Duell unter Wasser Burt Frederick 1. Ein Seeabenteuer-Roman Mit Choralgesang und Halleluja erschienen sie vor der Ostkü...
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Duell unter Wasser Burt Frederick 1. Ein Seeabenteuer-Roman Mit Choralgesang und Halleluja erschienen sie vor der Ostküste von Great Abaco ein offenbar frommes Völkchen, denn wer in christlicher Demut betet, kann keine bösen Absichten haben. Old O'Flynn war anderer Ansicht, und er sollte dieses Mal recht behalten, denn kaum hatten die vier Schiffe der frommen Betbrüder geankert, da wurde ein Seemann an der Rah aufgeknüpft, und der Großmeister dieser Gemeinde züchtigte mit der Peitsche eine „Buhlerin" weil sie angeblich „den Teufel im Leibe habe". Das war schon schlimm genug, aber als der Großmeister mit seinen Jüngern an Land setzte und verkündete, auf Great Abaco das neue Reich Gottes errichten zu wollen, schritt der Seewolf ein und mußte handgreiflich werden, um dem Großmeister einen anderen Weg zu weisen... Die Sonne sah ungewöhnlich blaß aus. Jeremiah Josias Webster blinzelte. Es änderte sich nichts. Die Sonne stand blaß an einem verdüsterten Himmel. Er blinzelte heftiger, doch der Blick aus seinen seltsam verkrusteten Augen wollte nicht klarer werden. Das Bild blieb, wie es war. Eine bleiche Sonne und ein finsterer, unheilverkünden der Himmel. „Schützet euch!" wollte er ausrufen. „Das Strafgericht des Herrn wird über euch sein, denn eure Sünden sind noch nicht vergeben!" Aber er brachte nur heisere Laute hervor. Sie klangen seltsam fremd in seinen Ohren, so als stammten sie nicht von ihm selbst. Noch im selben Moment, in dem Webster über seine höchst sonderbare Stimme staunte, setzte der Schmerz ein. Es war wie ein Hieb, der ihn von innen traf ausgelöst von einer unbekannten Gewalt, die ihn verzehren wollte. Der Schmerz, dieser furchtbare Schmerz, schwappte wie eine glühende Woge über
ihn, rannte gegen sein Bewußtsein an und drohte es unter sich zu begraben. Jeremiah Josias Webster spürte, daß sein Körper von dieser satanischen Macht zu Boden geschleudert worden war. Die Hauptpersonen des Romans: Jeremiah Josias Webster der erlauchte Großmeister hat eine Zahnlücke und lispelt beim Predigen. Philip Hasard Killigrew der Seewolf verläßt mit fünf Schiffen den Stützpunkt, um nach den Puritanern zu suchen. Jean Ribault der Kapitän der „Golden Hen" hat allen Grund, sich um zwei seiner Männer zu sorgen. Mel Ferrow und Roger Lutz werden gezwungen, sich einem „Gottesurteil" zu unterwerfen. Er spürte es, denn da war Sand unter seinen verzweifelt nach Halt suchenden Händen. Sein Körper war schwach, gewiß. Aber seine Seele kämpfte mit ungebrochener Kraft gegen die Höllenglut, die ihn verschlingen wollte. All seine Abwehrkräfte waren gefordert, denn es war die größte Bewährungsprobe, die ihm der Herr je auferlegt hatte. Unvermittelt war er wach. Hölle und Teufel, in seinem Schädel brannte und rumorte es, als sei er mit Vorschlaghämmern bearbeitet worden. Das, was ihm im noch nicht vollends zurückgekehrten Bewußtsein als zerstörerisches Feuer der Hölle erschienen war, rührte von einem tobenden Schmerz in der Gegend seiner Mundhöhle her. Webster, der grobschlächtige und stiernackige Mann, schwankte, als er mit unendlicher Mühe seinen Oberkörper aufrichtete und sich nach hinten im Sand abstützte. Er stöhnte gequält. Wieder war es ihm, als höre er eine fremde Stimme, eher die klagende' Stimme eines waidwunden Tiers. Verdammt, wer hatte ihn so zugerichtet? Der Schmerz war fast unerträglich. In den rhythmischen Intervallen seines Herzschlags erschienen diese verfluchten roten Schleier vor seinen Augen, die er für Höllenglut gehalten hatte. Und die bleiche Sonne war keine Sonne, sondern der Mond. Der finstere Himmel war erklärlich, denn es war Nacht. Eine sternenklare Nacht allerdings. Es hätte eine paradiesische Nacht sein können in diesen zauberhaften Breiten, in denen er, Jeremiah
Josias Webster, noch fürstlicher zu leben gedachte als Gott in Frankreich. Aber da gab es diese unerwarteten Hindernisse. Ein dornengespickter Weg war es, der ins Paradies führte. Jäh setzte die Erinnerung ein. In vollem Umfang. Es war eine solche Wucht, mit der sie Webster traf, daß er es fast als schlimmer empfand als den Schmerz, der mit unverminderter Gewalt in ihm tobte. Diese elenden Bastarde hatten sich ausgerechnet in seinem Paradies niedergelassen! Diese Schweinehunde, denen er natürlich klangvollere Bezeichnungen gab, wenn er gegenüber seinen gläubigen Gefolgsleuten von ihnen sprach! Natterngezücht, Ungeziefer, Pestbeulen, die diese paradiesische Welt befallen hatten. Vor Websters geistigem Auge erschien dieser riesenhafte Kerl, gegen den er selbst fast ein Waisenknabe war. Dieser Ungläubige hatte sich erdreistet, ihn mit seinen widerwärtigen Pranken zu Boden zu schleudern. Webster spürte wieder, welche Schmerzen ihm die Rammfäuste des Riesen mit dem Narbengesicht zugefügt hatten. Noch in der Erinnerung zuckte er zusammen, was nur dazu führte, daß sich die glühende Woge heftiger und machtvoller in seinem Inneren ausbreitete. Abermals stöhnte er laut und voller Qual. Im nächsten Moment erinnerte er sich daran, daß er stets ein Vorbild sein mußte allen überlegen und im wahrsten Sinne des Wortes erhaben. Er war nicht allein. Seine Jünger, die Schnarchhähne, lagen um ihn herum verstreut wahrhaftig verstreut, mit ihren schlaffen Gliedern und horchten den Strand ab. Natürlich konnten sie viel weniger einstecken als er. Das mußten sie begreifen, das mußte ihnen deutlich vor Augen geführt werden. Er war in jeder Beziehung der Bessere. Wo ihr Weg noch steil bergan führte, war er bereits auf dem Abstieg und hatte den Gipfel schon hinter sich. Er unternahm einen ersten Versuch, auf die Beine zu gelangen. Doch als er seine Muskeln anspannte und sich aufzurichten versuchte, vervielfachte sich die Heftigkeit des Schmerzes und geriet zu einem neuerlichen Überschwappen der Glutwoge, die ihn auf den Rücken warf. Fast hätte er geschrien. Mit knapper Mühe schaffte er es noch, die Zähne zusammenzubeißen und nicht mehr als ein gurgelndes Stöhnen von sich zu geben. Kaum auszudenken, wenn die dämlichen Jünger durch seinen Schrei aufgewacht wären!
Beim Gehörnten, er durfte seine Autorität nicht selbst untergraben! Seinen nächsten Versuch unternahm er langsamer und vorsichtiger. Zeit genug hatte er, denn die Jünger dachten noch nicht daran, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Diese Unholde, die das Paradies besetzt hielten, hatten mit unerhörter Brutalität zugeschlagen. Sie erdreisteten sich, den auserwählten Kindern des Herrn körperlichen Schaden zuzufügen. Für Webster stand schon jetzt fest, daß er höchstpersönlich zum Bannstrahl des Herrn werden würde, der diese Pestilenz aus dem Paradies tilgte. Sein zweiter Versuch gelang. Zwar wütete der Schmerz mit nahezu unverminderter Gewalt in seinem Mund, aber das Brennen und Pochen hatte ein wenig nachgelassen. Schwankend stand er da und konzentrierte sich zunächst darauf, das Gleichgewicht zu halten. Sanft plätscherte das Wasser auf den feinen Strand. Die Wellen hatten mattsilberne kleine Kronen, und weit entfernt stand die riesige Scheibe des Mondes wie ein bleicher, doch unerschütterlicher Wächter. Das fahle Licht spiegelte sich in der See und verwandelte sie in eine metallen aussehende Schicht, mit der sie bedeckt zu sein schien. Webster schaffte es, zwei, drei Schritte zu gehen. Bei jedem Auftreten wuchs die glühende Schmerzwoge in ihm. Dem Jünger, der ihm am nächsten lag, trat er in den Hintern. Der Mann grunzte, zuckte zusammen und krümmte sich. Webster mußte innehalten, denn durch den Tritt rannte der Schmerz erneut mit nahezu vernichtender Gewalt gegen ihn an. Er brauchte lange Sekunden, bis er dem Grunzenden eine zweite Aufmunterung in den Achtersteven verpassen konnte. Diesmal wirkte es. Das Grunzen endete und ging in einen langgezogenen Klagelaut über. Der Jünger schlug die Augen auf und wimmerte. Webster hätte sich gern gebückt, ihn am Kragen gepackt und auf die Beine gestellt. Aber er wollte es nicht riskieren. Womöglich landete er dabei selbst auf der Nase. Seinem Gleichgewicht traute er noch nicht recht. Und er durfte vor dem niederen Volk um Himmels willen kein schlechtes Bild abgeben.
Der Wimmernde krümmte sich und wälzte sich von einer Seite auf die andere. „Steh auf, du Wurm!" befahl Webster und versetzte ihm einen erneuten Tritt. Dabei wollte er seine Stimme energisch und schneidend klingen lassen. Doch sosehr er sich auch bemühte, es hörte sich eher lächerlich an. Woran, zum Teufel, lag das? Er vermochte es noch nicht zu ergründen. Der Jünger schrie und krümmte sich heftiger. Es handelte sich um den Ersten Jünger, wie Webster jetzt feststellte. Sonst war er eine eindrucksvolle Erscheinung. Groß und schlank, in einfaches Leinen gekleidet und mit schulterlangem Haupthaar und einem Bart, der bis auf die Brust reichte, wirkte er wie ein Heiliger auf einem dieser Ölgemälde der großen Meister. Man konnte sich vorstellen, daß einer der Jünger oder gar Gottes Sohn selbst damals in dieser Aufmachung im Heiligen Land herumgezogen war. Das rechte biblisch-leidende Bartgesicht hatte der Bursche jedenfalls. Im Augenblick allerdings bot er eher ein Bild des Jammers. Schrammen, Beulen und Risse überzogen sein Gesicht, Blut hatte sich in seinen Barthaaren verkrustet. „Der Zorn des Herrn wird sich über dir entladen", sagte Webster unheilvoll, „wenn du nicht gleich auf deinen Beinen bist. Dein großer Meister braucht Hilfe, und du hast nichts anderes zu tun, als zu greinen wie ein Neugeborenes." Wieder war da etwas, das ihn am Klang seiner Stimme irritierte. Doch der Schmerz war noch so stark, daß er den Dingen nicht auf den Grund zu gehen vermochte. Irgendwie mußte es damit zusammenhängen, daß hier Teufelswerk im Spiel war. Keuchend und ächzend rappelte sich der Erste Jünger auf. Sein Bewußtsein war wieder ausreichend hergestellt. Er begriff, was sich als Zorn des Herrn über ihm zusammenbraute. Jener heraufbeschworene überirdische Zorn äußerte sich meist in einem höchst menschlichen Tobsuchtsanfall Websters. Obwohl er vor Schmerzen selbst kaum gehen konnte, befolgte der Erste Jünger den nächsten Befehl des Erhabenen und rüttelte die drei anderen wach. Sie wurden gebraucht, das war ihm jetzt schon klar. Und er war froh, daß er die Hilfeleistungen für den großen Meister nicht allein ausführen mußte.
* „Zerreißt eure Hemden", befahl Webster, „oder was ihr sonst an Stoff auf dem Leib tragt. Legt die Tücher in Bahnen, und tränkt sie mit frischem Seewasser. Kalte Umschläge werden mir guttun und meine Wunden kühlen." Die vier Jünger standen vor ihm und glotzten wie blöde Schafe. Nein, leicht schwankend und mit Triefaugen wirkten sie eher wie Betrunkene wie hirnlose Einfaltspinsel, die den Schnaps in sich hineinkippten, bis sie sich nicht mehr aufrecht halten und nur noch lallen konnten. Ja, diese Wirkung hatte der hinterhältige Überfall des Natterngezüchts gehabt. Webster war jetzt absolut sicher, hier mußte Teufelswerk im Spiel sein. Noch nie hatte jemand seine Männer und ihn so zugerichtet nicht einmal die Schergen der Königin, von denen sie im lausigen England verfolgt worden waren. „Habt ihr mich verstanden?" Gern hätte er es mit Donnerstimme gebrüllt, aber er war sicher, daß ihm dann der Schädel geplatzt wäre. „Ja, Erhabener", antwortete der Erste Jünger leise. „Wir werden kalte Umschläge herstellen und damit deine Qualen lindern." Die anderen nickten diensteifrig und begannen, sich die Hemden vom Leib zu reißen. Daran, daß auch ihre eigenen Wunden versorgt werden wollten, dachten sie nicht. Es verstand sich von selbst, daß zunächst der Erhabene in den Vollbesitz seiner göttlichen Kräfte versetzt werden, mußte. Nur dann konnte es ihnen allen wohl ergehen. „Zwei Mann erledigen das", verfügte Webster. „Einer sucht eine Wasserstelle in der Nähe. Ich habe großen Durst, der schleunigst gelindert werden muß. Der vierte von euch hält Ausschau nach Früchten. Hell genug ist es. Alles verstanden?" Der Erste Jünger bestätigte, und gleich darauf hasteten sie los, um die Anordnungen des großen Meisters in die Tat umzusetzen. Er fand ein Stück Treibholz, auf das er sich setzen konnte. Ächzend ließ er sich nieder und begann unter größter Vorsicht, sein geschundenes Gesicht zu betasten. Da er bedauerlicherweise keinen Spiegel zur Hand hatte, konnte er sich nur vorstellen, wie er aussah. Es mußte schlimm sein. Einen Moment fragte er sich, ob er es in diesem Zustand überhaupt
verantworten konnte, seinen Anhängern unter die Augen zu treten. Mußten sie nicht zwangsläufig anfangen, an ihm zu zweifeln? Er führte den Gedanken nicht zu Ende. Nach Schrammen und Schwellungen erreichten seine tastenden Fingerkuppen den Mund. Seine Lippen waren aufgequollene Wülste, von den Fäusten des narbigen Riesen regelrecht zu einer schwammigen Masse geschlagen. Er öffnete den Mund, tastete weiter und erschrak. Da klaffte eine Lücke! Er zog die Finger zurück, als habe er sich verbrannt. Mit geweiteten Augen stierte er auf die Kuppen von Zeigefinger und Mittelfinger. Blut! Im Mondlicht war es deutlich zu erkennen. Erneut tastete er nach der Lücke. Da war sie, in der oberen Reihe seiner Vorderzähne. Die Wunde blutete stark, und sie war es auch, die diese Höllenschmerzen verursacht hatte. Ein wenig erträglicher war es geworden, doch nun war es für Webster die seelische Pein, die ins Unerträgliche wuchs. Diese Satansbrut hatte ihn gedemütigt! Dieses elende Monster hatte ihn zerschlagen, ihn seines vollkommenen Erscheinungsbildes beraubt! Es war volle Absicht gewesen. Wahrhaftig, Teufelswerk. Eine Zahnlücke! Allein die Vorstellung brachte ihn fast um den Verstand. Seine Gefolgsleute würden heimlich grinsen oder gar in Gelächter ausbrechen, wenn er ihnen gegenübertrat. Seine Autorität war dahin. Das hatte dieser Abgesandte des Satans in Gestalt des narbengesichtigen Riesenkerls bezweckt. Genau das hatte er bezweckt. Webster versank in dumpfes Grübeln. Von unten am Strand war das Prasseln reißenden Stoffes zu hören. Im Dickicht, wo die beiden anderen Jünger auf Wasser- und Früchtesuche waren, raschelte es. Jeremiah Josias Webster achtete nicht darauf. Er nahm seine Umgebung nur noch wie durch einen wattig wallenden Schleier wahr. Düsternis prägte seine Gedanken. Die Zukunftsaussichten waren alles andere als rosig für ihn. In seiner Gefolgschaft gab es
ohnehin drei oder vier Figuren, die kritischer eingestellt waren, als ihm lieb sein konnte. Wenn sich der Zweifel an seiner Person mehrte, konnte es sein, daß diese Burschen eine größere Schar von Gleichgesinnten zusammenkriegten. Dann wuchs der Stachel, den Satan in seine Glaubensgemeinde eingepflanzt hatte. „Allmächtiger!" stöhnte er verzweifelt. „Jetzt könntest du mir wirklich mal einen Strahl der Erleuchtung runter schicken!" Doch dergleichen, wie er es seinen Jüngern und den Gläubigen gegenüber so oft behauptete, geschah nicht. Er blieb allein mit seinen marternden Sorgen. Wie, in aller Welt, sollte er mit einer lächerlichen Zahnlücke noch glaubhaft und vor allem erhaben wirken? Plötzlich begriff er auch, woher dieser lächerliche Klang seiner Stimme gerührt hatte. „Satan", flüsterte er und erschrak von neuem. O Gott, er lispelte! Die verfluchte Zahnlücke bewirkte das. Und doch wollte er es nicht wahrhaben. Er mußte sich selbst auf die Probe stellen. Wenn er sich ein bißchen anstrengte, war es vielleicht nicht so schlimm. Einen Moment überlegte er und suchte passende Worte. Dann flüsterte er: „Sarazenensäbel sausen sensengleich." Er horchte dem Klang seiner eigenen Worte nach. Es war niederschmetternd. Jedes S klang wie ein fürchterliches Mittelding zwischen einem F und einem W. Aber vielleicht lag es daran, daß er flüsterte. „Sarazenensäbel sausen sensengleich", sagte er laut und vernehmlich. Es war noch erschreckender. Die beiden Jünger, die mit dem Vorbereiten der naßkalten Umschläge beschäftigt waren, drehten sich erstaunt um. Am liebsten wäre Webster in den Strand versunken. „Beeilt euch!" rief er, um seine Verlegenheit zu überdecken, ein Zustand, den sie ohnehin nie an ihm erlebt hatten. Und in diesen beiden Wörtern war wenigstens kein S enthalten. Sie gehorchten. Er atmete auf. Immerhin zählte sein Wort noch etwas. Plötzlich hatte er den rettenden Einfall. „Kommt her!" brüllte er. „Kommt her, habe ich gesagt! Sofort!" Schmerzwogen dröhnten durch seinen Schädel. Dort, wo der
Zahn fehlte, pochte es wie wild. Und er fluchte auf sich selbst, weil ihm gleich zwei Wörter mit S herausgerutscht waren. Er mußte in Zukunft besser auf sich aufpassen. „Aber wir sind mit den Umschlägen noch nicht fertig, großer Meister", antwortete der Erste Jünger vom seichten Wasser her. „Unwichtig! Liegenlassen! Ich habe euch etw..." Er verschluckte die Silbe gerade noch rechtzeitig und fuhr gefahrloser fort: „... eine Mitteilung zu machen. Bewegt euch!" Die beiden Jünger wechselten einen Blick, hoben die Schultern und ließen die sorgfältig zusammengelegten Umschläge fallen. Mit langen Sätzen eilten sie den Strand hinauf. An ihre eigenen Blessuren dachten sie nicht mehr. Sie hatten lange genug gelernt, daß eigene Belange stets dann zurückstehen mußten, wenn es um das Wohlergehen des Großmeisters ging. Die beiden anderen schienen den Befehl nicht gehört zu haben. Nur ein fernes Rascheln war aus dem Unterholz zu hören. „Soll ich...?" setzte der Erste Jünger an und deutete mit einer Handbewegung zum Dickicht. „Nein", entgegnete der Erhabene. „Das würde zu lange dauern. Ihr werdet meine Botschaft vernehmen und sie weitertragen, in alle Winde, damit die Welt es erfährt." Die Welt bestand zwar nur aus einer Anhängerschar von etwa vierhundert Seelen, aber das wollte nichts heißen. Daß sie fruchtbar sein und sich mehren sollten, hatte er ihnen schon oft genug verklart. Vielleicht breiteten sie sich über die ganze Neue Welt aus, wenn die Burg Jerusalem erst einmal erbaut war und man richtig Fuß gefaßt hatte. Das wiederum eröffnete für ihn, Jeremiah Josias Webster, die Aussicht, mit seinem Namen in die Geschichte einzugehen als der Prophet, der seine Jünger in das Gelobte Land geführt hatte. Er mußte es nur richtig anfangen, dann würde man auch nach seinem Tod noch voller Ehrfurcht von ihm sprechen. Vielleicht würde man ihm sogar ein Denkmal setzen. Nur, davon hatte er dann nichts mehr. Das war der einzige, wenig tröstliche Umstand an der ganzen Geschichte. Nun, das Denkmal konnte er sich schon zu Lebzeiten errichten lassen. Und was den späteren Ruhm betraf, so gab es ja vielleicht doch diese kleinen Wolken hoch oben. Auf einer davon würde er nach aller Mühsal auf Erden ruhen, als pausbäckiger Engel, und
hinabschauen und horchen, wieviel dummes Zeug über ihn gefaselt wurde. Aber nein, das würde nicht geschehen. Er würde ihnen vor seinem Abtreten noch rechtzeitig einbleuen, daß über ihn, den Erhabenen, nur Gutes geredet werden durfte, wenn er nicht mit fürchterlichem Strafgericht vom Himmel herabsteigen sollte. Der Erste Jünger räusperte sich. Aus dem Dickicht war noch immer das Rascheln der nach Wasser und Früchten Suchenden zu vernehmen. Webster riß sich von seinen schwärmerischen Gedanken los. Manchmal packten ihn solche Visionen, und diesmal Waren sie so stark, daß er darüber fast seine Schmerzen vergessen hätte. Er räusperte sich ebenfalls. „Kniet nieder", befahl er. „Es handelt sich um einen Augenblick der Andacht. Was geschehen ist, wird von entscheidender Bedeutung für unser aller Zukunft sein." Die beiden Jünger gehorchten, knieten in den Sand, senkten den Kopf und falteten die Hände vor dem Bauch. Webster stimmte einen leiernden lateinischen Singsang an. „Gelobt sei der Herr. Amen", sagte er dann. „Blickt auf und seht mich an." Die Jünger gehorchten zögernd. Webster wußte, daß das Mondlicht ausreichend war. „Seht her", sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen blutigen Mund. Er öffnete die Lippen. „Wißt ihr, was das ist? Könnt ihr es hören?" Die Jünger preßten verlegen die Lippen aufeinander und kneteten die Finger. „Großer Meister, es geziemt sich nicht", sagte der Zweite vorsichtig. Webster lächelte gerührt. „Natürlich tut ihr recht daran, nicht unbotmäßig von eurem Großmeister zu reden. Wohlgetan! Aber in diesem Fall machen wir eine Ausnahme. Es muß sein. Denn es ist der Wille des Herrn, der geschehen soll." Er genoß es, wie sie ihn mit großen, runden Augen ansahen. „Also heraus damit. Was fällt euch an mir auf?" Einen Moment drucksten sie noch herum. „Euch fehlt ein Schneidezahn", erwiderte der Erste Jünger dann. „Oben fehlt er, in der oberen Reihe", fügte der Zweite wenig geistreich hinzu.
Webster war geneigt, einen verzweifelten Blick zum Himmel zu schicken. Aber er ließ es, denn er wußte, daß er mit den treuen unter seinen Gefolgsleuten Geduld haben mußte. Er durfte sie auch nicht ständig anbrüllen, das mußte er sich zu Herzen nehmen. Manchmal brauchten sie das Zuckerbrot, nicht immer nur die Peitsche. „Richtig", sagte er daher in schulmeisterhaftem Tonfall. „Das ist es, was wir sehen. Und was hören wir?" Die beiden Jünger senkten verlegen den Kopf. „Großer Meister", nuschelte der Erste, „das wäre nun wirklich nicht recht, wenn wir einfach sagen..." „Sarazenensäbel", sagte Webster laut und vernehmlich. „Begreift ihr jetzt? Heraus damit! Sprecht es aus!" „Ihr lispelt", sagte der Zweite und hielt sich im nächsten Atemzug erschrocken die Hand vor den Mund. Prompt bedachte ihn der Erste Jünger denn auch mit einem vorwurfsvollen Blick. „Recht so!" rief Webster dröhnend. „Und wisset, euch sind Augen gegeben, daß ihr sehet, und euch sind Ohren gegeben, daß ihr höret. Wofür aber ist euch der Geist gegeben?" Sie starrten ihn an. „Nun?" Keine Antwort. Sie hatten noch nie verstanden, seinen manchmal verworrenen Gedankengängen zu folgen. „Euch ist der Geist gegeben, daß ihr erkennet", sagte er mit schmetterndem Stimmenklang. „Ja, ich lispele! Und warum lispele ich?" „Weil Euch ein Schneidezahn fehlt!" rief der Zweite Jünger, und seine Miene erhellte sich in der Hoffnung, endlich einmal die richtige Antwort gewußt zu haben. „Auch für Narren hat der Herr einen Winkel im Paradies eingerichtet", sagte Webster gallig. „Warum, so frage ich euch, fehlt mir ein Schneidezahn?" Der Erste Jünger räusperte sich und reckte seinen Oberkörper, denn er war sicher, jetzt den rechten Weg erkannt zu haben. „Das Natterngezücht war es", sagte er. „Diese Abgesandten der Hölle haben sich an Euch vergriffen, Erhabener." Webster nickte zufrieden und ließ einen verklärten Ausdruck über sein zerschundenes Gesicht gleiten.
„Richtig", lobte er den Ersten. „Nun zum Entscheidenden: Warum, so frage ich euch, hat der Satan seinen Handlanger zu dieser ruchlosen Tat veranlaßt?" Erneut waren die Jünger verblüfft. Sie hatten geglaubt, daß der Gedankengang des Erhabenen abgeschlossen wäre. Doch statt dessen wollte er sie zu neuen Gedankenkapriolen veranlassen. Ohne Erfolg. Webster erhob die Stimme zu vibrierendem Klang. „Satan war es, der sein erklärtes Ziel in die Tat umsetzen wollte! Er hat seine Schergen geschickt, um mich mundtot zu machen! So begreift doch! Er wollte mir die Stimme nehmen, damit ich die Botschaft des Heils nicht mehr verkünden kann! Aber es ist ihm nicht gelungen. Die Kraft des Herrn, die in mir schlummert, war stärker! Gelobt sei der Herr!" Die Jünger hatten ihn mit großen Augen und offenem Mund angestarrt. „Halleluja!" riefen sie ergriffen. Webster steigerte seine Stimmgewalt zu Donnerhall, und es erfüllte ihn mit neuem Mut, daß das Lispeln die Macht seines Organs nur wenig zu schmälern vermochte. „Nur noch klarer und deutlicher werde ich die Botschaft des Herrn verkünden! Das, was Satan mir angetan hat, wird euch ständig und jederzeit daran erinnern, daß der Wille des Herrn durch mich stark und unbezwingbar geworden ist. Der Teufel hat sich selbst einen empfindlichen Schlag versetzt, denn mit seinem heimtückischen Angriff hat er sich nur geschadet, statt etwas zu erreichen. Er wird sich nicht so rasch davon erholen. Und ich werde ihn weiter bekämpfen bis zur endgültigen Vernichtung!" Die Jünger begannen zu singen. „Halleluja gelobt sei der Herr! Erleuchtet..." „... sei sein Botschafter auf Erden", stimmte Webster in den selbstverfaßten Choral mit ein. Die beiden anderen Jünger, die bis eben noch im Dickicht geraschelt hatten, tauchten auf dem Strand auf. Als sie sahen, welche weihevolle Handlung sich dort offenbar zwischen dem Erhabenen und seinen beiden Zuhörern abspielte, fielen auch sie auf die Knie, legten das Mitgebrachte behutsam auf den Sand und falteten die Hände vor der Brust.
Webster gab das Zeichen, den Choral zu beenden, indem er der letzten Strophe ein forsches „Amen" folgen ließ. „Bewegt euch!" sagte er herrisch. „Mich dürstet." Der Erste und der Zweite Jünger sprangen auf und flitzten los. Dann redeten sie leise und erregt auf die noch Knienden ein. Webster sah, wie deren Augen immer größer wurden. Sie sprangen auf und eilten herbei. Voller Ehrfurcht wollten sie erneut in die Knie gehen. Webster hinderte sie mit einer Handbewegung daran. Den Ersten und den Zweiten Jünger scheuchte er zurück zum Uferwasser, damit sie die Umschläge fertigstellten. Der Erhabene trank unterdessen von dem Wasser, das die beiden anderen in einem Lederschlauch gebracht hatten. Er ließ einen wohligen Laut hören. „Ein Labsal!" rief er und setzte das Mundstück ab. „Gutes Wasser! Dort, wo wir die Burg Jerusalem errichten, werden wir genauso gutes Wasser haben. Ich spüre es, der Herr läßt es mich wissen." „Es ist Quellwasser, Erhabener", sagte der Dritte Jünger. „Wir haben eine Quelle entdeckt. Der Herr muß uns geführt haben." „Sicher hat er das", sagte Webster von oben herab. „Schließlich habe ich um seine Hilfe gebetet. Nach allem, was die Satansmächte uns angetan haben, ist der Herr uns nun mehr als wohlgesinnt." „Nehmt, Erhabener", sagte der Vierte Jünger und streckte ihm ein Tuch entgegen, in dem gut zwei Dutzend dunkelgrüne Früchte von etwa Birnengröße lagen. Allerdings hatten die Früchte eher die Form von Eiern. „Was ist das?" fragte Webster stirnrunzelnd und nahm eine der Früchte in die Hand. Das grüne Ding fühlte sich kühl und verheißungsvoll an. Bestimmt war es wundervoll saftig. „Wir wissen es nicht", erwiderte der Vierte Jünger. „Aber der Herr hat uns zu einem Baum geführt, der voll davon ist." Dann kann es nur etwas Gutes sein", sagte Webster und biß mit der unversehrten Seite seiner Zähne zu. Er nahm einen großen Bissen und begann vorsichtig zu kauen. Im nächsten Moment erstarrte er. Das Zeug schmeckte wie feuchtes Mehl. Mit einem wütenden Laut spie er es aus. Er sprang auf und schleuderte die angebissene Frucht auf den Vierten, dem sie über
der Nasenwurzel zu einem breiigen Pfannkuchen zerplatzte. Der Jünger schrie, wollte sich herumwerfen und fliehen. Aber Websters erster Fußtritt traf das Tuch mit den Früchten. Die grünen Mehleier wirbelten hoch und ergossen sich in einem Schwall über den Jünger. Er schrie erneut, denn er wußte, daß dies nur ein Vorgeschmack der Hölle war. Und richtig. Websters Fußtritte schleuderten ihn zwei Yards weit über den Sandboden. Unter seinem Körper zermalmte er ein paar der Mehlfrüchte zu Brei. Webster hörte nicht auf, dem Schreienden in den Hintern zu treten. „Du hast dich vom Satan leiten lassen!" brüllte der Erhabene mit deutlichem Lispeln. Wieder und wieder trat er zu. „Du hast es gewußt, und du hast dich nicht dagegen aufgelehnt!" „Nein, Erhabener", wimmerte der Jünger und barg den Kopf zwischen den Händen. „Es war keine Absicht, wirklich nicht!" „So?" schrie Webster und ließ einen erneuten Hinterntritt folgen. „Weshalb hast du dann die Früchte nicht vorgekostet, wie es sich für einen guten Jünger gehört?" „Mir tut alles weh", jammerte der Vierte. „Mein ganzer Körper schmerzt. Da habe ich nicht daran gedacht..." Webster beendete seinen Redeschwall mit einem neuen Fußtritt. „Ach nein!" rief er voller Empörung. „Und was soll ich sagen? Daran, wie elend es mir geht, hast du nicht gedacht, wie? Statt dessen hast du nichts Besseres zu tun, als einen satanischen Schabernack an mir auszuprobieren!" „Nein!" heulte der Vierte Jünger. „Nein, das wollte ich nicht! Ich schwöre es!" Webster trat abermals zu. „Hüte dich, einen Schwur auf Teufelswerk auszubringen! Dir könnte die Zunge daran verdorren." Nur die beiden Jünger mit den Umschlägen hinderten ihn daran, weiter seine Wut an dem glücklosen, Früchtesammler auszulassen. Und die Schmerzen, die er durch seine eigenen heftigen Bewegungen wieder wachrief, mahnten Webster, daß er sich jetzt erst einmal pflegen lassen mußte. Der Dritte Jünger half dem Vierten auf, und beide zogen sich in respektvollen Fünf-Schritte-Abstand zurück. Webster setzte sich unterdessen auf den weichen Sand und ließ sich die ersten Um-
schläge anlegen. Er schloß die Augen und gab Laute des Wohlbehagens von sich. Die kühle Feuchtigkeit war genau das, was sein gepeinigter Körper brauchte. Sein Geist würde dadurch zu neuen Höhenflügen aufsteigen. Er spürte es. Der Dritte Jünger ließ sich mit einem Räuspern und vorsichtiger Stimme vernehmen. „Sollen wir noch etwas von dem frischen Quellwasser holen, Erhabener?" Webster riß die Augen auf. Der Erste Jünger hatte ihm soeben einen turbanähnlichen Kopfschmuck verpaßt. Die kühlende Wirkung war wie Balsam für das Hirn. „Das fragst du noch?" brüllte er. „Ich denke, ihr seid längst unterwegs! Und wenn ihr schon nichts anderes findet, dann bringt wenigstens ordinäre Kokosnüsse mit! Verstanden?" Der Wasser- und der Früchteholer rannten abermals los. Webster registrierte unterdessen, daß er seine Stimmgewalt schon wieder fast voll ausschöpfen konnte, ohne dabei das Gefühl haben zu müssen, sein Kopf werde jeden Augenblick zerspringen. An das Lispeln würde er sich gewöhnen, und niemand würde deswegen zu grinsen wagen. Die Geschichte von Satans Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, würde er bei passenden Gelegenheiten immer wieder erzählen. Sie würden ihn deswegen nur noch mehr respektieren. Er ließ sich weiter ausgiebig mit Umschlägen behandeln. Kurze Zeit später kehrten Dritter und Vierter Jünger mit Wasser und Kokosnüssen zurück. Webster schlug sich den Bauch voll und erlaubte seinen vier Gefolgsleuten, den schäbigen Rest unter sich aufzuteilen. Nach einer kurzen Verdauungsruhepause gab er das Zeichen zum Aufbruch. 2. Auf dem beschwerlichen Weg nach Osten dachte Jeremiah Josias Webster nicht daran, seine Kräfte sinnlos zu vergeuden. Er ordnete an, daß jeweils zwei Jünger ihn zu stützen hatten. Willig nahmen sie ihn in die Mitte. Er legte die Arme auf ihre Schultern und bürdete ihnen seine Doppelzentnerlast auf.
In der Tiefe des Inseldickichts war es fast völlig dunkel. Nur wenig Mondlicht sickerte durch das dichte Blätterdach der Bäume. Doch die Augen des Erhabenen und seiner Jünger hatten sich an die Finsternis gewöhnt, und so gelang es ihnen, ohne zeitraubende Umwege die richtige Route zu finden. Die nächtlichen Laute des Dickichts waren geeignet, ihnen ständig neue Schauer über den Rücken zu jagen. Die unheimlichen Töne, hohl und aus unergründlicher Schwärze der Vegetation, reichten vom Grunzen bis zum schrillen Meckern. Einmal schien es, als hocke der Gehörnte persönlich im Buschwerk ein geradezu unverschämtes Rülpsen war es, mit dem er den Männern einen Schreck einjagte. Sekunden danach, als sie schon einige Schritte auf dem Trampelpfad hinter sich gebracht hatten, ertönte ein hämisches Kichern. Obwohl es mit den übrigen Lauten des Dickichts verschmolz, wagten Webster und seine Gefolgsleute nicht, sich umzudrehen. Da war ein ständiges Gurren und Schnalzen, Raunen, Räuspern, Schnarren und Krächzen, daß sie fest daran glaubten, Satan und seine dämonische Höllenbrut begleiteten sie auf ihrem Weg. Natürlich wollte er sich über sie lustig machen, nachdem es ihm nicht gelungen war, den Erhabenen durch seine Schergen zum Schweigen zu bringen. „Lasset euch nicht beirren", sagte Webster und versuchte, das Lächerliche an seiner zischenden Aussprache durch einen tiefen und beruhigenden Ton auszugleichen. „Es sind die Rückzugsgefechte des Höllenfürsten. Er weiß, daß seine Macht gebrochen ist. Aber in seiner widerlichen Art tut er so, als beeindrucke ihn das überhaupt nicht. Wenn wir ihn und seine Dämonenbrut nicht beachten, wird er sich bald zurückziehen." Er erlaubte seinen Stützen, sich von den beiden anderen ablösen zu lassen. Während sie Yard um Yard hinter sich brachten, stellte Webster mit Genugtuung fest, daß die Geräuschkulisse tatsächlich schwächer wurde. Wenigstens gelang es ihm schon wieder, mit einer kleinen Prophezeiung recht zu behalten. Es würde seine Position gegenüber seinen Gefolgsleuten festigen. Und wenn sich erst einmal herumgesprochen hatte, wie erfolgreich er dem teuflischen Versuch widerstand den hatte, ihn zum Schweigen zu bringen nun, dann würde wohl auch die Handvoll Zweifler nachdenklich werden. Auf jeden Fall würde sich die große Mehrheit in neuer und unerschütterlicher Treue hinter ihn stellen.
All diese unvorhergesehenen Ereignisse in der Neuen Welt würden sich letzten Endes zu seinen Gunsten wenden. Durch Anfeindungen jeglicher Art festigte sich die von ihm geführte Glaubensgemeinschaft nur immer mehr. Mit Schaudern dachte Webster daran, daß sie vermutlich denselben Weg benutzten, auf dem zuvor in umgekehrter Richtung dieser Schwarze und sein schlanker Komplice geflohen waren. Webster tastete mit der Zungenspitze nach der Lücke in der Reihe seiner Vorderzähne. Die Wunde blutete noch immer ein wenig. Wenn er die beiden hinterhältigen Beobachter nicht verfolgt hätte, wäre ihm wahrscheinlich das Opfer des Schneidezahns erspart geblieben. Doch andererseits hätten die Halunken dann nur ihre Spießgesellen alarmiert, um mit einer ganzen Heerschar über die „Kyrie Eleison" und ihre Schwesterschiffe herzufallen. Nein, das Opfer hatte gebracht werden müssen, um schlimmeres Unheil abzuwenden. Nun, davon war Webster überzeugt, würde es ihm gelingen, das Paradies mit flammendem Schwert zu erkämpfen. Der Herr hatte ihm ein Zeichen gegeben und ihm seine Stärke veranschaulicht. Das Werk seines Lebens würde gelingen. Es mußte einfach gelingen. Dabei wäre er noch bis vor einer Stunde eher geneigt gewesen, die Erde als das oft beklagte Jammertal zu bezeichnen. Unerklärlicherweise hatte der Herr sein Haupt verhüllt und ihnen seine Gnade entzogen, als sie am vergangenen Vormittag auf Great Abaco ihr Jerusalem hatten erbauen wollen. Schlimme Prüfungen waren ihnen auferlegt worden. Jeremiah Josias Webster gelangte zu der Überzeugung, daß der Herr ihm einfach nur den rechten Weg weisen wollte. Weshalb sollte ausgerechnet ihnen so leichtfallen, was anderen Menschen in ihrem ganzen Leben nicht vergönnt war den Eingang zum Paradies zu finden? Sie mußten eine Reihe von Prüfungen bestehen, wie es schien. Das Natterngezücht war eine dieser Prüfungen, die ihnen offenbar durch höllische Mächte auferlegt werden sollten. Unvermittelt war ein schwacher rötlicher Schimmer durch das lichter werdende Dickicht zu erkennen. Gleich darauf hatten Webster und seine Gefolgsleute Gewißheit, daß es sich um die Feuerstelle an der Ostseite der Insel handelte.
Webster schloß die Augen und atmete tief durch. Er glaubte bereits den verführerischen Duft von gesottenem Fleisch zu riechen. Kokosnüsse waren nichts Handfestes, nichts für einen ganzen Kerl, der täglich seinen Körperkräften eine neue Grundlage geben mußte. Das Lamm war jetzt genau das, was er brauchte. Dazu eine Flasche vom besten Wein, der für das Abendmahl zu schade war. Webster schickte die beiden Jünger voraus, die gerade nicht damit beschäftigt waren, ihn zu stützen. Dienstbeflissen eilten sie los. Und der Empfang für den Erhabenen war so, wie es sich nach seinen selbstgeschaffenen Grundsätzen geziemte. „Bleibt stehen", sagte er leise, als er mit den beiden stützenden Jüngern aus dem Dickicht trat. Sie gehorchten, und er genoß den Anblick minutenlang. Sie hatten sich alle am Ufer versammelt, seine ganze, vierhundert Seelen umfassende Anhängerschar. Andächtig, die Hände gefaltet, standen sie in weitem Halbkreis und blickten erwartungsvoll zum Rand des Dickichts, wo ihr Großmeister sich soeben in Szene gesetzt hatte. Er ließ seinen Blick über ihre Köpfe hinwegwandern, zu den vier Schiffen, die auf der silbern schimmernden See vor Anker lagen. Es war ein Bild des Friedens, und keine Satansbrut sollte diesen Frieden Jemals wieder stören. Gnädig teilte er den beiden Jüngern mit, daß sie ihn nun nicht mehr zu stützen brauchten. Wenn es ihm auch schwerfalle, müsse er der Glaubensgemeinschaf t mit eigener Kraft unter die Augen treten. Ja, er mußte ihnen das Gefühl geben, daß diese, seine Kraft ungebrochen war. Letzteres dachte Webster nur für sich. Keiner seiner Jünger brauchte zu wissen, daß er trotz allem eine gewisse Skepsis hegte. Vielleicht durfte man sich nicht selbst täuschen. So leicht würde das verfluchte Natterngezücht nicht zu bezwingen sein. Webster trat mit gemessenen Schritten auf die freie Fläche vor der Weite des Halbkreises zu. Dabei mußte er sich bemühen, nicht allzu auffällig zu dem Lamm zu blicken, das über dem schwächer brennenden Feuer am Spieß steckte und offenbar noch nicht angetastet worden war. Er verspürte Wärme, die sein Herz
erfaßte. Natürlich, sie hatten nicht essen wollen, ohne ihm den ersten Bissen zu gewähren. Gerade in der Stunde der schlimmsten Prüfung hatten sie sich an diesen Grundsatz gehalten. Er hob segnend die Arme. „Meine liebe Gemeinde!" rief er mit theatralischer Dröhnstimme. „Es ist mir gelungen, böses Ungemach von uns abzuwenden. Der Herr hat mich auf eine harte Probe gestellt, gewiß. Aber ich habe ihm bewiesen, daß er in mir einen verläßlichen Vertreter auf Erden hat. Satan hat versucht, meine Stimme für immer zum Verstummen zu bringen. Es ist ihm nicht gelungen!" Er verklarte ihnen die Sache mit dem fehlenden Schneidezahn so, wie er es schon den Jüngern auseinandergesetzt hatte. Danach legte er eine wirkungsvolle Pause ein. Ein vierhundertstimmiges „Halleluja!" war die Folge und dann ein weit auf die See hinaushallendes „Gelobt seist du, Herr, in deiner Güte!" Mit gönnerhafter Miene gewährte Webster ihnen den Choral eine Strophe lang. Dann beendete er den Gesang mit mahnenden Handbewegungen. „Bringt mir nun zu essen!" rief er. „Es stehen schwere Belastungen bevor, die ich für euch alle auf mich nehmen muß. Bringt mir also von dem Lamm, auf daß ich mich stärken kann!" Zwei Männer sprangen vor, zogen ihre Messer und säbelten an dem Tierkörper herum. Das Ergebnis brachten sie Webster auf einem Palmenblatt, das sie wie ein Tablett hielten. Der Großmeister griff nach dem Fleischklumpen und biß herzhaft hinein. Im nächsten Atemzug spie er den Bissen fluchend wieder aus. Die Jünger, die das Geschehen mit der grünen Mehlfrucht noch in böser Erinnerung hatten, wichen erschrocken beiseite. „Steht ihr mit dem Gehörnten im Bunde?" brüllte Webster die beiden Männer an. „Dieses Fleisch ist restlos verkohlt!" Er verschluckte sich, hustete und spuckte schwarze Krümel aus. „Wollt ihr mich etwa vergiften?" Wutentbrannt schleuderte er dem einen das verkohlte Fleischstück ins Gesicht. Der Mann stieß einen erschrockenen Laut aus, wankte rückwärts und schlug der Länge nach hin.
„Bitte verzeiht, Erhabener", sagte der andere. „Wir haben es nicht mit Absicht getan. In der Dunkelheit konnten wir nicht erkennen, daß das Lamm nicht mehr genießbar ist." „Und warum, zum Donner, ist das so?" schrie Webster. Seine Stimme steigerte sich zu schrillem Diskant. „Wir haben uns vor allem um die beiden Verwundeten gekümmert. Ihr erinnert Euch, großer Meister zwei unserer Männer wurden durch Pistolenschüsse der fremden Teufel verletzt. Unsere ganze Sorge galt ihnen. Wir wollten nicht, daß sie elendiglich verbluten." Webster winkte ab. „So schnell verblutet man nicht." Er überlegte, ob er seiner Gemeinde einen gehörigen Rüffel erteilen sollte, weil sie nicht zuallererst an sein körperliches Wohlergehen, sondern an die Gesundheit zweier einfacher Kerle gedacht hatten. Doch nach einem Moment des Nachdenkens beschloß er, die Gelegenheit zur weiteren Steigerung seiner Beliebtheit zu nutzen. In väterlichem Ton rief er: „Lasset die beiden Verwundeten vortreten!" Sofort ging denn auch ein gerührtes Raunen durch die Schar der Gläubigen. Die beiden, die von den Pistolenkugeln getroffen worden waren, trugen dicke Verbände aus gebleichtem Leinen. Sie traten in die Mitte des Halbkreises und wollten vor dem Großmeister auf die Knie sinken. „Aber nein!" rief er gönnerhaft. „Nicht doch! Ihr sollt mit hoch erhobenem Haupt vor allen anderen stehen. Denn ihr seid die ersten Märtyrer um unserer gemeinsamen Sache willen." Die Verwundeten wechselten einen erstaunten Blick. Die Wunden und deren Behandlung waren schmerzhaft gewesen und taten noch immer höllisch weh. Sich aber gleich als Märtyrer zu fühlen wäre ihnen nicht im entferntesten eingefallen. „Die Werkzeuge des Satans waren es", fuhr Webster fort, „die uns erniedrigen und peinigen sollten. Wie niederträchtig die Absichten des Höllenfürsten waren, mag man allein schon daraus ersehen, daß einer seiner Abgesandten ein verdammter Nigger war ein Menschenfresser!" Ein erneutes Raunen war aus dem Halbkreis der großen Anhängerschar zu hören. Nicht wenige waren es, die ihren Blick zum
Nachthimmel lenkten, dankbar dafür, daß ein furchtbarer Kelch an ihnen vorübergegangen war. Jeremiah Josias Webster nickte ihnen mit wohlwollendem Lächeln zu. Tief in seinem Inneren empfand er unendliche Zufriedenheit darüber, daß es ihm besser denn je gelang, die Empfindungen der großen Masse nach seinem Belieben zu steuern. Ja, er wußte noch immer, wie er sie anpacken mußte. Er kannte ihre guten und schlechten Seiten, ihre schwachen Punkte und ihre besonderen Stärken. Wahrhaftig, dieses weite Feld der Möglichkeiten beherrschte er virtuos wie das Manual einer Orgel. Es waren noch immer die richtigen Töne gewesen, die er letztlich hervorgerufen hatte. Abermals erhob er seine Stimme. „Wir sind nun mehr denn je gefordert, meine Freunde! Ich brauche euch nicht mehr auseinanderzusetzen, wie klar erkennbar die Attacken des Satans gegen uns waren. Wir haben es alle gespürt ich durch den boshaften Versuch, mich zum Verstummen zu bringen, und unsere beiden Märtyrer durch Pistolenkugeln, die nur durch eine glückliche Fügung nicht tödlich waren. Daraus ist eines unmißverständlich zu folgern: Der Herr hat größere Aufgaben für uns vorgesehen. Er erwartet von uns, daß wir die teuflische Schlangenbrut nun erst recht ausrotten!" Er ließ die Silben nachklingen und wirken. Begeisterte Hallelujarufe waren die Folge. Webster dämpfte sie mit sachten Bewegungen der Handflächen. „Der Herr", fuhr er fort, „hat mir aber auch eines unmißverständlich befohlen: Wir müssen noch listiger sein als die Schlangen. Deshalb, so sage ich euch, werden wir noch in dieser Stunde den Anker hieven. Denn die feindliche Teufelsmacht kennt diesen Platz als unseren Aufenthaltsort. Daher müssen wir ausweichen, um die Burg Jerusalem an einer anderen Stelle zu errichten." Wieder ließ er eine wirkungsvolle Pause folgen. Nach langen Sekunden war es der Erste Jünger, der ihn in bewährter Weise unterstützte, indem er eine vorsichtige, aber doch vernehmliche Frage an ihn richtete. „Und wo werden wir nun unser Paradies finden, großer Meister?" Webster breitete in prophetischer Geste die Arme aus. „Kniet nieder!" rief er und wartete, bis alle gehorcht hatten. „Der Herr hat mich erleuchtet. In seiner unendlichen Güte hat er
mich wissen lassen, wo das Gelobte Land zu finden ist. Es handelt sich um eine Insel, die dem Garten Eden in jeder Beziehung ähnelt. Die Insel befindet sich nur eine halbe Tagesreise südwestlich von hier." Er genoß es, wie sie ihn alle mit großen Augen anstarrten. Solange sie noch an seine seherischen Fähigkeiten glaubten und seine direkte gedankliche Verbindung zum Allmächtigen für Wirklichkeit hielten, waren seine Macht und sein Einfluß ungebrochen. Dabei brauchte man nur ein wenig Kenntnis der Seekarte, um von der Nordspitze der Insel Eleuthera auf das im Südwesten gelegene New Providence zu schließen. „Auf jener Insel", fuhr er mit vibrierender Stimme fort, „werden wir Fuß fassen. Dann setzen wir all unsere Kraft daran, die Burg Jerusalem zu erbauen. Und schließlich, meine Freunde, wird es uns ein leichtes sein, den teuflischen Feind für immer zu zerschmettern." Laute Hallelujarufe erklangen, wollten kein Ende nehmen und hinderten ihn daran, weiterzusprechen. Erst nach mehreren Minuten gelang es ihm, sie wieder zur Ruhe zu bringen. „Deshalb geht jetzt an Bord", rief er, „und hievt die Anker! Je eher wir unserem Ziel nahe sind, desto mehr erfreuen wir den Herrn!" Er selbst ließ sich mit einer der Jollen zur „Kyrie Eleison" pullen. Die Hallelujarufe aus den Booten und bald darauf von den Decks der Schiffe brachen nicht mehr ab. Websters erster Weg führte unterdessen zur Kombüse, wo er eine große Portion Bohnen mit Speck bestellte. Einen ausreichenden Vorrat an Wein hatte er noch in seinem Schapp. Und ein weiteres Labsal hatte er sich für diese Nacht bereits ausgedacht. 3. Die Schmerzen hatten im großen und ganzen nachgelassen. Nur in der Gegend der Zahnlücke pochte es noch hartnäckig. Webster wußte, daß sich daran auch so schnell nichts ändern würde. Dennoch empfand er ausgesprochenes Wohlbehagen. Er hatte sich von seinen Ober Jüngern das Blut abwaschen lassen und im Zuber in der eigens dafür hergerichteten Achterdeckskammer ein Bad genommen. Danach hatte er sich in ein langes, wallendes
Gewand aus hellem Leinen gehüllt, das ihm ein biblisches Aussehen verlieh. Die Helfer des Kochs hatten unterdessen das Essen in seine Kammer gebracht. Er hatte sich den Bauch vollgeschlagen und sich einen mächtigen Schluck Rotwein gegönnt. Dazu hatte er Tabak in eine Tonpfeife gestopft und angezündet, wie es dank Sir Walter Raleigh in den feinen englischen Kreisen zur guten Sitte geworden war. Der würzige Rauch wirkte belebend und beflügelte die Gedanken. Die Indianer, denen Sir Walter diesen Brauch abgeschaut hatte, wußten, was sie taten. Sie schienen überhaupt eine Art von Lebensweisheit ihr eigen zu nennen, von der die sogenannten zivilisierten Menschen der Alten Welt nur träumen konnten. Aber andererseits waren es Heiden, auf die man hier in den noch weitgehend unerforschten Breiten stieß. Ein dankbares Feld, das zu beackern sich lohnen würde. Webster spürte, wie ihn die Müdigkeit nach dem reichlichen Mahl zu befallen drohte. Er gähnte herzhaft und sah den Ersten Jünger an, der in respektvoller Haltung beim Schott ausharrte. Mit einer Handbewegung gab er ihm Befehl, das Geschirr abzuräumen und dann die bereits bekannte Order auszuführen. Webster gönnte sich ein weiteres Glas Wein, sog an der Tonpfeife und ließ sich von dem weiß aufwolkenden Rauch einhüllen. Nur die Öllampe neben dem Schapp brannte mit schwacher Flamme. Seine Kammer gewann dadurch und durch die sanft schimmernde Holztäfelung einen besonderen Hauch von Gemütlichkeit. Jeremiah Josias Webster war überzeugt, daß er mit sich und der Welt schon sehr bald wieder zufrieden sein würde. Noch in der Stunde nach Mitternacht waren die vier Schiffe seiner Glaubensgemeinschaft ankerauf gegangen. Alles Weitere würde nun sicherlich reibungslos verlaufen. Man würde die Insel New Providence erreichen, ihr einen geeigneten Namen aus dem Alten Testament geben und die Burg Jerusalem errichten. Websters Gedanken entschwebten in die Ferne der Zukunft. Die Burg Jerusalem sollte so etwas wie ein Bollwerk gegen Anfeindungen jeglicher Art sein aber auch ein Stützpunkt, um das Wort des Herrn hinauszutragen in diese noch heidnische Welt. Klar, mit einer rasch wachsenden Schar von eingeborenen Glaubensgefährten würde man auch jede Menge Arbeitskräfte gewinnen, die vorzugsweise für die niederen Tätigkeiten eingesetzt werden konn-
ten. Alles in allem also beste Voraussetzungen für ein glorreiches neues Land, das mit dem Wohlgefallen des Herrn blühen und gedeihen würde. Seine Gedanken, die ihn auf behagliche Weise in eine grandiose Zukunft entschweben ließen, wurden unterbrochen, als sich Schritte näherten. Dann klopfte es. Aus der Art des Klopfens wußte er, daß es der Erste Jünger war. Websters Augen begannen zu glitzern. Das einzige wirklich erfreuliche Erlebnis in diesen sonst so betrüblichen Stunden stand bevor. Er gönnte es sich gewissermaßen selbst, und er hatte es verdient. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Es war ein kleiner Vorgeschmack auf jene Zukunft, die ihm alle nur erdenklichen Freuden gewähren würde. Webster befahl dem Ersten Jünger mit Donnerstimme, einzutreten. Vorerst war es noch angebracht, den Zürnenden zu spielen. „Ich bringe Euch die Sünderin, großer Meister", sagte der Jünger vorsichtig, indem er den Kopf durch den Spalt des zögernd geöffneten Schotts schob. „Herein mit ihr!" ordnete der Erhabene grollend an. Der Erste Jünger öffnete das Schott vollends. Er packte die junge Frau, die zitternd und mit gesenktem Kopf neben ihm stand, am Oberarm und stieß sie in die Kammer. „Du kannst verschwinden", sagte Webster zu dem Jünger. „Und für den Rest der Nacht will ich nicht mehr gestört werden. Ist das klar? So eine Dämonenaustreibung erfordert äußerste Konzentration." Der Erste Jünger verneigte sich. Er hatte die Hände gefaltet, als er sich wieder aufrichtete. „Möget Ihr die Kraft haben, alle Dämonen zu bezwingen, die von diesem unglückseligen Weib Besitz ergriffen haben. Meine Brüder und ich werden für Euch beten, großer Meister." Webster nickte gnädig. „Der Dank des Herrn ist euch gewiß", sagte er huldvoll. „Und jetzt verschwinde endlich." Polternd fiel das Schott zu. „Lege den Riegel vor, Sünderin!" befahl Webster dröhnend. Sie hob den Kopf und sah ihn aus großen, angsterfüllten Augen an. „Aber ich - ich kann doch nicht...", stammelte sie. Webster grinste breit.
„Was du kannst, werden wir gleich sehen. Gehorche jetzt, oder ich muß dich züchtigen." Vom Schapp nahm er einen Ledergurt und ließ ihn genüßlich durch seine rechte Hand gleiten. Die junge Frau begriff nun endgültig, in welche Lage sie geraten war. Ihr Zittern verstärkte sich, als sie den Befehl ausführte. Langsam drehte sie sich wieder um, mit dem Rücken wie schutzsuchend an das Schott gelehnt. Ihre Augen flackerten. Websters Blick tastete ihren Körper ab, der noch von der einfachen Leinenkleidung bedeckt war. „Du mußt wissen, Sünderin", sagte er gedehnt, „daß es mir gestern ein ausgesprochenes Vergnügen war, dich auszupeitschen. In unbekleidetem Zustand bist du eine richtige Augenweide. Satan hat dich mit diesem Körper ausgestattet, und er hat ein ganzes Heer von Dämonen in dich hineingetrieben, damit du armen, wehrlosen Männern den Kopf verdrehst. Gibst du es zu?" Sie öffnete den Mund, wollte, sprechen und brachte doch kein Wort hervor. Welchen Sinn hatte es schon, ihm zu sagen, daß es keinen einzigen Dämon in ihr gab? Nur sein Wort galt. Man brauchte sich nicht zu bemühen, ihn von etwas anderem überzeugen zu wollen. „Schweigen ist so gut wie ein Geständnis", sagte er zufrieden. „Ist dir eigentlich klar, daß ich dich jederzeit als Hexe verbrennen lassen kann?" „Ja, Herr", hauchte sie und senkte den Kopf. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, denn sein Blick brannte wie Feuer auf ihrer Haut. Er ließ den Lederriemen durch die Luft schlängeln. Das Ende knallte auf die Tischplatte. Es klang wie ein Schuß. Die junge Frau zuckte zusammen. „Wenn ich mit dir rede", herrschte er sie an, „hast du laut und deutlich zu sprechen. Ist das klar?" „Ja, Herr." „Ich höre nichts." „Ja, Herr!" Sie schrie es fast. Webster lächelte wie ein gerührter Vater angesichts der Willigkeit seines Kindes. „Gut, gut, Sünderin. Du bist eine Hexe, vergiß das nie. Wenn du am Leben bleibst, hast du das nur meiner Gnade zu verdanken. Von Rechts wegen hätte ich dich gestern ebenfalls hinrichten lassen müssen. Du hast genauso den Tod verdient wie der Kerl, mit dem du in der Koje gesündigt hast. Begriffen?"
„Ja, Herr." Sie verkrampfte die Hände ineinander. Webster sah es und lachte leise. „Entspanne dich, Kindchen. Ich weiß, es fällt dir schwer, denn die Dämonen in dir lehnen sich gegen meine Macht auf. Aber du mußt stärker sein als die Dämonen. Mit meiner Hilfe wirst du sie abschütteln und wieder das Leben eines normalen Menschenkindes führen. Bist du dazu bereit?" Sie hob nun doch den Kopf, voller Hoffnung. „Ihr meint, Herr, ich bin dann keine Hexe mehr?" Webster nickte bedächtig. „Das ist gewiß. Wie lange das allerdings anhält, kann ich nicht im voraus sagen. Vielleicht müssen wir die Dämonenaustreibung in gewissen Zeitabständen wiederholen. Denn sie werden natürlich immer wieder versuchen, von dir Besitz zu ergreifen." „Ich werde mich mit aller Kraft dagegen auflehnen, Erhabener." Er winkte ab. „Deine Kraft ist ein Nichts gegen die Macht des Satans. Nein, meine Sünderin der einzige, der dein Inneres richtig überprüfen kann, bin ich. Ich bin es dem Herrn schuldig, ständig über dich zu wachen. Du bist so etwas wie ein Stachel, den Satan unserer Gemeinschaft einzupflanzen versucht. Im Grunde ist das nicht einmal deine Schuld. Du bist ein armes, Wehrloses Opfer der Mächte des Bösen. Deshalb darfst du mir dankbar sein, wenn ich dich den Klauen des Höllenfürsten entreiße." Die junge Frau sank auf die Knie und hob die gefalteten Hände an den Mund. „Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll, Herr. Ich flehe Euch an, helft mir! Ich will keine Hexe sein. Dem Teufel will ich nicht länger dienen, ohne es zu wissen." Webster nickte zufrieden. „Keine Sorge", sagte er großspurig, „mit meiner Hilfe treiben wir den Teufel aus deinem Leib. Jetzt stehst du erst einmal auf und ziehst dich aus." Ihre Augen wurden groß und weit, und sie sperrte den Mund auf. „Aber wieso..." Ihre Stimme verstummte. Websters Miene verfinsterte sich jäh. „Willst du dich meinen Anordnungen widersetzen? Hast du vergessen, was ich gesagt habe?" „Nein, Herr, aber..."
„Kein Aber!" peitschte seine Stimme. „Dämonen verbergen sich in den Hüllen, mit denen der Mensch seinen Körper umgibt, sobald man ihrer habhaft zu werden versucht. Wenn du also nicht gehorchst, zeigst du mir damit, daß du auf der Seite der Dämonen stehst. Und das wiederum bedeutet, daß du eine Hexe bist." „Nein, Herr!" rief sie verzweifelt. „Ich bin keine Hexe!" „Dann gehorche." Die „Sünderin" sah sich wie gehetzt um, als gebe es irgendwo einen Ausweg. Doch sie wußte, daß jeder Ausweg nur in den Tod führte. Sie mußte sich damit abfinden. Was ihr bevorstand, war das kleinere Übel. Mit zitternden Fingern begann sie, ihre Leinenbluse aufzuknöpfen. Zaghaft blickte sie auf und sah, daß Webster fortwährend den Ledergurt durch seine Hand gleiten ließ. Gier flammte in seinem Blick auf, als sie die Bluse abstreifte und ihre straffen Brüste nun unverhüllt zu sehen waren. Sie nahm allen Mut zusammen und entledigte sich rasch auch der übrigen Kleidungsstücke. Er legte den Gurt auf den Tisch und streckte die Arme nach ihr aus. „Komm her zu mir", sagte er heiser. „Fangen wir jetzt gleich mit der Dämonenaustreibung an." Zur Stärkung für die bevorstehende schwere Aufgabe nahm er einen Schluck Rotwein. Die Sünderin gehorchte. Sehr bald verstand sie die Welt nicht mehr. Was der Erhabene als Dämonenaustreibung angekündigt hatte, glich bis ins Detail dem, weswegen er sie tags zuvor mit der Peitsche gezüchtigt hatte. Worin, um Himmels willen, bestand der Unterschied zwischen der verdammenswerten Fleischeslust und der Austreibung von Dämonen? Der Erhabene war zweifellos um einiges wilder und gieriger als der Seemann, zu dem sie in die Koje gekrochen war. Aber das erklärte noch nichts. Jeremiah Josias Webster hatte die Frage unterdessen für sich selbst längst beantwortet. Wenn er der Lust frönte, war das etwas völlig anderes als bei normalen Kerlen. Ihn hatte schließlich der Herr zu diesem Tun erleuchtet. 4.
Es war gegen zehn Uhr vormittags, und die Sonne stand bereits hoch am azurblauen Himmel, als die „Empress of Sea" an diesem 23. Juni 1595 zur Cherokee-Bucht zurückkehrte. Mit rauschender Fahrt lief die kleine Karavelle auf den Eingang der Bucht zu. Längst war sie von Ausgucks auf den Landzungen gesichtet worden, und Hasard und die anderen hatten die Meldung vom bevorstehenden Eintreffen der Freunde erhalten. „Verdammt, verdammt", sagte Old Donegal Daniel O'Flynn und kratzte sich ausgiebig an seinem Holzbein. „Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl." Gedehnt und bedeutungsschwer ließ er die letzten Silben ausklingen. Dan, sein Sohn, und Ed Carberry, die bei ihm auf dem Achterdeck der „Empress" standen, schickten hilfesuchende Blicke zum Himmel. Was sich bei dem Alten durch ein angeblich „merkwürdiges Gefühl" ankündigte, hatte meistens mit aberwitzigem Kram zu tun. Seit sie Eleuthera verlassen hatten, waren sie davon verschont geblieben. Und ausgerechnet jetzt, auf die letzten Minuten noch, sollten sie für seine haarsträubenden Geschichten als geduldige Zuhörer herhalten. Batuti, Gary Andrews, Nils Larsen und Sven Nyberg hatten es da wesentlich besser, denn sie beobachteten die Bucht vom Vorschiff aus und brauchten sich nicht einmal die Ohren zuzuhalten, da sie weit genug entfernt waren. Martin Correa war zwar näher dran, mußte sich aber auf seine Arbeit als Rudergänger konzentrieren. Als „Gesprächspartner" für Old Donegal schied er also aus. Dan und Ed taten zunächst so, als hätten sie nicht zugehört. Doch der Alte dachte gar nicht daran, lockerzulassen. „Ja", sagte er und räusperte sich bedeutungsvoll. „Wenn ich ganz ehrlich bin, ist es mehr als bloß ein Gefühl." Dan und Ed spähten voller Aufmerksamkeit zum Himmel über Great Abaco, als gäbe es dort höchst interessante Wolkenformationen. „Genaugenommen", fuhr Old Donegal fort, „bin ich sogar ziemlich sicher. Soll ich euch sagen, was ich..." „Sieh mal, Ed!" rief Dan in scheinbar plötzlicher Aufregung. „Sieh mal, da oben! In den Baumkronen über der Bucht! Ist das nicht ein Papagei?" Der Profos schob das Rammkinn vor, blinzelte und sperrte den Mund auf.
„Du meinst, das ist Sir John?" „Nein, nein, der Papagei ist grün!" „Giftgrün?" „Genau das, Ed." „Mhm." Carberry rieb sich mit der flachen Hand den Hinterkopf. „Vielleicht hat Sir John eine Freundin gefunden." Dan lachte schallend und hieb dem Mann mit dem Narbengesicht vor Vergnügen auf die Schulter. „Eine grüne Freundin, stell dir das vor! Sir John, der Knallrote, und Lady Jane, die Giftgrüne! Ist das nicht ein schönes Paar?" „O Mann, und ob!" rief Ed Carberry und brach in derart brüllendes Gelächter aus, daß sogar die Freunde auf dem Vorschiff erstaunt die Köpfe wandten. Dan und Ed waren unterdessen so sehr in ihre angebliche Papageienbeobachtung vertieft, daß sie von ihrer Umwelt nichts mehr wahrnahmen am allerwenigsten Old Donegal Daniel O'Flynn, der direkt neben ihnen stand. Eine Weile verfolgte er das Gehabe der beiden mit dem gelassenen Interesse des Schulmeisters, der die kirschenklauenden Strolche noch eine Weile beobachtet, bevor er wie ein Ungewitter über sie hereinbricht und ihnen den Hosenboden strammzieht. „Das kann natürlich schwerwiegende Folgen haben", sagte Dan gerade. „Wenn es sich wirklich so verhält, wie wir vermuten, Ed, dann dürfte Sir John als Bordpapagei für die ,Isabella' ausfallen." Carberry spielte den Erschrockenen. „Im Ernst? Meinst du, der gute alte Sir John wird verwildern oder so was?" „Lehr mich die Weiber kennen", entgegnete Dan grinsend. „Wenn diese giftgrüne Lady eine gerissene Lady ist, macht sie aus unserem Sir John glatt einen trotteligen alten Truthahn. Der wäre für den Borddienst dann sowieso nicht mehr geeignet. Der fällt glatt aus den Wanten und bricht sich sämtliche Gräten einzeln im..." Old Donegal versetzte ihm einen Hieb zwischen die Schulterblätter. „Mein lieber Sohn!" unterbrach er ihn mit Reibeisenstimme. „Hast du Matsch auf den Klüsen? Oder wie?" Dan hatte keine andere Wahl. Er mußte empört herumrucken. Auch Ed konnte nicht anders, als den Alten nun vorwurfsvoll anzufunkeln. „He, was soll das!" rief Dan empört. „Wir sind gerade damit beschäftigt..."
„... euch wie triefäugige Fischfrauen aufzuführen", knurrte der alte O'Flynn. „In der Tat, euch sollte man die Flundern kreuzweise um die Ohren hauen, so ein dämliches Zeug faselt ihr." „Jetzt mach mal halblang, Old Man", sagte Ed Carberry grollend. „Haben wir kein Recht, über Sir Johns Zukunft nachzudenken?" Der Alte lachte meckernd. „Nachdenken schon, wenn ihr solche hirnrissigen Gedanken dann auch für euch behaltet. Das gilt vor allem für dich, mein lieber Sohnemann. Ist dir aufgefallen, daß wir noch eine gute halbe Seemeile vom Eingang der Bucht entfernt sind? Dann rechne noch mal die Kabellängen vom Buchteingang bis zum Strand und vom Strand bis zu deinen Baumkronen hinzu. Du willst mir allen Ernstes weismachen, daß du vor den grünen Blättern einen grünen Papagei erkennen kannst? Auf die Entfernung?" „Natürlich", entgegnete Dan auftrumpfend. «Ich brauche dir nicht zu beweisen, daß ich von allen Arwenacks die schärfsten Augen habe." Old Donegal stieß die Luft durch die Nase. „Aufschneiderei! Auf die Entfernung würde nicht mal der scharfäugigste Seeadler Grün von Grün unterscheiden können." Dan sandte dem Profos einen hilfesuchenden Blick zu. Doch Ed hatte keine rettende Idee, wie man die Dinge doch noch in unverfängliche Bahnen lenken konnte. Der Alte hatte leider recht. Die Entfernung war noch verdammt groß. Zu groß für das Erspähen von grünen Papageien. Und vor allem: zu groß, um den alten O'Flynn an einer neuen Tirade zum Thema Übersinnliches zu hindern. „Im übrigen", sagte Old Donegal bissig, „gehört es sich nicht, daß ein Sohn seinen Vater mitten im Wort unterbricht." „Du meinst mich?" entgegnete Dan, grenzenlos verdutzt. Old Donegal blickte mit grimmiger Miene nach allen Seiten. „Haben wir hier sonst noch irgendeinen Sohn oder irgendeinen Vater?" „Keiner zu entdecken", sagte Ed Carberry grinsend. Doch er wußte auch, daß die Bemerkung wenig half, das Gespräch länger hinauszuzögern und den Alten vom Kern seiner Sache abzulenken. Dan tat entgeistert. „Ich soll dich unterbrochen haben? Wobei denn?" Old Donegal schüttelte fassungslos den Kopf.
„Sieht so aus, als ob man heutzutage bereits in jungen Jahren an Vergeßlichkeit leidet. Um dein Gedächtnis aufzufrischen, Kleiner: Ich wollte euch verklaren, was ich erkannt habe. Ich sagte, daß es mehr als bloß ein Gefühl sei." „Richtig", sagte Dan seufzend, „ich glaube, so was gehört zu haben. Aber Ed und ich waren ganz in die Sache mit dem Papagei vertieft. Wann passiert es denn schon, daß einem plötzlich das genaue Gegenstück zu Sir John über den Weg läuft!" „Über den Weg flattert", verbesserte Ed Carberry grinsend. „Ihr spinnt", sagte Old O'Flynn unbeirrbar. „Ihr solltet lieber über unser aller Zukunft nachdenken, als euch diesen Papageienquatsch aus den Fingern zu nuckeln. Und unsere Zukunft, sage ich euch, sieht verdammt düster aus." „Warum denn das?" fragte Dan entsagungsvoll und mit mühsam gespieltem Interesse. „Ich werde es euch erklären", sagte Old Donegal und warf sich in die Brust. „Es sieht düster für uns aus, weil wir es mit einer Art von Verdruß zu tun kriegen, die wir noch nie erlebt haben." „Tatsächlich?" sagte Ed Carberry. Sein Erschrecken war so unecht wie ein aus Eisen nachgemachtes Achterstück. Old Donegal nickte bekräftigend. Die Miene, die er dazu aufsetzte, war ernsthaft und wissend. „Ja, es ist wahr", sagte er mit Grabesstimme. „Dieser erleuchtete Halunke ist in Wirklichkeit gar nicht der, für den er sich ausgibt." Dan heuchelte Interesse. „Ach nein?" Das Mitteilungsbedürfnis des Alten wurde dadurch erst richtig wachgekitzelt. In seinem Rededrang vermochte er echten nicht von falschem Wissensdurst zu unterscheiden. Mit Verschwörermiene beugte er sich vor und senkte die Stimme. „Es ist so: Seinen Leuten gegenüber und nach außen tut dieser Webster so, als sei er ein gottesfürchtiger Mann. Die Wahrheit ist genau andersherum." Old Donegal legte eine inhaltsschwere Pause ein, um es erst richtig spannend zu machen. „So?" fragte Ed Carberry aus lauter Mitleid, damit der Old Man nicht allzu enttäuscht war. Der Alte nickte noch heftiger. Seine Augen nahmen einen unheilvollen Ausdruck an.
„Dieser Betbruder steht mit dem Teufel im Bunde", flüsterte er. „Nur weiß das keiner." Atemzügelang starrten ihn die beiden Männer an. „Keiner außer dir?" fragte Dan schließlich. „Richtig", knurrte Old Donegal. „Ich weiß es, weil ich mehr sehen kann als andere. Im geistigen Sinn natürlich. Mit deinen scharfen Augen will ich nicht wetteifern, Sohn." Ed Carberry holte schnaufend Luft. Dann verschränkte er die Arme vor dem mächtigen Brüstkasten und schob das Rammkinn noch ein Stück weiter vor. „Aha! Und was für einen Unterschied bedeutet das, wenn ich fragen darf? Bilgenratte bleibt Bilgenratte, ob gottesfürchtig oder mit dem Teufel im Bunde." Old Donegal sah ihn vorwurfsvoll an wie einen Schuljungen, der mal wieder nicht richtig zugehört hat. „Mister Carberry, du bist ein Einfaltspinsel. Der Kerl steckt mit dem Höllenkapitän unter einer Decke, und das wird für uns Folgen haben, von denen wir noch nicht das geringste ahnen." „Weil es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt", Dan seufzte, „von denen unsereins nicht die leiseste..." „Sehr richtig", unterbrach ihn der Alte. „Wie sollte denn unter anderem zu erklären sein, daß Webster ausgerechnet Great Abaco angesteuert hat? Eine übersinnliche Macht hat ihn auf den Kurs gelenkt eine Macht, die uns freundlich gesinnt ist. Habt ihr euch zum Beispiel mal überlegt, warum die Schlangen-Insel wirklich untergegangen ist? Und könnte es nicht auch sein, daß wir beileibe nicht durch einen Zufall auf die Cherokee-Bucht gestoßen sind? Ich sage euch, hinter allem steckt eine geheimnisvolle Absicht. Etwas Unerklärliches." Ed Carberry schüttelte den Kopf. „Ganz einfach", sagte er, „die Mächte der Finsternis haben sich gegen uns verschworen. Das ist alles." „Rede nicht so!" fauchte der Old Man. „Über so was macht man sich nicht lustig!" „Ho, ho!" empörte sich der Profos. „Das war mein voller Ernst, Old Donegal. Glaubst du, ich würde mit so was scherzen? O nein, Sir, niemals! Jetzt, nachdem du uns alles erklärt hast, wird mir vieles klar. Der Pferdefüßige hat uns hierhergeführt." Er deutete zur Cherokee-Bucht, deren Eingang nun schon sehr nahe, war. „Wir müssen sofort eine Lagebesprechung einberufen. Und wir
müssen Hasard und die anderen überzeugen, daß wir am besten sofort verschwinden. Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist!" Old Donegal sperrte den Mund auf und starrte ihn an. „Sag mal, ist bei dir ein Belegnagel locker?" Ed Carberry blinzelte verdattert. „Was soll denn das nun wieder heißen, Mister O'Flynn? Erst jagst du einem Angst ein, und dann willst du's nicht gewesen sein, was, wie? Hast du gesagt, daß wir in Gefahr sind, oder nicht?" „Ja, schon, aber..." „Kein Aber, Donegal! Dan und ich haben uns auch schon lange gewundert, warum für den Bund der Korsaren dauernd alles schiefgeht. Jetzt haben wir die Erklärung, oder etwa nicht?" Dan hatte begriffen, was der Profos im Schilde führte. „Dieser Webster hat gewissermaßen ein Zeichen gesetzt", fügte der Sohn des alten O'Flynn rasch hinzu. „Du hast es als einziger gesehen das Zeichen des Teufels." „Nicht, daß wir Reißaus nehmen wollen." Carberry schürte das Feuer. „Mit dem Höllenfürsten haben wir es ja nun schon oft genug aufgenommen. Aber es könnte ja sein, daß Great Abaco in die Luft fliegt und im Meer versinkt. Ich werde bei der Lagebesprechung dafür stimmen, daß wir den Stützpunkt sofort abbrechen." „Ich auch", sagte Dan mit heftigem Nicken. Old Donegal hatte schon die ganze Zeit seine Unterlippe benagt. Jetzt kratzte er sich am Hinterkopf und legte sein verwittertes Gesicht in noch mehr Falten. „Ich weiß nicht", sagte er gedehnt, „ob das wirklich so Knall auf Fall sein muß?" Ed Carberry legte ihm mitfühlend die Pranke auf die Schulter. „Es muß sein, Mister O'Flynn", sagte er mit dumpfer Stimme. „Es kann gar nicht schnell genug geschehen." „Das meine ich auch", sagte Dan. „Es müßte zu schaffen sein, daß wir noch heute aufbrechen, vor Dunkelwerden. Wenn alle kräftig anpacken..." „Ausgeschlossen", schnitt ihm Old Donegal das Wort ab. „Das können wir keinem zumuten. Ich meine, es reicht ja auch, wenn wir morgen..." „Morgen?" röhrte Ed Carberry. „Du weißt, wenn der Satan zuschlägt, dann tut er das meistens nachts."
„Richtig", sagte Dan. „Warum ein Risiko eingehen, das sich vermeiden läßt?" Old Donegal legte den Kopf schief. „Ob wir dafür eine Mehrheit kriegen?" fragte er zaudernd. Ed klopfte ihm abermals auf die Schulter. „Du mußt es ihnen nur richtig verklaren so, wie du uns das verklart hast. Wir sagen es erst mal unseren Kerlen." Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Vorschiff. „Dann, wenn wir an Land gegangen sind, sprechen Dan und ich mit Hasard. Du kannst dann inzwischen deine Madam aufklären und schon mal dafür sorgen, daß sie ihre Klamotten zusammenpackt." Old Donegal riß erschrocken die Augen auf. Er öffnete und schloß den Mund und sah dabei verteufelt nach einem Fisch auf dem Trockenen aus. Einen Ton brachte er nicht hervor. Sein Blick richtete sich zum Strand der Bucht und auf das Ufergelände, wo die Hütten standen. „Na", erklärte Dan tatendurstig, „wir sagen's erst mal den anderen." Und sie ließen den alten Mann einfach stehen wohl wissend, daß ihm die Gedanken wie ein Wirbelsturm durch den Kopf rasten. Martin Correa hatte alles mitgehört. Ed und Dan nickten ihm im Vorbeigehen zu. Martin hatte den Vorteil, sich das Grinsen nicht verkneifen zu müssen, da der Alte hinter ihm stand. Auf dem Vorschiff verdonnerte Ed Carberry die Mannen, den „Ernst der Lage" nicht zu verkennen und auf keinen Fall eine Miene zu verziehen. Es fiel ihnen allen höllisch schwer, doch sie wußten, daß es sich lohnen würde. Denn alle waren gespannt darauf, wie Old Donegal seinen Kopf aus der Schlinge ziehen würde. Während die „Empress of Sea" die Einfahrt zur Bucht passierte, schien er seine Aufgaben als Kapitän jedenfalls völlig vergessen zu haben. Er stand einfach nur da, auf dem Achterdeck, als hätte jemand sein Holzbein festgenagelt, und er wollte es niemanden merken lassen. Sein Blick war unverändert starr zum Ufer gerichtet, wo seine Mary O'Flynn, geborene Snugglemouse, wieder das Kommando übernehmen und ihres Amtes als treusorgende Ehefrau walten würde. Dieses „Walten" geschah so gründlich und ausgiebig, daß Old Donegal für jeden Auftrag dankbar war, den er mit der „Empress" auszuführen hatte.
Denn an Land hatte er sich seinem häuslichen Kapitän zu beugen. Und jede Fahrt auf der „Empress" bedeutete für den Alten ein Stück Freiheit, ein bißchen Befehlsgewalt, die es für ihn nur auf den Planken gab. „Wie sag' ich's meiner besseren Hälfte?" flüsterte Batuti und verbarg sich hinter dem breiten Kreuz Ed Carberrys, um sich ein breites Grinsen leisten zu können. Die anderen sahen ihn vorwurfsvoll an, da sie selbst todernst bleiben mußten. Aber vermutlich hatte der schwarze Herkules genau den einen Punkt angesprochen, um den sich Old Donegals größte Sorge drehte. Und würde er jetzt zum ersten Male zugeben, daß sein Zweites Gesicht für Vorhersagen nichts taugte? 5. „Jetzt habe ich es!" rief der Alte erregt, noch bevor die Segel geborgen wurden. Dan und Ed waren auf das Achterdeck zurückgekehrt. „Was denn?" fragte Ed scheinheilig und in süßlichem Ton. „Die genaue Erkenntnis", sagte Old O'Flynn. „Ich habe es gerade eben ganz deutlich gesehen." „Mit dem Zweiten Gesicht", folgerte Dan trocken. Old Donegal bedachte ihn mit einem giftigen Blick, tat jedoch, als hätte er die Bemerkung nicht gehört. „Die Cherokee-Bucht ist nicht in Gefahr", sagte er hastig. „Auch die Insel nicht. Gefahr droht von Webster nur, wenn wir ihm auf See begegnen." „Du meinst", entgegnete Ed mit einfältigem Gesichtsausdruck, „wir brauchen den Stützpunkt doch nicht abzubrechen?" „Genau das meine ich", sagte Old Donegal rasch. „Also auch keine Lagebesprechung?" fügte Dan hinzu. „Auch das nicht." Der Alte nickte. „Hm." Ed Carberry brummte und rieb sich mit dem Handrücken das Kinn, was wie Scheuersand auf hartem Holz klang. „Dann brauchen wir Hasard praktisch auch nichts zu sagen, wie?" „Wäre überflüssig", sagte der Alte und versuchte, es beiläufig klingen zu lassen was ihm jedoch nur halbwegs gelang. „Ich meine, wir brauchen niemanden unnötig zu beunruhigen."
Carberry ließ das Einfältige von sich abfallen wie eine Maske. „Sag mal, Mister O'Flynn, könnte es sein, daß du auf den erleuchteten Webster neidisch bist?" „Neidisch?" wiederholte der Alte stirnrunzelnd. „Wie kommst du denn auf so einen Unsinn?" „Ganz einfach", sagte Carberry grinsend. „Webster hat ungefähr vierhundert Leute, die ihm anstandslos jeden Käse glauben, den er von sich gibt. Und du hast im ganzen Bund nicht einen einzigen, der sich deine Orakelsprüche anhört." Minutenlang bekam Old Donegal den Mund nicht wieder zu. Dann sah es aus, als wollte er dem Profos an die Gurgel gehen. Doch statt dessen wandte er sich abrupt um und stapfte zur Heckbalustrade. Dort blieb er stehen, verschränkte die Arme und blickte nach achtern, indem er den Männern den Rücken zuwandte. „Für den Rest des Tages redet er nicht mehr mit uns", sagte Dan leise und mußte sich mächtig zusammenreißen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. „Ich werde versuchen, es zu ertragen", sagte Carberry voller Heiterkeit. Wenig später, als die Männer die Segel aufgegeit und den Anker geworfen hatten, war Old Donegal gezwungen, seinen einsamen Platz zu verlassen. Das Beiboot wurde zu Wasser gelassen. Die Männer hatten sich bereits als Rudergasten auf den Duchten plaziert, einschließlich Dan O'Flynns. Nur Ed Carberry harrte noch auf dem Achterdeck aus. Old Donegal stieß sich von der Heckbalustrade ab und bedachte den Narbenmann mit einem finsteren Blick. Carberry blieb breitbeinig stehen und dachte gar nicht daran, sich rücksichtsvoll zu verziehen. „Es ist deine Aufgabe als Kapitän der „Empress"", sägte er grimmig, „Hasard und den anderen Bericht zu erstatten. Hör also auf, den Beleidigten zu spielen." „Wer ist hier beleidigt?" entgegnete Old Donegal giftig. „Bilde dir nur keine Schwachheiten ein, Mister Carberry. Ich gebe meinen Bericht ab und erwarte, daß ich keine dämlichen Bemerkungen dazu höre." „Wer soll denn hier dämliche Bemerkungen von sich geben?" entgegnete Ed und grinste.
Einen Moment sah Old Donegal ihn starr an. Dann, unvermittelt, verzogen sich seine Gesichtsfurchen, und es entstand ein Grinsen, das dem des Profos' in nichts nachstand. Die beiden Rauhbeine hieben sich gegenseitig auf die Schulter. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie enterten ab, und Old Donegal nahm seinen angestammten Platz auf der Achterducht der Jolle ein. Unter kraftvollen Riemenschlägen glitt das Beiboot der „Empress of Sea" an den übrigen Schiffen des Bundes vorbei. Im freundlichen Sonnenschein dieses Junimorgens lagen neben der „Isabella" die „Wappen von Kolberg", die „Pommern", die „Persante", die „Caribian Queen", „Eiliger Drache", die „Golden Hen" und die „Le Griffon". Eine stattliche kleine Flotte, gut geschützt durch die mittlerweile immer besser ausgebauten Befestigungsanlagen auf der Halbinsel. Der Seewolf hatte gewußt, warum er den Großmeister und seine vernagelte Sekte von Great Abaco vertrieben hatte. Die Gefahr für den neuen Stützpunkt des Bundes wäre zu groß und nicht kalkulierbar gewesen. Am Strand hatten sich bereits alle versammelt, um die Neuigkeiten zu hören, von denen ihrer aller Zukunft letzten Endes abhing. Ob man wollte oder nicht, stellte Old Donegal fest, der Blick fiel zuerst auf Philip Hasard Killigrew, diesen großen Mann mit den schmalen Hüften und den breiten Schultern. Aus der Entfernung war sein Haar noch immer schwarz, doch wer genau hinsah, konnte seine grau gewordenen Schläfen erkennen. Deutlich war auch jene neue Narbe, die aus der Schnittwunde auf der linken Wange entstanden war. Jeder im Bund der Korsaren wußte im übrigen von der verheilten Stichwunde unter dem Herzen des Seewolfs. Seinerzeit, auf der Heimkehr von der Westküste NeuSpaniens, hatte das verhängnisvolle Geschehen seinen Lauf genommen. Hasard hatte nach seiner Verwundung mit dem Tod gerungen, Araua hatte ihr Leben gelassen, und Arkana und die Freunde auf der Schlangen-Insel und auf Coral Island wären vom Meer verschlungen worden. Alle seine Gefährten hatten festgestellt, daß Hasard nach diesen tiefgreifenden Geschehnissen noch härter geworden war. Äußerlich war ihm sonst nichts anzumerken. Nur manchmal war er
schweigsamer als früher, und in verschiedenen Situationen war er bissig geworden und mißtrauisch wie ein alter Wolf. Siri-Tongs rote Bluse, der sie ihren Beinamen „Rote Korsarin" verdankte, leuchtete weithin sichtbar. Da war der Wikinger mit seinem schimmernden Helm, und da war Pater David, der riesenhafte Gottesmann. Gotlinde Njal, die stattliche Ehefrau Thorfins, stand dort mit den übrigen Ladys unter ihnen auch Mary O'Flynn, geborene Snugglemouse, die ihrem alten Zausel neue Vaterfreuden verheißen hatte. Da waren aber auch die hübschen jungen Indianerinnen, deren Stamm Taina angehörte, die Don Juan de Alcazar erst vor kurzem geehelicht hatte. Ein deutlicher Kontrast zu den feingliedrigen jungen Frauen waren Edmond Bayeux und seine normannischen Schrats von der „Le Griffon" ebenso wie all die anderen aus den einzelnen Crews. Äußerlich mochten sie zwar durch Rauhbeinigkeit auffallen, doch in ihren Wesenszügen hatten sie vor allem jenen unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn gemein, der eines der entscheidenden Fundamente für den Bund der Korsaren bildete. Nach der freudigen Begrüßung schloß sich der Halbkreis enger um Old Donegal und seine Mannen. Aufmerksam und ohne ihn zu unterbrechen, lauschten Hasard und die anderen seinem Bericht. Dann, als Old O'Flynn geendet hatte, konnte Ed Carberry es sich nicht verkneifen, noch eine genaue Schilderung darüber hinzuzufügen, wie er den „Erhabenen" nach allen Regeln der Kunst verdroschen hatte. Johlende Beifallsrufe wurden laut, besonders aus der Richtung des Wikingers und der Normannen. Der Seewolf sorgte mit einer Handbewegung für Ruhe. „Lassen wir uns nicht durch einen Augenblickserfolg täuschen", sagte er ernst. „Dieser sogenannte Großmeister und seine Gefolgschaft werden uns nicht in Ruhe lassen." „Ein bedauernswerter Haufen von Verblendeten!" rief Pater David dröhnend. „Ihr Anführer ist ein Scharlatan, vielleicht ein Wahnsinniger. Er hat erkannt, mit welchen Mitteln er einfältige Menschen nach seinem Willen gängeln kann. Als wichtigstes Mittel der Einschüchterung benutzt er seine vorgebliche Religiosität. Wenn dieser falschen Glaubensgemeinschaft der Kopf genommen worden ist, wird sie sich rasch in alle Winde verstreuen." „So einfach, wie es klingt", sagte Hasard, „ist das aber nicht zu verwirklichen. Nach dem wenigen, was wir bislang wissen, sieht
es zumindest so aus, als ob Webster seine Anhängerschar in bedingungsloser Treue hinter sich hat." „Und er selbst hängt an ihnen wie ein Polyp", sagte Pater David und nickte. „Ich weiß, es wird nicht einfach sein, ihn von seiner Gemeinde zu trennen und auszuschalten." Siri-Tong meldete sich zu Wort, indem sie die Hand hob. „Das nördliche Eleuthera ist nur fünfzig Seemeilen von unserer Bucht entfernt für mich der entscheidende Punkt! Diese verrückte Sekte als Nachbarn zu haben wäre denn doch wohl zuviel des Guten." „Vor allem, weil sie so hartnäckig aggressiv sind, diese gottesfürchtigen Teufel." Jean Ribault rief es mit einem Seitenblick auf Pater David. Aber der Gottesmann hatte gegen sein Wortspiel durchaus nichts einzuwenden. „Die können ihr sogenanntes Gottesreich von mir aus am Ende der Welt errichten!" rief der Wikinger dröhnend. „Aber nicht auf den Bahamas." „Also jagen wir sie am besten nach Norwegen", sagte Roger Lutz mit einem Glucksen. Thorfin Njal wandte sich mit einem Ruck in seine Richtung. „Was soll das heißen, du Matschbacke? Willst du damit sagen, daß Norwegen..." „Schluß jetzt!" fuhr Hasard dazwischen. „Wir haben eine ernsthafte Entscheidung zu treffen. Und das schaffen wir nicht, indem wir Stroh dreschen." Da war sie wieder, diese bisweilen bei Hasard festzustellende Bissigkeit. Thorfin schluckte, gab aber keinen Ton mehr von sich. Und Roger Lutz stellte sein Grinsen ein. „Wir müssen härtere Register ziehen", sagte Ben Brighton, und es gelang ihm damit, das momentan Beklemmende zu überbrücken. Der Seewolf nickte. Seine für einen Augenblick verfinsterte Miene wurde wieder klar. „Wir müssen nur eines erreichen", sagte er. „Wir müssen diesen fanatischen Starrköpfen verklaren, daß sie im nördlichen Bereich der Bahamas unerwünscht sind. Gegen die Frauen, die sich dem merkwürdigen Orden angeschlossen haben, werden wir allerdings keinen Krieg führen. Aber auch sie werden in aller Deutlichkeit begreifen müssen, daß wir die Rücksichtnahme auf das weibliche Geschlecht nicht zu übertreiben gedenken."
Die anderen nickten zustimmend. Es gab praktisch nichts, über das man noch groß diskutieren mußte. Dennoch war der Gedanke an die Frauen der Sekte für den Seewolf unbehaglich. Einerseits wußte er, daß es sich nicht nur um Ehefrauen, sondern auch um „Bräute Christi" handelte, nichts anderes als Huren also, die dem Erhabenen stets zu Willen zu sein hatten. Andererseits war es aber auch eine bekannte Tatsache, daß Frauen noch fanatischer sein konnten als Männer. An oberster Stelle aller Überlegungen stand aber eines: Es ging um das Wohl der eigenen Gemeinschaft. Dabei mußte man versuchen, das Problem auf eine möglichst unblutige Weise zu lösen. Die Entscheidung war rasch getroffen. Ohne großen Zeitverlust Hefen fünf Schiffe des Bundes der Korsaren aus: die „Isabella", der Viermaster des Wikingers, die „Caribian Queen", die „Golden Hen" unter dem Kommando von Jean Ribault und die „Empress of Sea". * Ein Schwarm von Möwen erhob sich mit protestierendem Kreischen, als die Schiffe des Bundes am Spätnachmittag desselben Tages an der Nordküste Eleutheras vor Anker gegangen waren und ein Boot ausgesetzt hatten. Gestank von verbranntem und verwestem Fleisch wehte Hasard und den Männern von der „Isabella" entgegen, als sie über den Strand auf die verlassene Feuerstelle der Sektierer zugingen. Mit schrillen Tönen verzog sich der Schwarm der Seevögel über die Mastspitzen der Schiffe hinweg auf das freie Meer. Die anderen „Vögel" waren ausgeflogen, das ließ sich feststellen, ohne daß man zweimal hinsehen mußte. Hasard gab den Kapitänen der übrigen Schiffe Zeichen, sich zu einer kurzen Besprechung an Land einzufinden. Während die restlichen Männer beim Boot blieben, brach der Seewolf gemeinsam mit Ed Carberry zu einer raschen Erkundung des Platzes auf, an dem Webster und seine Fanatiker ihre Feuerstelle eingerichtet hatten. Die Überreste davon, mit dem verkohlten Lamm, bis zur Unkenntlichkeit zerhackt, waren noch vorhanden. Der zertrampelte
Boden ließ die Folgerung zu, daß sich hier die gesamte Mannschaft versammelt hatte. Ed entdeckte auch die landeinwärts führenden Spuren, die noch von Dan und Batuti und den Verfolgern unter Webster stammten. Hasard entschied, daß es nicht nötig war, an dieser Stelle noch mit weiteren Nachforschungen anzufangen. Webster hatte sich nicht auf dem Landweg umgesehen. Er hatte mit seinen vier Schiffen das Weite gesucht aus welchen Beweggründen auch immer. Der Seewolf und der Profos gingen zum Strand zurück, wo mittlerweile Siri-Tong, Thorfin Njal, Jean Ribault und der alte O'Flynn eingetroffen waren. „Es gibt nur eine Erklärung", sagte Hasard, indem er mit einer Handbewegung auf die Spuren des Versammlungsplatzes deutete. „Webster und seine Getreuen sind verschwunden, weil sie von Dan und Batuti entdeckt und belauscht wurden." „Fragt sich nur, wohin sich diese Torfköppe verzogen haben", sagte der Wikinger. „Die Karibik bietet alle Möglichkeiten, die man sich nur wünschen kann", sagte die Rote Korsarin lächelnd. „Mit Mutmaßungen kommen wir wohl kaum weiter." „Aber wir können Websters Möglichkeiten eingrenzen", sagte Jean Ribault. „Seit mindestens vierundzwanzig Stunden haben wir ziemlich unveränderte Winde aus nördlichen Richtungen. Webster hat keinen Grund, sich auf mühseligen Kreuzschlägen zu verdrücken. Was wird er also getan haben?" Ribault blickte lächelnd und erwartungsvoll in die Runde. „Wirklich, eine sehr schwierige Frage", entgegnete Old O'Flynn knurrend. „Könnte es vielleicht sein, daß sich Webster einen südlichen Kurs ausgesucht hat?" „Donnerwetter!" Jean Ribault spielte den Überraschten. „Wie bist du bloß so schnell darauf gekommen?" Hasard winkte ab. „Darüber könnt ihr später noch nachdenken. Jetzt gilt es, Maßnahmen zu treffen. Das mit dem südlichen Kurs halte ich auch für wahrscheinlich. Deshalb werden wir die Bahamas nach Süden hin absuchen. Ist jemand anderer Meinung oder gegen einen solchen Beschluß?" Es gab keine Gegenstimme, denn die Schlußfolgerungen aus den Spuren waren so klar und eindeutig, daß man sich nicht lan-
ge mit einer Diskussion aufzuhalten brauchte. Auch die Einzelheiten waren rasch festgelegt. Wie die „Empress of Sea" hatte auch die größere Karavelle „Golden Hen" einen verhältnismäßig geringen Tiefgang. Deshalb sollte es Aufgabe dieser beiden Schiffe sein, die Westseiten der Inseln abzukämmen. Die „Isabella", „Eiliger Drache" und die „Caribian Queen" blieben unterdessen auf der Atlantikseite der Bahamas. Am Spätnachmittag des nächsten Tages, so wurde weiter beschlossen, würde man sich am Ausgang des Exuma-Sunds, südlich der Cat-Insel, wieder vereinen und erneut beraten. Zur Verstärkung der „Empress-Crew hatten diesmal Le Testu, Montbars und die Söhne des Seewolfs bei Old Donegal angeheuert. Auch Plymmie, die finnische Wolfshündin, war bei ihnen. Da die kleine Karavelle letztlich das flachste aller Schiffe war, würde der alte O'Flynn sowohl Eleuthera als auch die Cat-Insel an der jeweiligen Westseite absuchen. Jean Ribaults Ziel war unterdessen New Providence. Die „Golden Hen" ging auf Südwestkurs. 6. Die vier Galeonen der Puritaner waren keine sonderlich schnellen Schiffe. Deshalb erreichten sie erst gegen Mittag des 23. Juni 1595 die Nordküste von New Providence. Als die Ausgucks mit langgezogenen Rufen Land in Sicht meldeten, verfielen die Menschen an Bord der Schiffe in eine andächtige Starre. Ihre Blicke hefteten sich auf den Küstenstreifen, der zunächst nur ein blasser Schatten in fernem Dunst war. Dann aber, mit jeder Kabellänge, die Websters Viererverband hinter sich brachte, zeichneten sich die Einzelheiten deutlicher ab. Die Gläubigen an Bord der „Kyrie Eleison" und der drei anderen Galeonen begannen laut zu beten. Gleich darauf wurde der erste Choral angestimmt. Der Gesang pflanzte sich von Schiff zu Schiff fort und hallte bald wie eherner Glockenklang über die Weite des Wassers. Jeremiah Josias Webster wartete die kurze Pause zwischen zwei Strophen ab.
„So ist es recht!" brüllte er. „Preiset und lobet den Herrn, denn er zeigt uns das Gelobte Land!" Die nächste Strophe schmetterten sie lauter und freudiger hinaus als die erste. Webster lächelte zufrieden. Es war doch eine zuverlässige Schar von Anhängern, die er da hinter sich wußte. Ihre Treue war wie eine Linie, die stetig und unbeirrbar geradeaus verlief. Nur ein paar Unregelmäßigkeiten gab es da, aber die würde er sehr schnell in den Griff kriegen. Ja, in der Tat, das würde er. Webster nahm sich vor, noch an diesem Tag ein Exempel zu statuieren. Bevor weitere Pläne verwirklicht wurden, mußte er seiner unabdingbaren Autorität sicher sein. Nur die Seeleute an Bord der vier Schiffe leisteten schweißtreibende Arbeit unter der karibischen Sonne. Die Gläubigen verbrachten die Stunden mit Gebeten und Gesang. Den leiblichen Erfordernissen schenkte man wenig Aufmerksamkeit. Es wurde nur das Notwendigste gegessen. Der Herr verlange von ihnen Enthaltsamkeit in jeder Beziehung, pflegte Webster zu predigen. Daß er dabei seine eigenen Gewohnheiten geflissentlich verschwieg, hatte außer den wenigen Kritikern bislang niemanden gestört. In seiner Erhabenheit stand er für die große Mehrheit über den Dingen. Wenn er sich gesottenes Fleisch und spanischen Wein gönnte und wenn er eins der strammen jungen Mädchen zu sich rief, dann waren das eben Notwendigkeiten, die seine Erleuchtung förderten. Eben dies durfte niemand anzweifeln. Kein einziger. Webster wußte, daß er jenen Idealzustand sehr rasch wieder erreichen würde. Die Mittel dazu hatte er dank der Mehrheit seiner treuen Anhänger. An der Nordküste von New Providence entlang segelten die vier Galeonen zunächst westwärts. Nachdem sie die Westspitze umrundet hatten, streiften sie an der Südküste der Insel entlang bis etwa zur Mitte. Dort öffnete sich eine tiefere Bucht, die von einer Halbinsel mit drei auslaufenden Landzungen fast völlig abgeschlossen wurde. Sowohl auf der Halbinsel als auch auf den drei Landzungen wuchsen Mangroven und Pinien und versperrten die Sicht in die Bucht. Es handelte sich folglich um einen idealen Platz, der zudem Windschutz nach allen Seiten bot.
Die Jubelchoräle, die sogleich an Bord aller Schiffe ausbrachen, verleiteten Webster nicht zum Leichtsinn. Er gab Order, die Segel wegzunehmen und Anker zu werfen. Dann wurde ein Boot der „Kyrie Eleison" ausgesetzt. Mit der Aufgabe, die gesamte Bucht sorgfältig auszuloten, schickte Webster den Decksältesten mit sechs Rudergasten los. Während die Männer unterwegs waren, hatte er Zeit, sich die weiteren Schritte zu überlegen. Ein Zufall brachte ihn schließlich entscheidend weiter, was sein beabsichtigtes Exempel betraf. Als der Decksälteste nach erledigtem Auftrag zurückkehrte, verlangte er, mit Webster allein sprechen zu dürfen. Im ersten Moment war Webster versucht, unwillig zu reagieren. Dann jedoch wurde ihm bewußt, daß das Ansinnen des Mannes vor allem auch bedeutete, daß dieser seine Autorität akzeptierte. Webster zog sich also mit dem Decksältesten zur Heckbalustrade des Achterdecks zurück. „Die Wassertiefe ist überall in der Bucht ausreichend", sagte der Mann. „Weshalb dann diese Heimlichkeit?" entgegnete Webster stirnrunzelnd. „Meines Erachtens kann das jeder wissen." „Das ist es nicht, Erhabener", sagte der Decksälteste mit einer ehrfürchtigen Verbeugung. „Es könnte eine Panik ausbrechen, wenn die zweite Hälfte meiner Meldung bekannt wird. Die Bucht birgt nämlich auch große Gefahren." Er senkte seine Stimme zum Flüsterton, obwohl niemand in der Nähe war, der hätte zuhören können. Webster zog die Augenbrauen hoch. Nachdem sein Gegenüber geendet hatte, sah er ihn sekundenlang stumm an. „Wir laufen trotzdem in die Bucht ein", sagte er schließlich. „Die Vorteile überwiegen." Ein Grinsen überzog sein Gesicht. „Und was diese Gefahr betrifft nun, es braucht ja niemand ins Wasser zu gehen. Es sei denn, er wird dazu gezwungen." Der Decksälteste furchte die Stirn, denn er verstand nicht. „Euer Wille ist Gebot, Erhabener", sagte er nur. Webster gab Befehl, die Anker zu hieven. Die „Kyrie Eleison" lief als erstes Schiff in die Bucht ein. Die drei anderen folgten, wobei an Bord ununterbrochen Choräle gesungen wurden. Der Klang der Stimmen veränderte sich, sobald die Schiffe die Bucht erreicht hatten.
Der Gesang der Glaubensgemeinschaft gewann nun einen Nachhall wie in einem riesengroßen Kirchenschiff, ja wie in einer Kathedrale. Jeremiah Josias Webster hatte sich unterdessen auf dem Achterdeck der „Kyrie Eleison" postiert. Nachdem alle vier Galeonen vor Anker gegangen und die Segel ins Gei gehängt worden waren, gab er das Zeichen, den Gesang zu beenden. „Gelobet sei der Herr, amen!" brüllte er und freute sich im selben Moment, daß es sich anhörte, als dröhne seine Stimme von einer Kanzel hinunter über die Köpfe der versammelten Schäflein. Dabei brauchte er seine Stimme nicht einmal übermäßig anzustrengen. Er war gespannt, ob der gleiche akustische Effekt auch eintreten würde, wenn er vom Strand aus predigte. Zumindest aber bot die Bucht auch in dieser Hinsicht entscheidende Vorteile. „Höret die Entscheidung des Herrn!" rief er in theatralischem Singsang. „Das Paradies liegt vor uns, und das Paradies ist unser! Nehmt es in Besitz, damit wir die Burg Jerusalem errichten!" Frenetisches Geschrei brandete auf. Auf den Decks der drei Schiffe waren überall Menschen zu sehen, die auf die Knie fielen. Webster hob beschwörend die Hände. „Gemach, gemach!" brüllte er. „Bevor wir die Burg Jerusalem erbauen, haben wir dem Herrn ein wohlgefälliges Opfer darzubringen." Auch das letzte Gemurmel erstarb. Nicht einmal ein Gebet wurde noch geflüstert. Nur das leise Singen des karibischen Windes in Wanten und Pardunen war noch zu hören. Webster weidete sich minutenlang an der Wirkung seiner Worte und daran, wie alle Blicke auf ihn gerichtet waren. „Ja, wir haben dieses Opfer darzubringen", rief er dann, „so, wie es der Herr von Abraham im ersten Buch Mose, zweiundzwanzigstes Kapitel, verlangt hat!" Die Stille nahm das Weihevolle eines Kirchenschiffs an. Webster hatte bisher nur immer davon träumen können, in einer Kirche zu predigen. Die studierten Affen, die das alleinige Recht darauf für sich beanspruchten, hielten ihn für zu minderwertig. Aber hier, im eigenen Paradies, würde er eine Kathedrale bauen lassen, deren Glanz im alten Europa nicht ihresgleichen kannte. Er genoß es immer mehr, wie die Schäflein in seinem Bann standen. Deshalb beschloß er, die Sache mit dem Opfer besonders spannend zu gestalten.
Mit Donnerstimme befahl er den Koch der „Kyrie Eleison" zu sich. Den Auftrag erteilte er ihm im Flüsterton. Der Mann hastete zur Kombüse und knallte das Schott hinter sich zu. Für die Wartezeit befahl Webster, einen neuen Choral anzustimmen. Die Leute sangen ohne sonderliche Überzeugung. Webster bemerkte es mit einem heimlichen Grinsen. Natürlich warteten sie alle voller Neugier auf das, was sich abspielen würde. Menschen waren tatsächlich wie Schafe. Man mußte nur die passenden Methoden kennen, um sie nach Belieben zu gängeln. Nach der zweiten Strophe gab er das Zeichen, aufzuhören. Die Gläubigen verstummten bereitwillig. Webster hatte gesehen, daß das Kombüsenschott geöffnet wurde. Der Koch erschien mit einem Gehilfen. Gemeinsam schleppten sie eine Kiste zum Steuerbordschanzkleid der „Kyrie Eleison".' Die übrigen Schiffe lagen so vor Anker, daß alle an Bord sehen konnten, was sich nun abspielte. Der Koch nahm eine prallvolle Schweinsblase aus der Kiste und hielt sie hoch. Sein Gehilfe ritzte die Blase mit einem Messer an, und der Koch schleuderte sie im selben Moment in hohem Bogen außenbords. Klatschend schlug die Schweinsblase auf die Wasseroberfläche und zerplatzte. Dunkle Schwaden breiteten sich im Wasser wie rote Nebel aus. Blut! Ein Raunen ging durch die Schar der vierhundert Zuschauer. Im nächsten Atemzug wurde es wieder totenstill. Koch und Gehilfe warfen noch zwei weitere mit Hühnerblut gefüllte Blasen über Bord. Und lange brauchten die begierig lauernden Zuschauer nicht zu warten, bis ihnen der wohlig-schaurige Schreck in alle Knochen fuhr. Eine Dreiecksflosse zerschnitt plötzlich die Wasseroberfläche. In den türkisgrünen, klaren Fluten war der mächtige Körper des Haies deutlich zu erkennen. Pfeilschnell schoß das riesige Tier auf den Blutnebel zu, und dann begann es, buchstäblich im Blut zu baden. Immer heftiger und peitschender wurden die Bewegungen der Bestie. Webster wußte, daß ihre Gier nun zum äußersten angestachelt war. Da war Blut und doch nichts zu fressen. Nun mußte es Schlag auf Schlag gehen. Die Gaffer brauchten ihr Schauspiel, und der Hai brauchte seinen Fraß.
„Bringt den Aufsässigen!" brüllte er, so daß es jeder auf den vier Schiffen hören konnte. Webster sah, daß es alle wie ein Hieb traf. Die Oberjünger begriffen sofort. Willig eilten sie los. Der Mann, um den es ging, war viel zu entsetzt, um noch reagieren zu können. Die vier Oberjünger packten ihn, fesselten ihm die Arme auf dem Rücken und stießen ihn auf die Planken. Der Mann begann zu schreien. Sie stopften ihm einen Knebel in den Mund, und dann schnürten sie auch seine Fußgelenke zusammen. Ohne weitere Umstände schleppten sie ihn zur Steuerbordverschanzung, wo noch die Kiste stand, in der sich die Blutblasen befunden hatten. Die Gläubigen stierten voller Entsetzen auf den Gefesselten. Webster gab mit einer Handbewegung Order, daß sie ihn aufrichteten, damit er auch von den anderen Schiffen aus zu sehen war. Jeder wußte, was der Mann getan hatte. Bei denen, die nicht unmittelbar beteiligt gewesen waren, hatte es sich rasch herumgesprochen. Am Vorabend auf Eleuthera, in der Runde der Unterführer, hatte der Mann gewagt, dem Großmeister zu widersprechen. Er hatte sich erdreistet, Zweifel daran zu äußern, daß man den Kreuzzug gegen das Natterngezücht wirkungsvoll durchführen könne. „Der Herr wird sein Urteil fällen!" brüllte Webster, indem er erneut die Arme ausbreitete. „Wer sich gegen mich auflehnt, lehnt sich gegen unsere Glaubensgemeinschaft auf. Das dürfen wir nicht dulden! Niemals!" Ruckartig wies er auf den Gefesselten. „Wenn der Herr das Opfer annimmt, dann stimmt er uns zu. Er sagt uns in seiner unendlichen Güte, ob wir den richtigen Ort gefunden haben, sein Reich zu errichten. Und er wird gleichzeitig den Ketzer strafen, der es nicht mehr verdient hat, unserer Gemeinschaft anzugehören." Webster erhöhte seine Stimme zu schmetterndem Klang. „Werft ihn über Bord! Und lobet und preiset den Herrn!" Die Oberjünger packten zu. Auf den Schiffen begannen Websters Gläubige, einen neuen Choral zu singen. Es klang leiernd und geistesabwesend, doch sie hielten nicht inne. Ihre Aufmerksamkeit galt dem grausigen Geschehen auf der „Kyrie Eleison". Vergeblich wand und krümmte sich der Mann. Den Kräften der Oberjünger war er mit seinen straff geschnürten Fesseln nicht
gewachsen. Die Todesangst, die er hinausschreien wollte, wurde durch den Knebel zu gurgelnden Lauten, die kaum noch etwas Menschliches hatten. Seine Henkersknechte hoben ihn hoch. Sekundenlang stand er mit den zusammengebundenen Füßen auf der Verschanzung. Dann stießen sie ihn einfach hinunter. Der Choralgesang brach ab. Klatschend schlug der Gefesselte auf und versank sofort, gut zwanzig Yards von der Stelle entfernt, an der die Blutblasen geplatzt waren. Doch es spielte keine Rolle. Blitzartig schoß die Dreiecksflosse aus dem schon schwächer gewordenen Blutnebel heraus auf den Versinkenden zu. Der Choralgesang auf den Schiffen setzte wieder ein, lauter jetzt. Der Hai packte den Körper des Mannes und zerfetzte ihn. Dort, wo die Bestie ihr grausiges Mahl hielt, brodelte und schäumte das Wasser wie ein blutroter Vulkanausbruch in der friedlichen Weite der türkisgrünen Bucht. Eine Viertelstunde später erinnerten nur noch dünne dunkle Schleier an das Blutopfer. Der Hai hatte sich nur einige hundert Yards entfernt. Deutlich genug war noch die Dreiecksflosse zu sehen, die unstet hin und her glitt. Jedem war klar, daß die Mordbestie auf weitere Opfer lauerte. Ein mahnendes Zeichen. Webster war es nur recht. „Der Herr hat das Opfer angenommen!" brüllte er triumphierend. „Wir sind auf dem richtigen Weg! Singt halleluja, und dann laßt uns unser Werk voll Dankbarkeit beginnen!" Folgsam stimmten sie wieder ihren Choral an. Webster wandte sich ab und stolzierte auf dem Achterdeck in Richtung Heckbalustrade. Natürlich war es glatter Mord, was er da eben unter dem Deckmantel göttlicher Gerechtigkeit vollzogen hatte. Aber es gab keinen Richter, der ihn deswegen jemals zur Verantwortung ziehen konnte. Er selbst war alles in einer Person Richter, Herrscher, Vorbild, erleuchteter Großmeister und was man sich nur denken konnte. Unbändiges Triumphgefühl erfüllte ihn. Den Kerl aus dem Weg zu räumen war die einzig praktikable Methode gewesen. In seinem Orden, wie er die Gemeinschaft bei
sich nannte, konnte und durfte er niemanden dulden, der wider den Stachel lockte und außerdem noch Fragen stellte und damit bewies, daß er denken konnte. Den drei oder vier anderen Aufsässigen, die es da noch gab, würde das Geschehen eine Lehre sein. Webster kannte seine Schafe schließlich sehr genau. Das „Gottesurteil", das soeben erfolgt war, würde für jene, die auch nur an Kritik dachten, eine nachhaltig wirksame Mahnung sein. Webster war entschlossen, gegen jegliche Opposition mit barbarischer Härte vorzugehen. Vor sich selbst mußte er zugeben, daß ihm das auch noch eine erregende Art von prickelnder Lust verschaffte. Wehrlosen Menschen körperliches Leid zuzufügen bereitete ihm das größte Vergnügen. Sie in ihrer Qual schreien zu hören, zu sehen, wie sie sich vor Schmerzen wanden, war für ihn auf faszinierende Weise ergötzlich. Und er hatte alle Macht, sich diesen Lustgewinn zu verschaffen, wann immer er wollte. Letztlich empfand er aber nicht allein so, das wußte er. Wenn er seiner Gemeinde ein grausiges Schauspiel bot, wie vor wenigen Minuten, dann rührte er an ihre primitivsten Instinkte. Mit dem Wohlbehagen, nicht selbst betroffen zu sein, gierte die einfältige Masse geradezu nach blutigen Geschehnissen, die sie aus sicherem Abstand beobachten konnte. Vor allem aber wurden die Leute dadurch vom Denken abgehalten. Webster unterbrach den Gesang abermals, um eine neue Erleuchtung zu verkünden. Mit ausgestrecktem Arm wies er auf die Dreiecksflosse, die sich voller Unrast bewegte. „Jenen Hai hat der Herr gesandt, um unser gottgefälliges Werk zu schützen! Ich habe die Weisung empfangen, ihn zum Wächter von Jerusalem zu ernennen! Er wird alle Anfechtungen von uns fernhalten und dafür sorgen, daß wir ungestört mit der Arbeit beginnen können." Es folgten weitere Choräle und Gebete. Dann jedoch gab Webster Order, sich den naheliegenden weltlichen Dingen zu widmen. Die Schiffe wurden entladen. Die erste Maßnahme, der sich der „Erleuchtete" an Land zuwandte, war, den Bauplatz für die Burg Jerusalem abzustecken. 7.
Bleifarbenes Mondlicht ergoß sich vom klaren Nachthimmel auf die Inselwelt. Es war um Mitternacht, auf den 24. Juni zugehend, als Jean Ribault mit der „Golden Hen" die nördliche Ostküste von New Providence erreichte. Es war ein langwieriges und mühevolles Unternehmen für den schlanken Franzosen und seine Crew. Mit der geringen Fahrt, die das schwache Licht erlaubte, tasteten sie sich westwärts, zunächst durch den schmalen Sund zwischen dem langgestreckten Paradies Island und jener nördlichen Ostküste der Insel New Providence. Weiter ging es danach an den anderen Gays vorbei, die sich vor der Küste befanden. Während des Lavierens im Küstenbereich ließ Ribault ununterbrochen loten. Und mehr als einmal konnte die „Golden Hen" gerade noch rechtzeitig davor bewahrt werden, sich den Rumpf an einem Korallenriff aufzureißen. Jede einzelne Bucht wurde mit dem Beiboot abgesucht. Der Morgen des neuen Tages brach an, und Jean Ribault war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß die Verrückten mit ihrem schwachköpfigen Großmeister nicht auf New Providence gelandet waren. Wenn überhaupt, dann hätte er eher auf die Nordküste getippt, die für Landungen wesentlich besser geeignet war. Dennoch durfte die Suche aufgrund von Mutmaßungen nicht einfach abgebrochen werden. Als der Ausguck der Karavelle im frühen Tageslicht an der mittleren Südküste der Insel eine gut abgeschirmte Bucht erspähte, gab Jean Ribault Befehl, die kleinere Jolle auszusetzen. Mel Ferrow und Roger Lutz erhielten den Auftrag, der Ordnung halber in dem unübersichtlichen Buchtbereich nach dem Rechten zu sehen. Die beiden Männer waren ebenfalls überzeugt, keine Menschenseele anzutreffen. Nach aller Monotonie, die hinter ihnen lag, schien dieser Tag keine Abwechslung mehr zu versprechen. „Weißt du, was mir jetzt gefallen würde?" sagte Roger Lutz, während sie auf den Eingang der Bucht zupullten. „Nicht die leiseste Ahnung", entgegnete Mel Ferrow, obwohl er es doch ziemlich genau wußte. Von dem schwarzhaarigen Franzosen, der im übrigen ein hervorragender Degenkämpfer war, wurde gesagt, daß er immer nur das eine im Kopf habe. Frauen waren sein einziges Gesprächs-
thema, insbesondere die vielen Amouren, von denen er so gern schwärmte. Der dunkelblonde Engländer wirkte dagegen eher verschlossen. Bisweilen schienen seine wasserhellen Augen in eine unendliche Ferne gerichtet zu sein. Seine Freunde wußten, daß man es dann besser vermied, ihn mit Fragen oder dummen Bemerkungen zu behelligen. Mel Ferrow hatte einen mörderischen Griff. Allein indem er ihn bei den Armen packte, hatte er so manchen Mann in die Knie gezwungen nur mit der Kraft seiner Fäuste. Mel war überdies ein hervorragender Schwimmer und Taucher, und das Haizeichen, die riesige Wunde auf Schulter und Rücken, ließ eine Ahnung davon zu, welcher kämpferischen Energie er sein Leben verdankte. „Stell dir mal vor", fuhr Roger fort, „in einer Bucht läge eine Galeone und die wäre voll mit schnuckeligen englischen Weiberchen. Das ist es, was mir gefallen würde." Mel Ferrow überraschte das nicht im mindesten. „Wieso englische Weiberchen?" fragte er ohne sonderliches Interesse. „Ist doch klar", antwortete Roger. „Französinnen kenne ich zur Genüge. Da habe ich schon alles gehabt, was man so haben kann. Aber Engländerinnen, sage ich dir, die haben's in sich." „Die, die ich erlebt habe, waren langweilige Tränen." „Dann hast du nicht die richtigen erlebt, mein lieber Mel. Man sagt, je kühler das Wetter, desto feuriger die Frauen. Natürlich trifft das nicht für alle zu. Man muß einen Blick dafür haben." „Und den hast du." „Haargenau. Wenn ich eine Engländerin sehe mit dunkelrotem oder schwarzem Haar, grün schimmernden Augen und vollen Lippen -, ja, dann weiß ich, daß ich ein Feuerwerk erleben werde, wie es keine Pariserin bieten kann." „Teufel auch", sagte Mel brummend. „Von dir kann man noch über das eigene Land etwas lernen." „Nicht über das Land. Über die Menschen. Und auch nur über die weiblichen. Ich rede nur über das, wovon ich etwas verstehe." „Hm. Und ich denke, wir sollten uns jetzt besser aufs Beobachten beschränken." Roger Lutz warf einen Blick nach Steuerbord und nickte zustimmend.
Da waren drei Landzungen zu sehen, die von einer Halbinsel ausgingen. Die üppige Vegetation, die bis fast ans Ufer reichte, ließ den Eindruck von grünen Mauern entstehen. Jeglicher Blick ins Innere der Bucht war dadurch zumindest verwehrt. Die beiden Männer erreichten die nördliche Landzunge und bogen nach Osten ein. Das Fahrwasser, das in die Bucht mündete, war nicht sonderlich breit. Eine ziemlich enge Gasse sogar, wenn man das Dickicht und den Baumbewuchs als undurchdringliche seitliche Begrenzung verstand. Erst nach einer Weile erweiterte sich die Gasse nach Südosten. Abwechselnd sahen sich Roger Lutz und Mel Ferrow beim Pullen um. Roger war es, der als erster freien Blick in die Bucht hatte. „Himmel!" stieß er hervor. „Sieh dir das an!" Mel ruckte herum. Vier Schiffe lagen da weiter unten, im südlichen Teil der Bucht. „Mehr Engländerinnen, als du dir gewünscht hast", knurrte der Mann mit dem Haizeichen. „Hauen wir ab", entgegnete Roger hastig. „Schnell, bevor die uns sichten." Mel Ferrow grinste breit. „Angst vor Engländerinnen?" „Mann, du solltest mich besser kennen. Diese Eimer da sehen mir eher nach den Schiffen dieser Verrückten aus." Sie wendeten. Natürlich hatten sie nicht zweimal hinzusehen brauchen, um die Galeonen des „Erleuchteten" zu erkennen. Es blieb keine Zeit, weitere Einzelheiten auszuspähen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß. Die beiden Männer in der Jolle schafften nur vier oder fünf Yards seewärts in der grün gesäumten, Gasse des Fahrwassers. Eine dröhnende Stimme ließ sie zusammenzucken. „Pullen einstellen! Riemen einholen!" Roger Lutz und Mel Ferrow gehorchten, nachdem sie sich umgedreht hatten. Der Anblick war niederschmetternder als ein bösartiger Hieb in die Magengrube. Eine große Jolle, besetzt mit zehn Mann, lag quer in der Einfahrt. Der Mann auf der Achterducht war kein Geringerer als der erleuchtete Webster. Sechs von den vier Kerlen standen aufrecht zwischen den Duchten und hatten auf sehr unfromme Weise Musketen im Anschlag. Sechs großkalibrige Mündungen glotzten die Männer von der „Golden Hen" schwarz und drohend an. Die Häh-
ne der Langwaffen waren gespannt, die Finger der Kerle lagen am Abzug. Auch wenn man eine gewisse Ungenauigkeit des Zielens im schwankenden Boot voraussetzte, gab es doch praktisch keine Chance. Die Wahrscheinlichkeit, von wenigstens einer Kugel erwischt zu werden, war zu groß. Selbst wenn die Schüsse fehlgingen, konnte eine Flucht nicht gelingen. Der Weg aus der Bucht war versperrt. Bestenfalls auf dem Landweg konnte man sich verdrücken. Aber mit zehn Rudergasten pullten die Burschen garantiert schneller. Selbst wenn man das Ufer erreichte, kam man in dem Dickicht nur im Schneckentempo voran. Vielleicht waren auch längst weitere Posten aufgezogen, die in den undurchdringlichen Uferbereichen lauerten. Alles das ging den beiden Männern aus der Crew Jean Ribaults blitzartig durch den Kopf. Sie sahen ein, daß es keine Chance gab. Behutsam legten sie die Riemen auf die Duchten und hoben die Hände. Jeremiah Josias Webster grinste wie der Teufel, dem er sich angeblich so erfolgreich widersetzte. „Elendes Natterngezücht!" rief er fauchend. „Ihr werdet meinen Weisungen folgen. Wenn ihr schreit, werdet ihr auf der Stelle erschossen. Habt ihr mich verstanden?" „Jedes Wort", erwiderte Roger Lutz, konnte sich aber eine Bemerkung nicht verkneifen. „Wenn ich untertänigst darauf hinweisen darf! Heißt es nicht: .Liebet eure Feinde'?" Websters grobes Gesicht verfärbte sich in ein dunkles Rot. „An deinem Spott wirst du ersticken, du Wurm! Auge um Auge, Zahn um Zahn das ist es, wonach wir handeln müssen, wollen wir das Paradies erobern. Euch Natterngezücht hat der Satan gesandt! Wir werden euch zertreten wie Gewürm!" Mel Ferrow stieß seinen Nebenmann kaum merklich mit dem Ellenbogen an und flüsterte, was er zu sagen hatte. „Halt bloß das Maul, du Natter!" Roger gehorchte. Er preßte die Lippen aufeinander, als sichtbares Zeichen scheinbarer Reue für den „Erleuchteten" und als Zeichen der Zustimmung für Mel. Webster knurrte und nickte und wechselte gedämpfte Worte mit den vier Kerlen, die ohne Waffen auf den Duchten hockten. Es schien sich um eine Art Unterführer zu handeln.
Roger und Mel hörten heraus, daß der „Erleuchtete" eine Inspektionsfahrt mit der Jolle unternommen hatte, um den Eingang der Bucht zu erkunden und Möglichkeiten für die Aufstellung von Posten und eventuell sogar Geschützen zu suchen. Der Hafen der künftigen Burg Jerusalems müsse schließlich auch zur See hin vor Natterngezücht und anderen Anfeindungen geschützt werden. Wie es der Zufall zugunsten des Großmeisters gewollt hatte, war seinen Männern die herannahende fremde Jolle so rechtzeitig aufgefallen, daß es ihnen gelungen war, sich im Uferdickicht zu verbergen. Die Besprechung zwischen Webster und seinen Oberjüngern war rasch beendet. „Im Namen des Herrn!" rief der „Erleuchtete" triumphierend. „Ihr seid unsere Gefangenen und habt euch bedingungslos nach meinen Anweisungen zu richten. Bei Zuwiderhandlung ist euer Leben auf der Stelle verwirkt. Vor meinen Augen begebt ihr euch nun an Bord der ,Kyrie Eleison'!" Roger Lutz und Mel Ferrow gehorchten widerspruchslos. Sie wußten, daß der Großmeister unberechenbar war. Und immerhin, während sie die Riemen in die Dollen legten und zu pullen begannen, blieben Musketen auf sie gerichtet. Das Boot mit dem „Erleuchteten" folgte der Jolle der „Golden Hen" im Kielwasser. Die Männer auf den beiden vorderen Duchten hatten sich nach vorn gewandt und hielten die Musketen im Anschlag. Die sechs anderen pullten, und Webster ließ sich gnädig dazu herab, die Ruderpinne zu bedienen. Noch bevor sie das Flaggschiff des Großmeisters erreichten, ging eine der drei anderen Galeonen ankerauf. Ein mehrfach donnerndes „Halleluja" war von den Decks zu hören, und es folgte ein Choral in monoton leierndem Klang. Behäbig segelte die Galeone auf den Ausgang der Bucht zu. An der Backbordseite der „Kyrie Eleison" war bereits eine Jakobsleiter ausgebracht worden. Gehorsam hielten Roger Lutz und Mel Ferrow darauf zu. Als sie nach oben blickten, sahen sie an die hundert Gesichter. Blicke aus haßerfüllten Augen waren starr auf sie gerichtet. Männer und einige wenige Frauen waren es, die sich auf dem Achterdeck, auf der Kühl und auf der Back über die Verschanzung beugten und Gebete murmelten. Es hörte sich an wie ein riesiger
Bienenschwarm. Worte waren nicht zu verstehen, nur gelegentlich ein „Amen" oder ein „Halleluja". Roger und Mel wechselten einen Blick, mit dem alles gesagt war, was sie von dem verrückten Haufen hielten. Aber sie hüteten sich, eine erkennbar verächtliche Reaktion zu zeigen. Diese Fanatiker waren imstande, sie mit Kanonenkugeln zu steinigen oder auf sonstige biblisch belegte Weise ins Jenseits zu befördern. „Aufentern!" brüllte Webster. Die Gefangenen gehorchten. Ihre Jolle wurde gleich darauf von Websters Bootsgasten übernommen. Während sie sich auf der Jakobsleiter der Pforte im Schanzkleid näherten, sahen Roger und Mel, wie die eine Galeone im Buchtzugang als schwimmendes Fort vor Anker ging, eine Breitseite nach Westen gerichtet. Die „Golden Hen", das wußten die beiden Männer, war inzwischen langsam weiter ostwärts getörnt. Denn es war vereinbart, daß Roger und Mel unter Segeln folgen würden. Das Rigg der kleinen Jolle war vorbereitet zum Setzen einer Fock und eines Großsegels. Auf der Kühl der „Kyrie Eleison" wurden Roger Lutz und Mel Ferrow umringt und beäugt. Einige der Frauen bekreuzigten sich mit schreckensstarren Gesichtern. Das Gebetsgemurmel setzte wieder ein. „Die tun so", flüsterte Roger Lutz, „als wären wir mit einer Sternschnuppe vom Himmel gesegelt." Mel Ferrow stieß ihn kaum merklich an, und Roger verstummte. Durch die Pforte im Schanzkleid trat Webster, der Erhabene. Das Gemurmel der Versammelten ordnete sich zu untertänigen Hallelujarufen. Demütig senkten sie die Köpfe und falteten die Hände. Roger Lutz und Mel Ferrow beobachteten es fassungslos. Diese Leute schienen tatsächlich kein Gramm Grips mehr im Schädel zu haben. Ihr sauberer Großmeister hatte sie zu einer dümmlich lallenden Masse von willenlosen Werkzeugen gemacht. Hölle und Teufel, gab es denn niemanden unter ihnen, der noch denken konnte? Webster blieb breitbeinig stehen und hob die Hände in einer segnenden Gebärde. Die Menschen wurden still und andächtig. So ähnlich hatten diese Schwachköpfe dagestanden und tatenlos
zugesehen, als der Scharlatan einen unschuldigen Seemann hingerichtet und die junge Frau ausgepeitscht hatte. Die beiden Gefangenen gelangten zu der Erkenntnis, daß Webster mit diesen Gefolgsleuten buchstäblich alles anstellen konnte, was er wollte. Man brauchte nur in ihre Gesichter zu sehen, um das zu erkennen. Abgestumpfte und ausdruckslose Gesichter waren das. Und Augen ohne Glanz. Befehlsempfänger, die sich ein Reglement aus scheinbarer Religiosität hatten aufzwingen lassen. Hinter dem „Erhabenen" traten die Oberjünger und die anderen Kerle aus der großen Jolle an Bord. „Fesselt sie!" befahl Webster und wies mit ausgestrecktem Arm auf die Gefangenen. Die Männer aus dem Boot führten den Befehl aus. Roger und Mel leisteten keinen Widerstand, als die Kerle sie zum Großmast führten. Die Leute wichen wenige Schritte zurück. Angesichts einer hundertköpfigen Übermacht war jeder Gedanke an Gegenwehr oder Flucht sinnlos. Die Männer von der „Golden Hen" erhielten Order, sich nebeneinanderzustellen, mit dem Rücken an den Großmast, das Gesicht zum Achterdeck gewandt. Stricke wurden ihnen in mehreren Windungen um die Oberkörper gezurrt, anschließend auch um Beine und Fußgelenke. Die Kerle strengten sich so höllisch dabei an, daß Mel Ferrow und Roger Lutz anschließend kaum noch atmen, geschweige denn einen Arm oder ein Bein bewegen konnten. Stille kehrte ein. Jeder lauerte darauf, was der Erleuchtete jetzt mit dem „Natterngezücht" anstellen würde. Irgendein Schauspiel würde er sich schon einfallen lassen. Wahrscheinlich wußte er, welchen Nervenkitzel er seiner feinen Gemeinde schuldig war. Höhnisch grinsend musterte Webster die Gefesselten von Kopf bis Fuß. „Ihr werdet reden", sagte er. „Verlaßt euch drauf. Der Herr gibt mir die Kraft, euch zum Reden zu bringen." „Uns gibt er kaum Luft zum Atmen", antwortete Mel Ferrow keuchend. Einen Anflug von Spott konnte er sich nun auch nicht mehr verkneifen. Die ganze Situation und diese Horde von Verbohrten, all das war einfach zu lächerlich, um es mit dem gebotenen Ernst aufzunehmen. Doch es bestand andererseits kein Zwei-
fel daran, daß Webster nur mit dem Finger zu schnippen brauchte, und sie würden ins Jenseits befördert werden. Webster lachte herablassend. „Du bist ein vorlauter kleiner Bastard, mein Freund. Wenn es dem Herrn gefällt, wird er dich durch mich in eine winselnde Kreatur verwandeln." Mel wollte etwas erwidern, doch er ließ es. Instinktiv spürte er, daß sich der Großmeister in einer Stimmung befand, in der er sich leicht reizen ließ. Eine gefährliche Stimmung also. Man mußte keinen unnötigen Tobsuchtsanfall heraufbeschwören. Zum Glück blieb auch Roger Lutz still. Mel Ferrow atmete auf was allerdings schwerfiel, denn die Stricke drückten in der Tat wie Zentnerlasten auf die Brust. Webster nickte zufrieden und stieß einen grollenden Laut aus. „Ich sehe, ihr begreift langsam, in welcher Lage ihr euch befindet. Da heißt es, den Zorn des Herrn nicht unnötig herauszufordern. Selbst unflätiges Natterngezücht von eurer Sorte lernt das in meiner Gegenwart. Der Herr in seiner unendlichen Güte hat mir die Kraft gegeben, auch euch Gewürm in meinen Bann zu zwingen." Die Zuhörerschar brach in begeisterte Lobpreisungen aus. Roger und Mel konnten nicht alles verstehen, es waren lateinische Wörter darunter. Webster beendete die Beifallskundgebung mit wedelnden Handbewegungen. „Genug, genug! Den Herrn verlangt es nach Ergebnissen. Wer ist es, der sich erdreistet, an jenen Ort vorzudringen, an dem wir im Auftrag des Allmächtigen die Burg Jerusalem errichten werden? Wer hat die satanische Unverfrorenheit, sich hier einzuschleichen? Wahrlich, ich sage euch, diesen Fragen werde ich auf den Grund gehen und nicht eher lockerlassen, bis die ganze furchtbare Wahrheit heraus ist!" Ergriffenes Gebetsgemurmel setzte ein. Webster nutzte die Gunst des Augenblicks, seine erste Frage hinauszuschleudern. „Wer hat euch geschickt, elendes Gewürm?" „Unser Kapitän", erwiderte Roger Lutz prompt. Mel Ferrow sah ihn mit einem entnervten Seitenblick an.
Aber es half nichts mehr. Der Zorn des Erhabenen kochte über. Auf seinen Wink hin stürzte einer der Oberjünger vor und rammte Roger beide Fäuste gleichzeitig in den Bauch. Der Franzose lief grünlich an und rang nach Atem. Den Gefallen, zu schreien, tat er dem großen Meister jedoch nicht. Der Oberjünger harrte mit zwei Schritten Abstand vom Großmast in Lauerstellung aus. Sekundenlang sah es auch aus, als wollte Webster erneut Befehl zum Zuschlagen geben. Doch er überlegte es sich anders und schien zu begreifen, daß ein bewußtloser Gefangener keine teuflischen Geheimnisse mehr ausplaudern konnte. „Glaubt nur nicht, daß ihr mit mir Versteck spielen könnt", sagte Webster gefährlich leise. „Euer Kapitän ist dieser schwarzhaarige Engländer, nicht wahr? Dieser Anführer des Natterngezüchts, das uns am ursprünglichen Bauplatz der Burg Jerusalem heimtückisch überfallen hat! Gesteht es!" Roger Lutz hatte sich halbwegs wieder erholt. Und er zeigte dem großen Meister jetzt, daß er aus einem Eisen geschmiedet war, gegen das auch die gewaltigste überirdische Macht nicht auf Anhieb etwas ausrichten konnte. „Unser Kapitän sieht ganz anders aus", sagte er mit überzeugend todernster Miene. „So?" höhnte Webster. „Wie denn, bitte sehr?" Roger Lutz antwortete mit Grabesstimme und genoß es, die Reaktion der Leute zu beobachten. Und Webster war zu verblüfft über so viel Dreistigkeit, um schnell genug zu reagieren. „Unser Kapitän hat einen merkwürdig geformten Fuß", sagte Roger Lutz. „Der eine Fuß ist ganz normal, aber der andere sieht aus wie ein Pferdehuf. Und manchmal, wenn er seinen Dreispitz abnimmt, dann sieht man die beiden Hörner, die ihm zwischen dem Haarschopf wachsen. Unser Schiff ist die ,Satana'. Eine Karavelle. Ihr Kiel berührt nie das Wasser, und sie segelt unter Vollzeug selbst gegen den Wind." Die Männer und Frauen stierten ihn an. Die meisten hatten den Mund aufgesperrt. Einige rissen erschrocken die Arme hoch und hielten schützend die Handflächen vor das Gesicht. Andere wichen zurück, als breche von diesem garstigen Gefangenen jeden Moment das Höllenfeuer aus und verschlinge die „Kyrie Eleison" mit vernichtender Glut.
Webster reagierte völlig anders, als Mel Ferrow erwartete. Er hätte dem Franzosen an seiner Seite mit wachsender Begeisterung Tritte in den Hintern verpassen können. Dieser verrückte Kerl wurde anscheinend im wahrsten Sinne des Wortes vom! Teufel geritten. Webster hob nur die eine Hand ein wenig, die rechte. Kein Wutausbruch, kein Tobsuchtsanfall. „Fürchtet euch nicht", sagte er ruhig. „Der Herr ist mit euch und wird euch keinerlei Anfechtungen aussetzen. In seiner Güte gibt er mir die Kraft, jeglichem Satanswerk entgegenzutreten und es mit Stumpf und Stiel auszurotten. Diese unverschämte Ausgeburt der Hölle", er wies gelassen auf Lutz, als handele es sich um ein Anschauungsobjekt, „beabsichtigt nichts weiter, als uns zu verwirren. Man will uns vom Wesentlichen ablenken. Der Herr hat mich soeben erleuchtet. Ich werde nicht auf das Teufelsspiel eingehen, denn unser grausamer Feind will nur die Zeit nutzen, um uns heimtückisch zu überfallen. Wir befassen uns später mit den Gefangenen." Webster wandte sich ab und erteilte seine Befehle. Weitere bewaffnete Männer wurden auf die Halbinsel und die drei Landzungen geschickt. Dort hatten sie in Deckung zu gehen, um einen möglichen Landeversuch des vom Teufel gesandten Natterngezüchts abzufangen und im Keim zu ersticken. 8. Jean Ribault hatte die Hände auf den Rücken gelegt und ging unruhig auf und ab. Die Schritte des schlanken Mannes waren von federnder Spannkraft. In Abständen blieb er an der Heckbalustrade stehen und blickte nach achteraus. Karl von Hutten, der Mann mit den indianischen Gesichtszügen und dem blonden Haar, beobachtete ihn schweigend. Die „Golden Hen" hatte nur das Großsegel gesetzt und glitt mit langsamer Fahrt an der Küste von New Providence entlang nach Osten. „In der Tat", sagte von Hutten, als könne er die Gedanken des Franzosen lesen, „es dauert reichlich lange. Die Zeit, die sie für einen kurzen Blick in die Bucht gebraucht hätten, ist längst um." Ribault wandte sich ruckartig um.
„Richtig", sagte er gepreßt. „Und was soll ich daraus folgern?" Von Hutten runzelte die Stirn. „Du bist doch sonst nicht so umständlich. Daß etwas nicht in Ordnung ist, natürlich." Ribault nickte. „Ich wollte nur die Bestätigung. Wenn man sich zu große Sorgen bereitet, gelangt man manchmal zu falschen Schlüssen. Aber in diesem Fall scheint es auch mir eindeutig zu sein. Auf Mel Ferrow und Roger Lutz ist immer Verlaß gewesen. Die beiden haben noch nie herumgetrödelt." „Also Gegenkurs", sagte Karl von Hutten knapp. „Kein Grund, daß wir herumtrödeln." Jean Ribault nickte nur. Auf seine knappen Kommandos hin gerieten die Männer an Deck in Bewegung. Piet Straaten legte Ruder, und die „Golden Hen" drehte ihren Bug durch den Wind. Ribault beorderte Grand Couteau und Jonny zum Loten auf das Vorschiff. Der kleine Franzose, der so hervorragend mit dem Messer umzugehen verstand, enterte auf das Galion ab, um das Loten zu übernehmen. Jonny blieb währenddessen auf der Back. Seine Aufgabe war es, die Meldungen über die Fadentiefe zum Achterdeck weiterzugeben. Mit der gebotenen Vorsicht stießen Jean Ribault und seine Mannen auf diese Weise nach Norden in die Bucht vor, deren östliche Hälfte von den drei Landzungen und der Halbinsel abgedeckt war. Es geschah, als sie an die Zufahrt hinter der nördlichen Landzunge gelangten. Langsam schob sich die „Golden Hen" auf die Gasse mit den grünen Dickichtwänden zu. Grand Couteau, der am weitesten vorn war, bemerkte jäh die Gefahr. Sein gellender Warnschrei ließ die Männer zusammenzucken. „Galeone voraus! Breitseite zu uns!" Piet Straaten reagierte blitzartig und ließ die Karavelle hart abfallen. Bedrohlich krängte sie nach Steuerbord, aber die Männer auf dem Hauptdeck waren im nächsten Atemzug im Einsatz, um das Großsegel zu trimmen. Es war der Augenblick, in dem sie alle die Galeone erblicken konnten, die da quer in der Einfahrt lag.
Aus den geöffneten Stückpforten zuckten grellrote Blitze mit nur geringem zeitlichen Abstand. Das Krachen der einzelnen Schüsse vereinte sich zu weithallendem Donner. Das Heranorgeln der Geschosse folgte. „Deckung!" brüllte Ribault den Männern zu. Sofort lagen sie flach, von den Verschanzungen schlecht und recht geschützt. Doch die Vorsicht schien unbegründet, denn die Geschosse heulten an dem nach Backbord abfallenden Bug der „Golden Hen" vorbei und rissen in geringer Entfernung ein paar schäumende Fontänen aus der Wasseroberfläche. Aufatmend begannen die Männer, sich wieder aufzurappeln. Sie wußten, daß Ribault den Angriff nicht so einfach hinnehmen würde. Der Erlauchte und seine Meute würden Dampf unter dem Hintern empfangen, und zwar nicht zu knapp. Doch es blieb vorerst nur beim Wunschdenken. Die gesamte Mannschaft war noch nicht auf den Beinen, als aus dem nahen Ufergestrüpp Musketenschüsse peitschten. Kugeln sirrten über die Decks. Fluchend warfen sich die Männer abermals hin. Ein Schmerzensschrei ertönte. Gordon McLinn war es, der sich mit beiden Händen an den Kopf faßte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Sein Schrei verstummte, und er kippte vornüber auf die Grätingsluke, wo er regungslos liegenblieb. Noch minutenlang knatterten die Musketenschüsse, und die Kugeln fuhren mit häßlich klingenden harten Schlägen in die Außenbeplankung der Karavelle. Doch etliche der großkalibrigen Geschosse fauchten auch bedrohlich tief über I das Schanzkleid weg. Es dauerte quälend lange, bis die „Golden Hen" endlich aus dem Schußbereich heraus war und südlich der Bucht vor Anker gehen konnte. Die Schüsse, die beinahe wie geiferndes Gebell geklungen hatten, verstummten. Jean Ribault und Karl von Hutten eilten nach vorn. Auch die anderen beugten sich bereits über den rothaarigen Schotten, der noch nicht wieder zu Bewußtsein gelangt war. Tom Coogan drehte McLinn behutsam auf den Rücken und untersuchte den blutüberströmten Kopf des Mannes.
Schließlich richtete Coogan sich auf. Alle Blicke waren wie gebannt auf ihn gerichtet. „Es sieht schlimmer aus, als es ist", sagte er. „Nur ein Streifschuß. Er wird es in ein paar Tagen überstanden haben." Die Männer atmeten erleichtert auf. „Ab mit ihm in die Krankenkammer", ordnete Jean Ribault an. Dann begab er sich mit Karl von Hutten zurück auf das Achterdeck, während Coogan und ein paar Helfer den Verwundeten aufhoben, um ihn zu verarzten. „Fest steht jedenfalls", sagte Ribault, „daß sich Roger und Mel in der Gewalt dieser Bande von Verrückten befinden. Was können wir deiner Meinung nach tun, ohne die beiden in Gefahr zu bringen?" Karl von Hutten hob die Schultern. „Viel Auswahl an Möglichkeiten haben wir wohl nicht. Was hältst du davon, wenn wir bluffen? Wir fordern die Kerle auf, die Gefangenen herauszugeben, und drohen damit, daß sonst eine Streitmacht von neun Schiffen aufmarschiert was das Ende dieses sogenannten Ordens bedeuten würde." Jean Ribault überlegte nicht lange. Er wußte, daß es praktisch keinen anderen Weg gab. Von Hutten hatte genau das erkannt, was man in die Tat umsetzen konnte, ohne sofort Schiffbruch zu erleiden. Ohne Zeit zu verlieren, segelten Ribault und seine Crew wieder dichter an die Küste heran. Da sie keine Angriffsabsichten zeigten, zögerten die im Dickicht verborgenen Musketenschützen, das Feuer zu eröffnen. Sie schienen zu spüren, daß an Bord der Karavelle Verhandlungsbereitschaft bestand. Und der Grund dafür war ihnen klar, da sie schließlich die Gefangenen als Druckmittel in der Hand hatten. Dem Dickicht zugewandt, brüllte Ribault, daß er Webster zu sprechen verlange. Niemand antwortete. Raschelnde Geräusche im Dickicht zeigten jedoch an, daß sich jemand in Marsch gesetzt hatte, um den „Erhabenen" zu verständigen. Minuten verstrichen, ohne daß etwas geschah. Es erfolgte indessen auch kein Angriff. Aus den Minuten wurde eine halbe Stunde. Die Ungeduld der Männer an Bord der „Golden Hen" wuchs. Jean Ribault erging es wie den anderen: Es juckte ihm in den Fingern, doch loszuschlagen. Zumindest die eine Galeone in
der Zufahrt konnte man mit geschickter Taktik in Stücke schießen. Doch es gab keinen Zweifel daran, daß Mel Ferrow und Roger Lutz unter einem solchen Angriff nur zu leiden haben würden. Unvermittelt tauchte eine große Jolle hinter dem Heck der als schwimmende Festung vor Anker liegenden Galeone auf. Ribault und von Hutten setzten die Spektive an. Ihnen stockte der Atem. Mel und Roger hockten gefesselt auf der vorderen Ducht. Die Kerle hinter ihnen hielten ihnen die Mündungen schußbereiter Pistolen ins Genick. In zwei Kabellängen Entfernung von der Karavelle befahl Webster den Bootsgasten, zu streichen. Dann erhob er sich von der Achterducht. Er nahm eine majestätische Pose ein, indem er die Arme vor der Brust verschränkte. Jean Ribault, der sich deutlich sichtbar an Steuerbord aufgebaut hatte, trug seine Forderungen laut und vernehmlich vor. Einen Moment schien es, als sei Webster beeindruckt. Doch im nächsten Atemzug brach er in schallendes Gelächter aus. Die Kerle im Boot stimmten mit ein und hielten sich den Bauch vor Heiterkeit. Nur die beiden mit den Pistolen veränderten ihre Haltung nicht. „Hier bestimmt nur einer, was zu geschehen hat!" brüllte Webster. „Nämlich ich! Hört meine Befehle! Verschwindet mit eurem Ketzerschiff, oder ich lasse die beiden Nattern augenblicklich erschießen, hier, an Ort und Stelle! Danach könnt ihr es gern wagen, uns anzugreifen! Der Herr wird euch mit dem Flammenschwert strafen! Wenn ihr meine Anweisung befolgt, werden die Gefangenen als mein Faustpfand am Leben bleiben und zum wahren Glauben bekehrt!" Ribault versuchte es noch einmal, doch er erntete abermals nur jenes hohntriefende Gelächter. Er gab auf. Es hatte keinen Sinn, mit diesem Verrückten weiter zu verhandeln. Verhandeln konnte man es ohnehin nicht gerade nennen. Ribault segelte nach Westen ab nicht nach Südosten, auf dem Kurs zum Treffpunkt mit den Freunden. Für die beiden Männer in der Gewalt des Scharlatans war es das Zeichen, daß er nicht die Absicht hatte, sie im Stich zu lassen. Tatsächlich nahm er sich vor, die Kerle nachts zu überrumpeln. Die „Golden Hen" ging wenig später in einer weiter westlich gelegenen Bucht vor Anker.
* Sie waren auf die „Kyrie Eleison" zurückgekehrt. Jeremiah Josias Webster empfand ein unbändiges Triumphgefühl, und diesen ersten großen Triumph über das Natterngezücht wollte er in vollen Zügen auskosten zu seiner eigenen und seiner Gläubigenschar Erbauung. Wenn die Geiseln dabei drauf gingen, so spielte das für ihn keine sonderlich große Rolle, denn der Gegner wußte ja nichts davon. Das verfluchte Natterngezücht würde in seiner Einfalt weiter annehmen, daß sich die beiden Gefangenen noch lebend in seiner, des Erleuchteten, Hand befanden. Er ließ sie an der Verschanzung Aufstellung nehmen, begab sich an die vordere Querbalustrade des Achterdecks und forderte die Gläubigen an Bord der „Kyrie Eleison" auf, einen Halbkreis zu bilden. Auch von den anderen Schiffen aus konnten sie das Geschehen verfolgen, und es hatte sich dort bereits eine andächtige Menge auf den Decks versammelt. Nur auf dem Festungsschiff in der Zufahrt war ein Teil der Besatzung gezwungen, seine Aufmerksamkeit ausschließlich seewärts zu lenken. Immerhin mußte man damit rechnen, daß das tückische Natterngezücht jederzeit zu einem neuen Angriff ansetzen konnte. Jeremiah Josias Webster breitete die Arme aus und ließ seine Stimme dröhnen. „Hört die Entscheidung des Herrn, die er mir in seiner Allmacht und Güte eingegeben hat. Die beiden giftigen Nattern", er wies anklagend auf die Gefesselten, „werden dem ,Wächter von Jerusalem' vorgeworfen. Verschlingt er sie, dann hat der Herr Wohlgefallen an unserem Tun. Verweigert der Wächter aber das Mahl, dann will der Herr, daß wir die Nattern töten. Natürlich müssen wir sie vorher der heiligen Folter unterziehen, damit sie uns all ihre Listen gestehen." Webster ließ ihnen die Fesseln lösen, und Mel Ferrow und Roger Lutz erhielten ihre Messer zurück. Sie wechselten einen Blick. Es gab nichts zu sagen. Darüber, wer dieser sogenannte Wächter von Jerusalem war, brauchten sie nicht herumzurätseln. In Mel Ferrows Augen glomm bereits jenes Feuer des Hasses, das stets
dann erwachte, sobald er einen Hai sah oder auch nur ahnte. Es stand fest, daß sie versuchen würden, den Kampf zu bestehen und sich zur Küste durchzuschlagen zumal der „Erleuchtete" so hirnverbrannt gewesen war, ihnen die Messer zurückzugeben. Aber er kannte Mel Ferrows Haizeichen und dessen tiefe Bedeutung nicht. Und die beiden Männer von der „Golden Hen" hatten das Signal ihres Kapitäns richtig gedeutet. Er war nicht abgelaufen, sondern hatte sich nach Westen abgesetzt. „Springt freiwillig, ihr Nattern!" brüllte Webster. „Oder ich lasse euch über Bord werfen!" Mel und Roger reagierten prompt. Mit wenigen schnellen Schritten waren sie in der Nähe des Achterdecks und spuckten dem „Erhabenen" vor die Füße. Jähe Wut rötete sein Gesicht. Doch bevor jemand etwas tun konnte, hatten sich die beiden „Nattern" schon herumgeworfen. Mit federnder Sprungkraft hechteten sie über die Verschanzung. Die kristallklaren Fluten nahmen sie auf, und sofort begannen sie, mit gleichmäßigen Schwimmzügen auf Distanz von den Schiffen zu gehen, auf die Halbinsel zu. Mel Ferrow wußte, daß ihnen nur noch Sekunden blieben, und sie mußten mit ihren Kräften haushalten. Er hatte die Dreiecksflosse beobachtet. Ihre Bewegung in der Ferne war nicht mehr lauernd und unstet. Zielstrebig jetzt, setzte sich der Hai in Bewegung. „Halte dich nach Möglichkeit heraus", sagte Mel zwischen zwei Schwimmzügen. „Ich mache dieses Mistvieh allein fertig." „Sehr gern", erwiderte Roger Lutz. „Ich greife erst dann ein, wenn nur noch deine Beine in seiner Schnauze strampeln." Mel Ferrow lachte rauh und herausfordernd. „Schwimm ruhig weiter", entgegnete er. „Wir weichen erst dann aus, wenn ich es sage." Roger Lutz begriff nicht sofort. Dann aber sah er, daß die Dreiecksflosse nur noch als Strich über der Wasseroberfläche zu erkennen war. Der Strich pfeilte heran. Die Bestie hatte Kurs aufgenommen. Hölle und Teufel, Mel hatte das in einem Augenblick erkannt, in dem jeder normale Sterbliche vielleicht noch geglaubt hätte, daß überhaupt keine Gefahr drohe. Sekunden später zeichneten sich in dem klaren Wasser die Umrisse des mächtigen Tiers ab. Roger Lutz erschrak. Eine riesige
Mörderbestie! Wie, in aller Welt, sollte man selbst mit zwei Mann dagegen etwas ausrichten? „Nach rechts weg!" zischte Mel Ferrow unvermittelt. Roger gehorchte sofort. Aus den Augenwinkeln heraus sah er noch, daß Mel tauchte. Die heranjagende Bestie glitt trotz ihrer Größe wie ein Pfeil durch das Wasser. Roger sah, wie es sich verdunkelte. Ein harter Schlag traf seinen linken Oberarm. Instinktiv packte er das Messer, trat auf der Stelle und war bereit, sich zum Kampf zu stellen. Erst nach Atemzügen begriff er, daß die rauhe Haut des Haies ihn lediglich gestreift hatte. Er holte tief Luft und tauchte. Mel Ferrow war auf zwei Yards Tiefe gegangen, aus dem Gefühl heraus exakt berechnet. Das Messer lag wie von selbst in seiner Rechten, seine Lungenflügel waren vollgepumpt mit Luft. Eiserne Willenskraft beflügelte ihn, und er verspürte die Gewißheit, stundenlang unter Wasser aushalten zu können, ohne auftauchen zu müssen. Über ihm verdüsterte sich das Türkisgrün. Mel zog die Beine an und spannte die Muskeln bis zum Bersten. Einen Sekundenbruchteil bevor die breite, helle Unterseite der Bestie über ihm war, schnellte er hoch. Das Messer mit beiden Fäusten gepackt, stieß er die Klinge in den Leib des Haies. Mehr als zwei Yards weit, von der Mitte seines Körpers aus, schlitzte sich der „Wächter" selbst auf. Dunkelrotes Blut floß in wabernden Schwaden in das Türkisgrün. Blitzartig beugte sich Mel und tauchte nach unten weg, um dem peitschenden Schwanz zu entgehen. Die Bestie krümmte sich und warf sich herum, nur zehn Yards entfernt. Das Wasser schäumte und brodelte rot. Die beiden Männer von der „Golden Hen" stießen hoch, holten Luft und tauchten erneut. Den kurzen Moment hatten sie die fassungslosen Gesichter auf den Schiffen gesehen. Rechtzeitig waren sie wieder unter Wasser, um sich dem erneut heranrasenden „Bewacher der Burg Jerusalem" zu stellen. Diesmal ließ sich Roger Lutz nicht davon abhalten, am Kampf teilzunehmen. Je rascher sie die Bestie bezwangen, desto mehr Zeit hatten sie für die weitere Flucht. Geradezu entsetzt beobachtete Roger im nächsten Augenblick, wie Mel direkt auf das weit aufgerissene Maul der Bestie zuschwamm. Die spitzen Reißzähne waren unregelmäßig, aber ra-
siermesserscharf. Der Hai war schon im Begriff, zuzuschnappen, als Mel Ferrow jäh nach unten wegtauchte. Doch nur ein winziges Stück. Das Tier fiel auf die Finte herein. Krachend schlug das Maul zu. Im selben Sekundenbruchteil zuckte Mel Ferrow hoch und rammte das Messer tief in das Fleisch unterhalb des Unterkiefers der Bestie. Sofort war nun auch Roger Lutz zur Stelle. Mit aller Kraft stieß er dem Tier die Klinge in die Flanke. Blut floß in dichteren Schwaden. Die Bewegungen des Haies wurden träger. Mel Ferrow hatte es sofort bemerkt, und seine Wut steigerte sich bis zur entfesselten Raserei. Wieder und wieder stach er zu. Roger Lutz fühlte sich nahezu überflüssig. Mel zerfetzte den Leib der Bestie regelrecht, bis diese sich nur noch rollend und torkelnd in einer undurchdringlichen Wolke von Blut bewegte. Dann gab Mel das Zeichen. Sofort holten beide Männer Luft. Dann tauchten sie westwärts und entfernten sich mit kraftvollen Zügen. Beide hatten noch ihr Messer. Zurück blieb der sterbende „Wächter von Jerusalem", der das „Gottesurteil" nicht hatte vollstrecken können. Gebrüll empfing sie, als sie vor dem Ufer der Halbinsel auftauchten. Webster hatte seine Posten alarmiert. Mehrere Kerle waren es, die aus dem Dickicht hervorbrachen. Einer tapste ins seichte Uferwasser und schwang einen Entersäbel mit handtellerbreiter Klinge. Mel federte als erster aus dem Wasser hoch, unterlief einen sausenden Hieb und rammte dem Kerl das Messer in den Leib. Roger Lutz war im selben Augenblick aus dem Wasser. Zwei Angreifer gingen mit blitzenden Entersäbeln auf ihn los. Doch sie hatten die Geschicklichkeit und Gewandtheit des schlanken Franzosen unterschätzt. Blitzschnell duckte er sich und schnellte im selben Moment mit flachem Sprung auf sie zu. Der Anprall seiner Schultern traf sie an den Schienbeinen. Sie stürzten über ihn weg. Ihre Säbelklingen peitschten das Wasser. Roger war rascher wieder auf den Beinen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß Mel ebenfalls mit zwei Kerlen beschäftigt war.
Roger ließ sein Messer vorzucken, als „seine" Angreifer hochkamen. Sie sanken zurück und blieben im seichten Uferwasser liegen. Unter Mel Ferrows Klinge waren unterdessen die beiden anderen zusammengesunken. „Los, weiter!" zischte Mel. Ohne auch nur eine Sekunde zu verschwenden, drangen sie in das Dickicht vor. Von Bord der „Kyrie Eleison" war Websters Gebrüll zu hören. Mel und Roger wußten, daß jetzt alles von ihrer Schnelligkeit abhing. Sie schafften es, die Halbinsel und dann die südliche Landzunge zu überqueren. Erst als sie dort wieder ins Wasser sprangen, näherten sich die ersten Verfolger. Mel und Roger tauchten und schwammen durch den westlichen Buchtteil. Schüsse aus Musketen und Pistolen peitschten. Doch die beiden Männer hatten bereits zuviel Vorsprung. Die Kugeln stießen wirkungslos ins Wasser. Von Bord der Schiffe ertönte lautes Wutgeheul. Und immer wieder feuerten sie von der Landzunge ihre Musketen ab, obwohl die Schwimmenden längst außer Reichweite waren. Sie brauchten nun nicht mehr zu tauchen und konnten sich beim Schwimmen ein bißchen erholen. Das Geschrei und die Schüsse waren die rechte Musik in ihren Ohren. Denn die erhoffte Wirkung blieb nicht aus. Der Nordostwind trug den Lärm nach Westen und ließ ihn die Ohren der Männer an Bord der „Golden Hen" erreichen. Sofort verließ die Karavelle die Bucht und segelte ostwärts. Schon eine halbe Stunde später wurden Mel Ferrow und Roger Lutz an Bord genommen. Jean Ribault hatte seine beiden Männer wieder. Bei allem freudigen Schulterklopfen und den johlenden Begrüßungsrufen war eines unmißverständlich klar: Das verlorene Beiboot war unwichtig. Hesekiel Ramsgate würde ein neues bauen. Boote waren zu ersetzen, Männer nicht. Die „Golden Hen" ging auf Südostkurs, zum vereinbarten Treffpunkt südlich der Cat-Insel... ENDE
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 509 Die Burg Zion von Fred McMason Jean Ribault und sein Kommandotrupp hatten sich an den Bauplatz auf dem Plateau über der Bucht herangeschlichen und mußten erstaunt feststellen, mit welcher Arbeitswut die frömmelnden Kerle des erhabenen Großmeisters ihre Burg Zion errichteten, die für mögliche Gegner unangreifbar werden sollte. Die Ringmauer mit den Schießscharten stand bereits. Jetzt waren mehr als zwanzig Männer damit beschäftigt, nach den Anweisungen ihres Großmeisters zwei Kanonen über den Strand und an Seilen hinauf zum Plateau zu ziehen eine mühselige Plackerei. Aber die Jünger des Erhabenen murrten nicht, und sie nahmen es auch hin, daß ihr Großmeister bei der Schinderei keinen Finger rührte. Daß sie als willenlose Werkzeuge benutzt wurden, merkten sie nicht... Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits nächste Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie in allen Bahnhofsbuchhandlungen. Leider hatte sich die „Almeria" auf ihrer Fahrt nach Havanna versegelt und steuerte genau jenen Punkt von East Caicos an, wo die Schatzschiffe des Seewolfs lagen und ihre Beute zurück an Bord mannten. Old O'Flynn wurde mit seiner „Empress" der spanii sehen Galeone entgegengeschickt, um die Dons wegzulotsen. Das gelang auch, aber dennoch hatte der Ausguck der „Almena" gespitzt, was sich in der Lagune abspielte. Diego Martos, der Kapitän der Almeria, war ein schlitzohriger Halunke und scharf auf reiche Beute. Mit einer Geiselnahme meinte er, sich die Beute holen zu können. Es wurde ein Fiasko für ihn, seine Kerle, die Ladung und sein Schiff. Die Ladung bestand aus Bluthunden Grund genug für Hasard und seine Mannen, hart zuzuschlagen…