Mark � ark Hellmann � lmann Nr. 27 � 27
C.W. Bach �
Dracomars � Rückkehr �
2 �
»Der König muß sterben!« Mephistos ...
27 downloads
338 Views
586KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Mark � ark Hellmann � lmann Nr. 27 � 27
C.W. Bach �
Dracomars � Rückkehr �
2 �
»Der König muß sterben!« Mephistos Worte übertönten das Geschrei der Kinderschänder und Vergewaltiger, die gerade von seinen Unterteufeln entsetzlich gequält wurden. Knietief standen die Verdammten in kochender Lava, manche seit tausenden von Jahren! Mephisto konnte sich dennoch nicht so richtig freuen; er war in Gedanken versunken und schaute erst auf, als im Höllenfeuer einer seiner Getreuen wiederholte: »Ja, der König muß sterben!« Höllenherrscher Mephisto blickte in eine schaurig entstellte Fratze, die von Säure zerfressen schien. Doch es war Weihwasser gewesen. Und die vampirische Kreatur hatte nicht vergessen, wem sie diese Schmach zu verdanken hatte: Mark Hellmann! *** »Ich bin Dracomar!« rief der Entstellte und schlug sich mit seiner dürren Faust an seine halbzerfetzte Brust. Mit Schlapphut und schwarzem Umhang hatte er wieder seine gewohnte Gestalt angenommen. »Der mächtige Blutdruide! Generationen von Menschenwürmern haben vor mir gezittert! Aber du hältst mich seit dieser Geschichte in Weimar hier in der untersten Hölle gefangen wie einen Sklaven. Warum nur, o mächtiger Mephisto?« Aus tückischen gelben Augen warf der Höllenherrscher einen Seitenblick auf den klagenden Blutdruiden. Mephisto konnte jede beliebige Wesensform annehmen. An diesem Tag zeigte er sich wieder als ein mittelalterlicher Jäger. Im Wams, eine Samtkappe mit Feder auf dem Schädel. Die Beine steckten in hohen Stiefeln und Pumphosen. Sein dreieckiges, unendlich bösartiges Gesicht wurde von einem roten Spitzbart umrahmt. 3 �
Mephisto deutete mit seinem Zeigefinger auf Dracomar. Ein feuerroter Blitz zischte aus der Hand des Megadämons. Mitten in das Gesicht des Blutdruiden. Dracomar jaulte vor Schmerzen auf. Der Blitz hatte ihn in sein gesundes Auge getroffen. Das andere war seinerzeit durch Hellmanns Weihwasser-Angriff zerstört worden. »Das ist die Strafe«, meinte Mephisto tückisch. »Ich kann es nicht leiden, wenn meine Weisheit in Frage gestellt wird. Kapiert?« »J. ja, Meister.« Dracomar war ein blutgieriges Monstrum, eine wahre Bestie. Aber er wußte, daß er gegen die überlegene Magie von Mephisto keine Chance hatte. Außerdem verdankte er ihm seine untote Existenz. Solche Gefühle wie Dankbarkeit gab es in der Hölle nicht. Aber Mephisto kramte trotzdem noch einmal die alte Geschichte aus Weimar hervor. »Hältst du mich für einen Idioten, Dracomar? Natürlich mußtest du erst mal auf ›Tauchstation‹ gehen. Hast du schon vergessen, was in dem Luftschutzbunker bei der Kaiserlinde passiert ist? Dieser selbsternannte Dämonenjäger Mark Hellmann hat dir einen Eichenpflock ins Herz gejagt!« Für einen Moment nahm Mephisto die Gestalt von Mark Hellmann an. Er liebte solche Spielchen. Er fuchtelte mit seinem Satansdolch herum und tat so, als wollte er sich auf Dracomar stürzen. Unwillkürlich wich der Alte des Schreckens zurück. Der Kampf gegen den jungen Mann aus Weimar war ihm immer noch in unguter Erinnerung. Einen Wimpernschlag später war der Mega-Dämon wieder in seinem Jäger-Kostüm zu sehen. Er lachte höhnisch über die Reaktion des Blutdruiden. »Siehst du, Dracomar? Selbst Hellmanns Anblick läßt dir das Herz in die Hose rutschen. Wenn du ein Herz hättest, hehehe. Als dir der Weimarer damals den Pflock ins Herz treiben wollte, 4 �
habe ich dich in letzter Sekunde hierhergeholt. Hellmann wurde durch eines meiner magischen Trugbilder getäuscht. Er glaubt jetzt, dich vernichtet zu haben. Er ist sogar fest überzeugt davon. Denn er hat gesehen, wie du dich in ein Häufchen Staub aufgelöst hast. Ich wollte ihn in Sicherheit wiegen. Damit du deine Chance zur Rache bekommst.« Dracomars entstelltes Gesicht verzerrte sich zu einer noch widerwärtigeren Fratze. »Gib mir diese Chance, o Meister des Bösen! Ich werde dir beweisen, daß ich nicht feige bin. Ich werde Hellmann jeden Knochen einzeln brechen! Ich reiße ihm den Kopf vom Leib! Ich nehme sein Herz und.« »Ich habe schon meine Pläne gemacht«, versicherte Mephisto und rieb sich die Hände. »Der König wird sterben – und Hellmann wird sterben. Und beides zusammen wird ein grandioser Sieg der Hölle sein!« * »Ich grüße die Werktätigen unserer sozialistischen Republik!« Erich Honecker winkte mit der rechten Hand. Das Parteiabzeichen an seinem Sechziger-Jahre-Anzug blitzte. Der Saal tobte. Applaus und Gelächter sorgten für eine höllische Lärmkulisse. Ich blinzelte ungläubig angesichts der perfekten Show. Natürlich stand dort oben auf der Bühne der Mehrzweckhalle am Rande Weimars nicht der echte »Staatsrats- und Parteivorsitzende« der DDR. Old Erich war ja schon länger nicht mehr existent. Genau wie der Staat, den er verkörpert hatte. Ich, Mark Hellmann, befand mich in dieser Nacht auf einer ›Ostalgie-Party‹. Einer Fete, bei der der Alltag der ehemaligen DDR noch einmal lebendig wird. Zwischen Warnemünde und Zwickau waren solche ›Zeitreisen‹ in die Vergangenheit der Renner. Ich war eigentlich eher widerwillig mitgegangen. Meine 5 �
Freundin Tessa Hayden hatte mich hierher geschleppt. Sie meinte, wir müßten unbedingt mal wieder zusammen ausgehen. Die Veranstalter hatten sich wirklich Mühe gegeben. Schon am Eingang wurde man von Türstehern in den Uniformen der DDR-Grenztruppen empfangen. Vorbei an einem Meer von Partei- und FDJ-Fahnen gelangte man zu einer Bar, die sich ›Getränkestützpunkt‹ nannte. Dort gab es selbstverständlich nur Ostgetränkemarken. Viele Gäste hatten sich verkleidet. Sie trugen DDR-Chic von damals. Oder gleich ihr altes FDJ-Uniformhemd. Und aus den Boxen dröhnte ehemals ›volkseigener‹ Rock von den Puhdys, von Karat und von City. Hunderte von Kids bewegten sich auf der Tanzfläche, nachdem sie von dem Honecker-Double so stilgerecht begrüßt worden waren. Wie ich hörte, hatten die Veranstalter auch noch Doppelgänger von Erich Mielke und Schalk-Golodkowski in der Hinterhand. Ich nahm einen Schluck von meinem Thüringer Bier. Gegen den Tresen gelehnt versuchte ich, in Partystimmung zu kommen. Aber so recht wollte es mir nicht gelingen. Vielleicht lag es daran, daß ich schon echte Zeitreisen gemacht hatte. Und zwar, ohne mir dafür ein FDJ-Hemd anziehen zu müssen. Mein Blick blieb an dem Siegelring hängen, den ich an der rechten Hand trug. Mit Hilfe dieses geheimnisvollen Kleinods konnte ich in die Vergangenheit reisen. Das hatte ich herausgefunden. Aber ich wußte nicht, warum ich diesen Ring besaß. Er hing an einem Lederband um meinen Hals, als ich im Alter von etwa zehn Jahren nach der Walpurgisnacht in Weimar gefunden wurde. An die Zeit vorher habe ich keine Erinnerung. »Mark! Du Langweiler!« Die schnippische Bemerkung riß mich aus meinen Grübeleien. Meine Freundin Tessa stand plötzlich vor mir, wie aus dem Boden gewachsen. Sie reicht mir nur bis zum Kinn. Aber ich bin ja auch einsneunzig groß. Die Polizistin mit der kecken braunen 6 �
Kurzhaarfrisur trug in dieser Nacht ihre grünen Kontaktlinsen, mit denen sie ihre haselnußbraunen Augen manchmal tarnt. Das gab ihrem Blick etwas Katzenhaftes. Empört hatte sie die Hände in ihre schmalen Hüften gestemmt. Ihre Figur ist eher sportlich als üppig. Ihr Job bringt es eben mit sich, daß sie kein Kilo zuviel mit sich rumschleppte. Tessa hatte sich wirklich Mühe gegeben, den passenden Ostalgie-Touch zu bekommen. Sie trug eine dünne Bluse aus der Kunstfaser Dederon. Eine DDR-Eigenentwicklung. Und auch ihr Super-Minirock stammte garantiert aus einem der ehemaligen VEBs. »Halt dich hier nicht an deinem dämlichen Bier fest! Tanz lieber mit mir!« Sie versuchte, mich mit beiden Händen auf die Zappelfläche zu ziehen. Seufzend strich ich mir durch mein Haar. Und trottete hinterher. Ich wollte ihr ja den Spaß nicht verderben. Schließlich hatten wir beide in letzter Zeit viele üble Dinge erlebt. Immer wieder versuchten die Mächte der Finsternis, mich zu vernichten. Es war meine Bestimmung, als Kämpfer des Rings für das Gute in der Welt einzutreten. Und die Menschen vor dämonischen Gefahren zu beschützen. Soviel hatte ich inzwischen herausbekommen. Mephisto war der stärkste und mächtigste meiner Feinde. Er hatte es ganz besonders auf mich abgesehen. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich mich bei dieser Ostalgie-Party nicht wirklich amüsieren konnte. Den ganzen Abend hatte ich schon das Gefühl, verfolgt zu werden. Seit wir vor meiner Wohnung in der Florian-Geyer-Straße in meinen stahlblauen BMW gestiegen waren. * Bei einem langsamen Stück preßte Tessa ihren schlanken Körper � 7 �
an mich. Ich spürte, wie ich augenblicklich scharf auf sie wurde. Sie war schon ein tolles Mädchen. Wenn da bloß nicht ihre krankhafte Eifersucht gewesen wäre. Als hätte der Teufel die Hand im Spiel, fing ich in diesem Moment den Blick einer üppigen Blondine auf. Sie drehte sich ein Stück weit entfernt von uns mit einem bulligen Schnauzbarttypen. Die Brüste der Blonden schienen die FDJ-Bluse jeden Augenblick sprengen zu wollen. Das nächste Lied war wieder etwas schneller. ›King vom Prenzlauer Berg.‹ Das hatten wir schon zu DDR-Zeiten auf jeder Schulfete gehört. Nach meinem rätselhaften Auftauchen war ich als Zehnjähriger von dem Ehepaar Ulrich und Lydia Hellmann adoptiert worden. Ich liebte sie wie meine richtigen Eltern, die ich ja nicht kannte. Die Initialen meines Siegelrings MN regten die Hellmanns dazu an, mich Markus Nikolaus zu taufen. Doch allgemein werde ich nur Mark genannt. Zum Glück, denn der Nikolaus und ich hatten ja nichts gemein. »Mark!« Aus Tessas Mund klang mein Name eher wie eine Verwünschung. Nun war das geschehen, was ich schon seit Minuten befürchtet hatte. Meine Freundin hatte spitzgekriegt, daß mir die vollbusige Blonde schöne Augen machte. Ich hatte wirklich versucht, nicht zurückzuflirten. Ehrlich. Aber so unschuldig konnte ich überhaupt nicht sein, daß Tessa nicht zur Furie wurde. Sie fletschte die Zähne. Warf mir einen vernichtenden Blick zu. Und ließ mich dann mitten auf der Tanzfläche stehen. Einige Partyvögel lachten. Sie hatten die Szene mitbekommen. Ich sah, wie Tessas Gestalt in der Menge verschwand. Es mußten mindestens zwölfhundert Leute auf dieser Ostalgie-Fete sein. Halb Weimar schien sich auf die Socken gemacht zu haben. Inzwischen ging es auf Mitternacht zu. 8 �
Ich war erst mal restlos bedient. Mit den Ellenbogen bahnte ich mir den Weg zur Theke. Doch dort standen die durstigen Trinker schon in Dreierreihen, um ein Bier zu ergattern. Inzwischen war die Luft zum Schneiden. Die Klimaanlage rebellierte gegen die Wolken von Zigarettenqualm. Natürlich ganz ostalgisch von Lungentorpedo-Marken wie »Club« und »Karo.« Aber ich war schon zu DDR-Zeiten Nichtraucher gewesen. Als durchtrainierter Ex-Zehnkämpfer hatte ich dem Tabak noch nie etwas abgewinnen können. Mein Kopf glühte. Ich wollte nur noch raus. In der Nähe des Ausgangs gab es einen »Souvenirstand«. Dort konnte man Volksarmee-Mützen, Porträtfotos von Erich Honecker und Aschenbecher mit Hammer und Zirkel erwerben. Der Ex-DDR-Kitsch kannte keine Grenzen. Hier waren es vor allem Wessis, die sich mit dem Kram eindeckten. Wer wie ich in der DDR aufgewachsen war, hatte noch genug davon auf dem Speicher rumliegen. Endlich war ich draußen. An der klaren und kalten Herbstluft ging es mir sofort besser. Ich machte ein paar Schritte über den halb im Dunkel liegenden Parkplatz. Irgendwo dort rechts vor mir mußte ich den BMW geparkt haben. Ich hatte nicht übel Lust, einfach ohne Tessa abzudampfen. Warum mußte sie mir immer wieder eine Szene machen? Okay, manchmal hatte ich ihr dafür schon Anlaß gegeben. Aber diesmal war ich so unschuldig wie ein gerade geborenes Baby. Ich hatte wirklich versucht, den Blick der Blonden nicht zu erwidern, verdammt noch mal! Ich begann mich zu fragen, ob es wirklich so weitergehen konnte mit Tessa und mir. Doch dann verlor ich den Gedankenfaden. Denn jemand warf von hinten ein schwarzes Tuch über mich! * � 9 �
Der Zorn rauschte wie eine Droge durch die Blutbahnen von Tessa Hayden. Sie verzog sich erst einmal auf die Damentoilette, um sich zu beruhigen. Aber wollte sie sich überhaupt wieder einkriegen? Je länger sie darüber nachdachte, desto stärker steigerte sie sich in ihre Eifersucht hinein. Es war aber auch wirklich zum Mäusemelken! Egal, wo sie mit Mark Hellmann auftauchte. Irgendein Weibsstück gab es immer, das auf ihn flog. Kunststück, sagte sich die brünette Polizistin. Sie wußte, daß ihr Freund ein wahrer Modellathlet war. Man schien ihm anzusehen, daß er vor nicht allzu langer Zeit ein sehr erfolgreicher Zehnkämpfer gewesen war. Nein, Mark wirkte nicht wie ein wissenschaftlicher Assistent im Museum für Völkerkunde. Vielleicht war das ja mit ein Grund dafür, warum er diesen sicheren Job nach so kurzer Zeit hingeworfen hatte. Und sich jetzt als freier Journalist durchs Leben schlug. Tessa hatte sich auf diesen Abend gefreut. Nach den Abenteuern der letzten Zeit war sie der Meinung gewesen, daß Mark und sie selbst mal ein wenig Spaß brauchten. Die ständige Bedrohung durch die höllischen Legionen von Mephisto und anderen Dämonen war sonst einfach zu nervenaufreibend. Die Polizistin war anfangs sehr skeptisch gewesen. Früher hatte sie nie an übersinnliche Dinge geglaubt. Bis sie selbst nur allzu schmerzlich mitbekommen hatte, wie verschlagen und unmenschlich diese schwarzmagischen Gestalten sein konnten. Tessa atmete tief durch. Zog ihren Lippenstift nach. Betrachtete ihr Spiegelbild. Eine schöne junge Frau, die von der Eifersucht zerfressen wurde. Selbstironisch streckte sie sich selbst die Zunge heraus. Links und rechts von ihr bastelten andere Mädchen und Frauen an ihrem Make-up. Einige von ihnen waren so jung, daß sie die DDR-Zeit nur als Kleinkinder miterlebt haben konnten. Aber das 10 �
spielte wohl keine Rolle. Die Ostalgie-Feten waren in erster Linie ein Spaß. Ein Spaß, der noch dadurch verstärkt wurde, daß sich so viele Westdeutsche darüber ärgerten. Von guten Vorsätzen begleitet verließ die Polizistin die Damentoilette. Sie wollte sich mit Mark versöhnen. Sich vielleicht sogar entschuldigen für ihren idiotischen Eifersuchtsanfall. Und dann, in seiner kleinen Dachwohnung in der Florian-GeyerStraße, würde sie ihm schon zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Das tat sie immer wieder gerne. Und mit derselben Begeisterung wie beim ersten Mal. Plötzlich packte sie jemand brutal am Oberarm. Tessa fuhr herum. Sie dachte schon an einen von Mephistos Höllenknechten. Als Freundin vom »Kämpfer des Rings« stand sie natürlich auch im Kreuzfeuer der dämonischen Mächte. Aber dieser Typ schien eine allzu irdische Nervensäge zu sein. Er war breit gebaut, trug halblange Haare und ein FDJ-Hemd. Außerdem war er voll wie eine Strandhaubitze. »Ta- tanz mit mir, schöne Pionierin!« lallte er. »Verschwinde!« zischte Tessa. Sie spürte, wie ihre Wut zurückkehrte. Der Kerl sollte besser seine Knochen numerieren. Aber der Besoffene war so abgefüllt, daß er nichts mehr mitzukriegen schien. Nun grabschte er mit seiner anderen Hand nach ihrem Busen. Tessa Hayden machte kurzen Prozeß. Sie bohrte ihm ihren linken Pfennigabsatz in den Fuß. Gleichzeitig rammte sie ihm ihren Ellenbogen in den Magen. Vollführte eine Drehung um die eigene Achse. Und landete noch einen Treffer auf seinem Schädel. Der Kerl ging jammernd zu Boden. Da kamen auch schon einige Rausschmeißer, um ihn an die frische Luft zu setzen. Das konnte Tessa nur recht sein. Als Polizistin konnte sie zwar auch Verhaftungen vornehmen, wenn sie nicht im Dienst war. Doch 11 �
nun war der Anmacher-Typ schon weg. Und sie mußte sich nicht mit ihm rumärgern. Außerdem wollte sie jetzt zu Mark Hellmann. Sich bei ihm entschuldigen. Aber wo war er? Auf der Tanzfläche suchte sie ihn vergebens. Das wunderte Tessa nicht. Mark war noch nie ein begeisterter Tänzer gewesen. Es gab drei Theken in der großen Halle. Die Brünette klapperte eine nach der anderen ab. Marks Größe war ein Vorteil. Er ragte aus jeder Menschenmenge heraus wie ein Turm in der Schlacht. Tessa erblickte zwar einige andere lange Kerle. Aber keine Spur von ihrem Freund. Langsam begann sie unruhig zu werden. War ihm etwas zugestoßen? Hatte Mephisto ihm wieder eine seiner üblen Fallen gestellt? Tessas Bewegungen wurden hastiger, während sie sich zwischen den lachenden und flirtenden Partygängern Platz verschaffte. Wo war Mark, verdammt noch mal? Er hatte sowieso keine große Lust auf diese Ostalgie-Fete, sagte sie sich. Wenn er nun allein nach Hause gefahren ist.? Tessa lief hinaus auf den Parkplatz. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie den stahlblauen BMW gefunden hatte. Er stand unberührt da. Genauso wie Mark ihn eingeparkt hatte, als sie vor über zwei Stunden angekommen waren. Sicherheitshalber legte die Polizistin ihre Hand auf den Kühler. Nichts. Dieser Wagen war in der letzten halben Stunde nicht bewegt worden. Ein älterer Parkwächter trottete heran. »Kripo Weimar!« Tessa präsentierte ihren Dienstausweis. Sie hätte natürlich auch einfach so nach Mark Hellmann fragen können. Aber die meisten Menschen gaben sich mehr Mühe, wenn sie es mit einer Behörde zu tun hatten. Traurig, aber wahr. Sie zog außerdem ein Foto von ihrem Freund aus der Schultertasche. Sie hatte es erst vor wenigen Wochen auf der Kulturmeile 12 �
von Weimar selbst aufgenommen. Aber das sagte sie dem Wächter natürlich nicht. »Haben Sie diesen Mann gesehen?« Wie erwartet prüfte der Alte den Schnappschuß sehr sorgfältig. Dann schüttelte er traurig den Kopf. »Die Veranstalter rechnen mit zweitausend Gästen heute nacht. Da kann ich mir nicht alle Gesichter merken. Kann sein, daß dieser Mann heute hier war. Kann auch nicht sein. Ist das ein Verbrecher?« setzte er neugierig hinzu. »Nein«, sagte Tessa gedankenverloren, »das ist kein Verbrecher.« Ganz im Gegenteil, dachte sie melancholisch. Er ist der Kämpfer des Rings. Und momentan spurlos verschwunden. * Sie waren mindestens zu viert. Es mußten Profis sein. Stahlharte Finger hielten meine Oberarme fest. Ich konnte unter dem schwarzen Tuch absolut nichts sehen. Es war ein Gefühl, als ob ich in ein lichtloses Universum gestoßen worden wäre. Ich hörte nur die leisen Stimmen der Männer, die mich überfallen hatten. Wie ein Berserker kämpfte ich, um mich zu befreien. Ich keilte aus und traf mit meinem Stiefelabsatz ein Schienbein. Jedenfalls folgerte ich das aus dem unterdrückten Schmerzensschrei hinter mir. Als Ex-Zehnkampfmeister trainiere ich meinen Körper immer noch regelmäßig. Ich beherrsche Boxen ebenso wie Kung Fu, Karate und andere asiatische Kampftechniken. Das kam mir jetzt zugute. Es gelang mir, meinen rechten Arm aus der Umklammerung zu reißen. Ich drosch meine Faust dorthin, wo ich die Stimmen der Angreifer hörte. Einen oder zwei von ihnen traf ich. Meine Knöchel prallten auf unrasierte Wangen oder Kinne. Gleichzeitig 13 �
wehrte ich mich auch mit Tritten. Während mein linkes Bein wie verwurzelt auf dem Asphalt des Parkplatzes stand, versuchte ich mir mit rechts diese Typen vom Leib zu halten. Doch es waren zu viele. Und ich sah absolut nichts. Als ich versuchte, mir das Tuch abzustreifen, reagierten sie besonders allergisch. Die Männer wollten wohl um keinen Preis erkannt werden. Männer? Oder nichtmenschliche Wesen, Dämonenknechte von Mephisto? Das glaubte ich nicht. Denn mein Siegelring erwärmt sich, wenn Schwarze Magie in der Nähe aktiv ist. Doch das Kleinod blieb kalt. Ich weiß nicht, wie lange wir stumm miteinander rangen. Wahrscheinlich waren es nur Minuten. Schließlich bezwang mich die Übermacht. Ich lag am Boden. Sie fesselten meine Handgelenke und Beine. Immer noch war das Tuch über meinen Kopf gezogen. Da fiel mir das Naheliegendste ein. Warum hatte ich nicht früher daran gedacht? Ich füllte meine Lungen mit Luft und schrie, so laut ich konnte: »Hilfe!!« Die Idee war vielleicht nicht schlecht, kam aber zu spät. Einige Sekunden nach meinem Ruf hörte ich, wie Autotüren schlugen. Die Angreifer hoben mich auf. Bugsierten mich offenbar auf den Rücksitz eines Wagens. Ich spürte links und rechts von mir, wie zwei von ihnen ebenfalls Platz nahmen. Die Autotüren wurden zugeknallt. Jemand ließ den Motor an. Und dann rollte die Karre vom Parkplatz. Ich, Mark Hellmann, steckte wieder einmal tief im Schlamassel. * »Nein, bei uns ist er nicht.« Pit Langenbach klang am Telefon kaum genervt. Obwohl Tessa 14 �
Hayden ihn nachts um halb drei aus dem Schlaf geklingelt hatte. Aber erstens war er als Hauptkommissar der Weimarer Kripo gewöhnt, zu den unmöglichsten Zeiten geweckt zu werden. Zweitens war er der beste Freund von Mark Hellmann. Und drittens hatte er schon oft genug mit Mark und Tessa zusammen gegen die Mächte der Finsternis gekämpft. Tessa hörte, wie Pit sich einen Zigarillo anzündete. Aus dem Hintergrund kam ein schwacher Protest seiner Frau Susanne. Seit Jahren wollte sich der 34jährige das Rauchen abgewöhnen. Aber bei seinem aufregenden Job wurde nie etwas daraus. »Ich mache mir Vorwürfe, Pit. Wir haben uns wieder gezofft. Das heißt, eigentlich habe nur ich Rot gesehen. Wegen so einer dickbusigen Schnalle.« »Wo seid ihr denn gewesen, Tessa?« »Bei der großen Ostalgie-Fete in der Albertini-Halle.« »Ach, mit Honecker & Co.« Der Hauptkommissar lachte. »Und wo bist du jetzt?« »Immer noch auf der Party. Ich stehe draußen. Bei dem Lärm drinnen kam man ja nicht telefonieren.« »Und Mark hat keine Nachricht hinterlassen?« Tessa seufzte. Sie verfluchte sich selbst wegen ihrer Unbeherrschtheit. Vielleicht war der Kämpfer des Rings in eine Falle gegangen – nur weil sie ihm eine Szene gemacht hatte. Pit schien zu spüren, was in ihr vorging. »Mach dir keine Vorwürfe, Kollegin. Mark ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er hat seinen magischen Ring. Wahrscheinlich macht er einen Zug durch die Gemeinde. Und hat morgen früh einen so dicken Schädel, daß er damit nicht durch die Tür kommt!« Tessa lachte höflich über den Witz von Pit. Die beiden verabredeten, nach Tagesanbruch noch einmal zu telefonieren. Dann wählte die Polizistin die Nummer von Vincent van Euyen. 15 �
»Ja?« Tessa war überrascht, daß Vincent schon nach dem zweiten Klingeln abnahm. Es war schließlich mitten in der Nacht. »Hier ist Tessa Hayden, Vincent. Ist Mark bei dir?« »Nee, Tessa. Wir sind zwar sozusagen Kollegen. Aber seit Mark nur noch dann und wann für die Weimarer Rundschau was schreibt, muß ich alte Reporterseele mir die ganzen interessanten Stories allein aus den Fingern saugen. Was ist denn passiert?« Mit ein paar knappen Sätzen berichtete die junge Frau, daß ihr Freund verschwunden war. »Kein Grund zur Beunruhigung«, meinte Vincent van Euyen. Der Bildreporter hatte holländische Vorfahren, von denen er seine unerschütterliche Ruhe geerbt hatte. Vielleicht ließen ihn ja auch die Unmengen von Lakritz, die er verzehrte, das Leben gelassener betrachten. Oder es lag an seiner geliebten Stinkpfeife. »Mark wird in einer Kneipe sitzen«, vermutete der Journalist. »Oder er liegt längst im Bett.« Wenn auch nicht in seinem eigenen, hätte er beinahe noch hinzugefügt. Aber er biß sich noch rechtzeitig auf die Zunge. Auch er wußte von Tessas Eifersucht und wollte ihre in den vergangenen Wochen stabilisierte Zweisamkeit nicht gefährden. Die Polizistin merkte, daß sie auch bei ihm nicht weiterkam. »Wieso bist du eigentlich noch so spät auf, Vincent?« »Ich hänge im Internet. Suche mir ein paar Informationen zusammen. Vielleicht findet mein Computer ja auch ein paar Dinge, die für Mark spannend sein könnten. Sag ihm doch, er soll mich mal anrufen, wenn er wieder auftaucht.« »Mach ich.« Tessa beendete das Gespräch. Wenn er wieder auftaucht. Vincent van Euyens Satz echote in ihrem Gehirn. 16 �
Ein Anruf blieb ihr noch. Aber sie wollte nicht mitten in der Nacht Marks Eltern aus dem Schlaf reißen. Ulrich Hellmann war vor seiner Pensionierung selbst Kripo-Beamter gewesen. Trotz einer leichten Behinderung war er sehr belastbar, auch seelisch. Aber seine Frau Lydia ängstigte sich sowieso schon ständig um Mark, den sie liebte wie ihr eigenes Kind. Es wäre nicht fair von Tessa, die beiden alten Leute mitten in der Nacht hochzuschrecken. Jedenfalls traf sie diese Entscheidung. Also kämmte sie noch einmal systematisch die gesamte PartyHalle durch. Schickte sogar einen Kellner in die Herren-Toilette. Um zu checken, ob Mark dort vielleicht ohnmächtig geworden war. Nichts. Schweren Herzens rief sie sich ein Taxi und fuhr in die FlorianGeyer-Straße. Mark Hellmanns kleine Wohnung lag völlig verwaist da. Nichts deutete darauf hin, daß der Mieter zuhause war. Mutlos ging Tessa wieder hinunter. Sie hatte den Taxifahrer angewiesen, zu warten. Er brachte sie nun in ihr eigenes kleines Apartment. In dieser Nacht fand die Polizistin kaum Schlaf. Von Alpträumen gequält erwachte sie schon beim ersten Morgengrauen. Wankte ins Bad, um zu duschen. Ich darf jetzt nicht ausflippen, sagte sie sich. Ich muß weiter funktionieren. Damit ich Mark helfen kann! Nach der Dusche fühlte sie sich etwas besser. Tessa schob zwei Toastscheiben in den Röster und trank von dem frisch aufgebrühten Kaffee. Dann hörte sie das Klappern des Briefkastens. Der Zeitungsjunge brachte die Weimarer Rundschau. Das wird mich ablenken, dachte Marks Freundin. Als der Kaffee fertig war, holte sie die Zeitung herein und setzte sich zum Frühstück nieder. Die erste Toastscheibe bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Und checkte gleichzeitig die Neuigkeiten. 17 �
Krieg auf dem Balkan, Unruhe in Rußland, Unwetter in Amerika, Arbeitslosigkeit in Deutschland. Und: 22 Prozent aller Deutschen träumten davon, ein Buch zu schreiben. Zu denen gehöre ich auch, dachte Tessa. Ich brauchte bloß zu notieren, was ich mit Mark Hellmann so erlebe. Bloß würde mir das keiner glauben. Sie blätterte um. Dann ließ sie die Zeitung mit einem leisen Schmerzensschrei fallen. Die Polizistin fühlte sich, als hätte man sie mit heißem Wasser übergössen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Eine große Todesanzeige hatte jemand ins Blatt gesetzt. Als Todesdatum war der heutige Tag angegeben. »Er ist plötzlich und unerwartet von uns gegangen«, hieß es darin. »MARKUS NIKOLAUS HELLMANN. Die trauernden Hinterbliebenen. Ulrich und Lydia Hellmann. Tessa Hayden. Peter Langenbach und Familie. Vincent van Euyen.« Tessas Augen füllten sich mit Tränen. * Meine Entführer hatten das schwarze Tuch nicht von meinem Kopf und Oberkörper genommen. Zum Glück war das Gewebe luftdurchlässig, so daß ich ohne Probleme atmen konnte. Ich roch die After Shaves der Männer neben mir. Teure Marken. Auch der Wagen, in dem ich entführt wurde, schien keine alte Klapperkiste zu sein. Dafür sprachen der leise Motor, die gute Straßenlage, die Federung und nicht zuletzt das bequeme Polster. Ich tippte auf einen neuen Mercedes. Meine gefesselten Hände drohten einzuschlafen. Ich bewegte die Finger, um die Blutzirkulation anzuregen. Wenn ich eine Chance zur Flucht bekam, würde ich meine Fäuste sofort 18 �
gebrauchen. Doch momentan sah es nicht so aus, als ob ich entkommen könnte. Der Wagen beschleunigte. Danach schien er ein größeres Tempo zu halten. Waren wir auf einer Autobahn? »Was wird hier eigentlich gespielt?« Meine laut in den Innenraum geworfene Frage war als Versuchsballon gedacht. Bisher hatten sich die Männer als so schweigsam wie Fische erwiesen. »Ihr redet wohl nicht mit jedem?« spottete ich. »Warum habt ihr nicht einen entführt, der genauso maulfaul ist wie ihr?« »Weil Sie derjenige sind, den wir haben wollten, Herr Hellmann.« Ich horchte auf. Der Mann links von mir hatte diesen Satz gesagt. Er kannte meinen Namen. Das wunderte mich nicht. Ich hatte nicht angenommen, daß ich zufällig aufgegriffen worden war. Die Entführer mußten mir aufgelauert haben. Daher meine Vorahnung, verfolgt zu werden. Mein Instinkt hatte mich wieder einmal nicht im Stich gelassen. Nur nutzte mir das in diesem Moment überhaupt nichts. »Warum haben Sie sich nicht von meiner Sekretärin einen Termin geben lassen?« fragte ich selbstironisch. Natürlich hatte ich überhaupt keine Sekretärin. Ich war froh, wenn ich jeden Monat die Miete für meine Wohnung zusammenkratzen konnte. Als freier Journalist schlug ich mich mehr schlecht als recht durchs Leben. Und für meine eigentliche Aufgabe, als Kämpfer des Rings, hatte es in der Vergangenheit nur selten Geld gegeben. Aber immerhin, so arm wie eine Kirchenmaus war ich nun nicht mehr. Der Unbekannte ging nicht auf meinen flapsigen Tonfall ein. »Wir wollten sicher sein, daß Sie nicht ablehnen, Herr Hellmann. Und daß Sie diskret sind. Haben Sie keine Angst. Es wird Ihnen nichts geschehen.« 19 �
So seltsam es klingt, ich glaubte ihm. Die Entführer hatten mich zwar gefangen, aber nicht verletzt. Obwohl ich um mich geschlagen hatte wie Axel Schulz, hatte mich kein einziger Hieb oder Tritt getroffen. Obwohl sie in der Überzahl waren. Sie hätten mich krankenhausreif prügeln können. Aber sie hatten es nicht getan. Ich versuchte, noch mehr Informationen aus dem Mann neben mir herauszuholen. Aber er wurde zunehmend einsilbiger. Wollte mir nicht sagen, wohin die Reise ging. Bat mich nur immer wieder um Geduld. Schließlich gab ich auf. Irgendwann würde der Mercedes sein Ziel erreichen. Wer mich wohl gekidnappt hatte? Der Tonfall des Unbekannten klang nach einem Bayern, der hochdeutsch zu reden versucht. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwann nickte ich ein. Obwohl meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. * Jasmin Mertens war nackt. Die attraktive Siebzehnjährige schlief stets ohne einen Faden am Leib. Von dieser Gewohnheit ließ sie auch bei dieser Klassenfahrt nicht ab. Gähnend schlug sie die Bettdecke zurück. Sie teilte sich ihr Zimmer in der Jugendherberge mit Claudia Hofmann. Einer Klassenkameradin aus dem Kant-Gymnasium in Erfurt. Die dunkelhaarige Claudia lag noch in den Federn und schnarchte, als ob sie das ganze Bayerische Alpenvorland absägen wollte. Jasmin gähnte erneut. Warf ihre blonden Haare zurück. Ein weiterer langweiliger Tag lag vor ihr. Diese Klassenreise an den Starnberger See war das Ödeste, was sie sich vorstellen konnte. Außer vielleicht einer Mathearbeit. 20 �
Warum konnte diese Jugendherberge nicht in München stehen? Das Mädchen träumte davon, wie sie durch die coolsten Boutiquen der Bayerischen Landeshauptstadt schlenderte und nachts die Discos von Schwabing unsicher machte. Statt dessen sollte sie mit ihren Kameraden in diesem Kaff am Starnberger See versauern! Schicksalsergeben stand sie auf und trottete zu der kleinen Naßzelle. Ein Geräusch am Fenster ließ sie zusammenfahren. Plötzlich wurde ihr wieder klar, daß sie splitternackt war. Automatisch hielt sie den linken Unterarm vor ihren Busen. Drehte sich zum Fenster. War da etwas gewesen? Ein Schatten? Die Sonne würde bald über dem Starnberger See aufgehen. Noch war es draußen dämmerig. Was soll denn da gewesen sein? beruhigte sie sich selbst, während sie ihren Weg ins Bad fortsetzte und schließlich die Duschtür hinter sich zuzog. Es sei denn, Dirk oder Marco haben sich als Spanner betätigt. Grinsend dachte sie an ihre beiden Verehrer. Das heiße Wasser rieselte angenehm über ihren wohlgeformten Körper. Dirk Müller. Ein As in Mathe und Physik. Der ruhige, etwas trockene Junge träumte von einer Karriere als Offizier bei der Bundeswehr. Natürlich am liebsten bei einer High-Tech-Einheit, wo er den ganzen Tag an Schaltkreisen und Funktionssystemen herumbasteln konnte. Und Marco Wiese. Ein Spinner mit Vorliebe für schwarze Klamotten und Horrorgeschichten. Er war nicht so gut in der Schule, außer in Englisch, das liebte er, weil er nur so diese KultGruselromane im Original lesen konnte. Die beiden Jungen hatten nicht sehr viel gemeinsam. Außer, daß sie beide hinter Jasmin herwaren wie der Teufel hinter der armen Seele. 21 �
Das Mädchen fühlte sich durch dieses Interesse ziemlich geschmeichelt. Plötzlich hörte sie wieder ein Klappern. War da etwas am Fenster? Schnell frottierte sie sich ab und patschte mit ihren nackten Füßen zur Badezimmertür. Nichts. Glaubte Jasmin. Sie ahnte nicht, daß sie nur für den Moment vom absoluten Grauen verschont geblieben war. * Dracomars Vampirkrallen bohrten sich in die Fensterbank der Jugendherberge. Er hatte genug gesehen. Seit Mephisto ihm erlaubt hatte, die unterste Höllenebene zu verlassen, trieb er sich wieder auf der Erde zwischen den Menschen herum. Ein Jagdaufseher in Eichendorf und ein Obdachloser in der Nähe von Ottobrunn waren seiner Blutgier seitdem zum Opfer gefallen. Doch der Alte des Schreckens war viel vorsichtiger geworden. Entgegen seiner früheren Gewohnheit hatte er die Leichen gut versteckt. Niemand durfte bemerken, daß am Starnberger See ein Vampir sein Unwesen trieb. Nicht bevor er sein großes Ziel erreicht hätte. Dracomars halb verweste Zunge fuhr über seine zerfasernden Lippen. Die Gier nach Jasmin Mertens' Blut peitschte durch seine dämonischen Adern. Aber noch konnte er sich beherrschen. Dieses Mädchen würde zu seinem willenlosen Werkzeug werden. Ihm dabei helfen, Mephistos Wünsche zu erfüllen. Und dann, wenn das Böse wieder triumphierte, würde er seine langen Fangzähne in den Hals der blonden Schönen schlagen. Bei diesem Gedanken lief ein bösartiger Schauer durch den Körper des Blutdruiden. Er sprang von der Außenwand der 22 �
Jugendherberge herunter und war mit einigen unmenschlich weiten Sprüngen im Unterholz des Seeufers verschwunden. Nur einige Hasen und Igel hörten sein irres Kichern. * »Diese Anzeige sehe ich zum ersten Mal!« Der Druckereichef der Weimarer Rundschau ließ seine müden Augen zwischen den wütenden Gesichtern von Tessa Hayden und Pit Langenbach hin- und herwandern. Auch Langenbachs Morgenzeitung hatte die Todesanzeige von Mark Hellmann enthalten. Der Hauptkommissar und die Polizistin hatten kurz telefoniert und waren dann zum Redaktionsgebäude der Weimarer Rundschau gerast. Unter Marks Kollegen wußte niemand etwas von der Todesanzeige. Verständnislos hatte man die beiden in die Druckerei geschickt. Pit Langenbach hatte bereits einen Verdacht. Aber er mußte sich Gewißheit verschaffen. »Können wir die Druckvorlage sehen, bitte?« »Meinetwegen.« Der Druckereichef lud in seinem Computer eine neue Datei. Tessa und Pit traten hinter ihn und linsten ihm über die Schulter. »Das ist die Seite mit den Todesanzeigen. Die Ausgabe, die heute früh erschienen ist.« Alle drei lasen die am Computer montierte Seite. Es waren überwiegend alte Menschen, die hier per Anzeige betrauert wurden. Der Name Mark Hellmann fehlte jedenfalls komplett. »Haben Sie vielen Dank«, sagte Tessa mit unsicherer Stimme. Dann schob Pit sie aus dem Büro hinaus. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Druckereichef eine Flasche Weinbrand aus seinem Schreibtisch zog. Wahrscheinlich war er der Meinung, 23 �
gerade von zwei Verrückten belästigt worden zu sein. Pit strich sich nervös über seinen mächtigen Schnurrbart. »Ein übler Scherz.« »Ein übler dämonischer Scherz!« ergänzte Tessa. »Wie anders als mit Schwarzer Magie kann man eine schon fertige Druckvorlage noch verändern? Ich bin zwar keine Zeitungsexpertin, aber ich weiß nicht, wie so was anders funktionieren sollte!« »Mephisto?« Die beiden Kripo-Beamten gingen Seite an Seite auf den Ausgang zu. »Wahrscheinlich. Pit, jagen wir eine Großfahndung raus?« »Na klar, Tessa. Ich rufe außerdem bei Marks Eltern an. Ich kann mir vorstellen, daß seine Mutter mit den Nerven runter ist, wenn sie diese satanische Anzeige ebenfalls gelesen hat.« Schweigend stiegen Marks Freundin und sein bester Freund in den Dienstwagen. Unausgesprochen lastete noch etwas anderes zwischen ihnen. Was, wenn die Anzeige gar kein Scherz gewesen war? Wenn Mark Hellmann seit der vergangenen Nacht nicht mehr lebte? * Ich wachte mit Kopfschmerzen auf. Das war allerdings auch kein Wunder. Es ist nicht gerade bequem, im Sitzen mit gefesselten Händen zu schlafen. In einem Auto, das mit unbekanntem Ziel dahinrast. »Wir sind gleich da, Herr Hellmann«, verkündete der Wortkarge, den ich für einen Bayern hielt. »Ich erwarte Chefarztbehandlung für meine Kopfschmerzen«, witzelte ich. Niemand lachte. Bald darauf wurde der Mercedes wirklich langsamer und hielt schließlich an. 24 �
Meine Beinfesseln wurden gelöst. Aber noch immer nahmen mir die Entführer das Tuch nicht ab. Starke Arme schafften mich aus dem Wagen. Dann wurde ich über einen Weg geleitet. Der Duft von Nadelhölzern und Harz bewies mir, daß es hier irgendwo Wald geben mußte. Der Pfad unter meinen Stiefelsohlen war etwas unwegsam. Mehrfach strauchelte ich. Und wurde jedes Mal von meinen Begleitern abgestützt. Plötzlich roch es feucht. Die Wald-Geräuschkulisse verschwand. War es Beton, der sich nun unter meinen Füßen befand? »Wir nehmen Ihnen jetzt das Tuch ab«, verkündete jemand. Gleich darauf blinzelte ich in das Licht von Neonröhren, die unter der Decke verliefen. Ich war in einem fensterlosen Gang. Es roch nach einem scharfen Reiniger. »Wo bin ich hier?« »Ungefähr fünfzig Meter unter der Erde«, erwiderte ein breitschultriger Mann mit einem offenen, sympathischen Gesicht. »Im Inneren des Natternbergs. In der Nähe von Deggendorf. In Niederbayern.« Ich schaute mir meine Kidnapper an. Es waren wirklich vier Mann, wie ich vermutet hatte. War ich von Wahnsinnigen entführt worden? Aber sie wirkten alle so normal. Wie biedere Familienväter in den mittleren Jahren. Einer trug sogar eine Trachtenjacke und Kniebundhosen. Ansonsten waren sie völlig unauffällig angezogen. Die Handfessel nahmen sie mir noch immer nicht ab. »Folgen Sie mir bitte«, sagte der Wortkarge, den ich an der Stimme erkannte. »Habe ich eine Wahl?« Darauf erwiderte er nichts. Das war Antwort genug. Bald kamen wir an eine breite Treppe, die hinunter in ein natürliches Höhlensystem führte. Ich konnte nicht erkennen, wie 25 �
diese geräumigen Grotten erleuchtet wurden. Hier gab es jedenfalls keine Neonröhren. Schließlich löste der Bayer die Stricke um meine Handgelenke. »Versprechen Sie, daß Sie keine Dummheiten machen«, sagte er. Diesmal schwieg ich. Aber da ich allein wahrscheinlich niemals aus diesem unterirdischen Labyrinth herausgefunden hätte, kam ein Frontalangriff sowieso nicht in Frage. Mein Ring blieb kalt und leuchtete auch nicht. Keine dämonische Aktivität in der Nähe. Mein Begleiter klopfte an eine schwere Flügeltür aus Eichenholz. »Herein!« rief die Stimme eines alten Mannes. Der Bayer hielt mir die Tür auf. Ich betrat einen großen Raum. Er war eingerichtet wie eine Bibliothek aus dem 19. Jahrhundert. Einige offenbar echte Ölgemälde hingen an den mit kostbaren Stofftapeten bespannten Wänden. Ein Fenster gab es natürlich nicht. Hinter einem wuchtigen Schreibtisch erhob sich die kleine Gestalt eines Greises. Er hatte schulterlanges, schneeweißes Haar und einen dünnen Kinnbart von derselben Farbe. Doch er hielt sich kerzengerade. Sein dünner Körper steckte in einer prächtigen Uniform mit Schulterstücken, Schärpe und Degen. Der Wortkarge machte eine tiefe Verbeugung. »Auftrag ausgeführt, Euer Majestät!« Und zu mir: »Herr Hellmann, ich möchte Ihnen Ludwig II. vorstellen. Den König von Bayern!« * Jasmin Mertens bemerkte nicht, wie und warum sie unter dämonischen Einfluß geriet. Denn Dracomar war schlau. Er hatte einen Armreif des Mädchens gestohlen, als er sie nachts besucht hatte. Wertloser Modeschmuck. Aber es war ein Stück aus Jas26 �
mins Besitz. Und es reichte dem mächtigen Schwarzblüter völlig aus, um sie in seinen Machtbereich zu bringen. Der Blutdruide lenkte das Mädchen wie eine Marionette. Daß sie an diesem Tag ihren kürzesten Minirock und ihr knappstes Top angezogen hatte, war vielleicht noch nicht so verwunderlich. Aber als sie sich nach dem Frühstück in der Jugendherberge freiwillig für ein Geschichtsprojekt meldete, verdrehte ihre Zimmerkameradin Claudia Hofmann die Augen. »Was ist denn mit dir los, Jasmin? Ist dir die bayerische Bergluft zu Kopf gestiegen?« Claudia wußte, daß ihre blonde Klassenkameradin normalerweise Deutsche Geschichte so anziehend fand wie einen Pickel auf der Nase. Ihre Noten in dem Fach waren entsprechend miserabel. Jasmin hätte selbst nicht sagen können, warum ihre Hand hochgeschnellt war, als es um ein Referat über König Ludwig II ging. Es war einfach passiert. Herr Kornelius stand breitbeinig mitten im Raum. Zwischen den inzwischen abgeräumten Frühstückstischen. Auch der Lehrer wunderte sich über ihren plötzlichen Lerneifer. Doch er freute sich. Und konnte nicht ahnen, wie er ungewollt den Kräften der Hölle zuarbeitete. Kaum hatte sich Jasmin für die Aufgabe gemeldet, als auch schon Dirk Müller und Marco Wiese ebenfalls an dem Geschichtsprojekt teilnehmen wollten. Darüber wunderte sich nun allerdings niemand. Jeder wußte, wie scharf die beiden auf ihre blonde Mitschülerin waren. »Ludwig II. war ein geheimnisvoller König«, sagte Herr Kornelius bei der Aufgabenverteilung. »Hier am Starnberger See ist er ums Leben gekommen, im Jahre 1886. Besorgt euch alles an Informationen über ihn, was ihr bekommen könnt. Die Biblio27 �
thek der Jugendherberge hat einige Bücher über ihn. Oder fragt die Leute im Ort. Nur ins Schloß Berg dürft ihr nicht. Es gehört noch heute dem Hause Witteisbach und ist nicht zur Besichtigung freigegeben.« Jasmin nickte wie in Trance. Sie nahm den Aufgabenzettel entgegen und eilte dann hüftenschwenkend hinaus. Dirk Müller und Marco Wiese folgten ihr wie zwei treue Hunde. »Wie fangen wir an?« fragte der pflichteifrige Dirk. Jasmin Mertens schien geistesabwesend. Es war, als ob sie auf Stimmen in ihrem Inneren hören würde. Die beiden Jungen bemerkten, daß ihr Schwärm nicht bei der Sache war. Plötzlich schien es, als sei das Mädchen aus tiefer Hypnose erwacht. »Wir sehen uns im Schloß Berg um«, bestimmte sie. »Schließlich hat Ludwig II dort gelebt. Dort und in anderen Schlössern. Aber dieses ist am wichtigsten.« »Warum?« fragte Marco, der wieder einmal ein schwarzes Hemd trug. Weil ich es spüre, hätte die Blondine antworten müssen. Aber sie beschränkte sich auf ein geheimnisvolles Lächeln. »Herr Kornelius hat aber gesagt, daß wir Schloß Berg nicht betreten durften«, beharrte der korrekte Dirk Müller. »Das weiß ich«, erwiderte Jasmin mit ihrem süßesten Lächeln. »Deshalb werden wir auch nachts losmarschieren. Du brauchst ja nicht mitzukommen, wenn du Schiß hast.« * Der alte Monarch bat mich auf ein unbequem aussehendes Barocksofa. Ich folgte seiner Einladung und fühlte mich wie in einem seltsamen Traum. Wenn dieser alte Mann dort wirklich Ludwig II. von Bayern war, mußte er über 150 Jahre alt sein! 28 �
Ich kramte in meinem Gedächtnis. Wieder einmal zahlte sich mein Studium der Völkerkunde und Geschichte nachträglich aus. Auch wenn ich meinen Job als Assistent am Museum für Völkerkunde hingeworfen hatte, mein Wissen blieb mir natürlich erhalten. Wenn ich mich nicht täuschte, war Ludwig II. 1845 geboren worden. Der schöne junge Herrscher galt schon zu Lebzeiten als eine Art »Märchenkönig«. Er ließ wunderbare Schlösser wie beispielsweise Neuschwanstein und Herrenchiemsee bauen. Sein Interesse galt nicht dem Krieg und den Eroberungen, sondern der Kunst und schönen Frauen. Das machte ihn mir besonders sympathisch. Allerdings sollte er auch geisteskrank gewesen sein. »Ich bin nicht verrückt!« Ludwig II. schien in meinen Gedanken wie in einem offenen Buch gelesen zu haben. Während ein Diener im Frack Frühstück für zwei Personen servierte, sah mich der König blinzelnd an. Seine Augen wirkten weise. So, als ob er viel gesehen hätte. Das mußte er wohl auch, wenn er 150 Jahre alt war. »Aber man hat Sie für gestört gehalten, äh – Majestät.« Ich wußte nicht genau, wie ich ihn anreden sollte. Schließlich bin ich in der DDR aufgewachsen. Dort hatte man es nicht so oft mit gekrönten Häuptern zu tun. »Es sind damals böse Dinge passiert. Die Legende von meinem Tod kennen Sie?« Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und verschlang ein halbes Brötchen mit Marmelade. Mein Hunger siegte fast über meine Neugier. »Ich denke – ja. Euer Majestät sollen im Starnberger See ertrunken sein. Zusammen mit Eurem – Psychiater.« »Ermordet wurde ich!« donnerte Ludwig II mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Das heißt, nicht ich, sondern mein Doppelgänger. Sie wissen sicher, daß bekannte Persönlichkeiten manchmal solche Personen beschäftigen. Nun, mein ersäufter 29 �
Doppelgänger wurde am 18. Juni 1886 in der Michaelskirche zu München beigesetzt. Die Straßen waren schwarz von trauernden Menschen.« Mit seiner Serviette tupfte sich der Greis eine Träne aus dem Augenwinkel. Als er sich gefaßt hatte, fuhr er fort. »Ich entkam lebend. Obwohl ich bis heute nicht weiß, wie. Seitdem verstecke ich mich hier im Natternberg. Wie ein flüchtiger Verbrecher. Aber das ist nun vorbei. Ich will wieder hinaus. Und vor mein Volk treten. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe!« Ich hätte beinahe meinen Kaffee über den Perserteppich geprustet. »Ich verstehe ehrlich gesagt kein Wort.« Ludwig II. lächelt nachsichtig. »Sie werden verstehen, Mark Hellmann. Was glauben Sie, wer damals meine Ermordung befahl?« »Vielleicht politische Gegner, ausländische Mächte oder.« »Es war Mephisto!« Nun fiel ich wirklich aus allen Wolken. Wieder hatte mein alter Erzfeind seine schwarzmagischen Krallen im Spiel. Und der alte Monarch mußte seinerseits wissen oder vermuten, daß Mephisto es auch auf mich abgesehen hatte. »Sind Sie sicher?« Ich war jetzt so aufgeregt, daß ich ihn ganz normal anredete. Es schien Ludwig II. nicht weiter zu stören. »Todsicher, Mark Hellmann. Es war seine Rache.« »Rache – wofür?« »In den Kellergewölben von Schloß Berg am Starnberger See befand sich eine schwarzmagische Weihestätte. Für Rituale des Bösen. Sie verstehen, was ich meine. Nun, ich habe dafür gesorgt, daß dieser unheilige Platz mit einem weißmagischen Gegenzauber überzogen wurde. Der Bann ist bis heute aktiv.« Langsam kapierte ich. »Mephisto will dieses Kellergewölbe wieder in seinen Besitz bringen. Und hat Ihnen den Tod geschworen. Aber weshalb sind Sie hier im Natternberg vor ihm 30 �
sicher?« »Weil auch der Natternberg weißmagisch abgeschirmt ist.« Verwirrt sah ich mich um. »Mir ist immer noch nicht klar, warum Sie meine Hilfe brauchen, Majestät. Warum Sie mich haben entführen lassen.« Der König lehnte sich zurück. »Ich lebe hier zwar im Inneren eines Berges, aber ich bekomme viel mit. Mein Nachrichtendienst funktioniert immer noch. Ich habe meine Getreuen. Es sind die Enkel und Urenkel von Männern, die mir damals gedient haben. Ihr Schweigegelübde ist nie gebrochen worden. Draußen ahnt niemand, daß ich noch lebe. Aber ich habe viel über Sie gehört, Mark Hellmann. Es heißt, Sie sollen in der Zeit reisen können.« Warum sollte ich es leugnen? Ich vertraute diesem seltsamen alten Mann. »Ja, das kann ich.« Der König stand auf und legte mir seine schmalen Hände auf die Schultern. »Dann bitte ich Sie von ganzem Herzen: Reisen Sie ins Jahr 1886! Finden Sie heraus, was damals am Starnberger See wirklich passiert ist! Verhindern Sie den Anschlag auf mich!« * »Das – das ist unmöglich!« Es tat mir leid, dem alten Mann die Wahrheit ins Gesicht sagen zu müssen. Aber warum sollte ich ihm etwas vormachen? »Weshalb?« Ludwig II. hatte wieder Platz genommen. Er saß auf der vordersten Sesselkante. Wie ein Kind, das es im Kasperletheater vor Spannung kaum noch aushält. Ich suchte nach den richtigen Worten. »Wissen Sie, was ein Zeitparadoxon ist?« »Nicht genau.« 31 �
»Ein Zeitparadoxon entsteht, wenn in der Vergangenheit etwas verändert wird, das Einfluß auf die Gegenwart hat. Wenn ich zum Beispiel in der Vergangenheit aus Versehen meinen Großvater töte, was geschieht dann? Dann werde ich nie geboren. Aber wenn es mich nicht gibt, wie kann ich den Großvater dann umgebracht haben? Das ist ein Zeitparadoxon.« »Ich glaube, ich verstehe.« Enttäuscht senkte der König den Blick. Ich wollte es noch plastischer machen. »Wenn Sie wirklich damals dem Attentat entgangen wären, wären Sie auf dem Bayerischen Thron geblieben. Hätte es dann das Deutsche Reich in seiner bekannten Form geben können? Vielleicht nicht. Vielleicht wäre Bayern selbständig geblieben. Hätte der Erste Weltkrieg stattgefunden? Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es vielleicht die Russische Revolution nie gegeben. In Moskau würde immer noch ein Zar sitzen. Und ohne den Kommunismus wäre die Welt nicht in Ost und West aufgeteilt worden. Oder.« »Hören Sie auf!« rief Ludwig II. und faßte sich mit beiden Händen an die Schläfen. »Ich war nie verrückt! Aber ich werde es bald, wenn Sie noch länger weiterreden, Mark Hellmann!« Der Monarch tat mir leid. In diesem Moment wirkte er unendlich müde. Als wenn er noch viel älter wäre als 150 Jahre. Winzig und zusammengesunken hockte er in seinem Sessel. Ich überlegte, wie ich ihm helfen könnte. »Es gibt eine einzige Möglichkeit, Majestät«, sagte ich nach langem Schweigen. »Ich kann in das Jahr 1886 zurückkehren. Aber nur, um herauszufinden, was damals am Starnberger See wirklich passiert ist. Mehr nicht. In die Geschichte eingreifen – das kann und will ich so massiv nicht.« Die Augen des Königs leuchteten wieder. »Gut, Mark Hellmann, sehr gut. Vielleicht ist das ja wirklich alles, was ein alter Mann verlangen kann.« 32 �
Plötzlich schien er wieder voller Tatendrang zu sein. Er sprang von seinem Sessel auf, als wäre das Jahrhundert spurlos an ihm vorübergegangen. Ich erhob mich ebenfalls. Es gab eine Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte. »Ich will nicht aufdringlich sein, Majestät. Aber wie haben Sie es geschafft, so alt zu werden. Ich meine.« »Das ist kein Geheimnis«, meinte Ludwig II. lächelnd. »Es gibt eine sehr teure und sehr seltene Geheimtinktur, die in der Inneren Mongolei hergestellt wird. Davon nehme ich regelmäßig ein paar Tropfen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: ›Wer jünger stirbt als mit 115, der stirbt eines unnatürlichen Todes‹.« * Die Ermittlungen der Weimarer Polizei kamen nur schleppend voran. Es schien wirklich, als wäre Mark Hellmann vom Erdboden verschluckt worden. Hunderte von Zeugen wurden vernommen, die auf der Ostalgie-Party gewesen waren. Endlich fand sich unter ihnen einer, der einen Hilfeschrei zu hören geglaubt hatte. Außerdem wollte er einen Mercedes mit Münchener Kennzeichen gesehen haben. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt nach eigener Einschätzung schon vierzehn Halbe intus. »Sollte Mark von Derrick entführt worden sein?« fragte Pit Langenbach mit schwarzem Humor. Er saß zusammen mit Marks Freundin in der Weimarer Polizeidirektion und wälzte die wenigen Fakten. Tessa grinste, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte. »Haha. Außerdem fahren Derrick und Harry nur BMW! Und existieren sowieso nur in der Flimmerkiste!« Der Hauptkommissar und die Polizistin fühlten sich hilflos. Zwar stand der ganze moderne Fahndungsapparat hinter ihnen. 33 �
Aber was nützte das bei einem möglichen Gegner, der mit Schwarzer Magie alles manipulieren und beeinflussen konnte? Tessa war sauer. Es lag ihr absolut nicht, untätig auf ihrem hübschen Hintern zu sitzen. Untätig in Bezug auf ihren Freund. Denn an normaler Arbeit hatte sie als Polizistin im Außendienst genug zu tun. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wirbelte sie einige Aussageprotokolle durcheinander. Stand auf und ging zu ihrem Aktenregal hinüber. Pit, der sich gegen ihren Schreibtisch gelehnt hatte, folgte ihr mit den Augen. »München!« rief Tessa aufgebracht. Sie knallte einen bunten Bildband auf den Tisch. »Hier! Mark und ich wollten schon mal hinfahren! Dieses Ding habe ich mir gekauft. Zum Appetitanregen sozusagen!« Sie blätterte fahrig in den bunten Seiten. »Hier, Pit! Alles wunderschön! Frauenkirche! Viktualienmarkt! Schwabing! Und – verdammt.« Plötzlich war Tessa Hayden totenblaß geworden. Der Hauptkommissar stürzte zu ihr hinüber. Mit zitternden Fingern deutete sie auf ein Foto. Es war eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme aus dem 19. Jahrhundert. Darauf zu sehen waren ein junger Mann in Uniform und eine schöne Dame im Abendkleid. Sie saßen in einer Theaterloge. Ein Mann im schwarzen Anzug stand einen Schritt hinter dem Uniformierten. Die Bildunterschrift lautete: Seine Majestät Ludwig II. von Bayern mit seiner Verlobten Prinzessin Sophie bei der Premiere vom ›Ring der Nibelungen‹. Im Hintergrund ein Leibwächter. Und der Leibwächter in dem schwarzen Anzug war niemand anders als Mark Hellmann! *
34 �
Der König ließ es sich nicht nehmen, meiner ›Abreise‹ persönlich beizuwohnen. Seine Getreuen hatten mit Fackeln einen verschwiegenen Winkel der Höhlenlandschaft ausgeleuchtet. In dieser wildromantischen Atmosphäre zog ich meine Kleider aus. Bis auf meinen Ring konnte ich sowieso nichts in die Vergangenheit mitnehmen. Ich machte mich bereit. Vorsichtig drückte ich meinen silbernen Siegelring gegen das siebenzackige, blau-rot-goldene Mal auf meiner Brust. Es ist vollkommen schmerzunempfindlich. So oder so ähnlich stelle ich mir ein Hexenmal aus früheren Jahrhunderten vor. Ludwig II. und seine Männer hielten den Atem an, als der Ring an meiner Hand strahlte. Ich spürte ein leichtes Prickeln. Wie ein Laser kam ein Strahl mitten aus meinem Ring geschossen. Damit konnte ich Buchstaben oder Zeichen auf den Felsboden unter meinen nackten Füßen malen. Und das tat ich. Wie bei allen Zeitreisen bediente ich mich der Runen-Buchstaben aus dem Futhark-Alphabet. Sorgfältig schrieb ich das keltische Wort für »Reise« vor mich auf den Untergrund. Der alte König rief: »Viel Glück, Mark Hellmann!« Im nächsten Moment fiel ich in einen Abgrund aus Licht und Nicht-Licht. Klänge drangen an mein Ohr, wie sie kein von Menschen gebautes Musikinstrument hervorbringen kann. Es waren Töne aus den Tiefen des Universums. Aus den rätselhaften Zeitströmen, durch die ich nun fiel und fiel und fiel. * Der Vampir riß sein fürchterliches Maul auf. Und ich verfluchte mein Pech. Oder war das wieder eine von Mephistos verfluchten Fallen gewesen? Ich wußte nicht, ob ich 35 �
im Jahr 1886 gelandet war. Jedenfalls spie mich der Zeitstrom am Rande eines Wäldchens aus. Am Rand einer eleganten Parkanlage war ein hell erleuchtetes Schloß zu sehen. Und ein Empfangskomitee wartete schon auf mich. Es bestand aus lauter Blutsaugern. Sie trugen zerfetzte Gehröcke oder lange Frauenkleider. Selbst im blassen Licht des abnehmenden Mondes konnte ich ihre Fangzähne blitzen sehen. Die Nacht war ziemlich hell. Und es war warm. Sommer 1886? Kurz vor der angeblichen Ermordung von Ludwig II.? Ja, wenn ich Glück hatte. Doch danach sah es im Moment überhaupt nicht aus. Unsanft landete ich auf dem weichen Boden. Der erste Vampir ging sofort auf mich los. Ich hatte schlechte Karten. Denn ich war nackt und ohne Waffe. Mit meinem Ring kann ich zwar normale Waffen in weißmagische Instrumente verwandeln, doch weit und breit war nichts Geeignetes zu sehen. Außerdem würden mir die Blutsauger wohl nicht soviel Zeit lassen. Mit einem Karatetritt hielt ich mir das Biest vom Leib. Das heißt, ich versuchte es. Das klappte natürlich nicht. Denn die Zeitreise schwächt mich jedes Mal für Stunden. Schon ein menschlicher Gegner hätte sich von meiner schlechten Kondition nicht beeindrucken lassen. Und diese Vampire verfügten über schwarzdämonische Superkräfte. Das wurde mir schmerzlich bewußt, als der Blutsauger zurückschlug. Wie eine Puppe wurde ich durch die Luft geschleudert und prallte gegen einen Baum. Die Vampire kamen auf mich zu. Es waren vier oder fünf. So sicher war ich mir da nicht. Ich war immer noch reichlich benommen. Mein Schädel brummte wie nach einer tagelangen Sauftour. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Da kam mir ein abgebrochener Ast gerade recht. Ich packte ihn mit beiden Händen und schwang 36 �
ihn hin und her wie eine Keule. Einer der Vampire machte den Fehler, in meine Reichweite zu geraten. Ich rammte ihm das Holz in sein ekelhaftes Maul. Kreischend fiel er zurück. Ich wäre durch die plötzliche Anstrengung selbst beinahe umgekippt. Aber diesen Triumph wollte ich den Kreaturen der Hölle nicht gönnen. Obwohl mein Körper schon auf Reserve lief. Ein weiterer Blutsauger stürzte sich von rechts auf mich. Ich machte eine Drehung und hackte mit dem Ast gegen seinen Schädel. Die Wirkung war entmutigend. Als ich mich nach links drehte, hatte ich plötzlich die Fangzähne einer anderen Nachtbestie direkt vor meinem Hals. Die krallenartigen Hände des höllischen Wesens bohrten sich in meine Oberarme. Warum beißt er nicht zu? fragte ich mich. Die anderen packten mich nun ebenfalls. Sie entwanden mir den Ast. Dabei stießen sie triumphierende, viehische Laute aus. Warum tranken sie nicht mein Blut? Ich war ihnen wehrlos ausgeliefert. Dann schleppten sie mich in die Richtung des verträumten Schlößchens. Es gab nur eine Erklärung für ihr Verhalten. Sie hatten noch etwas viel Schlimmeres mit mir vor. * In dem hell erleuchteten Gebäude mußten Menschen sein. Oder andere Wesen, die mir hätten zu Hilfe kommen können. Einer der Vampire legte mir jedenfalls seine Krallen wie einen Schraubstock um den Unterkiefer. Es war mir unmöglich zu schreien. Durch einen Seiteneingang brachten sie mich in das Innere des verwinkelt gebauten Anwesens. Über eine steile, modrig rie37 �
chende Treppe ging es hinab in die Tiefen des Kellergewölbes. Einer der Vampire lief voraus und öffnete mehrere schwere Türen. Ich konnte nicht erkennen, ob er einen Schlüssel hatte. Oder ob er Magie einsetzte, um uns den Weg zu ebnen. Es war mir auch herzlich gleichgültig. Ich wußte nur, daß ich verdammt tief in der Tinte saß. Schließlich warfen sie mich in ein fensterloses Rattenloch und knallten die Tür hinter mir zu. Ich war allein. Doch nicht für lange. Kaum war ich wieder zu Atem gekommen, als ich instinktiv eine Bewegung in der hintersten Ecke des Raumes spürte. Es war stockdunkel. Doch nun wurde dort ein kleiner Kerzenstummel entzündet. Wer hatte das getan? Im nächsten Moment erblickte ich die Gestalt. Niemals hätte ich damit gerechnet, sie noch einmal zu sehen. Ich war allein in einem Verlies mit Dracomar! Dem Blutdruiden. Dem Alten des Schreckens. Den ich bereits ausgelöscht zu haben glaubte! Sein zynisches Lachen dröhnte durch den feucht-modrigen Raum. »Ich habe uns etwas Licht gemacht, Mark Hellmann. Damit du erkennen kannst, wie du mich zugerichtet hast!« Und er hielt sein vom Weihwasser verätztes Gesicht über die Kerzenflamme. Die leere Augenhöhle war besser zu ertragen als die andere. Denn aus ihr funkelte nur bodenloser Haß. Ich ließ mir meine Überraschung nicht anmerken. »Wenn ich dich das nächste Mal zu vernichten versuche, werde ich auf deine Taschenspielertricks aufpassen.« »Es wird kein nächstes Mal geben, Hellmann. Hast du im Ernst geglaubt, du könntest einen Blutdruiden mit einem simplen Eichenpflock vernichten? Dummheit muß bestraft werden.« Das hatte ich wirklich geglaubt. Andererseits war das noch 38 �
ganz am Anfang meiner Bestimmung zum Kämpfer des Rings gewesen. Ich hatte in der Zwischenzeit dazugelernt. Aber man lernt ja nie aus. Doch im Moment hatte ich noch nicht einmal genug Power, um einen normalen Vampir zu besiegen. Geschweige denn diesen uralten Blutdruiden. Dracomar mußte das spüren. Er weidete sich an meiner Schwäche. »Mephisto und ich haben dir deinen kleinen Triumph gegönnt«, zischte er ironisch. »Wir haben dich in dem Glauben gelassen, daß du mich ausgelöscht hättest. Denn nun haben wir dich dort, wo wir dich haben wollen.« »Und wo ist das, du häßliche Vogelscheuche?« Dracomar hätte sich gerne auf mich gestürzt. Aber er riß sich zusammen. »Dies hier ist der Keller von Schloß Berg, du Menschenwurm. Dein Freund König Ludwig wird dir davon erzählt haben. Er hat unsere Kultstätte hier entweiht.« »Deshalb wundere ich mich, daß du es hier aushältst. Gibt es hier nicht zu viel Weiße Magie?« »Ich bin auch nicht bei dir«, meinte Dracomar. »Du siehst nur ein Trugbild von mir. Meine Diener, die dich hergebracht haben, sind dem Untergang geweiht. Der Zauber des Guten wird sie zerfressen. Aber es ist wie beim Schach. Man muß auch mal ein Bauernopfer bringen.« Sein selbstgerechtes Gequatsche ging mir auf den Zeiger. »Und was soll die Show, Blutbestie?« Wieder lachte die Kreatur. »Oh, wir wollen den Bann der Weißen Magie brechen. Mit deiner Hilfe.« »Niemals!« »Du wirst nicht gefragt, Hellmann«, schnarrte der Blutdruide. »Ein Mann mit einem guten Herzen muß hier unten sterben. So lautet die Prophezeiung. Aber ihm darf dabei kein Haar gekrümmt werden. Und du wirst in diesem Kerker verrecken, 39 �
Hellmann. Das ist der erste Schritt, um diesen Platz wieder dem Bösen zu weihen.« »Und wie wollt ihr Bestien das machen, ohne mein Blut zu trinken?« »Ganz einfach. Wir lassen dich verhungern. Dabei wird dir kein Haar gekrümmt, oder?« * Das Schloß Berg befindet sich am Ostufer des Starnberger Sees. 1640 wurde es von Friedrich von Hörwarth errichtet. Einige Jahre später, 1676, vom Adelsgeschlecht der Wittelsbacher gekauft. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Kellergewölbe schon als böser Ort verflucht. Davon wußten die drei Jugendlichen nichts, die in einer Frühlingsnacht des Jahres 1999 durch den stillen Park schlichen. Den ganzen Tag über hatten Jasmin Mertens, Dirk Müller und Marco Wiese Informationen über König Ludwig II. gesucht. Das blonde Mädchen hatte dabei einen unglaublichen Eifer gezeigt. Es war, als wollte sie alles nachholen, was sie im Geschichtsunterricht der vergangenen Jahre versäumt hatte. »Ludwig II war ein Träumer«, verkündete sie ihren beiden Klassenkameraden. Die interessierten sich allerdings mehr für ihre prallen Pobacken unter dem knappen weißen Minirock, deren Muskelspiel selbst im fahlen Mondlicht deutlich zu erkennen war. Ihr lila Top enthüllte mehr, als es verbarg. Warum sollten die Jungen sich bei diesem Anblick Gedanken über einen toten König machen? Doch Jasmin war voll bei der Sache. »Der bayerische Herrscher wurde mit den Jahren immer menschenscheuer«, fuhr sie fort. »Er lebte abwechselnd auf seinen prunkvollen Schlössern. Hier auf Schloß Berg hat er sich mit Bildern aus den Opern von Richard Wagner umgeben.« 40 �
»Wer is 'n das?« fragte Marco. Allmählich ging ihm diese König-Ludwig-Tour auf die Nerven. »Einer der bedeutendsten deutschen Komponisten«, erklärte Dirk Müller. Er freute sich, daß er seinen Rivalen mit seinem Wissen übertrumpfen konnte. Jasmin bedachte ihn mit einem dankbaren Lächeln. »Außerdem der Lieblingskünstler von Ludwig II. Der König hat ihn gefördert, wo es nur ging. Wagner und er waren Freunde.« Das Trio war nun schon sehr nahe an den Schloßmauern. Die Blonde bewegte sich so sicher, als ob sie tagtäglich in Schloß Berg ein- und ausgehen würde. Sie schien keine Angst vor einer Entdeckung zu haben. Indirekte Beleuchtung strahlte die Fenster im Erdgeschoß an. Das gab einen schönen Effekt, sollte aber wohl auch vor Einbrechern schützen, dachte Dirk Müller. Im nächsten Moment war ihm überhaupt nicht mehr wohl in seiner Haut. Einbruch! Was, wenn sie erwischt wurden? Dann konnte er seine Karriere als Offizier doch wohl höchstwahrscheinlich vergessen, oder? »Sollen wir nicht lieber – umkehren?« wandte er schüchtern ein. Aber Jasmin drehte sich zu ihm um und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich hätte dich für mutiger gehalten«, flötete sie. Das saß. Dirk wollte auf keinen Fall als Feigling dastehen. Wenn er nur gewußt hätte, was Jasmin in dem Schloß wollte. Hatte sie vielleicht vor, in die Bibliothek einzubrechen und alle Bücher über Ludwig II zu klauen? Schon bei dem Gedanken lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ein dumpfes Grollen ertönte. »Was war das?« Dirk Müller sah sich mißtrauisch um. Auch auf die Gefahr hin, nun als Hosenscheißer vom Dienst zu gelten. Im Wald, auf dem Weg hierher, hatten sie Käuzchen rufen 41 �
gehört. Und das Geraschel von kleinen Tieren im Unterholz. Wenn man sich konzentrierte, vernahm man sogar das Platschen der Wellen vom nahen Starnberger See. Aber dieses Grollen klang unheimlich. Nicht von dieser Welt. Jasmin lachte hell auf. »Vielleicht rührt sich da ja das Rumpelstilzchen! König Ludwig war nämlich auch ein großer Fan von deutschen Sagen und Märchen. Wer weiß? Vielleicht gibt es das Rumpelstilzchen ja wirklich!« Und sie begann leise zu singen: »Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.« Die wird uns noch alle in Teufels Küche bringen, dachte Dirk Müller mit aufsteigender Nervosität. Er ahnte nicht, daß sie längst in Teufels Küche waren. Das Mädchen schlich an der Nordmauer von Schloß Berg entlang. Sie schien genau zu wissen, wonach sie suchen mußte. Die kleine, bogenförmige Pforte war bald erreicht. Das Holz der Tür war alt, aber gepflegt. Jasmin betätigte die wuchtige Eisenklinke. Drückte sie hinunter. Mit einem leisen Knarren öffnete sie die Tür. Marco Wiese hielt den Atem an. Er kam sich vor wie in einem seiner geliebten Gruselromane. Doch das hier war Realität. Wenn er nicht so aufgeregt gewesen wäre, hätte ihm auffallen können, wieso Jasmin gewußt hatte, daß die Tür nicht abgeschlossen sein würde. Doch weder er noch Dirk schöpften zu diesem Zeitpunkt Verdacht. Im Gänsemarsch betraten die drei Kameraden einen niedrigen Gang. Es hing ein Geruch in der Luft, den man oft in alten Kirchen vorfindet. Er wird durch jahrhundertealtes Holz verursacht. Im Inneren des Schlosses war es stockdunkel. Doch der umsichtige Dirk hatte natürlich daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen. 42 �
Das dumpfe Grollen ertönte zum zweiten Mal. Dirk spürte, wie ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Die Blondine zog ihm die Leuchte aus der Hand und übernahm die Führung. Plötzlich fand er sie überhaupt nicht mehr so anziehend. Seit sie das Schloß betreten hatten, hatte sich ihr Verhalten verändert. Sie wirkte irgendwie kälter. Um nicht zu sagen böser. Du spinnst, sagte Dirk zu sich selbst. Obwohl er in diesem Moment lieber wieder in seinem Bett in der Jugendherberge gelegen und von Schaltkreisen geträumt hätte. Das Mädchen führte die beiden Jungen über eine steile, feuchte Kellertreppe hinab in die Gewölbe. Hier war es nun wirklich unheimlich. Das fand nicht nur Marco, sondern auch der nicht sonderlich fantasiebegabte Dirk. Sie erwarteten jeden Moment eine Fledermaus, die ihnen ins Gesicht fliegen würde. Oder eine Ratte, die ihnen zwischen die Füße sprang. Jasmin schien sich sehr wohl zu fühlen. Sie eilte einen Gang hinunter, dessen Decke immer niedriger wurde. Kein Wunder, sagte sich Marco. Früher waren die Leute auch viel kleiner als heutzutage. Schließlich blieb das Mädchen vor einer Kerkerpforte stehen. Mit beiden Händen zog sie an dem Griff. Die schwere Tür öffnete sich. Jasmin führte ihre beiden Verehrer in einen stinkenden, fensterlosen Raum. Ein Kerker, der in eine natürliche Höhle hineingebaut zu sein schien. Das Mädchen drehte sich dann abrupt um und leuchtete mit der Taschenlampe auf eine weitere Mauer. »Wir sind da!« Ihre Stimme klang wie das Klirren von Eiswürfeln in einem Glas. »Da?« echote Dirk. »Was sollen wir hier, Jasmin?« Sie deutete mit der Hand auf die grob übereinandergeschichteten Steine. »Hinter dieser Mauer liegt das Skelett von – Mark 43 �
Hellmann!« Das Verhalten ihrer Mitschülerin kam den beiden Jungen immer absonderlicher vor. Geradezu unheimlich. »Was erzählst du da für eine Scheiße, Jasmin?« Auch Marco wurde es nun zu bunt. »Was soll das alles? Wer ist dieser Mark Hellmann?« Die Blonde ging nicht auf seine Frage ein. Sie breitete statt dessen die Arme aus. Warf den Nacken in den Kopf und brüllte: »Zeige dich, Meister!« Im nächsten Moment erschien Dracomar in einem unwirklichen Lichtkranz vor der Kerkermauer. * Verhungert! Ich lag nackt auf einer stinkenden Strohschütte. Die Ankündigung meines Hungertodes durch den Blutdruiden hatte mich nicht gerade kaltgelassen. Aber ich wäre nicht der Kämpfer des Rings, wenn ich nicht bis zum letzten Atemzug nach einem Ausweg suchen würde. Dracomar war verschwunden. Mein Siegelring zeigte keine dämonische Aktivität mehr an. Aber das mußte nichts bedeuten. Mächtigere Dämonen wie der Alte des Schreckens waren auch in der Lage, die Magie des Ringes zu täuschen. Das hatte ich schon mehrfach schmerzhaft erleben müssen. Vielleicht lauerte der Blutdruide irgendwo unsichtbar und weidete sich an meinem Zustand. Der Kerzenstummel war schon fast heruntergebrannt. Solange ich noch Licht hatte, wollte ich nach einer Fluchtmöglichkeit suchen. Ich erhob mich von meinem Lager. Vorsichtig packte ich die kleine Wachsleuchte und führte sie an der niedrigen Decke ent44 �
lang. Da ich für diese Räumlichkeiten zu groß war, mußte ich gebückt stehen. Nur an wenigen Stellen konnte ich mich ganz aufrichten. Nirgendwo war ein Fenster zu sehen. Oder auch nur ein Mauerspalt. Blieb als einziger Ausweg die Tür. Aber die würde von den vampirischen Schergen wohl gut verrammelt worden sein. Ich drückte meine rechte Schulter hart gegen das rohe Holz. Es gab nach! Was hatte das zu bedeuten? Vorsichtig schob ich meinen Oberkörper durch die Tür. Ich hielt den Kerzenstummel vor mich. Hoffnung keimte in mir auf. Um im nächsten Moment brutal zerstört zu werden. Vor mir war ein weiterer kleiner Kerkerraum zu erkennen. Dahinter schien es in eine Höhle zu gehen. Aber diesen Fluchtweg hatten die Dämonen zugemauert! Ich würde hier wohl wirklich elend krepieren müssen. * Dirk Müller schrie leise auf. Der Anblick der Horrorgestalt hatte ihn geschockt. Das entstellte Gesicht von Dracomar wirkte im Schein der Fackeln, die ebenfalls plötzlich aus dem Nichts erschienen waren, wie der schlimmste Alptraum. Marco Wiese reagierte äußerlich cool. Doch auch er stand Todesängste aus. Keine der Gestalten aus seinen Romanen war so entsetzlich wie diese Kreatur. Dirk verlor die Nerven. »Ich will hier raus!« brüllte er. Mit einer panischen Bewegung stieß er den verblüfften Marco zur Seite und rannte in die Dunkelheit hinaus. Die Taschenlampe hatte ja Jasmin. Und die Leuchtkraft der Fackeln reichte nicht sehr weit. Aber das war ihm egal. Nur weg! Nur raus aus diesem Kellergewölbe! 45 �
Der Junge stieß sich an einer Wand den Schädel blutig. Er fühlte kaum, wie die warme Flüssigkeit über sein Gesicht lief. Denn nun spürte er die steilen Stufen der Kellertreppe unter seinen Turnschuhen. Da hörte er eilige Schritte, die ihm folgten! Nein! dachte Dirk Müller. Dieses Vampir-Monster ist hinter mir her! Dracomars Fangzähne waren nicht zu übersehen gewesen. Und obwohl sich der Technik-Freak nicht für Übersinnliches interessierte, soviel wußte er doch über das Aussehen der Blutsauger. Er beschleunigte noch. Kam sich vor wie beim 10.000-MeterLauf des letzten Schulfestes des Fichte-Gymnasiums. Nur daß es diesmal nicht um eine Medaille ging. Sondern ums nackte Überleben! Drei Stufen versuchte er auf einmal zu nehmen. Das war zuviel. Er rutschte auf dem feuchten Stein aus. Dadurch schmolz sein Vorsprung zusammen. Seine Zähne klapperten vor Angst. Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Da war sein Verfolger schon bei ihm. Dirk schrie auf. Aber dann spürte er, daß nicht die Horrorgestalt mit dem schwarzen Umhang hinter ihm auf der Treppe war, sondern Jasmin Mertens. Sogar in der fast völligen Dunkelheit konnte er ihr geiles Parfüm riechen. »Jasmin!« japste der Junge. »Schnell! Wir müssen abhauen! Das ist der pure Wahnsinn!« »Du gehst nirgendwo hin«, flüsterte das Mädchen mit einem Unterton, der ihn vor Schreck erstarren ließ. Und dann war sie auch schon über ihm. Dirk Müller war alles andere als ein Schwächling. Seine Eins in Sport und seine Mitgliedschaft in einem Boxklub waren die besten Beweise für seine Fitness. Doch das nützte ihm jetzt über46 �
haupt nichts. Das schlanke Mädchen hatte irgendwoher Bärenkräfte bekommen. Sie hob ihn mit beiden Händen auf und schleuderte ihn wieder auf die Treppe. Dirk spürte, wie seine Schneidezähne herausbrachen. Doch er war viel zu panisch, um den Schmerz wirklich empfinden zu können. Wie bei den Menschen der Steinzeit waren seine uralten Fluchtinstinkte erwacht. Er hatte kapiert, daß ein Kampf mit Jasmin sinnlos war. Das Mädchen mußte von einem Dämon besessen sein. Einmal schaffte er es noch, sich aufzuraffen. Dann packte die Blonde mit beiden Händen in sein Haar. Riß mit einem fürchterlichen Ruck seinen Kopf nach hinten. Es gab ein widerwärtiges Knacken. Dirk Müllers Genick brach. Sein Körper erschlaffte. Unbeteiligt wie ein Zombie ließ Jasmin Mertens die Leiche zur Seite gleiten. Der Tote rollte einige Treppenstufen nach unten und blieb dann liegen. Sie kletterte über ihn hinweg. Kehrte zu ihrem Meister Dracomar zurück. Und zu Marco Wiese, den sie in der Gesellschaft des Blutdruiden zurückgelassen hatte. Der Horrorfan in dem schwarzen Hemd wirkte wie versteinert. Er war so starr vor Angst, daß er keinen Finger gerührt hatte, seit Jasmin und Dirk verschwunden waren. »Was hast du getan?« fragte Dracomar mit seiner Grabesstimme. »Ich habe ihn getötet, Meister.« »Verfluchte Närrin!« Der Alte des Schreckens schlug ihr seine Krallen ins Gesicht. Aufheulend ging das Mädchen zu Boden. »Habe ich dir befohlen, ihn umzubringen? – Nein!« Jasmin schlitterte über den feuchten Steinboden. Blut tropfte aus ihrer Nase. Sie wollte so gerne ihrem Meister gehorsam sein. Sie wußte nicht, warum sie Dirks Leben einfach ausgelöscht 47 �
hatte. Es war ein dumpfer Drang in ihr gewesen. Der dämonische Wunsch zu töten. Mit gesenktem Kopf erwartete sie ihre Strafe. »Aber es ist nicht so schlimm«, meinte Dracomar nach einer Weile gönnerhaft. Er deutete mit dem Daumen auf Marco Wiese. »Wir haben ja noch den da!« Der Junge glaubte, sein Herz würde stehenbleiben. Was mochten diese vampirische Kreatur und die offenbar von ihm verhexte Jasmin mit ihm vorhaben.? * Tessa Hayden brütete über einem dicken Schmöker. Normalerweise gehörte das Wälzen von Geschichtsbüchern nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Aber nachdem sie das Foto von Mark Hellmann in der Touristenbroschüre über München gesehen hatte, wollte sie mehr über König Ludwig II erfahren. Ihre Hilflosigkeit machte sie krank. Die Polizistin konnte sich an allen zehn Fingern abzählen, daß Mark wieder einmal in die Vergangenheit gereist war. Hatten ihn die Männer in dem Mercedes dazu gezwungen? Um dann im 19. Jahrhundert Leibwächter für einen bayerischen Monarchen zu spielen? Tessa runzelte die Stirn und las weiter. Der Tod des Königs gehört zu den ungelösten Rätseln der Deutschen Geschichte. Bis heute sind die Umstände seines Todes am 13.6.1886 ungeklärt. Als sicher gilt, daß der wegen seiner Schwermut in Behandlung befindliche Regent mit seinem Nervenarzt Dr. Bernhard von Gudden einen Spaziergang am Starnberger See machte. Die bayerische Regierung hatte den König bereits am 10.6. abgesetzt und auf Schloß Berg bringen lassen. In den letzten Jahren vor seinem Tod lebte er sehr zurückgezogen. 48 �
Es hieß, er würde sich in die Fantasiewelt von Opern und Sagen flüchten. Im bayerischen Volk hält sich bis heute das Gerücht, der König wäre damals nicht ertrunken. Der Legende nach soll er sich im Natternberg bei Deggendorf verborgen halten, um eines Tages zurückzukehren. Tessa rieb sich die Augen. Es war weit nach Mitternacht. Am nächsten Tag würde sie wieder hart arbeiten müssen. Aber die Geschichte von dem jung gestorbenen König ging ihr nicht aus dem Kopf. Dann kam ihr ein verrückter Gedanke. Was wäre, wenn der König wirklich noch lebt? sagte sie sich. Wenn er Mark hat entführen lassen, damit der ihm in der Vergangenheit hilft? Die Idee ließ sie nicht mehr los. Und die Polizistin beschloß, an ihrem nächsten freien Wochenende mit ihrem Motorrad einen Ausflug ins niederbayerische Deggendorf zu unternehmen. * Der Kerzenstummel war schon lange erloschen. Meine letzte Hoffnung war es gewesen, mit Hilfe meines Ringes in die Gegenwart zurückkehren zu können. Doch auch das klappte nicht. Dracomar mußte einen speziellen Bann über meinen Kerker gelegt haben. Jedenfalls reagierte das Kleinod überhaupt nicht, als ich es zu aktivieren versuchte. Ich verfiel in dumpfe Verzweiflung. Irgendwann mußte ich eingeschlafen sein. Von meinem eigenen Magenknurren wachte ich wieder auf. Das Zeitgefühl hatte ich völlig verloren. Waren Stunden oder bereits Tage vergangen? Ich fuhr mit der Hand über mein Kinn. Der Bart war inzwischen kaum gewachsen, also konnte ich noch nicht allzu lange gefangen sein. Die Worte von Dracomar gingen mir durch den Kopf. Er hatte von einem ersten Schritt gesprochen, um die Weiße Magie in diesem 49 �
Kellergewölbe zu brechen. Oder war das bereits geschehen? Wenn die Kraft des Guten hier unten so mächtig war, warum funktionierte dann mein Ring nicht? Mir schwirrte der Kopf. Da hörte ich etwas. Mit einem Schlag war ich hellwach. War da draußen eine Ratte? Oder – ein Mensch? Ich sprang auf und stieß mir sofort den Kopf an der niedrigen Decke. Es tat gemein weh. Ich mußte die Schmerzen ignorieren und kroch zu der Kerkertür. Mit beiden Fäusten hämmerte ich dagegen. Wenn jemand dort hinten war, mußte er sich noch jenseits der zweiten Mauer befinden. Ich mußte also tüchtig Krach machen, um gehört zu werden. Und das tat ich. »Hilfe!!!« brüllte ich aus Leibeskräften. Meine Fäuste donnerten wie Vorschlaghämmer gegen das Holz. »Ich bin hier eingemauert! Hilfe!!!« Immer wieder schrie ich die Verzweiflung hinaus, bis die Lungen pfiffen. Die Stille wirkte erdrückend, als ich eine Pause machen mußte. Doch dann hörte ich eine Antwort. »Halten Sie durch! Ich hole die Dienerschaft!« Die Stimme war leise gewesen im Vergleich zu meiner eigenen. Aber die Worte waren eindeutig. Erleichtert ließ ich mich an der Tür hinabgleiten. Und dankte den wohlmeinenden Kräften des Universums, daß sie mir wieder einmal beigestanden hatten. * Es dauerte eine Zeit, bis man die von den Vampiren errichtete Mauer teilweise niedergerissen hatte. Doch ich faßte mich gerne in Geduld. Ab und zu rief ich den Rettern etwas Aufmunterndes hinüber. Damit sie auch hörten, daß hier wirklich jemand in Schwierigkeiten steckte. Nach einer halben Ewigkeit öffnete sich die Kerkertür. 50 �
Der Schein von einigen Laternen blendete meine an Dunkelheit gewöhnten Augen. Doch das nahm ich gern in Kauf. »Wos für a Brockn!« sagte ein Mann in einer Diener-Livree mit einem Blick auf meine hochgewachsene, kräftige Figur. Daß ich nackt war, schien den Männern kaum aufzufallen. Sie sahen aus, als würden sie mich für eine Art Erdgeist halten. Meine Retter waren starke bayerische Dorfburschen. Sie hielten Spitzhacken und Stemmeisen in den Händen, einige auch Laternen. Und alle trugen eine Art Diener-Uniform. Alle. Bis auf einen. Dieser Mann war kleiner als die anderen. Er war mit Gehrock und Samtweste nach der Mode des späten 19. Jahrhunderts gekleidet. Sein schmales Gesicht war mit einem Backenbart geziert. Auf dem Kopf hatte er eine schirmlose Kappe. »Was für eine Gestalt!« sagte er mit seiner leisen Stimme. »Wie aus einer meiner Opern entsprungen!« Ich schluckte trocken. Für einen Moment vergaß ich sogar meinen Hunger. Doch ein Irrtum war ausgeschlossen. Der Kleine sah so aus wie auf einer Fotografie, die ich einmal gesehen hatte. Der Mann, der meine Hilferufe gehört hatte, war kein anderer als der berühmte Komponist Richard Wagner! * »Jo mei«, sagte ein Diener namens Sepp beeindruckt, »dös hob i ja noch nimmer gsehn, dos einer so viele Leberkässemmeln verdrückn künnt.« Ich glaubte ihm aufs Wort. Nachdem ich gebadet und mich mit einem Messer rasiert hatte, saß ich nun in der Küche von Schloß Berg. Vor mir hatten fürsorgliche Hände eine riesige Menge von Brötchen mit Leberkäse aufgeschichtet. In kürzester Zeit hatte ich alle verputzt. Und spülte nun genußvoll mit einer Maß Weiß51 �
bier nach. Angezogen war ich inzwischen auch. Mit einer schwarzen Hose und Weste zu einem weißen Hemd mit Kragen wirkte ich wie ein Büroangestellter oder Beamter vor rund hundert Jahren. Daß ich in der richtigen Zeit gelandet war, stand nun außer Frage. Denn der Abreißkalender in der Küche zeigte eindeutig den 10. Juni 1886 an. Drei Tage vor dem Tod von König Ludwig II. Nachdem ich mein Bier ausgetrunken hatte, geleitete mich Sepp in die Gemächer von Richard Wagner. Die Diener hatten mich mit neugierigen Fragen bestürmt. Aber ich hatte nur geheimnisvoll gelächelt und mir die nächste Leberkäsesemmel hinter die Kiemen geschoben. Doch so leicht würde sich der Komponist vermutlich nicht abspeisen lassen. Der kleine Mann stand an einem Stehpult, als ich seinen Salon betrat. Ein Federhalter kratzte in irrsinnigem Tempo über das Papier. Er blickte auf, als ich mich räusperte. »Sie sind es!« rief er mit einem seligen Unterton. »Die Muse hat mich geküßt! Ihre Entdeckung hinter Kerkermauern – das ist es! Ich schreibe gerade das Libretto für eine neue Oper! ›Der Gefangene des Teufels‹ soll sie heißen!« Ich biß die Zähne zusammen. Was ich hatte verhindern wollen, war schon eingetreten. Meine Zeitreise würde den Lauf der Geschichte verändern. Ich bin zwar kein Opernexperte. Aber ich wußte hundertprozentig, daß Richard Wagner niemals ein Stück geschrieben hatte, das »Der Gefangene des Teufels« hieß. Jedenfalls war kein Stück mit dem Namen aufgeführt worden. »Wie kommen Sie auf den Titel, Herr Wagner?« fragte ich mit tonloser Stimme. Wieviel wußte der Komponist über die unheimlichen Dinge, die sich in dem Kerker abgespielt hatten? Er musterte mich mit einem listigen Lächeln. »Erst mal berichten Sie, wie Sie in die Gewölbe gelangt sind, Herr.« 52 �
»Hellmann. Markus Hellmann, aus Weimar. Student der Völkerkunde.« Ich hatte das Examen zwar schon hinter mir, aber ich wollte mich nicht als Kämpfer des Rings aus dem Jahre 1999 vorstellen. Die Verwirrung würde wahrscheinlich auch so schon groß genug sein. Wagner ließ türkischen Mokka servieren und schaute mich erwartungsvoll an. »Ich bin nach München gekommen, um Bücher für eine Studienarbeit zu suchen«, begann ich mit meiner Lügengeschichte. Wenn ich die Wahrheit erzählte, würde ich in einer Nervenklinik landen. »Ich muß hinzufügen, daß ich ein leidenschaftlicher Schwimmer bin, Herr Wagner. Deshalb entschloß ich mich, den Starnberger See zu durchqueren. Ich ging drüben bei Tutzing ins Wasser. Das ist – äh – das letzte, woran ich mich erinnern kann.« Die Story war zwar etwas dürftig, aber sie erklärte immerhin, warum ich nackt gewesen war. Der Komponist wiegte zweifelnd den Kopf und hielt mir eine Zigarrenkiste hin. Ich machte eine verneinende Bewegung. Richard Wagner zündete sich selbst eine Zigarre an. »Ich frage mich, wer sie dort unten eingemauert hat, Herr Hellmann. Was für einen Grund sollte es dafür geben? Ich fürchte fast, es könnte eine Intrige gegen unseren guten König dahinterstecken. Welche Rolle Sie dabei spielen, weiß ich noch nicht.« »Sie meinen gegen Ludwig II.? Ich bin da ganz neutral, Herr Wagner. Schließlich komme ich aus einem anderen Land. Aus Thüringen.« »Genau das ist mein Problem, Herr Hellmann. Ich frage mich, ob Sie unserem König schaden wollen oder nicht. Sie wissen sicher, daß Seine Majestät und ich in Freundschaft verbunden sind.« 53 �
Darüber hatte ich schon gelesen. Aber ich ließ ihn weiterreden. Schließlich wollte ich ja herausfinden, wer hinter dem Attentat auf Ludwig II. steckte. »Es gibt Kräfte in diesem Land, die den König tot sehen wollen«, fuhr Richard Wagner düster fort. »Tot oder entmachtet. Deshalb auch diese Gerüchte über seinen Geisteszustand.« »Geisteszustand?« »Ludwig II. ist nicht verrückt! Ich kenne keinen geistig gesünderen Menschen als ihn! Diese Sache mit dem Pfauenwagen.« Er brach ab. »Was für ein Pfauenwagen, Herr Wagner?« Der Komponist seufzte. »Eine Schnapsidee, wie die einfachen Leute sagen. Aber doch kein Zeichen von Irrsinn! Der König hat den Bühnentechniker Friedrich Brandt beauftragt, einen Pfauenwagen zu konstruieren. Das soll eine Art Flugmaschine sein. Wir wissen natürlich alle, daß es unmöglich ist, einen Apparat in der Luft herumfliegen zu lassen. Aber ich selbst glaube, der König wollte sich nur an dem Anblick des Pfauenwagens erfreuen. Doch für einige Politiker ist dieser Flugmaschinenauftrag der schlagende Beweis für den Wahnsinn Seiner Majestät!« Ich mußte mir ein Grinsen verkneifen. Nur zehn Jahre, nachdem Richard Wagner diese Worte aussprach, machten die ersten Einmotorigen den deutschen Luftraum unsicher. Der Komponist mußte meine Reaktion bemerkt haben. »Wie denken Sie darüber, Herr Hellmann?« »Ich halte es nicht für unmöglich, daß Menschen sich eines Tages von Maschinen durch den Himmel tragen lassen können.« Wagner lachte. »Sie sind ein Träumer, wie mein Freund Ludwig! Aber ich.« In diesem Moment stürzte ein Kammerdiener herein, ohne anzuklopfen. Der große Künstler erbleichte angesichts der Unhöflichkeit. Doch der Mann hielt ihm mit zitternden Händen 54 �
ein Telegramm entgegen. »Höchste Dringlichkeitsstufe!« Wagner riß das Papier auf. Dann sackte er in sich zusammen. »Begleiten Sie mich nach München, Herr Hellmann? Ich kann jetzt nicht allein sein. Die bayerische Regierung hat Ludwig II für abgesetzt erklärt. Wegen Krankheit.« * Dracomar triumphierte. Auf einer anderen Zeitebene hatte er gerade den Hungertod von Mark Hellmann in den Gewölben eingefädelt. Nun mußte er nur noch ein wenig Geduld haben, um den zweiten Teil der Prophezeiung zu erfüllen. Damit der Keller von Schloß Berg wieder zu einer Brutstätte des Bösen werden konnte. Die Voraussetzungen waren günstig. Jasmin Mertens und ihr Schulkamerad Marco Wiese kamen dem Blutdruiden wie gerufen. Er brauchte sie, um den Bann der Weißen Magie zu brechen. Außer dem Tod eines Mannes mit reinem Herzen war es erforderlich, daß eine Jungfrau in diesem Gewölbe zum ersten Mal in ihrem Leben Sex hatte. Und danach ihren Liebhaber erwürgte! Diese Rolle hatte Dracomar für Marco Wiese vorgesehen. Wenn diese Untat bei Vollmond geschah, erwachten die bösen Kräfte des unheiligen Ortes aufs Neue. Der Alte des Schreckens konnte es kaum erwarten, die Pläne seines Herrn Mephisto zu erfüllen. Wenn diesmal alles glattging, würde auch seine eigene Macht in der höllischen Hackordnung wieder anwachsen. In letzter Zeit war er ja fast abgeschoben worden. Ungeduldig wartete Dracomar darauf, daß sich die runde Scheibe des Mondes hinter den Wolken hervorschob.
55 �
* � Hektisch ließ sich der kleine Komponist Zylinder und Gehrock reichen. Er hatte die Pferde schon vor seine Kutsche spannen lassen. Ich folgte ihm auf dem Fuß, während er auf seinen kurzen Beinen zu dem Wagen eilte. Es war ein hochrädriges Gefährt mit Verdeck. »Nach München!« rief Richard Wagner. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen. Eine riesige Staubwolke entstand. Der Sommer 1886 mußte ziemlich trocken sein. Mir lag eine Frage auf der Zunge, die ich unbedingt loswerden mußte. »Diese Oper über meine Rettung, Herr Wagner. Warum wollten Sie das Stück ›Der Gefangene des Teufels‹ nennen?« »Hm?« Geistesabwesend blickte mich der Komponist an. Er schien in Gedanken schon bei seinem Freund Ludwig II. in München zu sein. »Ganz im Vertrauen, Herr Hellmann. Ich interessiere mich für Übersinnliches. Eine Leidenschaft, die auch Ludwig mit mir teilt. Es gibt eine Legende, daß in dem Kellergewölbe von Schloß Berg ein alter Kultplatz des Bösen sein soll. Der König hat daraufhin vor einiger Zeit das Gebäude sozusagen exorzieren lassen. Nun liegt ein Bann der Weißen Magie auf dem Keller. Ich hoffe, Sie finden diese Dinge nicht lächerlich.« »Ganz und gar nicht.« Es stimmte also, dachte ich. Dracomar hatte nicht gesponnen. Der König hatte sich mit Mephisto angelegt, indem er dessen böse Stätte zerstört hatte. Und die Rache des Höllenfürsten war Ludwig II. gewiß. Richard Wagner lächelte. »Sie haben meiner Vorliebe für das Unheimliche Ihr Leben zu verdanken, Herr Hellmann. Wenn ich nicht auf der Suche nach Inspiration durch das Gewölbe geschlendert wäre.« »…dann wäre ich dort unten elendig verhungert«, vollendete ich den Satz und wollte dem bekannten Komponisten noch ein56 �
mal danken. Doch dazu kam es nicht. Denn in diesem Moment wurde die Kutsche überfallen! * Dunkle Gestalten schienen aus dem Nichts zu kommen. Sie sprangen von links und rechts gleichzeitig auf die Trittbretter des Wagens. Die Pferde scheuten. Einer der Angreifer rang bereits mit unserem Kutscher, der sich mit der Peitsche verteidigte. »Haderlumpn, damische!« rief er aus. Ich selbst machte mich ebenfalls zur Abwehr bereit. Breitbeinig stand ich auf, um in der immer noch weiterrollenden Kutsche nicht umzufallen. Meinen linken Stiefel rammte ich einem der Kerle in den Bauch. Hielt mich dabei am Verdeck fest. Mein Tritt hatte offenbar gesessen. Ächzend fiel der Unbekannte in den Staub. Doch da war schon der nächste heran. Fünf oder sechs von ihnen mußten uns aufgelauert haben. Wie seine Kumpanen war er in einen ziemlich abgeschabten schwarzen Anzug gekleidet. Sein Schlapphut ließ mich für einen Moment an den Blutdruiden denken. Aber der konnte auf magische Kräfte zurückgreifen. Und die waren viel wirkungsvoller als »irdische« Waffen. Dracomar mußte mich nicht mit einem Bleirohr attackieren, wie es dieser Angreifer tat. Ich blockte seinen Schlag ab und donnerte ihm eine linke Gerade mitten ins Gesicht. Mein Ring zeigte keine schwarzmagische Aktivität an. Auch prickelte er nicht. Diese Leute waren keine Dämonen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Vielleicht waren es Straßenräuber. Darüber konnte ich mir später Gedanken machen. Ich wollte dem Kutscher zu Hilfe eilen. Zu spät. Er wurde böse zusammengeschlagen und gerade vom Bock gestoßen. Ich verpaßte mei57 �
nem Gegner noch ein paar Schläge und entwand ihm das Bleirohr. Stieß es gegen sein Kinn. Und traf offenbar genau den Punkt. Der Mann in Schwarz küßte ebenfalls den Straßenstaub. Ich stellte meinen Fuß auf das Trittbrett, um mich zum Kutschbock vorzukämpfen. Da brachte mich eine schneidende Stimme zum Stehen. »Halt! Oder der Opernheini singt gleich seine letzte Arie!« Ich drehte mich nach rechts. Im Eifer des Gefechts hatte ich Richard Wagner völlig vergessen. Er saß nun zitternd auf den Sitzpolstern. Und dazu hatte er auch allen Grund. Denn eine Messerspitze drückte gegen seinen Kehlkopf! Die Waffe lag in der weißen, feingliedrigen Hand einer Frau. Ich blinzelte. Mußte zweimal hinsehen, um es glauben zu können. Die Messerheldin trug einen Hosenrock, der bis zu ihren schlanken Waden reichte. In einer Zeit, in der Frauen meist bodenlange Kleider mit unzähligen Unterröcken spazierenführten, war das ein fast schon bequemes Kleidungsstück. Ihre mächtige Oberweite konnte man dank der weit aufgeknöpften schwarzen Bluse eingehend bewundern. Ein prachtvoller Anblick, für den leider in dieser Situation nicht viel Zeit blieb. Genauso wenig Zeit hatte ich für ihr bildschönes Gesicht mit den grünen Augen. Unter einer schwarzen Samtkappe hatten sich einige lange, rote Haarsträhnen den Weg ans Tageslicht gebahnt. »Hinsetzen und Hände hoch!« herrschte sie mich erneut an. »Oder du kannst im Blut deines Künstlerfreundes baden!« Grollend kam ich dem Befehl nach. Meine Chancen standen wirklich nicht gut. Den Kutscher konnte ich vergessen. Der brauchte selber Hilfe. Und Richard Wagner? Wenn ihm etwas zustieß, würde das unabsehbare Folgen für die Geschichte 58 �
haben. Das konnte ich nicht riskieren. Also fügte ich mich in mein Schicksal. Mit einem triumphierenden Lachen befahl die Rothaarige ihren Kumpanen, meine Hände zu fesseln. Das Messer war immer noch auf den Komponisten gerichtet. Die Halsabschneider in Schwarz schienen darauf zu brennen, mir eine Abreibung zu verpassen. Um mir meine Abwehrschläge heimzuzahlen. Doch die Frau hielt sie zurück. »Eile mit Weile, Genossen!« rief sie. »Wir wissen noch nicht, ob der da ein stinkender Bürgersohn ist, der uns den Tod geschworen hat. Oder ob er vielleicht sogar bereit ist, für die schwarze Fahne der Freiheit zu kämpfen!« »Du bist zu menschenfreundlich, Luise«, brummte ein Vollbärtiger, während er sich mit dem Mantel und Zylinder des ohnmächtigen Kutschers verkleidete. »Das wird uns noch alle an den Galgen bringen.« »Wenn ich keine Menschenfreundin wäre«, erwiderte die vollbusige Rothaarige spitz, »dann würde ich immer noch als braves Bürgermädel Deckchen sticken, anstatt mit der Waffe gegen die Tyrannen aufzustehen.« Damit hatte sie die Lacher der Gruppe auf ihrer Seite. Und ich sah etwas klarer. Die Leute, die uns überfallen hatten, waren Anarchisten! Ich dachte an eine langweilige Uni-Vorlesung zurück, die ich einmal über den Anarchismus gehört hatte. Der Kern dieser sogenannten Lehre war die Ablehnung von Macht und Unterdrückung jeder Art. Ein alter Menschheitstraum, der Romantiker und Weltverbesserer aller Art magisch anzog. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebte der Anarchismus eine Blütezeit. Damals versuchten vor allem die Anhänger des russischen Anarchisten Bakunin, mit Gewalt und Terror ihre Ziele durchzusetzen. Opfer ihrer Anschläge waren meist hochgestellte 59 �
Persönlichkeiten, auch Könige. Ich erschrak bei diesem Gedanken. Saß ich mit den künftigen Mördern von Ludwig II. in einer Kutsche? Inzwischen rollte der hochrädrige Wagen wieder dahin, als ob nichts geschehen wäre. Nur mit dem Unterschied, daß ein verkleideter Anarchist als Kutscher auf dem Bock saß. Das Mädchen mit Namen Luise und zwei ihrer »Genossen« hockten uns gegenüber. Luise hatte ihr Messer weggesteckt. Doch die beiden Anarchisten richteten ihre Revolver auf Richard Wagner und mich. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß sie die Schießeisen auch benutzen würden. In ihren Augen funkelte eine wahnwitzige Entschlossenheit. Nur die rothaarige Wuchtbrumme schien einen kühlen Kopf zu bewahren. »Also, du blonder Hüne«, wandte sie sich an mich, »ich will jetzt alles über dich erfahren. Was bist du für ein Mensch? Du scheinst einer Oper von diesem alten Trottel da entsprungen zu sein!« Sie deutete auf den Komponisten. Er zuckte bei ihren Worten zusammen. Und die beiden Schwarzgekleideten grinsten wieder schäbig. »Ich weiß nicht, was ich für ein Mensch bin, wertes Fräulein«, erwiderte ich kühl und im Stil der Zeit. »Aber wenn Eure Sache der Freiheit darin besteht, einen wehrlosen alten Mann zu beleidigen, dann kann ich auf die Befreiung von der Tyrannei verzichten!« Die Anarchisten fletschten die Zähne, als ob sie mich am liebsten sofort niedergeknallt hätten. Aber Luise warf den Kopf in den Nacken und lachte hell auf. »An Mut mangelt es dir jedenfalls nicht! Wie heißt du, Fremder?« fragte sie mit kräftiger Stimme und gewährte noch tiefere Einblicke, so daß mir mehr als heiß wurde. 60 �
»Markus Hellmann. Student aus Thüringen.« »Und was machst du hier in Begleitung dieses alten.« – sie legte eine Kunstpause ein – »Musikers?« »Ich bin ein Experte für deutsche Märchen und Sagen«, erzählte ich. Das war noch nicht einmal gelogen. »Herr Wagner bat mich, ihn zu beraten. Seine nächste Oper soll zur Zeit unserer germanischen Vorfahren spielen, als.« Plötzlich bekam Luise einen Wutanfall. »Germanen!« keifte sie. »Siegfried, der Drache und das ganze Nibelungen-Gesocks! Die alten Kamellen aus der Vergangenheit! In der Reichshauptstadt verhungern Arbeiterkinder, Herr Wagner! Wie wäre es denn mal mit einer Oper darüber?« Der Komponist kniff die Lippen zusammen. Aber die Anarchistin hatte wohl auch nicht im Ernst geglaubt, er würde ihre Frage beantworten. Gleich darauf hatte Luise sich wieder in der Gewalt. Benahm sich honigsüß. »Wie schön, daß unser König und Herr Wagner so gute Freunde sind. Wir werden jetzt geradewegs in die Residenz fahren. In der Begleitung von Richard Wagner wird man uns bis zu Seiner Majestät vorlassen. Und dann werden wir sehen, ob adeliges Blut den Revolverkugeln des Volkes widerstehen kann!« * Tessa Hayden startete in aller Herrgottsfrühe ihr Motorrad. Die Autobahnen waren an diesem Samstag vor Sonnenaufgang noch ziemlich leer. Nur auf der Gegenfahrbahn schoben sich endlose Kolonnen von stinkenden tschechischen, polnischen und weißrussischen Sattelschleppern Richtung Westen. Der grenzüberschreitende Handel nahm immer mehr zu. Man konnte es sogar riechen. 61 �
Franken begrüßte die Besucherin aus Thüringen mit einem strahlend blauen Vormittagshimmel. Es hätte ein schöner Wochenendausflug sein können. Wäre da nicht die Sorge um Mark Hellmann gewesen, die wie Säure an Tessas Seele fraß. Vorbei an Regensburg und Straubing gelangte die Polizistin endlich nach Deggendorf, wo sie von der Autobahn herunterfuhr. Tessa verfügte über einen guten Orientierungssinn. Sie brauchte nicht lange, um den Natternberg zu finden. Auf einem Parkplatz an einem Wanderweg ließ sie ihren fahrbaren Untersatz stehen. Die Polizistin begann sofort mit dem Aufstieg des kleinen Berges. Sie trug eine lindgrüne Biker-Kombi aus Leder, die wärmte, aber auch wetterfest war. Schon bald beschlich Tessa ein ungutes Gefühl. In ihrem harten Dienstalltag hatte sie eine Art sechsten Sinn entwickelt. Er schützte sie oft vor Gefahren. Diese Vorahnungen waren zwar nicht mit Marks Ring vergleichbar, auch verfügte die junge Frau über keine übernatürlichen Fähigkeiten, aber immerhin. Die Vorahnungen stellten sich auch an diesem Samstag am Natternberg ein, als sie zwischen den immer dichter stehenden Fichten emporkletterte. Der Weg wurde zunehmend steiler. Ein Rauschen ertönte plötzlich und unerwartet. Heißer Schwefelgestank strich über Tessas schönes Gesicht. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie. Die junge Frau drehte sich um und wollte den Berg wieder hinabhetzen. Doch es war zu spät. »Du hättest nicht herkommen sollen, kleine Tessa.« Die Polizistin biß die Zähne zusammen. Dieser falsche, salbungsvolle Ton kam ihr nur allzu bekannt vor. Es gab nur einen, dessen ›Markenzeichen‹ diese höllischen Schwefelschwaden waren. Der Todfeind von Mark Hellmann. 62 �
Mephisto! � * � Plötzlich war er da. An diesem Tag erschien er in der traditionellen Gestalt. Wie ihn Maler des Mittelalters mit zitternder Hand zu Papier gebracht hatten. Aus Mephistos leuchtendroter Stirn wuchsen Bockshörner. Sein magerer Körper war mit einem Fell bedeckt. Neben einem ›normalen‹! Bein hatte er als zweites den teuflischen Bocksfuß. Und die schwarzen Krallen an seinen Armen hielten einen Dreizack. Auf Armeslänge von Tessa entfernt schien er mitten aus dem Weg gewachsen zu sein. Unwillkürlich zuckte die Polizistin zurück. Mephisto schüttete sich aus vor Lachen. »Keine Angst, kleine Tessa! Ich nehme dich nicht mit in die Hölle! Noch nicht. Ich habe andere Pläne mit dir!« »Laß mich in Ruhe, du Scheusal!« schnappte Marks Freundin. Inzwischen war ihre Wut größer als ihre Angst. »Mark wird dir dein schwarzes Fell gerben, Mefir!« Mephisto schnaubte. Er mochte es überhaupt nicht, wenn er mit seinem Beinamen »Mefir« angeredet wurde. Dieser hebräische Begriff heißt nämlich nichts anderes als »Lügner«. »Genauso frech wie Mark Hellmann«, erwiderte er mit mühsamer Beherrschung. »Und doch läßt du dich manchmal leicht beeindrucken, Tessa Hayden. Meinen kleinen Scherz mit der Todesanzeige hast du für bare Münze genommen.« Das Blut stieg der brünetten Frau ins Gesicht. Aber sie wollte sich ihren Ärger nicht anmerken lassen. »Du mußt ja schon ganz schön runtergekommen sein, wenn du als Höllenfürst zu solchen Kindergartentricks greifst!« Diesmal hatte sie es zu weit getrieben. Aus Mephistos Zeigefin63 �
ger zuckte ein kleiner Blitz. Tessa fühlte sich, als wäre sie auf dem Motorrad von einem LKW gerammt worden. Wie eine Puppe wurde sie gegen einen Baumstamm geschleudert. »Kleine Kröte«, knurrte der Teufel. »Sei froh, daß ich heute gute Laune habe. Du hast dich übrigens nicht getäuscht, Tessa. Dieser König Ludwig II. sitzt wirklich hier im Natternberg. Aber nicht mehr lange. Denn schon bald werde ich ihn zu mir in die Hölle holen!« Mit diesen Worten verschwand Mephisto in einer Feuersäule. * Der Vollmond warf sein fahles Licht über Schloß Berg. Natürlich konnte man das von dem fensterlosen Kerker aus nicht erkennen. Aber das war auch nicht notwendig. Dracomar hatte mit seinem vampirischen Instinkt gespürt, daß sich die Wolken verzogen hatten. Diskret ließ der Blutdruide seine schreckliche Gestalt in einem dunklen Winkel des Kerkers verschwinden. Nun war seine willenlose Dienerin Jasmin Mertens an der Reihe. Jetzt lag es an ihr, den weißmagischen Bann des Kellergewölbes zu brechen. Dracomar war sicher, daß sie ihn nicht enttäuschen würde. Marco Wiese stand immer noch wie gelähmt im Schein der Zauberfackeln. Ihr Licht flackerte unheimlich auf der hellen Haut seiner Klassenkameradin. Das Mädchen stemmte ihre Hände in ihre sexy Hüften. Ihre Zungenspitze erschien zwischen den Lippen und leckte einmal ganz um den verführerischen Mund. Unter anderen Umständen wäre der Junge sofort scharf geworden wie Nachbars Lumpi. Aber in einem feuchten, moderigen Keller, mit einem dämonischen Vampirwesen als Spanner in nächster Nähe? 64 �
Marco Wiese dachte in diesem Moment an alles andere, nur nicht an Sex. Jasmin Mertens spürte seine Zurückhaltung deutlich. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken. Suchte mit ihren weichen Lippen seinen Mund. Und drängte ihren formvollendeten Körper an ihn. »Ich will dich, Marco! Hier und jetzt.« Der Horrorfan stand kurz vor der Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches. Aber die Angst hatte ihn fest im Griff. Ein Entsetzen, wie er es nicht annähernd aus den schlimmsten seiner Romane kannte. Hatte Jasmin Dirk Müller wirklich umgebracht? Wenn nicht, wo war er abgeblieben? Ob er vielleicht Hilfe holte? Aber wer konnte schon etwas tun gegen solch ein Monstrum? Warum nannte Jasmin diese Kreatur »Meister«? Das Mädchen griff an seinen Gürtel. »Du bist ja noch gar nicht in Stimmung, Marco. Aber das werde ich schon noch ändern.« Plötzlich zog sie den Reißverschluß ihres weißen Minirocks herunter. Das Kleidungsstück glitt an ihren schlanken Schenkeln abwärts. Gefolgt vom Slip. Dann zog sie sich ihr lila Top über den Kopf. Splitternackt und lockend stand sie vor dem Jungen. * Der Anarchist auf dem Kutschbock lenkte den Wagen zum Königlichen Palais in München. Er schien sich in der Stadt gut auszukennen. Und ich hatte immer noch keine zündende Idee, wie ich den Anschlag auf Ludwig II verhindern sollte. Luise und ihre Komplizen würden Richard Wagner und mich mitnehmen. Einerseits, um überhaupt an den König heranzukommen. Und andererseits, um im Notfall Geiseln zu haben. Ich machte mir keine Illusionen. Die Rothaarige war ein ausgekoch65 �
tes Luder. Offenbar um einiges cleverer als ihre Gesinnungsgenossen. Obwohl die Anarchisten gegen jede Machtausübung kämpften, erteilte bei ihnen ganz eindeutig eine Person die Befehle. Und diese Person war Luise. Ich schnaubte verächtlich durch die Nase. Den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit hatte ich schon im DDR-Sozialismus zur Genüge kennengelernt. Wir fuhren auf das Tor des Palais zu. Luise hatte sich zwischen den Komponisten und mich gesetzt. Die Messerspitze drückte gegen seine Rippen. »Ein falsches Wort, und ich jage dir den Stahl ins Herz, Kapellmeisterlein«, spottete sie. Wagner nickte nur. Er war ein musikalisches Genie. Ein Künstler, der in den Sphären seiner Fantasie schwebte. Als Kämpfer völlig ungeeignet. Und meine Hände waren gefesselt. Luise hatte mir einen leichten Staubmantel um die Schultern legen lassen, damit niemandem auffiel, daß ich meine Arme auf dem Rücken verschränkt hatte. Sie überließ wirklich nichts dem Zufall. Das Tor wurde von einer Abteilung Gardisten bewacht. Ihre Uniformen ähnelten den preußischen, waren aber doch unverkennbar bayerisch. Der Kutscher brachte die Pferde zum Stehen. Ein Leutnant trat an den Wagen heran und salutierte. Ich bemerkte seine Nervosität. Kein Wunder. Gewiß hatten auch die Soldaten schon erfahren, daß der König abgesetzt worden war. Sie sahen unsicheren Zeiten entgegen. »Habe die Ehre, Herr Wagner! Wer sind Ihre Begleiter, Maestro?« »Herr Hellmann aus Weimar ist mein Privatsekretär. Die Dame ist seine Verlobte. Und diese beiden Herren – er deutete auf die Anarchisten auf der zweiten Sitzbank -»wollen als Kammerdie66 �
ner in die Dienste des Hofes eintreten.« Wie ein Automat spulte er die Lügengeschichte herab, die sich Luise für ihn zurechtgelegt hatte. Ich fragte mich, warum sie sich ausgerechnet eine Rolle als meine Verlobte ausgesucht hatte. Jedenfalls strahlte sie den Offizier scheinbar naiv an. Und beugte sich dabei so zu ihm hinunter, daß er bei den tiefen Einblicken seinen Spaß hatte. Ich übrigens auch. »Passieren!« sagte der Leutnant mit heiserer Stimme. Er senkte seinen Blick zu den Wagenrädern. »Seine Majestät befinden sich in den königlichen Privatgemächern. Ein Diener wird Euch zu ihm führen. Wenn Herr Wagner mir eine persönliche Bemerkung gestatten: Seine Majestät wird sich freuen, Euch zu sehen. Er hat heute schon viel Aufregung gehabt.« Kein Wunder, dachte ich. Ein Herrscher wird ja nicht jeden Tag abgesetzt. Ich überlegte, ob ich dem Gardeoffizier ein Zeichen geben konnte. Eine Warnung. Aber wie? Luise ließ mich keinen Moment aus den Augen. Sie schien zu spüren, daß nur ich ihr bei der Ermordung des Königs einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Aber warum hatten die Anarchisten mir dann nicht schon längst die Kugel gegeben und mich unterwegs in einen Straßengraben geworfen? Sie brauchten nur Richard Wagner. Nicht mich, Mark Hellmann. Auf dem Hof des Palais kümmerten sich Stallknechte um die Kutschpferde. Einer der »Kammerdiener-Bewerber« half Luise beim Aussteigen. Ein Bediensteter in Livree verneigte sich tief. Er führte unsere kleine Gruppe ins Innere des Barock-Gebäudes. Richard Wagner ging wie ein Roboter. Er schien unter Schock zu stehen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Luise blieb an seiner Seite. Sie hatte ihr Messer wohl gut versteckt, aber immer noch griffbereit. Mit ihrem anderen Arm hatte sie mich untergehakt. Der beige Staubmantel verbarg, daß ich gefesselt war. 67 �
Die beiden schweigsamen Anarchisten bildeten den Schluß unserer Prozession. »Seine Majestät sind sehr erfreut darüber, daß Herr Wagner so schnell kommen konnte«, hörte ich gerade den Diener sagen. »Wenn er auch nicht damit gerechnet hat, daß Ihr weitere Herrschaften mitbringt. Ich weiß nicht, ob ihm das recht ist.« Damit spielte der Mann in der Livree auf die zunehmende Menschenscheu des Königs an. Sie war als ein weiteres Zeichen für seine Krankheit angesehen worden. Richard Wagner entgegnet nichts auf die Bemerkungen. Er starrte nur mit totenbleichem Gesicht vor sich hin. Der Diener hätte eigentlich bemerken müssen, daß etwas faul war. Aber vielleicht dachte er auch nur, daß große Künstler sich auch einmal ungewöhnlich benehmen dürfen. Schließlich gelangten wir zu einer eleganten, hellblau gestrichenen Tür. Der Diener klopfte. Eine leise Stimme antwortete. Der Livrierte öffnete den Mund, um uns anzumelden. Da schlug ihm einer der Anarchisten den Revolverknauf über den Schädel. Der Mann brach lautlos zusammen. Die Attentäter drängten sich durch die Tür. Stießen dabei Richard Wagner und mich vor sich her. König Ludwig II. war mit einem bestickten Hausmantel bekleidet. Er saß auf einem Rokoko-Sofa inmitten eines lichtdurchfluteten eleganten Salons. Neben ihm ein kräftiger Mann in einem weißen Kittel. »Richard!« stotterte der Herrscher mit Blick auf seinen Komponistenfreund. Unser überfallartiges Eindringen schien ihn schockiert zu haben. Er wirkte natürlich jünger als mit 150 Jahren. Aber sein Gesicht war von Sorgenfalten zerklüftet. Der Mann im Kittel stemmte die Arme in die Hüften. »Dies ist Dr. Bernhard von Gudden. Mein Psychiater«, fügte der König gallig hinzu. 68 �
Ich war alarmiert. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens würden die Anarchisten gleich auf den Monarchen schießen. Und zweitens, weil sich mein Siegelring erwärmte und prickelte, seit wir den Raum betreten hatten. * Der König zuckte kaum mit der Wimper, als plötzlich die Revolver der beiden Attentäter auf ihn gerichtet waren. Wahrscheinlich war es der Schock über seine Absetzung, der ihm noch in den Knochen saß. Oder er befand sich wirklich in seiner OpernFantasiewelt. Jedenfalls schien er die tödlichen Waffen kaum wahrzunehmen. »Stirb, verfluchter Tyrann!« keifte Luise. »Wir werden die Leiden des Volkes mit deinem Blut vom Angesicht der Erde waschen!« Ich fand die Selbstgerechtigkeit dieses Weibes einfach zum Kotzen. Wie sie sich zur Herrin über Leben und Tod aufschwang. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Monarchen. »Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß ich heute entmachtet wurde, mein Fräulein.« »Genug geredet!« bestimmte Luise. »Macht diesem Opernkönig ein Ende!« Höchste Zeit für mich, einzugreifen. Meine Hände waren noch immer gefesselt. Aber ich beherrsche als begeisterter Kampfsportler auch einige Grundtechniken des Taekwon-Do. Einer koreanischen Kampfkunst, bei der die meisten Techniken mit den Füßen ausgeführt werden. Das bekamen diese Anarchisten jetzt zu spüren! Ich warf mich in die Schußlinie. Der kleinere von den Attentätern stand näher bei mir. Innerhalb meiner Reichweite. Ich 69 �
knickte im Standbein ein und bretterte meinen rechten Fuß gegen seinen Rippenbogen. Damit brachte ich ihn erst einmal aus dem Konzept. Er schwenkte den Revolver in meine Richtung. Blitzschnell wechselte ich das Standbein und griff nun mit dem linken Fuß an. Dieser Bursche aus dem 19. Jahrhundert hatte offenbar keine Ahnung von asiatischem Kampfsport. Das war mein einziger Vorteil. Bevor er sich auf meine Schnelligkeit eingestellt hatte, traf meine Stiefelspitze seine Schußhand. Trotzdem zog er noch den Stecher durch. Aber die Kugel traf nicht den König. Sondern ließ eine der großen Fensterscheiben zerspringen. Das konnte mir nur recht sein. Wenn geschossen wurde, würde Hilfe herbeigeeilt kommen. Währenddessen mußte ich die Anarchisten eben irgendwie aufhalten. Mein nächster Angriff traf die unrasierte Kinnlade des Attentäters. Mit einem Schmerzensschrei segelte er rückwärts über das Parkett. Verlor dabei sogar seine Bleispritze. Ein glühender Blick aus Luises grünen Augen traf mich. »Verdammter Parasit! Erschieß erst Hellmann, Peter!« Dieser Befehl galt dem zweiten Revolverschützen, der meinen Taekwon-Do-Künsten mit offenem Mund zugesehen hatte. Er wollte auf der Stelle gehorchen. Die Anarcho-Chefin hatte ihre Jungs gut gedrillt. Aber da hatte ich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Dieser Peter stand zu weit von mir entfernt. Ich konnte ihn mit den Füßen nicht erreichen. Er zielte und wollte schon den Stecher durchziehen. Da setzte ich zu einem verzweifelten Sprung an. Aus dem Stand grätschte ich in seine Richtung. Und fegte ihm die Beine weg. Die Kugel aus seinem Revolver hackte irgendwo hinter mir in das Parkett. Ich preßte seinen Schädel zwischen meine Beine, daß ihm die Luft ausging. Ein Ringer-Würgegriff, den ich einmal bei einem 70 �
internationalen Sportfest gelernt habe. »Versager!« jammerte Luise. »Muß ich denn alles allein machen?« Sie bückte sich nach dem Revolver des kleineren Anarchisten, der von meinen Tritten immer noch reichlich benommen wirkte. Da fiel ihr jemand in den Arm. Es war Ludwig II! Der König schien seine Schicksalsergebenheit überwunden zu haben. Er wollte selbst um sein Leben kämpfen. Das freute mich natürlich. Für Sekunden rangen er und Luise um die Waffe. Dann wurde die Flügeltür von außen aufgestoßen. Ein halbes Dutzend Leibgardisten kam hereingestürmt, die kurzen Karabiner im Anschlag. Luises wilde Haarmähne löste sich unter ihrer Kappe. Wie eine Flamme schien sie ihr schönes Gesicht zu umzüngeln. Der Monarch hielt ihre Revolverhand nach unten gedrückt. Auch ihr anderer Arm lag in seinem Klammergriff. Deshalb konnte sie auch nicht zu ihrem Messer greifen. Gleich würden die Soldaten sie überwältigt haben. Da setzte das Mädchen alles auf eine Karte. Unerwartet trat sie Seiner Majestät vor das Schienbein. Der Revolver klapperte zu Boden. Die Soldaten schossen nicht. Aus Angst, ihren König zu treffen. »Ihr verblendeten Narren!« rief Luise gellend, während sie einen Riesensatz Richtung Fenster machte. »Es lebe die Anarchie! Kein Gott und kein Herr!!!« Und damit sprang sie durch die geschlossene Scheibe. Ihre Augen schützte sie mit dem Unterarm. Ich war immer noch damit beschäftigt, einen der Attentäter in einer Beinschere zu halten. Deshalb konnte ich nicht sehen, was mit der Anarchistin geschah. Ich bekam nur mit, wie die Soldaten an die Fenster stürzten und ihre Karabiner abfeuerten. 71 �
»Aufhalten!« brüllte jemand über den Hof. »Aufhalten das Teufelsweib!« Mein Blick wanderte hinüber zu dem jungen König. Er war wieder auf das Sofa gesunken. Rieb sich vermutlich sein schmerzendes Schienbein. Mindestens genauso wie für ihn interessierte ich mich für den geheimnisvollen Mann, der mir als Dr. Bernhard von Gudden vorgestellt worden war. Der Seelenarzt des Herrschers sollte er sein? Mein Siegelring sprach eine andere Sprache. Etwas Dämonisches ging von ihm aus. Ob er wohl ahnte, daß er in mir den Kämpfer des Rings vor sich hatte? Mark Hellmann, der den Kräften des Dunklen den Krieg erklärt hatte? Der Gesichtsausdruck des Arztes war so starr, als ob er bei einer Pokerpartie sitzen würde. »Ich verdanke Euch mein Leben, junger Mann«, sagte der König mit einem warmherzigen Lächeln zu mir. Richard Wagner erklärte den Soldaten, daß meine Hände gefesselt seien. Die Männer machten sich sofort daran, die Stricke mit ihren Bajonetten zu zerschneiden. »Wie lautet Euer Name, mein Retter?« »Markus Hellmann, Euer Majestät.« Ich machte eine tiefe Verbeugung, wie ich es in alten ›Sissy‹-Filmen gesehen hatte. »Es gibt viele Menschen, die mir Übles wollen. Menschen und andere Wesen«, orakelte Ludwig II. »Ich brauche starke Freunde. Soldaten, habt ihr gesehen, wie dieser Mann kämpfen kann?« Einige der Uniformierten nickten. Im 19. Jahrhundert führte der waffenlose Kampf in Europa ein Schattendasein. Kein Wunder, daß sie von meinen wenigen Taekwon-Do-Techniken zutiefst beeindruckt waren. Der Herrscher erhob sich langsam und legte mir dann seine Hände auf die Schultern. »Markus Hellmann, wollt Ihr mein persönlicher Leibwächter werden?« Im Gesicht des Psychiaters von Gudden zuckte es. 72 �
»Ihr benötigt keinen Leibwächter, Euer Majestät. In meiner Obhut könnt Ihr Euch sicher fühlen wie in Abrahams Schoß.« Es war dem Arzt mit der unheimlichen Aura überhaupt nicht recht, mich in der Nähe des Königs zu wissen. Allein das war schon ein Grund, um das Angebot anzunehmen. »Es ist mir eine große Eure, Euer Majestät. Ich, Markus Hellmann, werde Euch mit meinem Leben verteidigen.« Und das meinte ich ernst. * Richard Wagner zerfleischte sich selbst mit Vorwürfen. Er machte sich dafür verantwortlich, daß die anarchistischen Attentäter so nahe an seinen königlichen Freund hatten herankommen können. Luise konnte der Leibgarde übrigens entkommen. Im Hof hatte sie einer überraschten Wache ihr Messer in den Bauch gestoßen. Hatte dann ein Pferd gestohlen und war in tollkühnem Ritt durch eine weniger bewachte Pforte galoppiert. Obwohl eine Abteilung Husaren sofort die Verfolgung aufnahm, verlor sich ihre Spur in der schon damals quirligen Großstadt München. Die beiden überwältigten Revolutionäre schwiegen mürrisch und haßerfüllt. Ihnen war klar, daß sie für ihren Anschlag die Todesstrafe erwartete. Nachdem sie abgeführt worden waren, erlitt der König einen heftigen Anfall von Kopfschmerzen. »Die Aufregungen sind zuviel für Euer Majestät!« schnappte von Gudden mit einem haßerfüllten Blick auf Richard Wagner und mich. »Zu viele Menschen. Ihr braucht jetzt dringend Ruhe. Ich hole Euer Beruhigungsmittel.« Und er eilte in den Nebenraum. Ich knetete meine durch die Fesseln immer noch etwas tauben Hände. Nun konnte ich mei73 �
nen Ring nicht nur fühlen, sondern auch sehen. Er glühte auf. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, vor wem er mich warnen wollte. Vor Dr. Bernhard von Gudden! Aber ich hatte keinen Beweis für meinen Verdacht. Ich konnte nichts weiter tun, als den König nicht aus den Augen zu lassen. Nun war ich genau in dem Konflikt, den ich hatte vermeiden wollen. Ich fand Ludwig II in seiner jüngeren »Version« genauso sympathisch wie als Greis. Undenkbar, daß ich seiner Ermordung tatenlos zusehen würde. Andererseits hatte ich ja in meiner Zeit von dem 150 Jahre alten Monarchen erfahren, daß gar nicht er im Starnberger See ertränkt worden war, sondern ein Doppelgänger. Und im nächsten Moment wurde mir klar, worin meine Rolle bestand. Die Aufgabe, die höhere Mächte in meinen Hände gelegt hatten. Ich würde dabei helfen müssen, daß Ludwig II. am Abend des 13. Juni 1886 entkommen konnte. Die Geschichte konnte und wollte ich nicht ändern. Es tat mir leid für den Doppelgänger, aber. Dr. von Gudden unterbrach meinen Gedankenfluß. Er kehrte zurück und verabreichte dem König ein Pulver, das dieser gehorsam schluckte. »Majestät sollten München verlassen, bis sich die Aufregungen gelegt haben«, sagte der Arzt. Es klang mehr wie ein Befehl als wie ein Vorschlag. »Schloß Berg am Starnberger See ist um diese Jahreszeit genau richtig. Am besten, wir fahren noch heute.« »Morgen«, widersprach der König. »Herr Hellmann, werden Sie mich auch dort vor den Kräften des Bösen beschützen?« Ich nickte. In den Augen des Nervenarztes glomm ein dämonisches Feuer auf. »Am Abend will ich noch einmal den ›Tannhäuser‹ sehen«, bestimmte Ludwig II »In meiner geliebten Oper!« 74 �
* � Dracomar spürte mit seinem dämonischen Instinkt, daß es Probleme gab. Wie Mephisto und wie Mark Hellmann konnte er durch die Zeit reisen. Als Blutdruide existierte er schon fast so lange wie Mephisto, dessen Geschöpf er war. Sogar an zwei Orten und auf zwei Zeitebenen gleichzeitig konnte der Alte des Schreckens sein Unwesen treiben. Allerdings wurde er durch die Anwendung dieser Magie geschwächt. Und sein schwarzblütiger Körper war immer nur in einer Zeit vorhanden. Die andere »Version« Dracomars bestand aus einem Trugbild, das nicht körperlich ins Geschehen eingreifen konnte. Er mußte also Menschen zu seinen Werkzeugen machen, wenn er aktiv werden wollte. So wie er es mit Jasmin Mertens getan hatte. Allerdings war Dracomar auch mit seinem Körper im Jahre 1999, als die Dinge für ihn schiefzugehen begannen. Die Blutdruiden-Erscheinung aus dem Jahre 1886 sendete Alarmsignale. Hellmann war nicht nur nicht verhungert, sondern hatte ein Attentat auf Ludwig II verhindert! Mehr noch, er war vom König als Leibwächter engagiert worden. Das bedeutete eine ernsthafte Gefahr für die Pläne der Hölle. Der Blutdruide entschloß sich, ins Jahr 1886 zurückzukehren. Wenn er sich selbst Hellmann zum Kampf stellte, würde ihm der Mann aus Weimar nicht viel entgegenzusetzen haben. Dracomars Fratze verzerrte sich vor Grausamkeit. Er würde Hellmann in Stücke reißen, bevor dieser den König retten konnte! Diese Turteltäubchen kann ich auch sich selber überlassen, dachte das Monstrum mit einem verschlagenen Grinsen. Dabei peilte er in Richtung von Jasmin Mertens, die inzwischen Marco Wiese ebenfalls ausgezogen hatte. Es schien nicht so, als ob er 75 �
ihren Verführungskünsten noch lange würde widerstehen können. »Eine Jungfrau bringt ihren Stecher um!« sang Dracomar mit schauriger Stimme vor sich hin. »Sie biegt ihm gewandt die Knochen krumm. Unschuldiges Blut, unschuldige Knochen – Der Bann des Guten ist für immer gebrochen!« Mit dieser düsteren Prophezeiung löste sich der Alte des Schreckens aus dem Jahr 1999. Und kehrte zurück in die Zeit vor über hundert Jahren. Um mit Mark Hellmann endgültig abzurechnen. * Tessa Hayden war wie betäubt. Die Begegnung mit Mephisto hatte ihr Nervenkostüm doch stärker zerrüttet, als sie zunächst geglaubt hatte. Der Höllenfürst führte immer nur Böses im Schilde. Diese Tatsache mußte man stets im Hinterkopf behalten, wenn man sich über seine Handlungen Gedanken machte. Mephisto wollte König Ludwig II. zu sich in die Hölle holen. Das hatte er selbst gesagt. Außerdem sollte der bayerische ExHerrscher wirklich hier im Natternberg sitzen. Aber ob das stimmte? Auf jeden Fall muß ich ihn warnen! entschied die Polizistin. Und dann soll er mir verraten, was er mit meinem Mark gemacht hat! Grimmig entschlossen setzte sie ihren Aufstieg fort. Allerdings wich sie nun von dem Wanderweg ab. Es war wohl nicht anzunehmen, daß der geheime Zugang zum unterirdischen Versteck des Königs direkt neben dem Touristenstrom zu finden wäre. Tessa strauchelte an einem steilen Abhang. Setzte fluchend ihren Weg fort. Wenn sie wenigstens gewußt hätte, in welche Richtung sie sich wenden mußte! So ein kleiner Berg konnte rie76 �
sig sein, wenn man einen vermutlich gut versteckten Eingang suchte. Eine Stunde lang kroch die Polizistin auf Felsen und lockerem Erdreich herum. Teilweise auf Händen und Knien. Da wurde sie erneut angesprochen. »Sie hätten nicht herkommen sollen, Frau Hayden.« Das habe ich doch heute schon einmal gehört! dachte Tessa wütend. Sie fuhr herum. Hinter einem mächtigen Baumstamm war ein Mann in mittleren Jahren aufgetaucht. Er sah aus wie ein ganz normaler Bürger, in Freizeithose und Karohemd mit kurzen Ärmeln. Es war nichts Ungewöhnliches an ihm. Außer vielleicht einem wissenden Blick. »Ich reiße mich auch nicht darum, auf Ihrem blöden Berg herumzukraxeln!« fauchte die junge Frau. »Und ich wäre nicht hergekommen, wenn Sie nicht meinen Freund entführt hätten!« Der letzte Satz war ein Schuß ins Blaue gewesen. Aber er saß. Der Mann verzog bedauernd das Gesicht. »Die Umstände machten es erforderlich. Es tut uns leid. Aber Sie können hier nichts tun. Fahren Sie bitte wieder zurück nach Weimar.« »Das hier werde ich tun!« Plötzlich hielt Tessa ihre Dienstwaffe in der Hand. »Aber nicht ohne Mark Hellmann! Entführung ist in Deutschland immer noch strafbar, wissen Sie? Und jetzt bringen Sie mich zu Ihrem Herrn. Sie wissen schon, wen ich meine.« Der Unauffällige seufzte. »Sie begehen einen Fehler. Aber bitte.« Er trottete vor ihr her. Tessa hielt einen Sicherheitsabstand, wie sie es in der Ausbildung gelernt und im harten Dienstalltag schon häufig praktiziert hatte. Damit er keine Chance hatte, sie durch einen Schlag oder Tritt zu entwaffnen. Sie paßte auf wie ein Schießhund. Aber keiner von beiden bemerkte, daß jede ihrer Bewegungen 77 �
von unzähligen furchterregenden gelben Augen verfolgt wurde. � * � Der Opernbesuch verlief ohne Zwischenfälle. Ich lernte sogar noch Prinzessin Sophie kennen, eine Schwester der legendären ›Sissy‹ aus Österreich. Obwohl Sophies Verlobung mit Ludwig II inzwischen gelöst war, begleitete sie ihn noch einmal in die ›Tannhäuser‹-Aufführung. Wohl, um den Schein zu wahren. Ich kümmerte mich nicht um die politischen Ränkespiele, die zu der Absetzung des Königs geführt hatten. Mich interessierten nur die Mächte der Hölle. Und wie ich ihnen wieder einmal in ihr mieses Handwerkpfuschen konnte. Zwischen Bernhard von Gudden und mir herrschte Feindschaft auf den ersten Blick. Wir wußten, was wir voneinander zu halten hatten. Ich hätte darauf wetten können, daß der echte Psychiater tot oder gefangen war. Dieser scheinheilige Arzt an der Seite von König Ludwig mußte schwarzes Blut in seinen Adern haben. Vielleicht war es sogar Mephisto selber. Er konnte jede Gestalt annehmen. Doch dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. Der Höllenfürst war auch mächtig genug, um die Warnfunktion meines Ringes auszuschalten. Aber da mein magisches Kleinod einwandfrei funktionierte, mußte ich es mit einem rangniedrigeren Dämon zu tun haben. Das war auch kein großer Trost. Am nächsten Morgen brachen wir mit einer starken Militäreskorte nach Schloß Berg auf. Das Volk auf den Straßen von München war unruhig. Die Bayern liebten ihren König. Es gab viele unter ihnen, die ihn als Opfer einer Verschwörung ansahen. Nach dem, was ich erlebt hatte, konnte ich dieser Annahme nur zustimmen. Ludwig II war vielleicht müde und menschenscheu, 78 �
aber keineswegs geisteskrank. Wenn überhaupt, dann wurde er von Bernhard von Gudden und dessen Pillen und Pulvern krank gemacht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich mich dem schwarzmagischen Wesen zum Kampf auf Leben und Tod würde stellen müssen. Deshalb bereitete ich mich vor. Als Leibwächter des Königs durfte ich mich natürlich bewaffnen. Von einem Gardeleutnant ließ ich mir einen normalen Revolver geben, sobald wir auf Schloß Berg angekommen waren. Gegen ›irdische‹ Feinde würde die Schußwaffe völlig ausreichen. Aber nach geweihten Silberkugeln konnte ich den Soldaten ja schlecht fragen. Die Zeit war auch zu knapp, um sie anfertigen zu lassen. Ich kannte auch niemanden, den ich über meine wahre Identität ins Vertrauen ziehen konnte. Also mußte ich mir selbst eine weißmagische Waffe herstellen. Heimlich aktivierte ich meinen Ring an meinem siebenzackigen Mal auf meiner Brust. Als der leuchtende Strahl aus dem Kleinod drang, schrieb ich damit das keltische Wort für »Waffe« in altgermanischen Runenbuchstaben auf einen normalen Dolch. Die Stichwaffe war mir ebenfalls von dem Gardisten ausgehändigt worden. Der Dolch glühte, nahm die weiße Magie in sich auf. Jetzt fühlte ich mich gut gewappnet. Schnell kehrte ich in die Gemächer des Königs zurück. Ich kam gerade dazu, als von Gudden heftig auf den Monarchen einredete. Ludwig II. sollte mich feuern. »Dieser Hellmann ist ein Unruhestifter der übelsten Sorte!« zischte der Dämon in Arztgestalt. Das schwarzmagische Wesen war drauf und dran, mit seinen übernatürlichen Kräften den Willen des Königs zu brechen. Der junge Herrscher schüttelte nur müde den Kopf. »Er hat mir das Leben gerettet.« 79 �
Ich machte mich bemerkbar. Außer den beiden und mir befand sich niemand in dem Salon. Richard Wagner hatte sich zurückgezogen, um zu komponieren. Von König Ludwigs Sessel aus hatte man einen herrlichen Blick über den Starnberger See, der im Sonnenlicht glitzerte. Trotzdem war die Miene des adligen Patienten von Sorgen umwölkt. »Herr Hellmann.«, begann Ludwig II. mit einem dünnen Lächeln. »Wir haben gerade über Euch gesprochen.« »Er hat gelauscht!« donnerte der Nervenarzt. »Dieser Bengel ist wirklich kein Umgang für Eure Majestät!« Ich hätte ihm gerne die passende Antwort mit meinen Fäusten gegeben. Aber in diesem Moment nahm ich aus den Augenwinkeln etwas wahr. Eine Bewegung im Park. Ein dunkler Schatten? Ich zog den Revolver und sprang durch die offenstehende Terrassentür in den Schloßpark. Nicht weit von hier würde in einigen Jahren Prinzregent Luitpold eine Gedächtniskapelle für seinen ›toten‹ Bruder anlegen lassen. Mit Freskenmalereien des bekannten Künstlers August Spieß. Aber noch lebte der König. Und ich würde seinen Tod verhindern, wenn ich konnte. Mein Alarmruf lockte einige Gardisten herbei. Gemeinsam kämmten wir den Park durch. Aber wir entdeckten nichts Verdächtiges. Hatte ich mich vielleicht getäuscht? Ich steckte den Revolver wieder weg. Kehrte zu König Ludwig und Bernhard von Gudden zurück. Der Rest des Tages verlief unerfreulich. Der falsche Nervenarzt versuchte immer wieder, mich aus der Reserve zu locken. Zu provozieren. Doch ich blieb cool, wenn es auch schwerfiel. Nach einem einfachen Abendessen zog sich der König in sein Schlafgemach zurück. Ich hatte dafür gesorgt, daß ich in der Kammer des Leibdieners untergebracht wurde. Direkt neben dem königlichen Schlafzimmer. Mit diesem durch eine kleine Tür verbunden. So konnte ich im Notfall direkt zu meinem 80 �
Schützling eilen. Das große Flügelfenster stand halb offen, als ich den Raum betrat. Eine leichte Brise vom See her sorgte für herrliche Abendluft. Mein Ring zeigte keine dämonische Aktivität in diesem Zimmer. Für einen Moment überlegte ich, ob ich im Anzug schlafen sollte. Dann entschied ich mich dagegen. Es war schon hart genug, den ganzen Tag in diesen steifen Kleidern des 19. Jahrhunderts herumzulaufen. Grinsend betrachtete ich das Bett. Die Decke mit dem Federbett wirkte riesig. An solche Nachtruhestätten war ich nicht gewöhnt. Zu Hause in Weimar schlief ich auf einem Futonbett. Ich schlug die Bettdecke zurück. Und erstarrte! Die Anarchistin Luise lag splitternackt auf meiner Matratze! Und sie reckte mir nicht nur ihre mächtigen Brüste entgegen. Sondern auch einen Revolver. * Jasmin Mertens glaubte, aus einem bösen Traum zu erwachen. Bruchstücke von bösen Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, während sie schwer atmend neben Marco Wiese auf dem kalten Boden des Kerkers lag. Doch diese schwarzen Schatten konnten ihren Geist nicht mehr umwölken. Denn Jasmin Mertens war unsterblich verliebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie mit einem Jungen geschlafen. Jetzt, nachdem es geschehen war, hätte sie nach Dracomars Plänen ihren Liebhaber eigentlich kaltblütig töten sollen. Aber das konnte sie nicht. Auch für Marco war es das erste Mal gewesen, wie er ihr gestanden hatte. Der Junge war nun ebenfalls bis über beide Ohren verliebt. Seine Gefühle für Jasmin gingen weit über das hinaus, was er bisher empfunden hatte. Vor dieser unheimlichen 81 �
Nacht in dem Kerker war er einfach nur scharf auf sie gewesen. Aber nun. Die beiden Liebenden sahen nur noch sich. Sie verdrängten auch den Gedanken an den toten Dirk Müller, der irgendwo in der Dunkelheit lag. Ermordet von Jasmin Mertens, als sie noch unter schwarzmagischem Einfluß gestanden hatte. Aber das war vorbei. Es war, als ob die Macht der Liebe das Böse verdrängt hätte. Und das gefiel Dracomar natürlich überhaupt nicht. »Brich ihm den Hals!« Geifernd tauchte das Trugbild des Blutdruiden neben den beiden nackten jungen Körpern auf. Der Alte des Schreckens machte seinem Beinamen alle Ehre. Er ließ seine langen Vampirzähne sehen. Sein entstelltes Gesicht mit dem toten Auge beugte sich über Jasmin und Marco. »Mach deinen Beschäler alle, du Schlampe! Wozu habe ich dir Kräfte verliehen!« Doch die Blonde starrte furchtlos in seine widerliche Visage. »Du kannst mir nicht drohen. Du hast keine Macht mehr über mich, du Monstrum. Niemals würde ich Marco auch nur ein Haar krümmen!« Sie legte ihren Arm um den Jungen. Dracomars Erscheinung raste vor Zorn. Doch er konnte nichts machen. Für einen Moment versuchte er, die Psyche von Marco zu beeinflussen. Aber das funktionierte genausowenig. Wenn sein Körper nicht im Jahre 1886 gewesen wäre, hätte er den beiden Teenagern zu gerne die Köpfe abgerissen. Aber mit seinem Trugbild konnte er das nicht tun. Er mußte sich auf düstere Drohungen beschränken. Dracomar ließ blaue und gelbe Blitze durch den Kerker zucken. Das Heulen der Verdammten schien die dicken Wände erbeben zu lassen. Obwohl Jasmin instinktiv spürte, daß er ihnen nichts wirklich anhaben konnte, wurde es dem Mädchen doch ungemütlich. 82 �
»Laß uns hier verschwinden!« rief sie Marco ins Ohr. Der junge Horrorfan hatte bemerkt, wie Dracomars Zauber von seiner Freundin abgefallen war. Deshalb fragte er nicht nach, was mit Dirk Müller geschehen war. Das würde sich noch früh genug klären. Jetzt nichts wie raus aus diesem dunklen Gemäuer! Die beiden Schüler fuhren in ihre Kleider und liefen die Treppe hoch. Und sie hörten nicht auf zu rennen, bis sie bei der Jugendherberge angekommen waren. * »Das ist aber nett«, sagte ich, in die Revolvermündung starrend. »Willst du mir eine Gutenachtgeschichte von Onkel Bakunin vorlesen?« Der Russe Michail Bakunin war einer der bekanntesten Anarchisten des 19. Jahrhunderts. Ich wußte wirklich nicht, warum ich in solchen Situationen immer Witze reißen mußte. Vielleicht, weil ich mir sonst zu hilflos vorgekommen wäre. Es war eine Art Galgenhumor. »Du hast ein loses Mundwerk, Markus Hellmann«, sagte die rothaarige Luise. Ihr wohlgeformter Körper war eine einzige Verlockung. »Schade um dich, du Königsknecht. Du wirst die Zukunft der Freiheit nicht mehr miterleben.« Ich verzog grinsend mein Gesicht. »Und du, Luise? In hundert Jahren haben die Könige keine Macht mehr. Aber wenn sie heiraten oder Kinder kriegen, wird das Volk ihnen immer noch zujubeln.« »Du redest irre, Markus. Die Zukunft gehört der Freiheit.« »Weißt du was, Luise? Im Grunde hast du recht. Keine Autobahngebühren in Deutschland. Freie Fahrt von Flensburg bis Passau. Und Freiheit? Auf jeden Fall beim Bezahlen. Dieselbe 83 �
Währung von Norwegen bis Portugal. Oder bei der Jobwahl. Ob ich in meinem eigenen Home Office arbeite oder in einem Phone Center.« Sie sah mich an, als ob ich übergeschnappt wäre. Dabei hatte ich nur einige Dinge erwähnt, die am Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland Tagesgespräch waren. Ich nutzte ihre Verwirrung. Stürzte mich auf sie, um sie zu entwaffnen. Luise kämpfte wie eine Wildkatze. Sie mußte gut durchtrainiert sein. Der Sprung vom Balkon des Palais in München war kein Pappenstiel. Dann war sie offenbar an der Fassade von Schloß Berg hochgeklettert. Daß sie über die Treppe gekommen war, konnte ich mir nicht vorstellen. Zu viele Diener und Wachen. Sie rammte mir ihr Knie in den Bauch. Zum Glück ist mein Magen vom Boxtraining her ziemlich abgehärtet. Und bevor sie tiefer zielen konnte, traf ich Gegenmaßnahmen. Schlagartig änderte sie ihre Taktik. Oder es lag daran, daß wir uns beide gleichzeitig bewußt wurden, daß wir nackt waren. Luise bekam einen typischen Schlafzimmerblick. »Weißt du was, Markus? Ich möchte den König gar nicht mehr töten. Er ist doch ein harmloser Narr. Soll er sich weiter seine Opern anhören. Wenn du mich ganz lieb bittest, dann lasse ich ihn in Ruhe.« »Wie soll ich dich denn bitten?« fragte ich mit heiserer Stimme. Sie drängte ihren üppigen Busen gegen mich. Ich spürte seine Wärme, seine Sehnsucht nach Streicheleinheiten und noch viel mehr. Auch bei mir. »Oh, da wüßte ich schon etwas.« Ihre Hände glitten an meinem Körper hinab. Ich dachte an Tessa, meine Freundin in der Zukunft. Ich hatte mir wirklich fest vorgenommen, ihr treu zu bleiben. Andererseits war ich im Moment ja der Leibwächter des Königs. Und ich hatte mir geschworen, alles zu tun, um sein Leben zu retten. Aber auch wirklich alles. Und dann beruhigte 84 �
ich mich wieder mit dem Gedanken, daß Tessa während dieser � hormongesteuerten Zweisamkeit noch lange nicht geboren war. � * Tessa Hayden hatte inzwischen herausbekommen, daß ihr Gefangener Hans hieß. Seinen Nachnamen wollte er nicht preisgeben. Immer noch paßte sie auf, daß er sie nicht austrickste. Die Polizistin wollte zu König Ludwig II. geführt werden. Und es sah wirklich so aus, als ob ihr Wunsch in Erfüllung ginge. Hans führte sie durch das Höhlensystem unter dem Natternberg. Je tiefer sie in das Erdreich eindrangen, desto mehr technische Einrichtungen von Menschenhand waren zu erkennen. Fußboden aus Beton. Leuchtstoffröhren an den Decken. Und zahlreiche Kabelschächte. »Das Innere der Anlage ist weißmagisch geschützt«, erklärte der ruhige Bayer. »Ihnen muß ich ja nicht erklären, was das bedeutet.« Tessa war im Bild. Sie hatte schon öfter erlebt, wie man sich durch Bannsprüche und Zauber gegen die Mächte der Finsternis, abschirmen konnte. Die junge Frau hörte, wie Hans eine Formel murmelte. Gleich darauf bemerkte sie, wie das Ende des Ganges zu flimmern begann. Als würde hier tief unter dem Natternberg die sengende Augustsonne scheinen. Der Mann und die Frau traten durch das gleißende Licht. Es prickelte angenehm auf Tessas Haut. Jenseits der magischen Sperre warteten einige weitere Getreue des Königs. Sie schienen ebenfalls bei der Entführung dabeigewesen zu sein. Einer sagte: »Frau Hayden. Sie hätten nicht.« »Ich weiß. Ich hätte nicht herkommen sollen. Allmählich kann ich es nicht mehr hören. Ich will euren Boß sprechen!« 85 �
Tessa Hayden hatte sich bewußt so flapsig ausgedrückt. Sie war in der DDR aufgewachsen. Daher hielt sich ihr Respekt vor gekrönten Häuptern in Grenzen. Aber als sie dann zu König Ludwig II geführt wurde, stockte ihr doch der Atem. Sie rammte ihre Pistole ins Halfter. Instinktiv spürte sie, daß sie von diesem alten Mann keine Gefahr zu erwarten hatte. Er wirkte ruhig und abgeklärt. So wie man es von einem 150jährigen wohl auch erwarten konnte. Nur die farbenfrohe Uniform aus dem 19. Jahrhundert war etwas zu weit für seinen mageren Körper. Was tut man, wenn man einem König gegenübersteht? dachte Tessa verzweifelt. Macht man einen Knicks oder was? Warum haben sie uns das bei der FDJ nicht beigebracht? Ludwig II. bemerkte ihre Verlegenheit und streckte ihr einfach die Hand entgegen. »Sie müssen Frau Hayden sein. Es tut mir leid, Sie unter so unerfreulichen Umständen kennenzulernen.« »Wo ist Mark Hellmann, Majestät?« Mit Tessas Selbstbeherrschung war es inzwischen vorbei. Der König seufzte. »Er ist im Jahre 1886. Ich habe ihn gebeten, das Geheimnis meines Todes zu klären. Denn wie Sie sehen, lebe ich noch.« Tessa ließ ihre Blicke durch die gediegen eingerichtete Bibliothek streifen. Sie glaubte, sich in einem Traum zu befinden. Dieser uralte König, der in einem Berg lebte. Doch gleich darauf wurde sie durch einen Alarmruf in die rauhe Realität zurückgeholt. »Alarm!« gellte eine Stimme durch das königliche Versteck. »Mephistos Höllenhorden greifen an!!!« *
86 �
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Aus dem Geschichtsstudium erinnerte ich mich an die Behauptung, die deutschen Frauen des 19. Jahrhunderts wären sexuell zurückhaltend und verklemmt gewesen. Der Historiker, der diesen klugen Satz geschrieben hatte, war mit Sicherheit niemals mit der rothaarigen Anarchistin Luise im Bett gewesen. Sie hatte mir alles abverlangt, was ich ihr geben konnte. Und noch mehr. Als ich aufwachte, war sie verschwunden. Ich verfluchte mich für meinen Leichtsinn. Wenn sie nun ins Nebenzimmer gegangen war, um den König zu erstechen? Sie hätte es problemlos tun können, während ich schlief! In fliegender Hast fuhr ich in meinen Anzug. Auf dem Nachtkästchen fand ich eine kleine Bleistiftnotiz. Du wilder Stier, ich bin verrückt nach Dir! Bist Du ein Träumer oder ein Phantast? – Sehen wir uns wieder unter dem schwarzen Banner der Freiheit? Deine L. Ich mußte sie mit meinen Bemerkungen über die Zukunft ziemlich durcheinandergebracht haben. Aber das Schicksal des Königs ließ mir keine Ruhe. Ich stürmte in sein Schlafgemach, ohne anzuklopfen. Ludwig II. lebte. Er kleidete sich an. War gerade dabei, seine Weste zuzuknöpfen. »Guten Morgen, Herr Hellmann«, begrüßte er mich. Er wirkte munterer als am Vorabend. Wahrscheinlich, weil die verdammten Medikamente von Bernhard von Gudden noch nicht wirkten. »Ich bin um Euer Seelenheil besorgt.« »Warum, Majestät?« »Ihr werdet offenbar von schlimmen Alpträumen gequält, Herr Hellmann. Ihr habt in der letzten Nacht öfter entsetzlich laut gestöhnt und geächzt. Ehrlich gesagt, ich bin davon aufgewacht.« 87 �
Ich blinzelte. Wollte er mich auf den Arm nehmen? Aber er schien es ernst zu meinen. Nur mühsam konnte ich mir ein zweideutiges Grinsen verkneifen. »Vielen Dank für Eure Besorgnis, Majestät. Aber der Quälgeist scheint mich nun verlassen zu haben.« Gleich darauf schneite eine Person herein, auf die ich liebend gerne verzichtet hätte. Dr. Bernhard von Gudden ließ es sich nicht nehmen, persönlich die Pilleneinnahme des Monarchen zu überwachen. Gehorsam schluckte der König die Medikamente und spülte mit etwas Wasser nach. Mir war klar, daß er dem Herrscher ans Leben wollte. Er hätte ihn mit seinen Mixturen vergiften können. Aber ich kannte die Geschichte. Ludwig II bzw. sein Doppelgänger war ertränkt worden. Daher beunruhigte mich diese Medizin nicht weiter. Ich fing einen Blick des angeblichen Nervenarztes auf. In seinen Augen blitzte Mordlust! * Die Höllenkreaturen sahen entsetzlich aus. Tessa bekam die ersten von ihnen zu sehen, als sie in den vorderen Teil des Bergverstecks geeilt war. Dort bildeten die Getreuen des Königs eine Verteidigungslinie gegen die schwarzmagischen Wesen. Mephistos Monster schienen eine Art Erdgeister zu sein. Ihr Fell bestand zum Teil aus Grassoden und Moospolstern. Doch ihre vorderen Gliedmaßen waren mit knochigen Krallen bewehrt. Damit schlugen sie nach den Männern des Monarchen. Einer der Bayern lag bereits in seinem Blut. Erschrocken bemerkte Tessa, daß es Hans war! Aus tückischen gelben Augen blitzten die Erdgeister die Ver88 �
teidiger an. Und aus ihren Kehlen drang ein unmenschliches Heulen. Es konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Immerhin waren die Getreuen des Königs nicht wehrlos. Mit normaler Munition kam man gegen die schwarzmagischen Bestien natürlich nicht an. Aber Ludwig II schien mit einer solchen Attacke schon lange gerechnet zu haben. Deshalb waren seine Männer mit geweihten Silberkugeln ausgerüstet, wie er der Polizistin nun verriet. Und als bayerische Bauern und Jäger verstanden sie alle es auch, mit ihren Flinten umzugehen. Gerade wollte sich eine der geifernden Bestien auf einen Mann mit Gamsbarthut stürzen. Der Verteidiger steppte einen Schritt zurück. Und feuerte seine doppelläufige Schrotflinte ab. Der Erdgeist wurde von der Macht des Guten förmlich in Fetzen gerissen. »Schlagts eam auf dera Köppfn, den damischen Höllenteufeln!« brüllte ein Urbayer mit krachlederner Hose und grauem Bart bis zur Brust. Er schien die kleine Truppe zu kommandieren. Die Bayern schossen besonnen und kaltblütig. Sie feuerten ihre Büchsen erst ab, wenn sie einen der rasenden Erdgeister direkt vor sich hatten. Tessa bewunderte sie für ihre Nerven. Die junge Frau meinte, ihre Haare würden sich vor Grauen aufstellen beim Anblick dieser Kreaturen. Seit ihrer Entführung durch die Skelettpiraten hatte sie sich nicht mehr so gegruselt. Nun wurde einer der Männer von drei Höllengestalten gleichzeitig angegriffen. Er hatte keine Chance. Die erste konnte er noch erledigen. Aber als sie sah, was die beiden anderen mit ihm anstellten, mußte Tessa sich abwenden. Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf. War es vielleicht ihre Schuld, daß Mephistos Horden nun angriffen? Hatte sie ihnen ungewollt den Weg in das geheime Versteck des Königs 89 �
gezeigt? Beruhigend legte sich die Greisenhand von Ludwig II. auf ihre Schulter. »Wir können uns auf die weißmagische Sperre verlassen. Einer der größten Mystiker meiner Zeit hat sie für uns konstruiert.« Atemlos beobachtete die Polizistin, wie sich die Männer hinter die unsichtbare Zauberschranke zurückzogen. Dabei schossen sie unablässig auf die Erdgeister. Sie mußten schon Dutzende von ihnen für immer von ihrer schwarzmagischen Existenz erlöst haben. Doch Tessa kam es so vor, als ob für jede der vernichteten Kreaturen hundert neue nachdrängten. Die Luft vibrierte von ihrem Gebrüll. Selbstmörderisch warfen sie sich gegen die weißmagische Sperre. Die ersten verglommen sofort. Doch jedes der Wesen war mit der geballten Energie des Bösen geladen. Wie lange würde die Schranke standhalten können? Unwirkliche Blitze zuckten, als die positiven und negativen Kräfte aufeinanderprallten. Tessa mußte die Augen schließen, weil sie das grelle Licht schmerzte. Die Bayern warfen nun mit kleinen Gegenständen nach den Angreifern, die wie Einweckgläser aussahen. Die Wirkung war entsetzlich. Wenn die Gläser an den dämonischen Körpern zersprangen, wurden sofort mehrere der Erdgeister aufgelöst. »Weihwasser?« fragte Tessa den König. Ludwig II. nickte. Immer noch war die Sperre für die Kreaturen der Hölle undurchlässig. Doch die Polizistin hatte das Gefühl, als ob die Kraft der Weißen Magie allmählich etwas nachlassen würde. Sie fragte sich, was wohl mit ihnen geschehen würde, wenn die Erdgeister den Durchbruch schafften. Der Gedanke ließ ihr eiskalte Schauer über den Rücken laufen. Eigentlich war sie ja zum Natternberg gekommen, um Mark 90 �
Hellmann zu retten. Doch es sah ganz so aus, als ob sie sich im Moment viel mehr Sorgen um ihr eigenes Leben machen müßte. Die Atmosphäre über der Schranke schien immer stärker zu vibrieren. Und sich blutrot zu färben. Tessa glaubte, Mephistos Fratze auftauchen zu sehen. Aber das konnte auch eine Sinnestäuschung sein. Im nächsten Augenblick gab es eine Explosion, die jeden Knochen im Leib der jungen Frau durchschüttelte. Die Welt schien sich in einen feurigen Glutball zu verwandeln. Und in Tessa Haydens Kopf gingen die Lichter aus. * Die Stunde der Entscheidung nahte. Der 13. Juni 1886 war ein regnerisches Pfingstsonntag. Gegen Abend schlug Dr. Bernhard von Gudden dem König einen Spaziergang am Starnberger See vor. Der Monarch willigte ein. Soweit stimmten die Geschichtsbücher noch. Doch es ist nicht überliefert, daß drei Männer sich an diesem Abend die Beine vertraten. Der Psychiater, der König und ich, Mark Hellmann. Als Leibwächter konnte ich meinen Schützling natürlich nicht aus den Augen lassen. Das paßte von Gudden überhaupt nicht. Ich wußte, daß der Anschlag auf Ludwig II. unmittelbar bevorstand. Wir verließen den Schloßpark und näherten uns über einen Trampelpfad dem Seeufer. Es wurde zunehmend dunkler. Aber noch konnte man ohne künstliches Licht genug sehen. »Wie schön«, sagte der König mit Blick auf die Bergkulisse. »Warum können sich die Menschen nicht an der Schönheit erfreuen, statt immer nur Kriege zu führen und Haß zu säen?« »Weil der Haß das Höchste ist!« kreischte der Nervenarzt 91 �
plötzlich. Und dann ließ er seine Maske fallen. Und verwandelte sich in den Blutdruiden Dracomar! * Ich war zum Glück gut vorbereitet. Geistesgegenwärtig stieß ich den König nach hinten. Stellte mich zwischen den Monarchen und seinen dämonischen Attentäter. Wenn Dracomar Ludwig II. töten wollte, mußte er zuerst mich erledigen! Genau das schien er vorzuhaben. »Jetzt wird abgerechnet, Hellmann!« grollte er mit seiner Grabesstimme. »Diesmal entkommst du mir nicht!« Ich zückte meinen weißmagischen Dolch und stieß blitzschnell zu. Die Klinge fuhr in seinen vampirischen Körper. Doch als ich die Waffe wieder herauszog, schloß sich die Wunde sofort wieder. »Netter Versuch«, höhnte Dracomar. »Aber für einen echten Blutdruiden mußt du dir schon etwas Besseres einfallen lassen!« Und er versetzte mir einen entsetzlichen Schlag. Ich fühlte mich, als wäre ich von einem Elefanten getreten worden. In weitem Bogen flog ich durch die Luft. Landete im flachen Wasser des Sees. Dracomar setzte mir nach. Seine vampirischen Kräfte waren übermenschlich. Obwohl ich kein Schwächling bin, hatte ich ihnen nichts entgegenzusetzen. Denn ich bin ein Mensch. Verletzbar und sterblich. Immerhin konzentrierte sich der Alte des Schreckens auf mich. Den König ließ er in Ruhe. Wahrscheinlich wollte er mich endgültig fertigmachen, bevor er sich Ludwig II. vorknöpfte. Der Monarch stand vor Schreck wie gelähmt am Ufer. Ich konnte mir vorstellen, daß alles zuviel für ihn war. Soeben hatte er erleben müssen, wie sich sein Arzt in eine blutgierige, entsetzlich ent92 �
stellte Bestie verwandelt hatte. »Komm in die Hölle, Hellmann!« Die Krallen des Vampirwesens griffen nach mir. »Komm auf Mephistos Folterbank! Für tausend mal tausend Jahre.« Ich wehrte ihn mit dem Dolch ab. Aber ich wußte, daß die Klinge trotz der weißmagischen Aufladung eine jämmerliche Waffe gegen einen solchen mächtigen Dämon war. Und er wußte es auch. Trotzdem kämpfte ich verbissen weiter. Dracomar erwischte mich mit einem Tritt. Ich taumelte wieder an Land. Naß wie eine Katze. Breitbeinig, mit ausgebreiteten Armen kam der Blutdruide näher. Er war wieder in derselben Aufmachung wie bei unserer ersten Begegnung. Schwarzer Schlapphut, schwarzer Umhang mit rotem Futter. Seine Krallen würden mir in wenigen Sekunden das Fleisch von den Knochen fetzen. Da kam unerwartete Hilfe! * Zuerst glaubte ich, zu träumen. Vielleicht war ich ja schon tot. Und die Rettung wurde meinem verwirrten Geist nur vorgegaukelt? Doch die Schmerzen durch Dracomars Schläge und Tritte waren zu real. Ich war noch lebendig. Wenn es auch weh tat. Die Hilfe kam aus der Luft. Aus meiner eigenen Zeit war ich die Motorengeräusche von Flugzeugen und Hubschraubern gewöhnt. Doch im Jahr 1886 gab es so etwas noch nicht. Doch ein Irrtum war ausgeschlossen. Was dort über dem Starnberger See einschwebte und sich zum Wassern klarmachte, war eindeutig ein Flugzeug. Wenn auch das Seltsamste, das ich jemals gesehen hatte. 93 �
Es hatte zwar Tragflächen und einen Propeller. Doch es wirkte nicht wie eine Maschine, sondern wie ein riesiger Vogel. Wie ein Pfau. Die Tragflächen waren mit buntschillernden federartigen Verzierungen versehen. Auch zog das Flugzeug einen enorm langen Schweif hinter sich her. Die letzten Strahlen der Abendsonne tauchten es in ein unwirkliches Licht. Der Regen hatte wie auf Bestellung für einige Minuten aufgehört. Plötzlich verstand ich. Das mußte der legendäre »Pfauenwagen« sein, den der König in Auftrag gegeben hatte! Ludwig II. war nicht geisteskrank. Überhaupt nicht! Er war bloß seiner Zeit um zehn Jahre voraus gewesen. Sein Pech, daß er von seiner Umgebung nicht verstanden wurde. Aber darüber konnte ich später philosophieren. Jetzt mußte ich erst einmal den König und mich vor Dracomars Fangzähnen retten. Denn ich bezweifelte, daß der Pfauenwagen eine weißmagische Bewaffnung an Bord hatte. Ich würde mich wieder einmal auf mich selbst verlassen müssen. Immerhin hatte mir das Auftauchen des seltsamen Flugzeugs eine Atempause verschafft. Ich nutzte sie, um den Siegelring an meinem Muttermal zu aktivieren. Und während ich dies tat, fiel mir ein möglicher Ausweg ein. Obwohl ich ihn noch nie probiert hatte. Dracomar war ein Blutdruide. Er stammte aus vorchristlicher Zeit, aus dem grauen Altertum Europas. Also konnte man ihm doch mit einem weißmagischen Bann aus dieser Zeit beikommen. Oder nicht? Ich wußte nicht viel über die Blutdruiden. Nur, daß sie die guten Druiden bekämpft hatten. Die weißen Druiden waren Heiler gewesen. Priester, die ihre geheimen Kräfte zum Wohl der Menschen eingesetzt hatten. Und diese weißen Druiden hatten sich an heiligen Hainen versammelt. »Eichenhaus« wurden solche Plätze genannt. Und das hieß in der Sprache der Druiden 94 �
DAIRTHECH. Mit dem leuchtenden Strahl aus meinem Ring schrieb ich das Wort DAIRTHECH vor mich auf den Boden. Damit machte ich meine Umgebung zu einem heiligen Hain. Ein grelles, weißes Licht flammte auf. Die Visage des Blutdruiden verzerrte sich vor Ekel. Für einen Moment sah es noch so aus, als wolle er sich auf mich stürzen. Doch dann wich er zurück vor der geballten Kraft des Guten. Verzog sich in seine höllischen Abgründe. »Wir sehen uns wieder, Mark Hellmann!« Diese schaurige Drohung ließ er zurück. Erschöpft von dem Kampf fiel ich auf den Rücken. Rang nach Atem. Ich sah, wie ein Mann aus dem »Pfauenwagen« kletterte und mit einem kleinen Faltboot an Land paddelte. Dann kam er auf mich zu. »Ich heiße Friedrich Brandt«, stellte er sich vor. »Und ich bin gekommen, um meinen König abzuholen!« * Als Tessa erwachte, brummte ihr der Schädel. So, als ob sie drei doppelstöckige Klare gekippt hätte. Verwirrt sah sie sich um. Die Höhle war verschwunden. Sie lag in der Mittagssonne in einem Moosbett. An einem Abhang. Vermutlich irgendwo am Natternberg. Aber außerhalb des Berges. Nicht darin. Wie war sie dorthin gekommen? Vorsichtig stand die Polizistin auf. Die Gegend kam ihr bekannt vor. Dort vorne. Hatte Hans sie an dieser Stelle nicht in den Berg geleitet? Mit weichen Knien ging sie auf die Stelle zu. Doch sie mußte sich wohl getäuscht haben. Dort war ein Höhleneingang zu erkennen. Aber er war mit zentnerschweren Gesteinsbrocken versperrt. Tessa verstand überhaupt nichts mehr. Nervös griff sie in ihre 95 �
Hosentasche nach einem Taschentuch. Mit hervor holte sie eine Notiz, geschrieben auf Büttenpapier. Liebe Tessa Hayden! Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Meine Männer und ich sind in Sicherheit. Wir mußten nur unser Quartier wechseln. Aber für solche Notfälle haben wir vorgesorgt. Grüßen Sie Mark Hellmann von mir. Sagen Sie ihm, daß ich tief in seiner Schuld stehe und ihm herzlich danke. Ihr Ludwig. Die junge Frau wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Da wurde ihre Aufmerksamkeit schon wieder abgelenkt. Die Luft um sie herum vibrierte. Und dann stürzte Mark Hellmann aus dem Nichts hervor. * Tessa nahm keine Rücksicht darauf, daß ich nach meinen Zeitreisen immer ziemlich angeschlagen und erschöpft bin. Zu groß war ihre Freude, mich gesund wiederzusehen. Und daß ich gerade nackt war, erschien ihr wie eine eindeutige Einladung. Ich habe ihren Verführungskünsten noch nie widerstehen können. Und so kam es, wie es kommen mußte. Kaum war ich im Jahre 1999 gelandet, als wir uns schon bald lustvoll auf dem Waldboden wälzten. Tessa ließ mich spüren, wie sehr sie mich vermißt hatte. Ich glaubte, alle Engel im Himmel singen zu hören. Später lagen wir nebeneinander und schauten hoch in den bayerischen Sommerhimmel. »Ein Pfauenwagen?« wiederholte meine Freundin ungläubig. Ich hatte gerade von meinen Abenteuern erzählt. Na ja, von den meisten zumindest. Das mit Luise ließ ich diskret weg. »Ja, ein Pfauenwagen. Die ganze Geschichte der Luftfahrt müßte umgeschrieben werden, Tessa. Aber dieses Flugzeug ist 96 �
geheim geblieben. Der König war damals ganz froh, daß ihn die Welt für tot hielt. Er wollte lieber seine Ruhe haben. Deshalb stieg er in den Pfauenwagen und flog wahrscheinlich direkt hierher. In sein Versteck.« »Dann hat er alles von langer Hand vorbereitet?« »Genau, Tessa. Er wollte untertauchen. Nur einige Getreue wußten von dem Plan. Einer von ihnen war dieser Friedrich Brandt, der den Pfauenwagen bauen sollte. Das steht sogar in den Geschichtsbüchern. Dort steht aber nicht, daß dieses Ding wirklich geflogen ist.« Ich grinste. »Und was ist mit der Leiche des Königs? Ich habe gelesen, daß sie in der Münchener Residenzkapelle aufgebahrt wurde.« »Ein glücklicher Zufall. Einer der Getreuen des Königs war Arzt. Einer seiner Patienten starb am 13. Juni 1886 an Lungenentzündung. Dieser Unglückliche sah Ludwig II sehr ähnlich. Man schaffte die Leiche zum Starnberger See. Dieser Lungenkranke liegt heute in der Michaelskirche begraben.« Tessa war verblüfft. »Und der Psychiater? Sein Leichnam wurde doch auch aus dem See gezogen.« »Stimmt. Dracomar hat den echten Dr. Bernhard von Gudden getötet. Der Tote wurde ebenfalls von den Helfern des Königs gefunden und zum See gebracht. Und so entstand das Rätsel um Ludwig II.« »Bis du es gelöst hast!« Tessas Augen strahlten bewundernd. Ich zog sie an mich. »Leider müssen wir dieses Geheimnis für uns behalten.« Tessa hatte mir auch vom Überfall der Erdgeister erzählt. Und von dem Brief des Königs in ihrer Tasche. »Immerhin«, fuhr ich fort, »scheint der alte Knabe in Sicherheit zu sein. Und wir beide sind gesund und am Leben.« * 97 �
Ein kleines Nachspiel hatte die Geschichte um Ludwig II doch noch für mich. Allerdings ein angenehmes. Eine Woche nach den Ereignissen am Natternberg schaute ich in Weimar mal wieder bei meiner Bank vorbei. Der Angestellte schenkte mir ein Lächeln. Verwechselte er mich? So groß waren meine Einkünfte doch auch nach meinen Interviews und Fernsehauftritten nicht gewesen. Was war passiert? Ich bemerkte es, als ich mir von ihm die Kontoauszüge geben ließ. Mein Konto wies ein dickes Plus auf! Und dann las ich den Hinweis auf die Überweisung. Sie kam von der Bayerischen Regierungskasse. »Markus Hellmann«, stand dort. »Angestellter im Bayerischen Staatsdienst, Juni 1886. Leibwächter. Lohn: 200 Taler. Auszahlung seinerzeit nicht erfolgt. Auszahlung 1999, mit Zinseszins in DM.« Das war eine Riesensumme! Ich grinste. »Vielen Dank, Euer Majestät!« sagte ich laut und verbeugte mich. Der Bankangestellte blinzelte mich seltsam an. ENDE
98 �
Die Jagdhütte lag versteckt auf einer Lichtung am Rande des Odenwaldes. Eine dünne Rauchfahne kräuselte aus dem Schornstein. Der erste Schnee des Jahres hatte sich auf die Landschaft gelegt und verlieh ihr etwas Romantisches. Die Stille, die man hier jedoch erwartete, wurde durch laute Musik und laute Stimmen erheblich gestört. Ausgelassene Stimmung herrschte bei den Jugendlichen, die sich Nacht würde sie das Grauen in Panik versetzen. Wenn sie denn überlebten.
Tessa gegen die Blutbestien � heißt der 28. Hellmann-Roman von C.W. Bach, und er bietet für ein paar Stunden gruseligen Lesespaß!
99 �