
Ich bin zwischen Maxime Grehants Drohungen und Sylvias kleinem Psychokrieg gefangen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Wir müssen unbedingt so schnell wie möglich wissen, was sich hinter Eden verbirgt. Dafür werden wir Sylvia freie Hand lassen müssen. Norah und ich wissen, dass dies sowohl eine miserable als auch die einzige Lösung ist.
Wieder ein Hotelzimmer und das starke Gefühl, weit von allem entfernt zu sein, weit weg von meinen Lieben, weit weg von meinem eigenen Leben. Ich arbeite zu viel. Ich reise zu viel. Ich bin nicht oft genug zu Hause. Goran, heute Abend wüsste ich nicht, was ich Dir auf deine Frage antworten sollte.
17 Goran – 30/04
Jetzt. Ich habe solche Angst! Andererseits bin ich so aufgeregt wie noch nie. So oft ich das Röhrchen von Iannis auch im Gegenlicht betrachte, ich sehe darin nur eine Flüssigkeit, die klar wie Wasser ist. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie die Kraft hat, mich zu Mel zu bringen. Und wenn es doch… Schon geht es wieder los, alles was mir Papa immer erklärt hat, wirbelt in meinem Gehirn durcheinander: der Entzug, die besetzten Wohnungen, die Überdosen, die Beschaffungskriminalität, die Qualen der Entziehungskuren, der Tod… Aber das hier ist nicht dasselbe! Dies ist keine wirkliche Droge. Keine Nebenwirkungen, hat Iannis mir gesagt. Und ich nehme es ja nur ein Mal! Ich weiß, dass ich die Kraft haben werde, es kein zweites Mal zu tun. Los! Ich darf mir den Kopf nicht weiter zerbrechen. Ich kann nicht mehr zurück. Ich habe meinen Großeltern Geld gestohlen, ich war in Zone 6, um eine Dosis zu kaufen… Und vor allem: Seit ich Mel gesehen habe, habe ich den Eindruck, im Wartezimmer zu meinem wirklichen Leben zu sitzen. Jetzt! Verflixt! Jet-Injektor oder nicht, ich hasse Nadelstiche…
18
Als der junge Mann die Augen wieder öffnet, wird sein Körper von einem letzten Krampf geschüttelt, er fühlt, wie seine Beine unter ihm nachgeben, während im gleichen Augenblick Hände seine Arme ergreifen, um ihn zu stützen. „Herzlich willkommen, Goran Poiret“, sagt eine weiche Frauenstimme. „Setzen Sie sich einen Augenblick und atmen sie ruhig weiter.“ Goran lässt sich führen und setzt sich in den Sessel, den man ihm anbietet. Nach einem tiefen Atemzug wird sein Blick endlich wieder klar und der Schwindel vergeht. Zwei wundervolle Geschöpfe stehen ihm gegenüber. Zwei Frauen von perfekter Schönheit, die ihm beide ein Stewardessenlächeln schenken. „Wo bin ich?“, fragt der junge Mann mit einer Stimme, die er kaum wiedererkennt, denn sie ist viel tiefer und selbstsicherer als gewöhnlich. „In E-den“, antworten die beiden Schönheiten im Chor. „Iden?“, antwortet der Junge verträumt. „Kann ich aufstehen?“ „Wenn Sie sich dazu bereit fühlen. Sie sind hier zu Hause, und wir sind hier, um sie bei Ihren ersten Schritten zu begleiten.“ Goran erhebt sich und schaut sich um. Er befindet sich in einem weiten, grenzenlosen weißen, stillen Lichtraum. Nur die beiden jungen Frauen heben sich davon ab, fast wie im Gegenlicht. Einem plötzlichen Geräusch folgend wandert Gorans Blick nach rechts. Dort nehmen zwei andere Hostessen gerade einen Mann in Empfang, der aus dem Nichts
aufgetaucht ist. Dann das gleiche Phänomen links, diesmal materialisiert sich eine junge Frau, die von zwei lächelnden, schönen jungen Männern empfangen wird. In dem Moment fragen seine beiden Hostessen: „Sind Sie bereit, Goran Poiret?“ „Ähm… ja“, antwortet der Junge, ohne genau zu wissen, wozu er bereit sein soll. Und auf einmal erscheint eine Welt um ihn herum. Ohne sein Zutun stürzen Bilder, Geräusche und Gerüche auf Goran ein. Seine Brust ist angefüllt mit einem Wohlgefühl, wie er es noch nie zuvor erlebt hat. Er betrachtet die Stadt, die vor ihm auftaucht. Goran befindet sich auf einem großen, belebten Platz inmitten zahlreicher Männer und Frauen verschiedenen Alters. Die ergreifende Schönheit des Ortes lässt ihn lächeln. In der Mitte steht ein großer runder Schalter, in dem weitere Hostessen sitzen. Drumherum stehen Bäume, die in verschiedenen Farben blühen, manche rosa, andere weiß oder auch hellblau und gelb. Sie stehen auf einer Wiese, deren Grün so zart ist, dass man Lust bekommt, darauf Purzelbäume zu schlagen. Etwas weiter entfernt stehen die ersten Gebäude. Sie wirken gleichzeitig massig und schwerelos. Goran hebt seinen Blick und ist ergriffen, so klar ist der Himmel. Niemals hat er ihn so blau gesehen, verziert mit einigen flauschigen Wolken. Und plötzlich wird dem Jungen bewusst, dass er auch noch nie so reine Luft geatmet hat. Ein zarter Windhauch ergreift eine seiner Haarsträhnen. Dieses Streicheln ist von solcher Zartheit, dass er glückselig seufzt. Goran schließt die Augen und atmet tief ein. Er fühlt sich wohl, besser als jemals zuvor. Er hat das berauschende Gefühl, eins mit der Welt um ihn herum zu sein. Schließlich macht er es den anderen Ankömmlingen nach und tritt an den Schalter, wo ihn eine neue Hostess anlächelt. Ihre Augen sind grün wie junge Frühlingsschößlinge und ihre
Haare haben die Farbe feuriger Glut. Goran ist von ihrer Schönheit derart überwältigt, dass sie ihre Frage wiederholen muss: „Was suchen Sie hier, Goran Poiret?“ „Melanie Grehant.“ Ohne dass das freundliche Lächeln verschwinden würde, schließt die Hostess einen Augenblick ihre Augen, öffnet sie dann wieder und zieht dann anmutig ihre feinen Augenbrauen zusammen. „Melanie Grehant? Ich finde nichts, das…“ „Mel! Eigentlich Mel, glaube ich“, präzisiert Goran sofort. Ein Zwinkern ihrer herrlichen Augen und die Hostess zeigt wieder ihren entspannten Gesichtsausdruck. „Mel, natürlich…“ Und auf einmal weiß Goran, wo sich Mel befindet. Ohne zu verstehen, wie dieses Wunder geschehen ist, hat sein Gehirn soeben die Informationen erhalten, die ihn zu Mel führen werden. Der Junge hat den Eindruck, in ihm wäre eben ein neuer Instinkt erwacht. „Zu Ihren Diensten“, sagt die Hostess mit verführerischer Stimme. „Danke“, antwortet Goran und ist so verwirrt, dass er sich nicht traut, auch nur einen Schritt zu machen. „Lassen Sie sich gehen, Goran Poiret, folgen Sie Ihren Wünschen“, fügt die Hostess hinzu. Da versteht Goran, dass er aufhören muss nachzudenken, dass er einfach nur tun muss, was sein Gefühl ihm sagt. Er geht also auf gut Glück los, hat aber das sichere Gefühl, dass seine Schritte ihn dorthin bringen werden, wo er hin will.
Niemand scheint es hier eilig zu haben. Kein Lärm nervöser Schritte, kein aggressives Hupen. Alle Welt schlendert durch
die Straßen der Stadt, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, und in den Blicken spiegelt sich die Harmonie der Umgebung. Prachtvolle Autos gleiten leise über die Fahrbahn, ein Festzug in Chrom, Gold und Metallic-Pastellfarben. Goran wandert eine Allee blühender Bäume entlang. Ein Windhauch lässt ihre Blütenblätter wie einen Farbregen herabfallen. Überall singen Vögel. Manche fliegen durch den Himmel, andere sitzen auf Fensterbrettern oder Gauben. Es gibt sehr große weiße oder auch papageienbunte Vögel. Goran bleibt stehen, um einen von ihnen genau zu betrachten. Er sitzt auf einer Banklehne und sein langer, orangefarbener Schwanz reicht bis zum Boden hinab. Als er seinen Weg fortsetzt, fängt der Junge den Blick einer jungen Frau auf, die ihn anlächelt. Etwas weiter begegnet ihm eine Gruppe junger Mädchen, die kichernd die Köpfe zusammenstecken. Als sie vorbei sind, dreht Goran sich nach ihnen um und stellt fest, dass die Mädchen sich auch nach ihm umdrehen. Das Phänomen wiederholt sich ein Stück weiter, und Goran kommt wie von selbst auf den Gedanken, dass er hier den Mädchen gefällt. Er, der gewöhnlich für die Mädchen Luft ist! In E-den drehen sie sich im Vorbeigehen nach ihm um. Leichten Herzens setzt er seinen Weg durch das Geschäftsviertel fort, durch mit Restaurants gesäumte Straßen, Boulevards mit Kinos und Theatern, kleine schattige Sträßchen. Als er einen Augenblick vor einem Schaufenster stehen bleibt, erblickt er darin sein Spiegelbild und entdeckt überrascht, dass seine Augen von so klarem Blau sind wie der Himmel. Zudem hat er den Eindruck, ein wenig größer zu sein, mit breiteren Schultern, und als er sich mit der Hand übers Kinn fährt, kratzen seine Fingern über die dichten Stoppeln eines Zweitagebarts. Goran lächelt, als er daran denkt, wie er
mit dem Rasierer seines Vaters vergeblich versucht hatte, seinen zarten Flaum in einen männlichen Bart zu verwandeln. Goran weiß nicht, wie lange er schon so geht, als er schließlich einen großen Park erreicht. In seinem hinteren Teil, oben auf einem mit blühenden Mimosen bewachsenen Hügel, sind die Silhouetten großer Anwesen sichtbar. Es scheint, als existiere Zeit hier nicht. Es ist wie eine Art ewiger Gegenwart. Ein Ganzes, eine verwirrende Einheit der Dimensionen. Ganz anders als im Leben auf… Ja auf was? Auf der Erde? Im echten Leben? Da er nicht wirklich weiß, wo er sich befindet, wohin ihn Iannis’ Substanz gebracht hat, zögert Goran das Vorher und das Jetzt zu benennen. Hier sind Worte unnütz, schwach und unpassend. Er braucht sie nicht mehr. Euphorisch macht er sich auf, den Park zu durchqueren, wobei er instinktiv weiß, auf welches Haus er zugehen muss. Als er oben auf dem Hügel ankommt, hält Goran angesichts der Schönheit der Landschaft inne. Als spiegelnde Fläche erstreckt sich jenseits des Hügels das Meer friedlich bis ins Unendliche. Ein salziger, berauschender Duft dringt zu dem Jungen herauf, der sein Herz wohlig weit werden fühlt. Er steht vor einem Haus, in dem sich, das weiß er, das Objekt all seiner Wünsche seit Tagen und Wochen aufhält. Auch wenn sein Herz erstaunlich schnell schlägt und seine Hände ein wenig zittern, fühlt Goran sich doch von einer neuen Sicherheit gestärkt, einem Selbstvertrauen, das ihm die Kraft gibt, an der Tür zu klingeln. Er hört leichte Schritte und hält den Atem an. Die Eingangstür öffnet sich und endlich erscheint Mel vor ihm.
Der Junge und das Mädchen verharren bewegungslos, atemlos. Was sie fühlen ist zugleich schmerzlich und wundervoll, brutal und zart, neu und vertraut. Sie schauen sich in die Augen und
finden darin alles, was sie immer gesucht haben, ohne es selbst zu wissen. „Mel…“, flüstert Goran, „ich…“ Dann schweigt er, denn er weiß schon, wie überflüssig hier Worte sind. Mel lächelt ihn an, und Goran ist überwältigt von ihrer Schönheit. Er lächelt zurück, und Mel begreift, dass sie sich soeben verliebt. Sie streckt ihm eine Hand entgegen, schafft es aber nicht, ihn zu berühren. Goran fühlt, wie sich in ihm eine Leere bildet, und plötzlich ist Mels ausgestreckte Hand sehr weit entfernt. Das Haus, der Hügel, der blaue Himmel. Da ist nur noch Weiß, und dann nur noch eine starke Übelkeit, die ihm brutal den Magen umdreht.
19 Goran – 30/04
Die Hölle nach dem Paradies. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich in meinem Zimmer auf dem Bett und glaubte zu sterben. Hände packten meine Schultern, und ich hörte eine Stimme sagen: „Komm! Schnell!“ Ich konnte nicht atmen, meine Hände zitterten, ich schwitzte aus allen Poren und meine Kehle wurde vom Brechreiz geschüttelt. Meine Beine folgten automatisch meinem Führer, und ich fand mich vor der Kloschüssel kniend wieder. „Na los! Lass es raus, danach geht es dir besser.“ Kaum hatte ich Peris Stimme erkannt, übergab ich mich schon mit dem Gefühl, mein Innerstes würde sich nach außen stülpen. Danach fühlte ich mich wirklich besser. „Geschafft, das ist gut“, sagte Peri und half mir aufzustehen. „Was machst du hier?“, fragte ich mit noch zittriger Stimme. Wir verließen die Toilette. „Ich bin seit zwei Stunden hier und warte am Fußende deines Betts. Wie konntest du das tun, Goran?“ Im Bad wusch ich mir das Gesicht, bevor ich antwortete: „Ich habe sie gesehen, Peri!“ „Wen hast du gesehen?“ „Mel! Die Tochter des Politikers, sie war…“ „Blödmann!“ „Aber ich habe sie gesehen. Ich…“ „Sie ist in Brüssel, hängt am Tropf, deine Mel. Sie liegt im Koma!“ „Aber du verstehst nicht, ich…“
„Oh doch! Ich verstehe sehr gut! Besser als du sogar!“ Ich versuchte zu argumentieren, aber Peri schnitt mir das Wort ab. Er war wütend. „Wie konntest du hinter meinem Rücken so etwas tun? Ich dachte, wir sagen uns alles. Freunde fürs Leben, Blutsbrüder!“ „Aber Peri, du…“ „Wie konntest du hinter meinem Rücken Kontakt zu Iannis aufnehmen? Und die Kohle? Wo hast du die Kohle her? Ist dir klar, was du da treibst, ist dir das klar, Goran?“ „Peri, mal langsam…“ „Nein, nix langsam! Du hast eine Droge genommen! Du!“ „Aber das ist nicht wirklich eine Droge, es…“ „Blödsinn! Das ist der Quatsch, den mein bescheuerter Bruder erzählt! Was weißt du schon, ob das eine echte Droge ist?“ „Und du?“, habe ich zurückgeschleudert. „Was weißt du denn schon davon, hä? Wer gibt dir das Recht, so mit mir zu reden? Was weißt du denn über all das?“ „Viel mehr, als du dir vorstellen kannst“, stieß Peri plötzlich müde hervor. Danach schaute er mir direkt in die Augen. Die Enttäuschung in seinem Blick war kaum zu ertragen. Als er mich fragte: „Hast du denn gar nicht an deinen Vater gedacht?“, brüllte ich los. „Komm mir bloß nicht mit meinem Vater!“, habe ich angefangen zu brüllen. „Lass mich in Frieden! Hau ab!“ „Goran, eins muss ich dir noch sagen, es ist wichtig. Ich…“ „Ich hab gesagt, hau ab! Bist du taub oder was? Los, verschwinde!“ Mit zusammengebissenen Zähnen schaute Peri mich an, dann ging er raus und schmiss die Tür hinter sich zu. Ich ging ins Wohnzimmer und ließ mich in Papas Sessel gegenüber der Fensterfront fallen. Nach all dem, was ich vorher erlebt hatte,
wusste ich nun nicht mehr, woran ich war, und ich fühlte mich total schlapp. Als ich erwachte, war es Nacht. Eine Nachricht von Norah besagte, dass mein Vater in Brüssel aufgehalten wurde. Madame Bin Son hatte auf dem Küchentisch eine Nachricht für mich liegen lassen. Sie habe mich nicht wecken wollen, und im Backofen stünde etwas zu essen. Ich hatte mindestens drei Stunden so tief geschlafen, dass ich weder das Telefon noch die Türglocke gehört hatte. Ich hatte geschlafen, ohne zu träumen, den Schlaf eines Toten. Ich fühlte mich schlecht, diesmal moralisch. Schrecklich deprimiert. Zurück im Wohnzimmer öffnete ich das große Fenster und ließ die Nachtluft herein. Ich nahm ihren unangenehmen Geruch schmerzlich wahr. Ich war seit jeher daran gewöhnt, wie jedermann, und normalerweise achtete ich nicht darauf. Doch diesmal, mit der genauen Erinnerung an die Reinheit der Luft, die ich am gleichen Nachmittag noch geatmet hatte, erschien mir die Luft in Paris nun unerträglich. Es regnete in Strömen, über den orangefarbenen Himmel zogen ungesund wirkende Wolken. Zum ersten Mal erschien mir das Rauschen des Verkehrs als unerträglicher Lärm. Und ich fühlte mich unwohl in meinem Körper. Ich fühlte mich schwer, ungeschickt, steinalt. Vor allem schnitt mir ein Schmerz in die Eingeweide, wie Fieber: ein Gefühl der Erwartung, des Bedauerns, der Leere. Es ähnelte dem Hunger, nur dass es nicht genügte, den Kühlschrank zu öffnen, um es verschwinden zu lassen. In meine Gedanken, in meinen Körper war der Moment eingebrannt, in dem Mel mir ihre Hand entgegengestreckt hatte. Ich spürte ein lebensnotwendiges Bedürfnis nach diesem Kontakt. Ich brannte darauf, ihre Haut auf meiner zu spüren, ihre Wärme, ihre Zartheit. Dieser unmöglich zu erfüllende Wunsch brachte mich zur Verzweiflung. Er machte mich krank und nahm meinem Leben seinen bisherigen Sinn. Ich war auf Mel-Entzug.
Ohne weiter nachzudenken, ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen linkte ich mich in das Online-Banking meiner Großeltern ein. Die Codes waren geändert worden, doch innerhalb von dreißig Minuten (mein PC ist nicht so gut wie der im Lycée) hatte ich sie wieder geknackt. Ich überwies tausendachthundert Euro auf Iannis Geheimkonto. Danach schickte ich ihm eine Mail. Ich musste ihn so schnell wie möglich sehen.
20 Goran – 01/05
Ich habe den Grund erreicht. Ich habe mit eigenen Augen den Bodensatz der Welt gesehen. Um 18 Uhr in Chartres spielt nicht mal mehr Iannis den Obercoolen. Diesmal habe ich wirklich Angst gehabt. Diese beunruhigende Fauna verströmt eine derartige Gewaltbereitschaft, einen derartigen Hass… Prostituierte jeden Alters an jeder Ecke, Banden, die Terror verbreiten, Kinder, die offensichtlich Thrill oder PulpX gefixt haben, verdreckte Bettler… Der Platz vor der Kathedrale wimmelte von Verkäufern, fliegenden Händlern, Dealern. Eine Welt ohne Kontrolle, ohne Regeln, ohne Gesetze. Iannis hatte es eilig wieder weg zu kommen. Der Scheißkerl gab mir nur zwei Röhrchen und erklärte mir, dass er mir beim ersten Mal einen Freundschaftspreis gemacht habe. Jetzt wären es achthundert Euro pro Röhrchen. Erst zu Hause ist mir bewusst geworden, dass er mich um zweihundert Kröten beschissen hat. Aber das ist mir im Grunde egal. Ich kann nicht mehr warten. Ich will aus diesem trübseligen Leben raus. Ich will zurück in die wohltuende Schönheit von Mels Welt. Bevor wir uns trennten, nahm Iannis sich trotz allem die Zeit, mir deutlich zu sagen, dass ich zwischen zwei Einnahmen mindestens zwölf Stunden vergehen lassen muss. Das ist okay. Es ist 23 Uhr. Mehr als ein Tag ist vergangen, seit Mel mir die Hand entgegengestreckt hat und verschwunden ist.
21 Serge – 02/05
Ich schlafe immer weniger. Ich bin immer leichter ablenkbar, reizbar, nervös. Die vergangenen zwei Tage, die ich mit Sylvia in dem Labor verbracht habe, das wir im AZ-VUB eingerichtet haben, haben mich nicht ruhiger gemacht. Auch wenn ich heute wirklich mehr über E-den weiß. In diesem Punkt zumindest hat mich Sylvia nicht zum Narren gehalten.
Vor zwei Tagen haben wir das Material, das Madame vorgab zu benötigen, aufgebaut, und sie hat sich sofort an die Arbeit gemacht, was mich im Grunde überraschte, das muss ich zugeben. Ich war so fest davon überzeugt gewesen, dass sie sicherlich versuchen würde, weiter Zeit zu schinden. Aber nein. Im Gegenteil. Nahezu sofort verwandelte sie sich von der Geschäftsfrau in die Wissenschaftlerin, mit weißer Bluse und kleiner Brille. Erneute Metamorphose. Die belgischen Polizisten, die bei mir blieben, um sie zu bewachen, trauten ihren Augen kaum. Und ich musste sie abermals warnen: Selbst als Wissenschaftlerin verkleidet ist Sylvia noch immer eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Verhaltensmaßregel Nummer eins: sich nicht beeindrucken lassen. Nummer zwei: ihr nie von der Seite weichen. Was meine Regel Nummer eins betrifft, so muss ich zugeben, dass Sylvia mich heute Abend beeindruckt hat. Fast zwei ganze Tage hat sie im Labor verbracht, einem engen Raum auf derselben Etage wie der „Gemüsemarkt“. Sie führte dort zahlreiche Analysen durch, mit ich weiß nicht was
für einem Ziel. Sie schloss mehrere Patienten ans Onirometer an, es ist aber fraglich ob dieses Gerät aufschlussreichere Ergebnisse liefert als eine banale Hirnstromkurve. Während sie arbeitete, hielt ich mich in einem Raum nebenan auf, einer Art Sekretariat mit einem alten Schreibtisch, auf den ich mein Funktelefon gestellt habe. Dort studierte ich meine Akten, unterhielt mich mit meinen belgischen Kollegen, dem Krankenhauspersonal, und vor allem ließ ich meine Luxusgefangene nicht aus den Augen. Vorhin, als meine Augenlider bereits vor Müdigkeit schwer wurden, und ich anfing zu glauben, dass Sylvia drauf und dran sei, uns zu verarschen, hat sie mich wieder ein Mal überrascht – war ja fast klar. Gegen Mitternacht kam sie aus ihrem Labor. Sie sah wirklich erschöpft aus. Eine Schutzbrille baumelte um ihren Hals, die kurzen Haare waren verwuschelt, der Kragen ihrer Bluse geöffnet (ich konnte sehen, dass der hübsche „Heuler“ noch da war). Sie kam herüber und setzte sich auf den kahlen, dreckigen Holzschreibtisch, nahm eine Zigarette aus einer ihrer Taschen und zündete sie an. Dabei musterte sie mich fortwährend mit amüsiertem Blick. Dann hielt sie mir einen Vortrag über die neue Droge. Jetzt weiß ich alles darüber. „Es ist wirklich das, was ich dachte“, erklärte sie und blies eine Rauchwolke in die Luft. „Was?“, fragte ich vorsichtig, „dein Eden?“ „Mein E-den, ja, wie du schon sagst.“ „Na und?“ „Vergiss alles, was du über Drogen zu wissen glaubtest. Vergiss PulpX, HighCoke, Dracula. Vergiss all dieses banale Zeug. Damit hat E-den absolut nichts gemeinsam. Im Grunde ist die einzige Gemeinsamkeit die Art der Einnahme, durch Injektion eben. Abgesehen davon sind wir in einer anderen Welt.“
Sie lächelte seltsam. „Du hast natürlich kapiert, worauf sich das E in E-den bezieht, oder?“ „Wie? Das Ein…“ „Ja, E wie in E-Mail, in E-Business… Man könnte von EDrug sprechen. Serge, das was die Leute, die nebenan liegen, gefangen hält, ist zweifelsfrei die erste jemals kommerzialisierte elektronische Droge.“ Was sie mir sagte, war Schwindel erregend, beängstigend. Eine elektronische Droge? Was redete sie da? „Was haben die Analysen ergeben, die ihr mit den Rückständen aus den Jet-Injektoren habt machen können?“ „Nicht viel…“ „Sie haben nur ein Syntheseprotein gefunden, dessen Funktion keiner versteht, stimmt’s?“ „Ja, aber…“ Wie war sie so schnell zu diesen Ergebnissen gekommen, obwohl sie nie die Fallakten hatte einsehen wollen. In den Patientenakten des „Gemüsemarktes“ wurde das Protein nicht erwähnt. Es war bisher nur ein Beweisstück aus den laufenden Ermittlungen. Sylvia wusste schon viel darüber, und sie hatte noch mehr Überraschungen für mich. „Ich kann dir sagen, wozu das Protein dient. Es ist ganz einfach. Sein einziges Ziel ist es, den Hirnstamm zu neutralisieren, den Teil des Gehirns, der, wenn du so willst, die Rolle des Zentralverteilers für sensorische Nachrichten spielt, die aus unserem gesamten Organismus zusammenkommen. Ist dieser Bereich aktiv, bleibt man bei vollem Bewusstsein. Sinkt die Aktivität des Stammhirns, hat man das Bedürfnis einzuschlafen. Bei manchen Personen kann es zu Halluzinationen kommen. Und neutralisierst du diesen Bereich komplett, fällst du in Trance… oder ins Koma.“
„Willst du damit sagen, dass diese Leute gefixt haben, um sich ein Syntheseprotein zu injizieren, das sie ins Koma fallen lässt?“ „Natürlich nicht. Sie haben aus genau den gleichen Gründen gefixt, die all die Drogensüchtigen dieser Welt dazu bringen, mehr oder minder harte Drogen zu konsumieren. Um der Welt um sie herum zu entfliehen, Serge. Und genau da ist E-den jedem anderen im Umlauf befindlichen Produkt überlegen. Mit ihm gibt es keinen zusammenhanglosen Trip, keine Farbblitze, verrückten Kaleidoskope oder das Gefühl zu fliegen oder zu schwimmen. E-den schenkt dir eine völlig andere Realität, so viel schöner als unsere, dass du niemals mehr auf die Erde zurückkehren willst!“ Ich verzog ungläubig das Gesicht. „Einfach so durch ein Protein? Aber was enthält es, oder eher, was löst es aus, außer dem Risiko eines Komas?“ „Nichts. Nicht das Protein ist der wesentliche Bestandteil von E-den. Im Grunde passiert alles bei der ersten Einnahme, und das ist das Diabolische an diesem Zeug. Ab der ersten Einnahme steht fest, dass du abhängig bist.“ Ich schüttelte schockiert den Kopf. Abhängigkeit ab der ersten Injektion! Das war in der Tat teuflisch. So war es unmöglich, einfach nur zu probieren, zu spritzen, um nur mal zu sehen, oder nur ein Mal, um sagen zu können, es wie die anderen getan zu haben. All diese Vorwände, hinter die sich die Drogenkonsumenten häufig flüchteten. Eine Dosis, eine einzige, und man konnte nicht mehr davon lassen. Der absolute Horror. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Wir hatten hier nur rund dreißig Opfer, aber wie viele Menschen hatten Eden schon probiert und drohten folglich, auch im Koma zu enden? „Was ist in der ersten Dosis? Welches Teufelszeug können sie da hinein getan haben?“
Sylvia schaute mich ernst an. Dann drückte sie ihre Zigarette in einem vom Gebrauch geschwärzten Glasaschenbecher aus. „Roboter.“ Ich richtete mich in meinem quietschenden, unbequemen Sessel abrupt auf. „Was?“ „Nun ja, nicht genau. Eher Nanoroboter, die ungefähr so groß wie Neuronen sind. Verstehst du, was ich meine?“ „Nicht wirklich, nein, aber ich stelle mir vor, dass sie mit bloßem Auge nicht zu sehen sind…“ Ich war mir weder sicher, ob ich verstand, was sie mir sagte, noch ob ich es glauben wollte, doch ich musste weiter zuhören. „Ja, so könnte man es sagen. Grob gesagt sind es winzige, technologische Kunstwerke, die nicht größer sind als ein Hundertstel Mikrometer.“ „Und wozu dienen sie?“ Ich fühlte in mir die Wut wachsen. Mit ihrer Art, die Informationen nur tröpfchenweise, wie aus einer Pipette fließen zu lassen, gab sich Sylvia mal wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung hin: mit mir zu spielen. „In der ersten Dosis E-den sind rund zwanzig Nanoroboter, vielleicht ein paar mehr. Jeder ist sorgfältig programmiert. Einmal ins Blut gespritzt, wandern sie selbstständig bis zum Gehirn. Jeder hat eine eigene Aufgabe zu erfüllen. Manche werden sich am Thalamus festsetzen, dem Teil des Gehirns, das die sensorischen Botschaften wie Wärme, Schmerz, Tasteindrücke filtriert. Andere verteilen sich im primären Sehzentrum, dem Bereich, in dem die Botschaften von der Netzhaut verarbeitet werden. Anders gesagt, sie kümmern sich um das Sehen. Einige vervollständigen das System, indem sie sich im primären Hörzentrum installieren. Danach warten sie.“ „Sie warten?“
„Sie warten darauf, dass das Syntheseprotein seinen Teil der Arbeit erledigt, das heißt, dass es das Stammhirn stilllegt und so den Nutzer in einen künstlichen Schlaf versetzt. Dann kommen die Nanoroboter ins Spiel: Überall wo sie sich befinden, fungieren sie als Sender und Empfänger, als Relais, und saturieren das Gehirn buchstäblich mit virtuellen Informationen. Der Mensch schläft nicht, er ist wirklich anderswo, denn seine sensorischen Organe sind diesen Maschinen ausgesetzt. Als wäre man in einem virtuellen Spiel mit Surroundmodus, nur dass dies nicht durch Ganzkörperoverall mit Exoskelett, Datenhandschuhen, Panoramabrille und Audiohelm geschieht, sondern von innen.“ „Ich glaube, ich beginne zu verstehen. Diese Roboter spielen die Rolle des VR-Overalls, jedoch eines Overalls, der direkt ins Hirn des Spielers implantiert ist.“ „Exakt, Serge. So ist Wirklichkeitsnähe garantiert, denn man braucht nichts mehr anzuziehen, braucht sich nicht an einen speziellen Ort zu begeben. Dein Spiel beginnt jedes Mal, wenn du dir eine Dosis kaufst.“ „Die nach der ersten Dosis gekauften Dosen enthalten also keine Roboter mehr, stimmt’s?“ „Stimmt genau. Nur das Protein, das ihr Bewusstsein aussperrt und so den mikroskopisch kleinen Spielzeugen erlaubt, ihre Sendungen ungestört zu übermitteln.“ „Ja aber, du meinst, dass unsere Schläfer nebenan dabei sind, vernetzt zu spielen, in einer anderen Welt?“ „Da sie im Koma sind, bedeutet das à priori, dass sie permanent in der anderen Welt sind, ja. Aber weißt du, Serge, ich glaube, dass der Ausdruck Spiel nicht richtig ist. Wenn du in einem Spiel bist, so ausgeklügelt es auch sei, weißt du es immer mehr oder weniger, und du kannst es verlassen, wenn du dies willst. Indem du deine Panoramabrille herunter reißt zum Beispiel. Hingegen hier, wenn du erst einmal begonnen
hast, kannst du nichts mehr tun. Wenn du auf dem Bewusstseinsniveau komplett weggeschaltet bis, dann bist du anderswo, das ist alles. So als würdest du träumen und der Traum käme dir in dem Moment real vor… Na ja, nehme ich an. Ich persönlich habe es nie probiert.“ Das Ausmaß dessen, was sie mir soeben erklärt hatte, machte mich sprachlos. „Das anderswo, diese andere Welt, von der du sprichst, was ist das?“ „Da bin ich nicht ganz sicher. Eine virtuelle, strukturierte Welt, deren Software zum Teil in die Nanoroboter eingebaut ist, aber von irgendeiner Zentrale gesteuert werden muss, einer Zentrale, die Informationsänderungen sendet, und die die Entwicklung der fraglichen Welt regelt, damit jene, die sich darin befinden, den Eindruck haben, eine andere Existenz zu leben, aber eine perfekt logische…“ „Scheiße“, murmelte ich. „Das ist ein gigantisches Projekt! Das muss Hunderte Milliarden gekostet haben.“ Auf Sylvias Gesicht zeigte sich wieder dieses spöttische Lächeln. „Ich schätze, die Einnahmen dürften die fraglichen Investitionen bei weitem übersteigen.“ Ich erhob mich. Ich musste über die Auswirkungen des Gesagten nachdenken. Außerdem hatte ich weitere Fragen an sie. Zum Beispiel: Wie hatte sie all das in nur zwei kümmerlichen Arbeitstagen in ihrem improvisierten Labor herausfinden können? Die Hände in die Hüften gestemmt, den Hals gestreckt, drehte ich mich zu ihr um. „Das ist verrückt“, sagte ich. „Wer konnte nur auf so eine irrwitzige Idee kommen?“ Ihr wundervolles Lächeln wurde größer. „Ich!“
22
Diesmal hält sich Goran Poiret nicht mit E-dens Schönheit auf. Er geht schnell, so schnell sogar, dass er – ohne sich dessen bewusst zu sein – Etappen überspringt, einfach indem er sich auf die darauf folgende konzentriert. Unbeeindruckt durchquert er mit einem einzigen Schritt ganze Straßen. Eine Allee fliegt in einer Zehntelsekunde vorbei, und ein wenig betäubt findet sich der Junge am Fuße des Hügels wieder, auf dem auch Melanie Grehants Haus steht. Mit einem Blick ist er vor ihrer Tür. Nicht Mel öffnet, sondern eine ältere Frau, die ihn anlächelt. „Ähm… Guten Tag, ich bin…“ „Goran, nehme ich an?“, antwortet die Frau lächelnd. „Kommen Sie herein. Melanie hat mir viel von Ihnen erzählt.“ Überrascht betritt der junge Mann das Haus und sieht Melanie am oberen Ende einer breiten Treppe erscheinen. „Ich lasse euch allein“, sagt die Frau und geht unter Gorans perplexem Blick hinaus. Plötzlich, ohne dass er einen einzigen Schritt gehört hätte, ist Mel neben ihm am unteren Ende der Treppe. „Das ist…“ „Meine Mutter“, antwortet das junge Mädchen. „Aber sie ist…“ Mitten in seiner Frage hält er inne. Mel lächelt ihn an, und ihre Augen laden zum Vergessen ein. Goran weiß nicht mehr, ob er wirklich gehört hat, wie Maxime Grehant sagte, dass seine Frau vor zwei Jahren gestorben sei. Eigentlich weiß er gar nichts mehr, nicht wo, noch wer er ist. Er fühlt ein Beben in sich aufsteigen, und seine Beine haben etwas Mühe, ihn zu
tragen. Sein Blick verliert sich in dem des jungen Mädchens, und ein süßes Fieber breitet sich von seinem Herzen bis in die entferntesten Atome seines Körpers aus. Mel streckt eine Hand aus und diesmal ergreift Goran sie. Es ist wie eine Explosion in ihm: Er entdeckt unbekannte und stärkere Emotionen, als er je in seinem Leben empfunden hat. Goran stockt der Atem. Mel nähert sich unmerklich, und die beiden Jugendlichen umarmen sich. Mel ist kleiner als Goran und ihre Wange lehnt an der Brust des Jungen, der die Augen schließt. Von nun an existiert für sie nur noch ihre gemeinsame, vereinte Wärme. Ihre Herzen schlagen im gleichen Takt, aber schneller, als sie es jemals getan haben. Mel und Goran könnten so bleiben, unbeweglich, einer in den Armen des anderen, bis zum Ende der Zeit.
Dennoch finden sie sich draußen wieder, entdecken einen weiteren Schatz, einfach und süß: Hand in Hand spazieren zu gehen. Und niemals war E-den so schön, wie durch Mels und Gorans Augen betrachtet. Der Junge lässt sich durch die Stadt führen, und Mel ist glücklich ihm alles zu zeigen, ihre Lieblingsplätze, die Straßen durch die sie gerne schlendert, die Geschäfte, Boutiquen, die sie mit ihrer Mutter zusammen leerkauft, die Orte, an denen sie dem Gesang der Vögel lauscht. Später bringt sie ihm bei, die Fortbewegung einfach durch mentales Wollen besser zu beherrschen. Und schließlich nimmt sie ihn in ihr Stammrestaurant mit. Sie sitzen auf der Terrasse, lassen sich von der immerwährenden Frühlingssonne streicheln und versinken im Blick des jeweils anderen, bis man ihnen ihr Essen bringt. Goran hat keinen Hunger, aber er isst mit Freude. So bemerkt der Junge, dass er hier keine Bedürfnisse hat, aber dass alles, was er tut, gut ist.
„Hattest du nie Lust zurückzukehren?“, fragt er das junge Mädchen. „Zurückkehren?“, erwidert sie mit gerunzelter Stirn. „Ich weiß nicht… fehlt dir dein Vater nicht?“ Mel versteht wirklich nicht, wovon Goran spricht. „Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt!“, stellt sie schließlich klar. „Aber…“ „Ich träume manchmal von ihm. Doch das sind Albträume.“ Goran hat Angst davor, zu verstehen, was die eben gehörten Worte bedeuten. „In meinen Träumen lebe ich mit meinem Vater zusammen, in einer dreckigen und lauten Welt. Wir streiten uns auch andauernd. Hast du niemals schlechte Träume?“ „Selten“, antwortet Goran schweren Herzens. „Ich träume eher von Orten, die diesem hier ähneln!“ Goran ist sich nun sicher, dass Mel keinen Unterschied zwischen der Realität und der Welt macht, in der sie zu leben glaubt. Er ahnt, dass für sie ihr wahres Leben, ihre Vergangenheit nur noch Albträume sind. Auf einen Schlag ist seine Freude etwas getrübt, und er betrachtet seine Umgebung mit misstrauischerem Blick. Vor allem denkt er wieder an den leblos auf dem Bett liegenden Körper des jungen Mädchens. Aber das Gesicht, das ihn über den Tisch hinweg so realistisch anlächelt, verwirrt ihn, und er beginnt an seinem Wissen zu zweifeln. Plötzlich hält Goran inne. „Was ist los?“, fragt Mel besorgt. „Ich dachte, ich sähe…“ Im gleichen Moment taucht die Silhouette, die der Junge wahrgenommen hat, aus dem Schatten auf, und Goran erkennt seine Mutter. Sofort dreht er sich weg, damit sie ihn nicht sehen kann.
„Wen? Wen hast du gesehen, Goran?“, fragt Mel. „Meine Mutter.“ „Deine Mutter? Wo? Das ist toll, ich würde sie gerne kennen lernen. Du…“ „Auf keinen Fall! Sie darf mich hier nicht sehen!“ „Aber warum?“ Aus den Augenwinkeln sieht Goran, dass seine Mutter vorbei geht, ohne ihn zu sehen. Sie entfernt sich am Arm eines Mannes, den er nur mit Mühe als seinen Stiefvater erkennt, so sehr ist dessen Erscheinung geschönt. „Gehen wir“, schlägt Goran vor und erhebt sich verstimmt. Der Schock über die Entdeckung, dass seine eigene Mutter eine E-den-Konsumentin ist, eine Drogensüchtige, lässt den jungen Mann jäh wieder Verbindung zur Realität bekommen. Für einen Moment wirkt der Charme der künstlichen Welt um ihn nicht mehr, und Goran sieht statt der Vorbeigehenden, Mels und sich selbst nur ihrer aller leblose Körper im echten Leben. „Gibt’s ein Problem, Goran?“, fragt Mel, als sie ihn auf der Straße einholt. „Ein Problem?“, wiederholt der junge Mann ironisch. „Warum sollte es ein Problem geben? Wir gehen nur in einer Welt spazieren, die nicht existiert, sind umgeben von Leuten, die nicht existieren. Dieser Vogel dort? Ein Trugbild. Dieses Auto? Nur Schein. Du, Mel! Du liegst in diesem Augenblick in einem Krankenhaus in Brüssel! Und ich liege in meinem Zimmer in Paris. Lug und Trug! All dies existiert nicht!“ Mel weicht zurück. „Wovon sprichst du?“ „Du weißt sehr gut, wovon ich spreche, Mel“, antwortet Goran bitter.
Tatsächlich weiß Mel nicht so recht, wovon der junge Mann spricht. Vage erinnert sie sich, es ist wie der Schatten einer Erinnerung, seit langer Zeit begraben. Die von Goran ausgesprochenen Worte rufen etwas Bekanntes in ihr hervor, dessen Ursprung sie aber nicht ganz erfassen kann. Seine Worte machen ihr Angst. Sie treiben sie in ihre Albträume zurück, in denen sie mit diesem Vater zusammen lebt, den sie nie kennen gelernt hat, der ihr aber dennoch so echt vorkommt. Die beiden Jugendlichen stehen sich schweigend gegenüber. Die Sorge verdunkelt das hübsche Gesicht des Mädchens, und Goran fühlt, wie seine Wut Stück für Stück schwindet. „Entschuldigung“, seufzt er schließlich. „Verzeih mir, dass ich wütend geworden bin. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“ Mels gerunzelte Stirn glättet sich wieder und sie lächelt ihn an. Doch dieses Lächeln fällt ihr nicht leicht. Gorans Worte haben Zweifel in ihren Gedanken gesät. Dennoch nimmt sie seine Hand in ihre und fühlt sogleich, wie ihr Vertrauen zurückkehrt. „Komm“, fordert sie Goran auf. „Ich will dir etwas zeigen.“ Noch nie hat Goran etwas so zauberhaftes wie die Funny Islands im Abendlicht gesehen. Die Lichter, die Musik, die ansteckend fröhlichen Menschenmassen, die süßen und betörenden Gerüche. Goran und Mel haben vergnügt und einträchtig jede Attraktion ausprobiert. Jetzt sind sie müde und wie berauscht von all dem Spaß. So begeben sie sich an einen etwas abseits gelegenen Ort auf einer der Vergnügungsparkinseln. Goran spürt sein Herz weit werden beim Anblick des stimmungsvollen Sonnenuntergangs, der die Bucht glutrot färbt. Mel führt ihn zu einer kleinen Holzhütte, die direkt am Ufer steht. Entfernt hört man Musik und Lachen, und das gedämpfte Rauschen der Brandung scheint die Welt auf die Ruhe der Nacht vorzubereiten. Draußen ziehen
Wildenten friedliche Kreise über dem Meer, bevor sie ins Landesinnere verschwinden. Goran und Mel sind allein. Sie wenden sich einander zu und schauen sich mit großer Intensität an. Ohne sich einer einzigen Bewegung bewusst zu sein, nähern sie sich einander und ihre Lippen berühren sich sanft. Goran schließt die Augen und hält den Atem an. Ein Schauer vollkommenen Glücks durchläuft seinen Körper, verlässt ihn aber sofort wieder. Auf einmal fühlt er, wie der süße Kontakt zu Mels Lippen schwindet, und als er die Augen öffnet, sieht er nur Weiß. Brutal breitet sich von neuem Übelkeit in seinen Eingeweiden aus.
23 Goran – 02/05
Ich hab es nicht mal mehr bis zur Toilette geschafft. Ich habe auf den Flurboden gekotzt. Warum muss die Rückkehr nur so brutal sein? Man fühlt sich, als sei es das Ende der Welt, oder der Tod. Warum werde ich immer in dem Moment in die Realität zurückgeholt, in dem ich endlich das Glück zu fassen bekomme? Glücklicherweise habe ich Iannis zwei Schuss abgekauft. Mel ist dort, irgendwo, ganz nah. Ein kurzer Druck auf den Jet-Injektor genügt. Ich kann sie nicht warten lassen…
24 Serge – 02/05
Maxime Grehants Privatjet fliegt über den Wolken dahin. Ich bin auf dem Rückweg von einem Abstecher nach Kopenhagen, den ich mir gerne erspart hätte.
Im Grunde bin ich zufrieden. Mit dem, was Sylvia mir erklärt hat, auch wenn ich ihr immer noch nicht vertraue, habe ich das Gefühl, dass wir endlich vorwärts kommen. Es bleibt natürlich noch viel zu tun. Zuerst einmal: Sie hat mir nicht gesagt, wie man die Opfer aus dem Koma holt. Dann: Sie hat mir auch nichts über das Netzwerk gesagt, dass hinter all dem steckt. Aber ich habe jetzt wenigstens genug Informationen, um mich wirklich an die Arbeit machen zu können. Wenn es uns zum Beispiel gelänge, einen dieser Nanoroboter, von denen sie mir erzählt hat, in die Finger zu bekommen, wäre es vielleicht möglich, seinen Hersteller ausfindig zu machen, und dadurch jene, die diese grässlichen Spielzeuge bei ihm bestellt haben. Wir werden es vielleicht niemals schaffen, die Köpfe im Hintergrund zu fassen, aber wir könnten zumindest ihren dreckigen Handel stören. Und je mehr Sorgen sie mit uns haben, je mehr sie sich anstrengen müssen, unseren Zugriffen auszuweichen, umso weniger arme Menschen können sich vergiften. Diese Hoffnung hat mich einst dazu gebracht, diesen Job anzunehmen.
Als ich heute Morgen im Brüsseler Krankenhaus aufwachte, machte ich mir sofort die kleine Freude, Sylvia zu wecken, indem ich ohne große Umschweife an die Tür des fensterlosen Zimmers klopfte, das als Zelle für sie dient. Sylvia liebt es, lange im Bett liegen zu bleiben. Das ist eine ihrer zahlreichen Schwächen. Folglich hasst sie es, wenn man ihr gemütliches Ausschlafen torpediert. Ich weiß, das ist schäbig, aber für mich ist es ein kleines Vergnügen. Ich hörte sie brummen. Lächelnd ging ich ins Badezimmer. Kaum war ich drin, klingelte mein Telefon. Es war das Direktionsbüro des europäischen Anti-Drogen-Ministeriums. Grob gesagt, der Chef der Chefs in meinem Aufgabenbereich. Er erwarte mich gegen Mittag in seinem Büro in Kopenhagen. Mir blieb gerade genug Zeit, um erst Norah in Paris anzurufen und sie eiligst hierher zu beordern, dann die belgischen Kollegen um einen Hubschrauber oder etwas anderes zu bitten, das mich schnell nach Kopenhagen bringen konnte. Ich schmiss ein, zwei Sachen in eine Tasche und verabschiedete mich von Brüssel. Sylvia ließ ich eingesperrt in ihrem Zimmer. Norah bekam den Auftrag, ihr später die Tür zu öffnen. Es wäre kein guter Zeitpunkt, wenn uns die Schlange jetzt entwischte. Auf die Minute genau stand ich in Holbrookes Büro. Der Chef der europäischen Drogenfahndung ist ein kräftiger Kerl, ein wenig größer als ich, Typ molliger Sumoringer in einem billigen Anzug. Er ist absolut humorlos, so heiter wie Katorga bei Unwetter. Sobald ich ihm gegenüber stand, durchbohrten mich seine kleinen blauen Augen. Ich wusste, was nun kommen würde: Er würde mich zur Schnecke machen, um mir zu zeigen, dass er die Ermittlungen aus nächster Nähe verfolgt, und dass sie nicht schnell genug vorankämen. Daran war ich gewöhnt. Seit ich unter ihm arbeitete, erlebte ich immer die gleiche Vorstellung.
Aber diesmal hatte ich genug Informationen, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Was ich hingegen nicht vorausgesehen hatte, war Maxime Grehants Anwesenheit. Er saß in einem ausladenden Sessel, mit dem Rücken zur gläsernen Fensterfront, durch die man den Kopenhagener Hafen überblicken konnte. War er als schmerzerfüllter Vater gekommen, oder um den im Drogenkampf engagierten Präsidentschaftskandidaten zu spielen? War er gekommen, um sich zu beschweren, oder um meinem Chef Druck zu machen, die Dinge schneller voran zu treiben? Ich wusste es nicht, doch diese Geschichte nahm eine Wendung, die mir gar nicht gefiel. Holbrooke begann also seine Vorstellung. Die Ermittlungen würden sich dahinschleppen (da hatte er hatte nicht ganz Unrecht), ich hätte nichts Neues (da irrte er sich), und vor allem hätte ich mit der Freilassung von Sylvia Corso einen großen Fehler begangen. Wie alle Chefs hatte er ein schlechtes Gedächtnis, denn er selbst hatte grünes Licht dafür gegeben. Aber gut, Chefs haben immer Recht, das weiß jeder. Auf seinem Schreibtisch staple sich ein Gebirge Beschwerdebriefe von den Familien der verschiedenen direkten oder indirekten Opfer meiner „Freundin“. Und das sei noch nicht alles: Auch an höchster Stelle begänne es bereits zu rumoren. Zudem habe auch Monsieur Grehant ihm viel über meine Methoden zu berichten gehabt. Daraufhin begann dieser selbst in eiskaltem, gefühllosem Ton seine Beschwerde vorzubringen: Ich setze die Komapatienten einem Risiko aus, wenn ich eine so gefährliche Kriminelle wie Sylvia Corso zu ihnen lasse. Ihre Anwesenheit drohe die Medien auf den Plan zu rufen… Und so weiter und so weiter… Kurz und gut: Ich hatte alles falsch angefangen. Ich bin an diese Art von Zirkus gewöhnt. Längst habe ich begriffen, dass diese Herren an der Macht, immer wenn es ein Problem gibt, einen Sündenbock brauchen, eine Sicherung, die
man im Notfall rausspringen lassen kann. In einer solchen Situation, selbst wenn die Ermittlungen nicht vorwärts kommen, antworte ich immer so ruhig wie möglich, dass mein Team dabei ist, Fakten zu sammeln, die uns schnell ans Ziel bringen werden. Diesmal bemühte ich mich darum, nicht zu sehr ins Detail zu gehen. Schließlich hatte Maxime Grehant hier nichts zu suchen. Er ist nicht unser Minister, nur ein Kandidat, der sich, so fürchte ich, mehr Sorgen um seine Karriere als um seine Tochter macht. Deswegen kam es in seiner Gegenwart für mich nicht in Frage, zu berichten, welche Informationen ich von Sylvia bereits erhalten hatte. Nicht, dass ich kein Vertrauen in ihn gehabt hätte, aber jeder hat sein Fachgebiet. Er macht Politik, ich meinen Job als Polizist. Ich versuche die Schweinehunde zu erwischen, die Melanie und die anderen ins Koma gebracht haben. Eineinhalb Stunden später verließen wir Holbrookes Büro. Grehant und seine Gorillas fuhren mit mir im Fahrstuhl, als der Politiker mich mit einer Äußerung überraschte: „Wenn Sie wollen, können Sie mit uns nach Paris fliegen, Monsieur Poiret.“ Eigentlich hatte ich geplant, nach Brüssel zurückzukehren. Aber ich sagte mir, dass ich die Gelegenheit nutzen könnte, um etwas Zeit mit Goran zu verbringen. „Ich werde morgen sowieso wieder nach Brüssel reisen“, erklärte er, „um meine Tochter zu besuchen.“ Ich nahm das Angebot an, und bald darauf saß ich an Bord des Privatjets des französischen Präsidentschaftskandidaten. Es lief schlecht. Eine ganze Weile hatten wir geschwiegen, dann stellte er diese Frage, und ich ließ mich zu viel zu vielen Worten hinreißen. „Warum hat sie das getan, Monsieur Poiret?“, fragte er. Ich sah ihn ungläubig an.
„Das fragen Sie mich? Es ist ihr gelungen, sich dieses Zeug zu beschaffen, es ist ihr gelungen, sich bei Ihnen zu Hause eine Überdosis zu spritzen, und Sie wissen nicht, warum sie das getan hat?“ Er wurde blass. Ich weiß nicht, ob wegen meines Tonfalls oder wegen meiner Worte. „Überlegen Sie, Grehant! Ihre Mutter ist tot, sie hat keine Geschwister, Sie sind alles, was ihr geblieben ist, und Sie sind nie da! Ich weiß, Sie werden mir von Ihrer Karriere erzählen, von Ihren Verpflichtungen! Ich kenne das nur zu gut. Das sind die Argumente, die ich in meinem Job ein wenig zu oft gehört habe. Ihre Tochter ist allein. Sie ist eine Heranwachsende, die nicht mehr weiß, woran sie ist, die den Halt verliert. Ein Kind, das seinen Vater braucht.“ Ein wenig dick aufgetragen, aber es beeindruckte ihn. Besonders da ich noch hinzufügte: „Wie gesagt: Wenn ich kann, werde ich sie dort herausholen, sie und die anderen. Wir kommen voran. Wenn es ein Mittel gibt, dieses Koma zu beenden, dann werde ich es finden, glauben Sie mir!“ Er nickte. „Haben Sie Kinder, Monsieur Poiret?“ „Einen Sohn.“ „Ach ja, der junge Mann, der an dem Abend bei Ihnen war, als Melanie…“ Er hielt kurz inne. „Warum war er an dem Abend bei Ihnen?“, fragte er ehrlich interessiert. Daraufhin erzählte ich ihm die Geschichte unserer verpatzten Ferien. Ich erzählte ihm auch von meiner Arbeit, die mich voll in Anspruch nimmt, von meinem Leben, das zu schnell vergeht, und es sah aus, als verstünde er mich gut. Dann sagte er zu mir: „Sehen Sie, Monsieur Poiret, auch Sie widmen sich zuerst Ihrer Karriere, Ihren Verpflichtungen. Auch Ihr Sohn
muss sich einsam fühlen… Hören Sie auf den Rat eines Vaters, der es zu spät begriffen hat, Monsieur Poiret. Geben Sie auf ihn Acht!“
Ich verdaute noch, was er gesagt hatte, als sein Senkrechtstarter pfeifend auf dem Rollfeld des Héliports von Levallois aufsetzte. Am Ende des Rollfelds erwartete mich Norah. Norah, die in Brüssel hätte sein sollen! Sie war eiligst nach Paris zurückgekehrt, um mich abzufangen. Eine schreckliche Vorahnung ergriff mich.
25 Serge – 03/05
Ich habe eben den schrecklichsten Abend meines Lebens verbracht. Nie zuvor habe ich so etwas erlebt. Mein Kind, mein Goran, liegt im Koma! Er hat sich gespritzt! Wie die anderen! Und wie all die Eltern in dieser Situation, wie Grehant ein paar Stunden vorher in seinem Flugzeug, konnte ich mir nur noch die immer gleiche Frage stellen: Warum? Warum hat mein Kind, das ich so sehr liebe, das ich so gut zu kennen glaubte, zu dem ich vollstes Vertrauen hatte, diesen Mist genommen? Er muss sehr unglücklich, sehr allein gewesen sein, und ich habe nichts bemerkt. NICHTS!
Während Norah mich zum Krankenhaus brachte, ging mir immer und immer wieder Grehants Warnung durch den Kopf. Anstatt in die Politik zu gehen, hätte er Wahrsager werden sollen! Norah stand ebenfalls unter Schock. Sie versuchte mir zu erklären, wie es passiert war, aber ich war zu niedergeschlagen, um ihr zuzuhören. Ich behielt nur, dass sie von Gorans Freunden informiert worden war, die ihn hatten besuchen wollen, Peri und ein anderer, ein gewisser Jorn, glaube ich. Sie sagte mir auch, dass sie meine Eltern angerufen habe, die theoretisch schon im Krankenhaus sein müssten. Sie hatte sogar Katrina, meine Exfrau, kontaktiert.
Wie ein Zombie lief ich durch die Krankenhausgänge. Ich nahm weder den schrecklichen Krankenhausgeruch richtig wahr noch die instinktive Furcht, die sich mit ihm verbindet. Ich kam erst wieder voll zu Bewusstsein, als Norah die Tür eines Zimmers aufstieß, dessen Nummer ich vergessen habe. Ich sah ihn auf diesem kalten, weißen Bett liegen, angeschlossen an schreckliche Apparate, die atmeten und blinkten. Als seine Freunde ihn fanden, haben sie sofort die Rettungsleitstelle benachrichtigt. Doch es ist offensichtlich, dass mein Sohn auch nach Brüssel verlegt werden muss. Auch er wird seinen Platz im „Gemüsemarkt“ bekommen! Hin und her gerissen zwischen rasender Wut und tiefer Betroffenheit trat ich an sein Bett. Er war noch nicht lange im Koma, es sah aus, als schliefe er nur. In seinen Gesichtszügen fand ich den kleinen, verängstigten Jungen wieder, den ich kenne und beruhige, seit ich mich erinnern kann. Oft mein Spielkamerad, manchmal mein Gesprächspartner, manchmal auch mein Gegenüber im Streit. Mein Fleisch und Blut. Mein Sohn, der unter meinen Blicken heranwuchs. Mein ganzer Stolz, von dem ich aber nichts oder fast nichts zu wissen schien. Mein Kleiner, dem es gelungen ist, sich die allerneueste Droge zu besorgen, und sich praktisch vor meiner Nase eine Überdosis zu spritzen. Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, während ich ihn anschaute, wie er so da lag, intubiert und unter Perfusionen. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter. Eine Hand, die ich jederzeit wiedererkennen würde. Die Hand meines Vaters. Als ich in das Zimmer gekommen war, hatten meine Augen wohl die Anwesenheit seiner riesigen Silhouette am Fußende des Bettes wahrgenommen, aber mein Gehirn hatte ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt.
„Serge“, sagte mein Vater mit trauriger Stimme. „Ich hätte dich warnen sollen.“ „Mich warnen sollen, wovor?“ „Ich wusste, dass Goran Geld von unserem Konto gestohlen hatte, aber ich wollte es dir nicht erzählen, aus Angst, dass du ihn bestrafen würdest.“ „Was? Er hat dir…“ Mein kleines Universum brach vollends zusammen. Mein Kind nimmt Drogen und dann auch noch… aber ich weiß es ja nur zu gut: Beschaffungskriminalität gehört untrennbar dazu. Er hatte seinen Großvater, den er so bewunderte, bestohlen, um seinen Stoff zu kaufen! Was war bloß geschehen? Was war ihm passiert? Und immer wieder diese verfluchte Frage: Warum? „Serge…“ Das war meine Mutter. Sie liebt Goran sehr, vielleicht noch mehr als mein Vater. Sie wollte mich sicherlich darum bitten, ihm zu verzeihen, ihn zu verstehen, ihm deswegen nicht böse zu sein. Aber das war unnötig. Ich wollte nur eins: Dass mein Sohn die Augen öffnete, hier und jetzt, und dass wir schnell wieder glücklich beisammen sind! Mama sagte nichts. Sie kam näher, um mich zu umarmen. Genau das brauchte ich. Zweifellos brauchte sie es auch. Hinter mir hörte ich Norah, die ein Schluchzen unterdrückte. Auch sie liebt Goran. Dummkopf! Hast du denn nicht gemerkt, dass wir dich wie verrückt lieben, dass du der einzige Sinn in unserem Leben bist, dass… Ich fühlte, dass meine Gedanken sich im Kreise drehten, dass ich es nicht schaffte, mich zu konzentrieren, dabei musste ich gründlich nachdenken. Schließlich fand ich die Kraft zu sprechen. „Papa, Mama, danke, dass ihr hier seid. Das tut gut.“
Mein Vater nickte. Er war immer für mich da gewesen, ja sogar als sein Restaurant in Dinard anfangs die Arbeit eines Titanen von ihm einforderte. Es stimmt auch, dass er immer Mama an seiner Seite hatte, die ihm half. Während ich… In dem Moment beschloss ich endlich die dritte Silhouette genauer anzuschauen: es war Katrina, meine Ex. Ich erkannte sie nur mit Mühe wieder. Ich hatte sie lange nicht gesehen, und sie hatte sich ein paar Dinge „verschönern“ lassen. Goran hätte es gewusst, denn er sah sie oft, wenn er beim Fernsehen zappte. „Es ist schön, dass du auch gekommen bist.“ Sie deutete ein kleines, verschämtes Lächeln an und ergriff für den Bruchteil einer Sekunde meine Hand, ließ sie aber sogleich wieder los. Zwischen uns war zu viel vorgefallen, als dass wir ein Miteinander wiederfinden konnten, nicht einmal im Schmerz. Wenn Goran diese jämmerliche Szene gesehen hätte, hätte er sicherlich gelacht. Aber Goran war nicht da. Er war, er ist in diesem Anderswo, das sich meinem Zugriff entzieht. Ein Anderswo, aus dem ihn herauszuholen ich bisher keinen Weg sehe. Außer…
Ich verbrachte die Nacht in unserer Wohnung, auf Gorans Bett sitzend, und sah mir seine vertraute Umgebung an, ohne sie wirklich wahrzunehmen: die Poster von Gruppen, die ich nur flüchtig kannte, seinen PC und das SurroundMehrbenutzersystem, das er im Laufe der Jahre erweitert hat, die Schachteln mit CDs und Spielen, ein mit alten, verstaubten Figürchen bedecktes Regal, von denen manches einmal mir gehört hatte, die Tüten mit seinen Tabletten, sorgsam neben der Zentraleinheit verstaut, verstreute Klamotten, Schuhe. Große Schuhe. Schuhe für einen Mann. Dabei bist du doch noch ein Kind, mein Goran, und du hast nur mich, der dich da
vielleicht rausholen kann. Und ich habe nur Sylvia, um dich aus diesem Albtraum zu retten, in den du uns nun mitgerissen hast.
26
In E-den ist es seit langem Nacht. Mel und Goran haben gelernt, sich wortlos zu unterhalten. Mit den Augen, mit den Händen, mit stummen Lippen. Ihre Blicke sind weit über jedes Vokabular hinausgegangen, ihre Lippen haben sich für endlose Versprechen zusammengeschweißt. Jeder hat Lebensenergie aus dem anderen geschöpft. Ein Stück Ewigkeit. Stumm vor Glück, trunken einer vom anderen, verstehen sie sich ohne Worte. Nicht weit vom Haus des Mädchens entfernt sitzen sie im Gras, aus dem ein warmer, satter Duft von Erde und Grün aufsteigt. Vor ihnen, am Fuße des Hügels, schillert das schwarze Meer im silbernen Mondlicht. Die beiden Jugendlichen kommen zur Ruhe. Für den Moment von Küssen gesättigt, Hand in Hand, lehnen sie sich zurück, strecken sich unter den Sternen aus. Goran ist von der Schönheit des Himmels überwältigt. Er erinnert ihn an den Himmel in den Erzählungen seines Großvaters. Erzählungen über eine Zeit vor der Umweltverschmutzung, eine Zeit, in der die Nächte auf der Erde genauso sternenklar gewesen sind. Der Blick des Jungen verliert sich in dieser unermesslichen Vielfalt glitzernder Feuer und Goran fühlt, wie er den Halt verliert. Goran begreift, dass er dabei ist, E-den nachzugeben, er hat nicht die Kraft zu widerstehen. Seine Bezugspunkte wanken, die Gegenwart, die Vergangenheit, die Realität… alles verschmilzt zu einem einzigen Wohlgefühl, das sich selbst genügt, das allem, was der Junge in fünfzehn Jahren Leben gelernt hat, jegliche Bedeutung raubt.
Doch in dem Moment, als er sich endgültig dieser neuen Welt überlassen will, reißt ihn ein Geräusch zurück. Ein unterdrücktes Schluchzen. Goran setzt sich auf und beugt sich über Mels Gesicht. Eine Träne zeichnet dort eine silberne Linie. „Mel, warum weinst du?“ Ein weiteres, größeres Schluchzen erschüttert das Mädchen. „Was ist los, Mel? Sag es mir.“ Das Mädchen öffnet die tränennassen Augen. Der Mond spiegelt sich darin. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin“, murmelt sie mit bebender Stimme. „Das, was du mir gesagt hast…“ Goran versteht sofort, was sie meint. In einem Anflug von Zärtlichkeit, verunsichert über Richtig und Falsch hier und in der anderen Welt will er Mel sagen, dass er sich geirrt habe, dass ihre Umgebung nicht fiktiv sei, dass diese Sterne existieren, dieses Gras, dieses Meer und sein salziger Duft, dass sie hier sei, und nicht im Koma in Brüssel. Aber das junge Mädchen spricht weiter und Goran hört ihr zu: „Weißt du, Goran, das was du mir gesagt hast… Es ist als ob es Erinnerungen in mir geweckt hätte. Als ob ich es immer gewusst hätte, irgendwo in mir verborgen. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, noch wo ich bin, Goran.“ „Mach dir deswegen keine Sorgen, du…“ „Nein, Goran, du musst mir die Wahrheit sagen. Ich brauche dich.“ Also erzählt Goran, wie um sich selbst von der Wahrheit zu überzeugen, von ihren beiden Vätern, die in Mels Zimmer neben ihrem Körper stehen, von den Komapatienten, von Iannis, Chartres, der Droge, dem Jet-Injektor, den Übelkeiten. Die Wahrheit durchströmt Mel. Sie begreift, dass sie sie immer kannte. Still hört sie Wort um Wort ihre Welt einstürzen. Sie hat das Gefühl, eine riesige Hand würde ihr Herz ergreifen und
es wütend zusammenpressen. Ihr Leben ist nur eine Lüge, ein Traum, und ihre Albträume sind die Realität. Nur eins hält sie vom Rand des Abgrunds zurück: Goran. Sie weiß nichts über ihn, und zweifellos ist ihre aufkeimende Liebe nur eine weitere Illusion, aber er ist hier, ist freiwillig hierher gekommen, hat sich in diese Scheinwelt gestürzt. Ihretwegen, nach einem einzigen Blick auf ihren leblosen Körper, dort, in der Realität. Dass dieser Unbekannte diesen Weg ihretwegen gegangen ist, berührt sie so tief, lässt ihren Wunsch zu sterben verblassen. Diesen Wunsch, der sie zu überwältigen droht, seit sie sich an die Wahrheit erinnert. Als Goran geendet hat, wird es bereits Tag über der Whale Bay. Im noch trüben, bläulichen und diffusen Lichtschein deuten sich Formen und Konturen an. Längst hat der Mond seinen Weg zurückgelegt und die Sterne beginnen einer nach dem andern zu verblassen, so nah, dass man meint, sie klingen zu hören. Goran ist vom Sprechen erschöpft, von all den Emotionen, die er in dieser Nacht mit Mel durchlebt hat. Ihre Hände haben sich nicht voneinander gelöst, und als der Junge die Handfläche des jungen Mädchens küsst, lächelt diese ihn sanft an. „Wir werden zurückkehren“, sagt sie mit ruhiger Stimme. „Zurückkehren?“ „Dorthin. In deine Welt. In meine Welt.“ Plötzlich fühlt Goran Panik in sich aufsteigen, panische Angst, Mel zu verlieren. „Ach, weißt du, das ist doch alles unwichtig. Hier geht es uns gut, es ist sogar tausend Mal besser! Was ist das schon, Realität? Warum sollten nicht wir für uns entscheiden, was echt und was unecht ist? Warum wählen wir nicht einfach das Leben, das wir führen wollen?“ „Nein“, antwortet Mel bestimmt. „Aber…“
„Nein. Ich will dich kennen, Goran. Ich will dich kennen lernen, so wie du wirklich bist.“ Darauf weiß Goran keine Antwort und zwischen ihnen entsteht ein langes Schweigen. Dann beugt sich der Junge zu Mel, um sie auf die Lippen zu küssen. „Gehen wir also“, sagt er und beginnt sich zu erheben. „Nicht sofort“, antwortet das junge Mädchen. „Etwas noch…“ Der Himmel über Evergreen und der Bucht ist jetzt makellos blau. Ein langgezogenes Pfeifen klingt vom Meer herauf und Goran spürt wie Mels Hand seine etwas fester drückt. Wasserwirbel, kaum wahrnehmbare Schatten tauchen unter der Wasseroberfläche auf. Goran zählt acht. Plötzlich taucht ein Rücken auf, gigantisch und majestätisch. Wale! Wie in den Filmen und Büchern. Diese sagenumwobenen Tiere, die lange vor seiner Geburt von der Erde verschwanden. Das Ballet beginnt, und Goran spürt wie ihn ein intensives Gefühl erfüllt. Verstohlen schaut er Mel an, die ihn anlächelt, die glücklich ist, dieses Schauspiel mit ihm zu teilen, das ihr niemals so schön vorkam wie jetzt in Begleitung ihres seltsamen Gefährten. Die Wale begleiten ihren Tanz mit Gesang, sie rollen und drehen sich im Meer, nur um die beiden Jugendlichen zu erfreuen. Die Melodie schwillt an, Pfeifen und Schwingen vermischen sich zu einem Konzert, das Mel und Goran zutiefst genießen. Zuletzt schießen die beiden jüngsten Wale gleichzeitig ganz aus dem Wasser und fallen wie schwerelos zurück. „Jetzt können wir gehen“, sagt Mel. Sie unterdrückt ihre Tränen.
Der Empfangsplatz von E-den vibriert von der Aufregung der Neuankömmlinge. Hand in Hand nähern sich Goran und Mel
dem geräumigen Zentralschalter. Goran hat es plötzlich eilig, in die wahre Welt zurück zu kommen. Er denkt an seinen Vater, an Peri, Madame Bin Son, Norah, und kann es kaum erwarten, ihnen Mel vorzustellen. Bei dem Gedanken an das überraschte Gesicht seines Vaters muss Goran lächeln. Er wird stolz darauf sein, dass Goran den Fall gelöst hat. Goran nähert sich einer Hostess, die ihm ihr ein hinreißendes Lächeln schenkt. „Wir möchten raus“, erklärt der junge Mann fröhlich. „Raus?“, antwortet die Hostess stirnrunzelnd. „Ja, raus. Mel und ich, wir möchten raus.“ „Aber wohin raus, Goran Poiret? Folgende externe Welten stehen derzeit zur Verfügung…“ Goran versteht nicht, was die Hostess sagen will, und dreht sich zu Mel um. „Sie spricht von den Optionen“, erklärt das junge Mädchen. „Man kann Optionsräume besuchen, Welten, in denen man irgendein Abenteuer bestehen muss. Sie reichen vom Märchen bis zu den unheimlichsten Trips.“ „Nein, nein“, wendet sich der Junge wieder an die Hostess. „Wir wollen hier raus! Zurückkehren… ähm… Dorthin eben… woher wir kommen, klar!“ „Ich verstehe Ihren Wunsch nicht, Goran Poiret.“ „Dabei ist das doch ganz einfach“, erwidert der Junge ärgerlich. „Wir wollen weg hier, zurück in die echte Welt!“ Die blauen Augen der Hostess klimpern zwei Mal und schon ist ihr makelloses Lächeln wieder da. „Was kann ich für Sie tun, Goran Poiret?“ Kalte Angst schießt durch Gorans Adern. Er dreht sich zu Mel um und liest in ihrem Blick, dass sie aus all dem das Gleiche schließt wie er: Es gibt keinen Ausgang. Ihm fällt Iannis Warnung wieder ein: Zwischen zwei Dosen E-den immer mindestens zwölf Stunden vergehen lassen.
27 Serge – 03/05
Sylvia packt ihre Koffer und ich habe den Eindruck, dass sie zum ersten Mal begriffen hat, dass es nutzlos ist, mich lange warten zu lassen. Im Grunde muss sie es mir angesehen haben, als ich vor ein paar Stunden im AZ-VUB ankam. Kaum im Krankenhaus, bin ich sofort zu ihrem Zimmer geeilt, habe dem wachhabenden belgischen Polizisten nur kurz bedeutet, mir Platz zu machen, und habe an ihre Tür getrommelt. Ohne auf Antwort zu warten, trat ich ein. „Wie holt man sie da raus?“, fragte ich schon, während sie sich noch in ihrem Bett aufsetzte. Sie öffnete die Augen nur einen Spalt, zog eine Grimasse, um sich vor dem Licht zu schützen, und fuhr sich mit einer Hand durchs verstrubbelte Haar. „Man muss das Programm deaktivieren“, murmelte sie. Die Antwort war weit davon entfernt, mich zufrieden zu stellen. „Und wie macht man das?“ Sie öffnete die Augen ganz. Mein Tonfall machte ihr offensichtlich klar, dass etwas Besonderes geschehen war. Sie schaute mich fragend an, setzte aber ihre Erklärung fort. „Vielleicht könnten wir über einen Nanoroboter in unseren Schlafenden den einen oder anderen Sender des E-denProgramms ausfindig machen, der sie mit Bildern und Daten über die logische Entwicklung der Welt versorgt.“ „Und dann?“, fragte ich nervös.
„Wenn wir diese Sender isolieren, können wir möglicherweise durch einen Datenabgleich die Zentrale identifizieren, den Muttersender, von dem aus auch das Programm verwaltet wird.“ „Gut. Bis wann kannst du das schaffen?“ Sie sah mich scharf an. „Serge, dafür braucht man eine ultrahochentwickelte Ortungsausrüstung und Spezialisten im Kampf gegen Piratensender, um sie zu bedienen. Es müsste sicherlich ein Satellit eingesetzt werden. Schließlich müsste…“ „Bis wann?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Zwei Monate, mindestens.“ „Zu lange“, brummte ich. Sie erhob sich langsam, streckte sich, unterdrückte ein Gähnen und fügte hinzu: „Es gäbe noch eine andere Möglichkeit…“ „Welche?“, schnaubte ich und ging auf sie zu. „Man kann das Programm von innen her deaktivieren. Ich kenne die Codes, die den Zugang zum Softwaresystem freigeben, wenn man einmal in E-den ist. Das Problem ist…“ „Spucks aus, Sylvia, wo ist das Problem?“ „Es ist riskant, weiter nichts“, sagte sie und setzte sich auf ihr Bett zurück. „Warum?“ „Um das zu tun, muss jemand bereit sein, E-den zu nehmen, anders kommt er nicht in die E-Welt. Er muss es sich spritzen!“ Ich spielte das Szenario in Lichtgeschwindigkeit durch. Hatte ich eine andere Wahl? „Gut. Gib mir deine verflixten Codes und sag mir, was ich tun muss. Ich werde dorthin gehen!“
Sie protestierte nicht, sondern beschränkte sich darauf mir zu erklären, dass wir selbst für diese Lösung mindestens eine gute Woche brauchen würden. Mich nur nach E-den zu schicken, ist leicht. Es genügt, eine erste Dosis zu besorgen. Dafür haben wir bereits unsere Kontakte aktiviert, und die fragliche Dosis sollte uns sehr bald geliefert werden. Aber wenn wir sie haben, werden die Dinge komplizierter. Sylvia muss dann die Nanoroboter aus dieser Dosis isolieren und identifizieren. Wenn sie die für das Hören zuständigen herausgefiltert hat, muss sie die Roboter umarbeiten, damit sie als Sender und Empfänger zwischen ihr und mir fungieren können. Denn Sylvia wird die Aufgabe haben, mich zu lenken. Einerseits beruhigt mich das, denn solange sie damit beschäftigt ist, mich durch E-dens Innerstes zu lenken, wird sie wohl nicht daran denken, uns plötzlich zu verlassen. Wenn all das gut ausgeht, wenn ich mein Kind wiederbekomme, überlege ich, sie aus Katorga rauszuholen und dafür zu sorgen, dass sie den Rest ihrer Strafe in einem Drei-Sterne-Gefängnis absitzen kann. Solange wir auf die Dosis warten, werden wir in ein anderes Labor des AZ-VUB umziehen müssen. Sylvia behauptet, die hochspezialisierten Eingriffe vornehmen zu können, doch brauche sie dafür einen sterilen Raum und Geräte, mit denen man im Nanobereich arbeiten kann. Das wird natürlich Zeit kosten. Aber sie ist sich ihrer Sache sicher: Sie hat mir geschworen, dass sie in einer Woche bereit ist, mir eine veränderte Dosis E-den zu injizieren. Sobald ich weg bin, wird sie mit mir in Audioverbindung stehen und mich führen. Sie meint, der gesamte Vorgang dürfte nicht länger als fünfzehn Minuten dauern. Die E-den-Injektion wird für mich gefahrlos sein, denn kaum eine Viertelstunde später wäre das Programm deaktiviert.
Was unsere Komapatienten betrifft, vor allem jene, die seit langem weg sind, lehnt sie jede Voraussage kategorisch ab. Sie denkt, dass die Meisten aufwachen werden, aber sie ist sich nicht hundertprozentig sicher. Unwichtig, denn für mich ist es die einzige Möglichkeit, Goran zu retten.
28 Serge – 10/05
Acht Tage. Seit acht Tagen liegt Goran im Koma. Und seit sechs Tagen liegt er zusammen mit den anderen in den Sälen des AZ-VUB. Doch nun ist es endlich soweit: In ein paar Minuten werde auch ich eine Reise nach E-den antreten. Eine Reise, die ich mir so kurz wie möglich wünsche.
Auch wenn ich nie volles Vertrauen zu ihr haben werde, muss ich zugeben, dass Sylvia sich in dieser Woche voll ins Zeug gelegt hat. Sie kapselte sich in ihrem makellos weißen Labor ab, eingemummt in einen dicken Overall, kam nur für wenige Pausen heraus, um etwas zu essen, oder um kurz zu schlafen. Schließlich erzählte sie mir sogar mehr über ihre Beziehung zu dem Netzwerk hinter E-den. Während des Warsteiner-Falls war sie bereits an der Entwicklung dieses abscheulichen Projekts beteiligt gewesen. Sie betonte erneut, dass die Idee zu E-den von ihr gewesen sei. Das will ich ihr gerne glauben, diese Idee ist verdorben genug, um ihrem teuflischen Gehirn zu entstammen. Sie hatte mich benutzt, um sich am großen Warsteiner zu rächen. Der war ihr lästig geworden, weil er sie nicht nur ausgebeutet hatte, sondern auch noch handgreiflich geworden war. Und währenddessen hatte meine liebe Sylvia bereits über der Konzeption einer Droge gegrübelt. Sie sollte imstande sein, von der ersten Einnahme an abhängig zu machen, indem sie im wahrsten Sinne des Wortes ein VR-Lesesystem ins Hirn eingeschleust. Schon bei den ersten Tests hatte sie das Koma
als Folge von mit zu geringem Zeitabstand gespritzten Dosen festgestellt. Als sie in Russland verhaftet wurde, hatte sie daran gearbeitet, diese Nebenwirkungen zu beseitigen. Offensichtlich war sie von jenen verraten worden, die E-den in Auftrag gegeben hatten. Nun brachten sie das Produkt ohne weitere Modifikationen in Umlauf und die Komafälle häuften sich. Sylvia hat also wieder mit jemandem, der sie betrogen hatten, eine Rechnung offen. Das macht mich nervös! Denn das letzte Mal, als sie sich rächen wollte, hat sie mich sauber eingewickelt, und es ging sehr schlecht aus. Aber was solls. Für mich zählt nur, Goran aus diesem teuflischen Spinnennetz herauszuholen. Ganz verstanden habe ich Sylvias Plan allerdings nicht. Nach ihrer Darstellung werde ich die Systemsteuerung durch die Eingabe einer Serie von Codes komplett lahmlegen, also sozusagen die Nanoroboter deaktivieren, die momentan die Sinne unserer Schlafenden mit Eindrücken füttern. Dann müssten diese theoretisch aus ihrem Koma erwachen. Theoretisch. Heute Morgen hat Sylvia uns verkündet, dass sie fertig sei. Sie war tagelang über ihr Rastertunnelmikroskop gebeugt, um die Nanoroboter umzuarbeiten, die sie mir nun injizieren wird. Natürlich hatte sie nicht genug Zeit, um ausführliche Tests zu machen, aber sie ist sich sicher: Sobald ich in E-den ankomme, wird sie mit mir kommunizieren können. Sie versichert, die Wirkung des Syntheseproteins so abgeschwächt zu haben, dass ich, anstatt ins Unbewusste wegzusacken, in eine hypnotische Trance fallen werde, die es mir erlaubt, mit ihr zu sprechen, um ihr zu beschreiben, wo ich mich „auf der anderen Seite“ befinde.
Ich habe eine Heidenangst. Es gibt so viele Unbekannte in dieser Gleichung. Gleichzeitig bin ich froh, bald etwas tun zu
können, um mein Kind aus diesem Horror herauszuholen. Also ist es die Aufregung wert, oder?
Es ist soweit. Noch ein paar Minuten und ich werde mich in einen Armstuhl setzen, festgebunden, damit ich mich nicht verletze, wenn ich unter Drogen stehe.
Sylvia, die ihren weißen Overall gegen ein graues Kostüm getauscht hat, lächelt nicht mehr. Sie sieht sogar sehr ernst aus. Dabei bin ich davon überzeugt, dass sie innerlich höhnisch lacht. Als ich sie in Katorga traf, war sie an einen Sessel gefesselt, nun bin ich es. Norah ist natürlich hier. Sie hat diese Woche, wenn sie nicht an Gorans Bett saß oder unsere „Wissenschaftlerin“ überwachte, mehrmals Anlauf genommen, mir irgendetwas zu sagen. Doch wir hatten nicht wirklich Zeit zum Reden. Für heute Abend habe ich ihr eine wichtige Aufgabe übertragen. Sie muss darüber wachen, dass Sylvia meine Abwesenheit in Trance nicht zu einem Fluchtversuch nutzt. Norah wird dabei nicht allein sein. Die Belgier haben uns ein Dutzend Aufsichtsbeamten zur Verfügung gestellt, sowie ein medizinisches Team, um mich zu reanimieren, falls die Situation brenzlig werden sollte. Ich fühle mich seltsam. Zum ersten Mal gehe ich in einem Sessel sitzend auf Dienstreise. Ausgerechnet ich, der keine VR-Spiele mag. Gleichzeitig fühle ich, wie die Ungeduld an mir nagt und die Sekunden lang werden.
„Serge…“ Das war Norah, und ich hatte Lust, sie in die Arme zu nehmen, sie an mich zu drücken. Plötzlich wurde ich gewahr, wie wichtig sie mir war. Ich wusste nicht recht, woher dieses Gefühl kam, aber ich schwor mir, mit ihr darüber zu reden, sobald ich zurück war. Mit meinem Sohn! Sie schaute mich intensiv an, ihre großen, schwarzen Augen waren angsterfüllt. Es fiel mir schwer, ihren Blick auszuhalten. „Mach dir keine Sorgen“, stammelte ich. „Es wird schon alles gut gehen.“ Sie nahm mich am Arm und führte mich zu dem blau verzierten Metallsessel, der in der Mitte des Labors stand. Die belgischen Polizisten standen um ihn herum. Hinter ihnen diskutierte leise das medizinische Personal in den weißen Kitteln. Neben dem Sessel stand Sylvia und erwartete mich. Neben ihr stand ein Krankenpfleger mit dem Jet-Injektor. Er würde mir die Spritze geben. Ich verstand nicht genau warum, aber Sylvia hatte es abgelehnt, selbst zu spritzen. Vielleicht um mir zu demonstrieren, dass ich ihr vertrauen konnte? Sie legte mir eine Hand auf die Schulter, als Zeichen, dass ich mich setzen solle. Ich blinzelte in die blendenden Deckenleuchten. „Wir werden dir Sensoren für den Herzrhythmus, die Atmung und den Onirometer anlegen. Mit den empfangenen Daten werde ich sofort wissen, wann du auf der anderen Seite angekommen bist und ich anfangen kann, dich zu führen. Okay?“ Mit trockenem Mund nickte ich langsam. „Also, wenn alle einverstanden sind, fangen wir an“, erklärte sie mit kalter Stimme. Ich fühlte, wie Norahs Hand meine umfasste. Krankenschwestern klebten mir kleine, eiskalte Dinger auf die
Stirn, den Nacken und die Handgelenke. Dann erschien Sylvia wieder in meinem Sichtfeld. „Bist du bereit, mein Großer?“ Nein, natürlich nicht, aber ich nickte erneut. „Dann schließ die Augen, und… bis gleich.“ Das Letzte, was ich sah, war ihr Lächeln, das abrupt zurückgekehrt war und immer breiter wurde.
29
Als er die Augen wieder öffnet, wird sein Körper von einem letzten Krampf geschüttelt. Er fühlt seine Beine unter ihm nachgeben, während im selben Augenblick Hände seine Arme ergreifen, um ihn zu stützen. „Herzlich Willkommen, Serge Poiret“, begrüßt ihn eine weibliche Stimme. „Setzen sie sich einen Augenblick, und atmen sie langsam.“ Serge setzt sich in den Sessel, den man ihm anbietet. Abgesehen von zwei makellos schönen Wesen, gibt es rund um ihn nur Weiß. Zu makellos, dessen ist sich Serge bewusst. Sie lächeln ihn an, doch er hält sich zurück, reagiert nicht auf ihre einschmeichelnde Liebenswürdigkeit. Instinktiv weiß er, dass es nicht einfach sein wird, dem Charme dieser künstlichen Welt zu widerstehen. „Los! Beweg deinen Hintern!“, hört er plötzlich in seinem Kopf. „Du bist nicht hierher gekommen, um mit Software zu flirten!“ Serge steht auf. Sich begleitet zu wissen, beruhigt ihn sofort, und sei es auch durch Sylvia. „Sind Sie bereit, Serge Poiret?“, fragen die beiden Hostessen. „Ich bin bereit“, antwortet Serge bestimmt. Da taucht um ihn herum E-den auf. „Mein Gott!“, entfährt es Serge, so überwältigt ist er von der Schönheit und dem Realismus der Welt, die ihn umgibt. „Lass dich nicht täuschen“, flüstert ihm Sylvia durch die eingespritzten, bearbeiten Nanoroboter in seinem Hörzentrum zu. „All das existiert nicht. Es sind nur geschickt geschminkte Zahlenkombinationen.“
„Es ist so schön, so wunderschön! Und es sieht derart echt aus, Sylvia!“ „Ja, so echt wie dein Sohn im Koma liegt. Vergiss das nicht!“ Das vergisst Serge nicht. Sylvias Stimme hat einen metallischen Klang angenommen, der hart in seinem Körper widerzuhallen scheint. Das macht es leichter, nicht zu vergessen. Das unangenehme Gefühl zwingt ihn dazu, konzentriert zu bleiben. Um wieder richtig Fuß zu fassen, atmet er tief durch und kann es gegen seinen Willen doch nicht lassen, die Süße der Luft, die in seinen Körper dringt, zu genießen. „Gut, was mache ich jetzt?“, fragt er Sylvia. „Wo bist du? Beschreibe mir, was du um dich herum siehst.“ „Einen großen Platz. In der Mitte einen runden Schalter mit Hostessen. Drumherum ist Rasen, stehen blühende Bäume. Und der Himmel ist so blau…“ „Alles klar, das ist die Pforte.“ „Die Pforte?“ „Der Empfang, wenn du so willst. Dort kommt man an. Geh zu einer Hostess, egal welcher.“ Serge tritt näher und lächelt eine unglaublich schöne Hostess an. „Was suchen Sie hier, Serge Poiret?“, fragt sie ihn mit durchdringender Stimme. „2781#XHMP//W6700“, flüstert Sylvia Serge ins Ohr. „Was?“, wundert sich der Bundespolizist. „Wie bitte?“, fragt die Hostess lächelnd und zeigt ihre makellosen Zähne. „Sprich mir nach“, befiehlt Sylvia. „2781“ „2781“ „Doppelkreuz XHMP“ „Doppelkreuz XHMP“ „Backslash, backslash W6700“
Sobald Serge diese letzten Ziffern wiederholt hat, schließt die Hostess die Augen und abrupt verwandelt sich die Stadt in ein gigantisches Netz aus Schaltkreisen, Ziffernkombinationen, Lichtleitfasern und anderen Bestandteilen, die Serge nicht benennen könnte. „Wo bin ich hier?“, fragt er Sylvia ein wenig betäubt. „Im Herzen des Programms… wenn ich mich nicht geirrt habe“, antwortet die Stimme in seinem Kopf. „Es ist gigantisch!“ „Nein. Es hat nicht seine reellen Dimensionen. Ebenso wenig wie du, nebenbei bemerkt. Ich erinnere dich daran, du bist in diesem Moment hier vor meinen Augen in einem Sessel festgeschnallt.“ Serge muss sich anstrengen, um sich davon zu überzeugen, dass in Wirklichkeit, das, was er gerade erlebt, nur in seinem Kopf passiert. „Dein Körper ist hier, Serge. Der ist übrigens nicht übel für einen Polizisten, der den Großteil seiner Zeit an einem Schreibtisch und im Auto hockend verbringt.“ Von Sylvias Anspielung wachgerüttelt geht Serge ein paar Schritte in diese neue, weiß-silberne Dekoration hinein, die sich so weit das Auge reicht erstreckt. Eine Welt aus Licht. „Und nun?“, fragt er schließlich. „Nun werden wir damit beginnen, Gorans Programm zu deaktivieren. Dafür bist du gekommen, oder?“ Natürlich ist er wegen Goran hier. Aber auch wegen der anderen. „Und wie mache ich das?“ „Wenn diese Hohlköpfe, was ich angesichts ihrer armseligen Intelligenzquotienten annehme, nichts an meinem System geändert haben, ist es ganz einfach. Dort muss es so etwas wie Laufwerke geben, Lesegeräte, wie eine Art große Bibliothek…“
„Hier gibt es nur so was! Tausende, ganze Wände voll! Eine Welt aus Datenlesegeräten.“ „Jedes gehört zu einem E-den-Konsumenten.“ „Aber wie soll ich das Richtige finden?“ „Beruhige dich, Serge. Vergiss alles, was du aus unserer Welt kennst. Du bist in E-den. Denk an das, was du suchst, und es wird vor dir auftauchen.“ Serge versteht nicht. „Denk an Goran, Serge. Goran Poiret.“ Serge fühlt sich wie ein Idiot, doch er wiederholt Vor- und Nachnamen seines Sohns im Kopf, und plötzlich, direkt vor ihm, zum Greifen nah, fährt ein Lesegerät aus seinem Gehäuse. „Na und?“, fragt Sylvia. „Da ist ein Lesegerät, das…“ „Nimm die Disk heraus. Das ist Gorans Programm.“ Serge nimmt die Minidisk in die Hand und wartet auf weitere Anweisungen. „Sprich mir nach: CLV12INSHRD44“ Serge wiederholt die Kombination und vor ihm materialisiert sich eine Computertastatur. „Siehst du die Tastatur?“ „Ja.“ „Diese Schwachköpfe! Zu blöde, um auch nur ein einziges Detail meines Programms zu ändern! Es ist fast zu einfach… Tipp, was ich Dir diktiere.“ Sylvia beginnt, ihm eine lange Ziffern- und Buchstabenfolge zu diktieren, die Serge sofort auf der vor ihm erschienenen Tastatur eingibt. „Enter.“ Serge drückt die Enter-Taste und prompt fährt ein weiteres Lesegerät aus der Wand aus. „Leg Gorans Disk ein.“
Serge folgt der Anweisung, und sofort wird die Disk vom Lesegerät verschluckt. „Gut. Nun zurück zur Tastatur. Gib folgendes ein: SylCorso32/autoD-axs.exe“ Serge tippt auch diesen Code. „Ich soll bestätigen.“ „Dann bestätige!“, sagt Sylvia. In ihrer Stimme mischen sich Freude und Ärger. Serge tippt den Code ein zweites Mal und gleich darauf beginnen Alarmglocken zu schrillen.
Im selben Moment fühlt Goran eine große Leere in sich, einen Abgrund, der sich öffnet, die Vorahnung einer Katastrophe, die eng mit ihm zusammenhängt. Seine Silhouette verschwimmt für einen Moment, fragmentiert sich. „Goran, was ist mit dir los?“, fragt Mel. „Ich weiß nicht. Irgendetwas ist seltsam.“ „Man könnte meinen, du verschwindest.“ „Es ist, als wäre etwas in mir durcheinander gekommen. Eine Art Bug?“ Gleichzeitig nehmen die beiden Jugendlichen im Mimosapark eine leichte Veränderung des Himmels wahr. Sein Blau ist noch blauer geworden. Zu blau.
„Sylvia!“, schreit Serge zum dritten Mal. „Sylvia!“ Doch Sylvia antwortet nicht, und Serge beginnt zu begreifen, dass die Wissenschaftlerin sich seiner wieder einmal nur bedient hat. Seit seiner Ankunft in E-den war er nur der verlängerte Arm ihrer Rache. Unter dem Vorwand Goran zu retten, hat Sylvia soeben Edens Selbstzerstörung in Gang gesetzt. Die Zerstörung dieser
Welt, die sie vor Jahren selbst erschaffen hat, und die man ihr gestohlen hatte. Noch weiß er nicht genau, was ihre teuflischen Schachzüge ausgelöst haben. Doch eines weiß er bestimmt: Es ist besser, hier jetzt keine Wurzeln zu schlagen! Der Alarm schmerzt dem Polizisten in den Ohren. Doch der Vorname dessen, den er retten muss, der Vorname seines Sohns, hallt noch lauter durch seinen Kopf: Goran.
30
Serge holt tief Luft, um wieder ruhiger zu werden. Er denkt an die Pforte, diesen Platz, der als Empfang für das künstliche Paradies E-den fungiert. Schließlich materialisiert sich die Stadt um ihn herum und Serge nimmt eine Veränderung an ihr wahr, eine neue Betriebsamkeit, auf den ersten Blick unsichtbar, aber dennoch vorhanden. „Monsieur Poiret!“ Serge dreht sich um und sieht eine Gruppe Jugendlicher auf sich zukommen. Zwei Mädchen und vier Jungs, einer von ihnen hat ihn eben angesprochen hat. Er erinnert Serge an jemanden. „Peri. Ich bin es, Perikles!“ Jetzt erkennt Serge den besten Freund seines Sohns, obwohl er größer und schöner ist als sonst. Peri und seine Begleiter tragen die Haare mittellang. Es wird von einem schwarzen Stirnband zusammengehalten. „Peri! Was machst du denn hier? Hast du etwa auch…“ „Nein… doch… Es ist nicht so wie Sie denken.“ „Was ist das für ein Aufzug? Warum seid ihr ganz in Schwarz?“ „Kennen Sie Marie, Aïcha, Samy, William und Jorn?“ „Ähm…“ „Wir gehen mit Goran in eine Klasse. Wir sind eine Gruppe von… nun ja, Hackern, wenn Sie so wollen.“ „Hacker?“ „Ja, wir suchen nach einem Weg, E-den zu zerstören.“
Dem überraschten Polizisten schießt durch den Kopf, dass ganz offensichtlich jeder außer ihm, dem großen Spezialisten im Antidrogenkampf, diese neue Droge kannte. „Und dafür ist euch nichts Besseres eingefallen, als auch zu fixen.“ „Unmöglich von außen ran zu kommen. E-den wird von innen gesteuert. Wir sind schon mehrmals hier gewesen und…“ „Mehrmals?“ „Ja, aber es ist gefahrlos, wenn man genug Zeit zwischen den Einnahmen vergehen lässt.“ Peri hält inne, als er zwei Autos geräuschlos durch einander durch fahren sieht, anstatt dass ihr Zusammenstoß einen heftigen Aufprall bewirkt. Trotz der Überraschung über diesen Bug fährt er fort. „Wir sind sicher, dass sich die Programmsteuerung hier in Eden befindet. Genau hier. Wir haben sie noch nicht gefunden, aber…“ Serge unterbricht ihn mit einer Handbewegung. „Ihr braucht nicht weiter zu suchen.“ Die Jugendlichen schauen ihn verblüfft an. „Ich komme gerade aus der Programmsteuerung…“ „Was?!“ Peri ist völlig verdutzt. Serge zweifelt an allem, was geschehen ist, seit der Krankenpfleger ihm die Dosis E-den gespritzt hat. Vielleicht ist das, was er erlebt, nur eine Illusion? Peris Anwesenheit und die seiner Kameraden auch? Er zweifelt an allem, was er getan hat, als er in der Programmsteuerung war. Die „Disk“, die er entsprechend Sylvias Anweisungen in das „Lesegerät“ eingelegt hat, all das war nur virtuell. Im Grunde weiß er überhaupt nicht, was er da ausgelöst hat.
In dem Moment geht ein heftiger Platzregen über der Stadt nieder. Die Passanten bleiben verblüfft über diesen ersten Regen in E-den stehen. Serge schaut zum Himmel auf, der unverändert makellos blau ist. Keine Wolke, aus der der Schauer kommen könnte. Offensichtlich hat dieses zivilisierte Universum von perfekter Ästhetik einige kleine Probleme in der Logik. Serge nimmt an, dass diese Phänomene mit den Manipulationen in Zusammenhang stehen, die er auf Sylvias Befehle hin ausgeführt hat. „Es scheint kaputtzugehen. In kurzer Zeit könnte dieses Paradies eine wahre Hölle sein“, sagt er mehr zu sich selbst. Dann: „Peri. Ich muss so schnell wie möglich Goran finden. Ihr Sechs müsst mir helfen.“ Ein schneller Blick zum runden Empfangstresen der Pforte zeigt Serge, wie schnell sich E-dens Erscheinungsbild verändert. Die Blicke der Hostessen sind auf ihn gerichtet und ihre wunderhübschen Gesichter sind zu hasserfüllten Masken geworden. Da Serge Poiret keine Zeit hatte, die Fortbewegungstechnik mittels Gedanken zu erlernen, läuft die Gruppe durch die Straßen der Stadt. Jorn findet problemlos Mel Grehants Adresse heraus, indem er einen Energieanschluss knackt. Dort, da sind Peri und seine Freunde sich sicher, werden sie auch Goran antreffen. Während sie sich durch eine zunehmend orientierungslose Menschenmenge drängen, lässt Serge im Kopf Revue passieren, was seinen Sohn dazu gebracht haben mag, eine Überdosis zu nehmen. Den Tag, an dem sie in die Ferien nach Dinard fahren wollten. Als Goran Mels Körper gesehen hat. Dann seine eigenen Abwesenheiten, diese Ermittlung, die sie voneinander trennte, bis zu dem Punkt, als Goran sich auf so tragische Weise selbst verlor. Warum hatte er nichts verstanden, hatte diese Faszination seines Sohns für
Maxime Grehants Tochter nicht wahrgenommen? Wie hatte er so blind sein können? „ACHTUNG!“, schreit Marie Serge zu und reißt ihn damit aus seinen finsteren Gedanken. Vor ihm hat sich im Fußweg ein Abgrund aufgetan, wie eine klaffende Wunde, die sich ins Nichts öffnet. Serge kann gerade noch stehen bleiben, während zahlreiche Passanten so in Eile sind, dass sie in diesen bodenlosen Schacht fallen und schreiend in einem ewigen Sturz verschwinden. Serge versucht, zu Atem zu kommen, sein Herz rast. „Wir sind bald da“, raunt Peri ihm zu, um ihn zu beruhigen. „Sehen Sie dort drüben den Hügel mit den gelben Bäumen? Das Haus steht dort oben.“ Serges Blick wandert zur Kuppe des Hügels, der sich hinter den Gebäuden der Stadt abzeichnet, und einen Augenblick lang fragt er sich, was ihn an diesem Bild stört. „Die Sterne!“, ruft William aus. Da begreift Serge, was nicht stimmt: Der Himmel ist intensiv taghell blau, aber übersät mit Sternen, wie in einer klaren Sommernacht. E-den zersetzt sich mit großer Geschwindigkeit.
Nachdem sie zwischen den Mimosen durchgelaufen sind, die einen unpassenden Kaffeeduft verströmen, kommt die Gruppe außer Atem oben auf dem Hügel an. Unter ihnen liegt Evergreen. Das Meer zeigt eine beunruhigend intensive Violettfärbung. Auf der Sandbank, an der gefährlich die Wellen lecken, sind acht riesige Körper gestrandet. Acht leblose Wale. Serge tritt als Erster an die Haustür, will anklopfen. Doch seine Hand durchstößt das Holz leicht wie einen Regenvorhang. Serge zögert, tritt dann aber ein. Im Inneren des Hauses sieht er Goran auf dem Sofa liegen. Melanie
Grehant kniet neben ihm. Der Junge ist leichenblass. Sein Anblick trifft Serge mitten ins Herz. „Goran!“, rufend eilt er zu ihm. Goran schaut seinen Vater fiebrig an und lächelt. „Monsieur Poiret?“, fragt Mel. „Wir müssen etwas tun, Goran geht es schlecht. Es hat ganz plötzlich angefangen.“ „Ich bin da, Goran!“ „Papa…“, stammelt der Junge mit zittriger Stimme. „Papa ist da, mein Sohn. Ich hol dich hier raus.“ Peri und seine Freunde stehen hinter Serge und wagen es nicht, sich zu rühren. In dem Moment betritt eine Frau den Raum. Da er ihr Porträt bei Maxime Grehant gesehen hat, erkennt Serge sofort die verstorbene Politikergattin. Sie nähert sich Goran mit einem sanften Lächeln, das sich mit einem Mal in eine hässliche Fratze verwandelt. Serge kann gerade noch die Messerklinge aufblitzen sehen, die sie gegen Goran zückt. Er springt mit einem Satz auf und schlägt die Frau nieder. Madame Grehant sackt auf den Boden, schwarzes Blut läuft aus ihrer gebrochenen Nase. „Das Programm spinnt“, meint Peri seltsam gleichgültig. „Wie meinst du das?“, fragt Serge, während er seinem vom Fieber geschwächten Sohn hilft, sich vom Sofa zu erheben. „Diese Frau ist nur programmiert, also vom Bug betroffen, genau wie der Rest!“ Aber Serge ahnt, dass die Wahrheit komplexer ist. Er sieht sich wieder Sylvias Anweisungen folgen, und Gorans Disk in ein Selbstzerstörungslesegerät einlegen. In diesem Moment ist Goran für E-den zu einem Virus geworden, den es zu bekämpfen gilt. Und Madame Grehants Angriff ist zweifellos nur der Erste einer langen Reihe.
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Goran hält sich nur mühsam auf den Beinen. „Was passiert mit mir, Papa?“ „Ein Antivirus. Es ist zu kompliziert, um es jetzt zu erklären, aber E-dens Anti-Virusprogramm attackiert dich. Wir müssen so schnell wie möglich hier raus.“ „Aber es gibt keinen Ausgang!“ „Doch, es muss einen geben. Es gibt immer einen Weg, Goran. Vertrau mir!“ „Ja.“ Serge wendet sich an Peri, der vom jämmerlichen Zustand seines Freunds schwer getroffen zu sein scheint. „Peri, bevor wir dieses Haus verlassen, nehmt alles mit, was als Waffe dienen könnte.“ „Als Waffe?“ „Messer, Stöcke, was weiß ich… Egal was, wir müssen uns verteidigen können.“ „Aber warum?“ „Diskutier nicht rum. Beeilt euch!“ Da fällt Serges Blick auf Mel, die weinend neben der leblosen Kopie ihrer Mutter kniet. „Melanie…“ Das Mädchen hebt ihren tränennassen Blick. „Melanie, das ist nicht deine Mutter. Du weißt das.“ Mel antwortet nicht. Sie ist bereit zu sterben, denn das, was ihr bisheriges Leben war, stürzt zusammen. „Mel, deine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Dein Leben erwartet dich draußen. Dein Vater, und auch Goran erwarten dich draußen. Du kannst nicht immer weiter fliehen. Diese Zeit ist vorbei.“
Peri und seine Kameraden kommen aus den verschiedenen Zimmern des Hauses zurück, bewaffnet mit langen Küchenmessern, einfachen Möbelteilen als Knüppel, einem Metallbettfuß… „Seht, was ich gefunden habe!“, ruft Aïcha und hält einen Revolver hoch, der aussieht als stamme er aus den alten Filmen aus dem 20. Jahrhundert. „Der gehört meinem Vater“, sagt Mel mit heiserer Stimme. „Na ja, es ist die Kopie… Ich habe nie verstanden, warum er dieses Ding im Haus hat.“ „Ist er geladen?“, fragt Peri. „Ja.“ „Dann bekomme ich ihn“, bestimmt Serge und streckt Aïcha die Hand hin. „Aber ich habe sie gefunden!“, mault das junge Mädchen. „Ja, aber ich bin erwachsen, und ich bin Polizist. Das ist vielleicht ungerecht, aber so ist es nun mal.“ Widerwillig gibt Aïcha Gorans Vater die Waffe und begnügt sich mit dem Messer, das Peri ihr anvertraut. „Wozu die Waffen, Papa?“, fragt Goran. „Ich fürchte, was wir draußen vorfinden, wird nicht schön anzuschauen sein, Goran. Wir müssen aus dieser Welt raus, aber sie wird uns nicht gehen lassen, ohne sich zu verteidigen. Geht’s? Bist du bereit?“ „Ja, aber ich habe Durst.“ „Das ist das Fieber. Samy, würdest du bitte ein Glas Wasser holen?“ Samy läuft sofort in die Küche. „Das wird schon, Goran.“ „Papa…“, zögert der Junge. „Was?“ „Verzeih mir.“
„Ist schon in Ordnung. Es war mein Fehler. Ich hätte da sein sollen, Goran. Ich hätte für dich da sein müssen.“ Goran sieht seinen Vater mit schmerzenden, tränengefüllten Augen an. „Du bist da, Papa.“ Samy kommt mit einem Glas Wasser zurück, das er Goran hinhält. Einer plötzlichen Eingebung folgend stoppt Serge seinen Sohn in dem Moment, als dieser die Flüssigkeit an seine Lippen führt. „Warte!“ Serge schnuppert an dem Glas und verzieht das Gesicht. Ein penetranter, unangenehmer Duft steigt ihm in die Nase. Das Parfum des Todes! Er schüttet das Gemisch sofort auf den Boden. „Gift! Diese Welt versucht dich zu töten! Du musst dich vor allem in Acht nehmen. Vor allem!“ So wie er selbst sich hätte mehr vor Sylvia in Acht nehmen sollen, sagt er sich wieder einmal.
Die Gruppe bewegt sich in Richtung Haustür, findet diese aber verschlossen vor. Serge spürt, wie große Angst von ihm Besitz ergreift. Beklommen und plötzlich kraftlos wendet er sich in Richtung Glastür, die auf die Terrasse über der Whale Bay führt. Ebenfalls verschlossen. Da merkt er, dass er völlig außer Atem ist, und seine Begleiter ebenfalls nur schwer Luft bekommen. Marie ist schon auf die Knie gesunken und hält sich die Hände an den Hals. „Luft!“, wimmert sie mit schwacher Stimme. „Das Haus will uns ersticken. Es gibt keine Luft mehr.“ Serge schrickt zusammen, als er laut Glas splittern hört. Er dreht sich um und sieht Mel, die einen Stuhl durch die Glasfront des Wohnzimmers geworfen hat. Sogleich strömt
Luft ins Haus und dringt in ihre gequälten Lungen. Nicht die milde, saubere Luft, an die sie von E-den gewöhnt waren, auch nicht jene salzige, betäubende des nahen Meers, sondern eine verschmutzte, stinkende Verwesungsluft, eine Luft, die aber dennoch ausreicht, um sie wieder zu beleben. „Schnell!“, befiehlt Serge. „Wir gehen!“
Draußen erwartet sie die Apokalypse.
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Weltuntergangsstimmung liegt über E-den. Am Himmel verdunkelt jetzt der Vollmond die Sonne. Diese künstliche Sonnenfinsternis lässt die Urängste der Menschen erwachen, ihren vorsintflutlichsten Aberglauben. Diese seit Jahrhunderten vergessen geglaubten Befürchtungen, die jedoch beim kleinsten Zeichen bereitwillig Wiederaufleben.
E-den-Konsumenten stürzen in Panik durch die Straßen der Stadt. Die Menschenmenge läuft durcheinander und doch in eine Richtung: zur Pforte. Alle wollen aus dieser Welt fliehen, die so gar nichts Paradiesisches mehr hat. Dafür ist jeder zum Äußersten bereit. Bereit zu prügeln, niederzutrampeln, bereit zu töten. Der runde Empfangsplatz ist bereits überfüllt. Niemand will begreifen, dass es keinen Ausgang gibt. Um dem wachsenden Ansturm der Flüchtlinge Herr zu werden, zögern auch die Hostessen nicht, um sich zu schlagen und zu töten. Unter dem Druck der nachströmenden Menge, werden die zuerst Angekommenen an den runden Schalter gequetscht und ersticken. In den engen Straßen unweit der Schalter steigt einer über den anderen. Die Stärksten kommen durch, die Schwächeren bleiben niedergetrampelt am Boden liegen. Autos erzwingen sich auch über die Fußwege freie Bahn, löschen mit heulenden Motoren Leben aus, überrollen Körper. Überall Schreie, Tränen, Hilferufe, die unbeantwortet bleiben.
Die Stadt fällt in sich zusammen. Hauswände stürzen ein und begraben Leben unter sich. Bäume stürzen um. Bodenlose Abgründe verschlucken Flüchtende. Am Himmel irren E-dens Vögel umher. Eine ganze Welt verschwindet, selbst der obskure Himmel bietet keine Zuflucht mehr. Die eleganten Silhouetten der Vögel verdunkeln in einem letzten Tanz die Sterne. Hin und wieder zieht ein größeres Wesen zwischen den Wolken hindurch. Angst einflößende geheimnisvolle Tiere, die aus den Optionen entkommen sind, aus anderen Welten. Monster, verworrensten menschlichen Fantasien entsprungen.
Auf der Lichtung vor der Stadt, zu Füßen des Mimosenhügels, halten Serge Poiret und die acht Jugendlichen inne. „Es ist vergebens“, haucht Goran, den Peri und William stützen. „Über die Pforte kommt man nicht raus, das haben wir schon probiert.“ Das Chaos in der sich auflösenden Stadt hält sie davon ab, sich ihr zu nähern. Sich dort hinein zu stürzen, würde das sichere Ende bedeuten. Sich unter die kopflose Menge zu mischen wäre blanker Selbstmord. Aber Serge weigert sich, tatenlos auf den Tod zu warten. Nur: Was tun? Wohin gehen? Er fühlt sich wie die Vögel am Himmel in der Falle. Wenn doch nur Sylvias Stimme noch in seinem Ohr zu ihm sprechen würde. Sylvia! Die dürfte schon auf und davon sein. Serge will schon allein deshalb nicht sterben, weil er sich dann nicht mehr an Sylvia rächen könnte. Schon um diese Frau mit eigenen Händen zu erwürgen, muss er diesem Albtraum entkommen. Aus den Augenwinkeln nimmt er eine Gestalt wahr, die sich ihnen mit großer Geschwindigkeit durch die Dämmerung nähert. Er dreht sich um und sieht, wie sich ein Riese mit einer Axt in der hoch erhobenen Hand auf Goran stürzt. Ohne zu
überlegen zieht Serge den Revolver aus der Tasche und schießt noch aus der Bewegung auf den Mann, der vor Gorans Füßen zusammensackt, das Gesicht vom Schuss weggerissen. Was Serge eben niedergeschossen hat, war nicht lebendig, es war nur eine Kopie, ein Programm, E-dens finsteren Daten entsprungen, aber so realistisch, dass Serge Übelkeit in sich aufsteigen fühlt. „Wir müssen weiter“, meint Peri. „Wir sind ein zu leichtes Ziel, wenn wir hier stehen bleiben.“ „Wohin sollen wir gehen“, fragt Marie. „Keine Ahnung, aber wir müssen uns bewegen.“ Die Gruppe geht los, lässt den Kadaver des Riesen hinter sich. Nur wenige Meter weiter hören sie plötzlich ein langgezogenes Pfeifen. Samy entdeckt als Erster das Flugtier, das auf Goran herabstürzt. Es hat mindestens drei Meter Spannweite. Zwischen seinen Gliedmaßen spannt sich eine Haut, die an ein Segel erinnert, seine Klauen münden in scharfe Krallen und sein gewaltiger, mit Zähnen gespickter Schnabel steht weit offen. Es stürzt wie ein Stein auf die Gruppe herab. Samy reißt den Bettpfosten hoch, den er in der Hand hält, und schreit laut auf, um die Aufmerksamkeit des Flugtiers auf sich zu ziehen. Der Junge entfernt sich gestikulierend von der Gruppe, und als er begreift, dass es ihm gelungen ist, das Monster abzulenken, bereitet er sich auf den Aufprall vor. Er schließt die Augen und schlägt mit aller Kraft zu. Aber die Erschütterung ist so gewaltig, dass sie ihn zu Boden reißt. Sein Kopf schlägt hart gegen einen Stein, doch er bleibt bei Bewusstsein. Das Monster steigt wieder auf, scheint kurz in der Luft zu stehen, bereitet sich auf den erneuten Angriff vor. Inzwischen ist Serge bei Samy, zieht ihn hoch. Das fliegende Reptil stürzt sich nun auf beide. Serge zielt mit seiner Waffe und schießt zwei Mal.
Zwei Treffer, die den Sturzflug des Tieres aber nicht bremsen. Samy schlägt erneut zu, verfehlt aber sein Ziel. Diesmal fühlt er, wie es ihm beim Aufprall des Tieres, auf das Serge ein drittes Mal schießt, die Brust zerreißt. Das Monster flüchtet mit einer blutigen Masse in den Klauen. Marie läuft zu Samy. Der Junge ist tot, mit aufgerissenen, von der Angst entstellten Augen, der Brustkorb offen, das Herz herausgerissen. Bestürzung überfällt die Gruppe. Aïcha stößt einen langgezogenen Klagelaut aus, Marie beginnt zu weinen, Serge sinkt ins Gras, und Mel greift sich mit beiden Händen an den Kopf. „Das ist meine Schuld“, murmelt Goran. „Es hatte es auf mich abgesehen.“ Peri und William helfen ihm, sich hinzusetzen. Mel kommt dazu und umarmt Goran. Er schluchzt, geschüttelt von Fieber und Trauer. In der Ferne donnert grollend die im Chaos versinkende Stadt. Der Schein gigantischer Brände erhellt den Himmel. Man hört Schreie, Gurgeln, Explosionen, den Lärm einstürzender Häuser. Man hört das Ende der Welt.
Nach einigen Minuten der Bestürzung erhebt sich Serge. Als einzige Erwachsener muss er die Kraft finden, seine jugendlichen Begleiter zu führen. Doch wohin führen? Langsam tritt er zu seinem Sohn, der noch immer in Mels Armen liegt, und dieses Bild bewegt ihn tief. Er erinnert sich an seine erste Liebe, ungefähr im gleichen Alter wie Goran, und die Lebensfreude, die er in den Armen eines Mädchens empfunden hatte, das ihm anschließend das Herz gebrochen hat. Auf einmal spürt Serge sehr deutlich die vergangene Zeit, die vergangen Jahre, sein eigenes Altern und Gorans Position
an der Schwelle zum Erwachsensein. Dann ruft er sich bitter in Erinnerung, dass es höchste Zeit ist, wieder an die Zukunft zu denken, daran, dass sie Gefangene in einer virtuellen Welt sind, die sie zu vernichten versucht. Plötzlich verschwimmt sein Blick. Serge reibt sich die Augen, aber der Eindruck bleibt bestehen. Mels Körper wird transparent und verschwindet. „Mel! Mel!“, schreit Goran. Trotz seiner Schwäche erhebt er sich verzweifelt. „Wo ist Mel?“, fragt Marie. „Keine Ahnung, sie…“ „Sie hat sich aufgelöst“, erklärt Serge. „Ich habe sie angeschaut und gesehen wie sie verschwand.“ „Mel!… Nein!“, brüllt Goran und lässt sich auf die Knie fallen. „Das ist womöglich ein gutes Zeichen“, erklärt da Peri. „Wie das, ein gutes Zeichen?“, fragt Jorn überrascht. „Ist sie in die echte Welt zurückgekehrt?“ „Erklär uns das“, fordert Serge und tritt näher an Peri heran. Goran schaut seinen Freund mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen an. „Normalerweise verlässt man E-den nur, wenn… wenn das Programm zu senden aufhört.“ „Genau“, unterbricht ihn Aïcha. „Aber Mel war auf Überdosis, und dann läuft das Programm endlos weiter!“ Serge hörte ihnen fasziniert zu und fragte sich, ob Sylvia und diese Ungeheuer, die das Netzwerk der Cyberdroge dirigieren, wohl ahnen, dass schon ganz normale Kinder so ungefähr verstanden haben, wie ihre Hölle funktioniert. „Stimmt“, fährt Peri fort. „Aber wir sind hier nicht mehr im Normalmodus. E-den ist dabei, sich zu zerstören, und die Programmsteuerung muss auch betroffen sein.“
„Soweit ich weiß“, flicht Serge ein, „ist jedes Opfer durch Nanoroboter mit dem Programm verbunden.“ „Durch was?“ „Winzige Roboter, wenn ihr so wollt. Im Kopf. Und wenn die Verbindung zwischen ihnen und dem zentralen Verwaltungsprogramm von E-den unterbrochen ist, haben die Nanoroboter nichts mehr zu übermitteln. Anders gesagt, sie schalten ab.“ „Und Mel ist ins wahre Leben zurückgekehrt?“, fragt Goran. „Tja… Ich hoffe“, antwortet Serge. „Ich hoffe es wirklich.“ Alle schweigen einen Augenblick, um über die Tragweite dieser Erklärungen nachzudenken. Serge ergreift als Erster wieder das Wort. „Das bedeutet also, dass die einzige Möglichkeit hier herauszukommen, ist, zu warten, bis das Programm endgültig aufhört zu senden. Bis unsere Nanoroboter sich abschalten.“ „Ja“, antwortet Peri. „Wir müssen nur lange genug überleben!“ „Seht mal“, ruft William plötzlich aus. „Dort!“ In der Ferne kommen Dutzende Hostessen aus der Stadt und marschieren in ihre Richtung, neu programmiert auf die für alle gleiche Aufgabe: Goran zu töten.
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„Schnell!“, ruft Serge. „Lauft!“ „Und Samy?“, fragt Marie, die den Leichnam ihres Freundes anschaut. „Keine Zeit. Wir müssen fliehen. Wir müssen durchhalten. Wir müssen! Das sind wir Samy schuldig.“ Die Gruppe beginnt zu laufen. Serge und Peri helfen Goran, der seine letzten Kräfte mobilisiert. „Wohin führt dieser Weg?“, fragt Serge Peri. „Zum Hafen.“ Hinter ihnen nimmt E-dens Kampftruppe die Verfolgung auf. Der Hafen der Stadt ist ein weiter Halbkreis, an dem gläserne Wohnhäuser stehen, an denen aber kein Fenster mehr intakt ist. Auch hier drängt sich eine verängstigte Menschenmenge. Männer und Frauen, die instinktiv, wie schon immer seit Anbeginn der Menschheit, im Meer ein Tor zum Leben sehen, zu einem Anderswo, zu einer ultimativen Zufluchtstätte. Aber E-dens Meer ist nichts weiter als eine im Sterben liegende Illusion. Dennoch hofft Serge, der Peris Theorie Glauben schenken möchte, dass ihnen das Meer die Chance bieten könnte, sich vor ihren Verfolgern so lange in Sicherheit zu bringen, bis jeder in die Realität zurückgerufen wurde. Dafür bräuchten sie ein Boot, doch am Kai liegt nur ein einziges Wasserfahrzeug. Alle anderen sind bereits hinausgefahren, überladen mit Flüchtlingen treiben sie auf dem ruhigen Meer, auf einem sterbenden Meer, das sich immer dunkler violett färbt. „Marie!“, ruft William aus, der seine Freundin plötzlich verschwinden sieht.
Serge hofft bangen Herzens, dass Marie in diesem Moment in der echten Welt erwacht. Da bemerkt Peri, dass auch er zu verschwinden beginnt. Von Panik erfasst schaut er Goran an und hebt die Hand zu einem Abschiedsgruß. Gleich darauf ist er nicht mehr da. Während Serge ihre Verfolger am Ende des Kais auftauchen sieht, hört er hinter sich ein Motorengeräusch. Der Polizist wirbelt herum und sieht ein Boot, das starten will. „Aïcha!“, ruft er sofort. „Nimm den!“ Er wirft dem Mädchen den Revolver zu, den sie geschickt auffängt. „Es sind noch zwei Kugeln drin. Kämpft bis zum Ende!“ Serge läuft den Kai entlang, den Blick fest auf das Boot geheftet, das sich, von einem einzelnen Mann gesteuert, der Kaimauer nähert. Ohne lange zu überlegen, verlässt sich Serge auf sein Schicksal und springt. Er fühlt, wie er einen ewigen Moment lang fliegt. Schließlich landet er hart im Boot, ein heftiger Schmerz durchfährt sein linkes Bein. Der Mann am Steuer ist einen Augenblick lang verblüfft. Das nutzt Serge aus. Dieser Mann ist keine Kopie, kein Teil des Programms, sondern ein wirklicher Mensch, wie er auf der Flucht aus Eden. Dennoch weiß Serge, dass er bereit wäre, ihn umzubringen. Serge weiß, dass er töten würde, um seinen Sohn zu retten. Er hat es schließlich immer gewusst, es ist wie ein weiterer Instinkt, der mit Gorans Geburt erwacht ist, als Serge ihn zum ersten Mal in seinen Armen hielt. Trotz seines gebrochenen Beins stürzt sich Serge auf den Mann, ringt ihn nieder und wirft ihn ins Meer, in den drohenden Tod. Auf dem Kai hat der Kampf begonnen. Die Angreifer sind viel zu zahlreich, aber die Jugendlichen wehren sich verbissen. Aïcha hat bereits zwei Hostessen aus nächster Nähe erschossen. Nun benutzt sie den Revolver wie einen Schlagstock und schlägt wild um sich.
Aus dem dumpfen Geräusch der unter ihren Schlägen brechenden Knochen schöpft sie Kraft. Sie prügelt, stöhnt, keucht, wie geblendet vom Hass. William hat kaum sein Küchenmesser aus dem eiskalten, flachen Bauch einer wütenden Hostess gezogen, da dringt es schon in die Kehle ihres Nebenmanns ein. Hände und Unterarme voller Blut, das sich ins Grünliche verfärbt – noch ein Bug –, sticht er ohne nachzudenken zu, wie im Rausch. Jorn hält Samys Bettpfosten in der Hand. Er hat bereits drei der künstlichen Leben ausgelöscht, die nach wie vor nur ein Ziel haben: Goran in die Hände zu bekommen. Dieser ist zwar geschwächt, hat aber dennoch zwei Hostessen außer Gefecht gesetzt. Er spürt, dass die Übermacht sie zu erdrücken droht. „Schnell! Hierher!“ Serge bringt das kleine Motorboot parallel zum Kai. „Beeilt euch! Springt!“ Aïcha reagiert als Erste, springt ohne zu zögern vom Kai, und entkommt so gerade noch dem Zugriff einer Hostess, die sie erwürgen will. William hilft Goran näher an den Rand des Kais, während Jorn seine provisorische Keule schwingt, um die Angreifer auf Abstand zu halten. Goran setzt sich auf die Kaimauer und rutscht hinab. Aïcha fängt ihn im Boot auf. Dann springt William. „Jorn! Komm!“ Jorn weiß nicht mehr, wohin er sich wenden soll. Er schlägt blind um sich, lässt sich vom Geräusch seiner auf dem Gesicht der Feinde auftreffenden Waffe leiten. Plötzlich lässt er seinen Bettpfosten fallen, wirbelt herum, läuft und springt ohne überhaupt zu wissen, wo sich das Boot eigentlich genau befindet. Im Boot richten sich alle Augen auf ihn, der zwischen dem Kai und dem Bootsführerhaus schwebt, auf das er nie aufschlagen wird. Denn Jorn verschwindet mitten im Flug.
Sofort gibt Serge Gas und das Boot schießt aufs Meer hinaus.
Aïcha ist die Nächste, die aus E-den verschwindet. Dann ein paar Sekunden später William.
Goran und sein Vater bleiben allein im Boot zurück. Sie sind inzwischen so weit vom Kai und der in Flammen stehenden Stadt entfernt, dass Serge den Motor abstellt. Um sie herum breitet sich Stille aus. Vater und Sohn schweigen. Der Rhythmus der Meereswellen wirkt beruhigend auf sie, obwohl an der Wasseroberfläche Tausende toter Fische treiben. Goran schließt die Augen. Er ist so müde, ist es so leid, gegen das Fieber anzukämpfen. Er bemerkt das dumpfe Grollen nicht mehr, dass sich hinter seinem Rücken nähert. Serge fühlt wie der Schreck sein Herz umklammert. Eine Welle, die aus dem Nichts aufgetaucht ist, bewegt sich schnell auf Goran zu. Eine gigantische Welle, eine Wasserwand in einem Ölmeer. Ihm bleibt nicht die Zeit, zu schreien, da ist sein Sohn schon vom Boot gerissen, vom Meer erfasst, das über ihm zusammenschlägt. Über seine letzten Kräfte hinaus, über seine letzten Gedanken hinaus, mit dem Eindruck seinen Körper verlassen zu haben, sieht Serge sich aufspringen und tauchen. Unter Wasser schwimmt er los, und ohne genau zu wissen wie, bekommt er einen von Gorans Armen zu fassen. Er steigt zurück zur Oberfläche auf. Erst als die Luft auf seinen Wangen spürt, begreift er, dass er noch lebt. Er stützt seinen Sohn hoch, schiebt seine Arme unter Gorans Achseln, hält seinen Kopf über Wasser und beginnt mit ihm zu sprechen, wie er es vor
Jahren nachts tat, wenn er kindliche Albträume zu verscheuchen versuchte. „Alles in Ordnung, Goran. Alles halb so schlimm. Ich bin ja da. Papa ist da. Ganz ruhig, Goran. Ganz ruhig…“ Da spürt Serge, wie ihm der Körper seines Sohns entgleitet, sich auflöst. Goran verschwindet wie all seine Freunde verschwunden sind. Und Serge beginnt zu weinen, ohne zu wissen, ob vor Freude oder vor Schmerz. Nun allein inmitten der Fluten rinnen ihm die Tränen übers Gesicht. Er wartet. Wartet auf den Tod oder auf das Leben. Er weiß es nicht. Er wartet.
34 Serge – 11/05
Ich liege in meinem Bett im AZ-VUB-Krankenhaus in Brüssel und schaue meine Hände an. Sie zittern noch. Mein Kopf ist schwer und ich habe einen metallischen Geschmack im Mund. Doch vor allem, vor allem, bin ich todmüde. Jeder noch so kleine Muskel in mir schreit mir zu, dass er sich ausruhen möchte. Ich bin ein einziger großer Muskelkater. Aber ich habe gesiegt! Norah ist hier bei mir. Sie schläft erschöpft in einem Sessel. Sie hat mir alles erzählt. Nun ja, alles was sie wusste. Offensichtlich hatte Sylvia das Protein, das auf den Bewusstseinszustand Einfluss nimmt, wirklich bearbeitet. Aber nur so weit, dass sie gerade mal eine Viertelstunde in Kontakt mit mir sein konnte. Nur solange wie ich brauchte, um zu tun, was sie von mir erwartete. Danach bin ich direkt ins Koma gefallen, wie unter Überdosis. Sofort herrschte Panik im Labor. Norah war es nicht gelungen, die Situation unter Kontrolle zu behalten. Aber das hätte wohl niemand gekonnt. Die Mediziner wollten mich wieder beleben, natürlich erfolglos, und im allgemeinen Durcheinander hat sich Sylvia, die liebe und unersetzliche Sylvia Corso aus dem Staub gemacht. Einer der belgischen Polizisten muss sie erwischt haben. Man fand ihn betäubt in den Toiletten mit dem schrillenden „Heuler“ um den Hals und dem blutverschmierten Mikrosender auf der Stirn. Dieser Verrückten war es gelungen, ihn sich mit einem Skalpell aus dem Labor herauszuschneiden. Danach hat sie sich in Luft aufgelöst. Wer weiß, wo sie sich jetzt aufhält? Zumal ihr, meiner Meinung nach, nicht nur die
europäischen und russischen Behörden auf den Fersen sind, sondern bestimmt auch die E-den-Tycoons, die ganz sicher schnell begriffen haben, dass nur sie hinter dem Zusammenbruch des Junkie-Vergnügungsparks stecken kann. Ich wünsche ihnen und ihr viel Freude.
Ich gebe zu, dass all das für mich kaum noch von Bedeutung ist. Zurzeit überlege ich, ob ich nicht kündigen und mit Goran in die Bretagne ziehen soll, nicht weit von meinen Eltern. Um wieder zu Kräften zu kommen, um neu anzufangen. Von Polizei und Drogen habe ich die Nase voll. Ich muss das mit Norah besprechen. Sie wird mir sicher eine gute Ratgeberin sein. Doch bevor ich einen Rückzug in die Bretagne ins Auge fassen kann, muss ich erst einmal warten, bis Goran wieder gesund ist. Das dürfte Zeit brauchen. Nach allem, was Norah mir erzählt hat, begann die „Gemüsemarkt“-Etage kurz nach meinem Abtauchen ins Koma und Sylvias Verschwinden lebendig zu werden: E-dens Opfer erwachten einer nach dem anderen aus ihrem Koma! Goran war einer der letzten und sehr geschwächt, aber sehr wohl lebendig. Der einzige Wermutstropfen: Fünf Gäste des „Marktes“ sind nicht wieder erwacht. Sie werden nie mehr erwachen. Ich fühle eine schwer zu beschreibende Erleichterung. Eine tiefe Freude, die von Sylvias Flucht nicht getrübt wird. Sollen sich doch andere um ihre Verfolgung kümmern. Denn schließlich, auch wenn sie nebenbei versucht hat, meinen Sohn und mich zu töten, so ist es doch ihr zu verdanken, dass dieser ganze Schrecken ein Ende gefunden hat. Oh, natürlich kann ich nicht versprechen, sie nicht sofort zu erwürgen, wenn ich
sie jemals zufällig treffen sollte! Aber im Augenblick habe ich Besseres, viel Besseres zu tun. Morgen oder Übermorgen sollte ich das Krankenhaus verlassen können. Im Grunde bin ich nur unter Beobachtung. Sie überprüfen, ob mein Ausflug in die Apokalypse, abgesehen von einem gebrochenen Bein, bleibende Schäden hinterlassen hat. Norah hat mir erzählt, dass Grehant vorbei gekommen ist, um mich zu sehen. Er habe unzusammenhängendes Zeug gestammelt, andeutungsweise war die Rede von Glückwünschen von höchster Stelle und Orden. Dann sei er schnell zu seiner Tochter verschwunden. Ich verstehe ihn. Ich habe Goran noch nicht wieder gesehen, aber Norah pendelt zwischen ihm und mir hin und her. Er ist bei Bewusstsein, sehr mitgenommen, aber bei klarem Verstand. Was kann ich mir mehr wünschen? Ich habe das Wertvollste auf dieser Welt zurückbekommen. Ich habe Glück, ich weiß das. Denn fast überall in der Föderation hat es in dieser Nacht seltsame Todesfälle gegeben, wurden Menschen leblos zu Hause aufgefunden. Eine wahre Epidemie, man hat bereits Hunderte Tote gezählt. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, Drogensüchtige genauso wie respektable Persönlichkeiten. Embolien, gerissene Aneurysmen, Infarkte… Opfer, die aus E-dens Zusammenbruch nicht zurückgekommen sind. Die Behörden bemühen sich, die Öffentlichkeit zu beruhigen, aber Sylvia kann stolz auf sich sein, sie hatte durchschlagenden Erfolg. Und ich bin sicher, dass sie sich nichts Geringeres erhofft hat. Goran hat sich bestimmt noch nicht von E-den erholt. Die Mediziner und Psychologen sprechen von einem langwierigen Entzug. Zudem besteht das Problem der Nanoroboter weiter. Sie sitzen noch immer an ihrem Platz, bei allen E-denKonsumenten. Deaktiviert, aber unmöglich zu entfernen. Es ist wohl besser, nicht darüber nachzudenken, was passieren
könnte, wenn jemand einen Weg findet, sie zu reaktivieren. Sobald man einen Fuß in die Drogenfalle gesetzt hat, bleibt immer etwas zurück, das einem keine Ruhe lässt. Aber so weit sind wir noch nicht. Für den Augenblick ist der Albtraum zu Ende. Goran hat Schweres vor sich, vor allem die Rückkehr ins echte Leben, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er mit seinen Schuldgefühlen wird zurechtkommen müssen. Aber er ist nicht allein. Er war es nie, und wird es nun noch weniger sein. Seine Großeltern werden ihn stützen, Norah wird ihm helfen. Ich vertraue ihr. Seine Mutter hat ebenfalls versprochen, sich jetzt mehr um ihn zu kümmern. Und dann ist da noch Melanie, auch wenn ich denke, dass ihr Vater bald der Meinung sein wird, dass es einen schlechten Eindruck machen könnte, wenn sie Umgang mit einem Polizistensohn hat. Selbst wenn der Polizist seine Tochter gerettet hat. Melanie und Goran, das wird so lange dauern, wie diese Geschichten dauern, aber sie sollen es genießen. Ich werde ein wenig verschnaufen. Ich bin ganz ruhig, denn ich glaube fest daran, dass mein Kind das vor ihm liegende meistern wird. Er schafft das.
35 Goran – 12/07
Leben. Ein Programm reich an Optionen. Wir sind hier fünfzig, die versuchen, wieder zu lernen, was dieses Wort bedeutet. Fünfzig Überdosen E-den. Fünfzig Überlebende. Peri konnte schon vor mehreren Wochen wieder nach Hause fahren. Sein Entzug ging schnell. Bei Mel und mir sieht das anders aus.
Das Zentrum befindet sich auf der Ile de Ré in einem alten Gefängnis. Seltsam symbolhaft ist das. Auffangzentren wie dieses wurden nach E-dens Zerfall in aller Eile fast überall in Europa eingerichtet. Reedukationsprogramme wurden improvisiert, damit die vielen Betroffenen sich wieder im Leben zurechtfinden. Es ist schwer zu akzeptieren, dass das Blau weniger blau sein wird, die Düfte fader, die Nächte ohne Sterne, die Luft weniger mild, der Körper von Gefühlen amputiert, von denen er in E-den überfloss. Es ist schwer zu akzeptieren, dass das Leben weniger lebendig sein soll. Es ist schwer, sich von dem bedrückenden Gefühl frei zu machen, dass jede Sekunde, die vergeht, womöglich sinnlos ist, jede Geste, die wir machen, jedes Essen, das wir zu uns nehmen, jedes Wort, das wir sagen. Das Leben. Wozu ist es gut?
Außer für Samys Begräbnis haben Mel und ich die Ile de Ré noch nicht verlassen. Uns vom Meer zu entfernen, scheint uns
immer noch unerträglich. Sein Anblick, sein Geruch, sein Rauschen sind die einzigen Elemente in dieser Welt, die uns ein wenig an die Intensität unseres Aufenthalts in E-den erinnern. Unsere Väter kommen uns an den Wochenenden besuchen, manchmal auch meine Mutter. Mel weigert sich, mit ihrem Vater zu sprechen, seit er E-dens Zerstörung als seinen Verdienst dargestellt hat, und daraufhin zum französischen Präsidenten gewählt wurde. Letztes Wochenende sind Papa und Norah zusammen gekommen. Sie haben mir erzählt, dass sie beschlossen haben, zusammen zu ziehen. Sie machten sich Sorgen, wie ich darauf reagieren würde. Warum hätte ich mich nicht darüber freuen sollen? Schließlich erwarte ich das seit Jahren! Zu wissen, dass Norah zu Hause sein wird, wenn ich zurückkomme, hilft mir ein bisschen bei dem Gedanken an jene Zukunft, die mir solche Angst macht.
Jeden Nachmittag, wenn unsere sehr anstrengenden Reedukationsprogramme zu Ende sind, ziehen Mel und ich uns an einen Strand zurück. Unseren Strand. Er liegt auf der Seite der Insel, die am heftigsten dem Wind ausgesetzt ist, dort wo das Meer rau und wild ist. Wir legen uns nebeneinander in den Sand, ganz nah beieinander, und Mel legt das große blaue Tuch über uns, das sie jetzt ständig trägt. Ein Tuch, das die Farbe ihrer Augen in E-den hat. Und so bleiben wir stundenlang liegen, geschützt von unserem Blau, werden eins, weit von allem, weit von der Welt. Unsere Liebe hat E-den überlebt. Sie ist hier zweifellos sogar noch stärker. Und gemeinsam, Auge in Auge, Hand in Hand, lernen wir wieder, unser Leben zu lieben. Grenzenlos.