Christian Schwarz
Dunkles Herz Professor Zamorra Hardcover Band 29
ZAUBERMOND VERLAG
Die vergessenen Schöpfungsmyth...
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Christian Schwarz
Dunkles Herz Professor Zamorra Hardcover Band 29
ZAUBERMOND VERLAG
Die vergessenen Schöpfungsmythen der Hölle … … sprechen vom Dunklen Herz, das einst Mavet gehört haben soll, dem allerersten Ministerpräsidenten Satans, der den Titel »Lucifuge Rofocale« trug. Nach dem ersten Jerusalemer Kreuzzug … … kommt Leonardo de Montagne auf die Spur des Dunklen Herzens, das seit Ewigkeiten von Mensch zu Mensch weitergegeben wird. In der Gegenwart … … denkt Professor Zamorra plötzlich an seinen unseligen Vorfahr Leonardo, und die Erinnerung an die furchtbare Herrschaft des »Schrecklichen« entreißt der Vergangenheit das Geheimnis des Dunklen Herzens, das die Hölle in den Niedergang treiben kann und das für die Menschen den Tod bedeutet.
1. Mavet Abgrund der Zeiten Simran schaute mit starrem Blick in das weite, grüne Tal hinab, durch das sich der breite Fluss in sanften Schleifen schlängelte. Der groß gewachsene junge Mann mit den schwarzen Haaren, die dem glänzenden Gefieder eines Raben glichen und weit auf seinen Rücken hinab fielen, dem kurz geschnittenen Vollbart und dem knöchellangen Rock stützte sich auf einen Stock. Den rechten Fuß hatte er auf einen Stein gestellt. Unten, zwischen den Felsen, grasten rund dreihundert Schafe und Ziegen. Hirten bewegten sich dazwischen. Einer legte einen Stein auf die Schaufel seines Stabs und schleuderte ihn nach einem ausgerissenen Tier. Blökend rannte es zur Herde zurück. Rebecca trat an Simrans Seite. Vor drei Jahren war er plötzlich in ihrer Gemeinschaft erschienen und hatte, des vielen Umherwanderns müde, beschlossen, hier zu bleiben. Seither war Rebecca in den starken wilden Mann verliebt. Doch Simran wirkte auf viele Frauen und traf sich zu heimlichen Techtelmechteln mit ihnen. Auf Rebeccas schmachtende Blicke hatte er bisher nicht reagiert. »Warum schaust du so voller Zorn ins Tal, Simran?« Ihre sanfte Stimme ließ ihn den Kopf drehen. Er tat, als bemerke er sie erst jetzt. »Warum? Weil mich dein Bruder Jakob durch einen großen Betrug um dieses fruchtbare Stück Land gebracht hat. Es gehörte mir, aber er schwärzte mich beim Rat der Alten an und diese sprachen das Land schließlich ihm zu.« Sie senkte den Kopf. »Jakob ist kein guter Mensch, ich weiß.« Simran drehte sich abrupt. Er fasste Rebecca bei den Oberarmen und drückte sie. Die junge Frau sah ihm erstaunt ins Gesicht, ihr Herz schlug plötzlich hoch oben im Hals. »Hör mir zu, Rebecca, ich mache dir einen Vorschlag. Damit das Land wieder mir gehört, muss ich Jakob töten. Er ist jedoch viel stärker als ich. Dir aber vertraut er.«
Er sah ihr tief in die Augen. »Rebecca, töte Jakob für mich und ich werde dich zu meinem einzigen Weib nehmen und nie mehr wieder eine andere auch nur anschauen. Denn ich liebe dich von Herzen, auch wenn ich mich bisher nicht getraut habe, es dir zu sagen.« Rebecca atmete schwer. Alles drehte sich um sie, sie taumelte ein wenig und musste sich setzen. »Ich soll Jakob töten? Nein, das geht doch nicht, ich bin eine gottesfürchtige Frau mit ausgezeichnetem Leumund und ohne Falsch im Herzen. Aber diese verzehrende Leidenschaft in deinen dunklen Augen, mit denen du mich so durchdringend anblickst, lassen mich zögern. Ja, Simran, ich gestehe es, ich will gerne zu dir gehören, dir eine gute Frau sein. Aber kann ich es um diesen Preis tun? Nein.« Zwei Tage lang redete Simran immer wieder auf sie ein, malte ihr ihre gemeinsame Zukunft in den wunderbarsten Farben aus. Plötzlich nickte sie. »Also gut, Geliebter, ich werde meinen Bruder Jakob für dich töten. Denn meine Liebe zu dir steht weit über allem, was diese Welt und die Menschen ausmacht. Heute Nacht soll es geschehen. Warte im Morgengrauen bei der einsamen Ruine unter dem Olivenbaum an der Flussbiegung auf mich.« Simran nickte zufrieden. Die junge Frau besorgte sich starkes Gift und sprach bei ihrem Bruder Jakob vor. Der verschlagen wirkende Mann empfing seine Schwester freundlich und lud sie zum Abendessen ein. Dort gelang es ihr ohne große Probleme, ihm das bitter schmeckende Gift in den süßen Wein zu schütten. Nachdem sie sich voll gespannter Erwartung, mit feuchten Händen und zitternden Gliedern, aufs Bett gelegt hatte, hörte sie plötzlich einen furchtbaren Schrei durchs Haus gellen. Und gleich darauf noch einen. Es war, als häute man einen Eber bei lebendigem Leibe. Nun fing auch sie an zu schreien und täuschte Magenkrämpfe vor. Kurz darauf war das ganze Haus voller Leute. Ein Medizinkundiger kam gelaufen und tastete Jakob ab, der in seinem Schweiß lag und mit glasigen Augen an die Decke starrte. Immer wieder verzerrte sich sein Gesicht zu einer furchtbaren Grimasse, wenn eine neuerliche Schmerzwelle seinen Körper durchfuhr. Die Schreie waren längst nur noch zu einem Gurgeln geworden. Niemand konnte Jakob mehr helfen. Er starb eines Wassermaßes
Zeit später. Rebecca behauptete, nur wenig von dem Wein getrunken zu haben; so kümmerte sich niemand weiter um sie, als die Leute sahen, dass sie nicht mit ihm gehen würde. Bleich und elend sah sie zwar aus, sie zitterte und der Schweiß lief ihr aus allen Poren. Dass dem aber eine völlig andere Ursache zu Grunde lag, konnte niemand wissen. Im Morgengrauen schlich sich Rebecca aus dem Haus und huschte durch das taufeuchte Gras zum Fluss hinunter. Nebel waberten über der Landschaft. Wie ein Skelettfinger schälte sich die Ruine aus Schlammziegeln unter dem einsamen Olivenbaum aus den Schwaden. Simran wartete bereits inmitten der Ruine. »Und?« »Er ist tot, Geliebter. Nun bin ich auf ewig dein.« Simrans Gesicht verzog sich in wildem Triumph. »Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet«, sagte er mit plötzlich völlig veränderter Stimme. Gleichzeitig verzog sich sein Gesicht, wurde breiter, höher, kantiger. Es formte sich zu einer fürchterlichen, von einem dichten schwarzen Fell bedeckten Fratze, in der grausame Augen dunkelrot glühten; voller Raserei, die selbst das kühnste Herz hätten erschrecken lassen. Zwei mächtige, gebogene Hörner schraubten sich aus seiner Stirn. Auch sein Körper verwandelte sich in den eines etwa kamelgroßen, haarigen Monsters. Riesige Krallen zuckten in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die sich langsam durch den Nebel arbeitete. Zwei riesige Flügel bewegten sich hinter seinen schwarzen, muskelbepackten Schultern und statt Haaren wanden sich kleine, giftige Nattern unter bösartigem Zischen auf seiner Stirn und entlang seiner Wangen. Riesige, spitze Ohren, fast so groß wie die Hörner, begannen gleich hinter den Winkeln des Mauls, das das untere Drittel des Gesichts einnahm und, einmal aufgerissen, zwei Reihen mächtiger Reißzähne zeigte. Rebecca presste die Hände vor den Mund, schrie wie am Spieß, wollte sich drehen, weglaufen, taumelte gegen eine Wand und rutschte kraftlos daran herunter auf die Knie. Todesangst wühlte in ihren Eingeweiden, sie nässte sich ein. »Noch nie zuvor habe ich ein derart furchtbares Wesen gesehen, geschweige denn von einem gehört«, wimmerte sie. »Du wirst mich auf der Stelle töten, nicht wahr?«
Doch der Dämon lachte nur. Laut und schauerlich. »Nicht hier und jetzt«, sagte er. »Deine Seele war rein wie das Licht, aber nun habe ich dafür gesorgt, dass sie schwarz wurde und auf ewig verloren ist. Wenn du stirbst, Rebecca, vielleicht sogar schon in einigen Tagen, wenn dich das Gericht zum Tode verurteilt, die schweren Steine dir sämtliche Knochen im Leib brechen und dir dein schönes Gesicht zerschlagen, dann bist du auf ewig mein. Dann hole ich deine Seele zu mir in die Hölle.« »Das glaubst auch nur du … Mavet.« Der riesige Teufel erstarrte. Nur seine Schwingen schlugen hektisch. Plötzlich hielt Rebecca ein kleines Messer in der Hand. Kein menschliches Auge hätte sehen können, wo sie es so schnell hergenommen hatte. Sie setzte die Spitze an die Wand und ritzte flink einen kleinen Bogen in den Ziegel vor ihr. Damit vollendete sie den Käfig des Todes. Im selben Moment schienen vier Schlammziegel, an jeder Seite einer, in grellen Lichtkaskaden zu explodieren. Milchiggelbes Licht floss in unsichtbare, verschlungene Linien, die alle vier Wände der Ruine überzogen und ein tödliches Muster bildeten. Der Teuflische brüllte grässlich. Schwarze Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen, fuhren in die milchigen Linien, breiteten sich darin aus und wurden langsam schwächer. Mehr passierte nicht. Wie ein Irrwisch drehte sich der schwarze Riese im Kreis, sprang gegen die Linien, wurde zurückgestoßen und wälzte sich schreiend auf dem Boden. Sobald er mit einer der Linien in Berührung kam, sobald das milchige Licht durch seinen Körper floss, peinigten ihn grausame Schmerzen. Wie ein Pfeil schoss er vom Boden hoch, versuchte in den Morgenhimmel zu entfliehen, doch der magische Käfig blockierte ihn auch hier. Dort, wo er durch wollte, konzentrierten sich einige der Linien in blitzschnellen Aktionen und warfen den Körper auf den Boden zurück. Mavet rotierte wie ein Kreisel auf seinem Rücken, lag gleich darauf still und hechelte wie ein junger Hund. Er würgte Ströme grünen Schleims aus seinem Rachen, während sich seine Augen so verdrehten, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Schließlich griff er in einem letzten verzweifelten Versuch Rebecca
selbst an. Doch auch das verhinderten die magischen Linien. Sie zuckten aus den vier Ecksteinen hervor und bildeten eine undurchdringliche Barriere um die junge Frau. Die schwarzen Energien, sonst von ungeheurer Macht, der kaum etwas zu widerstehen vermochte, liefen sich darin tot. Als Mavet sah, dass er auch hier scheiterte, sank sein Kopf kraftlos zu Boden. Der grüne Schleim floss weiter in Strömen, bedeckte seinen Oberkörper und verbreitete sich auf dem Boden. Aus dem Maul drang ein grässliches Stöhnen. »Du hast verloren, Mavet«, sagte Rebecca mit ruhiger Stimme und starrte ihm furchtlos in die Augen. »Nicht ich bin dir in die Falle gegangen, sondern du mir. Habe ich dir, zusammen mit Jacob, meinem Bruder, nicht ein tolles Schauspiel geliefert? O ja, das habe ich sicherlich. Denn einige Menschen mit besonderen magischen Fähigkeiten haben schon länger durchschaut, dass es Furcht erregende Dämonen wie dich gibt. Ausgeburten unserer schlimmsten Albträume, die besonders gute Wesen unserer Rasse zum Bösen verführen, um so ihre Seelen an einen Ort zu bringen, den wir noch nicht kennen, der aber sicher nicht das Licht ist. Du, Mavet, bist der Schlimmste und Erfolgreichste von allen.« Rebecca lachte leise, verzog dann in plötzlichem Hass ihre wunderschönen Züge und spuckte dem Teuflischen mitten ins Gesicht. »Du wunderst dich sicher, dass ich deinen Namen kenne, Mavet. Damit hast du nicht gerechnet, was? Natürlich nicht. Zu selbstsicher und zu siegesgewiss seid ihr euch und glaubt, dass niemand eurer Kraft widerstehen kann. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass du unsere magischen Fähigkeiten nie erkannt hast?« Mavet drehte leicht den Kopf. Eine mächtige Zunge fiel aus dem Maul und blieb im Mundwinkel hängen. Rebecca lächelte. »Aber ihr unterschätzt uns Menschen gewaltig. Es gibt welche unter uns, die über ähnlich starke magische Kräfte verfügen wie ihr selbst. Jacob und ich, wir gehören zu diesen Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Aber es sind nicht die Kräfte der Finsternis, die uns beherrschen, sondern die des Lichts. Und damit werden wir uns künftig schützen und euch bekämpfen, wo immer es geht. Wir wissen nicht, wo ihr her kommt und was ihr wirklich
von uns wollt. Aber wir setzen durch, dass ihr uns künftig in Ruhe lasst. Du bist der Mächtigste von ihnen, Mavet, wahrscheinlich sogar der König der Finsteren. Aber ich bin Rebecca, die mächtigste Magierin der Menschen. Nachdem ich dich erkannt hatte, habe ich die Bäume und die Vögel nach dir gefragt, Mavet. Und ich habe Antworten bekommen, die mir nicht gefielen. Ich sah, dass du die Menschen immer auf ähnliche Art und Weise verdirbst und so haben Jakob und ich dir schließlich eine lange vorbereitete Falle gestellt und obsiegt. Natürlich, denn sie war perfekt, du konntest sie bis zum Schluss nicht erkennen. Gräme dich also nicht, Mavet. Diesen Trost gebe ich dir mit in den Tod.« Rebecca nickte. »Ja. Dein Tod soll deinesgleichen mit Furcht erfüllen und ihnen zeigen, dass sie künftig besser die Hände von uns lassen. Wir sind stark und aufstrebend und werden uns als die Mächtigeren erweisen. Ach übrigens, Jakobs und mein Herz sind auch weiterhin rein und Gott zugewandt, Mavet, denn Jakob ist nicht tot. Er schläft nur einen tiefen, magischen Schlaf und wird wieder erwachen. Aber nun stirb endgültig, Schwarzblut.« Rebecca murmelte Beschwörungen, die das Leuchten verstärkten. Wie Messer schnitten die Linien nun in das Fleisch des Dämons, schälten es von den Knochen, saugten seine Lebenskraft und sein riesiges magisches Potential aus. Der Geflügelte zuckte und wand sich, grunzte und schrie, lag auf den Schultern und im nächsten Moment auf dem Bauch. Schließlich erschlaffte er und blieb liegen. Rebecca lachte wild. Ihre Magie formte ein größeres Messer, mit dem sie Mavet die Ohren abschneiden und als Zeichen des Sieges an ihren Gürtel hängen würde. Doch auf dem Höhepunkt ihres Triumphes musste sie erkennen, dass auch sie den Dämon unterschätzt hatte. Mavet war stark und listig. Er legte seine verbliebene Kraft in eine letzte, verzweifelte Aktion. Aus dem Vortäuschen seines Todes heraus ließ er den grünen Schleim auferstehen. Ohne dass Rebeccas überraschte Augen es hätten verfolgen können, bildete der Auswurf die sechs Wände des Raumes nach und blockierte die Magie der milchigen Linien für einen Moment. Das, was Rebecca als Zeichen seines nahen Todes ge-
deutet hatte, wurde nun zu Mavets Rettung. Der Dämon brüllte. Der winzige Moment, den der Schleim das tödliche Licht aufhielt, reichte dem Schwarzen. Er schoss in die Höhe und folgte dem schmalen Korridor, den der Schleim ihm bildete. Hoch oben breitete er seine Flügel aus, während Rebecca enttäuscht aufschrie. In irrwitziger Geschwindigkeit schoss Mavet davon. Die milchigen Lichtlanzen, die wie verästeltes Gezweig nach ihm griffen und ihn erneut einzuhüllen versuchten, erreichten ihn nicht mehr. Viele tausend Speerwürfe weiter fiel der schwarze Dämon entkräftet vom Himmel. Er knallte in den feinen, heißen Sand, aus dem er sich stöhnend wieder erhob. Mit der ihm noch verbliebenen Kraft nahm er die Gestalt eines jungen Mannes an und wankte zu dem Brunnen unter Palmen, an dem geschäftiges Treiben von Menschen und Tieren herrschte. Weiter hinten sah er kastenartige Häuser, die in der Sonne blendend weiß leuchteten. Er hielt auf eine junge Frau zu, die ihn unter ihrem roten Schleier hervor fragend anstarrte. »Du siehst durstig aus, Herr. Als ob du einen langen Wüstenmarsch durchzustehen hattest. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?« Mavet nickte. Er trat einen Schritt nach vorne, taumelte und sein Körper schien für einen Augenblick mit dem der Frau zu verschmelzen, durch ihn hindurch zu fallen. Der kleine Junge, der das bemerkte, hielt seine Beobachtung aber lediglich für eines der Trugbilder, die einem die Hitze hin und wieder vorgaukelt. Mavet trank, seufzte und setzte sich dann entspannt in den Schatten eines Hauses. Er wartete auf Rebecca. Sie würde kommen. Ganz sicher.
2. Drachenfühler Château Montagne, Loiretal Gegenwart »Spürst du es auch?«, flüsterte Fooly. »Hm, was?« Nur äußerst widerwillig sah Rhett Saris von dem Hochglanzmagazin auf, das auf seinen Knien lag und dessen Mittelteil er ausgeklappt hatte. Die junge Mademoiselle, die nur einen zarten, aufklaffenden Schleier um die Schultern trug und sich ansonsten am Strand liegend so präsentierte, wie Gott sie geschaffen hatte, ließ die Fantasie des Jungen regelrechte Bocksprünge machen. Immer wieder leckte er sich über die Lippen. »Ich hab dich gefragt, ob du das … auch spürst.« Der kleine Drache war aufgestanden und ließ seine Blicke durch die kleine, muffig riechende Abstellkammer auf etwa dreiviertel Höhe des Südturmes wandern. Die halb runde Wand bestand aus mächtigen, unverputzten Steinquadern, die Decke aus Holzbrettern. Ein paar uralte, verrostete Gartengeräte standen hier drinnen, zum größten Teil von ein paar Holzbalken verdeckt. Ein noch älteres, windschiefes Regal duckte sich an die Wand und diente einigen Prachtexemplaren von Spinnen als Anker für ihre Netze. In der Lichtbahn, die durch das schmale, hohe, staubblinde Fenster fiel und heute für ausreichend Helligkeit sorgte, weil draußen die Sonne strahlte, tanzten Stäubchen und ein paar Mücken um die Wette. Alles in allem kein Platz, um sich wirklich wohl zu fühlen. Aber Rhett hatte die vergessene Kammer als Rückzugsrefugium erkoren; vor allem dann, wenn er sich mit Dingen beschäftigte, bei denen man sich besser nicht von den Erwachsenen beobachten ließ. So wie im Moment. Nur der kleine Drache durfte hierher mit, denn diesen sah Rhett als seinen Verbündeten und einzigen wirklichen Vertrauten auf Château Montagne an. Hin und wieder nannte er Fooly so-
gar seinen »allerbesten Kumpel«, die höchste Auszeichnung, die der Junge zu vergeben hatte. Und das Prädikat »allerbester Kumpel« stand Fooly in der Tat zu. Rhett war seit seiner Geburt mit ihm vertraut und schätzte die Tatsache, dass er mit dem Drachen Stunden lang den größten Unfug anstellen konnte, über alle Maßen. Meistens sah er in ihm nicht die fremdartige Spezies aus einer anderen Dimension, die Fooly ja eigentlich war. Nein, der Drache war für ihn ein Junge wie er selbst. Aus diesem Umstand erklärte sich auch die folgende Antwort. Rhett grinste dabei. »Ob ich was spüre, fragst du? Oh ja, und ob. Bei mir tut sich auch schon was, nicht bloß bei dir. Oh Mann, ich glaube, er wird dieses Mal richtig hart. Jetzt mal ehrlich, Fooly, hättest du dir vorstellen können, dass Willy solche rattenscharfen Sachen im Schrank liegen hat? So unschuldig und korrekt, wie der immer tut? Ich auf jeden Fall hätte alles von mir dagegen gewettet, wenn mich das einer gefragt hätte. Na, der wird ganz schön dumm aus der Wäsche schauen, wenn ihm plötzlich ein kompletter Jahrgang fehlt. Aber der gute Willy wird's verkraften können, dass wir uns die Dinger ausgeliehen haben. Er hat ja noch genug davon. Vielleicht merkt er's auch gar nicht.« Ausgeliehen war in diesem Fall eine ungerechtfertigt harmlose Umschreibung für gestohlen und Hausfriedensbruch gleichzeitig, da sie heimlich in die Räume des Butlers William eingedrungen waren und dessen Eigentum an sich genommen hatten. Ein Umstand, den Rhetts Mutter Patricia ganz sicher nicht mehr als harmlosen Jungenstreich ansah und Rhett dementsprechend hart bestrafen würde, wenn er sich erwischen ließ. Das aber hatte der junge »Lord Zwerg«, wie Nicole ihn scherzhaft nannte, nicht vor. Er hielt sich für wesentlich schlauer als seine Mum und die Magazine, von deren Existenz Fooly ihm erzählt hatte, waren einfach zu verlockend gewesen. Seinen »Berechnungen« nach würde William ohnehin nicht danach fragen, weil er dann ja zugeben müsste, dass er die Dinger besaß. Der Junge kicherte. »Die Miss Juli am Strand find ich absolut am schärfsten, da sieht man alles. Da, schau mal genau hin. Aber die Miss Dezember mit der Nikolausmütze vor dem Kamin, die ist auch genial. Vielleicht sollte ich nochmals vergleichen …« Er wühlte die
Miss Dezember aus dem Stapel aufgeschlagener Magazine, die neben ihm lagen und hielt sie neben die Miss Juli. So ungeschickt, dass es ratschte und er die Posterseite plötzlich alleine in der Hand hielt. In Bauchnabelhöhe von Miss Dezember prangten nun zwei größere Löcher, von den Heftklammern verursacht. »Hoppala.« Er starrte das Poster kurz an. Dann glitt ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Ich glaub, die hab ich aufgerissen.« Er lachte laut. »Mensch, Fooly, das ist doch genial. Aufgerissen …« Der Drache lachte nicht mit. »Nein, das meine ich nicht.« Eine kleine Feuerlanze fuhr aus seinem Rachen, begleitet von einer Rauchwolke; ein Zeichen, dass Fooly aufs Äußerste erregt war. »He, pass bloß auf, dass du die Dinger nicht abfackelst«, beschwerte sich Rhett. »Da ist etwas im Magischen Universum. Etwas … Düsteres, Fremdartiges, Grauenhaftes, Schreckliches, Schlimmes, Böses, Dämonisches«, murmelte Fooly mehr zu sich selbst. »Eine unglaubliche Macht hat es, auch wenn es noch … schwach ist. So etwas habe ich noch nie gespürt, nicht mal bei Lucifuge Rofocale. Es macht mir Angst, Rhett.« »Was?« Der Junge hörte gar nicht richtig zu. Er wollte es in diesem Moment auch gar nicht. Niemand durfte den Zauber der aufregenden Welt zerstören, in der er sich gerade befand, auch Fooly nicht. Der kleine Drache lauschte irgendwo ins Unsichtbare. »Dieses Ding, es ist erwacht. Ganz plötzlich. Und es ruft … Ich muss zum Chef, ganz dringend. Kommst du mit, Rhett?« Rhett sah auf und tippte sich an die Stirn. »Mitkommen? Jetzt? Nie im Leben. Geh alleine, ich bleib noch etwas hier. Die Februar- und die November-Ausgabe hab ich mir noch gar nicht richtig angeschaut.« Fooly verschwand aus der Kammer und stolperte und flatterte die uralte, nicht eben breite Wendeltreppe nach unten; sie wurde vom Licht, das durch die schmalen Schießscharten fiel, gerade noch ausreichend beleuchtet. An einem hervorstehenden Quader schlug sich der Drache schmerzhaft den Rückenkamm an, was ihn ansonsten zu einem fürchterlichen Jammern veranlasst hätte. Jetzt allerdings fand er keine Zeit für solche Sperenzchen. Denn Fooly fürchtete sich tat-
sächlich fast zu Tode. Die fremde Macht manifestierte sich innerhalb des Châteaus! Was eigentlich nicht möglich war, da der M-Schirm sämtliche schwarzmagischen Attacken abwehrte. Bei der großen Drachenmutter, was geschieht hier?
Nicole Duval und Lady Patricia saßen im wenig benutzten Blauen Salon und tranken Tee. Der mit hellblauen Wandstoffen ausgeschlagene Raum befand sich an der Hinterfront des Hauptgebäudes im zweiten Stock und gewährte den beiden Damen dank der großen Fensterfront einen wunderbaren Überblick über das weite Tal mit seinen Weinhängen, Wiesen und Wäldern. Am Fuß des Tales, über dem auf einem steilen Felsen Château Montagne thronte, zog sich in sanften Schleifen die Loire dahin. Die strahlende Sonne verwandelte den Fluss in ein glitzerndes Band, auf dem tausende von Lichtreflexen zu spielen schienen. Aber für die Schönheiten der Natur hatten Nicole und Patricia momentan höchstens Seitenblicke übrig. Es galt Wichtigeres zu besprechen. »Und der Typ hat dich tatsächlich vom Stuhl gehauen?«, fragte Nicole gerade. Mit dem gelben Sommerkleid, das ihre Reize so gut wie bedeckte, hatte sie sich für ihre Verhältnisse fast schon dick vermummt. Und mit der metallicblauen Perücke wirkte sie wie die BesuChérin aus einer fremden Welt. Lady Patricia, auch eine hübsche Frau, sah in ihrem knielangen Rock aus Schottenkaros und der hochgeschlossenen weißen Bluse dagegen bieder, fast altbacken aus. Patricia nippte an ihrer Porzellantasse und lächelte verlegen. »Ja, es war wirklich komisch. Wie dieser berühmte Blitz, der einschlägt, weißt du. Ich war gestern in der Oper und er saß neben mir. Ganz zufällig. Jean-Pierre Medoc heißt er und wir sind ins Gespräch gekommen. Er hat mich in der Pause auf ein Glas Champagner eingeladen, na ja, und es war ein wunderbares Gespräch und nach der Oper haben wir uns für morgen verabredet.« Duval beugte sich leicht nach vorne. »Hm, interessant. Und wo? Wieder in Paris?« »Nein. Er kommt extra nach Lyon. Er hat mich ins Pierre Orsi eingeladen.«
»Sag bloß. Gleich eine der ersten Adressen. Er hat wohl ziemlich Geld, dein Jean-Pierre?« Nicole lächelte. Butler William kam herein. »Haben Sie noch einen Wunsch, Myladies? Vielleicht ein paar Kekse zum Tee?« »Nicht jetzt, danke, William. Wir rufen Sie, wenn wir Sie brauchen.« Mit deutlichem Widerwillen verscheuchte Lady Patricia den Störenfried. Als er gegangen war, wandte sie sich wieder Nicole zu. »Ob er Geld hat, hast du gefragt? Na ja, ich glaube schon. Er hatte auf jeden Fall einen sündhaft teuren Anzug an, nicht von der Stange, maßgeschneidert. Darin hat er wirklich toll ausgesehen. Kein Wunder. Jean-Pierre arbeitet ja auch in der Modebranche. Er hat sein eigenes kleines Label, JPM. Und er sagt, dass JPM-Mode momentan stark im Kommen sei. Ich denke, du kennst JPM auch, Nicole. Du interessierst dich doch für diese Dinge.« »Ich muss dich enttäuschen, Patricia. JPM hab ich nie gehört. Aber das muss nichts heißen. Wir checken das nachher mal im Internet ab, bon?« »Ja, das ist eine gute Idee. Weißt du, er ist wirklich süß. Einfühlsam und total interessant.« »Dann hat er dir nicht vorgeschwärmt, was für ein toller Hecht er ist? Und was er für ein tolles Auto fährt? Und dass er absolut das Zeug zum Präsidenten hätte, wenn man ihn nur ließe?« Patricias Augen leuchteten. »Nein, überhaupt nicht. Jean-Pierre wollte eher alles über mich erfahren. Und er weiß, was wir Frauen hören wollen. Wir haben uns über alle möglichen Sachen unterhalten, über Musik und Mode und Beziehungen. Er hat nicht ein einziges Mal über Autos und Fußball geredet.« Nicole grinste wölfisch. »Ach was. War das wirklich ein Mann, mit dem du dich da unterhalten hast? Was ich die ganze Zeit schon fragen wollte: Wie sieht er denn aus? Und ist er schon Ü50?« Patricia schenkte sich aus der Porzellankanne nach. »Er sieht klasse aus, Nicole, wirklich. Einsneunzig groß, schlank, schulterlange, graue, wallende Haare, kurz geschnittener Vollbart und wunderschöne Hände mit schlanken, schmalen Fingern. Und seine blauen Augen sehen so verträumt aus, ich könnte direkt darin versinken.« »Jetzt sag schon, wie ist sein Hintern?«
»Na ja, vielleicht ein bisschen breit, kein typischer Knackhintern. Aber noch im grünen Bereich, würde ich sagen.« Sie lachten laut. »Mit anderen Worten, es hat dich also tatsächlich voll erwischt.« Die Schottin lächelte. »Das ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Auch wenn ich gerade von ihm schwärme wie ein junges Mädchen, so renne ich trotzdem nicht blind in mein Verderben. Dazu bin ich zu alt und ein paar Erfahrungen habe ich schließlich auch schon gemacht. Aber ich mag ihn tatsächlich sehr und freue mich auf unsere Verabredung. Nach dem jetzigen Stand der Dinge hätte ich absolut nichts dagegen, wenn es was werden würde. Deswegen wollte ich dich fragen, Nicole, ob du mir vielleicht bei der Auswahl der Garderobe für morgen ein wenig behilflich sein könntest. Ich meine, ich hab da kein sehr glückliches Händchen. Nein, lass, das weiß ich genau. Du hast einfach einen besseren Geschmack. Und ich möchte Jean-Pierre nicht bereits durch meine Kleidung enttäuschen, wenn du verstehst, was ich meine.« »Klar, kein Thema. Weißt du was, wir gehen gleich morgen früh shoppen in Lyon. Da werde ich dir einen Fummel aussuchen, dass Monsieur JPM die Augen aus dem Kopf fallen. Er wird sich den ganzen Abend wünschen, dir die Sachen möglichst schnell vom Leib fetzen zu dürfen, das verspreche ich dir.« »Nicole!« »Ja, schon gut. Ist doch nichts dabei. Komm, wir gehen in mein Garderobenzimmer, da können wir schon mal ein bisschen experimentieren.« An der Bibliothek und am »Zauberzimmer« vorbei gingen sie durch die verwinkelten Flure und Treppenhäuser des Haupttrakts zu Nicoles und Zamorras Schlafzimmerflucht, bei der es sich, inklusive Badezimmer, um mehrere großzügige Räumlichkeiten handelte. Zwei der Zimmer waren als begehbare Garderoben ausgelegt, mit Spiegeln an den Wänden und hunderten von Bügeln voller Hosen, Blusen, Kleider und was die modisch orientierte Frau sonst noch so benötigte. Ein Schrank diente ausschließlich dazu, Nicoles zahlreiche Perücken zu beherbergen, von denen sie selbst schon nicht mehr wusste, wie viele sie eigentlich besaß.
»Also, schauen wir dich mal genau an, Patricia.« Duval ging um ihre Freundin herum. »Hm, wenn ich deine Proportionen richtig einschätze, bist du Figurentyp eins. Wenn du also Jacken trägst, sollten die in Schritthöhe enden. Nur, wenn du sie mit Hosen trägst, können sie länger sein.« »Und wenn ich ein Kleid tragen will?« »Kleid? Ja, warum nicht, das steht dir sicher auch gut. Du bist etwa einssiebzig, schlank, das geht. Aber du solltest Gürtel und Taillenbetonung eher meiden. Schau mal, ich zeig dir, was ich meine.« Nicole ging zu einem halb offenen Schrank und zog ein flaschengrünes Kleid heraus. Dazu angelte sie sich einen braunen Gürtel. »Da, zieh das mal an …« Ich muss das Bestmögliche für sie rausholen, dachte Nicole, während sich Patricia umzog. Heute gibt es nicht mehr viele Männer, die sich wirklich anzuziehen wissen und gerade die verdienen es, dass man sich ihnen im vorteilhaftesten Licht präsentiert. Der junge Leonardo de Montagne war auch hervorragend gekleidet. Der von der falschen Zeitebene allerdings. Für den hätte es auch Spaß gemacht, sich anzuziehen. Mon dieu, wie komme ich jetzt gerade auf den? Seltsam … Nicoles Gedanken schweiften in die Vergangenheit ab. Vor vielen Jahren waren Zamorra und sie ohne jede Vorwarnung ins Jahr 1099 verschlagen worden. Und zwar durch eine Intrige der Schwarzen Familie, die dadurch und durch das Wirken dreier Zeitdämonen den Zeitablauf ändern und die Entstehung von Zamorras Amulett verhindern wollte.* Dieser groß angelegte Plan war allerdings fehlgeschlagen. Im Strudel der Ereignisse waren Zamorra und Nicole Zeugen geworden, wie Gottfried von Bouillon Jerusalem eroberte und hatten die Bekanntschaft von dessen Berater, Leonardo de Montagne, gemacht. Zamorras unseliger Vorfahr und Erbauer von Château Montagne hatte sich bereits damals der Schwarzen Magie verschrieben gehabt. Nach Gottfrieds Sieg über den Kalifen Achman nutzte Leonardo, schon seinerzeit eine Bestie in Menschengestalt, die Gelegenheit, Achmans schöne Frau Alyanah zu kidnappen, weil er sie für sich haben wollte. Doch Achman hatte sie gegen Merlins Stern, der sich in seinem Besitz befunden hatte, eingetauscht. Dumm *siehe Zamorra-Hefte 124-126
nur, dass auch Zamorra Merlins Stern mit in die Vergangenheit gebracht hatte. So hatte das Zauberamulett, das Merlin in Zamorras Beisein aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen hatte, zwei Mal nebeneinander her existiert. Dadurch und durch das Wirken der Zeitdämonen waren wohl einige Zeitabläufe gehörig durcheinander geraten. Selbst Merlin hatte zeitweilig nicht mehr durchgeblickt. Und es war eine zweite Zeitebene entstanden, eine parallele Wirklichkeit, die sich zum Teil mit der tatsächlichen gekreuzt hatte. Dummerweise ausgerechnet in Château Montagne. In dieser zweiten Zeitebene war Leonardo zu Zeiten des Gottfried-Kreuzzuges ein junger, gut aussehender, unbescholtener Ritter, der mit Schwarzer Magie noch nichts am Hut hatte. Und er hat dem Kalifen Achman, der dort witzigerweise in Ägypten residierte, was ohnehin Unsinn ist, nicht die Frau, sondern einen prächtigen Klunker gestohlen. Wie hieß der Brilli nochmals? Ach ja, Stern des Morgenlandes. Aber diese Leonardo-Ausgabe hat es nicht aus Eigennutz getan, sondern um das überlegene Kalifen-Heer, das gerade die Kreuzritter zu Bouillon machte – Nicole musste bei diesem Gedanken unwillkürlich schmunzeln – zum Rückzug zu zwingen. Das gelang. Trotzdem hatte Leonardo den faustgroßen Brillanten, der mit sternenähnlichen Zacken aus Gold eingefasst war, behalten und mit nach Frankreich genommen. Achman hatte ihn deswegen verflucht und dadurch war Leonardo erst zum Dämon geworden. Er hatte viele Jahrhunderte als ruheloser Geist auf Château Montagne zubringen müssen, in »Finsternis und Verbannung«, wie er sich ausgedrückt hatte. Und zwar so lange, bis der Stern des Morgenlandes wieder zu seinem Besitzer zurückgekehrt war, denn so hatte die Formel des Fluchs gelautet. Ja, ich erinnere mich noch genau. Bill Fleming und ich sind in das geheime Verlies unter dem Château vorgedrungen, in dem nicht nur die Schatztruhe mit dem Super-Brilli stand, sondern auch Leonardos verfluchter Geist spukte. Der Scheißkerl hat Bill und mich in das Jahr 1099 versetzt, weil wir den Brilli dem damaligen Leonardo entwenden und wieder an Achman zurückgeben sollten. * Dann wäre der Fluch erst gar nicht zustande gekommen. Mann, was war ich damals noch naiv und ängstlich. Aber schon damals sollte Nicole immer alles richten. Was soll's. Ich hab's ge*siehe Zamorra-Heft 50: »Der Stein des Satans«
richtet. Mit meinem Chéri zusammen, der sozusagen nachgekommen ist. Ha. Wir haben Achman den Brilli zurückgegeben und dadurch den Fluch verhindert. Der junge, hübsche Leonardo ist allerdings trotzdem zum Dämon geworden, diese Anlage war wohl unwiderruflich in ihm festgeklopft, dann aber eines natürlichen Todes gestorben und gleich zur Hölle gefahren. Laut Chronik hat er einen schrecklichen Tod erlitten. Wie, weiß leider keiner mehr. Auf jeden Fall ist's diesem Bastard ganz recht geschehen. Naja, ab da ist die zweite Zeitebene wieder erloschen oder mit der ersten verschmolzen, was weiß ich. Auf jeden Fall ist es ab da wieder deckungsgleich gelaufen, so, wie wir Leonardos Geschichte kennen. Nachdem wir den Fluch aus der Zweiten Zeitebene aufgehoben haben, hat der Stern des Morgenlandes nie mehr wieder irgendwo eine Rolle gespielt. Wir … »… was meinst du?« »Was?« Nicoles Geist glitt wieder in die Wirklichkeit zurück. »Ach so, ja, entschuldige, ich war gedanklich mal ganz kurz austreten. Sieht super aus, steht dir glänzend, vielleicht müssen wir nicht mal zum Shoppen. Könntest du dich mit dem Kleid anfreunden?« »Hm, ja, nicht schlecht.« Patricia drehte sich ins Profil. »Meinst du nicht, dass da mein Bauch etwas zu sehr rausdrückt? Und mein dicker Hintern wird auch nicht gerade vorteilhaft …« Auf dem Gang ertönte lautes Poltern. Gleich darauf torkelte Fooly ins Zimmer. »Mademoiselle Nicole«, keuchte er ganz außer Atem und schlug aufgeregt mit den Flügeln. Rauch quoll aus seinen Nüstern. Nicole strich ihm über den Kopf. »Was gibt's denn, Kleiner? Jetzt beruhige dich erstmal. Du bist ja ganz durcheinander. Was ist passiert?« Der kleine Drache atmete ein paar Mal tief durch. Nicoles Handauflegung schien tatsächlich beruhigende Wirkung auf ihn zu haben. »Spürst du es nicht, Mademoiselle Nicole?«, fragte er leise und sein Körper bebte bis ins Innerste. Duval runzelte die Stirn, aufs Äußerste alarmiert. So völlig neben sich kannte sie Fooly gar nicht. »Was soll ich spüren?« Sie wedelte hüstelnd die Rauchwolken weg, die der Drache quasi am Stück produzierte. »Das Böse, das sich im Château manifestiert. Es ist furchtbar, schrecklich, gefährlich, Mademoiselle Nicole.«
Duval ging in die Knie. So konnte sie dem etwa einen Meter messenden Drachen direkt in die tellergroßen, runden Augen blicken. »Was spürst du genau, Fooly?«, fragte sie leise und hoch konzentriert. »Es ist … wie soll ich sagen, wie eine düstere Wolke aus unglaublich fremdartiger Schwarzer Magie. Sie wird stärker. Und sie ruft nach irgendwas. Ich habe solche Angst …« Nicole streichelte ihm erneut den Kopf. »Wenn du schon mal Angst hast, muss es wirklich schlimm sein, Kleiner. Aber irrst du dich auch nicht? Du weißt, dass sich innerhalb der M-Abwehr nichts Schwarzmagisches manifestieren kann.« »Ja, ich weiß doch«, wimmerte Fooly. »Aber es … es ist trotzdem da. Warum kann es außer mir keiner spüren?« »Wo ist Rhett?«, fragte Lady Patricia hektisch dazwischen. Auch ihr machten Foolys orakelhafte Worte Angst. »Der schaut sich gerade nackte Frauen an.« »Was?« Patricia stemmte empört die Fäuste in die Hüften. Ihre Augen funkelten. »Ich hör wohl nicht richtig …« Die Angst war auf einen Schlag verflogen. »Stimmt, Missis Patricia, da musst du dich wohl verhört haben«, versuchte Fooly seinen Fauxpas erschrocken gerade zu biegen. »Nicht nackte Frauen. Ich habe … nun, äh nackte Schnecken gemeint, ja, Nacktschnecken schaut er sich gerade an …« »Nackte Schnecken, so, so, hm? Ich kann mir genau vorstellen, was das für nackte Schnecken sind. Na warte, wenn ich den in die Finger kriege.« »Jetzt sei doch nicht so, Patricia«, mischte sich Nicole ein. »Rhett ist voll in der Pubertät, da ist so was ziemlich normal. Oder hast du ernsthaft geglaubt, dass er noch immer mit seinen Holzklötzen spielt?« »Was denn sonst? Los, Fooly, sag mir sofort, wo er ist.« »Äh, na ja, ich bin vor lauter Verwirrung so kreuz und quer gelaufen, dass ich nicht mehr zu ihm zurückfinde.« Nicole seufzte. »Also, Fooly, was ist nun mit dieser Manifestation Schwarzer Magie? Du sagtest, dass da etwas ruft. Nach was denn?« »Keine Ahnung, Mademoiselle Nicole. Ich fühle nur den Ruf,
mehr nicht. Ich kann nicht sagen, was es ist.« »Hm. Ich selber spüre gar nichts. Am besten gehst du zu Zamorra. Er ist, glaube ich, in seinem Arbeitszimmer im Nordturm. Wenn da etwas ist, müsste zumindest das Amulett darauf reagieren. Also, Abmarsch.« Nicole erhob sich. Der kleine Drache spürte, dass sie ihn sekündlich weniger Ernst nahm. Es kann nicht sein, was nicht sein darf … Aber das Amulett würde ihn ganz sicher bestätigen. Er hastete hinaus, ohne sich um Missis Patricias Nachfragen bezüglich Rhetts derzeitigem Aufenthaltsort zu kümmern.
Professor Zamorra saß an dem hufeisenförmig geschwungenen Arbeitstisch am mittleren der drei Computerarbeitsplätze. Er war damit beschäftigt, ein paar uralte Folianten aus seiner umfangreichen magischen Bibliothek einzuscannen und dabei gleichzeitig sein Wissen zu erweitern. Denn auch ein Zamorra konnte immer noch dazu lernen. Noch immer war nur der kleinere Teil der Bibliothek, die sich über zwei Stockwerke des Châteaus erstreckte, digitalisiert. Immer wieder übernahm William diese Arbeiten, wenn er gerade mal dazu kam. Und auch Zamorra nutzte die seltenen Augenblicke der Ruhe hin und wieder zu dieser Tätigkeit. Während der Scanner surrte, schaute Zamorra fasziniert auf die Seite, die Stück für Stück auf dem Bildschirm abgebildet wurde. Die verschnörkelten, ausgeschmückten Buchstaben entstammten der Handschrift eines irischen Mönchs aus dem 7. Jahrhundert. In dem großformatigen, in Rindsleder gebundenen Folianten beschäftigte er sich mit der Zauberei keltischer Magier, die einen Weg gefunden hatten, die Sigille mächtiger Dämonen magisch zu verändern und sie dadurch zu vernichten. Zamorra studierte konzentriert die angewandten Zaubersprüche, die er allesamt lesen und deren Sinn er begreifen konnte. Auffällig war, dass die keltischen Magier für ihre Beschwörungen Engel unter deren christlichen Namen anriefen. So weit so gut. »Das kann trotzdem nicht funktionieren«, murmel-
te er. »Kein Engel schafft es, das Sigill auch nur eines ranghohen Dämons zu verändern. Wenn das tatsächlich geht, dann fresse ich Madame Claire mit Schürze und Kochlöffel. So was kriege ja nicht mal ich mit dem Amulett hin. Trotzdem, ich werde es bei Gelegenheit ausprobieren.« Zamorra schaute auf Merlins Stern, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Es war erst ein paar Tage her, dass die Zauberscheibe seine sechs Vorgängermodelle in einem irren Endkampf vernichtet hatte und dabei die ganzen Spiegelwelten zerstört worden waren. Nach diesem Kampf war Taran, das Amulettbewusstsein, in die Silberscheibe zurückgekehrt. Und seither hatte sich der Feigling nicht wieder gemeldet, egal, welche Tricks Zamorra auch versuchte, um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Denn mit Taran würde Merlins Stern wieder wesentlich unberechenbarer, so, wie es schon einmal gewesen war. Irgendwie musste Zamorra mit dem Amulettbewusstsein ins Gespräch kommen und einen Konsens erzielen, denn er hatte keine Lust, in einer Kampfsituation plötzlich waffenlos dazustehen, nur weil Taran es gerade für richtig hielt, mal nicht einzugreifen. Wenn ich die Blechscheibe so im Griff hätte wie einst Leonardo, dann könntest du mich mal kreuzweise, mein lieber Taran, dachte er. Denn sein unseliger Vorfahr hatte wesentlich mehr aus Merlins Stern herausgeholt, als er selbst es bis heute konnte. Und in Leonardos Händen hatte das Amulett niemals versagt. Er hatte es sogar aus der Ferne manipulieren können, wenn es sich gerade in Zamorras Besitz befunden hatte. Es muss daran liegen, dass er das magisch neutrale Amulett schwarzmagisch bedient hat, sinnierte der Meister des Übersinnlichen. Anscheinend bietet das doch die größeren Möglichkeiten. Oder ich bin einfach dümmer als mein gar nicht verehrter Ahnherr, der hoffentlich im hintersten, heißesten Winkel des ORONTHOS* schmort. Nein, nein und nochmals nein, ich weigere mich, das zu glauben. Der intelligenteste aller Zamorras, das bin immer noch ich … Er lächelte kurz vor sich hin und klopfte mit den Fingern seiner linken Hand einen Takt auf die Tischplatte, der sich wie das Galop*Hölle der Dämonen
pieren eines Pferdes anhörte. Ab und an war es schön, seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen zu lassen, aufzuarbeiten, was geistig liegen geblieben war. Heute konnte er entspannt an Leonardo de Montagne denken, was nicht immer so gewesen war. Denn der Schwarzmagier, der zum Dämon geworden war, hatte dem Zamorra-Team das Leben über viele Jahre hinweg im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle gemacht. Zwei Mal waren sie ihm in der Vergangenheit begegnet, im Heiligen Land, zu Zeiten der Kreuzzüge. Dann war Leonardo irgendwann zur Hölle gefahren, wahrscheinlich auf Château Montagne. Fast 1000 Jahre hatte seine Seele in den Höllenfeuern gebrannt, bis Asmodis sie wieder befreit und Leonardo erneut auf die Erde geschickt hatte, um Zamorra auszuschalten. Gut 20 Jahre war das jetzt her. Bis heute erinnerte sich der Professor nicht gerne an jene Zeit, in der Leonardo mit seinen Skelettkriegern Château Montagne erobert und Zamorra und Nicole zeitweise heimatlos gemacht hatte. Sie waren ins Beaminster Cottage nach England ausgewichen, bis sie das Château wieder zurückerobert hatten. Aber auch dann hatten sie harte Nüsse mit Leonardo, der zwischenzeitlich zum Fürsten der Finsternis aufgestiegen war, ausfechten müssen. Was umso schwieriger gewesen war, weil er Merlins Stern per Gedankenbefehl nach Belieben abschalten konnte. Sie hatten Leonardo nicht besiegen können. Er war schließlich über eine Intrige seines einstigen Beraters Eisenbeiß gestolpert und von einem Höllentribunal wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Leonardo, der Schwarzmagier, dessen Seele in den Höllenfeuern nicht brennen wollte, weil er selbst für die Hölle zu böse gewesen war! Zu böse für die Hölle. Was für ein blühender Unsinn! Keine Ahnung, wer das einst in die Welt gesetzt hat. Leonardo war schrecklich, hinterhältig und gemein, skrupellos und was weiß ich nicht alles. Aber es gibt Dämonen, die es noch weitaus schlimmer getrieben haben als er, zumindest aber auf dem gleichen Level. Hm, Asmodis hat mir doch mal in einer stillen Stunde bei Mostache erzählt, dass sie in der Hölle Angst gehabt haben, Leonardos Seele würde sich im Höllenfeuer härten und ihn zu einem Dä-
mon werden lassen. Davor hatte der komplette Höllenadel Schiss. Warum? Das ist doch mehr als seltsam. Warum sollten wohl mächtige Dämonenfürsten Angst davor haben, dass sich ein kleiner Schwarzmagier zu ihresgleichen entwickelt? Da steckt doch irgendwas dahinter. Asmodis sagte, dass er nur einen Vorwand gesucht hat, um Leonardos Seele wieder auf die Erde entsenden zu können. Egal, was er dort tut, Hauptsache weg aus der Hölle. Wie in Dreiteufelsnamen soll ich das bewerten? Der Professor ließ Merlins Stern an der Kette vor seinem Gesicht baumeln. Bing, bing, bing … Ich bin mir sicher, dass du mir einen Teil meiner Fragen durchaus beantworten könntest, Blechscheibe. Hast du vielleicht etwas damit zu tun? Waren es deine Kräfte, die Leonardo vom Schwarzmagier zum Dämon mutieren ließen? Du bestehst schließlich auch aus der Kraft einer entarteten Sonne und die Wandlung zum Dämon könnte man durchaus als Entartung deuten. Ich kann's mir trotzdem nicht vorstellen, denn nach seiner Höllenfahrt hat Leonardo nicht mehr auf deine Kräfte zurückgreifen können. Und Asmodis musste damit rechnen, dass Leonardo wieder mit dir zusammenkommt, wenn er ihn auf die Erde zurück lässt. Also folgere ich daraus, dass du kaum der Quell des Übels gewesen sein kannst. Der Meister des Übersinnlichen seufzte. Was meinst du? Hat die Beschreibung »Zu schrecklich für die Hölle« doch irgendeine Berechtigung? Ist damit vielleicht etwas ganz Anderes gemeint, als das, was wir immer dahinter vermutet haben? Was hat Leonardo seinerzeit zu einer potentiellen Gefahr für die Schwefelklüfte gemacht? Bon, er hat sich dann ja in seiner zweiten Existenz tatsächlich zum Dämon entwickelt, was zumindest außergewöhnlich ist, so weit ist das Ganze stimmig. Aber weiter? Als Dämon und als Fürst der Finsternis hat er nichts Herausragendes vollbracht. Und es war kein Problem für das Tribunal, ihn zu beseitigen, nachdem er mit den Ewigen paktiert hatte. Wo also soll er gefährlich gewesen sein? Tut mir Leid, Amulett, ich kann's mir nicht mal im Ansatz erklären. Trotzdem bleibe ich dabei, der intelligenteste aller Zamorras zu sein. Ha! Zamorra legte Merlins Stern auf den Tisch zurück und die nächste Seite des Folianten auf den Scanner. Vielleicht sollte ich mich mal intensiver mit den Chroniken der Montagnes beschäftigen, vor allem mit den Teilen, die mit Leonardo zu tun haben. Andererseits, keine Ahnung, ob das was bringen würde. Es ist, nicht nur im Zusammenhang mit ihm, auch ei-
niger Unsinn geschrieben worden, zumindest sind einige Daten nicht stimmig. So soll Leonardos Vater Teilhart am 3. Januar 1022 vom Burgsöller in den Tod gestürzt sein. Klingt immer authentisch, wenn ein genaues Datum genannt wird. Aber das kann nicht sein, denn wir haben Leonardo 1099 als etwa fünfzigjährigen Mann kennen gelernt. Er kann also erst um das Jahr 1050 plus minus geboren sein. Zu einer Zeit, als sein Paps fast dreißig Jahre tot war. Der Professor grinste. Was folgern wir daraus? Entweder war der gute Teilhart gar nicht Leonardos Vater. Oder er hat zuvor der Samenbank von Lyon einen Besuch abgestattet und seinen Nachkommen erstmal tiefgekühlt liegen lassen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die ganzen Daten einfach nicht stimmen und wer weiß was sonst noch nicht. Leonardo soll damals eines grausamen Todes gestorben sein. Und zwar deswegen, weil er schon damals versuchte, Asmodis den Höllenthron streitig zu machen. Das weiß ich allerdings von Assi, nicht aus der Chronik. Hm. Leonardo muss also in seiner ersten Existenz schon ziemlich mächtig gewesen sein. Ob das allein an Merlins Stern lag? Dem Gefühl nach eher nein. Wahrscheinlich … Plötzlich öffnete sich die Tür. Fooly schnaufte herein und riss den Meister des Übersinnlichen jäh aus seinen Gedanken. »Chef, spürst du es auch?«, krächzte der Drache. Sein Schwanz mit den dreieckigen Hornplatten darauf peitschte erregt. Er traf eine Blumenvase, die Nicole dort hatte stehen lassen. Klirrend ging sie in Scherben. Zamorra legte die Stirn in Falten. »Was soll ich spüren, Kleiner? Du bist ja ganz außer dir.« »Das Schreckliche, Furchtbare, Widerliche, Dämonische, das sich hier gerade manifestiert.« Fooly blieb vor dem Schreibtisch stehen und starrte wie hypnotisiert auf Merlins Stern, so, als erwarte er etwas ganz Bestimmtes von ihm. Zamorra kniff leicht die Augen zusammen. Er wusste längst, dass er den kleinen Drachen in diesen Dingen absolut Ernst nehmen musste, denn Fooly verfügte über eine ganz besondere magische Sensibilität, die kein anderer aus ihrem Team aufweisen konnte, nicht einmal die Silbermonddruiden Gryf und Teri. Drachenfühler nannte Fooly diese Sinne.
»Hm. Jetzt beruhige dich erst mal wieder, mein Lieber.« Zamorra stand auf, ging um den Tisch herum und legte Fooly die Hand auf den Kopf. Dann lauschte er in sich hinein. »Nein, ich spüre nichts, Kleiner. Aber das muss ja nicht unbedingt etwas heißen. Trotzdem, auch Merlins Stern reagiert nicht. Ich denke, das würde er ganz sicher tun, wenn etwas Schwarzmagisches ins Château eingedrungen wäre, über die M-Abwehr hinweg. Was meinst du?« »Ja, Chef, klaro, deswegen hab ich ihn ja auch angepeilt. Aber das Amulett tut nichts. Das verstehe ich nicht, weißt du, denn mit meinen Drachenfühlern spüre ich das deutlich. Ja, absolut und eindeutig, Chef.« Der Professor betastete seine Nasenspitze. »Ich glaube dir ja, dass du etwas spürst, Fooly«, sagte er vorsichtig. »Könnte es aber sein, dass du etwas … nun, wie soll ich sagen, überreizt bist? Vielleicht so eine Art Fehlalarm? Weißt du, so was kann schon mal vorkommen, das ist auch bei Nicole und mir manchmal so, bei den meisten Anderen auch, kein Grund zur Panik, das geht auch wieder weg.« »Ich weiß nicht, Chef«, erwiderte Fooly unsicher und sah den Professor aus seinen großen Augen an. »Ich glaube aber nicht. Weißt du, meine Drachenfühler haben noch nie Fehlalarm gemacht, wie du das nennst. Ich kann mich drauf verlassen.« Zamorra seufzte. »Ich glaub's dir ja. Aber einmal ist immer das erste Mal. Es kann nicht zufällig sein, dass du und Rhett heimlich eine von meinen Whiskyflaschen geköpft habt, oder? Und nun spürst du Sachen, die's gar nicht gibt?« »Chef«, erwiderte Fooly empört. »So was würden Rhett und ich niemals machen. In tausend Jahren nicht.« »Natürlich, natürlich.« Zamorra grinste schräg. Doch sein Gesicht wurde sofort wieder Ernst. »Wie auch immer, mein Lieber. Du weißt, dass ich den M-Schirm auf Grund einiger schwarzmagischer Durchbrüche durch neue Dämonenbanner-Kombinationen noch einmal verstärkt habe. Nach menschlichem und dämonischem Ermessen kommt da nichts Schwarzmagisches mehr durch.« »Ja, Chef. Aber … aber es kommt ja auch nicht von außen, es ist eher innen, also innerhalb des Châteaus.«
»Hm. Du weißt, dass alles Schwarzmagische, das sich innerhalb des magischen Schutzschirms aufhält, von dessen Kräften sofort zerstört wird.« »Ja, Chef«, sagte Fooly fast flehentlich. »Zermalmt, zerdrückt, ausgelöscht. Aber nicht das da.« »Bon. So kommen wir nicht weiter. Was für eine Kraft ist ›das da‹ denn? Kannst du seinen Ausgangspunkt lokalisieren?« »Nein, Chef, das ist es ja. Es scheint überall zu sein, wie eine mächtige düstere Wolke. Und ich glaube, dass es ruft. Irgendwie, weißt du, aber ich kann nicht sagen, was es will. Dazu ist es zu diffus, zu schwach. Aber es ist so böse, dass ich Angst davor habe.« »Also gut, Kleiner, dann beobachte weiter. Ich bin im Moment ehrlich gesagt etwas ratlos und wüsste nicht, was ich tun könnte. Sobald du etwas Näheres weißt, komm wieder zu mir. Aber ich denke eher, dass das Ganze bis heute Abend wieder vergangen sein wird. Vielleicht ist das ja so eine Art Mentalspuk, sozusagen das Echo einer schwarzmagischen Kraft, die hier irgendwann mal aktiv geworden ist und jetzt noch einmal durch den Äther wabert.« »Gut, Chef, ich hab schon verstanden. Du glaubst mir nicht.« »Doch, Kleiner. Ich bin überzeugt, dass du glaubst, das wahrzunehmen.« Zamorra hob etwas hilflos die Hände. Geknickt watschelte Fooly von dannen und stieg die Treppe hinunter in den Burghof. Dann ging er in den kleinen Schlosspark, der sich hinter dem Château erstreckte und der auch den kleinen Friedhof enthielt. Er war sich nun selbst nicht mehr sicher, ob er einer Halluzination erlag oder nicht. Zumal er das Furchtbare nicht mehr so deutlich spürte wie noch kurz zuvor. Aber es war noch da.
Hans Joachim Krauß stöhnte, betastete die Abschürfung unter dem linken Wangenknochen, die dank des wild wuchernden grauen Rauschebarts nur teilweise zu sehen war und wandte sich dann von seinem Badezimmerspiegel ab. Er putzte sich die Zähne, wusch sich und trat vors Haus. »Ah, das tut gut«, murmelte der Vierundfünfzigjährige, als ihn die Strahlen der bereits heißen Frühlingssonne trafen und ihm langsam
die Kälte aus dem Leib brannten. Kälte, die auf Übernächtigung und zu viel Schnaps zurückzuführen war. Krauß ließ die Hosenträger schnappen. Er schätzte, dass es, dem Stand der Sonne nach, bereits später Vormittag sein musste, vielleicht sogar schon Mittagszeit. Mann, in meinem ersten Leben wäre ich jetzt in der Betriebskantine gesessen oder im Da Enzos, dachte er zufrieden, hätte mir in aller Hast eine Pizza oder Spaghetti hinter die Kiemen geschoben und dabei doch nur an irgendwelche beschissenen Geschäfte und Verträge und Vorstandssitzungen gedacht und wäre dabei vollends vor die Hunde gegangen. Er klopfte sich auf die Schulter. Hans Joachim, ich kann dir nur gratulieren, dass du den Schritt gewagt hast und ausgestiegen bist. Das war die beste Entscheidung deines Lebens. Denn wenn ich schon als lallendes Wrack herumlaufe, dann doch lieber durch den Alkohol als durch zu viel Arbeit … Krauß kicherte so albern, wie es ihm gerade passte. Noch vor einem Jahr war er Vorstand einer großen deutschen Versicherungsgesellschaft mit Sitz in Wiesbaden gewesen, ein glänzender Manager, der seiner Gesellschaft enorme Gewinne beschert hatte und dessen Kopf deswegen öfters als die seiner Kollegen auf den Titelblättern der großen Wirtschaftsmagazine und -zeitungen zu sehen gewesen war. Der Sechzehn-Stunden-Tag war normal für ihn gewesen, seine Frau seit langem nur noch ein lästiges Anhängsel – »Guten Morgen, Schatz, was machst du heute?«, Bussi links, Bussi rechts, aber antworte mir bloß nicht auf meine Fragen, es interessiert mich eigentlich einen feuchten Dreck – und sein »Privatleben« hatte er fast ausschließlich mit seiner Geliebten, Geschäftspartnern oder Vorstandskollegen verbracht; meistens auf dem Golfplatz an den Wochenenden, denn richtigen Urlaub konnte er sich in seiner Position nicht leisten. Es hätte ihm in dieser Zeit ja ein wichtiges Geschäft, eine wichtige Weichenstellung durch die Lappen gehen können. Wie stolz war er drauf gewesen, ein richtiger Workaholic zu sein, dieses spezielle Gen mitbekommen zu haben. Die ersten Stressattacken, als es ihm vor den Augen geflimmert hatte und er zeitweise weggetreten war, hatte er mit Medikamenten bekämpft. Wird schon wieder werden. So was wirft andere um, mich doch nicht … Trotzdem war es ihm immer schwerer gefallen, sich noch auf den Job zu kon-
zentrieren, ihm war immer häufiger übel geworden, wenn er sein Büro betrat und den Bildschirm seines Hochglanzarbeitsplatzes sah. Lustlos war er geworden, der ganze Mist hatte ihn immer weniger interessiert. Die Stressattacken hatten zugenommen, ihn oft nächtelang wach liegen lassen. Das Ganze hatte er mit noch stärkeren Medikamenten bekämpft, logisch. Mehr Gescheites war ihm nicht eingefallen. Dass er sich bei seiner Frau ausgejammert hatte, war im Nachhinein keine so gute Idee gewesen. Statt auf Verständnis und Mitleid war er auf Hohn und kalte Ablehnung getroffen, auf Gleichgültigkeit und sogar versteckte Schadenfreude. Petra hatte ihm alles zurückgegeben, was sie all die Jahre in reichlichem Maße von ihm bekommen hatte. Als der endgültige Zusammenbruch gekommen war, das Burnout, hatte ihn Petra verlassen, während er zwei Monate in der Psychosomatik verbringen musste. Hans Joachim Krauß hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, sehr viel Zeit. Und er war, obwohl als geheilt entlassen, nicht mehr in seinen Job und zu seiner Geliebten zurückgekehrt. Stattdessen hatte er alles verkauft und dieses alte, zum Verkauf stehende Landhaus mit reichlich Gelände drum herum erworben. Künftig wollte er sich nur noch der Landwirtschaft widmen. Denn der erfolgreiche Manager stammte ursprünglich von einem Hof und hatte sich daran erinnert, wie schön und entspannend der Umgang mit Tieren und dem Boden in seiner Jugendzeit gewesen war. Damals hatte er die Landwirtschaft verachtet, wollte höher hinaus, »etwas werden«, um nie mehr wieder von den Mädchen als »Bauerntölpel« verschrien zu werden. Doch was soll's. Damals war meine Entscheidung unter den gegebenen Umständen richtig. Und jetzt wird sie, die neuen Umstände zugrunde gelegt, wieder richtig sein. Hier in Frankreich will ich die zwanzig, dreißig Jahre, die mir noch bleiben, in Ruhe und Frieden verbringen. Zu was sprech' ich schließlich perfekt Französisch? Frankreich ist zudem ein tolles Land. Und ich werde mich von nichts und niemandem mehr hetzen lassen, auch nicht von mir selbst … Seit einem halben Jahr wohnte Krauß nun hier, nicht weit von der Loire entfernt, im Schatten von Château Montagne, dieser gelunge-
nen Mischung aus elegantem Schloss und mächtiger Trutzburg, die, hoch oben auf einem steilen Berg gelegen, die Umgebung in weitem Umkreis beherrschte. Und weil er schon immer einen schrägen Sinn für Humor gehabt hatte, nannte er sein neues Domizil Château Krauß. Das große, zweistöckige Steinhaus lag im Schatten einiger uralter Eichen und strahlte etwas Zeitloses aus. Krauß umrundete es, zupfte ein paar vorwitzige Gräser aus den Steinrissen und beschloss dann, zu seinen Schafen zu gehen. Er stapfte über die weiten, steil ansteigenden Wiesen zum Château Montagne hoch, vorbei an den Rebstockreihen, denn Château Montagne besaß eigene Weinberge. Besser gesagt, dieser seltsame Professor Zamorra besaß sie und verpachtete sie an verschiedene Leute. Und Krauß hatte er gleich daneben ein Stück Steilwiese für dessen kleine Schafherde verpachtet. Zamorra war ein netter Mensch, gewiss und seine Freundin, diese Nicole, eine wahre Granate. Aber dass der Herr Professor einen an der Waffel hatte, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkte, von dieser Ansicht rückte Krauß keinen Deut ab. Zwischen den Rebstöcken traf er unvermutet André Bayard, einen der Zamorra'schen Weinbergpächter. Mit André verband ihn bereits so etwas wie eine lose Freundschaft. Bayard winkte und kam herüber. »Na, Hans, geht's wieder?«, fragte er grinsend. »N'Tach auch, André. Wenn du mir jetzt noch sagen könntest, was wieder gehen soll, wäre ich dir äußerst verbunden. Irgendwas hab ich an der Backe und außerdem einen Filmriss, der sich gewaschen hat. Ich nehme aber an, dass deine Frage genau darauf abzielt.« »Tut sie.« Bayards Grinsen verstärkte sich noch. »Kein Wunder, dass du einen Filmriss hast, bei dem vielen Schnaps, den du gestern gepichelt hast.« »Ich hab's geahnt«, murmelte Krauß und fasste sich an den Kopf. »Irgendwie erinnere ich mich noch, dass wir bei Mostache in seiner teuflischen Kneipe waren. So weit mein Schädelweh Erinnerungen eben noch zulässt.« »Selber Schuld, mein Lieber. Nach dem zwanzigsten Schnaps oder so hast du angefangen, auf unseren Professor zu schimpfen und auf
uns und dass wir alle nicht ganz sauber wären, weil wir immer etwas von Geistern und Dämonen erzählen, die der Professor angeblich jagt. Na ja, das kommt bei Mostache gar nicht gut und bei den Anderen auch nicht. Pater Ralph hat dich zuerst gesegnet und dann hat dir Mostache die Pfanne über den Schädel gezogen, dir noch eine gescheuert und dich hinaus in die Seenplatte befördert. Ich hab dich dann nach Hause gefahren.« »Oh, meinen herzlichen Dank«, murmelte Hans Joachim Krauß. Er erinnerte sich daran, dass die Pfützen, die es nach jedem Regen vor Mostaches Kneipe ›Zum Teufel‹ gab, Seenplatte genannt wurde. »Könntest du mich das nächste Mal nicht früher heimfahren? Ich meine, bevor ich wieder anfange, alle zu beleidigen? Von dem mal abgesehen redet ihr alle doch einen Mordsmist daher. Und mit welcher Selbstverständlichkeit ihr das tut, schockiert mich dann doch ein wenig.« Krauß kratzte sich hinter dem Ohr. »Ja, ich weiß, wenn ich so weitermache, gehst du mir auch noch an die Gurgel. Mir war immer klar, dass man auf dem Land an diese Sachen glaubt. Aber dass man sie als pure Selbstverständlichkeit hinstellt, wie ihr das hier tut, das ist nicht mehr witzig. Was soll's, vielleicht sehe ich in zehn Jahren auch weiße Gestalten in der Abenddämmerung am Loireufer und hänge Knoblauch in die Fenster.« »Darüber solltest du nicht spotten«, erwiderte André Bayard. »Jede Abwehrmaßnahme hat ihre Berechtigung. Die Wesen der Finsternis sind überall, vor allem hier um das Château scheinen sie sich zu konzentrieren. Und der Schlimmste, den wir bis jetzt erlebt haben, war Zamorras Vorfahr, Leonardo de Montagne. Er kam nach 900 Jahren aus der Hölle zurück und errichtete hier über viele Jahre ein wahres Schreckensregiment. Er hat viele von uns ermordet oder zumindest versklavt. Ich habe damals meine Mutter und zwei Freunde verloren, weißt du. Das ist jetzt gut fünfundzwanzig Jahre her, aber die Erinnerung daran ist noch ziemlich lebendig. So was wollen wir niemals wieder erleben.« Und niemand hat's gemerkt. Keine Polizei, kein Militär. Mach dich doch nicht lächerlich, wollte der Deutsche antworten, ließ es dann aber. Er hatte keinerlei Interesse daran, André weiter zu verärgern.
Sie redeten noch über belanglose Dinge, dann stieg Krauß weiter den Berg hinauf. Seine Schafe grasten in einem Hag unterhalb eines steilen Kreidefelsens friedlich vor sich hin. Er begrüßte die acht Tiere alle mit Namen und stellte fest, dass er den Hag demnächst umstellen musste. Ein stechender Schmerz fuhr plötzlich durch Krauß' Hinterkopf. Er zuckte zusammen und stöhnte. Komm zu mir …, klang es leise, irgendwo tief drinnen in seinem Kopf auf. Komm, zögere nicht länger, komm zu mir … Dem Deutschen lief es eiskalt über den Rücken. »Was … was ist denn das?«, murmelte er und schaute sich nervös um. »Hab ich mich jetzt auch schon von dem Scheiß anstecken lassen?« Komm zu mir, komm … Er schüttelte heftig den Kopf und knurrte dabei wie ein gereizter Tiger. Aber das seltsame Locken, das eigentlich nur den Nachwehen seines Rausches entspringen konnte, schüttelte er damit nicht weg. Im Gegenteil. Mit zunehmendem Schädeldruck wurde es intensiver und deutlicher. Genau wie das Gefühl blanker Furcht, das damit einherging und das Krauß plötzlich zittern ließ. Das, was ihn da lockte, tat es nicht mit Worten. Und doch verstand er diese Impulse ganz deutlich, erfasste, was von ihm verlangt wurde. Und wohin er zu gehen hatte. Hans Joachim Krauß zitterte nun so stark wie Espenlaub. Seine Zähne schlugen aufeinander, während ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand. Fast mechanisch, wie ein Roboter, setzte er sich in Bewegung. Er ging um den Felsen herum. »Das … das gibt es doch nicht, das war doch bisher nicht da«, murmelte er und hyperventilierte fast vor kreatürlicher Furcht. »Nein, bitte, ich will das nicht. Lass mich bloß in Ruhe. Nein, bitte!« Er hielt die Hände vors Gesicht, aber sie schirmten das unheimliche Leuchten nicht ab. Und das hatte nichts damit zu tun, dass er sie vor lauter Zittern nicht ruhig halten konnte. Jeder weitere Schritt auf die Felswand zu zeigte Krauß, dass er längst nicht mehr Herr seines eigenen Willens war. Denn wäre es nach ihm gegangen, hätten ihn seine Schritte in die genau entgegengesetzte Richtung geführt.
Kalter Schweiß stand nun auf seiner Stirn. Gegen seinen Willen schob er den verrosteten Eisenriegel zurück und zog das Tor auf. Es knirschte leise. Das Locken zog ihn hinter die Tür, in das schwarze Leuchten hinein. »Nein! Nicht. Aaaaaaaah!«
Fooly suchte die mächtige Eiche auf, die neben der kleinen Friedhofskapelle stand. Alles wirkte still und friedlich. Er liebte es, hin und wieder mit dem uralten Baum zu reden. »Methusalem«, wie er ihn nannte, konnte durch das geheimnisvolle Netz, über das er mit zahlreichen anderen, auch in beträchtlicher Entfernung stehenden Bäumen in Verbindung stand, immer viel Neues erzählen. Und »Methusalem« hatte mit seinem hohen Alter, das Fooly auf etwa sechshundert Jahre schätzte, eine Weisheit erworben, die der Drache sehr schätzte und auf die er hörte. Vor allem die alten, großen Bäume verfügten über eine Intelligenz, die der der Menschen zum Teil ebenbürtig war. Nicht der der Drachen, nein, das ganz sicher nicht. Hallo Methusalem, begrüßte Fooly seinen Freund auf telepathischem Weg, jetzt haben wir uns schon ein paar Tage nicht mehr gesprochen. Bin immer viel mit dem kleinen Rhett unterwegs, weißt du. Langsam aber sicher bricht sein Erbe hervor und das ist spannend, wenn man das so miterleben kann. Ja, ich weiß, auch ich strecke gelegentlich meine Fühler in diese Richtung aus, erwiderte Methusalem, in dessen Blättern der kühle Wind rauschte. Ich freue mich, dich zu sehen, Fooly. Aber ich befürchte, dass der Anlass kein guter ist. Oje, dann irre ich mich also nicht, wegen meinen Drachenfühlern, weißt du. Ich dachte schon, dass ich irgend so eine Halluzination habe, weil mich Mademoiselle Nicole und der Chef ziemlich veräppelt haben und sie nichts spüren können und das Amulett auch nicht. Aber du spürst es auch, Methusalem, nicht wahr? Leider ja. Ich spüre etwas sehr Böses, Grauenvolles, das langsam erwacht. Hier in den Mauern des Châteaus. Dass du es ebenfalls spürst, habe ich sofort an deiner besorgten Ausstrahlung bemerkt, kleiner Freund. Kannst du mir sagen, was es ist, Methusalem? Und wie der Chef etwas
dagegen unternehmen kann? Ich habe das Gefühl, dass da eine riesengroße Gefahr auf uns zukommt. So wie damals Leonardo de Montagne, der Schreckliche. Den hab ich zwar noch nicht selber miterlebt, aber der Chef und Mademoiselle Nicole haben grässliche Sachen über ihn erzählt. Ich habe Angst vor dieser unheimlichen schwarzen Kraft. Auch ich spüre Wellen der Furcht in mir hochsteigen, kleiner Freund. In der Tat so wie damals, als Leonardo de Montagne mit seinen Skelettkriegern das Château besetzt hielt und die Zombies ihre Waffenübungen an mir machten. Die Wunden sind bis heute nicht ganz verheilt und eigentlich rede ich auch nicht gerne darüber. Aber an Leonardo habe auch ich gerade gedacht. Wie seltsam. Spürst du, dass es stärker wird, Fooly? Was immer es ist, es ruft jemanden zu sich. Ja, Fooly, was kommt, ist sehr gefährlich, denn es strahlt Tod, Vernichtung und Verderben aus. Und noch niemals zuvor habe ich die Macht des Schwarzmagischen so hoch konzentriert erlebt. Doch ich weiß nicht, was es ist und wo es herkommt, ich kann es genauso wenig ausmachen wie du. Ja, es wird stärker, ich spüre es auch. Unheimlich. Weiß vielleicht einer der anderen Bäume, wo es herkommt? Nein. Ich habe sie bereits gefragt. Dann bleibt mir nur eine Möglichkeit, Methusalem. Ich muss durchs Château gehen und schauen, ob ich mich der Quelle des Bösen so nähern kann, ob ich sie vielleicht irgendwo intensiver spüre. Ich habe das Gefühl, sie ist überall um mich her. Diese schreckliche Wolke, die alles vernichtet, wenn sie erst stark genug ist. Wenn ich nur wüsste, wen sie ruft. Fooly verabschiedete sich und streifte kreuz und quer durch das Château. Dabei begegnete er im Burghof Lady Patricia und dem jungen Rhett. Sie zog ihren Sohn gerade am Ohr ins Haus. »Aua, Mum«, rief Rhett kläglich, »warum tust du das?« »Weil wir uns jetzt mal ganz intensiv unterhalten werden«, fauchte sie. »Und wehe, du lügst mich an.« »Das würde ich doch niemals tun, Mum.« »Oweh, oweh«, murmelte Fooly. Er vermied es sorgfältig, sich sehen zu lassen. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun. Und außerdem musste er sich erst eine passende Ausrede einfallen lassen, bevor er Rhett wieder unter die Augen treten konnte. Fooly ging durch das Burgtor nach draußen. Er überquerte die herabgelassene Zugbrücke, die sich über einen tiefen, leeren Wasser-
graben spannte, jedoch nicht, sondern ging auf einem schmalen Weg an der mächtigen, grauen Umgrenzungsmauer entlang, die hier himmelhoch wirkte. Ein Gärtner aus dem nahen Feurs kam ein Mal im Monat vorbei und befreite den Weg, der um das komplette Château herum führte, von Dornengestrüpp und anderem Unkraut. Denn dieser Pfad besaß durchaus eine gewisse Dringlichkeit für Zamorra. Fooly war gerade unter dem Südturm angekommen, als er plötzlich wie erstarrt stehen blieb. Als könne er nicht begreifen, was er sah, starrte er auf eine bestimmte Stelle der Mauer in etwa drei Metern Höhe. »Das gibt's nicht«, flüsterte er. Dann sprang er in die Höhe und fing an zu flattern. Niemand, der den kleinen, massig wirkenden Drachen nicht kannte, hätte es für möglich gehalten, dass die kurzen Stummelflügel den schweren, unförmig wirkenden Körper in der Luft halten könnten. Und hätte man sich rein auf die Grundlagen der Physik berufen, hätten sie das auch sicher nicht. Doch Fooly nutzte Magie, wenn er mal ernsthaft zu fliegen gedachte. Und so stieg er steil in die Höhe, verharrte kurz über den Burgzinnen und flog dann zum Nordturm hinüber. Vor dem Fenster von Zamorras Arbeitszimmer verharrte er flatternd und wirkte nun wieder wie kurz vor dem Abstürzen. Das wirkte aber nur so, denn Fooly traf mit seiner Schwanzspitze drei Mal haargenau die Scheibe. Zamorra sah erstaunt auf. »Spinnst du?«, rief er laut. »Mach mir bloß die Scheibe nicht kaputt.« »Chef, mach auf, schnell!«, rief Fooly zurück. »Sofort, umgehend, am besten bereits vor fünf Minuten.« Der Meister des Übersinnlichen zog das Fenster auf, Fooly rauschte herein. Er landete krachend auf den Bodenbrettern, taumelte und hätte sich fast die Schnauze angeschlagen. »Chef«, keuchte er, »du musst unbedingt mitkommen. Das musst du dir anschauen, aber dalli.«
Zamorra trabte an der Burgmauer entlang, Fooly torkelte in Ge-
sichtshöhe knapp vor ihm her. Er wirkte jetzt wie ein Huhn, das sich nur mit größter Mühe in der Luft halten kann. Trotzdem brachte er das nötige Tempo. Vor dem Südturm landete er. »Da, Chef, schau mal.« Zamorra starrte auf das Zeichen, das er höchst selbst in etwa drei Metern Höhe angebracht hatte. Uneingeweihte, die die kunstvoll ineinander verschlungenen Linien betrachteten, hätten darin nicht unbedingt ein magisches Zeichen erkannt und viel eher eine stilisierte Blume oder, mit viel Fantasie, einen Elefantenkopf dahinter vermutet. Magisch Kundige hätten den Symbolgehalt des Zeichens allerdings sofort erkannt. Und Eingeweihte wussten, dass es sich, mit rund vierhundertfünfzig weiteren Zeichen, zu einem undurchdringlichen weißmagischen Schutzschirm verband, der das Château vor allen schwarzmagischen Einflüssen schützte. Zamorra hatte die Zeichen nach einem ausgeklügelten Muster, bei dem die kleinsten Abstände stimmen mussten, an den Innen- und Außenmauern des Châteaus angebracht. Die magische Kreide, aus der sie bestanden, hielt normalerweise Ewigkeiten und war gegen Witterungseinflüsse ebenso gefeit wie etwa gegen den zufälligen Flügelschlag, mit dem ein Vogel darüber wischte. Das war nicht immer so gewesen, aber eine neue Kreidemischung samt dem darüber liegenden Zauber machte es neuerdings möglich. Trotzdem hatte sich Zamorra angewöhnt, die Zeichen mindestens zwei Mal im Jahr nachzuziehen, denn der magische Abwehrschirm, auch M-Abwehr genannt, war nun einmal ihrer aller Lebensversicherung, wenn sie sich auf dem Château aufhielten. Dämonische Wesen aller Art schafften es nicht, auch nur ein Zeichen anzugreifen, um es zu verändern. Denn dadurch wäre die M-Abwehr sofort instabil geworden. Dieser Umstand erklärte die Fassungslosigkeit, mit der Zamorra auf das magische Symbol in Sonnenblumengröße starrte. Es wurde stärker und schwächer, schien zu pulsieren und in einem schwachen silbernen Ton aus sich selbst heraus zu leuchten. Der Meister des Übersinnlichen schluckte. Er schüttelte den Kopf, sah das Amulett an, tastete daran herum, als wolle er es gerade biegen, aber es blieb trotzdem kalt. »Ich krieg die Krise«, sagte Zamorra. »Du hattest Recht, Kleiner, ir-
gendwas ist hier im Gange. Und dieser Schrotthaufen macht nicht mal den kleinsten Mucks. Wenn ich irgendwann mal meine Memoiren schreibe, heißt ein Kapitel darin: ›Der Mann, der Taran ermordete‹. Sofern mich das Amulettbewusstsein nicht schon vorher in den Wahnsinn … Merde.« Das magische Zeichen war von der Burgmauer verschwunden! »Kontrollier du die anderen Zeichen, Fooly!«, brüllte der Meister des Übersinnlichen. »Ich renne und hole den Einsatzkoffer! Wir müssen sie sofort nachziehen!« Zamorra war bereits am Rennen, als er das rief. Er spurtete die Mauer entlang in den Burghof hinein und auf den Haupttrakt zu. Zwei, drei Stufen auf einmal nehmend überwand er zwei Treppenhäuser und stand schließlich vor seinem »Zauberzimmer«, in dem er hin und wieder magische Experimente vornahm. Hier war auch der Einsatzkoffer zu finden, der allerlei zauberkräftige Amulette und nützliche magische Ingredienzien, darunter die magische Kreide, enthielt. In einem Seitenfach steckte zudem der genaue Plan aller Bannzeichen und Symbole der M-Abwehr. Denn selbst Zamorra konnte sich nicht alle Zeichen auswendig merken. Er schnappte sich den Koffer und lief wieder nach unten. Dabei rannte er fast den Butler um. »Los, mitkommen, William!«, brüllte Zamorra. »Höchste Gefahr! Und informieren Sie Nicole, dass sie auf die Zugbrücke kommen soll!« »Wenn's denn dem Vaterlande dient«, murmelte William. »Aber was denn nun? Mitkommen oder Miss Duval informieren?« Per Visiphon alarmierte er Nicole und hastete dann schneller, als man es ihm zugetraut hätte, hinter dem Professor her. Zamorra rannte durch den Burghof. In diesem Moment schob sich ein alter VW-Golf über die Balken der Zugbrücke. Als der Fahrer den Professor sah, hupte er laut. Zamorra erkannte ihn sofort. Bayard. Was will der denn hier? Dass der doch immer im ungeeignetsten Augenblick auftauchen muss. Der Weinbergpächter stoppte mit quietschenden Reifen und quetschte sich aus dem Wagen. »Professor!« »Keine Zeit jetzt, später!« Zamorra rannte an ihm vorbei. »Aber es ist wichtig! Da geht etwas Seltsames …« Bayard hob hilf-
los die Hände, als Zamorra um die Ecke des Burgtores verschwand. Gott sei Dank kam soeben Mademoiselle Duval aus dem Haupthaus gerannt. Und auch Butler William war heute flott zu Fuß unterwegs. Doch er drohte von Mademoiselle Duval eingeholt und sogar überholt zu werden. Was hatten die nur alle? »Mademoiselle Duval, bitte, hören Sie mir zu.« Nicole, noch immer unter ihrer metallicblauen Perücke, stoppte. »Hallo Monsieur Bayard. Ich habe keine blasse Ahnung, was hier vorgeht, aber es scheint von allen Seiten aus eminent wichtig zu sein. Also wird's wohl egal sein, wem ich zuerst zuhöre. Müssen wir den Weingeist in Ihren Kellergewölben bekämpfen?« »Was?« Bayard starrte sie mit offenem Mund an. »Ach so, nein, es ist so …« Nicoles Augen wurden enger, als sie ihm zuhörte. »Kehrt marsch, Monsieur. Und mitkommen«, kommandierte sie. Kurz darauf standen die Beiden vor Zamorra, der auf einem großen Stein balancierte, mit der einen Hand den Plan an die Wand drückte und mit der anderen das verschwundene Zeichen nachzog. Nicole tippte ihm ans Knie. »Irgendetwas Übles scheint hier vorzugehen. Chéri. Ohne dich in deinem Arbeitseifer bremsen zu wollen, denn auch mir ist unsere Sicherheit ein großes Bedürfnis, solltest du dir doch unbedingt Monsieur Bayard anhören. Da du momentan mehr Hintergrundwissen zu haben scheinst, werde ich den Fall zunächst mal vertrauensvoll in deine Hände legen.« »Soll reden«, erwiderte Zamorra, ohne in seiner Arbeit inne zu halten. »Ich bin multitaskfähiger als jede Frau.« »Einbildung ist auch eine Bildung«, zischte Nicole. »Professor, ich will Sie ja wirklich nicht unnötig nerven«, begann der Weinbergpächter verhalten. Denn er hegte vor Zamorra den größten Respekt. »Aber da Sie für die seltsamen Sachen zuständig sind, dachte ich, ich melde das da umgehend.« »Was ist ›das da‹?« »Nun, Professor, ich war vorhin in meinen Weinbergen, also in Ihren, um genau zu sein und da treffe ich doch zufällig den Deutschen.« »Kraß oder Krauß oder wie der heißt.«
»Ja, Krauß. Hans Joachim Krauß. Wir reden etwas und Hans geht hoch zu seinen Schafen. Plötzlich ist da irgendwas in meinem Geist. Irgendwas, keine Ahnung, was, aber irgendwie bösartig, furchtbar. Ob Sie's glauben oder nicht, ich hatte Angst davor. Dieses Etwas hat mich gerufen.« Zamorra hielt inne und drehte sich dem Weinbergpächter zu. »Weiter, Monsieur. Was ist dann passiert?« »Irgendwie sollte ich den Berg hoch, so Richtung Château, wissen Sie. Ich wollte mich wehren, konnte aber nicht, der Drang war zu stark. Ich schwitze also wie ein Schwein, gehe da hoch und sehe plötzlich, dass in einem steilen Felsen, der bei der Schafkoppel von Krauß, eine uralte Holztür existiert, die vorher noch nicht da war.« »Monsieur Bayard will damit sagen, dass die Holztür aus dem Nichts aufgetaucht ist, Chéri«, flötete Nicole. »Geht hier was vor, was ich auch wissen sollte, was du mir bisher aber aus Gründen, die ich ganz sicher nicht nachvollziehen kann, verschwiegen hast?« »Quatsch. Ich werde selbst gerade von den Ereignissen überrollt. Da ist also eine alte Holztür aus dem Nichts aufgetaucht, Monsieur?« »Wenn ich's sage, Professor. Aber das ist noch nicht alles. Die Tür strahlt so komisch, so in einem leuchtenden Schwarz, würde ich mal sagen. Und das Schrecklichste kommt jetzt erst. Auch Hans muss diesen seltsamen Ruf gehört haben, denn er hat die Tür geöffnet und ist darin verschwunden. Kurze Zeit später ist dieser seltsame Zwang schwächer geworden. So schwach, dass ich wieder stärker war, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Durchaus«, erwiderte Nicole. »Auch wenn Monsieur le professeur lediglich mit guten Noten in der Baumschule geglänzt hat.« »Wie bitte?« Der Pächter war nun vollends verwirrt. Zamorra ging nicht auf den Scherz ein. »Nici, zieh du bitte die Zeichen nach, die hier so plötzlich verschwinden. Fooly ist unterwegs und kontrolliert alle. Anscheinend erwacht hier irgendeine gefährliche schwarzmagische Kraft. Spüren Sie momentan noch etwas, Monsieur Bayard?« »Nein, seit ich im Château bin, nichts mehr.« In diesem Moment erschien Fooly über der Mauer. »Es fehlen min-
destens drei weitere Zeichen über das ganze Château verteilt«, teilte er mit. »Aber im Moment scheint die dämonische Macht Ruhe zu geben. Ich spüre nur noch eine ganz schwache Präsenz. Und dieser seltsame Ruf ist auch nicht mehr da.« »Vielleicht, weil Krauß durch die Tür gegangen ist?«, vermutete Zamorra. »Also los, Bayard, kommen Sie, sehen wir uns dieses Tor mal genauer an.« Zamorra sprang auf den Beifahrersitz des Golfs. Der Weinbergpächter wendete und fuhr über den schmalen Serpentinenweg ein Stück ins Tal hinab. Dann bog er auf einen schmalen Holperpfad ein, der zu seinem Weinberg und in der Folge in die Nähe des ominösen Felsens führte.
Zamorra sah das Tor schon von weitem. Es handelte sich tatsächlich um eine uralte, oben halbrunde Holztür, ungefähr vier Meter breit und drei hoch. Als er davor stand, sah er den schweren eisernen Riegel, der schon leicht angerostet in den kunstvoll verschnörkelten Ösen beider Türflügel hing. Die Tür wirkte völlig normal. Und wäre sie bis vor kurzem noch nicht existent gewesen, hätte sie jeder für den Eingang in ein altes Weingewölbe oder einen Kartoffelkeller gehalten. Denn das schwarze Leuchten, das von ihr ausgegangen war, existierte im Moment nicht. »Sie gehen jetzt so weit wie möglich von hier weg, Bayard, verstanden? Und lassen Sie sich bloß nicht einfallen, etwa hinter mir her zu schleichen. Es könnte Ihren Tod bedeuten. Und wenn Sie Pech haben, einen ziemlich grausamen mit anschließender Dauerverwahrung Ihrer Seele in der Hölle.« »Aber wo werd ich. Ich bin schneller von hier weg, als Sie schauen können.« »Dann hepp.« Während Bayard gemessenen Schrittes Land gewann, zog Zamorra den Riegel zurück. Es knirschte leise, als Eisen auf Eisen rieb. Seltsamerweise gaben die Scharniere des linken Türflügels keinen Laut von sich, als Zamorra ihn aufzog. Er trat in einen finsteren Gang, der direkt aus dem Felsen gehauen
war. Etwa zwei Meter hoch und einen breit führte er leicht schräg ins Innere des Berges. Zamorra spürte nun ganz deutlich, dass hier drinnen etwas Dämonisches hauste, ein Gefühl der Beklemmung machte sich in ihm breit. Das hing in erster Linie allerdings damit zusammen, dass Merlins Stern noch immer nicht daran dachte, sich auch nur ein klein wenig zu erwärmen. Deswegen war Zamorra froh, dass der E-Blaster am Magnetverschluss seines Gürtels hing. Das gab ihm wenigstens ein Gefühl der Sicherheit. Immerhin verweigerte sich das Amulett nicht, als Zamorra ihm befahl, Taschenlampe zu spielen. Grünliches Licht floss aus seinem Zentrum und erleuchtete die nähere Umgebung in einem durchaus gespenstischen Farbton. Zamorra sah ein paar tote Ratten liegen. Er fasste sie an. Sie waren noch warm, also höchstens vor ein paar Minuten verendet. Der Gang mündete schließlich in breitere, gemauerte Gewölbe. Orientierungsprobleme hatte der Professor auch jetzt nicht. Denn der Weg besaß keinerlei Abzweigungen und führte direkt auf eine weitere Holztür zu. Der Meister des Übersinnlichen war ein alter Hase. Im Kampf gegen die Höllenmächte konnte ihn so leicht nichts mehr erschrecken. Aber nun spürte er sein Herz hoch oben im Hals pochen, als er vorsichtig die Tür aufschob. Etwas blockierte sie. Er musste heftiger dagegen drücken. »Merde«, flüsterte er erschrocken. Auf dem Boden saß der Deutsche, den Rücken an die Mauer gelehnt. So, als sei er daran herunter gerutscht. Er hielt beide Hände auf sein Herz gepresst und atmete schwer. Eine dicke Schweißschicht bedeckte sein aschfahles Gesicht. Das konnte Zamorra selbst im Schein des grünen Leuchtens erkennen. Den wie ein Kelch geformten Steinblock, der in der Mitte des Verlieses stand, beachtete er nur am Rande. »Monsieur … Zamorra … helfen Sie mir …«, flüsterte Krauß und starrte ihn aus großen Augen an. »Mein Herz …« Der Meister des Übersinnlichen ging vor ihm auf die Knie. Er lächelte ihn beruhigend an. »Keine Sorge, Monsieur Krauß, das kriegen wir wieder hin. Ich rufe sofort den Krankenwa…« Eine schwarze Wolke löste sich blitzschnell aus der Brust des
Deutschen. Zamorra prallte zurück, verlor das Gleichgewicht, fiel auf den Rücken. In diesem Moment erlosch das Amulett. Finsternis umgab den Meister des Übersinnlichen. Für einen Moment lag er hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Die schwarze Wolke griff an! Zamorra erfuhr eine unglaubliche Macht; bösartig und derart gemein, wie er sie bisher noch nicht kennen gelernt hatte. Und sie wollte seinen Tod! Der Professor fühlte sich, als sei er in eine Stahlpresse geraten, die ihn langsam zerquetschte. Die Luft blieb ihm weg, er glaubte, keinen Platz mehr in seinem Körper zu haben. Zamorra brüllte. Er fühlte, dass die Schwärze in seine Gedanken drang, sie langsam zersetzte. Hilf mir, Amulett!, hämmerten seine letzten klaren Gedanken auf die Silberscheibe ein. Um Merlins Willen, hilf mir! Rette mich! Greif dieses Schreckliche an! Vernichte es! Merlins Stern reagierte tatsächlich! Er baute den Schutzschirm um Zamorra herum auf. Grüne Energie umfloss seine Körperkonturen. Schon fühlte sich der Professor befreiter. Der Druck schwand, er konnte wieder atmen. Keuchend lag er auf dem Rücken, erholte sich aber schnell wieder. Allerdings wartete er vergebens auf die silbernen Blitze, mit denen Merlins Stern schwarzmagische Entitäten anzugreifen pflegte. Was Zamorra nun sah, verschlug ihm schlichtweg den Atem. Er hatte einen leidlich guten Überblick, denn der grüne Körperschirm leuchtete fast das komplette Gewölbe aus. Die schwarze Wolke streifte Krauß, der in der Zwischenzeit gestorben war. Der Professor bemerkte blicklose Augen, die die gegenüber liegende Mauer anstarrten. Schon stieg das schwarze Wabern in die Luft, verdichtete sich zu einem mächtigen Herzen und ließ sich auf dem Steinblock nieder. Dort pulsierte es leicht. »Ich glaub, ich spinne«, flüsterte der Professor. »Was bei Merlins hohlem Backenzahn ist das denn?« Sportlich kam er auf die Beine. Er umklammerte Merlins Stern in Brusthöhe und starrte auf den unglaublichen Gegenstand. Das Herz auf dem Steinblock war von tief schwarzer Farbe und mindestens fünf Mal so groß wie das eines Menschen. Aber ansons-
ten glich es einem menschlichen Herzen fast aufs Haar. Dass es sich um ein dämonisches Relikt handelte, stand aber völlig außer Zweifel. Angriff!, befahl Zamorra erneut. Vernichte das Ding da! Doch das Amulett dachte nicht daran. Plötzlich erschienen vier geisterhafte Gestalten. Sie waren von gelbbrauner Farbe, fast so groß wie Zamorra und glichen aufrecht gehenden Wurzelstrünken mit einer Art Kahlkopf. Der Meister des Übersinnlichen glaubte sogar so etwas wie Augenhöhlen zu erkennen. Die vier Geisterhaften kreisten ihn ein. »Wer seid ihr denn?«, murmelte er verblüfft. »Entlastung für mich? Oder gehört ihr zur Gegenseite?« Zamorra verspürte plötzlich das starke Bedürfnis, alles stehen und liegen zu lassen und nur noch von hier abzuhauen. Der Drang wurde so groß, dass er wie von Furien gehetzt aus dem Gewölbe rannte, die Gänge entlang und schließlich so schnell durch die uralte Tür ins Freie stürzte, dass er über einen Stein stolperte und der Länge nach hin fiel. Dort blieb er erst einmal ein paar Sekunden liegen. Als sich sein Atem beruhigte, er sich wieder erhob, sah er weiter hinten André Bayard an seinem alten Golf lehnen. Er winkte ihm. Der Pächter stieg ein und kam angefahren. »Haben Sie was erreicht, Professor?«, fragte er, als sich Zamorra erneut auf den Beifahrersitz quetschte. Zamorra grinste ihn an. Es kam ein bisschen verzerrt. »Wie man's nimmt. Fahren Sie mich zum Château hoch, Monsieur Bayard. Ich muss dringend zur Lagebesprechung.« »Dann ist da drinnen also was Dämonisches.« Der Pächter schlug ein paar Mal das Kreuz. »Gott steh uns allen bei. Na ja, Sie werden das schon richten, Professor.« »Schön, dass ihr immer alle so große Hoffnungen in mich setzt.« »Sie sind das Leuchten auf unserem Weg, Professor. Bitte sagen Sie mir, dass das da drinnen nichts mit Leonardo de Montagne zu tun hat.« Mit aufkreischendem Motor hoppelte Bayard den Berg hinauf. »Leonardo? Wie kommen Sie jetzt darauf? Komisch, an den hab
ich heute auch schon gedacht. Aber zu Ihrer Beruhigung: Leonardo schmort im ORONTHOS. Von dort kann er nie wieder entkommen. Nein, da ist irgendwas anderes.« »Dann ist es ja gut. Was ist mit meinem Freund Hans Joachim? Haben Sie ihn gesehen? Ich hoffe, ihm ist nichts passiert?« »Keine Ahnung«, log Zamorra. »Sagen Sie, drehen Sie den Motor immer so hoch? Das ist ja nicht zum Aushalten. Und kostet jede Menge Sprit.« »Schon möglich. Aber das nehm' ich gerne in Kauf.« Bayard riskierte einen kurzen Seitenblick und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Seit ich so laut fahre, belehrt mich mein holdes Weib nicht mehr ununterbrochen. Eine wahre Wohltat ist das, sage ich Ihnen.« »Na denn.«
3. Enttäuschung Schloss Laufen, Rheinfall bei Schaffhausen, Schweiz »Nehmen wir die große Rundfahrt oder nur die kleine?« Christoph Dittert sah zuerst seine Frau Rahel und dann Eva und Alfred Weiß an. Rahel, mit dem Gesicht eines Engels und schulterlangen blonden Locken ausgestattet, schaute kurz zum Rheinfall hinüber und lächelte dann ihren Mann an. »Wenn schon, dann die große. Damit wir auch was davon haben.« »Ja«, pflichteten Eva und Alfred bei, »unbedingt die große Rundfahrt.« »Ich will dort hin, wo die Leute rumklettern. Das macht sicher Spaß.« Alfred deutete auf den mächtigen Felsen inmitten des Rheinfalls, der aussah, als sei er von einer mächtigen Axt in der Mitte gespalten worden. Links, rechts und zwischendurch tobten die weiß schäumenden Wassermassen an ihm vorbei. Eine schmale, steile Treppe mit Handlauf führte in abenteuerlichen Windungen bis zum Felsengipfel empor. Viele Dutzend Touristen warteten geduldig auf der Treppe, bis auch sie auf die enge Aussichtsplattform kamen. »Der Felsen heißt nur Aussichtsplattform und hat keinen speziellen Namen«, belehrte ihn Eva nach dem Blick in einen Prospekt. »Also gut. Mit dem Felsen, Schloss Laufen und allem drum und dran. Dann zahle ich aber.« Christoph nahm die Baseballmütze ab, strich sich über die hohe Stirn, auf der nur noch ein paar vereinzelte Haare wuchsen und schob die Brille zurecht. Dann marschierte er zum Kiosk, an dem »Rhyfall Mändli« Tickets für die Bootsrundfahrten verkaufte. Der Kiosk war Teil des »Schlösslis Wörth«, eines Jahrhunderte alten Burgbaus, der heute ein edles Restaurant beherbergte. Der eher einem Turm gleichende Bau lag direkt am Rheinfallbecken, gegenüber dem Fall und von Schloss Laufen, das hoch auf einem Felsen direkt neben dem Rheinfall thronte.
Zwei Fährboote dümpelten am Steg neben dem Schlössli Wörth. Die vier Ausflügler aus Deutschland bestiegen das, auf dem »Große Rundfahrt« stand. Sie setzten sich auf die Querbank ins Heck und warteten, dass weitere Touristen die Bänke an den Längsseiten füllten. Aber nur eine ältere, aufgedonnerte Amerikanerin und ihre Freundin kamen noch an Bord und setzten sich in die Nähe der vier Deutschen. Sie hatten Fotoapparate umhängen, beugten sich über den Bootsrand und beobachteten die riesigen Forellen, die zu Hunderten in dem glasklaren, nur etwa einen Meter tiefen Wasser schwammen. Dabei kicherten sie unablässig und fotografierten, was das Zeug hielt. Christoph Dittert glaubte ein »Oh, really wonderful« herauszuhören. Alfred Weiß fixierte unterdessen einen halbrunden, gemauerten, mit Wasser gefüllten Gang am Ufer, der tief unter die Schlossanlagen zu führen schien. Dann warf der Bootsführer auch schon den Motor an. Das blauweiße Boot tuckerte hinaus aufs Rheinfallbecken, holte in einem großen Bogen aus und fuhr dann parallel zum Rheinfall, damit die Fahrgäste den großartigen Anblick aus allernächster Nähe genießen konnten. »Das ist wirklich toll hier«, ließ sich Alfred Weiß vernehmen. »Eine wunderbare Kulisse für einen Roman. Uralte Burgen, das Wasser. Unglaublich, ich wohne nur sechzig Kilometer weg und war seit dreißig Jahren nicht mehr hier. Doch, ja, ich glaube, dass ich hier meine nächste Geschichte spielen lasse.« Christoph Dittert war gleich Feuer und Flamme, während die Frauen eher andächtig das Naturschauspiel betrachteten und sich lieber über den Alltag im Krankenhaus unterhielten. Beide verdienten ihre Brötchen nämlich als Krankenschwestern. »Joh, super, mach das«, sagte Dittert. »Du könntest ja ein riesiges Monster aus dem Wasserfall tauchen lassen und ihn dann beim Endkampf komplett in die Luft sprengen. Und bumm, alles platt.« Er breitete die Arme aus, um eine Explosion anzudeuten. »Das wär's doch.« Alfred Weiß wiegte den Kopf hin und her. Er schien nicht überzeugt zu sein. »Nicht schlecht, mal sehen. Vielleicht mach ich auch was mit diesem gemauerten Gang an der Anlegestelle. Der hat mich
vorhin schon fasziniert. Auf jeden Fall müssen die beiden Schlösser mit rein. Das sind ja doch eher Burgen.« Christoph Dittert und Alfred Weiß waren Schriftstellerkollegen. Beide hatten mit Krimis, Grusel- und Fantasyromanen für renommierte deutsche Verlage angefangen und sich dabei kennen gelernt. Während Weiß das zusätzlich zu seinem Journalistenjob noch immer machte, war Dittert komplett auf Science-Fiction umgestiegen. Doch sie pflegten ihre Bekanntschaft weiter und besuchten sich hin und wieder gegenseitig. Während Dittert und seine Familie ein Haus im rheinland-pfälzischen Wattenheim gebaut hatten, residierte Weiß im Bodensee-Hinterland, nicht weit von der Schweiz und Österreich entfernt. Und so hatten sie sich entschlossen, einen Tagesausflug zum Rheinfall zu machen. Eva Weiß hatte diese Idee gehabt. Christoph Dittert kicherte. »Joh. Mach, was du willst. Irgendwas Blödes wird dir schon einfallen. Deine Fantasie ist ja unbegrenzt.« »Grad so wie deine.« Die Amerikanerin deutete ins Wasser. »Schau mal, da schwimmt ein riesiger Fisch«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Wahrscheinlich gibt es hier sogar Wale.« »Eher Haie«, erwiderte die andere Frau. Alfred Weiß seufzte und machte verstohlen den Scheibenwischer. Die spinnen komplett, die Amis, sollte das heißen. »Jetzt kommt der Fisch näher. Oh, das ist wahrscheinlich eine touristische Attraktion.« Die Amerikanerin klatschte verzückt in die Hände. »Das ist kein Fisch, das ist eine Wassernixe.« »Jetzt dreht sie völlig durch«, flüsterte Christoph Dittert. Doch dann erstarrte er. Zwei schneeweiße, algenbedeckte Hände tauchten aus dem Wasser, hielten sich am Bootsrand fest. Kraftvoll zogen sie einen Körper nach. Ein Kopf mit strähnigen, weißblonden Haaren tauchte über dem Bootsrand auf. Er gehörte einer jungen Frau. Hübsch und ausdrucksstark war das Gesicht mit den großen Augen. Die Frau fixierte die Menschen im Boot. Etwas Böses, Tückisches lag in ihrem Blick. Dann zog sie sich weiter hoch. Ein schlanker Oberkörper erschien, den tatsächlich ein Kleid aus grobem Sacklei-
nen einhüllte. Christoph Dittert stieß Alfred Weiß an. »Mensch du, ich glaub, ich spinne. Was ist das denn? Lassen die hier tatsächlich Nixen auf die Besucher los?« Weiß schluckte. »Keine Ahnung.« Unwillkürlich tastete er nach der Hand seiner Frau. Die »Nixe« sprang nun vollends ins Boot. Breitbeinig, barfuss, mit leicht gesenktem Kopf stand sie da und musterte die Fahrgäste wie ein Kampfhund kurz vor dem Absprung. Überall tropfte Wasser von ihr ab, bildete große Pfützen auf dem Boot. »He, Sie, so geht's aber nicht«, sagte der Bootführer. »Einfach so ins Boot springen. Sie glauben wohl, ich hätte das nicht bemerkt, was? Zeigen Sie mir mal Ihr Ticket.« Er stand auf und ging auf die Fremde zu. Sie knurrte – und stieß ihn ins Wasser! Er wedelte kurz mit den Armen und verschwand mit einem lauten Aufschrei in den Fluten. Die Amerikanerin, die gerade noch Beifall geklatscht hatte, erstarrte. Zumal die Fremde direkt auf sie zukam. »Ich suche mein Herz«, sagte die Frau mit flüsternder Stimme. »Hast du es vielleicht?« Ihre Hand zuckte vor. Und verschwand im Brustkorb der Amerikanerin! Die schrie wie von Sinnen und schlug nach der Unheimlichen, ohne sie jedoch beeindrucken zu können. Ihr Körper zuckte wie der eines Fischs auf der Harpune. Als die Hand der Fremden wieder erschien, hielt sie ein zuckendes, blutiges Herz. Die Frau achtete nicht auf den zusammensinkenden Körper der Toten und auf deren Freundin, die ohnmächtig zusammenbrach. Sie achtete auch nicht auf die drei Menschen im Heck des Bootes, die schreiend ins Wasser sprangen. Nicht auf den einen, der sitzen blieb. Ihr Blick galt einzig und allein dem Herzen in ihrer Hand. »Nein, das ist nicht mein Herz«, sagte sie und warf es voller Enttäuschung ins Wasser, wo es einen Moment oben schwamm und dann langsam versank. »Ich muss weiter suchen.«
4. Leonardo der Schreckliche Seerepublik Genua / Château Montagne im Jahre des Herrn 1101 Der Mann im grünen Wams stand am Bug des Handelsschiffes und streckte seine Hakennase in den kalten Wind. Wie eine kühn geschwungene Insel im Meer ragte sie aus dem dichten, schwarzen Vollbart hervor. Der Besitzer der Nase war von der Natur auch sonst nicht sehr vorteilhaft ausgestattet worden. Denn er glich eher einer kleinen, fetten Kröte als einem edlen Recken. Und doch stand hier einer der einflussreichsten Männer des Abendlandes. Seine stechenden Augen, in denen etwas Brutales, Menschenverachtendes war, blickten durch den leichten Dunst hinüber zur Silhouette Genuas. Mit jedem Meter, den das Schiff sich ihr näherte, schien sie sich weiter aus dem ruhig daliegenden Meer zu erheben. Der Mann sah bereits die dicken Stadtmauern, die bunten Stadtpaläste und Türme. Sie zogen sich malerisch über den leicht ansteigenden Felshang hoch und kündeten vom ungeheuren Reichtum der Seehandelsstadt. Auf den beiden mächtigen Türmen, die die Einfahrt zum Hafenbecken bewachten, wehte die Flagge der Stadt, das rote Kreuz auf weißem Grund. Unter diesem Zeichen, dem SanktGeorgs-Kreuz, waren auch die Kreuzritter ins Heilige Land gezogen. Wie passend, diese Farbkombination. So strahlend weiß wie die Wände der Häuser und so rot wie die Ströme von Blut, die darauf spritzen … Unruhe erfasste Leonardo de Montagne plötzlich. Er rückte sein braunes Barett mit der schmucken gelben Straußenfeder zurecht. Auch sie schaffte es indes nicht, ihm ein bisschen mehr Schönheit und Eleganz zu verleihen. Dann hakte er seine Daumen ins Schwertgehänge und ließ den Schnabelschuh seines rechten Fußes nervös auf den schmutzigen Planken tanzen.
Adhemar von Burgund, jünger und wesentlich größer als dieser, trat zu Leonardo. Als er zum Kreuzzug nach Jerusalem aufgebrochen war, war er ein schöner Mann gewesen, blond, mit ebenmäßigen Zügen und glatt rasiert. Nun fehlte ihm das rechte Auge. Ein Gegner hatte es ihm ausgeschlagen. Zudem entstellte eine feuerrote Narbe, die quer über Stirn, Nase und Wange lief und vom selben Hieb stammte, zusätzlich sein ohnehin schon gebeuteltes Gesicht. Der Burgunder trug ein Kettenhemd, einen gepanzerten Rock und den Kettenhelm, von dem er sich nie zu trennen schien. Auch er besaß ein Schwert im Wehrgehänge. Adhemar hatte das Blut, das daran klebte, bisher nicht entfernt. Man munkelte, dass er über einhundert Muslime damit erschlagen hatte. »Mir deucht, Ihr wälzt schwere Gedanken, Leonardo«, sagte er mit tiefer, angenehmer Stimme. »In der Tat, Adhemar. Mir kam es gerade in den Sinn, dass mit der Landung in Genua erneut ein Kapitel meines Lebensbuches abgeschlossen sein wird. Viele werden nicht mehr folgen, ich gehe bereits dem Abend meines Lebens entgegen.« »Ihr sinnt über den Tod nach, Leonardo?« Adhemar umfasste mit beiden Fäusten die Reling und streckte die Arme durch. Dann spuckte er ins Wasser. »Mir ist der Tod einerlei, er stört mich nicht, auch wenn ich ihn nicht gerade willkommen heiße.« »Ihr seid jung, Adhemar, Ihr zählt noch keine dreißig Sommer. Da mag einem der Tod tatsächlich so gleichgültig wie das Leben sein. Doch bedenkt eines: Je länger Ihr lebt, je besser das Leben war, das Ihr führtet, desto weniger wollt Ihr ihm irgendwann entsagen. Vor allem dann, wenn Ihr glaubt, ein Glückskind zu sein, von der Muse geküsst und auf der Sonnenseite des Lebens stehend. Ja, ich gebe es freimütig zu, darüber sann ich nach.« Adhemar nickte. »Ihr sprecht weise, Leonardo. Ich verstehe nun, warum große Männer und Heerführer gerne auf Euren Rat hören. Nun, vielleicht ist es an der Zeit, Euch zu fragen, was mir schon länger auf der Zunge brennt. Solltet Ihr es als ungebührlich betrachten, weist mich einfach in meine Schranken.« Leonardo kicherte leise. Es hörte sich an wie das Meckern einer Ziege. »Nur zu, Adhemar, keine Scheu. Ich bin trotz meines kurzen
Ausfluges in die Gefilde des ewigen Schlafs in der Laune, Fragen zu beantworten.« Der Burgunder nickte. »Ihr wart der Berater und enge Freund Gottfrieds von Bouillon. Nach dessen Tod vor Akko, als ein Pfeil seinen Hals durchschlug, hättet Ihr König von Jerusalem werden können, denn er hatte Euch als seinen Nachfolger bestimmt. Warum habt Ihr das abgelehnt?« Weil mir, dem Schwarzmagier Leonardo, die Aura der heiligen Stätten zugesetzt hat, weil ich mich mit fortschreitender Dauer immer unwohler dort gefühlt habe. Aber das werde ich dir mitnichten auf die Nase binden, Burgunder … »Ganz einfach, mein lieber Adhemar. Ich bin dem Aufruf unseres Heiligen Vaters Urban auf der Synode von Clermont gefolgt, weil ich die Befreiung der heiligsten Stätten der Christenheit aus dem Joch der Ungläubigen für den gerechten Krieg halte, als der er verkündet wurde. Deus Io vult!* Mit der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrerheere ist dieser gerechte Krieg nun erfolgreich zu Ende geführt worden und so besteht für mich keine Notwendigkeit mehr, länger als nötig im Heiligen Land zu verweilen. Ich möchte zurück nach Frankreich, denn das ist die Erde, die ich liebe und in der ich einst begraben sein möchte. Ich will zudem meine Familie wieder sehen, deren Anblick ich fünf Jahre entsagen musste. Mein Sohn Clodwig hat nun bereits das achtzehnte Lebensjahr erreicht und ich weiß nicht, ob ich ihn auf Anhieb wieder erkennen werde.« »Ich verstehe«, erwiderte Adhemar von Burgund. »Die Liebe zur Heimat ist etwas sehr Schönes.« Wieder lachte Leonardo meckernd. »Ja, durchaus, so man seine Heimat tatsächlich als solche empfindet.« »Was wollt Ihr damit sagen?« »Nun, ich glaube, das wisst Ihr genau, Adhemar. Denn diese Antwort ist direkt auf Euch zugeschnitten. Als Ihr mit dem Heer Graf Raimunds von Toulouse aufgebrochen seid, da tatet Ihr es nicht aus dem Drang heraus, Jerusalem befreien zu müssen. Nicht wahr?« »Nun …« »Nichts nun. Papst Urban, unser Heiliger Vater, hat versprochen, *lat: »Gott will es«
dass allen Kreuzfahrern, die helfen, das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien, all ihre Sünden erlassen werden. Ein wichtiger Grund für den ungebildeten Pöbel, fürwahr. Auch die Leibeigenen jubelten, als der Papst verkündete, dass jeder, der das Kreuz nehme und ins Heilige Land ziehe, von der Leibeigenschaft befreit werde. Und die Verbrecher aller Couleur zogen gen Jerusalem, weil sie sich durch das Kreuzzugsgelübde der Strafverfolgung entziehen konnten. Manche gingen, um den harten und manchmal ungerechten Lebensumständen zu entfliehen, von denen sie geplagt wurden. Ein Umstand, der übrigens nicht nur auf den niederen Pöbel, sondern auch auf Edle wie Euch zutrifft, Adhemar.« Der Burgunder nickte. »Ihr wisst Vieles, Leonardo. Ja, es stimmt, ich bin der Drittgeborene und deswegen nicht erbberechtigt, so wie mein ältester Bruder Bohemund dies ist. Deswegen zog ich mit ins Heilige Land, weil ich hoffte, dort doch noch über ein eigenes Gebiet herrschen zu können, so wir es erst einmal erobert hatten. Aber dieser Traum ist zerplatzt wie eine reife Frucht, für mich blieb nichts übrig, weil die höher stehenden Adligen alles unter sich aufgeteilt haben. So gehe ich nun nach Burgund zurück, um weiterhin in der Armee des Grafen zu dienen, denn auch ich habe den Hals gründlich voll vom Heiligen Land.« Adhemar machte eine kurze Pause, um nachzudenken. »Gestattet Ihr mir noch eine Frage, Leonardo?« »Fragt.« »So abfällig, wie Ihr gerade über die Sündenbefreiung durch den Papst redetet, fällt es mir schwer, Eure zuvor genannten Motive bezüglich Eurer Kreuzzugteilnahme als lauter zu betrachten. Haltet Ihr den Kreuzzug tatsächlich für einen gerechten Krieg?« Leonardo meckerte zum dritten Mal. »Ihr seid nicht nur ein Meister im Umgang mit dem Schwert, sondern auch sehr scharfsinnig, Adhemar. Das gefällt mir. Und um bei der Wahrheit zu bleiben, ich habe Euch vorhin nur ein wenig getestet. In Wirklichkeit sind mir die religiösen Motive des Kreuzzuges herzlich egal. Wisst Ihr, warum ich tatsächlich mitzog? Weil ich den Tod um mich herum liebe, das hysterische Schreien Sterbender, den Geruch des Blutes und mein Ergötzen, wenn ich es in Strömen fließen sehen kann.«
Das ist nicht gelogen, aber auch nicht der wahre Grund. Den erfährst du niemals, Burgunder … »In dieser Hinsicht unterscheide ich mich nicht von Euch, Adhemar. Auch Ihr findet jeden Gefallen am Morden und am Blutrausch und ich weiß sehr wohl, dass Ihr aus dem Fürstentum Antiochia fliehen musstet, weil Ihr dort fünf Adelige im Duell umgebracht habt. Auf einmal wohlgemerkt. Einer gegen fünf.« Adhemar erschrak. Seine Hand fuhr unwillkürlich zum Schwert. Leonardo legte die seine auf des Burgunders Unterarm. »Lasst nur stecken, Adhemar. Von mir droht Euch keine Gefahr. Im Gegenteil. Euch erwartet in Burgund kein angemessenes Leben. Ein Mann Eurer Klasse und Eures Verstandes sollte es besser haben. Ich aber suche Männer, die den Tod und den Teufel nicht fürchten, wenn ich zurück auf meine Ländereien gehe. Sie müssen in der Lage sein, meine berechtigten Interessen gegenüber meinen Leibeigenen, wenn es sein muss mit eiserner Hand und ganz und gar unnachgiebig, durchzusetzen. Tretet in meine Dienste, Adhemar, dieses Angebot mache ich Euch hier und jetzt. Dann werdet Ihr künftig ein Leben führen, das eines Königs würdig ist, an meiner Seite, als Obrist meiner Soldaten und einst erbberechtigt für all meine Ländereien. Denn ich fürchte, dass ich mit meinem Sohn Clodwig einen Schwächling in die Welt gesetzt habe, der so zart und sanft wie eine Jungfer ist und kein bisschen männliche Härte an sich hat. Ihr seid da mehr nach meinem Geschmack. Und wenn es Euch beliebt, könnt Ihr mit den Rittern reden, die in Eurem Gefolge sind. Auch für sie hätte ich Verwendung.« Adhemar von Burgund dachte nur einen Augenblick nach. Dann streckte er Leonardo seine Hand entgegen. »Es sei«, sagte er einfach.
Leonardo hatte genug Silber im Beutel, um die fünfundzwanzig Ritter, die sein Angebot angenommen hatten, mit Pferden und Ausrüstung einzudecken. Er selbst bevorzugte das Reisen in einer prunkvoll verzierten Kutsche, die von sechs prächtigen Rappen gezogen wurde. Zwei Tage nach der Landung verließ der schwer bewaffnete Kreuzrittertrupp unter dem Jubel der Genueser die Stadt. Durch das
Königreich Burgund reisten sie nach Norden, der lieblichen Loire entgegen. Zehn Tage später erreichten sie das weite Tal, über dem auf einem Felsen über sanft ansteigenden Wiesen Château Montagne thronte. Adhemar von Burgund bemerkte, dass die Bauern, denen sie auf ihrem Weg begegneten, in tödlichem Erschrecken erstarrten, als sie Leonardos gewahr wurden. Dann konzentrierte Adhemar sein Interesse ganz auf die neue Heimat. Die Burg bestand aus nicht mehr als einem trutzigen Kasten mit sechs Stockwerken und einer Befestigungsanlage drum herum. Ein Turm, der die südliche Seite begrenzte, ragte halb vollendet in den blauen Himmel, während der Turm auf der Nordseite kaum über die Befestigungsmauern wuchs. Insgesamt wirkte Château Montagne wie eine Ruine. »Enttäuscht?«, fragte Leonardo aus dem Fenster der Kutsche. Während der ganzen Fahrt hatte er den Bock nur verlassen, um seine Geschäfte zu verrichten, ansonsten schien er unbegrenztes Sitzfleisch zu haben. »Nun, ich sag's gerade heraus, Herr. Ein wenig schon.« »Keine Sorge, Adhemar. Das alte Château Montagne ist vor gut einem Jahrzehnt und einem halben bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Mehrere Blitze hatten bei einem schweren Gewitter das Haupthaus und die Türme getroffen. Seither baue ich die Burg wieder auf, größer und schöner als zuvor. Das braucht noch etwas Zeit und auch deswegen benötige ich Eure Hilfe, Adhemar. Denn wenn ich jetzt das Bauvorhaben wieder verstärkt vorantreibe, werden meine Leibeigenen die von ihnen verlangte Arbeitsleistung nur durch ständigen guten Zuspruch erbringen können, befürchte ich.« Der Burgunder lachte. »Ich verstehe, Herr. An uns soll's sicher nicht liegen. Wir werden Euren Frohnern so gut zusprechen, dass sie ihre Arbeitsleistung gleich noch einmal freiwillig erhöhen werden.« Leonardo stimmte in des Burgunders Lachen ein. Zwei Stunden später rumpelte die Kutsche über die Zugbrücke in den Innenhof des Châteaus. Der tiefe Graben, über den sich die Brücke spannte, führte kein Wasser. »Das hat er nie getan«, erläuter-
te Leonardo. Im Hof hatten sich rund zwanzig Söldner und das Gesinde versammelt. Sie alle jubelten Leonardo zu und hießen ihn zu Hause willkommen. Sie tun ihre Pflicht und Schuldigkeit, mehr nicht, dachte Adhemar. Auf der breiten Treppe, die zum Haupttor des Châteaus führte, erschienen eine Frau und ein junger Mann. Die Frau zählte sicher nicht mehr als dreißig Lenze und war von großer Schönheit. Sie trug ein rotes Samtkleid mit grünem Überwurf und hatte ihre schwarzen Haare unter einer Haube verborgen. Der junge Mann wies im Gesicht eine große Ähnlichkeit mit Leonardo auf und war nicht größer als dieser. Jedoch fehlte ihm das Fette, Krötenhafte seines Vaters. Clodwig de Montagne trug ein schneeweißes Wams, weiße Strumpfhosen und ein Zierschwert an der Seite, das nicht einmal einer Fliege Angst eingejagt hätte. Auch das Barett mit der Gansfeder darauf war von weißer Farbe. Leonardo stieg aus der Kutsche und humpelte, steif von der langen Fahrt, auf die Beiden zu. »Gott mit Euch, mein Ehemann und Geliebter«, sagte die Frau mit leiser, etwas zittriger Stimme. Dabei schlug sie die Augen nieder. »Wir freuen uns über Eure gesunde Rückkehr und dass das Château ab jetzt wieder einen Herrn hat. Wir hatten schon geglaubt, euch an die Muselmanen verloren zu haben und nicht mehr gehofft, Euch lebend wieder zu sehen.« »Ihr habt auf meinen Tod gehofft!«, brüllte Leonardo. »Ja, inbrünstig habt ihr darauf gehofft. Aber diesen Gefallen tue ich Euch nicht. Aber heute weile ich wieder unter euch und es wird so sein, als sei ich niemals weg gewesen. Macht Euch darauf gefasst, Johanna, dass ich Euch ab heute wieder regelmäßig des Nachts besuchen komme. Und wenn Ihr Euch in der Zeit meiner Abwesenheit durch einen Liebhaber beschlafen ließet, gewähre ich diesem eine Nacht, um meiner Rache zu entkommen und …« Clodwig trat entschlossen vor. »Herr Vater, was redet Ihr da vor dem Gesinde und den Söldnern? Ich freue mich, Euch zu sehen, aber ich dulde es nicht, dass Ihr meine geliebte Frau Mutter vor all unseren Untergebenen demütigt.«
Leonardo sah seinen Sohn verblüfft an. »So, das duldest du also nicht. Nun, sag, wie willst du mich daran hindern?« »Notfalls mit Gewalt, Herr Vater. Auch wenn ich dies nicht gerne täte.« »Ach so, ja.« Leonardo lachte brüllend. Dann zog er mit einer blitzschnellen Bewegung, die ihm niemand zugetraut hätte, sein Schwert aus dem Gehang. Mit der flachen Seite schlug er es gegen Clodwigs Schläfe. Stöhnend brach der junge Mann zusammen. »Was erlaubst du dir?«, brüllte Leonardo außer sich vor Wut. Er trat neben seinen Sohn und trat ihm brutal in den Bauch. Ein Mal, zwei Mal, immer wieder … Clodwig wimmerte, stöhnte und schrie, krümmte sich, versuchte den Tritten seines Vaters auszuweichen, den Stiefel zu fassen und daran zu ziehen. Doch Leonardo wich geschickt aus, trat Clodwig gegen das Gelenk, dass es knackte und nahm sich dann das Gesäß zum Ziel. Johanna, die es nicht mehr länger mit ansehen konnte und dazwischen gehen wollte, schlug er ebenfalls brutal nieder. Mit blutendem Mund blieb sie liegen. »So ist das also! Auch du wagst es, dich gegen mich zu erheben. Tu das nie wieder, du Teufelshure, oder ich töte dich auf der Stelle! Und nun kriech weg von hier. Auf den Knien und den Händen, wie eine räudige Hündin.« Sie tat es. Adhemar zeigte sich ganz und gar entsetzt, denn Gewalt gegen Frauen verabscheute er. Aber er griff nicht ein. Es stand ihm nicht zu. Leonardo wandte sich wieder seinem Sohn zu. »Wage es nie wieder, dich gegen mich zu stellen«, sagte er, nun plötzlich leise geworden. Aber das ließ ihn nur noch gefährlicher wirken. »Denn sonst schicke ich dich persönlich in die Hölle. Fünf lange Jahre haben wohl gereicht, dich den Respekt vor mir verlieren zu lassen. Deine Mutter ist anscheinend nicht in der Lage, ihn dir beizubringen. Sei also froh, dass ich nun wieder für dich sorge, Clodwig.« »Ich habe Respekt vor Euch, Herr Vater«, wimmerte das verkrümmte Häuflein Elend, unter dem das Blut in Strömen hervor lief. »Ach ja?« Wieder brüllte Leonardo los. »Hatte ich dir nicht einen Auftrag erteilt, bevor ich ins Heilige Land reiste? Wie lautete der?« »Ich … ich sollte mit der Hilfe unserer Leibeigenen … den Aufbau
von Château … Montagne vorantreiben, damit es … groß und prächtig dasteht, wenn du … wiederkehrst.« »Ja, das solltest du. Und was musste ich sehen, als ich hier ankam? Nichts hat sich in den letzten fünf Jahren verändert, nichts ist voran gegangen. Nur der Südturm ist um eines Fingerhutes Breite gewachsen. Wirklich toll!« Leonardo tanzte nun wie ein Gnom vor Wut und Zorn, er stampfte mit den Füßen auf. »Und diese erbärmliche Leistung nennst du Respekt vor mir? Ich musste mich schämen, als ich meinem neuen Obristen diese Ruine vor Augen führte, die ich als prachtvolle Burg erwartet hatte. Warum hast du meinen Befehl nicht ausgeführt?« »Weil … weil es gegen Gottes Gebot ist, die Leibeigenen zu knechten und auszubeuten.« »Ach ja? Dir werd ich's zeigen, wessen Gebote du künftig befolgst!« Gleich darauf tanzte die flache Seite des Schwerts auf Clodwigs Körper. So lange, bis der junge Mann regungslos liegen blieb.
Château Montagne, im Jahre des Herrn 1104 Leonardo de Montagne schritt durch die langen Gänge und Verliese, die sich im Berg unter Château Montagne ausbreiteten. Im Schein der Fackeln wirkte der Mann, der seit drei Jahren nur noch schwarze Kleidung zu tragen pflegte, wie ein Dämon. Seine Augen glitzerten in einem fanatischen Feuer, das Amulett, das seine Macht garantierte, hing an einer Silberkette frei vor der Brust. Das wäre nicht nötig gewesen, denn Leonardo wusste seit ungefähr einem Jahr, dass er die magische Waffe jederzeit zu sich rufen konnte – nur mit einem Gedankenbefehl. Dann materialisierte sie ohne auch nur das kleinste bisschen Zeit zu verlieren umgehend in seiner Hand, egal, wie viel feste Wände auch dazwischen sein mochten. Aber jeder, der ihm begegnete, sollte in jeder Sekunde an Leonardos Macht erinnert werden. Der Gang, durch den Leonardo ging, gehörte zu den gemauerten.
Ziegel und Steine gaben ihm die Form eines Gewölbes. Seine Leibeigenen arbeiteten Tag und Nacht in ununterbrochener Fron, um das Gangsystem breiter und tiefer in den Felsen zu treiben. Der Burgherr, den sie »den Schrecklichen« nannten, gönnte seinen Arbeitern nur wenig Pausen. Er kannte seinen Beinamen und war stolz darauf. Zumal er sicher war, ihn völlig zu Recht zu tragen. Der Mann, dessen Stiefeltritte schauerlich von den Wänden widerhallten, wirkte im Flackern des Fackellichts wie ein schwarzer, huschender Schatten. Als er um eine Ecke bog, erreichte er eine breite, steile Treppe, die tiefer in den Berg hinunter führte. Am obersten Absatz lag noch immer die verwesende Leiche eines Fronarbeiters. Ratten liefen über den angefressenen Körper, quietschten und machten sich die besten Stücke streitig. Selbst Leonardos Kommen ließ sie nicht in ihrem Tun innehalten. Der Schreckliche nahm eine Fackel und beleuchtete den Toten näher. Jetzt erst verschwanden die Ratten in ihren Löchern. Leonardo kicherte irr, als er die übel zugerichtete Leiche betrachtete. Eines der gebrochenen Augen starrte an die Decke. Das andere jedoch nach unten. Denn es hing nur noch am Sehnerv, da die Ratten das Fleisch drum herum heraus gefressen hatten. Auch sonst wies das Gesicht große Löcher auf, das größte in der Mitte, denn die Nase war bis aufs obere Drittel weg gefressen. Der bestialische Gestank störte Leonardo nicht. Im Gegenteil. »Du bleibst hier liegen, bis dich die Ratten völlig gefressen haben«, murmelte der Schreckliche. »Der Gestank und deine elende Leiche sollen den Anderen zur Warnung dienen, mich nie wieder anzugreifen.« Ein silberner Blitz aus dem Amulettzentrum hatte den Unglücklichen getroffen (wie hatte er noch geheißen? Charles, der Schmied, ach ja), als er sich brüllend und mit blutigen Händen auf den Burgherrn gestürzt hatte. Und das nur, weil ich ein wenig Vergnügen und Zerstreuung mit deiner Tochter gesucht habe. Charles, Charles, wie unnötig war dein Angriff, denn ich hätte die kleine Luise niemals wieder angefasst, da sie mir keinerlei Lust zu bereiten vermochte. Obwohl, Charles, ganz richtig ist das nicht. Mit ihrer großen Angst hat dein Balg sogar eine gewisse Erregung in mir geweckt. Vielleicht sollte ich sie doch noch einmal auf mein Lager holen.
Zusammen mit Johanna? Hm, ja, das wäre sicherlich erheiternd, mein Weib zum Beischlaf mit diesem jungen Zicklein zu nötigen. Vielleicht spare ich mir diese Dinge aber auch auf, bis ich am Ziel angelangt bin. Dann werde ich alle Zeit der Welt haben. Ich spüre, dass es nicht mehr lange dauert. Der Schreckliche versetzte der Leiche einen Fußtritt und ging weiter hinunter. Als die Treppe endete, bestand der Gang plötzlich aus reinem Felsen. Auch hier steckten Fackeln in Halterungen, rußten die Wände voll und beleuchteten kleine Rinnsale, die von den Wänden liefen. Das war doch gestern noch nicht gewesen! Leonardo spürte Erregung in sich hoch steigen. Wo das Magisterium war, war auch Wasser, hieß es. Ein erster Hinweis darauf, dass sie bereits viel näher am Ziel waren, als er glaubte? Leonardo beschleunigte seine Schritte. Normalerweise inspizierte er den Fortschritt, den seine Sklaven tagsüber gemacht hatten, immer um die Abendstunde. Doch heute war er zwei Stunden früher dran als sonst. Hm. Müsste ich hier nicht bereits Schreie und Arbeitslärm hören? Oder sollten meine Sklaven tatsächlich so weit vorgestoßen sein, dass nichts mehr zu hören ist? Andererseits bin ich auf dem ganzen Weg niemandem begegnet, der die Steinreste nach oben transportiert. Das fällt mir jetzt erst auf … Der Schreckliche schaute vorsichtig um die nächste Biegung. Zorn und Wut stiegen in ihm hoch, als er das ungeheuerliche Bild sah, das sich ihm bot! Rund zwanzig Arbeiter saßen untätig auf dem Boden oder lehnten an den Wänden! Kräftige, verdreckte Gestalten mit teilweise blutenden Wunden, die sie nur notdürftig verbunden hatten. Werkzeug und Transportkörbe lagen neben ihnen. Sie schauten teilnahmslos vor sich hin, zwei kauten sogar auf etwas herum. Obwohl er streng verboten hatte, während der Arbeitszeit zu essen oder größere Pausen einzulegen. Und der Aufseher duldete dies. Das war offene Rebellion! Das durfte er auf keinen Fall durchgehen lassen. »Elendes Gezücht!«, brüllte er und stürmte um die Ecke. Die Männer fuhren hoch, starrten den Schrecklichen überrascht an. Angst schlich sich in ihre Gesichter. Der Aufseher, ein großer, kräftiger Mann in mittleren Jahren, begann heftig zu zittern. Die Peitsche
entfiel seiner Hand. »Herr«, sagte er mit zitternder Stimme, »sie … sie hätten gleich wieder weiter gemacht, ich hätte sie angetrieben. Aber der Tag war hart, die Männer … sie haben die Pause einfach gebraucht.« »So missbrauchst du also mein Vertrauen, du Hund!«, schrie Leonardo und seine Stimme kippte fast. »Da gebe ich dir Extrarationen zu essen und eine leichte Aufgabe und du sabotierst mich zum Dank aufs Übelste. Das wirst du büßen!« De Montagne versetzte sich in Halbtrance, trat in geistige Verbindung mit dem Amulett und verschob blitzschnell zwei Hieroglyphen. Grell leuchtete der Drudenfuß im Zentrum des Amuletts. Gleichzeitig begann es um die Extremitäten des Aufsehers silbern zu flimmern. Der Mann hob seine Arme, blickte auf seine Hände. Unter dem silbernen Flimmern begann das Fleisch weich zu werden und floss davon wie das Wachs einer Kerze. Es troff zu Boden und verschwand im Nichts. »Nein, bitte, Herr, tut das nicht«, flüsterte der Aufseher mit in Panik weit aufgerissenen Augen. »Nein, bitte, neiiiiiiiiin!« Der grauenvolle Schrei brach sich an den Wänden, pflanzte sich durch die Gänge fort und kam als hundertfaches Echo wieder zurück. Wo einmal Hände gewesen waren, starrten dem Aufseher nun blanke Knochen entgegen. Da Muskeln und Sehnen fehlten, lösten sich die ersten Knochen und polterten zu Boden. Die Hemdsärmel, plötzlich leer geworden, fielen nach unten. Elle, Speiche und Oberarmknochen rutschten daraus hervor und klapperten ebenfalls auf den Felsen. Gleichzeitig schien dem Unglücklichen jemand die Beine wegzureißen. Er krachte nach unten und kam senkrecht auf dem Becken zu stehen. Dann kippte er nach hinten um, schlug sich den Kopf an der Felswand an und kam auf dem Rücken zu liegen. Die Knochen seiner Beine hatten sich in der Leinenhose verkantet und durchstießen sie teilweise. »Meine Arme, meine Beine«, wimmerte der Mann, um gleich darauf wieder los zu schreien; schrill und panisch wie ein wildes Tier. Die anderen Männer wagten nicht die kleinste Bewegung. Stumm
und starr vor Grauen standen sie, jeder hoffte, dass er nun nicht selbst an der Reihe war, dass der Schreckliche seinen Zorn mit dieser furchtbaren Bestrafung gestillt hatte. Sie wussten, dass sie zwanzig gegen einen standen und trotzdem nicht den Hauch einer Chance gegen den Magier hatten, der immer mehr einer Kröte glich. Nicht einmal im Traum hätten sie daran gedacht, ihn anzugreifen. Er hätte sie alle mit dieser Zauberwaffe, die ihm der Teufel vererbt haben musste, getötet und ihre Seelen in die Hölle geschickt. Wieder flimmerte das silberne Licht. Dieses Mal über dem Mund des Aufsehers. Er bewegte ihn zwar nach wie vor, aber kein Laut drang plötzlich mehr daraus hervor. Tödliche Stille herrschte für einen Moment. Gespenstische Stille. »Du da«, sagte Leonardo zum Nächstbesten, »du übernimmst ab jetzt den Posten des Aufsehers. Und du wirst die Männer so antreiben, als stünde ich an deiner Statt hier. Verstehst du mich?« »Ja, Herr.« Leonardo betrachtete die Markierung, die er gestern Abend angebracht hatte. »Mich deucht, ihr habt heute nicht mehr als eine halbe Armlänge geschafft. Zwei sollten es aber mindestens sein. Welche Erklärung bekomme ich dafür? Eure Faulheit?« »Nein, Herr«, sagte der neue Aufseher. »Es ist vielmehr so, dass der Felsen fester wird, je tiefer wir vordringen und damit die Arbeit wesentlich mühsamer. Mehr ist an einem Tag nicht zu schaffen. Und wenn Ihr uns allen Arme und Beine weg schmelzen mögt.« »Für deine freche Bemerkung hätte ich gute Lust, es dir tatsächlich angedeihen zu lassen, Kerl. Aber du hast wahrscheinlich Recht. Macht weiter, ich werde mir etwas überlegen.« Leonardo ließ die Männer zurück und inspizierte die vier anderen Baustellen im Berg. Dort fronten die Sklaven zwar, aber es gab ähnliche Probleme. Die Männer stießen mit reiner Körperkraft an ihre Grenzen. »Es müsste auch anders gehen«, murmelte Leonardo, als er wieder oben angelangt war. Er stand mitten im Burghof und beobachtete, wie andere Bautrupps die Dächer auf die zwei Türme setzten. Sie würden wunderschön sein, wenn erst einmal das Gerüst fiel, das sie momentan wie die Gräten eines Fisches umgab. Und auch der
Nord- und der Südflügel, die momentan im rechten Winkel ans Hauptgebäude angesetzt wurden, waren bereits zur Hälfte hochgezogen. »Ich habe da so eine Idee.«
Maria die Schöne ging über eine Wiese, die rot vom Klatschmohn war, dann durch ein Waldstück und erreichte schließlich eine einsame, abgelegene Stelle am Waldrand, direkt am Ufer der Loire. Sie setzte sich ins hohe Gras und schaute eine Weile den Kormoranen zu, die ein Stück flussabwärts Lachse und andere Fische aus dem ruhig fließenden Fluss holten, sah zwei Biber am gegenüber liegenden Ufer fleißig Holz sammeln und entdeckte zwischen Steinen sogar einen Aal im klaren Wasser. Maria registrierte es nur am Rande. In Gedanken war sie ganz woanders. Plötzlich trat eine Träne in ihr Auge und lief einsam über ihre Wange. So einsam, wie sie nun war. Leon. Sie hatte ihn geliebt, diesen wunderbaren, gut aussehenden, frechen Burschen und sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn er um ihre Hand anhielt. Ja, sie wäre sehr gerne sein Weib geworden, aber das war nun vorbei. Er hatte sich von ihr abgewandt. Denn sie war keine Jungfrau mehr. Leonardo, dieses Ungeheuer, hatte ihr Leben, ihre Jungmädchenträume aufs Brutalste zerstört, als er sie auf sein Lager gezerrt und schlimme Dinge mit ihr getrieben hatte. Wimmernd hatte sie es über sich ergehen lassen müssen. Und wenn sie an seine wachskalten Hände dachte, die gierig ihre Brüste und ihren Körper geknetet hatten, wenn ihr das stinkende unförmige schwabbelige Stück Fett, das er seinen Körper nannte, in den Sinn kam, wurde ihr so schlecht, dass sie sich manchmal auf der Stelle übergeben musste. Nie wieder im Leben würde sie lachen können, unbeschwert und fröhlich sein. Am liebsten wäre sie gestorben, aber das ließ Gott nicht zu, denn sie schaffte es nicht, die Hand gegen sich selbst zu erheben. Was war ihr Leben jetzt noch wert? Ranulf, ihr Bruder, hatte geschworen, sie zu rächen. Sie hatte es ihm ausreden können, denn er sollte sich nicht auch noch unglücklich machen. Ich habe ihm meinerseits geschworen, dass ich das Furchtba-
re, das er mir angetan hat, überwinden werde. Aber ich glaube, das werde ich niemals mehr können … Maria fühlte sich schmutzig, wenn sie nur an ihren Körper dachte, sie ekelte sich richtiggehend davor. Auch heute hatte sie, wie jeden Tag, den Drang, sich Stunden lang mit Wasser abwaschen zu müssen. Sie wusste, dass sie sich danach nicht reiner fühlte, aber sie kam nicht dagegen an. Bevor Leonardo ihren Körper und ihren Geist getötet hatte, hatte es ihr nichts ausgemacht, zusammen mit den anderen jungen Frauen nackt im Fluss zu baden. Und sie hatte sich sogar neckisch in Pose gedreht, wenn die Burschen gekommen waren, um sie heimlich zu beobachten. So schön, wie ihr Körper war, durften ihn auch andere sehen. Vorbei. Was sie selbst nicht mehr sehen konnte, zeigte sie auch Anderen nicht mehr. So kam sie zum Waschen immer an diese Stelle hier. Natürlich wussten das die Anderen, aber sie akzeptierten es so, wie es war und ließen sie in Ruhe. Maria streifte ihr Kleid ab und watete nackt in den Fluss. So weit, dass die Wasserlinie unterhalb ihrer Brüste verlief. Sie tauchte bis zum Hals ein und erhob sich wieder. Das Wasser perlte an ihr ab, die Kühle tat wenigstens ihrem Körper gut. Als sie flüchtig ihre Brust berührte, spürte sie sofort wieder Leonardos eklige Finger auf ihr, den Schmerz, die Angst, die Demütigung. Wieder lag sie auf seiner Lagerstatt und es machte keinen Unterschied, ob dies real geschah oder nur in ihren Gedanken. Maria starrte den Fluss hinunter. Hart, fast versteinert wirkte ihr Gesicht. Bis auf die eine kleine Träne zuvor hatte sie keine mehr, sie hatte so viel geweint, dass der Vorrat für hundert Jahre aufgebraucht sein musste. Ich muss nur weiter hinaus waten, dort, wo das Wasser tief ist und die Strömung stark. Nimmst du mich dann mit, Fluss? In dein ewiges, nasses Reich? Ich will sterben, Fluss. Wenn mich schon niemand tötet, vielleicht tust du es dann? Denn nur im Tod kann ich meinen Frieden wieder finden … Plötzlich ertönte Hufgetrappel. Auf dem steilen Wiesenrain, der Marias Badeplatz abschirmte, erschien ein Reiter. Einer von Leonar-
dos Mordbuben! Er zügelte sein Pferd und stand für einen Moment so ruhig wie eine Statue. Schulterlange, braune Haare rahmten sein bärtiges Gesicht, über dem Kettenhemd trug er den weißen Mantel mit dem roten Kreuz. Maria spürte jähes Entsetzen. Ein trockenes Schluchzen stieg aus ihrer Kehle, ihr Körper zitterte plötzlich wie Espenlaub. Sie tauchte wiederum bis zum Hals ins Wasser. Gleichzeitig presste sie ihre gekreuzten Arme vor die Brüste und wünschte sich einen dritten, mit dem sie ihre Scham bedecken konnte. War der Kerl gekommen, um sie erneut auf die Burg zu holen? Musste sie der schleimigen Kröte ein zweites Mal beiliegen? Nein, nur das nicht … Der Ritter lachte laut. »Nun sieh mal einer an. Was haben wir denn da? Ein ganz und gar hübsches Mäuslein, bei dem ich sicher mein Vergnügen finden könnte. Ja, was dem Herrn recht ist, kann mir nur billig sein.« Es dauerte einen Moment, bis Maria den Sinn dieser Worte begriff. Sie zitterte, konnte ihre rasenden Gedanken nicht mehr ordnen. Wie bei einem waidwunden Tier gab es nur noch einen Reflex: Weg! Fliehen! Die junge Frau war eine schlechte Schwimmerin. Sie tauchte ein und paddelte auf die Flussmitte zu. Inmitten ihrer Panik gab es nur noch einen diffusen Gedanken: Zum gegenüberliegenden Ufer! Dort bin ich gerettet … Wieder lachte der Ritter laut. »Mir scheint, du hast dir das Schwimmen bei den Hunden abgeschaut. Wie schön. Das steigert mein Vergnügen nur noch.« Hugo von Beauclerc trieb sein Pferd an. Er zwang es den Hang hinunter und in den Fluss hinein. Es spritzte hoch auf, als er durchs Wasser galoppierte, der Fliehenden hinterher. Hugo erreichte sie, als das Wasser seinem Ross bis zur Sattelunterkante reichte. Geschickt beugte er sich an der Seite des Rosses nach unten, umfasste mit seinem Arm die Hüfte der Strampelnden, zog sie mit eisernem Griff auf das Pferd und legte sie bäuchlings quer vor sich über den Sattel. Sie schrie, strampelte und brüllte, schlug um sich, kratzte und ver-
letzte ihn im Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Geist war wohl nicht mehr bei ihr. Hugo ergötzte sich an der kreatürlichen Angst der Frau, sie erregte ihn aufs Äußerste. Da er sie aber nicht mehr halten konnte, da sie erneut ins Wasser zu rutschen drohte, schlug er ihr die Faust an die Schläfe. Maria erschlaffte. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Rücken. Nackt, mit geöffneten Beinen, die ausgestreckten Arme an zwei Bäume gefesselt. Vor ihr kniete ihr Peiniger, nur noch mit einem Hemd bekleidet, mit gezücktem Schwert, bereit, sie damit aufzuspießen. Maria zitterte erneut, schrie und wand sich, trat nach dem Kerl und wollte ihre Beine schließen. Er hielt sie brutal offen, ließ sich aber Zeit, um ihre Angst weiter zu steigern. Fast zwei Stunden lang verging sich Hugo von Beauclerc an seinem hilf- und wehrlosen Opfer. Irgendwann starrte Maria nur noch in den Himmel und ließ es teilnahmslos über sich ergehen. Sie dachte an all die schönen Dinge, die sie in ihrem jungen Leben erfahren hatte, an ihren kleinen Hund Ragna, an die spannenden Geschichten, die ihre Mutter ihr immer vor dem Schlafengehen erzählt hatte, als sie noch klein gewesen war, an ihren ersten, ungestümen Kuss, den sie von Leon erhalten hatte und den sie von da an als ihr größtes Heiligtum im Herzen bewahrte. Sie war bei vollem Bewusstsein und war es doch nicht. Sollte der Kerl doch über ihr arbeiten, in ihr wüten, tun, was er wollte, er würde sie auf jeden Fall kein zweites Mal töten. Nein, das schaffte er nicht, denn er bekam nur ihren Körper, während sie sich derweil in einer schöneren Welt aufhielt. Ihr Körper war ohnehin nichts mehr wert, sollte sich der Kerl ruhig damit vergnügen. Aber ihre Seele, die bekam er nicht, so wie Leonardo sie noch bekommen hatte. Ihre Seele musste fortan unbefleckt bleiben, denn sie wollte leben. LEBEN! Das wahre Leben wohnte in der Seele, nicht im Körper. Das predigte die heilige Mutter Kirche. Keinen Gedanken mehr verschwendete sie an den gnädigen Tod, der sie von allem erlöste. Der Überlebenstrieb, den die Natur in sie gepflanzt hatte, erwies sich selbst in dieser dunklen Stunde als sehr
viel stärker. Schließlich ließ Hugo von ihr ab und zog sich wieder an. Stehend sah er auf Maria herab. Seine Mundwinkel verzogen sich höhnisch. »Das hast du gut gemacht, Weib. Hat es dir auch so gut gefallen, hm? Nun, ich jedenfalls bin zufrieden und würde dich sehr gerne auch in den nächsten Wochen und Monaten beschlafen, um dir wieder und wieder höchste Lust zu bereiten. Oder doch eher mir selbst? Nun, egal, auf jeden Fall wird es aber nicht dazu kommen.« Er ging in die Knie und strich ihr mit dem Zeigefinger fast zärtlich über die Wange. »Und weißt du, warum nicht?« Maria antwortete nicht. Sie starrte weiterhin in den Himmel. Was hast du gerade gesagt, Léon, mein Liebster? Du willst auf ewig mit mir zusammen sein? Das ist der wunderbarste Moment in meinem Leben. Mein Herz jubelt bis hoch an die Wolken. Schau mal, wie sich Raga mit mir freut. Ich bin selig … »Hm, ich scheine dich ein wenig zu fest hergenommen zu haben, was? Nun, egal. Weißt du, du warst die Belohnung für mich, weil ich Leonardo in den letzten Monaten herausragend gedient habe. Er gab mir die Erlaubnis, mit dir zu machen, was ich will. Denn er fand dich auf seinem Lager eher langweilig, aber ich habe mich sofort für dich entflammt, als ich dich auf der Burg gesehen habe, Liebchen.« Er fuhr mit seinem Zeigefinger über ihre Stirn und ihre Wangen und führte ihn dann in das Tal zwischen ihren Brüsten. »Nun, leider hat mir Leonardo nur eine einmalige Belohnung gewährt, wenn auch so lange, wie ich durchhalten kann. Das war ziemlich lange, oder was meinst du? Ja doch. Nun ist es jedoch so, dass der Schreckliche dir nie wieder über den Weg laufen möchte. Er sagte wörtlich: ›Könnte mir das Weib eventuell erzählen, dass Ihr der bessere Liebhaber seid, Hugo? Nun, ich glaube es nicht, will es aber auch niemals, und sei es nur durch einen Zufall, erfahren, wenn es so ist. Deswegen gibt es nur eine Möglichkeit. Ihr müsst der Kleinen auf ewig das Maul stopfen, mein lieber Ritter Hugo.‹ Ja, so sagte er das.« Hugo von Beauclerc seufzte. »Weißt du, Liebchen, es ist ewig schade, aber ich habe mir geschworen, den Schrecklichen niemals zu enttäuschen. Und wer wäre ich, mich gegen seine Wünsche zu stellen? Also muss ich nun tun, was getan werden muss.«
Er zog den Dolch aus dem Wehrgehänge und schnitt ihr ohne mit der Wimper zu zucken die Kehle durch. Als er vom Ort seines grausamen Verbrechens weg ritt, ballte im Wald ein junger Mann die Faust. So weiß wie Milch war sein Gesicht, der Schock hatte ihm das Blut aus den Adern getrieben. Er hatte zwar nicht hingesehen, aber alles gehört. Dabei hatte er nur die schöne Maria beim Baden beobachten wollen, völlig harmlos, und war dann geblieben, um zu beobachten, was der plötzlich aufgetauchte Häscher mit ihr machte. Darauf allerdings war er nicht vorbereitet gewesen. Touran rannte wie von Furien gehetzt nach Tinchebray zurück und berichtete dort von der grausigen Tat. Ranulf und Ivo, Marias Brüder, sowie einige junge Männer holten den Leichnam der Geschändeten ins Dorf, um ihn hier christlich zu begraben. »Jetzt ist er zu weit gegangen«, flüsterte Ranulf, ein junger Mann mit durchtrainiertem Körper, als er zwei Tage nach der Beerdigung seine Worte wieder gefunden hatte. »Jemand muss etwas gegen diese Bestie und seine Höllenhunde unternehmen. Ich werde den Schwarzen Ritter suchen und mich ihm anschließen.« »Bruder«, erwiderte Ivo erschrocken, »das solltest du nicht tun. Er wird dich sonst auch noch töten, so, wie er alle tötet, die sich gegen ihn stellen. Und der Schwarze Ritter ist doch nur eine Geschichte. Erfunden von den Häschern, die niedergeschlagen wurden, um ihr Versagen in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Und nun geht die Geschichte vom angeblichen Schwarzen Ritter von Mund zu Mund und von Ohr zu Ohr. Denn wir alle wollen, dass sie wahr ist, dass jemand aufgestanden ist, um sich gegen die Bestie zu stellen und dass dieser Gegenspieler dabei auch noch erfolgreich ist. Verstehst du das, Ranulf? Aber noch nie hat ihn irgendwer tatsächlich gesehen.« »Es gibt ihn, Ivo, davon bin ich überzeugt. Er war es, der die drei Bauern befreit hat, die der Schreckliche hinrichten lassen wollte.« »Ach ja? Die drei Bauern wohnten auf dem kleinen Landstück, das der Schreckliche für sich beansprucht, obwohl es zur Herrschaft Suger von Gerberoys gehört. Leonardo wollte seinem Nachbarn, den er hasst, seine Macht demonstrieren und dessen Leibeigene hinrich-
ten lassen. Vielleicht sogar, um einen offenen Krieg vom Zaun zu brechen. Aber Suger hat seine Soldaten geschickt, um die Bauern zu befreien und sie auf Burg Gerberoy in Sicherheit zu bringen. So einfach ist das.« Ranulf dachte nach. »Vielleicht hast du Recht, Bruder. Aber Marias Tod darf nicht ungesühnt bleiben.« »Was sollen wir tun? Wir sind zu schwach gegen die Bestie.«
»Wir müssen etwas gegen ihn unternehmen, Clodwig. Er stürzt uns sonst noch alle ins Verderben.« Johanna de Montagne hatte lange gebracht, bis sie den Mut fand, diesen Satz offen auszusprechen. Sie saß wie ein Mann im Sattel und gab dabei die wesentlich bessere Figur ab als Clodwig, der wie ein Häuflein Elend, mit gekrümmtem Rücken auf seinem Braunen hing und ständig damit beschäftigt war, oben zu bleiben. Der junge Montagne hasste Reiten, war aber von seinem Vater dazu verdonnert worden, »damit aus dem Jüngling endlich ein echter Recke werde, wie es sich für einen Montagne gehört«. Da er nicht gegen seinen übermächtigen Vater ankam, blieb ihm nichts anderes übrig, als dessen Befehle zu befolgen, wenn er nicht sogar von ihm getötet werden wollte. Er tat es oft, fast jeden Tag war er viele Stunden unterwegs. Auch deswegen, um dem Spott der Ritter zu entgehen, die ihn wie ein Weib behandelten. Vor allem dieser Adhemar von Burgund tat sich hier immer wieder unrühmlich hervor, wenn er hinter Clodwig trat und unter dem Gelächter der Anderen dessen Brust knetete, wie man sonst die Brüste der Weiber behandelte. Und dazu seinen Schoß an Clodwigs Hintern rieb und brunftige Laute der Lust ausstieß. Besonders peinlich war dies gewesen, als es im Angesicht seiner Mutter geschehen war und Johanna dem Treiben schließlich energisch ein Ende gemacht hatte. Sie, das Weib, hatte mehr Mut besessen als er. Damit hatte sie ihrem Sohn allerdings einen Bärendienst erwiesen, denn nun wurde Clodwig von den wilden, ungehobelten Gesellen noch mehr als Wesen der Minne betrachtet und behandelt. Momentan ritten Mutter und Sohn wieder einmal durch die ausge-
dehnten Wälder, die das Château umgaben. Denn Johanna hatte sich entschlossen, ihn hin und wieder zu begleiten, um ihm ein paar Hilfestellungen zu geben. Sie litt darunter, wenn ihr abgöttisch geliebter Sohn von diesem Monstrum, mit dem sie das Bett teilen musste, geschlagen und gedemütigt wurde. Gewiss, es war schon schlimm gewesen, bevor er zum Kreuzzug aufgebrochen war. So schlimm, dass sie darum gebetet hatte, Gott möge ihn nie wieder den Weg zurück finden lassen. Nun, Gott hatte sie nicht erhört und – schlimmer noch – er hatte sie für ihre furchtbare Bitte hart bestraft; indem er ihr nämlich einen Mann zurück schickte, der schlimmer war als alles, was sie je gesehen hatte. Clodwig hielt sein Pferd an und rutschte aus dem Sattel. Seine Mutter tat es ihm gleich. Sie stöhnte leise, als sie auf dem Boden aufkam, krümmte sich leicht zusammen und presste die linke Hand auf den Magen. »Was ist mit Euch, Mutter?« Clodwig trat besorgt zu ihr. Linkisch berührte er ihre Schulter. »Lass nur, es geht schon wieder. Nichts Schlimmes.« »Doch. Er hat Euch wieder geschlagen und getreten, als Ihr ihm beischlafen musstet. Das tut er immer. Manchmal gellen Eure Schreie des Nachts durch die ganze Burg. Und manchmal auch des Tags.« Sie schlug beschämt die Augen nieder und sagte nichts. Clodwigs Stimme war immer mehr ins Weinerliche abgeglitten. Er glättete sein weißes Wams, das er nur noch heimlich anziehen durfte, da sein Vater es hasste und schaute sie aus furchtsamen Augen an. »Wir müssen etwas tun«, flüsterte sie schließlich erneut. Clodwig legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Pssst. So etwas dürft Ihr nicht sagen, ja nicht einmal denken, Mutter. Ihr wisst, dass er seine Ohren überall hat und alles hört. Dieses verfluchte Amulett hilft ihm dabei. Es besitzt Furcht erregende Kräfte und macht ihn zu einem wahren Hexenmeister.« Johanna nahm die Hände ihres Sohnes, die sie so gerne Laute spielen sah. Sie sah ihm direkt in die Augen. Er hielt ihrem Blick nicht stand und schluckte ein paar Mal hektisch. »Ja, Clodwig, er ist ein Hexenmeister, ein vor Gott verfluchter. Und wenn wir nicht etwas
unternehmen, machen wir uns vor Gott schuldig. Willst du das?« »N-Nein. Aber ich will auch nicht von ihm getötet werden. Vielleicht geht er ja wieder mit auf einen Kreuzzug und findet dort sein Schicksal. Am Hof von König Philipp wird gemunkelt, dass Papst Paschalis die Gläubigen erneut zu einem Kreuzzug aufrufen wird, da unsere Ritter im Königreich Jerusalem einen sehr schweren Stand gegen die Ungläubigen haben, ebenso wie im Fürstentum Antiochia und in den Grafschaften Edessa und Tripolis.« »Deine Hoffnung ist vergebens, Clodwig. Ich denke, du weißt so gut wie ich, dass er nicht mehr von hier weggeht. Er hat irgendetwas vor. Wenn ich nur wüsste, warum er all die Gänge und Verliese unter die Burg bauen lässt und warum er sich wie ein Maulwurf immer weiter in die Erde vorwühlt. Manchmal denke ich, er sucht den direkten Weg in die Hölle, um sich selbst an Satans Stelle zu krönen.« Clodwig entwand sich dem Griff seiner Mutter. Er machte zwei Schritte und trat zornig gegen einen Baum. »Niemand weiß, zu was diese Grabungen dienen. Das ist ein großes Geheimnis.« »Ja, das ist es. Leonardo hat damit schon vor dem Kreuzzug angefangen und ich war überrascht, dass er unter dem geweihten Banner des Erzengels Michael, den er verabscheut, mit nach Jerusalem gezogen ist.* Denn schon damals war es ihm wichtig, diese Stollen in den Berg zu treiben. Es war mir, als würde er im Heiligen Land etwas ganz Bestimmtes suchen. Nun aber, da er wieder zurück ist, treibt er es schlimmer als je zuvor.« Sie zögerte einen Moment und schaute einem Eichhörnchen zu, das flink am Stamm eines Baumes hochkletterte. »Ach, wie unbeschwert die Tiere hier spielen«, seufzte sie. »Manchmal frage ich Gott, warum er mich nicht auch zu einem Tier gemacht hat. Und ich frage ihn, was ich verbrochen habe, dass er mich mit so einem Mann vermählt hat. Einem Monstrum, wie es schlimmer nicht auf Erden wandeln kann.« »Ja, das ist er. Und vielleicht habt Ihr Recht, Mutter, wenn Ihr glaubt, dass er den Weg zur Hölle sucht.« Clodwig kam näher und *Auf den geweihten Fahnen der Kreuzritter war unter anderem auch der Erzengel Michael abgebildet, der Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches
flüsterte ihr verschwörerisch ins Ohr: »Vor zwei Nächten, da hat er mich in die Verliese geschickt, weil er weiß, dass ich mich davor fürchte. Ich musste ihm sein Barett holen, das er dort angeblich vergessen hat. Nun, Mutter, ich habe mich etwas verlaufen und bin dorthin gekommen, wo er niemanden hinlässt, in die Verliese, deren Betreten er uns allen strengstens untersagt hat. Nun, ich wollte gerade umkehren, da erklang plötzlich ein dünnes, hohes Singen, das in meinem Kopf schmerzte. Es war fürchterlich. Und dann sah ich plötzlich eine Wolke winziger glühender Punkte in der Luft, die zu tanzen schienen. Sie tanzten enger und enger und strahlten plötzlich blaues Licht aus, je stärker, je enger sie kamen. Und auch dieses Singen wurde stärker. Mutter, mir graute bis auf den tiefsten Grund meiner Seele und ich bin geflohen, als hätten Furien mich gehetzt. Ich … nun, ich glaube, dass dies ein leibhaftiger Dämon aus dem brennenden Schlund der Hölle war, der im Begriff war zu entstehen, um mich vielleicht in sein finsteres Reich zu holen. Der Schreckliche, so glaube ich, gebietet durch dieses verfluchte Amulett über diesen Dämon.« Johanna schüttelte sich, schlug drei Mal das Kreuz und betete mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen zwei Vaterunser. »Ich hoffe, dass er tatsächlich über den Dämon gebieten kann«, flüsterte sie schließlich, »wenn es denn tatsächlich einer ist. Nichts würde mir mehr Furcht bereiten als die Vorstellung, dass ein Höllenwesen frei und zügellos in der Burg haust.« Johanna sah ihren Sohn fast flehend an. »Noch ein Grund mehr, etwas zu tun, Clodwig.« »Aber was nur? Wahrlich, wäre ich stark genug, ihn zu töten, würde ich es auf der Stelle tun. Aber er ist stärker als ich. Und wenn wir fliehen, wird er uns finden, denn mächtige Herzöge und Barone, ja sogar König Philipp schenken ihm ihre Gunst. Nein, Mutter, es gibt nur eines: Wir müssen unser Schicksal gnädig in Gottes Hand legen und darauf hoffen, dass es ein gutes ist, das er für uns vorgesehen hat.«
Adhemar von Burgund hob die Hand. »Galopp!« Er riss sein Pferd
herum und preschte an der Spitze seiner Recken über die weite Blumenwiese auf das Dorf zu. Friedlich lag Tinchebray, das aus einer größeren Ansammlung von Hütten und Schuppen bestand, in der sengenden Julisonne. Zu friedlich, wie der ehemalige Kreuzritter fand. Doch dabei würde es nicht bleiben.
Fulko Kurzhose, wie er von den Menschen des Dorfes nur gerufen wurde, bemerkte von dem nahenden Verhängnis zunächst nichts. Er saß am Flussufer, angelte und träumte vor sich hin. Tinchebray gehörte wie siebzehn weitere Dörfer zur Herrschaft Montagne. Fast sechshundert Einwohner hatte das Dorf, das sich in einen weiten Bogen der Loire schmiegte, einmal beherbergt. Heute waren es noch gut die Hälfte, vor allem Frauen, Kinder und Kranke. Denn die Männer, aber auch viele Frauen, waren von Leonardo dem Schrecklichen zum Frondienst herangezogen worden und mussten ihm nun unter großen Opfern seine Burg errichten und mächtige Gänge und Verliese in den Berg bauen, der von hier aus trotz des Waldes dazwischen gut zu sehen war. Fulkos Vater war mit dabei und sein Bruder Robert. Er selbst war bisher verschont worden, weil er das sechzehnte Lebensjahr noch nicht erreicht hatte, denn erst dann wurden die Häscher des Schrecklichen tätig. Aber was hieß das schon? Sein bester Freund Ranulf war vor einigen Wochen plötzlich verschwunden. So, wie das viele im Ort taten und sich plötzlich im Frondienst auf der Burg wieder fanden. Auch Ranulf war noch keine sechzehn und trotzdem schienen ihn Leonardos Häscher geholt zu haben. Hufgetrappel ertönte, Metall schwerer Rüstungsteile schlug aneinander. Fulko Kurzhose spürte es eiskalt über den Rücken laufen. Er warf die Angel weg und sprang auf. Durch das Schilf sah er sieben Reiter auf Tinchebray zupreschen. Das lange, blonde Haar des Vordersten wehte im Wind. Adhemar und seine Mordbuben! Wie zum Hohn trugen sie noch immer den weißen Mantel mit dem roten Kreuz über ihren Kettenhemden. Denn das, was sie gemeinhin taten, hatte mit den Lehren Jesu Christi so viel zu tun wie
die Kühe, die um Tinchebray herum auf den Weiden ästen, mit dem Fliegen. Fulkos Gedanken rasten. Was sollte er tun? Hier bleiben und sich im Schilf verstecken? Das riet ihm seine Angst. Doch er entschied sich dagegen, denn die Angst um seine Schwester Herleva war stärker. Herleva, die Ranulf liebte und nach dessen Verschwinden viele Nächte durchgeweint hatte, war jung und schön und würde wohl irgendwann, wie die unglückliche Maria, die jetzt bereits Gott schauen durfte, auf die Burg geholt, um Leonardo die Nächte zu versüßen. Deswegen hatten sie ihr unter den Bodenbrettern ihres Hauses einen geheimen Keller gebaut, in dem sie sich verstecken sollte, wenn die Häscher kamen. Herleva musste gewarnt werden! Auch wenn die Mordbuben dieses Mal wohl nicht ihretwegen kamen, war es doch sicherer, sie bekamen sie niemals mehr zu Gesicht. Vielleicht würde sie irgendwann aus ihrem Bewusstsein verschwunden sein und konnte dann fliehen. Nach Paris oder anderswo, Hauptsache weg aus dem Einflussbereich des Schrecklichen. Momentan wagte Herleva das nicht, denn für jeden, der flüchtete, mordeten die Häscher einen Anderen aus der Familie. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen. Fulko rannte los! Keuchend kämpfte er sich durch das Schilf. Ihre Hütte stand am Südende des Dorfes, nahe dem Wasser, als eine der letzten. Der Junge erreichte sie, als die Häscher soeben in Tinchebray einfielen. Menschen rannten durcheinander, schrieen, versuchten den rücksichtslos anstürmenden Schlachtrössern auszuweichen. Lachen mischte sich in die Schreie, wütendes Hundegebell, Wiehern und Schnauben, Hufgetrappel. Fulko stieß die Haustür auf. Es quietschte. In dem großen, kärglich eingerichteten Raum, der nur zwei Betten, zwei Kisten, einen Tisch und zwei grob zusammen gezimmerte Stühle enthielt, saß Fulkos schwerhörige Mutter vor einem Tischwebstuhl und verarbeitete grobes Linnen zu einem Hemd. Sie lächelte ihren Sohn an. »Wo ist Herleva?«, brüllte er. »Schnell, sie muss in den Keller!« »Was willst du?« »Herleva!«
»Ach, Herleva. Sie ist nicht da. Ich habe sie seit vielen Stunden nicht mehr gesehen.« Sorge schlich sich in ihr Gesicht. »Ist sie in Gefahr?« »Weiß nicht. Sie kommen.« Fulko spürte sein Herz hoch oben im Hals schlagen. Er drehte sich um seine Achse, musterte das Bett und die Ecken, als verharre sie dort im Zustand der Unsichtbarkeit und schaute dann in den Nebenraum. »Schwester, bist du da?« Herleva war nicht da. Vielleicht im Schuppen hinter dem Haus? Fulko drängte sich zur Hintertür hinaus. Er erreichte mit drei mächtigen Sätzen das windschiefe Gebäude, ging durch die hängende, halb offene Tür hinein und musterte die Heuballen, die in zwei Blöcken aufgeschichtet waren und die hintere Hälfte des Schuppens füllten, als ihm plötzlich der Atem stockte. Sein Herz übersprang zwei Schläge, er bekam kaum noch Luft. Durch einen Spalt zwischen den grob genagelten Brettern sah er, dass die Mordbuben vor ihrer Hütte hielten! Adhemars riesiger Rappe stieg wiehernd auf der Hinterhand. Der blonde Ritter mit der furchtbaren Narbe im Gesicht brachte ihn zur Räson und sprang dann ab. Seine sechs Kameraden taten es ihm gleich, schwärmten aus und umstellten das Haus. Adhemar, im Volksmund nur der »Einäugige« geheißen, zog das Schwert, hielt es schlagbereit in der Rechten und ging auf die Haustür zu. Er hob das Bein und trat mit Wucht dagegen. Krachend sprang die Tür auf. Holz splitterte. Fulko Kurzhose hörte den spitzen Schrei seiner Mutter und fing an zu zittern. Oh Herr, beschütze dieses Haus und meine Mutter, dass diese Mordbrenner sie nicht umbringen. Beschütze auch Herleva, wo immer sie gerade sein … Sein inbrünstiges Gebet wurde jäh unterbrochen. Trotz der aufregenden Vorgänge hörte er ein Geräusch hinter sich, sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Halbdämmer. Irgendetwas kam hinter dem Heu hervor! Im selben Moment fühlte er sich gepackt und an einen gerüsteten Männerkörper gedrückt. Eine kräftige Hand legte sich auf seinen Mund. »Ruhig, bleib ganz ruhig, Jüngling«, flüsterte eine Stimme an sei-
nem Ohr. »Kein Laut. Dann passiert dir nichts. Wir sind nicht deine Feinde. Aber von denen da draußen.« Fulkos angespannter Körper fiel ein wenig in sich zusammen. Verwundert hörte er, was der Einäugige im Haus mit Donnerstimme rief: »Mach Platz, Weib! Wir wissen genau, dass du deinen Sohn Fulko Kurzhose, der das sechzehnte Lebensjahr längst erreicht hat, vor uns verbirgst. In einem Erdloch unter den Bodenbrettern. Immer, wenn wir kommen, wird er dort hineingesteckt. Mach auf und händige ihn uns aus oder ich hole ihn mir und prügle ihn mit meinem Menschentöter höchstpersönlich bis zur Burg. Ab jetzt hat er seinen Dienst für den hohen Herrn de Montagne zu verrichten.« »Nein, Herr …« »Verkauf mich nicht für dumm, Weib!«, brüllte Adhemar sie zusammen. »Also gut, dann geht es auch anders.« Fulko hörte einen spitzen Schrei, das Geräusch eines aufprallenden Körpers und er hätte am liebsten laut gebrüllt. Die Hand auf seinem Mund hinderte ihn daran. Dann ließ sie plötzlich los. Drei Männer in Kettenhemden und Kettenschürzen, mit federlosen Helmen auf dem Kopf, drückten sich an ihm vorbei. Sie hielten schwere Schwerter in den Händen. Einer drehte den Kopf zu ihm und legte den Finger auf die Lippen. Seine Augen neben dem Nasensteg des Helms funkelten zu allem entschlossen. Zu der fürchterlichen Angst, die ihn kaum noch das Wasser halten ließ, gesellte sich nun immer mehr die Neugier. Mehr zufällig sah Fulko durch einen weiteren Spalt zwischen den Brettern, dass sich im nahen Schilf etwas bewegte. Er stand auf und drückte seine Augen dagegen. Aus dem Schilf löste sich ein Dutzend weiterer Kämpfer! Sie verteilten sich und huschten in den Schutz der Häuser. So, dass sie Leonardos Mordbuben umzingelten!
Adhemar bekam von alledem nichts mit. Zu sicher war er seiner Sache. Nachdem er die alte Frau brutal umgestoßen und sich ein we-
nig an ihrem Wimmern geweidet hatte, zählte er die Bodenplanken ab. Bei der siebten von links verharrte er, nahm sein Schwert, stemmte es in den schmalen Spalt zur sechsten Planke und benutzte es als Hebel. Krachend sprang die siebte Planke aus ihrer Verankerung. Der Ritter kickte sie mit dem Fuß beiseite. Ein Hohlraum wurde sichtbar. Die Planke bot gerade genug Platz, um sich durchzuzwängen. Der Einäugige lachte rau. »Also doch. Los, komm raus, Fulko, oder ich hole dich. Wenn ich das tun muss, wird's schmerzhaft für dich, denn in so ein Rattenloch begebe ich mich nur äußerst ungern. Also, ich zähle bis drei. Eins … zwei … drei.« Nichts rührte sich. Adhemar stieß ein unwilliges Knurren aus. Dann riss er die sechste Planke aus der Verankerung und sprang in das Erdloch. Es war größer als gedacht, unterhöhlte wohl die Hälfte der Hütte. Adhemar konnte bequem aufrecht stehen. Vier hölzerne Pfosten stützten die Decke darüber und bewahrten den Boden vor dem Einbruch. Hinter einem der Pfosten sah Adhemar eine Bewegung. »Ah, da haben wir den Ungehorsamen ja«, höhnte er. »Du bist ertappt, du hast keinen Vorteil mehr. Los, komm vor. Oder es wird wirklich schlimm für dich.« Der Mann drehte sich um den Pfosten. Adhemar erschrak. Er stand einem Soldaten in Harnisch gegenüber! Der Andere trug leichte Rüstung, so wie er selbst, Kettenhemd und Kettenschürze. Beide waren in pechschwarzer Farbe gehalten, ebenso der Überwurf, der in leuchtend roter Farbe die Aufschrift Tod dem Schrecklichen trug. Das Gesicht des Kämpfers, der ein kurzes, gut ausgewogenes Schwert in der Hand hielt, wie Adhemars geschultes Auge erkannte, wurde von einer schwarzen Maske bedeckt. Der Einäugige wusste sofort, woher der Wind wehte. Er hatte den Schwarzen Ritter vor sich, an dessen Existenz er bisher nicht hatte glauben wollen. Der Kerl, der es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, den Herrn Leonardo zu bekämpfen und vom Angesicht der Erde zu tilgen! Nun gut, dann war er also dazu ausersehen, diesem ganz realen Spuk ein Ende zu bereiten. Jetzt und hier. Er würde es mit Freuden tun. Die Falle, in die er anscheinend getappt war, wür-
de nicht zuschnappen! »Lasst ihn mir«, zischte der Vermummte. »Kümmert euch um die Anderen.« Adhemar erschrak erneut. Hinter den beiden Pfosten, die in seinem Rücken lagen, raschelte es. Er fuhr herum. Zwei weitere Geharnischte sprangen hervor. Er hob das Schwert. Doch von hinten drang bereits der Schwarze auf ihn ein. Der Einäugige brüllte eine Warnung nach oben und wirbelte erneut herum. Sein Gegner war der Schwarze. Während sich die anderen Beiden an einer Planke behände nach oben zogen, startete der Vermummte die erste Attacke. Ein Hagel von Schlägen prasselte auf Adhemar nieder. Der Einäugige keuchte. Parade links, Parade rechts, Block nach oben, Block seitlich. Er lieferte seinem Gegner einen reinen Abwehrkampf, kam selbst nicht in den Angriff. Zu geschickt spielte der Vermummte seine Vorteile aus. Die lagen in dem kürzeren Schwert, das er in der Enge des Raums besser einsetzen konnte und in Adhemars eingeschränktem Gesichtsfeld. So griff der Schwarze Ritter vorwiegend von der Seite an, auf der Adhemars Auge fehlte. Das Keuchen des Einäugigen verstärkte sich. Sein längeres Schwert blieb bei einem Abwehrschlag mit der Spitze in der Decke hängen! Er taumelte kurz, zog es wieder her. Zu spät. Ein Bein kam heran geflogen, traf ihn direkt am Knie. Adhemar grunzte. Er war einen Moment zu lange abgelenkt gewesen. Schmerzen liefen wie glühende Lava sein Bein hoch, lähmten es für kurze Zeit. Noch einmal schaffte er es, dem lautlos kämpfenden Schwarzen das Schwert entgegen zu halten. Dann beging er den Fehler, selbst angreifen zu wollen. Zu spät merkte er, dass ihn der Vermummte dazu gelockt hatte. Der drehte sich seitlich weg, als der Stoß in Richtung seines Halses erfolgte und führte, plötzlich mit dem Rücken zu Adhemar stehend, einen gekonnten Hieb über seine eigene Schulter hinweg. Es knirschte, als sich die scharfe Klinge schräg in die Stelle zwischen Halsansatz und Schulter fraß. Genau dort, wo die Schulterstücke der Rüstung aufhörten! Adhemar gurgelte. Er ließ das Schwert fallen, riss die Augen weit
auf, taumelte nach hinten gegen einen Pfosten und rutschte langsam daran zu Boden. Halb schräg blieb er sitzen, tastete nach der Wunde und starrte auf seine Hände, die im eigenen Blut badeten. Der Einäugige spürte, dass ihm das Leben floh. Sein Bezwinger stand vor ihm und starrte mitleidlos zu ihm herab. »Ich habe gegen einen Besseren verloren«, flüsterte Adhemar von Burgund. »Bevor ich vor meinen … Schöpfer trete, zeigt mir noch Euer … Gesicht, Schwarzer. Dann … kann ich ruhiger … sterben.« »Schöpfer? Wenn der Teufel dein Schöpfer ist, mag deine Einschätzung zutreffen, du Hund«, drang es dumpf unter der Maske hervor. »Denn du wirst direkt in die Hölle fahren. Aber da es der letzte Wunsch eines Sterbenden ist, sei er dir gewährt.« Der Schwarze Ritter ging in die Knie und schubste Adhemar so, dass er auf dem Bauch zu liegen kam. Der Todgeweihte stöhnte grässlich. Trotzdem spürte der Einäugige, dass sich der Andere auf seine Knie setzte, sich nach vorne beugte und seinen Schoß an seinem Hintern rieb. »Nein, es kann nicht sein …« »Und doch ist es so, Adhemar von Burgund. Schön, dass du mich erkannt hast.« Der Schwarze löste die Maske vom Gesicht, packte den Sterbenden in den Haaren und zog brutal daran. So, dass Adhemars Kopf auf der rechten Wange zu liegen kam, damit sein gesundes linkes Auge freies Blickfeld hatte. Aus dem Augenwinkel sah er das Gesicht, das er niemals vermutet hätte. »Clodwig … de Montagne. Du hast uns … in all den Jahren getäuscht … Du bist … kein Schwächling … ein würdiger Gegner, schlau wie ein … Fuchs, ich muss mich nicht schämen …« Adhemar keuchte noch einmal schwer, bäumte sich kurz auf und erschlaffte dann. Clodwig schlug seinen Kopf brutal auf den Boden. »Gute Höllenfahrt, mein Freund«, wünschte er und maskierte sich danach wieder. An der Oberfläche leisteten seine Mitstreiter in der Zwischenzeit ebenfalls ganze Arbeit. Fulko sah mit glänzenden Augen, dass die fremden Soldaten Leonardos Mordbuben niederrangen. Doch die wehrten sich erbittert, waren erfahrene Kämpfer. So mussten die Angreifer tatsächlich ihre doppelte Überlegenheit ausspielen, um
schließlich zum Erfolg zu kommen. Schwerter schlugen klirrend aneinander, wütende Rufe ertönten, die ersten Todesschreie gellten. Der erste, der in seinem Blut zu Boden sank, war einer von Leonardos Horde. Doch kurz darauf fielen zwei der Fremden. Drei weitere mussten mit dem Leben bezahlen, also insgesamt genau so viele, wie die, die sie bekämpften. Nur einen aus Leonardos Horde ließen sie leben. Er sollte die Kunde von der vernichtenden Niederlage zur Burg tragen und Leonardo verkünden, dass ihm ein unversöhnlicher Feind erwachsen sei, der ihn von nun an so gnadenlos bekämpfen werde, wie er selbst es zelebriere. Der Schwarze Ritter, von dem bisher als bloße Legende erzählt worden war, verkündete dies. Er war plötzlich aus dem Hause Fulkos aufgetaucht und nun sahen alle aus Tinchebray zum ersten Mal, dass er leibhaftig war. Ein nicht sehr großer, schlanker Kämpfer, der sein Gesicht nicht zeigte. Der besiegte Mordbube wurde von den Siegern mit Tritten aus dem Dorf gejagt. Er stolperte, fiel hin, aber keiner der Menschen jubelte. Sie sahen das Ganze zwar mit klammheimlicher Freude, aber gleichzeitig auch mit großer Sorge. »Keine Angst«, verkündete der Schwarze Ritter. »Euch wird der verfluchte Leonardo de Montagne nichts tun, denn ihr könnt nichts für das, was wir seinen Häschern angetan haben. Vielmehr wird er nun mich und meine Männer jagen. Packt als Zeichen eures guten Willens die Leichen der Häscher auf einen Wagen und übergebt sie Leonardo respektvoll. Wir hingegen nehmen die toten Körper unserer tapferen Kämpfer selbst mit.« Die Soldaten trugen die Toten zum Fluss und legten sie auf zwei große Boote. Dann sprangen sie darauf und warteten auf ihren Anführer. Der trat nun wie zufällig zu Fulko. Der Junge konnte es erst gar nicht fassen, als ihn der Schwarze Ritter ansprach. »Du bist Fulko, nicht wahr?« »J-ja, Herr.« »Gut. Ich soll dich von deinem Freund Ranulf herzlich grüßen. Und von deiner Schwester Herleva. Sie sind beide zusammen und in Sicherheit, unter meiner Obhut.«
»Aber … aber sie war doch gestern Abend noch da.« »Ranulf hat sie heute Nacht geholt, du hast es nicht bemerkt. Die Beiden haben das schon vor Tagen abgesprochen, als er ihr heimlich im Schilf begegnete. Dank der Hinweise Ranulfs, der ebenfalls von eurem geheimen Erdloch wusste, gelang es uns, den Mordbuben eine Falle zu stellen. Wenn du willst, komm auch zu uns. Doch ich muss jetzt weg. Ranulf wird sich bei dir melden.« Fulko zitterte. Nicht nur vor Freude.
Hugo von Beauclerc zitterte ebenfalls leicht, als er durch die Gänge und Treppenhäuser Château Montagnes schritt. Es war nicht nur die Tatsache, dass er geschlagen und gedemütigt worden war, sondern auch der Umstand, dem Herrn die schlimmstmögliche Botschaft überbringen zu müssen. Schon mancher Überbringer schlechter Nachrichten hatte sich einen Kopf kürzer wieder gefunden, gewiss. Aber Hugo war fest entschlossen, seine Haut so teuer wie möglich zu verteidigen, sollte Leonardo rasend vor Wut und Zorn werden. Schließlich war er neben Adhemar von Burgund der einzige echte Ritter von edler wenn auch niederer Abstammung in Leonardos Leibgarde gewesen; alle anderen wären nicht böse gewesen, hätte man sie als Gesetzesbrecher und niederen Pöbel bezeichnet, damals nur nach Jerusalem mitgezogen, um Absolution zu erlangen und nicht mehr strafverfolgt zu werden, je nach dem. Nein, Hugo von Beauclerc würde sich von Leonardo nicht einfach abservieren lassen, selbst wenn dieser tatsächlich ein Meister der Schwarzen Künste sein sollte, wie man in der Burg immer wieder munkelte. Hugo klopfte an die mächtige Eichenholztür, auf der das Wappen der Montagnes prangte, ein Adler und drei Lilien. Er stöhnte leise, denn das Heben seines Arms bereitete ihm beträchtliche Schwierigkeiten. Nun, das würde er verbergen können, nicht aber sein geschwollenes, verschürftes Gesicht, aus dem er lediglich das verkrustete Blut gewaschen hatte. »Wer stört?« Hugo trat ein. Wandteppiche mit Jagd- und erotischen Szenen verbargen die steinernen Wände des großen Zimmers, dessen Wände
und Decke aus dunklen Holzdielen und -balken bestanden. Zwei Ritterrüstungen standen links und rechts des großen Fensters, das das Tageslicht in einer breiten Bahn hereinließ. Leonardo ruhte liegend auf einer reich verzierten Chaiselongue und erweckte mehr denn je den Eindruck einer fetten Kröte. Er atmete schwer und sah angeschlagen aus. Seltsamerweise lag das Zauberamulett nicht auf seiner Brust, was mehr als ungewöhnlich war. Hugo suchte es mit den Augen in Leonardos Nähe, wurde aber nicht fündig. Ein leicht bekleidetes Weib, das aus einem der Dörfer stammte, saß am Fußende der Chaiselongue und massierte Leonardos nackte Füße, die einen durchdringenden Geruch verbreiteten. Hugo beneidete das Weib in diesem Moment nicht. Aus blutunterlaufenen Augen blickte Leonardo dem Ankömmling entgegen. Dann schickte er das Weib mit einer barschen Handbewegung hinaus. Sie murmelte etwas, raffte ihre Kleider zusammen und huschte beschämt aus dem Zimmer. »Wie seht Ihr denn aus, Hugo?«, krächzte er und schaffte es kaum, sich in eine bequemere Position zu bringen. »Habt Ihr es mit einer brunftigen Bärin getrieben?« »Schlechte Nachrichten, Herr. Adhemar, ich und fünf weitere unserer Leute sind in einen Hinterhalt des Schwarzen Ritters geraten …« Leonardos Augen schienen plötzlich aus ihren Höhlen zu drücken, so weit riss er sie auf. »Der Schwarze Ritter? Es gibt ihn also wirklich? Was ist geschehen?« Hugo berichtete in allen Einzelheiten, wobei er die heldenhafte Rolle, die er angeblich gespielt hatte, natürlich gebührend unterstrich. Und ob sie nun gegen ein gutes Dutzend Angreifer gekämpft hatten oder gegen fast fünfzig, wie er berichtete, blieb sich im Endeffekt auch egal. Des Ritters Bericht wurde immer flüssiger, seine Stimme immer fester, je mehr er merkte, dass Leonardo ruhig blieb. Der Schreckliche richtete sich auf, als Hugo geendet hatte, schnaufend wie ein Ochse. Der Geruch seiner Füße wurde dadurch erneut durch den Raum getragen. »Es ist gut, Hugo«, flüsterte er. »Ihr übernehmt ab sofort das Kommando über die restlichen Männer. Und Ihr wartet ab. Ich will keine Racheaktionen sehen, denen ich nicht
zugestimmt habe. Ich werde Euch sagen, was zu tun ist. Zuerst muss ich jedoch meinen Verstand bemühen. Sagt, wie sah der Schwarze Ritter aus?« Hugo von Beauclerc beschrieb ihm einen zwei Meter großen Hünen, dessen Schwert so schnell wirbelte, dass es mit dem menschlichen Auge kaum zu erkennen sei. Und es sei keineswegs sicher, ob es sich bei der schwarzen Gesichtsbedeckung um eine Maske oder doch um das Gesicht eines höllischen Wesens handle. Clodwig platzte in den Raum. Er trug ein hellblaues Wams, eine Strumpfhose in derselben Farbe und gelbe Pluderhosen. Linkisch drehte er sich um sich selbst. »Oh, verzeiht, Herr Vater, Herr Ritter, ich wollte nicht stören … nun, ich suche meine Laute, um der Minne zu pflegen und dachte, ich hätte sie hier …«, er drehte den Kopf ein paar Mal und stellte dabei den Hals, »… also hier irgendwo liegen lassen … Herr Ritter, seid Ihr etwa vom Burgsöller gestürzt wie einst mein Großvater Teilhart?« Die Beiden sahen die Witzfigur verblüfft an. »Raus, wenn sich richtige Männer unterhalten!«, brüllte Leonardo schließlich mit keifender Stimme. »Geh zu den Weibern in die Kemenate, wo du hingehörst!« »Natürlich, Herr Vater, bin schon weg.« Er machte einen Kratzfuß und stolperte dabei fast über die eigenen Beine. Sein Straucheln konnte er gerade noch am Türrahmen abfangen. Kurze Zeit später war Leonardo wieder alleine. Alles drehte sich vor seinen Augen, er musste sich erneut hinlegen. Das hatte aber weniger etwas mit dem Erscheinen des Schwarzen Ritters zu tun als vielmehr mit der Tatsache, dass er sich in den letzten Tagen deutlich übernommen hatte. Er schloss die Augen. Das Weib kam zurück. »Benötigt Ihr meine Dienste noch, Herr? Soll ich mich wieder meiner Kleider entledigen und euch nackend erfreuen?« »Raus hier, aber schnell oder ich lasse dich ans Burgtor nageln«, flüsterte er. Als die Elende weg war, fiel er sogleich in jene Phase des Schlafes, in der man noch wacht, aber doch schon ein wenig träumt. Es war eigentlich eine gute Idee, das Amulett zu nehmen, um die Gänge unter dem
Château mit Magie aus dem Felsen heraus zu brechen, ging es ihm durch den Sinn. Es ging sehr rasch voran und ich habe viele Fuß am Tag in den Felsen hinein geschmolzen. Aber nun muss ich vorsichtig sein mit dieser Art von Arbeit. Denn wie hätte ich auch ahnen können, dass sich das Amulett für das, was es tut, an meinen körperlichen und geistigen Kräften gütlich tut? Bisher habe ich das nicht gemerkt. Aber natürlich, Magie aller Art braucht Quellen, aus der sie sich ihre Kraft holt … hmmm, vielleicht hätte ich das Weib doch hier belassen sollen, meine Füße rufen nach einer weiteren Liebkosung und Streichelung, aber wer soll sie mir jetzt wieder herbringen? Nun, vielleicht sollte ich sie heute Nacht holen und zum Blutopfer machen. Möglicherweise lässt das Amulett mich in Ruhe, wenn es seine Kräfte aus einem Blutopfer schöpfen kann … Nein, sie liebkost meine Füße am Besten, das werde ich also nicht tun … Am besten sollte ich gleich diesen verdammten Suger von Gerberoy nehmen, der keine Gelegenheit auslässt, mich als Hexenmeister bei König Philipp und dessen Hofschranzen anzuschwärzen und versucht, mich bei jeder Gelegenheit zu bekämpfen. Aber da kommt mir ein ganz anderer Gedanke … Leonardo dämmerte weg und schnarchte gleich darauf Mark erschütternd. Er schlief die Nacht und gleich noch den nächsten Tag durch. Als er nach Einbruch der Nacht wieder erwachte, fühlte er sich gekräftigt, aber noch immer nicht so stark, wie er als junger Recke gewesen war. Die Jahre nahmen ihn immer mehr mit und langsam ging ihm die Zeit davon. Ein Schwächegefühl lief für einen Moment durch alle seine Glieder, er spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch. Dass sich vergangene Nacht ein Meuchelmörder mit spitzem Dolch ins Zimmer geschlichen hatte, um ihn zur Hölle zu schicken, bekam er gar nicht mit. Zuverlässig hatte das Amulett seinen Auftrag erfüllt, ihn, wenn er schlief, unsichtbar zu machen und eventuellen Angreifern vorzugaukeln, seine Schlafstatt sei leer. Auf was hatte er noch einmal vor dem Einschlafen seinen Sinn gerichtet? Ach ja, natürlich. Leonardo dachte an sein Amulett. Komm! Im selben Moment materialisierte es in seiner Hand. Er wusste nicht mehr, wo er es gelassen hatte, es war ihm auch herzlich egal. Der Schreckliche zog Strumpfhose und Stiefel an, setzte sein Barett auf, nahm einen sechsarmigen Eisenleuchter mit Kerzen im Gang vor dem Zimmer und stieg über die Gänge und Treppenhäuser hinunter
in die Gewölbe der Burg. Im dritten Stockwerk unter der Erde gelangte er an eine feste Ziegelwand, die den Gang zu beenden schien. Er ging darauf zu – und tauchte in sie ein! Wie ein Geist ging er durch sie hindurch und stand gleich darauf in den Katakomben, die außer ihm niemand betreten durfte. Und das schaffte auch niemand außer ihm. Denn um die Wand durchlässig zu machen, bedurfte es des Amuletts und eines bestimmten Gedankenbefehls. Magische Steine tauchten die Gänge in ein geheimnisvolles, rötliches Licht. Verschlungene Zeichen, die in die Oberfläche geritzt waren, sorgten für das ständige Leuchten. Leonardo verstand diese Magie bis heute nicht. Denn er hatte die Steine in rauen Mengen aus dem Orient mitgebracht, doch ansonsten war die lange Reise ins Heilige Land eine einzige Enttäuschung für ihn gewesen. All seine Hoffnungen waren zerstoben, aber doch nur, um neue zu erschaffen. Sie manifestierten sich in einer runden Silberscheibe mit einem Drudenfuß im Zentrum und zwei Kreisen drum herum. Der innere zeigte die zwölf Tierkreiszeichen, der äußere bisher unentzifferbare Zeichen, die etwas erhaben gearbeitet waren. Der Schreckliche stellte den Leuchter ab und ging durch die rötlich beleuchteten Gänge. Ein hohes Singen wurde hörbar, dessen Intensität schnell zunahm. Bald schmerzte es Leonardo in den Ohren. Um es verschwinden zu lassen, benötigte er allerdings nicht die Hilfe des Amuletts. Es genügte ein einfacher Zauber, in die Luft gemalt und mit den richtigen magischen Worten unterlegt. Er tat es und hatte gleich darauf Ruhe. Als er um eine Gangecke bog, änderten sich die Lichtverhältnisse plötzlich. Das Rot mischte sich mit kaltem Blau. Dazwischen flirrten weiße Punkte in der Luft, stiegen an die Decke, huschten blitzschnell über den Boden und schienen einen Reigen um den Montagne zu tanzen wie Mücken im Sonnenlicht. Der blaue Schein bewegte sich stets mit ihnen. Und hätte Leonardo nicht das hohe, unwirkliche Singen ausgeblendet, es hätte ihn spätestens hier um den Verstand gebracht. Denn nirgendwo war es stärker als im Zentrum des blauen Leuchtens. »Uhim, zeige dich!«, donnerte er. Die flirrenden Lichtpünktchen drängten sich näher aneinander
wie Kühe bei Gewitter, sie fanden sich, bildeten eine strahlend weiße Kugel. Aus dieser wiederum entstanden drei der Feuerdämonen, Furcht erregende Wesen, denen Leonardo nicht über den Weg traute. Nur die Macht des Amuletts bannte sie und zwang sie zum Gehorsam; ansonsten wären sie über Leonardo hergefallen und hätten ihm eine feurige Höllenfahrt beschert, wie sich Uhim, ihr Anführer, ausgedrückt hatte. Nachdem die Frohner im Bauch des Berges nicht mehr schnell genug vorangekommen waren, war Leonardo auf die Idee verfallen, den Vorgang mit dämonischer Hilfe zu beschleunigen. Was er zuvor nicht gewagt hatte, hatte er nun mit dem Amulett gewagt. Der Alchemist, der er war, hatte die Geister der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde, die Elementarwesen Salamander, Undinen, Sylphen und Gnomen beschworen. Mit Schwerpunkt auf den Gnomen, da es um Erdarbeiten ging. Erschienen waren im magischen Kreis aber schließlich die Feuerdämonen, die sich zuerst einmal wütend ausgetobt hatten, bevor sie bemerkten, dass es ihnen nichts nützte, dass die beschwörende Kraft stärker war als sie. Erst dann waren sie mit Leonardo in Verhandlung getreten. Der hatte seinen Ärger, irgendetwas bei der Beschwörung falsch gemacht zu haben, inzwischen wieder überwunden gehabt. »Wie Gnomen seht ihr zwar nicht gerade aus, auch nicht wie Salamander, aber ich werde mich dennoch eurer Hilfe versichern. Ab nun werdet ihr Gänge in den Berg hier brennen, Tag und Nacht, so lange, bis ich euch wieder aus dieser Arbeit entlasse und in die Hölle zurück schicke. Gehorcht ihr nicht, werde ich euch mit dieser starken magischen Waffe vernichten.« Uhim, der Anführer der Feuerdämonen, hatte sich unterworfen und den Pakt, den Leonardo mit seinem Feuer und dessen Blut siegelte, bestätigt. Nun brannten sie in dieser speziellen Region des Berges seit vielen Wochen das Gestein weg, ließen es im magischen Feuer verglühen und waren hundert Mal so erfolgreich damit wie alle Frohner zusammen. Trotzdem war es Leonardo nicht schnell genug gegangen, denn nach wie vor deutete nichts auf den baldigen Erfolg hin. Und so hatte er versucht, noch zusätzlich mit dem Amulett zu arbeiten, was nach einigen Experimenten gelungen war. Ir-
gendwann war ihm klar gewesen, welche drei Zeichen er gegeneinander verschieben musste, um das grelle grüne Leuchten zu erzeugen, das über selbst die größten Steine floss und sie einfach auflöste. Besser und schneller noch, als es die Feuerdämonen vermochten. Das Amulett, mit dem er immer mehr eine geistige Einheit bildete, hatte es ihm verraten. Auf welche Weise das allerdings passierte, entzog sich nach wie vor seiner Kenntnis. Doch das würde er auch noch herausbekommen, dessen war sich Leonardo sicher. »Ihr stellt eure Arbeit für eine Weile ein, Uhim. Ich habe einen anderen Auftrag für euch.« »Natürlich, Herr«, sagte der Dämon unwillig. Leonardo erklärte es ihm. »Und nun gehorche.« »Wir hören und gehorchen, Herr.«
Fulko Kurzhose wälzte sich auf seiner Lagerstatt. Der Junge konnte nicht einschlafen. Seit gestern gingen ihm unablässig die Worte des Schwarzen Ritters durch den Sinn. Komm zu uns, auch Ranulf und Herleva sind bei uns. Ranulf wird sich mit dir in Verbindung setzen … So oder ähnlich hatte er gesagt. Und diese Worte mischten sich immer wieder mit den grässlichen Bildern durchstochener Ritter, denen plötzlich Blut aus Mund und Nase quoll und die sterbend zusammenbrachen. Nichts, was ein Jüngling so einfach wegsteckte, denn bisher hatte er höchstens einmal ein Kaninchen, einen Hund oder einen Fisch verenden sehen. Schon das war ihm Tage lang nicht aus dem Kopf gegangen. Aber sterbende Menschen? Das war etwas völlig anderes, und mochten sie noch so böse gewesen sein. Was soll ich tun, wenn Ranulf kommt? Mich dem Schwarzen Ritter anschließen? Ich habe doch noch niemals gekämpft. Ich kann das nicht. Aber ich will doch Herleva wieder sehen. Und in Ranulfs Nähe bleiben. Aber wird der Schreckliche zum Schluss nicht doch siegen? Fulko seufzte schwer. Der Schlaf wollte noch immer nicht kommen. Also erhob er sich und ging nach draußen. Umziehen musste er sich nicht, denn Tag- und Schlafkleidung, das machte für ihn genauso wenig einen Unterschied wie für die meisten hier. Die Grillen zirpten ihre geheimnisvollen Lieder in der milden
Nachtluft, vom Fluss drangen die altbekannten und vertrauten Geräusche herüber. Eine Kuh muhte im Schlaf, gleich darauf schlug ein Hund an. Fulko schlenderte, die Hände in den Hemdtaschen, durch die Hütten. Vielleicht war ja noch jemand wach, mit dem er über die gestrigen Ereignisse reden konnte. Er musste es, sonst würden sie ihm noch in hundert Jahren schwer auf der Seele lasten. Seine Mutter war nicht ansprechbar, sie klagte und trauerte um Herleva, obwohl er ihr versichert hatte, seiner Schwester gehe es gut, sie sei in Sicherheit. Wer konnte mit ihm reden? Zumindest die Hirten mussten wach sein. Aber sie waren tumb, nicht mit seinem Verstand gesegnet und deswegen höchstens der allerletzte Ausweg. Plötzlich erstarrte der Junge. Was war das für ein kaltes, blaues Leuchten, das zwischen zwei Hütten hervor schien? Gerade eben war es noch nicht da gewesen. Und es bewegte sich! Gleichzeitig hörte er einen hohen, singenden Ton, der sich über das ganze Dorf auszubreiten schien. Das Leuchten breitete sich ebenfalls aus, ging in die Hütten hinein. Ein greller, durch Mark und Bein gehender Schrei ertönte, durchschnitt das hohe Singen. Gleich darauf taumelte Mathilda die Gänsehüterin aus ihrer Hütte. »Nein, nein …« Fulko schüttelte den Kopf. Er zitterte wie Espenlaub, konnte nicht begreifen, was er vor sich sah. Mathildas Körper stand in hellen Flammen! Von den Beinen bis über den Kopf brannte sie, ihre Haare, ihre Kleider, alles. Verzweifelt versuchte sie das Feuer auszuschlagen, wälzte sich auf dem Boden, schrie wie verrückt. Fulko wollte hin, helfen, Wasser holen, aber er war wie gelähmt. Vor allem, als hinter Mathilda diese ganz und gar unheimliche Gestalt auftauchte. Ein menschliches Skelett! Weißes, grell leuchtendes Feuer umfloss die Knochen, die sich so flink bewegten, dass es Fulko kaum wahrnehmen konnte. Gleichzeitig strahlte das Feuer dieses blaue Leuchten aus, vor dem er sich vom ersten Moment an gefürchtet hatte. Jetzt wusste er, warum! Der Totenschädel drehte sich in seine Richtung. Leere Augenhöhlen schienen ihn höhnisch anzugrinsen. Fulko wagte nicht, auch nur
einen Finger zu bewegen. Vielleicht konnte ihn der Dämon nur wahrnehmen, wenn er sich bewegte. Tatsächlich, das Skelett drehte ab, die leuchtende Aureole verschwand in der nächsten Hütte. Gleich darauf gellten Dutzende von Schreien durch Tinchebray, mischten sich zu einem Stakkato voller Panik. Weitere brennende Menschen sprangen ins Freie, auch die ersten Hütten gingen jetzt in Flammen auf. Es zischte und knisterte, als die Flammen hell lodernd aus den Dachstühlen schlugen. Überall waren nun auch diese unheimlichen Skelette. Fulko zählte zehn, weiter konnte er nicht zählen, aber es waren beträchtlich mehr. Er zählte erneut auf zehn, sein Verstand hatte längst abgeschaltet, denn immer grauenhaftere Bilder stürmten auf ihn ein. Drei Skelette zogen einen sich heftig wehrenden alten Mann ins Freie. Er betete lautstark einen Rosenkranz, aber es nützte nichts. Die Knochenmänner schienen zu kichern, drehten sich in einem grotesken Reigen, stießen den Alten hin und her, ohne ihn zu entzünden. Er rutschte aus, fiel hin. Die Dämonischen packten ihn an den Armen, rissen ihn wieder hoch. Nun brüllte er doch so laut und schrill wie ein abgestochenes Schwein. Dort, wo ihn die knöchernen Finger umklammerten, stieg Rauch hoch, gleich darauf schlugen Flammen aus seinem Fleisch. In Sekundenschnelle brannte sein ganzer Körper. Er riss die Arme hoch und sank zu Boden. Dort schrumpelte sein Körper, ebenfalls in wenigen Sekunden, zu einem schwarzen, unansehnlichen Etwas zusammen. Erste Dachstühle krachten ein. Das brennende Dorf leuchtete wie ein Fanal weit durch die laue Nacht. Über der furchtbaren Szenerie hing der Geruch von Brand und verbranntem Fleisch, auch Tiere wurden nicht verschont. Ein brennendes Huhn lief in dem Chaos umher und brach nicht weit von Fulko zusammen. Aus irgendeinem Grund griffen ihn die Dämonen nicht an. Dafür jagten sie die anderen Dorfbewohner. Einige hatten es geschafft, die Reihen der Skelette unversehrt zu durchbrechen. Sie rannten in die Nacht hinaus. Doch schon hefteten sich ein, zwei Gerippe an ihre Fersen, huschten an ihnen vorbei und drehten sofort wieder. Die kurze Berührung genügte, um auch die, die kurze Hoffnung gehabt hatten, dem grausamen Feuertod zu überantworten.
Und noch mehr: Was aus ihren armen Seelen wurde, wusste keiner, obwohl das die noch viel wichtigere Frage war. Möge Gott ihnen gnädig sein … Inmitten des Chaos stand Fulko wie ein Fels in der Brandung und sein Verstand war wieder bei ihm. Er bedauerte es. Denn wieder sah er Menschen sterben, sah sich zum ersten Mal leibhaftig Dämonen aus der tiefsten Hölle gegenüber. Oh ja, er wusste genau, wer sie geschickt hatte, um blutige Rache für den Tod seiner Männer zu nehmen. Der Schwarze Ritter hatte sich getäuscht. Leonardo vergriff sich nicht an ihm, sondern an den Unschuldigen. Um den Schwarzen zu warnen, dass er, wenn er weiter machte, auch Unbeteiligte einem grausamen Schicksal überantwortete. Vielleicht glaubt er auch, dass wir gemeinsame Sache mit dem Schwarzen Ritter gemacht haben … Und damit hatte der verfluchte Montagne, dieser Hexenmeister, nicht einmal Unrecht. Jedenfalls, was ein paar von ihnen betraf. Kein Einziger aus Tinchebray entkam dem Massaker. Kein Mann, keine Frau, kein Kind. Keiner bis auf Fulko. Glaubte er. Plötzlich sah er sich von einer ganzen Schar Feuerdämonen umringt, plötzlich stand er im Zentrum des kalten blauen Lichts. Kicherten sie? Fulko konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Todesangst ließ seine Zähne aufeinander klappern, dass man es sicher bis zur Burg hörte. Weidete sich Leonardo an diesem Geräusch? Eine erste glühende Hand legte sich auf seine Schulter, fraß sich tief in sein Fleisch. Rasender Schmerz durchzuckte den Jungen, ließ ihn brüllen wie einen Stier. Er schlug wie ein Wilder um sich, blind, kraftlos, drehte sich, taumelte. Als er eines der Skelette traf, flammte auch seine Hand auf, sein Bein. Gleich darauf lagen sie zu sechst über ihm, saugten seine Seele auf. Als eine Stunde später Hilfe aus dem Nachbardorf Senlis eintraf, existierte Tinchebray nicht mehr. Oder doch nur als Ansammlung schwelender Trümmer. Die Männer weinten, als sie die vielen Toten sahen. Einer schüttelte die Faust in Richtung der Burg, die sich als mächtiger Schattenriss gegen den bläulichen Nachthimmel erhob. Sein Nebenmann fasste ihn erschrocken am Oberarm und zog ihn
herunter. »Nicht, Bertrand«, flüsterte er. »Sonst holt uns der Schreckliche auch noch.«
Leonardo stand auf dem Südturm, starrte durch die Zinnen über die nächtliche Landschaft hinweg und lachte plötzlich los. Gegenstand seiner Erheiterung war eine hell lodernde Flamme, die sich hinter dem Wald, auf den Wiesen vor der Loire, in den Himmel schraubte und ständig größer wurde. Bald schon waren es vier, fünf, ein Dutzend, bis Leonardo schließlich nur noch ein einziges, mächtiges Feuer wahrnahm. Und wenn er genau hinschaute, konnte er dann nicht kaltes, blaues Leuchten inmitten der Feuerhölle wahrnehmen? »So ist es Recht, meine Dämonen«, flüsterte er und in seinen Augen spiegelte sich fanatischer Glanz. »Ihr leistet ganze Arbeit, fürwahr. Das ganze verdammte Dorf soll dem Erdboden gleich gemacht werden, niemand von denen soll entkommen. Wer sich zu Handlangern meiner Feinde macht, ist selbst mein Feind und wird gnadenlos vernichtet.« »Eine ganz und gar vernünftige Einstellung, fürwahr.« Leonardo fuhr herum. Mit klopfendem Herzen starrte er auf die Gestalt, die auf der anderen Seite der Turmplattform an einer Zinne lehnte. Der Schreckliche konnte sie nur mehr als annähernd menschlichen Schattenriss gegen den dunkelblauen, sternenübersäten Himmel wahrnehmen, bemerkte aber, dass der Fremde die Beine lässig übereinander geschlagen hielt. Leonardos Rechte fuhr unwillkürlich zum Amulett. Er umfasste es und reckte es dem Fremden entgegen. »Wer seid Ihr und wie kommt Ihr hierher? Gebt Euch zu erkennen oder ich töte Euch mit meiner Zauberscheibe auf der Stelle.« »Das, mein lieber Leonardo, wäre wahrscheinlich nicht so einfach, wie Ihr Euch das vorstellt. Aber wir wollen es nicht auf einen Versuch ankommen lassen. Schließlich bin ich gekommen, um einen Blutpakt mit Euch zu schließen, der uns Beiden sehr viel Freude bereiten könnte.« »Ein Blutpakt? Seid Ihr von Sinnen? Blutpakte schließt man mit Dämonen.«
»Ihr sagt es, Leonardo.« »So … so seid Ihr ein Dämon?« »Scharfsinnigkeit gehört durchaus zu Euren Stärken, das ist mir bekannt.« De Montagne verzog das Gesicht. Hörte er da leisen Spott heraus? Am liebsten hätte er den impertinenten Kerl gleich hier auf der Turmplattform zerlegt. Andererseits war es vielleicht besser, wenn er sich erst einmal anhörte, was der Eindringling wollte. »Wie kommt Ihr hier herauf?«, fragte er noch einmal. »Nun, so.« Der Dämon verschwand und hing im selben Augenblick drei Meter höher elegant am Fahnenmast. Er packte die Fahne mit dem Wappen der Montagnes und schaukelte damit hin und her. »Heißa!«, rief er. Stoff ratschte. Die Fahne riss. Der Dämon wurde in der Schaukelbewegung über den Plattformrand hinaus katapultiert, strampelte – und fiel an der Zinne vorbei in die Tiefe! Ein schriller, verwehender Schrei ertönte. Aus Leonardos Kehle löste sich ein undefinierbarer Laut. Er hastete zur anderen Seite. Und fuhr erschrocken herum. Direkt neben ihm wuchs ein Schatten aus dem Nichts. Er wirkte nun wie ein mächtiges Rad auf zwei Beinen. »Lasst dieses Katz- und Mausspiel bleiben«, fuhr Leonardo den Dämon an. »Sonst banne ich Euch doch noch mit dem Amulett. So wie auch die Feuerdämonen.« Ein leises Lachen ertönte aus dem Schattenriss. Für einen Moment glaubte Leonardo eine Schnauze unter rot glühenden Augen wahrzunehmen. Allmählich machte ihn der Andere unsicher, auch wenn er das niemals eingestanden hätte. »Meine kleine Demonstration hat Euch also beeindruckt?«, erklang die angenehme Stimme erneut. Leonardo hätte nicht gewusst, ob er sie einem Mann oder einem Weib zuordnen sollte. »Und die Feuerdämonen, die du dir dienstbar gemacht hast, nun ja, die gehören zu den Schwächsten der höllischen Scharen. Die Schwefelklüfte haben da bedeutend Besseres aufzubieten, aber das müsste dir zumindest theoretisch bekannt sein.« »Und dazu zählt Ihr Euch, wenn ich das richtig verstanden habe. Wärt Ihr so überaus gütig, mir endlich Euren Namen zu nennen, da
Ihr meinen ja bereits wisst und auch ich Euch gerne so anreden würde, wie es Euch geziemt.« »Gemach. Ich gebe mich schon noch zu erkennen. Aber so schön das Freudenfeuer dort unten und die darin brennenden Seelen auch sein mögen, Leonardo, wäre ich Euch doch zutiefst dankbar, wenn wir unser Gespräch innerhalb der Mauern fortsetzen könnten. Hier wärt Ihr von dem Feuer doch zu sehr abgelenkt und ich fordere Eure vollste Konzentration. Eine schöne Burg übrigens, die Ihr da baut. Eines Unsterblichen durchaus würdig.« »Unsterblich? Wie meint Ihr das?« »Drinnen, mein Lieber, drinnen.« Leonardo führte seinen Gast über die Wendeltreppe in eines der Turmzimmer. Hierher zog er sich zurück, wenn er magische Werke studierte oder magische und alchemistische Experimente aller Art unternahm. Und obwohl der Unheimliche auf der Turmtreppe mehrmals in den Lichtkreis der Fackeln geriet, konnte Leonardo ihn nach wie vor nur als dreidimensionalen Schatten wahrnehmen. Erst im Zauberzimmer lüftete der Dämon ein paar seiner Geheimnisse. Die Schwärze fiel ab wie ein Vorhang. Vor Leonardo stand ein Wesen, wie er es von Zeichnungen verschiedener magischer Werke kannte: von solchen, die sich mit den wirklich mächtigen Höllendämonen beschäftigten. Und es kam ihm so vor, als hätte er seinen Gast in diesen Büchern und Schriften schon das eine oder andere Mal genau so gesehen. Leonardos Gegenüber besaß einen muskulösen, menschlichen Körper mit tief schwarzer Haut, den eines Mannes, mit einer scharfen Klaue statt des Daumens an beiden Händen. Es präsentierte sich völlig nackt, mit riesigem, männlichem Geschlechtsteil, das durch die Beine nach hinten gebogen war und kleinen weißen, sich ständig krümmenden Würmern dort, wo bei Menschen die Schamhaare wuchsen. Das Wesen überragte Leonardo um gut ein Drittel, stand auf bemerkenswert kleinen Füßen und trug einen Kopf auf den Schultern, der den Schwarzmagier entfernt an einen Esel erinnerte. Rotglühende Augen starrten ihn an und ließen ein Gefühl unbestimmter Furcht in ihm hoch steigen. Er spürte die Aura der Macht, die den Dämon umgab. Eine Aura, die er bei den Feuerdämonen in
der Tat bisher nicht festgestellt hatte. Aus den Schultern des Höllischen wuchsen zwei schmale Federn, fast wie Engelsflügel. Sie wirkten ein wenig armselig. »Ihr seid Adramelech, nicht wahr?« Der Höllische verbeugte sich mit einem Kratzfuß. Dabei fächerten die Federn auf und bildeten plötzlich ein mächtiges, buntes Rad hinter ihm, genau wie das des Pfaus. »Ihr habt mich also gleich erkannt, Leonardo. Nun, der Eine oder Andere von Euch Sterblichen, der meine höllische Majestät schauen durfte, hat mich in seinen Zeichnungen ganz gut getroffen. Ja, ich bin Adramelech, Kanzler der höllischen Regionen, teuflischer Befehlshaber, Vorsitzender des Hohen Rates der Teufel, Bewahrer der sieben höllischen Mysterien und nicht zuletzt Garderobier Satans.« Adramelech fuhr das Rad wieder ein. Er bleckte seine scharfen Reißzähne. »Nun, ich gebe zu, dass der Titel Garderobier Satans ein wenig anmaßend und übertrieben ist, denn LUZIFER selbst bin ich nicht zu Diensten. Immerhin aber dem Fürsten der Finsternis. Asmodis ist mir sehr dankbar, wenn ich ihm für die zahlreichen offiziellen Termine in den Schwefelklüften die richtige Garderobe zurecht lege. Das dürft Ihr ruhig glauben, Leonardo. Die Kleidungsvorschriften in der Hölle sind durchaus streng und seit vielen Jahrzehntausenden bis ins kleinste Detail geregelt. Trifft sich zum Beispiel der Hohe Rat der Teufel, so hängt es nicht nur vom Tag ab, sondern auch vom jeweiligen Äon, verschiedenen Sternenkonstellationen und einigen weiteren Kleinigkeiten, was der Fürst der Finsternis jeweils zu tragen hat. Das gilt übrigens auch für die höllischen Attribute, die seine Macht unterstreichen. Na ja, dann gibt es da mal die offizielle Einweihung einer neuen Seelenhalde und dort die Auszeichnung eines besonders verdienten Dämons. Nicht ganz einfach also, da den Überblick zu behalten.« Leonardo war wider Willen schwer beeindruckt und verspürte den Drang, das Knie zu beugen und das Haupt zu neigen. Dann tat er es doch nicht. Auch er verfügte über einen eisernen Willen und musste schauen, dem Dämon einigermaßen auf Augenhöhe zu begegnen. Sonst hatte er schon am Anfang verloren. »Ihr seid also ein Fürst der Hölle, einer der Erzdämonen gar?«
»So ist es. Wisst Ihr, Leonardo, uns höllischen Majestäten bleibt nichts von dem verborgen, was auf der Erde vorgeht. Gar nichts. Und Menschen wie Euch beobachten wir natürlich ganz besonders. Darf ich Euch selbst zum Beispiel machen?« »Tut, was Ihr nicht lassen könnt, Adramelech.« »Natürlich tue ich es. Also, mein lieber Leonardo, Ihr erinnert Euch sicher noch gerne an die Zeit zurück, als Ihr ein junger Mann wart und mit Vorliebe in den Chroniken Eurer Familie stöbertet.« »Ja. Ist ja erst ein paar Jahre her.« »Das ist also Euer berüchtigter schwarzer Humor. Ich bin begeistert. Nun, bei Euren Studien seid Ihr auf die Schriften Ehrenfried de Montagnes gestoßen. Er war der erste de Montagne überhaupt, von Frankenkönig Karl dem Dicken wegen besonderer Tapferkeit in den Adelsstand erhoben und mit Ländereien bedacht sowie mit dem Recht ausgestattet, seine eigene Burg zu bauen. Ja, der alte Ehrenfried, ich kannte ihn ganz gut. Er erbaute also in den Jahren 891 bis 897 das alte Château Montagne, begründete die Dynastie und war zugleich ein begeisterter und fähiger Alchemist.« Leonardo sagt nichts. Er setzte sich auf einen weich gepolsterten Eichenstuhl. Mit Blicken forderte er Adramelech auf, fortzufahren. »In den Aufzeichnungen des Ehrenfried de Montagne steht, dass er den Platz für Château Montagne bewusst erwählt habe, weil sich seinen Berechnungen nach im Berg darunter zwei wichtige kosmische Linien kreuzen. Und im exakten Kreuzungspunkt mit seinen wundersamen Kräften entsteht der von allen Alchemisten schon so lange gesuchte Stein der Weisen.« »Ja«, flüsterte Leonardo heiser. »Das Magisterium.« »Nennt es Magisterium, Roter Löwe, Rote Tinktur, Großes Elixier, Astralstein oder wie immer Ihr wollt. Es gibt viele Bezeichnungen für die eine Substanz, die Unedles in Gold verwandelt, aber diese Fähigkeit des Magisteriums hat Euch nie sonderlich interessiert. Fasziniert wart Ihr immer nur davon, dass es auch ewige Jugend garantiert und damit die Unsterblichkeit. Ihr, Leonardo, wolltet die einmalige Gelegenheit nutzen, um unsterblich zu werden. Ihr habt Euch deswegen ebenfalls daran gemacht, die Alchemie und die Astrologie zu studieren, um mit Hilfe dieser Berechnungen den
Kreuzungspunkt der kosmischen Linien zu finden. Aber Ihr seid kläglich daran gescheitert. Doch aufgeben wolltet Ihr nicht, denn die Unsterblichkeit war ein viel zu hehres Ziel und so wandtet Ihr Euch der Schwarzen Magie zu, um doch noch zu vollenden, was Eurem Vorfahr Ehrenfried versagt geblieben war. War es nicht so?« »Ja, so war es. Aber das weiß ich alles selber, kommt also endlich zum Punkt.« Adramelech fuhr wieder sein Pfauenrad aus. »Wann ich zum Punkt komme, bestimme ich ganz alleine, mein lieber Leonardo. Habt also noch etwas Geduld mit einem uralten, geschwätzigen Dämon, der sich hin und wieder an seinen eigenen Worten berauschen kann. Nun, wo war ich? Ach ja. Ihr habt es tatsächlich geschafft, durch Blutopfer niedere Dämonen zu beschwören, die Euch helfen sollten, den Kreuzungspunkt zu finden. So gerietet Ihr an die Feuerdämonen. Doch weil Ihr sie nicht richtig im Griff hattet, brannten sie Euch das Château fast bis auf die Grundmauern nieder, bevor Ihr sie wieder bannen konntet. Danach ließet Ihr Eure Leibeigenen die Burg wieder aufbauen, aber gleichzeitig tiefe Stollen darunter in den Berg treiben. Kreuz und quer sollten sie führen, ein Netz bilden, denn so, hofftet Ihr, würdet Ihr automatisch auf das Magisterium stoßen. Doch das ging Euch alles viel zu langsam, zumal Ihr älter wurdet und spürtet, dass Euch die Zeit davon läuft. Und erneut Dämonen zu beschwören, die für Euch die Stollen in den Berg graben könnten, wagtet Ihr auf Grund der schlechten Erfahrungen mit den Feuerdämonen nicht mehr.« Adramelech betrachtete angelegentlich seine Fingernägel und zog seine Erzählung absichtlich in die Länge, was Leonardo immer nervöser werden ließ. »Nun, in dieser für Euch ganz und gar unbefriedigenden Situation kam es Euch sehr gelegen, dass die Witzfigur aus dem Vatikan zum Kreuzzug gegen die Ungläubigen aufrief. Denn so ergab sich die Gelegenheit, unter dem Schutz vieler Ritter und damit weitgehend gefahrlos nach Jerusalem zu ziehen. Denn Ihr kanntet die Legende des Zauberers Ibn Ali Talib seit der Zeit Eurer alchemistischen Studien. Ali war nicht nur der Vetter Mohammeds, des Propheten, sondern auch dessen Schwiegersohn. Und er, so wird im Morgenlande ehrfürchtig erzählt, war derjenige, der die
Blätter an sich genommen habe, die Mohammed kurz vor seinem überraschenden Tod studierte. Und bei diesen Blättern soll es sich keineswegs nur um Koranfragmente gehandelt haben, sondern um Zauberformeln und magische Anleitungen für einen Zaubertrank, der das ewige Leben garantiert. Nun, da haben wir sie also wieder, die so dringend gesuchte Unsterblichkeit.« Eine Art Kichern drang aus dem Maul des Dämons. »Mohammed, so wird geflüstert, habe die Formeln einem Dschinn abgerungen. Der aber habe sich, bevor Mohammed die Blätter richtig studieren konnte, gerächt und den Propheten in den Tod gezogen. Nun, Ali sei in dieser Angelegenheit dann mehr Erfolg beschieden gewesen. Er habe den Zaubertrank erschaffen können und sei dadurch tatsächlich unsterblich geworden. Seinen Tod habe er indessen vorgetäuscht, um nicht als Zauberer gebrandmarkt und verfolgt zu werden. Noch heute lebt Ali in der Nähe Jerusalems und ist als Einflüsterer der Kalifen tätig, weiß die Legende zu erzählen.« »Ja«, erwiderte Leonardo und sein ohnehin schon düsteres Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Aber mich deucht, dass dieser Ali tatsächlich nur eine Legende ist, denn ich habe ihn nicht gefunden, auch wenn ich alles daran gesetzt habe. Selbst Alyanah, das Weib des Kalifen Achman, das ich einzig zu diesem Zweck entführt und hypnotisiert hatte, wusste nichts von einem Berater.« »Natürlich. Denn Ali, den Unsterblichen, gibt es tatsächlich nicht. Er ist nur eine schöne Geschichte, auf die Ihr hereingefallen seid, Leonardo. Nun, zurück in der Heimat habt Ihr Euch mit neuem Elan an Euer ursprüngliches Projekt gemacht, denn Ihr besitzt nun dieses Zauberamulett. Damit habt Ihr erneut die Feuerdämonen beschworen und könnt sie nun auch ohne Probleme in Zaum halten. Mit Hilfe des Amuletts und der Dämonen habt Ihr nun tatsächlich ein umfangreiches Netz an Stollen, Gängen und Verliesen im Berg unter dem Château angelegt. Doch lasst Euch sagen, dass Ihr Euch wie ein Maulwurf bis zum Erdmittelpunkt vor graben könnt. Ihr würdet dennoch keinen Erfolg haben. Es gibt keine kosmischen Linien unter dem Château. Und somit keinen Kreuzungspunkt und kein Magisterium. Ihr seid all die Jahre einem Hirngespinst nachgelaufen, Leonardo.«
»Ich bin … bin …« Leonardo starrte den Dämon an. Dann sank er förmlich in sich zusammen. Brütend starrte er vor sich hin. »Kein Magisterium … Dann … wartet der Tod auf mich …« »Normalerweise ja.« Leonardos Kopf ruckte hoch. Das Feuer in seinen Augen war zurück. »Normalerweise? Was wollt Ihr damit andeuten, Adramelech?« »Nun, ganz einfach. Ich kenne wirklich einen Weg, der Euch zu unsterblichem Leben führt. Und ich bin bereit, ihn Euch zu zeigen.« »Tatsächlich? Gut. Aber das macht Ihr sicher nicht, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Was wollt Ihr dafür haben, Adramelech?« »Nun, nicht viel. Ihr sollt lediglich mit Eurer Silberscheibe gegen Asmodis antreten und ihm den Garaus machen. Denn ich will Fürst der Finsternis werden und Ihr unsterblich. Ein ausgewogenes Geschäft, von dem beide in bestmöglicher Weise profitieren, würde ich sagen.«
5. Dhyarrafeuer Château Montagne / Rheinfall bei Schaffhausen Gegenwart Zamorra war total geknickt. Er ging mit gesenktem Kopf wie ein wilder Tiger in seinem Arbeitszimmer auf und ab, während Nicole auf einem Stuhl saß und die übereinander geschlagenen Beine auf den Tisch legte. Auch Fooly, William und Lady Patricia waren anwesend. Sie saßen ebenfalls. Nur Fooly hatte sich still in eine Ecke verdrückt. »Und das Ding da unten sieht tatsächlich wie ein riesiges, schwarzes Herz aus?«, fragte Nicole. »Kein Scherz?« »Nein, absolut kein Scherz.« Zamorra blieb stehen. »Wir haben ja gewusst, dass es unter dem Château noch jede Menge Geheimgänge und Gewölbe gibt, die wir bisher noch nicht mal entdeckt geschweige denn erforscht haben. Leonardo hat sie damals anlegen lassen, was weiß ich, warum. Und wir haben immer spekuliert, dass sich dort unten noch so manches Geheimnis verbergen könnte. Nun sind wir tatsächlich auf eines gestoßen. Dieses schwarze Herz, es ist … unheimlich. Ungeheuer mächtig. So was hab ich noch niemals zuvor gespürt.« Er wandte sich an Fooly. »Kleiner, es tut mir Leid, ich muss nochmals Abbitte bei dir leisten. Du hast es viel eher als wir gespürt. Und auch diese unheimliche Macht, die es hat.« Fooly nickte. »Ihr Menschen solltet den Drachen wirklich mehr vertrauen.« Nicole nickte. »Das werden wir von jetzt an sicher tun, Kleiner.« »Das habt ihr schon öfters gesagt. Und beim nächsten Mal war es wieder das Gleiche.« Zamorra lächelte. »Wir versuchen uns zu bessern. Versprochen. Mann, mir wird himmelangst, wenn ich daran denke, dass wir die-
ses … Höllending direkt unter dem Hintern haben. Es wischt Symbole des M-Schirms weg. Einfach so. Und Merlins Stern greift es nicht an. Wieder mal. Also müssen wir dem Herzen anders zu Leibe rücken. Vielleicht mit dem Blaster oder dem Dhyarra, keine Ahnung. Probieren wir's aus.« »Sie beliebten zu erzählen, dass zudem vier geisterhafte Wesen aufgetaucht sind, die Sie vertrieben haben, Monsieur le professeur«, meldete sich nun William zu Wort. »Haben Sie eine Ahnung, was es damit auf sich hat?« »Ich beliebe nicht die geringste Ahnung zu haben. Aber auch die Macht dieser Geister war groß. Was in Dreiteufelsnamen geht da unten vor? Warum hat dieses schwarze Herz urplötzlich einen Ruf ausgesandt? Wie's aussieht, nach einem Menschen? Es ist doch sicher nicht erst seit gestern da unten. Warum gerade jetzt? Hm. Als ich unten war, ist es aus dem sterbenden Deutschen herausgekommen. Hat das Herz Krauß auf dem Gewissen? Und warum war es zuerst eine Art Nebel?« »Ich weiß es nicht. Aber diese Geisterwesen, sie haben dich vertrieben, weil sie den Zugang zum Gewölbe wieder schließen werden«, flüsterte Fooly plötzlich. »Was?« Aller Augen richteten sich auf den kleinen Drachen. Er warf sich ein wenig in die Brust. »Ja, wisst ihr, als dieses schwarze Herz den Chef angegriffen hat, da wurden tatsächlich mächtige Energien frei, viel stärker als zuvor. Ich habe Hass gespürt und Sehnsucht und Angst und viele Eindrücke gehabt. So Bilder.« Nicole erhob sich und ging neben Fooly in die Knie. Sie streichelte seinen Kopf. »Ich sehe, dass dir das nahe geht, Kleiner«, sagte sie leise. »Könntest du uns trotzdem so gut wie möglich beschreiben, was du gesehen hast?« »Nicht wirklich gesehen. Nur so komische Eindrücke, wie gesagt. Menschen, die durcheinander durch gehen habe ich da gesehen. Und ein Schloss an einem Wasserfall. Und eine Gestalt, die einer anderen das Herz herausgerissen hat. Und solche Sachen eben.« »Fooly, was sind ›solche Sachen‹? Hast du's etwas genauer? Wir sind vielleicht auf jedes kleine Detail angewiesen.«
»Weiß ich doch, Mademoiselle Nicole. Aber es ist so schwierig. Vieles ist verschwommen, nur einige Eindrücke waren klar.« »Gut, Kleiner, kein Problem«, sagte Zamorra. »Was meintest du damit, dass diese Geister das Gewölbe wieder dicht machen? Wer sind die überhaupt?« »Das weiß ich nicht, Chef. Aber sie schließen es wieder, ganz sicher, und wollten nicht, dass du drin bleibst.« »Hm, ich vertraue dir, Kleiner. Das heißt, wir müssen uns beeilen, wenn wir nochmals da rein wollen. Verschieben wir also diese traute Runde auf einen späteren Zeitpunkt. Nici, sollen wir?« »Aber immer, Chéri. Allzeit bereit. Wartest du kurz? Ich werfe mich nur in meine Kampfmontur und bringe die Waffen mit.« Kurze Zeit später stand Nicole in ihrem schwarzen Lederanzug da, den Blaster an der Magnetplatte und den Dhyarra in der Tasche. »Hepp«, sagte sie und warf Zamorra ebenfalls einen Blaster zu. Der fing ihn geschickt auf. Die beiden Dämonenjäger enterten Nicoles weißes Cadillac-Cabrio und fuhren die Serpentinen hinunter. Nicole bremste dort, wo schon André Bayard gehalten hatte. Zamorra stieg aus und lehnte sich auf die offene Tür. »Fooly hatte Recht«, sagte er leise und starrte mit zusammen gekniffenen Augen zur Felswand hinüber. »Massiver Stein. Die alte Tür ist wieder verschwunden. Die haben den Zugang tatsächlich wieder abgeschottet. Was sind diese Geister? Wächter? Ist ihnen vielleicht irgendwas schief gegangen, das sie jetzt wieder repariert haben?« Sie gingen über die Wiese hinüber zur Felswand. Nicole klopfte an dem Gestein herum. »Und du bist wirklich sicher, dass es hier war?« »Todsicher.« Zamorra versuchte, den Felsen mit Merlins Stern auszuloten. Vergeblich. Dahinter schien nichts als massiver Stein zu sein. »Dann wollen wir's mal mit unserem Sternensteinchen versuchen.« Nicole nahm ihren Dhyarra achter Ordnung und konzentrierte sich darauf. Der blaue Stein, der seine Energie aus Weltraumtiefen bezog, brauchte exakte bildhafte Vorstellungen, wenn er etwas bewirken sollte. Das war nicht ganz einfach. Nicoles schuf die Szenerie vor ihrem geistigen Auge, die sie haben
wollte: Blaue Energie aus dem Sternenstein durchfloss den Berg und machte ihn durchsichtig. Sie löste es, indem sie sich vorstellte, dass die Umgebung durch die angedeuteten Konturen des Berges zu sehen war. Tatsächlich leuchtete der Felsen vor ihr plötzlich in sanftem Blau. Und wurde durchsichtig! Wie ein Geisterbild schimmerte er in der Landschaft und gab den Blick auf die Umgebung frei. Nicole brach ab. »Großer Bockmist«, murmelte sie verärgert. »Es ist doch immer das Gleiche. Der blöde Stein kapiert nicht, dass er den Berg durchleuchten soll. Er hat nur exakt das gezeigt, was ich mir vorgestellt habe.« »Dann stell dir doch den durchleuchteten Berg mit Tür und Gang drin vor.« Nicole grinste wölfisch. »Natürlich, du Hirni. Dann zeigt er mir wieder genau das, was ich sehen will. Nein, ich muss es radikaler machen. Pass auf.« Sie stellte sich vor, dass die blaue Energie den vorderen Teil des Felsens auflöste. So weit, bis das alte Holztor zum Vorschein kam. Grelles blaues Leuchten überzog gleich darauf den Felsen, begann tatsächlich, ihn aufzulösen. Doch dann mischte sich plötzlich gelbes Licht in das Blau! Niemand sah, wo es herkam. Es breitete sich aus, neutralisierte die blauen Energien – und explodierte als Rückkopplung in Nicoles Geist! Plötzlich war da nur noch blendende Helle, greller als die Sonne. Nicole schrie auf. Und brach zusammen. Der Dhyarra rollte aus ihrer Hand. »Nici!« Zamorra ging erschrocken neben ihr auf die Knie und tätschelte ihre Wange. »Schon gut«, stöhnte sie. »Hau mich nicht, es geht schon wieder.« Sie richtete sich auf und klopfte sich den Dreck vom Anzug. »So ungefähr muss man sich fühlen, wenn man im Zentrum einer Atomexplosion steht. Nur, dass ich hier nicht gefährdet war. Ich glaube, das war eine Warnung, dass wir schön die Finger davon lassen sollen.« »Die vier Geister?« »Keine Ahnung. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß.«
Zurück im Château versuchte Zamorra, anhand der Lagepläne den ungefähren Ort des geheimnisvollen Gewölbes zu bestimmen. Dann begab er sich in die Unterwelt Château Montagnes und versuchte, zu diesem Ort vorzudringen. Er schaffte es nicht. Schon weit vorher stieß er auf massiven Felsen. »Schachmatt«, sagte er zu Nicole. »Aber irgendwas müssen wir tun. Wir können dieses gefährliche Ding nicht einfach da unten lassen, auch wenn es den Herren Geistern nicht passt. Denn das könnte uns irgendwann den Kopf kosten. Hast du vielleicht eine Idee?« »Klar, Nicole muss es mal wieder richten«, erwiderte sie lächelnd. »Vielleicht sollten wir nochmals auf Foolys Visionen eingehen. Irgendeinen Sinn werden die schon gehabt haben.« »Ja, klar, das ist keine gute, das ist eine brillante Idee. Jetzt weiß ich wieder, warum ich dir allmonatlich ein derart horrendes Sekretärinnengehalt zahle. Du bist jeden Cent wert.« »Schön, dass du's endlich einsiehst. Mehr als dreißig Jahre hat's gedauert. Typisch Mann. Aber besser spät als nie.« Sie stöberten den kleinen Drachen bei William auf, der »Mister McFool« einst entdeckt und adoptiert hatte. »Patricia ist so gemein«, beschwerte sich Fooly leise, als William gerade nicht hin hörte. »Rhett darf zwei Wochen nicht mit mir spielen, weil sie glaubt, ich hätte ihm diese Hefte aufgeschwatzt. Aber der war ganz scharf drauf. Ich musste ihn sogar dran hindern, gleich alle mitzunehmen.« »Daran hast du gut getan«, kicherte Nicole. »Allzu viel ist nämlich ungesund. Aber wir wollten noch einmal wissen, was es zum Beispiel mit diesem Schloss auf sich hat, das du in diesen Visionen gesehen hast. Kennst du es vielleicht?« »Nein. Aber da war direkt daneben ein großer Wasserfall, wie gesagt.« »Hm, könntest du mir einen Gefallen tun, Kleiner? Versuch doch mal, das Schloss oder die Burg oder was auch immer zu malen. Ginge das?« »Ja, warum nicht, Mademoiselle Nicole. Ich bin ein guter Maler.
Ein wahrer Zeichenkünstler.« »Na denn.« Fooly warf sich in die Brust. »William, bringe er mir einen Bleistift und ein Blatt Zeichenpapier.« Der Butler spielte das Spielchen mit, ohne böse zu sein. Foolys Zeichenversuche begannen ziemlich krakelig. Auf dem vierten Blatt brachte er schließlich ein ganz passables Gemälde zusammen. »Dürer ist es ja nicht gerade, aber mir gefällt diese Zeichnung noch viel besser als jeder alte Meister«, sagte Nicole. »Ich hab's geahnt. Das ist Schloss Laufen am Rheinfall bei Schaffhausen.« Fooly strahlte. Zamorra ging ins Internet, um mehr über Schloss Laufen herauszufinden, während Nicole die bisher digitalisierte Bibliothek durchforstete. »Wow«, sagte Zamorra plötzlich. »Was wow.« »Schau mal, Nici, ich hab hier einige brandaktuelle Artikel in Schweizer Online-Zeitungen gefunden. Blick, Tagesanzeiger, Neue Zürcher Zeitung, Fegl Ufficial. Sie alle berichten von einem unheimlichen Vorfall beim Rheinfall. Hat sich vor, hm …« Er blickte auf die Uhr, »… etwa drei Stunden abgespielt.« »Lass mal sehen.« Nicole trat hinter ihren Lebenspartner, der nur noch pro forma ihr Chef war. »Hm. Eine Frau, die aus dem Wasser aufgetaucht ist und einer Touristin das Herz herausgerissen hat? Der Tagesanzeiger schreibt herausgeschnitten, die anderen herausgerissen. Und ein Zeuge hat gehört, wie sie sagte, sie suche ihr Herz, aber das sei es nicht und deshalb müsse sie weitersuchen. Aber in den psychiatrischen Zentren der Gegend ist anscheinend keine Patientin abgängig. Hm. Das ist passiert, als es hier im Château auch abgegangen ist. Und dass beide Ereignisse irgendwie in Verbindung stehen, dürfte wohl auch klar sein. Sag mal, Chéri, hast du schon die Flüge nach Zürich gebucht? Ich habe das drängende Gefühl, wir sollten unbedingt an den Rheinfall. Dort ist es wunderschön, ich war früher schon mal da.« »Herzallerliebst. Also gut, hier können wir momentan ohnehin wenig tun. Wenn's vorne nicht reingeht, kommen wir eben durch
die Hintertür. Aber wir fahren.«
Zamorra und Nicole erreichten Schaffhausen nach Einbruch der Dunkelheit. Sie stiegen im »Sorell Hotel Rueden« in der Oberstadt ab. Das prunkvolle Zunfthaus zum Rüden aus dem 14. Jahrhundert gefiel ihnen sofort. Nachdem sie ihr Zimmer bezogen hatten, schalteten sie die Nachrichten ein und schauten sich die neuesten Berichte in den Online-Zeitungen an. Fast alle europäischen Zeitungen berichteten in der Zwischenzeit über den Vorfall. Angeblich hatten Touristen die irre Mörderin, wie sie in einigen Publikationen durchgängig genannt wurde, noch drei Mal auf dem Felsen unterhalb Schloss Laufens gesehen. Die Kriminalpolizei Schaffhausen hatte die Sonderkommission »Herz« gebildet und arbeitete mit Hochdruck an dem Fall. Zumal befürchtet werden musste, dass die Mörderin erneut zuschlug. Angeblich sollte sie in einem altertümlichen Deutsch gesagt haben, dass sie weiter nach ihrem Herzen suchen müsse. Die englische »Sun« meldete brandaktuell, dass es sich bei der Amerikanerin um eine der »Oberpriesterinnen« der »Hexenkirche von Wicca« gehandelt habe, mit Ambitionen, den Wicca-Kult mehr dem Satanischen zu öffnen. Das habe ihr viele Feinde innerhalb der eigenen Reihen eingebracht. Die »Sun« spekulierte, ob es sich vielleicht um einen ganz gezielten Mord handle und keineswegs nur um einen Zufall. Eine deutsche Boulevardzeitung hatte es geschafft, ein Interview mit einem der Männer zu bekommen, die zur Zeit des Mordes an Bord gewesen waren. Es war als O-Ton-Video im Netz eingestellt. Reporter hatten den Augenzeugen vor dem Kantonsspital Schaffhausen abgepasst. Der Mann, dessen Namen nicht genannt wurde, machte einen sympathischen, wenn auch aufgeregten Eindruck. Er war Deutscher und berichtete in knappen Sätzen, was passiert war. Und er sprach davon, dass seine Frau, die das ebenfalls mit ansehen musste, einen schweren Schock erlitten habe und deswegen behandelt werde. Es gehe ihr aber den Umständen entsprechend gut. »Wie gehen wir vor?«, fragte Nicole. »Uns bei der Schaffhauser Polizei vorzustellen, dürfte ziemlich sinnlos sein, so wie meistens
eben. Da Fooly in seinen Visionen Schloss Laufen gesehen hat und die Mörderin auch dort gesichtet wurde, sollten wir uns in dieser Ecke dringend mal umsehen. Am besten noch in dieser Nacht.« »Einverstanden. Aber lass uns zuerst noch duschen und in einem Restaurant eine Kleinigkeit essen. Gestärkt auf Dämonenjagd zu gehen ist immer der bessere Weg.« Sie ließen Wasser an ihre Haut, zogen sich um und gingen dann nach unten. Beide trugen Jeans und dunkle Lederjacken; Nicole hatte sich für eine Schwarzhaar-Perücke mit Mireille-Matthieu-Pony entschieden. In der Hotellobby kam ihnen ein mittelgroßer, schmächtiger Mann mit gesenktem Kopf entgegen. Er trug eine braune Baseballkappe, wich ihnen aus, ging schnell an ihnen vorbei und nahm statt des Aufzugs die Treppe. Nicole sah dem Mann hinterher. »Da soll mich doch gleich die Panzerhornschrexe holen«, flüsterte sie Zamorra zu. »Hast du den erkannt?« »Nein.« »Das ist der Mordzeuge von dem Video. Ich denke, mit dem sollten wir uns ebenfalls mal unterhalten.« »Also gut, komm.« Sie drehten um und nahmen ebenfalls die Treppe, jeweils drei Stufen auf einmal. Und sie erreichten den Mann, als er gerade die Zimmerflucht im ersten Stock betrat. »Entschuldigen Sie bitte«, sprach Nicole ihn an. »Dürften wir einen Moment mit Ihnen reden?« Er drehte sich um. Müde Augen starrten die Dämonenjäger durch die Gläser einer schmalen, modischen Brille an. Jetzt schlich sich jedoch Zorn hinein. »Was wollen Sie? Sie sind Reporter, nicht wahr? Aber ich gebe keine Interviews mehr. Da haben mich Ihre Kollegen in der Aufregung eiskalt erwischt und jetzt kann ich keinen Schritt mehr tun, ohne angesprochen zu werden. Anscheinend hat jeder Einzelne bereits dieses Video gesehen. Vergessen Sie's also.« Nicole ließ ihren Charme spielen. Sie lächelte ihn an. »Tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber wir sind keine Reporter, keine Journalisten, nichts in dieser Richtung. Das ist Herr Zamorra, ich bin Nicole Duval. Wir gehören einer internationalen Einsatztruppe an, die sich auf Fälle mit mysteriösem Hintergrund spezialisiert hat.
Deswegen sind wir hier. Wir glauben nämlich, dass bei diesem Mord nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.« Zamorra kramte seinen Sonderausweis des britischen Innenministeriums vor und hielt ihn dem Mann unter die Nase. Er besah ihn sich genauestens. Dann starrte er die beiden Franzosen an. »Sie sind Briten?« »Nein, Franzosen«, erklärte Nicole. »Aber wir haben schon für fast alle Regierungen dieser Welt gearbeitet, auch für Ihre. Übrigens, wie dürfen wir Sie denn ansprechen?« »Dittert. Mein Name ist Christoph Dittert.« Er schüttelte den Kopf und musterte seine Gegenüber noch einmal von Kopf bis Fuß. »Wahnsinn, Sonderagenten fürs Übersinnliche. So was kommt höchstens in meinen Romanen vor, dachte ich bisher. Und jetzt stehe ich selber welchen gegenüber.« »Was denn, Sie schreiben Romane?« »Tue ich, ja.« Dittert nahm die Baseballmütze ab und kratzte sich an der hohen Stirn. »Also, kommen Sie mit in mein Zimmer, Frau Duval, Herr Zamorra. Es ist mir geradezu ein Bedürfnis, mit Ihnen zu reden.« Er ging voraus. Gleich darauf saßen sie in seinem Zimmer und hatten Rotwein aus der Zimmerbar vor sich stehen. »Ich bin eigentlich nur noch hier, weil meine Frau im Krankenhaus liegt«, sagte der Schriftsteller. »Schwerer Schock, das dauert wahrscheinlich ein paar Tage. Da hab ich mir hier ein Hotelzimmer genommen, um in ihrer Nähe zu sein. Wissen Sie, ich hätte so lange auch bei meinem Bekannten, auch ein Schriftsteller, am Bodensee wohnen können, aber hier bin ich einfach näher bei Rahel. Aber das ist unwichtig für Sie. Sie ermitteln also, weil Sie glauben, dass es einen übersinnlichen Hintergrund gibt?« »Es scheint uns so, Herr Dittert«, sagte Zamorra. »Und ich hoffe, dass Sie uns da entscheidend weiterhelfen können. Den Medienberichten zufolge hat die Frau, die aus dem Wasser aufgetaucht ist, der Amerikanerin einfach in den Brustkorb gefasst und das Herz hervorgeholt. Haben Sie so was schon mal versucht, Herr Dittert?« Nicole lächelte. »Natürlich nicht. Es würde Ihnen auch gar nicht gelingen. Keinem normalen Menschen gelingt so was. Aber Dämo-
nen zum Beispiel, die können das.« »Dämonen, ja …« Dittert spürte es eiskalt den Rücken hinunter laufen. »Ich hab auch schon dran gedacht, aber es irgendwie verdrängt. Ja, es war genau so. Die Frau hat so richtig bösartig und unheimlich ausgesehen und einfach so in den Brustkorb von der Amerikanerin reingefasst und das Herz raus gezogen. Und dann hat sie in einer Art mittel- oder sogar althochdeutschem Dialekt geredet. ›Ich suche mein Herz, hast du es vielleicht?‹, hat sie gesagt. Ja, oder ganz ähnlich. Wissen Sie, ich hab alles gehört, denn ich war der, der im Boot sitzen geblieben ist.« »Sie verstehen Mittel- und Althochdeutsch, Herr Dittert?« »Ja, Frau Duval. Ich habe meine Doktorarbeit über Gesangbuchforschung gemacht, Lutherzeit bis heute, auch wenn sie nie ganz fertig geworden ist. Und Germanistik studiert. Da ist das Eine oder Andere hängen geblieben.« »Respekt, das ist sicher eine hoch interessante Materie.« Dittert lächelte verlegen. »Wem's Spaß macht.« »Sagen Sie«, mischte sich nun wieder Zamorra ein, »haben Sie während des Mordes vielleicht eine schwarze Wolke bemerkt?« »Wo, am Himmel?« »Nein, ich meine, um die seltsame Frau herum.« Christoph Dittert schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Aber ich kann meinen Kollegen anrufen. Alfred und Eva sind von der Schaffhauser Polizei bereits vernommen worden und auf dem Weg nach Hause.« Er rief an und schüttelte dann den Kopf. »Negativ, da war nichts. Jedenfalls nicht, als wir noch im Boot gesessen sind. Das könnte nur passiert sein, als wir im Wasser waren.« Sie redeten noch eine kleine Weile. »Was werden Sie nun tun?«, wollte Dittert wissen. »Wir fahren zum Rheinfall und sehen uns dort um. Vielleicht geistert diese Frau ja nachts dort umher. Möglich, dass wir auf sie treffen.« »Sehr gut. Ich bin selbstverständlich dabei.« Dittert stand auf und schlüpfte in die Jacke, die sie wie die andere trockene Kleidung auch aus dem Fundus des Krankenhauses erhalten hatten. »Na, was ist? Worauf warten wir noch?«
Zamorra und Nicole sahen sich mit offenen Mündern an.
Sie fuhren die paar Kilometer zum Rheinfall und stellten das Cabrio auf »Zürcher Seite« ab, wie es hier hieß. Denn Schloss Laufen und Zürich lagen auf derselben Seite des Rheins. Zamorra und Nicole hatten den Schriftsteller mitgenommen, um sich für dessen Auskünfte und Freundlichkeit zu revanchieren. Das war kein großes Risiko, denn sie erwarteten nicht wirklich »Feindberührung«. Dittert würde also kaum in Gefahr kommen. Überall war Polizei. Streifenwagen und schwer bewaffnete Uniformierte standen herum, hatten das komplette Rheinfallareal abgeriegelt. So lange sich die Mörderin noch auf freiem Fuß befand, durfte sich kein Tourist auf dem Felsen aufhalten. In der Luft kreiste ein Hubschrauber und streifte den Felsen unterhalb des Schlosses immer wieder mit Suchscheinwerfern ab. Das Restaurant im Schloss Laufen durfte allerdings weiterhin geöffnet bleiben. Im Hof patrouillierten zwei Polizeistreifen. Vor dem Eingang zum Schloss blieben sie stehen. »Was werden Sie nun unternehmen?«, fragte Dittert gespannt. »Mit Ihrem Sonderausweis auf den Felsen gehen?« »So ähnlich«, sagte Nicole. »Wir haben da so ein paar Tricks, die wir Ihnen vielleicht demnächst mal verraten. Herr Zamorra macht das jetzt alleine, während wir uns hier im Restaurant noch eine Kleinigkeit zu Essen genehmigen. Ich hab mächtig Hunger und lade Sie ein, Herr Dittert. Dann können Sie mich ein bisschen ausquetschen, wenn Sie wollen.« »Nichts lieber als das, Frau Duval, auch wenn es sicher ganz interessant wäre, Herrn Zamorra bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Aber ich seh's ja ein, dass Spezialeinheiten nicht gerne ihre Tricks verraten. Viel Glück, Herr Zamorra.«
Die junge Frau mit den weißblonden Haaren und dem ärmlichen Leinenkleid geisterte barfuss durch längst vergessene Gewölbe des Schlosses Laufen. Sie roch nach Moder und Verwesung, viel stärker
noch als die uralten Gemäuer, an denen das Wasser in kleinen Rinnsalen herab lief. Die Ratten und Spinnen wichen ihr aus, wenn sie ihr Kommen spürten, flüchteten voller Angst an sichere Plätze. Ich muss mein Herz wieder finden, hämmerte es unablässig in den Gedanken der Frau, die deswegen zur Mörderin geworden war. Es machte ihr nichts aus, sie würde es wieder tun. Doch momentan musste sie vorsichtig sein. Die Menschen draußen suchten nach ihr. Mit Hunden und einem mächtigen fliegenden Drachen, der laut brüllte und immer wieder sein Feuerauge über den Felsen streifen ließ. Doch der Drache war zu langsam, sie konnte ihm problemlos ausweichen. Trotzdem hatte sie sich zuerst einmal in die Gewölbe zurückgezogen. Nach ihrem Erwachen heute Morgen war die Frau zurück an die Oberfläche gestiegen und unerkannt zwischen all den Menschen gewandelt. Es waren andere Menschen, als die, die sie kannte. Eleganter, hoch gewachsener, reicher. Auch Burg Laufen sah völlig anders aus als zu ihrer Zeit, größer, mit viel mehr Gebäuden. Und die mächtige Stadt am anderen Ufer, in der sich zahlreiche pferdelose Kutschen bewegten, hatte ihr am Anfang Angst eingeflößt. Nur die Wasser des Rheinfalls donnerten wie ehedem in die Tiefe. Auf dem Burgfelsen stiegen sehr viele Menschen umher. Der jetzige Freiherr musste ihn für alle Menschen geöffnet haben, denn er war nicht mehr umzäunt und jeder, der wollte, konnte in ihn einsteigen. Hinter Bäumen versteckt hatte sie die Menschen beobachtet, wie sie unbeschwert und fröhlich auf die Bauwerke stiegen, die weit in den Fall hinein ragten und Spaß daran fanden, die Wasser unter sich hindurchrauschen zu lassen. An einer Stelle näherte man sich dem Fall so weit an, dass man nicht mehr als vier oder fünf Handbreit von ihm entfernt war und in ihn hinein fassen konnte. Sie hoffte, dass einer dieser zahlreichen Menschen derjenige war, der ihr Herz gestohlen hatte. Wenn sie ihm begegnete, würde sie es zurück fordern! Aber bei keinem hatte sie es gespürt. Bis sie an diese seltsame, dicke Frau geraten war, die sich wie eine Schlossherrin geschminkt hatte! Sie hatte das Dunkle, die schwarze Kraft in ihr sofort gespürt und war in große Erregung verfallen. Das musste sie sein, der ihr Herz gegeben worden war. Doch nun war es
an der Zeit, es wieder zurück zu holen! Auch wenn die Menschen dieser Zeit seltsam sprachen, konnte die Weißblonde doch jedes Wort verstehen. Sie hörte, dass die Frau mit ihrem Herzen und deren Gefährtin in einem Boot hinüber zur Burg Wörth fahren und beide mit dem Boot wieder zurückkommen würden. Gut so. Wenn sie sich ihr Herz zurückholte, konnte sie das auf dem Kahn tun, wo nicht so viele Menschen Zeugen wurden wie auf dem Felsen. Denn sie stufte die Menschen als gefährlich ein. Sie besaßen allesamt das Gehabe von Herren. Demut und Unterwürfigkeit zeigte keiner von ihnen. Man musste sich deswegen vor ihnen in Acht nehmen! Die Weißblonde hatte sich also das Herz der Anderen mit der dunklen Ausstrahlung geholt und war noch immer furchtbar enttäuscht, dass es sich um ein ganz normales menschliches Herz gehandelt hatte, das mit der schwarzen Kraft in diesem Körper in keinerlei Zusammenhang stand. Also suchte sie weiter. Durch eine geheime, verborgene Tür im Felsen, die von einem mächtigen Baum getarnt wurde, stieg sie wieder ins Freie. Die Nacht war nun endgültig herein gebrochen und die Welt um sie herum wurde nun in ein wunderbares Licht getaucht, viel schöner noch als bei Einbruch der Dämmerung, wo sie sich zurückgezogen hatte. Überall an den Ufern glitzerten nun Lichter, rot, grün, blau, aber vor allem gelb, so als seien Hunderte von Sternen vom Himmel gefallen. Und auch in der Stadt über dem Fall und anderswo. Im allerschönsten Licht aber erstrahlte der Fall selbst. In hellblaues und violettes Licht getaucht wirkte er wie Berge aus Schnee und Eis, wie eine verwunschene Stelle im Zauberland. Sie erwartete jeden Moment ein Einhorn auf dem höchsten Kamm des Falls auftauchen zu sehen, das ungeduldig schnaubend mit den Hufen scharrte und stolz sein Horn ins Mondlicht reckte. Die Frau aus der Vergangenheit ließ den Lichterglanz eine Weile auf sich wirken. Ein Brummen über ihr kündigte den Drachen an. Und da war er auch schon! Erneut ließ er sein Feuerauge über den Felsen schweifen. Dieses Mal kam ihr das Auge gefährlich nah. Doch sie drehte sich im letzten Moment hinter einen Baum. Sie streifte nun wieder kreuz und quer über den Felsen. Nicht
einen Menschen traf sie noch hier. Dabei musste sie doch ihr Herz suchen! Also stieg sie hoch zur Schänke, in der noch die Lichter brannten und wo zahlreiche seltsam gekleidete Menschen beim Mahl saßen. Sie konnte nur einen kurzen Blick riskieren, da zwei Soldaten der Stadtgarde in grauer Uniform um die Ecke kamen. Wie viel schöner waren doch die Gardistengewänder ihrer Zeit gewesen! Die Weißblonde huschte über den Burghof, versteckte sich hinter Mauervorsprüngen. Wie sauber und aufgeräumt die Burg heute doch wirkte, ganz anders als seinerzeit, wo sie schmutzig und der Burghof meistens mit großen Wasserpfützen bedeckt gewesen war. Am Eingang zur Burg – auch er lag ganz anders als zu ihrer Zeit – erschienen drei Menschen. Zwei Männer und eine Frau. Die Weißblonde versteifte. Sie spürte plötzlich unglaubliche Erregung. Kein Zweifel, er war es. Sie würde diese Ausstrahlung auch in tausend Jahren wieder erkennen, unter einer Million Menschen heraus, auch wenn es niemals so viele auf der Erde geben würde. Der Mann, der ihr Herz gestohlen hatte, war gekommen!
Zamorra war dankbar, dass sich Nicole den Schriftsteller schnappte und ihm somit den Rücken frei hielt. Er stieg hinunter zur Bahnstation »Laufen am Rheinfall«, die sich unterhalb des Schlosses befand. Soeben hielt ein Zug der Linie S 33, ein paar Menschen stiegen in die beleuchteten Waggons, nur einer stieg aus, misstrauisch beäugt von den drei schwer bewaffneten Polizisten in Kampfanzügen. Während er an ihm vorbei zum Schloss hoch stieg, unbelästigt von der Ordnungsmacht, atmete Zamorra tief durch. Ein eventueller Beobachter, den es momentan nicht gab, hätte ihn von einem Moment zum anderen verschwinden sehen. Einfach so! Denn der Meister des Übersinnlichen wendete den Trick an, den er vor langer Zeit von einem tibetischen Mönch gelernt hatte. Er konzentrierte sich darauf, dass seine Aura die Grenzen seiner körperlichen Abmessungen nicht mehr überschritt. Somit konnte er von seinen Mitmenschen nicht mehr wahrgenommen werden, er war unsichtbar! Zamorra ging auf den von trübem gelbem Licht beschienenen
Bahnsteig, direkt an den Polizisten vorbei. Sie plauderten weiter, bemerkten ihn nicht. Fußball war das Thema. Kritisch wurde es, als an der Treppe, die direkt auf den Felsen führte, ebenfalls ein Polizist stand. Und zwar so breit, dass sich der Professor unmöglich an ihm vorbei drücken konnte. Eine Berührung durfte er nicht riskieren, sonst flog seine Tarnung sofort auf. Also suchte er sich eine dunkle Ecke, nahm einen großen Stein und warf ihn einige Meter von dem Ordnungshüter entfernt ins Gebüsch. Es knackte laut. Die Männer fuhren herum, rissen ihre Gewehre hoch. Auch der von der Treppe kam gelaufen. »Ist da wer?«, brüllte einer. »Sofort mit erhobenen Händen herauskommen!« Während sie mit Taschenlampen ins Gebüsch leuchteten, huschte Zamorra auf den Felsen. Merlins Stern hing unter dem Hemd, mit direktem Hautkontakt, am Gürtel haftete der Blaster. In erster Linie wollte der Professor erkunden, ob das Amulett durch Erwärmung dämonische Aktivitäten anzeigte. Er behielt seine Unsichtbarkeit vorerst bei. Über steile Treppen und festgetretene Pfade stieg er hinunter zu den Aussichtsplattformen. Das Mondlicht, das von einem klaren Himmel durch die Bäume schien, half ihm dabei. Merlins Stern blieb kühl, erwärmte sich nicht ein bisschen. Zamorra durchschritt den ovalen, schräg abwärts führenden Tunnel und trat auf die Aussichtsplattform Känzeli. Die Betonplattform ragte wie eine Zunge frei schwebend ein ganzes Stück in den Fall hinein. Der Meister des Übersinnlichen trat ans Geländer und bewunderte für einige Momente die fast mystisch beleuchteten Wassermassen. »Ihr könnt mich nicht täuschen«, klang eine Stimme hinter ihm auf. »Ich sehe Euch genau.« Zamorra fuhr herum. Vor ihm stand die Weißblonde. Die Mörderin. Eine schöne, junge Frau. Und Merlins Stern tat keinen Mucks! »Wer bist du und was willst du?«, fragte der Professor ruhig. »Was ich will? Mein Herz natürlich.« »Jetzt beruhige dich erst mal. Wie heißt du überhaupt?«
»Mein Name ist Anna. Aber das wisst Ihr genau.« »Woher denn?« »Weil Ihr mir mein Herz gestohlen habt, de Montagne. Und nun werde ich Euch zwingen, es mir wiederzugeben.« Sie trat zwei Schritte nach vorne. Es wirkte bedrohlich. »Was denn, ich? Das wüsste ich aber. Ich habe dir dein Herz nicht gestohlen«, erwiderte Zamorra erstaunt. »Ich kenne dich tatsächlich nicht, ich habe dich noch nie zuvor gesehen. Woher kennst du meinen Namen?« »Ihr lügt. Und ich durchschaue Eure Lüge mit Leichtigkeit. Es ist Eure Ausstrahlung, die Euch verrät. Ich erkenne sie wieder. Außerdem habt Ihr Euch durch Euren Namen verraten. Und nun gebt mir endlich mein Herz zurück. Oder ich töte Euch.« »Ich sagte doch schon, dass ich es nicht habe, Anna. Vielleicht kann ich dir aber helfen, wenn du mir verrätst, wie du es verloren hast.« »Wie ich es verloren habe? Was soll diese Gaukelei? Wollt Ihr mich für dumm verkaufen, Montagne? Ihr wollt mir helfen? Ich soll Euch vertrauen? Niemals!« Mit einem schrillen Schrei griff Anna an. Blitzschnell war sie da. Doch Zamorra hatte so etwas kommen sehen. Er drehte sich geschmeidig. Die ausgestreckte Hand fuhr knapp an seinem Oberkörper vorbei. Er stieß der Angreiferin, die fast unerträglich nach Moder stank, die Faust in den Rücken. Anna taumelte nach vorne, knallte gegen das hüfthohe Geländer, kippte darüber – und verschwand mit einem Schrei in dem violett brodelnden Chaos! Zamorra zog den Blaster vom Gürtel. »Das ging aber einfach«, murmelte er und beugte sich über die Brüstung. Er starrte in die donnernden, gischtenden Wassermassen, die Energiewaffe schussbereit. Flussaufwärts, wo Zamorra nicht hinschaute, schoss Anna wie eine Rakete senkrecht aus dem Wasserfall heraus. Fünf Meter hoch flog sie durch die Luft und landete auf einem Felsvorsprung. Von dort sprang sie Zamorra ins Kreuz. Der Meister des Übersinnlichen ahnte etwas. Er drehte sich. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen, fast wie ein fliegender Hund, fiel
Anna ihm entgegen. Im violetten Licht des Falls leuchtete ihr verzerrtes Gesicht dämonisch. Zamorra schoss aus der Hüfte. Ein Fauchen ertönte, als sich ein blassroter, nadelfeiner Laserstrahl vom Mündungsdorn löste. Haarscharf zischte er an der Angreiferin vorbei. Schon prallte sie gegen den Professor, riss ihn zu Boden. Zamorra knallte auf den Beton. Ein scharfer Schmerz fuhr durch seinen Hinterkopf, während der Blaster davon schlidderte. Der Professor spürte, wie ihm die Sinne schwanden, er sah rote Sonnen vor seinen Augen explodieren. Ich muss wach bleiben, wach, wach …! Und er schaffte es dank seines eisernen, trainierten Willens. Anna schrie. Sie quetschte sich auf Zamorras Brustkorb, setzte ihre Faust an, ließ sie einfach eindringen. Dort drinnen befand sich ihr Herz. Sie spürte es nun ganz deutlich. Gleich, gleich hatte sie es wieder! Ihre Fingerspitze befand sich bereits in Zamorras Brustkorb. Er wollte sich wehren, konnte aber nicht. Wieder brüllte er in Gedanken nach Merlins Stern. Und wieder reagierte das Amulett. Der magische Schutzschirm entstand um Zamorra. Sofort zog die Dämonin ihre Hand zurück. »Nein, ich … ich kann dich nicht töten«, flüsterte sie. »Du bist wie ich, du bist eins mit mir. Ich fühle es genau.« Über ihnen flog der Hubschrauber an. Der Suchscheinwerfer richtete sich auf das Känzeli. Eine Lichtflut ergoss sich über die beiden Kämpfenden. Anna ließ ab von Zamorra und sprang erneut in den Fall. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, ertönte eine laute, scheppernde Megaphonstimme. Zamorra war sicher, dass bereits Polizisten den Felsen herunter stürmten. Er erhob sich stöhnend, nahm den Blaster an sich und konzentrierte sich noch ein Mal. Sofort wurde er wieder unsichtbar. Zu spät. Die ersten Polizisten stürmten aus dem Tunnel auf das Känzeli. Sie sahen sich um. »Wo sind die hin?«, brüllte er in sein Sprechfunkgerät. Zamorra sah, dass er nicht an den Männern vorbei kam, ohne eine
Berührung auszulösen. Und weil weitere Polizisten auf die Aussichtsplattform stürzten, sprang er auf das Geländer und kletterte flugs zwei Meter den Mast hoch, an dem die Schweizer Flagge wehte. Mit eisernem Willen klammerte er sich fest. Wenn ich mal als Dämonenjäger ausgedient habe, nehme ich einen neuen Job an – als Ersatzaffe im Tierpark … Vier Minuten musste Zamorra so ausharren, dann zogen die Polizisten wieder ab. Mit brummendem Schädel stieg der Meister des Übersinnlichen hoch zum Schloss. Er konnte es noch immer nicht fassen. Der Schutzschirm, den Merlins Stern gebildet hatte, war nicht grün gewesen, sondern gelb! Etwas, das es nie zuvor gegeben hatte. Zamorra hatte ganz deutlich gespürt, dass die Abwehrenergie schwächer als sonst war. Um die Dämonin zu schützen? Das Ganze wurde immer rätselhafter. Die Worte Annas kamen ihm wieder in den Sinn: Du bist wie ich, du bist eins mit mir. Ich fühle es genau. Was um alles in der Welt meinte sie damit?
Nicole Duval und Christoph Dittert saßen im Restaurant Schloss Laufen und aßen Schweizer Rösti. Während Nicole den wunderschönen ehemaligen Rittersaal mit Kassettendecke und Parkettboden genoss, genoss Dittert die bewundernden Blicke anderer Männer; schließlich hatte er die weitaus schönste und betörendste Frau am Tisch. Nicole erzählte dem Schriftsteller gerade etwas über die Verhältnisse in der Hölle. Sie machte sich einen Spaß daraus, es so darzustellen, dass es wie ein Märchen klang. Trotzdem hing Dittert förmlich an ihren Lippen. »Und dieser Lucifuge Rofocale, dieser Höllenkanzler, hat tatsächlich drei goldene Haare?«, fragte er ungläubig. »Wenn ich's Ihnen sage«, erwiderte Nicole todernst und prostete ihm mit einem Schluck Rotwein zu. »Und auch, dass seine Großmutter ihn ab und zu laust, stimmt. Aber der Rest ist nur Legendenbildung. Niemand kann Lucifuge die goldenen Haare ausreißen, auch seine Großmutter nicht.«
»Sie machen sich über mich lustig«, beschwerte sich Dittert. »Sind Sie sicher, dass ich das verdient habe?« Nicole schenkte ihm einen unschuldigen Augenaufschlag. »Nein, Sie haben Recht, entschuldigen Sie. Es ist nur grade mit mir durchgegangen.« Sie schaute zum Fenster hinaus und sah plötzlich für einen Moment einen dünnen, blassroten Laserstrahl, der sich vom Boden schräg in den Nachthimmel spannte, sich irgendwo verlor und dann erlosch. »Merde«, murmelte Nicole. Zamorra schoss mit dem Blaster! Also ging es dort unten rund. Sie sprang auf. »Entschuldigen Sie mich, Herr Dittert. Ich bin gleich wieder zurück. Halten Sie doch mal hier die Stellung.« Mit raschen Schritten ging die Französin hinaus. Schön ist sie ja, dachte der Schriftsteller. Aber viel zu anstrengend. Es geht doch nichts über meine Rahel. Hoffentlich geht es ihr gut … Fast bedauerte er es, mit Zamorra und Duval hierher gekommen zu sein, weil ihn die Neugier übermannt hatte. Ein wenig sah er es als Verrat an seiner Frau an. Er beruhigte sich damit, dass er heute Nacht ohnehin nicht mehr ins Krankenhaus gekommen wäre. Er aß in Ruhe seine Rösti auf. Diese Duval verarscht mich die ganze Zeit. Aber ich bin sicher, dass die Beiden tatsächlich etwas von der Hölle wissen. Mann, mir wird ganz schlecht, wenn der Teufel tatsächlich existieren sollte. Nie im Leben möchte ich mit dem in Berührung kommen … Christoph Dittert spürte ein unangenehmes Gruseln. Irgendwie hatte er das Gefühl, der Teufel stünde direkt hinter ihm. Es kribbelte in seinem Nacken. Die Blase meldete sich. Der Schriftsteller stand auf und ging zur Toilette. Mann, hier stinkt's ja ekelhaft. Da hat wohl einer tote Ratten gefressen. Warum kommen die größten Stinker nicht auf die Idee, mal den Toilettenspray zu benutzen? Als Christoph Dittert die Hände wusch, spürte er wieder dieses unangenehme Kribbeln im Nacken. Er wollte nicht in den Spiegel schauen. Aus Angst, der Teufel stünde hinter ihm und grinste ihn aus dem Spiegel an.
He, Mann, das ist ja wie im Kindergarten, dachte er bemüht forsch. Reiß dich zusammen. Vor so was hat vielleicht der kleine Silas Angst. Aber ich doch nicht … Silas war sein kleiner Sohn. Vor diesem wollte er nicht als Angsthase dastehen. Nicht mal in Gedanken. Nun sah er doch in den Spiegel. Tapfer, tapfer … Die weißblonde Mörderin starrte ihn daraus an! Tückische Blicke trafen ihn. »N-Nein.« Dittert fuhr herum. Einen winzigen Moment glaubte er an eine Halluzination, ausgelöst durch seine überreizten Sinne. Doch die Weißblonde verschwand nicht. Noch immer stand sie da, starrte ihn mit leicht nach vorne geneigtem Kopf an. Er streckte flehentlich die Hände nach vorne, zitterte plötzlich wie Espenlaub. »B-Bitte, tu mir nichts. Ich h-habe dein Herz nicht. Und ich verpfeif dich auch n-nicht, ehrlich. Ich hab keine Ahnung, was du auf dem Boot gemacht … gemacht hast.« Die Frau knurrte. Sie machte eine Bewegung nach vorne. Der Schriftsteller schrie schrill, kreuzte die Arme vor dem Gesicht. Von unten griff sie an seine Gurgel, drückte kurz zu. Dittert schwanden die Sinne. Er erschlaffte und sank im Griff der Weißblonden zusammen. Anna hob ihn spielend leicht hoch und schob ihn durch das Fenster, das sie als Einstieg benutzt hatte. Dann stieg sie hinterher, schulterte den Bewusstlosen und trug ihn zu einem Nebengebäude, in dem heute alte Werkzeuge und eine Holzkutsche vor sich hin moderten. Doch der Geheimgang in die Katakomben der Burg existierte noch immer. Anna drückte auf einen bestimmten Stein in der Wand. Mit leisem Knirschen schob sich ein Steingeviert unter die Mauer, legte ein großes Loch im Boden frei. Eine steile Holztreppe führte in die Tiefe, mündete in einen breiten Gang aus Bruchsteinquadern. Anna verschloss den Geheimgang und schleppte ihre Last weiter durch Gänge und über steile Treppen. Irgendwann legte sie den bewusstlosen Körper in einem Verlies ab. Anna zündete eine uralte Pechfackel an. Es reichte, dass sie sie berührte. Sie sah zwar auch im Dunkeln, aber sie wollte, dass der
Mann sie sah, wenn er erwachte. Nach einer Stunde war es so weit. Stöhnend kam Christoph Dittert zu sich. Als er seine Situation realisierte, wurde ihm so schlecht, dass er erbrechen musste. Ungerührt sah Anna zu. »Geht's Euch jetzt besser?«, fragte sie. »J-ja. Warum bin ich hier? Warum hast du mich entführt?« Anna hatte noch nie zuvor eine Stimme gehört, die so voller Angst war. »Ihr gehört zu dem Mann mit dem Amulett. Sagt mir, wo ich ihn finden kann.« »Du meinst Herr Zamorra? Ich habe kein Amulett bei ihm … gesehen. Ich …« »Ich weiß nicht, wie er heißt. Der Mann, mit dem Ihr vor der Schänke gestanden seid. Eine Frau begleitete Euch.« »Ja, Zamorra. Er … er wohnt in Schaffhausen im Sorell Hotel Rüden.« »Ah. Was ist ein Hotel?« »Darin kann man übernachten, wenn man dafür bezahlt.« »Eine Herberge also. Wie muss ich gehen, um sie zu finden?« »Keine … Ahnung, ich kenne mich … nicht aus. Im Zentrum der Stadt. Es ist ein dreistöckiges Haus mit großen Fenstern und Fahnen, die an der Hauswand hängen.« Anna ließ ihren Gefangenen allein. Panik überkam den Schriftsteller. So eine unglaubliche Angst hatte er noch niemals zuvor gefühlt. Er kauerte sich in eine Ecke, zog die Knie an, faltete die Hände und betete. Vor allem eine Passage aus seinem Lieblingschoral rezitierte er immer wieder mit bebenden Lippen: »Herr, bleib bei uns, wenn's Abend wird, dass wir nicht irregehn. So wird die Herde wie der Hirt einst glorreich auferstehn.« Dazwischen murmelte er immer wieder die Namen seiner Söhne Silas und Tim sowie den seiner Frau Rahel. »Lieber Gott, bitte mach, dass wir uns alle gesund wiedersehn.« In was für einen Albtraum war er da bloß geraten?
Als Zamorra und Nicole ins Restaurant Hotel Laufen zurück kamen, der Meister des Übersinnlichen ziemlich zerzaust, fehlte Christoph Dittert. »Ah, gut, dass Sie kommen«, sprach der Kellner Nicole an. »Ihr Begleiter ist schon eine ganze Weile abwesend und ich dachte schon, es handle sich um einen Fall von Zechprellerei, da Sie auch plötzlich auf und davon …« »Ich bin nicht auf und davon«, beschwerte sich Nicole. »Ich musste nur mal kurz raus. Na ja, vielleicht ein bisschen länger. Wo ist denn Herr Dittert hin?« »Ihr Begleiter?« Der Kellner sah ratlos drein. »Ich dachte, er wollte nur mal kurz auf die Toilette, aber seither ist er verschwunden.« Zamorra hatte ein ungutes Gefühl. Er ging auf die Herrentoilette, versetzte sich in Halbtrance und aktivierte die Zeitschau des Amuletts. Merlins Stern reagierte umgehend. Winzige Bilder entstanden im Zentrum, wurden jedoch lebensgroß in Zamorras Gehirn abgebildet. Wie immer liefen sie rückwärts. Tatsächlich tauchte plötzlich die Weißblonde auf, die rückwärts durchs schmale Oberlicht einstieg. Dann zog sie Ditterts leblosen Körper aus dem Fenster. Das hieß natürlich im Umkehrschluss, dass sie ihn hinausgeschoben hatte und hinterher war. »Verdammt«, murmelte Zamorra erbittert. Die weiteren Bilder zeigten ihm, dass Anna plötzlich hinter dem Schriftsteller aufgetaucht war und ihn niedergeschlagen hatte. Der Meister des Übersinnlichen versuchte sich nun selbst durch das Oberlicht zu zwängen. Doch ihn erwartete eine steile Dachschräge. Zudem hörte er unter sich die aufgeregten Stimmen der Polizisten. Er ging zurück.
Anna rannte im Laufschritt nach Schaffhausen. Sie schaffte es in gut einer Stunde und ging durch die nächtlichen Straßen. Lesen konnte sie nicht. Und so fragte sie einen Bettler, den sie in einem Hinterhof, in einem Hauseingang liegend, traf.
»Das Rüden-Hotel, ja, das kenn ich, junge Frau«, brabbelte er und hielt ihr eine Schnapsflasche entgegen. »Sag mal, wohnst du auch auf der Straße? Du stinkst ja noch mehr als ich und die anderen. Weißt du, normalerweise riech ich das nicht. Aber bei dir riecht's irgendwie wie auf dem Friedhof. Hast du da 'ne Bleibe?« »Zeig mir die Herberge, Bettler. Und es wird dein Schaden nicht sein.« Er rülpste laut. »Mein Schaden nicht sein? Du redest ja ganz schön geschwollen. Darf ich dich dann mal anfassen, ja? Also, komm, dann zeigt der liebe Gunther dir mal die Herberge Rüden. Herberge, ha. Das ist gut.« Er quälte sich hoch und torkelte aus dem Hinterhof. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, führte er sie mit langsamen, trippelnden Schritten durch die Altstadt und am Bahnhof vorbei. Schließlich standen sie vor dem ehemaligen Zunfthaus, das von Straßenlaternen erleuchtet wurde. »Das da isses, schöne Frau.« Gunther grinste, spitzte die Lippen und zeigte dann seine lückenhaften Zähne. »Bekomme ich jetzt einen Kuss?« Er ist so ekelhaft, dachte Anna. Ich wünschte, er würde auf der Stelle an seinen eigenen bösen Worten ersticken. Fast im selben Moment umnebelte eine schwarze Wolke den Obdachlosen. Sie konzentrierte sich um seinen Kopf, zog sich zusammen, schnürte ihm die Luft ab. Gunther röchelte und verdrehte die Augen. Er versuchte, mit seinen Händen in die Wolke zu greifen, sie von seinem Gesicht zu reißen. Vergeblich. Sie tauchten durch die Schwärze hindurch. Plötzlich explodierte die Welt in einer letzten, grellen Entladung vor seinen Augen. In dem Hauseingang, in dem er stand, sank er zu Boden. Anna verschwendete keinen Blick mehr an den Toten. Sie trieb sich die ganze restliche Nacht in der Nähe des Hoteleingangs herum und wartete auf Zamorras Ankunft. Aber der kam nicht. Egal, sie würde so lange hier warten, bis er kam. Dass er die Herberge vor ihr erreicht hatte, schloss sie aus, denn dann hätte sie seine Ausstrahlung auch hier gespürt. Er war nicht in der Nähe. Doch er
würde kommen und dann konnte sie ihren großen Trumpf ausspielen: das Leben von Zamorras Gefährten gegen die Rückgabe ihres Herzens. In den frühen Morgenstunden ging eine Tür auf. Ein junger Mann trat heraus. Und stolperte über den Körper des toten Bettlers! Die weißblonde Mörderin registrierte es nur am Rande. Es machte nichts aus. Niemand kümmerte sich um tote Bettler. Sie wurden höchstens zur Seite gezogen und liegen gelassen, so lange, bis sie mit einem Karren abtransportiert und irgendwo verscharrt oder verbrannt wurden. Umso größer war ihr Erstaunen, als plötzlich pferdelose Kutschen mit roten Lichtern auf den Dächern heran rasten und vor dem Haus hielten. Männer in weißen Wämsen stiegen aus und beugten sich zu dem Bettler hinunter. Kurz darauf erschien eine weitere Kutsche. Sie verstrahlte blaues, zuckendes Licht und gehörte den Soldaten der Stadtgarde, das wusste sie inzwischen. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Zwei von ihnen stiegen aus der Kutsche. Anna zögerte. Sie wollte den Stadtgardisten nicht begegnen. Vor denen hatte sie schon immer Angst gehabt. Andererseits musste sie doch hier auf Zamorra warten! Einer der Stadtgardisten hatte sie entdeckt! Misstrauisch sah er zu ihr herüber. Als er näher kam, verschwand sie schnell in einer Seitengasse. Sie musste weg von hier, würde später wiederkommen. Anna hoffte, dass de Montagne seinen Gefährten nicht im Stich lassen würde, aber sicher war sie sich dessen nicht. Weil sie sich in dieser großen Stadt verloren fühlte und Entdeckung befürchtete, wenn der Tag erst einmal vollends angebrochen war, flüchtete sie durch die Wälder zurück zur Burg Laufen. Im Wasser näherte sie sich dem Felsen, erkletterte ihn geschmeidig. Und betrat durch die alte Tür hinter dem Baum die vergessenen Gewölbe der Burg. Durch verzweigte, zum Teil halb eingestürzte Gänge ging sie zum Verlies, in dem sie den Gefährten des Montagne zurück gelassen hatte. Sie schob den Riegel zurück, trat ein … »Überraschung«, sagte de Montagne und grinste sie an. Er saß statt seines Gefährten an der Wand! »Schön, dass du kommst. Ich
habe schon geglaubt, ich müsste ewig hier sitzen.« Anna schrie entsetzt. »Wie geht das zu? Wie konntet Ihr diese Gruft finden? Und warum konnte ich Eure Ausstrahlung zuvor nicht wahrnehmen? Ich verstehe es nicht.« »Aber ich«, erwiderte Zamorra grinsend. »Ist meine charakteristische Ausstrahlung jetzt wieder da?« Er rief das Amulett, das Nicole noch in der Nacht etwa zwei Kilometer entfernt in einem Wald versteckt hatte, während er hier ausharrte. Nachdem sich der Meister des Übersinnlichen gestern Nacht im Schlosshof erneut unsichtbar gemacht und den ungefähren Weg Annas mit dem entführten Schriftsteller abgeschätzt hatte, hatte er ihre Spur per Zeitschau an einer Ecke wieder aufnehmen und ihren Weg bis ins Verlies verfolgen können. Umgehend erschien Merlins Stern in Zamorras Hand. »Ja, da ist sie wieder.« Anna keuchte. »Das Amulett und Ihr, Ihr bildet diese Ausstrahlung, die ich so sehr hasse.« »Ich dachte es mir, als du meinen Namen nanntest.« Zamorra nickte. »Du kommst aus einer weit entfernten Zeit, Anna, nicht wahr? In welchem Jahr genau soll ich dir dein Herz gestohlen haben?« Die Weißblonde starrte ihn einen Moment an. »Es war im Jahre des Herrn 1104«, antwortete sie dann. Zamorra nickte nachdenklich. »Ja, ich dachte es mir, wie schon gesagt. Und ich bin mir nun sicher, dass du mich mit einem meiner frühen Vorfahren verwechselst. Leonardo de Montagne. Auch er besaß Merlins Stern einst und hat viel Unheil mit ihm angerichtet. Und er lebte in deiner Zeit. Ist es so? Hat er dir dein Herz gestohlen? Was immer das auch heißen mag?« »Leonardo de Montagne«, flüsterte sie. »Ja, er hat mir mein Herz gestohlen. Er war es. Ihr wart es. Denn es ist erneut eine Lüge von Euch, dass Ihr Leonardos Nachfahre sein sollt. Ihr seid es selbst. Denn Ihr habt längst erreicht, was Ihr erreichen wolltet. Und noch mehr, denn Ihr scheint zusätzlich einen Jungbrunnen gefunden zu haben.« »Wie meinst du das?« »Ihr wisst es genau, de Montagne. Aber nun werde ich Euch doch
noch nehmen, was Ihr so sicher glaubtet, auch wenn ich es bei unserer ersten Begegnung nicht konnte. Denn das Amulett schützt Euch gegen alles, nicht jedoch gegen mich. Wir sind eins.« In diesem Moment flog die Tür erneut auf. Sie krachte gegen Annas Rücken. Die Mörderin taumelte nach vorne, fing sich aber wieder. Nicole trat ins Verlies. Sie hatte Annas Ankunft in einem Nebenraum abgewartet und dann das Gespräch die ganze Zeit hinter der halb offenen Tür verfolgt. »Überraschung Nummer zwei«, sagte Nicole und hielt Anna den Blaster entgegen. »Wir wissen, dass du das Amulett beeinflussen kannst, wie immer das auch zugehen mag. Deswegen haben wir uns eine magische Waffe besorgt, die noch weitaus mächtiger ist. Ein Strahl daraus tötet dich. Erzähl uns nun die ganze Geschichte deines geraubten Herzens. Dann schauen wir, wie wir dich erlösen können.« »Erlösung? Nein. Ich will mein Herz zurück!« Anna schien nicht zu glauben, dass der Blaster mächtig war. Aus dem Stand sprang sie Nicole mit einem wahren Panthersatz an. Duval war darauf vorbereitet. Sie ließ sich aufs Gesäß plumpsen, streckte die Beine in die Luft und katapultierte die Angreiferin damit nach hinten, während sie abrollte. Anna schrie überrascht, flog gegen die Wand. Es knirschte. Bevor sich die Weißblonde wieder berappeln konnte, schoss Nicole. Sie hatte jedoch nicht auf Lasermodus geschaltet, sondern auf Betäubung. Ein hochfrequenter Elektroschock traf Anna, legte ein Netz aus flirrenden, sich verästelnden blauen Blitzen über ihren Körper. Die Weißblonde zuckte unkontrolliert, rutschte an der Wand herunter. In diesem Moment löste sich eine schwarze, wabernde Wolke aus dem Oberkörper Annas! »Vorsicht, Nici!«, brüllte Zamorra. Er jagte mit seinem Blaster einen Strahl in das tanzende Gebilde. Er ging hindurch, traf die Decke und ließ Steinsplitter regnen. Trotzdem schien die schwarze Wolke für einen Moment abgelenkt zu sein. Greif an!, befahl Zamorra dem Amulett. Es regte sich nicht.
Nicole schaltete blitzschnell. Sie umklammerte den Dhyarra in ihrer Hosentasche und peitschte ein Gedankenbild in ihn. Es zeigte grelles, blaues Licht, das sich um die schwarze Wolke legte und diese vernichtete. Sofort setzte der Sternenstein den Befehl um. Kaltes, blaues Feuer entstand aus dem Nichts und hüllte die Wolke ein. Ein Kampf auf einer Ebene, die Zamorra und Nicole unzugänglich blieb, entspann sich. Lautlos, gespenstisch. Das schwarze Wabern wehrte sich verzweifelt gegen das blaue Feuer, gewann langsam die Oberhand. Das blaue Leuchten wurde matter, schien in der Schwärze zu versinken. Nicole schickte weitere Gedankenbilder in den Dhyarra: blaues Feuer, das hell und mit großer Hitze brannte. Tatsächlich leuchtete das blaue Feuer nun für einen Moment fast weiß, das Blatt wendete sich. Langsam löste sich das schwarze Wabern auf. Und dann geschah etwas ganz und gar Unglaubliches. Zamorra stockte der Atem.
6. Anna Gödelin Burg Laufen am Rheinfall, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation im Jahre des Herrn 1104 Leises Gemurmel erfüllte den großen, mit schwerem Eichenholz ausgeschlagenen Rittersaal. Balduin von Laufen saß am Kopfende der langen, reich gedeckten Tafel, direkt unter dem mächtigen Hirschgeweih und brütete vor sich hin. Seit ihn die Gicht plagte, interessierte ihn seine Umwelt nicht mehr sonderlich, er hatte hauptsächlich mit sich selbst zu tun. Als Freiherr und höchste Institution der Gegend konnte er sich das erlauben. Und so oblag es seinem Weib Raghild, die dreißig Gäste zu unterhalten und zu verköstigen, die zu von Laufens siebzigstem Wiegenfeste erschienen waren. Die Ritter und Edlen mit ihren Frauen stammten aus der ganzen Gegend. Raghild tat ihre Pflicht, so gut sie konnte, reagierte aufgeschlossen, wenn ihre Tischnachbarn sie ansprachen, aber ihr wirkliches Interesse galt nur einem Einzigen: Gotthold von Karolingen, Ritter aus einem uralten fränkischen Geschlecht und Herr der Burg Karolingen, die sich, nur eine halbe Reitstunde stromaufwärts von Burg Laufen entfernt, hoch über dem Rhein erhob. Gotthold war ein noch junger Recke mit edlen Zügen, braunem, wallendem Haar, das weit über seine Schultern fiel und einem Körper, der Kraft und Wildheit gleichermaßen versprach. Raghild, mit ihren vierundzwanzig Lenzen ein Jahr jünger als Gotthold, hatte sich gleich beim ersten Zusammentreffen vor einigen Jahren in ihn verliebt. Seither versuchte sie, ihn als ihren Liebhaber zu gewinnen. Doch bisher hatte sie bei dem Recken auf Granit gebissen. Mehr als den gebotenen höflichen Umgang mit ihr schien er nicht zu suchen. Das machte Raghild, die Nichte Kaiser Heinrichs IV., fast rasend und sie beklagte jeden Tag die Ungerechtigkeit der Welt. Warum Gotthold so wenig Interesse an ihr zeigte, sah sie jedes Mal, wenn
sie in den Spiegel blickte, blicken musste, denn das gehörte zu den Angelegenheiten, die sie zumeist vermied. Und wenn noch so viel kaiserliches Blut in ihr floss, machte es sie doch um keinen Deut schöner als ein Pferd; denn das Gesicht eines Pferdes war es, das sie jedes Mal aus dem Spiegel heraus anblickte. Doch bisher hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Immerhin war sie von charmantem Wesen und auch das konnte einen Mann hin und wieder becircen. Sie musste Gotthold nur in der richtigen Laune erwischen, dann würde sie ihm schon zeigen, was sie zu bieten hatte. Seit einem halben Jahr jedoch war die Lage fast aussichtslos. Gotthold erschien seither zwar jede Woche zwei Mal auf Burg Laufen, um Balduin seine Aufwartung zu machen, aber das war nur ein Vorwand. Denn wenn Anna Gödelin vor ihm erschien, ließ er seine Augen nicht mehr von ihr. Er machte ihr galante Komplimente, riss Witze und benahm sich, wie verliebte Gockel sich eben benehmen. Und jedes Mal, wenn Gotthold auf der Burg weilte, wusste er es so einzurichten, dass er die Gödelin traf. Anna Gödelin gehörte zu den Bediensteten der Burg Laufen. Und nur die Tatsache, dass sie Gottholds Werben nicht zu erhören schien, hatte sie bisher vor dem Hinausschmiss oder Schlimmerem bewahrt. Denn gutes Personal war rar in diesen schwierigen Zeiten. Und Anna Gödelin durfte als sehr gute Arbeitskraft gelten. »Was meint Ihr?« Nur mit äußerstem Widerwillen wandte sich Raghild in diesen Momenten ihrer Tischnachbarin, der Freifrau Mathilda von Könnern, zu. Denn die Bediensteten trugen gebratenes Hühnchen auf und Anna Gödelin war mit dabei. Sie ging an dritter Stelle und trug wie die Anderen ein Silbertablett mit einer silbernen Glocke darüber, unter der es mächtig hervor dampfte. Raghilds Augen wanderten immer wieder zu Gotthold von Karolingen, der in der ungefähren Mitte der Tafel saß. Unbeweibt, denn er hatte den heiligen Bund der Ehe noch nicht geschlossen. »Ja, Ihr habt Recht, Mathilda, adlige Frauen sollten nicht mit zur Jagd ausreiten …« Tatsächlich, Gotthold verschlingt sie wieder mit seinen Blicken. Und da, hat die Gödelin sein Starren nicht erwidert? Ist da nicht gerade ein kleines, unscheinbares Lächeln über ihre Mundwinkel ge-
huscht? Ja, ich hab's genau gesehen … »Wie? Ja, Mathilda, für Frauen wäre der Sauspieß viel zu schwer.« Raghild schaffte es kaum, die glühende Eifersucht, die in ihr hoch stieg, zu unterdrücken. Hast du es also doch noch bei ihr geschafft, du stinkender Eber. Unhold sollst du heißen, nicht Gotthold. Ja, ich weiß nur zu genau, was du heute Nacht noch mit ihr anstellen wirst … Sie stellte sich vor, wie Gotthold Anna heimlich in den Stallungen traf, sie ins Stroh drückte, ihr ewige Liebe schwor, ihr Mieder aufknöpfte und sie unter lustvollem Stöhnen geil betastete. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, eisige Wellen zogen über Raghilds Körper. Die Gödelin stellte ihr Tablett direkt vor Gotthold auf den Tisch! Beugte sich über ihn, zeigte ihm, was sie im Ausschnitt hatte! Darf ich Euch Wein nachschenken, Ritter Gotthold?, äffte sie die Frage der Gödelin in Gedanken nach. »Ja, natürlich, mein Liebchen, schenkt getrost nach. Aus Eurer Hand mundet er mir noch besser.« Liebchen???!!! Etwas brach in ihr. Raghild schob ihren Stuhl zurück und schoss hoch. Sie drückte sich an den Bediensteten vorbei und kam hinter der Gödelin zu stehen, die sich gerade mit dem Wein nach vorne beugte. Raghild rempelte sie kräftig am Gesäß an. Die Gödelin stieß einen spitzen Schrei aus, verlor das Gleichgewicht, schüttete den Wein neben den Becher und den halben Inhalt des Kruges über Gottholds Gesicht und Wams. Entsetzt schlug Anna die Hand vor den Mund. »Ver-verzeiht«, murmelte sie. »Du ungeschicktes Gör!«, keifte Raghild los. »Bist du zu dumm, um auch nur einen Becher Wein einzugießen? So etwas wie dich habe ich noch niemals erlebt, du bist eine Schande für ganz Burg Laufen. Was werden die anderen Herrschaften jetzt denken, hm? Dass die Herrschaft Laufen nicht fähig ist, für richtige Dienerschaft zu sorgen?« »Macht es nicht schlimmer, als es ist, Raghild«, unterbrach Gotthold, der sich zwischenzeitlich erhoben hatte und sich sein Gesicht mit einem Lappen trocknete. »Es ist doch nur etwas Wein. Nach dem letzten Gelage habe ich schlimmer ausgesehen, deucht mich.« Er lachte laut und einige der Männer am Tisch lachten mit. »Zu-
dem deucht mich, dass es nicht alleine die Schuld dieser jungen hübschen Magd war. Oder, Balduin, was meint Ihr?« Balduin von Laufen sah hoch. »Was? Ja, ich stimme Euch zu, Gotthold.« Der alte Burgherr hatte sicherlich nicht die leiseste Ahnung, warum er gerade angesprochen worden war und um was es hier ging. Trotzdem führte er das letzte Wort und das war normalerweise auch für Raghild bindend; selbst wenn sie sich fast daran verschluckte. Aber wie immer konnte sie nicht anders, als doch noch einen draufzusetzen und das allerletzte Wort zu haben: »Ich werde dich von heute an ganz genau beobachten, du schmutzige Magd. Wenn das noch ein Mal vorkommt, sind deine Tage auf der Burg hier gezählt, darauf kannst du Gift nehmen. Vielleicht sollte ich dich gleich hochkant vom Burgsöller in den Rheinfall hinein werfen.« Die arme Anna Gödelin wusste gar nicht, wohin sie blicken sollte. Die Röte in ihrem Gesicht wollte gar nicht mehr weichen, so sehr fühlte sie sich gedemütigt. Da half es auch nichts, dass Gotthold offen Partei für sie ergriff: »Werft sie nur immerhin von der Burg, Raghild. Dann nehme ich sie gleich morgen in meine Dienste auf Burg Karolingen.« Raghild bekam kaum Luft. Sie starrte Gotthold nur an und drehte wortlos um, um sich wieder auf ihren Platz zu setzen. Gotthold, der ganz genau wusste, um was es hier ging, beglückwünschte sich heimlich zu seinen Worten, mit denen er Raghild so trefflich Paroli geboten hatte. Annas Stellung war nun sicherer denn je; das Letzte, was Raghild wollte, war, Anna in seine Arme zu treiben. Doch der Gedanke ist gar nicht schlecht. Vielleicht sollte ich sie wirklich in meine Dienste nehmen … Anna Gödelin aber erschien an diesem Abend nicht mehr zum Bedienen. Der Gesindehauptmann bestimmte dies und entzog sie so dem ungerechtfertigten Zorn der Herrschaft.
Wie jeden Tag stieg Raghild von Laufen den schroffen, bewaldeten Felsen hinunter, auf dem Burg Laufen thronte. Breite Wege, an den steilsten Stellen mit Treppen gangbar gemacht, führten zu dem Aus-
sichtspunkt direkt am Rheinfall, der sich neben der Burg in die Tiefe stürzte und von den Einheimischen gelegentlich »Großer Laufen« genannt wurde. Raghild seufzte und beugte sich über das hölzerne Geländer, das unter einem Felsüberhang angebracht war. Keine zwei Fuß von ihr entfernt tosten die wilden, weiß schäumenden Wasser über kantige Felsen in die Tiefe. Hier, wo sie stand, hatten die Wassermassen ungefähr die Hälfte ihres Falls hinter sich. Es schien ihr an dieser Stelle immer wieder, als schösse die weiße, donnernde Wand über den mächtigen, runden Felsen direkt auf sie zu, um sie im nächsten Moment zu verschlingen. Doch dann sanken die Wasser direkt vor ihr in die Tiefe. Gedankenverloren starrte die junge Burgherrin den verwehenden Wasserschleiern nach, die sich über dem Fallbecken bildeten. Im Becken schwammen zwei Fischerboote. Einer der Fischer warf gerade die Netze aus. Er würde sicher einen guten Fang machen, aber es war ihr egal. Heute ließ sich die Sonne nicht sehen und das passte perfekt zu ihrer düsteren Laune. Gotthold, du könntest mein Unglück etwas abmildern, vielleicht sogar wenden, aber selbst das versagt mir das Schicksal. Lieber Gott, was habe ich dir getan, dass du mich so strafen musst? Raghild trug ein knöchellanges, rotes Kleid mit Goldborten. Die langen, schwarzen Haare, von einem ebenfalls goldenen Stirnreif gehalten, trug sie wie üblich so, um möglichst viel von ihrem Gesicht zu verdecken. Sag mir, Felsen, was soll ich nur tun? Wie üblich antwortete ihr der mächtige Felsen, der hoch wie ein Haus und gespalten inmitten des Falls lag, nicht. Trotzdem war er ihr zum Freund geworden, dem sie hin und wieder ihr Leid klagte, denn einen anderen besaß sie bis heute nicht. Raghild fühlte sich auch nach vielen Jahren noch unsagbar fremd in diesem seltsamen Landstrich und sehnte sich tagtäglich nach der Kaiserpfalz in Goslar zurück, wo sie eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht hatte. Raghild war die uneheliche Tochter Judiths von Ungarn, der jüngsten Tochter Heinrichs III. Kaiser Heinrich IV., der momentan über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation herrschte, war
Judiths älterer Bruder und damit Raghilds Onkel. Raghild besaß allerdings nur undeutliche Erinnerungen an ihre Mutter. Nachdem Judith nach dem Sturz ihres Gatten König Salomon aus Ungarn hatte fliehen müssen, hatte sie zwischen 1074 und 1088 in Regensburg gelebt und sich dort in einen Edelmann verliebt. Dieser Liebe war im Jahre des Herrn 1080 Raghild entsprungen. Der entthronte Salomon hatte das uneheliche Balg nicht an Kindes Statt gewollt und so hatte Kaiser Heinrich IV. das Kleinkind an die Kaiserpfalz nach Goslar geholt, wo Raghild als Prinzessin aufwuchs und erzogen wurde. Denn Heinrich hatte seine jüngste Schwester immer innig geliebt und liebte deren Kinder ebenso. Welch furchtbare Schattenseiten das Leben als doch eher unbedeutende Prinzessin haben konnte, hatte Raghild als Siebzehnjährige erfahren. In den Jahren des Herrn 1090 bis 1093 war ihr Onkel Heinrich mit einem Heer nach Italien gezogen, um den als Nachfolger Gregors gewählten Papst Urban wieder abzusetzen und dem von ihm begünstigten Clemens auf den Thron des Hirten zu verhelfen. Dummerweise war Heinrich mit diesem Feldzug wenig Erfolg beschieden gewesen. Zu allem Überfluss hatte der bayrische Herzog Welf IV., ein Anhänger Urbans, auch noch die Alpenpässe sperren lassen und Heinrich für drei lange Jahre, von 1093 bis 1096, die Rückkehr nach Deutschland verwehrt. In dieser Zeit hatte Freiherr Balduin von Laufen mit seinen Truppen immer wieder Welf IV. angegriffen, um Heinrich zu unterstützen. Auch hatte er heimlich Lebensmittel und Wasser in den Kessel bei Verona bringen lassen, in dem Heinrich festsaß. Damit hatte sich Johann für die Reichsunmittelbarkeit erkenntlich gezeigt, die er wie fast alle Herrschaften in den Alpentälern besaß. Das hieß, dass er nur dem Kaiser selbst Rechenschaft schuldig war, keiner anderen Herrschaft sonst. Diese großen Freiheiten genossen die Herrschaften in den Alpentälern hauptsächlich deshalb, weil die Alpenpässe als Durchgangswege für die deutsche Herrschaft über Italien immens wichtig waren. Wie wichtig, hatte das Debakel mit dem Bayernherzog gezeigt. Doch 1096 hatten sich Heinrich und Welf geeinigt, der deutsche Kaiser hatte ins Reich zurückkehren und Ostern 1097 in Regensburg feiern können.
Als Dank für dessen Unterstützung hatte Heinrich dem dreiundsechzigjährigen Freiherrn Balduin von Laufen seine siebzehnjährige Nichte zur Frau gegeben und ihn damit zum direkten Verwandten des Kaisers gemacht. Nicht zuletzt auch deshalb, um die Alpentäler noch weiter an sich zu binden. Raghilds Widerstand, ihr Toben und Brüllen gegen diese Zwangsheirat, war vergeblich gewesen. Kaiser Heinrich hatte es so eingerichtet und sie hatte sich zu fügen. Das hatte er ihr in einem Vieraugengespräch klar und deutlich gemacht. So war sie mit großem Gefolge in die Alpen gezogen. Doch Balduin, ihr Ehemann, hatte von Anfang an keinerlei Interesse an ihr gezeigt. Gewiss, er hatte versucht, in der Hochzeitsnacht die Ehe mit ihr zu vollziehen, weil das von Gott so gewollt war. Dies war jedoch grandios gescheitert, da seine Männlichkeit nicht mehr den geringsten Zucker getan hatte. Stattdessen hatte er kurz darauf umso lauter geschnarcht. Seit dieser Zeit hatte Balduin nie wieder den Versuch gemacht, sich ihr zu nähern. Auch sonst trat er ihr gleichgültig gegenüber, redete nur das Nötigste mit ihr und behandelte sie darüber hinaus wie Luft. Und da sie vom Wesen her anders war als diese klein karierten, engstirnigen Menschen hier, fand sie auch zu diesen kaum Zugang. Das hatte dazu geführt, dass sie schon in jungen Jahren ziemlich verbittert geworden war und so manche Nacht durchweinte. Jetzt, da sie dank ihrer Hässlichkeit auch Gotthold nicht zu ihrem Geliebten bekommen konnte, wurde der Gedanke, nach Goslar zurück zu fliehen, übermächtig in ihr. Sie war sicher, dass ihr Onkel Heinrich der Auflösung ihrer Ehe zustimmen würde. Da sie niemals vollzogen worden war, war sie streng genommen auch niemals geschlossen worden. Noch fand sie nicht den Mut, von hier zu fliehen. Aber mit jedem Tag stieg er ein bisschen höher … Raghild wurde plötzlich von einer seltsamen Unruhe ergriffen, einer Unruhe, wie sie sie noch niemals zuvor erfahren hatte. Wirre Gedanken drängten sich in ihr gerade noch klares Denken, eine unbestimmbare Angst stieg in ihr hoch. Irgendetwas kribbelte an ihren Schulterblättern. Raghild schluckte. Einem Impuls folgend fuhr sie herum. Weit riss sie die Augen auf, als sie das Unbegreifliche sah. Hinter ihr hatte
sich eine tief schwarze Wand aufgebaut. Doppelt so groß wie sie und mehr als drei Mal so breit. Die Wand war nicht fest, ihre Ränder verschwammen dauernd, verschoben sich, bildeten schroffe Ausbuchtungen und tiefe Einschnitte. Raghild glaubte plötzlich, einen Blick in die tiefste Hölle zu tun, denn in der Schwärze hörte sie das gequälte Brüllen gepeinigter Seelen. Tausende mussten es sein, zehntausende! Es klang so furchtbar, dass sie sich die Ohren zuhielt. »Nein«, wimmerte sie, »bitte nicht.« Inmitten der Finsternis erschien ein riesiges Wesen. Es war noch schwärzer und deswegen gut wahrzunehmen. Mächtige Flügel wuchsen aus seinen Schultern, glühend rote Augen starrten sie tückisch an. Plötzlich löste es sich aus der Finsternis, fuhr blitzschnell auf sie zu. Ein riesiges Maul mit mächtigen Reißzähnen öffnete sich. Raghild schrie. Sie riss die Arme hoch, taumelte nach hinten, kippte übers Geländer und verschwand mit einem schrillen Schrei in den reißenden Fluten. Als ihr von den Felsen zerschmetterter Körper mit ausgebreiteten Armen und Beinen bäuchlings im Fallbecken schwamm, hatte sich die unheimliche Erscheinung längst aufgelöst.
Adalbert, der Rheinfallschiffer saß neben der Schutzhütte am Ufer des Rheinfallbeckens und knüpfte seine Netze; so bedächtig, wie er es immer tat. Dabei lauschte er dem mächtigen Rauschen des Falls, den Vogelstimmen, die er dazwischen immer wieder hörte und hing ansonsten seinen Gedanken nach. Wie immer galten sie seiner großen Liebe Anna. Vor einer Woche hatten sie sich das Versprechen der Ehe gegeben und würden noch dieses Jahr heiraten. Burg Wörth würde ein rauschendes Fest erleben, denn Freiherr Rüdiger hatte zugestimmt, dass Adalbert es dort ausrichten durfte. Und dann würden sie sich ein Haus im Dorf Urfar bauen, von wo sie beide stammten und sich vielleicht eine Ziege oder eine Kuh her tun. Alles hätte also gut sein können, aber da waren ein paar düstere Gedanken, die sich in Adalberts Kopf eingenistet hatten und sich immer mehr verselbständigten. Sie galten Gotthold von Karolingen,
denn auch der Edelmann schien ein Auge auf Anna geworfen zu haben. Natürlich war sie nicht standesgemäß für ihn, aber selbst wenn sie nur sein Liebchen war, konnte er ihr ein gutes Auskommen gewähren. Ein besseres jedenfalls, als sie an seiner Seite haben würde. Was ihm zu denken gab, war die Tatsache, dass Anna ihm gegenüber niemals auch nur ein Wort über Gottholds Interesse an ihr verloren hatte. Was hatte das zu bedeuten? Gewiss, er hatte den Eindruck, dass sie ihn liebte, wenn sie zusammen waren, aber … Der junge, kräftige Mann mit den langen, hellbraunen Haaren blickte zur Burg Wörth hinüber. Von allen Seiten umspült und vom Ufer aus über eine breite Brücke erreichbar, stand sie im Rheinfallbecken, nicht mehr als ein mächtiger Turm auf einem schroffen Felsen, schräg gegenüber von Burg Laufen. Während Laufen zur Grundherrschaft des Bischofs von Konstanz zählte, befand sich Burg Wörth mit einigen Mühlen am Rheinufer zusammen im Besitz der Habsburger. Diese hatten Burg Wörth, die erst vor einigen Jahren errichtet worden war, als Lehen an Rüdiger von Kroningen gegeben, der seither dort residierte und in dessen Diensten Adalbert stand. Er befischte für Junker Rüdiger das Fallbecken und ein Stück den Rhein abwärts, während die Herrschaft Laufen ihre Fischgründe oberhalb des Rheinfalls, hinter den Stromschnellen, hatte. Adalbert seufzte und schaute über die glitzernde Wasserfläche des Beckens hinweg. Ich bin dumm. Ich mache mir einfach zu viele unnütze Gedanken … Die Sonne war erst vor einigen Minuten aufgegangen und tauchte die morgendliche Landschaft in ein sanftes Licht. Dann wanderten seine Blicke weiter, hoch zur Burg Laufen, die trutzig aus dem grünen Bewuchs des Felsens ragte und auf der Anna soeben ihren Dienst antrat. Er schickte einige innige Gedanken zu ihr hoch. Seit gestern herrschte dort oben Bestürzung, denn Raghild, die Herrin, war einem schrecklichen Unfall zum Opfer gefallen. Die tosenden Wasser hatten sie verschlungen und in ihr nasses, kaltes Reich gezogen. Theobald, der wie er selbst für Freiherr Rüdiger fischte, hatte die Leiche Raghilds an einen Haken gehängt und ans Ufer gezogen. Plötzlich war sie neben ihm im Wasser erschienen und Theobald hatte einen gehörigen Schrecken davongetragen. Auch deswegen,
weil Raghilds Gesicht in namenlosem Grauen verzerrt gewesen war, wie er schauernd erzählte. So, als habe sie den Teufel selbst gesehen. Dabei wusste niemand, was und wie es passiert war. Wahrscheinlich hatte sich Raghild zu weit über das Geländer gelehnt oder war auf einem von der Gischt glitschigen Felsen ausgerutscht. Manche flüsterten, so wusste er von Anna, die er gestern Abend noch gesehen hatte, Raghild habe den Freitod gewählt, weil sie der Ritter Gotthold schnöde abgewiesen habe. Was auch immer wahr sein mag, die Trauer auf Laufen hält sich in Grenzen, denn niemand hat die seltsame Raghild gemocht. Und Anna kann aufatmen, denn damit ist ihre Pein nun an ein glückliches Ende gekommen. Jäh stieg wiederum Misstrauen in Adalbert hoch. Anna hatte ihm immer erzählt, sie wisse nicht, warum die Herrin Raghild so gemein gegen sie sei. Aber sie weiß es sehr wohl. Gotthold war daran schuld. Und wüsste ich es nicht von anderem Laufener Gesinde, ich wäre bis heute ahnungslos. Vertraut mir Anna denn nicht? Über den Pfad, der vom Dorf Urfar hierher führte, näherte sich ihm jemand. Adalbert drehte den Kopf und schüttelte ihn gleich darauf voller Erstaunen. »Anna, was suchst du denn hier? Musst du nicht oben auf der Burg Dienst tun?« »Guten Morgen, mein Herz.« Sie trat zu ihm und umarmte ihn. Er drückte sie fest an sich. »Nein, ich habe heute Morgen mit Bertha getauscht, ich arbeite für sie an einem anderen Tag. Ich musste unbedingt hierher kommen.« »Aber du zitterst ja, Anna. Du scheinst mir ganz durcheinander zu sein. Was ist mit dir passiert?« Das Bild Ritter Gottholds erschien vor Adalberts geistigem Auge. Anna sah ihn an und aus ihren Augen liefen plötzlich Tränen. »Ja, mein Herz, ich bin durcheinander. Sehr sogar. Ich … ich weiß nicht, was ich tun soll, aber ich muss mit jemandem reden. Mit dir. Denn du bist der Einzige, zu dem ich Vertrauen habe.« Adalbert war plötzlich ganz ruhig. Er küsste ihre Tränen weg. »Hab keine Angst. Was immer auch kommt, zusammen sind wir stark und unbesiegbar. Komm, wir setzen uns.« »Nein, Liebster, lass uns lieber mit dem Boot aufs Wasser hinaus
fahren. Was ich zu erzählen habe, ist nicht für fremde Ohren bestimmt und ich weiß nicht, ob im Wald hinter uns jemand heimlich mithört.« »Das hört sich ja geheimnisvoll an.« Adalbert schob seine Verlobte an den Schultern ein wenig von sich und sah ihr fest in die Augen. »Aber du bist körperlich unversehrt, nicht wahr?« Anna, groß gewachsen, mit weißblonden Haaren und großen, ausdrucksstarken blauen Augen, starrte ihn an. »Ja, natürlich. Wie meinst du das?« »Ach nichts. Dann ist es ja gut.« Anna dachte einen Moment nach. Dann nickte sie und senkte den Kopf. »Ich verstehe, was du sagen willst. Du willst wissen, ob ich noch Jungfrau bin, ob ich mich für dich aufgehoben habe.« »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« »Lüg mich nicht an, Liebster. Doch, du hast es genau so gemeint. Du weißt vom Interesse, das Ritter Gotthold an mir zeigt?« »Ja, es stimmt. Und ich frage mich schon die ganze Zeit, warum du es mir nicht gesagt hast.« Anna streichelte seine Wange. »Verzeih mir, Liebster«, flüsterte sie. »Ich hätte wissen müssen, dass du es von anderer Seite erfährst und es dir daher gleich sagen sollen. Es war dumm von mir. Aber ich wollte dich nicht unnötig in Sorge stürzen oder dich aufregen. Doch eines sollst du wissen: Ich werde Gottholds Werben niemals nachgeben, denn du bist der einzige Mann für mich auf der Welt. Dich liebe ich und niemanden sonst. Ritter Gotthold ist Luft für mich. Er müsste mich schon mit Gewalt nehmen, aber das wird er nicht tun. Denn Gotthold ist ein Ritter durch und durch.« Ganz glaubte sie selbst nicht, was sie da erzählte, aber sie brachte es sehr überzeugend dar. Adalbert strahlte. »Dann ist es ja gut.« Er küsste sie innig. »Also, komm, dann lass uns aufs Wasser hinaus fahren. Dort kannst du mir in aller Ruhe von deinen Sorgen erzählen. Ich bin sicher, dass wir zusammen eine Lösung finden werden.« Der junge Fischer trat auf den Steg und schob den schweren Holzkahn aus der Schutzhütte, denn diese war zum Teil ins Wasser gebaut. Sieben Kähne fanden zwischen den schmalen Stegen Platz, alle
Plätze waren noch belegt. Denn Adalbert war morgens immer der Erste, den es auf den Rhein trieb. Er liebte das Leben am und mit dem Fluss. So nahm er die Staklanze, einen langen, dicken Stock, half Anna ins Boot und stakste den Kahn ins Fallbecken hinaus. Anna saß auf der ersten Querbank und half mit dem Handruder ein wenig mit. Als sie so weit draußen im Becken waren, dass Annas Sicherheitsbedürfnis gestillt war, denn durch das Rauschen des Falls hätten sie sich auch am Ufer in Ruhe unterhalten können, setzte er sich zu ihr. Direkt vor ihnen fielen die Wasser herab und bildeten eine mächtige weiße Wand aus schäumender Gischt. Anna schaute hinein und fröstelte. Dann nahm sie Adalberts Hände und hielt sie ganz fest. Wieder zitterte sie leicht. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Liebster. Du weißt, dass Raghild, die mich so sehr gepeinigt hat, gestern vom Fall verschlungen worden ist.« »Ja. Das weiß inzwischen die ganze Gegend, das hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen.« »Raghild, ich … ich glaube, dass ich an ihrem Tod schuld bin.« Adalbert fuhr auf. Unwillkürlich entzog er ihr die Hände. »Was denn, du? Hast du sie etwa ins Wasser gestoßen?« Anna schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nicht direkt. Ich war nicht dabei.« »Das verstehe ich nicht. Drück dich bitte klarer aus.« »Ich versuch's ja, Liebster. Es ist so, dass mich Raghild beim Fest für den Freiherrn Balduin so sehr gedemütigt hat wie noch niemals zuvor. Ich weiß ja, warum sie es getan hat und irgendwie hatte ich auch immer Mitleid mit ihr, weil sie eine ganz und gar unglückliche Person war. Aber an diesem Abend habe ich sie gehasst. Und ich habe ihr gewünscht, dass die wilden Wasser sie verschlingen sollen. Und … und schon am nächsten Tag ist es passiert.« Adalbert starrte sie an. »Und? Es gibt solche Zufälle. Nur weil du es ihr gewünscht hast, musst du dir ihren Tod noch lange nicht zueigen machen.« »Ja … nein … ach weißt du, Raghild war immer vorsichtig auf ihren Spaziergängen, sie hätte sich niemals zu weit über das Geländer gebeugt.« »Dann ist sie eben ausgerutscht. Oder hat sich von selbst in die
Fluten gestürzt. Damit hast du doch nichts zu tun.« Anna sah unwillkürlich zur Burg Laufen hoch. »Raghild war unglücklich, aber doch ein starkes Weib. Sie hatte kaiserliches Blut in sich und die Salier, denen sie angehörte, sind starke und durchsetzungsfähige Personen.« »Ich weiß nicht, was du mir jetzt sagen willst, Anna.« Adalbert wurde ein wenig ungehalten. »Irgendwie drehen wir uns im Kreis. Vielleicht hat jemand anders sie gestoßen, ja und? Es kann dir herzlich egal sein und mir ist es das auch.« »Ja, so würde ich auch denken, wenn da nicht noch die anderen Vorkommnisse gewesen wären.« »Was für Vorkommnisse?« Anna starrte einen Moment ins Leere. »Erinnerst du dich noch an die Kühe von Jakob Tschudi?« »Ja, natürlich. Sie lagen eines Morgens tot auf der Weide. Alle sieben. Wahrscheinlich hat ein Blitzschlag sie getötet.« »Ja, das haben alle gesagt, weil sie keine andere Erklärung wussten. Aber in der Nacht, als es passiert ist, gab es gar kein Gewitter.« Sie sah ihn fast flehentlich an. »Liebster, es ist passiert, weil ich es gewünscht habe. Am Tag zuvor hat Tschudi meinen Vater ausgelacht, dass er es niemals zu einem solchen Wohlstand bringen würde wie er. Ich habe es gehört und war zornig auf Tschudi. Sollen doch deine ganzen Kühe auf der Weide verrecken, habe ich ihm gewünscht, dann hast du deinen Wohlstand auch nicht mehr. Und am nächsten Tag war es tatsächlich so.« »Kann auch ein Zufall gewesen sein.« Adalberts Stimme klang schon nicht mehr so fest und überzeugt. »Und dann«, sprudelte es jetzt aus Anna hervor, »dann war da noch die Sache mit den Stecknadeln. Die kleine Tochter vom Gesindehauptmann hat mich vergangenes Jahr ein paar Mal bis zur Weißglut geärgert. Da habe ich ihr gewünscht, sie solle Nadeln mit der Milch saufen. Und … und am nächsten Tag waren tatsächlich Nadeln in der Milch und sie hat sich an den Lippen und im Mund verletzt. Ich … weißt du, sie hat mir so Leid getan. Und da habe ich gewünscht, dass ihre Wunden schnell wieder heilen, aber das ist nicht passiert. Aber als ich dem Weinbauern Glarin gewünscht habe, er
solle Nägel spucken, weil er mich unsittlich angefasst hat, dann hat er das am nächsten Tag getan. Im Gasthaus, vor vielen Leuten.« »Ja«, murmelte der junge Fischer. »Ich war auch dabei. Es war furchtbar. Viermal insgesamt hat er jeweils zwei Handvoll Nägel erbrochen, ohne dass er jedoch verletzt war. Lauthals hat er geschrieen, dass ihn jemand verhext habe, ich höre es noch wie damals. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wer einen guten Menschen wie ihn verhext. Du warst das also …« Anna saß wie ein Häuflein Elend im Boot und schluchzte. Die Weinkrämpfe schüttelten ihren Körper durch. Plötzlich hob sie den Kopf und starrte Adalbert aus tränenverschleierten Augen an. »Liebster, was soll ich nur tun? Ich fürchte mich vor mir selber, denn ich glaube, dass ich eine Hexe bin. Bisher … da … da habe ich es mit mir alleine ausgemacht. Und es ist ja nicht oft vorgekommen. Aber jetzt … da habe ich, ich meine … durch mich ist ein Mensch zu Tode gekommen. Ich habe es doch nicht wirklich gewollt, dass Raghild stirbt. Aber schon, als ich es gedacht hatte, habe ich befürchtet, dass es passiert. Und es ist ja auch passiert. Liebster, bitte, sag mir, was ich tun soll. Du bist klug und weißt vieles, du hast sicher einen Rat für mich. Ich will keine Hexe sein.« In Adalberts Augen spiegelte sich nun die blanke Angst. Er wand sich unbehaglich, als sie erneut versuchte, ihn zu berühren. »Hab keine Angst, Anna. Wir werden schon eine Lösung finden.«
Nach dem Gespräch mit Adalbert hatte Anna Gödelin den ganzen Tag gegrübelt. Gab es da vielleicht noch weitere Dinge, die sie durch ihre bösen Wünsche verursacht hatte, die ihr aber nicht im Gedächtnis geblieben waren? Nein, sie kam auf nichts mehr. Abends versuchte sie Adalbert im Haus seiner Familie zu erreichen, aber er war nicht da. Seine Mutter empfing sie lächelnd und umarmte sie. Adalbert sei wahrscheinlich noch für den Junker unterwegs, geräucherten Fisch in Schaffhausen verkaufen. So ging Anna nach Hause. Sie wohnte mit ihrem Vater gleich unterhalb des steilen Weinberghanges, der voller Rebstöcke stand. Hans Gödelin war krank, ihn plagte schon seit einigen Wochen ein
schwerer Husten, den er einfach nicht loswerden wollte und der ihn täglich mehr schwächte. Keine Kräuter hatten bisher dagegen geholfen. Und so lag er fast den ganzen Tag auf seinem Lager, hustete und spuckte Schleim. Essen wollte er auch nicht mehr so richtig und Anna musste ihn richtiggehend zwingen, etwas von dem geräucherten Speck und dem Brot zu sich zu nehmen, das sie ihm brachte. Sie erzählte ihm noch eine Weile von den Vorkommnissen auf Burg Laufen, wenn auch äußerst widerwillig, aber er wollte es nun einmal wissen, und begab sich dann selbst zur Nachtruhe. Anna fiel in wirre Träume. Sie sah eine mächtige düstere Wand, in der ein riesiger, pechschwarzer Teufel mit glühend roten Augen tobte und all die Menschen fraß, denen sie Böses wünschte. Äbte mit Fackeln und großen Kreuzen attackierten den Dämon, bunt gekleidete Soldaten stachen mit Lanzen nach ihm und brüllten sich die Lunge aus dem Leib. Und dazwischen stand Adalbert und feuerte sie mit verzerrten Gesichtszügen an. »Heraus mit der Hexe!«, dröhnte es in Annas Träumen. Irgendetwas war nicht richtig. Aber was? Sie erwachte langsam, sah schlaftrunken um sich, doch ihre Träume war sie damit noch immer nicht los. Da war Geschrei. Und flackerndes Licht, das in ihre Kammer schien, ein Pochen. Anna erschrak. Und war mit einem Schlag hell wach. Ihr Herz schlug plötzlich hoch oben im Hals. Das Gebrüll, das Pochen, das Licht … Das war kein Traum! Die junge Frau, die nackt geschlafen hatte, schlüpfte eilig in ihre Kleider. Sie warf einen verstohlenen Blick zum Fenster ihrer Kammer hinaus. Und erschrak fast zu Tode! Soldaten der Schaffhausener Stadtgarde in bunten Uniformen, mit Hellebarden und Schwertern bewaffnet, hatten das Haus umstellt. Sie trugen Fackeln und Kreuze auf hohen Stangen, so, wie sie es im Traum gesehen hatte. Dazwischen standen Mönche in schwarzen Kutten, reckten ihre umgehängten Kreuze gegen das Haus und beteten dabei laut. Benediktiner aus dem Kloster Allerheiligen zu Schaffhausen! Burkhard von Nellenburg hatte das ehemalige Privatkloster mitsamt dem umfangreichen Grundbesitz seiner Familie und allen dazugehörenden Rechten vor vierundzwanzig Jahren direkt dem Papst un-
terstellt. Dazu gehörte auch das Markt- und Münzrecht der Stadt Schaffhausen und somit waren die Äbte des Klosters, in Stellvertretung des Papstes, zu den wahren Herren der Stadt geworden. Sie konnten also nach Belieben über die Stadtgarde verfügen. Anna begann die furchtbare Wahrheit zu ahnen, konnte sie aber im Moment noch nicht richtig begreifen. Das also war Adalberts Lösung gewesen: der direkte Weg zu Erzabt Petronax, um sie als Hexe verhaften zu lassen. Es pochte erneut an die Tür. Jemand warf sich dagegen. Krachend flog sie auf. Männer drangen ins Haus ein, brüllten ihren Vater an. Gleich darauf flog die Tür zu ihrer Kammer auf. Zwei Mönche mit verzerrten Gesichtern drängten herein. Im flackernden Fackelschein unterschieden sie sich kaum von dem Dämon, den sie bekämpfen wollten. Sie reckten Anna Benediktusmedaillen entgegen und schrieen »Vade retro, satana«.* Zwei Stadtgardisten drängten nach, stellten sich neben die Mönche und richteten ihre Schwerter auf die junge Frau. Bewegungslos ließ sie sich festnehmen, sie hatte nicht die Kraft zum Widerstand. Der furchtbare Verrat ihres Liebsten lähmte sie. Anna wurde nach draußen geschleift. Ihr Vater, der aschfahl im Gesicht nach ihrem Arm griff und etwas von einem Irrtum murmelte, wurde von einem Gardisten brutal zurück gestoßen. »Lass das«, zischte er. »Oder sollen wir dich ebenfalls als Hexenmeister verhaften?« Vor der Tür wartete der hochwürdige Erzabt Petronax mit seinem grauen Vollbart und musterte sie mit strengem Blick. Neben ihm stand Adalbert und starrte sie kurz an. Dann musste er den Blick senken. »Glaubst du, ich kann eine Hexe heiraten und durch dich in eine Falle des Bösen tappen?«, schrie er dann. »Ich musste es tun. Du bist nicht Anna, du bist ein schlimmer Dämon.« »Es war richtig, so zu handeln, mein Sohn«, beschwichtigte ihn der Erzabt. »Noch ist die Schuld dieser armen Sünderin aber nicht festgestellt.« Anna Gödelin, deren Leben mit einem Mal in Scherben lag, wurde auf einen Ochsenkarren geladen, gefesselt und ins Stadtgefängnis *lat: »Weiche von mir, Satan.«
nach Schaffhausen verbracht. Den ganzen Weg gingen Benediktiner neben dem Karren her, küssten ihre Medaillen, beteten und sangen. Die Soldaten gingen dahinter, auch privates Volk schloss sich an und bedachte Anna mit allerlei Schmähungen.
In den nächsten Tagen durchlebte Anna Gödelin die Hölle. Aus lauter Angst leugnete sie zuerst, was sie Adalbert anvertraut hatte. Als ihr der Erzabt daraufhin mit Folter drohte, gestand sie es schließlich ein. »Doch das alles habe ich frei erfunden. Ich habe es nur getan, um mich vom Eheversprechen zu lösen, das ich Adalbert gegeben habe«, log sie. »Denn ich wollte die Geliebte des Ritters Gotthold werden und hoffte, dass mich Adalbert gehen lässt, wenn er in mir eine Hexe vermuten muss.« »Nun, wenn das so ist, dann hast du sicher keine Probleme damit, das geweihte Kreuz unseres Herrn Jesus Christus anzufassen, darauf zu schwören und das Vaterunser zu beten«, erwiderte Erzabt Petronax listig. »Schau, ich gebe dir sogar mein persönliches Kreuz.« Anna tat, was von ihr verlangt wurde. Zuerst fasste sie nur zögerlich hin, weil sie unsicher war, wie sie reagieren würde. Doch sie konnte das Kreuz problemlos berühren, küsste es sogar, schwor »meinem einzigen wirklichen Herrn« Jesus Christus ewige Treue, betete ein Vaterunser und einen Rosenkranz gleich noch freiwillig dazu. Petronax wurde unsicher. Er überlegte mehrere Augenblicke lang. »Nun, du hast mich durchaus beeindruckt, Anna Gödelin«, sprach er dann. »Aber glaube nur nicht, dass du mich dadurch schon überzeugt hast. Der Drache ist listig und ich weiß nicht, welche Teufelei er sich in diesem Fall ausgedacht hat. Nun möchte ich von dir, dass du dir die Medaille des heiligen Benedikt auf das Herz legst.« Anna musste den Oberkörper frei machen. Es war ihr unangenehm, dem Erzabt ihre Brüste zeigen zu müssen. Auch wenn sie diesen anscheinend überhaupt nicht interessierten. Zögerlich nahm sie die Medaille, die auf der Vorderseite das Bild des heiligen Benedikt zeigte, der in der Hand ein Kreuz hielt. Die Inschrift des umgebenden Bandes lautete: Mögen wir bei unserem Sterben durch seine Gegenwart gestärkt werden. Auf der Rückseite zeigte die Medaille das Bene-
diktuskreuz mit verschiedenen Buchstaben im Quer- und Längsbalken sowie im umlaufenden Band. Da Annas verstorbene Mutter oft ins Benediktinerkloster Allerheiligen zum Beten gegangen war und selber eine Benediktusmedaille besessen hatte, die man ihr mit ins Grab gab, wusste Anna genau, was die Buchstaben bedeuteten. Ihre Mutter hatte es ihr genau erklärt, während sie auf ihren Knien gesessen hatte. »CSSML. Crux Sancta Sit Mihi Lux«, murmelte Anna. »Das steht im Längsbalken und bedeutet Das heilige Kreuz sei mir Licht. Im Querbalken stehen dagegen die Buchstaben NDSMD. Diese bedeuten Non Draco Sit Mihi Dux, also Der Drache sei mein Führer nicht. Die vierzehn Buchstaben um das Kreuz herum heißen VRSNSMV – SMQLIVB und sie stehen für Vade Retro Satanas, Nunquam Suade Mihi Vana – Sunt Mala Quae Libas, Ipse Venena Bibas. Das bedeutet: Weiche Satan und führe mich nicht zur Eitelkeit! Schlecht ist, was du mir einträufelst. Trinke selbst dein eigen Gift!« Anna küsste die Medaille des Erzabts und legte sie auf ihr Herz. Dann nahm sie sie und küsste sie erneut. »Das ist seltsam«, sagte Petronax und wischte sich den Schweiß von der haarlosen Stirn. »Hättest du nicht die Bedeutung der Buchstaben auf unserer Medaille bis in die kleinste Einzelheit zitiert, wäre ich geneigt gewesen, an deine Unschuld zu glauben. Doch ein ganz normaler Mensch, zumal ein Weib, kann die Bedeutung der Buchstaben nicht kennen, das ist völlig unmöglich. Es muss also doch Teufelswerk sein. Du bist eine Hexe, gestehe es endlich.« Anna Gödelin begann auf Grund der seltsamen Argumentation zu ahnen, dass Petronax sie unbedingt als Hexe verurteilen wollte, dass er alles tun würde, um ihre Schuld festzustellen. Und so verlangte sie, öffentlich auf dem Marktplatz von Schaffhausen ihre Liebe zu Jesus kundtun zu dürfen, um ihre Unschuld zu beweisen. Das konnte ihr der Erzabt nicht verweigern, um sich nicht vor den drei Mönchen, die dem peinlichen Verhör als Zeugen beiwohnten, unglaubwürdig, ja selbst verdächtig zu machen. Zwei Tage später bezeugte Anna Gödelin auf einem hölzernen Podest vor Hunderten von Schaulustigen auf dem Marktplatz ihre Liebe zu Jesus und bat, Weihwasser trinken zu dürfen. Sie schaffte einen halben Liter, ohne
in Flammen aufzugehen oder grässlich loszubrüllen. Aber auch das war noch nicht Beweis genug für die Herren der Inquisition. Da die Äbte Anna Gödelin auf Grund der Vorgänge aber nicht mehr einfach so als Hexe verurteilen konnten, entschloss man sich, Gott selbst richten zu lassen. »Wir werden dich einem Gottesurteil überantworten, Anna Gödelin«, sprach Erzabt Petronax.
Es war die zwölfte Stunde des Tages. Anna Gödelin wurde aus dem Stadtgefängnis ins Freie getrieben. Ein Ochsenkarren mit einem Käfig stand bereit. Knechte mit Peitschen trieben sie unsanft das Brett hoch, während die schweigende Menge, die sich zahlreich eingefunden hatte, sensationslüstern auf die vermeintliche Hexe starrte. Soldaten, Bürger, Bauern, Tagelöhner und Vornehme hielten sich einträchtig an Waffen, Holzkreuzen und Heiligenfiguren fest. Als sich der Ochsenkarren in Bewegung setzte, taten sie es ihm gleich. Während wiederum ein Rudel Benediktiner neben dem Karren her trottete, hielt sich die Menge hinter dem Wagen. Anna bemerkte nicht einmal, dass einige der Schwarzkutten eifrig auf sie einredeten. Ihr Blick ging über die Menschen hinweg zum Kloster Allerheiligen hinüber. Dort begannen plötzlich die Kirchenglocken wie wild zu läuten. Es war ihr gleichgültig. Sie erschrak nicht einmal, als ein Gaukler, der kreuz und quer durch die Menschenmenge schoss, die Weiber erschreckte und weiteren Schabernack trieb, plötzlich Feuer spuckte. Und sie sah auch nicht, dass sich einige der »Prozessionsteilnehmer« Besen zwischen die Schenkel klemmten und andere auf Stecken dahertanzten. Nur einen Blinden und einen Einbeinigen nahm sie wahr, die zusammen eine Holzkarre zogen. Ein Mann mit verkrüppelten Beinen saß darauf und streckte immer wieder bettelnd die Hand aus. Ansonsten verschwamm die Masse vor ihr. Ob Adalbert sich auch an diesem Schauspiel berauschte? Ob es ihm Leid tat, dass sie wie ein Schwein durch die Stadt gefahren wurde? Anna klammerte sich an den Holzstäben fest. Sie versuchte, auch weiterhin über die Menge hinwegzublicken, um ja niemanden
wahrnehmen zu müssen, den sie vielleicht kannte. Es hätte ihr vollends das Herz gebrochen. Auf holprigen Pfaden zog der makabre Zug zum Rhein, oberhalb des Falls. Dort wartete bereits der Erzabt inmitten einer weiteren großen Menge. Die ganze Gegend schien gekommen zu sein, um dem aufregenden Schauspiel beizuwohnen. Anna Gödelin klammerte sich an den Stäben fest, sie wollte nicht vom Karren herunter. »Nein, bitte«, flüsterte sie, musste sich aber der rohen Gewalt der Knechte beugen, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Annas Gedanken rasten, waren ein einziges Chaos. Sie zitterte am ganzen Leib, ihre Zähne klapperten aufeinander, der Magen verkrampfte sich zu einem einzigen großen Klumpen. Ihr war so schlecht, dass sie würgte und schließlich erbrach. Die am nächsten Stehenden wichen empört zurück, als sie getroffen wurden und schmähten Anna mit den übelsten Worten, die sie finden konnten. Handgreiflichkeiten verhinderten die Knechte aber. Breit und majestätisch floss der Rhein an dieser Stelle. Aber bereits weiter vorne waren die weißen Striche und Strudel zu sehen, die die Stromschnellen vor dem Fall ankündigten. Plötzlich überkam die junge Frau eine seltsame Ruhe. Sie entspannte sich, ihre Aufregung wich. Sie ließ noch ein Mal ihre Blicke über die wunderschöne Landschaft schweifen, über die klaren Wasser, Burg Laufen im Vordergrund, die weiten, grünen Wiesen. Nur die Menschen hinter ihr interessierten sie nicht. Anna war sich längst nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich eine Hexe war oder ob sie sich die Dinge, die sie Adalbert gestanden hatte, nicht doch nur eingeredet hatte. Nun, es war auch egal. Sie würde das Gottesurteil auf keinen Fall überstehen. Blieb sie am Leben, würde man sie endgültig als Hexe ansehen und sie den Flammen überantworten; starb sie, nun, dann war sie keine Hexe gewesen, das war bedauerlich, aber sie war immerhin in Frieden vor ihren Herrn getreten. Weiter konnte Anna nicht nachdenken. Die Knechte packten sie, zwangen sie zu Boden und banden sie rücklings auf ein breites Brett. Dann hoben sie das Brett in eine Halbschräge und schleiften es über das Kiesbett zum Ufer. »Ich befehle deine arme Seele nun in Gottes Hand, Anna Gödelin«,
sprach der Erzabt so laut, das alle es hören konnten. »Damit übernimmt der Höchste es, dich zu richten und wir sind frei von aller Schuld.« So einfach kann man es sich machen, wenn es um das Leben eines Menschen geht. Um mein Leben. Meins! Ein fast lüsternes Stöhnen pflanzte sich durch die Menge fort, als die Knechte das Brett ins Wasser gleiten ließen. Anna spürte, wie kaltes Wasser ihre Arme, ihren Rücken, ihr Gesäß und ihre Beine umspülte. Sie verkrampfte kurz, blieb aber trotzdem ruhig. Das Brett wurde von der Strömung erfasst, weiter in die Flussmitte gezogen und nahm langsam Fahrt auf. Anna versuchte, es durch Verlagerung ihres Körpergewichts so im Lot zu halten, dass es in den Wellen nicht kippte. Noch schwamm es gerade aus. Für einen Moment sah sie ein seltsames Wesen direkt neben sich her gleiten. Es grinste sie an und strich über das Brett. Anna blinzelte, sah ein zweites Mal hin. Nichts als Wasser war da. Natürlich. Ein Trugbild. Im Angesicht des nahen Todes spielten ihre Sinne verrückt. Über ihr kreisten schwarze Vögel in der klaren, blauen Luft. Raben. Todesboten? Schnell wandte sie den Kopf ab. Für einen Moment betrachtete sie nun das vorbei ziehende Ufer aus dieser seltsamen, verzerrten Perspektive, die Wiesen, den kleinen Wald, der sich hinter Burg Laufen erstreckte. Wie oft war sie hier gegangen und hätte es niemals für möglich gehalten, dass man die Welt aus so vielerlei Sichtwinkeln betrachten konnte. Bisher hatte sie immer nur ihren ureigenen gesehen, aber das war ja auch normal. Dämonen zum Beispiel sahen die Welt völlig anders. Dämonen? Wie komme ich nur darauf? Und warum habe ich keine Angst mehr? Ich sterbe doch gleich … Das Donnern des nahenden Falls nahm zu. Die Strömungen wurden ungleichmäßiger, erste Strudel brachten das Brett in ein gefährliches Schlingern. Es begann sich zu drehen, knallte gegen einen Felsen. Anna schrie. Es war ihr, als habe jemand mit einem großen Hammer auf ihren Oberarm geschlagen. Der Schmerz lähmte ihre ganze linke Seite. Wasserfontänen überspülten sie nun, ließen sie nach Luft schnappen. Immer schneller wirbelte das Brett um sich selber, wurde schräg auf einen Felsen gehoben – und kippte!
Anna hielt verzweifelt die Luft an, als sie mit dem ganzen Körper ins Wasser eintauchte. Das Brett schwamm nun über ihr, ließ ihr keine Möglichkeit zum Auftauchen. Mit panisch aufgerissenen Augen zerrte sie an ihren Fesseln, versuchte, das Brett wieder zu drehen, ohne auf den rasenden Schmerz zu achten. Sie sah nur noch grün, blau und braun um sich herum, ein paar schwarze Schatten huschten vorbei. Ein plötzlicher Schlag an der Schläfe machte sie benommen. Ihre Reflexe versagten, Wasser strömte in Mund und Nase. Aber da war kein Luftmangel! Plötzlich wurde Anna hin und her geschüttelt, erhielt weitere Schläge, wurde in die Luft katapultiert. Das Brett schoss aus dem weißen Schaum heraus, kippte in der Luft nach vorne, knallte auf einen Felsen und wurde weiter nach unten gespült. Annas Welt bestand im Moment nur noch aus haarsträubenden Drehungen. Sie wirbelte durch die brüllende, tosende Welt des Falls und tauchte senkrecht in das Becken. In diesem Moment verlor sie das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem kleinen gemauerten Verliesraum auf dem Boden. Fackeln brannten und verbreiteten angenehme Wärme. Anna seufzte und richtete ihren Oberkörper auf. »Was ist das?«, flüsterte sie. Mit großen, nicht begreifenden Augen starrte sie auf das Brett, auf das sie gebunden gewesen war. Es lehnte aufrecht an der Wand! Anna zitterte. Sie war noch immer völlig durchnässt. Das Leinenkleid, in das man sie gesteckt hatte, klebte an ihrem Körper und juckte überall. Sie zog es über den Kopf. Nackt saß sie da. Dann erhob sie sich langsam und betastete ihren Körper. Hatte sie sich nicht fürchterlich an den Felsen gestoßen? Hätte ihr nicht alles wehtun müssen? Aber da war nichts, kein Schmerz, kein blauer Fleck, nichts. Zwei Männer traten hinter einem Mauervorsprung hervor. Anna erschrak fast zu Tode. Ein spitzer Schrei löste sich aus ihrem Mund, während sie sich bückte, das Leinenkleid an sich riss und es vor ihre Blößen drückte. »Was … was wollt Ihr? Wer seid Ihr?« Vor allem von dem Einen konnte sie ihre Blicke kaum wenden. Er besaß, so-
fern sie es im flackernden Fackelschein sagen konnte, ein unförmiges Gesicht, das entfernt an einen Esel erinnerte, weitaus schlimmer noch als Raghilds. Aus dem muskulösen Körper, der von einem schreiend bunten Wams bedeckt war, wuchsen an den Schultern zwei seltsame Federn. Die breitete er plötzlich zu einem Rad aus! Das Licht brach sich darin und ließ es bläulich schillern. So wunderlich der Mann … dieses Wesen auch aussah, fand es Anna doch weitaus verwunderlicher, dass sie es schon ein Mal gesehen hatte. Es war das, welches vorhin neben dem Brett her geschwommen war! »So reizvoll dein Körper unter anderen Umständen sicherlich wäre, interessiert er mich im Moment doch überhaupt nicht«, sagte das Wesen. »Gestatte, dass ich mich vorstelle. Ich heiße Adramelech und bin dein Retter.« »Ihr habt mich gerettet? Warum? Und wie habt Ihr das gemacht? Wir … wir sind hier doch in den Verliesen der Burg Laufen, oder? Und das Brett, auf das ich gebunden war, ist auch hier. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.« »Nun, in der Tat, aber das ist lediglich eine Sache der Sichtweise, wie du ja vorhin auf dem Brett schon einmal festgestellt hast, Anna Gödelin. Die meisten Menschen können eben nicht begreifen, was Wesen meiner Art als völlig normal betrachten.« »Woher wisst Ihr von meinen Gedanken? Könnt Ihr sie gar lesen? Seid Ihr … am Ende der Teufel?« Adramelech lachte leise. »Nun, der Teufel bin ich nicht. Noch nicht. Aber ich vermag eine ganze Menge, das stimmt. So schwamm ich unsichtbar neben dir her, um dich vor dem Schlimmsten zu bewahren. Gut, ein Mal habe ich mich kurz vorgestellt, das konnte ich mir nicht verkneifen. Du warst nie in Gefahr, Anna Gödelin, ich habe gut auf dich aufgepasst. Es war immer eine unsichtbare Blase um dich, die dir ausreichend Luft zum Atmen garantiert hat. Auch die Schläge und Stöße im Wasser hast du nicht wirklich erlitten. Du verzeihst mir, dass ich dir das nur vorgegaukelt habe. Aber Wesen meiner Art können sich ungemein an Schmerz und Leid erfreuen, die Wesen deiner Art erleiden müssen.« Er hielt einen Moment inne. »Und als das Brett aus dem Wasser
geschossen ist, habe ich es mitsamt dir einfach weggezaubert. Hierher an diesen lauschigen Ort. Oh, wie gerne würde ich die maßlos enttäuschten Gesichter derer sehen, die am Ufer warteten oder mit den Booten auf dem Wasser waren, um deinen zerschmetterten Leichnam zu bergen. Aber da gibt es nun gar nichts mehr. Wahrscheinlich glauben sie nun, du seiest wirklich eine Hexe, Anna Gödelin.« Anna fröstelte es erneut. »Und, bin ich eine? Ich meine, wenn ich schon vom Teufel gerettet werde.« Adramelech klappte das Rad wieder zusammen. »Ich sagte doch schon, dass ich Wert darauf lege, noch nicht der Teufel zu sein. Aber, um deine Frage zu beantworten: Du bist keine Hexe. Ganz sicher nicht.« »Was … was bin ich dann?« »Nun, das werden wir dir sogleich beantworten«, mischte sich der Andere ein. Er war überaus klein und hässlich und glich den warzigen schwarzen Kröten im Rheinsumpf. Auch deshalb, weil er ein schwarzes Wams trug. Nicht nur durch den schwarzen Vollbart wirkte er noch gefährlicher als Adramelech. Das Funkeln in seinen Augen strahlte Bösartigkeit aus. Vor seiner Brust hing eine seltsam gearbeitete silberne Scheibe an einer Silberkette. Nervös spielte seine rechte Hand an dem Schmuckstück herum. Er lachte hässlich. »Mein Name ist übrigens Leonardo de Montagne. Und wir beide sind extra aus Frankreich angereist, um dein Herz zu erobern, schönes Kind.«
7. Dunkles Herz Thronsaal des Fürsten der Finsternis 1104 (nach menschlicher Zeitrechnung) Asmodis saß auf dem Knochenthron, der ausschließlich aus menschlichen Knochen bestand, die Beine breit gestellt, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Der Fürst der Finsternis stützte sich mit dem Ellbogen des rechten Arms auf dem Knie ab, während seine Krallen an der schrundigen Unterlippe herum spielten. Nachdenklich schaute er den Irrwischen zu, die in seinem Thronsaal umher schwirrten. »Du da, bring mir Pluton, meinen Berater, her«, befahl er schließlich einem der Winzlinge. »Aber schnell. Ich möchte ihn umgehend hier sehen. Er weilt gerade in den Schwefelklüften, das weiß ich.« Keine fünf Minuten später erschien der Erzdämon Pluton vor dem Schwarzen Berg, der Palast und Thronsaal des Fürsten der Finsternis beherbergte. Pluton, der wie üblich in seiner humanoiden, flammenumkränzten Gestalt auftrat, meldete sich bei Adax, einem fledermausähnlichen Geschöpf, das als Herr der Wächterdämonen fungierte, an. »Ihr werdet bereits erwartet, Herr«, erwiderte Adax und geleitete Pluton ins Innere des Schwarzen Berges. Asmodis hatte die magischen Fallen, die es trotz der Wächter überall im Palast gab, außer Kraft gesetzt. Pluton verneigte sich nicht, als er vor dem Fürsten der Finsternis stand. Das hatte er nicht nötig. Als Zeichen seines Respekts genügte ein kurzes, grelles Aufflackern seines Flammenmantels. »Du hast mich gerufen, Asmodis?« »Stell dir vor, ja«, antwortete der Fürst der Finsternis ungnädig. »Und da ich dich gerufen habe, kannst du dir sicher vorstellen, dass ich etwas von dir will.«
»Sprich.« Pluton ließ sich von den Launen des Höllenfürsten nur wenig beeindrucken. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass es mein Garderobier neuerdings nicht mehr so genau nimmt mit seiner Loyalität zu mir. Was man so hört, möchte er selbst gerne Fürst der Finsternis werden. Weißt du etwas davon?« Wieder flackerte der Flammenmantel auf. Die Augen in dem Teufelsgesicht mit der runzligen, ledrigen Haut glühten in einem grellen Dunkelgelb auf und unterstrichen seine düstere Majestät, die der Asmodis' in nichts nachstand. »Adramelech will an deinem Stuhl sägen? Nein, Fürst, davon habe ich nichts gehört, sonst wäre ich selbstverständlich sofort damit zu dir gekommen.« Ein höhnisches Lachen drang aus dem Maul des Flammenumhüllten. »Ich halte das auch eher für ein Gerücht. Adramelech ist zwar von einer gewissen Stärke. Aber das Format, das ein Fürst der Finsternis hat, besitzt er nicht. Ich wüsste nicht, wie er es anstellen wollte, dich vom Thron zu stürzen.« »Ich sehe es wie du, Pluton. Ich kann's mir einfach nicht vorstellen. Und trotzdem habe ich die Informationen aus zuverlässiger Quelle erhalten. Du wirst also Adramelech ein wenig unter die Lupe nehmen und schauen, was er in letzter Zeit so getrieben hat, mein Lieber. Und ausloten, wer von den ehrenwerten höllischen Herrschaften in einer eventuellen Verschwörung noch mit drin hängt. Anschließend werden wir uns je nach Bedarf beraten.« »Ich höre und gehorche.«
Einige Tage später sprach Pluton erneut beim Fürsten der Finsternis vor. Asmodis war gerade damit beschäftigt, Schädel und Rippen eines menschlichen Magiers namens Aronax von Aachen, der ihn hatte austricksen wollen, am Knochenthron zu befestigen und andere Knochen ein wenig umzugruppieren. »Der Schädel dieses luziferverfluchten Magiers kommt auf die Sitzfläche, mit dem Gesicht nach oben, direkt dorthin, wo sich mein After während des Sitzens zu befinden pflegt«, erläuterte der Fürst seinem Berater. »Die Seele Aronax' brennt zwar bereits auf der See-
lenhalde Mitte, wo sich besonders viele Peinteufel um sie kümmern. Aber mit einem kleinen Zauber habe ich es so eingerichtet, dass Aronax' Seele jedes Mal, wenn ich auf dem Thron sitze, in seinen Schädel fahren muss. Durch all die üblen Gerüche, die er so erdulden muss, soll er noch mehr gepeinigt werden. Das hat er sich verdient, denn Aronax hat mich geärgert.« »Wie hübsch. Ideen hast du, Asmodis, das muss man dir lassen. Neben deiner Fähigkeit, die Hölle zu regieren, natürlich. Da bin ich ziemlich gespannt, was du mit Adramelech anstellen wirst.« Ein Flammenstrahl schoss aus den Nüstern des Fürsten, während er Aronax' Schädel einpasste und magisch fixierte. »Dann hatte ich also Recht. Mein Garderobier will mir an die Wäsche. Augenblick noch, Pluton.« Asmodis ließ sich zum Probesitzen nieder. »Perfekt, passt. Die Mundöffnung des Aronax-Schädels ist deckungsgleich mit meinem After. Da bleibe ich gleich sitzen.« Plötzlich erfüllte lautes Wehklagen den Thronsaal des Fürsten, abgelöst von einem »Pfui Teufel, hier stinkt's ja wie im Schlafzimmer meines Weibes« und einem lauten würgenden Husten. »Mach doch mal … einer das Fenster auf … das ist ja nicht zum Aushalten hier.« »Ah, der Zauber funktioniert bereits«, kicherte Asmodis. »Aronax' Seele ist eingetroffen. Während er in seinem Schädel ist, weiß er allerdings nicht, wo er sich befindet, er glaubt, nach wie vor auf der Erde zu sein. Soll ich ihm die Stimme abdrehen, damit er uns nicht stört?« »Nein, lass ihn doch schimpfen und würgen. Es ist anregend, wie ich finde.« »Also gut. Was hast du mir zu berichten, Pluton?« »Dein Informant hat sich nicht getäuscht. Adramelech plant tatsächlich einen Umsturz. Und was ich bei meinen Nachforschungen herausgefunden habe, gefällt mir gar nicht. Er will Mächte beschwören, die die ganze Hölle hinwegfegen könnten.« Asmodis runzelte die Stirn und entließ eine kräftige Flatulenz. Daraufhin zeterte Aronax wie ein Rohrspatz. »Übertreibst du da jetzt nicht ein wenig?« »Hör dir zuerst an, was ich dir berichte und urteile dann, Asmodis. Es geht um das fünfte der höllischen Mysterien.«
Der Fürst der Finsternis dachte einen Moment nach. »Du meinst das Gebärende Herz?« »Genau das.« »Aber das ist doch Unsinn. Das Gebärende Herz ist nichts als eine Legende. Wenn ich's richtig weiß, erzählt das fünfte Mysterium vom Werden der Hölle. Danach sollen die Schwefelklüfte und alle Dämonischen samt dem Kaiser LUZIFER aus dem Gebärenden Herzen entstanden sein. Dieses Herz, bei dem es sich ohnehin nur um eine bildliche Allegorie für jene Kraft, die einst die Hölle schuf, handeln dürfte, soll unendlich mächtig sein. So stark, dass derjenige, der sich die Kräfte des Gebärenden Herzens nutzbar machen kann, Herr über die komplette Schöpfung ist. Also bitte.« Pluton legte eine kleine Kunstpause ein. »Ja, das ist die Legende, wie wir sie bereits unseren Kindern erzählen, unser Schöpfungsmythos. Allerdings gibt es noch eine zweite Version der Geschichte. Die dreht sich ums Dunkle Herz, das allerdings identisch mit dem Gebärenden Herzen sein soll. Eine sehr viel wirklichkeitsgetreuere Version.« Asmodis horchte auf. »Du machst mich neugierig. Davon müsste ich doch eigentlich wissen.« »Nein. Niemand aus dem Höllenadel kennt diese Geschichte mehr. Und das ist auch gut so. Allerdings schlummert die wahre Geschichte um das Dunkle Herz noch immer in unseren Archiven. Die Teuflischen Archivare verwahren die uralte Schrift, die in den Abgrund der Zeiten zurückführt, vielleicht sogar bis an den Anfang.« »Die Teuflischen Archivare, so, so. Das hätte ich mir denken können.« Asmodis verzog geringschätzig das Gesicht. Fast jeder in den Schwefelklüften verachtete die wolfsähnlich aussehenden Dämonen, die in einer riesigen Höhle mit zahlreichen Nebenhöhlen und langen Stollen hausten. Dort bewahrten sie Milliarden von Schriften, Schriftrollen, Folianten, Papyri und andere Dinge, auf die man schreiben konnte, auf. Sie alle besaßen irgendeinen Bezug zur Geschichte der Hölle, zu allem, was in den Schwefelklüften jemals vorgegangen und ruchbar geworden war. Trotzdem wussten die Archivare genauestens, wo was zu finden war.
»Ja, unsere feigen, Speichel leckenden Freunde. Nun, die Schrift, auf der die Geschichte um das Dunkle Herz verzeichnet ist, wird irgendwo ganz hinten in den verzweigten Kavernen aufbewahrt, unter Stapeln anderer Pergamente. Ich bin mir sicher, dass die Schrift schon vor Jahrmillionen hätte vernichtet werden sollen, aber so was können unsere Freunde nicht. Ich bin mir weiterhin sicher, dass die Archivare sich seinerzeit dem Befehl widersetzt und die Schrift in ihrer seltsamen Höhle haben verschwinden lassen.« »Jahrmillionen sagst du? Ich würde nicht beschwören, dass es die Teuflischen Archivare da schon gab. Dämonenrassen kommen und gehen.« »Wie auch immer, Asmodis. Dein Garderobier hat als Vorsitzender des Hohen Rats der Teufel naturgemäß ein weitaus besseres Verhältnis zu den Archivaren, da er sich immer mal wieder um alte Sitzungsvorlagen, Protokolle und Beschlüsse kümmern muss. Ohne die Wölfe geht da nichts. Nun, Tarolf, einer der Archivare, hat sich vor einiger Zeit bei Astaroth unbeliebt gemacht und wäre von diesem beinahe getötet worden. Aber Adramelech ist dazwischen gegangen und hat ihn gerettet. Aus lauter Dankbarkeit hat ihm Tarolf das uralte Pergament gezeigt. ›Weil ich sicher bin, dass dich das als Bewahrer der höllischen Mysterien interessiert‹, sagte er dabei.« »Sagte er, so, so. Und was steht nun also drin in diesem Pergament?« Plutons Flammenkleid loderte erneut hell auf. »Wir reden hier von Satans allererstem Ministerpräsidenten, Asmodis. Laut diesem Pergament nannte er sich Mavet und soll direkt aus LUZIFER hervorgegangen sein. Auch damals wurde der Ministerpräsident schon Lucifuge Rofocale genannt, aber es war wohl nur ein Titel.« »Interessant«, flüsterte Asmodis. »Nehmen wir an, hier steckt tatsächlich nur ein Funke Wahrheit drin, dann müssten wir ein Stück Höllengeschichte neu schreiben. Bisher wird uns nämlich erzählt, dass Lucifuge Rofocale so alt wie LUZIFER und die Hölle selbst sei. Das kann ja dann so nicht mehr stimmen. Und deiner Formulierung ›allererster Ministerpräsident‹ entnehme ich, dass es weitere dazwischen gegeben hat. Wie alt, zum Engel, ist unsere Hölle tatsächlich?« »Weiß ich nicht. Auf jeden Fall hatten die Dämonischen damals
schon den Auftrag, Menschenseelen in die Hölle zu holen. Mavet war dabei noch höchst selbst mit an der Front und ziemlich erfolgreich. Dann hat es ihn aber erwischt, weil er einer menschlichen Magierin namens Rebecca in die Falle gegangen ist. Sie hat ihn tödlich verletzt, aber er konnte noch einmal entkommen.« »Hm.« »So steht es geschrieben. Mavet konzentrierte also den letzten Rest seiner Magie in seinem Herzen und ›ging durch einen Menschen hindurch‹, wie es heißt. Bei diesem Durchgang hat er sein Herz unbemerkt in diesem Menschen platziert. Dieses Herz, bald schon Dunkles Herz genannt, hatte den Auftrag, sich so lange unbemerkt in menschlichen Körpern aufzuhalten, bis es Mavet einst gelingen würde, wiederzukehren und sich um das Herz herum zu erneuern.« »Klingt wirklich nach einer wahren Geschichte.« »Pass auf, was noch kommt, Asmodis. Diese Magierin, Rebecca, ist wohl wirklich darauf hereingefallen. Es heißt, dass sie Mavets toten Körper in einer Oase fand und sich damit zufrieden gab. Das Dunkle Herz aber führte seinen Auftrag aus. Jahrmillionen tarnte es sich mehr oder weniger unauffällig in menschlichen Körpern. Das sage ich deswegen, weil bei allen Trägern des Dunklen Herzens irgendwann schwarzmagische Fähigkeiten ausbrachen, beim einen mehr, beim anderen weniger. Das Dunkle Herz hat sich wohl seine neuen Wirtskörper selber ausgesucht und die alten in kritischen Situationen so lange am Leben gehalten wie nötig. Nun, es war wohl so, dass sich das Dunkle Herz tatsächlich vor den menschlichen Magiern verstecken konnte. Aber eingeweihte Dämonen aus dem Höllenadel wussten um das Dunkle Herz, das durch die Menschen und durch die Zeiten wanderte. Mavets Zeitgenossen waren selbst stark genug, sie benötigten die Kraft, die im Dunklen Herzen konzentriert war, nicht.« »Willst du damit sagen, dass unsere magischen Fähigkeiten im Laufe der Zeit abgenommen haben?« »Ich nicht, Asmodis. Aber diese seltsame Schrift behauptet es. Zu den Zeiten des Beginns, steht dort, seien die magischen Fähigkeiten der Dämonischen ›um ein Tausendfaches‹ stärker gewesen und im Laufe der Zeit fast zum Nichts verkümmert.«
»Fast zum Nichts? Das ist ja wohl eine Unverschämtheit. Unsere Macht soll nichts sein im Vergleich mit den Altvorderen? Das wage ich aber ganz stark zu bezweifeln. Weißt du was, Pluton? Da hat irgendeiner ziemlich stark übertrieben.« »Ich sage nicht, dass es nicht sein kann, ich sag aber auch nicht ja. Auf jeden Fall wurde das Dunkle Herz für Dämonen späterer Zeiten plötzlich ein begehrtes Objekt. Laut des Pergaments verfügte es für diese nämlich über schier unglaubliche, unheimliche Kräfte und die eingeweihten Dämonischen wussten anscheinend immer, wo es sich gerade befand. Einige haben es wohl gewagt, die Macht des Dunklen Herzens in ihre Dienste zu zwingen, um selber bis an die Spitze zu gelangen. Aber sie scheiterten alle, weil sie ›die unheimliche, viel zu starke Kraft‹ nicht bändigen konnten. Sie alle starben eines grausamen Todes. Aber das war wohl noch nicht alles. Zwei Mal wurden, wenn man der Schrift Glauben schenken will, weite Teile der Hölle total verwüstet, als das Dunkle Herz sich wehrte. Es gab Hunderttausende toter Dämonen.« »Mit Schwund muss gerechnet werden«, murmelte Asmodis. »Nun, ich glaube zu verstehen. Um die Macht des Dunklen Herzens zu nutzen, mussten diese Dilettanten, denn um nichts anderes kann es sich dabei gehandelt haben, die Tarnung des Herzens aufheben. Und das hat diesem gar nicht gefallen. Denn Mavet hat es ja darauf programmiert, sage ich jetzt mal, sich möglichst unauffällig zu verhalten.« »So in etwa. Nach diesen Vorkommnissen ging der Höllenadel dazu über, die Existenz des Dunklen Herzens totzuschweigen, weil man niemanden mehr in Versuchung führen wollte und die angerichteten Schäden zu immens waren. Tatsächlich war dann das wirkliche Wissen darum nach vielen Jahrhunderttausenden verloren gegangen. Nur eine verbrämte Legende blieb, die Eingang in unsere Mysterien gefunden hat.« »So weit habe ich's verstanden, Pluton. Und nun wirst du mir sicher gleich erzählen, dass Adramelech das Dunkle Herz gefunden hat und es einspannen will, um mich vom Höllenthron zu stoßen.« »Richtig.« »Gestatte, dass ich lache, mein Böser. Wie will der Wicht dieses an-
geblich so mächtige Artefakt kontrollieren?« Pluton lachte schauerlich. »Ehre, wem Ehre gebührt. Ein Wicht ist Adramelech nun nicht gerade. Er gehört in den Kreis der Erzdämonen, wenn auch sicher der schwächeren. Und er war schon immer sehr findig. Er glaubt tatsächlich, dass er eine Möglichkeit gefunden hat, das Dunkle Herz zu kontrollieren. Dazu hat er einen Pakt mit einem menschlichen Schwarzmagier geschlossen.« »Hä?« »Ja. Mit einem gewissen Leonardo de Montagne, einem Franken. Er ist im Besitz dieses Amuletts, das dein ehemaliger Bruder Merlin erst neulich aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen haben soll, wie man munkelt. Niemand weiß genau, was die Zauberscheibe für Fähigkeiten hat, aber es soll eine ungeheuer starke magische Waffe sein. Die stärkste, die seit vielen tausend Jahren von einem Magier geschaffen wurde.« »Mag sein. Ich werde mich demnächst um dieses Amulett kümmern. Bisher bin ich noch nicht dazu gekommen. Aber wenn Merlin es tatsächlich geschaffen hat, müssen wir davon ausgehen, dass es etwas taugt. Trotzdem: Wenn dieses Dunkle Herz so überragend mächtig sein soll, dann dürfte auch ein sehr starkes Amulett nicht zur Kontrolle ausreichen.« »Ja. Deswegen würde ich dir dringend empfehlen, mein hoch verehrter Asmodis, deinen Garderobier Adramelech umgehend über die Klinge springen zu lassen. Zerre ihn wegen Hochverrats und wegen akuter Gefährdung der Sicherheitslage der Schwefelklüfte vor ein Tribunal. Man wird ihn zum Tode verurteilen und das Urteil sofort vollstrecken.« »Das würde man zweifellos«, murmelte Asmodis. »Aber das hat Zeit. Momentan lassen wir alles, wie es ist. Ich möchte beobachten, was Adramelech so alles anstellt. Vielleicht bekommen wir ja erste Hinweise auf die Stärke des Dunklen Herzens und des Amuletts. Ach ja, noch eine Frage zum Schluss: Wie zum Engel konnte Adramelech herausfinden, wer das Dunkle Herz gerade beherbergt?« »Es ist so einfach, dass du es kaum glauben wirst. Über den Spiegel des Vassago.« »Vassago? Wie kann das zugehen? Unser auf Erlösung hoffender
Freund kann doch nur das auf Wasserflächen zeigen, wovon er selbst Kenntnis hat.« Pluton machte ein Zeichen der Zustimmung. »Das ist richtig. Aber du übersiehst, dass Vassago zu den ältesten Dämonen der Hölle gehört. Niemand weiß, wie alt er wirklich ist, aber es könnten eine Million Jahre oder mehr sein. Manche erzählen sich, dass Vassago deshalb erlöst werden will, weil er schon viel zu lange gelebt und viel zu viel Böses getan habe. Mir scheint so, dass Vassago die Zeiten, in denen das Dunkle Herz noch ein Begriff war, bereits erlebt hat. Es muss damals nur ein einziges Mal über seinen Spiegel ausgeforscht worden sein, dann besteht die Verbindung auf ewig. So jedenfalls begreife ich Vassagos Magie.« »Ja, du liegst richtig. Hm. Vielleicht sollten wir Vassago mal ein wenig über das Dunkle Herz ausquetschen.« Pluton lachte spöttisch und machte einen Kratzfuß. »Das habe ich längst getan. Vassago bestätigt, dass das Dunkle Herz eine furchtbare Kraft besitzt, die selbst als Bruchteil dessen, was sie einmal in Mavet war, noch immer himmelhoch über unseren Fähigkeiten steht. Er sagt nicht, dass er das Wüten dieser Kraft bereits miterlebt hat, aber er beschreibt eine Katastrophe in der Hölle so plastisch und detailreich, dass man zu gar keinem anderen Schluss gelangen kann.« »Wie kann er dann so einfältig sein, Adramelech zu helfen?« »Vielleicht glaubt er ja, dass er durch eine von ihm initiierte weitgehende Zerstörung der Hölle sein positives Punktekonto mit einem Schlag deutlich erhöhen und seine Erlösung so beschleunigen kann.« »Erlösung im Licht, was für ein Unsinn. Erlösung gibt es nur in LUZIFER. Bisher hat Vassago nur gesponnen, aber jetzt wird er gemeingefährlich. Vielleicht sollte ich ihn lieber heute als morgen aus dem Verkehr ziehen.« »Dann kannst du auch gleich als Fürst der Finsternis abdanken. Vassago ist eine Institution und dessen Eliminierung würde sich der Höllenadel nicht gefallen lassen.«
Burg Laufen, im Jahre des Herrn 1104 Leonardo de Montagne verschob mit zwei Fingern fünf der Hieroglyphen auf seinem Amulett gegeneinander. Flink und geübt agierte er. Gleichzeitig aktivierte er die Silberscheibe per Gedankenbefehl. Aus dem Nichts entstand eine tief schwarze Kugel, die fast das ganze Verlies ausfüllte. Gedankenschnell legte sie sich um den Schrecklichen und um Anna Gödelin. Adramelech beobachtete gespannt. Würde ihr Plan aufgehen? Ja! Das Amulett gehorchte, das schwarze Feld zog sich in derart rasender Geschwindigkeit zusammen, dass nicht einmal das Auge des Dämons mehr folgen konnte. So klein wurde es, dass es gerade noch den Kontakt zu dieser Wirklichkeitsebene behielt, auch wenn es außerhalb derselben lag. Während Leonardo in dem schrumpfenden Schwarzfeld verblieb, hatte es Anna Gödelin wieder ausgespuckt. Die Frau taumelte, ließ das Leinenkleid fallen und sank mit einem Gurgeln zu Boden. Gebrochene Augen starrten zur Decke. Anna war so schnell gestorben, dass sie es nicht einmal gemerkt hatte.
Leonardo de Montagne stand irgendwo im Nichts, den linken Fuß etwas erhöht, so paradox sich das auch anhörte. Mit großer Angespanntheit starrte er auf den pulsierenden Gegenstand, der vor ihm in der Finsternis hing. Alles hier war von schwarz leuchtender Schönheit in diesem Mini-Universum, das das Amulett auf seinen Befehl hin geschaffen hatte. Niemals hätte Leonardo es für möglich gehalten, dass die Silberscheibe eigene Welten erschaffen konnte. Adramelech hatte ihm gezeigt, wie es ging. Die Möglichkeiten des Amuletts schienen tatsächlich unbegrenzt zu sein. Und nun sah er es zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht: das Dunkle Herz, das aus dem Abgrund der Zeiten stammte. Das Dunkle Herz, das sich seit Jahrmillionen in menschlichen Körpern tarnte, um auf Mavets Rückkehr zu warten. Das Dunkle Herz, dessen schwarze Kraft so enorm war, dass selbst Lucifuge Rofocale, Sa-
tans Ministerpräsident dagegen nur ein laues Windchen in einem brüllenden Sturm war. Jedenfalls hatte Adramelech genau diesen Vergleich gebraucht. Nun, da Leonardo der unheimlichen Macht des Dunklen Herzens direkt gegenüber stand, die Ausstrahlung spürte, war er gewillt, Adramelech aufs Wort zu glauben. Auch wenn er keine Ahnung von Lucifuges Fähigkeiten hatte. Leonardo wusste, dass er alles oder nichts spielte. Aber es gab Ziele, für die sich jeder Einsatz lohnte. Der Plan des Erzdämons sah vor, in einem Überraschungsschlag Anna Gödelin das Dunkle Herz zu entreißen und es zusammen mit dem Schrecklichen in dieses Mini-Universum zu versetzen, wo es außer den Beiden nichts und niemanden gab. Da das Dunkle Herz den Drang besaß, zur Tarnung in menschliche Körper zu schlüpfen, würde es ganz automatisch in den Leonardos übergehen – glaubte zumindest Adramelech. Was aber, wenn das Dunkle Herz ungehalten über die plötzliche Attacke war? Wenn es zu dem Schluss kam, den Angreifer besser zu vernichten? Schließlich wusste der neue Besitzer in diesem Fall, was er beherbergte und das konnte nicht im Sinn dieser auf vollständige Tarnung bedachten magischen Macht sein. Würde die Kraft des Amuletts den Angriff des Dunklen Herzens dann tatsächlich abwehren können? Adramelech war sich dessen völlig sicher, er hielt die Silberscheibe für ähnlich stark wie das Dunkle Herz. Doch nur Letzteres konnte Leonardo garantieren, zum Dämon und damit unsterblich zu werden. Der Schreckliche musste aber lernen, es durch die Kraft des Amuletts zu kontrollieren und zu manipulieren. Das Dunkle Herz pulsierte plötzlich stärker. Leonardos eigenes zog nach. Wie rasend spürte es der Schwarzmagier hoch oben im Hals klopfen. Todesangst nie gekannter Stärke durchflutete ihn, ließ ihn beben und zittern. Jetzt! Er spürte, dass sich im nächsten Moment sein Schicksal erfüllte. Triumph oder Tod. Das Dunkle Herz schien zu explodieren. Eine schwarze Wand raste auf Leonardo zu, umhüllte ihn, drang in ihn ein. Er sah Seelen, die brüllend im Höllenfeuer brannten, die von Legionen von Peinteufeln geknechtet wurden. Angst und Grauen überfluteten ihn.
Ewigkeitslang. Obwohl die Visionen nur einen winzigen Moment dauerten. Dann war es vorbei. Leonardo tastete seinen Körper ab. Er lebte, alles war wie zuvor. Nicht ganz. Er barg nun das Dunkle Herz, auch wenn er nichts davon spürte. Gewonnen! Das Amulett hatte seine Aufgabe erfüllt. Es löste das Mini-Universum auf, entließ Leonardo und sich selbst wieder in die gewohnte Wirklichkeitsebene. »Es hat geklappt«, stellte Adramelech fest, als Leonardo vor ihm aus dem Nichts tauchte. »Ja, es hat tatsächlich geklappt«, pflichtete ihm der Schreckliche bei und nickte. Fast unauffällig verschob er eine Hieroglyphe und peitschte das Amulett zum Angriff. Silberne Blitze lösten sich aus dem Amulettzentrum und schlugen in Adramelechs Körper. Der Erzdämon brüllte gepeinigt, versuchte einen Abwehrzauber. Zu spät. Das silberne Leuchten breitete sich in ihm aus, ließ ihn durchscheinend werden. Leonardo konnte inmitten des Silberglanzes die Schatten von Organen wahrnehmen, die ein Eigenleben zu besitzen schienen und sich krümmten und zuckten. Vielleicht rührte das aber auch nur von dem silbernen Licht her. Blitz auf Blitz schlug in den taumelnden Körper des Erzdämons, der wie irre schrie und umher taumelte. Das Silberleuchten löste seine inneren Organe auf, fraß sich nach außen und ließ schließlich nur noch einen Haufen schwarze Asche vom »Bewahrer der sieben höllischen Mysterien« zurück. »Du wolltest mich benutzen, Dämon«, flüsterte Leonardo mit unverhohlenem Triumph in der Stimme. »Glaubst du, ich hätte das nicht gemerkt? Aber nicht mit mir. Natürlich hast du gewusst, dass du auf mich achten musst, dass ich dir gefährlich werden könnte. Aber dass ich so schnell und kompromisslos zuschlage, damit hast du nicht gerechnet. Du hast wohl geglaubt, ich warte erst noch ab, bis du mir weitere Funktionen des Amuletts erklärt hast. Damit hofftest du mich ruhig zu halten, bis du deine Ziele erreicht hast. Aber diese Funktionen werde ich alleine herausfinden.« Leonardo kicherte ob seiner Grabrede für den Erzdämon. Wie
schön, dass du mir den Weg zur Unsterblichkeit gezeigt hast, Adramelech, fügte er in Gedanken noch hinzu. Aber nun werde ich selbst Asmodis herausfordern und vom Thron stoßen. Ich will alles und ich bekomme alles.
Königreich Jerusalem, im Jahre des Herrn 1104 Pluton erreichte Asmodis im Königreich Jerusalem, wo der Fürst der Finsternis einige wichtige Dinge zu erledigen hatte. Sie trafen sich nachts auf einer einsamen Düne unter einem klaren, prächtigen Sternenhimmel. »Leonardo de Montagne hat es höchstwahrscheinlich geschafft, mit Hilfe des Amuletts das Dunkle Herz in sich aufzunehmen«, erstattete der Erzdämon Bericht. »Ganz sicher sind sich unsere Spione aber nicht.« Er schob die Einzelheiten hinterher. »Was hingegen ganz sicher ist: De Montagne hat keine Sekunde damit gezögert, Adramelech zu töten. Mit dem Amulett ist ihm das spielend leicht gefallen.« »Was denn, mein Garderobier ist von uns gegangen?« Asmodis lachte höhnisch. »Mit Schwund muss nun mal gerechnet werden«, zitierte er seinen Lieblingsspruch. »Das kommt davon, wenn man sich die falschen Verbündeten aussucht.« »Ja. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht einen Fehler gemacht haben, die Beiden einfach gewähren zu lassen. Mit dem Amulett scheint de Montagne das Dunkle Herz tatsächlich beeinflussen zu können.« »Hm. Und was soll ich deiner Ansicht nach nun tun, mein Böser? Diesen Montagne umbringen lassen?« »Davon würde ich erst einmal abraten, Asmodis. Denn wir wissen nicht, wie das Dunkle Herz darauf reagiert. Uns kann es herzlich egal sein …«, er kicherte ob dieses Bildes, »… ob sich das Dunkle Herz nun in Anna Gödelin oder in de Montagne versteckt. Der Kerl hat keine anderen Ambitionen als unsterblich zu werden, wenn die Spione das richtig verstanden haben.«
»Kann ihm das gelingen?« »Schwer zu sagen. Bisher hat das Dunkle Herz keinen seiner Wirtskörper unsterblich gemacht. Sie alle sind nach natürlichen Zeitspannen gestorben. Andererseits, wie ich bereits sagte, kann er das Dunkle Herz wohl beeinflussen.« »Wenn das wirklich so ist, könnte er irgendwann die Hölle erobern. Aber das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wir warten ab, was weiter geschieht.«
Thronsaal des Fürsten der Finsternis / Château Montagne, im Jahre des Herrn 1105 Wieder erschien Pluton im Thronsaal des Höllenfürsten. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, Asmodis«, sagte er. »Ich glaube, dass eine Art von Entscheidung bevorsteht.« Der Fürst der Finsternis entließ eine Schwefelwolke und brachte die Seelen in den Wänden des Thronsaals damit zum Jammern und Klagen. »Könntest du dich vielleicht klar und deutlich ausdrücken, was du meinst, Pluton? Ich kämpfe an vielen Fronten und habe keine Lust auf Ratespiele.« »Verzeih. Es geht um das Dunkle Herz«, erwiderte der Flammenumkränzte. »Nachdem de Montagne vom Rheinfall nach Frankreich zurück gereist ist, hat er über ein halbes Jahr mit dem Amulett experimentiert. Und nun versucht er, ein Tor in die Hölle zu öffnen. Aufgrund einiger Äußerungen sind meine Spione sicher, dass er dich angreifen wird, um selbst Fürst der Finsternis zu werden. Immer wieder brabbelt er außerdem vor sich hin, dass er spüre, langsam zum Dämon zu werden. Irgendwie kann er das Dunkle Herz also doch beeinflussen. Das alles halte ich für äußerst Besorgnis erregend.« »Deine Spione, was. Wen hast du auf Château Montagne platziert? Irrwische, die ohnehin die Hälfte falsch verstehen?« »Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass du die Möglichkeiten der Irrwische derart falsch einschätzt«, gab Pluton süffisant zurück.
»Aber nein, ich habe niederes Fußvolk dort, das in der Gestalt von Ratten auftritt.« »Und dieses angeblich so starke Amulett kann sie nicht erkennen? Lächerlich.« »Warum sollte es? De Montagne rechnet nicht im Traum damit, von uns beobachtet zu werden. Mir scheint, dass du in Gedanken ganz woanders bist, Asmodis. Dabei solltest du diesen Emporkömmling Ernst nehmen. Sonst könntest du ganz schnell Ex-Fürst der Finsternis sein oder ganz tot.« »Spar dir deine einfältigen Belehrungen, Pluton«, zischte Asmodis ungehalten. »Sonst könntest du ganz schnell Ex-Berater des Fürsten der Finsternis sein oder ganz tot. Was also schlägst du vor?« »Wir müssen die Entscheidung auf dem Château suchen, bevor de Montagne den Weg in die Hölle findet. Das Dunkle Herz darf auf keinen Fall in den Schwefelklüften auftauchen. Viel zu gefährlich.« »Also gut. Dann gehen wir sofort.« Asmodis trat zu Pluton und berührte ihn durch die Flammen hindurch. Dann drehte er sich drei Mal blitzschnell um die eigene Achse, ohne die Berührung zu unterbrechen, murmelte einen Zauberspruch und verschwand mit seinem Berater schwefelstinkend im Nichts.
Leonardo de Montagne saß an einem kleinen Holztisch irgendwo in den Gewölben tief unter Château Montagne. Fackeln steckten in den Halterungen an den Ziegelwänden und verbreiteten unheimliches Licht. Ein paar Ratten huschten hin und her. Leonardo beachtete sie nicht. Tagealter Schweiß bedeckte seinen Körper, er stank bestialisch. Unter dem Barett vor hingen ihm die strähnigen Haare wirr ins Gesicht. Es interessierte ihn nicht. Mit fanatischem Blick fixierte er das Amulett, das in seiner rechten Hand lag. Nach kurzem Überlegen verschob er sieben Hieroglyphen in einer bestimmten Reihenfolge. »Ja«, flüsterte er. »Gottverdammt, so müsste es gehen. Ich glaube, jetzt hab ich's. Gleich wird sich das Tor in die Hölle endgültig öffnen. Ja … hab Dank, Dunkles Herz, ich hab deinen Hinweis verstanden … wie konnte ich nur so dumm sein, ihn nicht zu verste-
hen?« Die Gewölbewand vor ihm begann in einem fahlen, milchigen Weiß zu flimmern. Erst ganz zart und durchscheinend. Dann verdichtete sich das Flimmern zu einem kreisrunden Leuchten. Etwas Schwarzes entstand im Zentrum, dehnte sich aus … »Ja, ja …« Speichel lief aus Leonardos Mundwinkeln, als er den gespenstischen Vorgang mit offenem Mund verfolgte. »Neiiiiiiiin!« Leonardos Wutschrei gellte durch die Gewölbe, ließ die Ratten erschrocken quiekend fliehen. Das Tor war erneut in sich zusammengefallen, ehe es sich stabilisieren konnte. Er stand auf und trat wuchtig gegen das Tischbein. Der Tisch wirbelte über den Steinboden und knallte gegen die Wand. Der Stuhl folgte gleich darauf. Zwei Feuerdämonen kamen blau leuchtend um eine Säule geschossen. »Können wir Euch helfen, Herr?« Er warf das Amulett nach ihnen. »Macht euch vom Acker!«, brüllte er. Kreischend flohen die Feuerdämonen, bevor das Amulett sie erreichte. Die Silberscheibe klapperte zu Boden. Der Schwarzmagier rief sie wieder zurück in seine Hand. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich Leonardo wieder beruhigt hatte. Zur Ablenkung befahl er dem Amulett, ihm Bilder von den Baustellen zu zeigen. Obwohl es sinnlos geworden war, ließ er seine Leibeigenen noch immer Gänge in den Felsen hauen. Einfach nur, um sie und ihre Familien zu quälen. Winzige bewegte Bilder entstanden im Zentrum des Amuletts und wurden lebensgroß in Leonardos Gehirn projiziert. Sie zeigten verzweifelte, schwer schuftende Männer mit blutenden und eiternden Wunden. Auf dieselbe Weise warf er einen Blick in den »Brunnen«. Bei diesem handelte es sich mitnichten um einen solchen, sondern um einen vierzig Fuß tiefen Kerker, in den die Gefangenen durch einen kreisrunden Schacht hinunter gelassen wurden. Wer einmal dort unten saß, verreckte elend, denn er bekam nichts zu essen und nur das zu trinken, was er von den feuchten Wänden lecken konnte. Leonardo berauschte sich an einem zitternden, zum Skelett abgemagerten Mann, der mit einem Stein zwei Striche in einen Wandstein ritzte. Dabei wimmerte er ununterbrochen. Sieben Leichen la-
gen um ihn herum. Er würde selbst bald zu ihnen gehören. Hin und wieder hatte einer begonnen, seine toten Mitgefangenen aufzufressen, aber das kam für Leonardos Geschmack viel zu selten vor. Neben ihm entstand eine Bewegung. Der Schreckliche fuhr herum. Voller Entsetzen starrte er auf die zwei mächtigen Gestalten, die aus dem Nichts erschienen waren. Dämonen! Der eine besaß die Gestalt eines neun Fuß großen, schwarzen Teufels, dessen Schwanz mit der dreieckigen Spitze aufgeregt peitschte. Der andere erschien als zwölf Fuß hohe Flammensäule, durch die schemenhaft ein menschlich geformter Körper sichtbar war. Eine Ausstrahlung von gewaltiger Kraft und Macht traf Leonardo. Sie übertraf die Adramelechs bei weitem. Der Schwarzmagier war versucht, auf die Knie zu sinken und sich den Eindringlingen zu unterwerfen, wer immer sie auch sein mochten. Doch nur für einen Augenblick. De Montagne riss sich zusammen. Durch seinen Kontakt mit Adramelech waren die Berührungsängste mit hohen Dämonen weitgehend abgebaut. »Wer seid ihr, was wollt ihr hier?«, fragte er und konzentrierte sich gleichzeitig auf das Amulett. »Ich bin Asmodis, Fürst der Finsternis«, erwiderte der schwarze Teufel mit angenehmer Stimme und spie dabei eine Flammenlohe. »Und der hier ist Pluton, mein Berater. Ich habe gehört, dass du die Absicht hast, mich herauszufordern, um mich vom Thron zu fegen, Menschlein. Außerdem hast du meinen Garderobier auf dem Gewissen. Das alles erfordert härteste Bestrafung. Wir sind gekommen, um dich dorthin zu holen, wo es immer heiß ist.« »Nach Spanien?«, murmelte Leonardo, der bei den Worten des Teufels allerdings gehörig erschrocken war. Er fackelte nicht lange. Aus dem Zentrum des Amuletts Schossen silberne Blitze. Sie schlugen in die Körper der beiden Dämonen. Gleichzeitig flossen gespenstisch grün leuchtende Energien aus der Silberscheibe und legten sich eng um Leonardos Körperkonturen. Asmodis schrie grässlich. Er wand sich und musste seine ganze magische Kraft aufbieten, um die furchtbaren Energien, die in seinem Körper tobten, zu neutralisieren. Wären sie weißmagischer Na-
tur gewesen, hätte er jetzt bereits tot sein können. Da sie aber schwarzmagisch wie seine eigenen waren, bekam er sie mit Mühe unter Kontrolle. Mit einem Schwarzfeld, das er um sich legte, konnte er die Blitze, die im Zehntelsekundentakt aus dem Amulett schossen, sogar ins Nichts ableiten. Auch Pluton zuckte unter großen Schmerzen. Er bekam nicht so viele der Blitze ab und ließ deren Energien von seinem Flammenmantel fressen. Die, die durchkamen, rissen allerdings fürchterliche Löcher in seinen Körper. Aber auch er bekam den Angriff unter Kontrolle. Leonardo schrie wie irr und reckte den Dämonen das feuernde Amulett entgegen. »Ja, ich töte euch, ich werde selbst Herr der Hölle, meiner Macht ist niemand gewachsen!« Das ganze Gewölbe war nun ein einziges Inferno zuckender Leuchterscheinungen. Bis auf Leonardos Brüllen und dem Krachen von Ziegeln, die von fehl gegangenen Blitzen aus der Wand gesprengt wurden, spielte sich der Kampf allerdings in gespenstischer Lautlosigkeit ab. Hinter dem Schutz des Schwarzfeldes drehte sich Asmodis drei Mal um seine eigene Achse. Und tauchte direkt hinter Leonardo auf! Zeit zum Gegenangriff! Gleich werde ich deine Seele in meinen Krallen zerquetschen, du kleines, überhebliches Mistschweinchen … Asmodis fasste nach Leonardos Genick, um es mit einem Ruck zu brechen. Und kam dabei mit der grünen Energie in Berührung. Kaum auszuhaltende Schmerzen rasten durch seine Hand den Arm hoch, peinigten den ganzen Körper, entrissen ihm Kraft. Erneut brüllte Asmodis auf, zog die Hand zurück und drehte sich im Kreis. Nie im Leben hätte er vermutet, dass die Energien, die dieses Amulett zu entfesseln vermochte, so mächtig waren! Bruder aus alten Zeiten, was hast du da geschaffen …? Pluton merkte, dass sie dabei waren, den Kürzeren zu ziehen. »Hilf uns, Dunkles Herz, das du in diesem Körper wohnst«, brüllte er. »Du bist dämonisch wie wir, nicht so wie dieser Mensch! Hilf uns, Mavet!« In diesem Moment war alles anders. Leonardo spürte, wie sich
eine machtvolle, dunkle Wand in seinem Bewusstsein aufbaute und einen ungeheuren Zwang auf sein Bewusstsein ausübte. Er sah keine Bilder, hörte keine Worte. Und wusste doch, dass ihn die Dunkle Macht von hier fort trieb. Leonardos Geist wimmerte, sein Wille schmolz wie Schnee in der Sonne. Mit einem letzten verbleibenden Rest befahl er dem Amulett, die Angriffe einzustellen und ihn stattdessen vor dem Dunklen zu schützen. Tatsächlich erschien für einen Moment ein silbernes, grün leuchtendes Gespinst in der dunklen Wand. Wie Würmer wanden sich die dünnen Fäden, zuckten und wurden von der Dunkelheit überspült. Leonardos Körperspannung erlahmte. Die Hand mit dem Amulett sank nach unten. Seine kompletten Augen leuchteten plötzlich in tiefem Schwarz. Gespannt beobachteten die beiden Erzdämonen den Vorgang, bereit, umgehend zu verschwinden, wenn es erneut gefährlich wurde. Zum ersten Mal wurden sie hautnah mit dem Wirken des Dunklen Herzens, dieser Macht aus uralter Zeit, konfrontiert. Doch Leonardo drehte sich abrupt um und verließ das Gewölbe. Asmodis und Pluton sahen sich an und huschten hinterher. Über steile Treppen erreichte Leonardo die Oberwelt. Tageslicht empfing ihn. Wie ein Zombie tappte er durch die Gänge der Burg, schnurstracks auf den Gesindetrakt zu. Doch die Erste, die ihm begegnete, war ausgerechnet sein Weib Johanna! Ängstlich wollte sie sich in einen Seitengang schleichen, als sie ihn kommen sah, ihm ausweichen, die Begegnung mit ihm vermeiden. »Bleib stehen!«, schrie er. Johanna verharrte, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Zitternd sah sie ihm entgegen. »Was kann ich für Euch tun, mein Herr und Gebieter«, flüsterte sie mit bebender Stimme, als er vor ihr stand. »Ich bin Eure ergebene Sklavin. Soll ich Euch die Stiefel lecken?« Leonardo, dessen Augen wieder normal wirkten, jedoch weit aufgerissen waren, erwiderte nichts. Schmutzig und abgerissen sah er aus, fast wie die Köhler im Walde. Er packte Johanna an den Oberarmen – und ging durch sie hindurch! Wie ein Geist verschmolz er für einen winzigen Augenblick mit
ihr und trat aus ihrem Rücken wieder heraus. Dann sank er mit einem Seufzer zu Boden.
Leonardo de Montagne kämpfte mit dem Tod. Das Dunkle Herz hatte, da es entdeckt worden war, seinen »Durchgang« durch eine andere Person erzwungen, um den Wirtskörper wechseln zu können. Das wäre normalerweise gleichbedeutend mit seinem Ableben gewesen. Er spürte, dass die dunklen Energien ihn töteten. Amulett!, schrie sein sterbendes Bewusstsein in allergrößter Panik, beschütze mich, bekämpfe die Kräfte, die mir schaden wollen! Tatsächlich spürte der Schwarzmagier, dass das Dunkle, das so ungeheuren Druck auf ihn ausübte und sein Leben auslöschen wollte, geringer wurde, dass sich sein fliehendes Leben wieder ausbreiten konnte. Aber was war mit dem Amulett? Die dunkle Kraft verschwand im Zentrum, dort, wo der Drudenfuß saß! Leonardo spürte, dass die Silberscheibe es nicht schaffte, die tödlichen schwarzen Energien zu vernichten. Und so sog sie sie einfach in sich auf, kapselte sie in einem dieser Mini-Universen ab, die zu schaffen sie in der Lage war. Leonardo hätte dies niemals begriffen, doch das Amulett übermittelte ihm noch während des Vorgangs diese Information. Ein Beleg dafür, wie eng er bereits mit ihm verflochten war. Doch für diesen Vorgang griff das Amulett erneut auf Leonardos Kraftreserven zurück. Als er bemerkte, dass hier der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben wurde, warf er es entsetzt von sich. Gleich war es etwas besser. Doch das Amulett hatte sich bereits üppig bei ihm bedient. So blieb der Schreckliche erschöpft liegen, konnte kaum den Kopf heben. Sein Weib Johanna stand über ihm, starrte auf ihn herab, wusste nicht, was sie tun sollte, denn mit keinem Gedanken ahnte sie, was hier gerade passiert war. Das Dunkle Herz in ihr verhielt sich völlig ruhig. »Hilf mir hoch«, röchelte Leonardo und reckte ihr einen Arm entgegen. Er schaffte es kaum, ihn vom Boden zu heben. Asmodis und Pluton traten um die Ecke des Ganges, wo sie gelau-
ert und den seltsamen Vorgang mitverfolgt hatten. Als Johanna die Dämonen sah, erschrak sie zu Tode. Sie kreischte laut, schlug das Kreuz und floh voller Entsetzen in den Gesindetrakt. Asmodis kickte das Amulett weg. Es schlidderte ein Stück weit über den Steinboden. Dann setzte er seinen Fuß auf Leonardos Brust. Der Schwarzmagier stöhnte. »So, Menschlein, genug gespielt jetzt. Deine Zeit ist gekommen. Die Hölle erwartet deine Seele bereits sehnsüchtig.« Er kicherte. »Nun, ganz so eilig ist es auch wieder nicht. Ich möchte, dass du etwas davon hast. Schön langsam sollst du verrecken, Menschlein. Weißt du, wer mit dem Teufel würfelt, sollte immer ein Auge mehr haben als dieser. Du hattest immer einige weniger und musst nun den Preis bezahlen.« »Bitte, Herr, habt Erbarmen mit mir«, wimmerte Leonardo und küsste die Kralle, die sich dicht vor seinem Gesicht befand. »Von was redet der?«, fragte Asmodis seinen Berater. »Weißt du, was Erbarmen ist, Pluton?« »Nein. Nie gehört.« Asmodis riss den Schrecklichen hoch, warf ihn sich über die Schulter und trug ihn hinunter in die Gewölbe. Dann rief er die Feuerdämonen. »Ihr werdet diesen Kerl hier siebenundsiebzig Tage bei vollem Bewusstsein quälen«, befahl er Uhim. »Verbrennt seinen Körper langsam, nehmt ihm Arme und Beine, so dass zum Schluss nur noch sein Torso übrig bleibt. Und dann, am siebenundsiebzigsten Tage, werde ich höchstpersönlich seine Seele in die Hölle holen.« »Wir hören und gehorchen, Herr. Nichts werden wir lieber tun als das, denn er hat uns geknechtet und gedemütigt.« »Gut. Und wenn ich mit euch zufrieden bin, werde ich euch diese Burg als neue Heimstatt schenken, samt den Seelen der Menschen, die ihr hier ergattern könnt. Mit diesen Seelen mögt ihr kräftiger werden und in der Hierarchie der Hölle ein ganzes Stück aufsteigen. Ich belohne die, die mir treue Dienste leisten.« Ein wohliges Aufseufzen ging durch die Reihen der Feuerdämonen. »Wir danken dir, Herr«, sang es. »Wir werden dich nicht enttäuschen.«
Der Fürst der Finsternis und sein Berater versetzten sich in die Burg zurück. »Und nun, mein böser Pluton, werden wir uns mal eingehender um dieses Amulett kümmern. Eine sehr interessante Waffe, die ich unbedingt haben möchte. Sie wird meine Macht stärken.« Leonardo triumphierte. Die Erzdämonen wussten nicht, dass er das Amulett zu sich rufen konnte, dass er den Feuerdämonen keineswegs hilflos ausgeliefert war. »Bleibt mir vom Leibe, oder ich strafe euch auf furchtbarste Weise«, krächzte er, ein klein wenig erholt. »Du hast uns nichts mehr zu befehlen, Menschlein«, sang Uhim und ließ den Schrecklichen in seinem kalten, blauen Licht baden. »Du hast keine Macht mehr über uns.« »Das glaubt ihr. Ich werde euch das Gegenteil beweisen.« Leonardo rief das Amulett. Voller Entsetzen starrte er auf seine ausgestreckte Hand, in der es nun eigentlich liegen müsste. Aber da war nichts. Sie war leer! Er versuchte es erneut. Und wieder und wieder. Das Amulett blieb verschwunden. Gleich darauf gellten hysterische Schreie durch die Gewölbe, als die Feuerdämonen über ihn herfielen und ihm das linke Ohr abbrannten.
Asmodis und Pluton suchten nach dem Amulett, fanden es aber nicht. Selbst mit all ihrer magischen Macht konnten sie es nicht mehr lokalisieren. »Das ist seltsam«, zischte Asmodis. »Und äußert ärgerlich. Wo ist die Silberscheibe hin? Einer der Burgbewohner hat sie ganz sicher nicht an sich genommen.« »Ich befürchte, dass es etwas mit dem Dunklen Herzen zu tun hat«, erwiderte Pluton. »Es scheint zwar keine Intelligenz zu sein, sondern nur geballte magische Kraft, die nach einem eingegebenen Programm reagiert; in etwa wie bei den Computern der Ewigen, wenn ich diesen Vergleich mal gebrauchen darf. Also ein magischer Gegenstand wie dieses Amulett. Ich hoffe nicht, dass sich die Beiden nun auf irgendeine Art und Weise verbünden. Nun, es wäre besser, wenn wir eine solche Macht, die wir nicht kontrollieren können, ver-
nichten.« »Ja, natürlich. Das schaffen wir spielend, mein neunmalkluger Berater. Warum nur habe ich plötzlich das Gefühl, dass du dir selbst widersprichst? Wir alle haben keine Chance gegen das Dunkle Herz, aber wir vernichten es.« Pluton lachte. »Man soll niemals gleich alle Karten auf den Tisch legen. Das weißt du selbst ganz gut, Asmodis.« »Also?« »Nun, meine Spione haben mir erzählt, dass Adramelech auch um den Verbleib der vier magischen Ziegel wusste, mit deren Kraft die Magierin Rebecca den Ministerpräsidenten Mavet tödlich verletzte. Sie sind als Heiligtümer durch die Zeiten gerettet worden. Es gab immer wieder Organisationen und geheime Orden, die deren Geheimnis hüteten. Auch das ist bei den Teuflischen Archivaren genauestens vermerkt. Einige von ihnen scheinen genau zu verfolgen, was in dieser Beziehung passiert.« »Vielleicht müsste ich denen tatsächlich mal genauer auf die Krallen schauen.« »Wie auch immer. Nun, erst vor zwei Jahren wurden die Ziegel und deren Geheimnis von den beim Kreuzzug fast ausgerotteten Jüngern Salomons in Jerusalem an einen neuen Orden übergeben, der sich Templer nennt. Die Templer bestehen aus wenigen eingeweihten Rittern und sie wollten die Ziegel nach Europa schaffen. Doch Adramelech hat die echten Ziegel heimlich gegen Kopien ausgetauscht und sie de Montagne übergeben. Der wiederum hat sie in ein Gewölbe einmauern lassen, um das Dunkle Herz vernichten zu können, falls es außer Kontrolle gerät. Tatsächlich steht in den Schriften, die unsere wölfischen Freunde hüten, dass die Ziegel, sofern sie alle vier beieinander sind, das Dunkle Herz sofort vernichten, wenn sie mit ihm konfrontiert werden.« »Äußerst interessant. Zeig mir das Gewölbe.« Pluton tat, wie ihm geheißen. Es handelte sich um einen aus Ziegeln gemauerten Raum, in dem ein kelchartig geformter Steinblock stand. Die vier Ziegel, an die der Erzdämon tippte, unterschieden sich in nichts von den anderen. »Bist du sicher? Diese Steine sind magisch so tot wie alles hier.«
»Ganz sicher bin ich mir nicht, Asmodis. Allerdings haben sich die anderen Dinge bisher auch als wahr herausgestellt. Deswegen bin ich zuversichtlich.« »Gut. Wagen wir es. Ich hole dieses Weib, in dem das Dunkle Herz sich jetzt höchstwahrscheinlich tarnt, per Teleportation hierher. Dann sehen wir, was passiert.« Asmodis erwischte Johanna de Montagne in der alten Burgkapelle, in der sie zitternd betete. Leonardo hatte den kleinen Anbau zur Tarnung bestehen lassen, obwohl ihm seine Ausstrahlung schon länger ein Dorn im Auge war. Den Fürsten der Finsternis störte sie nicht sonderlich. Er schnappte sich Johanna und setzte sie im Gewölbe ab. Blitzschnell entfernte er sich wieder. Gerade noch im richtigen Moment! Milchiggelbes Licht floss aus den vier magischen Steinen, formte eine Kugel, die das komplette Gewölbe umschloss. Gleichzeitig löste sich eine schwarze Wolke aus Johannas Körper. Sie begann sich auszubreiten, versuchte das Licht zu durchdringen. Ein furchtbarer Kampf auf magischer Ebene entspann sich. Selbst Asmodis und Pluton zitterten ob der entfesselten Kräfte, zwischen denen sie ganz sicher zerrieben worden wären. Johanna als nicht magisches Wesen schaffte es hingegen, durch das Inferno, von dessen martialischer Gewalt sie außer einer Art Wetterleuchten nichts mitbekam, zu fliehen. Schluchzend hastete sie durch die Gänge in die Burg zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben verfluchte die gottesfürchtige Frau ihren Mann, der das Château zu einem Hort des Bösen gemacht hatte, zu einem Ort, an dem Höllendämonen aus- und eingingen. Nachdem sie das Gewölbe verlassen hatte, geschah Seltsames. Die dunkle Wolke aus schwärzester Magie formte sich zu dem Herz, das sie einst in Mavets Brust gewesen war und ließ sich auf dem Steinblock nieder. Dort verharrte das Dunkle Herz, weil es sich nicht gegen die Macht der vier Ziegel durchsetzen konnte. Auch das milchige Licht erlosch. Nachdem sich das Dunkle Herz wieder etwas erholt hatte, sandte es einen Ruf aus, denn es suchte einen neuen menschlichen Körper,
in dem es auf Mavets Rückkehr warten konnte. Tatsächlich erschien kurz darauf ein junger Mann aus dem Gesinde der Burg im Gewölbe. Er bekam große Augen und fing zitternd an zu beten, als er das tiefschwarze, pulsierende Herz auf dem Steinblock liegen sah. Es ging in eine Wolke auf und drang in seine Brust. Als das Dunkle Herz mit dem Mann verschwinden wollte, hinderte es wiederum das milchige Licht daran, das plötzlich ein Gespinst aus feinen Linien bildete und sich dort verdichtete, wo es mit der Finstermagie in Kontakt kam. Das Licht ließ lediglich den Mann passieren, nicht aber das Dunkle Herz. Wieder platzierte es sich auf dem Steinblock. Das Dunkle Herz versank in eine Art Dämmerschlaf, um den Attacken des Lichts zu entgehen. Denn wenn es schlief, blieb auch die Magie der Ziegel passiv. »So weit habe ich das verstanden. Aber mir ist nach wie vor ein Rätsel, warum die Ziegelmagie das Dunkle Herz nicht zerstört hat«, murmelte Pluton vor sich hin. »Einen Teilerfolg haben wir immerhin erreicht, Asmodis. Das Dunkle Herz ist gebannt, es kann diesen Platz nicht mehr verlassen.« »Ja«, erwiderte der Fürst der Finsternis. »So weit, so gut. Aber das reicht mir nicht. Vielleicht schafft es das Dunkle Herz eines Tages doch, die Magie der Ziegel zu überwinden. Da die Ziegel Mavets Vermächtnis nicht töten, könnte das darauf hin deuten, dass sie im Laufe der Zeit schwächer geworden sind. Sprich, dass sie es gar nicht mehr schaffen, das Dunkle Herz zu eliminieren.« »Was willst du also tun, Asmodis?« »Das wirst du gleich sehen.« Der Fürst der Finsternis intonierte Zaubersprüche und stärkte ihre Macht mit in die Luft gemalten magischen Beschwörungszeichen. Feste Felswände entstanden aus dem Nichts und schlossen alle Zugänge zu dem Gewölbe, in dem das Dunkle Herz ruhte, hermetisch ab. Schon kurze Zeit später wäre niemand mehr auf die Idee gekommen, dass es in dem anscheinend massiven Felsen eine geheime Kammer gab. »Perfekt.« Asmodis rieb sich die Krallen. »Nun kann das Dunkle Herz rufen, so lange es will. Kein menschliches Wesen kann jemals wieder zu ihm gelangen.«
Plutons Flammenmantel leuchtete grell. »Möglich. Aber vielleicht machst du gerade einen Denkfehler, Asmodis. Denn wenn das Dunkle Herz das Licht tatsächlich überwinden kann, könnte es einfach zum nächsten Menschen huschen.« »Und wenn meine Großmutter ein Raumschiff wäre, könnte sie schießen. Es bleibt so, wie es ist«, entschied der Fürst der Finsternis. »Über alles andere reden wir, wenn es so weit ist.«
Nachdem Leonardo der Schreckliche ein Jahr nicht mehr auftauchte, wurde zum Jahresanfang 1106 sein Tod offiziell verkündet. Die Menschen atmeten auf und Clodwig kehrte als neuer Herr nach Château Montagne zurück. Er war damals im letzten Moment entkommen, nachdem Adramelech seine Existenz als Schwarzer Ritter an Leonardo verraten hatte. Clodwig hatte die Protektion Suger von Gerberoys angenommen, von dem er auch das Kämpfen und Fechten gelernt hatte. Und den Glauben an Gott, der ihm auf Château Montagne schon fast abhanden gekommen war. Clodwig führte ab da ein gottgefälliges Leben, er sagte sich öffentlich von den Untaten seines Vaters los. Und mit Hilfe des Bischofs von Lyon, Hugo von Burgund, säuberte er Château Montagne von dem Bösen, das sich eingenistet hatte. Dabei stießen sie auch auf das Gewölbe, in dem die Feuerdämonen sangen. Die schauerlichen Wesen versuchten sie anzugreifen, aber Clodwig und Hugo von Burgund hielten sie sich mit geweihten Kreuzen, Heiligenstandarten und Weihwasser vom Leib. Während die Dämonischen einen blau leuchtenden Kreis um sie bildeten, aus dem immer wieder eine Knochenhand nach ihnen griff und noch schneller wieder zurückzuckte, untersuchten die Beiden die bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche, die verkrümmt auf dem Boden lag. Arme und Beine fehlten ihr völlig, aber auf Grund eines Ringes war sich Clodwig sicher, dass es sich um den Schrecklichen handelte. Vater nannte er das Ungetüm schon lange nicht mehr. »Er hat die Geister, die er rief, nicht mehr unter Kontrolle gebracht«, murmelte Clodwig. »Und er ist ihnen schließlich zum Opfer
gefallen. Möge Gott über ihn richten, denn ich kann es nicht. Und möge er seiner armen, verblendeten Seele gnädig sein. Schauen wir nun zu, mein lieber Hugo, dass wir diese feurigen Geister wieder dorthin zurück treiben, wo sie hingehören. In die Hölle nämlich.« Aber das klappte nicht. Sie schafften es lediglich, die Feuerdämonen in das Gewölbe zu bannen. Dazu funktionierte Hugo von Burgund, der Weißen Magie ein wenig mächtig, das Wappen der Montagnes auf der dunklen Tür, die ins Gewölbe führte, zu einem starken Bannzeichen um. Danach ließ er den Gang, der zu diesem Gewölbe führte, zumauern. Clodwig hätte gerne das Amulett seines Vaters gehabt, um damit Gutes zu bewirken. Er suchte es überall, aber es blieb unauffindbar.
Caermardhin, Wales, im Jahre des Herrn 1105 Der Alte mit dem wallenden, weißen Bart, der weißen Kutte und den ewigkeitsjungen Augen saß in seiner magischen Burg Caermardhin, die sich unsichtbar auf einem Felsen in Wales erhob. Merlin, der Zauberer, fixierte das Amulett, das vor ihm auf dem Tisch lag und das er erst vor kurzem aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen hatte. »Es ist gut, dass ich dich sofort wieder aus dem Verkehr gezogen habe, Stern von Myrrian-ey-Llyrana«, sprach er mit der Silberscheibe. »Schon jetzt werden die Begehrlichkeiten derjenigen, die dich nicht haben sollen, sehr groß. Daher konnte ich dich nicht über Jahrhunderte in Château Montagne lassen, denn sonst würde dich Zamorra, dem du zugedacht bist, niemals dort finden.« Merlin hob das Amulett hoch und betrachtete es sinnend. »Ja, du bist das siebte und beste, du bist perfekt geworden. Erst mit dir bin ich wirklich zufrieden. Aber noch wirst du auf der Welt nicht gebraucht. So wirst du die nächsten Jahrhunderte mit mir hier in Caermardhin verbringen. Und erst kurz, bevor du Zamorra zu Diensten sein wirst, werde ich dich wieder im Château platzieren. Wir wollen
doch nicht, dass dich mein dunkler Bruder Asmodis über all die Jahre hinweg missbraucht, nicht wahr? Es hat genügt, dass Leonardo dies getan hat.« Merlin schritt zum Eingangstor der Burg. Das Amulett flog hinter ihm her. Mit einer Handbewegung wies er ihm einen Platz zentral auf dem halbrund gemauerten Torbogen zu. Es flimmerte leicht, als der Stern von Myrrian-ey-Llyrana den Stein berührte und sich mit diesem verband. Wie ein schönes Schmuckstück war das Amulett über dem Tor eingelassen. Doch gleich darauf versteinerte es ebenfalls. Wie eine schön geformte Rosette wirkte das Amulett nun. Niemand würde in ihr die unglaubliche Waffe vermuten, die der Zauberer von Avalon geschaffen hatte.
8. Beichte Schloss Laufen Zamorra spürte, dass sich Merlins Stern auf seiner Brust plötzlich erwärmte. Griff er nun doch noch an? Hatte sich Taran, der Hund, endlich zum Eingreifen entschlossen? Doch statt der sehnlich erwarteten silbernen Blitze löste sich schwarzes Wabern aus dem Amulettzentrum! Das gibt's nicht! Zamorra war wie vor den Kopf gestoßen. Der Schock lähmte ihn für einen Moment. Die Schwärze aus dem Amulettzentrum stieg hoch und drang in das blaue Dhyarrafeuer ein! Sofort wurde es wieder schwächer, das Leuchten nahm ab. »Du musst es verstärken, Nici!«, brüllte der Professor. Mit verzerrtem Gesicht reagierte Nicole. Sie stellte sich Feuer vor, das heller als eine Sonne leuchtete, die Explosion einer Supernova, in der die Schwärze verblasste und verging. Und es geschah. Für einen Moment glaubte sich Zamorra tatsächlich im Zentrum einer Atomexplosion. Ein unglaublich greller, glühender Blitz breitete sich im Gewölbe aus, fräste sich förmlich durch geschlossene Lider, brannte sich in Netzhäute ein. Das schwarze Wabern ging endgültig darin unter. Dann war es zu Ende. Zamorra und Nicole saßen wie paralysiert auf dem Boden. »Nici, bist du da?« »Ich bin hier, Chéri. Ich … kann nichts mehr sehen.« »Ich auch nicht. Nur dieses grelle, weißblaue Licht. Rede, damit ich zu dir kriechen kann.« Gleich darauf hatte Zamorra sie erreicht, tastete nach ihrer Hand. So warteten sie ein wenig ab. »Wenn es nicht besser wird, musst du die Helligkeit mit dem Dhyarra wieder weg denken, Nici.« »Ich weiß nicht, wo er ist. Ich habe ihn verloren. Vielleicht kann ich ihn auf dem Boden ertasten.«
Sie fand ihn nicht. Stattdessen bekam Zamorra plötzlich geistigen Kontakt zu Merlins Stern. Unglaubliche Bilder erschienen in dem Leuchten, erzählten eine ganze Geschichte, obwohl der Kontakt höchstens eine Zehntelsekunde dauerte. Zamorra empfand es als eine Art Beichte, verbunden mit einer Entschuldigung. Der Meister des Übersinnlichen war erschlagen. Erste schwarze Punkte erschienen in der Grelle, verdichteten sich langsam zu Konturen. Minuten später hatten die beiden Dämonenjäger ihre volle Sehfähigkeit wieder erlangt. Die Fackel brannte noch immer. Anna lag tot auf dem Boden. Blicklos starrte sie an die Decke. »Hoffentlich hast du nun deine ewige Ruhe gefunden«, sagte Zamorra. Nicole sah ihn fragend an, sagte aber nichts. Sie bemerkte ihren Dhyarra in einer Ecke und nahm ihn an sich. Ohne einen Blick zurück zu werfen, verließen sie das Gewölbe.
Château Montagne »Darf ich erfahren, was ihr in der Schweiz erlebt habt?«, fragte Fooly. Er war sofort angewatschelt gekommen, als Zamorras BMW über die Zugbrücke auf den Hof von Château Montagne gefahren war. Zamorra lehnte sich auf die offene Tür. »Natürlich, Kleiner. Alles klar hier auf dem Château?« »Ja, so weit schon.« »Was heißt so weit?« Der kleine Drache stieß eine Rauchwolke aus. »Vielleicht solltet erst einmal ihr erzählen, Chef und Mademoiselle Nicole, dann kann ich mir sicher besser einen Reim darauf machen.« Kurze Zeit später, nachdem Zamorra und Nicole ausgiebig geduscht hatten, saßen sie im Wohnzimmer. William servierte dreißig Jahre alten Whisky, Bowmore Islay Single Malt, den die beiden Dämonenjäger sichtlich genossen. Fooly, der auch auf einem Glas bestanden hatte, war deswegen von William aufs Strengste gerügt worden. »Das schwarze Herz, das unten in den Gewölben ruht, wird
Dunkles Herz genannt«, begann Zamorra die Geschichte mundgerecht für Fooly aufzubereiten. »Es stammt wohl aus einer Zeit, die wir uns nicht mal im Ansatz vorstellen können, so weit liegt sie zurück. Es gehörte Mavet, einem unglaublich mächtigen Wesen, das Satans allererster Ministerpräsident gewesen sein soll. Und es ist eng mit der Geschichte des Leonardo de Montagne verbunden.« »Woher weißt du das alles auf einmal, Chef? Ich hatte doch den besseren Kontakt zu dieser dunklen Macht, aber das habe ich nicht erfahren können.« Fooly blickte fast besorgt drein. Zamorra lächelte. »Keine Sorge, Kleiner. Ich bin nicht besser als deine Drachenfühler und werde es auch nie sein. Es ist nur so, dass über Jahrhunderte hinweg ein kleiner Teil der Magie des Dunklen Herzens auch in Merlins Stern gespeichert war. Diese schwarze Kraft hat das Amulett gehemmt. Nun, da sie wieder draußen ist, hat mir das Amulett, vielleicht Taran, was weiß ich, alle wichtigen Informationen zukommen lassen.« »Das kann doch nicht sein.« »Ist aber so. Ich erzähle dir gleich die ganze Geschichte in allen Details. Vorab nur so viel: Leonardo war schon als junger Mann auf der Suche nach Unsterblichkeit. Dabei stieß er auf das Dunkle Herz. Bei diesem handelt es sich um die Restmagie des tödlich verletzten Mavet, die er auf der Erde hinterlassen hat, damit er sich irgendwann darum wieder erneuern kann. Das Dunkle Herz tarnte sich in menschlichen Körpern. Und Leonardo fand heraus, dass es zu seiner Zeit die Schweizerin Anna Gödelin in sich trug.« »Ja«, fuhr Nicole fort. »Da sich das Dunkle Herz seine Wirtskörper aber selbst erwählte, da es ja nicht entdeckt werden durfte, musste Leonardo zu einem Trick greifen, damit es auf ihn überging. Denn er wollte es besitzen, um damit unsterblich zu werden.« »Wie sollte das gehen?«, fragte Fooly. »Wenn ich's richtig verstanden habe, hat das Dunkle Herz die Körper immer wieder gewechselt und keinen davon unsterblich gemacht. Oder?« »Richtig.« Nicole nickte. »Aber er wollte das Dunkle Herz mit Hilfe von Merlins Stern, der ja ebenfalls sehr mächtig ist, so beeinflussen, dass es ihn zum Dämon werden ließ. Und die sind ja bekanntlich so gut wie unsterblich, zumindest extrem langlebig.«
»Ach so.« Zamorra war wieder dran. »So hat Leonardo Anna Gödelin in der Schweiz, damals noch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, aufgesucht und ihr das Dunkle Herz durch den Einsatz von Merlins Stern abspenstig gemacht. Durch das gewaltsame Herauslösen aus Anna Gödelin ist ein kleiner Teil des Dunklen Herzens in ihr verblieben und hat dafür gesorgt, dass sie all die Jahrhunderte über am Leben blieb, wenn auch schlafend wie Dornröschen.« »Wenn du sonst keine Märchen erzählst«, meinte Fooly. Zamorra grinste. »Aber nie im Leben, Kleiner. Normalerweise sind die Wirtskörper immer gestorben, wenn das Dunkle Herz sie verließ. Denn es hat sie ganz gezielt mit seiner Magie getötet. Bei Anna Gödelin aber war es anders. Das Dunkle Herz hatte sie ja noch nicht töten wollen und so wirkte das, was in ihr verblieb, nicht tödlich, sondern gegenteilig.« »Das habe ich verstanden.« »Bist ja auch ein intelligenter Drache. Nun, Leonardo hatte es also geschafft, das Dunkle Herz zu besitzen. Aber sein Triumph war nicht von langer Dauer. Er legte sich nämlich mit Asmodis und Pluton an. Daraufhin suchte das Dunkle Herz einen neuen Besitzer und zwang Leonardo zu einem ›Durchgang‹ durch seine Frau Johanna. Dabei hätte der Schreckliche eigentlich sterben müssen. Doch er beherrschte das Amulett bereits so gut, dass Merlins Stern ihm das Leben rettete, indem er die Todesmagie auf sich umlenkte, aufsog und in einem Mini-Universum in sich abkapselte. Die beiden Erzdämonen sorgten dann dafür, dass das Dunkle Herz, dessen Macht sie fürchteten, hier unten in den vergessenen Gewölben festgesetzt wurde. Sie benutzten dazu vier magische Ziegel, mit denen einst die Magierin Rebecca den Superdämon Mavet tödlich verletzt hatte.« »Die vier Geistwesen«, murmelte Fooly. »Diese Ziegel sind nicht nur geballte magische Kraft ohne Verstand, so wie das Dunkle Herz. In ihnen wohnen lebendige Wesen. Vielleicht sind sie auch diese Wesen.« »Woher weißt du das?« »Später. Erzählt erst ihr weiter, Mademoiselle Nicole und Chef. Auf jeden Fall ist das alles ziemlich schrecklich. Vor allem, dass die
Schwarze Magie im Amulett war.« Nicole nickte. »Das alleine wäre allerdings noch nicht so schrecklich. Aber im Laufe der Jahrhunderte sah Merlins Stern diese dunkle Magie immer mehr als Teil seines eigenen Wesens an. Wir wissen ja, dass er magisch neutral ist. Deswegen hat das Amulett auch nicht zurückgeschlagen, als das Dunkle Herz unten im Verlies Zamorra angegriffen hat. Denn es sah Mavets Hinterlassenschaft als verwandte Entität an. Das Dunkle Herz seinerseits erkannte, wie auch die Gödelin, die Ausstrahlung Zamorras und des Amuletts, die so gut wie identisch mit der Kombination Leonardo/Amulett sein muss.« »Ja, Anna Gödelin konnte es nicht begreifen. Dieselbe Ausstrahlung, aber ein jüngerer Mann als einst Leonardo. So glaubte sie, dass Leonardo zur Unsterblichkeit noch einen Jungbrunnen gefunden habe und sich damit verjüngt hat. Tja, Blut ist eben dicker als Wasser«, feixte Zamorra. »Das Amulett und ich hatten also genau die Ausstrahlung Leonardos, der das Dunkle Herz gewaltsam von seinem Wirtskörper getrennt und damit für das beginnende Unheil gesorgt hatte. Der Erzfeind schlechthin also, den es mit aller Macht zu bekämpfen galt. Auch wenn das Dunkle Herz keine Intelligenz ist, muss es sich das Feinbild Leonardo/Amulett doch irgendwie eingeprägt haben. Anstatt mich als neuen Wirtskörper zu benutzen, ist es sofort auf mich losgegangen.« »So in etwa. Und das dunkle Ding hätte dich dann ja auch fast am Wickel gehabt, Chéri. Immerhin hat sich Merlins Stern dazu herabgelassen, dich in höchster Not dann doch noch zu schützen.« »Wofür ich ihm unendlich dankbar bin.« Der Professor grinste. »Und mir ist jetzt auch klar, warum es nur einen gelben, wesentlich schwächeren Schutzschirm aufbaute, als Anna Gödelin auf dem Känzeli gegen mich kämpfte. Es wollte sie nicht töten, weil es auch in ihr Dunkle Herzmagie und damit ein verwandtes Wesen erkannte. Aus demselben Grund ließ die Gödelin beim Kampf auf dem Känzeli plötzlich von mir ab. Sie hatte die abgeschottete Finstermagie im Amulett erspürt und mich als artverwandt eingestuft, obwohl sie mich kurz zuvor noch als Herzräuber beschuldigt hatte. Irgendwie muss sie das alles ziemlich durcheinander gebracht haben. Denn dadurch war sie zwiegespalten, sie besaß plötzlich kein klares
Freund-Feindbild mehr.« Zamorra nickte. »Und als du, Nici, das Dunkle Herzteil der Gödelin mit dem Dhyarra angegriffen und beinahe vernichtet hattest, entließ das zwiegespaltene Amulett sein eigenes Magiefragment, um dem anderen zu helfen. Nun, da sie beide vernichtet sind, kann Merlins Stern wohl wieder klar denken, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Sonst hätte er mich wohl kaum mit den ganzen Informationen gefüttert.« »Und was ist nun mit dem Dunklen Herzen an sich?« »Ah ja, wir sind etwas abgeschweift, richtig. Nun, das Dunkle Herz war, nachdem es die Erzdämonen in das Verlies verbracht hatten, in eine Art Dämmerschlaf verfallen, weil es sich nicht ständig den zerstörenden Energien der vier Ziegelgeister aussetzen wollte. Keine Ahnung, warum die Geister das Dunkle Herz nicht töteten, so wie zuvor schon Mavet. Aber gut. Sie sorgen zumindest bis heute dafür, dass es gebannt wird und nicht aus dem Verlies dort unten weg kann. Ob das ein Trost für uns ist, weiß ich nicht. Und warum da unten urplötzlich diese Action angefangen hat, kann ich mir auch nicht erklären.« »Nun sage ich es eben früher, als ich wollte.« Fooly flatterte aufgeregt mit den Flügeln. »Na dann schieß mal los.« »Ja, wisst ihr, Mademoiselle Nicole und Chef, gestern Morgen ist das Dunkle Herz ganz plötzlich noch einmal aufgewacht und hat gerufen.« »Das war, als wir gegen Anna Gödelin gekämpft haben. Die Teile des Dunklen Herzens sind also irgendwie miteinander in Verbindung gestanden.« »Ja. Und das Dunkle Herz hat erneut nach Menschen gerufen, weil es sich wieder in einem von ihnen tarnen wollte. Und dazu hat es mit seiner Magie wieder versucht, den uralten Gang frei zu legen, damit die Menschen zu ihm gelangen können. Beim ersten Mal ist ihm das gelungen, weil es nach all den Jahrhunderten, in denen es geruht hat, viel Kraft gesammelt hatte und die ebenfalls ruhenden Ziegelgeister überrumpeln konnte. So ist tatsächlich der arme Hans Joachim Krauß zu ihm gelangt und musste sterben, bevor die Zie-
gelgeister die Sache wieder in den Griff bekamen und den Zugang erneut magisch verschlossen. Die Menschen draußen haben diesen schrecklichen Ruf deutlich vernommen, im Château aber nur ich, weil ich der Sensibelste bin. Ihr Anderen wart durch die M-Abwehr einigermaßen geschützt.« »Aber etwas haben wir doch mitbekommen. Ich musste plötzlich an Leonardo denken«, sagte Nicole. »Ich auch«, ergänzte Zamorra. Fooly seufzte. »Ja, das stimmt, fast alle im Château haben irgendwie an ihn gedacht. Wahrscheinlich sitzt immer noch etwas von seinem Geist in diesen alten Wänden und wurde dadurch aktiviert. Puh, eine unangenehme Vorstellung.« Der kleine Drache schüttelte sich. »Was ich noch sagen wollte: Jetzt, als das Dunkle Herz den Weg ein zweites Mal öffnen wollte, waren die Ziegelgeister darauf vorbereitet. Sie attackierten das Dunkle Herz mit ihrer Magie, die ebenfalls ungeheuer mächtig, aber weiß ist, und zwangen es wieder zu schlafen. Da habe ich ganz kurz mentalen Kontakt zu den Ziegelgeistern bekommen.« »Du hast mit ihnen geredet?« »Ja, Mademoiselle Nicole, so kann man das nennen. Ganz kurz nur. Sie sagten mir, wie ungeheuer Leid es ihnen tut, dass durch ihr Versagen ein Mensch zu Tode gekommen ist. Aber nun müssten wir uns keine Sorgen mehr machen. Das Dunkle Herz sei nur deswegen erwacht, weil die Spiegelwelten vernichtet worden seien. Da sei dann so eine gewaltige Welle durchs Magische Universum gesaust, dass das Dunkle Herz erwacht ist, schneller als sie selbst. Doch nun haben sie wieder alles im Griff und wir sollen nicht versuchen, nochmals zu ihnen vorzudringen.« »Sollen wir nicht, so, so«, brummte Zamorra. »Die können mich mal. Der Hausherr hier bin immer noch ich.« »Bist du dir da ganz sicher, Chéri?«, unkte Nicole. »Ich meine jetzt nicht nur im Bezug auf mich.« »Ja, ja. Haben sie dir auch verraten, warum sie das Dunkle Herz nicht einfach töten?« »Weil es der Wächter der Schicksalswaage verbietet.« Zamorra fuhr hoch. »Sag das noch mal, Kleiner.«
»Ja, das haben sie gesagt. Sie müssen es hüten, nicht töten.« »Bon, lassen wir das erst mal.« Zamorra kratzte sich am Kinn. »Hm, die Zerstörung der Spiegelwelten hat nicht nur das Dunkle Herz aktiviert, sondern auch den Magierest in Anna Gödelin. Und so ist sie erneut zum Leben erwacht, wenn man das so sagen kann, denn eigentlich war sie ja nie tot. Und sie hat verzweifelt nach dem Herzen gesucht, das ihr Leonardo entrissen hat, weil sie glaubte, ohne es nicht leben zu können. Dabei hat sie anscheinend nicht realisiert, dass sie ja bereits wieder lebte, auch ohne das verloren gegangene Herz. Die arme Anna ist wahrscheinlich von einem völlig irrealen Eindruck getrieben worden. Total durcheinander, ich sagte es ja bereits. Aber sie war nichts als ein, na ja, Kollateralschaden. Klingt blöd, ist aber so.« Nicole schenkte Whisky nach. »Nun haben wir Leonardos wahre Geschichte doch noch erfahren.« Zamorra nickte. »Ja. Und wir wissen nun auch, warum der komplette Höllenadel Angst davor hatte, Leonardos Seele könne sich in der Hölle zum Dämon entwickeln. Der Schreckliche hatte ja eine Zeitlang das Dunkle Herz in sich getragen und so fürchteten sie, dass ein Dämon von ungeheurer Macht entstehen könnte, der ihnen allen überlegen ist. ›Zu böse für die Hölle‹ war also nur eine Umschreibung von Asmodis dafür, dass Leonardo zu stark für die Hölle werden könnte.« »Ja, und damit hatte Assi sicher Recht.« Nicole kicherte. »Leonardos Seele wollte in der Hölle nicht brennen, das war der erste Hinweis, dass er sich zum Dämon entwickelte. Und als er erneut auf der Erde erschien, hat er das ja auch in Windeseile getan. Der Höllenadel musste ihm dann doch den Thron des Fürsten der Finsternis überlassen, etwas, was sie eigentlich gerade vermeiden wollten. Leonardo hätte sein Unwesen unter den Menschen treiben sollen, nicht in der Hölle.« »Doch jetzt schmort er auf ewig im ORONTHOS. Von da kehrt er niemals wieder.« Zamorra grinste, aber nur kurz. »Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass uns Leonardo noch einmal solches Kopfweh bereiten könnte. Wenn ich an das Dunkle Herz denke, kann ich nicht mehr ruhig schlafen.«
»Denk ich ans Herzlein in der Nacht, bin ich zur Minna gleich gemacht«, zitierte Fooly. »Das sagte schon Gotthilf Maria Schiller.« »Das heißt ›Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht‹ und ist von Heinrich Heine«, korrigierte ihn Nicole. »Aber ich seh's dir nach. Von einem kleinen grünen Drachenmonster kann man nun wirklich keine humanistische Bildung erwarten.« Fooly entließ eine Rauchwolke. »Pff«, sagte er voller Empörung, »natürlich bin ich gebildet. Ob Schiller oder ein anderer Heini, das ist doch egal. Sagt Rhett übrigens auch immer. Aber auch ich fürchte mich vor dem Dunklen Herzen da unten, genau wie der Chef. Warum dürfen die Ziegelgeister es nicht ausschalten? Es ist doch eigentlich kein lebendes Wesen, sondern eher eine starke Waffe. Was hat der Wächter der Schicksalswaage mit dem Dunklen Herzen vor?« »Das wissen wir alle nicht«, erwiderte Nicole. »Ich fürchte aber, es ist nichts Gutes.« »Warten wir's mal ab. Ich denke, wir lassen die Ziegelgeister erstmal in Ruhe ihre Arbeit tun. Bei Merlins hohlem Backenzahn, was ist da unten in den Gewölben noch alles zu finden?« Zamorras Gesicht verdüsterte sich. »Ich glaube, wir müssen die Unterwelt des Châteaus nun doch mal genauer erforschen. Leonardo scheint eine weitaus bedeutendere Rolle im kosmischen Geschehen gespielt zu haben, als wir ihm bisher zugestanden haben. Hoffentlich hat er uns nicht noch weitere Überraschungen hinterlassen.« ENDE