MYTHOR Drachenflug von W. K. Giesa
Band 12
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MYTHOR Drachenflug von W. K. Giesa
Band 12
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Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, wieder mal liegt ein MYTHOR-Buch vor Ihnen, das von Gegensätzen geprägt ist, vor allem von Gegensätzen landschaftlicher Natur: mal die Hitze der Wüste von Salamos, mal die eisigen Stürme der schroffen Götterberge, mal die wilde Landschaft in den Gebieten nördlich der Strudelsee. Solche Gegensätze passen zur Fantasy-Literatur, die gerne als Fortsetzung der klassischen Abenteuer- und Reiseliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrachtet wird. Während die Autoren zu jener Zeit ihre Abenteuergeschichten in fernen Kontinenten ansiedeln konnten, etwa die legendären »Tarzan«-Geschichten, die in den Dschungeln Afrikas spielen, wichen die Autoren in dem Maße auf ferne Welten oder fantastische Universen aus, in dem die »weißen Flecken« auf der irdischen Landkarte durch Entdecker erforscht wurden. Da es nur noch wenige abenteuerliche Geschichten gibt, die über Entdeckungsreisen etwa in Afrikas Wüsten oder in den Hochgebirgen Asiens oder Südamerikas zu erzählen sind, bietet es sich für findige Autoren geradezu an, Abenteuer ins Reich der Fantasie zu verlagern. Im vorliegenden Fall eben in die Welt von Mythor, durch die sich der junge Sohn des Kometen ebenso bewegt wie seine Freunde Nottr, der Barbar, und Sadagar, der Steinmann. Lassen Sie sich von W. K. Giesa in seinem Roman »Drachenflug« ebenso in diese Welt begleiten wie von Neal Davenport in »Das Tor des Südens« und von Peter Terrid in »Die Inseln der Verfemten«. Viel Vergnügen bei dieser erlebnisreichen Reise! Klaus N. Frick
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Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Befehl von Dämonenpriestern machen sich ihre Handlanger, die Caer, daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die auf den Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern rettet sich unter anderem ein junger Mann namens Mythor, dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß er sich diesen Titel erst erkämpfen muß. Nachdem Mythor vor einer Invasion der Caer fliehen konnte, erfüllt er die erste der Aufgaben, die ihm gestellt wurden: In Xanadas Lichtburg kann er das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen. Nach weiteren Abenteuern in der belagerten Stadt Nyrngor gelangt Mythor zu Althars Wolkenhort, wo er nach harten Kämpfen den Helm der Gerechten erringen kann. Dieser soll ihn künftig schützen und ihm den Weg zu anderen Stützpunkten des Lichtboten weisen. So gerüstet macht sich der Sohn des Kometen auf die Suche nach weiteren Verbündeten, die er im Bereich der Zaubertiere zu finden hofft: ein Einhorn, einen Schneefalken und den Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt geheult haben soll. Zuerst gehorchen die Tiere Hester, dem Bruder Elivaras von 4
Nyrngor, doch dann überläßt der junge Prinz die Zaubertiere dem Kometensohn. Gemeinsam mit den Tieren erreicht Mythor schließlich das Land Ugalien, das ebenfalls von den Caer bedroht wird. Mythor lernt schnell, die aufgeputzten, selbstgefälligen Adligen mit ihren Ränkespielen zu verachten. Dazu kommt die Erkenntnis, daß die Dämonenpriester unter den Magiern am Hof seines Gastgebers einen mächtigen Verbündeten haben, der im Auftrag des obersten der schwarzen Priester handelt. Es gelingt Mythor immerhin, diesen zu besiegen, und er erlebt sogar den Beginn des gemeinsamen Kriegszugs gegen die Caer. Mythor beobachtet als Kundschafter die Vorbereitungen der Dämonenpriester. Rasch wird ihm klar, daß der Krieg durch Schwarze Magie entschieden wird. Seine Warnungen verhallen ungehört, und am Tage der Schlacht geschieht genau das, was Mythor befürchtet hatte: Die Kämpfer des Lichts erleiden eine furchtbare Niederlage. Die Länder des Nordens können keinen Widerstand mehr leisten, und Mythor muß nach Süden fliehen. Überall trifft Mythor auf die Sendboten des Bösen. Vier Todesreiter setzen sich auf seine Spur, um ihn endgültig aus dem Weg zu schaffen. Und zu allem Überfluß trifft Mythor einen alten Bekannten wieder – Luxon, der ihn schon einmal betrogen hat und der nun behauptet, selbst der Sohn des Kometen zu sein! In der Stadt Leone hofft er, eine Weile Ruhe zu finden, doch vergebens: Todespflanzen greifen die Stadt an, und erneut muß er fliehen, um wenigstens den »Baum des Lebens« zu retten, den er als weiteren Fixpunkt des Lichtboten erkennt. Doch welche Überraschung, als Luxon die dort aufbewahrten Lichtwaffen an sich nimmt und damit flüchtet! Mythor kommen erste Zweifel, ob wirklich er und nicht Luxon der echte Kometensohn ist… 5
Vielleicht kann das Orakel von Theran in dieser Frage entscheiden? Aber als Mythor zu dem legendären Orakel vordringt und seine Fragen stellt, erhält er keine brauchbaren Antworten. Also sucht er jenen Ort auf, an dem man ihn einst als fünfjähriges Kind aufgefunden und mitgenommen hat. Aus den Trümmern eines gewaltigen Meteorsteins soll er gestiegen sein. Doch dieser Stein stellt sich als tödliche Gefahr für den Sohn des Kometen heraus: Nach einer Berührung des Steins fällt Mythor in eine Todesstarre…
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W. K. Giesa
DRACHENFLUG Sie kamen aus jener Richtung, in der die Straße des Bösen zu finden war. Nur langsam wichen die Nebelschleier des frühen Morgens, aus denen die Reiter, die die eigenartige Kolonne bildeten, wie Geister hervorkamen. Hufschlag klang auf, und aus der Luft kamen klagende Schreie eines Vogels. Der Schneefalke zog mit langsamen, traurigen Flügelschlägen seine Kreise. Ein Schimmelreiter in goldenem Burnus und mit verhülltem Gesicht führte den Trupp an, der sich langsam voranbewegte und dem Osten zustrebte. Der Stumme Große wandte sich nicht um. Starr sah er geradeaus in die Ferne. Zehn seiner Männer folgten ihm, dazu ein knabenhaft schlankes Mädchen mit langem rotbraunem Haar. Auf ihren Pferden schlossen sie einen Kreis um ein schwarzes Einhorn mit einem prunkvollen Sattel auf seinem Rücken. Doch er war leer. Für jenen, der sonst darauf zu reiten pflegte, hatten sie eine Trage gebaut, deren Längsstangen am Kopfende an den Steigbügeln befestigt waren und mit den Fußenden über den Boden scharrten. Mythor lag wie tot darauf. Blaß war sein Gesicht, kein Muskel regte sich, kein Zucken war zu sehen, wenn die Stangen über eine Bodenunebenheit glitten. Neben ihm trottete mit gesenktem Kopf der Bitterwolf, und immer wieder kam der Schneefalke herab und gab einen seltsamen Schrei von sich. Es sah aus, als gäben die Tiere aus dem verwunschenen Tal ihrem Freund das letzte Geleit. Ein Trupp von zwanzig Schurketen hatte sich dem seltsamen 7
Zug angeschlossen; ihr Ziel war dasselbe, dem auch der Stumme Große entgegenstrebte. Die eigenartige Gefolgschaft zog vorüber, verschwand in den sich langsam auflösenden Morgennebeln. Der Hufschlag verhallte. Keiner der Reiter hatte den Mann in der nebelgrauen Kleidung gesehen, der sich jetzt hastig zurückzog, zu seinem Pferd eilte und sich in den Sattel schwang. Er trieb das Pferd an, als sei ein Dämon hinter ihm her.
Weit vor ihnen erhob sich Yarman-Rash, die Speicherburg der Schurketen, auf einem so gut wie unzugänglichen und deshalb uneinnehmbaren Tafelberg. Nur über einen schmalen Eselspfad, der sich an den Felsen emporwand, war die Burg zu erreichen, in der die Schurketen ihr Winterquartier eingerichtet hatten. Vierfaust, der Stumme Große, hatte beschlossen, Mythor dorthin zu bringen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, ihm noch zu helfen, vielleicht wußte der Weiße Große, wie man den Schatten besiegen konnte, der am Meteorstein in Mythor gefahren war und seither in ihm fraß. Vierfaust wußte nichts von dem, was wirklich geschehen war, doch manches konnte er sich denken. Hinter ihm erklangen Stimmen. Einige der Schurketen wollten wissen, was es mit dem reglosen Mann auf sich hatte, und Mistra, die junge Frau, gab Auskunft. Vierfaust war froh darüber, die zwanzig schurketischen Viehhirten in seiner Nähe zu wissen; das Land war unruhig und die Gefahr überall. Die Schurketen waren gut bewaffnet und verstanden zu kämpfen; oft genug mußten sie sich der Überfälle der Berker erwehren. Unter dem Tuch, das sein Gesicht bis auf die Augen verhüllte, verzog Vierfaust seine Miene zu der Andeutung eines bitte8
ren Lächelns. Berker und Schurketen… eine alte Feindschaft herrschte zwischen beiden Stämmen. Vor einer Generation waren die Herden der Berker von einer unbekannten Krankheit dahingerafft worden. Dieser Schicksalsschlag hatte ihnen die Grundlagen ihres Lebens genommen. Doch die Berker hatten sich zu helfen gewußt. Sie raubten eine große Herde von Grammen von den Schurketen. Und obwohl viele der schurketischen Hirten ihre Tiere wiedererkannten, leugneten die Berker stets, und das Leugnen fiel ihnen leicht, mit der Hand am Schwert oder am gespannten Bogen. Auch hieß es, daß sie sich mit den Mächten der Finsternis verbunden hätten, und manch einer wußte zu erzählen, daß bei ihren Ritualen nicht nur Gramme auf den Altären der Dämonengötzen geopfert wurden. Doch jene seltsame, unbesiegbare Krankheit, die ihre eigenen Herden ausgerottet hatte, war nicht der letzte Schicksalsschlag gewesen, der die Berker getroffen hatte. Siebzehn Sommer mochte es jetzt hersein, als eine neue Plage auftrat. Churkuuhl, die wandernde Stadt auf dem Rücken der unbeirrbar voranmarschierenden Yarls, zog durch ihr Land, und die Yarls ließen nur unfruchtbare Erde zurück. Nichts blieb den Berkern als öder Boden, der ihren Tieren keine Nahrung mehr bot. Armut kam über den Stamm, und der Stamm von Habenichtsen wurde endgültig zu einem Stamm von Plünderern und Wegelagerern, die das Land unsicher zu machen begannen. Längst konnte in ihrer Speicherburg Dhachar-Rash kein Steppengras mehr lagern, das den Grammen Futter für den Winter gewährte, längst konnte es keine Gromme mehr in ihrer Burg oder auf ihren Ländern geben. Doch vielleicht war die Speicherburg zu einem Hort der geraubten Schätze geworden, die dort »gespeichert« werden mochten. Niemand wußte es genau. Doch jeder wußte, was er von den 9
Berkern zu halten hatte. Und deshalb war Vierfaust froh darüber, daß er Verstärkung durch die zwanzig Hirten erhalten hatte, die in ihre Speicherburg Yarman-Rash zurückkehrten. Allein der kostbare Sattel war Anreiz genug für einen Überfall, ganz zu schweigen von den seltenen Tieren. Unwillkürlich glitt Vierfausts Hand an den Knauf seines kostbar verzierten Krummschwerts. Sollten die Berker ruhig kommen. Sie würden eine böse Überraschung erleben.
Dhachar-Rash mit seinen finsteren Schutzmauern erhob sich am Hang eines niedrigen Berges. Wie ein grauer Blitz jagte ein Reiter durch das Tor, das direkt hinter ihm wieder zugeworfen wurde. Der Mann in der grauen Kleidung, die sich kaum von Felsen und Geröll abhob, sprang aus dem Sattel des noch laufenden Pferdes. Ein Bursche griff nach den Zügeln, als das Tier anhielt. Der Graugekleidete, der den Durchzug der Stummen Großen und der Schurketen-Hirten beobachtet hatte, setzte sich in Bewegung. Ein paar andere Berker kamen auf ihn zu. Der Graue machte eine abweisende Handbewegung. »Der Cran! Wo ist er?« »In seinen Stiefeln, wo sonst?« murmelte einer der anderen. Der Graue packte zu und riß den Mann an seinem Wams zu sich. »Dumme Antworten kann ich mir selbst geben«, zischte er. »Wo ist der Cran? Er wird dich an den Füßen aufhängen, wenn die frohe Nachricht zu spät zu ihm kommt!« Der andere verzog das Gesicht, als der Graue ihn wieder zurückstieß. »Beute?« »Und was für welche!« Ein zweiter Berker streckte den Arm aus. »Du findest den Cran in seinem Haus. Er frühstückt soeben.« Der Graue hastete davon. Er lief über den Innenhof der Spei10
cherburg auf das Haus des Cran zu. Wie bei allen Stämmen im südlichen Salamos war dies der Titel, der dem Verwalter einer Speicherburg gebührte. Doch ein Cran verwaltete nicht nur gespeichertes Steppengras und Grom-Herden, sondern war in Krisenzeiten auch so etwas wie ein Kriegshäuptling, dem die Verteidigung der jeweiligen Burg oblag. Cran Moushart, der sich beim Eintreten des Grauen mit verärgertem Stirnrunzeln erhob, war nichts von alledem. Er war ein Räuberhauptmann, der die Plünderer und Raubritter der Berker anführte – und nicht nur dies. Moushart befaßte sich mit Schwarzer Magie. Der von den salamitischen Steppenvölkern wie auch von den »Beschützern« aus den Heymalländern sowohl gefürchtete wie auch gehaßte Cran starrte den Grauen finster an. »Siehst du nicht, daß ich mich den Ergötzlichkeiten eines opulenten Frühstücks hinzugeben beliebe? Wie kannst du es wagen, mich zu stören?« Der Graugekleidete verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Jeder andere hätte bei dieser respektlosen Geste mit sofortiger Bestrafung rechnen müssen. Nicht so Orgor, der Graue. Er gehörte zu den Spähern des Räuberhauptmanns und war unter ihnen der Beste, so daß er sich derlei Frechheiten erlauben durfte. »Ich sah Beute, Cran«, sagte er. »Lohnende Beute.« Der Gesichtsausdruck Mousharts veränderte sich. Wachsam und begierig zugleich sah der Cran seinen Späher an. Wenn Orgor derart sicher auftrat, konnte man gewiß davon ausgehen, daß er eher unter- als übertrieb. »Das ist wahrlich ein Grund, die Annehmlichkeiten eines guten Frühstücks ein wenig zu schmälern durch die Anwesenheit eines Spähers. Setz dich her, und wenn du allzu hungrig bist, darfst du auch einen Käse verzehren.« Orgor winkte grinsend ab. »Und anschließend vor Durst 11
vergehen«, sagte er, aber er nahm an der Tafel des Cran Platz. Eine Menge gut gewürzter Speisen war vor Moushart aufgebaut worden; reichhaltig und gut zu frühstücken war ihm ein Herzensbedürfnis. Alle anderen Mahlzeiten konnten weitaus schmaler ausfallen, doch frühmorgens schrie sein Magen förmlich nach schmackhafter Sättigung, und es war unter den Berkern zur Redensart geworden, daß selbst ein hungriger Wolf nicht so furchterregend sei wie ein beim Frühstück gestörter Moushart. »Sprich, Orgor«, verlangte Moushart. »Was hast du gesehen?« »Schurketen«, sagte der Graue trocken. Der Cran holte mit einer Grom-Keule aus, die er im Lauf des Frühstücks bis auf die letzten Fleischfasern abzunagen beabsichtigt hatte. »Ich schlage dir diesen Knochen um die Ohren, wenn das alles ist, was du sahst«, drohte er grimmig. »Etwa zwanzig Hirten«, sagte Orgor. »Sie reiten Geleitschutz für eine Handvoll Stummer Großer.« Cran Moushart schnaufte. »Du spielst mit deinem Leben, Orgor. Was sollen die Stummen Großen schon an Schätzen bieten außer ihren kostbar verzierten Schwertern?« Orgor lächelte wissend. »Sie führen einen Nordländer mit sich. Ihm gehören ein Einhorn sowie eine Menge anderer kostbarer Dinge. Ein reich verzierter, prunkvoller Sattel und Waffen, wie du sie nie zuvor gesehen hast, Cran.« Moushart, der seine Zähne gerade in das Fleisch versenkt hatte, riß ein gewaltiges Stück aus der Grom-Keule heraus, kaute kräftig und nachdenklich und senkte dabei die buschigen schwarzen Brauen. »Beschreibe, oder, bei Dryazituum, du landest in einem großen Topf mit kochendem Pech und Schwefel!« Orgor hob die Schultern. Mousharts Drohung war in diesem speziellen Fall unwichtig. Der Cran hatte längst angebissen. 12
Der Späher begann die Einzelheiten zu beschreiben, die ihm aufgefallen waren, und es waren nicht gerade wenige. Der Cran frühstückte geruhsam zu Ende, aber in seinen dunklen Augen blitzte es. »Orgor, du hast die Beute entdeckt, so gebührt es dir, den Überfall anzuführen. Nimm dir Männer, so viele du benötigst, und nimm den Schurketen und Stummen Großen ab, was sie ohnehin nicht länger benötigen. Ich weiß, du wirst es schaffen.« Orgor erhob sich und verneigte sich leicht. »Ich werde es mit großem Vergnügen tun, Cran«, versprach er. Als er die Tür geöffnet hatte und ins Freie treten wollte, flog krachend neben ihm ein abgenagter Knochen an den Türrahmen. »Wage nicht, ohne Beute zurückzukehren!« schrie der Cran. Orgor entschwand hurtig. Seine Gedanken beschäftigten sich bereits damit, einen Trupp verwegener Gesellen zusammenzustellen, die wie der Sturmwind über die schurketischen Viehhirten und die Stummen Großen herfallen würden. Nicht mehr lange, und die Kostbarkeiten, die sie mit sich führten, würden die Besitzer wechseln.
Vierfausts Augen verengten sich leicht, als er weit am Horizont die Staubwolke sah. Es war das erste Mal seit Stunden, daß er sich im Sattel umgedreht hatte, um zurückzublicken. Sein Blick war über Mythor geglitten, über seine Gefährten und die Schurketen, und weit hinten sah er jetzt die Wolke. Fast gleichzeitig hob Hark seinen mächtigen Wolfsschädel und knurrte leise. Der Schneefalke glitt tiefer. Vierfaust konnte sich denken, wer diese Staubwolke in den Weiten der Steppe verursachte. Berker! signalisierte er den anderen mit seiner Zeichensprache. Sie greifen uns an! 13
Die Stummen Großen entfernten sich etwas von dem Einhorn und Mythor, um Bewegungsfreiheit zu bekommen. Die Schurketen, die die Zeichensprache der Stummen Großen nur teilweise zu deuten vermochten, richteten eine entsprechende Frage an Mistra. Doch die junge Frau mit dem rotbraunen, langen Haar hatte die Staubwolke selbst ebenfalls entdeckt und streckte den Arm aus. »Berker!« pflanzte sich der Alarmruf fort. Die Hände der Hirten glitten zu ihren Waffen. Vierfaust hob die Hand. Der seltsame Zug geriet ins Stocken. Mit beiden Händen begann der Anführer der Stummen Großen zu gestikulieren. Pfeifende Laute drangen aus der winzigen Schlürföffnung seines vernähten Mundes hervor und erteilten Anweisungen. Die anderen Stummen schwärmten aus. Diesmal begriffen die Schurketen auch ohne Übersetzung. Sie gaben ihren Pferden die Sporen, schwärmten zu einer weiten Zange auseinander. Die beiden Flanken der Reihe ritten rascher als der Mittelteil, und langsam, aber sicher bildete sich ein Halbkreis, der sich um die angreifenden Berker schließen würde. Nur Vierfaust und die junge Frau blieben bei Mythor zurück. Schweigend beobachteten sie, wie die beiden Gruppen aufeinander zuritten. Plötzlich jagte der Bitterwolf mit schnellen, weiten Sprüngen davon, den Reitern nach. Auch ihn hatte die Kampflust gepackt. Dreimal so viele Mannslängen, wie ein Jahr Tage hat, von Vierfaust, Mythor und Mistra entfernt prallten die beiden Gruppen aufeinander. Das Klirren der Schwerter und das Schreien der Getroffenen hallten bis zu ihnen herüber. Ein erbitterter Kampf entbrannte.
Der Kampf währte nicht lange. Die Morgensonne war noch 14
nicht um eine Handspanne am Himmelweitergewandert, als er sein Ende fand. »Ayyah!« schrien die Schurketen und setzten den fliehenden Räubern nach, ihre Schwerter schwingend, die im Licht der Sonne blitzten. Die wenigen überlebenden Berker rasten in vollem Galopp davon. Die Schurketen trieben sie fast eine Meile weit, bis sie einhielten und umkehrten. Sie wie auch die Stummen Großen konnten zufrieden sein. Sie hatten keine Verluste hinnehmen müssen, lediglich ein paar Männer hatten Verwundungen erlitten. Etliche der Berker dagegen lagen tot am Boden; einer von ihnen trug felsgraue Kleidung und war vom Krummschwert eines Stummen Großen gefällt worden. Die Hirten waren guter Laune ob des überraschend schnellen Sieges. So überraschend leicht wie diesmal waren sie nie zuvor mit den Berkern fertig geworden. Lag es daran, daß die Großen an ihrer Seite gekämpft hatten? Manch einer der Schurketen warf den geheimnisumwitterten Stummen bewundernde Blicke zu. Vierfaust hob die Hand, reckte sie hoch empor und ließ den Arm dann nach vorn fallen. Vorwärts! pfiff er in der seltsamen Sprache, die nur die Stummen und Mistra verstanden. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Auch der Bitterwolf, der manchem Berker eine böse Überraschung bereitet hatte, war wieder herangekommen. Traurig hing sein Kopf herab, als er weiter neben der Trage hertrottete, auf der Mythor lag. Während des ganzen Geschehens hatte der Sohn des Kometen sich nicht ein einziges Mal bewegt, nicht einmal mit einem Lid gezuckt. Der Schatten, der in ihn gefahren war, hatte ihn unter Kontrolle und fraß an seinem Leben. Vor ihnen, auf dem Tafelberg, erhob sich die Speicherburg Yarman-Rash.
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Yarman-Rash war mit Abstand die größte der Speicherburgen. Schroff und steil ragten die Felswände empor, und jemand, der hinaufwollte, mußte schon Flügel besitzen, es sei denn, er benutzte den schmalen Pfad, der gerade einem Mann und einem Pferd oder Esel Platz bot und sich in zahllosen Windungen hinaufschlängelte. Immer wieder kamen die scharfen Kurven und das schroffe, steile Abfallen der Kanten. Ein Fehltritt, und der Benutzer des Pfades stürzte unrettbar in die Tiefe. Nicht wenige ausgebleichte Gebeine Unglücklicher lagen am Fuß der Felsen. Im Westen fiel die Felswand völlig senkrecht ab. Hier gelangte niemand hinauf, es gab keine Möglichkeit, die teilweise überhängende Wand zu erklimmen. Doch die Schurketen hatten sich hier etwas einfallen lassen. Auf ein geheimes Zeichen hin konnten Körbe an starken Seilen herabgelassen werden, in denen man sich nach oben ziehen lassen konnte. Aber auch diese praktische Beförderungsmethode, gefahrlos in die Rash zu kommen, war vom Feind nicht einzunehmen. Falls es einem Gegner gelang, das geheime Signal herauszufinden, auf das hin der Korb herabgelassen wurde, war doch jeder dieser Körbe nur in der Lage, zwei Männer oder ein Pferd oder ein Grom zu befördern. Und mit zwei feindlichen Kriegern wurde man spielend fertig. Cran Achad, der Burgherr, wußte, daß es allerdings noch einen weiteren, streng geheimen Zugang gab. Nur er kannte ihn, niemand sonst. Und Achad war der Ansicht, daß es richtig war, wenn niemand außer ihm oder einstmals seinem Nachfolger von diesem geheimen Zugang wußte. Ein Geheimnis ist stets um so sicherer, je weniger Leute davon wissen. Cran Achad sah aus der kleinen Fensteröffnung hinaus ins Freie. Ein paar Gromme bewegten sich zwischen den Häusern und Speichersilos; es gab innerhalb der Burg keine Ställe für die Tiere. Sie konnten sich frei bewegen, störten niemanden 16
und wurden von niemandem gestört. Irgendwo weit hinter Wohnhäusern und Silos ragte die Schutzmauer der Rash empor, hoch und uneinnehmbar. Wer sich innerhalb der Mauern befand, war sicher. Achad sah in die Runde. Sein Blick wanderte über die Häuser, in deren Obergeschossen Schurketenfamilien lebten. Keine Stiegen führten hinauf, sondern lediglich Trittsteine an den Außenwänden, die einiges an Schwindelfreiheit und Sicherheit voraussetzten; ein Betrunkener, der seine Wohnung erreichen wollte, war hoffnungslos verloren, denn die Trittsteine waren schmal. Ein Grund dafür war der Materialmangel. Der Fels des Tafelbergs war hart, das Herausschlagen von Steinen mühevoll. Das Wichtigste waren Schutzmauer und Silos, die Wohnungen der Schurketen waren weniger aufwendig gebaut. Auf platzraubende Stiegenhäuser hatte man daher verzichtet; die Trittsteine an den Außenwänden mußten reichen. Und wenn man einigermaßen schwindelfrei war und sich daran gewöhnt hatte, an einer Hauswand emporzuklettern, klappte das auch. Es gab ein besonderes Gebäude in der riesigen Speicherburg, die sich über die gesamte Fläche des Tafelbergs erstreckte und teilweise darüber hinaus, an den östlichen und südlichen Hängen hinunter. Tausend Schritt in der Länge und siebenhundert in der Breite maß Yarman-Rash und bot damit ein imposantes Bild. Keine andere Speicherburg besaß diese Ausdehnung, keine andere das Fassungsvermögen für Steppengras, das Yarman-Rashs Silos boten, und in keiner Rash lebten so viele Salamiter wie hier. Achad konnte stolz darauf sein. Das erwähnte besondere Gebäude mit ebenerdigen Wohnräumen beherbergte die Wohnung des Cran und seiner engsten Angehörigen. Das war in jeder Speicherburg so, doch in Yarman-Rash gab es noch eine Besonderheit. Hier wohnte in dem Haus nicht nur der Cran, sondern noch ein anderes We17
sen: der Weise Große Dreifingerauge. Der Weise Große saß Achad gegenüber. Er hatte den Cran zu sich rufen lassen, weil er ihm etwas mitzuteilen hatte. Achad war der Aufforderung unverzüglich gefolgt. Es konnte niemals schaden, den Worten eines Weisen Großen zu folgen; nicht umsonst wurden sie mit dieser Bezeichnung bedacht. Achads Blick wandte sich vom Fenster ab. Er sah den Weisen Großen an. Unter den Stummen Großen war er wie die anderen Weisen etwas Besonderes, ein hoher Würdenträger jenes Geheimbunds, dem die Stummen angehörten. Wie bei ihnen waren auch bei den Weisen Großen die Münder verschlossen, waren die Weisen unfähig zu sprechen, da durch ihr Schweigen die Sprechorgane verkümmerten. Nur mittels der Zeichen- und Pfeifsprache vermochten sie sich mitzuteilen und auf noch eine andere rätselhafte Weise, die Achad niemals völlig begriff. Durch das Fehlen der Lautsprache bedingt, war auch der Weise Große im Grunde namenlos. Seinen Namen »Dreifingerauge« hatte er deshalb erhalten, weil er sich mittels einer Gestik vorstellte, die zu dieser Bezeichnung geführt hatte: Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand wurden ausgestreckt und vor das Gesicht geführt, wobei der Daumen das rechte, der Mittelfinger das linke Auge berührte und der Zeigefinger gegen die Stirn drückte, so als befinde sich dort ein drittes Auge. »Die Speicher sind gefüllt, es war ein gutes Jahr«, sagte Cran Achad bedächtig. »Und das Steppengras wächst immer noch prächtig und ist bereits hoch genug für eine neuerliche Ernte.« Ruhig hörte der Weise Große ihm zu, langsam nickte er. Offenbar hatte er wegen dieses Problems Achad zu sich kommen lassen. »Die Gromme sind fett wie selten früher, wir leben in Wohlstand. Weshalb riefst du mich, Dreifingerauge? Ich ge18
denke, morgen oder übermorgen Männer auszusenden, das Steppengras zu ernten. Wir werden neue Silos bauen müssen, um die Mengen aufzunehmen.« Dreifingerauge machte eine abwehrende Bewegung. Aufmerksam verfolgte der Cran seine Gestik, die Zeichensprache, die er verstand. Die jahrzehntelange Übung, die Dreifingerauge darin besaß, sich auf diese Weise unmißverständlich auszudrücken, und Achads geschultes Auge ergänzten sich. Ungünstige Omen, teilte sich ihm der Große warnend mit. Die Zeichen stehen nicht gut! Achads Stirn umwölkte sich. »Was soll das bedeuten?« fragte er. Wie sich die Wolke des Nichtverstehens über dich legt, so zieht eine schwarze Wolke sich über Yarman-Rash zusammen und verdichtet sich. Hüte dich vor der Macht der Schattenzone. Gefahr droht. Langsam beugte sich der Cran vor. Dabei sah er unwillkürlich nach oben, als könne er die schwarze Wolke dort erkennen. Doch dort befand sich nur die Zimmerdecke, sonst nichts. »Gefahr? Schattenzone?« stieß er hervor. Stell die Ernte zurück! Wir besitzen genügend Gras für lange Zeit. Wenn die Männer hinausziehen, um das Gras einzubringen, werden Tod und Verderben über die Burg kommen. Die Gefahr droht von überall, das Böse ist aktiv wie niemals zuvor und streckt seine gierigen Klauen nach Yar-man-Rash aus! Cran Achad sah den Weisen Großen schweigend an. Ein ungutes Gefühl begann sich in ihm auszubreiten. Der Weise hatte niemals gelogen, und was er hier von sich gab, war alles andere als angenehm. Wie jeder andere wußte er, daß die Schattenzone sich immer weiter ausdehnte, langsam und unregelmäßig nur, aber immerhin. Er wußte auch um die Macht, die dort herrschte und hin und wieder in Form von Schwarzer Magie und Dämonen 19
hier und dort auftrat. Die Priester der Caer bedienten sich dieser Schattenmacht, und auch Cran Moushart, der Raubritter von Dhachar-Rash, sollte sich den Gerüchten nach mit Schwarzer Magie befassen. Sag deinen Männern, daß sie mit der Ernte warten sollen. Wichtiger ist, die Gefahr zu bannen, die uns allen droht! verlangte Dreifingerauge. Der Cran erhob sich. »Ich werde es tun«, sagte er und verließ den Raum, als Dreifingerauge sich in »Schweigen« hüllte, also seine Zeichensprache einstellte. Draußen klatschte er in die Hände. Männer, die ihn gesehen hatten, eilten heran, um seine Anweisungen entgegenzunehmen. Während der Cran noch seine Befehle gab, betrat ein anderer Mann unaufgefordert die Wohnung des Weisen Großen. Es war einer der Schurketen, die zu Mythors Begleitung gehörten. »Vierfaust hat jenen gefunden, der sich Sohn des Kometen nennt!« sprudelte er atemlos hervor. »Er bringt ihn her!« Unbeweglich nahm Dreifingerauge die Botschaft zur Kenntnis. Nur in seinen Augen glomm etwas seltsam auf.
Nicht alle Schurketen lebten in der Burg, auch nicht im Winter, wenn die Gromme in die Rash gebracht wurden, um dort die kalte Jahreszeit zu verleben und von dem gespeicherten Steppengras genährt zu werden. Es gab eine Reihe von Stammessiedlungen in der Steppe, die sich um die Burg verteilten, wie es auch bei den anderen Stämmen üblich war. Die Bewohner dieser Ansiedlungen hatten ziemlich feste Häuser erbaut, in denen sie den Unwettern, dem Schnee und der Kälte trotzen konnten. Dort befanden sich auch kampffähige Männer, nicht nur Frauen, Kinder und Greise. Und wenn die Rash in Gefahr war, 20
hatten alle Stammesangehörigen, die eine Waffe tragen und benutzen konnten, die Verpflichtung, ihrem Stamm beizustehen. Dreifingerauges Warnung vor den Mächten der Schattenzone hatte den Cran tief getroffen. Er wußte jetzt, daß Gefahr drohte; der Weise Große hatte ihn noch nie zuvor falsch beraten. Achad mußte handeln. Und er handelte! Er schickte Boten hinaus zu den einzelnen Schurketensiedlungen. Er gab jedem von ihnen sein Siegel mit und den Auftrag, dafür zu sorgen, daß die kampffähigen Männer sich in der Nähe von Yarman-Rash sammeln sollten. Und dies unverzüglich und ohne jeglichen Aufenthalt. Sein Rang gab ihm das Recht zu dieser Forderung; im Fall einer Bedrohung hatte sich jeder Schurkete dem Cran bedingungslos unterzuordnen. Cran Achad dachte dabei und bei den »Worten« des Weisen Großen nicht allein an die Schattenzone, sondern auch an die Berker. Cran Moushart war dafür berüchtigt, mit dem Bösen zu paktieren. Er sollte Schwarze Magie betreiben und sogar einen Dämon kontrollieren. Was davon Wahrheit und was Dichtung war, wußte Achad nicht genau, aber er rechnete bei seinen Feinden grundsätzlich mit dem Schlimmsten, jede Enttäuschung konnte dann nur angenehmer Natur sein. Und wenn die Berker einen Angriff planten, konnte es nicht schaden, so viele Männer wie möglich unter Waffen zu haben, damit Moushart und seine Räuber sich blutige Köpfe holten. Daß die wirkliche Gefahr von einer völlig anderen Seite kam, konnte Achad nicht einmal ahnen. Nur der Weise Große mochte vielleicht etwas davon spüren, aber trotz der Exaktheit seiner Zeichensprache war es unsicher, ob der Cran wirklich das erkannt hätte, was Dreifingerauge ihm mitteilen wollte. Das Böse lauerte, hatte seine Klauen bereits ausgestreckt und brauchte sie lediglich zu schließen, um Yar-man-Rash zu vernichten… 21
Nicht viel später – die Sonne hatte den Zenit noch längst nicht erreicht – wurde das Burgtor erneut geöffnet, weil Stumme Große Einlaß begehrten. Der seltsame Zug mit Mythor hatte sich den Eselspfad hinaufgequält, war beinahe von den Boten des Cran niedergeritten worden, hatte es aber dennoch geschafft, anzukommen. Ihr Anführer hatte es leicht, sich bei den Torwachen vorzustellen. Jeder kannte die Geste der vorgezeigten Faust mit verdecktem Daumen. Vierfaust führte den Trupp aus Stummen Großen und schurketischen Hirten. Sie wurden ohne weiteres eingelassen. Unter den in Yarman-Rash ansässigen Schurketen erregte die Vorstellung, die allein die Existenz von Einhorn, Schneefalke und Bitterwolf bot, natürlich ungemeines Aufsehen. Männer, Frauen und Kinder eilten herbei, um sie aus der Nähe zu betrachten. Mythor selbst schenkte kaum jemand einen Blick. Was kümmerte die Schurketen ein auf einer Trage liegender, regloser Krieger, wenn es in seiner unmittelbaren Nähe viel interessantere Dinge zu sehen gab? Die Gruppe der wehrhaften Hirten löste sich sofort auf. Die Männer hatten ihr Ziel, die Rash, erreicht und eilten zu ihren Familien. Zurück blieben die Stummen Großen. Stoisch ritt Vierfaust voran und zeigte mit keiner Geste, ob ihn der Auflauf an Neugierigen störte oder nicht. Als er zum Haus des Cran kam, in dem auch Dreifingerauge lebte und seine aus mehreren Zimmern bestehende eigene Wohnung besaß – er war nicht in die Familie des Cran eingeschlossen, weil die Großen immer irgendwie unheimlich wirkten –, hob er die Hand und veranlaßte die anderen damit zum Halten. Fast im gleichen Augenblick trat eine eindrucksvolle Gestalt aus dem ebenerdigen Eingang des Hauses. Und Vierfaust 22
neigte sein Haupt vor dem Weisen Großen. Langsam schritt Dreifingerauge auf Mythor zu und sah ihn lange und nachdenklich an. Ein dunkelhaariger, kräftiger Krieger. Er mochte knapp mehr als zweiundzwanzig Sommer zählen. Es könnte stimmen, dachte Dreifingerauge. Er könnte es sein… Neben Mythor, der den Erzählungen des Boten nach der Sohn des Kometen sein sollte, sprang eine schlanke junge Frau vom Pferd. Sie trat an die Trage, dann sah sie Vierfaust fragend an. Der Stumme Große vollführte einige rasche Gesten. Wir werden ihn in eine leerstehende Wohnung bringen, bedeuteten sie. Der Weise Große rührte sich nicht. Er wartete ab, während Vierfaust mittels der Zeichensprache Befehle an die anderen Großen erteilte. Auch der Cran näherte sich. Mit schwachem Mißtrauen sah er auf Mythor hinab, verfolgte die Befehle des Stummen und beschloß, Vierfaust zu unterstützen. Er entsann sich, daß es eine leerstehende Wohnung in einem nicht zu hoch gelegenen Stockwerk eines nahen Gebäudes gab, und teilte ihre Lage den Stummen mit. Wie von selbst setzte sich das Einhorn in Bewegung und zog die Trage mit Mythor an die angegebene Stelle. Achad hob die Brauen. Verstand dieses Tier etwa, was man sagte? Sowohl Achad als auch Dreifingerauge beobachteten, daß die junge Frau mit dem langen Haar nicht von Mythors Seite wich. Der Weise Große gab Vierfaust einen Wink. Der glitt aus dem Sattel. Sein goldener Burnus wehte, als er Dreifingerauge in dessen Wohnung folgte. Wir haben uns einiges zu erzählen, signalisierte Dreifingerauge. Es lauert Gefahr! pfiff der Weise Große. Das und über den Sohn des Kometen, gab Vierfaust auf die gleiche Weise zurück. Er ließ sich gegenüber dem Weisen Großen nieder, auf dem 23
gleichen Platz, auf dem vor noch nicht allzu langer Zeit Cran Achad gesessen hatte. Schatten liegen über Yarman-Rash. Das Böse wartet. Es mag sein, daß es nach unserem Wissen greift. Es mag uns beobachten oder unserem Pfeifen zuhören. Deshalb werden wir das stumme Wort benutzen. Es war ein Befehl. Vierfaust fügte sich ihm. Er hatte begriffen. Der Sohn des Kometen und die Schattenmächte – sie gehörten zusammen wie Himmel und Erde. Das eine ohne das andere war kaum denkbar, und die Macht des Bösen war groß. Zeichensprache oder Pfeiflaute konnten beobachtet werden, das stumme Wort nicht. Es war die einzige Möglichkeit, sich miteinander zu unterhalten, ohne gestört oder belauscht zu werden. Die beiden Großen saßen sich gegenüber. Von irgendwoher hatte Dreifingerauge eine Pfeife geholt und hielt sie plötzlich in der Hand. Langsam und sorgfältig begann er sie mit einem besonderen Tabak zu stopfen und setzte sie bedachtsam in Brand. Als die Glut entfacht war, lüftete der Weise Große seinen Gesichtsschleier. Der für die Stummen typische vernähte Mund mit der winzigen Öffnung für die Aufnahme flüssiger Nahrung wurde sichtbar. Doch Dreifingerauge führte den Pfeifenstiel nicht in das Mundloch, sondern an die Nase, um den Rauch einzusaugen. Ein süßlicher Geruch breitete sich aus. Dreifingerauge gab die Pfeife an Vierfaust weiter. Auch dieser Stumme enthüllte sein Gesicht, um die Pfeife an die Nase zu führen, und nahm den süßen Rauch in sich auf. Die Pfeife wechselte von einem zum anderen, bis der absonderliche Tabak verbrannt war. Ein Mittel, das die Sinne bis ins Unermeßliche schärfte, das Tiefen der Seele eröffnete, von denen Menschen normalerweise niemals etwas ahnten. Es war, als löse sich der Geist aus der normalen Welt und gleite hinüber in etwas, das nicht Traum und 24
nicht Wachen war, sondern eine Mischung aus beidem. Dreifingerauge streckte seine Hand aus. Vierfaust berührte die Handfläche. Die beiden Stummen sahen sich an und versenkten ihre Blicke ineinander. Das Mittel tat seine Wirkung. Ihre Gedanken griffen über die Einschränkung des Bewußtseins hinaus und berührten sich. Dies war das stumme Wort, das jede durch die Stimme geführte Unterhaltung an Genauigkeit bei weitem übertraf. Eine Unterhaltung begann, die von keinem Außenstehenden belauscht zu werden vermochte. Die Mächte der Schattenzone hatten keine Chance.
Er nennt sich Mythor, teilte Vierfaust dem anderen mit. Mythor, schwangen die Gedanken Dreifingerauges nach. Ein guter Name. Was weißt du über ihn? Stimmt es, was man über ihn sagt – ist er wirklich der Sohn des Kometen? Vierfaust antwortete mit seinen Gedanken fast im gleichen Moment, in dem Dreifingerauge seine Fragen dachte: Er besitzt Alton, das Gläserne Schwert, das in Xanadas Lichtburg außewahrt war. Er besitzt den Helm der Gerechten aus Althars Wolkenhort. Ihm gehorchen Einhorn, Schneefalke und Bitterwolf aus dem verwunschenen Tal. Und er muß hinter den Wasserfällen von Cythor gewesen sein, denn dort beginnen die Prüfungen. Kein anderer als der Sohn des Kometen könnte die einzelnen Stützpunkte des Lichtboten gefunden haben. Dreifingerauge schwieg sich gedanklich aus. Er wartete ab, was Vierfaust noch berichten würde. Und er ist im Baum des Lebens gewesen, ergänzte Vierfaust prompt. Denn er trug bei sich einen Zapfen und Lebensharz, das nur von diesem Baum stammen konnte. Besitzt er es noch? fragte Dreifingerauge gelassen. Es war eine reine Informationsfrage. Der Weise Große stand über diesen 25
Dingen. Er war weder an einem noch am anderen interessiert; selbst wenn Mythor Zentner des Lebensharzes besessen hätte, hätte es Dreifingerauge nur am Rande berührt. Er besitzt es nicht mehr, klärte Vierfaust ihn auf. Er brauchte das Lebensharz auf, um anderen zu helfen. Anderen, nicht sich selbst? fragte Dreifingerauge. Anderen, bestätigte Vierfaust. So rechnen wir es ihm gut an, meinte der Weise Große. Zudem mag es gut sein, daß er es aufbrauchte, so gibt es niemanden mehr, der es ihm stehlen und mißbrauchen kann. Eine kurze Pause trat ein. Dann kam Dreifingerauges nächste Frage: Besitzt er auch den Sternenbogen und Mondköcher? Nein! Bestürzung zeigte sich in den Gedanken des Weisen Großen. Nicht? fragte er erschrocken. Wer dann? Mythor verriet es mir, entgegneten Vierfausts Gedanken. Sternenbogen und Mondköcher besitzt der Meisterdieb Arruf, der sich seit kurzer Zeit Luxon nennt. Ach, der…. kamen Dreifingerauges Gedanken gedehnt. Er wird immer dreister in letzter Zeit. Wieder trat eine Pause ein. Die beiden Großen lösten ihre Hände voneinander und »schwiegen«. Jeder hing seinen Gedanken für sich allein nach. Sowohl der Weise als auch der Stumme Große überlegten, welche Schlüsse sich aus diesen Informationen ziehen ließen. Auf dem Ritt zur Speicherburg hatte Vierfaust selbst darauf verzichtet, tiefschürfende Gedanken über Mythors Existenz zu wälzen. Hier, in Yarman-Rash, war es früh genug, darüber nachzudenken, ob er der Sohn des Kometen sei oder nicht. Er ist der Sohn des Kometen, dachte Dreifingerauge, der in einer raschen Bewegung Vierfausts Hand wieder berührte. Ja, bestätigte Vierfaust nur. 26
Er ist jener, dachte Dreifingerauge weiter, der vor langer Zeit als fünfjähriger Knabe den Großen geraubt wurde. Jene, die ihn nahmen, setzten ihn aus, und die Mam fanden ihn und nahmen ihn mit sich, entführten ihn in den kalten Norden. Sie rissen ihn aus seinem vorbestimmten Weg. Wieder trat Schweigen ein. Er ist der Sohn des Kometen, doch das Abweichen vom vorbestimmten Weg schadete ihm, behauptete Vierfaust. Abermals zeigte Dreifingerauge Bestürzung. Wie? fragte er. Ich hoffe, daß es der einzige Nachteil ist, der sich für ihn durch das Abweichen ergeben hat… aber es ist schlimm genug. Er kennt das stumme Wort nicht. Noch größer wurde das Erschrecken des Weisen, wilde Gedanken durchrasten ihn. Der Sohn des Kometen war des stummen Wortes nicht mächtig… War er dann überhaupt noch imstande, für das Licht zu kämpfen, wie es ihm bestimmt war? Ich versuchte mit ihm durch das stumme Wort zu sprechen, fuhr Vierfaust fort, doch er reagierte nicht darauf. Er verstand meine Gedanken nicht. Das ist schlimm, gab der Weise Große zurück. Und jetzt hält ihn der Tod in den Krallen, teilte ihm Vierfaust mit. Wenn man ihm nicht hilft, wird er das Opfer der dämonischen Mächte. Vielleicht sollte man ihm den Helm der Gerechten aufsetzen. Nein! wehrte Dreifingerauge ab. Wahrscheinlich wird er es nicht überstehen und in den ewigen Schlaf sinken. Damit wäre höchstens den Dämonen gedient. Doch es gibt eine andere Möglichkeit. Welche? Man muß versuchen, den Schatten, der sich in ihm verkrochen hat, aus seinem Körper herauszulocken. Die Wirkung des Mittels verflog allmählich, der stumme Dialog war beendet. Langsam erhob sich der Stumme Große und verließ die Wohnung Dreifingerauges. Was gesagt wer27
den mußte, war gesagt worden.
Besorgt sah die schlanke Frau auf den Mann hinab, der sich auf seinem Lager wälzte. Mistra strich sich durch das lange rotbraune Haar. Eine Krankheit wie diese hatte sie in ihren neunzehn Sommern noch nicht erlebt. Mythor war totenblaß. Von seiner einstigen Kraft und Stärke war nicht mehr viel zu erkennen. Er bewegte sich unruhig unter der dünnen Decke, aber seine Augen blieben geschlossen. »Mythor!« sagte Mistra leise. Zärtlich strich ihre Hand über seine schweißnasse Stirn. Doch Mythor beruhigte sich nicht. Er warf sich von einer Seite auf die andere und murmelte unverständliche Worte. Fieberphantasien… Ihr Zeigefinger glitt tastend über seine spröden Lippen, als er einen Moment lang still lag. Dann warf sie sich herum, eilte aus dem Zimmer. Im Nebenraum stand ein Behälter mit Wasser; sie füllte einen Becher ab und kehrte zu dem Kranken zurück. Eine Hand griff stützend unter seinen Oberkörper und hob ihn an, während sie den Becher an seine Lippen führte. »Trink, Mythor«, flüsterte sie. Er öffnete den Mund, als habe er ihre Aufforderung verstanden, aber nach den ersten paar Schlucken erfaßte ihn der nächste Anfall. Der Becher flog irgendwo hin. Mythor stieß einen rauhen Schrei aus, der aus der Kehle eines Drachen zu stammen schien. Mistra fuhr unwillkürlich zurück. Dann fiel der Krieger auf das Lager zurück und lag wieder still. Die Tochter des Fischers Rochad trat wieder zu ihm. Ihre Hand schlug die Decke zurück, sie betrachtete seinen Körper. Er war abgemagert. Er schien sich gegen den Schatten zu wehren, der ihn auszehrte. Seine krampfartigen Anfälle waren wie ein ständiges verzweifeltes Ringen gegen das, was am Kometenstein in ihn gefahren war. Aber trotz allem kam er nicht zu 28
Bewußtsein. Die Tür des Zimmers wurde geöffnet. Eine große Gestalt trat ein. Mistra sah sich um. »Der Weise Große«, sagte sie leise und neigte grüßend den Kopf. Dreifingerauge trat heran. Seine Augen hefteten sich auf Mythor. Es steht schlimm um ihn, pfiff er. »Er darf nicht sterben«, gab Mistra gestikulierend zurück. »Wenn ich nur wüßte, wie ich ihm helfen könnte… ich würde alles tun!« Langsam wandte Dreifingerauge den Kopf. Durchdringend sah er die junge Frau an und erkannte in ihren großen, dunklen Märchenaugen die tiefe Sorge um Mythors Wohlergehen. Mistra meinte, was sie sagte. Seine Hände bewegten sich. Er teilte ihr durch die Zeichensprache mit, daß es tatsächlich eine Möglichkeit gab, Mythor zu helfen. »Sage sie mir!« flehte Mistra. Jetzt noch nicht! bedeutete ihr Dreifingerauge mittels seiner Zeichensprache. Überlege es dir gut, Mädchen, denn diese Möglichkeit der Hilfe könnte durchaus deinen Tod bedeuten! Kurz nur dauerte das Erschrecken, das er in ihrem Gesicht erkannte, dann aber schob sie trotzig das Kinn vor. »Und wennschon«, sagte sie. »Ich will Mythor helfen. Er darf nicht sterben.« Überlege es dir gut, wiederholte Dreifingerauge. Ich scherze nicht. Willst du dein Leben wirklich so einfach verschenken? Ja! wollte sie schreien, aber sie schwieg, als sie in seine Augen sah. Sie nickte nur. Aber offenbar wollte es der Weise Große nicht wahrnehmen. Stumm wandte er sich um und ging. Mistra sah ihm nach, dann blickte sie wieder Mythor an. Sah ihn, wie er hilflos dort lag, von Krämpfen geschüttelt und gegen den Tod ringend, gegen den Schatten, der ihn fraß. 29
Mythor durfte nicht sterben. Um keinen Preis. Mistra war bereit, auch das größte Opfer zu bringen.
Auf einem anderen Tafelberg, nicht mehr in Sichtweite der Speicherburg der Schurketen, erhoben sich die Mauern von Dhachar-Rash. In vielem glich die Burg der Berker der der Schurketen. Immerhin gab es jedoch auch einige gravierende Unterschiede. Shenol der Traurige kannte diese Unterschiede nicht. Er hatte nie Gelegenheit gehabt, Yarman-Rash näher als aus einer Distanz von hundert Pfeilschußweiten zu sehen. Seinen Namen »der Traurige« hatte er erhalten, weil er selbst dann, wenn er heiter, ausgelassen und sturzbetrunken war, immer irgendwie traurig wirkte. Doch der äußere Eindruck täuschte. Shenol war alles andere als ein weinender Knabe. Shenol befand sich in einer Höhe von etwa drei Mannslängen über dem Boden. Genauer gesagt, er lehnte gemütlich an der Rash-Mauer auf dem Wachturm, in dessen unterem Teil einer der beiden Zugänge zu Dhachar-Rash lag. Shenol hielt Wache und teilte dieses Leid mit Rhonaid. »Was hältst du eigentlich davon?« fragte der schnurrbärtige Rhonaid. Er hatte sich in eine der Scharten gesetzt, die Knie angezogen und riskierte hin und wieder einen Blick in die Steppe hinaus. Die Berker waren zwar als Räuber berüchtigt, aber bislang war es niemandem eingefallen, Dhachar-Rash in einem Großangriff zu nehmen und niederzubrennen. Wahrscheinlich deshalb, weil die Speicherburg ziemlich schwer zu erobern war. Ein erfolgreicher Angriff war nur unter extrem hohen Verlusten an Kriegern durchzuführen, und das wußten sowohl die übrigen Salamiterstämme als auch die Besatzungstruppen aus den Heymalländern. Es war einfacher, Räubertrupps an Ort und Stelle abzufertigen. 30
»Wovon?« fragte Shenol der Traurige. »Von der jüngsten Erfindung Rarbhors?« Rarbhors Erfindungen waren berüchtigt. Der Berker schaffte es immer wieder, seine Gefährten mit neuen Erfindungen zu überraschen und zu beglücken oder zu verärgern. So hatte er eine Vorrichtung konstruiert, bei der nach dem Ziehen an einem Hebel ein unübersichtliches Gestänge einen Weinkrug an die Lippen des Benutzers hebelte. Wozu dieser Aufwand nötig war, fragte sich so mancher der Raubritter. Wer nüchtern war, konnte den Krug selbst heben, und wer so trunken war, den Krug nicht mehr halten zu können, war auch nicht in der Lage, an dem bewußten Hebel zu ziehen. Eine andere Erfindung lief darauf hinaus, daß eine untreue Ehefrau mit einem speziellen Mechanismus in einen großen Wasserbottich befördert wurde, und die jüngste Erfindung, die Shenol zur Sprache gebracht hatte, waren zwei metallene Becher, die durch eine Schnur verbunden waren. Rarbhors Worten zufolge sollte man in den einen Becher sprechen können, und gleichgültig, wie groß die Entfernung zwischen den beiden Bechern war, konnte man, wenn man in irgendeinem anderen Raum den zweiten Metallbecher ans Ohr hielt, die Worte verstehen. Shenol hatte es nicht selbst ausprobiert, sondern nur davon erzählen hören, aber er hielt von dieser Erfindung nicht allzuviel. Es war ihm, als sei Magie im Spiel. Aber alles, was Magie schuf, war ein Werk des Bösen. Shenol der Traurige konnte sich nicht ganz mit dem anfreunden, was Cran Moushart betrieb, und Moushart sollte den Gerüchten zufolge einen Dämon beherrschen. »Idiot«, sagte Rhonaid. »Ich meine die Erzählungen von einem Nordländer und dessen Schätzen. Und ich meine das Ausbleiben des Trupps, der ihn und seine Gefährten überfallen sollte.« 31
Der Traurige sah nach dem Stand der Sonne. »Wahrlich, sie könnten zurück sein«, stellte er fest. »Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?« fragte Rhonaid. »Was soll ich dazu sagen?« brummte Shenol. »Ich habe den Fremden weder gesehen, noch gehöre ich zu jenen, die der Cran aussandte. Aber da der Trupp so lange ausbleibt, nehme ich an, daß die Beute groß ausfiel und sie sie nicht so rasch transportieren können.« »Das wäre gut«, sagte Rhonaid und sah wieder hinaus. Irgendwo in der Ferne erhob sich eine Staubwolke. »Holla«, sagte Rhonaid. »Ich glaube, sie kommen.« Shenol sah mit traurigem Gesichtsausdruck hinaus. »Das ist erfreulich«, stellte er fest. Näher und näher kam der Trupp. Allmählich wurde erkennbar, daß es sich um erheblich weniger Reiter handelte, als ausgesandt worden waren, und so, wie es aussah, führten sie auch keine Beute mit sich. Nach einiger Zeit erreichten sie die Serpentine, die am Tafelberg zur Rash emporführte, und machten sich an den Aufstieg. »Schurketen wären nie so dreist. Es müssen also unsere Leute sein«, sagte Rhonaid betroffen. »Wenn Rarbhor endlich einen Kasten erfinden würde, mit dem man in die Zukunft sehen kann, wüßten wir es«, sagte Shenol. »Aber dazu ist er wohl zu dumm.« »Zweifelst du an seiner Genialität?« brauste Rhonaid auf. Shenol der Traurige schwieg. Er sah in der Ferne eine weitere Wolke auftauchen. Wer mochte es sein? »Sag an, Rhonaid«, brummte er mit einem Gesichtsausdruck, als würde morgen die Welt untergehen, »weißt du, ob außer Spähern und unseren geschlagenen Helden…«, er deutete nach unten, »… noch ein weiterer Trupp unterwegs ist, unsere Speicher zu füllen mit Dingen, an die man am besten erlangt, indem man sie nicht bezahlt?« 32
Rhonaid folgte der Blickrichtung des Gefährten und sah jetzt auch die zügig näher kommende Staubwolke. »Nicht daß ich wüßte«, sagte er. »Oder jene, die wir ablösten, haben es zu berichten vergessen.« Das war so wahrscheinlich wie ein räderloser Wagen. »Also werden wir uns einmal um diese Leute kümmern, sobald sie es sich in den Kopf setzen, herzukommen. Vielleicht sind es Vogelreiter.« In der Zwischenzeit hatten die Heimkehrer das Tor fast erreicht. »Öffnen!« schrie Shenol der Traurige nach unten.
»Was wollt ihr sein?« fauchte Cran Moushart. »Krieger? Knaben seid ihr, sonst nichts! Man stelle sich das vor: Ein Trupp gut bewaffneter Berker schafft es nicht, ein paar hergelaufenen Viehhirten ihre Schätze abzunehmen. Wo ist Orgor?« »Tot«, würgte einer der Räuber hervor. »Er fiel im heldenhaften Kampf gegen die Übermacht.« Moushart erhob sich. Er hatte bisher in einem kostbar verzierten Stuhl gesessen, der weich gepolstert war und mit seinen vier Beinen auf zwei gebogenen Kufen ruhte; Moushart konnte mit diesem Stuhl vor und zurück pendeln. Rarbhor hatte den Stuhl konstruiert. »Übermacht?« grollte Moushart. »Sagtest du Übermacht, elender Räuber? Ich hatte Orgor für intelligent gehalten. Daß er so dumm war, mit einer unterlegenen Truppe anzugreifen, hätte ich nicht gedacht. Wie viele Männer waren es denn mehr?« »Männer nicht«, würgte der Berker hervor. »Aber Waffen… Sie waren besser bewaffnet, als Orgor gedacht hatte…« »Ihr seid also in die Flucht geschlagen worden«, stellte Moushart grimmig fest. Breitbeinig stand er vor den Berkern, 33
die sich in dem großen Raum eingefunden hatten, der zur Wohnung des Cran gehörte und in dem die Audienzen gegeben wurden. »Was, ihr Hasenfüße, glaubt ihr wohl, was es für Folgen haben wird?« Allgemeines Achselzucken war die Folge dieser Frage. »Ich will es euch sagen!« brüllte der Räuberhauptmann. »Man wird sagen, die Macht der Berker sei gebrochen! Man wird uns nicht mehr fürchten. Man wird über uns lachen und sagen: Da sind sie, die von Viehhirten in die Flucht geschlagen werden können! Man wird mit den Fingern auf uns zeigen.« Daß letzteres ohnehin der Fall war, aber wegen ihrer Räuberei, übersah Moushart großzügig. Die Bezeichnung »Räuber« sah er als Beleidigung an, die er seinerseits gern anbrachte. Er selbst sah es geradezu als Berufung der Berker an, andere Salamiter oder sonstige Menschen um ihr Eigentum zu bringen, weil die Reihe der harten Schicksalsschläge gezeigt hatte, daß mit dem Ernten des Steppengrases und der Grom-Zucht nichts zu verdienen war. Und Mousharts Dämon Dryazituum hatte ihm bestätigt, daß seine Ansicht richtig sei. Wenn die Überfallenen und Bestohlenen anderer Ansicht waren, so war das deren Sache und deren Pech. »Wo fand der Angriff statt?« fragte der Cran. Bezeichnend war, daß er »Angriff« und nicht »Überfall« sagte. Der Sprecher der Zurückgekehrten erläuterte es weitschweifig. Moushart blickte überlegend zur Decke des Raumes. »Zu spät«, sagte er. »Wir können die Scharte nicht mehr auswetzen. Selbst wenn wir eine Hundertschaft hinjagten, käme sie nicht mehr rechtzeitig. Yarman-Rash ist ihr Ziel, und in diesem Augenblick werden sie es schon erreicht haben. Aber Yarman-Rash werden wir wohl kaum angreifen können.« Langsam und vorsichtig ließ er sich wieder in dem Schaukelstuhl nieder. Der äußere Eindruck täuschte. Moushart war alles andere als ein verweichlichter Greis. Er war hochgewach34
sen, kräftig gebaut und verstand Schwert und Streitaxt sehr wohl zu führen. Selbst die Handhabung des Morgensterns, jener Waffe, die für Feind wie Benutzer gleichermaßen gefährlich war, beherrschte er wie kaum ein anderer. Moushart übte sich ständig im Gebrauch der Waffen, und die Berker respektierten ihn zum großen Teil allein deswegen, weil er ihnen mit fast allen Waffen überlegen war. Der Cran zählte etwa dreißig Sommer und befand sich in der Blüte seines Lebens. Immerhin wußte er den Luxus zu schätzen, besonders, weil die Berker durch die diversen Schicksalsschläge verarmt waren. Doch unter ihrem Räuberhauptmann hatten sie es wieder zu halbwegs lebenswerten Zuständen gebracht. Der Rest des Respekts, den ihm die Berker entgegenbrachten, beruhte auf seinen Kenntnissen der Schwarzen Magie. Schon einige Male hatte Moushart die Macht des Dämons Dryazituum unter Beweis gestellt. Der Cran versetzte den Schaukelstuhl in pendelnde Bewegung. Die einzige gute Erfindung, die Rarbhor jemals machte, dachte er grimmig. »Dabei würde es sich vielleicht durchaus lohnen, die Yarman-Burg einmal heimzusuchen. Weiß der Himmel, was die Schurketen dort an Schätzen gehortet haben.« »Yarman-Rash gilt als uneinnehmbar«, wandte einer der Berker ein. »Das weiß ich besser als du!« brüllte Moushart. »Aber du hast recht. Wir würden uns blutige Köpfe holen. Und doch…« Er versank in nachdenkliches Schweigen. Die fixe Idee ergriff mehr und mehr Besitz von ihm, sich einmal näher mit Yarman-Rash zu beschäftigen. Vielleicht konnte Rarbhor, der Erfinder, etwas erfinden, eine Maschine vielleicht, mit der man die Burg bezwingen konnte. Vielleicht konnte auch Dryazituum helfen, wenngleich auch die Magie und der Dämon ihre Grenzen besaßen. 35
Das geräuschvolle Aufreißen der Tür riß Moushart aus seinen Überlegungen. Ein anderer Berker stürmte herein, stolperte fast und verneigte sich vor dem Cran. »Drei Männer sind gekommen, die mit dir reden wollen, Cran«, stieß er ungefragt hervor. »Sie…« Moushart furchte die Stirn. »Warum so aufgeregt, mein Lieber?« säuselte er. »Möchtest du ein paar Nächte zusätzlich Wache halten?« »Verzeih, Cran«, murmelte der Berker. »Doch diese Fremden sind unheimlich. Wirklich unheimlich. Sie wollen…« Moushart unterbrach ihn erneut. »Wer unheimlich ist, bestimme noch immer ich«, sagte er trocken. »Geh und frage sie nach ihren Namen, und wenn sie mir gefallen, gewähre ich ihnen ein paar Augenblicke meiner kostbaren Zeit.« »Wir werden sehen«, sagte eine unheilvoll dumpfe Stimme von der Tür her. »Die Fremden«, hauchte der Bote entsetzt. Kurz zuvor… Näher und näher waren die fremden Reiter gekommen. Es waren drei, soviel ließ sich erkennen, als die Staubwolke den Fuß des Tafelbergs erreicht hatte und sich anschickte emporzuklimmen. Steiler und steiler wurde der Weg, doch die drei Fremden wurden nicht langsamer. Im Gegenteil, ihr Tempo schien noch zu steigen. Shenol der Traurige verzog das Gesicht. Auffordernd sah er Rhonaid an. »Sag, Freund, was siehst du?« »Männer, die fremde Rüstung tragen«, antwortete Rhonaid. »Wir werden ihnen also den Einlaß verwehren, so sie nicht triftige Gründe haben, den Cran zu sprechen.« Unter die triftigen Gründe fielen vielerlei Dinge, wenn man von einem absah: Schadenersatzansprüche. 36
Es dauerte nicht lange, bis die drei Fremden vor dem inzwischen wieder geschlossenen Tor anhielten. Shenol sah über die Brüstung nach unten. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß mit den Fremden nicht alles im Lot war. Eine seltsame Aura drang bis zu ihm empor. Unwillkürlich schüttelte er sich, als könne er das Unheimliche dadurch von sich abwerfen. Doch es blieb. Wer waren die Fremden? Große Gestalten, die gut geschützt und gut bewaffnet waren und die so aussahen, als könnten sie hervorragend kämpfen. Aber etwas Dunkles lag über ihnen. »Heda!« schrie einer von ihnen vor dem verschlossenen Tor. »Öffne uns!« Shenol gab Rhonaid einen Rippenstoß. »Rede du mit ihnen!« »Ich?« schrie Rhonaid. »Warum?« »Weil du in der Scharte sitzt«, gab Shenol zurück. Der Sitzende beugte sich leicht vor. »Ihr da unten«, rief er. »Wer seid ihr?« Die drei Unheimlichen sahen herauf zu den Zinnen der Mauer, die sich auch über das Tor erstreckten. Einer von ihnen war schwarz. Sein Gesicht sah aus, als sei es eingefärbt, und eine seltsame gläserne Schicht lag darüber. Diese gläserne Schicht erkannte Rhonaid auch auf den Gesichtern der beiden Hellhäutigen. Sie sahen ihn nur schweigend an. Rhonaid rutschte aus der Scharte und beugte sich über das innere Holzgeländer vor. »Öffnet das Tor!« rief er nach unten. Shenols Faust schoß vor und erfaßte seine Schulter. »Bist du wahnsinnig?« stieß er hervor. »Wie kommst du dazu…?« »Sie sind Freunde«, sagte Rhonaid dumpf. »Verbündete.« Shenol sah in sein Gesicht. Die Augen wirkten irgendwie stumpf. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken. Etwas Unbegreifliches war mit Rhonaid geschehen. Unten schwang unterdessen das große Tor auf, Hufschlag 37
erklang. Die drei Fremden ritten in die Speicherburg ein. Es war geschehen, ließ sich nicht mehr verhindern. Shenol sah nach unten. Ihm war, als liege ein Schatten über den drei Männern – der Schatten eines mächtigen Dämons…
»Was wollt ihr, Fremde?« donnerte Cran Mousharts Stimme. Der Herr der Speicherburg erhob sich abermals aus seinem Schaukelstuhl. Finsteren Blickes ging er den drei Männern entgegen. Offenbar waren sie respektlos genug gewesen, dem Boten, der ihr Erscheinen melden sollte, auf dem kürzesten Weg zu folgen. »Ich habe euch nicht hereingebeten«, sagte Moushart. Reglos sahen ihn die drei Männer an. Der Cran sah an ihrer Kleidung und an ihren Rüstungen, daß sie fremd waren, nicht aus Salamos stammten, sondern aus einem anderen Land kommen mußten. Tainnia? Aber was wollten Tainnianer bei ihm? Irgendwo in ihm schlug eine Glocke an. Hatte nicht irgendjemand erzählt, daß es im Hochmoor von Dhuannin eine Schlacht gegeben haben sollte? Seit dieser Schlacht, in der die Caer Sieger geblieben waren, flohen mehr und mehr Tainnianer in andere Länder. Aber diese drei sahen nach allem anderen aus denn nach Flüchtlingen. »Wir sind Freunde, und Freunde, dünkt uns, sind stets willkommen«, behauptete der Dunkelhäutige. »Ich kenne euch nicht«, sagte Moushart scharf. »Wer seid ihr, daß ihr euch meine Freunde nennt?« Der Schwarzhäutige verzog das Gesicht. Sekundenlang glaubte Moushart eine feine Schuppenhaut zu erkennen, aber die gläserne Schicht über dem Gesicht konnte ihn auch irregeleitet haben. »Jemand, der einen Weg kennt, die Yarman-Burg zu bezwin38
gen, ist immer ein Freund«, behauptete er. Das war das Stichwort. Yarman-Rash! Moushart wandte sich zu den Überresten des erfolglosen Räubertrupps um. »Verschwindet!« befahl er rauh. »Ich habe mit hohen Herren zu sprechen!« Wie geprügelte Hunde schlichen sich die Berker hinaus. Moushart wies auf ein paar Sessel in einer Ecke, die Salamitern vorbehalten waren, die der Cran zu seinen wichtigsten Verbündeten zählte. Indessen gab es von ihnen herzlich wenige; nicht gerade viele Salamiter sahen es als Ehre an, zu den Freunden eines Räubers zu zählen. Immerhin, es waren genug Sessel da, um den drei Fremden Platz zu bieten. »Ich bin Oburus«, sagte der Schwarzhäutige. »Ich bin Krude, der Herzog von Elvinon«, sagte der untersetzte, fettleibige alte Mann mit dem grauen Vollbart. Der dritte Mann, vielleicht fünfzig Sommer alt, außerordentlich hochgewachsen, mit langem angegrautem Haar und Schnurr- und Spitzbart, verzichtete darauf, sich namentlich vorzustellen. In seiner dunklen Rüstung und mit dem schwarzen, leicht eingebeulten Rundschild, den er nicht am Sattel gelassen hatte, sondern bei sich trug, schien er dem Cran als der Gefährlichste der drei Unheimlichen. »Das ist Coerl O’Marn«, sagte Oburus wie beiläufig. Er sah den Cran mit stechenden Augen an. Wie unter Zwang nannte Moushart seinen Rang und Namen. »Du spielst mit dem Gedanken, Yarman-Rash zu überfallen«, sagte der Schwarzhäutige. »Wir können dir dabei helfen.« Moushart lächelte dünn. »Außer euren Namen weiß ich nichts von euch«, sagte er. »Ihr seid drei Männer, der Stamm der Berker zählt Hunderte. Wie sollen drei Männer stärker sein als einige hundert?« Keiner der drei Männer, über deren Gesichtern eine glasige Schicht lag, verzog eine Miene. Nur Oburus beugte sich leicht 39
vor. Sein Blick kreuzte sich mit dem des Cran. »Durch Magie«, sagte er.
Cran Moushart holte tief Luft. Er sah die drei Fremden der Reihe nach an und konnte sich eines unheimlichen Eindrucks immer noch nicht erwehren. Magie… Er selbst hatte oft genug magische Kunststückchen durchgeführt, und insgesamt sagte man den Berkern Zauberkünste nach, die sie sowohl bei den Salamitern als auch den Heymals in eigenartigem Zwielicht erscheinen ließen. »Magie«, sagte er abfällig. »Wenn ihr nicht mehr bieten könnt… Wißt ihr nicht, daß auch ich in der Magie bewandert bin und sogar einem Dämon aus der Schattenzone gebiete?« Der, der sich nicht vorgestellt hatte, beugte sich leicht vor. »Wie ist der Name des Dämons?« fragte er. Moushart sah ihn scharf an. Wußte dieser Coerl O’Marn nicht, daß es die Dämonen nur ungern sahen, wenn ihre Namen preisgegeben wurden? Aber irgendwie lag in O’Marns Stimme ein seltsamer Zwang. Moushart konnte sich ihm nicht widersetzen. Er versuchte es, aber der Zwang, der in der Frage des großen Mannes lag, war stärker. »Dryazituum«, sagte er wider Willen. »Und er ist sehr mächtig. Er hat mir geholfen, diese Machtstellung zu erreichen, die ich besitze.« »Die Machtstellung eines Räubers und Plünderers«, sagte Krude spöttisch. »Das ist wirklich eine ruhmreiche Position.« Moushart fuhr zu ihm herum wie eine getretene Natter. »Du wagst es, mich zu beleidigen?« zischte er. »Zieh dein Schwert und kämpfe!« Seine eigene Hand umklammerte dabei den Griff seiner 40
Klinge. Doch Krude winkte lässig ab. »Laß deinen Dämon gegen mich antreten«, verlangte er. »Vielleicht ist er stark genug, mir zu widerstehen!« Eine beeindruckende Sicherheit klang aus seinen Worten. Unwillkürlich zuckte Moushart zurück. Er glaubte Krude! Aber wenn dieser Herzog so stark war wie ein Dämon, dann… »So mächtig ist Dryazituum wirklich nicht«, sagte Krude mit überheblichem Grinsen. »Es gibt bei weitem stärkere Dämonen.« »Wirst du von einem beherrscht?« fragte Moushart rasch. »Bist du ein Xandor?« Krude lachte nur. »Er ist ebensowenig ein Xandor wie wir anderen«, warf Oburus ein. »Cran Moushart, kennst du den Namen und die Macht Drudins? Er schickt uns.« Moushart ließ* sich in seinen Schaukelstuhl fallen. »Drudin«, murmelte er. »Ist das der Name des Dämons, der euch dient?« Die drei Glasgesichtigen brachen in höhnisches Gelächter aus. »Drudin ist kein Dämon. Drudin ist der oberste Priester der Caer, der Statthalter der Mächte der Schattenzone!« Der Cran räusperte sich heftig. »Ihr seid also Caer«, sagte er. »Was tut ihr in Salamos?« »Wir schauen, wie hier das Wetter ist«, spottete O’Marn. »Und wir stellen fest, daß es uns hier gefällt. Das Klima ist angenehm trotz der kühlen Jahreszeit. So werden wir ein wenig hier verweilen.« Moushart senkte die buschigen Brauen. »In Dhachar-Rash?« stieß er hervor. Erst dann erkannte er, daß er dem Dunkelgerüsteten mit dem verbeulten Schild aufgesessen war. Der hatte es geschafft, blitzartig das Thema zu wechseln, aber warum? Mousharts Blick pendelte zwischen dem Schwarzhäutigen und O’Marn. Er konnte nicht abschätzen, wer von ihnen gefährlicher war. Sein Instinkt sagte ihm, daß Oburus der Mäch41
tigere war, daß aber O’Marn der Gefährlichere sein mußte. Er sah so aus, als könne ihm auch im Kampf kaum jemand das Wasser reichen. Moushart konnte nicht ahnen, daß Coerl O’Marn vor seiner Dämonisierung einer der erfolgreichsten Caer-Ritter gewesen war, daß man von ihm sagte, er sei ein Nachfahre der berüchtigten Alptraumritter. Noch weniger konnte der Cran ahnen, daß O’Marn der einzige Krieger war, der Mythor im Zweikampf Mann gegen Mann hatte besiegen können – damals in der Ebene der Krieger, beim Turnier der Caer… Aber dem Cran war weder der Name Mythor noch das Drudin-Turnier ein Begriff. »Was tut ihr in Salamos?« wiederholte Moushart, nachdem ihm aufgegangen war, daß O’Marn ihn mit seiner Antwort auf den Arm genommen hatte. Hinter der gläsernen Schicht zeigte sich auf Oburus’ Gesicht ein spöttisches Lächeln. »Vielleicht haben wir ein Interesse daran, daß Yarman-Rash fällt. Vielleicht deckt sich unser Interesse mit deinem, Cran. Und vielleicht werden wir dir mit unserer Magie helfen, die Yarman-Burg zu erobern.« »Dryazituums Magie reicht mir völlig«, sagte Moushart. »Er ist ein starker Dämon.« Oburus, der Schwarze, grinste noch stärker. »Erlaube, Herr über einen mächtigen Dämon, daß ich lache! Dryazituum… es ist so, daß weder ich noch einer meiner Gefährten«, er sah nach rechts und nach links zu Krude und O’Marn, »jemals etwas von einem Dämon Dryazituum hörten. Und das, obwohl Drudin uns aussandte!« »Ich wiederum kenne euren Drudin nicht!« schrie Moushart erbost. Er war stolz darauf, einem Dämon zu befehlen, und die Versuche der drei Fremden, seinen Stolz zu brechen, ärgerten ihn maßlos. Er fragte sich, warum er sie nicht längst hatte ergreifen und in den Kerker werfen lassen, denn das Gastrecht 42
galt in Dhachar-Rash nicht sonderlich viel. Aber irgendwie waren die drei dem Cran unheimlich. Diese gläsernen Gesichter… sie flößten ihm Angst ein, die er sich jedoch nicht eingestehen wollte. Und von den Caer hieß es, daß sie ein Land nach dem anderen überfielen und eroberten und ihre Macht immer weiter ausdehnten. »Eine Bildungslücke«, kicherte Oburus. »Aber du wirst, denke ich mir, Drudin oder zumindest seine Macht früher oder später kennenlernen. Wahrscheinlich früher. Es stände dir gut an, dich mit uns gut zu stellen, das heißt mit den Caer. Denn wir werden die Welt schon bald beherrschen, wie es uns bestimmt ist. Wir werden sie uns und den Schattenmächten unterwerfen.« Eine finstere Drohung schwang darin mit, aber auch ein Angebot. Moushart wußte, was Oburus’ Worte bedeuteten. Er kannte die Schattenzone durch Dryazituum – sofern man von einem Kennen sprechen durfte. Und hin und wieder sah man weit im Süden das Dunkel… Es stimmte. Die Caer breiteten sich immer weiter aus. Es war vielleicht wirklich nicht das Schlechteste, sich beizeiten auf ihre Seite zu stellen, um später an ihrer Macht teilhaben zu können. Moushart konnte nicht ahnen, daß die Caer ihre Macht niemals mit anderen teilten. Er glaubte nur, in den Worten des Schwarzhäutigen ein Angebot zu erkennen. Aber noch zweifelte er. Er kannte bislang keinen Dämon, der stärker war als Dryazituum. Das aber auch nur, weil er bislang keinem anderen begegnet war. Daß er gewissermaßen nur ein Zauberlehrling war, daran dachte er nicht einmal im Traum. Die Kunststücke, die er vollbringen konnte, reichten ihm völlig. Sie erhielten ihm die Macht. »Beweist mir die Stärke eures Drudin oder seines Dämons!« verlangte er und erschrak fast selbst vor seiner Kühnheit angesichts der Unheimlichen. »Erst wenn ich seine Macht sehe, 43
glaube ich euch und werde euch helfen.« Oburus lachte wieder. »Hatte ich nicht klar zum Ausdruck gebracht, daß nicht wir der Hilfe bedürfen, sondern du, Cran? Und daß wir dir unter bestimmten Umständen helfen könnten?« Moushart war es diesmal, der nicht auf die Worte seines Gesprächspartners einging. Er klatschte in die Hände. Augenblicke später tauchte ein Kopf eines seiner Diener in der Tür auf. »Bringt den Legendenerzähler!« befahl Moushart. Der Legendenerzähler war ein schmächtiges Bürschchen, das bei näherem Betrachten zu nichts anderem taugte als zu dem, was es tat: Legenden erzählen. Bei der Vorstellung, der kleine Mann könne mit einem Schwert in der Hand einem Gegner entgegentreten, erlitt der Cran fast einen Lachkrampf. Es würde bereits reichen, wenn der Gegner kräftig die Luft auspustete; der Luftdruck würde den Legendenerzähler hinwegblasen wie ein Blatt Pergament. Er besaß keinen Namen; zumindest kannte ihn niemand, falls es ihn doch gab. Jeder nannte ihn nur den Legendenerzähler. Klein von Wuchs und schmalbrüstig eilte er in den Raum, in welchem Moushart seine Audienzen abzuhalten pflegte. Er war schon alt, und sein Haar war spärlich und von einem ins Weiße übergehenden Grau. Er mochte siebzig oder mehr Sommer zählen und hatte noch jene Zeiten miterlebt, in denen die Berker keine Räuber waren, sondern Gromme züchteten wie die anderen Südsalamiter auch. Er warf den drei Fremden, die ihm den Rücken zuwandten, nur einen kurzen Blick zu, trat vor sie und verneigte sich kurz vor dem Cran. »Du hast mich gerufen. Mit welcher Geschichte darf ich dich und deine Gäste ergötzen?« Seine Wortwahl war weise. Hätte er den Cran an zweiter Stelle erwähnt, hätte dies zwar der guten Sitte Gästen gegen44
über entsprochen, Moushart aber beleidigt. Die drei Gäste äußerten sich nicht dazu. Der Legendenerzähler wandte jetzt leicht den Kopf, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Sein Gesicht nahm eine fahle Färbung an. Allzu deutlich erkannte er die Glasschichten über den Gesichtern. Und im Gegensatz zu Moushart wußte er sofort, wie er die Fremden einzustufen hatte. Denn sein Beruf brachte es mit sich, viel zu hören und demzufolge vieles zu kennen. »Dämonisierte«, stieß er hervor. Moushart beugte sich leicht vor. Er streckte die zur Faust geballte Hand vor. »Was bedeutet das?« fragte er. Der Legendenerzähler setzte zur Antwort an, aber Oburus, der Schwarze, war schneller. »Es bedeutet, daß wir Drudins Dämon Cherzoon dienen, der uns seine Kräfte verleiht«, sagte er. »Was soll das Auftreten eines Legendenerzählers hier? Was hat er mit dem Beweis zu tun, den wir dir führen sollen, Cran? Bedenke, daß auch unsere Zeit knapp bemessen ist. Es liegt uns nicht, sie zu verschwenden.« »Sehr viel«, rief Moushart schnell, »hat das eine mit dem andern zu tun. Denn der Legendenerzähler wird euch das berichten, was ich euch als Aufgabe stellen will.« Hinter Oburus sahen sich Krude und O’Marn grinsend an. »Eine Aufgabe stellt er uns«, sagte Krude spottend. »Ist das nicht herrlich? Oh, wie brenne ich darauf, eine Aufgabe zu erfüllen, die ein Sterblicher uns stellt!« O’Marn schürzte nur die Lippen. Sein Gesichtsausdruck verriet, was er dachte. »So soll er reden!« befahl Oburus kalt. »Aber ohne viel Umschweife.« Er sah den Legendenerzähler grimmig an. Der kleine Mann kroch unter dem Blick förmlich in sich zusammen, als glaube 45
er in den Augen des Schwarzen etwas Furchtbares zu erkennen. Der Legendenerzähler warf Moushart einen fragenden Blick zu. »Erzähle von Ghorogh, dem Drachen!« befahl Moushart. Eine eiskalte Hand schien den Legendenerzähler zu berühren. Ausgerechnet Ghorogh…
»Vor sehr langer Zeit«, begann der Legendenerzähler, »als die Welt noch schöner war als jetzt, gab es einen Drachen, der hieß Ghorogh. Fürchterlich war er anzusehen und viele Mannslängen groß. Was sage ich… Mannslängen? Er war so groß wie eine Stadt, und er war furchtbar in seinem Zorn. Flügel besaß er, und wenn er sie ausbreitete, wurde es Nacht über dem Land. Er spie Feuer und verschlang Mensch und Tier, wenn ihm danach war. Groß war seine Macht, so groß, daß es niemanden gab, der über ihm stand. Ghorogh beherrschte Salamos und darüber hinaus Rukal und die Heymalländer. Die Menschen brachten ihm ihren Tribut, auf daß er sie verschone, doch nicht immer schonte er sie. Seine Willkür war grenzenlos und seine Kraft und Mordlust unüberwindlich.« »Das hört sich alles sehr schön an«, unterbrach Oburus spottend. »Vielleicht war der Drache ein Dämon des Schattenreichs?« Sekundenlang vergaß der Legendenerzähler, daß er Dämonisierte vor sich hatte. Zornig blitzte es in seinen Augen auf. »Schweig ehrfürchtig, wenn ein Berufener das Wissen der Alten erzählt«, knurrte er. Er übersah das abermalige Grinsen des Schwarzen völlig. »Kein Dämon war Ghorogh, sondern ein Drache. Schnell wie ein Gedanke trugen ihn seine mächtigen Schwingen überall hin, und niemand war vor ihm sicher. Weder Speicherburgen noch Zeltdörfer oder Städte. Alle such46
te er heim und verlangte seine Opfer, und es gab niemanden, der ihm entgegentrat.« »Und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er noch heute«, knurrte Herzog Krude. »Ammenmärchen!« »Ungläubiger!« schrie der Legendenerzähler. »Lausche meinen Worten und lästere nicht!« »Nun gut, ich leihe dir mein Ohr«, brummte Krude grinsend. »Du bist ein unterhaltsamer Gesell.« Der kleine Legendenerzähler warf den drei Todesreitern Drudins verärgerte und grimmige Blicke zu. »Sogar die Küste des Strudelsees war nicht vor Ghorogh sicher«, fuhr er schließlich fort. »Immer größer wurden seine Forderungen, immer größer die Zerstörungen, die er anrichtete. Schließlich ermannten sich doch einige tapfere Heroen, gegen den Drachen anzutreten. Doch sie alle starben unter seinen Krallen oder zwischen seinen Zähnen. Der Drache war unbesiegbar, und noch furchtbarer wurde er, nachdem er die Heroen mordete, die ihn nicht mit Waffen und nicht mit List hatten besiegen können.« Er wartete förmlich auf eine weitere Zwischenbemerkung eines der drei Dämonisierten, doch diesmal blieben die Bemerkungen aus. »Sicher fragt ihr euch, aus welchem Grund der Drache jetzt nicht mehr herrscht und sich weitere Länder unterwirft, wie es zur Zeit die Caer tun.« Jetzt beugte sich O’Marn leicht vor. »Bürschchen, hüte deine spitze Zunge«, warnte er. »Erdreiste dich nicht zu behaupten, Ghorogh hätte sich in Drudin verwandelt.« Seine Finger umschlossen den Knauf seines Schwertes. »Nicht solches geschah«, wehrte der Legendenerzähler ab. »Und doch war Magie im Spiel. Denn eines Tages erschien ein Nachfolger des Lichtboten. Es war der Shallad Merocca, und er war nicht nur ein großer Held und Krieger, sondern auch ein großer Magier. Er erhob sich und sprach: ›Ich werde wider 47
den Drachen ziehen und ihn besiegen mit der Kraft der Magie des Lichtes.‹ Und so zog er hinaus und stellte sich Ghorogh entgegen.« Oburus und O’Marn sahen sich an. »Nachfolger des Lichtboten…«, murmelte der Schwarze nachdenklich. »Sohn des Kometen… Nein, das erscheint doch ein wenig weit hergeholt.« »Erzähl weiter!« befahl O’Marn. »Einen Tag und eine Nacht dauerte es, bis die Magie den mächtigen Drachen bezwang, doch war er noch nicht tot. Aber die Kraft des Shallad hatte ihn gebannt und ihn in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Darauf erhob sich Jubel unter den Menschen, aber Merocca sprach: ›Holt große Felsen und türmt sie über dem Drachen auf!‹ Sie folgten dem Befehl, und so entstand jener Tafelberg, auf dem heute die Speicherburg Yarman-Rash steht.« O’Marn pfiff durch die Zähne. Herzog Krude lächelte grimmig. »Eine gefährliche Wohnstätte«, sagte er. »Ebensogut hätten sie die Burg auf einem Vulkan errichten können.« »O nein, Herr«, sagte der Legendenerzähler. »Es ist ungefährlich, dort zu leben, denn seit jener Zeit hat der Drache sich nie wieder gerührt. Viele sagen, er ist tot. Andere behaupten, daß er nur schläft, bis ein starker Zauberer ihn wieder zu unheiligem Leben erweckt.« »Es ist gut«, sagte Moushart schroff. »Du kannst wieder gehen.« Mit einem herablassenden Wink verabschiedete er den Legendenerzähler. Der kleine Alte regte sich über diesen unhöflichen Hinauswurf nicht einmal sonderlich auf. Offenbar hatte er es eilig, aus der Nähe der Dämonisierten zu kommen. »Eine schöne Geschichte hat er uns da erzählt«, sagte Oburus. »Wir danken dir für die nette Unterhaltung. Jetzt aber sollten wir wieder zur Sache kommen, Cran.« »Wir sind dabei, Caer«, entgegnete der Räuberhauptmann. »Ich sagte schon, daß ich einen Beweis der Macht eures Dä48
mons verlange.« »Drudins Dämon«, korrigierte Oburus. »Und wir sind Drudins Diener.« »Nun, das ist mir gleich«, sagte der Cran. »Wenn dieser Cherzoon so mächtig ist, wie ihr behauptet, so soll er Ghorogh wecken.«
»So etwa«, brummte O’Marn, »habe ich mir das gedacht.« Er sah den Schwarzhäutigen und den Herzog an. »Was haltet ihr von der Sache?« »Es ist nicht gerade einer der sieben schlechtesten Einfälle«, entgegnete Oburus. »Wenn Ghorogh wirklich so furchtbar war, wie der Alte ihn schilderte, gefällt mir der Bursche. Er könnte uns gute Dienste leisten.« »Es gibt noch einen weiteren Grund, der dafür spricht«, warf Krude ein. »Dieser Grund ist der Sohn des Kometen. Wenn Ghorogh Yarman-Rash sturmreif schlägt, dann…« »Dann brauchen wir Mythor nur aufzusammeln«, grinste Oburus. »Das ist gut. Also werden wir Cherzoon den Drachen wecken lassen.« »Übernehmt euch nicht«, spöttelte Moushart. »Ich glaube nicht, daß Cherzoon es schafft. Nicht einmal Dryazituum…« »Hör auf mit deinem Dryazituum!« knurrte Oburus. »Wobei mir einfällt, daß hier eigentlich auch noch etwas zu erledigen ist.« Er ging auf Moushart zu und blieb dicht vor ihm stehen. Der Cran sah direkt in das gläserne Gesicht des Schwarzhäutigen. Eine dumpfe Furcht stieg in ihm auf. »Komm mir nicht zu nahe«, murmelte er. Seine Hand tastete unwillkürlich nach seinem Dolch. Doch seiner Drohung fehlte die Macht. Die Macht besaß Oburus, und als der Schwarzhäutige die Arme hob, ahnte 49
Moushart, daß im nächsten Moment etwas Furchtbares geschehen mußte. Das Gesicht… Da packte Oburus zu. Wie Stahlspangen umschlossen seine Hände Mousharts Oberarme, der im letzten Moment ausweichen wollte. Doch es gelang ihm nicht mehr. Der Todesreiter war schneller gewesen. Er riß den Cran noch näher heran, bis er in seine Augen starrte. »Nein…«, flüsterte Moushart entsetzt. »Nicht…« Fast im gleichen Augenblick flammte ein schwarzer Blitz aus den Augen des Todesreiters und schlug in Mousharts Gesicht ein. Der Cran schrie gellend auf. Oburus stieß ihn von sich. Der Cran taumelte bis an die Wand zurück. Langsam glitten seine Hände empor, tasteten über sein Gesicht und fühlten… Die drei Todesreiter wandten sich um und verließen das Haus des Cran, der ihnen aus seinem verglasten Gesicht starr nachsah.
Es war etwa der gleiche Augenblick, in dem aus einem der Häuser in Yarman-Rash ein gellender Schrei erklang. Ein paar Schurketen, die sich auf den Straßen und Wegen bewegten, wandten die Köpfe, und einer flüsterte: »Der Fremde!« Damit war der Ursprung des Lautes geklärt. Nur wenige Bewohner von Yarman-Rash wußten, was es mit diesem Fremden auf sich hatte. Viele hatten ihn auf der Trage gesehen, vielen waren die eigenartigen Tiere aufgefallen, die ihm gehörten. Aber kaum jemand wußte, wer er war oder warum er wie ein Kranker transportiert worden war. Oben in der Etage, die man Mythor und seiner liebevollen Pflegerin zugewiesen hatte, beugte sich Mistra über den Sohn des Kometen und versuchte ihn auf sein Lager zurückzudrücken. Weit aufgerissen waren die Augen des jungen Kriegers, der den Schrei ausgestoßen und sich aufgerichtet hatte, als 50
habe er etwas Entsetzliches gesehen. Endlich gelang es der jungen Frau. Mythors Körper erschlaffte, sank wieder zurück. Augenblicklich verfiel er erneut in Apathie. Er sah ausgezehrt aus, am Ende seiner Kräfte. Das Schwarze, das in ihm fraß, höhlte ihn aus. Der Kampf seines Geistes gegen den Schatten verbrauchte alle vorhandenen Kräfte. Niedergeschlagen sah Mistra ihn an. Es schien keine Möglichkeit zur Besserung zu geben; das Unheimliche hatte Mythor fest im Griff. Es mochte sein, daß er bald starb, wenn seine Abwehr gegen den Schatten zu lange dauerte. Es mochte auch sein, daß der Schatten aus dem Kometenstein Gewalt über ihn bekam und ihn zu einem Ungeheuer in menschlicher Gestalt werden ließ. Vor beiden Möglichkeiten fürchtete sich die junge Frau. Mistra war Mythor auf gewisse Weise zugetan, es war nicht direkt Liebe, sondern… Nun, sie war sich über ihre Gefühle nicht ganz im klaren. Fest stand, daß sie nicht wollte, daß Mythor etwas geschah. Und bekümmert mußte sie feststellen, daß sich sein Zustand immer weiter verschlechterte. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, ihm zu helfen! Ihre Hand strich sanft über seine heiße Stirn. Wenn es ein Fieber war, das Mythor schüttelte, so war es eines, das ihr unbekannt war. Der Schatten in ihm raste. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, die von dunklen Ringen umgeben waren. Die Knöchel seiner Finger traten scharf hervor. Mistra entsann sich der Andeutung Dreifingerauges, daß es tatsächlich eine Möglichkeit gebe. Doch sie würde ihren Tod mit sich bringen können. Und wennschon! Der Entschluß, den Weisen Großen zu fragen, festigte sich. Und Mythor begann wieder zu toben. Aber das war nicht 51
das einzige, was zu dieser Zeit in Yarman-Rash geschah.
»Mäh-ä-häh!« schrie das Grom. Staine, der von seinem Reittier abgestiegen war, griff nach einem der geringelten Hörner des Tiers und schob es sanft, aber bestimmt zur Seite. »Aus dem Weg, dummes Vieh«, brummte er und schritt weiter voran auf das größte Steinhaus der Siedlung zu. Zwei weitere Schurketen begleiteten ihn. Als Staine das Haupthaus erreicht hatte, blieb er stehen und drückte die Zügel seines Reittiers einem seiner Gefährten in die Hand. Selbst im Zentrum der Siedlung liefen noch Gromme herum; es war eigentlich an der Zeit, daß sie nach Yarman-Rash gebracht wurden. Aber hier hatte der Winter noch nicht mit voller Härte zugeschlagen. »Heda, Häuptling!« schrie Staine. »Komm heraus aus deinem Haus und höre meine Worte!« Kurz sah er zur Sonne; sie stand schon tief. Die Nacht kam rasch in dieser Jahreszeit, und sie würde finster werden; es war Neumond. Die drei Schurketen waren geritten und geritten, um den Auftrag ihres Cran zu erfüllen, doch ihr Volk siedelte weit verstreut. Noch eine Handbreite trennte die Sonne vom Versinken am westlichen Horizont. Ein hochgewachsener Mann trat aus dem Steinhaus. Staine schätzte ihn auf fünfzig Sommer, und sein Haar war schlohweiß. »Seid uns willkommen, Männer«, sagte der Alte. »Wer seid ihr, und was ist euer Begehr?« »Cran Achad schickt uns als Boten seines Willens«, sagte Staine und stellte sich und seine beiden Gefährten vor. Achad war auf Nummer Sicher gegangen; die Wahrscheinlichkeit, daß bei drei Boten einer das Ziel erreichte, war ziemlich hoch. Achad nahm die Warnung Dreifingerauges ernst. Wenn dieser behauptete, daß von den Berkern eine größere Gefahr als 52
normalerweise üblich drohe, so stimmte es. Doch Staine und seine Gefährten waren keinem Berker begegnet. »Was befiehlt der Cran?« fragte der Alte. »Es ist sein Wille, daß alle kampffähigen Männer die Siedlung verlassen und wohlbewaffnet zur Yarman-Rash eilen. Gefahr droht.« Der Alte furchte die Stirn. »Das ist böse«, erkannte er. »Flüchtlinge kommen in Scharen aus Tainnia, und sie erzählen von dämonischen Kräften und furchtbaren Heeren, die das Land überfallen. Und jetzt droht auch uns Gefahr?« »Ich weiß nichts als das, was der Cran mir auftrug«, entgegnete Staine. »Ich weiß nicht, welche Gefahr es ist, die die Schurketen bedroht.« »Die Schurketen«, sann der Alte. »Nicht das südliche Salamos?« Staine zuckte mit den Schultern. »Ich kenne nur die Worte des Cran, und ich teilte dir seinen Willen mit.« »So kehre mit deinen Gefährten ein. So groß wird die Gefahr nicht sein, daß ihr nicht ein kräftigendes Mahl zu euch nehmen dürft. Morgen werden wir dann aufbrechen, um dem Cran unsere Kraft und unsere Waffen zur Verfügung zu stellen.« »So sei es«, sagte Staine zufrieden. »Dankend nehmen wir deine Gastfreundschaft an.« Der Bote hätte wohl mehr auf Eile gedrungen, wenn er geahnt hätte, was sich zu dieser Zeit einerseits auf Yarman-Rash und andererseits in der Dhachar-Burg abspielte…
Cran Moushart hatte einen langen, wallenden Mantel mit Kapuze übergestreift. Normalerweise trug er diese verhüllende Kleidung, wenn der Frost klirrte und der Schnee kniehoch lag. Jetzt hatte er ihn angelegt, obwohl das Wetter eini53
germaßen erträglich war. Es gab einen Vorteil, den er als wichtig erachtete. Die Kapuze überschattete sein Gesicht, so daß kaum jemand die gläserne Schicht zu erkennen vermochte, wenn er nicht ziemlich nahe an den Cran herankam. Und Moushart war sehr darauf bedacht, seine Berker etwas auf Abstand zu halten. Der gewohnte Respekt vor ihrem Räuberhauptmann erleichterte es ihm, sie von sich fernzuhalten. Und sollte jemand die Dreistigkeit besitzen, ihn nach dem Grund seiner Vermummung zu fragen, so hatte er eine glaubwürdige Ausrede bereit. Er war erkältet, hatte einen fürchterlichen Schnupfen und brauchte Wärme, und nichts konnte ihn besser wärmen als ein solcher Mantel. Vorläufig brauchte niemand davon zu wissen, daß er den Dämonenkuß erhalten hatte, daß er von nun an zu den Dienern und Helfern des obersten Caer-Priesters Drudin zählte. Als er an seinen Dämon Dryazituum dachte, lächelte er abfällig. Er wußte jetzt, daß Dryazituums Macht und Stärke nichts waren im Vergleich zur Macht und Stärke Cherzoons. Drudins Dämon war eines der mächtigsten Wesen der Finsternis. Moushart beabsichtigte, sein gläsernes Gesicht so lange zu verbergen, wie es eben möglich war. Die Salamiter wußten zwar, daß der Berker-Cran sich der Schwarzen Magie verschrieben hatte, aber sie brauchten auch nicht alles zu wissen. Um so größer würde später, nach der Eroberung Salamos’ durch die Caer, die Überraschung sein, wenn ausgerechnet Cran Moushart zu erkennen gab, daß er seit langer Zeit auf der richtigen Seite stand. Er ahnte nicht einmal, daß er seine Gedanken nicht mehr selbst kontrollierte… Moushart klatschte in die Hände. Zwei Berker erschienen und verneigten sich unterwürfig. So liebte es der Gran. »Holt die Offiziere zusammen!« befahl er. Offiziere nannte er seine Unterhauptmänner, obwohl sie wenig mit ehrenhaften Solda54
ten zu tun hatten, sondern lediglich dazu geeignet waren, eine Horde von Räubern zu kommandieren. Es dauerte nicht lange, und die Unterführer trafen vor seinem Haus ein. »Ich habe eine Überraschung für euch«, behauptete Moushart. »Es wird reiche Beute geben.« Schweigend und erwartungsvoll sahen sie ihn an. Da ließ er die Katze aus dem Sack. »Wir greifen Yarman-Rash an«, sagte er.
Ein dumpfes Grollen und Rumpeln ertönte. »Was ist das?« fragte jemand erschrocken. Der Weinkrug auf dem hölzernen Tisch tanzte und ließ seinen Inhalt überschwappen. Alles erzitterte. Von einem niedrigen Schrank fiel eine tönerne Figur und zerbrach auf dem Boden. »Ein Erdbeben?« »Unsinn! Wie sollte es hier in der Steppe ein Erdbeben geben? Und die Vulkane sind weit.« »Der Wille der Götter ist unergründlich. Vielleicht haben wir zu sündig gelebt und…« Abermals erzitterte alles. Wie von Geisterhand aufgerissen öffnete sich eine Tür und zerbrach. Mörtel platzte aus den Steinfugen. Hätte der Hausherr den Weinkrug nicht gedankenschnell ergriffen, so wäre er durch die Erschütterungen von der Tischkante gefallen, nachdem er bis zum Rand gerutscht war. Der Schurkete starrte entgeistert auf die zerbrochene Tür. »Doch ein Erdbeben!« stieß er hervor. »Schnell, hinaus mit euch allen!« Frau und Kinder eilten hinaus. Der Mann folgte. Und wieder erzitterte der Boden der Speicherburg. Etwas Unfaßbares geschah mit Yarman-Rash. 55
Während in anderen schurketischen Stammessiedlungen andere Boten Achads die Schurketen aufforderten, ihre Kampfkraft zur Verteidigung der Burg zur Verfügung zu stellen, wagte es in der Speicherburg der Berker wahrhaftig ein Mann, Kritik zu üben. »Die Schurketen!« schrie er. »Du bist irre, Cran! YarmanRash ist uneinnehmbar! Wir werden uns blutige Köpfe holen, das ist alles! Wenn die Beute, die du uns versprichst, in Yarman-Rash verborgen ist, so werden wir sie nicht lebend erreichen!« Moushart reckte sich, doch nicht so weit, daß die Kapuze sein gläsernes Gesicht enthüllte. »Ich will darauf verzichten, dich bestrafen zu lassen, weil du aus Unwissenheit plärrst«, sagte er schroff. »Und ich will mich dazu herablassen, euch allen die Gründe für meine Entscheidung bekanntzugeben.« Die Unterführer wurden etwas bleicher. Scheue Blicke trafen den Berker, der es gewagt hatte, am Entschluß des Cran zu zweifeln. Dieser Mann würde es fortan nicht leicht haben; der Zorn des Cran würde ihn ständig treffen. Sosehr Moushart ausgiebige und delikate Mahlzeiten schätzte, sowenig vergaß er, wenn jemand ihm öffentlich widersprach. Sein Versprechen, den Unterführer nicht zu bestrafen, war ein schlechter Witz. »Vielleicht wissen einige von euch«, begann Moushart, »daß drei Männer aus einem fernen Land zu uns gekommen sind. Männer des Herzogtums Caer von der tainnianischen Insel. Sie haben uns ihre Hilfe zugesagt.« »Drei Männer…?« flüsterte jemand im Hintergrund. »Was vermögen sie schon auszurichten?« »Das will ich dir gleich sagen!« donnerte Moushart. »Sie werden unsere Krieger in den Kampf führen. Und sie beherr56
schen die Magie so gut wie ich selbst!« Das war nun gewaltig untertrieben, aber warum sollte der Cran vor seinen Männern eingestehen, daß es jemanden gab, der besser war als er selbst? Er würde schlagartig einen Teil seiner Autorität einbüßen. »Sie bereiten bereits alles für die Eroberung vor«, fuhr Moushart fort. »Wenn unsere Männer die Burg angreifen, wird sie sturmreif sein, und sie wird uns ohne große Anstrengung in den Schoß fallen.« »Mir gefällt es nicht, daß es ausgerechnet Caer sind«, murmelte der ewige Zweifler. »Man hört so allerlei böse Dinge über die Machtsucht und Eroberungslust dieser Leute. Wer sagt uns, daß sie nicht dabei sind, die Salamiter gegeneinander auszuspielen, damit ihnen das Land später um so leichter in die Hände fällt?« »Narr«, knurrte Moushart. »Davor werden uns schon die Heymals schützen. Denn die sind selbst an der Schutzherrschaft über uns interessiert.« Er legte eine kleine Kunstpause ein. Die anderen wußten Bescheid, daß dies die Gelegenheit war, Informationsfragen bezüglich des weiteren Vorgehens zu stellen; Kritik war grundsätzlich nicht erwünscht. »Also nichts«, brummte Moushart schließlich zufrieden. »Nun, so seht zu, daß eure Krieger an diesem Abend nicht allzuviel des süßen Weines trinken. Denn noch bevor der Morgen graut, werden wir ausrücken, um Yarman-Rash zu überfallen. Bis dahin werden die drei Magier wohl genügend Vorarbeit geleistet haben.« Welcher Art diese Vorarbeit war, verschwieg er. Denn es gab genügend Männer, die den Drachen fürchteten, auch wenn er seit langer Zeit unter den Steinen des Tafelbergs schlief und zwischen Shallad Meroccas Herrschaft und der des jetzigen Shallad, Hamadur, noch ein paar andere Regierungsperioden 57
lagen. Die Erzählungen hatten durch die lange Zeit nichts von ihrer Farbigkeit verloren. »Seht also zu, daß ihr die tapferen Krieger bereithaltet!« befahl Moushart. »Das wäre vorläufig alles. Ihr könnt gehen.« Als er wieder allein im Raum war, atmete er erleichtert auf. Es wäre sicher nicht gut gewesen, wenn jemand sein gläsernes Gesicht gesehen hätte. Wenn sie die Burg erstürmten, war es noch früh genug. Cran Moushart rieb sich die Hände. Er war zufrieden. Die Würfel waren gefallen.
Cran Achad trat verärgert aus der Tür seiner Behausung. Die Dämmerung begann allmählich einzusetzen; sie kam rasch in dieser Jahreszeit. Abermals erzitterte der Boden, irgendwo fiel ein Ziegel aus einer Wand und erschlug um ein Haar ein Grom. Ein dumpfes Grollen kam aus der Tiefe. Heftig stampfte der Cran mit dem Fuß auf den Boden. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Er mußte an die alten Erzählungen denken, die von Ghorogh, dem Drachen, berichteten. Aber der konnte doch nur durch Magie…? Achad spürte jemanden hinter sich. Er sah sich um und erkannte Dreifingerauge. Der Weise Große pfiff etwas, das Achad nicht verstand. Darauf begann Dreifingerauge zu gestikulieren. »Du meinst also auch, daß es Ghorogh ist, der sich dort unten reckt und streckt«, murmelte Achad betroffen. Er sah den Weisen Großen an. »Wir sollten diese Weisheit vorläufig für uns behalten. Die Furcht vor einem Erdbeben wird niemals so groß sein wie die vor dem Drachen.« Dreifingerauge nickte. Er kehrte wieder in das Haus zurück. Der Cran folgte ihm. Er überlegte, ob es sinnvoll sei, etwas zu 58
tun. Aber die Schurketen würden wissen, was sie zu tun hatten, wenn die Wände wackelten. Er beschloß, noch ein wenig zu warten. Vielleicht war es wirklich nur ein Erdbeben, das schnell vorüberging. Er klammerte sich förmlich an diesen Gedanken. Denn das Wissen, daß der furchtbare Drache wieder ins Leben zurückkehrte, war zu schlimm. Mythor hatte sich wieder halbwegs beruhigt. Es schien immer mehr, als gewinne der Schatten in ihm die Oberhand. Die Kräfte des Kriegers begannen zu erlahmen. Es mußte dringend etwas geschehen. Mistra sah ihn aus ihren großen Augen kummervoll an, dann wandte sie sich um und verließ das Zimmer. Im Augenblick war Mythor ruhig und benötigte keine direkte Hilfe. Sie trat nach draußen und ließ sich an den Trittsteinen der Hauswand hinab. Es war eine anstrengende Sache gewesen, Mythor hier heraufzubringen, aber unter den leerstehenden Häusern war dies das niedrigste gewesen. Nur dem Cran und in dieser Rash dem Weißen Großen stand es zu, ebenerdig zu wohnen. Noch während sie zwischen Himmel und Erde stand, begann die Wand zu zittern. Erschrocken krallte die junge Frau sich mit den Händen an einem der höheren Trittsteine fest. Ein Erdbeben? Die ersten leichten Erschütterungen hatte sie in ihrer Sorge um Mythor nicht einmal richtig wahrgenommen. Jetzt aber bekam sie zu spüren, daß etwas Befremdliches vorging. Sekundenlang war sie in Gefahr, abzustürzen, weil der Stein ihr förmlich aus den Fingern glitt, aber sie schaffte es, den Griff zu verstärken, sich festzuklammern. Dann ließen die Erschütterungen wieder nach. Mistra eilte nach unten, so schnell es ging. Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Auch wenn die 59
Wohnung, in die man Mythor gebracht hatte, nicht höher lag als zweieinhalb Mannslängen, konnte man bei unglücklichem Sturz doch erheblich verletzt werden. Sie sah nach oben. Plötzlich schien Mythor unerreichbar fern. Zur Gänze hatte sich der Boden noch nicht beruhigt; unter ihren Füßen spürte sie die leichten Bewegungen. Einen Moment noch zögerte sie. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und eilte zum Haus des Cran. Sie wollte zu Dreifingerauge. Mythor mußte geholfen werden, um jeden Preis! Aber noch ehe sie das Haus erreichte, geschah etwas Ungeheuerliches. Mistra sah es als erste. Sie wollte schreien, aber das Entsetzen lähmte ihr die Stimme. Etwa dreihundert Schritt entfernt begann ein Speichersilo zu schwanken und kippte.
Cran Achad sprang auf, als das Getöse aufdonnerte. Es klang, als breche der ganze Tafelberg in sich zusammen. Mit ein paar Schritten war der Cran an der Tür. »Ein Lärm wie von einem Dutzend volltrunkener Helleber«, knurrte er und sprang ins Freie. Das Entsetzen verschlug ihm den Atem. Er sah gerade noch, wie einer der Silos in einer Wolke aus Staub und Steinen zusammensank. Er mußte gekippt sein und war dann in sich zusammengefallen. Vereinzelte Mauerbrocken und Steinreste flogen durch die Luft. »Das darf nicht wahr sein«, murmelte der Cran. Auch andere Schurketen, Männer, Frauen und Kinder, eilten ins Freie. Es war schon fast dunkel, aber das Licht einiger Fackeln ließ die Staubwolke wie ein riesiges, wallendes Gespenst erscheinen. Aufgeregte Stimmen redeten durcheinander. Langsam legte sich die Wolke und gab die Trümmer des Silos frei, die die Straße jetzt vollkommen versperrten. Dazwischen waren hier und dort geschnürte Bündel des getrockneten 60
Steppengrases zu sehen. Der Silo war voll gewesen, aber der Cran wußte, daß dieses Heu verloren war. Durchsetzt mit Mörtel und Steinstaub, war es den Grommen als Nahrung nicht zuzumuten. Und die Schurketen hatten wahrlich anderes zu tun, als das Heu auszudreschen, um es von den Staubresten zu befreien. Achad stapfte auf die Trümmer zu und begann, durch sie hindurchzusteigen. Er wollte das Fundament in Augenschein nehmen, auf dem der Speicherturm gestanden hatte. Als er den aufgerissenen Boden sah, wurde ihm klar, weshalb der Silo umgekippt war. Die Felsplatte war an dieser Stelle gespalten und hatte sich gehoben. Achad schluckte eine Verwünschung hinunter und kehrte zurück. Ein paar Männer waren herangekommen. »Schafft die Trümmer fort!« befahl Achad. »Die Steine und Mauerreste, die noch einigermaßen erhalten sind, sammelt an einer freien Stelle, den Rest werft über die Mauer hinab.« Er schritt durch die Menge zurück, seiner Behausung entgegen. Die Warnung Dreifingerauges fiel ihm ein. Die Macht der Schattenzone sollte wie eine dunkle Wolke Yarman-Rash bedrohen. War die Bedrohung schon da, war Yarman-Rash bereits dem Angriff des Bösen ausgesetzt? Vielleicht konnte es ihm der Weise Große sagen. Ein paar Meter vor seinem Haus blieb er stehen. Er sah Mistra vor dem Eingang stehen, die Frau, die Vierfaust und seine Stummen Großen als Mythors Begleiterin mitgebracht hatten. »Ist etwas mit Mythor?« fragte er. Es fehlte ihm gerade noch, daß es auch von dieser Seite her Probleme gab. »Sein Zustand verschlechtert sich nach wie vor«, sagte sie. »Ist Dreifingerauge im Haus?« »Ich denke schon«, brummte Achad unwirsch. »Komm herein und klopfe an seine Tür. Wenn er da ist, wird er dir öff61
nen.« Der Cran betrat das Haus. Er wollte andere Kleidung anlegen und dann beim Aufräumen mit zufassen. Achad war nicht allein deshalb unter seinen Leuten hochgeschätzt, weil er selbst vor keiner Arbeit zurückscheute. Er gab nicht nur die Befehle, sondern verstand es, auch selbst mitzuhelfen. Er betrat seine Wohnung, während Mistra vor der schlichten Holztür zu Dreifingerauges Behausung stehenblieb. Abermals schüttelte sich der Fels.
Drei Männer, deren Gesichter wie Glas wirkten, sahen sich an. Triumph stand in ihnen geschrieben. Einer von ihnen hob die Hand. »Die Kraft Cherzoons reicht aus«, sagte der Schwarzhäutige. »Die Magie ist stark genug. Ghorogh erwacht.«
Durch die Erderschütterung sprang die Verriegelung der Holztür auf. Sie öffnete sich eine Handbreit, und Mistra konnte in das Zimmer sehen, das dahinter lag. Die Wohnungen der Schurketen kannten Korridore ebensowenig wie Treppen im Hausinneren; ein Zimmer schloß an das andere an, und das vorderste war zumeist dasjenige, in dem man Gäste empfing. Dreifingerauge hielt sich in diesem Raum auf. Er war nicht allein. Vor ihm saß Vierfaust. Mistra erkannte ihn an seiner Kleidung wieder, da sie während des Rittes zur Speicherburg Gelegenheit genug gehabt hatte, sich sein Äußeres einzuprägen. Die beiden Stummen unterhielten sich vermittels ihrer Zeichensprache. Mistra hatte keine Schwierigkeiten, die Gesten zu deuten. Mythor verfällt zusehends, signalisierte Vierfaust. Es kann nicht mehr lange dauern. Wir müssen ihn retten. Ich sehe nur die eine Möglichkeit, die ich bereits erwähnte, gab 62
Dreifingerauge zurück. Vielleicht geht es anders, warf Vierfaust ein. Diese Tätowierung, die er auf der Brust trägt, das Abbild Fronjas… vielleicht sollte man sie entfernen. Sie könnte mit ihren Kräften… Nein! wehrte Dreifingerauge schroff ab. Ich bin der Ansicht, daß Fronja ihm durch diese Art der Manifestation Kraft gibt. Zudem würde ein Entfernen der Tätowierung nur eine große Verletzung hervorrufen. Bedenke, daß ein solches Hautbildnis für eine Ewigkeit bestimmt ist. Und jede Verletzung schwächt den Sohn des Kometen weiter. Es könnte seinen Untergang beschleunigen. Was also schlägst du vor? Wir müssen ihm helfen, so oder so! Man könnte meine etwas feinere Methode anwenden. In diesem Augenblick sah Dreifingerauge zufällig zur Tür und erkannte nicht nur, daß sie aufgesprungen war, sondern auch, daß Mistra draußen stand und ihre stumme Unterhaltung verfolgt hatte. Er hob die Hand und winkte ihr. Komm herein, pfiff er. »Ich habe euer Gespräch verfolgt«, sagte sie leise und ließ sich vor den beiden Stummen auf den Knien nieder. »Du erwähntest eine Möglichkeit, daß ich Mythor helfen könne. Ich will es tun.« Du könntest dabei sterben, warnte der Weise Große erneut. »Das sagtest du schon einmal«, wehrte Mistra ab. »Dennoch will ich es tun. Mythor darf nicht sterben.« Die beiden Stummen sahen sich an. Wenn es wirklich dein unumstößlicher Wille ist, so laß es uns versuchen, pfiff Dreifingerauge und führte ein paar Gesten in Vierfausts Richtung aus. Der Stumme Große erhob sich und eilte davon. »Wohin geht er?« fragte Mistra. Er geht zu Mythor, um zu prüfen, ob das Zimmer ausreicht für die Dinge, die wir tun müssen. Denn es wäre nicht gut, wenn wir ihn abermals transportieren müßten, meinte der Weise Große. 63
Mistras Gesicht verriet Anspannung. Sie war bereit, alles zu tun, wenn sie damit nur dem Sohn des Kometen helfen konnte. Die Abstände zwischen den Zuckungen des Berges wurden geringer. Die Beben und Erschütterungen selbst nahmen an Heftigkeit zu. Ein kleinerer Schuppen faltete sich einfach zusammen. Blökend flüchteten verstörte Gromme von einer Seite der riesigen Speicherburg zur anderen und umgekehrt. Die Tiere spürten die Gefahr mit ihren feinen Instinkten in weitaus größerem Maß. Cran Achad beschloß, bei nächster Gelegenheit einmal nach den Tieren Mythors zu sehen und ihr Verhalten zu beobachten. Der Cran faßte selbst mit zu, aber er erkannte schon bald, daß es noch einige Zeit dauern würde, um die Trümmer des zusammengestürzten Silos zu beseitigen. Und die Beben wurden immer stärker. Jeden Moment konnten andere Bauwerke einstürzen. Vor allem die Wohnhäuser waren gefährdet. Ein Silo mochte darauf stürzen oder ein Haus von selbst zusammenbrechen. Wehe denen, die darin wohnten… Erste Stimmen wurden laut, die die Ghorogh-Erzählungen erwähnten. Mehr und mehr wurde es den Schurketen klar, daß dies kein normales Erdbeben sein konnte. Die Art, wie die Stärke der Erschütterungen zunahm, war nicht normal. Außerdem schlug das Unheil einmal hier, einmal dort zu, gerade so, als erwache ein riesiges Untier aus dem Schlaf und recke sich und strecke mal dieses Glied, mal jenes… Hin und wieder bildeten sich vielfach verästelte Risse im Boden und schlossen sich wieder fast völlig. Hier und da hob sich eine Felsplatte um mehrere Handbreit oder senkte sich ab. Und an einer Stelle bildete sich bereits ein armdicker Spalt in der hohen Außenmauer der Burg. Vereinzelte Steine kollerten in die Tiefe. Achad arbeitete verbissen weiter. Zwischendurch gab er die 64
Anweisung, daß einige Männer die Hauptpunkte der Zerstörungen feststellen sollten. Vielleicht ließen sich bei einem weiteren Anwachsen der Bebenstärke Menschenleben retten, indem man jene Häuser, die an den am meisten gefährdeten Punkten standen, vorsichtshalber räumte. Das Gefühl, daß die Schattenzone, vor deren Macht Dreifingerauge gewarnt hatte, bereits zum Großangriff geblasen hatte, wurde in Cran Achad immer größer, und hin und wieder dachte er an Mythor. Hatten sie möglicherweise durch die Aufnahme Mythors erst das Böse zur Speicherburg gelockt?
Nach einer Weile kehrte Vierfaust zurück. Er winkte Dreifingerauge und Mistra, ihm zu folgen. Sie traten hinaus auf die Straße. Mistra sah sich um. Einige der Häuser wiesen leichte Beschädigungen auf, und am eingestürzten Silo waren Männer eifrig an der Arbeit. Aber der Silo war groß gewesen, die Aufräumarbeiten kamen nur langsam voran. Vierfaust schritt schnell aus. Er schien sich nicht an den leichten Erschütterungen des Bodens zu stören. Mistra fühlte, daß sich bei ihr eine Gänsehaut bildete. Seit dem Umstürzen des Silos glaubte sie jeden Moment, ein weiteres Gebäude zusammenbrechen zu sehen. Sie fürchtete das, was im Innern des Tafelbergs geschah. Sollte etwa der Drache…? Sie erreichten das Haus, in dem Mythor einquartiert worden war. Erstaunlich behende klomm Vierfaust die Trittsteine an der Außenwand empor. Mistra folgte ihm etwas zögernder und langsamer. Sie entsann sich der bangen Sekunden, in denen sie beinahe abgestürzt war. Doch während ihres Hochsteigens schien das Erdbeben ein Einsehen zu haben; die Wände zitterten nicht. Dennoch atmete Mistra erleichtert auf, als sie durch die Tür ins Innere der Wohnung trat. 65
Vierfaust hatte nicht auf sie gewartet. Der Stumme Große war bereits weitergegangen in das Zimmer, in dem Mythor lag. Der Sohn des Kometen warf sich unruhig auf dem Lager hin und her. Die Decke, die Mistra fürsorglich über ihn gebreitet hatte, war verrutscht und gab die Brust des Helden frei. Mistra sah auf die Tätowierung, die das Bildnis einer ihr unbekannten Frau zeigte. Wenn die Zeichnung die Schönheit des Modells auch nur zu einem Bruchteil hatte einfangen können – diese Fronja, wie die Großen sie genannt hatten, mußte unglaublich schön sein. Überirdisch schön. Wer mochte sie sein? Liebte Mythor jene Fremde? Aber selbst wenn es so war, änderte es nichts an ihrem Entschluß. Das Gefühl der Eifersucht kam nicht in Mistra auf. Ihre Zuneigung zu Mythor war anderer Art. Eine Hand berührte ihre Schulter. Dreifingerauge war zu ihr getreten. Willst du es wirklich? pfiff er. Mistra nickte nur. Sie sah wieder Mythor an. Schweiß stand auf seiner Stirn, schimmerte in großen Tropfen. Der allmählich verfallende Krieger war am Ende seiner Kraft. Es blieb nicht mehr viel Zeit. »Was immer du auch planst, Dreifingerauge«, flüsterte sie. »Ich bin bereit. Fang an.« Der Weise Große antwortete nichts, sondern griff in eine Innentasche seines Gewands und holte seine Pfeife hervor. Die andere Hand trug den Tabaksbeutel. Auch Vierfaust hatte von irgendwoher seine Pfeife gezaubert. Die Pfeifen wurden gestopft und in Brand gesetzt, und die beiden Großen sogen den Rauch in tiefen Zügen durch ihre Nasen ein. Es gab keinen Pfeiflaut, keine Geste, nichts. Erwartungsvoll sah Mistra die beiden an. Was würde geschehen? Erneut begann das Mittel zu wirken und beflügelte den Geist. 66
Dinge, die vorher unmöglich erschienen, wurden möglich. Die Barrieren des Verstandes wurden durchbrochen. Die bis ins Unfaßbare geschärften Sinne erkannten Dinge, die ihnen normalerweise für immer verschlossen bleiben würden. Das Mittel weckte Fähigkeiten und Kräfte, die unglaublich waren. Kaum jemand ahnte, daß jene Kräfte in jedem Menschen verborgen waren. Nur die Großen waren in diese Geheimnisse eingeweiht und verstanden es, die verborgenen Kräfte für sich zu nutzen. Die Wölkchen des seltsamen Rauches verflogen. Mistra hütete sich, zu tief durchzuatmen. Was den Großen half, konnte für andere schädlich sein. Gebannt beobachtete sie die beiden und ihr Tun. Nach einer Weile erloschen die beiden Pfeifen, der seltsame, berauschende Tabak war aufgebraucht. Vierfaust und Dreifingerauge erhoben sich aus ihrer sitzenden Haltung. Hinter der Vermummung hervor starrten Dreifingerauges Augen Mistra an. Als die Pfeife erlosch, hatte der Weise Große den Gesichtsschutz wieder angelegt. Auch Vierfaust verhüllte sein Gesicht. Irgendwie spürte die junge Frau die Kraft, die in den beiden Großen erwacht war. Eine seltsame Aura ging von ihnen aus und berührte die Fischerstochter. Kurz berührten sich die Hände der beiden Großen. Durch das Stumme Wort sprachen sie kurz miteinander, fast nur für die Dauer eines Herzschlags. Dann zeigte der Weise Große auf eine Stelle neben Mythors Lager. Stell dich dorthin, signalisierte er der Frau. Mistra gehorchte widerspruchslos. Die Großen besaßen Kenntnisse und Wissen um Dinge, die anderen Menschen verborgen blieben. Dreifingerauge mußte genau wissen, was er tat. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach der Mythors. Der Krieger schien nicht einmal zu bemerken, daß sie ihn berührte. Mit 67
geschlossenen Augen murmelte er Unverständliches. Sein Atem ging rasselnd wie der eines Todkranken, dem nicht mehr viel Zeit blieb. Vierfaust war aus dem Zimmer gehuscht. Augenblicke später kam er wieder herein, in der Hand ein Stück Kreide. Er riß die verrutschte Decke vollends von Mythors Körper und zeichnete dann mit der Kreide einen Kreis um das Lager des Kometensohns und die junge Frau. Unwillkürlich erschauerte Mistra. Ein Licht wird erscheinen, teilte der Weise Große ihr mit. Und wenn es Mythor trifft, wirst du ihn küssen. »Und dann?« fragte sie atemlos. Dann wird es geschehen, orakelte der Weise Große. Mistra nickte. Sie war bereit. Sie vertraute den Stummen. Und plötzlich wurde alles anders.
»Die Mauer!« schrie einer der Schurketen, die der Cran ausgesandt hatte, um die Häufungspunkte der Beben festzustellen. Der Mann befand sich nahe der Außenmauer an jener Stelle, wo sich bereits ein breiter Spalt gebildet hatte. Unter ihm zitterte wieder der Boden. Von einem Moment zum anderen erschien ein Spalt in der Felsplatte, verästelte sich nach allen Seiten, als wolle etwas von unten hindurchstoßen. Der Riß eilte auf die Mauer zu und spaltete sie an einer anderen Stelle. Knirschend brachen Steine auseinander. Ganz langsam begann das Mauerstück nach außen wegzukippen. Zwei Gefährten eilten herbei und verfolgten erschrocken das Schauspiel. Eine Staubwolke bildete sich. Das Mauerstück, etwa zehn Fuß breit, kippte bedächtig weg, zerbrach mehrmals in sich und verschwand unter der Felskante. Mit donnerndem Getöse polterten die Trümmer die steile Felswand hinunter. 68
Erschrocken eilten die drei Schurketen zu der Stelle und sahen hinunter. Eine zehn Fuß breite Lücke klaffte jetzt in dem Befestigungswerk. Langsam wurde ihnen klar, was das bedeutete. Die Erschütterungen wurden immer stärker, und wenn man ihnen nicht Einhalt gebot, würden sie über kurz oder lang die ganze Speicherburg zerstören! Aber wie sollte man das Unheil stoppen? »Der Drache«, flüsterte der Erkunder. Wieder zitterte der Boden. Ein dumpfes Grollen kam aus der Tiefe wie von einem Vulkan. Ein Stück Boden stellte sich schräg. Mit einem entsetzten Schrei verschwand der Erkunder über die Kante und folgte dem Mauerrest. Die zugreifenden Hände seiner Gefährten waren nicht mehr schnell genug. Sie verzichteten darauf, dem Unglücklichen nachzublicken, warfen sich herum und eilten davon, einerseits, um aus der gefährdeten Zone zu entkommen, andererseits, um dem Cran Bericht zu erstatten, daß die Schutzmauer der Speicherburg jetzt eine breite Lücke aufwies. Achad stellte seine schweißtreibende Arbeit ein, als er die Rufe der Nahenden vernahm. »Was gibt es?« Die beiden Männer kamen nicht mehr zu Wort. Aus dem Haus, in dem Mythor untergebracht war, erklang ein gellender Schrei, der in wildes Kreischen überging. Cran Achad erschauerte.
Aus einem Fenster fiel plötzlich helles Tageslicht nach innen, obgleich es draußen bereits dunkel geworden war. Dreifingerauge und Vierfaust bewegten sich nicht. Aus geweiteten Augen starrte Mistra das Licht an, das annähernd kreisförmig vom Fenster aus auf die Mitte des Zimmers zuwanderte. Langsam, sehr langsam… Woher kam trotz der Dunkelheit das Licht? Es war unbedeu69
tend. Magie unterlag anderen Gesetzen. Wie erstarrt stand die junge Frau. Der Lichtkreis suchte, tastete sich auf Mythor und sie zu. Es war, als sei er ein lebendes Wesen, das sich umständlich orientieren müsse. Dann erreichte er den Kreidestrich, der als magischer Kreis Mythor und Mistra umgab. Lautlos glitt er darüber hinweg und direkt auf Mythor zu, bis er dessen Brust berührte. Hell leuchtete die Tätowierung auf, dann dehnte sich das Licht aus, bis es den ganzen Kreis erfüllte. Mistra sah Dreifingerauge an. Der Weise Große senkte die Lider. Es war soweit. Die junge Frau beugte sich über den Krieger. Kurz nur zögerte sie, dann berührten ihre Lippen den Mund Mythors zum Kuß. Bewegung kam in die beiden Stummen. Heftig gestikulierten sie und zeichneten irgendetwas in die Luft, was Mistra trotz ihrer Kenntnis der Zeichensprache nicht hätte begreifen können, wäre sie in der Lage gewesen, es zu beobachten. Doch ihre Augen waren geschlossen, und ihre Ohren nahmen im Moment der Erregung kaum die seltsam klagende Melodie wahr, die die beiden Großen pfiffen. Eine Melodie, die Lied und Sprache und Magie zugleich war. Mistra spürte Mythors spröde, trockene Lippen an ihren. Und als sie die Augen wieder öffnete, war um sie herum grenzenlose Schwärze. Ein verängstigter Schrei entrang sich ihrer Kehle.
Es war der Augenblick, in dem der Schneefalke aufgeregt zu flattern begann und eigenartige Krächzlaute ausstieß. Das Einhorn tänzelte unruhig, zeigte sich dabei wesentlich lebhafter als in den vielen Stunden zuvor. Und Hark, der Bitterwolf, gab ein leises Knurren von sich. Es war, als spürten die Tiere, was an einer anderen Stelle vor 70
sich ging. Der Bitterwolf hob den Kopf, sah die beiden anderen Tiere an und setzte sich dann in Bewegung. Sein zufriedenes Knurren erklang nicht mehr, die spitzen Ohren des riesigen Wolfes richteten sich wachsam dorthin, woher der gellende Schrei kam. Trotz der Erderschütterungen waren die drei Fabeltiere bislang ruhig geblieben, ganz im Gegensatz zu Grommen und Menschen, doch jetzt zeigten sie merkliche Unruhe. Hark verschwand zwischen den Häusern und Silos. Lautlos war sein Schritt, und in der Dunkelheit war er nicht mehr als ein Schatten.
Die beiden Großen beobachteten das Geschehen. Schwärze bildete sich und hüllte blitzschnell die beiden Gestalten ein: Mythor und Mistra, die sich über ihn gebeugt hatte, um ihm den Lebenskuß zu geben. Die junge Frau löste sich jäh von Mythor. Unwillkürlich schloß der Weise Große die Augen. Er hatte es geahnt, doch es war Mistras fester Wille gewesen. Sie schrie und schlug wie rasend um sich. Hatte sie den Verstand verloren? Fast schien es so. Aber nicht nur sie zuckte und tobte in der Schwärze, die sie und den Gesandten des Lichtboten umhüllte. Auch Mythor wurde von einer unsichtbaren Kraft erfaßt und durch die Luft geschleudert. Knirschend zerbrach das Lager unter ihm. Seine Gliedmaßen schlenkerten unkontrolliert hin und her. Die Schwärze tobte wie ein freigelassenes Raubtier, das Beute in erreichbarer Nähe vor sich sah. Dreifingerauge öffnete die Augen wieder. Er sah den Riß, der die Welt teilte. Quer durch den Raum zog er sich, schwarz wie der Tod, und in ihm zeigte sich etwas, das nicht einmal der vom Rauschmit71
tel geweckte Geist der beiden Großen begreifen konnte. Es war so unsagbar fremd, daß menschliche Vorstellungskraft versagte. Nur für ein paar Herzschläge bestand dieser schwarze Riß, dann verblaßte er. Was dann geschah, sah Dreifingerauge mit einer Klarheit und Schärfe, wie es ihm in unberauschtem Zustand selbst bei äußerster Konzentration niemals möglich gewesen wäre. Mythor schwebte wie Mistra frei in der Luft. Und die Tätowierung auf seiner Brust, das Bildnis Fronjas, verblaßte von einem Moment zum anderen, wurde einfach unsichtbar. Nichts deutete Augenblicke später mehr darauf hin, daß sie jemals existiert hatte. Sie war verschwunden, ausgelöscht… Mythor stürzte zu Boden. Er öffnete die Augen. Mistras Schreien fand kein Ende mehr. Auch ihre Füße berührten jetzt den Boden. Das Schreien wurde zu einem wilden Kreischen. Sie warf sich herum und stürmte aus dem Zimmer. Als Vierfaust sich nach einer Ewigkeit, die kaum einen Atemzug währte, herumwarf, um ihr zu folgen, war sie bereits verschwunden. Wie eine Katze, so flink, mußte sie die Trittsteine hinuntergeeilt sein und war irgendwo in der Nacht untergetaucht. Vierfaust lehnte sich gegen die Mauer und sah in die Dunkelheit hinaus. Drinnen im Zimmer erwachte Mythor wie aus einem bösen Traum und strich sich benommen über die Augen. Er war schwach wie ein neugeborenes Kind und sah sich verwirrt um. Vierfaust kam wieder herein. Der Schatten, pfiff der Weise Große, hat den Gesandten des Lichtboten freigegeben. Er ist in den Körper des Mädchens gefahren.
Krachend und donnernd fiel ein Wohnhaus in sich zusammen. Staubwolken fuhren empor, Trümmerstücke rollten auf die Straße. Das, was der Cran befürchtet hatte, war eingetreten. 72
Jetzt fielen bereits die Häuser dem Unheimlichen zum Opfer. Ein paar Männer eilten auf die Trümmer zu, stoppten aber mitten im Lauf, als sich vor ihnen eine breite Spalte bildete. Stein zerriß kreischend, und eine Wolke betäubenden Gestanks drang daraus hervor. Jemand fluchte: »Verdammt, was bedeutet das? Ein Vulkan?« Verzerrte Gesichter starrten auf die Spalte, aus der ein eigentümliches Röcheln hervordrang. Der erste Schurkete wich zurück. »Ein Ungeheuer«, flüsterte er heiser. »Dort unten lauert ein Ungeheuer und will uns fressen!« »Holt Waffen!« schrie einer. »Wir müssen uns gegen die Bestie wehren!« Der, der zuerst zurückgewichen war, begann zu laufen. Nicht aber, um Waffen zu besorgen… Die Erderschütterungen folgten in immer schnellerer Folge. Es war, als erzittere der gesamte Tafelberg unter der Wucht einer unsichtbaren Faust. Der Erdspalt verbreiterte sich. Wieder quoll eine stinkende Wolke hervor. Ein anderer Schurkete verließ den Ort. »Ich sage dem Cran Bescheid«, rief er. »Der wird wissen, was zu tun ist.« Die anderen starrten gebannt in die Schwärze des Spaltes. Was mochte sich dort unten befinden? War es wirklich ein Vulkan? Doch wie sollte ein solcher ausgerechnet hier entstehen? Der Zufall war etwas zu unwahrscheinlich, selbst in einer Welt, in der Katastrophen zur Tagesordnung gehörten. Jäh sprang eine dunkle Gestalt zwischen den Häusern hervor. Ein riesiges Tier… Einer erkannte es als den Bitterwolf, der den kranken Fremden begleitet hatte. Der Wolf knurrte und schob sich zwischen die Männer und den Erdspalt. Sein Nackenfell war gesträubt. »Was bedeutet das?« fragte jener, der den riesigen Wolf er73
kannt hatte. Doch Harks Knurren wurde nur lauter, irgendwie drängend. Der Bitterwolf schob sich auf die Männer zu. Sie deuteten sein Verhalten falsch, werteten es als Angriff. Dennoch wichen sie zurück, aber plötzlich waren Männer mit Schwertern da. Sie sahen die Weichenden, sahen den knurrenden Bitterwolf und zogen blank. Mit einem verzweifelten Heulen eilte Hark davon. Seine Warnung war nicht verstanden worden. Die bewaffneten Schurketen näherten sich dem Erdspalt, aus dem der Gestank und das seltsame Röcheln kamen, das wie der Atem eines erwachenden Riesen klang.
Cran Achad verfolgte, wie aus der Tür des »Mythor-Hauses«, wie er es nannte, das fremde Mädchen hervorstürmte. Augenblicke lang sah es so aus, als werde sie in die Tiefe stürzen, aber sie fing sich geschickt ab und eilte über die Trittsteine nach unten. Als ein Stummer Großer ihr folgen wollte, war sie bereits verschwunden. Achad war sicher, daß es Mistra gewesen war, die geschrien hatte. Achad überlegte, wohin die junge Frau verschwunden sein konnte. Ihre Schreie waren verhallt, ihr Schatten zwischen den eng beisammenstehenden Häusern und Silos verschwunden. Männer kamen und redeten wild aufeinander ein. Als jemand von einer zehn Fuß breiten Lücke in der Mauer sprach, wurde Achad wachsam. »Die Außenmauer?« vergewisserte er sich. »So mag vielleicht ein Angriff bevorstehen, der von innen vorbereitet wird.« Er entsann sich erneut Dreifingerauges Warnung. Aber wer sollte es wagen, die Burg anzugreifen? Die Schurketen? »Wenn nur die kampffähigen Männer aus den Steppensiedlungen schon hier wären«, murmelte er. 74
Aber er wußte, daß diese nicht vor Anbruch des Morgens kommen konnten – einmal ganz abgesehen davon, daß sie während der Nacht in ihren Siedlungen bleiben würden. Es war aussichtslos, auf schnelle Hilfe von außen zu hoffen. Sie mußten mit dem, was ihnen widerfuhr, selbst fertig werden. Wieder tauchten Männer auf. Einer berichtete von dem tiefen Erdspalt, aus dem der Gestank gequollen war. »Wie der faulige Atem eines Ungeheuers«, keuchte der Krieger aufgeregt. Der Drache! durchfuhr es Achad. Es wurde also zur grausamen Wirklichkeit! Ghorogh, der Drache, erwachte! »Bewaffnet euch und achtet auf alles, was aus der Spalte kommt! Erschlagt es, wenn es sich zeigt!« befahl der Cran. »Vielleicht haben wir eine Chance, solange es noch nicht zur Gänze an der Oberfläche erscheint.« Der Cran wartete, bis die Männer sich entfernt hatten, dann verließ er den eingestürzten Silo. Die Schurketen mochten auch ohne ihn weiterarbeiten. Er mußte wissen, was in Mythors Haus geschehen war. Mit raschen Schritten eilte er hinüber. Ein paar Mannslängen hinter ihm sank eine Hauswand in sich zusammen, und aus der Tiefe kam ein urweltliches Grollen und Stöhnen.
Mistra schrie nicht mehr. Etwas in ihr war zerbrochen. Das Unheimliche, das bislang in Mythor gelauert hatte, um ihn zu verderben, war nun auf sie übergewechselt. Hätte sie noch ein winziges Fünkchen eigenen Bewußtseins besessen, hätte sie ihr Opfer vielleicht bereut. Doch sie besaß keinen eigenen Willen mehr. Das Böse, der Schatten, beherrschte sie. Und ihre Widerstandskraft war bei weitem nicht so groß wie die Mythors. Hinzu kam, daß der Schatten einen gewaltigen Vorteil 75
besaß. Er hatte an Mythors Kräften gezehrt und war dadurch selbst stärker geworden, und diese Stärke besaß er nun auch in Mistra. Die junge Frau hatte keine Chance mehr. Sie hatte für die Errettung Mythors alles gegeben – ihre eigene menschliche Existenz. Der Schatten war in ihr und fraß nun an ihrer Seele, um weiter zu wachsen und seiner unheilvollen Bestimmung näher zu kommen. Er besaß keine Intelligenz, wurde nur von bösartigen Instinkten gesteuert. Ihm war es egal, ob Mythor oder Mistra seine Beute waren. Er war mehr Ding denn Leben. Leben ohnehin nicht, eher ein Un-Leben. Mistra kauerte in den Schatten der Häuser. Das Unheimliche in ihr zwang sie dazu. Nichts mehr erinnerte sie an das, was früher gewesen war, was sie noch vor wenigen Augenblicken gedacht und getan hatte. Es war verloren. Sie war verloren. Dafür war etwas anderes in ihr erwacht. Ihre Augen glommen unheilvoll auf, als sie ein warmes, blutvolles Wesen entdeckte, das blökend und verängstigt an ihr vorbeihuschte. Ein Grom! Mistras knabenhaft schlanker Körper spannte sich. Dann schnellte sie sich vorwärts, direkt auf das Tier zu, das den Tod bereits spürte und laut blökte. Doch die Hirten waren weit und hatten andere Dinge zu tun.
Mythor öffnete bedächtig die Augen. Verwirrt sah er um sich. Seine ausgetrockneten Lippen öffneten sich. »Was ist geschehen?« Er sah einen Mann vor sich, der vom Aussehen her in etwa Vierfaust glich. Aber er konnte nicht Vierfaust sein. Mythors Erinnerung setzte voll ein. Er hatte sich Vierfausts Äußeres so genau eingeprägt, daß er ihn auch ohne die Vorstellungsgeste – das Vorstrecken der Faust mit verdecktem Daumen – jederzeit wiedererkennen würde. 76
Doch der Stumme Große, für den Mythor ihn hielt, stellte sich auf andere Weise vor. Hand vors Gesicht, Daumen aufs rechte Auge, Mittelfinger aufs linke Auge, Zeigefinger auf die Stirn wie auf ein drittes Auge… Sofort drängte sich Mythor wie vielen anderen vor ihm die Bezeichnung »Dreifingerauge« auf. Mythors Hände kamen hoch. Er sah sie an, berührte dann mit den Fingern seine Augen. Unwillkürlich schüttelte er sich, als Erinnerungsfetzen in ihm aufzusteigen drohten. Er sah etwas unsagbar Schwarzes und wußte, daß es der Schatten war, der ihn besessen hatte. Und trotz seiner absoluten Schwäche zeichnete sich in ihm etwas ab, seltsame Muster und skurrile Bilder, die Mythor nicht begriff. Es schienen Bilder aus einer fremden Welt zu sein, schwarz in schwarz und doch zu erkennen, wenngleich auch nicht zu begreifen. Irgendetwas verwischte die Eindrücke, ließ sie in ihrer Fremdartigkeit unfaßbar werden. Das Eintreten eines Mannes riß Mythor aus seiner Erinnerung. Vierfaust kam! Der Stumme Große blieb vor dem Sohn des Kometen stehen und gestikulierte heftig. Er war ein wenig zu schnell, Mythors geschwächte Sinne begriffen nicht sofort. Doch Mythor begriff etwas anderes. Er versuchte tiefer zu gehen, doch je intensiver er sich auf die Erinnerung an das Schwarze konzentrierte, es zu verstehen versuchte, desto rascher verblaßte die Erinnerung. Als ob die Zeit noch nicht reif sei… Er erschrak selbst über diesen Gedanken. »Ich habe dich nicht verstanden, Vierfaust«, sagte er. Seine eigene Stimme entsetzte ihn. Sie klang so schwach und krächzend wie niemals zuvor. Mythor versuchte sich aufzurichten, doch seine Kraft reichte nicht aus. Vierfaust und der andere Große faßten zu und hoben ihn aus den Trümmern des zerstörten Lagers, 77
um ihn in einem anderen Zimmer auf einen Stuhl zu setzen. Vierfaust wiederholte seine Zeichensprache. Mythor begriff immer noch nicht alles, aber genug, um zu wissen, daß es eine Art magische Beschwörung gegeben hatte, mit der der Schatten aus Mythor hinausgefahren war und ein anderes Wesen übernommen hatte. »Wen?« stieß der Krieger hervor. Starke Erregung schüttelte ihn, und kaum nahm er wahr, daß in diesem Moment das Haus unter den Gewalten einer erwachenden, bösen Kreatur zitterte. Das Mädchen, das bei dir war, eröffnete ihm Dreifingerauge. Es brachte das Opfer willig und gern. Wir wissen nicht, was weiter mit ihr geschieht, denn sie floh, ergänzte Vierfaust. Mythors Gedanken arbeiteten noch mühevoll und langsam. Der Alptraum des Bösen hatte ihn geschwächt, und er brauchte Zeit, um sich wieder zu erholen. In diesem Augenblick trat ein dritter Mann ein. Mythor kannte ihn nicht; kein Wunder, er wußte ja nicht einmal, wo er sich befand. Die Erinnerung schloß damit ab, daß in jener Höhle Vierfaust den letzten Lebensbaumzapfen Mythors nach dem Kometenstein schleuderte. Der Kometenstein glühte auf, verfiel in rasender Geschwindigkeit. Der schwarzhäutige Todesreiter Drudins floh mit einem Kometensplitter in der Hand, und Mythor erlag dem bedrängenden Schatten. Dann kam nur noch die Schwärze, die sich dem Zugriff seiner Erinnerung mehr und mehr entzog, und jetzt das Erwachen. Durch den Körper des Mannes ging ein jäher Ruck, als er Mythor gewahrte. Starr sah er den Sohn des Kometen an. Von einem Moment zum anderen verschwanden zwei Schurketen. Es geschah blitzschnell und lautlos. Nur einer der hinzugekommenen Bewaffneten glaubte etwas gesehen zu haben, was die beiden Männer ergriffen hatte. 78
»Denkt an die alten Legenden!« schrie einer. »Der Drache erwacht! Ghorogh, der Mächtige, steht auf, um die Länder erneut zu unterjochen!« »Blödsinn!« schrie einer der Bewaffneten. »Der Drache ist tot! Der Shallad Merocca bezwang ihn!« »Und doch lebt er! Wir sehen es doch alle und fühlen es!« Antayr kreischte es fast. Unbändige Angst vor dem Entsetzlichen hatte ihn gepackt, und erneut zitterte der Boden. Von irgendwoher kam der Donner eines zusammenbrechenden Hauses. Der Mann mit der Streitaxt sah sich um. »Wer folgt mir, um nach unseren beiden Gefährten zu suchen?« fragte er herausfordernd. Die Schurketen starrten in die Schwärze des sich nach und nach immer weiter ausbreitenden Spaltes. Er lag in der Nähe eines kleinen Hanges und lief förmlich darauf zu. Die Häuser in unmittelbarer Nähe schwankten und zitterten. Risse bildeten sich, Steine brachen aus den Mauern und stürzten herab. Nur einer meldete sich, der dem Axt-Mann folgen wollte. Dieser winkte herrisch. »Mir nach!« Er begann in den Spalt zu klettern. Nur wenige Sterne erleuchteten den Weg. Aber schon nach zwei Fuß Tiefe fanden ihre Füße Halt. Sanft geneigt führte der Grund des Spaltes in die Tiefe. Schon bald waren nur noch die Köpfe der beiden Männer zu sehen, dann nur noch ihre Stimmen zu hören. Mit den Waffen in den Fäusten bewegten sie sich weiter in die Tiefe und dabei auf den Hang zu. Drei andere sahen etwas aufglühen wie Augen, aber nur für Momente. So rasch, daß es fast gar nicht zu erkennen war, erlosch das Glühen wieder, und knirschend und mahlend packte ein titanisches Gebiß zu und verschlang seine beiden Opfer, die sich ihm freiwillig in den Schlund geworfen hatten. Gho79
rogh erwachte!
»Du wirst mich nicht erkennen«, sagte der Eingetretene. »Ich bin Achad, der Cran von Yarman-Rash. Das ist die Speicherburg, in der du dich befindest. Du bist also wach.« Mythor nickte. Er sah von dem Cran zu Vierfaust und dann zu Dreifingerauge. Achad sprach Dreifingerauge an und nannte ihn dabei einen Weisen Großen. Der Weise Große antwortete mit Gesten. Mythor, der immer noch unter Konzentrationsschwierigkeiten litt, verstand nicht alles, aber es schien um einen Drachen zu gehen, der aus seinem Tiefschlaf erweckt worden war. »Wenn ich nicht genau wüßte«, murmelte Achad, »daß der Drache der Erzählung nach nur durch starke Schwarze Magie geweckt werden kann, würde ich fast annehmen, daß es einen Zusammenhang zwischen dem Erwachen Mythors und dem des Drachen gebe.« »Was für ein Drache?« fragte Mythor benommen. »Fühlst du nicht, wie der Boden zittert?« fragte Achad zurück. »Spürst du nicht, wie sich der Gigant reckt und streckt? Vielleicht erhebt er sich schon bald und…« Vierfaust schnitt ihm mit einer raschen Bewegung das Wort ab und gestikulierte wieder. Ein schrilles Pfeifen des Weisen Großen ließ aber auch ihn innehalten. Die Diener der Schattenzone greifen an, signalisierte Dreifingerauge. Es ist müßig, die Zeit mit Reden zu vertun. Vierfaust wird Mythor über das informieren, was geschah. Ich werde nach Mistra sehen. Versucht, die Yarman-Rash zu schützen. Mistral durchfuhr es Mythor. Wo war die junge Frau geblieben? Vierfaust erklärte ihm alles in seiner umständlichen Zeichensprache. 80
Der Sohn des Kometen preßte die Lippen zusammen. »Mistra«, murmelte er. »Warum hast du das auf dich genommen?«
»Furchtbar!« Die drei Hirten standen vor dem Kadaver eines Grommes. Das Tier mußte von einem Raubtier angefallen worden sein, die Schlagader war aufgerissen. Doch nirgends war auch nur ein Tropfen Blut zu sehen. Hatte das Raubtier das Grom an einer anderen Stelle gerissen und dann hierher gebracht? »Nein«, sagte Holtar. »Das würde kein Raubtier tun. Und das Grom ist auch nicht angefressen. Nur die Ader wurde geöffnet.« Zeltyn brummte: »Irgendwie kommt es mir vor, als wäre das Tier völlig ausgedörrt.« Seine Hand strich durch das Fell. Die darunter liegende Haut knisterte wie Pergament. »Es gibt keine Raubtiere in der Speicherburg«, sagte Zeltyn plötzlich. »Wie sollten sie hereinkommen?« Der dritte der Schurketen zuckte mit den Schultern. »Ich denke mir, es gibt sehr wohl mindestens ein Raubtier in der Rash, und es ist ganz einfach mit seinem Herrn hereinmarschiert. Und da es kein normales Tier ist, kann es durchaus sein, daß sein Biß so befremdliche Verletzungen hervorruft.« »Du meinst diesen großen Wolf?« »Richtig, den Bitterwolf. Ihm würde ich zutrauen, daß er sich auf diese grauenhafte Weise über unsere Gromme hermacht.« Die Schurketen waren ein Hirtenvolk; sie liebten ihre Tiere. Um so erschütternder war es für sie zu sehen, wie dieses Grom zugerichtet war. Niemand konnte sagen, wie diese Austrocknung zustande gekommen war. Von irgendwoher kamen Schreie. Jemand rief etwas von einem erwachenden Drachen, wäh81
rend der Boden erneut und stärker als je zuvor zu zittern begann. Holtar, Zeltyn und der dritte Schurkete sahen ein paar Männer herbeieilen. Einige schwangen Waffen, und allen stand das nackte Entsetzen in den Gesichtern. »Der Drache erwacht… der Drache!« »Wir müssen zum Cran«, knurrte Zeltyn. »Ob es nun der Bitterwolf ist oder der Drache… Achad muß erfahren, was außer dem Beben noch alles geschieht. Kommt!« Sie schlossen sich den Männern an, die vor irgend etwas flohen. Einmal blickte Holtar über die Schulter nach hinten und sah in der Ferne, daß sich knapp vor einem Felsüberhang etwas Dunkles bewegte, doch er konnte nicht erkennen, was es war. Doch dann blieben sie alle wie angewurzelt stehen. Vor ihnen schnellte etwas aus dem Boden empor, in rascher Folge wie scharfe, riesige Säbel. Innerhalb von Sekunden bildete sich eine Sperrkette quer über die Straße, und einer dieser Säbel zertrümmerte dabei eine Hauswand. Aber das waren keine Säbel. Holtar erkannte es erst beim zweiten Hinsehen, und er mußte den Kopf in den Nacken werfen, um die Spitzen zu erkennen. Viermannshohe Krallen eines riesigen Ungeheuers ragten aus dem Boden hervor. Und bewegten sich, schnitten durch Fels, als schließe sich die riesige Krallenhand allmählich… … um die Schurketen… Dreifingerauge, der Weise Große, bewegte sich durch die Straßen der Speicherburg. Ständig wanderte sein Blick hin und her. Er suchte nach Mistra. Sie trug jetzt den Schatten in sich, aber auf eine andere Weise als Mythor. Sie konnte nicht gegen ihn kämpfen, besaß nicht jene Kräfte, die der Sohn des Kometen hatte einsetzen können. Der Schatten beherrschte die junge Frau, und der Himmel mochte wissen, was sie alles anstellen würde. Zu der Gefahr durch den erwachenden Drachen und 82
den zu erwartenden Angriff, den Dreifingerauge herannahen spürte, kam nun noch die Gefahr durch den Schatten. Irgendwann sah er den Bitterwolf. War dieser ebenfalls auf Mistras Spur? Doch ehe er das Tier anrufen konnte, war Hark wieder in der Dunkelheit verschwunden. Lange würde die Finsternis indessen nicht mehr anhalten. Der Tag kam bald, und mit dem Tag würde das Ende kommen. Dreifingerauge wußte es. Und es gab keine Möglichkeit, das Ende aufzuhalten. Er konnte nur noch versuchen, das Beste aus allem zu machen. Für den Sohn des Kometen…
Das Chaos vergrößerte sich immer mehr. Verängstigte Tiere rasten blökend und kreischend zwischen den mehr und mehr zerbrechenden Bauwerken hin und her, verwirrte Menschen versuchten sie zu beruhigen, aber ihrerseits ebenfalls an sicherer erscheinende Stellen zu gelangen, bis sich dort ebenfalls das Unheil aus der Tiefe zu regen begann. Hin und wieder brach einer der Silos zusammen, und das getrocknete Steppengras wirbelte den Schurketen zusätzlich um die Ohren. Häufiger wurden die Gerüchte, der Bitterwolf falle über die Gromme her, weil immer wieder ausgetrocknete Tiere gefunden wurden, und einige behaupteten bereits, in seiner Angriffslust würde er auch vor Menschen nicht haltmachen. So mancher griff zur Klinge, wenn er schleichende Geräusche vernahm. Sie alle ahnten nicht, wer tatsächlich für die gerissenen Gromme verantwortlich war. Jenen, die von den Krallen eingeschlossen worden waren, gelang die Flucht nur knapp. Ihre Waffen prallten an den riesigen Krallen ab, und erst als es kaum noch anders ging, überwanden die Menschen ihre Furcht und zwängten sich durch die schmalen Spalten hindurch, die ihnen noch verblieben waren. Augenblicke später verschwanden die Krallen wieder im 83
Felsboden. Grollen und Stöhnen kamen aus der Tiefe. Ghorogh reckte sich immer deutlicher.
Mythor erhob sich langsam und stand dann schwankend da. Er fühlte, wie seine Kräfte zurückkehrten, aber es würde noch lange dauern, bis er wieder so war wie früher. Stunden, vielleicht Tage… zu lange war der Schatten schon in ihm gewesen. Und der schwarze Todesreiter besaß einen Splitter des Kometensteins! Wohl war der Stein selbst zerfallen, aber Oburus besaß nun immer noch eine wirksame Waffe gegen Mythor, vielleicht die einzig wirksame Waffe überhaupt. »Oburus«, murmelte Mythor. Vierfaust näherte sich ihm mit raschelndem Gewand, um ihn zu stützen, aber Mythor wehrte ab. Er wollte ohne fremde Hilfe gehen. Er ging langsam, wie ein Kind, das erst gehen lernen muß, in den anderen, vorgelagerten Raum und zum Fenster. Für Augenblicke verschwamm alles vor ihm, als lege sich ein dichter Nebelschleier vor seine Augen. Mythor schüttelte den Kopf, und die Schleier wichen. Er fühlte sich unsagbar müde und matt. Ein Zustand zwischen Schlafen und Wachen oder wie nach dem Genuß etlicher Krüge schweren Weines. Am Fenster blieb er stehen und sah hinaus. Noch war es Nacht, eine Nacht ohne den hellen Schein des Mondes, aber ein Instinkt verriet ihm, daß es bald Tag werden würde. Vierfausts Hand lag auf seiner Schulter. Irgendwie war Mythor froh, daß der Stumme Große unfähig war zu sprechen. Worte konnten nur stören und verletzen. Mythor dachte an Mistra, das liebe, aufopferungsbereite Mädchen. Wo mochte sie jetzt sein? Wie mußte sie unter dem Schatten leiden! Warum hatte sie diese Qual auf sich genommen! Mythors Hände ballten sich zu Fäusten. Er stützte sich auf die steinerne Fensterbank. 84
Unter seinen Fäusten bröckelte etwas ab und stürzte in die Tiefe. Erschrocken wich er zurück. Der Boden schien keine Ruhe mehr zu finden. Die Beben verschmolzen zu einer einzigen, lang anhaltenden Erschütterung. Etwa fünfzig Schritt weiter hob sich eine große Bodenplatte einfach ein paar Fuß hoch und rutschte, sich schräg stellend, zur Seite. Zwei Speichersilos wurden gegeneinandergeworfen, wie Streitwagen, die im Kampf aufeinanderprallen, weil die Lenker ihre Tiere nicht mehr kontrollieren. Die Bauwerke brachen auseinander, Steintrümmer donnerten zu Boden. Ein Teil verschwand in dem Loch, das unter der abgehobenen Platte entstanden war. Langsam wandte sich Mythor um und sah Vierfaust an. »Ich glaube«, sagte er mühsam, »die Speicherburg wird den nächsten Abend nicht mehr erleben.« Es war der Moment, in dem die Alarmhörner zu gellen begannen.
Coerl O’Marn hob die Hand. Der Dämonisierte brachte sein Pferd zum Stehen. Hinter ihm und den beiden anderen Todesreitern Drudins kam auch die große Schwadron der Berker zum Stehen. Oburus und Herzog Krude schlossen zu O’Marn auf. »Hört!« sagte der Ritter und zeigte auf die vor ihnen liegende Speicherburg auf der Hochebene des Tafelbergs. Undeutlich war Yarman-Rash als schwarzes Etwas vor dem dunkelblauen Hintergrund des Himmels zu erkennen. Es würde bald dämmern, und mit Anbruch der Dämmerung würden die Berker den Angriff eröffnen. Sie lauschten. Aus der Ferne ertönte ein verhaltenes Poltern, Dröhnen und Grollen. »Es klingt, als würde unseren Freunden die gesamte Burg 85
auf die Köpfe fallen«, grinste Krude. »Genau das«, sagte Oburus gelassen, »geschieht auch. Unsere Magie reicht aus, den Drachen zu ein paar harmlosen Zuckungen zu veranlassen. Er wird so lange zucken, bis die Burg nur noch ein Trümmerhaufen ist.« Oburus zog den Stein hervor und betrachtete ihn. »Und aus den Trümmern«, fuhr er fort, »werden wir unseren besonderen Freund Mythor holen, ihn mit dem Meteorstein lähmen und zu Drudin bringen. Die Lichtwelt wird nicht erfreut darüber sein, schätze ich.« »Dafür Drudin um so mehr«, brummte O’Marn. Dann befahl er: »Weiter!« Die Berker ritten wieder an, dem Tafelberg entgegen. Der Plan der Todesreiter war, von drei verschiedenen Seiten anzugreifen. Jeder von ihnen würde eine Gruppe der räuberischen Berker anführen. Noch in den Morgenstunden würde Yarman-Rash fallen.
Plötzlich sah der Weise Große Mistra. Die Frau erhob sich von einem verdorrten Grom, und ihre Hände waren wie Klauen eines Raubtiers. Dreifingerauge duckte sich an die Wand, die von einem zerstörten Haus übriggeblieben war. Doch Mistra schien ihn nicht wahrzunehmen. Der Weise Große war erschrocken. Er hatte nicht damit gerechnet, daß es schon soweit war. Doch Mistra war dem Bösen längst rettungslos verfallen. Vielleicht hatte sie auch schon Menschen angefallen. Dreifingerauge folgte ihr lautlos und erstaunlich behende, während sie davonhuschte, leicht geduckt wie ein gehetztes Tier. Im Dunkeln glühten kurz Augen auf: Hark, der Bitterwolf, war ebenfalls auf der Spur der jungen Frau. Mistra eilte zu jenem Hang hinüber, an dem Menschen im 86
Spalt verschwunden waren, der sich mittlerweile zum Eingang in eine regelrechte Grotte verformt hatte. Eine finstere Ahnung erfaßte den Weisen Großen, und er bewegte sich schneller. Unter seinem Burnus glitt eine Hand zum Schwertgriff. Dreifingerauge war bereit, notfalls auch zu kämpfen, um das Kommende zu verhindern. Aber er wußte, daß er trotz allem zu spät kommen würde. Mistra hatte ihre makabre Spur durch die Speicherburg gezogen, und er war zu spät darauf aufmerksam geworden. Sie war zu schnell gewesen und eilte jetzt dorthin, wo sich ihr Schicksal erfüllen würde. Und weder sie noch Dreifingerauge ahnten, warum es so war. Dort, wo es sie hinzog, wirkte Schwarze Magie, um Ghorogh zu wecken, und diese Magie zog den Schatten in Mistra auf seltsame Art an. Mistra glitt in den Bodenspalt, die Schräge hinunter, über der sich inzwischen so etwas wie ein Dach wölbte. Sie konnte nicht wissen, was sie tat, sonst wäre sie nicht sehenden Auges in den Tod gelaufen. Der heranhetzende Bitterwolf verharrte jäh, als er die Spalte erreichte, stemmte die Vorderläufe ein und stieß ein gellendes Heulen aus. Der Schrei des Bitterwolfs ließ viele Menschen in der langsam zusammenbrechenden Burg erschauern. Der Weise Große ballte die Hände. Er konnte Mistra nicht mehr aufhalten. Mit dunklen, brennenden Augen starrte er ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war in der Dunkelheit des Felsens. Und wieder einmal klappte das Maul des Drachen zu.
Die Alarmhörner gellten nervenzerfetzend. »Angriff!« schrie ein Wächter an der zerbrechenden Mauer. »Wir werden angegriffen! Sie kommen den Berg herauf und…« Sein Ruf erstarb, ein Pfeil streckte ihn nieder. 87
Lautlos waren die Berker im Schutz der Dunkelheit heraufgekommen, und jetzt, da der erste Silberstreif am Horizont erschien, erfolgte der Angriff. Sie kamen zu Hunderten, und die Unterstützung, nach der Cran Achad seine Boten zu den Schurketensiedlungen entsandt hatte, war noch viel zu weit entfernt. Die Angst peitschte die Schurketen in der Burg. Männer eilten zum Tor und zu den Bruchstellen in der Mauer, bewaffneten sich und fielen dabei noch aufbrechenden Erdspalten oder niederstürzenden Mauern zum Opfer. An einer Stelle erschienen bereits die ersten Berker und drangen mit gellenden Kriegsrufen auf die Schurketen ein. Normalerweise hätten die Verteidiger der Speicherburg mit den Angreifern leichtes Spiel gehabt. Doch jetzt war alles anders. Die Mauern waren geborsten, die Verteidiger durch die Vorfälle innerhalb der Burg zermürbt, wie es die Todesreiter beabsichtigt hatten. Die Verzweiflung der Verteidiger wuchs ins Grenzenlose. Durch den Angriff der Berker scheiterte nun auch der von Cran Achad in den letzten Minuten angeordnete Versuch, Frauen und Kinder aus der zusammenbrechenden Burg zu bringen. Achad ballte die Hände, und immer wieder sah er zu Mythors Haus hoch, das immer noch fast unversehrt war. Am anderen Ende der Burg brach der Boden in einer Länge von über hundert Schritten auf. Trümmer und letzte noch stehende Bauten wurden wie Spielzeug durch die Luft gewirbelt, und ein gigantischer Drachenschweif erschien. Achad sank aufstöhnend in die Knie. Er verfolgte, wie der Schweif mit seinen Hornschuppen und Zacken hin und her peitschte und weitere Zerstörungen anrichtete. Er fegte einen Teil der Befestigungsmauer einfach in die Tiefe, gemeinsam mit dort kämpfenden Verteidigern und Angreifern. 88
»Dieser verdammte Drache«, flüsterte der Cran heiser. Es juckte ihm in den Fingern, sein Schwert zu ziehen und sich mit der blanken Klinge in den heißesten Kampf zu stürzen, aber er wußte, daß er gerade das nicht tun durfte. Er durfte nicht Vergessen im Kampf suchen. Zum Kämpfen waren seine Männer da; er war der Cran, er trug die Verantwortung, mußte den Überblick behalten und Befehle erteilen. Jetzt lag der Drachenschweif wieder ruhig, aber er zog sich nicht wieder in die Tiefe zurück. Dafür begann es an anderen Stellen noch unruhiger als bisher zu werden. Ghorogh schickte sich an, sich zu erheben!
»Was ist das?« stieß O’Marn verblüfft hervor. Der Ritter hatte sein Pferd den schmalen Pfad hinaufgetrieben und befehligte jene Gruppe, die das stark befestigte Tor niederbrechen und erobern sollte. Vor ihm klirrten die Waffen. O’Marn hielt sich ein wenig zurück; nicht, weil er den Kampf scheute, sondern weil er nicht einsah, warum er sich selbst anstrengen sollte – das war die Sache nicht wert. Die Berker brannten förmlich darauf, die Speicherburg einzunehmen, und kämpften entsprechend. Der Drache Ghorogh schlug mit seinem zackigen, schuppigen Schweif einen Teil der Befestigungsmauer ein und lag dann wieder ruhig. »Caers Blut!« fluchte O’Marn. »Der verdammte Drache sollte wohl ein wenig Aufruhr stiften, nicht aber sich von seinem Bett erheben.« Etwas war schiefgegangen. So stark waren die magischen Kräfte des Drudin-Dämons nicht angewandt worden, daß der Drache sich gänzlich erheben sollte. Denn die drei Todesreiter waren nicht daran interessiert, daß Ghorogh den eroberungssüchtigen Caer dieses Land streitig machte. Er sollte gefälligst 89
weiterschlafen, nachdem er Yarman-Rash zerstört hatte. Das hier aber sah gar nicht danach aus, als wolle sich das Ungeheuer nach getaner Arbeit gemächlich wieder zur Ruhe begeben und die nächsten hundert oder tausend Winter verschlafen. Im Gegenteil… Weder O’Marn noch die beiden anderen Gläsernen ahnten, daß Mistra ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Die Todesreiter hatten nicht ahnen können, daß erstens der Schatten aus dem Kometenstein in das Mädchen überwechseln und zweitens der Drache eben dieses Mädchen verschlingen würde, wodurch der Schatten sich jetzt in Ghorogh einnistete. Und dieser Schatten war es, der jetzt ein wenig zuviel des Guten tat und den Drachen endgültig weckte!
Es war der zurückkehrende Dreifingerauge, der Mythor und Vierfaust über die Hintergründe des endgültigen Erwachens informierte. Der Sohn des Kometen starrte Dreifingerauge fassungslos an. In seiner Benommenheit begriff er nur einen Teil dessen, was der Weise Große ihm mitteilte. »Mistra ist tot? Der Drache hat sie…?« Dreifingerauge ging nicht mehr darauf ein. Bald schon wird der Drache sich erheben und davonfliegen, und dabei wird YarmanRash endgültig zerstört werden. Es wäre besser, wenn auch wir uns entfernten, gestikulierte der Weise Große. »Und wie?« murmelte Mythor. »Ich höre das Klirren von Waffen. Es wird gekämpft. Wer kämpft da draußen?« Er machte eine heftige Bewegung, aber sofort wurde es schwarz vor seinen Augen. Er taumelte. Noch war er zu geschwächt. Er würde nicht einmal in der Lage sein, mit einem Schwert um sich zu schlagen, wenn es darauf ankam. Ein anderer Stamm will die Burg erobern, bedeutete ihm Drei90
fingerauge. Daß er auch Drudins Todesreiter gesehen hatte, verschwieg er Mythor. Der Sohn des Kometen brauchte nicht unbedingt zu wissen, daß er der Grund für die Zerstörung der Burg war. Wir werden zusammen mit dem Drachen aus der Burg fliehen, sagte der Weise Große. Mythor starrte ihn an, sah in die dunklen Augen unter der Vermummung und las darin den tödlichen Ernst. »Ich bin mehr als gespannt, wie du das machen willst«, brummte der Krieger. »Ich schätze, die einzige Möglichkeit, gemeinsam mit Ghorogh die Burg zu verlassen, dürfte im Inneren seines Magens sein.« Du wirst sehen, Mythor, sagte Vierfaust in seiner stillen Art. Warte nur ab und überlaß alles mir. Ich werde nicht zulassen, daß dem Sohn des Kometen etwas geschieht.
Während an den Rändern der Speicherburg die Kämpfe immer heftiger und die Zuckungen des erwachenden Drachen jetzt langsamer, dafür aber noch kräftiger wurden, begannen die beiden Großen, Mythors Ausrüstung und seine Tiere zusammenzuholen. Sie hatten die Wohnung verlassen. Mythor hatte es geschafft, ohne Hilfe die Trittsteine hinabzuklettern. Das war für seinen geschwächten Zustand eine beachtliche Leistung. Vierfaust führte Pandor, das Einhorn, herbei. Das Tier trug bereits den Königssattel, und auf dem in Form eines Löwenkopfs gearbeiteten Sattelknauf saß Horus, der Schneefalke. Als er Mythor erkannte, schlug er heftig mit den Flügeln und gab einen Begrüßungsschrei von sich. Mythor trat zu ihm und strich ihm leicht über das Gefieder. Hark tauchte jetzt ebenfalls aus der Dämmerung auf und rieb sich an Mythors Oberschenkel, warf ihn dabei mit seinem 91
Gewicht fast um. Der Krieger lächelte. Seine Tiere waren bei ihm, das war schon viel wert. Den Rest der Ausrüstung brachte Dreifingerauge mit. Kommt mit! befahl er den anderen und schritt voraus. Mythor folgte dem Großen in der goldenen Robe, und hinter ihm folgte der ebenfalls in Gold gehüllte Vierfaust mit dem Einhorn. Es war Mythor nicht ganz klar, wie Dreifingerauge es anstellen wollte, sie alle aus der Burg herauszubringen. Noch dazu gemeinsam mit dem Drachen… Schließlich blieb der Weise Große stehen. Es war eine Stelle, an der alles bisher relativ ruhig geblieben war, in der Nähe des Hauses, in dem Mythor gewesen war. Hier ließ sich Dreifingerauge im Schneidersitz nieder und bedeutete Vierfaust, Mythors Besitz niederzulegen. Wir befinden uns auf dem Rücken des Drachen, und diese Stelle wird heil bleiben, signalisierte er. Wie zum Hohn brach an einer anderen Stelle der Boden auf, bis dicht an ihren Lagerplatz, und eine riesige Drachenschwinge hob sich aus dem Boden, dabei alles zerstörend, was sich in unmittelbarer Nähe befand. Es gab keinen Zweifel mehr, Yarman-Rash würde in wenigen Stunden bereits restlos vernichtet sein. Seelenruhig holte Dreifingerauge seine Pfeife hervor und begann sie zu stopfen. Als Vierfaust sich ihm anschließen wollte, hinderte der Weise Große ihn mit einem schrillen Pfiff daran. Dies ist allein mein Werk, behauptete er. Er setzte die Pfeife in Brand. Hark hatte sich neben Mythor niedergelegt, die Pfoten lang vor sich gestreckt. In der Nähe seines Herrn fühlte er sich offenbar wohl. Interessiert betrachtete der Bitterwolf das Ritual des Weisen Großen, der mehr und mehr der Welt entrückte. Dreifingerauge bereitete sich wieder einmal darauf vor, die Magie der Großen einzusetzen. Und während um sie her mehr und mehr Mauern nie92
derbrachen, während das Klirren der Waffen und das Schreien der Kämpfenden lauter wurden, entstand jäh eine flirrende Lichtglocke um die kleine Gruppe. Eine warme, schützende Helligkeit, einer Panzerung gleich. Wohl vermochten sie durch diesen Lichtvorhang hindurchzusehen, doch gelangte nichts hinein und nichts hinaus. Selbst die Geräusche verstummten. Nur der Boden unter ihnen bebte schwach. Es war ein gespenstischer Anblick für Mythor und die beiden Großen, als sich der zweite Flügel des Drachen aus dem Fels hob. Kein Laut durchdrang dabei die Lichtglocke. Mythor warf einen Blick auf Dreifingerauge. Der Weise Große war in sich versunken, aber die Sehnen seiner Hände waren angespannt. Er mußte sich ungeheuer stark auf die Magie konzentrieren, um sie aufrechtzuerhalten. Und dann…
Ritter Coerl O’Marn stieß einen heiseren Schrei aus. Rücksichtslos riß er sein Pferd herum und ritt den schmalen Pfad zurück, dabei jeden niederreitend, der ihm in den Weg kam. Fast im gleichen Augenblick wurde das heiß umkämpfte Tor wie von einem Katapult durch die Luft geschleudert. Unwillkürlich zog der Dämonisierte den Kopf ein, als Trümmerstücke des sich in der Luft auflösenden Tores haarscharf an ihm vorbei in die Tiefe stürzten. Wer sich noch weiter oben befunden hatte, wurde mitgerissen. Ein paar Mannslängen tiefer hielt O’Marn sein Pferd an und wandte sich im Sattel um. Es war ein phantastischer, unglaublicher Anblick, der sich ihm bot. Der Drache hatte jetzt auch seinen zweiten Flügel befreit und dabei das Tor zerschmettert, mit einem Stück der Mauer und den Kämpfern einfach hinweggefegt. Und jetzt begann er mit den riesigen Schwingen zu schlagen. Die aufgepeitschte Luft 93
wirbelte Männer durcheinander, die dem Drachen zu nahe waren. Das Untier selbst kümmerte sich gar nicht um die winzigen Wesen, die um irgendwelche unwichtigen Dinge stritten. Es riß den Kopf hoch, und kräftiger wurde der Flügelschlag. O’Marn spürte den Sturm, der aus der Höhe kam. Einige hundert Mannslängen mußte der Drache lang sein, und die Spannweite seiner Flügel war etwa gleich groß. »Er fliegt tatsächlich«, murmelte O’Marn betroffen. Doch seine Betroffenheit galt nicht allein dem Drachen, der zu einem Leben erwacht war, das er eigentlich gar nicht mehr hätte erlangen sollen. Schlimmer war, daß sie Mythor in diesem Trümmerfeld nicht wiederfinden würden! Ein lang anhaltendes, donnerndes Brüllen klang auf. Der Drache äußerte sich ausgiebig zu seinem augenblicklichen Zustand. Selbst der Dämon konnte nicht verhindern, daß O’Marn ein kalter Schauer über den Rücken lief, als er sah, wie Ghorogh sein entsetzliches Maul aufriß. Eine Feuerwolke stob daraus hervor. Es war ein bizarres Bild. Ghorogh hatte sich jetzt völlig erhoben und stand auf seinen mächtigen Beinen, deren Zehen mit riesigen Krallen bewehrt waren. Und auf seinem Rücken befanden sich Reste der Burg, Trümmer von Häusern und einige verzweifelt schreiende Menschen, die noch versuchten, im letzten Moment abzuspringen. Und da war noch etwas. Ein helles Leuchten wie eine halbierte Kugel, etwa in der Mitte des Drachenrückens. Und darin glaubte O’Marn Gestalten zu sehen. Weiße Magie! durchfuhr es ihn. Jemand hatte sich dort oben geschützt, versuchte mit dem Drachen zu fliehen. Und es gab nur einen, der das wagen würde: Mythor. Der Todesreiter schrie in sich hinein: Cherzoon! Cherzoon, verhindere den Abflug des Drachen! 94
Doch Drudins Dämon regte sich nicht in ihm. Und der Drache löste sich vom Plateau. Ghorogh flog!
Cran Achad erlebte die furchtbarsten Minuten seines Lebens. Yarman-Rash zerbrach endgültig. Der Drache stieg empor und zertrümmerte dabei all das, was noch stand. Der Weise Große hatte irgend etwas Magisches getan. Von weit her hatte Achad die helle Lichtglocke gesehen und auch Dreifingerauge und einen anderen Stummen Großen darin – und Mythor! Vielleicht, dachte Achad, wäre einiges doch anders verlaufen, wenn dieser Mythor niemals in die Speicherburg gekommen wäre. Und doch… die Angreifer waren gewöhnliche Räuber. Berker. Ihnen war Yarman-Rash schon immer ein lohnenswertes Objekt gewesen, und vielleicht hatten sie den Angriff jetzt auch nur gewagt, weil Magie im Spiel war. Und Cran Moushart beherrschte ja ebenfalls Magie… Dreifingerauge hatte mit seiner Warnung recht behalten. Die Schwarze Magie, die Macht der Schattenzone, vernichtete Yarman-Rash. Es war alles viel zu schnell gegangen. Die Hilfe von außen kam zu spät. Sie würde allenfalls noch für einen Rachezug dienlich sein. Doch gegen wen? Gegen die Berker? Oder gegen jene drei Fremden mit den gläsernen Gesichtern, von denen man erzählte, daß sie die Berker anführten? Oder gegen den verfluchten Drachen? Er war das schlimmste Übel von allem. Eine neue Epoche der Tyrannei durch ein Ungeheuer würde anbrechen. Shallad Merocca konnte das Biest kein zweites Mal bannen, denn der Shallad war tot. Und ob sein späterer Nachfolger Hadamur die dazu nötigen Fähigkeiten aufbrachte, war fraglich, auch wenn er bei seinem Volk als Nachfahre des Lichtboten galt. 95
Achad ließ das Schwert sinken. Der Flügelschlag des Drachen fegte ihn fast hinweg. Er wußte plötzlich, daß er sterben würde. Und er erkannte es mit ein wenig Erleichterung. Als Cran hatte er versagt, er hatte die Zerstörung der Burg nicht verhindern können. Es war nicht gut, mit dieser Schande zu leben. Es war besser, im Kampf gegen das Furchtbare zu sterben. Seine Faust umklammerte die Waffe, daß die Knöchel weiß hervortraten. Der Drache erhob sich in die Luft. Langsam zunächst, dann immer schneller stieg er auf. Und im Aufsteigen wirbelte sein gezackter Schuppenschweif herum. Cran Achad sah den Schwanz auf sich zurasen, schlug in einem Reflex abwehrend mit dem Schwert zu und sah noch, wie die Klinge mit lautem Knacken zerbrach. Dann fühlte er sich angehoben, schwebte frei in der Luft. Bevor er den Boden wieder erreichte, war schon alles vorbei. Ghorogh verschwand mit seinen Reitern am Morgenhimmel.
Später trafen sich die drei Todesreiter zwischen den zurückgebliebenen Resten der Speicherburg. Die Trümmer boten einen furchtbaren Anblick, doch die Dämonisierten gingen mit einem Achselzucken darüber hinweg. Vielleicht hätten sie anders reagiert, wenn ihre eigene Heimat in ähnlicher Art verwüstet worden wäre. Doch dazu würde es ihrer Ansicht nach niemals kommen, zu groß war die caerische Macht in der Schattenzone, die sich ständig ausweitete. Schlimmer als die Verwüstung der Speicherburg war das andere: daß Mythor entkommen war. Zwischen plündernden Berkern, die aus den Trümmern alles Verwertbare herausklaubten, und wenigen Schurketen, die sich noch verzweifelt gegen die Eroberer zur Wehr setzten, saßen die drei Todesreiter Drudins auf ihren Pferden. Coerl 96
O’Marn sah dem bösen Treiben gleichgültig zu. Es waren nur noch wenige Schurketen und ebenfalls nur noch wenige Berker; der Drachenflug hatte beiden Parteien arg zugesetzt. »Wir werden dem Drachen folgen«, sagte Oburus hart. Die Augen hinter der gläsernen Schicht schienen grell zu glühen. »Wir werden Mythor wieder aufspüren. Der Drache kann sich nicht ewig in der Luft halten, irgendwann muß er herabkommen. Er hat Jahrhunderte im Tiefschlaf gelegen, seine Kräfte werden sich also rasch erschöpfen. Und wenn er landet, wird Mythor ihn verlassen. Dann aber sind wir zur Stelle.« »Hoffentlich«, brummte O’Marn skeptisch. Er kannte Mythor! »Warum so skeptisch?« fragte Krude. »Ein einzelner Mann allein kann uns nicht lange widerstehen.« »Das haben wir am gestrigen Abend auch noch geglaubt«, knurrte O’Marn. »Und nun?« »Nun stehen wir inmitten von Trümmern, das ist wahr«, warf Oburus trocken ein. »Beim nächsten Mal sollten wir das Fell des Bären tatsächlich nicht eher verkaufen, als bis wir ihn gefangen haben. Laßt uns dem Flug des Drachen folgen. Vorwärts!« Sie ritten an und verließen über den schmalen, vielfach gewundenen Pfad die Trümmerstätte. Schurketen und Berker kümmerten sie nicht länger; an den dämonisierten Cran Moushart verschwendeten sie keinen Gedanken mehr. Diese Episode war beendet. Sie folgten dem Flug des Drachen.
Zunächst torkelnd, dann immer sicherer werdend, war Ghorogh aufgestiegen und flog in östliche Richtung. Mit kräftigen Schlägen seiner riesigen Schwingen bewegte er sich vorwärts, weiter und weiter von der zerstörten Rash fort. Noch immer bestand die Lichtglocke und schützte die drei 97
Luftreisenden und die Tiere. Mythor hatte sich erhoben und lehnte jetzt an der gerundeten Wandung, die hart wie Stein war. Er sah durch die Lichtmauer hindurch. Um sie herum befanden sich Reste der Speicherburg, die nach und nach abbröckelten und in der Tiefe verschwanden. Der Drache segelte tief über das Land, und unter ihm schien es Nacht zu werden durch seine Größe. Eigentlich, überlegte Mythor, war ein solch gigantisches Geschöpf in dieser Zeit gar nicht mehr lebensfähig. Die Zeit dieser Riesenechsen war seit einigen tausend Sommern vorbei. Allmählich fühlte er sich kräftiger. Die Benommenheit schwand langsam, die Schwindelanfälle blieben aus. Seine Kraft wuchs und wurde um so größer, je länger sie unterwegs waren. Aber im Lauf der Zeit wurde der Flügelschlag des Drachen langsamer und schwächer. Das Biest verlor an Höhe. Stunden mußten vergangen sein, in denen sie mit unerhörter Geschwindigkeit über das Land gezogen waren, als sich das Ende des Drachenflugs abzeichnete. Zweieinhalb Tagesreisen von der Burg entfernt, auf halber Strecke zwischen der zerstörten Rash und jener Stelle, an der Mythor als kleiner Knabe beim Schrei des Bitterwolfs von den Marn der Nomadenstadt Churkuuhl gefunden worden war, stürzte Ghorogh schließlich ab.
Noch zuckte der Drache, aber er würde schon bald sterben. Vierfaust behauptete es. Das geschuppte Ungeheuer hatte sich in den Boden gebohrt wie ein Pfeil, als es abstürzte, nur mit unendlich mehr Gewicht. Mythor und Vierfaust hatten die Besitztümer Mythors und die Tiere vom Drachen heruntergebracht. An seiner Körperseite war es eine halsbrecherische Quälerei gewesen, zumal Mythor immer noch nicht vollkom98
men bei Kräften war. Zu zweit trugen sie endlich Dreifingerauge vom Drachen fort und in Sicherheit. Der Weise Große war kaum noch fähig, sich zu bewegen. Durch seine Magie hatte die Lichtglocke lange genug gehalten, um die Reisenden zu schützen. Erst als der Drache aufgeschlagen war, war die Glocke erloschen. Dreifingerauge lag jetzt völlig erschöpft da. Er stirbt, signalisierte Vierfaust. Mythors Kopf flog herum. Entgeistert sah er den Stummen Großen an. »Was?« Seine Kräfte sind erschöpft, zu lange mußte er den Bestand der schützenden Magie sichern, teilte der Stumme ihm mit. Er wird sterben, in sehr kurzer Zeit. Mythor erbleichte. »Das ist unmöglich!« keuchte er erschrocken. Erst Mistra, jetzt Dreifingerauge… immer wieder opferten Menschen ihr Leben, um ihm zu helfen. »Ich will es nicht«, sagte er leise. Du kannst es nicht ändern. Blaß sah Mythor den vor ihm liegenden Dreifingerauge an. Es war, als schimmere die goldene Robe nicht mehr, sondern sei jetzt matt. Die Schatten des Todes lagen über ihr. Da bewegte sich Dreifingerauge. Der Weise Große zerrte mit ersterbender Kraft die Vermummung beiseite, und dann geschah das Unfaßbare. Seine Hände faßten zu, rissen den vor langer Zeit vernähten Mund auf… Kein Laut kam über seine Lippen, aber Mythor sah die großen Schweißperlen auf der Stirn des Weisen Großen. Das bräunliche Gesicht war bleich. Mythor erschauerte. Und der Stumme sprach! Es war mehr ein Lallen, denn seine Stimme war seit Jahrzehnten das Sprechen nicht mehr gewohnt. Ein Leben lang war er stumm gewesen, doch angesichts des nahenden Todes 99
brach er das Tabu und sprach wieder. Es ging schneller als die Zeichensprache. »Vierfaust wird dich nach Sarphand bringen«, lallte der Sterbende. Seine Worte waren kaum verständlich, und Mythor mußte sich bemühen, sie aufzunehmen und zu begreifen. Dreifingerauge keuchte heftig und kämpfte gegen den Erschöpfungstod. »Dort wird man dich in alle Geheimnisse einweihen und dich so wappnen für den Gang zu den beiden letzten Fixpunkten des Lichtboten… den Koloß von Tillorn und…« Der Tod riß ihm das letzte Wort von den aufgerissenen Lippen. Seine immer schwächer gewordene Stimme erstarb, als das Leben aus ihm wich. Sein Körper entspannte sich. Mythor stöhnte verzweifelt auf. Warum hatte wieder ein Mensch für ihn sterben müssen? Da riß ihn Vierfaust an der Schulter herum. Schnell weg hier! Der Drache! teilte er ihm hastig mit. »Der Drache ist tot, wie auch Dreifingerauge tot ist«, knurrte Mythor bitter. Aber der Schatten in ihm lebt und tobt, sagte Vierfaust. Wir müssen verschwinden, wenn wir überleben wollen! Mythor nickte. Er sah, wie der Schweif des Drachen zuckend herumwirbelte. Jeden Moment konnte er ihn und den Stummen Großen treffen. Der Krieger, stärker als zuvor, raffte seinen Besitz an sich, schob das Schwert Alton in seinen Gürtel und stülpte den Helm der Gerechten über seinen Kopf. Dann schwang er sich auf den Rücken Pandors. Auch Vierfaust saß rasch auf. Mythor trieb das Tier an. Über ihm flatterte Horus, und neben ihm hetzte Hark davon. Sie suchten das Weite. Irgendwann würde auch der Schatten vergehen, weil es kein Leben mehr gab, das er in sich aufsaugen konnte. Der Drache, soeben erst erwacht, verging, weil der Schatten sein Leben aufzehrte. 100
Endlich hielten sie ein. Aus weiter Ferne beobachteten sie das Sterben des abgestürzten Ghorogh. Sein Flug hatte nicht lange gedauert. Und dann sah Mythor auf seine Brust hinunter. Dort war Fronjas Bildnis tätowiert, dessen Anblick ihm bisher in verzweifelten Situationen stets Kraft gegeben hatte. Früher als Pergament, dann als Tätowierung. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn. Seine Brust war nackt und kahl – die Tätowierung war verschwunden! »Vierfaust!« schrie er verzweifelt. »Die Tätowierung!« Der Stumme Große sah ihn überrascht an. »Du hast sie mir genommen!« schrie Mythor. »Du! Warum hast du sie mir geraubt?« Vierfaust gestikulierte heftig. Aus seiner Zeichensprache ersah Mythor, daß der Stumme behauptete, unschuldig zu sein. Die Tätowierung sei verblaßt, als durch Dreifingerauges Magie der Schatten in Mistra schlüpfte. Doch in seiner augenblicklichen Verfassung deutete Mythor alles falsch. »Also doch! Ihr steckt alle unter einer Decke… Du hättest es verhindern können, Vierfaust… du bist schuld, daß ich sie nie mehr sehen kann!« Als Vierfaust sich ihm verzweifelt näherte, um ihn zu beruhigen, schlug er heftig um sich. Tränen standen in seinen Augen. »Geh weg!« schrie er. »Geh weg, verschwinde!« Er schwang sich in den Sattel Pandors, ehe Vierfaust es verhindern konnte, und gab dem Einhorn die Hacken zu spüren. Das schwarze Einhorn raste davon, und Schneefalke und Bitterwolf folgten ihm. Zurück blieb ein Stummer Großer, der die Welt nicht mehr begriff. Er sah von dem verschwindenden Mythor dorthin, wo der tote Dreifingerauge lag. Er hatte sein Leben für die Rettung Mythors geopfert, wie es alle Großen getan hätten. Und nun dies… 101
Vierfaust begriff Mythors Verhalten nicht. Langsam setzte er sich in Bewegung, einsam und allein, verloren am Rand des Wüstengürtels. Er kam dem Toten mit jedem Schritt näher. Es lauerte keine Gefahr mehr, Ghorogh zuckte nicht mehr. Der Schatten war vergangen. Vierfaust würde Dreifingerauge die letzte Ehre geben. Und während er zu dem Toten ging, dachte er immer wieder an Mythor.
Warum das? fragte sich Mythor zur gleichen Zeit, während er das Einhorn antrieb. Warum hat Vierfaust mir das Bild genommen? Er begriff es nicht. Irgendetwas in ihm wollte es nicht begreifen. Und er würde auch nicht nach Sarphand reiten. Das Juwel an der Strudelsee wie man es nannte, lockte ihn nicht. Als Dreifingerauge vom Koloß von Tillorn gesprochen hatte, war eine Erinnerung in ihm aufgeblitzt. Er hatte sich mit Steinmann Sadagar und den anderen dort verabredet! Und zudem war es einer der Fixpunkte des Lichtboten! Er würde also nicht nach Sarphand reiten, sondern auf dem schnellsten Weg zum Koloß von Tillorn, komme, was da wolle. Vierfausts flehende und verzweifelte Blicke sah er nicht. Er wandte sich nicht einmal um. Hätte Vierfaust sprechen können, hätte er ihm warnende Rufe nachgesandt. Sarphand war unumgänglich… Doch selbst dann wäre Mythor in diesen Augenblicken nicht ansprechbar gewesen. Er jagte davon, wie von Dämonen gehetzt, seinem Ziel entgegen. Und irgendwie schien der Helm der Gerechten ihn dabei zu leiten; flüsternd wies er ihm den richtigen Weg. 102
Das Orakel-Leder hatte er sich wie ein Kraftband um den Oberschenkel gebunden. Der Helm umschloß seinen Kopf, das Schwert steckte in seinem Gürtel, Pandor war zwischen seinen Schenkeln, Horus über und Hark neben ihm. Doch der Besitzer dieser unglaublichen Dinge und Wesen fühlte sich leer und einsam. Etwas bewegte ihn mehr als alles andere: Fronjas Bildnis! Es war fort, und bei dem Gedanken daran rannen Tränen über sein Gesicht. Die Verzweiflung über diesen Verlust fraß an ihm. Er hätte lieber alles andere verloren als das Bild der blonden Schönen, das ihm immer wieder neue Lebenskraft gegeben hatte. Erst war das Pergament verschollen und jetzt die Tätowierung. Mythor warf den Kopf in den Nacken und schrie. Er schrie seine Verzweiflung hinaus in die Welt, in eine Welt, die nichts von seinem Schicksal wissen wollte. Nachspiel Hrobon, der Vogelreiter, hielt viele Stunden später vor dem Kadaver des Drachen an, der sich wie ein Berg emportürmte. Schweigend verharrten auch seine Begleiter. »Mythor«, knurrte Hrobon. Der Heymaler verzog das Gesicht zu einer finsteren Grimasse. Er jagte Mythor nach, der einen unglaublichen Frevel begangen hatte: Er hatte behauptet, der Gesandte des Lichtboten zu sein. Doch das war der Shallad Hadamur! Und es war nicht nur eine Frechheit, sondern ein todeswürdiges Verbrechen, sich mit dem Shallad auf eine Stufe zu stellen. Hrobon hatte gesehen, wie der Drache die sterbende Speicherburg verließ. Und er hatte die Lichtglocke auf seinem Rücken gesehen und trotz der großen Entfernung Mythor er103
kannt. Aber hier war niemand mehr! Nur noch eine Grabstätte, doch in dem Grab lag nicht Mythor, sondern ein Weiser Großer. Eine Fußspur führte von dem Grab fort, kräftig ausgeprägt. Hrobon trieb seinen Laufvogel an, und seine Begleiter folgten ihm. Der Heymaler folgte der Spur des einsamen Wanderers. Aber überrascht mußte er erkennen, daß diese Fußspur plötzlich abriß. So als habe sich der einsame Wanderer jäh in Luft aufgelöst… Hrobon schrie seinen Zorn hinaus in die Welt. »Hüte dich, Mythor, vor meiner Rache!« brüllte er. »Denn sie wird furchtbar sein!« Aber Worte sind Schall, den der Wind verweht.
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Neal Davenport
DAS TOR DES SÜDENS Wanto zitterte vor Angst und Kälte. Verstört blickte er sich um. Das Schneetreiben war so dicht, daß er kaum die Hand vor dem Gesicht sehen konnte. »Patta!« schrie er immer wieder. Doch seine Gefährtin, die er im Schneesturm aus den Augen verloren hatte, meldete sich nicht. Sein Gesicht war eine eisbedeckte Maske. Die Barthaare waren gefroren, die Hände aufgeplatzt und blutig. Schon lange hatte er jede Orientierung verloren. Wie blind taumelte er hin und her, manchmal stolperte er und fiel zu Boden. Mühsam erhob er sich dann und stemmte sich keuchend dem heulenden Wind entgegen, der an seinen steif gefrorenen Fellkleidern zerrte. Auf einmal stieß er gegen eine schroffe Felswand. Erschöpft setzte er sich nieder und zog die Beine an. Er atmete röchelnd und stierte die Schneeflocken an, die ihm ins Gesicht peitschten. Seine Gefährtin und er waren von unheimlichen Mächten in das Land der Eisgötter getrieben worden. Niemals wäre er freiwillig in das Land ohne Wiederkehr gekommen. Ihn fröstelte, als er an die uralten Sagen dachte, die von grauenvollen Ungeheuern berichteten, die im Eisland hausen sollten. Oft hatte er den Alten gelauscht, die in lauen Sommernächten von dem Grauen des Eislands erzählten, in denen es von geheimnisvollen Schlangen, Eisgeistern und Drachen nur so wimmelte. Gelegentlich waren kühne Jünglinge des Stammes auf105
gebrochen, um die Rätsel des Eislands zu erkunden, doch nie war jemand zurückgekehrt. Manchmal hob Wanto den Kopf und lauschte, doch außer dem wütend heulenden Sturm war nichts zu hören. Er drückte sich enger an die Felswand, und der Schnee hüllte seine angezogenen Beine wie ein Tuch ein. Plötzlich war der Schneesturm vorbei. Er fand sich auf einer Hochebene wieder. Mannshohe Schneeverwehungen wechselten mit spitzen, eisbedeckten Felsnadeln ab, die in den grauen Himmel stießen. »Patta!« brüllte er. Doch sie antwortete immer noch nicht. Verzweifelt versuchte Wanto sich zu orientieren, aber es gelang ihm nicht. Diese Ebene war ihm unbekannt. Ein durchdringendes Krächzen ließ ihn herumwirbeln. Er hob den Kopf, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ein Ungeheuer flog langsam auf ihn zu. Es war mannsgroß und hatte einen abstoßend häßlichen Schädel, der in einen spitzen Schnabel auslief. Der Leib schimmerte türkis und war halb durchsichtig. Die gewaltigen Flügel waren zwei Mannslängen weit und durchschimmernd. Von dem Drachen ging eine unnatürliche Kälte aus. Wanto wandte sich schreiend zur Flucht. Das durchdringende Krächzen wurde lauter, und ein eisiger Hauch wehte auf ihn zu. Augenblicklich waren seine Beine mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die ihn lähmte. Ein weiterer eiskalter Hauch verwandelte seine Arme und den Körper in Eiszapfen. Der Eisdrache flog über ihn hinweg. Das grauenvolle Krächzen wurde leiser, und dann war das Ungeheuer verschwunden. Den Kopf konnte er bewegen. Er stierte seine mit einer dicken Eisschicht bedeckten Arme und Hände an, und ein hoffnungsloses Stöhnen kam über seine Lippen. Mutlos schloß er 106
die Augen. Als er den Entsetzensschrei seiner Gefährtin hörte, riß er die Augen auf. Nun erwachten schlagartig seine Lebensgeister. Mit aller Kraft spannte er die Muskeln an. Die Eisschicht, die seine Beine umklammerte, begann zu knirschen. Er verdoppelte seine Bemühungen, und plötzlich konnte er das rechte Bein bewegen. »Patta!« schrie er. »Patta!« Mit dem rechten Fuß trat er gegen das linke Bein. Krachend zersplitterte das Eis. Das schaurige Krächzen des unheimlichen Wesens war wieder zu hören. Der Drache flog genau auf ihn zu. Zwischen seinen riesigen Zähnen hielt er die bewußtlose Patta. Einer der eiskalten Flügel streifte Wanto und warf ihn zu Boden. Benommen blieb er liegen. Als er sich aufrichtete, war der Drache verschwunden. Wild fluchend stand er auf. Seine Arme und der Oberkörper waren noch immer mit Eis bedeckt. Er stapfte auf eine der Felsnadeln zu und schlug den rechten Arm dagegen. Das Eis zersplitterte. Innerhalb weniger Augenblicke war er von der fesselnden Eisschicht befreit und konnte sich wieder normal bewegen. Er riß die schwere Steinaxt aus dem Gürtel und lief in Richtung Süden, wohin der Drache geflogen war. Doch nach ein paar Schritten blieb er stehen, denn das Eis unter seinen Füßen bebte und knirschte. Risse durchzogen die Eisschicht, und Spalten klafften plötzlich wie die Mäuler namenloser Bestien. Bebend vor Angst und ganz vorsichtig schritt Wanto weiter. Ein Eiszapfen löste sich aus einer der steil aufragenden Wände, schlug auf einem Vorsprung auf, und fingergroße Eissplitter flogen auf ihn herunter und bohrten sich schmerzhaft in sein Gesicht. Er zuckte zusammen, als neben ihm ein irres Gelächter zu hören war, das rasch lauter wurde. 107
Entsetzt sprang er zwei Schritte zur Seite und stieß einen Angstschrei aus, als aus einer der Spalten ein Eisblock auftauchte, der die Gestalt änderte und von dem das Lachen ausging. Wanto glaubte den Verstand zu verlieren, als aus dem Block blitzschnell ein dünner, tentakelartiger Arm wuchs und sich eine Hand mit zehn Fingern bildete, die nach ihm griff. Nun kam Bewegung in Wanto. Wild schreiend, um sich selbst Mut zu machen, wandte er sich zur Flucht, sprang über eine Spalte, rutschte aus und kollerte eine Eisfläche hinunter, sich immer wieder überschlagend. Halb bewußtlos blieb er liegen. Er wimmerte vor Schmerzen, und Blut tropfte aus seiner Nase. Stöhnend griff er nach der Axt und setzte sich auf. Wieder war das irre Lachen zu hören. Fünf eisblau schillernde, bizarr geformte Gestalten kamen auf ihn zu. Sie waren entfernt menschenähnlich, und ihr Gang war entenartig. Er begann zu laufen. Immer wieder blickte er sich furchtsam um, doch der Abstand zu seinen Verfolgern blieb gleich. Er lief rascher, hinein in ein schmales Tal mit eisbedeckten Wänden, die wie Edelsteine funkelten. Das wahnsinnige Gelächter hallte schaurig im Tal wider, brach sich an den Wänden, und Schnee und Eisbrocken wirbelten auf ihn zu. Und dann war das Tal zu Ende! Wanto saß in der Falle. Schwer atmend starrte er die Eiswand an, doch er gab sich noch nicht geschlagen. Ohne zu überlegen, begann er die Wand zu besteigen. Geschickt hielt er sich an Vorsprüngen fest und zog sich höher hinauf. Aus der Wand wuchsen schlangenartige Gebilde, die seine Beine und Arme umklammerten. Er schlug mit der Axt danach, doch immer mehr tentakelartige Arme und Hände packten ihn. Die Axt entfiel seiner Hand, und ein Eisarm legte sich 108
um seinen Hals. Noch einmal keuchte er, dann wurde alles schwarz vor seinen Augen, und er brach besinnungslos zusammen.
In der Höhle war es angenehm warm. In der Feuerstelle brannten dicke Holzscheite. Der Kleine Nadomir warf eine Handvoll Kräuter in die Flammen, und ein grünlicher Rauch stieg auf, der leicht betäubend war. »Schlimme Zeiten sind für die Welt angebrochen«, sagte der Gnom langsam. »Die Verbündeten der Lichtwelt sind im Hochmoor von Dhuannin zur Wintersonnenwende von den Caer und den Dämonen besiegt worden.« »Woher weißt du das, Schöner Nadomir?« fragte Sadagar und beugte sich gespannt vor. »Ich weiß es«, wich der Königstroll der Frage aus. »Ich werde dieses Tal inmitten der Götterberge zu einer Insel des Lichts gestalten, auch wenn die nördliche Welt von den Dunklen Mächten beherrscht wird.« Sadagar musterte den Gnomen aufmerksam, der ihm gegenübersaß. Nadomir war kaum drei Fuß groß, und sein Kopf wirkte durch die gewaltige Mähne aus borstigem, strähnigem Haar übergroß. Das Gesicht wirkte fast winzig. Der zahnlose Mund war unverhältnismäßig groß, und die kleinen Augen glühten wie Kohlestücke. Der Königstroll hatte seinen Pelz abgelegt und war mit einer schillernden Strumpfhose und einem weiten Oberteil aus demselben Material bekleidet. Drei goldene Ringe zierten seinen Hals. »Der Große Alb ist tot«, sprach Nadomir schließlich weiter. »Erinnerst du dich noch an unser Gespräch im Tal des Riesen?« »Natürlich erinnere ich mich. Ich war zutiefst enttäuscht, daß 109
du nicht der Kleine Nadomir bist, den ich mein ganzes Leben angerufen habe.« Der Troll kicherte einfach vor sich hin. »Ich fragte dich damals, wer du wirklich bist, doch du bist meiner Frage ausgewichen. Du hast mir gesagt, daß ich dich weiterhin Nadomir nennen soll. Und als ich davon sprach, daß ich zum Koloß von Tillorn gehen will, warst du überrascht.« »Ich fragte dich, was du beim Monument des Lichtboten willst.« »Ich antwortete: den Sohn des Kometen treffen. Du bist dann aufgestanden und in der Dunkelheit verschwunden. Und seither hast du auf meine Fragen geschwiegen.« Der Königstroll lehnte sich zurück. »Vielleicht ist Mythor tatsächlich der Sohn des Kometen, mein Freund. Vieles spricht dafür. Er ist ein Findelkind der Marn, und er hat auch das entsprechende Mal hinter dem rechten Ohr. Vor siebzehn Wintern wurde Mythor von den Großen betreut und behütet. Dann wurde er entführt und ausgesetzt.« »Du weißt vieles, Nadomir«, flüsterte Sadagar. »Wer sind denn diese Großen?« »Sie sind für die Lichtwelt das, was die Caer-Priester für die Dunklen Mächte sind. Das soll jedoch kein Werturteil sein.« Nadomir lachte, als er Sadagars verwirrtes Gesicht sah. »Du verstehst mich nicht, mein Freund. Aber mehr darf ich dir nicht erklären. Irgendwann einmal wirst du mich verstehen.« Sadagar seufzte enttäuscht. »Du ergehst dich immer in Andeutungen, Nadomir«, sagte er vorwurfsvoll. »Das ist die Art der Königstrolle«, kicherte der Gnom vergnügt. »Wenden wir uns wichtigeren Dingen zu, Sadagar. Ich habe dir versprochen, daß ich dich aus den Bergen herausbringen werde. Aber ich bitte dich, mein Freund, überlege es dir nochmals. Die Reise wird gefährlich werden und dich durch unbekannte Länder führen, in denen du leicht den Tod 110
finden kannst.« »Mein Entschluß steht fest. Ich nehme das Wagnis auf mich.« »Ich habe gefürchtet, daß du nicht anders handeln wirst. Das ehrt dich, mein Freund. Leider kann ich dich nicht begleiten, denn ich muß die Stämme einen. Aber ich habe dir meine Hilfe versprochen, und ich halte meine Versprechen. Steh auf, Sadagar.« Der Steinmann gehorchte. Sein weißblondes Haar schien im Feuerschein zu glühen, und seine grauen Augen funkelten, als Nadomir wieder ein paar Kräuter ins Feuer warf. Die Flammen schossen hoch und hüllten den Gnomen ein paar Sekunden lang ein. »Folge mir, Sadagar!« Die Höhle verjüngte sich nach ein paar Schritten zu einem schmalen Gang. Das flackernde Licht wurde schwächer, und nach zehn Schritten war es stockfinster. Plötzlich flammte ein grelles Licht auf, und Sadagar schloß die Augen. »Wir werden nun den Becher der Bruderschaft miteinander trinken, Sadagar.« Langsam öffnete der Steinmann die Augen. Sie standen in einer kleinen Nische, deren Wände wie Silber funkelten. Nadomir drückte ihm einen Becher in die Hand. »Trink, mein Freund!« Zögernd führte Sadagar den Becher an die Lippen, dann kostete er kurz. Das Getränk schmeckte wie alter Wein, ölig und süß. Er trank ein paar Schlucke und spürte fast augenblicklich die stark berauschende Wirkung. Seine Bewegungen wurden langsamer und sein Kopf war leer. Nadomirs Stimme schien aus unendlicher Ferne zu kommen. »Dein Name ist Feged«, glaubte er Nadomirs Stimme zu hören. »Sadagar, dein geheimer, dein wahrer Name ist Feged. So werde ich dich rufen, wenn ich einmal deine Hilfe benötige. 111
Feged, du bist Feged!« Alles drehte sich vor Sadagars Augen. Er fiel zu Boden. Sein Körper hatte sich aufgelöst, nur mehr seine Gedanken existierten. Und Nadomirs flüsternde Stimme, die sich mit seinen Gedanken verband, die mit ihm eins wurde. »Hier hast du meine drei goldenen Ringe, Feged. Ich lege sie dir um den Hals, mein Freund. Wenn du meine Hilfe brauchst, Feged, dann reibe sie gegeneinander. Und rufe meinen Trollnamen: Nexapottl.«
Als er erwachte, fand er sich in der Höhle wieder. Er lag auf dem Rücken und fühlte sich benommen, als habe er zuviel Wein getrunken. Kopfschüttelnd setzte er sich auf. »Ich habe geträumt«, flüsterte er und starrte in die hochlodernden Flammen. Er räusperte sich, denn er spürte einen Druck gegen seinen Hals. Mit dem rechten Zeigefinger strich er über den Hals und dann entdeckte er die drei Ringe, die sich in sein Fleisch gegraben hatten. »Es war doch kein Traum«, hauchte er. Kurze Zeit später wich das unangenehme Gefühl aus seinem Kopf, und er fühlte sich wohlig erfrischt. Rasch stand er auf und trat aus der Höhle. Sie befanden sich im Winterlager der Gruden, bei denen sie gestern eingetroffen waren. Er eilte zwischen den Erdhütten hin und her, bis er den großen Platz erreicht hatte, auf dem sich alle Dorfbewohner versammelt hatten. Etwa fünfzig Schritt vor den Dorfbewohnern standen sechs Häuptlinge der Stämme, die einst dem Großen Alb gehuldigt hatten. Der durchdringende Klang des Horns hatte sie herbeigerufen, und ihre Mienen waren furchtsam geworden, als sie erkennen mußten, daß der Königstroll ihren Herrscher getötet hatte. 112
Schweigend standen sie da und warfen dem Gnomen scheue Blicke zu, der auf einem Schlitten stand und das Schneckenhorn mit beiden Händen umklammerte. »Ihr seid dem Ruf des Horns gefolgt«, sagte Nadomir mit schriller Stimme. »Der Große Alb lebt nicht mehr! Ich habe ihn besiegt. Das Schneckenhaus ist der Beweis dafür.« Er ließ das schneckenhausartige Gebilde fallen, das der Große Alb an Stelle der Ohren gehabt hatte. »Kommt näher!« schrie Nadomir. Zögernd folgten die Häuptlinge, die schließlich im Halbkreis um den Königstroll stehenblieben und ihn furchtsam musterten. Es waren kräftige Jäger, die meisten vollbärtig und in dicke Felle gehüllt. »Ihr alle habt dem Großen Alb gedient und die Stämme, die mich verehren, bekämpft«, sprach Nadomir weiter. »Ich will, daß nun Friede unter den Karsh-Völkern herrscht. Ich vergebe euch, daß ihr den Alb verehrt habt. Das ist vorbei und vergessen. Ich will, daß die Stämme der Bergvölker zusammenarbeiten und nicht gegeneinander. Es darf keine Kämpfe mehr geben. Ich will euer Ratgeber und nicht euer Führer sein! Huldigt weiterhin den altüberlieferten Sitten und Gesetzen eurer Ahnen, doch hebt nicht die Waffen gegen andersdenkende Stämme. Achtet sie und ihre Gebräuche, so, wie ich auch alle achte!« Langsam löste sich die Verkrampftheit der Häuptlinge. Sie alle hatten mit der fürchterlichen Rache des Königstrolls gerechnet und waren nun überrascht, daß ihnen nichts geschehen würde. Endlich faßte einer der Häuptlinge Mut und trat einen Schritt vor. »Sprich, Vidorko«, verlangte Nadomir. »Um es offen zu sagen, Schöner Troll, sind wir nicht traurig, daß der Alb tot ist, denn er zwang uns zu vielen Dingen, die wir eigentlich nicht wollten.« 113
»Und die waren?« »Der Bau der Straße.« »Damit ist es vorbei.« »Gut, das ist sehr gut«, freute sich Vidorko, und seine Freunde brummten zustimmend. »Und was ist mit Kortok?« fragte Cipar. »Ja, was ist mit dem gefleckten Tod?« rief Tarmo. »Wir mußten ihn füttern«, stellte Vidorko fest, »und oft genug holte er sich ein Opfer aus unserer Mitte.« »Kortok ist ein Geschöpf des Albs«, sagte Nadomir. »Ihr braucht ihn nicht mehr zu füttern.« »Dürfen wir ihn töten?« fragte Vidorko eifrig. »Ja, das sollt ihr sogar tun.« Wieder war freudiges Gemurmel zu hören. »Wer ist Kortok?« fragte Sadagar, der neben Aravo stehengeblieben war. »Ein riesiger dreibeiniger Säbelzahntiger, der den AlbAnhängern als heiliges Tier galt«, antwortete der Hüne. »Ein dreibeiniger Tiger kann doch nicht überleben«, sagte Sadagar verwundert. Aravo lächelte leicht. Sein Gesicht war glattrasiert, und sein dunkles Haar zu einem Zopf geflochten. »Irgendwann hat Kortok sein linkes Vorderbein verloren. Auf unerklärliche Weise wuchs es ihm aber nach, doch es ist unsichtbar. Da war ein böser Zauber mit im Spiel.« »Schwarze Magie«, murmelte Sadagar. »Heute feiern wir ein großes Fest«, sprach Nadomir weiter. »Abgesandte aller Stämme, die mir bisher treu ergeben waren, werden kommen. Und dann wird Bruderschaft gefeiert!« Zustimmende Schreie wurden laut. Überall brandete der Jubel los. Die Häuptlinge mischten sich unter die Dorfbewohner und bekamen Tonschalen mit dampfendem Tee gereicht. Einige der Wilden kannte Sadagar, beispielsweise Tordo und 114
Olinga vom Stamm der Chereber, der bei einem Lawinenunglück fast völlig ausgerottet worden war. Xogra vom Stamm der Reusen unterhielt sich mit Duprel Selamy, dem ehemaligen Schmied aus Ugalien. Und natürlich war auch Nottr da, den er aber im Augenblick nirgends sehen konnte. »Wir brechen morgen auf, Adagar«, sagte Aravo. So wie die meisten Wilden hatte er Schwierigkeiten, das »S« auszusprechen. »Dardo und Barko werden uns begleiten, außer du überlegst es dir doch noch anders.« Sadagar schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, es bleibt dabei.« Er nickte dem Jäger zu und ging auf Duprel Selamy zu. »Ich habe gehört, daß du morgen aufbrichst, Sadagar«, stellte der Schmied fest. »Deshalb bin ich zu dir gekommen, Duprel. Bist du endlich zu einer Entscheidung gelangt?« Der kleine, ungewöhnlich kräftige Mann nickte. »Ja, ich habe mich entschieden. Ich bleibe hier. Vermutlich ist ganz Ugalien verwüstet, und meine Schmiede steht nicht mehr. Hier, bei diesen einfachen Menschen, fühle ich mich wohl. Ich werde sie die Metallgewinnung und die Bearbeitung von Eisen lehren.« »Wahrscheinlich ist deine Entscheidung richtig, Duprel. Ich werde dich als einen tapferen Mann in Erinnerung behalten.« »Nicht so rasch, mein Freund. Laß uns fröhlich sein. Ich habe eine wunderbare Entdeckung gemacht, Sadagar. Komm mit.« Der Steinmann folgte dem Schmied mißtrauisch. Er blieb vor einem hohen, dickbäuchigen Gefäß stehen. »Bis zum heutigen Tag habe ich nur den Wein vermißt«, sagte Duprel breit grinsend. »Aber nun habe ich festgestellt, daß die Gruden einen Tee kennen, den sie aus den getrockneten Blättern der wilden Kletterblume gewinnen, der leicht berauschend ist und wie saurer Landwein schmeckt. Koste.« Mit einem Becher langte er in den Bottich hinein und holte 115
ihn gefüllt hervor. Sadagar beäugte die graue Flüssigkeit argwöhnisch. Er trank einen Schluck und begann zu husten. »Bei meinem Nadomir!« keuchte er und verdrehte die Augen. »Der Tee ist so sauer, daß sich die Zunge verknotet.« Duprel lachte dröhnend. »Der erste Schluck schmeckt scheußlich, aber trink erst einmal drei Becher, dann beginnt er richtig zu munden.« »Nicht mein Geschmack, Duprel. Hast du Nottr gesehen?« Der Schmied zwinkerte ihm wissend zu. »Er verschwand vor einiger Zeit mit Olinga in einer Hütte.«
Es war bereits dunkel, als Wanto erwachte. Vorsichtig öffnete er die Augen und starrte in den sternenklaren Himmel. Langsam bewegte er seine Glieder und wunderte sich, daß er noch lebte. Sein Mund war trocken, und als er sich aufrichtete, begann sich alles vor seinen Augen zu drehen. Er kämpfte die Schwäche nieder und erhob sich schwerfällig. Die bleierne Schwere seiner Glieder ließ ihn taumeln, und die rasenden Kopfschmerzen ließen ihn wimmern. Im fahlen Licht des Mondes konnte er deutlich seine Umgebung wahrnehmen. Er befand sich noch immer im kleinen Tal, in dem die tentakelartigen Arme nach ihm gegriffen hatten. Die Wände schimmerten silbern, und kein Laut war zu hören. Wanto torkelte wie ein Betrunkener hin und her. Immer wieder stieß er gegen die Wand, verlor das Gleichgewicht und ging in die Knie. Mühevoll stemmte er sich wieder hoch und taumelte weiter. Dann stolperte er wieder und blieb einfach keuchend liegen. Sein Körper glühte. Fieberschauer rasten über seine Haut, und nun wurde ihm sein Durst bewußt. Mit beiden Händen 116
kratzte er Schneebrocken vom Boden und schob sie gierig in den Mund. Aber sein Durst wurde immer schlimmer. Er befand sich in einem Zustand zwischen Schlaf und Ohnmacht. Irgendwann taumelte er schließlich weiter und entdeckte seine Steinaxt, die er sich in den Gürtel schob. Nur in jenen seltenen Augenblicken, da er klar denken konnte, erinnerte er sich an seine verschwundene Gefährtin, an den Eisdrachen und die fünf entsetzlichen Eismonster, die ihn verfolgt hatten. Aber meist war sein Hirn leer, und seine Bewegungen vollführte er, ohne zu denken. Erleichtert atmete er auf, als er die Hochebene erreichte. Wieder schob er sich ein paar Schneebrocken in den Mund und lutschte daran. Langsam ließen die Fieberschauer nach, die ihn gequält hatten. Seine Schritte hallten seltsam, als er weiterging. Nun hatten sich seine Augen an das diffuse Licht gewöhnt, und weit vor sich glaubte er einen gewaltigen Eisblock zu erkennen. Eine dunkle Wolkenbank schob sich vor den Mond, und die Finsternis legte sich wie ein dunkles Tuch über die Ebene. Ein leichter Wind kam auf, der Schnee und Eis über den gefrorenen Boden trieb. Vorsichtig ging Wanto weiter. Er glaubte flüsternde Stimmen zu hören, die der Wind zu ihm hertrug. Dann war es ihm, als höre er Patta nach ihm rufen. »Wanto!« Ja, das war ihre Stimme, da gab es keinen Zweifel, oder spielten ihm seine Sinne einen Streich? »Wanto!« Da war wieder der Schrei, und unverkennbar war es Pattas Stimme. »Wanto!« »Ich komme!« schrie er und stürmte vorwärts, nicht darauf achtend, daß er nichts sehen konnte. Die Wolkenbank zog am Mond vorbei, und der Wind erstarb mit einem winselnden Laut. Nun war es wieder unwirklich still. Das bleiche Mondlicht fiel auf einen doppelt mannshohen 117
Eisblock, einen viereckigen Brocken, dessen Flächen völlig glatt waren und bläulich schimmerten. »Wanto! Komm und hilf mir, Wanto!« Laut schreiend rannte er auf den schimmernden Block zu, doch nach wenigen Schritten blieb er entsetzt stehen. Seine Haare stellten sich auf, und seine Augen wurden vor Grauen und Überraschung groß. Ein gurgelnder Laut kam über seine Lippen. »Patta«, krächzte er mit versagender Stimme. »Patta.« Zitternd kam er näher. Es mußte ein Traum sein, versuchte er sich zu beruhigen, nichts als ein Alptraum… Doch als er schließlich fünf Schritt vor dem Eisbrocken stehenblieb, wußte er, daß es kein Traum, sondern die Wirklichkeit war. Patta war im Eisblock gefangen! Sie war völlig nackt, und es war, als schwebe sie in einem mit Wasser gefüllten Behälter. Doch ihr Körper war erstarrt, die Hände waren ihm flehend entgegengestreckt, ihr Gesicht war verzerrt und der volle Mund zu einem Schrei geöffnet. Die pechschwarzen Augen waren weit aufgerissen, und ihr langes schwarzes Haar schwebte wie ein Schleier hinter ihr her. Wanto kniete vor dem Eisblock nieder und tastete mit beiden Händen über die eiskalte Fläche. Dann stierte er verzweifelt in das Gesicht seiner Gefährtin. »Patta«, keuchte er, »ich werde dich befreien.« Geschmeidig sprang er auf, riß die Steinaxt hervor und begann auf das Eisgefängnis einzuschlagen. Doch sosehr er sich auch anstrengte, er konnte die glatten Flächen nicht einmal ritzen. Verzweifelt ließ er die Axt fallen und taumelte zwei Schritte zurück. Pattas Blicke schienen ihn zu verfolgen. »Lebst du?« fragte er zweifelnd. Langsam schloß sie die Augen, und Hoffnung erwachte in ihm. »Ja, ich lebe«, hörte er ihre Stimme, die wie aus unendlicher Ferne zu ihm drang. Ihre Lippen bewegten sich leicht. 118
Grimmig hob er die Axt, doch kurze Zeit später wurde ihm die Sinnlosigkeit seines Tuns bewußt. Mit der Axt konnte er den Eisblock nicht zerschlagen. Es war ihm unmöglich, seine Gefährtin zu befreien. »Ich kann dir nicht helfen, Patta«, flüsterte er verzagt. »Bitte, Wanto, gib nicht auf«, hauchte sie fast unhörbar. Und wieder umklammerte seine Hand den Stiel der Axt, und wieder erbebte der Eisblock unter seinen gewaltigen Schlägen.
Nottr hatte die Freuden genossen, die Olingas aufregender Körper zu bieten hatte, und fühlte sich nun angenehm schläfrig. Durch die junge Karsli-Frau hatte er wieder zu sich selbst gefunden. Die Schrecken der vergangenen Wochen, die Schmerzen, die ihm Graf Corians Häscher zugefügt hatten, dies alles lag weit zurück. Olingas Zärtlichkeit und Liebe hatten ihn aus seiner Gleichgültigkeit erwachen lassen. Er hatte wieder zu sich selbst gefunden, ja, er war reifer geworden, und dafür war er ihr unendlich dankbar. Die junge Frau schmiegte sich eng an ihn. Sie lagen auf weichen Fellen, und er hatte ein Bärenfell über sie gezogen. »Woran denkst du?« fragte sie leise. Er blickte in ihr gerötetes Gesicht, das genau den Schönheitsbegriffen seiner Rasse entsprach: plattnasig, die Augen groß und dunkel und geheimnisvoll glänzend wie Bergseen in der Mittagssonne, der Mund fest und voll und rot wie die wilden Gularda-Rosen seiner Heimat, das Haar dunkel wie eine mondlose Nacht. Nottr wälzte sich auf den Rücken und lächelte traurig. »Morgen heißt es Abschied nehmen«, sagte er mit rauher Stimme. »Ich werde dich sehr vermissen, Olinga.« Ihr Gesicht wurde ernst, der Glanz wich aus ihren Augen. 119
Leise seufzend setzte sie sich auf und schob mit beiden Händen das schwere Haar über die Schultern. »Müssen wir uns wirklich trennen, Nottr?« Er drehte sich herum, stützte sich auf den rechten Ellbogen und blickte sie forschend an. »Ich weiß, was du sagen willst, Olinga.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe auch schon daran gedacht, hierzubleiben. Die Menschen der Wildvölker sind mir sehr ähnlich, aber ich weiß, daß ich die Enge deiner Welt nicht ertragen kann. Ich brauche die Freiheit und das weite Land. Alles in mir sehnt sich danach, wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und über die endlosen Steppen zu reiten. Das ist mein Leben, Olinga.« Sie beugte sich über ihn, und ihr Haar fiel sanft auf sein Gesicht. Zärtlich küßte sie ihn auf den Mund. »Ich will dich nicht hierbehalten, Nottr. Ich möchte mit dir gehen!« Verwirrt sah er sie an. Dieser Vorschlag kam völlig unerwartet, denn nie wäre er auf die Idee gekommen, daß sie von den Ihren fortgehen würde. Doch dann erinnerte er sich daran, daß ihr Stamm fast völlig ausgerottet worden war. Sie und die anderen Überlebenden hatten sich dem Stamm der Heusen angeschlossen. »Mein Leben hat sich geändert, Nottr. Für mich gab es nur diese kleine Welt, doch du und Nadomir und natürlich auch Adagar ließen mich in andere Welten blicken und machten mich neugierig. Ich will andere Länder, andere Menschen kennenlernen… an deiner Seite, Nottr.« Nottr warf ihr einen forschenden Blick zu. Sie schien aber ihren Vorschlag tatsächlich ernst zu meinen. Olinga war anders als alle Frauen, die er bisher kennengelernt hatte. Er versuchte sich kurz vorzustellen, wie das Leben zusammen mit ihr sein würde, und er fand diese Vorstellung durchaus erfreulich. »Dein Vorschlag verblüfft mich, aber er macht mich auch glücklich. Wenn du wirklich willst, nehme ich dich gerne mit, 120
Olinga.« »Nie zuvor war mir etwas so ernst«, sagte sie leise. Nottr drückte sie fest an sich, und etwas von ihrer Erwartung und Freude floß auf ihn über. Ihre Hochstimmung steigerte sich noch etwas, als sie eng umschlungen die Erdhütte verließen und sich unter die ausgelassenen Dorfbewohner mischten, die lautstark den Sieg über den Riesen feierten und die Heldentaten des Schönen Nadomir priesen. Überall flackerten Feuer; und die kühle Abendbrise trug den Bratenduft mit sich und das Gelächter und das Geschrei. Die eisbedeckten Gipfel sahen im roten Abendglühen weit weniger bedrohlich aus. Irgendwo weit außerhalb des Dorfes knurrte ein Schlittenhund, dann stieß er ein tief aus der Kehle kommendes warnendes Bellen aus, in das sofort die Meute einfiel. Das Bellen pflanzte sich rasch weiter fort und erreichte das Dorf. Das Lachen erstarb, und die Unterhaltung wurde leiser und verstummte schließlich ganz. Einige der Jäger standen auf, griffen nach Speeren und Äxten, entzündeten Fackeln und schwärmten aus. Die Kinder und Halbwüchsigen suchten ängstlich bei den Frauen Schutz, klammerten sich an ihnen fest und schwiegen. Unwillkürlich griff Nottr nach seinem Krummschwert und schloß sich den Männern an, die das Dorf verließen. Alle blieben wie erstarrt stehen, als das donnernde Brüllen des Tigers zu hören war, das wie das Grollen eines Gewitters klang. »Der gefleckte Tod!« flüsterte einer der Häuptlinge ehrfurchtsvoll. »Er kommt, um den Tod seines Herrn zu rächen«, sagte Cipar und umklammerte seinen Speer fester. Beherzt gingen die Männer weiter. Sie bewegten die Fackeln 121
rascher, die nun fauchend hochloderten und gespenstische Schatten auf den eisbedeckten Boden warfen. Sie kamen an den Hunden vorbei, die alle das Fell gesträubt hatten und ängstlich die Ruten zwischen die Beine preßten. Wieder ließ der Säbelzahntiger sein mächtiges Brüllen ertönen. Nottr erinnerte der Schrei des Tigers ein wenig an das Brüllen von Löwen, doch das Gebrüll Kortoks war noch drohender und furchteinflößender. Plötzlich war es dunkel, und die Sterne traten funkelnd hervor. Im flackernden Schein der Fackeln schritten sie auf den nahen Maru-Mara zu, jenen Berg, dessen Täler in das geheimnisvolle Land der südlichen Eisgötter führten. Es war dies eine Gegend, die von den Karsh-Stämmen gemieden wurde, da es dort von entsetzlichen Ungeheuern wimmeln sollte. Überrascht blieben sie stehen, als ihnen der Kleine Nadomir entgegenkam. Der Gnom war mit einem dichten Pelz bekleidet, der seiner ganzen Gestalt Kugelform verlieh. »Bildet einen Halbkreis!« befahl der Kleine mit kreischender Stimme. »Hier werden wir Kortok erwarten und ihn besiegen!« Die Männer gehorchten. Es waren etwa zwanzig Jäger, darunter auch die Häuptlinge, die bis vor wenigen Tagen noch dem Alb gehuldigt hatten. Wieder war der Schrei des Tigers zu hören, diesmal aber schon viel näher und noch durchdringender und schauerlicher. »Ich werde Kortok entgegengehen«, sagte der Gnom. »Das ist zu gefährlich, Schöner Nadomir!« rief Tarmo rasch. »Das Ungeheuer wird dich verschlingen und…« »Keine Angst«, unterbrach ihn der Kobold selbstsicher. »Ich könnte Kortok allein töten, aber ich will euch die Freude gönnen, euren alten Feind selbst zu besiegen. Allerdings werde 122
ich euch beim Kampf ein wenig helfen.« Der Troll riß beide Arme hoch, und plötzlich schien er über dem Boden zu schweben. Seine Gestalt war nun in ein violettes Licht getaucht. Nottr hielt sich ein paar Schritte abseits. Dieser Kampf war nicht seine Angelegenheit, er wollte sich zurückhalten und nur eingreifen, falls es unbedingt notwendig war. Es war kälter geworden, und der eisige Wind trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch Nottr ließ Nadomir nicht aus den Augen. Der Königstroll wandte ihnen den Rücken zu, das Leuchten um seinen winzigen Körper wurde stärker. Und da war auch schon die Bestie heran! Der schneeweiße Säbelzahntiger war hoch wie ein einstöckiges Haus und fünfmal so lang wie ein Ackergaul. Die starren Augen glühten gelbrot, die Ohren waren spitz und vorgestreckt. Das riesige Maul mit den zwei armlangen, spitzen Zähnen, die aus dem Oberkiefer wuchsen, war weit aufgerissen. Geduckt schlich die Riesenkatze auf Nadomir zu, der ihr tapfer entgegenblickte. Nun bemerkte Nottr die schmutziggrauen Flecken an den Flanken und am Rücken. Das linke Vorderbein war tatsächlich unsichtbar. Kortok brüllte ohrenbetäubend, die gewaltigen Muskeln spannten sich wie Stahlseile an, dann schnellte er sich vom Boden ab und raste auf den Gnomen zu, der blitzschnell zurückwich. Wild fauchend schlug die Bestie auf dem hartgefrorenen Boden auf. Der riesige Schwanz peitschte hin und her und schleuderte Eisbrocken durch die Luft. »Du erwischst mich nicht, Kortok«, höhnte Nadomir. Wieder sprang die Riesenkatze los, und wieder wich Nadomir geschickt zurück und brachte nun das mächtige Tier in die Reichweite der langen Speere. 123
Ein wenig erinnerte Nottr der Kampf an die Auseinandersetzung mit dem Großen Alb, den der Königstroll ebenfalls verhöhnt und geschmäht hatte. »Komm schon, Kätzchen«, sagte Nadomir lachend. Kortoks durchdringendes Brüllen ließ den Boden erheben. Diesmal schlich der Säbelzahntiger geduckt näher und holte mit der rechten Pranke zum Schlag aus, doch nochmals gelang es Nadomir, den scharfen Krallen zu entkommen. »Auf ihn!« brüllte Vidorko und lief auf den Tiger zu. In der Rechten hielt er den Speer, den er aus der Bewegung heraus schleuderte. Er traf gut, denn die scharf geschliffene Steinspitze bohrte sich in den Nacken Kortoks. Rosafarbenes Blut spritzte hervor. Nun griffen auch die anderen Jäger in den Kampf ein. Einige schleuderten ihm die Fackeln entgegen. Ein paar besonders mutige Männer stießen mit den Lanzen zu, rissen die Waffen sofort aus dem Leib heraus, sprangen zurück und gingen wieder zum Angriff vor. Nadomir hatte sich zurückgezogen und blieb nun neben Nottr stehen, der zitternd vor Jagdlust dem Kampf zusah. Sein Barbarenblut wollte mit ihm durchgehen. Die Schreie der Männer und das Brüllen der verwundeten Bestie waren fast zuviel für ihn. »Ruhig Blut, Nottr«, sagte der Gnom. »Sie schaffen es auch ohne deine Hilfe. Spar dir deine Kräfte für morgen auf!« Nottr fletschte die Zähne und stieß das Krummschwert wütend zurück in die Scheide. Obzwar die Bestie schon aus unzähligen Wunden blutete, wich sie nicht zurück. Immer wieder versuchte Kortok die Reihe der Jäger zu durchbrechen und zum verhaßten Königstroll zu gelangen, doch die tapferen Männer verhinderten es. Einige der Jäger waren verwundet, dennoch ließen sie nicht locker. Das Ende für Kortok kam rasch. 124
Tarmo rammte seinen Speer dem Tiger in den Rachen, und die Spitze kam im Nacken heraus. Rasend vor Wut und Schmerzen, tobte die Bestie herum. Da gelang Cipar ein Meisterwurf. Er warf die Lanze mit aller Kraft und traf das linke Auge, in dem die Waffe zur Hälfte verschwand und sich ins Gehirn bohrte. Die Riesenkatze bäumte sich tödlich getroffen auf, kippte schließlich zur Seite und riß ein halbes Dutzend Jäger zu Boden. Noch einmal richtete sich Kortok mühselig auf und blieb mit gespreizten Beinen stehen, dann durchlief ein Zittern den gewaltigen Leib, Blut floß aus dem Riesenmaul, schließlich brach das Tier tot zusammen. Jubelschreie brandeten hoch. »Kortok ist tot!« Dieser Freudenschrei pflanzte sich rasch fort und erreichte das Dorf. Wie verrückt tanzten nun die siegreichen Jäger um den toten Säbelzahntiger herum, der noch im Tod furchteinflößend aussah. Sie beschmierten sich Gesicht und Hände mit dem Blut, das noch immer aus unzähligen Wunden rann. Einige Männer bestiegen jubelnd die Beute und schwangen triumphierend die Fackeln. »Laß uns zurück ins Dorf gehen, Nottr«, sagte Nadomir. »Ich muß mit dir und Sadagar noch einiges besprechen.« Das ganze Dorf war auf den Beinen. Alle wollten den toten Kortok sehen. Dieser Kampf würde noch lange besungen werden.
In der Höhle des Gnomen saßen Nadomir, Nottr und Sadagar um das Feuer. Die brennenden Holzscheite knisterten und verbreiteten einen würzigen Duft. »Ich weiß nicht, welche Gefahren auf euch warten, Sadagar und Nottr«, sagte der Königstroll und blickte die beiden Freunde an. 125
»Die Gruden sprechen viel über das Land der Eisgötter«, meinte Sadagar. »Es sind nur Sagen, an denen aber vermutlich doch einiges wahr ist. Weißt du mehr darüber, Nadomir?« »Leider nein. Ich kenne nur die Sagen, die sich die KarshVölker erzählen. Das Gebiet, das im Süden liegt und sich von den Hochebenen des Maru-Mara bis zum See Dorch erstreckt, ist Niemandsland. Bis jetzt hatte ich keine Gelegenheit, diese Gegend zu erforschen. Leider kann ich euch nicht vor den Gefahren warnen, die auf euch warten werden. Aber ich werde euch einen mächtigen Feuerzauber mitgeben, der euch möglicherweise helfen kann. Gebt mir eure Waffen.« Sadagar zog seine Wurfmesser aus dem Gürtel und reichte sie ihm, der sie in ein glosendes Holzscheit steckte. »Dein Schwert, Nottr.« Der Barbar zögerte. Nur äußerst ungern gab er seine kostbare Waffe aus der Hand. Endlich, als Nadomirs Blick immer drängender wurde, zog er langsam das Schwert aus der Scheide und hielt ihm den Knauf hin. Neugierig betrachtete Nadomir den kostbar verzierten Knauf und die kunstvoll geschmiedete Klinge. »Dieses Schwert kommt mir bekannt vor, Nottr. Woher hast du es?« Der Barbar schluckte kurz. »Ein Geschenk«, stammelte er. »Das Schwert war das Geschenk eines…« »Belüge mich nicht, mein Freund. Ich kenne dieses Schwert, und ich weiß, woher du es hast, aber das ist mir gleichgültig. Es ist eine wunderbare, eine machtvolle Waffe, um die dich viele Krieger beneiden werden.« Der Troll stand rasch auf und stieß die Schwertspitze in das Holzscheit neben Sadagars Wurfmesser. Nun begann er langsam die Arme zu bewegen, und er murmelte Worte in einer Sprache, die beide nie zuvor gehört hatten. Das Feuer änderte die Farbe, es wurde gelb. Die Flammen zischten, so als würde Wasser hineingeschüttet, und ein 126
schwefelfarbiger Rauch zog durch die Höhle, der sich schwer auf die Lungen legte. Jetzt wurde das Feuer weißglühend und sprang auf die Waffen über und tauchte sie in ein gleißendes Licht. Nottr und Sadagar schlossen geblendet die Augen. Sadagar hustete gequält. Es wurde unerträglich heiß in der Höhle. »Ihr könnt nun wieder die Augen öffnen«, sagte der Gnom schließlich. Er griff ins mittlerweile wieder normal brennende Feuer und warf Sadagar die Wurfmesser zu, der sie geschickt auffing. Danach zog er das Krummschwert heraus, warf noch einen prüfenden Blick auf den Knauf und gab es Nottr zurück. »Ich habe die Waffen magisch beeinflußt«, erklärte Nadomir und setzte sich nieder. »Die Wirkung wird etwa eine Woche anhalten.« »Und wie ist die Wirkung?« sagte Sadagar gespannt. »Die Klingen werden glühend heiß.« »Wie wird der Zauber angewandt?« »Sehr einfach. Halte das Schwert hoch, Nottr.« Der Barbar gehorchte. Die Klingenspitze zeigte auf das Feuer. »Du brauchst nur ein Wort zu sagen: Karne!« Nottr räusperte sich. »Karne!« sagte er laut. Ein durchdringendes Zischen war zu hören, und der Barbar ließ vor Schreck fast das Schwert fallen, als die Klinge weißglühend wurde. »Und wie kann ich den Zauber aufheben, Nadomir?« »Sag ganz einfach: Usikate!« »Usikate!« schrie Nottr. Augenblicklich war die Klinge wieder so wie immer. »Das war ziemlich beeindruckend«, meinte Sadagar. »Und auch sehr nützlich, meine Freunde, denn Feuer ist noch immer die beste Waffe gegen Eis und Kälte. Merkt euch die beiden Zauberwörter, sie können euch vielleicht das Leben 127
retten.« Nottr schob das Krummschwert in die Scheide. »Ihr brecht morgen auf, meine Freunde«, sprach Nadomir weiter. »Olinga hat sich entschlossen, Nottr zu begleiten.« »Woher weißt du das?« wunderte sich der Barbar. Der Zwerg lächelte geheimnisvoll, beantwortete aber die Frage nicht. »Geh jetzt, Nottr!« Verwirrt stand Nottr auf und stapfte breitbeinig aus der Höhle. »Du scheinst nicht glücklich darüber zu sein, daß euch Olinga begleiten wird, Sadagar?« »Ich habe nichts gegen sie, obzwar sie mich einmal töten wollte. Aber das ist fast schon vergessen. Doch ich fürchte, daß sie uns bei unserem Marsch behindern wird.« »Das glaube ich nicht, Sadagar. Sie ist eine tapfere und kluge Frau. Olinga ist äußerst begabt für die geheimen Künste, und ich bedauere es, daß sie uns verläßt. Sie ist aber für Nottr die ideale Gefährtin.« »Möglich«, brummte Sadagar nur wenig überzeugt. »Es stimmt aber, daß Nottr durch sie wieder gesund geworden ist. Das ist ganz allein ihr Verdienst, und darüber freue ich mich sehr. Aber trotzdem: Frauen bringen nur Schwierigkeiten und Unglück.« »Nicht immer, mein Freund, der du mit den Frauen schlechte Erfahrungen gemacht hast. Glaub mir, es gibt auch andere als Fahrna.« Sadagars Gesicht spiegelte seine Verwirrung wider. Er hatte sich lange und oft mit Nadomir unterhalten, aber niemals hatte er zu ihm von der Runenkundigen Fahrna gesprochen, mit der er lange Zeit durch die Lande gezogen war. Der Troll lachte. »Lassen wir Fahrna beiseite. Man kann sie wohl kaum mit Olinga vergleichen, die so tapfer und geschickt wie der stärkste Karsh-Jäger ist. Sie ist nicht so verweichlicht 128
wie die Frauen deiner Rasse. Kommen wir zurück zu deiner Reise, Sadagar. Du hast meinen wahren Trollnamen nicht vergessen?« »Nein, du heißt…« Verlegen brach der Steinmann ab. »Ich hoffe für dich, mein Bruder, daß du meine Hilfe nicht benötigen wirst. Aber solltest du in Lebensgefahr geraten, dann denke an mich. Verlaß dich aber nicht ausschließlich auf mich. Sei vorsichtig und weise, wie es sich für dein Alter geziemt. Denn wisse, immer kann ich dir nicht helfen, auch wenn du mich rufst und meinen Beistand benötigst. Denke daran, Feged, den ich wie meinen Bruder schätze.« »Ich werde daran denken«, flüsterte der Steinmann. Sie waren im Morgengrauen aufgebrochen. Der erste Teil der Reise war ziemlich einfach. Mit den Hundeschlitten fuhren sie durch eine Märchenlandschaft. Während der Nacht hatte es geschneit, und die Ebene war ein endlos weiter weißer Teppich, die schneebedeckten Bäume sahen wie verzauberte Riesen aus. Ohne Zwischenfälle erreichten sie das schmale Tal, das genau auf den nebelverhangenen Maru-Mara führte. Doch dann konnten die Schlitten nicht mehr weiter. Ein steil ansteigender Eisbruch machte die Weiterfahrt unmöglich. Nun waren sie zu Fuß unterwegs. Aravo und Dardo führten die Gruppe an, dahinter gingen Sadagar, Olinga, Nottr und der ewig grinsende Barko. Alle waren gleich gekleidet. Über der warmen Unterwäsche aus Entenbälgen trugen sie eine sinnreich erdachte Hosenkleidung, die sie vor der bitteren Kälte schützen sollte, die sie in den hohen Bergtälern erwarten würde. Sie bestand aus einer doppelten Garnitur von Kleidungsstücken, von denen die innere die Fellseite zum Körper hatte, die äußere die Pelzseite nach außen. Die weichen Stiefel waren mit Moos ausgestopft, um die Innenseite trocken zu halten. Jeder trug einen großen 129
Ledersack, der mit dicken Riemen auf den Rücken gebunden war. Darin befanden sich Lebensmittel, Geschirr, Holzstücke und Pelzdecken. Niemand sprach ein Wort. Die Luft war eisig und dünn. Jeder Atemzug schmerzte. Nottr blickte sich beunruhigt um. Dieser gewaltige Eisbruch flößte ihm Scheu ein. Es war eine unheimliche, völlig fremdartige Welt, in der jeder Schritt den Tod bedeuten konnte. Zu beiden Seiten verloren sich die schroffen Felswände im Nebel. Der Eisbruch war aus einer zusammengebrochenen Gletscherkaskade entstanden und bildete nun ein verwirrendes Labyrinth aus Spalten, Eistürmen, Schluchten und endlos tiefen Abgründen. Der Boden war trügerisch wie ein Moor. Immer wieder mußten sie tiefe Abgründe umgehen, deshalb kamen sie nur langsam vorwärts. Alle waren erleichtert, als der Eisbruch hinter ihnen lag. Vor ihnen erstreckte sich ein Gletscher, der sich im Nichts zu verlieren schien. Nebel fiel ein, es begann zu schneien, und ein eisiger Wind kam auf. Sie fanden hinter einem Gletschertisch Schutz, der wie eine Frostbeule aus dem Boden wuchs. Rasch breiteten sie Felle aus, und Sadagar entfachte ein Feuer. Olinga warf Eiszapfen in eine Tonschüssel und stellte sie auf das Feuer. Aravo holte aus seinem Sack Brotfladen und kaltes Fleisch, das sie in einer Pfanne aufwärmten. Dardo ließ eine Handvoll Teekräuter in das mittlerweile kochende Wasser fallen. Gestärkt und etwas vom heißen Tee erwärmt, marschierten sie weiter. Doch nach wenigen Schritten waren sie schon wieder erschöpft. Vor allem die dünne Luft und die schlechte Sicht machten ihnen zu schaffen. Der Schneefall wurde immer stärker, und jeder Schritt wurde zur Qual. Schließlich holte Aravo ein langes Lederseil hervor, das er 130
sich um den Leib schlang. »Haltet euch am Seil fest, und bleibt möglichst dicht hintereinander! Sollte jemand stürzen, dann soll sein Hintermann sofort laut schreien.« Für kurze Zeit wurde die Sicht besser. Und alle hielten gebannt den Atem an. Nie zuvor hatte Nottr etwas Ähnliches gesehen. Der Gletscher bot einen furchterregenden Anblick. Die Oberfläche war mit blaugrünen Spalten durchfurcht. Riesige Eisblöcke von der Größe eines Palastes zitterten im scharfen Wind, bereit, sich jeden Augenblick auf sie zu stürzen und sie zu zermalmen. Irgendwo donnerte eine Lawine talwärts, und der Boden bebte und knirschte. Wasserrauschen war unter ihren Füßen zu hören. Keuchend stapften sie weiter. Schneekristalle tanzten gespenstisch in der Luft, und ein durchdringendes Rauschen war zu hören. Das Eis stöhnte und krachte. Selten zuvor hatte sich Nottr unbehaglicher gefühlt. Trotz der Kälte schwitzte er, und es war nicht nur die Anstrengung, die ihm den Schweiß auf die Haut trieb. Nottr rutschte aus, ging in die Knie, klammerte sich stärker am Seil fest und stieß einen heiseren Schrei aus. Der Pelzfäustling war verrutscht, und er konnte das gefrorene Lederseil nicht richtig festhalten. Nottr fiel auf den Bauch, und seine Hand ließ das Seil los. Sofort rutschte er seitlich weg, und seine Talfahrt wurde immer rascher. Verzweifelt versuchte er sich irgendwo festzukrallen, doch es gelang ihm nicht. Er schoß über den Rand einer Spalte, wollte sich festhalten, doch wieder gelang es ihm nicht. Mit den Füßen prallte er auf der gegenüberliegenden Wand auf, wurde nach rechts herumgerissen, knallte gegen einen vereisten Felsvorsprung und fiel dann wie ein Stein in die Tiefe. Angstvoll schrie er auf und schlug wild mit den Beinen und Armen um sich. Doch sein Fall wurde durch eine Eisbrücke gestoppt. Benommen blieb er liegen. Kurze Zeit war er wie 131
gelähmt und zu keinem klaren Gedanken fähig. Er schüttelte langsam den Kopf und setzte sich vorsichtig auf. Es war so finster, daß er überhaupt nichts sehen konnte. Doch nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und als er den Kopf hob, glaubte er weit über sich einen hellen Schimmer zu erkennen; vermutlich war es die Spaltenöffnung. Nottr wagte sich kaum zu bewegen, da er befürchtete, daß der Spalt noch tiefer ging. Und dann endlich erinnerte er sich an sein Schwert und an Nadomirs Zauberwörter. Vorsichtig lehnte er sich an die Wand, zog das Schwert aus der Scheide und hob seinen Arm. »Karne!« rief er. Mit einem Zischen flammte die gekrümmte Klinge auf. Einen Augenblick war Nottr geblendet, da sich das glühende Schwert in den blaugrünen Schachtwänden spiegelte. Er schnappte nach Luft, als er seine Lage erkannte. Er hockte auf einer schmalen Eisbrücke, die den Spalt teilte. Doch zu beiden Seiten ging es hinab in eine unergründliche Finsternis. Der Spalt mußte äußerst tief sein. Durch die Hitze des glühenden Schwertes begann Wasser die Wände herunterzurinnen, und die Eisbrücke unter ihm begann unheilvoll zu knirschen und senkte sich eine Armlänge. »Usikate!« brüllte Nottr verzweifelt. Es blieb ihm keine andere Wahl, er durfte sich nicht bewegen. Selbst konnte er sich nicht retten, er mußte auf die Hilfe seiner Freunde warten. Doch es war fraglich, ob sie die Spalte finden würden. Die Zeit schien stehenzubleiben. Hoffnungsvoll blickte Nottr zur Öffnung, doch niemand ließ sich sehen. Es war unheimlich still, nur gelegentlich war das Knirschen der Eisbrücke zu hören, die sich unter der Last seines Körpers immer mehr durchbog. Verzweifelt suchte Nottr nach einem Ausweg. Doch sosehr 132
er auch grübelte, ihm fiel keine Rettungsmöglichkeit ein. »Olinga!« schrie er mit der vollen Kraft seiner Lungen. »Olinga!« Immer wieder rief er ihren Namen in der Hoffnung, daß er doch noch gehört werden würde. Dann glaubte er einen Schatten vor der Öffnung zu erkennen. »Olinga!« schrie er wieder. »Bist du es, Nottr?« vernahm er Sadagars Stimme, die seltsam dumpf klang. »Ja, ich bin es«, rief Nottr erleichtert. »Ich sitze auf einer Eisbrücke, die jeden Augenblick zusammenbrechen kann.« »Wie weit bist du von der Öffnung entfernt, Nottr?« »Das kann ich schwer beurteilen, aber ich schätze, daß es etwa dreißig Fuß sind.« »Halte aus, Nottr! Wir werfen dir das Seil hinunter.« Der Barbar kniete vorsichtig nieder, dann stand er unendlich langsam auf und verlagerte sein Gewicht. Die Eisbrücke kreischte protestierend. Sein Herz schlug wie verrückt, als er sich an die Wand preßte und das linke Bein einen Schritt zurücksetzte. Doch die Eisbrücke hielt noch. Ein brennendes Holzstück fiel in den Schacht, und die eisigen Wände glühten. Nottr streckte die rechte Hand aus und versuchte das Holzstück zu fangen, doch es glitt zwischen seinen steifen Fingern hindurch und fiel in die Tiefe. Noch lange konnte er den lodernden Punkt sehen, bis er dann endlich erlosch. »Ich habe dich gesehen, Nottr!« brüllte Sadagar. »Ich werfe dir nun das Seil hinunter. Schlinge es dir um den Leib. Ich hoffe, daß es lang genug sein wird.« Er versuchte das Seil zu erkennen, konnte es aber nicht sehen. »Das Seilende sollte bei dir sein, Nottr. Streck die Hand aus!« Das tat auch Nottr, doch sosehr er sich bemühte, er konnte das Seil nicht zu fassen bekommen. »Ich sehe das Seil nicht, 133
Sadagar. Wirf noch ein Holzstück herunter.« Das Holzstück fiel in die Tiefe. Nun konnte Nottr das Seil sehen, doch die Schlinge befand sich außerhalb seiner Reichweite. Das brennende Holzstück schlug auf der Eisbrücke auf und brannte weiter. »Ich kann die Schlinge nicht erreichen, Sadagar. Ihr müßt das Seil tiefer herunterlassen.« »Mehr als zwei Fuß tiefer können wir nicht gehen, denn sonst können nicht alle mit anpacken.« Undeutlich war die Schlinge zu sehen. Das Holzstück war am Erlöschen. Aber nun senkte sich das Seil langsam. Wieder hob Nottr den Arm. Ein Fuß trennte seine Fingerspitzen von der rettenden Schlinge. »Ein Stückchen tiefer, Sadagar!« »Das geht nicht mehr, Nottr. Du mußt springen.« Einen Augenblick schloß Nottr die Augen und sammelte seine Kräfte. Dann riß er die Augen auf und stierte die Schlinge an, die leicht hin und her schwankte. Er ging etwas in die Knie, dann noch tiefer, und die Eisbrücke knirschte und begann sich langsam zu senken. Mit voller Kraft schnellte sich Nottr hoch. Das Holzstückchen fiel den Schacht hinunter. Sein Herz blieb stehen, und seine Finger griffen ins Leere. Ein schauriger Schrei kam über seine Lippen, als er zurück auf die Eisbrücke fiel. Und in diesem Augenblick schloß sich die Schlinge um sein Handgelenk, fraß sich schmerzhaft in sein Fleisch und trieb ihm die Tränen in die Augen. Mit den Füßen stieß er gegen die Wand, und er spürte, wie sich das Seil straffte und er langsam hochgezogen wurde. Mit übermenschlicher Anstrengung winkelte er den rechten Arm ab und versuchte, die drehenden Bewegungen des Seils auszugleichen, was ihm schließlich auch gelang. Dann griff er 134
mit der linken Hand nach dem Seil, erwischte es und klammerte sich fest. Sein rechter Arm wurde gefühllos, Blut spritzte hervor, aber er achtete nicht auf die Schmerzen. Eisbrocken flogen ihm ins Gesicht, doch das bemerkte er nicht. Nun war es ihm gelungen, seinen rechten Arm zu entlasten, denn das Gewicht seines Körpers wurde nun von seinem angespannten linken Arm mitgetragen. Für Nottr war es eine Ewigkeit, bis er endlich die Spalte verlassen hatte. »Danke«, keuchte er, »danke.« Schwer atmend hockte er vor der Spaltenöffnung und rieb sich das schmerzende Handgelenk. Olinga setzte sich zu ihm. Er lächelte ein wenig verkrampft, als sie sanft sein Handgelenk zu massieren begann. »Wie habt ihr mich gefunden?« fragte Nottr keuchend. »Das war höchst einfach«, meinte Aravo. »Deine Schleifspur war im frisch gefallenen Schnee deutlich zu sehen.« »Ich hatte unwahrscheinliches Glück«, sagte Nottr leise. »Hätte die Eisbrücke nicht meinen Fall aufgehalten, dann wäre ich wohl schon tot.« Alle schwiegen. Nottr blickte in Olingas Gesicht, die den Blick gesenkt hatte, doch es entging ihm nicht, daß Tränen über ihre Wangen tropften. Sanft, mit einer unendlichen Zärtlichkeit, die niemand dem Barbaren zugetraut hätte, streckte er die linke Hand aus und wischte die Tränen fort. Das Glück blieb ihnen weiterhin treu, aber davon ahnten sie nichts. Nach wenigen Schritten änderte die Gletscheroberfläche ihren Charakter. Nun bestand sie aus kleinen, harten Querrippen, die ein waschbrettartiges Muster bildeten, auf denen die rauhen Fellsohlen Halt fanden. Diese Rippen schufen so eine gigantische Leiter, die ihnen den Aufstieg ermöglichte. Auf einmal wurde auch das Wetter besser. Ohne es zu wis135
sen, hatten sie eine unsichtbare Grenze überschritten. Der untere Teil des Gletschers war noch Niemandsland gewesen, doch nun waren sie in das Herrschaftsgebiet des Eisgottes eingedrungen, der jede ihrer Bewegungen genau verfolgte. Kurz danach erreichten sie eine Ebene, eine Eiswüste, aus der nur wenige Felsrippen ragten. »Es ist wenig sinnvoll, wenn wir weitergehen«, sagte Dardo. »Diese Ebene scheint endlos zu ein. Wir müssen uns einen Unterschlupf für die Nacht suchen. Vielleicht entdecken wir eine Höhle.« Und wieder hatten sie Glück. Nach kurzer Zeit entdeckte Olinga eine schmale Öffnung in der Felswand, die sich als Gang zu einer kleinen Höhle entpuppte. Schlagartig besserte sich ihre Laune. Alle waren zufrieden, einen windgeschützten Platz für die Nacht gefunden zu haben. Die Wände der Höhle waren feucht, doch das störte sie nicht. Wenig später brannte ein Feuer, das wohlige Wärme verbreitete. Alle hatten die Rucksäcke abgelegt und stapelten nun die Pelzdecken vor dem Feuer auf. Bald war es so warm, daß sie die äußere Garnitur ihrer Fellkleidung ablegen konnten. Der vollbärtige Dardo half Olinga bei der Zubereitung des Abendbrots, während Barko einen würzigen Tee kochte. »Warst du schon mal in dieser Gegend, Aravo?« erkundigte sich Sadagar neugierig. Der Hüne schüttelte den Kopf. »Keiner hat sich je bis hierher getraut. Der Gletscher hat alle abgeschreckt.« »Kein Wunder«, brummte Sadagar. »Der Aufstieg war fürchterlich. Ich habe zeitweilig geglaubt, daß wir es nicht schaffen würden. Hoffentlich kommen wir nun rascher vorwärts.« »Diese Ebene scheint leicht zu überwinden zu sein«, meinte Nottr. »Das kann täuschen. Wir wissen nicht, wie groß sie ist. Viel136
leicht ist es schon der Paß, den wir suchen. Ich bin auch sehr neugierig, ob an den alten Sagen etwas Wahres dran ist oder ob sie nur der Phantasie unserer Ahnen entsprungen sind.« »Hoffentlich sind es nur Phantasiegespinste«, flüsterte Sadagar. Wanto war fast verhungert. Er war so erschöpft wie nie zuvor, seine Hände waren blau gefroren, die Fingerspitzen blutig und aufgesprungen. Sein Gesicht war mit Frostbeulen bedeckt und sein Geist wirr. Schon lange hatte er es aufgegeben, Patta aus dem Eisgefängnis zu befreien. Seine Steinaxt war zerbrochen, und er hatte keine Möglichkeit, den Schaden zu beheben. Meist lag er in der Nähe des Eisblocks und döste vor sich hin und erwartete den Tod, der ihn bald holen mußte. Nur selten tauchte er aus seiner Gleichgültigkeit auf. Dann torkelte er wie ein Betrunkener auf Patta zu und versuchte mit ihr zu sprechen, doch seit einiger Zeit antwortete sie nicht mehr. Ihre Augen blieben geschlossen, vermutlich war sie tot. Der Himmel war grau, und Nebelfetzen hüllten die Berggipfel ein. Ein wütender Sturm heulte über das Plateau und trieb Schnee- und Eiswolken mit sich. Nur kurze Zeit stemmte er sich dem heulenden Sturm entgegen, der zum Orkan wurde und ihn einfach mitriß. Er wurde durch die Luft geschleudert, prallte einmal kurz auf dem harten Boden auf, wurde hochgerissen und vom Hurrikan mitgezerrt. Irgendwann verlor er das Bewußtsein. Als er erwachte, war der Sturm vorüber. Weinend hob er den Kopf. Sein Körper war unter einer dichten Schneedecke begraben. Schwankend stand er auf und stapfte ein paarmal hin und her, dabei schüttelte er den Schnee ab. Wimmernd vor Schmerzen, starrte er seine Hände an, die gelb und steif waren. Die Handrücken waren mit Blasen bedeckt, und die Finger konnte er nicht mehr abbiegen. 137
Mutlos blickte er sich um. Es war nun fast windstill, aber noch immer eisig kalt. Dann bemerkte er den dünnen Rauchfaden, der weit vor ihm in den Himmel stieg. Verständnislos stierte er ihn an, doch dann regte sich sein Geist. Wo Rauch ist, mußten Menschen sein. Plötzlich erwachte die erstorbene Hoffnung wieder in ihm. Er sammelte seine Kräfte und marschierte los. Wanto taumelte, gelegentlich stolperte er, und manchmal fiel er hin, doch stets rappelte er sich keuchend auf und wankte hoffnungsvoll weiter. Seine blutunterlaufenen Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt, und sein Atem kam in rasselnden, qualvollen Stößen. Er verlor jedes Zeitgefühl und wurde zu einer hirnlosen Puppe, die mit geschlossenen Augen weiterstapfte. Immer weiter. Er spürte die Kälte nicht mehr, die Schmerzen in den erfrorenen Beinen und Händen, das alles gab es nicht mehr. Nur sein Wille, der ihm selbst nicht mehr bewußt war, trieb ihn vorwärts. Seine Nasenflügel bebten, als er den Rauch roch. Dann knallte er mit der Stirn gegen die Felswand, wurde zurückgeschleudert und fiel auf Händen und Knien in den Schnee. Er schüttelte den Kopf hin und her. Der Rauchgeruch war ganz nahe, und er belebte seine Sinne. Unendlich langsam schlug er die Augen auf. Nur wenige Schritte von ihm entfernt quoll der Rauch aus einer Felswand hervor. Auf allen vieren kroch er auf die Öffnung zu. Er glaubte Stimmen zu hören, dann wurde es warm. Mit geschlossenen Augen kroch er weiter, immer weiter. Dann hörte er einen Schrei und wurde wieder einmal bewußtlos.
Dardo hatte zufällig zur Höhlenöffnung geblickt und im düsteren Schein des Feuers eine Bewegung gesehen. Sofort 138
stieß er einen Warnschrei aus. Nottr sprang hoch und riß das Schwert aus der Scheide. »Keine Angst«, sagte Barko, »unser Besucher ist harmlos.« Aravo und Dardo hoben den Bewußtlosen hoch und trugen ihn zum Feuer. Entsetzt blickten sie in das graue, entstellte Gesicht des Mannes, das mit Frostbeulen übersät war, die teilweise aufgeplatzt waren und stark wässerten. Olinga und Sadagar knieten neben ihm nieder. Die junge Karsh-Frau verstand sich auf die Heilkunst. Nach dem Tod Chwums, des Schamanen ihres Stammes, hätte sie seinen Platz einnehmen sollen, doch es war anders gekommen. »Dieser Mann hat nicht mehr lange zu leben«, sagte sie. »Wir können nur seine Schmerzen lindern. Oder siehst du eine Möglichkeit, ihn zu retten, Sadagar?« Der Steinmann schüttelte den Kopf. Auch er verstand sich ein wenig auf die Kunst des Heilens. Aber hier versagten seine Fähigkeiten; der Tod würde den Bewußtlosen bald von seinen Schmerzen erlösen. »Entkleidet ihn«, sagte Olinga und stand auf. Doch das war nicht so einfach, denn die Kleider waren steif gefroren und klebten an manchen Stellen an dem Fleisch. Olinga schüttete dampfenden Tee in einen Tonbecher, dann holte sie aus ihrem Ledersack ein Säckchen hervor, dem sie ein farbloses Pulver entnahm, das sie langsam in den Tee einrührte. Sie betteten den Sterbenden auf ein Fell, und Barko und Dardo massierten die eiskalten Anne und Beine. Der Mann stöhnte tief auf, dann bewegten sich seine Lider zuckend. Er schlug die Augen auf und stierte die Männer verständnislos an. Die Karsh-Frau hockte sich neben dem Mann nieder, legte ihre linke Hand unter seinen Kopf und hob ihn ein wenig 139
hoch. »Trink«, sagte sie und hielt den Becher an die aufgeplatzten Lippen. Gierig trank er. Doch sie flößte ihm den schmerzstillenden Tee nur schluckweise ein. »Danke«, flüsterte er, als der Becher leer war. Sie hüllten ihn in Felle. »Ich bin Wanto«, sagte er fast unhörbar. »Ich danke euch. Eure Götter werden es euch danken.« Sein Dialekt war ziemlich schwer zu verstehen. »Woher kommst du, Wanto?« fragte Sadagar. »Ich gehöre zum Stamm der Zythen«, antwortete Wanto stockend. »Unser Dorf liegt in einem Tal auf der Südseite des Okus, des Götterberges. Das Sprechen strengt mich an, ich…« Immer mehr Frostbeulen platzten auf. Olinga wischte die Wunden trocken und schmierte eine Salbe darauf. »Ich weiß, daß ich sterben muß«, krächzte er kurze Zeit später. »Ich muß euch warnen. Ihr habt das Land des Schweigens erreicht, in dem die Eisgötter hausen. Ich wurde hierhergetrieben. Ein Schneesturm, der mich und meine Gefährtin überraschte.« Er begann leise zu weinen. »Patta, meine Patta.« »Was weißt du über die Eisgötter?« fragte Aravo. »Nichts. Ich weiß nichts über sie, außer daß dieses Land hier verflucht ist. Eisgeister jagten mich, ein Drache entführte Patta, und dann fand ich sie wieder… Ich fand sie hier auf dieser Ebene… ja, ich habe sie gefunden. Sie…« Wanto bäumte sich auf. »Ich verbrenne«, sagte er gurgelnd. Olinga ließ ihn noch einen Becher Tee trinken. »Was ist mit deiner Gefährtin, Wanto?« Er starrte Nottr durchdringend an, dann wurde sein Blick trüb, und er schloß wieder die Augen. »Sie ist ganz nahe«, hauchte er fast unhörbar. »Gefangen in einem Eisblock. Vielleicht lebt sie noch. Versprecht mir, daß ihr sie befreien werdet.« Seine Stimme wurde lauter. »Ver140
sprecht es mir.« »Ja, wir versprechen es dir«, sagte Nottr feierlich. »Sie ist lebend in einem Eisblock eingesperrt worden. Hütet euch vor den Eisgöttern. Überall lauern Gefahren. Arme wachsen aus den Wänden und…« Ermattet schwieg er. Sein Gesicht war nun feuerrot geworden, und Schweiß strömte über seine Stirn. Sein Atem kam rasselnd und unregelmäßig. »Die Sagen sind wahr«, flüsterte er. »Hier wimmelt es von Ungeheuern, die dem Eisgott dienen. Ich warne euch…« Sein Mund verkrampfte sich, und seine Lider begannen zu zucken, dann krampfte sich sein Körper nochmals zusammen, streckte sich und lag ruhig. »Er ist tot«, sagte Olinga leise. »Möge seine Seele zu seinen Göttern finden«, sagte Aravo mit bebender Stimme. Dann schwiegen alle und versuchten, das eben Gehörte zu verarbeiten. Sie hüllten Wanto in seine Kleider, trugen ihn aus der Höhle und legten ihn nieder. Es war noch immer hell, ein leichter Wind strich über die Ebene, und der Schnee kam in sanften Wellen auf sie zu. Ein leises Heulen lag in der Luft, das wie das Wehgeschrei verdammter Seelen klang. »Ich werde mich ein wenig umsehen«, meinte Nottr. »Wer kommt mit?« Alle meldeten sich. »Aravo kommt mit«, sagte Nottr. »Die anderen gehen zurück in die Höhle.« Widerspruchslos folgten sie seinen Anordnungen. Nottr und Aravo stapften schweigend durch den Schnee. Keiner der beiden hatte Lust auf eine Unterhaltung, jeder hing seinen Gedanken nach. 141
Nottr versuchte sich über die Worte Wantos klarzuwerden. Der Mann hatte Fürchterliches durchgemacht, und vielleicht war er verrückt geworden. Vielleicht hatte er nur seine Alpträume wiedergegeben, die er für die Wirklichkeit gehalten hatte. Die Ebene sah harmlos aus. Weit und breit war keine Erhebung zu sehen. Nur weit im Hintergrund glaubte Nottr Felswände zu erkennen. Von den Schrecken, von denen Wanto erzählt hatte, war nichts zu bemerken. Schließlich blieb Nottr mißmutig stehen. »Gehen wir zurück«, brummte er. »Warte«, sagte Aravo rasch und lief ein paar Schritte vorwärts, dann blieb er stehen und kniff die Augen zusammen. »Hast du etwas entdeckt?« »Ich glaube schon. Sieh selbst, Nottr!« Der Grude streckte den rechten Arm aus, und Nottr blickte in die Richtung, in die sein Zeigefinger zeigte. Irgend etwas Glänzendes war zu sehen. »Nun gut, ich habe es auch gesehen«, sagte Nottr. »Sehen wir uns an, was es ist?« Nottr nickte grimmig. »Ob das der Eisblock ist, von dem Wanto gesprochen hat?« »Wir werden sehen.« Der Wind wurde stärker. Für einen kurzen Augenblick riß die graue Wolkendecke auf, und ein breit gefächerter Sonnenstrahl brachte die Eiswüste zum Glitzern. Als sich die Wolken wieder schlossen, sahen sie das blaue Funkeln und erblickten den quaderförmigen Eisblock. Sie gingen rascher, und der harte Schnee knirschte unter ihren Füßen. Dann begannen sie unwillkürlich zu laufen, und sie verlangsamten ihre Schritte erst, als sie Einzelheiten erkennen konnten. »Im Eisblock ist tatsächlich jemand gefangen«, sagte Aravo 142
erstaunt. »Es ist eine schwarzhaarige Frau«, stellte Nottr sachlich fest. »Sie wendet uns den Rücken zu.« Unentschlossen blieben sie stehen, starrten sich an und warfen dann gleichzeitig einen Blick auf den Eisblock. »Wir werden sie befreien!« sagte Nottr grimmig und zog das Schwert. Der Barbar lief los und Aravo folgte ihm. Sie umrundeten den funkelnden Block, und Furcht und Grauen schlichen in ihre Herzen. Nottr räusperte sich. »Kannst du mich hören, Patta?« Die junge Frau schien im Eisblock zu schweben. Sie stand kerzengerade da, die Beine hatte sie zusammengepreßt und die Arme eng an den Körper gelegt. Das pechschwarze Haar fiel in weichen Wellen über ihre Brust und hüllte ihren Körper ein. Ihr Gesicht war entspannt, der Mund und die Augen geschlossen. »Sie ist tot«, murmelte Aravo. Nottr hob das Schwert hoch und rannte auf den Eisblock zu; dann ließ er die Klinge niederkrachen. Der Schlag war so kraftvoll gewesen, daß es Nottr das Schwert aus der Hand riß. Fluchend bückte er sich und hob es auf, dann sah er sich den Eisblock näher an. Sein Hieb war wirkungslos gewesen, denn die scharfe Klinge hatte das Eis nicht einmal zerkratzt. »Es ist sinnlos, Wanto«, hörten sie die junge Frau sprechen. Überrascht traten sie ein paar Schritte zurück. »Kannst du mich hören, Patta?« »Ja, ich höre dich«, wisperte das, Mädchen. Ihre Lippen bewegten sich leicht. »Aber du bist nicht Wanto. Ich bin so schwach, daß ich nicht einmal die Augen öffnen kann.« »Wanto hat uns geschickt, Patta. Wir werden dich befreien.« »Ihr kommt zu spät, wer immer ihr seid. Ich spüre, daß ich sterbe. Alle Kraft ist meinem Körper entwichen. Ich danke euch dafür, daß ihr mich retten wollt, aber es ist sinnlos.« 143
»Verliere nicht den Mut, Mädchen!« knurrte Nottr und blickte seine Waffe durchdringend an. »Ich rette dich.« Er trat zwei Schritte vor, dabei streckte er das Schwert aus, dessen Spitze nun die glatte Eisfläche oberhalb Pattas Kopf berührte. »Erschrick nicht, Aravo«, sagte Nottr. »Meine Waffe wird gleich zu glühen beginnen. Karne!« Zischend flammte die Klinge auf. Sie fraß sich wie durch Butter hindurch. Wasserfontänen stiegen kochend heiß in den Himmel. Nottr lachte grimmig, als der Eisblock überall Risse bekam. »Schlag mit deiner Axt zu, Aravo!« Das ließ sich der Wilde nicht zweimal sagen. Der Block erbebte unter seinen kraftvollen Hieben. Krachend sprangen armdicke Eisbrocken ab, und der Block war in zischendes, dampfendes Wasser gehüllt. »Halte einen Augenblick inne, Aravo!« Nottr zog das Schwert zurück. Er hatte Angst, daß er die junge Frau verletzen könnte. Endlich verflüchtigte sich der Wasserdampf. Der Eisblock war völlig verformt, doch die junge Frau war nur mehr schemenhaft zu sehen, denn das Eis war milchig und brüchig geworden. »Ich werde eine Rille in das Eis graben, Aravo, und du schlägst mit der Axt hinein.« Wieder zischte Wasserdampf hoch, als Nottr die Klingenspitze ansetzte und vorsichtig, um nicht zu tief ins Eis zu schneiden, eine handtiefe Furche in das Eis zog. Dann ging er um den Block herum, und während er auf der Rückseite eine weitere Rille ins Eis brannte, schlug Aravo auf die Vorderseite mit der Axt ein. Das Eis knirschte und krachte. Aravo schlug immer größere Stücke aus dem Block heraus. Ein weiterer Hieb, und der Block fiel in sich zusammen. Mannsgroße Eis144
stücke flogen durch die Luft. »Das haben wir geschafft«, sagte Nottr zufrieden. Die junge Frau stand inmitten der Eistrümmer. Nur eine dünne, glitzernde Eisschicht bedeckte ihren nackten Körper. Breit grinsend schob Nottr das Krummschwert in die Scheide und ging schnell auf die Frau zu. Entsetzt sprang er zurück, als er ein irres Lachen hörte, das von ihr kam, ohne daß sie die Lippen bewegte. Patta schwankte hin und her, dann kippte sie nach rechts und prallte gegen ein Eisstück. Die dünne Eisschicht, die sie umhüllte, bekam Sprünge und barst in tausend Stücke. Für einen kurzen Moment schien Leben in sie zu kommen. Sie riß die Augen auf, hob die Arme flehend hoch. Nottr sprang herbei und versuchte, Patta aufzufangen, doch er kam zu spät. Sie schlug mit dem Hinterkopf auf einen Eisbrocken auf. Der Kopf zersprang, als sei er aus Glas. Knirschend brach der Körper in der Hüftgegend auseinander, die Beine und Arme zersplitterten. Nottr und Aravo standen wie versteinert da. Endlich faßte Nottr Mut, bückte sich und griff nach der rechten Hand, die eiskalt war. Er hob sie hoch. »Das ist keine Menschenhand«, sagte er. »Sie ist aus Eis. Die Frauengestalt war nur ein Trugbild!« Die Eishand bewegte sich langsam. Die Finger krümmten sich zusammen, der Daumen verwandelte sich in einen Mund, der sich weit öffnete und aus dem das irre Lachen ertönte, das sie schon vorher gehört hatten. Nottr ließ die Eishand fallen, die aber nicht zu Boden fiel, sondern in der Luft schwebte. Die Finger bewegten sich noch immer. »Das ist Zauberei!« stammelte Nottr und wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. 145
Die Hand flog auf ihn zu. Er riß das Schwert hervor und versuchte die Hand zu erwischen, doch geschickt wich sie seinen wilden Schlägen aus. Das durchdringende Lachen wurde immer lauter. »Laß uns diese Stätte des Grauens verlassen, Nottr!« brüllte Aravo. Sie raste wieder auf Nottr zu, der die Lippen zusammengepreßt hatte und die Hand nicht aus den Augen ließ. Blitzschnell schlug er zu, und diesmal erwischte er sie. Die Eishand zerplatzte, und das wahnsinnige Lachen verstummte. Nun gab es für die beiden kein Halten mehr. Als würden die abscheulichsten Dämonen sie verfolgen, rasten sie über die Ebene auf die schützende Höhle zu. Atemlos schlüpften sie aus ihren Oberkleidern und ließen sich vor das Feuer fallen. Deutlich war der vergangene Schrecken noch in ihren Gesichtern zu lesen. Ihre Augen waren matt und starr, wie nach innen gekehrt. Nach und nach beruhigten sie sich und gaben stockend Antwort auf die bohrenden Fragen. Und je mehr sie berichteten, um so besorgter wurden die Blicke ihrer Zuhörer. Als sie schwiegen, wurde ihnen die Stille in der Höhle bewußt, und sie rückten näher zusammen, um die Furcht zu vertreiben, die nach ihren Herzen griff. In dieser Nacht schliefen sie nur wenig.
Brummend richtete sich Nottr auf und blinzelte verschlafen ins Feuer. »Es wird bald Tag«, sagte Sadagar und schürte das Feuer. Die anderen waren alle schon auf. Aravo und Dardo packten ihre Rucksäcke. Olinga reichte ihm einen Becher Tee und schob ihm einen Teller zu, auf dem Bratenstücke und Dörrobst lagen. 146
Nottr gähnte durchdringend, dann rieb er sich den Schlaf aus den Augen und damit hatte er auch schon die Morgentoilette beendet. Der heiße Tee weckte seine Lebensgeister und seinen Hunger. Gierig schlang er das Essen hinunter, stand auf und streckte sich. Gebückt schlich er auf die Höhlenöffnung zu, kniete nieder und blickte hinaus. Ein bleigrauer Morgen dämmerte herauf. Ein geheimnisvolles Licht lag über der Landschaft, die ganz anders war, als er sie in Erinnerung hatte. Verwirrt kroch er durch die Öffnung ins Freie und richtete sich auf. Als erstes fiel ihm auf, daß der Tote verschwunden war. Im Schnee sah er Fußspuren, die dreimal so groß wie die eines großen Mannes waren. Ein wenig erinnerten ihn die Abdrücke an Bärentatzen. Die Spuren führten auf die Höhle zu und dann wieder zurück in die Alptraumlandschaft, die nun langsam deutlicher sichtbar wurde und die mit der einsamen Eiswüste von gestern keine Ähnlichkeit mehr hatte. Blumen, die mannsgroß waren, wuchsen aus dem schneebedeckten Boden. Sie waren aus Eis, und sie bewegten sich knarrend im sanften Morgenwind. Dahinter erhob sich ein undurchdringlich scheinender Dschungel aus Eisbäumen, und dazwischen huschten wolfsähnliche, durchsichtige Geschöpfe hin und her, die klagende Laute ausstießen. »Das ist doch nicht möglich«, flüsterte Nottr. Entsetzt duckte er sich, als einige der Pflanzen plötzlich auf ihn zukamen und mit ihren Blüten seltsam nickten. Panikartig kehrte er in die Höhle zurück. »Die Eisebene hat sich verändert«, sagte er, nach Atem ringend. »Da gibt es Blumen, einen Wald, und alles ist aus Eis. Ich kann es nicht richtig beschreiben, schaut selbst nach.« Sadagar stürmte auf die Öffnung zu, blieb aber abrupt stehen, als sich ein armdicker, schlangenartiger Eiszapfen in die 147
Höhle drängte und sich aufstellte und die Spitze wie einen Schlangenkopf hin und her wiegte. Bevor Nottr noch sein Schwert gezogen hatte, war schon Aravo auf den Beinen, der auf das Eisgebilde mit seiner Axt losging und es mit einem Hieb zerschmetterte. »Da scheint uns heute noch einiges bevorzustehen«, knurrte er und schleuderte die Eisstücke mit einem Fußtritt aus der Höhle. Er bückte sich und blickte hinaus. »Nottr hat richtig gesehen, vor der Höhle stehen einige Eisblumen, die so groß wie ich sind!« »Die Biester scheinen uns nicht gut gesinnt zu sein«, stellte Sadagar sachlich fest. »Was tun wir?« »Wir könnten uns in der Höhle verschanzen«, sagte Dardo nachdenklich, »aber das wäre auch keine Lösung. Irgendwann gehen unsere Lebensmittelvorräte zu Ende, und dann müssen wir uns den Eisgeschöpfen stellen.« »Richtig«, sagte Aravo nickend. »Daher bleibt uns nur eine Möglichkeit: hinausgehen und uns zum Kampf stellen!« Kurze Zeit später waren sie marschbereit. »Ich gehe voraus«, sagte Nottr. »Haltet euch unbedingt hinter mir! Mit meinem flammenden Schwert kann ich die Eismonster am leichtesten vernichten. Keinesfalls dürfen wir uns von den Geschöpfen auseinandertreiben lassen. Nur vereint können wir überleben.« Der Barbar warf Olinga einen Blick zu, die ihm aufmunternd zulächelte, dann zog er das Krummschwert und ließ die Klinge glühen. Sein Schritt war fest und entschlossen, als er ins Freie trat und auf die Eisblumen zuging, die vor dem weißglühenden Schwert zurückwichen. »Das Feuer schreckt sie ab«, lachte Nottr. Zu beiden Seiten wichen die bizarr geformten Eisblumen zurück und gaben so eine schmale Gasse frei, die genau auf den 148
Eiswald zuführte. Nun hielt sich aber Nottr nach links, da er dem Eisdschungel ausweichen wollte. Sein Vorhaben schien zu gelingen, doch kurz danach klafften plötzlich tiefe Spalten im Boden, die sie nicht überspringen konnten. Und diese Abgründe verliefen so, daß sie wieder in Richtung Eiswald marschieren mußten. Das alles war so unheimlich für Nottr, daß ihm kalte Schauer über den Rücken rannen. Wieder tat sich laut krachend vor ihm ein Abgrund auf, der bis zum Mittelpunkt der Welt zu reichen schien. Wütend knurrend ging er weiter nach rechts. Die glitzernden Bäume kamen immer näher. Und nun konnte er auch die herumlaufenden Geschöpfe besser erkennen. Sie sahen tatsächlich wie riesige Wölfe aus, die heisere Schreie ausstießen und sie aus starren Augen bösartig musterten. Der Himmel änderte rasch die Farbe. Das Grau verschwand und machte einem strahlenden Blau Platz. Geblendet schloß Nottr die Augen, als die Sonnenstrahlen den Eiswald zum Funkeln brachten. Er blinzelte, wandte den Kopf ab und sah nun die Gipfel der schneebedeckten Götterberge. »Das sieht alles sehr eindrucksvoll aus«, bekannte Sadagar leise. »Und sehr bedrohlich«, meinte Olinga, die neben Nottr stehenblieb. »Haltet die Waffen bereit!« sagte Nottr. »Wir werden versuchen, den Wald zu durchqueren.« Zielstrebig stapfte der Barbar auf den Eiswald zu; dabei schwang er das glühende Schwert und stieß einen Kampfschrei aus. Die Bäume, die anscheinend fest mit dem Boden verbunden waren, konnten nicht ausweichen. Die Stämme krümmten sich zusammen, und die Äste peitschten den Boden, rollten sich wie die Zungen von Eidechsen zusammen, um dann blitzartig vorzuschnellen. 149
Nottr schlug einige der Äste ab, doch nach wenigen Schritten blieb er stehen, denn ihm wurde bewußt, daß es zu schwierig war, diesen magischen Wald zu durchqueren. Die Bäume standen zu dicht, und es war unmöglich, alle Äste abzuschlagen. Irgendwann würde ihn einer der Eisäste treffen und niederschlagen. Das wäre dann das Ende für alle. Doch bevor er noch zu einer Entscheidung gelangen konnte, hörte er hinter sich wilde Schreie. Als er sich umdrehte, sah er Olinga, Sadagar und Dardo in einer Spalte verschwinden. Sofort rannte er hin, doch vor seinen Augen schloß sich die Spalte mit einem durchdringenden Grollen. Nottr schrie vor Wut und Angst um Olinga und seine Freunde und rammte das flammende Schwert in die Eisschicht, doch nur Dampfwolken stiegen zischend hoch. »Das Eis hat sie verschlungen«, stammelte Barko. »Dardo, mein Bruder.« Nottr tobte wie ein Wahnsinniger, sein Gesicht war zu einer erschreckenden Fratze geworden. Immer wieder drosch er mit dem Schwert auf den Boden, doch seine Bemühungen waren sinnlos. »Beherrsche dich, mein Freund!« sagte Aravo. »Ich kann deinen Schmerz verstehen, aber deine Wut hilft uns nicht weiter.« Der Barbar knurrte wie ein Raubtier. Nie zuvor in seinem Leben war er so wütend gewesen. Seine Augen schienen Blitze zu versprühen. Einige der wolfsähnlichen Geschöpfe liefen auf die Gruppe zu. »Achtung, Nottr!« schrie Barko. »Die Bestien greifen uns an!« Nottr wirbelte herum, blieb breitbeinig mit gesenktem Kopf stehen und starrte die Untiere bösartig an. Die schmalen, durchsichtigen Leiber funkelten in der Sonne. »Kommt nur«, fauchte Nottr, der den Schwertknauf so fest umklammerte, daß seine Hand weiß geworden war. 150
Zwei der Eisgeschöpfe sprangen ihn gleichzeitig an. Nottr wich nicht einen Schritt zurück, sein Auge war sicher. Sein Schwertarm bewegte sich in einer gleichmäßigen, fließenden Bewegung. Dem ersten Geschöpf schlug er den Schädel ab, und das zweite spaltete er in zwei Hälften. Dieser Kampf war ganz nach seinem Geschmack. Jetzt konnte er seine aufgestaute Wut entladen. Er war so kampfgierig, daß er den Angriff der anderen Geschöpfe nicht erwartete, sondern ihnen tollkühn entgegenlief. Links und rechts schlug er zu. Sein Arm bewegte sich so rasch, daß ihm das Auge nicht folgen konnte. Der Kampf mit den Bestien war unheimlich, denn er war völlig geräuschlos. Kein Laut kam aus den wolfsähnlichen Schnauzen, die weit aufgerissen waren und spitze Zähne entblößten. Todesmutig stürzten sie sich Nottr entgegen, doch sein glühendes Schwert schlug sie in Stücke und brachte ihre Leiber zum Schmelzen. Schwer atmend senkte Nottr endlich das Schwert, als alle Eismonstren zerschlagen waren. »Was nun?« fragte Aravo. »Wir müssen unsere Freunde suchen«, antwortete Nottr. »Ich bin sicher, daß sie noch am Leben sind. Und ich brenne danach, endlich dem Eisgott gegenüberzutreten. Mein Schwert wird ihn vernichten!« »Gut gesprochen, mein tapferer Freund«, brummte Barko. »Aber verrate mir, wo du den Eisgott finden willst!« Nottr knirschte mit den Zähnen, dann blickte er sich um. »Vermutlich haust er irgendwo tief unter der Erde. Wir müssen einen Zugang finden.« Wenige Schritte von ihnen entfernt bekam der Eisboden Risse, und knarrend tat sich ein Abgrund auf. Vorsichtig trat Nottr näher, dann sprang er zurück. Der Abgrund fiel senkrecht in die Tiefe ab. »Ich bin ziemlich sicher, daß uns der Eisgott oder wer nun 151
immer über dieses Eisland herrscht, ständig beobachtet«, sagte Aravo nachdenklich. »In den alten Sagen wird von den tausend Augen der Eisgötter gesprochen.« »Der Eisgott spielt mit uns«, flüsterte Barko. »Er will uns leiden sehen. Wir sind nichts anderes als ein Spielzeug für ihn.« »Hörst du mich, verdammter Eisgott?« brüllte Nottr und riß sein Schwert hoch. »Hörst du mich?« Die Schachtöffnung bekam plötzlich Risse, und große Eisbrocken brachen ab, die donnernd in die Tiefe stürzten. Immer größer wurde die Öffnung, und sie mußten zurückweichen. Der Schacht erweiterte sich, und die Eisoberfläche zerriß an unzähligen Stellen und sah nun wie ein gigantisches Spinnennetz aus. Überall war die Eiswüste in Bewegung geraten. Nun zog sich ein tiefer Spalt bis zum Eisdschungel hin. Die Bäume fielen in sich zusammen und wurden vom immer größer und tiefer werdenden Spalt geschluckt. Verzweifelt blickte sich Nottr um. Doch es gab keinen Fluchtweg. Sie standen auf einem abgeflachten, kegelartigen Berggipfel, der sich rasch senkte. Überall waren nun glatte Eiswände zu sehen, die blaugrün leuchteten. »Wir sind verloren«, flüsterte Aravo. Die kegelartige Eissäule, auf der sie standen, sank immer rascher in die Tiefe. Es wurde dunkel, und weit über ihnen wuchsen gewaltige Eisstreben aus den Wänden und verbanden sich. Damit war die Eisdecke wieder geschlossen, und undurchdringliche Dunkelheit war um sie. Nur das flammende Schwert brachte die Schachtwände zum Gleißen, die nun zum Greifen nahe waren. Dann kam die Eissäule zum Stillstand. Ein Lachen war zu hören, das immer lauter und spöttischer wurde. Die Wände warfen Blasen, und unzählige Münder bildeten sich. Das höhnische Lachen kam von allen Richtungen, und die Lippen bewegten sich rascher. Dann brach das Lachen ab, und die folgende Stille war fast schmerzhaft. Die Münder 152
verschwanden, und zwei Herzschläge später waren riesige, leblose Fischaugen zu sehen, die sie unbarmherzig musterten. Zehn Pulsschläge später verwandelten sich die Augen in seltsam verkrüppelte Menschenohren. »Ich werde verrückt«, keuchte Barko. Aravo stöhnte leise auf, und Nottr hielt den Atem an. Die Wände waren nun wieder völlig glatt. »Meine Freunde!« klang eine zischende Stimme aus dem Nichts. »Ich begrüße euch herzlich in meinem Reich. Seid mir willkommen, die ihr ein wenig Abwechslung in mein langweiliges Leben bringt. Wir werden noch viel Spaß miteinander haben, meine lieben Freunde.« »Wer bist du?« fragte Nottr mit zittriger Stimme. »Ukko!« »Der Eisgott«, sagte Aravo fast unhörbar. »Ja, ich bin der Eisgott«, sagte die zischende Stimme. »Ich wünsche euch einen langen, qualvollen Tod!« Die zischende Stimme schlug in irres Lachen über.
Eben noch hatten sie den gefrorenen Boden unter ihren Füßen gespürt und den unheimlichen Eiswald gesehen, als sich völlig lautlos ein Loch auftat, das sie verschlang. Olinga stieß einen Schreckensschrei aus, als sie in die Tiefe fiel. Sie prallte auf einer schrägen Eiswand auf, rutschte sie hinunter und wurde danach auf einen tunnelartigen Schacht zugetrieben. Es wurde dunkel um sie, und nur das Geräusch ihres über das Eis rutschenden Körpers war zu vernehmen. Olinga zitterte vor Angst, denn jeden Augenblick befürchtete sie, daß ein Hindernis ihre Schußfahrt aufhalten würde. Kopfüber schoß sie den schwarzen Tunnel hinunter. Sie preßte die Hände vors Gesicht und flehte zu allen Göttern, die sie kannte. Mit den Beinen versuchte sie die rasende Fahrt zu bremsen, 153
doch der Tunnel war zu glatt und fiel zu steil in die Tiefe ab. »Ist da jemand?« fragte sie verzweifelt, doch nur ein gespenstisch verzerrtes Echo antwortete. Sie wußte nicht, wer von ihren Gefährten noch in den Schacht gerissen worden war. Es war alles so blitzschnell gegangen, aber sie glaubte einen kurzen Moment, Sadagar gesehen zu haben, der neben ihr in den Abgrund gefallen war. Die Schußfahrt schien nun langsamer zu werden. Der Tunnel verlief nun fast waagrecht und stieg dann ein wenig an. Weit vor sich sah sie einen Lichtschimmer, und kurze Zeit danach konnte sie mehr erkennen. Der Tunnel war rund und niedrig. Das Licht wurde heller, und dann schoß sie durch eine Öffnung und landete in einem riesigen Eisgewölbe. Ihre Fahrt war zu Ende. Olinga setzte sich auf und blickte sich rasch um. Das Licht kam von der Decke, doch sie konnte die Lichtquelle nicht entdecken. In einer Wand waren etwa ein Dutzend Löcher zu sehen, und durch eines dieser Löcher war sie in die gewölbeartige Eishöhle geschleudert worden. Als sie aufstand, flog Sadagar auf sie zu, blieb vor ihren Füßen liegen und rappelte sich keuchend auf. »Bist du verletzt, Olinga?« »Nein, und du?« »Meine Knochen scheinen heil zu sein. Wie bist du…?« Nun wurde Dardo in die Höhle geschleudert. Er bewegte sich nicht, und Sadagar und Olinga eilten besorgt auf ihn zu. Sie wälzten ihn auf den Rücken. »Er lebt«, sagte Olinga. »Vermutlich ist er mit dem Kopf irgendwo angestoßen. Er ist nur bewußtlos.« »Wo sind die anderen?« fragte Sadagar und musterte die Öffnung in der Wand. »Vielleicht kommen sie noch.« Dardo schlug stöhnend die Augen auf. »Wo sind wir da ge154
landet?« fragte er und preßte beide Hände an die Stirn. »Das möchte ich auch gern wissen«, brummte Sadagar. »Sehen wir uns mal die Höhle näher an.« »Warten wir lieber noch ein wenig. Vielleicht kommen die anderen doch noch.« Hoffnungsvoll blickte Olinga zu den Öffnungen. »Das glaube ich nicht. Sie wären schon längst hier. Wahrscheinlich wurden sie nicht mit in die Tiefe gerissen.« »Dann stehen sie noch oben und kämpfen gegen die Eisbestien«, sagte Olinga tonlos. Ihre Angst um Nottr wuchs. »Keine Sorge, Olinga. Nottr kann sich selbst schützen.« Olinga preßte die vollen Lippen zusammen, nickte langsam und drängte die Gedanken an Nottr zurück. Bedächtig schritten sie auf die nächstliegende Wand zu, die – wie nicht anders erwartet – aus Eis bestand. Nischen und niedrige Gänge waren zu sehen. »Was nun?« fragte Dardo. Klirrende Schritte näherten sich. Sie drehten sich um, und Sadagar riß sofort eines der Wurfmesser hervor. Ein alptraumhaftes Geschöpf taumelte näher. Es war doppelt mannshoch und wirkte wie das Zerrbild eines Menschen. Die riesigen Beine waren wie zwei dicke Baumstämme, der Rumpf gedrungen, und der kleine Kopf wies nur eine lippenlose Öffnung auf. Aus den Schultern wuchsen etwa ein Dutzend tentakelartige Arme hervor, die in zehnfingrigen Händen endeten. Der Körper des Monsters bestand aus schillerndem Eis. »Es kommt auf uns zu!« schrie Olinga entsetzt. Sadagar brachte sein Messer zum Glühen, dann zielte er, und das lodernde Messer raste auf das Monstrum zu, das gar nicht den Versuch unternahm, der heranfliegenden Waffe auszuweichen. Der Steinmann hatte gut getroffen. Die glühende Messerspitze blieb in der Mundöffnung stecken und fraß sich gierig tiefer 155
in den Eiskopf hinein. Der Schädel schmolz unter der gewaltigen Hitze. Nun glitt das Messer in den Leib hinein. Risse durchzogen den Körper, und das Eismonstrum wurde vom glühenden Messer in zwei Hälften geteilt, die schwer auf dem Boden aufschlugen und mit einem lauten Knall zersprangen. Grinsend hob Sadagar das Messer auf, aber das Grinsen erstarb, als weitere Eiswesen in die Höhle strömten. »Da bleibt uns nur die Flucht«, sagte Sadagar. »Hier, nimm mein Messer, Olinga!« Er reichte ihr das Hitze ausströmende Messer, dann zog er ein weiteres aus dem Gürtel, brachte es zum Glühen und gab es an Dardo weiter. »Sollte es zu glühen aufhören, dann braucht ihr nur Usikate zu sagen.« Nun nahm Sadagar in jede Hand ein Messer. »Karne!« rief er. Die Dolche glühten. Eines der Monstren hatte sich bis auf etwa zwanzig Fuß genähert. Sadagar schleuderte ein Messer nach ihm, und wieder traf er den Kopf. Die anderen Monstren schenkten ihrem schmelzenden Artgenossen keine Beachtung. Sie stapften an ihm vorbei; eines blieb stehen, und vor seinem Mund hing plötzlich eine faustgroße Wolke, die rasch größer wurde. Das unheimliche Geschöpf wandte den Kopf Sadagar zu, und dann schoß ein eisiger Strahl auf den Steinmann zu, der zurücksprang. Aber der eisige Hauch hatte ihn gestreift und augenblicklich seine Beine gelähmt. »Ich kann mich nicht bewegen!« schrie er und warf das zweite Messer, bevor ihn ein weiterer Eishauch treffen konnte. »Flieht!« Olinga zögerte noch, doch da stapften drei Monstren heran. Mit Mühe konnte sie einer Eiswolke ausweichen, die auf sie zuraste. Sie lief auf den nächsten Gang zu, verschwand darin, 156
blieb stehen und sah zurück. Dardo folgte ihr, doch eines der Monstren setzte ihm nach. Der eisige Strahl griff nach ihm, hüllte ihn ein und überzog seinen Körper mit einer dünnen Eisschicht. Nur sein Kopf war eisfrei geblieben. »Ich bin gelähmt!« schrie Dardo. »Lauf, Olinga! Lauf um dein Leben!« Die tentakelartigen Arme griffen nach Sadagar, hoben ihn hoch, und dann war der Steinmann für Olinga nicht mehr zu sehen. Olinga konnte den beiden nicht helfen. Sie rannte nun in den Gang hinein, der nach wenigen Schritten höher und breiter wurde. Armdicke Eiszapfen hingen von der Decke. Das glühende Messer war ihr eine große Hilfe, denn an vielen Stellen wuchsen die Eiszapfen so dicht nebeneinander, daß sie nicht hindurchschlüpfen konnte, ohne sie abzusägen. Dann lag eine riesige Höhle vor ihr. Olinga schrie, als sie die durchsichtigen Eisblöcke sah, in denen sich grauenvolle Ungeheuer befanden. Und diese abstoßenden Kreaturen schienen in den Eisgefängnissen zu leben! Sie hörte unmenschliche Schreie, Fauchen und Knurren, als sie mit hämmerndem Puls an den Blöcken vorbeirannte. Sie wagte nicht, nach links und rechts zu sehen. Es genügte ihr, was sie aus den Augenwinkeln sehen konnte. Endlich war sie an den Alptraumgeschöpfen vorbei, und sie rannte auf eine schmale Öffnung zu, als sie mit einem Schreckensschrei stehenblieb. Eine riesige graue Gestalt trat aus der Öffnung. Der mit einem dichten Pelz bewachsene Kopf war rund und das Gesicht menschenähnlich, während der Körper mit den gedrungenen Beinen und den mächtigen Armen bärenartig wirkte. Olinga sprang einen Schritt zurück und umklammerte stärker das glühende Messer. 157
»Wirf Messer fort, Frau!« sagte der Schneemensch. Olinga zögerte. Als sie hinter sich kratzende Geräusche hörte, wandte sie den Kopf. Drei Schneemenschen standen hinter ihr. »Du keine Möglichkeit haben zu flüchten«, radebrechte der Kerl vor ihr. »Laß Messer fallen!« Die Karsh-Frau wußte, wann sie geschlagen war. Wütend warf Olinga das Messer zu Boden. Es zischte, und Dampf stieg auf, dann fraß sich das Messer in den Eisboden und verschwand. Kurze Zeit danach hörten auch die Dampfwolken auf, die aus der Öffnung gedrungen waren. »Mitkommen, Frau!« Jede Hoffnung war in Olinga erstorben. Wortlos folgte sie dem grauen Riesen.
Sadagar konnte lediglich den linken Arm und den Kopf bewegen. Sein Körper und die anderen Gliedmaßen steckten unter einer dicken Eisschicht. Eines der Monstren trug ihn durch endlose Gänge und wild verzweigte Höhlenlabyrinthe. Meist konnte er kaum etwas erkennen, da es dunkel war, doch das Monstrum fand seinen Weg auch in der Finsternis. Der Steinmann klopfte gegen die Eisschicht, die seinen Körper einhüllte. Sie war kalt, und er erwartete eigentlich, daß er erfrieren würde, doch seltsamerweise war gerade das Gegenteil der Fall: Ihm war warm! Irgendwann warf ihn das Monstrum zu Boden. Sadagar lag auf dem Rücken und strich mit der linken Hand über den Boden, der glatt und beißend kalt war. »Dardo?« fragte er. »Olinga?« Aber er bekam keine Antwort. Ein paarmal raffte er sich auf und versuchte die störende Eisschicht zu lösen, doch sie war zu dick. 158
Aber er erinnerte sich an Nadomirs Worte. Wenn du meine Hilfe brauchst, Feged, dann reibe die Ringe gegeneinander. Und rufe meinen Trollnamen: Nexapottl. Sadagar fuhr sich mit der linken Hand über den Hals. Aber auch hier war eine Eisschicht, die über den goldenen Ringen lag. Doch sie war nicht besonders dick. Sofort begann er daran zu kratzen, und nach und nach lösten sich kleinere Eisstücke. Es schien endlos lange zu dauern, bis endlich die Ringe eisfrei waren. Kurze Zeit entspannte sich der Alte, dann rieb er die Ringe gegeneinander. »Nexapottl!« Nichts geschah. Enttäuscht ließ er den Kopf zurücksinken. Ich werde es später noch einmal versuchen, dachte er, vielleicht klappt es dann. In diesem Augenblick spürte er einen sanften Druck an der Stirn. »Ich habe deinen Hilferuf vernommen, mein Bruder«, war plötzlich Nadomirs Stimme in seinem Kopf. »Aber ich darf mich dir nicht zeigen, Feged. Du bist ein Gefangener des Eisgottes, der sich Ukko nennt. Ich werde euch helfen, aber noch weiß ich nicht, wie ich es tun kann. Ich werde mich umsehen, Bruder, und dann werde ich dir berichten. Verliere nicht den Mut, Feged.« Zufrieden schloß Sadagar die Augen. Er wußte, daß er sich auf den Gnomen verlassen konnte. Er würde sie alle retten. Nadomir verfügte anscheinend über viel stärkere magische Fähigkeiten, als Sadagar bis jetzt geglaubt hatte.
Nottr war es endlich gelungen, Aravo und Barko zu beruhigen. Die beiden hatten jeglichen Mut verloren; am liebsten hätten sie sich hingesetzt und den Tod erwartet. Aber das war nicht nach Nottrs Geschmack. Er wollte dem Tod lieber kämpfend entgegentreten. 159
Der Barbar war überraschend ruhig und gefaßt. Er kniete nieder und brannte mit dem glühenden Schwert stufenartige Vertiefungen in den Eisturm, auf dessen Spitze sie noch immer gefangen waren. Im Schein des Schwertes sah er bald festen Eisboden, der zu den funkelnden Wanden führte. Er ging einmal um den kegelförmigen Turm herum und besah dabei die spiegelglatten Wände. Als er wieder zurück bei den Stufen war, blieb er stehen und stieß mit dem Schwert in die Wand, riß es heraus und trieb es eine Handbreit weiter wieder hinein. Nach etwa zehn Schritten entdeckte er eine Stelle, die wesentlich dünner war. Sofort stach er nochmals zu, dann kniete er nieder und blickte durch das Loch. Hörbar zog er den Atem ein. »Ich habe einen Gang gefunden«, sagte er, und wieder fraß sich das glühend heiße Schwert durch die Eisschicht. Er brummte zufrieden, als er eine Öffnung in die Wand geschnitten hatte, die groß genug war, daß sie hindurchrutschen konnten. Der Gang war nur etwa drei Fuß hoch, Boden und Decke waren rauh, aber das störte Nottr nicht. »Folgt mir«, sagte er brummend und kroch in den Tunnel, der aber nach wenigen Schritten noch niedriger wurde. Nun ließ er sich auf alle viere nieder und kroch weiter. Er dachte an Olinga und fragte sich, ob sie noch am Leben sei. Der Gedanke an sie ließ seine Wut wieder erwachen. »Warte nur, verfluchter Eisgott«, sagte er mit knirschenden Zähnen, »ich werde dich töten!« Der Gang endete in einer Höhle, die steil in die Tiefe führte. Auch hier war der Boden mit Eis bedeckt. Er hob das Schwert und sah die dicken, bizarr geformten Eiszapfen, die von der Decke hingen. Sie verließen die Höhle, und ein gewaltiges Gewölbe lag vor ihnen. Es war so hoch, daß man die Decke nicht sehen konnte. 160
Hier herrschte ein merkwürdiges Dämmerlicht, das alles trostlos und verschwommen erscheinen ließ. Am Ende des Gewölbes erhob sich ein seltsames Haus, wie es Nottr nie zuvor gesehen hatte. Irgendwie erinnerte es ihn an die Burgen, die er in den vergangenen Monaten kennengelernt hatte, doch es war ganz anders, denn es war aus Eisblöcken erbaut – und es schien auf fremdartige Weise zu leben! Das Dach aus bizarren Schneegebilden änderte ständig die Form. Die Schneemassen wurden durch unsichtbare Kräfte zusammengepreßt, formten sich mal zu einer riesigen Kugel, dann wieder zu einer Pyramide, und überall wuchsen Eiszapfen hervor, die gelegentlich dick wie ein Männerarm waren, dann wieder so dünn wie Schneeschlangen. Ununterbrochen brachen Eiszapfen ab, fielen zu Boden, wanden sich wie Regenwürmer dahin und verschwanden in Bodenrissen. Nottr legte seine Scheu ab und stapfte auf das unheimliche Eisschloß zu. Aravo und Barko folgten ihm nur sehr zögernd. Für sie war der Anblick der Eisburg noch unheimlicher, denn außer ihren niedrigen Erdhütten hatten sie noch keine Häuser gesehen. »Ich bin sicher, daß in diesem Eisschloß der Eisgott haust«, knurrte Nottr. »Und ich verspreche euch, daß er mein Schwert zu kosten bekommen wird!« Der Barbar suchte nach einer Tür fand aber keine. Er lächelte bösartig, als er vor einer der Wände stehenblieb und das Schwert hineinrammte. Die Wand erzitterte. Wasser spritzte hervor, und ein bestialischer Geruch drang auf Nottr ein, doch er ließ sich davon nicht abhalten, eine kreisrunde Öffnung in das Haus zu brennen. Er sprang durch die Öffnung hindurch und gelangte in einen großen Raum, dessen Wände schräg und halb durchsichtig waren. Barko und Aravo waren ihm zitternd gefolgt. Plötzlich änderten die Wände die Farbe, wurden giftgrün, 161
dann durchsichtig. Sie blickten in Dutzende Räume, die meist leer waren, doch in einem sahen sie Dardo. »Dardo!« schrie Barko. Nun trat wieder Nottrs Schwert in Aktion. Es dauerte nicht lange, und sie hatten Dardo erreicht, dessen Körper mit einer dicken Eisschicht bedeckt war. »Wo sind Olinga und Sadagar?« fragte Nottr. »Ich weiß es nicht. Wir wurden von Monstern angegriffen, die einen eisigen Atem hatten. Adagar wurde wie ich gefangengenommen, doch Olinga konnte fliehen.« »Sie lebt«, flüsterte Nottr, und ein breites Lächeln lag um seine Lippen. »Ich werde dich von deiner Eisschicht befreien, Dardo.« Vorsichtig strich Nottr mit der Schwertspitze über das Eis, das schmolz und an vielen Stellen aufsprang. Aravo und Barko stellten Dardo auf die Beine, und kurze Zeit später war er frei. »Danke, Nottr.« Der Barbar nickte ihm kurz zu. »Nun suchen wir Olinga und Sadagar, dann töten wir den Eisgott!« Die Wände, die sie umgaben, wurden milchig und undurchsichtig. »Ihr werdet langsam lästig!« war die zischende Stimme des Eisgottes zu hören. »Besonders du, Barbar, mit dem flammenden Schwert. Dich werde ich jetzt töten!« »Versuche es doch!« schrie Nottr. »Mein Schwert wird dich fressen, Eisgott!« Die Wände schoben sich zusammen, rasten auf sie zu, doch das konnte Nottr nicht erschrecken, knurrend schlug er sie mit dem Krummschwert in Stücke. »So kannst du mich nicht töten, Eisgott!« Eine dreieckige Öffnung tat sich nun vor ihnen auf. Dahinter lag ein schmaler Korridor, der in den verschiedensten Farben schimmerte. 162
Die Decke zitterte, dann bekam sie Risse. Nottr lief vorwärts, wich einem Eisbrocken aus, der auf ihn zuflog, drückte sich eng an die Wand und zerschlug einen weiteren Eiszapfen. Nun bebte auch der Boden, die Wände fielen zusammen, und ein kopfgroßes Stück fiel Nottr ins Gesicht, der in die Knie ging und verzweifelt mit dem Schwert um sich schlug. Doch der Eishagel wurde immer stärker, und die Brocken wurden immer größer. Ein Eisstück schlug ihm das Schwert aus der Hand, und ein zweites krachte so stark gegen seine Stirn, daß es ihm das Bewußtsein raubte.
Die vier Schneemenschen trieben Olinga einen breiten Korridor entlang. »Wohin bringt ihr mich?« fragte sie. »Eisgott«, antwortete der graue Riese. Sie musterte den Schneemenschen aufmerksam, der neben ihr ging. Sie hatte die Furcht vor den Riesen verloren, denn ihre braunen Augen blickten sanft und freundlich. »Bringen Frau zu Ukko.« »Ukko! Aber das ist doch…« Olinga konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Schon als Kind hatte sie unzählige Sagen gehört, in denen der Eisgott die Hauptrolle gespielt hatte, und er war immer der Bösewicht gewesen. Sogar noch heute schreckte man die Kinder, wenn sie nicht folgsam waren, mit der Bemerkung, daß man sie Ukko übergeben werde. In den Erzählungen wurde Ukko als ein weißhaariger Riese dargestellt, der kleine Kinder zum Frühstück verspeiste, harmlose Wanderer überfiel und ihnen Arme und Beine abschnitt. Ukko war das Böse schlechthin, eine Gestalt voll unmenschlicher Grausamkeit. »Ihr dient dem Eisgott?« »Gezwungen zu dienen, verstehen du?« 163
»Er hat euch zum Dienst gezwungen?« »Ja, hat er. Gehorchen wir müssen, sonst töten er unsere Frauen.« »Das ist schlimm«, sagte Olinga mitfühlend. »Was hat der Eisgott mit mir vor?« »Wissen ich nicht, töten wahrscheinlich.« Das waren wenig erfreuliche Aussichten, aber noch immer hoffte sie auf Rettung. Nottr würde sie befreien. Doch ihr Mut sank sofort wieder, denn sie wußte, daß sie sich einer trügerischen Hoffnung hingab. Sie konnte sich nur aus eigener Kraft retten, aber wie sollte sie es anstellen? »Was geschieht, wenn ihr mich freilaßt?« »Eisgott uns bestrafen fürchterlich. Ukko grausam, sehr!« Der Korridor führte auf eine Treppe zu, die aus einem halben Dutzend Stufen bestand. Und wieder schritten sie einen endlos langen Korridor entlang, und mit jedem Schritt wurde Olinga mutloser und verzagter.
Nottrs Kopf dröhnte, und seine Lippen waren blutig. Brummend schüttelte er den Kopf und versuchte, die dumpfe Benommenheit aus seinem Schädel zu vertreiben. »Nottr ist erwacht«, sagte Barko. Der Barbar lag mit Aravo, Dardo und Barko in einer riesigen Halle. Die Wände funkelten tiefblau und waren aus Eiskristallen gebildet. Vergeblich bemühte sich Nottr aufzustehen. Verwirrt blickte er seine Hände an. Die Unterarme waren vor der Brust zusammengedrückt und von einer dicken Eisschicht umgeben, die von den Handgelenken bis zu den Ellbogen reichte. Auch seine Fußgelenke waren so gefesselt. »Was ist geschehen?« »Siehst du die zwei unheimlichen Gestalten zu deiner Rech164
ten, Nottr?« Der Barbar folgte Aravos Blick und atmete schnaubend. Die tentakelarmigen Ungeheuer standen wie Statuen da, die glatten Gesichter in ihre Richtung gewandt. »Ja, ich sehe sie.« »Sie nahmen uns gefangen, jede Gegenwehr war sinnlos. Mit ihrem Eisatem fesselten sie uns Hände und Füße und trugen uns hierher.« »Wo ist mein Schwert?« »Es verschwand im Boden.« Nottr knirschte mit den Zähnen. Wütend versuchte er die Fesseln zu zersprengen, doch dazu waren nicht einmal seine Kräfte imstande. »Hat sich der verfluchte Eisgott nochmals gemeldet?« fragte Nottr verbittert. »Nein.« Als sie Schritte hörten, hoben die vier die Köpfe. Olinga betrat die Halle, umringt von vier riesigen Schneemenschen. Die Karsh-Frau wollte auf sie zulaufen, doch einer der grauen Riesen packte sie und hielt sie zurück. »Ich bin glücklich, daß du lebst, Olinga«, rief Nottr. »Aber unsere Lage ist hoffnungslos, denn wie du siehst, sind wir alle gefesselt.« »Auch ich bin froh, dich zu sehen, Nottr«, sagte Olinga mit bebender Stimme. »Aber ich hatte mir unser Wiedersehen anders vorgestellt.« Dumpfe Verzweiflung machte sich breit. Ihre Gesichter wurden leer und ihre Augen trübe. Dardo schluchzte leise vor sich hin. Die Schneemenschen ließen Olinga los, die sich auf den kalten Boden setzte und Nottr nicht aus den Augen ließ. »Habt ihr Adagar gesehen?« fragte sie. »Nein«, antwortete Nottr, und Hoffnung stieg in ihm hoch, als er an den Alten dachte. Sie verpuffte aber, als ein weiteres 165
Eismonster die Halle betrat. Es trug den in einem Eisblock eingebetteten Sadagar, der unverständlicherweise lächelte. Unweit von Nottr legte das Ungeheuer den Steinmann sanft auf den Boden. »Nun sind wir endgültig verloren«, flüsterte Barko. »Nur Mut, meine Freunde«, sagte Sadagar fröhlich. Nottr stierte ihn an. Die Aufregungen waren wohl zuviel für den Alten gewesen, und er hatte sich in den Wahnsinn geflüchtet. »Komm ein wenig näher, Nottr«, flüsterte Sadagar fast unhörbar. Zögernd glitt Nottr heran. Es dauerte ziemlich lange, bis er endlich neben Sadagar lag. »Hör mir gut zu, Nottr«, hauchte der Alte und preßte seinen Mund ganz nahe an Nottrs Ohr. »Nadomir wird uns helfen. Schweige. Sprich kein Wort. Ich habe ihn angerufen; frage mich nicht, wie das möglich ist. Aber er erschien, wagte sich mir jedoch nicht zu zeigen, denn er wollte den Eisgott täuschen. Ich weiß, daß dein Schwert verschwunden ist, aber wir werden es uns zurückholen. Nadomir hat mir ein paar Zaubersprüche verraten, die uns helfen werden. In meinem linken Ärmel habe ich ein Messer verborgen. Wälze dich langsam auf die Seite. Sobald der Eisgott zu uns spricht, werde ich handeln. Nun muß ich…« Plötzlich war das wahnsinnige Lachen des Eisgottes zu hören, das von allen Wänden widerhallte. »Ihr seid nun meine Gefangenen, liebe Freunde«, sagte die zischende Stimme. »Ihr müßt alle sterben, und ich verspreche euch, daß euer Tod grauenvoll sein wird. Ich will euch leiden sehen, ich will mich an euren Qualen weiden, und eure Schmerzensschreie werden Musik in meinen Ohren sein.« Das Lachen wurde durchdringender, überschlug sich und ging in ein Kichern über. 166
Nottr hob ein wenig den Kopf. Die ihm gegenüberliegende Wand änderte die Form. Die Kristalle zerflossen, und die Wand wurde spiegelblank, warf dann Blasen, wurde silbrig, und fremdartige Schriftzüge erschienen. »Erst werde ich mich der Frau zuwenden«, sprach Ukko weiter. »Steh auf, mein hübsches Kind!« Sie gehorchte. Die Schneemenschen wichen langsam zurück. »Tritt drei Schritte vorwärts, meine Schöne!« Olinga folgte der Aufforderung. Alles in ihr krampfte sich zusammen, doch mutig blieb sie stehen und ließ sich nichts von ihrer Furcht anmerken. Sie warf der nun dunkelrot glühenden Wand einen bösen Blick zu. »Achtung, Nottr«, flüsterte Sadagar. Der Barbar kniff die Augen zusammen und spannte die Muskeln an. Plötzlich hielt Sadagar das Messer in der linken Hand. »Karne!« »Schlüpf aus deinen Kleidern, meine Schöne!« kicherte Ukko. »Ich will mich an deinen Formen erfreuen.« Olinga zögerte. Das Messer glühte, und blitzschnell drückte Sadagar die Klinge auf die Eisfessel, die augenblicklich schmolz. Nottr griff nach dem Dolch, setzte sich auf und löste die Fußfessel. Der Eisgott hatte bis jetzt anscheinend nichts von den Vorgängen bemerkt. Vermutlich hatte er nur Augen für die Frau, und das war genau das, was Sadagar erhofft hatte. Der Barbar beugte sich über Sadagar und setzte das Messer ans Eis. Dampf stieg zischend hoch. »Naweza kuptata volta baada!« schrie der Steinmann einen der Zaubersprüche, die ihm Nadomir verraten hatte. Die Wirkung des Spruches war verblüffend. Armdicke Blitze zuckten aus dem Nichts, die mal giftgrün, dann zitronenfarben und dann wieder feuerrot waren. Sie rasten durch die Hal167
le und explodierten an den Wänden und der Decke, und einige bohrten sich in den Boden. Nottr achtete nicht auf das gewaltige Schauspiel, er befreite Sadagar aus der Umklammerung des Eispanzers. Der Alte sprang hoch und wandte sich den drei Eismonstren zu, die er mit ebenso vielen Messern durchbohrte. »Leg deine Hand auf die Scheide, Nottr! Mach rasch! Dann sprich mir die Worte nach!« Nottr umklammerte die Schwertscheide. »Ufungo!« schrie Sadagar. Immer mehr Blitze tobten durch die Halle, fraßen mannsgroße Löcher in die bebenden Wände. »Ufungo!« sagte Nottr. »Tuna chumba pamojo!« Auch diesen Satz sprach Nottr nach. Ein surrendes Geräusch kam aus dem Boden, das lauter und durchdringender wurde. Die spiegelnde Eisfläche platzte auf, und Nottrs Krummschwert schoß aus der Öffnung hervor und raste auf ihn zu. Die Klinge war weißglühend und loderte. Geschickt ergriff Nottr den Knauf. »Jetzt ist der Sieg unser«, sagte er zufrieden. Dampfwolken hüllten die Halle ein. Der Boden zitterte, eine Wand fiel krachend zusammen, und noch immer zuckten die Blitze durch die Halle. »Hört mir alle zu!« schrie Sadagar. »Ihr braucht keine Angst vor den Blitzen zu haben. Sie werden euch nicht verletzen, auch wenn sie euch treffen. Sie sind nur dazu geschaffen, das Eis zu zerschmettern und zu schmelzen.« Nottr und Sadagar befreiten die Freunde von den Fesseln. Die drei Eismonstren zerschmolzen wie Schnee in der Mittagssonne, und die Schneemenschen liefen verwirrt hin und her und warfen sich dann angstbebend nieder. Nottr hob das Schwert und wollte einen der Schneemen168
schen köpfen, als ihm Olinga in den Arm fiel. »Nicht, Nottr!« schrie sie. »Laß sie leben, denn sie wurden vom Eisgott gezwungen, ihm zu dienen.« Knurrend zog sich Nottr zurück und blickte sich dann grimmig um. »Danke, Nadomir«, flüsterte Sadagar glücklich. »Danke, Bruder.« Die Blitze setzten ihr Zerstörungswerk fort. Immer größere Löcher klafften in den Wänden. »Folgt mir!« schrie Sadagar, der die Wurfmesser eingesammelt hatte. »Wir müssen den Eisgott töten!« Er lief voraus, Nottr und die anderen folgten ihm. Auch die Schneemenschen standen auf und schlossen sich ihnen an, hielten aber einen Abstand von etwa zehn Schritten. Krachend fiel die Wand vor ihnen zusammen. Sie hielten sich die Hände vors Gesicht, um sich vor den messerscharfen Eissplittern zu schützen. Die Halle war mit ohrenbetäubendem Tosen erfüllt, in das sich die zischende Stimme des Eisgottes mischte. Noch immer waren die knallenden Entladungen der magischen Blitze zu hören, die weitere Wände zum Einsturz brachten. Sie gelangten in eine Kuppel. Eiskristalle hingen wie Nebelschwaden in der beißenden Kälte und hüllten ein schauerliches Gebilde ein, das der Eisgott sein mußte. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das düstere Licht, und schließlich schrie Dardo entsetzt auf. »Das ist ein riesiges Hirn!« brüllte Aravo. Die eisige Luft trieb sie ein paar Schritte zurück. Das Hirn war größer als ein ausgewachsenes Mammut. Und dieses aus verschiedenfarbigem Eis gebildete Hirn pulsierte, zog sich zusammen und zuckte. »Grauenvoll«, flüsterte Olinga. Nur etwa zwanzig Schritte trennten sie vom Eishirn, aber 169
diese kurze Strecke war unüberwindlich, da die eisige Kälte sie lähmte und ein weiteres Eindringen unmöglich machte. Sadagar schleuderte ein glühendes Messer auf das Hirn zu. Aber die Kälte war so groß, daß sich während des Fluges eine Eisschicht um die Klinge bildete! Das Messer prallte wirkungslos auf die Hirnwindungen auf, fiel zu Boden und blieb liegen. Fünf Herzschläge später war das Messer zu einem armdicken Eiszapfen geworden. »Da kommen wir nie hinein«, keuchte Sadagar enttäuscht. »Aber wir müssen das Hirn zerstören, denn es ist Ukko, der Eisgott.« »Ihr könnt mich nicht töten, ihr schwachen Menschen!« ertönte nun die Stimme von einer halb eingestürzten Wand her. »Hilfe ist schon unterwegs. Meine Rache wird fürchterlich sein. Ihr werdet tausendmal sterben.« »Wir müssen rasch handeln, Nottr. Laß dir etwas einfallen.« Einer der Schneemenschen kam neugierig näher. »Eisgott töten«, radebrechte er. Nottr blickte ihn stirnrunzelnd an. Die Kälte schien ihm nur wenig auszumachen, der dicke Pelz, der sein Gesicht und den riesigen Körper bedeckte, bot einen wunderbaren Schutz. Dann warf er dem Hirn, das nun flackerte, wieder einen Blick zu. Die Windungen bewegten sich stärker und änderten ununterbrochen die Farbe. »Die Schneemenschen müssen uns helfen!« rief Olinga. »Die Kälte stört sie nicht. Gib ihm dein Schwert, Nottr.« Der Schneemann neben Nottr brummte zustimmend. »Willst du es versuchen?« fragte Nottr. »Versuchen will ich. Gib Schwert Krtozec!« Nottr hielt ihm den Knauf hin. Ungeschickt packte Krtozec das Schwert, das er vorsichtig hin und her bewegte, dann stapfte er in die nebelverhangene Kuppel. Sofort hingen dicke Eiszapfen an seinem Fell, und das Glü170
hen der Klinge wurde schwächer, doch es erlosch nicht. Mühsam bewegte sich der Schneemensch vorwärts. »Zurück, Krtozec!« brüllte der Eisgott mit sich überschlagender Stimme. »Zurück!« »Töten«, knurrte Krtozec. »Töten Eisgott. Rächen.« Nun erreichte der Schneemensch das stärker pulsierende Hirn, streckte die Hand aus und strich mit der funkelnden Klinge über Hirnwindungen, die dampfend zerschmolzen. »Er schafft es«, sagte Nottr zufrieden. Noch immer zuckten die magischen Blitze hin und her. Einer fand den Weg in die Kuppel und riß ein tiefes Loch in den Boden. Der Eisgott winselte nun kläglich. »Nicht… bitte nicht«, heulte Ukko gequält auf. »Laßt mich leben. Ich bin uralt, so alt wie die Welt. Ihr dürft mich nicht töten. Ihr…« Unmenschliches Gebrüll drang aus allen Wänden, den Böden und den Decken des Eispalasts. Doch der Schneemensch ließ sich davon nicht beeindrucken. Sein lang aufgestauter Haß entlud sich. Erbarmungslos schlug er auf das bebende Hirn ein. Immer mehr Blitze rasten nun in die Kuppel hinein. Einer traf das Hirn, und Eisbrocken flogen bis zur Decke hoch. Jetzt griffen auch die drei anderen Schneemenschen ein. Sie packten mannsgroße Eisblöcke, zerrten sie in die Kuppel und schleuderten sie auf das halb zerstörte Hirn. »Wir müssen einen Fluchtweg suchen, Sadagar«, sagte Nottr. »Der Eispalast kann jeden Augenblick zusammenfallen, und die Eistrümmer werden uns zerschmettern.« »Es gibt einen Fluchtweg, der sich hinter dem Hirn befindet. Dort liegt eine Felswand, in der Treppen zur Oberfläche führen. Aber wir können erst die Kuppel betreten, wenn der Eisgott endgültig tot ist und die Kälte schwächer wird.« 171
Die Schneemenschen kannten keine Gnade. Sie achteten nicht auf die flehenden, klagenden Schreie, die das Hirn ertönen ließ. Plötzlich war es still. Die Stimme des Eisgottes war verstummt. Nun wurde es auch etwas wärmer. »Rasch, laufen wir durch die Kuppel!« Nottr sprang hinein in die Kälte, die ihm immer noch fast den Atem raubte und sein Gesicht einfrieren ließ. Doch er kümmerte sich nicht darum. Er lief am fast völlig zerstörten Eisgott vorbei, vorbei an den rasenden Schneemenschen, die nun mit ihren Pranken die Reste der Hirnwindungen zerrissen. »Kommt mit!« schrie Nottr. »Die Kuppel kann jeden Moment einstürzen.« Die Schneemenschen stießen unverständliche Brummlaute aus, dann streckte einer den Arm hoch und brüllte etwas. Krtozec hieb noch ein paarmal auf das Hirn ein, dann rannten sie Nottr und den Seinen nach. Sadagar fand die Öffnung, die zur rettenden Treppe führte. Sie stürmten hinauf. Nottr wartete auf die Schneemenschen, nahm das Schwert an sich und brachte es zum Erlöschen. Ein Eisbrocken, so groß wie ein fünfstöckiges Haus, löste sich aus der Decke, fiel auf die Überreste des Hirns und zermalmte sie. Augenblicklich wurde es dunkel. Nur gelegentlich erhellte einer der magischen Blitze die Kuppel. »Komm schon, Nottr!« Sadagars Stimme klang ungeduldig. Der Steinmann hatte einige Holzstücke entzündet und reichte eines Nottr. »Der Eisgott ist nun endgültig tot. Ich kann es noch immer nicht glauben, daß wir noch leben.« »Ohne Nadomirs Hilfe hätten wir es niemals geschafft.« Sie stiegen die feuchten Stufen hoch. Lange noch hörten sie das Krachen des zusammenstürzenden Eispalasts. 172
Drei Tage blieben sie bei den Schneemenschen, die in großen Höhlen in einem einsamen Tal hausten. Seit undenklichen Zeiten hatten sie dem Eisgott dienen müssen, und alle waren überglücklich, daß seine Herrschaft vorbei war. Sadagar war mit Fragen bestürmt worden, doch er schwieg nur und lächelte geheimnisvoll. Niemand brauchte zu wissen, welche enge Bindung zwischen ihm und Nadomir bestand. Diese drei Tage der Ruhe und Entspannung taten allen gut. Das starke Gefühl zwischen Nottr und Olinga vertiefte sich immer mehr. Sogar Sadagars Mißtrauen gegenüber Olinga schwand, und er schloß die immer fröhliche junge Frau ins Herz. Die Schneemenschen waren einfache Geschöpfe, friedlich und freundlich, die den Sommer über in den weitverzweigten Höhlen ihres Tales hausten, und sich nur im Winter hervortrauten. Sie ernährten sich fast ausschließlich von kinderkopfgroßen Pilzen, die das ganze Jahr über in der Kälte der Höhlen gediehen, die aber für Menschen ungenießbar waren und Vergiftungen und eitrige Ausschläge hervorriefen. Aravo, Dardo und Barko kehrten zurück in ihr Dorf. Dort würde man sie vermutlich als tapfere Helden feiern und noch jahrhundertelang als die kühnsten Jäger besingen, die den Eisgott getötet hatten. Drei Schneemenschen begleiteten Nottr, Olinga und Sadagar. Die Riesen trugen die Rucksäcke und versuchten ihnen die Reise so angenehm wie möglich zu machen. Sie schleppten die Menschen über Gletscherspalten und über endlos scheinende Schneefelder. Das Wetter war schön, meist war der Himmel wolkenlos, und sie kamen rasch vorwärts. Doch als sie den Maru, einen reißenden Bergfluß erreichten, wurden die scheuen Schneemenschen immer unruhiger. Ganz 173
offensichtlich hatten sie Angst. Der Fluß führte nur wenig Wasser, und sie konnten das Ufer entlanggehen. Immer mehr schmale Bäche vereinten sich mit dem Fluß, der nun stiebende Wasserfälle bildete, die das stufenförmige Tal hinunterschossen. Schließlich weigerten sich die Schneemenschen, dem Fluß zu folgen, sie schlugen einen großen Umweg über eines der Seitentäler vor. Sadagar unterhielt sich lange mit Krtozec. Das Gespräch war nicht einfach zu führen, da der Schneemensch sich nur gebrochen ausdrücken konnte. Aber nach und nach entdeckte er den Grund ihrer Angst. Der Maru durchfloß einen See, der von steilen, unerklimmbaren Felswänden umgeben war. Man konnte den See nur durchschwimmen, was natürlich bei dieser Kälte unmöglich war, oder man überquerte ihn mit einem Boot oder einem Floß. Viele Legenden rankten sich um diesen See, der von den Schneemenschen Dorch genannt wurde. Nach ihren wirren religiösen Vorstellungen sollten in dem See die Geister der Ahnen ruhen, die man nicht stören dürfe. Und wenn Sadagar Krtozec richtig verstanden hatte, dann glaubten sie auch daran, daß die Seelen der verstorbenen Schneemenschen im Dorch-See die letzte Ruhe fanden. Daraufhin nahmen sie Abschied von den Schneemenschen, die zwar heftig versicherten, daß sie weiter mitkommen wollten, doch als Nottr ein Machtwort sprach, waren sie sichtlich froh, daß für sie die Reise zu Ende war. Vorsichtig stiegen sie eine Schlucht hinunter, die ohne Pflanzenwuchs war und furchteinflößend wirkte. Endlose Geröllhalden wechselten mit glattgewaschenen Felsplatten ab. Plötzlich blieb Nottr stehen und hob die rechte Hand. »Seht, tief unter uns liegt der See!« Neugierig blieben Olinga und Sadagar neben Nottr stehen. 174
Der See war ziemlich groß, das Wasser türkis, und große Eisschollen schwammen darauf, die träge auf den Abfluß zugetragen wurden. »Die Eisschollen bringen mich auf eine Idee«, sagte Sadagar. »Wir können sie als Floß verwenden!« »Das ist eine ausgezeichnete Idee«, stimmte Nottr zu. »Laßt uns rascher gehen, damit wir noch bei Tageslicht den See überqueren können.« Nun waren auch deutlich die schroffen Granitwände zu sehen, die den See umschlossen. Am Ufer des Sees blieben sie stehen. Es war völlig still. Nur das leise Rauschen des Wassers war zu hören. Kein Tier ließ sich blicken, nicht einmal die möwenartigen Vögel waren zu sehen, die sie bei ihrer Wanderung begleitet hatten. »Der See sieht harmlos aus«, meinte Nottr. »Seien wir lieber umsichtig, mein Freund. Seit unserem Abenteuer glaube ich mehr an alte Sagen.« »Wir werden umsichtig sein, Sadagar. Wir müssen den Gletscher zu unserer Linken erreichen. Von der Gletscherzunge brechen die Eisstücke ab.« Sie betraten den Gletscher und gingen langsam auf die in den See hinabhängende Gletscherzunge zu. Krachend brach ein Eisbrocken ab, fiel in den See und drehte sich im Kreis, wurde von der sanften Strömung erfaßt und auf das gegenüberliegende Ufer zugetragen. Nottr kniete nieder und prüfte die Eisdicke, dann brummte er zufrieden. »Ich werde mit dem Schwert Vertiefungen in das Eis brennen, in denen wir Platz nehmen können. Dann warten wir, bis das Eis weiter auf den See hinausgedrückt wird. Ich werde ein wenig dabei nachhelfen.« Sadagar nickte zustimmend. Der Barbar schritt bedächtig auf die Gletscherzunge zu, zog das Schwert, brachte es zum Glühen und brannte drei tiefe 175
Löcher hinein. »Setzt euch.« Sadagar kroch in das erste Loch hinein. Es war so tief, daß nur sein Kopf heraussah; in das zweite hockte sich Olinga. Nottr beobachtete wieder das Eis. Langsam wurde es auf den See gedrückt. Nun ließ sich Nottr in das Loch fallen, streckte den Oberkörper vor und zog eine tiefe Rille in das Eis. Knarrend kippte der Eisblock vorwärts, und Nottr ließ sich kraftvoll ins Loch fallen. Die Spalte wurde größer, und das Gewicht ihrer Körper brach den Eisbrocken aus dem Gletscher. Er glitt ins Wasser, tauchte ein wenig unter, kam aber sofort wieder hoch, drehte sich einmal im Kreis und trieb vom Ufer fort. »Das hätten wir geschafft«, sagte Nottr zufrieden. »Das hast du wirklich gut gemacht, Nottr«, lobte Sadagar. Die Wasserfarbe änderte sich plötzlich, sie war nun pechschwarz, und vom fernen Ufer trieben Nebelschwaden auf sie zu, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Flammen züngelten aus dem Wasser hervor, und der Nebel war zu einer faulig stinkenden Brühe geworden, die sich wie ein dichter Schleier über die Eisscholle legte. Olinga schrie entsetzt auf, als sie eine brennende Gestalt über die Wasserfläche auf sich zulaufen sah. Doch so plötzlich, wie sie gekommen war, so rasch löste sie sich auch wieder auf. Nun waren schemenhafte Gestalten zu sehen, die auf dem Wasser zu tanzen schienen und klagende Laute ausstießen. Sie kamen näher, und von ihnen ging eine Ausstrahlung aus, die sich schwer auf das Hirn legte und jeden klaren Gedanken unmöglich machte. Sie stöhnten gequält auf. Alle bekamen rasende Kopfschmerzen, die immer unerträglicher wurden. Nottr richtete sich keuchend auf, zog das Schwert und schlug auf die unheimlichen Gestalten ein, die ihn umtanzten. Er glaubte die Häscher zu erkennen, die ihn in Graf Corians 176
Burg gefoltert hatten, dann waren Caer-Priester und Krieger in schwarzen Rüstungen zu sehen. Olinga sah wieder ganz andere Gestalten: Der Große Alb sprang auf die Scholle, stieß schaurige Laute aus, die aus seinen schneckenhausartigen Ohren drangen; dann erblickte sie die Eismonstren, die mit ihren dünnen Armen nach ihr griffen und sie ins Wasser zerren wollten. Sadagar schrie entsetzt auf, als er die dürre, halb verweste Runenkundige Fahrna in hundertfacher Ausfertigung sah. Ihr graues Gesicht mit der runzeligen Haut war verzerrt, Hautfetzen platzten über den Backenknochen auf, die spinnenartigen Arme schlugen auf ihn ein. Für Sadagar war ein Alptraum wahr geworden, denn in den vergangenen Wochen hatte er oft von Fahrna geträumt, die mit ihrem ausgemergelten Körper, der in Verwesung übergegangen war, auf ihn zukam, die Knochenhände auf seine Schultern preßte, sich mit dem stinkenden Leib an ihn schmiegte und ihre von Maden zerfressenen Lippen ihm entgegenstreckte. Und in diesem Augenblick änderte sich das Gesicht der hundertfachen Fahrna, die ihn umringte. Die Haut bekam Risse, schälte sich vom Fleisch, und die Knochen kamen hervor; dann quollen die Augen aus den Höhlen und tanzten auf und ab, und in den leeren Augengruben krochen fingerdicke Maden und eklige Würmer umher. Nottr schlug noch immer wie verrückt auf die schattenhaften Gestalten ein; Olinga versuchte die Arme abzuwehren, die sich in ihr Haar verkrallten, und Sadagar zitterte vor Grauen, als er mit ansehen mußte, wie sich die unzähligen alten Weiber in Skelette verwandelten. Sadagar begann zu ahnen, was hier in diesem Augenblick auf dem See vorging. Undeutlich erinnerte er sich an ein Gespräch mit Thonensen, in dem sie über Geister gesprochen hatten, die man selbst erschuf und die die Herrschaft über ei177
nen bekommen können. Offenbar wirkte der glatte See mit den ihn trichterförmig umgebenden Felswänden wie ein magischer Spiegel, der die eigenen Ängste verstärkte. Eine Art Gefühlsecho, das nicht abnahm, sondern anschwoll. »Nottr, Olinga, hört mir zu!« schrie Sadagar. »Ich glaube, daß ich eine Möglichkeit gefunden habe, die Alptraumgeschöpfe zu besiegen. Was seht ihr?« »Caer-Krieger!« keuchte Nottr. »Die Eismonstren wollen mich in den See zerren!« schrie Olinga. »Es ist so, wie ich es mir gedacht habe«, murmelte Sadagar. »Jeder von uns fürchtet sich vor anderen Dingen, und diese Ängste verstärken sich mit jedem Herzschlag, bis sie uns tatsächlich verschlingen werden. Wir müssen dagegen ankämpfen.« »Und wie sollen wir das tun?« »Denkt an schöne Dinge, an Erlebnisse, an die ihr euch gern erinnert.« »Ich werde es versuchen«, brummte Nottr. Die Alptraumgestalten gingen noch immer auf ihn los. Es wurden ständig mehr. »Schließt die Augen, das hilft sicher.« Nottr schloß die Augen und stellte sich eine weite Steppe im Frühling vor. Überall blühten Blumen, es war wohlig warm, ein sanfter Wind strich über sein Gesicht, und sein Bauch war gefüllt mit köstlichen Speisen. Es war herrlich zu leben. Das Pferd galoppierte über die Steppe… Olinga versuchte ihre angespannten Nerven mit der Erinnerung an einen Sonnenuntergang im letzten Sommer zu beruhigen. Die Jäger waren erfolgreich gewesen, alle waren vergnügt und zufrieden. Die Sonne war ein glühend roter Ball, der die Gipfel der Berge zum Brennen brachte und… Sadagars Gedanken eilten zurück in eine Zeit, in der er noch 178
ein Jüngling war, eine Zeit, in der sein Gesicht glatt und faltenlos gewesen war und sein lockiges Haar dicht. Damals hatte er ein Mädchen geliebt, das sein Begehren erwidert hatte. Sadagar glaubte den Duft ihres Haares zu riechen, die Weichheit ihrer vollen Lippen und die Glut ihres bebenden Körpers zu spüren. Sein Herz schlug schneller, und sein Puls hämmerte, als ihn die Erinnerung überwältigte und er die schönen Stunden von damals nacherlebte… Die für jeden von ihnen anders gearteten Alptraumgestalten wurden durchscheinend und kämpften vergebens gegen die drohende Vernichtung an. Sie bäumten sich noch einmal auf, sammelten alle Kräfte und warfen sich Nottr, Olinga und Sadagar entgegen. Doch die Macht der schönen Erinnerungen wurde immer stärker. Die Alptraumgeschöpfe wimmerten klagend, lösten sich langsam auf und verschwanden. Die graue Nebelwand trieb auf einen Gletscher zu und löste sich schließlich auf. »Wir haben es geschafft«, sagte Olinga und öffnete die Augen. »Das Ufer ist ganz nah«, sagte Nottr. Nun öffnete auch Sadagar die Augen. Er lächelte wehmütig, schob die schöne Erinnerung weit zurück und kehrte in die traurige Gegenwart mit ihren Schrecken zurück. »Sollen wir das Ufer ansteuern, Sadagar?« »Nein, ich schlage vor, daß wir uns ruhig von der Eisscholle den Fluß hinuntertragen lassen.« »Das könnte gefährlich sein, mein Freund, denn wir kennen den Flußlauf nicht. Es mag dort Wasserfälle geben.« »Wasserfälle hören wir rechtzeitig.« »Wir haben keine Ruder. Vergiß das nicht, Sadagar!« Der Alte sah die steilen Felswände an. Die Eisscholle wurde rascher auf den Abfluß zugetrieben. Der Wilde Maru schien nun breiter und auch schiffbar zu sein, und er führte durch 179
eine wild zerklüftete Schlucht. Die Eisscholle schoß in die Tiefe, immer schneller werdend. »Wenn das nur gutgeht«, brummte Sadagar. »Ein Bad im eisig kalten Wasser wäre nicht nach meinem Geschmack.« »Wir werden auf eine Öffnung zugetrieben!« schrie Nottr. »Wir müssen die Scholle ans Ufer lenken.« »Das ist nicht möglich. Wir können nur zu den Göttern beten.« Und da war auch schon die Öffnung heran, viel größer, als sie zuerst geglaubt hatten. Das Wasser gurgelte und zischte, und dann verschwand das Eisboot im Felstunnel. Nottr erkannte im schwachen Licht, das von der Öffnung herdrang, die Wölbung des Tunnels. Doch kurze Zeit später wurde das Licht von der Dunkelheit verschluckt. Sadagar schrie etwas, doch er wurde nicht verstanden, denn das durchdringende Rauschen des dahinschießenden Wasser übertönte die Stimme. Dann funkelte Licht vor ihnen, und die Eisscholle schoß ins Tageslicht hinaus. Zu beiden Seiten erstreckten sich tief verschneite Tannenwälder, die der Wind seltsam zerrupft hatte. Dazwischen waren mit Eiszapfen behangene Felsvorsprünge zu erkennen, und manchmal tauchte eine mit Schnee bedeckte Steinlawine auf. Und weit vor ihnen waren die Hügel von Tillorn zu sehen. Ohne weitere Zwischenfälle trug sie der Fluß talwärts. Es war eine überaus angenehme und entspannende Fahrt. In der Abenddämmerung stieß die Eisscholle ans Ufer. Nottr ergriff einen über den Fluß hängenden Ast und hielt sich fest. »Springt an Land!« schrie er. Sadagar und Olinga gehorchten, dann sprang Nottr ans Ufer. »Packt mit an! Wir ziehen die Eisscholle ans Land. Mit ihr gelangen wir rascher nach Tillorn.« Es kostete sie ziemlich viel Schweiß, den schweren Eis180
brocken zur Hälfte auf das Ufer zu zerren.
Am nächsten Tag setzten sie die Flußfahrt mit der Eisscholle fort. Es wurde spürbar wärmer, nur mehr wenig Schnee bedeckte die Hügel und Wälder. Ihre bequeme Fahrt endete, als sie das Tosen eines Wasserfalls hörten. Rasch verließen sie ihr Eisboot und gingen zu Fuß weiter. Mit jedem Schritt wurde es wärmer, und bald begannen sie in ihrer Pelzkleidung zu schwitzen. Sie legten die oberste Garnitur ab und ließen sie einfach liegen. Ihr Weg führte nun durch dunkel bewaldete Schluchten mit hohen Tannen, riesigen Felsblöcken und gewaltigen Wasserfällen. Sie folgten dem Lauf des Wilden Marus, der in Kaskaden über die vom Eis gespaltenen Granitblöcke sprudelte. Dann durchschritten sie eine wilde Landschaft, die aus kahlen Felsen bestand, feucht und glatt. Sadagar blieb plötzlich stehen. Er schrie unterdrückt auf und streckte den rechten Arm aus. »Auf dem Hügel vor uns steht ein Gebäude!« Nottr blinzelte in die hochstehende Sonne. »Das sieht eher wie ein Bogen aus. Es könnte auch das übriggebliebene Tor eines zusammengestürzten Hauses sein.« »Ja, du hast recht, Nottr. Das ist ein Tor: das Tor des Südens. Davon habe ich schon gehört.« Im Licht der untergehenden Sonne stiegen sie den sanft ansteigenden Hügel hoch. Ehrfurchtsvoll blieben sie vor dem mächtigen Steinbogen stehen, der sie winzig erscheinen ließ. Der Torbogen war über und über mit Reliefdarstellungen bedeckt, die fremdartig gekleidete Menschen und unheimliche Fabelwesen zeigten. Scheu kamen sie näher und blieben im Torbogen stehen. Sadagar blickte über das Land, und genau im Süden sah er 181
einen weiteren Torbogen auf einem höheren Hügel. »Ich bin sicher, daß wir nur diesen Torbögen folgen müssen«, sagte der Alte, »diesen Monumenten eines längst vergangenen Volkes, und sie werden uns zum Koloß von Tillorn führen!« Nottr nickte. Olinga schritt einmal um den Triumphbogen herum, blieb immer wieder stehen und starrte beeindruckt die Reliefdarstellungen an, denn nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches gesehen. Sadagar und Nottr bereiteten ihr Nachtlager vor. Sie fanden genügend trockenes Holz, um ein großes Feuer zu entfachen, legten sich auf die Pelzdecken und bereiteten eine karge Mahlzeit aus ihrem rasch schwindenden Lebensmittelvorrat. Nottr schob sich ein Stück Dörrfleisch in den Mund und begann geräuschvoll zu kauen, als er plötzlich den Kopf zur Seite drehte und nach dem Schwert griff. Er schluckte den Bissen hinunter, zog langsam das Krummschwert und richtete sich auf. Warnend legte er den linken Zeigefinger auf die Lippen, blickte Olinga und Sadagar kurz an, dann verschwand er geräuschlos wie eine Katze in der Dunkelheit. Aus den nahe gelegenen Büschen hatte er verdächtige Geräusche gehört. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann schlich er geduckt vorwärts. Die Büsche bewegten sich leicht, und er erkannte die Umrisse einer menschlichen Gestalt. »Wer immer du bist«, sagte Nottr knurrend, »steh auf und komm hervor, oder ich durchbohre dich mit meinem Schwert!« »Halt ein, Fremder«, sagte der Unbekannte. »Ich will keinen Kampf, ich komme in friedlicher Absicht.« »Weshalb versteckst du dich dann in den Büschen?« »Ich wollte beobachten, wer das Feuer entfacht hat.« »Komm mit, Fremder, dann wirst du es sehen.« 182
Der Mann war ein Riese, etwa sechs Fuß und eine halbe Handbreit groß. »Geh vor!« sagte Nottr. »Und keine falsche Bewegung, Fremder, sonst bekommst du meine Klinge zu schmecken!« Der rothaarige Hüne gehorchte. Er mochte etwa fünfzig Sommer zählen, sein Haar war eine wahre Löwenmähne, und der feuerrote Vollbart war zerzaust. Seine Kleider waren zerlumpt, das Kettenhemd über der Brust zerfetzt, und der linke Ärmel fehlte. Bewaffnet war der Krieger mit einem schmalen Schwert, das in einer kostbar verzierten Scheide steckte. Sie traten ans Feuer. Olinga und Sadagar waren aufgestanden und blickten dem Fremden neugierig entgegen. Sadagars scharfer Blick erkannte sofort, daß dieser Mann einmal bessere Zeiten erlebt hatte. »Wer bist du?« fragte Sadagar. Der Rotbart hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Sein Blick war gehetzt und ein wenig irr. »Was willst du damit sagen, Rotbart?« fragte Nottr. »Ich habe die Erinnerung verloren«, flüsterte der Hüne. »Ihr müßt mir glauben, ich weiß nicht, wer ich bin.« »Setz dich, Rotbart«, sagte Sadagar. »Du scheinst Böses erlebt zu haben. Olinga, gib ihm zu trinken und zu essen.« Gierig trank der Mann, dann stopfte er sich heißhungrig Fleisch in den Mund, doch nach ein paar Bissen beherrschte er sich und aß nun langsamer. »Woran kannst du dich erinnern, Rotbart?« fragte Nottr, der das Schwert in die Scheide schob. »Eine Schlacht«, keuchte Rotbart. »Ein grauenvolle Schlacht. Die Schreie verfolgen mich, lassen mich in der Nacht hochfahren und erschrecken mich. Ich sehe alles wie in Nebel gehüllt, das Heer der Moortoten und der Geisterreiter, und der Klang der Kriegshörner hallt noch immer in meinen Ohren. Aber wenn ich mich an Einzelheiten zu erinnern versuche, dann 183
versagt mein Gedächtnis. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, das Land ist mir fremd, und seit Tagen habe ich keinen Menschen mehr gesehen.« Sadagar strich sich nachdenklich über das Kinn. Der Krieger hatte vermutlich an der Entscheidungsschlacht im Hochmoor von Dhuannin teilgenommen. Seine Vermutung, daß der Rotbart ein Adeliger war, schien sich zu bestätigen, denn er sprach nicht wie ein einfacher Krieger. »Ich bin müde«, flüsterte er leise, »unendlich müde. Danke für Speis und Trank.« »Hier hast du eine Decke«, sagte Nottr und warf ihm ein Bärenfell zu. »Danke«, sagte der Hüne, hüllte sich in die Decke und war augenblicklich eingeschlafen. Nottr blickte Sadagar fragend an. »Der Rotbart ist ein Edelmann«, sagte der Steinmann. »Ein düsteres Geheimnis umgibt ihn. Vielleicht bekommt er irgendwann seine Erinnerung zurück. Laßt uns nun schlafen!«
Im Morgengrauen zogen sie weiter durch das hügelige Bergvorland. Sadagar hatte mit seiner Vermutung recht behalten, daß ihnen die Bögen den Weg weisen würden. Der Rotbart hatte sich ihnen angeschlossen. Meist schwieg er, doch gelegentlich stammelte er unzusammenhängende Sätze, aus denen sie nicht klug wurden. Doch immer ging es um einen fürchterlichen Kampf, um unzählige Tote und unbegreifliche Schrecken. »Scheuchen«, keuchte er wieder einmal. »Die Scheuchen spießten die Krieger auf, es war…« Dann schwieg er wieder. »Was sind Scheuchen, Rotbart?« Verständnislos blickte der Hüne Nottr an. »Ich weiß es nicht.« 184
Immer wieder stießen sie auf Ruinen, Reste einer hochstehenden Kultur, die vor endloser Zeit untergegangen war. Das alte Reich Tillorn war schon lange zerfallen; niemand wußte, was aus dem alten Volk geworden war. Nottr sah sich aufmerksam um. Gelegentlich blieb er stehen, kniete nieder und prüfte die Spuren im weichen Boden. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte er endlich. »Ich habe Pferdespuren entdeckt. Einige der Tiere müssen schwere Lasten tragen, denn ihre Hufen haben sich tief in den Boden gegraben.« »Was schlägst du vor, Nottr?« fragte Sadagar. »Folgen wir den Spuren, dann wird es wahrscheinlich zu einem Kampf kommen. Hier wimmelt es von Wegelagerern.« »Woher weißt du das?« Nottr brummte ungeduldig. Er starrte den bewaldeten Hügel an, zu dem die Hufspuren führten, dann bebten seine Nasenflügel, als er die Luft geräuschvoll einsog. »Pferde, ich rieche Pferde«, flüsterte der Barbar. Die Sonne stand hoch im fahlen Himmel, und nach den vergangenen Tagen in der eisigen Kälte der Berge war es so mild und lau, als stehe der Frühling vor der lur. Wieder und wieder wanderte Nottrs Blick zwischen dem Hügel und dem geheimnisvollen Krieger hin und her, um den eine fast körperlich zu spürende Düsternis war. Sein Gesicht war ernst, die Augen waren seltsam leer, wie geblendet durch die Schrecken, die sie geblickt hatten. »Wie steht es mit dir, Rotbart?« fragte Nottr. »Hast du außer deiner Erinnerung auch vergessen, wie man ein Schwert führt?« »Keine Angst, Nottr«, antwortete er, und ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen, »mein Arm ist stark und mein Auge sicher. Du kannst mit meinem Schwert rechnen.« 185
»Halte es bereit, Rotbart, denn ich glaube, daß uns die Räuber bereits erwarten.« Irgendwo wieherte ein Pferd, dann waren das Rascheln zertretener Farnkräuter und das dumpfe Pochen schwerer Pferdehufe zu hören, in das sich wilde Kampfschreie mischten. Acht Wegelagerer waren es, alle ganz in Schwarz gekleidet. Die Köpfe waren mit schwarzen Tüchern bedeckt, die nur die funkelnden Augen frei ließen, über den Kettenpanzern trugen sie schmutzige Leinengewänder, die mit breiten Ledergürteln zusammengehalten wurden. Die Pferde, auf denen sie hockten, waren klein und stämmig. Ihr Fell war stumpf, und die Rippen sahen hervor. Sie wirkten so ungepflegt wie ihre Herren. »Macht sie nieder!« schrie einer der Angreifer und hob sein Breitschwert. Sadagar schleuderte ein Messer, das den ersten der Reiter erwischte, der im Sattel zusammensackte und zu Boden fiel. Sein Pferd, ein stämmiger Rotfuchs, schnaubte und galoppierte auf Nottr zu, der die Zügel ergriff. Der Gaul drehte ab, doch Nottr verkrallte sich mit der rechten Hand in der Mähne und lief ein paar Schritte neben dem Pferd her, dann schwang er sich geschickt in den Sattel. Der Rotfuchs bockte etwas, doch Nottrs starke Arme und sein gewaltiger Schenkeldruck ließen jede Gegenwehr ersterben. Er riß das Tier herum, stieß einen Jubelschrei aus und zog sein Schwert. Sadagar ließ seine Messer durch die Luft fliegen, doch nur selten fanden sie ein Ziel, die meisten prallten wirkungslos von den Kettenpanzern ab. Ein Reiter schoß auf den Rotbart zu. Geschickt parierte der den Schwerthieb, und mit der linken Hand griff er nach dem rechten Bein des Schwarzgekleideten und riß ihn aus dem Sattel. Ein nachfolgendes Pferd konnte nicht ausweichen und trampelte den Mann nieder. 186
Aber auch Olinga verstand zu kämpfen. Ihr waren zwar die düsteren Reiter und die Pferde unheimlich, doch davon ließ sie sich nichts anmerken. Mit ihrer messerscharfen Steinaxt zerschmetterte sie den Schwertarm eines der Räuber, der sie mit seiner Waffe hatte aufspießen wollen. Nottr ritt wild schreiend heran. Auge um Auge, Zahn um Zahn, das war das Gesetz seines Stammes, nach dem er handelte. »Kommt, ihr Hunde!« brüllte er. »Mein Schwert will wüten!« Wild hieb er die Fersen in die Flanken des Gaules, der auf den nächsten Reiter zurannte. Nottr hob sein Krummschwert so hoch, daß die Spitze fast seinen Rücken berührte. Doch sein gewaltiger Hieb ging ins Leere, denn sein Gegner trieb sein Pferd zur Seite. »Laßt uns fliehen!« brüllte einer der Mörder. »Sein Schwert ist der verlängerte Arm eines Stummen Großen!« Der Rotbart fing ein Pferd ein, schwang sich geschmeidig in den Sattel und wollte die fliehenden Wegelagerer verfolgen. »Bleib hier, Rotbart!« schrie Nottr. Olinga und Sadagar kamen auf Nottr zu. Der Steinmann sammelte seine Messer ein, wischte sie ab und schob sie in den Gürtel. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als dieses Gesindel zu verfolgen«, sagte Nottr, als der Rotbart neben ihm stehenblieb. »Du scheinst tatsächlich ein tapferer Krieger zu sein, mein rotbärtiger Freund.« Der Krieger ohne Erinnerung starrte die zwei toten Räuber an. »Sollen wir sie begraben?« »Dein Geist ist tatsächlich verwirrt, mein Freund. Wer hat je davon gehört, daß man Wegelagerer begräbt?« »Weshalb sind die Mordbuben geflohen?« fragte Sadagar. Nachdenklich blickte er Nottr an, der sein Schwert in die Scheide schob. »Der Anblick deiner Waffe hat ihnen Angst eingejagt, Nottr.« 187
»Möglich«, brummte Nottr. »Nimm Sadagar auf dein Pferd, Rotbart. Wir wollen die Packpferde der Gesetzlosen suchen!« Der Barbar verkrallte sich mit der Linken in der Mähne, dann beugte er sich weit aus dem Sattel, packte Olinga mit der Rechten, riß sie hoch und setzte sie vor sich auf den Sattel. »Halt dich fest!« Nottr trieb den Gaul an, glücklich darüber, endlich wieder ein Pferd unter sich zu spüren, auch wenn es nur ein erbärmlicher Schinder war. Seine Augen blitzten, und er drückte Olinga eng an sich. Für die Karsh-Frau war es eine völlig neue Erfahrung, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Ihre Angst verflog, und Nottrs unbekümmerte Begeisterung sprang auf sie über. Nun verstand sie auch Nottrs fast kindliche Schwärmerei für Pferde, begriff seine tiefe Achtung, die er diesen Geschöpfen entgegenbrachte, die schnell wie der Wind waren. Schnaubend rannte der Wallach den Hügel hoch und übersprang geschickt Büsche und Gräben. Als Nottr die Packpferde erblickte, zügelte er den Rotfuchs, setzte Olinga sanft auf den Boden und sprang aus dem Sattel. Dann tätschelte er kurz die Nüstern und klopfte dem Gaul liebevoll auf den Hals. »Ich muß mit dir sprechen, Nottr«, sagte Sadagar drängend. »Später«, brummte der Barbar. »Sehen wir uns an, welche Schätze sich in den Ballen verbergen.« Sadagars Gesicht war düster, als Nottr die Säcke und Ballen öffnete. Olingas Wangen röteten sich vor Begeisterung und Entzücken über die nie zuvor gesehenen Kostbarkeiten. Da gab es feine Stoffe, kostbar verarbeitete Lederwaren und funkelnde Schmuckstücke, wunderbar geschmiedete Schwerter, fremdartig riechende Gewürze aus fernen Ländern, prall gefüllte Weinschläuche, kunstvoll bestickte Kleider, Säcke mit Mehl und große, geräucherte Fleischstücke. Nachdenklich wählte Sadagar für sich neue Kleider aus. Er 188
erinnerte sich noch deutlich an ein Gespräch mit Nadomir, in dem der Gnom beiläufig die Großen erwähnt hatte, von denen Mythor betreut und behütet worden war. Einer der Mörder hatte Nottrs Schwert als den verlängerten Arm eines Stummen Großen bezeichnet, und daraufhin hatten sie panikartig die Flucht ergriffen. Sadagar erinnerte sich an Nottrs seltsames Verhalten, als ihn Nadomir nach der Herkunft des Schwertes gefragt hatte. Als sich alle neu eingekleidet hatten, ließen sie sich auf weichen Decken nieder, kosteten vom Fleisch und vom würzigen Käse und ließen einen Weinschlauch kreisen. »Nun zu dir, Nottr. Ich muß dir einige Fragen stellen, mein Freund.« Der Barbar schob sich ein Stück Fleisch in den Mund und grunzte mißmutig. »Raus mit der Sprache, Nottr. Ich will endlich die Wahrheit hören.« Nottr spülte das Fleisch mit einem Schluck Wein hinunter, lehnte sich zurück und seufzte tief auf. »Sprich endlich!« zischte Sadagar ergrimmt. »Nun gut, du sollst die Geschichte hören. Vor etlichen Monden zogen wir durch dieses unwirtliche Land.« »Du und dein Lorvanerhaufen?« »Sprich nicht so abfällig von meinen Stammesbrüdern«, ereiferte sich Nottr. »Wir gelangten zu einer Inselgruppe, die inmitten eines wilden, unbezwingbar scheinenden Meeres liegt. Dort soll sich auch der Koloß von Tillorn befinden, wer oder was das auch immer sein mag. Wir wurden ständig in blutige Auseinandersetzungen mit Wegelagerern verwickelt. Ich wollte umkehren, einen Bogen um die Karsh-Berge schlagen und den Nordländern einen Besuch abstatten. Mein Ziel war das reiche Ugalien, von dem ich schon viel gehört hatte. Ein Gefangener verriet mir dann, daß sich auf der Inselgruppe, wo 189
der sagenhafte Koloß steht, ein unermeßlicher Schatz befinden soll. Ich war neugierig geworden und erkundigte mich weiter. Unser Schamane warnte mich, doch ich schlug seine Worte in den Wind. Ich brach auf, ganz allein, und gelangte zu den Inseln, die Splitter des Lichts genannt werden. Diese Inseln waren mir unheimlich. Schließlich gelangte ich in eine Grotte, die aber leer war.« »Ich sehe dir an, Nottr, daß du schon wieder etwas Wichtiges verschweigst. Was hast du in dieser Grotte gefunden?« Der Barbar knurrte ein paar wilde Verwünschungen. »Verdammt soll dein scharfer Verstand sein, Sadagar, der dich zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden läßt. Du hast recht, ich entdeckte dort etwas, aber ich schwieg bisher darüber, da es keine Ruhmestat war. Ich fand dort ein Pergament, das…« »Es war Fronjas Bild?« unterbrach Sadagar fragend. Widerstrebend nickte Nottr. »Ja, es war Fronjas Bildnis, das ich an mich nahm.« »Das Schwert hast du auch dort gefunden?« »Nein, das habe ich mir im ehrlichen Zweikampf erworben. Als ich aus der Grotte trat, stellte sich mir ein protziger, überheblicher Kerl mit verhülltem Gesicht entgegen. Dieser Kerl schwieg, aber wenn ich heute darüber nachdenke, könnte es auch der Fall gewesen sein, daß er einfach stumm war. Aus seinen Gesten schloß ich, daß er das Bild von mir wollte. Doch ich dachte nicht daran, es ihm zu geben. Daraufhin griff er nach seinem Schwert, das nun das meine ist, und wollte mir den Kopf spalten. Ich war zornig geworden, da ich es als eine tödliche Beleidigung empfand, daß der Vermummte nicht mit mir sprach. Ich besiegte ihn und nahm mir sein Krummschwert.« »Dann war dein Gegner der Stumme Große, wer immer sich hinter dieser Bezeichnung versteckt.« 190
»Ich weiß es nicht, und es kümmert mich auch nicht.« »Hast du den Koloß von Tillorn gesehen?« »Nein. Ich weiß auch nichts über ihn. Niemand wollte mir etwas Näheres erzählen. Ich hörte nur Gerüchte, daß es sich um einen riesigen Krieger handeln soll, oder vielleicht ist er auch nur eine Statue. Ich weiß es nicht, Sadagar.« Der Steinmann blickte Nottr prüfend an, doch er wußte, daß der Barbar die Wahrheit sprach. »Nun aber genug der Schwätzerei«, sagte Nottr murrend. »Laßt uns aufbrechen.« Bewundernd blickte er Olinga an, deren neue Kleider ihre Schönheit unterstrichen. Von ihrem kunstvoll verzierten Gürtel baumelte ein scharfes Krummschwert, das in einer mit Edelsteinen verzierten Scheide steckte. »Ich helfe dir aufs Pferd, Geliebte«, sagte Nottr. »Ich werde neben dir herreiten und dir alles erklären, aber mach dich darauf gefaßt, daß deine Schenkel schmerzen werden und dein Hinterteil Blasen bekommen wird. Doch ich versichere dir, daß du in drei Tagen eine begeisterte Reiterin sein wirst.« Sadagar und Rotbart kümmerten sich um die Packpferde. Da sie zwei Tiere zum Reiten benötigten, mußten sie einen Teil der Beute zurücklassen. Olinga war die geborene Reiterin. Sie stellte sich überaus geschickt an, saß locker im Sattel und befolgte Nottrs Anweisungen, der sie immer wieder lobte. Doch Nottrs Warnungen bewahrheiteten sich. Die Sonne war kaum eine Handbreit gesunken, als ihre Oberschenkel und ihr verlängertes Rückgrat zu schmerzen begannen. Aber tapfer ertrug sie die Schmerzen, denn sie war hart, wie es nur eine Karsn-Frau sein konnte. Sie ritten ständig bergab. Da und dort wurden die Wälder weniger dicht, Wiesen waren zu sehen, und die tiefer liegenden Hänge wurden sichtbar. Ein seltsam scharfer Geruch hing 191
in der Luft, ein Hauch vom fernen Meer, das aber noch nicht zu sehen war.
Sie hatten in einer Ruine übernachtet und waren im Morgengrauen aufgebrochen. Doch es wollte nicht hell werden. Ein bleicher, drohender Himmel spannte sich über die vor ihnen liegende Ebene. Alles war grau in grau, es roch nach Regen und Meer, das weit am Horizont zu sehen war – ein riesiges, bleifarbenes Ungeheuer, das gurgelnd gegen die Klippen raste und die Erde verschlingen wollte. Das Bergland lag hinter ihnen, und sie ritten an geheimnisvollen Ruinen vorbei, die früher eindrucksvolle Häuser und Paläste gewesen waren, in denen nun Ratten und Gewürm hausten. Nebelfetzen zogen vom Meer her über die trostlose Ebene, und ein beißender Wind schlug ihnen entgegen, der sie frösteln ließ. Im düsteren Licht sahen die Reste der tillornischen Hauptstadt bedrohlich aus. Der Geruch des Verfalls, des Untergangs und der Fäulnis schlug ihnen entgegen. Von der einstigen Pracht und Größe der Stadt waren nur Trümmer geblieben, zerborstene Säulen, Statuen und Standbilder unbekannter Götter und Helden, deren Gesichter Wind und Wetter ausgelöscht hatten. Ein unbestimmbares Grauen, ein namenloser Schrecken ging von den schwarzen, durch den einsetzenden Nieselregen feuchten umgestürzten Steinbrocken, halb zerfallenen Mauern und zerbrochenen Säulen aus. Jeder Fußbreit dieses Landes war blutgetränkt, denn hier prallten die Barbaren der namenlosen Länder auf die Banden der tillornischen Wälder, und auch seefahrende Völker mischten sich in den Kampf ein. Und 192
hier in diesen unheimlichen Ruinen schienen sich die Seelen der Ermordeten zu sammeln, sich zu vereinen und zu unheimlichen Spukgestalten zu werden. Furcht ergriff die Gefährten, und sie trieben die Pferde an, die dahinstoben, als wollten die Geister sie verschlingen. Nur das seltsam hohl klingende Trommeln der Hufe war zu hören, in das sich gelegentlich ein furchtsames Schnauben der Pferde mischte. Die Ebene versank in Nebelschwaden und Wasserschleiern, die vom nachtschwarz gewordenen Himmel fielen. Dann sah Sadagar die schemenhaften Gestalten, die ihnen entgegenkamen, und er zügelte sein Pferd. Der Regen fiel nun etwas schwächer, und Sadagar erkannte, daß es sechs Reiter waren, die rasch näher kamen. Er musterte die Gestalten mißtrauisch, die wie Nottrs Stammesgefährten aussahen. Ihre Gesichter waren platt und braungelb, die Augen groß und dunkel und die langen Haare zu Zöpfen geflochten. Nottr, Olinga und Rotbart hielten ihre Pferde neben Sadagar an. »Das sind ja deine Artgenossen, Nottr!« entfuhr es Sadagar. »Das sind Lorvaner!« »Wir sind keine Lorvaner, Zwerg!« brüllte einer der Männer mit bellender Stimme. Sein starker Dialekt war für Sadagar, Olinga und Rotbart fast unverständlich. Er riß einen Pfeil aus dem Köcher und griff nach dem Bogen. Sofort ritt Nottr näher heran. »Folgt mir«, flüsterte er. Dann lachte er dröhnend. »Ihr Aasfresser!« brüllte er. »Kennt ihr mich?« »Du scheinst ein Lorvaner-Schwein zu sein, das sich von Dreck und Unrat ernährt!« »Hüte deine Zunge, Cirymer, sonst frißt dich mein Schwert!« »Wir werden deinen Leib als Zielscheibe verwenden, Lorvaner. Die Pfeile werden so dicht in deinem Pelz stecken, daß du 193
wie ein Igel aussehen wirst.« Langsam war Nottr näher gekommen. Die Cirymer waren die größten Todfeinde seines Stammes. Ihren Häuptling kannte Nottr nur zu gut. Es war Kaschkas, den er seit vielen Sommern haßte. Olinga, Sadagar und Rotbart folgten ihm. Je näher sie bei den Cirymern standen, desto vorteilhafter war dies für sie, sollte es zu einem Kampf kommen, da die Barbaren dann ihre Pfeile nicht verschießen konnten. Im Nahkampf mit dem Schwert waren sie weit weniger gefährlich. »Du Großmaul«, höhnte Nottr, »du namenloser Jüngling, wende dich heulend zur Flucht, denn wisse, daß ich Nottr bin!« »Höre meinen Namen, schwacher Nottr, der du einer der Feigsten deines Stammes bist, und dein Herz wird sich vor Furcht zusammenpressen, und dein dünnes Blut wir dir aus dem Gesicht weichen, denn ich bin Torrntn!« »Torrntn?« fragte Nottr und lachte gellend. »Torrntn, der Cirymer, der alte Weiber und Greise erschlägt? Jener stinkende Cirymer, dessen Heldentaten darin bestehen, daß er Halbwüchsige schändet und sich von verfaulten Ratten und Regenwürmern ernährt, die er als Köstlichkeiten zu würdigen weiß? Bist du tatsächlich jener Torrntn?« »Für deine Worte werde ich dich vierteilen, Lorvaner!« brüllte Torrntn und zog sein Schwert. Nun riß auch Nottr das Schwert aus der Scheide. »Ich werde dich leben lassen, denn mein Schwert weigert sich, dein stinkendes Blut zu trinken.« Kraftvoll trieb Nottr sein Pferd vorwärts und legte die ganze Kraft seines Körpers in den Faustschlag, der Torrntns Kinn zerschmetterte und den Krieger bewußtlos vom Pferd fallen ließ. Nun stürmte Nottr fast gleichzeitig mit seinen Gefährten auf die Cirymer ein, die sich verzweifelt wehrten. Der Kampf war 194
gespenstisch, denn der Regen prasselte noch immer zur Erde und die kämpfenden Gestalten waren nur als verwischte Schemen zu erkennen. Durch die Geräusche von Wind und Regen war das Klirren der Schwerter zu hören. Der Kampf war kurz; fünf tote Cirymer lagen auf dem schlammbedeckten Boden, und ihr Blut wurde vom rauschenden Regen fortgewaschen. »Du kämpfst gut, Rotbart«, sagte Nottr zufrieden. »Zwei der Halunken hast du ins Jenseits befördert. Du bist mutig wie ein Löwe.« »Löwe«, flüsterte der Hüne. »Ja, das ist es. Ich erinnere mich wieder: Der Löwe war mein Wappentier.« Nottr sprang vom Pferd und blieb vor Torrntn stehen, der schwankend aufstand und sich das gebrochene Kinn hielt. Kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen, doch er stierte Nottr haßerfüllt an. »Auf die Knie mit dir, Torrntn.« Der Cirymer ließ sich auf die Knie fallen, und Schmutz spritzte hoch und überschüttete Nottr. Nottr ergriff Torrntns dichten Zopf, der bis zu den Hüften reichte, spannte ihn und schnitt ihn dicht unterhalb des Nackens ab. »Mach dein geiferndes Maul auf, Cirymer«, knurrte Nottr, »und friß deine Haare!« »Das werde ich nicht tun. Erschlage mich.« Nottr knurrte und stieß das Schwert in die Scheide, dann warf er den Zopf zu Boden, denn er kannte die Cirymer genau, und er wußte, daß Torrntn sich eher töten lassen würde, als seinem Befehl nachzukommen. »Hör mir zu, Cirymer! Geh zurück zu deinem Anführer Kaschkas, der ohne Ehre ist, und sage ihm, daß ich ihn zum Zweikampf herausfordere. Steh auf und verschwinde, Cirymer!« 195
Wortlos stand Torrntn auf, warf seinen toten Stammesbrüdern einen kurzen Blick zu, sprang auf sein Pferd und drehte sich Nottr zu. »Hör mir zu, Nottr!« sagte er heiser, fast unverständlich. »Fünfhundert Cirymer haben sich auf der Ebene von Tillorn versammelt, und ich schwöre dir, daß wir dich jagen werden, bis wir dich haben. Dann werden wir dir die Haut abziehen!« Er gab dem Pferd die Sporen, wurde zu einem Schatten, den der Regen verschluckte. »Du hast wie ein Narr gehandelt, Nottr«, zischte Sadagar wütend. »Niemals hättest du den Kerl laufenlassen dürfen. Jetzt werden uns seine Brüder verfolgen. Wo sollen wir uns vor ihnen verstecken?« »Auf den Inseln!«
Das Hämmern des Regens war schwächer geworden. Doch sie waren alle bis auf die Haut naß und halb erfroren. Im grauen Licht waren die Klippen zu sehen, und das Toben des Meeres war lauter und durchdringender geworden. Die Inselgruppe wurde vom Nebel verschluckt. Auf einer der Klippen zügelten sie die Pferde und blickten über den endlos schäumenden Abgrund des Meeres. Olinga zitterte vor Kälte und Furcht, denn nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches gesehen, und die herandonnernden Wellen, die hochspritzende Gischt, das war alles zuviel für sie, die auf einen solchen Anblick nicht vorbereitet war. Sie glaubte, von den gurgelnden Wassermassen verschlungen zu werden, und wich entsetzt zurück. »Ich sehe keine Inseln«, sagte Sadagar verärgert. »Sie liegen genau vor uns, Sadagar. Wir müssen warten, bis die Ebbe einsetzt, dann sinkt der Wasserspiegel, und wir können die Inseln mit den Pferden erreichen.« 196
Sie stiegen von den Pferden, und Nottr versuchte Olinga zu beruhigen, die sich angstvoll an ihn klammerte. Sadagar entdeckte eine überhängende Felswand, und darunter fanden sie Schutz vor Regen und Wind. Langsam wurde der Himmel heller, und das Meer beruhigte sich. Die Wogen wichen zurück, und sie suchten und fanden einen Weg, der sie die Klippen hinunterbrachte. Es war ein halsbrecherischer Abstieg, der sie über glitschige, mit Seegras bedeckte Steine führte. Die Felsenklippen, die noch vor kurzer Zeit vom Meer umspült worden waren, rochen faulig und waren mit Braunalgen und Seegras bedeckt. Sie atmeten erleichtert auf, als sie eine Sandbucht erreichten. Das Wasser zog sich dumpf grollend zurück, und nun konnten sie auch die Inseln erkennen, die durch glitschige Stege miteinander verbunden waren. Die Pferde schnaubten ängstlich, als sie bei jedem Schritt im feuchten Sand einsanken. In die Nebelschwaden, die auf sie zuströmten, mischte sich beißender Rauch, der von einer der Inseln zu ihnen getragen wurde. Sie überquerten eine Brandungsplatte, ritten durch ein riesiges Brandungstor hindurch und kamen an einer schroffen Steilwand vorbei. Es dämmerte bereits, und ein dünner Rauchfaden stieg in den dunkel werdenden Himmel. »Die Insel scheint bewohnt zu sein«, sagte Nottr. »Wir müssen vorsichtig sein, denn wahrscheinlich werden hier Gesetzlose hausen.« Im schwindenden Abendlicht erreichten sie einen flacheren Uferteil, der sanft anstieg und sie auf eine von steilen Felswänden eingeschlossene Ebene führte. »Hier gibt es sicherlich unzählige Höhlen«, meinte Nottr und stieg vom Pferd. »Hol ein paar Fackeln hervor, Sadagar.« Der Steinmann mußte seinen magischen Feuerzauber an197
wenden, um die Fackeln zu entzünden, denn es regnete wieder stärker. Die Fackeln qualmten und zischten unter den aufklatschenden Regentropfen. Sie hielten sich dicht an die Felswand und suchten sie nach Öffnungen ab. »Das scheint eine Höhle zu sein«, sagte Sadagar plötzlich und trat näher an die Wand heran. Ein breites, mannshohes Loch klaffte in der schwarzen Felswand. »Halte mein Pferd, Nottr. Ich werde mich in der Höhle umsehen.« Kaum hatte Sadagar den Gang betreten, als faustgroße Steine herunterfielen. Die Pferde wieherten erschrocken auf, und zwei rissen sich los und verschwanden in der Finsternis. Olinga schrie auf, als ihr Pferd durchging. Ihr rechter Arm verfing sich im Zügel, sie fiel schwer zu Boden und wurde ein Stück mitgeschleift. Ein Stein schlug Nottr die Fackel aus der Hand. »In die Höhle!« brüllte der Rotbart. »Das ist ein Angriff der Gesetzlosen!« »Ich muß Olinga folgen!« schrie Nottr und drehte sich um, als ein Stein seinen Schädel traf. Wie ein Baum, der vom Blitz gefällt wird, stürzte er bewußtlos zu Boden. Der Rotbart hob den Bewußtlosen hoch und taumelte auf die Höhle zu. Noch immer donnerten Steine in die Tiefe, ein paar trafen ihn, doch er achtete nicht darauf. Er ließ Nottr langsam auf den Boden nieder. »Was ist geschehen?« schrie Sadagar fragend. »Ein Angriff. Kümmere dich um Nottr. Ich sehe nach Olinga.« Zwei Pferde waren dem Rotbart gefolgt, die schnaubend stehenblieben und angstvoll die Augen rollten. Der Krieger ohne Erinnerung stürzte hinaus, blieb aber sofort stehen, als weitere Steinbrocken herunterprasselten. Fluchend kehrte der Rotbart zu Sadagar zurück. Sie hoben den Bewußtlosen hoch und trugen ihn in die Höhle. Die Pferde 198
folgten ihnen ängstlich. Als Nottr stöhnend die Augen öffnete, brannte ein qualmendes Feuer in der Höhle, deren Felswände mit kleinen schimmernden Adern durchzogen waren. Er setzte sich wimmernd auf, alles drehte sich vor seinen Augen. Keuchend ließ er sich zurückfallen. »Bleib ruhig liegen, Nottr«, sagte Sadagar. »Wo ist Olinga?« »Wir wissen es nicht«, sagte Sadagar leise. »Es war ein Überfall der Gesetzlosen. Im Augenblick können wir nichts unternehmen.« »Ich werde hinausgehen und sie suchen«, brummte Nottr. Doch als er sich wieder aufrichtete, dröhnte sein Kopf, und ihm wurde übel. »Ich kann nicht aufstehen«, sagte er mit klagender Stimme. »Du mußt liegenbleiben. Ein Stein hat dich getroffen, und es ist ein Wunder, daß dein Schädel das ausgehalten hat.« »Wir brauchen Hilfe, rufe Nadomir an, Sadagar.« »Das habe ich bereits versucht, mein Freund«, sagte der Steinmann mit trauriger Stimme, »doch er hat meinen Ruf nicht gehört.« »Dann sind wir verloren«, flüsterte Nottr. »Nur Mut, mein Freund, morgen sieht alles ganz anders aus. Dann werden wir Olinga suchen.« »Morgen kann es zu spät sein.« Nottr fiel in einen unruhigen Schlummer. Sadagar und der Rotbart blieben sitzen, beide Männer stierten schweigend in die Flammen. »Ich sehe eine weiße Stadt«, flüsterte der Rotbart. »Torbögen, schlanke Türme und einen wunderbaren Palast. Jubelnde Menschen und ein edles Pferd, das einen kostbaren Sattel trägt, der mit einem Löwenkopf verziert ist. Löwe! Schon wieder der Löwe. Weshalb denke ich immer an Löwen, Sadagar?« 199
»Du sagtest, daß der Löwe dein Wappentier sei.« »Alles ist so undeutlich, so verschwommen. Ein Nebel liegt vor meinem Gedächtnis.« Wieder blickte er gedankenverloren in das hochlodernde Feuer. Er rückte näher, runzelte die Stirn, und sein Blick veränderte sich. Seine Augen funkelten, er hob den Kopf und lächelte zufrieden. »Ich kann mich nun erinnern. Sadagar, meine Erinnerung ist zurückgekehrt!« Sadagar blickte ihn überrascht an. Auf einmal hob Nottr den Kopf. »Was sagt der Rotbart?« »Er weiß nun, wer er ist.« »Der Löwe ist das Wappentier meines Volkes. Tausend Leoniter zogen in die Schlacht von Dhuannin, um das Böse zu vernichten, doch es kam ganz anders. Wir wurden in eine Falle gelockt, und meine Krieger starben den Spiegeltod und wurden zu Geisterreitern. Ich verlor den Verstand und irrte durch die Lande. Es ist mir ein Rätsel, wie ich nach Tillorn gekommen bin.« »Wer bist du nun wirklich, Rotbart?« »König Lerreigen von Leone!« »Leone?« fragte Nottr. »Leone, auch die Insel des Löwen genannt, ist ein Stadtstaat inmitten des nördlichen Salamos, nahe der Grenze zu Tainnia.« »Erzähle uns von deiner Stadt, König«, bat Sadagar, »und berichte uns von der Schlacht, das wird unseren ungeduldigen Freund ablenken.« Der Rotbart nickte, trank einen Schluck Wein und begann zu erzählen – von den Schönheiten der weißen Stadt und den Schrecken der Entscheidungsschlacht…
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Peter Terrid
DIE INSELN DER VERFEMTEN Steil führte der Weg den Berg hinan. Pandor mußte kräftig ausschreiten und sorgsam darauf achten, wo der Huf aufgesetzt werden durfte. Das Gestein war brüchig, ein Fehltritt konnte leicht Reiter und Reittier hinabbefördern in die felsstarrende Tiefe. »Immer ruhig, Pandor!« Mythor hatte es nicht sehr eilig. Der Abend dämmerte heran; in den Bäumen wogten erste Abendnebel. Es wurde langsam Zeit, sich einen Platz zu suchen, an dem man die Nacht verbringen konnte. Mythor hatte ein Tier geschossen, einen hoffentlich schmackhaften Braten, der ihm vom Sattel herabhing und bei jedem Schritt Pandors gegen den linken Schenkel des Reiters schlug. Das Einhorn suchte sich seinen Weg selbst. Sorgsam prüfte es jede Stelle, bevor es weiterschritt. Längst waren gebahnte Wege verlassen. Der Reiter bewegte sich in einem Gebiet, das früher einmal zum Reich von Tillorn gehört hatte – nun war es wieder Wüstenei geworden, hartes, schroffes Gebirgsland, abweisend und feindlich. Der Reiter hatte keine Angst, schon gar nicht die, sich im Wald zu verirren, eine Gefahr, die kaum von der Hand zu weisen war. Dicht bestanden war der Fels, wo immer sich eine Krume fand, in der ein Baum wurzeln konnte. Wind und Wasser vieler Äonen hatten die Felsen bearbeitet und viel tragfähigen Boden zwischen den Felsen angehäuft. Es war schwierig, einen Weg zu finden. 201
Mythor indessen konnte unbesorgt sein – der Helm der Gerechten wies ihm den Weg zuverlässiger, als jeder Saumpfad es hätte fertigbringen können. »Hungrig?« fragte Mythor das Einhorn. »Sollen wir rasten?« Er erwartete keine Antwort. Unermüdlich stieg das Einhorn bergan. Mythor war es recht. Wenn er die Höhe gewann, hatte er vielleicht eine gute Fernsicht, konnte vielleicht gar den Koloß erkennen, der das Ziel seiner Reise war. Tillorn lag voraus, ehemals ein blühendes Reich, heute willfährige Beute für Wegelagerer und Strauchdiebe. Hinter jedem Gebüsch konnte einer lauern, jede Lichtung konnte zur Falle werden. Auch vor dem wegelagernden Geschmeiß hatte Mythor wenig Furcht. Er wußte den Bitterwolf an seiner Seite, Horus drehte hoch über ihm wachsame Runden, und Mythors Zutrauen zur Stärke seiner Arme war nicht ohne Grund nahezu unbegrenzt. Der Gipfel war bald erreicht. Fern am Horizont tauchte die Sonne weg, eingehüllt in weiße Wolken wirkte sie blaß und wenig anheimelnd. Ihr letztes Licht reichte gerade aus, die nähere Umgebung für Mythor erkennbar zu machen. Er stand mit Pandor auf einem Berggipfel, und sein weiterer Weg mußte talwärts verlaufen, dann wieder hinauf, und mit etwas Glück lag hinter der nächsten Anhöhe schon sein Ziel: der Koloß von Tillorn, eines der wenigen Überbleibsel des Reiches von Tillorn. »Suchen wir uns einen Lagerplatz«, sagte Mythor. Der Bitterwolf hatte sich abgesetzt, um seinem Jagdtrieb in den Wäldern nachzugehen; Horus war ebenfalls unterwegs. Langsam trabte das Einhorn ein wenig talwärts. Mythor saß bequem im Sattel und beäugte aufmerksam die Landschaft. Er wußte, daß dies die tillornischen Wälder waren, übel beleumundet wegen ihres Raubgesindels. Mythor wußte, daß er für 202
solche Wegelagerer allerlei zu bieten hatte – das Einhorn, das Gläserne Schwert Alton und der Helm der Gerechten hatte schon manches gierige Funkeln in Augen geweckt. »Sollen sie nur kommen«, sagte Mythor. Pandor blieb an einer vorzüglichen Stelle für ein Nachtlager stehen. Es gab eine grasbestandene Lichtung in der Nähe, einen Felsen, der vor Wind schützte, und unter einem umgestürzten Baumriesen sprudelte sogar ein erfrischender Quell hervor. Was immer Mythor sich wünschen mochte, er fand es an diesem Platz. Der Sohn des Kometen lächelte verhalten. Er wußte, was die nächsten Stunden bringen würden. Ein so einladendes Plätzchen zum Rasten fand sich weit und breit nicht mehr – also lag es auf der Hand, daß die Geier des Waldes sich bald einstellen würden. Wahrscheinlich würden sie warten, bis Mythor schlief, um ihm dann mühelos die Gurgel durchschneiden zu können. Auf offenen und ehrlichen Kampf ließen es Wegelagerer in der Regel nicht ankommen. Mythor entfachte ein Feuer, obwohl er wußte, daß man den Schein weithin sehen konnte. Die Räuber würden sich ohnedies einstellen, und wenn sich das schon nicht vermeiden ließ, wollte Mythor in der Nacht wenigstens ein warmes Plätzchen haben. Er schlug seine Jagdbeute aus der Decke und nahm sie aus, dann spießte er den Hasen auf einen daumendicken Ast. Eine Doppelgabel aus Zweigen war bald hergestellt, und nach kurzer Zeit lag über der Lichtung eine Duftwolke, die Mythor das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Ab und zu spähte er unauffällig hinüber zu den Büschen des Unterholzes. Noch rührte sich da nichts. Der Sohn des Kometen aß und trank mit Genuß, dann rollte er sich neben dem leise knisternden Feuer zum Schlafen zusammen. 203
Sie kamen wie aufs Stichwort. Es mußten mindestens zehn sein, also ein ansehnlicher Haufen, mit dem Mythor seine liebe Not haben würde, wenn es zum Kampf kam. Mythor konnte sie hören, als sie sich näherten. Anfänger, dachte er. Sie stapften heran, als wollten sie den Weg festtreten. Ihr keuchender Atem war weithin zu hören, und zu allem Überfluß näherten sie sich auch noch von der Windseite, so daß ihr Schweiß- und Schnapsgeruch Mythor in die Nase steigen mußte. Mythor war nach dem ersten knackend zertretenen Zweig hellwach. Pandor gab ein schwaches Geräusch von sich. »Ruhig!« sagte er. »Mit dem Gesindel werde ich fertig.« Er formte seine Bettrolle so, daß sie im Schein des Feuers einer menschlichen Gestalt glich, dann schlich er sich in Deckung. In unmittelbarer Nähe des Schläfers wurden die Räuber ein wenig leiser, doch zu laut für dieses Gewerbe waren sie allemal. Einer schien der Anführer zu sein, seine Befehle überschlugen sich, und sie kamen, wie Mythor deutlich hören konnte, vom Ende der Gruppe. »Macht ihn nieder!« sagte dieser wackere Anführer. Mythor grinste still in sich hinein. Er konnte sie genau sehen, die Schrecken des Waldes, wie sie sich heranschlichen. Sie trugen Schwerter und Keulen, aber weder Speere noch Bögen. Das war beruhigend, gab es doch Mythor die Zuversicht, daß er es mit dem Haufen im Nahkampf werde aufnehmen können. Der Tapferste der zwölf – so viele waren es, wie Mythor leicht zählen konnte, weil sich die Gruppe deutlich gegen den Halbmond abzeichnete – pirschte sich an den Schlafenden 204
heran. »Da, nimm!« schrie er und rammte der Bettrolle die Klinge in den Leib. »Mit Vergnügen«, sagte Mythor und trat vor. Eine Handbewegung genügte, die Fackel aufzunehmen und in den Reisighaufen zu werfen, den Mythor vorsorglich gesammelt hatte. Nach ein paar Augenblicken loderten die Flammen hell auf und leuchteten die Szene aus. »Wir sind verloren!« schrie einer der Banditen. »Macht ihn nieder!« brüllte der Anführer aus dem Gebüsch heraus. »Erschlagt ihn, es ist nur einer. Und daß mir keiner das Einhorn verletzt.« Die Meute erholte sich zusehends von der Überraschung. Es waren junge Burschen. Irgendwie taten sie Mythor sogar leid – sie würden es in dem Gewerbe nicht weit bringen. Indessen war die Tatsache, daß es sich offenkundig um Stümper handelte, keine Gewähr dafür, daß der Haufen nicht doch in der Lage war, Mythor ans Leben zu gehen. Sehr viel Rücksicht auf das Leben ihrer Opfer nahm diese Bande nicht, das stand zweifelsfrei fest – es gab an den zerlumpten Burschen grausigen Schmuck zu bewundern, Trophäen des Abscheus. »Was wollt ihr?« fragte Mythor. Er lauschte angestrengt hinter sich. Noch war keiner auf die Idee gekommen, ihn vom Rücken her zu behelligen. Und wenn, würde Mythor ihn hören – er hatte zwischen den Sträuchern genügend trockene Zweige ausgestreut. »Wir sind Räuber!« sagte einer der Einfaltspinsel, ein Klotz von einem Kerl, groß, stiernackig, rothaarig, mit blauen Augen und zum Bersten gefüllt mit Dummheit. Die Muskeln allerdings, die er augenfällig spielen ließ, waren nicht zu verachten. »Das merke ich«, sagte Mythor. Zwei Gefühle stritten sich in 205
ihm – der Ärger darüber, daß es mit dem Nachtschlaf einstweilen nichts wurde, und der insgeheime Spaß, sich mit dieser Horde von Tröpfen und Einfaltspinseln amüsieren zu können. »Wir werden dich erschlagen«, sagte der Rotschopf wichtigtuerisch. »Davon wiederum merke ich nichts«, sagte Mythor und lächelte. Aha, da näherte sich schon ein tapferer Meuchler… Es knackte unüberhörbar. »Ergib dich, oder du bist des Todes«, sagte ein hagerer Bursche neben dem Rotschopf. Ihm fehlten das linke Auge und eine ansehnliche Schar seiner schwarzen Zahnstummel. »Und wenn ich mich ergebe, was dann?« »Dann nehmen wir dir alles, was du hast«, antwortete der Rotschopf. Er schielte zwischendurch gierig zu dem Braten hinüber, den Mythor übriggelassen hatte. »So ist das«, sagte Mythor. Er drehte sich blitzschnell um seine Achse, und Alton beschrieb eine klagende Spur in der Luft. Ein Schrei ertönte, und die Zahl der Räuber hatte sich um eins vermindert. Aus einer Armwunde blutend, stolperte der abgefeimte Meuchelmörder aus dem Dunkel hervor, der Schar seiner Kameraden entgegen. Mit etwas Glück heilte die Wunde so aus, daß er die Hand wieder würde gebrauchen können; wenn nicht, hatte er den Überfall aus dem Hinterhalt leidlich gerecht gebüßt. »Wir kennen keine Gnade«, sagte der Hagere und rollte mit den Augen. Keiner der Burschen wagte als erster den feigen Rückzug. Mochten sie auch Lumpen sein, so fürchteten sie doch die Verachtung ihrer Spießgesellen. Ein Kampf würde sich nicht vermeiden lassen. »Er hat mir die Hand abgeschlagen«, jammerte der Verletzte. »Sie ist unbrauchbar geworden.« »Dafür werden wir dich töten, Fremder«, sagte der Anführer 206
der Bande. Er trat aus dem Dunkel hervor. Er war prachtvoll gewandet. Er trug schwarze, lederne Hosen, ein Hemd aus dunklem Stoff, darüber eine Jacke aus dunklem Leder. Dazu schwarze Stiefel, und das Gesicht wurde von einer dunklen, ledernen Maske bedeckt. Auf die schlichten Gemüter der Räuber mochte das schreckerregend wirken, Mythor fand den Mummenschanz bestenfalls erheiternd. »Aha«, sagte der Sohn des Kometen. »Der Häuptling selbst stellt sich zum Kampf.« Der Häuptling schien indes gar nicht daran zu denken. Er beäugte Mythor durch die Sehlöcher seiner Maske, und Mythor war sich sicher, daß die vorherrschende Gemütsregung in diesem Blick nicht die Angriffslust war, sondern vielmehr Furcht. Offenbar war den Räubern nicht einmal in dieser Überzahl wohl in ihrer Haut, wenn sich ein vermeintliches Opfer nicht gleich ergab und um Gnade winselte. Die Räuber schoben sich langsam an Mythor heran, und damit wurde die Lage für Mythor tatsächlich langsam bedrohlich. An irgendeinem Punkt mußte die Spannung umkippen, und dann kam es zum Kampf. Mythor war nicht der Mann, der eine Auseinandersetzung scheute. Er sagte sich auch, daß er nur nachfolgenden Reisenden Unannehmlichkeiten auf den Hals lud, wenn er dieses Gesindel unbehelligt weitermachen ließ. »Zurück!« sagte Mythor scharf und ließ Alton wirbeln. »Seht!« rief einer aus dem Haufen. Sie sahen das schimmernde Schwert in Mythors Faust, sie hörten den leisen, klagenden Ton, den Alton hervorrief, wenn das Schwert geschwungen wurde, und selbst dem Dümmsten mußte klargeworden sein, daß diese Waffe allein jede Anstrengung rechtfertigte, im Fall der Räuber auch jede nur denkbare Schandtat. 207
Der Rotschopf starrte entgeistert auf Alton. »Mach das noch einmal«, sagte er fassungslos. »Wie geht das?« Er tat Mythor leid, und das war ein Fehler. Genau in dem Augenblick, in dem Mythor Alton ein zweites Mal vorzeigen wollte, griffen die anderen an. Mythor konnte keinen Schirmschlag anbringen, er hatte Alton zu hoch erhoben. So ließ er sich fallen, rollte ab und kam drei Schritte entfernt wieder auf die Beine. Die Räuber, einmal in Bewegung, griffen ungestüm an. Mythor dachte nicht daran, die Meute zu schonen. Er machte einen Satz nach vorn, hinein in die Schar der Angreifer. Ein furchtbarer Hieb links, ein mähender Schlag nach rechts, die erste Lücke war geschaffen. Blut war geflossen, und nun mußte der Kampf bis zur Entscheidung geführt werden. Die Räuber drangen wieder auf Mythor ein. Von irgendwoher kam ein Wurfmesser herangesaust, Mythor traf es mit Alton mitten im Flug. Mit hellem Klang flog das Messer zur Seite und drang bis zum Heft in die Brust eines Räubers. Mit einem Ausdruck des Staunens sank der Mann zu Boden. Die kurze Abwehrbewegung hatte einem der Räuber Gelegenheit geboten, einen Schlag gegen Mythors Bein zu führen. Durchgeschlagen war der Hieb nicht, aber er hatte den Knöchel getroffen. Ein ärgerlicher Schmerz stieg von dem Gelenk auf. Dennoch fühlte er sich nicht sehr gefährdet, während er mit den Räubern kämpfte. Die Burschen ließen es an der todesverachtenden Angriffslust fehlen, die nötig gewesen wäre, um wenigstens einem von ihnen eine Gelegenheit zu einem wirklich gefahrbringenden Angriff zu geben. Jeder versuchte, den Nebenmann ins Gefecht zu schicken, und das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Die Zahl der Angreifer verminderte sich allmählich. Einer nach dem anderen wurde von Mythor außer Gefecht gesetzt. »Wir müssen ihn bekommen!« schrie der Anführer, der sich 208
wohlweislich im Hintergrund hielt. »Er darf uns nicht entwischen!« Ein Stein kam herangeflogen und traf Mythor am Kopf. Der Helm fing den Treffer weitgehend ab, aber etwas von der Wucht schlug dennoch durch. Mythor machte einen Schritt rückwärts, um seine Gegner besser übersehen zu können. Die Reihen der Räuber waren gelichtet, gerade in diesem Augenblick fiel ein weiterer Angreifer aus, von Pandors Huf an der Brust getroffen. Plötzlich blieben die Wegelagerer stehen. Die Waffen sanken herab. Ihre Augen weiteten sich, die Gesichter nahmen eine wächserne Blässe an. »Heda!« rief Mythor. »Was ist, wollt ihr nicht mehr?« Der Rotschopf, einer der Tapfersten in der jämmerlichen Schar, rollte mit den Augen. Er ließ seine Waffe fallen, schlug die Hände vors Gesicht, das von Grauen gezeichnet schien. Mythor verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Der Anführer der Rotte stieß einen schrillen Schrei aus und hetzte davon. Pandor wurde scheu, schlug um sich. Magie? Die Räuber bewegten sich zuckend, angstgeschüttelt, dann ergriffen sie die Flucht. Wild stoben sie nach allen Seiten auseinander. Die Verletzten krochen mit letzter Kraft davon, verschwanden sich krümmend in den Büschen. Mythor behielt Alton in der Hand. Irgend etwas mußte die Mordbuben bis ins Mark erschreckt haben etwas, das Mythor bis jetzt noch nicht gesehen oder gehört hatte. Pandor beruhigte sich wieder, als Mythor ihm den Hals klopfte. Ein paar Augenblicke später löste sich aus dem Dunkel des Waldrands eine Gestalt und trat vorsichtig auf die Lichtung. Mythor lächelte. »Willkommen«, sagte er. 209
»Kalahar heiße ich«, sagte der Fremde. Er äugte zu Mythor hinauf, denn er war klein von Gestalt und verwachsen dazu. Krumm und schief der magere Körper, der Kopf fast zwischen den Schultern, das Gesicht seltsam verzogen. Er schielte Mythor an. Das Gesicht hatte etwas Zeitloses; niemand hätte zu sagen vermocht, wie viele Sommer der Gnom schon gesehen hatte. Mythor nickte freundlich. Langsam schlurfte der Fremde heran, das Bein hinter sich herziehend. Er wirkte wie das Spottbild eines Menschen, aber Mythor hütete sich, den Gnomen zu verlachen. Mit Schimpf und Hohn verspotte nicht den Fremden noch den Fahrenden, so lautete eine alte Weisheit, denn selten weiß, wer drinnen sitzt, wie edel ist, der eingekehrt. »Mythor nennt man mich«, antwortete der Sohn des Kometen. Er griff nach der mageren Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Über das häßliche Gesicht Kalahars huschte die Andeutung eines Lächelns. »Falls es dich interessiert, Mythor«, stieß er hervor, »ich war es, der die Bande vertrieb.« »Ich danke dir dafür«, sagte Mythor. »Aber wenn du den Kampf gesehen hast, wirst du wissen, daß ich auch ohne deine Hilfe zurechtgekommen wäre, wie immer diese auch ausgesehen haben mag.« Der Gnom kniff die Augen zusammen. »Natürlich hast du nichts gesehen«, sagte er dann und kicherte hoch. »Sie waren ja nur für deine Feinde bestimmt, die Bilder des Schreckens, die meine Kunst entstehen ließ.« Mythor schwieg. Der Gnom war unbewaffnet. Mythor setzte sich neben das Feuer und lud mit einer Handbewegung den Gast aus dem 210
Dunkel ein, ebenfalls in der Nähe der Glut zu lagern. Die Nacht versprach recht kühl zu werden. »Wo willst du hin, Mythor?« fragte Kalahar. »Einstweilen nirgendwohin«, sagte Mythor und streckte sich neben dem Feuer aus. Vor dem Gnomen hatte er keinerlei Angst, auch wenn er dem Buckligen nicht traute, denn daß er verwachsen war, hieß nicht, daß er nicht einem Schlafenden einen Dolch durch die Gurgel stoßen konnte. »Du willst schlafen? Hier? Im Land der Coromanen?« »Wer sind die Coromanen?« fragte Mythor. »Und warum sollte ich sie fürchten?« »Coromanen, so nennen sich die Gefolgsleute des Coroman Hassif, der dieses Land beherrscht.« »Nie gehört«, sagte Mythor. Kalahar zuckte ein wenig zusammen, schüttelte den Kopf. »Du hast den Namen nie gehört? Du kennst nicht den furchtbaren Coroman Hassif?« »Ich kenne ihn nicht«, sagte Mythor gelassen. »Sollte ich?« »Er wird dich töten lassen«, verhieß Kalahar und sah sich scheu um, als fürchte er, der schreckliche Coroman Hassif stehe hinter dem nächsten Busch. »Von diesem Raubgesindel?« fragte Mythor amüsiert. »Doch nicht von denen«, sagte Kalahar und machte eine wegwerfende Geste. »Das waren Schwachköpfe, Gesindel, Anfänger. Die braucht man nicht ernst zu nehmen. Ich denke an die eigentlichen Coromanen. Es sind grausige Gestalten, einer blutdürstiger als der andere.« »Woher kennst du sie?« Kalahar sah sich wieder um. »Ich bin Kalahar«, sagte er leise. »Ich bin der Leibmagier des Coroman Hassif, daher kenne ich ihn genau. Er wird dich entweder ausrauben und töten lassen…« Eine Pause entstand. Mythor tat dem Buckligen den Gefallen 211
nicht, nach dem »oder« zu fragen. Er wartete ab, bis Kalahar von sich aus den Satz beendete. »… oder er wird dich auffordern, sein Gefolgsmann zu werden«, sagte Kalahar. »Warum das? Sehe ich aus wie ein Räuber?« »Noch nicht«, sagte Kalahar und betrachtete Mythor mit sichtlichem Wohlgefallen. »Aber das kann sich ändern. Ich habe gesehen, wie du gekämpft hast. Coroman hätte sicherlich Gefallen an dir.« Mythor wußte, was er von dieser zweifelhaften Wertschätzung zu halten hatte, und es fiel ihm nicht ein, sich mit dem räuberischen Gesindel gemein zu machen. Dennoch hörte er sich an, was der Leibmagier des Coroman Hassif zu sagen hatte. »Du wirst es nicht schlecht haben bei uns«, sagte Kalahar. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, einer Grimasse der Niederträchtigkeit. »Wir haben alles, was das Herz begehrt… Schnaps, Weiber, gutes Essen, und mit ein bißchen Glück können wir Schätze erbeuten, die für jeden von uns reichen.« Mythor schwieg noch immer. Er dachte an die Bande, die ihn zu überfallen versucht hatte. Seine Ausrüstung war bei aller Wertschätzung nicht kostbar genug, um eine lohnende Beute für alle Angreifer darzustellen, bestenfalls für den Anführer. »Es sind viele Leute unterwegs in diesen Tagen«, sagte Kalahar. »Hoch im Norden sind die Völker in Bewegung geraten, da schleppt manch einer sein Hab und Gut uns geradewegs vor die Klingen.« Mythor fragte sich, woher der Gnom die Zuversicht nahm, daß Mythor ihn nicht kurzerhand packte und am nächsten Baum aufknüpfte, wie es sich bei einem abgefeimten Räuber und Mörder eigentlich gehört hätte. Im Grunde war jedes Wort des Buckligen eine Beleidigung für Mythor. »Ich glaube kaum«, sagte Mythor langsam, »daß sich meine 212
Ziele mit denen des Coroman Hassif decken. Ich habe eigene Pläne, und sie gehen niemanden etwas an.« Kalahar schwieg einen Augenblick lang. Sein Blick bekam etwas Lauerndes. »Es ist nicht ratsam für einen einsamen Wanderer in diesen Landen, wenn er sich die Coromanen zu Feinden macht«, sagte der Magier. »Nur unter dem Schutz des mächtigen Coroman Hassif hast du Aussicht, unbeschadet durch das Gebirge wandern zu können. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß deine Habseligkeiten für manch einen eine Verlockung darstellen… Dein Schwert beispielsweise ist eine herrliche Waffe. Ich habe niemals etwas Ähnliches gesehen.« Mythor lächelte zurückhaltend. »Ich werde es mir überlegen«, sagte er und rollte sich zum Schlafen zusammen. »Und ich rate dir, versuche nicht, mir die Waffe im Schlaf stehlen zu wollen, denn wahrhaftig, du bekämst ihre Schärfe am eigenen Fleisch zu schmecken.« Kalahar rollte mit den Augen. »Nicht doch«, wehrte er ab. »Ich bin doch kein Räuber, ich bin Magier.« Mythor verkniff sich die Frage, wo da der große Unterschied liege, schloß die Augen und schlief ein.
Bei Tageslicht sah er noch verbogener und schiefer aus als in der Nacht. Aber Kalahar hatte nicht gewagt, die Hand nach Alton auszustrecken. Es wäre ihm auch schlecht bekommen. Beim Erwachen hatte Mythor für einen kurzen Augenblick den Bitterwolf gesehen, und wenig später hatte er hoch am Himmel seinen Falken erkannt. Seine treuen Gefährten waren also zur Stelle und hielten lautlose Wacht. Solange Mythor sich solcherart beschützt fühlen durfte, vermochte ein Kalahar ihm keinerlei Besorgnis einzuflößen. »Ich werde dir den Weg zeigen«, sagte Kalahar nach einer kargen Frühmahlzeit. »Du mußt mir allerdings sagen, wohin 213
es gehen soll.« Mythor deutete wortlos die Richtung an – geradeaus, auf die Berge zu, die ihn von Tillorn schieden. Er hatte nicht die Absicht, den Buckligen in seine Pläne einzuweihen. Kalahar grinste breit. »Auf diesem Pfad würdest du den Leuten des Coroman Hassif genau in die Arme laufen«, erklärte er spöttisch, »und nicht einmal dir wird es möglich sein, alle Coromanen zu besiegen, dazu sind es entschieden zu viele.« Mythor zuckte nur mit den Achseln. »Bist du zu Fuß hier?« fragte er den Magier. »Ich habe mein Pferd in einer Felsspalte versteckt«, entgegnete Kalahar. »Ich werde es holen… Warte hier auf mich.« Er verschwand, während Mythor Pandor belud und sich zur Weiterreise fertigmachte. Nach kurzer Zeit erschien Kalahar wieder. Mythor sagte nichts, aber innerlich stieß er einen lauten Pfiff aus. Kalahar schien wirklich das Vertrauen des Coroman Hassif zu besitzen, denn Mythor konnte sich nicht vorstellen, daß es in dieser Wildnis viele Pferde der Klasse gab, wie Kalahar eines am Zügel führte. Das Tier war von erlesener Schönheit, besaß Feuer und Intelligenz. Mythor tat so, als bemerke er die Klasse des Pferdes kaum. Er spürte, daß der Bucklige irgendein Geheimnis hütete, und er hielt es für ratsam, seinerseits nicht zu redselig zu sein. »Soll ich dich führen?« fragte Kalahar, nachdem er sich in den Sattel geschwungen hatte. Er tat dies recht geschickt; offenbar wußte der Gnom mit seinem verwachsenen Körper doch eine ganze Menge anzufangen. »Reite voran«, sagte Mythor. Kalahar trabte an ihm vorbei und trieb sein Pferd in nordöstliche Richtung vorwärts. Mythor folgte in geringem Abstand. Von den Banditen, die am Vorabend versucht hatten, ihn zu überfallen, war keine Spur zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie 214
das Weite gesucht. Mythor fragte sich, was Kalahar mit den Bildern des Schreckens gemeint hatte, mit denen er angeblich die Räuber in die Flucht geschlagen hatte. Vermochte es der Bucklige, mit magischen Mitteln zauberische Bilder zu erzeugen, Spukerscheinungen, die die Köpfe seiner Widersacher verwirrten und sie in wilde Flucht trieben? Mythor hatte solche Bilder nicht wahrnehmen können, aber das besagte wenig. Der Helm der Gerechten schützte ihn weitgehend vor solch magischem Einfluß. Mythor nahm sich vor, ein scharfes Auge auf den Verwachsenen zu haben. Es war sehr bald ersichtlich, daß sich Kalahar in dieser Wildnis bestens auskannte. Nicht ein einziges Mal hielt er an, um sich über die Richtung zu vergewissern. Unablässig trieb er sein Pferd voran, ab und zu sah er über die schiefe Schulter nach Mythor, grinste dann und ritt weiter. Den Weg zu finden war gewißlich nicht einfach, er führte durch stark bewaldete Schluchten, dichtes Unterholz sperrte immer wieder den schmalen Fußpfad, auf dem die Pferde nur sehr langsam vorankamen. Gelegenheiten zu Überfällen gab es in diesem Landstrich in Hülle und Fülle, es zeigte sich aber niemand. Offenbar waren die Coromanen anderwärts beschäftigt. Mythor konnte sich vorstellen, wo die Banditen vorzugsweise ihrem blutigen Handwerk nachgingen. Mochte auch der größte Teil der Menschen, die aus dem Norden flohen, nicht mehr gerettet haben als das nackte Leben, so gab es doch in den Trecks der Heimatlosen immer wieder einzelne, die ihre gesamte kostbare Habe auf schwankenden Karren mitführten. Und für ein ruheloses Gesindel wie die Banden des Coroman Hassif stellte vermutlich auch die kärgliche Habe eines Flüchtlings eine lohnende Beute dar. Mythor konnte sich nicht vorstellen, daß die Coromanen in diesem Landstrich Landwirtschaft betrieben oder Vieh züchteten. Nach seiner Einschätzung hatte der Haufe nur dann etwas zu essen, wenn er ande215
ren die letzte Brotrinde stahl. Auch für solche Raubzüge war vermutlich der Norden das lohnendste Gebiet. In der Mittagszeit legten die beiden Reisenden eine Rast ein. Kalahar verfolgte aufmerksam, wie Mythor einen Hasen schoß. Er belauerte überhaupt jede Bewegung seines Gefährten, und sein Blick schwankte beständig zwischen zwei Ausdrücken – der Grimasse plumper Vertraulichkeit und der verstohlenen Fratze hemmungsloser Gier. Einen wackeren Gefährten hatte Mythor sich da ausgesucht. »Wo hausen die Coromanen?« wollte Mythor wissen, als die beiden neben dem kleinen Feuer darauf warteten, daß der Hase garte. Kalahar machte eine weit ausholende Armbewegung. »Überall«, sagte er. »Sie können hinter jedem Baum sitzen, hinter jedem Fels. Sie sind sehr gefürchtet.« »Aber du hast keine Angst?« fragte Mythor. Kalahar lächelte gönnerhaft. »Ich bin der Leibmagier des Coroman Hassif«, rief er Mythor in Erinnerung. »Wen sollte ich da fürchten!« Mythor wußte auf diese Frage eine Antwort. Er hatte aus den Augenwinkeln heraus Horus erkennen können. Der Falke warnte Mythor, es gab Feinde in der Nähe. Und das Feuer – Mythor hatte es mit Absicht hoch flackern lassen – wehte den Geruch des bratenden Hasen weit hinein in den Wald. »Vielleicht die dort?« sagte Mythor und deutete mit dem Messer auf die zerlumpte Gestalt, die in diesem Augenblick hinter einem Fels hervorkam. Mythor wußte, daß auch hinter ihm jemand herankam, denn die Tritte waren auf dem weichen Waldboden deutlich zu fühlen. Kalahar fuhr herum. »Aha!« sagte er, und Mythor sah, daß er ein wenig bleich wurde. »Coromanen?« fragte er gelassen und deutete mit der Spitze seines Messers auf den Mann hinter seinem Rücken. »Und du, 216
bleib, wo du bist!« Der Boden verriet ihm, daß der Räuber betroffen stehengeblieben war. »Sieh an!« sagte der Einäugige, der auf Kalahar zuging, in der Hand ein schartiges Schwert, den Leib bedeckt mit Lumpen und im Gesicht einen Ausdruck, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrigließ. »Der Krüppel des Coroman Hassif.« »Siehst du, sie kennen mich«, sagte Kalahar zufrieden. »Halt ‘s Maul, Krummleib«, sagte der Einäugige. »Und du, warum bleibst du stehen?« »Er…«, sagte eine unsichere Stimme hinter Mythor. Der Mann setzte sich wieder in Bewegung. Mythor rollte sofort zur Seite, sprang auf und war mit einem Satz neben dem Mann, der nur noch dazu kam, einen erschreckten Schrei auszustoßen, dann saß ihm auch schon Mythors Messer an der Kehle. »Ich sagte doch, du solltest stehenbleiben«, sagte Mythor leise. »Falls du noch einmal beten willst, dann tue es jetzt.« Der Mann versuchte sich zu befreien, aber Mythor verstärkte nur den Druck seiner Arme, und schon sackte der Mann fast in sich zusammen. »Laß ihn los, Mythor«, sagte Kalahar. Es erheiterte Mythor im stillen, daß Kalahar um Schonung für seine meuchlerischen Freunde bat und nicht umgekehrt bei denen um Mythors Leben bettelte. Mythor stieß den Hageren von sich, daß er mit zwei Schritten bei dem Einäugigen stand und ihm vor die Füße fiel. »Was macht ihr hier?« fragte Kalahar. »Solltet ihr nicht im Lager sein?« »Pah«, machte der Einäugige. Er trat zum Feuer, nahm den Ast mit dem Hasen herunter und riß einen Hinterlauf heraus. Das Fleisch war noch gar nicht gar, aber der Räuber ließ sich 217
davon nicht abhalten. Vermutlich hatte er längere Zeit nichts zu essen bekommen. »Was sollen wir im Lager hungern?« fragte der Einäugige. »Da sorgen wir lieber hier für Nahrung.« »Aber Coroman…«, ereiferte sich Kalahar. »Wenn es um meinen Magen geht, hat mir keiner etwas zu befehlen«, erklärte der Einäugige. Die leere Höhle des rechten Auges gab seinem Gesicht einen Ausdruck gnadenloser Grausamkeit. »Erst kommt das Fressen und dann vielleicht Coroman Hassif.« »Er wird dich dafür büßen lassen«, sagte Kalahar lauernd. »Hör auf zu schwätzen, Zwerg«, fauchte der Einäugige mit vollem Mund. »Wer ist dieser Kerl, und warum reitest du mit ihm zum Lager?« »Nimm dich in acht!« sagte Kalahar zischend. »Du weißt wohl nicht, mit wem du redest.« Mit einem beiläufigen Fußtritt stieß der Einäugige den Buckligen um. Kalahar fiel auf den Rücken und ruderte mit Armen und Beinen wie ein Käfer. Der Einäugige lachte laut auf. Sein Gefährte fiel nach einem scheuen Seitenblick auf Mythor ein. »Also, was willst du?« fragte der Einäugige. »Nichts«, antwortete Mythor. Der Einäugige sah ihn scheel an. »Das soll ich glauben?« fragte er. »Es wird dir nichts anderes übrigbleiben«, sagte Mythor freundlich. Kalahar hatte sich wieder aufgerichtet. Es gehörte nicht viel Menschenkenntnis dazu, den Gesichtsausdruck des Buckligen zu deuten – erkennbarer konnte kein Gesicht kochenden Haß zeigen. »Er wird mit uns reiten«, sagte Kalahar. »Ich werde ihn ins Lager führen und Coroman Hassif vorstellen. Er wird bald einer der Unseren sein.« 218
»Das bleibt abzuwarten«, sagte Mythor. Der Einäugige hörte mit dem Essen auf. »Verräter dulden wir nicht«, sagte er scharf. »Ich frage nicht danach«, entgegnete Mythor kalt. »Ich habe niemanden ersucht, mir Geheimnisse anzuvertrauen. Im übrigen iß nur weiter, wenn dich hungert. Ich kann mir leicht einen neuen Braten schießen.« Der Einäugige sah auf das Fleisch in seiner Hand, dann zu Mythor und grinste. »Hast du Wein?« fragte er. »Nein«, sagte Mythor. »Und Weiber auch nicht. Du wirst dich gedulden müssen.« Mythor wandte sich zu Kalahar um. »Wir sollten weiterziehen«, meinte er. »Bist du bereit?« Der Bucklige nickte. Er hinkte hinüber zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel, begleitet vom Spottgelächter seiner beiden Spießgesellen. »Wir sehen uns im Lager«, sagte Mythor zu dem Einäugigen. Der Schmächtige nickte eifrig. Kalahar trabte an den beiden vorbei, und nur Mythor konnte sehen, mit welchem Gesichtsausdruck der Verwachsene die beiden betrachtete. Er gab sich keine Mühe, die haßerfüllte Fratze zu verbergen, und das gab Mythor zu denken. Hatte der Bucklige die Möglichkeit, diesem Haß die Zügel schießen zu lassen? Konnte er sich tatsächlich offenen Haß erlauben? Wenn ja – aus welcher geheimnisvollen Quelle bezog Kalahar seine Macht? Mythor war sicher, diesem Geheimnis bald auf die Spur zu kommen.
»Da ist es«, sagte Kalahar stolz. Mythor blickte hinab auf das Lager der Coromanen. Die beiden Reiter hatten ihre Tiere auf einer Paßhöhe anhalten lassen, 219
einem schmalen Spalt im Fels, der nur schwer zu finden war. Von dort aus hatte man einen guten Blick über das Tal. »Eine Stadt?« fragte Mythor verwundert. Deutlich zu erkennen waren Ruinen, Straßenzüge, hohe Gebäude und der Umstand, daß die Stadt bereits vor langer Zeit aufgegeben worden war. Lichter Wald hatte die Häuser bersten lassen und die Straßen überwuchert. In den Ruinen der Häuser hausten wilde Tiere, auf den Höfen hatten sich die Coromanen eingenistet, deren Feuer im Schein des Halbmonds deutlich zu sehen waren. »Früher haben hier Tillorner gewohnt«, erläuterte Kalahar stolz. »Jetzt leben wir hier.« Zwei Gestalten tauchten neben Mythor und Kalahar auf, Wachen, die Coroman Hassif hatte aufziehen lassen. Sie erkannten Kalahar sofort. »Hassif sucht nach dir«, sagte der erste und sah Kalahar grimmig an. »Er hat dir Prügel angedroht, weil du dich schon wieder davongemacht hast. Und wer ist dieser Bursche?« »Ein Freund«, sagte Kalahar hastig. »Er wird zu uns stoßen.« »Ein Fresser mehr, das ist genau das, was wir brauchen«, sagte der Posten wütend. »Kommt schon, wir haben keine Lust, hier Maulaffen feilzuhalten.« »Die Sitten sind rauh in diesem Tal«, sagte Mythor gelassen. Kalahar nickte. »Coroman Hassif«, sagte er leise, »ist kein umgänglicher Mann. Jeder hier fürchtet seinen Zorn. Nur mit mir hat er Mitleid.« »Das wird sich zeigen, Kalahar«, sagte einer der Posten. Die beiden Wachen führten die Pferde am Zügel hinunter in das Tal. Im Licht des Mondes konnte Mythor sehen, daß es auf der anderen Seite des Tales eine breite Straße gab, die irgendwohin ins Gebirge führte. Möglicherweise war die Straße durch einen Erdrutsch verschüttet worden und konnte jetzt nur über den Schleichweg erreicht werden, den Kalahar ihn 220
geführt hatte. »Hat die Stadt einen Namen?« fragte Mythor seinen Begleiter. Kalahar zuckte die mißgebildeten Schultern. »Ich kenne keinen«, sagte er. »Früher einmal, da hat sie sicher einen Namen gehabt, als die Tillorner noch hier lebten… jetzt ist dies die Stadt der Coromanen.« Der Pfad führte in zahlreichen Windungen recht steil hinab in das Tal der Räuber. Die Coromanen mußten wenigstens ein paar hundert sein. Rechnete man noch etliche hinzu, die sich irgendwo in der Wildnis herumtrieben, um Reisenden aufzulauern, so ergab sich eine Streitmacht, die es sehr wohl mit der Wachmannschaft eines großen Flüchtlingstrecks aufnehmen konnte. Gleichzeitig aber, und auch das blieb Mythor nicht verborgen, warf eine solche Truppe auch allerhand Probleme auf. Die Leute brauchten Nahrung und Getränke, sie wollten amüsiert sein. Ein Heer aus dienstpflichtigen Sassen ließ sich mit harter Faust wohl beieinanderhalten, diese Rotte aus Freiwilligen wollte geködert sein. Man konnte die Gestalten, die Mythor im Dunkeln sah, nicht mit kaltem Getreidebein, dünnem Bier und Soldvertröstungen bei der Stange halten. Diese Kerle erwarteten handfeste Löhnung. Ob Coroman Hassif die zu zahlen imstande war? »Du bleibst hier!« befahl der eine Posten, ein hochgewachsener junger Mann mit traurigem Gesicht, von dem sich Mythor allerdings nicht täuschen ließ. »Und ich?« fragte Kalahar entgeistert. »Was soll das heißen?« »Du wirst zu Coroman Hassif geführt, Gnom!« sagte die andere Wache und verzog das blatternarbige Gesicht zu einem niederträchtigen Lächeln. »Komm, oder du wirst die Peitsche schmecken.« Mythor blickte für einen Augenblick nach oben. Von Horus war nichts zu sehen in der Dunkelheit, dafür reichte das 221
Mondlicht nicht aus. Auch von Hark war keine Spur zu entdecken, aber das bekümmerte Mythor nicht. Er war gewiß, sich auch ohne die Freunde helfen zu können. Vor dem Gesindel war ihm nicht bange. Kalahar und sein Begleiter verschwanden in der Dunkelheit. Mythor folgte dem jungen Mann, der ihn zu einem verfallenen Haus führte. Im Inneren des Hauses gab es einen großen Innenhof, darin ein viereckiges Becken, in dem früher einmal Fische oder die Bewohner des Hauses geschwommen waren. Jetzt hockten die Räuber in der Vertiefung, windgeschützt und von einem kleinen Kohlefeuer vor der Nachtkühle bewahrt. »Dein Reittier kannst du hier anbinden«, sagte der Posten. »Es wird sich nicht verlaufen«, antwortete Mythor und ließ Pandor frei. Er wußte, daß sich keiner des Tieres würde bemächtigen können. »Wo haust Coroman Hassif?« fragte Mythor. Der Coromane deutete auf die Ruine eines Tempels, die vom Mondlicht mit kalkigem Licht Übergossen wurde. »Dort lebt er«, sagte der Coromane. »Ich kann dich nur warnen. Hüte dich, dir seinen Zorn zuzuziehen. Er ist furchtbar, wenn er wütet.« »Soll er«, warf ein anderer ein. Mißmutig starrte der Mann in einen leeren Holzkrug. »Nichts zu trinken, der Fraß schändlich, und es gibt keinerlei Vergnügungen. Nicht einmal spielen können wir. Es gibt nichts, worum zu würfeln sich lohnen würde.« Mythor setzte sich zu den Coromanen. Es waren sieben, einer abgerissener als der andere, alle miteinander eine hübsche Seilschaft für den Henker. »Und dann dingt er neue Leute?« fragte Mythor. Er sah, daß sein Schwert mit gierigen Blicken betrachtet wurde, kümmerte sich aber nicht darum. »Das sagt Kalahar«, meinte einer. »Aber der Zwerg ist ja ver222
rückt. Er braucht mal wieder eine Tracht Prügel.« »Den Leibmagier des Coroman Hassif prügeln?« erkundigte sich Mythor. Das kleine Feuer aus Holzkohle tat gut. Es wehte kalt herab von den Bergen. »Habt ihr keine Angst vor seiner Rache?« Lautes Gelächter schallte durch die Dunkelheit. »Der? Sich rächen? Niemals.« »Und seine Magie?« »Ich habe noch nie gesehen, daß er irgend etwas Magisches zuwege gebracht hätte. Der Bucklige ist nur in Hassifs Nähe, weil sich Coroman über seinen Körper amüsiert. Hassif hat einen Narren an ihm gefressen, andernfalls hätte man den giftigen Gnomen längst um seinen verbeulten Schädel kürzer gemacht.« Mythor schwieg, dachte sich sein Teil. Völlig machtlos war der Gnom also, das jedenfalls dachten die Coromanen. Mythor hatte da andere Ansichten, aber die behielt er für sich. »Wann bekomme ich Coroman Hassif zu Gesicht?« fragte Mythor. Er löste den Helm und legte ihn neben sich auf den Boden. »Heute abend vielleicht noch«, sagte der Posten, der Mythor hergeführt hatte. »Hier, iß, es ist nicht viel, aber es stillt wenigstens den Hunger.« Es war ein dürres Fladenbrot, das der Mann Mythor hinhielt. Mythor nickte dankend und brach sich ein Stück ab. Den Rest gab er dem jungen Mann zurück. Dann lehnte er sich gegen eine geborstene Säule und betrachtete die Szenerie. Schwarzblau stand der Abendhimmel über dem Tal, hoch am Himmel der Mond, eine gelbe Sichel, umsäumt von Sternen. Schroff zeichneten sich die schwarzen Kanten der Berge gegen diesen Himmel ab, in der Ferne waren eisbedeckte Zinnen schwach leuchtend zu erkennen. Dunkel und schwer la223
gerte der Wald auf den Hängen, irgendwo im Holz krächzte ein Käuzchen. Ein paar Dutzend Feuer brannten in den verlassenen Höfen der Stadt, ein gespenstisches Leben, genau passend zu der bedrückenden Stimmung, die von der Totenstadt ausging. »Ich werde mich ein wenig umsehen«, sagte Mythor und stand auf. Niemand hinderte ihn, als er sich erhob und das Feuer verließ. Efeuüberwachsen waren viele Mauern, eingestürzt und geborsten die Säulen und Dächer. Blattgesäumt grinste ein marmornes Gesicht, verstümmelt und vom Mondlicht nur halb beleuchtet, den Wanderer an. Wieder schrie ein Tier, hoch und klagend. Von einem der Feuer kam lauter Gesang, lärmend und trunken, dazwischen eine schrille Frauenstimme. Leise knirschten geborstene Marmorplatten unter Mythors Füßen. Er kam an einer Nische vorbei. Edelster Marmor mit feinster Äderung umgab einen Quell. In anmutigem Bogen fiel das Wasser leise plätschernd in ein Muschelbecken und floß dann über den Rand hinab in ein moosbedecktes zweites Becken, in dem ein großer Spalt klaffte. Ein Erdbeben? Rohe Gewalt fremder Krieger? Oder hatte die Pest die Sichel des Grauens geschwungen in diesen düsteren Gemäuern? Wo waren die Menschen hin verschwunden, die früher hier gelebt hatten? Sie hatten gegessen – die Wandgemälde zeigten, wo sie nicht vom Schimmel aufgefressen waren, reiche Gefäße, fruchtüberladene Schalen. Sie hatten getrunken – noch waren die Krüge zu erkennen, aus denen sie herben Wein und klares Wasser getrunken hatten. Sie hatten gespielt – es gab auch dafür ein Wandgemälde, reich an Farben, die glühen mußten vor Leuchtkraft, wenn das Licht der Sonne sie erreichte. Jetzt waren sie müde und verblaßt, der Regen hatte ihnen zugesetzt und die Roheit der Coromanen. Geliebt worden war in diesen Mauern, das bewiesen hastige 224
Kritzeleien in verschwiegenen Winkeln. Nichts war geblieben. Nur Mauern, überwachsen, gestürzt, zerschellt auf dem marmornen Boden, über den vielleicht reiche Kauffahrer geschritten waren, schön gewandete Frauen, nach Schweiß riechende Sklaven, die kostbare Ladung schleppten für ihre wohlhabende Herrschaft. Jetzt hausten die Coromanen hier, wüste Gesellen, rauflustig, durchtrieben. Kaum ein größerer Gegensatz ließ sich denken. Mythor sah ein halb verblaßtes Wandgemälde – Tänzerinnen, jung und schlank gewachsen, sich in anmutigem Reigen drehend. Kreischend wären sie vor den groben Griffen derer geflohen, die jetzt unter dem Gemälde saßen, den Becher kreisen ließen und wüste Lieder anstimmten. Zum dritten Mal schrie das Käuzchen. Ein Omen? »Heda, Gesellen!« Mythor versuchte sich vorzustellen, wie der Mann aussah, zu dem diese Stimme gehörte. Er mußte ein Hüne sein, ein Koloß von einem Mann. Die Stimme klang gewalttätig. »Her zu mir!« Mythor nahm den Helm unter den linken Arm und hielt mit der Rechten den Griff des Schwertes umklammert. Langsam schritt er auf den Tempel zu. Aus feinstem weißem Marmor, rein und durchscheinend, war der Tempel erbaut worden. Hoch ragten die Säulen empor, die Kapitelle nach dem Muster großer Blütenkelche geformt. Luftig schimmerte darüber im Mondlicht das Dach mit einem bilderreichen Fries, der allerdings nur bei Tageslicht recht zu erkennen war. Eine Reihe von zwanzig Stufen führte hinauf zum Eingang des Tempels. Und dort stand er. Mythor spürte, wie sich jemand herandrängte. Die Coromanen beeilten sich, sich am Fuß des Tempels zu sammeln. Offenbar war der Hüne auf der obersten Stufe Coroman Hassif. 225
Er war tatsächlich ein Riese von Gestalt. Er mußte fast zwei Schritt groß sein, und er war selbst für diese Größe sehr kräftig und muskelbepackt ausgefallen. Mythor konnte die Armmuskeln sehen! Coroman Hassif trug ein ledernes Wams, das die Arme frei ließ, die er in die Hüften gestemmt hatte. Im Mondlicht konnte Mythor die wie geölt aussehenden furchteinflößenden Muskeln des Hünen deutlich erkennen. »Hierher, habe ich gesagt!« schrie Coroman Hassif. Seine Stimme rollte wie Donnergrollen durch die nächtliche Stille. Mythor fragte sich, warum Coroman Hassif unter die Räuber gegangen war. Der Mann hätte doch auch bei ehrbarer Betätigung sein Brot verdienen können, und wenn er nicht verblödet war, mußte er wissen, daß sich mit dem heruntergekommenen Räuberhaufen nicht viel würde anfangen lassen. Mythor näherte sich langsam der Treppe. Die Räuber sammelten sich zu Füßen des Tempels. Die Eile, die sie dabei an den Tag legten, gab deutliches Zeugnis darüber, daß sich Coroman Hassif den Respekt seiner Coromanen zu verschaffen gewußt hatte. Es gab allerdings auch, und das entging Mythor keineswegs, eine ganze Reihe mürrischer Gesichter. Mit der Treue der Coromanen war es offenkundig schlecht bestellt, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sich das wünschten. Mythor blieb am Fuß der Treppe stehen. »Ich habe gehört«, sagte Coroman Hassif halblaut, »daß es Unzufriedene geben soll unter meinen Leuten. Stimmt das?« Ein leises Murren wurde aus den Reihen der Coromanen hörbar. »Stimmt das?« wiederholte Coroman Hassif. Sich mit diesem Mann anzulegen war für die Mehrzahl der Coromanen vermutlich eine lebensgefährliche Erfahrung. Hassif war fast kahlköpfig, aber noch einigermaßen jung. Da er nur ein Wams trug, war sein gewaltiger Brustkasten genau 226
zu sehen. Um die dünnen Lippen zog sich ein scharf ausrasierter Bart, schwarz wie die Augen des Anführers. »Wir wollen endlich wieder einen großen Schlag landen«, rief einer aus der Menge. »Beute… deswegen sind wir hier.« »Habe ich euch Beute versprochen?« fragte Hassif. Mythor erkannte, daß er in der Rechten eine lange Peitsche trug. »Habe ich euch Beute geliefert? Durch wen und was, wenn nicht durch eure Dummheit sind die letzten Unternehmen fehlgeschlagen?« »Pah«, sagte einer und trat vor. »Es waren deine Fehler, Coroman Hassif.« Er kam nicht mehr dazu, weiterzusprechen. Die Peitsche wurde bewegt, und einen Herzschlag später hatte der Sprecher das dünne Leder um den Hals gewickelt. »Komm heran«, sagte Coroman Hassif und entblößte zwei weiße, raubtierhafte Zahnreihen. Sein Lächeln verhieß Unheil, wenn nicht Tod. »Meine Fehler?« fragte Coroman Hassif. »Wer hat hier Fehler gemacht, wenn nicht ihr? Feige seid ihr und jämmerliche Versager. Ich sollte euch einzeln vornehmen, euch die widerborstigen Schädel an diesen Mauern zerschmettern. Hättet ihr auf meine Befehle gehört, dann wären wir jetzt alle reicher, hätten reiche Beute und brauchten nicht hier derart jämmerlich zu hausen.« Seine Stimme schwoll an. Mythor konnte sehen, wie seine Gefolgsleute zusammenzuckten. Wie Gewittergrollen klang die Stimme des Coroman Hassif über die Versammlung, und fast glaubte Mythor sehen zu können, wie die Coromanen kleiner und kleiner wurden. Mochten sie auch innerlich gegen Coroman Hassif rebellieren – sobald er vor sie hintrat und seine Stimme erschallen ließ, unterwarfen die Räuber sich ihrem Anführer. »Ich sage euch, daß wir bald wieder zu neuen Raubzügen 227
ausrücken werden, und dieses Mal werden wir mehr Beute machen als jemals zuvor. Ich verspreche es euch.« »Das hast du schon oft getan!« schrie eine sich überschlagende Stimme, die sofort verstummte, als Hassif seine Peitsche nach vorn schnellen ließ. Getroffen prallte der Sprecher zurück. Mythor sah unwillkürlich nach jenem Mann, der die Peitsche des Anführers am Hals gehabt hatte. Dieser lag am Boden und griff sich mit beiden Händen an den Hals. Dann rappelte er sich auf und eilte zurück zu den Reihen der Coromanen. Mythor wartete darauf, daß Hassif sich den Burschen zurückholte, aber der verzichtete darauf. Unmittelbar neben Mythor blieb der Geschundene stehen und rieb sich den Hals. Mythor sah interessiert hin. Er lächelte zurückhaltend. Ihm war etwas aufgefallen, was außer ihm vermutlich keiner der Coromanen bemerkt hatte. Der Hals nämlich, den der Geschundene mit schmerzverzerrtem Gesicht massierte, wies nicht die geringste Strieme auf. Er war völlig unversehrt. Mythor fand das bemerkenswert. Im gleichen Augenblick ertönte wieder die Stimme des Coroman Hassif. »Cepran, Kalahar, zu mir!« bestimmte Coroman Hassif. »Und auch der neue Mann soll sich bei mir melden!« Mythor lächelte breit. Er setzte den Helm der Gerechten auf und schritt voran. Er hatte Coroman Hassif durchschaut.
»Willkommen in unseren Reihen«, sagte Coroman Hassif dröhnend. Sie standen in der Eingangshalle des Tempels. Der große Raum wurde von glühenden Holzkohlen in eisernen Becken erhellt, dazu von Fackeln, die in den Wänden staken und ruß228
ten. Sie waren zu fünft – Coroman Hassif, groß und gewaltig, drei Schritte hinter ihm, klein und verwachsen, der Zwerg. Dazu Mythor und zwei Coromanen. In einem erkannte Mythor den bleichen Jüngling wieder, der ihn am Eingang des Tales in Empfang genommen hatte. Mythor streckte die Hand zur Begrüßung aus, aber Coroman Hassif schlug nicht ein. Er hatte es auch nicht anders erwartet. »Ich frage mich, was ich hier soll«, sagte er gelassen. »Die Lage der Coromanen ist nicht die beste, das beweisen die Zustände im Lager. Zu welchem Zweck sollte ich mich einer Schar von Räubern anschließen, die nichts zu rauben haben?« Coroman Hassif grinste breit. »Ich werde der Bande neue Beute verschaffen«, sagte er. »Aber zuvor muß ich ein anderes Problem lösen. Wir sind nämlich nicht allein in diesem Land.« Mythor erwiderte das Lächeln. »Das wundert mich nicht«, sagte er boshaft. »Wo Räuber zu finden sind, da sollten normalerweise auch Opfer hausen.« Coroman Hassif rollte mit den Augen. Auf seiner Stirn bildete sich eine Unmutsfalte. »Ich rede von einer Horde Unverschämter«, sagte er grimmig. »Sie lagern bei den Splittern des Lichtes und widersetzen sich meinem Gebot.« Mythor blieb äußerlich sehr ruhig, obwohl ihn der Name des Ortes sofort alarmiert hatte. »Und?« fragte er einfach. Das Gesicht des Coroman Hassif bekam einen lauernden Ausdruck. »Die Splitter des Lichtes«, sagte er langsam, »sind dort zu finden, wo auch der Koloß von Tillorn liegt.« Mythor lächelte zurückhaltend. »Was habe ich damit zu tun?« erkundigte er sich. Coroman Hassif deutete auf Mythors Beine. »Du trägst ein Orakelleder um den Oberschenkel«, sagte Coroman Hassif. »Mein Leibmagier hat mir davon berichtet, er hat es gesehen. Und die Zeichen darauf, sagt mein Leibmagier Kalahar, wei229
sen dich nach Tillorn.« »Das sagt dein Leibmagier?« erkundigte sich Mythor staunend. »Allerdings«, sagte Coroman Hassif. »Schon allein aus diesem Grund solltest du dich uns anschließen. Diese Horde bei den Splittern des Lichtes werden wir nur mit vereinten Kräften schlagen und vernichten können, und ich rechne dabei auf deine Unterstützung.« »Warum das?« Coroman Hassif lächelte selbstzufrieden. »Du bist ein guter Kämpfer…« »… hat dir dein Leibmagier verraten«, ergänzte Mythor. »Allerdings«, bestätigte Hassif. »Und gute Kämpfer kann ich allemal brauchen.« »Wir haben genug Leute«, sagte Cepran. Das war der bleiche junge Mann, der Mythor von seinem Brot abgegeben hatte. »Mehr, als wir verpflegen können.« »Sei still!« herrschte Hassif ihn an. Im Hintergrund huschten einige Sklaven durch den Raum, darunter zwei Weiber, jung und nicht übel gewachsen. Offenbar erlaubte sich Coroman Hassif einige Freuden, die er seinen Leuten vorenthielt. »Der Schreckliche, so nennt sich der Anführer dieser Frevler«, wußte Coroman Hassif zu berichten. »Er wagt es, mir zu trotzen. Vor allem aber versperrt er uns den Zugang zum Meer. Und den benötigen wir, wenn wir erfolgreich sein wollen.« »Seeraub?« fragte Cepran. »Unsinn«, wehrte Hassif ab. »Wir müssen unsere künftige Beute doch auch verfrachten können.« Er grinste wieder. »Vor allem können wir dann künftig darauf verzichten, lästige Mitwisser totschlagen zu müssen«, sagte er zufrieden. »Haben wir erst einen Zugang zum Meer, können wir mit den Leuten, 230
die wir fangen, handeln. Sklaven und Sklavinnen werden immer gebraucht.« »Hoffentlich hast du recht mit dieser Hoffnung«, sagte Cepran düster. »Früher, da hatten wir es einfach, aber seit uns diese Vogelreiter den Zugang nach Südsalamos versperren, gehen die Geschäfte schlechter mit jedem Mond.« »Vertraut Coroman Hassif«, sagte Kalahar von hinten. »Er weiß, was er sagt.« Coroman Hassif gebot dem Gnomen mit einer unwilligen Handbewegung Schweigen. »Wie ist es?« fragte er Mythor. Der zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht recht«, sagte er offen. »Ich sehe etliche Nachteile, darunter den, zusammen mit deinen Leuten aufgeknüpft zu werden, hingegen wenige Vorteile.« »Einer der Vorteile ist, daß wir dich nicht aufknüpfen, Fremder«, sagte Coroman Hassif. »Und außerdem willst du doch zum Koloß von Tillorn, nicht wahr?« »Möglich«, räumte Mythor ein. Cepran blickte ihn scheel an. Coroman Hassif behandelte Mythor zwar nicht eben freundlich, aber es ließ sich auch nicht leugnen, daß Mythor bei weitem nicht so herablassend behandelt wurde wie die übrigen Coromanen. »Entscheide dich rasch«, sagte Coroman Hassif. »Ich werde meine Leute sonst nicht davor zurückhalten können, dich auszuplündern wie jeden anderen Unvorsichtigen, der uns in die Hände fällt.« »Das bliebe abzuwarten«, sagte Mythor gelassen. »Bevor ich mich endgültig entscheide, möchte ich mit euch beiden allein sprechen… mit dir, Coroman Hassif, und mit deinem Leibmagier.« Die beiden Coromanen bekamen noch grimmigere Gesichter, als Mythor dies sagte. 231
»Einverstanden«, grollte Hassif nach kurzer Bedenkzeit. »Kommt mit!«
Coroman Hassif schritt voran, Mythor folgte. Kalahar bildete das Schlußlicht. Es ging einen langen Gang entlang, dessen Wände mit rotem Stoff ausgeschlagen waren. Einige Ampeln spendeten ein wenig Licht. Von den Wänden grinsten Mythor steinerne Fratzen an, grimmige Gesichter, deren Augen in düsterem Rot glommen. Die Luft war heiß und stickig, ein seltsamer Geruch lag darin, den Mythor nicht zu beschreiben vermochte. Der Boden bebte leise bei jedem Schritt, und in den wenigen Augenblicken der Stille hörte man es leise raunen und wispern, als steckten Geister in den Wänden, die den Unvorsichtigen zu warnen trachteten, der unversehens in ihr Reich geführt wurde. »Immer mir nach«, sagte Coroman Hassif und schritt weit aus. Mythor hatte wenig Mühe, dem Hünen zu folgen. Es ging eine knarrende Treppe hinab. »Wer hat dies gebaut?« fragte Mythor. »Weiß ich nicht«, lautete Hassifs knappe Antwort. »Ich fand es vor und nutzte es zu meinem Zweck, das genügt mir.« Nach einigen Minuten hatten sie einen Raum erreicht, der auf den ersten Blick zeigte, daß hier der Herr der Coromanen lebte. Der Boden war mit weichen Teppichen bedeckt, an den Wänden hingen kostbarste Stickereien. Das Lager aus weichsten Daunen war mit prunkvollen Seidenstoffen und Brokat versehen; in einem Räuchergefäß verschmorte langsam erlesenes Rauchharz. Im Hintergrund des Raumes häufte sich das, was Coroman Hassif von den Beutezügen seiner Leute zu232
rückbehalten hatte: Gold in Kisten, gemünzt und in Barren, Silber in großer Menge, dazu edle Steine. Ein kleines Faß war angefüllt mit kostbarem Geschmeide. Was mochte aus den Frauen geworden sein, deren Hälse diese Schmuckstücke einst geziert hatten? Wieviel Blut hatte fließen müssen, um den unterarmhohen Behälter mit goldenen Siegelringen füllen zu können, mit Armbändern und gefaßten Diamanten, Opalen, Türkisen, Saphiren, Smaragden? Ein Kasten, knapp einen Meter hoch, enthielt ausschließlich Perlen. Schätze von unvorstellbarer Köstlichkeit und Fülle lagen hier lose aufgehäuft, und es bedurfte schon eines sehr scharfen Auges, um zu erkennen, daß die Schicht der goldenen Münzen keine Handbreit maß, daß nur ein Zehntel der funkelnden Steine auf der Oberfläche der Schatztruhe tatsächlich echt war. »Nun?« fragte Coroman Hassif. »Glaubst du mir nun, daß unser eine goldene Zukunft harrt?« Mythor lächelte verhalten. Es war der Helm der Gerechten, der ihm den klaren Blick erhielt, der ihm die schäbigen Fetzen zeigte, mit denen der düstere Keller ausgeschlagen war, die schäbigen Polster, auf denen Coroman Hassif ruhte. Einzig die Sklavin, die aus dem Raum verschwunden war, als die Männer ihn betreten hatten, war echt gewesen, aber auch sie nicht annähernd so jung und reizvoll, wie sie hatte aussehen sollen. Prunkvolle Fassade, dahinter gähnende Leere. Oberflächenglanz, aber kein tiefer Schimmer. Hohl jede Gebärde. »Laß ihn verschwinden«, sagte Mythor halblaut. »Es lohnt nicht, sich weiter mit ihm zu beschäftigen.« »Was soll das heißen?« fragte Coroman Hassif und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Müde winkte Mythor ab. Er war des Gaukelspiels überdrüssig. »Laß ihn verschwinden, den hohlen Popanz«, sagte er. »Ich kenne dein Doppelleben, Kalahar.« 233
Er weinte leise. Ein schäbiges Häuflein Elend war es, das auf einem zerschlissenen Lederpolster hockte, die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und die Schultern in krampfhaften Schluchzern hob. Mythor sagte nichts. Er konnte sich ausrechnen, was es für den Verwachsenen bedeutete, daß sein Doppelspiel durchschaut war. Es gab gar keinen Coroman Hassif. Der Hüne mit den beeindruckenden Muskeln, dem prachtvollen Gehabe, der Stärke und Kraft – alles nur Gaukelspiel, erwachsen aus der einzigen Fähigkeit, die der Krüppel wirklich besaß. Bilder vermochte er zu erzeugen, kraft seiner Magie. Schreckensbilder, die seine Feinde erheben ließen, Bilder von Größe und Stärke, die seine Leute bei der Stange hielten. Alles nur Schein und Trug, nichts davon echt und wahr. Es gab nur einen Kalahar, einen Verwachsenen. Darum war Coroman Hassif so groß geraten, darum so stark. Er sollte darstellen, was Kalahar nicht vorweisen konnte: kraftvolle Männlichkeit, Größe, Stärke. Nur Elendswerk war der ganze Coroman Hassif. »Ich konnte nicht anders«, sagte Kalahar schluchzend. »Sie haben mich gehaßt, alle haben sie mich gehaßt, verspottet und verachtet. Ich konnte nur eines: Trugbilder erzeugen, meine Feinde in Angst und Schrecken versetzen. Und das habe ich getan. Mir hätten sie nie gehorcht, die Coromanen, also mußte ich jemanden erfinden, der so aussah, wie sie ihn als Führer brauchten.« Genau das war es, was Mythor stutzig gemacht hatte. Coroman Hassif hatte ihm ein wenig zu sehr nach wildem Räuberhauptmann ausgesehen. Um eine Winzigkeit zu echt ausgefallen war das Bild gewesen, das Kalahar geschaffen hatte. »Wie hast du die Sache entdeckt?« fragte Kalahar. Von unten 234
her, vom schäbigen Lederkissen herauf, sah er Mythor zaghaft an. »Der Mann, den du mit der Peitsche gezüchtigt hast, der die Schlinge schon um den Hals hatte«, erinnerte Mythor, während er Kalahars schäbige Kammer betrachtete. »Er hatte keine Strieme am Hals. Die aber hätte er haben müssen, wäre der Schwung deiner Geißel echt gewesen. Dreinschlagen kannst du damit, aber einen Mann damit einfangen und heranziehen, das kannst du nicht.« »Es stimmt«, murmelte Kalahar. Mythor verschwieg ihm, was ihm den letzten Beweis geliefert hatte: der Helm der Gerechten. An ihm war Kalahars Täuschungsspiel wirkungslos abgeprallt. »Du wirst mich nicht verraten, nicht wahr?« jammerte der Zwerg. Mythor schüttelte den Kopf. Was hätte er gewonnen, wenn er das Doppelspiel des sogenannten Leibmagiers aufdeckte? Es wäre ein anderer hervorgetreten, der den Platz des Coroman Hassif eingenommen hätte – dem Banditenunwesen in diesem Landstrich wäre damit nicht abzuhelfen gewesen. »Was willst du beim Koloß von Tillorn?« fragte Mythor. »Den Schrecklichen, wie er sich nennt, besiegen. Er und seine Leute halten die Splitter des Lichtes besetzt und lassen niemanden durch. Wenn du zum Koloß willst, wirst du unsere Hilfe brauchen. Nur mit der gesamten Macht der Coromanen wirst du das Gesindel vertreiben können.« Daß ein Halsabschneider und Leuteschinder wie Kalahar oder Coroman Hassif andere Halsabschneider und Leuteschinder verächtlich als Gesindel bezeichnete, entbehrte nicht einer gewissen Komik, aber Mythor war nicht in der Laune für solche Scherze. Er überdachte das Problem nüchtern und ohne Vorbehalte. Zum einen reiste er tatsächlich leichter, bequemer und vor al235
lem sicherer in der Begleitung von Hassifs marodierendem Haufen. Zwar hätte er sich seinen Weg zur Not auch mitten durch die Bande hindurch freischlagen können, aber das hätte die Reise anstrengend und zeitraubend gemacht. Zum anderen war zur Gänze nie auszuschließen, daß von hinten ein vergifteter Pfeil allen Hoffnungen ein Ende setzte. So betrachtet war es für Mythor vernünftig, sich Kalahars Bande anzuschließen – wenigstens bis zu den Splittern des Lichtes. Auf der anderen Seite, so überlegte sich Mythor, führte er damit zwei Banditenhaufen aufeinander, die vielleicht dem Henker die mühselige Arbeit nehmen würden, die Burschen aufzuknüpfen. Möglich, daß sie sich gegenseitig derartig lichteten, daß Räuber künftig keine große Gefahr mehr für Reisende bildeten. Gelang es, diesen Plan ins Werk zu setzen, konnte Mythor mit seiner Vorgehensweise sogar zufrieden sein. Er warf einen Blick auf Kalahar. Was der Gnom sich dachte, ließ sich unschwer erraten. Solche Halunken waren berechenbar wie Schankmägde – wenn man ein Goldstück springen ließ, konnte man mit Sicherheit die Reaktion vorhersagen. Kalahars Plan sah infolgedessen so aus, daß er Mythor mitnahm und der Mühe enthoben war, ihm sein Eigentum abzunehmen, womöglich gar im Kampf. Dem Gnomen würde es sicherlich möglich sein, Mythor in das Getümmel einer allgemeinen Schlacht zwischen den Coromanen und den Leuten des Schrecklichen einzubeziehen. In diesem Fall genügte ein rascher Dolchstoß im Getümmel, um die Besitzfrage ein für allemal im Sinne des Coroman Hassif zu klären. Mythor rechnete sich aus, daß Kalahar bis zu diesem Augenblick warten würde. Bis dahin war er folglich sicher, und was sich danach zutragen würde, konnte Mythor keine Bange machen, wußte er doch Hark und Horus in der Nähe, Alton an 236
der Seite und den Helm auf seinem Haupt. »Ich reite mit euch«, sagte er ruhig. Kalahars Augen zogen sich einen winzigen Augenblick lang in triumphierender Bosheit zusammen, dann verzog der Bucklige das Gesicht zu einem vertraulichen Grinsen. »Ich wußte, du würdest mitmachen, Mythor«, sagte er. »Und jetzt könntest du mir eigentlich erzählen… Nein? Du willst nicht, auch gut. Ich kann warten. Einmal wirst du einsehen, daß ich es gut mit dir meine, dann wirst du mir auch sagen, was es mit deinem Einhorn und dem Orakelleder auf sich hat.« Mythor wandte sich zum Gehen. Der Raum widerte ihn an. Jedes Einrichtungsstück atmete die giftige Schäbigkeit, die für Kalahar typisch zu sein schien. Tand und Flitter, nichts Handfestes. Dazu kam der Charakter des vermeintlichen Coroman Hassif, der zwischen prahlerischer Überheblichkeit und weinerlichem Selbstmitleid schwankte. »Du wirst mich nicht verraten, nicht wahr?« Mythor winkte ab. Langsam schritt er den Weg zurück. Die Wände des Stollens waren nicht länger mit düsterrotem Samt bedeckt. Sie waren es nie gewesen, nur der Einfallsreichtum des Krüppels hatte die Verkleidung herbeigezaubert. Seine Gaukelbilder schufen die bedrohliche Atmosphäre des Tempels, den barbarischen Prunk der Einrichtung. In der Halle warteten die beiden Unterführer. Cepran sah Mythor von der Seite an. »Wir reiten zusammen«, sagte Mythor. Im Hintergrund sah er an einem Baum eine Gestalt hängen. Es war der Einäugige, der sich dazu hatte hinreißen lassen, den Buckligen zu treten. Mythor blickte an dem Toten vorbei. Er wußte, daß der Weg nach Tillorn mit Leid gepflastert war. Wo immer der Haufen des Coroman Hassif auch auftauchte, wo immer seine Leute 237
auf eine Menschenseele stießen, da war das Leid nicht fern und der Tod beinahe zwangsläufig zur Stelle. Verhindern konnte Mythor das nicht, vielleicht aber mindern. »Nach Tillorn«, sagte er zu Cepran. »Sobald die Sonne aufgeht, werden die Pferde gesattelt.« »Wer sagt das?« fragte Cepran. »Ich!« erklärte Mythor. Cepran machte einen Schritt zurück, griff zum Schwert. Er hatte die Waffe noch nicht halb aus der Scheide, da stand Mythor schon neben ihm. Ein fürchterlicher Hieb von Mythors Faust fällte den Räuber. Sein Geselle blieb betroffen stehen. »Was sagt Coroman Hassif dazu?« fragte er, sich spähend nach dem Anführer der Coromanen umsehend. Aus dem Hintergrund kam Kalahar herangeschlichen, das Gesicht voller Bosheit, sich gleichzeitig vor Mythor fast duckend. »Er stimmt zu«, sagte er zischend. »Dieser Mann ist einer der neuen Unterführer, und Coroman Hassif bestimmt, daß ihm zu gehorchen ist, als sei der Befehl von Hassif selbst ausgesprochen.« Cepran erholte sich langsam von dem Schlag und richtete sich auf. Seine Augen funkelten wütend, er rieb sich mit der Rechten das Kinn. Mythor wußte, daß er einen Feind mehr hatte. Cepran bedachte Kalahar mir einem geringschätzigen Blick, dann heftete er seine Augen auf Mythor. »Warte«, murmelte er undeutlich. »Ich werde mich rächen. Denke täglich an mich.« »Verschwinde!« sagte Kalahar scharf. »Coroman Hassif will es so.« »Pah«, sagte Cepran. Er verließ die Halle. Kalahar und Mythor sahen sich an. »Abgemacht?« Die Stimme des Buckligen war samten und freundlich, als wolle sie über die giftgeschwollene Zunge hinwegtäuschen. 238
»Abgemacht«, sagte Mythor. Ihn ekelte vor dem Gesellen, aber er schlug ein.
In langem Zug wand sich der Treck der Coromanen durch das Land. Ein Trupp der Tapfersten ritt unter der Führung Ceprans voran, dahinter folgte Coroman Hassif mit seiner engsten Begleitung. Dazu zählte außer dem Leibmagier eine Gruppe spezieller Bediensteter, Unglückselige, die das Pech gehabt hatten, Kalahar zu gefallen und von ihm angestellt zu werden, in der Hauptsache Frauen. Mythor hatte das Privileg, sich ebenfalls in der Nähe Kalahars aufhalten zu dürfen, ein zweifelhafter Vorzug, denn er war so gezwungen, die fast alltäglichen Selbstdarstellungen des Verwachsenen mit ansehen zu müssen. Mindestens einmal am Tag spielte Kalahar seine Rolle als Coroman Hassif, und er spielte sie nahezu perfekt. Vor Mythors Verrat wußte er sich nach einigen Stunden sicher, und so ging er ans Werk, die Demütigung seiner Entlarvung vergessen zu machen. Seine Gefolgsleute verstanden zwar nicht, warum Hassif plötzlich so launenhaft war, mal überfreundlich, mal von erbarmungsloser Strenge, aber sie gehorchten. Die Aussicht auf reiche Beute ließ sie die Unduldsamkeiten ihres Anführers leichter ertragen. Zudem hatten die Coromanen unverhofftes Glück. Zum einen war das Wetter recht angenehm, kaum Regen, und die Nächte fielen mild aus, zum anderen hatten die Jagdkommandos ungeahnten Erfolg. Woher hätten die Coromanen allerdings auch wissen sollen, daß diese Jagderfolge nicht zuletzt auf die magischen Fähigkeiten des Kalahar zurückzuführen waren. Mythor hatte ihm den Tip gegeben, seine besonderen Fähigkeiten dazu auszunutzen, seinen Kriegern das Wild vor die Speere zu treiben, und das Verfahren hatte tatsächlich ge239
wirkt. Seit sie genug zu essen bekamen, war die Laune der Coromanen erheblich besser geworden. Der Zug kroch einen kleinen Hügel hinauf. Dahinter sollte, so hatte es Kalahar versprochen, eine Steilküste zu finden sein. Dort ging es hinab ins Innenmeer, das an dieser Stelle auch Strudelsee genannt wurde. In der Nähe dieses Küstenabschnitts lagen auch die Inseln, die man als Splitter des Lichtes bezeichnete. Kalahar hatte Mythor über Namen und Geschichte dieser Inseln aufgeklärt. Einmal hatte es eine Landzunge gegeben, auf der auch der Koloß von Tillorn gestanden hatte. Dann aber, unter dem Einfluß dämonischer Kräfte, war es zu furchtbaren Tagen und Nächten gekommen, in denen das Land versank und auseinanderbarst und die Strudelsee alles Lebende hinwegschwemmte und hinabriß in die unergründlichen Tiefen des Meeres. Kalahar, dem außer dem eigenen Fell nichts heilig zu sein schien, hatte sich in leisem Schauder geschüttelt, als er davon erzählt hatte. Aus jenen Tagen rührte der Untergang der Tillorner her, von denen es praktisch nur noch stumme Zeugen gab -wie die verlassene Stadt, in der Coroman Hassif seine Banditen einquartiert hatte. Mythor konnte Cepran sehen, der sein Pferd auf dem letzten Hügel verhielt und lebhaft winkte. »Wir sind am Ziel«, sagte Kalahar zufrieden. Mythor blickte sich um. Das Land war entschieden ebener geworden in den letzten Stunden des Rittes, auch das stimmte mit dem überein, was er über die Gegend in der Nähe der Splitter des Lichtes gehört hatte. »Jetzt sind wir bald reiche Leute«, sagte Kalahar grinsend. »Wisse, edler Freund, daß es in der Nähe der Splitter des Lichtes ein vorgelagertes Riff gibt, wo alljährlich etliche Schiffe 240
stranden. Die werden nun wir ausplündern. Wir werden die Ladung verzehren, den Wein trinken, und die Weiber werden uns erfreuen nach unserem Belieben.« Kalahar war unersättlich hinter Weibern her, das hatte Mythor schon gemerkt. Ihm taten die Sklavinnen leid, die ihre Nächte mit Kalahar oder Coroman Hassif verbringen mußten, aber er konnte ihr Schicksal nicht erleichtern. Vielleicht waren sie auch froh, überhaupt überlebt zu haben. Cepran kam herangesprengt. »Was gibt es?« rief Kalahar von weitem. »Leute!« rief der Unterführer. »Fremde, sie schneiden uns den Weg zu den Splittern des Lichtes ab.« »Was soll das heißen, Fremde?« fragte Mythor. »Ich denke, es sind die Leute des Schrecklichen?« »Eben nicht«, sagte Cepran ratlos. »Es sind ganz andere, Barbaren.« Kalahar sah Mythor schräg an. »Hast du davon gewußt?« fragte der Magier lauernd. »Nicht ein Wort«, antwortete Mythor betroffen. Er wandte sich an Cepran. »Wie viele sind es?« Der Unterführer der Coromanen wiegte den Kopf. »Ich schätze sie auf fast fünfhundert Waffentragende.« Kalahar wurde sichtlich nervös. Er hätte mit seinem Räuberhaufen außerordentliches Glück haben müssen, um eine offene Schlacht gegen diese Truppe gewinnen zu können. »Und was machen diese Barbaren?« wollte Coroman Hassif wissen. Sogar in seiner Stimme schwang etwas von der Besorgnis mit, die Kalahar empfand. »Es sieht so aus, als belagerten sie die Ruinen vor den Lichtsplitterinseln«, berichtete Cepran. »Wir sehen uns die Sache an«, schlug Mythor vor. »Willst du mitkommen, Coroman Hassif?« Mythors Frage war nicht ohne Bosheit. Coroman Hassif reis241
te in einer verschlossenen Sänfte, die er nur wenige Male verlassen hatte. Es verstand sich von selbst, daß Hassif nicht mitkommen würde. »Nimm Kalahar mit!« bestimmte der Häuptling der Coromanen. »Nicht doch«, begehrte Kalahar auf. »Ich…« »Schweig und tu, was dir gesagt wird«, entschied Coroman Hassif. Mit schauspielerischen Einlagen dieser Art erhielt Kalahar die Täuschung aufrecht. Er war pfiffig genug gewesen, den Gnomen Kalahar weiterhin dem Gelächter der Coromanen preiszugeben, um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, er und Hassif seien womöglich dieselbe Person. Mythor nahm Kalahars Pferd beim Zügel und preschte los. Kalahar schrie protestierend auf, aber es half ihm nichts. Dieses Schauspiel sollte und mußte seine Rolle als Coroman Hassif stärken, und das war auch der Zweck des Manövers. Zum anderen war Mythor daran gelegen, den gefährlichen Kalahar immer in der Reichweite seines Schwertarms zu wissen. Dem Buckligen war jede nur denkbare Schandtat zuzutrauen, dessen war sich Mythor sicher. Nach kurzer Zeit war der Hügel erreicht. Kalahars Leute schwärmten unterdessen aus und versuchten, das Gelände zu sichern. »Tatsächlich!« stieß Kalahar hervor. Deutlich war das Lager der Barbaren zu erkennen, eine kleine Stadt aus Zelten, die das Ruinenfeld umgab. Was sich im Inneren dieser Ruinen befand, ließ sich aus Mythors Warte nicht beurteilen. Cepran hatte sich nicht verschätzt, es mußten allen Ernstes fast fünfhundert Bewaffnete sein, die das Ruinenfeld in weitem Bogen umlagerten. »Wahrscheinlich liegen sie im Kampf mit den Leuten des Schrecklichen«, vermutete Kalahar. »Ich glaube…« »Ein Bündnis?« meinte Mythor zweifelnd. »Ich glaube nicht, 242
daß der Anführer dieser Barbaren mit sich handeln lassen wird. Aber das läßt sich herausfinden.« »Und wie?« »Rufe eine halbe Hundertschaft deiner besten Leute zusammen«, sagte Mythor, der längst aus der Rolle eines getreuen Gefolgsmanns herausgewachsen war. »Und dann reiten wir zu den Barbaren hinüber und verhandeln.«
Die Speerspitzen glitzerten im Sonnenlicht, leise klirrten die Schwertgehänge. In geordneter Formation trabten die Coromanen auf das Lager der Barbaren zu. Kalahar war von Coroman Hassif »beauftragt« worden, die Verhandlungen zu führen, Mythor ritt an seiner Seite. Sie kamen dem Lager langsam näher, weithin sichtbar, wie es verabredet worden war. »Wenn diese Barbaren das Gesandtenrecht nicht achten«, murmelte Kalahar nervös, »werden sie uns erledigen.« Mythor sah den Leibmagier des Coroman Hassif an. »Hast du das Gast- und Gesandtenrecht geachtet?« fragte er. »Ich ja«, sagte Kalahar und grinste. »Aber Hassif nicht immer.« »Dann geschieht dir nur recht«, sagte Mythor kalt. Er blickte nach vorn. Die Barbaren hatten den Zug bemerkt und kamen mit ihrer eigenen Gesandtschaft näher. Mythor stutzte, dann begann er still zu lächeln. Vor diesen Barbaren drohte keine Gefahr – es waren Lorvaner, vielleicht sogar Nottrs Leute. Im Näherkommen wurde deutlich für jeden, daß es sich um Lorvaner handeln mußte – die feil- und pelzbesetzten Körper waren unverkennbar. »Überlaß mir das Verhandeln«, zischte Mythor. »Ich kenne diese Leute.« 243
»Das höre ich gern«, sagte Kalahar trocken. Er sah Mythor spöttisch an. Vermutlich dachte er darüber nach, wie Mythor diese Barbaren kennen konnte, da er doch zum ersten Mal in diesem Landstrich weilte. Indes war dies nicht die größte Sorge des Coromanen. Auf halber Strecke zwischen dem Zeltlager der Barbaren und dem vorläufigen Lagerplatz der Coromanen blieben beide Abordnungen stehen. Mythor stieg von Pandors Rücken und gab einem Coromanen die Zügel. Kalahar folgte dem Beispiel. Mythor entging nicht, mit welcher Gier bei dieser Gelegenheit Kalahar den leonitischen Königssattel betrachtete, mit dem das Einhorn gesattelt war. Mythor enthielt sich jeder Reaktion, aber er wußte, daß Kalahar hinter Pandor her war, daß er den Helm der Gerechten und auch das Gläserne Schwert in seinen Besitz bringen wollte. Um dieses Ziel zu erreichen, war dem Buckligen jedes Mittel recht, und das schloß Verrat ebenso ein wie Meuchelmord. Die Lorvaner kamen ebenfalls zu Fuß näher. Sie hatten recht grimmige Gesichter, aber freie Hände. Mythor hob die rechte Hand und zeigte die offene Fläche. »Wir kommen in Frieden«, sagte er. Der Lorvaner verzog das Gesicht zu einem wölfischen Grinsen. Sein rechtes Ohr fehlte, das linke stellte kaum mehr dar als eine einzige verwachsene Narbe. »Das sollen wir glauben?« fragte er in jenem rauhen Ton, der typisch war für die Lorvaner. »Warum nicht?« fragte Mythor zurück. Er setzte sich auf den Boden und kreuzte die Arme vor der Brust. Kalahar folgte mit einigem Zögern seinem Beispiel. Die Lorvaner, es waren fünf, starrten die beiden eine Zeitlang an, dann setzten sie sich ebenfalls. Es waren Gestalten, die sich in jedem Alptraum bestens zurechtgefunden hätten: wild und 244
grausam, narbenbedeckt und offenkundig kampferprobt. Gegen diesen Barbarenhaufen hatten Kalahars Coromanen keine Chance, das stand für Mythor sofort fest. Aber Kampf war schließlich gar nicht notwendig – immerhin kannte Mythor ja die Lorvaner. »Ich freue mich, wieder auf Leute eures Volkes zu treffen«, sagte Mythor mit aller ihm zu Gebote stehenden Freundlichkeit. »Ach?« machte der Anführer der Lorvaner. Er kratzte sich genußreich unter der linken Achsel. »Und wo willst du einem von uns begegnet sein, Fremder mit der glatten Haut?« »Oben im Norden«, sagte Mythor. »Ich heiße Mythor.« Der Lorvaner schniefte und kratzte sich dann unter der rechten Achsel. Mythor stellte fest, daß der Anführer des längeren nicht mehr gebadet hatte und dementsprechend roch. »Ich bin Kaschkas«, stellte sich der Lorvaner vor. »Das sind meine Leute.« Die Hand, die Mythor ihm entgegenstreckte, schien er gar nicht wahrzunehmen. »Was wollt ihr hier?« fragte Kaschkas. Er vollendete seine Körperpflege, indem er oberflächlich den bronzenen Nasenring säuberte. Mythor deutete auf die Inseln am Horizont. »Wir wollen die Splitter des Lichtes aufsuchen.« »Hä?« Mythor wurde deutlicher. »Die Inseln dort drüben. Wir wollen hinfahren.« Kaschkas schüttelte den Kopf. »Geht nicht«, sagte er einfach. »Was heißt das, geht nicht?« fragte Kalahar. »Kann man keine Boote bekommen? Oder wollt ihr uns den Weg versperren?« »Geht nicht!« erklärte Kaschkas. »Unser Land, wir hier plün245
dern.« »Wir wollen nicht plündern«, erklärte Mythor. Der Blick, mit dem Kaschkas ihn bedachte, tat jedermann kund, daß Kaschkas weder gewillt war, sich veralbern zu lassen, noch daß er Mythor für so blöd hielt, nicht plündern zu wollen. Wer in diesem Landstrich nicht danach trachtete, seinem Nachbarn den Schädel einzuschlagen und ihm Haus, Hof, Weib und Vieh zu nehmen, der galt offenbar als hirnsiech, zumindest in den Augen der Lorvaner. Mythor ging auf die Ausdruckskürze des Lorvaners ein. »Wir dir Schädel einschlagen müssen, um an Inseln zu kommen?« erkundigte er sich. Der Lorvaner grinste breit, seine Gefährten waren amüsiert. Die Vorstellung, daß Mythor mit einem von ihnen raufen wollte, erheiterte die Barbaren ungemein. »Du probieren?« fragte hoffnungsvoll der Anführer des Haufens. Mythor seufzte leise. »Wir sind Freunde«, sagte er beschwörend, hoffend, daß Kaschkas in der Lage sei, längere zusammenhängende Texte zu verstehen, wenn er angesprochen wurde. »Freunde, verstehst du? Wir wollen nichts von dir, nur hinüber zu den Inseln.« »Gut«, sagte Kaschkas. Mythor stellte beiläufig fest, daß am Griff von Kaschkas’ Schwert ein sorgsam getrockneter Menschenkopf mit langem blondem Haar baumelte. Der Lorvaner liebte augenscheinlich grausige Andenken. Kaschkas hatte seine eigenen Ansichten über die Lage. »Du uns geben, wir dich durchlassen.« »Wenn es denn sein muß«, seufzte Mythor. Kalahar griff nach seinem Arm. Der Leibmagier des Coroman Hassif sah Mythor durchdringend an. »Es gibt andere Mittel und Wege«, erinnerte er. Mythor streifte die Hand des Buckligen ab. »Ich werde fra246
gen, was er haben will«, sagte er. »Also, Kaschkas, was möchtest du haben?« Der Lorvaner hatte sich ein Zollverfahren einfallen lassen, das seinem Gemüt entsprach. Er grinste nur. »Alles«, sagte er laut und deutlich. Mythor schloß für einen kurzen Augenblick die Augen. Innerlich fühlte er sich versucht, den pelzigen Barbaren um mindestens einen Kopf kürzer zu machen, aber er wollte Nottrs Gefährten und Freunde nicht ohne Not verärgern. »Das ist ein wenig zuviel«, sagte er halblaut. »Gerade genug«, entgegnete Kaschkas. Einer seiner Begleiter fing an zu gestikulieren und deutete auf etwas hinter Mythors Rücken. Der Sohn des Kometen drehte sich langsam um. Irgendeiner der Unterführer, vermutlich Cepran, war auf den unglückseligen Einfall gekommen, Kaschkas imponieren zu wollen. In geordneter Formation stand die gesamte Streitmacht der Coromanen auf dem Hügelkamm. Es sah beeindruckend aus, und die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Mit einem Blick hatte Kaschkas die Lage erfaßt und die Stärke seiner Gegner abgeschätzt. Sein Gesicht glänzte vor Freude. »Viel Feind, viel Beute«, sagte er zufrieden. »Ihr alles abliefern, sonst wir kommen holen.« »Er hat das Gemüt eines Steuereinnehmers der Caer«, knurrte Kalahar ergrimmt. »Ich denke, du kannst mit diesen Leuten reden… also rede!« Mythor warf noch einen Blick auf die Coromanen. Sie blieben auf dem Hügel stehen. Währenddessen purzelten die Lorvaner aus ihrer Zeltstadt und beeilten sich, auf das vermeintliche Schlachtfeld zu kommen. Sie schienen es kaum erwarten zu können. »Warum müssen wir uns raufen?« fragte Mythor. »Sind wir nicht Freunde?« 247
»Wir?« »Ja, wir«, behauptete Mythor. »Ich kenne einen von euch Lorvanern, Nottr, er ist mein Freund.« Die Lorvaner zeigten sich davon wenig beeindruckt. Kaschkas entblößte sein lückenhaftes Gebiß. »Du Freund von Lorvanern? Du Freund von Nottr?« »Ja«, sagte Mythor, darauf hoffend, daß der Zwist damit ein Ende hatte. Er sah sich bitterlich getäuscht. Aus dem Lorvaner, der offenbar gar keiner war und großen Wert darauf legte, nicht für einen Lorvaner gehalten zu werden, brach ein Redeschwall hervor, den Mythor kaum verstand, der ihm aber zweierlei klarmachte – zum einen, daß er es mit den Cirymern unter Kaschkas und nicht mit Nottrs Lorvanern zu tun hatte, zum zweiten, daß er mit seinem fürchterlichen Verdacht die ganze Wut der Cirymer und Kaschkas’ auf sich geladen hatte. Der Barbar fluchte, daß es eine Art hatte. »Du nicht nur geben Sachen«, sagte er wutschnaubend. »Du geben Reittier und Schwert und Schnaps und schöne Weiber, sonst wir kommen und dann…« »Auf dieser Basis läßt sich einfach nicht verhandeln«, sagte Kalahar. Kaschkas deutete auf den Buckligen. »Spaßmacher, häßlichen, auch an Kaschkas geben«, sagte er. »Er springen, wenn man ihn treten.« Damit war die Todfeindschaft erklärte Sache, an Verhandlungen war nicht mehr zu denken. Kalahar, das ließ sich an seinem Gesichtsausdruck unschwer ablesen, würde erst ruhen und rasten, wenn er seinen abendlichen Wein aus der goldüberzogenen Hirnschale des Cirymers trinken konnte, und Kaschkas würde erst dann Ruhe geben, wenn er Pandor ritt und Kalahar mit Mythors Schwert die Rippen kitzeln konnte. 248
»Wir gehen zu unseren Leuten zurück«, sagte Mythor. »Vielleicht überlegt ihr es euch noch einmal.« »Können wir tun«, sagte Kaschkas und stand auf. »Treibt Preis in die Höhe, aber wenn ihr wollt…?« Sein Grinsen wurde zur offenen Verhöhnung. Er schritt davon, sah sich um, grinste Kalahar frech an und äffte im Davongehen den hinkenden Gang des Leibmagiers nach. Kalahar sah ihm mit versteinerter Miene hinterdrein. Leise sagte er: »Dafür wird er leiden, der Barbar, und er wird Tränen der Dankbarkeit vergießen, wenn ich ihn dann endlich sterben lasse.«
»Was machen wir nun?« fragte Mythor. »Wir schlagen ihnen die Schädel ein«, schlug Cepran sofort vor. Kalahar bedachte ihn mit einem verweisenden Blick. Die Laune der Coromanen war nicht die beste. Daß sie keinen Schritt weiterkamen, ärgerte die Gefolgsleute des Coroman Hassif sehr; daß sie nur dann vordringen konnten, wenn sie sich mit den Cirymern eine offene Feldschlacht lieferten, behagte ihnen noch weit weniger. Daran gewöhnt, Leichtbewaffnete oder Weiber und Kinder zu überfallen, mußte ihnen der Cirymer-Haufen schreckerregend vorkommen, insbesondere, da die Cirymer die Schlacht kaum erwarten konnten. »Mit List käme man weiter«, meinte Mythor. »Du vielleicht«, warf Cepran ein. »Wir nicht… Erst müßten wir diese Fellbande niedermachen, danach gegen den Schrecklichen antreten, und wozu das Ganze?« »Wenn der Schreckliche sich auf den Inseln festgesetzt hat«, sagte Kalahar, »wenn obendrein der Schreckliche von diesen Cirymern belagert wird… dann darf man doch wohl annehmen, daß es auf den Lichtsplitterinseln etwas zu holen gibt. 249
Oder?« »Weise gesprochen, Narr«, ließ sich Coroman Hassif vernehmen. Nur für Mythor war die Hünengestalt nicht zu erkennen, die anderen Coromanen standen nach wie vor unter der Wirkung des Spukzaubers. »Es besteht also kein Zweifel daran, daß wir die Inseln erreichen müssen«, sagte Coroman Hassif. »Fraglich ist nur das Verfahren.« Mythor hatte sich das Gelände eingeprägt. Er zeichnete eine grobe Karte auf den sandigen Boden. »Hier stehen wir«, sagte er. »Und hier sind die Inseln. Hier lagern die Cirymer, und daraus ergibt sich…« Er zeichnete auch die Geländeeigenschaften ein, und dabei fiel ihm etwas auf. »Hier«, sagte er. »Durch dieses Tal werden sie kommen. Wahrscheinlich kurz vor Morgengrauen.« »Wer? Die Cirymer?« »Wer sonst«, beantwortete Mythor Kalahars Frage. »Sie müßten Narren sein, würden sie nicht versuchen, das ganze Problem mit einem Handstreich zu erledigen. Noch bevor wir uns umgesehen haben, werden sie über uns herfallen, und zwar an dieser Stelle. Ich habe mir das Gelände gemerkt. Es gibt da einen ausgetrockneten Bach, der sich durch das Land windet. Wenn sie dem Bachbett folgen, landen sie genau in unserem Rücken.« Coroman Hassif lachte dröhnend. »Dann werden wir sie dort erwarten«, sagte er. »Mit blutigen Köpfen werden wir sie zurückschicken.« Mythor rieb sich die Nase. Ob das alles so richtig war, wie er es dargestellt hatte? Es kam auf die Frage an, wie weit voraus der Anführer der Cirymer plante und handelte. Sehr leicht konnte aus der Falle für die Cirymer eine Falle für die Coromanen werden. »Wir postieren unsere Leute hier«, sagte Coroman Hassif. 250
»Und dort, und dann sollen sie nur kommen.« Während Mythor noch über der Karte grübelte, schickte Hassif seine Leute in Stellung. Er schärfte seinen Unterführern ein, die Männer nur sehr leise zu wecken. Waffenlärm sollte schwer bestraft werden, denn das Klirren der Schwerter war in dieser ruhigen Nacht weithin zu hören. Mythor stand auf und verließ Hassifs Zelt. Draußen konnte er besser sehen und hören, auch die Bewegungen im Lager der Cirymer waren zu erkennen. In weitem Bogen umglühten ihre Lagerfeuer die Ruinenstadt, und gegen den Schein des Feuers waren ab und zu die Silhouetten der Cirymer zu sehen. Mythor betrachtete eine Zeitlang das Bild, dann drehte er sich um zu den Coromanen. Auch hier waren Zelte aufgeschlagen worden, brannten Lagerfeuer. Aus einem der Zelte kam sogar Musik; jemand hatte ein Instrument mitgebracht und spielte darauf, nicht ohne Kunstfertigkeit, wie Mythor feststellte. »Cepran!« rief Mythor. Der Unterführer der Coromanen kam heran. Ihm paßte es nicht, daß Mythor ihm Anordnungen erteilte, aber die Befehle des Coroman Hassif waren eindeutig. »Können ein paar von deinen Leuten singen?« fragte Mythor. Cepran sah ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Singen?« »Ja«, bestätigte Mythor. »Kampfgesänge, Zechlieder, was immer gesungen werden kann.« »Das müßte sich finden«, sagte Cepran, der nichts begriffen hatte. »Sammle zehn oder fünfzehn solcher Leute«, ordnete Mythor an. »Sie sollen sich um ein Feuer scharen, gib ihnen auch genug zu trinken, und dann sollen sie laut und grölend singen, stundenlang.« 251
»Wozu soll das gut sein?« fragte Cepran. Mythor deutete auf die Cirymer. »Sie sollen annehmen, wir würden feiern«, erklärte er. Ceprans Gesicht hellte sich auf. »Und wenn sie dann kommen, um die Bezechten niederzumachen, werden sie eine böse Überraschung erleben«, frohlockte er. »Ein guter Einfall, wahrhaftig.« Er hastete davon, um das Zechkommando zusammenzustellen. Merkwürdigerweise waren die Coromanen von dieser Idee nicht sehr begeistert. Der Schnaps lockte sie zwar, aber die Aussicht, nicht am Kampf und damit an der Beute beteiligt zu sein, verdroß doch einige. Erst als Mythor klarstellte, daß die Beute gerecht verteilt werden würde unter alle, fanden sich genügend Männer bereit. Mythor sorgte dafür, daß der Schall des Gesangs bis zu den Cirymern hinüberdringen konnte. Danach suchte er das Ende des Bachbetts auf, über das er den Angriff der Cirymer im Morgengrauen erwartete. Kalahar hatte seine Leute recht geschickt postiert; er verstand etwas von dem blutigen Handwerk, mit dem er sich beschäftigte. Die Leute lagen in sicheren Deckungen, wo man sie so schnell nicht sehen konnte. Wenn die Cirymer kamen, und daran zweifelte Mythor keinen Augenblick, würden sie für geraume Zeit fast wehrlos den Pfeilen, Schleudern und Speeren der Coromanen ausgesetzt sein, bevor sie ihrerseits die Waffen einsetzen konnten. Coroman Hassif stand hoch aufgerichtet auf einem Felsen. Mythor tippte Kalahar auf die Schulter. »Er ist dort oben leicht sichtbar«, sagte Mythor beiläufig. »Du solltest Hassif raten; sich von dort zurückzuziehen.« Kalahar verzog das schiefe Gesicht zu einem Grinsen. »Ich werde es ihm sagen«, meinte er, »wenn er es nicht schon von selbst gemerkt hat.« 252
In der Tat verließ Coroman Hassif in diesem Augenblick seinen Standort. Es war immer wieder verblüffend für Mythor, wie der Zwerg diese Doppelrolle durchhielt. Er mußte ja praktisch für zwei denken, wenn er selbst und Coroman Hassif in der Öffentlichkeit erschienen. Mythor sah, wie Hassif sich langsam zurückzog. Offenbar wollte der Führer der Coromanen ein wenig schlafen und erst später ins Gefecht eingreifen. Für Mythor war Hassif nur sichtbar, wenn er es wollte, ansonsten wurde er von dem Helm der Gerechten vor dem Täuschungszauber bewahrt. Kalahar hielt das für eine besondere Gabe Mythors; er kannte ja die speziellen Eigenschaften des Helmes nicht. Hätte der Gnom gewußt, welche magischen Kostbarkeiten Mythor mit sich trug, wäre Mythor seines Lebens keinen Lidschlag mehr sicher gewesen. Mythor lehnte sich gegen den nächsten Felsen, den Blick auf den Ort gerichtet, an dem die Cirymer auftauchen mußten, wenn seine Vermutungen stimmten. Mochten sie kommen.
Als der Morgen dämmerte, grau und nebelkühl, waren die Cirymer noch immer nicht erschienen. Mythor fröstelte ein wenig. Ein Teil der Coromanen war eingeschlafen, ein deutliches Zeichen für den Zusammenbruch der Manneszucht in ihrem Lager. Die Wachen lehnten auf den Speerschäften, starrten mißmutig drein und warfen ab und zu böse Blicke auf ihn. Mythor zog den Mantel enger um die Schultern. Was hatte er falsch gemacht? Er kam zu keiner Antwort. Nach seiner Berechnung hätten die anderen längst ihren Angriff vortragen müssen. Im Lager war es sehr still geworden. Die Zecher hatten die halbe Nacht hindurch gesungen… 253
Mythor zuckte zusammen. Natürlich, das war der Fehler. Jeder Heerführer, auch wenn er nur eine kleine Schar von Räubern befehligte, hätte es sich strikt verbeten, seine Nachtruhe vom Schnapsgegröle seiner Leute stören zu lassen. Das gleiche galt für die Freunde der Zecher. Wenn also im Lager der Coromanen lauthals gesungen wurde, konnte das nur bedeuten, daß ohnehin keiner an Schlaf dachte. Das Singen der Trinker hatte dem listigen Kaschkas deutlich zu verstehen gegeben, daß eine Falle auf ihn wartete. Die Folgerungen daraus waren entsetzlich. Jetzt waren die Coromanen müde, enttäuscht, unlustig. Genau der richtige Zeitpunkt, einen Angriff zu führen, der mit verheerender Wucht alles vor sich niederwarf. Und selbstverständlich durfte dieser Angriff nicht an einem Ort beginnen, wo logischerweise ein Angriff zu beginnen hatte. »Zurück ins Lager!« rief Mythor laut. Die Coromanen schraken auf, winkten ab. »Leise!« zischte Kalahar neben Mythor. »Willst du sie warnen?« »Warnen? Hoffe, daß wir sie noch frühzeitig zu sehen bekommen. Los, Männer, nehmt die Waffen auf. Wir kehren ins Lager zurück… und zwar im Eilmarsch.« »Was soll der Unfug!« ereiferte sich Kalahar. »Erst läßt du uns hier die ganze Nacht stehen, und dann scheuchst du uns ohne ersichtlichen Grund zurück? Was hat das zu bedeuten?« »Ich glaube, ich weiß, was die Cirymer vorhaben«, stieß Mythor hervor. »Und wenn ihr nicht auf der Stelle zurückrennt, gibt es eine Katastrophe.« Kalahar zögerte einen Augenblick, dann nickte er. Mythor rannte bereits los. Er vermutete, er hoffte sogar, daß die Cirymer wider alle Regeln das Lager der Coromanen von vorn berennen würden. Von dort brauchten sie den geringsten 254
Widerstand zu erwarten, denn nur wenige der Coromanen waren im Lager geblieben. Mythor rannte mit weiten, gleichmäßigen Sätzen. Er hatte Alton gezogen, der Helm saß fest auf dem Kopf. Er erreichte das Lager, und im gleichen Augenblick, in dem er das erste Zelt erreichte, flog auf der gegenüberliegenden Seite die erste Fackel in eines der Zelte. Wenige Augenblicke danach loderten die Flammen zum Himmel empor. Der Kampf hat begonnen. Die Barbaren stürmten mit lautem Gebrüll auf das Lager der Coromanen los. Die ersten verdutzten Räuber, die schlaftrunken aufsahen, waren niedergemacht, ehe sie noch recht wußten, wie ihnen geschah. Einige Beherzte griffen zu den Waffen und wehrten sich ihrer Haut. Mythor rannte dem Haufen der Barbaren entgegen. Ein Cirymer stellte sich ihm in den Weg und prallte wie von einer Riesenfaust getroffen zurück, als Altons Schärfe ihm das Schwert eine Handbreit oberhalb des Heftes glatt durchschnitt. Weiter drängte Mythor. Er war bald mitten im Gewühl, teilte Hiebe nach rechts und links aus und schuf sich so eine breite Bahn, mitten hinein in die Angriffswelle der Cirymer. Kaschkas schien alles aufgeboten zu haben, was er an Männern besaß. Der ganze Haufen war über die Coromanen hergefallen. Nach wenigen Augenblicken brannte der größte Teil der Zelte, war das Lager der Coromanen überrannt, die wenigen Kämpfer geschlagen. Dann aber erschienen die Coromanen auf dem Schlachtfeld. Viel zu früh nach Kaschkas’ Planung, gerade noch rechtzeitig für Mythor. Der Kometensohn focht sich durch. Er wollte Kaschkas erreichen, der ziemlich weit von ihm entfernt auf einem Hügel stand, von dort auf das lodernde Lager herabsah und seine 255
Leute mit wildem Gebrüll anfeuerte. Er war Mythors Ziel. Fiel er, fielen die Cirymer. Mythor ließ Alton kreisen. Wer nicht schon zurückschrak vor dem klagenden Gesang des Gläsernen Schwertes, der fiel seiner furchtbaren Schärfe zum Opfer. Dennoch versuchten immer wieder todesmutige Cirymer, Mythor zu Fall zu bringen. Schlingen kamen herangeflogen, entrollten sich und senkten sich tückisch auf den Kopf herab. Wehe dem Coromanen, der das lautlose Verhängnis nicht kommen sah. Rasch zugezogen, riß die Schlinge den Unglücklichen zu Boden, und was der würgende Griff des Seiles an Leben noch ließ, wurde unbarmherzig ausgelöscht durch eine Keule oder ein rasch zustoßendes Messer. Mythor sah eine solche Schlinge auf sich zufliegen und zerhieb sie in der Luft. Dabei wurde seine Seite frei, einer rannte heran, den Speer erhoben, die Spitze auf Mythors Achsel zielend. Er machte einen Satz zur Seite. Ein schneller Hieb mit Alton, nicht sicher gezielt, aber mit Kraft geführt. Der Speer verfehlte die Achsel, ging ins Leere, der Heranstürmende spießte sich selbst auf Mythors Schwert. Ein Schritt war gewonnen, und schon stand der nächste Feind und holte zum Hieb auf Mythors Haupt aus. Eine Finte, eine halbe Drehung, Alton ließ den Angriff scheitern. Mühselig war der Kampf im Morgengrauen. Waffenklirren und Schreie waren zu hören, Anfeuerungsrufe. Schwer legte sich der Qualm des riesigen Brandes auf die Brust, die Hitze ließ die Stirn naß werden vom Schweiß, der dann herabtropfte, vielleicht gar ins Auge – bitter mußte der büßen, der deswegen im Getümmel auch nur für die Zeit eines Herzschlags die Übersicht verlor. Meter um Meter, Schritt für Schritt kämpfte sich Mythor an Kaschkas heran. 256
Wäre er ein Feigling gewesen, der Anführer der Cirymer, ein leichtes wäre es für Mythor gewesen, ihn aufzustöbern und niederzumachen. So aber stand Kaschkas stets im dicksten Getümmel und wütete unter den ermüdeten Coromanen mit aller schrecklichen Kunstfertigkeit seines kriegerischen Handwerks. »Kaschkas!« schrie Mythor. »Her zu mir, wenn du Mut hast!« Kaschkas stieß einen Wutschrei aus. Er hatte den Ruf gehört. »Ich komme, Mythor!« schrie er. »Macht Platz, ihr elenden Coromanenhunde, Platz da für mich und mein Schwert!« Zahlreiche Cirymer warfen sich auf Mythor, um ihn daran zu hindern, mit Kaschkas zu streiten. Sie fielen unter Mythors Hieben, aber sie hielten ihn immer wieder auf. Gleichzeitig fielen die Coromanen mit aller Wut über Kaschkas her, und was Mythor von dem Cirymer zu sehen bekam, erwies ihn als beherzten Kämpfer, der nicht nur dreinzuschlagen wußte, sondern jeden Winkelzug des Kampfes kannte und geschmeidig anzuwenden wußte. Die beiden Erzfeinde wurden vom Getümmel auseinandergetrieben. Einen Augenblick lang versuchte Mythor herauszufinden, wie die Schlacht stand, aber er konnte nicht viel erkennen. Ruß wirbelte über das Schlachtfeld, irgendwo schrien Pferde, ein halbes Dutzend Hunde schnappten nach allem, was sich finden ließ. Längst gab es keine klaren Fronten mehr; die Cirymer und Coromanen bekämpften sich in kleinen und größeren Knäueln, und es ließ sich beim besten Willen nicht sagen, wer in diesem Kampf die Oberhand gewinnen konnte. Der einzige, der auf dem Schlachtfeld nicht zu sehen war, war Coroman Hassif, und der Grund dafür war einsichtig – Kalahar war ohnmächtig geworden. Besinnungslos lag er am Boden, vergessen in dem blutigen Getümmel, unbeachtet. 257
Ausnahmsweise würde er damit zufrieden sein, vermutete Mythor in einer herzschlaglangen Kampfpause. »Her zu mir, Lorvanerfreund!« schrie Kaschkas, und er hängte, um den Kampf unvermeidlicher zu machen, noch ein paar Liebenswürdigkeiten in seiner eigenen Sprache an, die Mythor zwar nicht verstand, deren Tonfall aber eindeutig verriet, wie sie einzuschätzen waren. Dann endlich standen sich die beiden Kontrahenten gegenüber, und noch im gleichen Augenblick stieß Kaschkas zu. Zu geschickt und abgefeimt, sein Schwert nur zum Dreinschlagen zu benutzen, rammte er es nach vorn, und Mythor wurde von der Klinge voll getroffen. Wilder Schmerz zuckte von der Brust her hoch, aber die Klinge drang nicht durch, der Stoß wurde vom Waffenrock weitgehend aufgefangen und gemildert. Immerhin war Mythor für einen kurzen Augenblick verwirrt, und Kaschkas war kein Kämpfer, der seinem Gegenüber eine zweite Chance gab. Er ließ das Schwert in die Höhe schnellen, die Klinge fuhr auf Mythors Hals zu. Mythor wich aus, dann ließ er Alton einen Halbkreis beschreiben. Die herrliche Klinge sauste durch die Luft, und irgendwo auf ihrem Weg traf sie Kaschkas’ Schwert und seine Helmzier. Beides flog, in Stücke gehauen, davon und fiel auf den Boden. Kaschkas stieß einen Wutschrei aus, machte einen Satz seitlich und rückwärts zugleich und griff an den Gürtel. Die kleine Keule, ein metallener Stachelball an kurzer Kette, saß locker. Einen Herzschlag später flog Mythor das tödliche Geschoß entgegen. Der Helm der Gerechten fing den Anprall auf, aber wieder war Mythor ein wenig benommen. Kaschkas war kein Feigling, aber auch kein Dummkopf. Er sah ein, daß er gegen das Gläserne Schwert mit aller Tapferkeit 258
und Geschicklichkeit nichts auszurichten vermochte. Er suchte sein Heil im Rückzug. Seine Leute sahen das und wichen ebenfalls zurück. Einmal in Bewegung geraten, wurde aus dem Rückzug schnell eine panische Flucht. Die Cirymer sahen ihren Anführer weichen, und da wichen sie eilends mit. Wie die Schlacht zu diesem Augenblick stand, zeigte sich sehr rasch. Vom eiligen Rückzug des Gegners gerade noch vor der eigenen Niederlage bewahrt, blieben die meisten Coromanen dort, wo sie gerade standen. An Verfolgung dachten sie nicht. Sie waren froh, die eigene Haut gerettet zu haben, und die Cirymer mußten sich mit der Demütigung abfinden, daß ihr meisterlicher Plan mißlungen war. Die Lage war wieder ausgeglichen – und zugleich verfahren. Es galt, einen Weg zu finden, der aus diesem Dilemma herausführte.
»Das sieht gar nicht gut aus«, sagte Ghuer grimmig. Kaschkas zuckte nur mit den Achseln. Die Wunde war tief, das Weiße des Knochens schimmerte hervor, aber der Cirymer verbiß den Schmerz – er hatte es von klein auf nicht anders gelernt. Wunden wie diese gehörten zum Leben eines Cirymers, und es war dies auch nicht das erste Mal, daß Kaschkas verwundet worden war. Ghuer packte feuchtes Moos auf den Wundspalt und wickelte dann einen breiten Tuchstreifen um das Bein. Der Saft des Mooses brannte entsetzlich in der Wunde, aber auch diesen Schmerz ertrug Kaschkas ohne Wimpernzucken. »Dafür werden sie mir büßen«, sagte der Cirymer. »Du mußtest sie ja nicht angreifen«, sagte Ghuer kalt. Er schloß den Verband. »Jetzt versuche aufzustehen!« Kaschkas stützte beide Hände auf die Lehnen seines Sessels, 259
als er sich behutsam erhob. Das rechte Bein war unverletzt und trug einstweilen die ganze Last des Körpers. Sehr vorsichtig trat der Cirymer auch mit dem verletzten linken Bein auf. Auf seinem Gesicht erschienen feine Schweißtropfen. Der Schmerz trieb sie hervor; außer diesem Zeichen war nichts zu erkennen. »Es wird gehen«, sagte er. »Und es wird reichen, dem Halunken, dem ich diese Blessur verdanke, mit eigener Hand den Schädel zu spalten, wenn er mir wieder vor die Klinge kommen sollte.« Langsam humpelte er aus seinem Zelt. Es war später Nachmittag. Bald würde die Sonne untergehen. Die Krieger der Cirymer hatten sich von der verlorenen Schlacht wieder erholt; sie hatten geschlafen, gegessen und vor allem durch fleißiges Trinken ihre Stimmung wieder gehoben. Neben Kaschkas’ Zelt stand ein Posten. »Wie sieht es bei denen aus?« fragte Kaschkas und machte eine Kopf bewegung auf das Lager der Coromanen zu. Der Posten zeigte ein breites Grinsen. »Gut«, sagte er heiter. »Sie lecken ihre Wunden, die Hunde. Angreifen werden sie uns nicht.« »Damit habe ich auch nicht gerechnet«, murmelte Kaschkas. Er dachte an Mythor, den er nicht hatte bezwingen können. Diesem Kerl hatte er es auch zu verdanken, daß er jetzt wieder humpelte. Die Verwirrung seines Rückzugs hatte ein halbtoter Coromane dazu benutzt, dem unaufmerksamen Cirymer eine Speerspitze in das Bein zu jagen, und was noch schlimmer war, der Verletzte hatte es sogar fertiggebracht, sich Kaschkas’ Rache durch eilige Flucht zu entziehen. So war das Gefecht in doppelter Hinsicht eine Demütigung für Kaschkas. Langsam schritt Kaschkas durch das Lager der Cirymer. Er gewöhnte sich an den Schmerz, und er schaffte es unter Aufbietung aller Willenskraft, fast so energisch aufzutreten, wie er es gewöhnlich tat, wenn er das Lager in Augenschein nahm. 260
Die Cirymer hatten die Niederlage offenbar noch nicht zur Gänze verdaut. Einige pflegten ihre Verletzungen, andere betrauerten gefallene Freunde und Gefährten, wieder andere schliefen einfach. Den meisten aber war anzusehen, daß sie sich über die schmähliche Flucht ärgerten. Kaschkas wußte, daß er keine zweite Chance zur offenen Schlacht mehr bekam. Die Coromanen waren jetzt gewarnt, Kaschkas’ Trick würde kein zweites Mal mehr verfangen – er hatte beim ersten Mal ja schon nicht geklappt. »Was machen wir jetzt, Kaschkas?« fragte einer der Zeltführer, ein Cirymer, der Kaschkas seine Stellung möglicherweise streitig machen konnte, wenn der Anführer der Cirymer weiterhin so erfolglos blieb wie in den letzten Tagen. »Abwarten«, antwortete Kaschkas. »Im Augenblick sind wir zur Ohnmacht verdammt. Wir können die Coromanen nicht schlagen; sie werden es nicht wagen, uns in unserem Lager anzugreifen. Obendrein haben wir ja noch einen zweiten Gegner niederzukämpfen.« Der Zeltführer zeigte ein ablehnendes Gesicht. »Es ist gut, daß du dich daran erinnerst«, sagte er und zog sich zurück. Kaschkas hätte ihn am liebsten niedergeschlagen, durfte das aber im Lager nicht wagen. Es gab auch bei den wilden, als rücksichtslos verschrienen Cirymern Gesetze, die Kaschkas zu befolgen hatte, sogar er. Mißmutig blickte er zur Sonne hinüber, die gerade hinter dem Hügel zu versinken begann. An Abenden wie diesem erwarteten seine Leute ganz bestimmte Vergnügungen. Dazu gehörte reichliches Essen, dazu gehörten scharfe Getränke im Unmaß, dazu gehörten Frauen, Gesang, wilde Spiele, manchmal ums Leben, ab und zu sogar um Ehre und Freiheit. Spiele hatten die Cirymer genug. Indessen fehlte es an den Dingen, die erst die Laune schufen für Lustbarkeit und Ver261
gnügen. Es gab nur Wasser im Lager, schlechtes dazu. Das Brot war knapp geworden, in der näheren Umgebung gab es keine Bauern mehr, die man plündern und erschlagen konnte. Der Schnaps war längst aufgezehrt, und was die Frauen in weitem Umkreis betraf, so hatten sie beim Anrücken der Cirymer vorsorglich das Weite gesucht. Wenn es Kaschkas nicht gelang, hier baldmöglichst Abhilfe zu schaffen, würden seine Leute sich gegen ihn empören. Daß er möglicherweise abgelöst wurde, verdroß Kaschkas wenig – ihn ließ die Aussicht erschauern, daß seine Leute vielleicht ihr Mütchen an ihm kühlen wollten, bevor sie ihn erschlugen. »Elender Mythor!« stieß Kaschkas hervor. Langsam kehrte er zu seinem Zelt zurück. Man hatte ihm einen Sessel vor das offene Zelt gestellt, bedeckt mit dem weichen Fell eines Riesenbären. Das Fell roch zwar noch ziemlich streng, aber dafür hatte Kaschkas das Tier selbst erlegt – die Narben trug er noch auf der Brust. Oben auf dem Hügel bei den Coromanen tat sich etwas. Kaschkas konnte es mit bloßem Auge erkennen. Etliche dunkle Punkte bewegten sich auf dem Hügelkamm, kamen langsam näher. Kaschkas überlegte, was das zu bedeuten haben konnte. Waren sie etwa so frech, diese elenden Räuber, Halsabschneider, Wegelagerer, abgefeimten Meuchelmörder und Mädchenhändler, ihm eine offene Feldschlacht in aller Form anzubieten? Wenn ja, dann mochten sie kommen. Im Felde war Kaschkas mit seinen Leuten nicht zu besiegen, jedenfalls war Kaschkas davon überzeugt. Es blieb abzuwarten, was das Geschmeiß tatsächlich wollte. Eines aber stand für Kaschkas fest – nachgeben würde er in keinem Falle. Die Kolonne der Coromanen näherte sich. Sie waren waffen262
los, wären also eine wohlfeile Beute für die Cirymer gewesen, allerdings auch eine jämmerliche, denn was hatten diese Coromanen schon, das man ihnen hätte abnehmen können? Kaschkas sah nach seinen Waffen. Es gehörte sich nicht, Tribute – und als nichts anderes empfand Kaschkas das Erscheinen der Coromanen – in Empfang zu nehmen, ohne seine Macht und Stärke herauszukehren. Kaschkas legte sein Schwert über die Knie. Ein Wink beorderte zwei Speerträger an die Seiten seines Sessels. Dann hatten die Coromanen ihn erreicht. Es waren vier, und zwei davon kannte Kaschkas bereits. Der eine war der Gnom, der Verwachsene, den Kaschkas flüchtig bemerkt hatte, der andere war jener hochgewachsene Fremde, der behauptete, Nottr und die Lorvaner zu kennen, und der die beispiellose Frechheit besessen hatte, Kaschkas beinahe zu besiegen. »Aha!« sagte Kaschkas. Zu weiteren Äußerungen ließ er sich nicht hinreißen. Es war Sache der Verlierer, das Gespräch in die gewünschte Bahn zu bringen. Mythor entbot Kaschkas seinen Gruß, und er tat das sehr höflich. Kaschkas’ üble Laune besserte sich ein wenig, als er den Rücken des Fremden gebeugt sah. »Wir kommen, um mit dir zu verhandeln«, sagte Mythor freundlich. »Es wird, hoffe ich, nicht nötig sein, daß wir euch ein zweites Mal zurückwerfen.« Kaschkas sagte nichts, aber seine Faust krampfte sich um das Schwert. Was wagte der Kerl? »Auf der anderen Seite dürften wir kaum in der Lage sein, euch zu besiegen«, fuhr Mythor fort. »Wir sollten also verhandeln. Was verlangst du dafür, daß du uns durchläßt?« »Hm«, machte Kaschkas. »Was könnt ihr geben?« »Was braucht ihr?« fragte Mythor zurück. 263
Kaschkas entsann sich seiner Nachschubprobleme. Die Idee war nicht schlecht. Wenn er Nachschub forderte, den die Coromanen mit Sicherheit nicht hatten, konnte er sich gemäßigt zeigen. Wenn die Coromanen diese billigen Forderungen nicht erfüllen konnten, hatte es Kaschkas in der Hand, den Preis in die Höhe zu treiben. »Schnaps«, sagte Kaschkas. »Fässer voll Schnaps.« Mythor nickte, und das setzte Kaschkas in nicht geringes Erstaunen. »Fleisch und Brot«, fuhr er fort. »Ganze Wagenladungen voll Fleisch und Brot.« »Auch das wird sich vermutlich machen lassen«, sagte Mythor. Kaschkas traute seinen Ohren kaum. Der Unterhändler der Coromanen ging auf seine Forderungen ein, versuchte nicht herunterzuhandeln? Kaschkas roch eine Falle. »Und dann brauchen wir noch etwas«, sagte er mit boshaftem Lächeln. »Meine Männer sind ein wenig einsam gewesen in den letzten Wochen.« Damit hatte er die Coromanen in der Falle. Sie konnten beim besten Willen… »Ist das alles?« fragte Mythor ruhig. Kaschkas rollte mit den Augen. »Fürs erste«, sagte er verwirrt. Mythor verbeugte sich wieder. »Wir werden deine Wünsche erfüllen«, sagte er lächelnd.
Kaschkas schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. Er sah Dinge, die es einfach nicht geben durfte. Ein hoher Wagen, beladen mit Schnapsfässern. Man konnte das Zeug weithin riechen, und es roch unglaublich gut. Dazu gab es hervorragendes Brot, hart und trocken, wie es die Cirymer liebten, Fleisch in unglaublichen Mengen, Wild, Schweine, Geflügel, was das Herz sich nur wünschen konnte. 264
Und was das Unglaublichste von allem war – die Coromanen schickten sogar ein Dutzend Tänzerinnen und Musikantinnen. »Kaschkas!« rief einer der Cirymer. »Du bist der beste Feldherr, den wir je gehabt haben.« Kaschkas grinste verlegen. Er traute dem Braten nicht. Das alles war entschieden zu gut, um wahr zu sein. Auf der anderen Seite konnte er die guten Sachen genau sehen. Das Fleisch wurde gerade abgeladen und an die Cirymer verteilt, die eifrig mit den Stücken davonzogen. Kaschkas kam sich ein wenig überflüssig vor. Er spähte hinüber zum Lager der Coromanen. Dort wurde doch sicher irgendeine Teufelei ausgeheckt. Wahrscheinlich kamen sie jetzt gleich herangejagt, um über die Cirymer herzufallen, die sich mehr für das Fleisch und den Schnaps als für den Kampf interessierten. Nichts dergleichen geschah. Die Sonne war untergegangen, und während es langsam finster wurde, flammten überall die Lagerfeuer auf. Kaschkas sah hinüber zu den Coromanen. Auch dort wurden die Feuer angezündet. Im Lager der Cirymer ging es schon hoch her. Die Cirymer hatten die Fleischstücke aufgespießt und brieten sie nun über den Lagerfeuern. Der Geruch nach saftigem Braten lag bald als dichte Wolke über dem Lager, und je länger die Cirymer die Becher kreisen ließen, um so stärker wurde auch der Alkoholdunst. Gierig trank Kaschkas einen Humpen leer, dann hielt er dem Mundschenk den Becher hin. »Nachfüllen!« sagte er. Der Schnaps schmeckte verteufelt gut, stellte Kaschkas fest. Und der Bratengeruch wurde immer intensiver. Es versprach ein herrlicher Abend zu werden. »Los, spielt und tanzt!« rief Kaschkas. Die Tänzerinnen begannen sich zu bewegen. Die Musikan265
tinnen waren nicht nur hübsch, sie spielten auch sehr gut, soweit Kaschkas das feststellen konnte. »Mythor!« schrie der Anführer der Cirymer. Er hatte den Coromanen gesehen, als der gerade das Lager verlassen wollte. Auf seinem Reittier kam Mythor langsam näher. Kaschkas stürzte den Becher hinunter und ließ nachschenken. »Ich lasse euch durch«, sagte Kaschkas grinsend. »Unter einer Bedingung.« »Was willst du?« fragte Mythor ruhig. Kaschkas deutete grinsend auf das Reittier. Ein echtes Einhorn hatte in seiner Sammlung noch gefehlt. »Das Tier!« sagte Kaschkas, und sein Gesicht ließ keinen Zweifel aufkommen, ob es sich dabei um Spaß oder Ernst gehandelt hatte. Mythor zögerte einen Augenblick, dann stieg er ab. »Es gehört dir«, sagte er gelassen. »Behandle es gut.« Kaschkas lachte laut auf. Jetzt war er am Ziel seiner Wünsche. Seine Leute hielten zu ihm, er besaß ein Einhorn als Reittier, und er besaß genug Lebensmittel und Schnaps für die nächsten Tage und Wochen. Und bei einem Blick auf die Tänzerinnen, die dünne Gewänder trugen, wie sie im sagenhaften Südosten der Welt angeblich aus Luft gewebt wurden, war Kaschkas klar, daß er auch anderweitig gut versorgt sein würde. »Was suchst du eigentlich da drüben?« fragte Kaschkas seinen Gast. »Freunde«, sagte Mythor. Kaschkas lachte laut auf. Wieder ließ er sich den Becher nachschenken. Dieses Zeug war wirklich hervorragend, vor allem konnte man unglaublich viel davon trinken. Im Lager war es laut geworden. Die Leute sangen, schlugen sich den Bauch voll und ließen es sich gut sein. Lachen war zu hören, laut und trunken, wie es Art war bei den Cirymern. 266
Kaschkas trank von dem Schnaps, nebenbei schielte er zu den Tänzerinnen hinüber. Was Mythor bei den Lichtsplitterinseln wollte, interessierte Kaschkas nicht länger, er war vollauf damit beschäftigt, sich aus der Schar der Frauen eine oder auch zwei passende Gefährtinnen herauszusuchen. Das Problem war ziemlich schwierig zu lösen, denn die Mädchen waren wirklich bemerkenswert hübsch, und sie bewegten sich so, daß man ihre Gesichter kaum erkennen konnte. Vielleicht lag es auch an dem Schnaps, daß Kaschkas keines der Mädchengesichter richtig ausmachen konnte, obwohl er sonst mit dem Alkohol wenig Schwierigkeiten hatte. Die dritte? Oder doch lieber die mit den roten Haaren? Oder beide? Kaschkas wollte Mythor um Rat fragen. Vielleicht kannte der die Mädchen besser, aber als Kaschkas sich herumdrehte, war Mythor verschwunden. »He!« rief Kaschkas. »Mythor?« Der Coromane antwortete nicht. Aber immerhin stand noch sein Einhorn da und knabberte an ein wenig Grünzeug. Kaschkas zuckte mit den Achseln, mochte er doch davonlaufen, dieser Mythor, was kümmerte ihn das? »Gib mir von dem Braten!« forderte Kaschkas seinen Küchenmeister auf. Er war hungrig geworden, und der Bratenduft war schier unwiderstehlich. Gierig schlang Kaschkas das Fleisch hinunter. Er stellte fest, daß er nie zuvor zarteres gegessen hatte, der Braten war einfach herrlich, wenn auch nicht richtig sättigend, aber das war bei dem Wohlgeschmack eher ein Vorteil als ein Nachteil. Kaschkas spülte mit Schnaps nach und ließ eine neue Portion von dem Braten bringen, dabei schielte er immer wieder zu den Tänzerinnen hinüber. Genau diesen Augenblick hatte sich einer seiner Zeltführer ausgesucht, aus der Schar der Tänzerinnen seine Favoritin he267
rauszugreifen. Der Cirymer torkelte auf die Tänzerinnen zu, griff nach einer – und landete der Länge nach auf dem Boden. Kaschkas sprang auf. Er war sicher, daß er ganz genau hingesehen hatte – nicht zuletzt, um dem Dreistling, der sich erfrechte, bei der Frauenwahl seinem Anführer vorzugreifen, den Kopf vor die Füße zu legen. Und eben weil er so genau hingesehen hatte, war sich Kaschkas sicher: Der Mann hatte durch die junge Frau hindurchgegriffen. Kaschkas nahm einen Schluck von dem Schnaps. Er konnte davon soviel trinken, wie er wollte, betrunken wurde er nicht, und in diesem Augenblick fiel ihm auch auf, daß sein Magen vor Hunger knurrte. »Täuschung!« murmelte Kaschkas entgeistert. »Lug und Trug!« Zauberei geschah im Lager der Cirymer. Kaschkas griff nach dem Schwert. Wutentbrannt lief er auf die Tänzerinnen zu, holte aus und hieb erbarmungslos zu. Ein Schrei ertönte aus den Reihen der Cirymer, dann ein entsetztes Aufstöhnen. Die junge Frau tanzte weiter, obwohl Kaschkas’ Hieb ihr den Schädel hätte spalten müssen. Kaschkas rannte zu dem Einhorn hinüber. War auch das Täuschung? Nein, man konnte es angreifen, Kaschkas fühlte warmes Fell unter der Hand. Auch der Sattel war echt. Kaschkas schwang sich hinauf und lag im nächsten Augenblick der Länge nach auf dem Boden. Nur um Haaresbreite entging er einem Tritt des Einhorns, das wild auskeilte und nur noch aus schierer Mordlust zu bestehen schien. »Elende Bestie!« schrie Kaschkas. Er unternahm einen zweiten Anlauf, der das gleiche klägliche Ergebnis zeitigte. Und ein paar Augenblicke später riß sich das Einhorn einfach los und trabte davon. »Fangt es ein!« schrie Kaschkas, außer sich vor Zorn und Entrüstung. »Los, ihr faulen Kerle!« 268
Das Einhorn verschwand in der Dunkelheit, ehe einer der Cirymer es fassen konnte. Und dann, von einem Herzschlag auf den anderen, verschwand auch der Rest – der Braten, die Wagen, die Fässer, die Mädchen. Kaschkas stand erstarrt. Ungeheure Wut erfüllte ihn, wenn er an den Mann Mythor dachte. Und zugleich wuchs in ihm die Angst, wenn er in die Gesichter seiner Cirymer starrte, die sich langsam um ihn herum versammelten.
»Leise!« flüsterte Mythor. »Sie dürfen uns nicht hören!« Sie waren zu viert, Mythor und drei Coromanen, darunter Cepran. Mythor wäre am liebsten allein gegangen, aber Kalahar hatte darauf bestanden, daß Mythor von Coromanen begleitet wurde. Er sah sich um. Hinter ihnen lag die Zeltstadt der Cirymer, in denen die Leute Kaschkas’ einstweilen noch feierten. Kalahars Täuschungszauber war bewundernswert gelungen. Mythor konnte den Bratenduft riechen, das Lachen der Cirymer hören. Es war vereinbart, daß Kalahar sein möglichstes tat, die Cirymer zu täuschen und einzulullen. Mythor sollte derweil die günstige Gelegenheit nutzen und mit seinen Begleitern die Reihen der Cirymer passieren. Es war alles so gelaufen, wie sich Kalahar und Mythor das ausgedacht hatten – bis auf zwei Kleinigkeiten. Die eine war die, daß Mythor ausnahmsweise Kalahars Hilfe brauchte. Kalahar hatte seinen Willen daher durchsetzen können und Mythor Begleitung aufgehalst. Daß Mythor, um die Cirymer vollends friedlich zu stimmen, auch Pandor hatte opfern müssen, schmerzte ihn weniger – er wußte, daß das Einhorn keinen der Cirymer auf seinem Rücken dulden würde. Und so verblendet, das Einhorn wegen seiner Störrigkeit zu töten, würden die Cirymer schwerlich 269
sein. Wahrscheinlich war Pandor auch viel zu wendig, um ernsthaft in Gefahr zu sein. »Weiter!« Mythor setzte den Weg fort. Der Nachthimmel zeigte leichtes Gewölk, der Mondschein reichte aber aus, die wesentlichen Dinge erkennen zu lassen. Man mußte allerdings vorsichtig sein. Es gab allerlei Spalten, in denen man sich leicht die Knochen brechen konnte. »Wir müssen sehr genau aufpassen«, schärfte Mythor seinen Begleitern ein. »Ihr wißt, was Kalahar gesagt hat.« Der Bucklige hatte Mythor über die Besonderheiten dieser Landschaft aufgeklärt, insbesondere über die Gefahren, die aus der Tücke der Strudelsee entsprangen und denen schon manch einer zum Opfer gefallen war. Früher einmal hatte es hier eine Halbinsel gegeben, aber davon waren nur die kleinen Inseln übriggeblieben, die jetzt Splitter des Lichtes genannt wurden. War die Strudelsee schon ein unberechenbares, gefährliches Gewässer, so galt das insbesondere für den Bereich der Splitter des Lichtes. Kalahar hatte durchblicken lassen, daß in dieser Region die Gesetze der Natur zum Teil aufgehoben seien, daß dort magische Kräfte ungeheuren Ausmaßes am Werk seien. Mythor war gewillt, das Geheimnis zu lüften. Irgendwo zwischen den Inseln mußte der Koloß von Tillorn zu finden sein. Dieser allein war Mythors Ziel. Mythor war gespannt, wie dieser Koloß wohl aussah und welches Geheimnis er barg. Einstweilen aber war der Sohn des Kometen mit anderen Problemen in weit stärkerem Maße beschäftigt. Die Cirymer lagen weit hinter dem kleinen Trupp, der sich möglichst geräuschlos durch die Nacht bewegte. Was es zwischen den Cirymern und den Lichtsplitterinseln noch an Gefahren gab, ließ sich in dieser Finsternis nicht abschätzen. Die 270
Männer hatten jedenfalls die Waffen in den Fäusten. Dann ertönte plötzlich weit hinter den vieren lautes Gebrüll. Mythor grinste, er wußte, woher dieser Laut kam: Die Cirymer hatten Kalahars Schwindel endlich durchschaut. Ob sie sich an die Verfolgung machen würden? Was ihm bevorstand, wenn er von Kaschkas’ Leuten gefangen werden sollte, brauchte er sich nicht lange auszumalen. Kaschkas würde den Schwindel niemals verzeihen können. Wesentlich sicherer war das Gebiet der Lichtsplitterinseln für Mythor allerdings auch nicht. Der Schreckliche und seine Leute waren erklärte Feinde der Coromanen, und dazu würden sie mit Sicherheit auch Mythor rechnen, wenn er mit seinen drei Begleitern im Gebiet des Schrecklichen auftauchte. Mythor hielt seine kleine Gruppe eng beieinander, während er mit den dreien den Inseln entgegenstrebte. Er erreichte die Küste, als die Sonne gerade ihren Tageslauf begann. Im frühen Dämmerschein dieses Tages sah Mythor, was für eine Aufgabe er sich gestellt hatte. Es herrschte Flut, und zwischen den Inseln tobte eine reißende Strömung, die vermutlich kein lebendes Wesen hätte überwinden können. Mythor jedenfalls wußte nach dem ersten Blick, daß er die Inseln nicht schwimmend erreichen konnte. »Heiliges Licht«, stieß Cepran hervor, als er die Inseln sah. Sein Erschrecken war leicht zu begreifen. Der weitaus größte Teil des Landes lag unter Wasser, zwar nur ein paar Handbreit und daher deutlich sichtbar, aber wegen der tosenden Strömung so unerreichbar wie der Mond. Kalahar hatte Mythor erzählt, es gebe fast dreihundert Inseln, von denen bei Flut allerdings nur ein Zehntteil zu sehen sei. Mythor fand die Angabe bestätigt – von seiner Position aus waren tatsächlich nur wenige der Splitter des Lichtes zu erkennen. 271
»Da sollen wir hinüber?« fragte einer der Coromanen, schreckensbleich und mit bebender Stimme. »Wir werden kaum eine andere Wahl haben«, sagte Mythor. Eine Verbindung war zu erkennen – eine Hängebrücke, befestigt an zwei recht morsch aussehenden Balkenkonstruktionen. Die Brücke selbst war in elendem Zustand, halb vermodert, die Taue gefährlich dünn aussehend. »Keinen Fuß setze ich auf das Ding«, sagte Cepran. »Dann wirst du schwimmen müssen«, bemerkte Mythor trocken. »Ich nehme an, daß die Cirymer uns auf den Fersen sind, und die hauen dich in Stücke, wenn sie dich bekommen.« Cepran stieß eine Reihe von Flüchen aus. »Dieses Ding hängt ja bis ins Wasser herunter«, beklagte er sich. »Nie und nimmer kommen wir da auf die andere Seite.« »Wir haben keine andere Wahl«, stieß ein anderer hervor. »Er hat recht, die Cirymer lassen uns keinen anderen Weg offen.« »Versuchen wir es«, sagte Mythor. Er betrat die Brücke als erster. Nach einigen Schritten war klar, daß dies ein selbstmörderisches Unterfangen sein würde. Die Brücke ächzte und schwankte; bei jedem Schritt schien sie auseinanderfallen zu wollen. Mythor sah, wie vom Himmel eine Möwe herabschoß und auf der Wasseroberfläche nach einem Fisch schnappte, der sich für einen kurzen Augenblick gezeigt hatte. Nur um eine Winzigkeit hatte sich der Vogel verschätzt, aber dieser Fehler kostete ihn das Leben. Er kam nicht mehr von der Wasseroberfläche hoch, die reißende Strömung packte ihn und spülte ihn hinab in die Tiefe. Die unerhörte Geschwindigkeit, mit der sich dieser Vorgang vor den Augen der vier abspielte, bewies jedem, wie ungeheuer stark die Strömung war, die über die Inseln hinwegspülte. 272
Es ließ sich auch an dem Maß ablesen, mit dem die Hängebrücke vom Wasser zur Seite gezerrt wurde. Das Heimtückische an diesen Wirbeln war, daß sie immer wieder ihre Richtung änderten. Mythor bewegte sich langsam vorwärts. Sehr behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Brücke gebärdete sich wie toll, ächzte, schwankte, zitterte – es schien nur eine Frage weniger Augenblicke, dann mußte sie zusammenbrechen. »Kommt nach!« rief Mythor den Begleitern zu. Sie zögerten. Mythor stand schon auf dem ersten Drittel der Brücke, und am Horizont waren die heranjagenden Cirymer zu erkennen. Wohin sollten die Coromanen sich wenden? Sicherheit war nirgends zu finden, es fragte sich nur, wo der Tod wahrscheinlicher war, wo er grausamer ausfallen würde. Mythor schritt weiter. Das Wasser überspülte die Brücke an dieser Stelle schon, und Mythor konnte an den Füßen den Sog des Wassers spüren, konnte deutlich fühlen, wie es zerrte und ruckte. Die Brücke setzte sich in Bewegung. Wieder einmal hatte der Wasserstrom seine Richtung geändert. Mythor fühlte, wie er durchs Wasser glitt, wie der gesamte herabhängende Bogen der Brücke dem Sog des Wassers folgte. Zwischen den Brettern des Brückenbodens quoll weiße Gischt auf. Das Wasser war eisig kalt an dieser Stelle. War es Zufall, Naturgewalt oder Magie? Niemand wußte es zu sagen, auch Mythor nicht. Täuschung war dieser Sog jedenfalls nicht, das wußte Mythor. Der Helm der Gerechten schützte ihn vor solcher Beeinflussung. Das Wasser war echt, und wirklich war demzufolge auch der Tod, der auf jedem Teilstück der Brücke zu lauern schien. 273
Mythor warf einen Blick zurück. Die Staubwolke, die am Horizont immer größer wurde, verriet das Näherkommen der Cirymer. Vielleicht war Coroman Hassif so schlau, die günstige Gelegenheit zu nutzen und das Lager der Cirymer zu überfallen, während die Bewohner der Zelte hinter Mythor und seinen Begleitern herjagten. »Das geht niemals gut«, sagte einer der Coromanen, kaum daß er einen Fuß auf die Brücke gesetzt hatte. »Das kann gar nicht gutgehen!« Mythor schritt langsam weiter. Das Wasser spülte ihm über die Knöchel, und er spürte die eisige Kälte an den Schenkeln in die Höhe steigen. Die Brücke ächzte vernehmlich, ein leiser Ruck war zu spüren. War irgendwo eines der Seile gerissen? Hing die ganze Konstruktion gleichsam nur noch an einem Fädchen? Mythor suchte mit den Augen die Brücke ab, aber er fand keine erkennbare einzelne schlechte Stelle – die ganze Brücke machte einen schlechten Eindruck. Dann glitt er aus. Er bemerkte noch, daß eines der Bretter nachgab, dann verlor sein Fuß den Halt, und bei dem Versuch, sich zu fangen, glitt er auf dem schlickigen Untergrund aus. Mythor ruderte mit dem linken Arm. Er bekam das Seil zu fassen, das als Geländer diente, und er schaffte es, auf der Brücke zu bleiben. Seine Begleiter stöhnten dumpf auf, als sie sahen, welche Mühe Mythor hatte, sich wieder auf die Beine zu bringen. »Laß uns umkehren!« schlug einer vor, aber Mythor winkte ab. Er hatte jetzt fast die Mitte erreicht, da erschien es ihm wenig sinnvoll, umzukehren. Wieder machte er einen Schritt. Sehr sorgfältig tastete er erst einmal die Festigkeit des Bodens ab, bevor er die ganze Last seines Körpers auf ein Bein verlagerte. Die Brücke hielt. Mythor überwand den tiefsten Punkt, an 274
dem die Strömung ihm die Knie umspülte. Von da an konnte es nur noch leichter werden. Mythor drehte sich um. Er wollte die anderen auffordern, zu ihm aufzuschließen. »Duck dich!« schrie er statt dessen. Der Coromane war ans Gehorchen nicht gewöhnt, er sah Mythor verwundert an, und in diesem Augenblick hatte ihn der Fangarm erreicht. Ein langes, graugeschupptes Gebilde, das plötzlich aus dem Wasser hervorgeschossen gekommen war und sich nun um den Hals des Coromanen legte. Er war nur zwei Schritte von Mythor entfernt, zwei kleine Schritte, aber unter diesen Umständen eine fast unüberwindliche Strecke. Dennoch schaffte Mythor, was er sich vorgenommen hatte. Er erreichte den Coromanen, gerade als der mit beiden Händen zum Hals griff, um den mörderischen Druck des Fangarms abzuwehren. Alton durchzuckte die Luft, traf den Fangarm und schlug ihn glatt ab. Der Coromane taumelte, die Strömung riß ihn von den Beinen. Mythor bekam den Mann gerade noch mit der freien Hand zu fassen. Das Gesicht des Coromanen verriet nackte Angst. »Hilfe!« schrie er gellend. »So helft mir doch!« Seine Kameraden waren viel zu weit entfernt und hatten genug mit sich selbst zu tun. Nur Mythor konnte den Mann retten. Er spannte die Muskeln an. Mit einem gewaltigen Ruck riß er den Coromanen zurück auf die Brücke. Dabei hatte er alle Mühe, selbst nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in den reißenden Fluten zu landen. Es war nicht nur das Wasser, das hier zu fürchten war. In diesen Strudeln und Wirbeln gab es also Lebewesen, gierige, gefräßige Kreaturen. Die Coromanen mußten sich ihrer Haut wehren. Es waren nicht viele Meerungeheuer, die angriffen; vermutlich reichte 275
die tödliche Falle der Brücke nicht aus, viele solcher Alpgeschöpfe zu ernähren, aber diejenigen, die nach den Brückengängern griffen, waren schlimm genug. Mythor hatte seinen Mann in vorläufige Sicherheit gebracht. Mit aller Kraft klammerte sich der Coromane an den Seilen der Brücke fest, während Mythor ihm und sich die Meerbestie vom Hals hielt. Immer wieder schlug Mythor zu, und mit jedem Treffer schwächte er seinen Widersacher. Das Wasser färbte sich dunkel. Dann ertönte ein gräßlicher Schrei, und als Mythor für einen kurzen Augenblick zur Seite sah, erkannte er gerade noch, wie einer der Coromanen in die Tiefe hinabgerissen wurde. Die Beute schien den Bestien zu genügen, denn es erfolgten keine weiteren Angriffe mehr. Mythor zerrte den Coromanen, den er hatte retten können, wieder auf die Beine. Um den Hals des Mannes zog sich ein roter Striemen. Der Coromane war gerade noch einmal davongekommen. »Hierher, Cepran!« rief Mythor. Cepran sah zu, daß er der Aufforderung folgte. Wieder kehrten sich die Strömungsverhältnisse um. Mythor konnte den Schwung gerade noch auffangen, und er schaffte es auch, den Coromanen zu retten, der völlig überrascht den Halt verloren hatte. Cepran hielt sich wacker, das mußte Mythor zugeben. Er wußte aber auch, daß dem Coromanen nichts anderes übrigblieb, als sich mit aller Tapferkeit und aller Verzweiflung seiner Haut zu wehren. Die Cirymer waren bedrohlich näher gekommen. Sich auf der Brücke verteidigen zu wollen war ein sinnloses Unterfangen. Niemand konnte längere Zeit auf der Brücke stehen und kämpfen. Früher oder später würde er den Halt verlieren und abstürzen. 276
Mythor beeilte sich. Den Coromanen, der vor Angst und Schrecken halb irre war, zerrte er hinter sich her. Cepran beeilte sich, Mythor zu folgen. Der Weg war beschwerlich. Jetzt galt es nämlich, die Wölbung der Hängebrücke hinaufzusteigen, und das auf dem glatten, glitschigen Untergrund, umstrudelt von den Wassern. Trotz dieser Hemmnisse kam Mythor voran, sogar mit dem Coromanen im Schlepp. »Bleibt stehen, ihr verräterischen Hunde!« brüllte eine zornverzerrte Stimme, vermutlich die Kaschkas’. Mythor sah sich nicht um. Er hatte dazu keine Zeit mehr. Er mußte weiter, immer weiter und weiter. Dann ging ein harter Schlag durch die Brücke. Mythor blieb einen Augenblick lang stehen, drehte sich um. Die Cirymer hatten die Brücke erreicht und waren von den Pferden gesprungen; Bogenschützen machten sich fertig, Speerschleuderer standen bereit. Die ersten Geschosse kamen herangeflogen. Die Cirymer waren vom Reiten noch außer Atem und verfehlten die Ziele. Eine andere Gruppe aber machte sich zu Mythors Entsetzen an die Arbeit, die Brücke zum Einsturz zu bringen. Mit Messer, Schwertern und Äxten gingen sie auf die Seile los, die die Brücke hielten. Jetzt zählte die Zeit in Lidschlägen. Mythor eilte weiter. Den Coromanen nahm er mit, obwohl der Mann vor Angst nur noch schrie und keinerlei Hilfe darstellte. Cepran hatte Mühe, seine Angst niederzukämpfen, aber er folgte Mythor beharrlich. Neben Mythor zischte ein Pfeil ins Wasser und versank. Es wurde immer brenzliger für die drei. Wenn noch ein paar Augenblicke vergingen, hatten sich die Cirymer eingeschossen, wenn nicht schon vorher die Brücke einstürzte. »Schneller!« schrie Cepran. »Lauf!« Er selbst hatte alle Mühe, 277
Mythor zu folgen. Immer steiler wurde die Brücke, und es wurde immer schwieriger, auf den schlüpfrigen Brettern nicht auszurutschen. Durch die ganze Brücke gingen die Schläge, mit denen die Cirymer an den Tragseilen herumhackten. Noch ein paar Augenblicke, dann war die Brücke verloren und mit ihr alle, die darauf standen. Dann, nach ein paar endlos langen Augenblicken, war Mythor am Ende der Brücke angelangt. Ein Griff nach dem Holz der Konstruktion, ein kräftiger Armzug, und er war in Sicherheit. Er warf das Schwert zu Boden, drehte sich um und griff nach dem Coromanen. Mit großer Kraft zog er den Mann an sich heran, bis auch er in Sicherheit war. »Jetzt du, Cepran!« rief Mythor. Der Unterführer der Coromanen machte, so schnell er konnte. Hinter ihm konnte Mythor die Cirymer sehen. Schon klafften breite Risse in den Balken der Brückenbefestigung. »Schneller!« rief Mythor. Ceprans Gesicht war von Angst und Anstrengung gezeichnet, er gab sein Äußerstes. »Spring!« gellte Mythors Ruf. Mit letzter Kraft schnellte sich der Coromane ab, und er bekam Mythors ausgestreckte Hand zu fassen, während unter ihm die Brücke einstürzte, der Boden verschwand und weggewirbelt wurde. Im Bruchteil eines Herzschlags war die Brücke verschwunden, fortgerissen von der Strömung. Cepran baumelte an Mythors Arm, die Beine hingen ins Wasser. Wenn jetzt eine der Meerbestien Zugriff, bekam sie zwei Opfer auf einmal. Ein Pfeil flog heran, dann eine ganze Wolke von Pfeilen. Kaschkas war, wie sein Geschrei verriet, außer sich vor Wut, daß ihm die Opfer entkommen waren. Keiner der Pfeile traf, aber ein paar schlugen im Holz der Brückenbefestigung ein. Sie zeigten Mythor, daß die Gefahr 278
noch nicht vorüber war. »Zieh mich hoch!« schrie Cepran. Mythor wuchtete ihn hinauf. Wieder kamen Pfeile herangesaust, einer streifte Cepran am Arm. Ein paar Augenblicke später waren die drei Männer dann in trügerischer Sicherheit.
Es waren sieben, und sie waren bewaffnet. Sie standen plötzlich da, wie aus dem Boden geschossen. »Leute des Schrecklichen«, stieß Cepran hervor. »Sieben gegen drei«, murmelte Mythor. »Keine schlechte Aussicht.« Cepran war noch immer benommen von den Ereignissen der letzten Stunde. Der dritte Coromane sagte gar nichts mehr – er fiel vermutlich auch als Kämpfer aus. »Ob sie uns angreifen?« rätselte Cepran. Er hielt sein Schwert in der Hand. Es war fast ein Wunder zu nennen, daß er die Waffe nicht verloren hatte. »He, ihr da drüben!« rief Mythor. »Was wollt ihr?« Die sieben rührten sich nicht. Es waren Gestalten, die es mit Hassifs Coromanen sehr wohl aufnehmen konnten, wilde Gesellen in heruntergekommener Kleidung, aber vorzüglich bewaffnet. Mythor fragte sich, was die kleine Schar hier suchen mochte. »Gehen wir ihnen entgegen«, sagte Mythor zu Cepran. »Und du kommst auch mit!« Der Coromane zu Mythors Füßen schüttelte nur den Kopf. Mythor griff nach seiner Schulter und zog ihn in die Höhe. Wenn er den Mann hier einfach liegenließ, würde er getötet werden, das stand fest. »Wir müssen höher hinauf«, sagte Cepran. Die Insel war schätzungsweise fünfzig Mannslängen lang. Wie breit sie war, ließ sich nicht feststellen. Ein Grat zog sich 279
der Länge nach über die Insel und versperrte den Blick. Auf diesem Grat würden Mythor und seine Begleiter gehen müssen. Die Flut peitschte nämlich immer wieder das Wasser hoch hinauf auf das Land. Es spülte um Mythors Füße, sobald er die Balkenkonstruktion verließ, die die Brücke gehalten hatte. Nur der Grat schien dauerhaft trocken zu liegen. Mythor hoffte, den Koloß vom Grat aus sehen zu können. Dann endlich hätte er gewußt, wo sein Ziel zu finden war. Er stieg zu dem dicht mit hüfthohem Gestrüpp bewachsenen Grat hinauf. Cepran folgte und zerrte seinen Gefährten hinter sich er. Der Coromane war unfähig, eine Waffe zu halten. Wenn er sich nicht bald von dem Schock erholte, würde sein Leben vermutlich nicht mehr sehr lange währen. Die sieben Leute des Schrecklichen blieben auf dem Grat stehen. Die Waffen hielten sie in Händen, funkelnde Schwerter und lange Spieße. Mythor hielt Alton in der Hand, bereit, die Waffe einzusetzen. Vielleicht kam es tatsächlich zum Kampf, obwohl die sieben gesehen haben mußten, daß die Cirymer den Coromanen nachgestellt hatten. Eigentlich hätten sich Co-romanen und die Leute des Schrecklichen miteinander verbünden können – gegen den gemeinsamen Gegner, die Cirymer. Aber Mythor entsann sich, daß die ursprüngliche Feindschaft zwischen Kalahars Leuten und den Anhängern des Schrecklichen ausgebrochen war. Sie waren die älteren Feinde. Die Leute des Schrecklichen wichen zurück. Wichen sie dem Kampf aus? Oder hatten sie entsprechende Anweisungen? Mythor fand auf diese naheliegende Frage keine Antwort. Er erreichte den höchsten Punkt der Insel. Sehr breit war das Eiland nicht, knapp vierzig Mannslängen, schätzte Mythor. Von seinem Standpunkt aus war zu sehen, wie das Meer die Inseln umspülte. Die Lichtsplitterinseln waren einer der ungemütlichsten Flecken Erde, den man sich nur 280
vorstellen konnte. Er fragte sich, wie hier Menschen auf Dauer leben konnten. Die Leute des Schrecklichen schienen diese Frage beantworten zu können – sie betrachteten das Land offenbar als ihr Eigentum. Einer der sieben nahm einige faustgroße Steine auf. Ein paar Augenblicke später kam das erste Geschoß dieser Art geflogen. Der Stein hätte Mythor getroffen, wenn er nicht schnell zur Seite gesprungen wäre. »Was fällt den Kerlen ein!« schrie Cepran wütend. Die Leute des Schrecklichen begannen jetzt alle sieben damit, nach Wurfgeschossen zu suchen, und die fanden sich reichlich. Aus dieser Entfernung vermochten die sieben ihre Feinde, wenn nicht zu töten, so doch schwer zu verletzen. Mythor hatte keine Lust, abzuwarten, bis er von einem Steinhagel so kampfunfähig geschlagen wurde, daß es ein leichtes sein würde, ihm die Gurgel zu durchschneiden. Er sah Cepran an. »Drauf und dran«, sagte der Coromane. Sie hatten keine andere Wahl, sie mußten den verstörten dritten Mann zurücklassen, wenn sie den sieben entgegenstürmen wollten. Mythor rannte los, Cepran hinterdrein, und zu Mythors Verblüffung stolperte der andere Coromane hinterher, vermutlich aus Angst und Verwirrung. Die sieben Angreifer stutzten und verstärkten ihr Bombardement. Immer mehr Steine kamen auf Mythor zu. Einer traf ihn am Oberarm, und ein heftiger Schmerz durchzuckte Mythor. Es war jedoch nur der linke Arm, daher blieb Mythor voll kampffähig. Er rannte weiter, warf sich zur Seite, rannte im Zickzack und kam so den Steinwerfern immer näher. Hinter ihm brüllte Cepran wütend auf, weil ihm ein Stein fast den Knöchel zerschmettert hätte. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Mythor sehen, daß Cepran sich aber noch leidlich zu bewegen 281
vermochte. Auf dem Boden liegend wäre er für die Steinwerfer eine leichte Beute gewesen. Tapfer waren sie nicht, die Leute des Schrecklichen. Als sie Mythor zu nahe bei sich sahen, gaben sie Fersengeld. Sie waren allerdings nicht unerfahren in der Kunst des Weglaufens. Sie spritzten auseinander und machten es so für Mythor unmöglich, sie alle zu verfolgen. Einen der sieben erreichte Mythor im ersten Ansprang. Er hieb dem Mann den Schwertgriff in die Magengrube; das genügte völlig, den Burschen außer Gefecht zu setzen. Und noch einen weiteren bekam Mythor zu fassen. Nach einem kurzen Kampf war der Mann ausgeschaltet und humpelte, aus einer Beinwunde blutend, davon. Cepran war weniger rücksichtsvoll. Sein Gegner starb unter den Schwerthieben des Coromanen. Mythor sah sich nach dem dritten Mann um. Er hatte sich einfach auf den Boden gesetzt und wollte offenbar alles über sich ergehen lassen, ohne selbst etwas zu unternehmen. Wo steckten die anderen Inselbewohner? Sie waren verschwunden. Einen konnte Mythor noch sehen, wie er sich davonmachte. Der Mann rannte geradewegs in einen Graben. Offenbar war er toll geworden vor Angst. »Wir haben sie zurückgeschlagen!« schrie Cepran frohlockend. Mythor ging langsam auf ihn zu. Cepran blutete aus einer kleinen Verletzung, zeigte aber ein zuversichtliches Lächeln. Der dritte Coromane weinte leise vor sich hin. Künftig würde er für Mythor eher eine Last als eine Hilfe darstellen. »Hast du gesehen, wie sie weggelaufen sind?« fragte Cepran grinsend. »Hassif hat also recht behalten mit seiner Behauptung, die Leute des sogenannten Schrecklichen seien allesamt Hasenfüße. Du hast selbst sehen können, wie sie weggelaufen sind.« »Allerdings«, sagte Mythor. Er sah noch einmal zu dem Gra282
ben hinunter, in dem der letzte der Angreifer verschwunden war. Hatte sich der Mann tatsächlich in den sicheren Tod gestürzt? Außerdem stellte sich die Frage, woher die sieben überhaupt gekommen waren. Von der Insel konnten sie schwerlich stammen. Kein Zeichen war zu finden, das auf ständige Bewohner hingedeutet hätte. Mythor deutete auf den Graben. »Wir sollten uns das einmal ansehen«, sagte er bestimmt. Vorsichtig, jederzeit auf eine Bedrohung gefaßt, näherten sich die beiden dem Graben. Eine Überraschung wartete auf sie.
»Magie!« stieß Cepran hervor. »Das ist Zauberwerk, nichts anderes!« Mythor konnte dem nur zustimmen. Der Graben, in dem die Leute des Schrecklichen verschwunden waren, lag etliche Mannslängen unterhalb des Flutspiegels und war doch nahezu trocken! Dort, wo er mit dem Wasser der Strudelsee in Berührung kam, wo er hätte vollaufen müssen, dort standen zischend und brausend, schaumüberkrönt, Wände aus Wasser, das dort so rasend schnell vorüberzuschießen schien, daß es keine Zeit fand, in den Graben hineinzufließen. Niemand brauchte Mythor zu erklären, daß solche Vorgänge nichts mit natürlichen Gegebenheiten zu tun hatten. Hier war ganz offenkundig magische Kraft am Werk. Es fragte sich allerdings, wer über solche Kräfte gebot, daß er Wasser und Wind zu bezwingen vermochte, daß ihm selbst Stürme und Fluten untertänig waren. War der Schreckliche dieser Magier? Oder war das, was Mythor in diesen Augenblicken vor sich sah, nichts weiter als der Rest, die Trümmer gleichsam einer 283
großen magischen Schlacht, die einstens im Gebiet von Tillorn getobt hatte? »Folgt mir«, sagte Mythor und zeigte auf den Graben. »Wir müssen dort hinunter.« »Nicht um alles in der Welt«, stieß Cepran hervor. »Dort unten lauert der Tod, tausendfältig, auf jeden von uns.« Achtlos deutete Mythor über die Schulter. »Dort sieht es kein bißchen besser aus«, sagte er gelassen. »Du hast die Wahl, Cepran.« »Warum willst du mich zwingen?« fragte Cepran. Er deutete auf den Graben. »Vermagst du dir nicht auszurechnen, was geschehen wird, wenn wir auch nur einen Fuß auf diesen Boden gesetzt haben?« Selbstverständlich hatte Mythor sich das bereits ausgerechnet; er wußte, worauf Cepran angsterfüllt wartete -darauf, daß die Wasserwände zusammenbrachen, die weißschäumenden Fluten in den Graben stürzten und alles ersäuften, was sich dort an Lebendem fand. Indessen rechnete Mythor nicht ernstlich mit dieser Gefahr. Er hatte Fußabdrücke auf dem Boden des Grabens gesehen, viele Fußabdrücke. Offenbar kamen des öfteren Leute des Schrecklichen diesen Weg gegangen. Und außerdem hatte Mythor entdeckt, daß es Pflanzen auf dem Grund des Grabens gab, Gewächse, die sich dort nie und nimmer würden halten können, wenn sie alle paar Tage vom reißenden Wasser überspült wurden. Nein, hier wurde nur selten geflutet, wenn überhaupt, dachte Mythor. Er war gewillt, das Wagnis einzugehen, denn nur auf diesem Weg würden sie herausfinden, wer der Schreckliche war, was er wollte und wo vor allem Mythors Freunde steckten. »Also?« fragte Mythor. »Wie sieht es aus? Willst du mitkommen, oder willst du hierbleiben?« Cepran blickte sich finster um. Wohin er sich auch wandte, 284
er fand nirgendwo Hilfe. So oder so, er wandelte in jedem Fall auf einem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Daß ihm das überhaupt nicht behagte, war ihm deutlich anzusehen. »Ich komme mit«, entschied er schließlich, sichtlich verstimmt. Er deutete auf den übriggebliebenen Coromanen. »Und was machen wir mit ihm?« Mythor überlegte nicht lange. »Wir nehmen ihn mit«, entschied er. Die beiden trugen den verstörten Coromanen fast, als sie zusammen den Abstieg in den Graben wagten. Wohl war keinem der drei zumute. Das Wasser rauschte und toste an den Wänden, und der Gedanke, jederzeit ersäuft werden zu können, ließ Cepran fast die Haare zu Berge stehen. Dann faßte er mit an und trug seinen Anteil an der Last. Deutlicher waren jetzt die Höhlen zu erkennen, in die sich die Leute des Schrecklichen verkrochen haben mußten. Es schien, als existiere ein regelrechtes Höhlensystem unter den Inseln am Strudelmeer. Waren diese Höhlen künstlich angelegt, die Reste eines weitverzweigten Werkes von Geheimgängen und verborgenen Stollen, die jetzt freigelegt worden waren? Oder hatte das Wasser diese Gänge geschaffen? Mythor sah die gähnende Öffnung. Er zögerte nicht und deutete hin. »Dorthin«, sagte er. Cepran zerrte den halbirren Coromanen hinter sich her. Gemeinsam betraten sie den Stollen.
Im gleichen Augenblick änderte sich mit einem Schlag das Geräusch, das die drei während des Abstiegs begleitet hatte. Das Tosen des vorbeischießenden Wassers veränderte sich mit unglaublicher Schnelle, und als Mythor den Blick wandte, sah er, wie das Wasser in den Graben hineinzuströmen begann. 285
Hoch schäumte die Gischt auf, als die Fluten über den Graben hereinbrachen. Cepran stieß einen Schrei des Entsetzens aus, der von den Wänden des Stollens fürchterlich zurückgeworfen würde und als grauenerfülltes Heulen jeden Winkel durchdrang. Der dritte Coromane, schon halb umsponnen von alptraumhaften Hirngespinsten, verlor jetzt völlig den Verstand. »Das ist das Ende!« schrie Cepran. Von Todesfurcht gepackt, rannte er davon, blindlings hinein in die Höhlenwelt, in der ihm kein anderes Schicksal beschieden sein konnte als das, elendiglich ersäuft zu werden. Mythor stand starr. Er rührte sich nicht, wartete auf das Wunder. Weiß schäumend peitschte die Flutwelle heran und vorbei. Es war ein Anblick, der das Mark in den Knochen erstarren lassen konnte. Hoch und höher türmte sich das Wasser, aber es benetzte nicht Mythors Fuß. Die Flut füllte den Graben, tobte schäumend hindurch, kein Tropfen erreichte jedoch die Höhle, in der Mythor stand. Mythor blieb stehen, um das Schauspiel verfolgen zu können. Von hellem Grün war die Wand aus Wasser, die sich vor seiner Höhle auftürmte, schaumgekrönt. Mythor konnte Lebewesen sehen, die sich mit dem Wasser bewegten, Fische, Pflanzen, aber auch jene Schreckensgestalten, mit denen er auf der Hängebrücke zu kämpfen gehabt hatte. Er streckte die Hand aus. Er wollte diese wäßrige Wand berühren, aber dann zog er die Rechte wieder zurück. Vielleicht genügte eine solche Bewegung, das seltsam schaurig-schöne Schauspiel zu zerstören, die Wand zerfließen zu lassen. Auf der anderen Seite überfiel Mythor ein ausgesprochen unangenehmer Gedanke. Er kam sich plötzlich vor wie einer, der gemütlich über die herabgelassene Zugbrücke in eine Burg hineinspaziert war und nun hinter sich das Fallgitter hatte 286
herabrasseln hören. Möglich, daß die Wasser Mythor vor den Cirymern und ihrer Wut schützten – wahrscheinlicher war, daß diese Wand aus Wasser ihn von dem Rest der Welt abschloß, ihn einsperrte und zum Gefangenen machte. Er zuckte mit den Achseln. Was konnte er nun daran ändern? Nichts, jedenfalls vorerst nicht. Wenn es eine Möglichkeit gab, dieser Falle zu entgehen, so war Mythor zuversichtlich, daß er diesen Weg würde finden können. »Cepran!« rief er. Höhnisch hallte der Name von den Wänden zurück, aber eine Antwort kam nicht. Mythor sah ein, daß er nichts gewann, wenn er an diesem Ort stehenblieb und auf Cepran und den anderen Coromanen wartete. Ob das Erscheinen der Wassersperre Zufall war, Einladung oder das Zuschnappen einer Falle, Mythor konnte vorerst daran nichts ändern. Er konnte nicht einmal sicher sein, daß die beiden Coromanen überhaupt noch lebten. Wer so furchterfüllt davonstob, büßte leicht Leib und Leben ein. Wenn er auch sonst nichts wußte von den Geheimnissen, die es unter der Oberfläche der Lichtsplitterinseln zu finden und vielleicht zu lösen gab, eines stand in jedem Fall fest: Der Tod war hier allgegenwärtig.
Mythor behielt das Schwert in der Faust. Es gab niemanden, gegen den er Alton hätte schwingen können oder müssen, aber er gedachte nicht, arglos in eine Falle zu tappen. Um ihn herum war Gefahr. Sie schwebte gleichsam in der Luft. Eine seltsame, beklemmende Stimmung lag über den Gefilden, die Mythor zu sehen bekam. Es war wirklich eine Welt inmitten der Welt, ein kleiner Kosmos unterhalb der Lichtsplitterinseln. Niemand vermochte zu sagen, wie diese Welt entstanden war, wer sie ge287
schaffen hatte, wer sie jetzt noch am Leben hielt. Es gab sie, und das genügte. Pflanzen sah Mythor. Tausende von Pflanzen. Mythor war kein Heilkundiger, der sich mit Kräutern auskannte; es genügte ihm an Kenntnissen, was ein Krieger brauchte, um in der Wildnis überdauern zu können. Aber auch mit seinen mangelhaften Kenntnissen der Pflanzenwelt war Mythor sehr bald klargeworden, daß er niemals etwas Ähnliches gesehen hatte wie diese grüne Schattenwelt unter den Lichtsplitterinseln. Es schien ein grünes Dämmerlicht von allen Seiten zugleich zu kommen, ein fahler Schein, der keine genauen Umrisse erkennen ließ, der Pflanzen und Steine und Wurzeln zu einem seltsamen, gespenstischen Bildwerk verwob, ein Licht, das aus diesen Bestandteilen Gesichter erscheinen ließ, Bildnisse formte, Szenen, die wie aus dunkler Vorzeit ahnungsvoll dämmerten. Mythor bewegte sich langsam in diesem Licht. Es gab keinen genauen Weg zu erkennen, unten und oben zerfloß in dem Dämmerschein. Verwirrend wuchsen die Pflanzen zügellos durcheinander, in der Mehrzahl sogar, wie Mythor verwundert feststellte, von oben nach unten! Die Wurzeln ragten nach oben, die Blüte steckte nicht selten tief in einer Felsspalte verborgen. Befremdliche Pflanzen gab es zu sehen, knorrige Gewächse, deren Stämme seltsam verdreht waren, gierig geöffnete Blattkelche, von denen beängstigender Lockduft aufstieg, eine gefährliche Verheißung, der Mythor aber widerstehen konnte. Schlingen hingen von der Decke herab, schaukelten leise warnend, auch dies vielleicht eine Falle, die Gefahr vortäuschte, wo keine war, und dort einlullte, wo der Tod sein Quartier aufgeschlagen hatte. Der Boden war weich unter Mythors Füßen, federte unter jedem Tritt. Wasser tropfte, und es schien, als komme dieser Klang von überall zugleich, stets in der gleichen Stärke. Aber 288
nirgendwo fand Mythor tatsächlich tropfendes Wasser, wohin er sich auch wandte. Gefährlich war dieser Dschungel unter der Erde, das war nach wenigen Schritten bereits deutlich geworden. Mythor hatte ein Skelett gesehen, Menschenknochen, von Ranken eingesponnen und zusammengehalten. Wer mochte der Unglückliche gewesen sein, der sich bis hierher vorgewagt hatte und dann in den Fängen einer solchen Pflanze sein Leben beschließen mußte? Es war ein Mann gewesen, noch jung, und er hatte keine Waffe getragen. Mythor suchte auf dem Boden nach Fährten, aber er fand nicht die geringste Spur von seinen Begleitern. Cepran und der andere Coromane waren verschollen, wie aufgesogen von der unterirdischen Dschungelwelt. Kein Lebenszeichen war zu finden, und im stillen ging er bereits davon aus, daß er die beiden, wenn überhaupt, nicht lebend wiedersehen würde. Kalte Schwüle lastete auf Mythor. Schweiß stand ihm auf der Stirn, zugleich fröstelte er. Dies war kein Ort, an dem man sich hätte wohl fühlen können. Mehr und mehr erkannte er, daß die Lichtsplitterinseln, zumindest deren Unterwelt, im Würgegriff der Schwarzen Magie röchelten. Nichts hier war so, wie es sich nach den Regeln der Natur gehört hätte. Außer dem steten, unerbittlichen, nervenzermürbenden Tropfen des Wassers war kein Laut zu hören, nicht einmal die eigenen Atemzüge. Es war, als würde die kalte Schwüle jeden anderen Laut in sich aufsaugen und ersticken. Wieder kam Mythor an Gebeinen vorbei. Ein älterer Mann war es gewesen, dessen Gebeine auf einer Lichtung lagen, umgeben von kleinen, sternförmigen Blüten in vertrauenerweckendem Weiß. Mythor ging nicht hinüber, sich die Knochen näher anzusehen. Er witterte Unheil und blieb im Dickicht. 289
Längst hatte er die Orientierung verloren. Er richtete sich ausschließlich nach dem, was ihm der Helm der Gerechten einflüsterte. Irgendwo in dieser Landschaft mußte der Koloß von Tillorn zu finden sein. Vielleicht war auch er in jenes Reich abgesunken, dessen gespenstisch stille Schwüle Mythor durchquerte. Auch von den Leuten des Schrecklichen fehlte jede Spur. Kannten sie sich hier unten aus? War es überhaupt denkbar, daß ein Mensch sich in dieser Heimstatt des Düsteren zu Hause fühlen konnte? Es erschien Mythor mehr als unglaublich, aber er wußte auch, daß im Bereich des Bösen normales Denken wenig galt. Nach mehr als einer Stunde, in der er keinem lebenden Wesen begegnet war, hörte Mythor das erste Geräusch. Er verharrte. Es hatte nach Schwerterklirren geklungen. Cepran? Mythor wollte kein Risiko eingehen. Er ahnte, daß in dieser Welt des Bösen der kleinste Fehler der letzte sein konnte. Es konnte auch eine Falle sein. Da war wieder der Laut, diesmal deutlicher. Mythor schlich vorwärts, auf die Quelle des Geräuschs zu. Dann erklang eine menschliche Stimme. »Und ich sage dir, daß er ein Schuft gewesen ist, ein Schlitzohr, ein ausgemachter Halunke!« »Möglich«, lautete die knappe Antwort. »Ich habe dem Kerl gleich nicht getraut, als er an Bord gekommen ist. So einem kann man einfach nicht trauen, ein Blick in die Augen hätte mich warnen müssen. Aber es ist wie immer, ich bin zu gutmütig, viel zu vertrauensselig, jeder kann mich überlisten und übers Ohr hauen. Glaubst du mir nicht? Es ist wahr, bei meiner Ehre, die keine geringe ist, das wird dir jeder bestätigen, der mit Garaschi aus dem Lande Morautan jemals Geschäfte gemacht hat, und wer hat das nicht, an allen 290
Küsten der Strudelsee.« Eine Antwort war nicht zu hören. »Ich hätte es wirklich ahnen sollen, ich Narr. Schon als ich in meiner Heimat die Ladung gekauft habe, feinsten Tabak, mußt du wissen, aus getrockneten Mondblumen, handverlesen, von ausgesucht schönen Pflückerinnen, die nebenbei… Aber das gehört nicht zur Sache. Wie gesagt, es war eine prachtvolle Ladung. Sie hätte mich zum reichsten Mann machen können, wenn ich nicht schon zum einen reich wäre und zum anderen eigentlich viel zu gutmütig, zu feilschen. So eine Ladung bekommt man als Seehändler nicht alle Tage, das sage ich dir. Erstklassiger Mondblumentabak, das Feinste vom Feinen, ein Faß nach dem anderen. Und sichere Abnehmer dazu. Ich sollte ja eigentlich darüber schweigen, weißt du, es ist ein großes Geheimnis, und ich habe geschworen, nie, niemals, unter gar keinen Umständen, selbst im Angesicht des Todes, davon zu reden. Aber wir sind ja unter uns, und das mit dem Tod ist wohl nur eine unverbindliche Floskel.« Eine längere Pause entstand. »Ich habe nämlich nicht nur normale Kundschaft, Händler und Privatleute, die sich so etwas Feines leisten können, weißt du, nein, ich verhandle mit ganz anderen Leuten. Garaschi aus dem Lande Morautan ist kein kleiner Händler, so einer von der geschwätzigen Sorte, die zehn Stunden brauchen, um ein lausiges Stück Stoff einem farbenblinden Narren anzudrehen, ich nicht, das kannst du mir glauben. Ich mache mit ganz anderen Leuten Geschäfte, mit hochgestellten Herren, mit Leuten, die Einfluß haben und zahlen können. Ohne fetten Gewinn macht ein Garaschi aus Morautan nicht die weite und unvorstellbar gefahrvolle Reise von der Ostküste der Strudelsee nach Sarphand. Da muß man etwas anzubieten haben, und man muß auch die Leute kennen, mit denen man Geschäfte macht. Es müssen große Leute sein, weißt du. Mehr will ich 291
nicht sagen, nur soviel… es sind Große! Ja, du schüttelst den Kopf, ich sehe, du glaubst mir nicht, bitter unrecht tust du mir, bitter unrecht. Ich sage die Wahrheit, das schwöre ich dir bei der Tugend meines Weibes.« Zum ersten Mal ließ sich eine zweite Stimme vernehmen. »Ist die soviel wert?« »Die Tugend meines Weibes? Lieber Freund, ich muß doch sehr bitten! Worauf sollte ich sonst schwören? Du kannst mir ruhig glauben, es sind nicht zuletzt die Großen, die meinen Tabak kaufen. Immer bei Garaschi aus Morautan an der Ostküste der Strudelsee… eine erste Adresse für erstklassigen Tabak aus getrockneten Mondblumen.« Die Stimme sank zu einem dramatischen Wispern herab. »Ich habe sagen hören, nur hinter der vorgehaltenen Hand natürlich, und du wirst mich ja wohl nicht verraten wollen, daß die Großen damit allerlei seltsame Dinge treiben. Genaues weiß man darüber nicht, aber wer will darüber auch schon Genaues wissen? Ich nicht, ich ganz bestimmt nicht. Ich liefere die Ladung, ich bekomme mein Geld, und alles andere interessiert mich nicht. Bin ich dafür verantwortlich, was andere Leute mit meiner Ware machen, eh? Willst du den Schmied hängen, nur weil er den Dolch geschliffen hat, mit dem dein Freund getötet wurde? Natürlich nicht, also kann auch ich nichts dafür, was die Großen mit meinem Mondblumentabak machen.« »Ansichtssache.« »Ansichtssache, pah! Du hast gut reden, aber ich? Was ist mir denn geblieben, mir armem Kerl? Wenn ich an diesen Sturm denke, wird mir heute noch schlecht.« »Das kann ich nachvollziehen; auch mir wird übel.« »Wogen, sage ich dir, hoch wie Häuser, ach, was sage ich, hoch wie vier Häuser. Und sie kamen von allen Seiten, von vorn, von hinten, von rechts, von oben, es war grauenvoll. Die 292
Ruderer haben geschrien und um Hilfe gewinselt, das feige Geschmeiß, als ob die nicht ein bißchen Tapferkeit zeigen können für das viele Geld, das sie von mir bekommen. Der Steuermann wollte sogar aufmucken, man stelle sich das vor. Nördlich von Sarphand, mitten im Sturm wird der Kerl frech. Aber ich behalte natürlich die Ruhe, gebe dem Kerl eins auf die Nase, und schon wird er ruhig. Und dann steuere ich das Schiff aus der Gefahrenzone ans sichere Land.« Der Erzähler machte eine dramatische Pause, die nur von einem leisen Seufzer seines Gegenübers unterbrochen wurde. »Und dann stand der Kerl vor mir. Seemagier hat er sich genannt, und eine Maske hat er getragen. Er kenne jedes Riff in der Strudelsee, hat er behauptet; er allein könne unser Schiff sicher nach Sarphand bringen. Und was hat er getan, der abgefeimte Hund, der niederträchtige Schurke, was hat er getan, kaum daß er mit einigen Freunden an Bord gekommen war? Die Rudersklaven hat er aufgewiegelt, meine Leute abspenstig gemacht… Ich habe geschrien und ihnen den gräßlichsten Tod angedroht, wenn sie dem Maskenmann folgen sollten. Geholfen hat es nichts. Sie sind gegen die Strömung gerudert, ohne sich um meine Befehle zu kümmern. Elendes Sklavengesindel, keiner taugt etwas. Und das mir, der ich eine Seele bin von einem Menschen. Freundlich, umgänglich, großzügig -keiner wird es wagen, das zu bestreiten.« »Sehr wahr«, ergänzte der andere Sprecher. Mythor versuchte sich die beiden vorzustellen. Der zweite Sprecher, der Wortkarge, schien ein großer, kraftvoller Mann zu sein; die Stimme verriet Selbstbeherrschung. Vermutlich war der Mann nicht mehr der Jüngste. Mythor schätzte ihn auf vierzig Jahre, vielleicht etwas mehr. Der andere, der Geschwätzige, von dem er auch den Namen wußte, weil er ihn immer wieder nannte, Garaschi aus Morautan, der König der Tabakhändler – ihn stellte sich Mythor eher 293
klein vor, stämmig, aber sehr beweglich, auf den Beinen vielleicht ebenso behende wie mit der Zunge. Das Gesicht ein wenig rundlich, mit vollen Lippen und dem verschmitzten Lächeln eines Mannes, der das Leben zu genießen wußte. Der weinerliche Tonfall, den Garaschi ab und zu anschlug, schien Mythor aufgesetzt. Der Mann war ein hervorragender Schauspieler, und er benutzte offenbar diese Pause zu einer großen Darbietung. »Gemeutert haben sie, die Hunde«, jammerte Garaschi. »Die Ladung ist weg, das Gold ist weg, und die paar Getreuen, die sich auf meine Seite geschlagen hatten, Helden einer wie der andere, was für Männer… wo sind sie geblieben? Fortgeweht, verstreut, versprengt. Garaschi aus Morautan allein ist übriggeblieben, ganz allein. Was wird mein Weib sagen, wenn es davon hört, wie werden die Kinder seufzen und klagen und jammern und rufen: Unser Väterchen, der gute. Garaschi, er ist nicht mehr. Gemeuchelt ward er durch schnöden Verrat, elendiglich untergegangen ist der Gute in diesem Unterweltsgestrüpp der Lichtsplitterinseln, die in der Strudelsee versaufen sollen, eine nach der anderen, samt dem Gesindel, das sich hier herumtreibt.« Die Gemütslage des Händlers schien heftig zu schwanken. »Und du, was hast du jetzt vor? Was willst du tun, Mann mit dem roten Haar? Hier sitzen bleiben und Maulaffen feilhalten?« »Ich weiß es nicht«, sagte der zweite ruhig. »Mir sind die Hände gebunden. Ich muß abwarten.« »Abwarten, wenn ich das schon höre. Abwarten! Etwas tun müssen wir, handeln, draufschlagen, niedermachen das ganze Gesindel. Ich will meine Ladung zurückhaben, hörst du? Einem Garaschi aus Morautan nimmt man nicht einfach die Ladung weg. Kämpfen werde ich, jawohl, nichts und niemand kann einem Mann wie mir Furcht…« 294
Der Händler kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Der Verlockung, auf dieses Stichwort hin aufzutreten, hatte Mythor nicht widerstehen können. Ein Schritt genügte, ihn aus seiner Deckung zu bringen, und noch im gleichen Herzschlag sprang der kleine, dicke Händler mit unglaublicher Geschwindigkeit auf, stieß einen entsetzten Schrei aus und griff zur Waffe. Mythor hob die Hand zum Gruß. Er revidierte sein Urteil ein wenig. Garaschi, klein, mollig, schwarzhaarig und offenkundig ein Genießer alles Schönen, war keineswegs ein Hasenfuß. Er hatte sich stellen wollen. Der andere Mann war ein einziges Kraftbündel von außerordentlicher Größe. Das Gesicht war verschlossen, verriet ein wenig Trauer. Haare und der löwenmähnige Bart waren von starkem Rot; der Mann zählte schätzungsweise fünfzig Jahre. Er blickte zu Mythor hinauf. »Willkommen«, sagte der Rotbart. »Was soll das heißen, Fremder?« ereiferte sich Garaschi. »Ist das eine Art, sich einzuführen? In Gebüschen zu lauern und hervorzuspringen wie ein betrunkenes Karnickel?« »Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen«, sagte Mythor und streckte dem Händler die Hand entgegen. »Ich wollte den Mann kennenlernen, der sich rühmen kann, der bedeutendste Händler mit Mondblumentabak der östlichen…« »… der gesamten«, sagte Garaschi liebenswürdig. Sein Gesicht zeigte nun ein strahlendes Lächeln, hatte aber auch für einen winzigen Augenblick einen ganz anderen Ausdruck gezeigt. Mythor hatte die Verwandlung gut gesehen. Garaschi war auf der Hut. Er war zwar ein Prahlhans, aber er war nicht so blöde, an sein eigenes Geschwätz zu glauben, und wenn einer auf seine Redereien so bereitwillig einging, wie Mythor es in diesem Augenblick tat, dann konnte das den Händler nur mit Mißtrauen erfüllen. 295
»… der gesamten Strudelsee also zu sein«, setzte Mythor den Satz fort. »Insbesondere hätte ich gern erfahren, wie es dir gelungen ist, dem Aufstand der Rudersklaven zu entgehen. Oder haben sie nicht versucht, sich an dir zu rächen?« Garaschi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unwichtig«, sagte er. »Und mit wem haben wir das Vergnügen? Was hast du anzubieten, Fremder? Können wir ins Geschäft kommen?« Mythor wandte sich an den Rotbart. »Ich heiße Mythor«, stellte er sich vor. »Ich bin Lerreigen«, sagte der Rotbart und erwiderte Mythors kräftigen Gruß. »König Lerreigen«, verbesserte Garaschi eilfertig. »Sagt er wenigstens. Er sei König der Leoniter gewesen, behauptet er.« Mythor sah den Rotbart an. Er konnte sich Lerreigen sehr gut als König der Leoniter vorstellen. Mythor überlegte, ob er Lerreigen sofort davon in Kenntnis setzen sollte, daß er seinem Nachfolger gegenüberstand, doch er hob sich diese Eröffnung für später auf. »Ich suche Freunde«, sagte Mythor. »Sie wollten mich beim Koloß von Tillorn treffen.« Lerreigen lächelte. »Nottr und Sadagar? Und Olinga?« Mythor sah den Leoniter-König überrascht an. »Du kennst sie?« »Ich bin mit ihnen hierher gereist, nachdem ich in der Schlacht… Aber das gehört nicht hierher. Ich bin mit den dreien hierher gereist, aber dann verschwand eines Tages Olinga.« »Wer ist Olinga?« »Eine Frau, ein Karsh-Mädchen«, berichtete Lerreigen. »Sie verschwand als erste, und später waren dann auch Nottr und Sadagar verschwunden.« »Wie geht es Nottr?« fragte Mythor, der sich an den Lorvaner erinnerte, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, nachdem er fast 296
zu Tode gefoltert und beinahe verbrannt worden war. »Besser«, sagte Lerreigen knapp. »Seit wann seid ihr hier?« »Seit Wochen!« jammerte Garaschi. »Seit Ewigkeiten. Es ist die reine Verzweiflung, das sage ich dir. Und du?« »Ich irre seit fast zwei Wochen durch dieses seltsame Land«, sagte Lerreigen niedergeschlagen. »Ich habe Garaschi vor kurzem erst gefunden und jetzt dich.« »Wenn wir Würfel hätten«, murmelte Garaschi, »wüßte ich, was wir tun könnten.« »Wißt ihr, wo wir uns befinden?« wollte Mythor wissen. »Auf den Lichtsplitterinseln oder wenigstens darunter«, sagte Garaschi eilfertig. »Ich meine, ob einer von euch weiß, wohin man von hier aus gelangen kann, wie die Wege in dieser Unterwelt verlaufen.« Lerreigen schüttelte den Kopf. »Ich bin sehr lange Zeit fast im Kreise herumgeirrt«, sagte er bedrückt. »Ich kann dir nicht genau sagen, wo wir uns befinden.« »Aber ich kann… Nun, ich weiß wenigstens einen Weg, den zum Riff, wo die Schurken mein Schiff haben auflaufen lassen. Den Weg finde ich jederzeit. Aber was sollte man dort erreichen wollen? Überall gibt es hier Leute dieses Schrecklichen.« »Warum gehen wir nicht zum Riff?« fragte Mythor. »Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, die Ausrüstung zu verbessern oder irgend etwas herauszubringen, dann nur dort.« »Ich wollte ihm gerade vorschlagen, dorthin zu gehen«, sagte Lerreigen und stand auf. »Ich komme mit.« »Was denn, zu den Burschen zurück? Seid ihr von Sinnen?« »Möchtest du deine Ladung nicht zurückbekommen?« fragte Mythor. Garaschis Gesicht glänzte wieder vor Freude. »Natürlich«, sagte er. »Die Ladung. Du hast recht. Wir werden sie zurückerobern. Wir drei, Garaschi, der Unbezwingbare, Lerreigen, 297
der König der Leoniter, ein Turm in der Schlacht, und Mythor… Du gehst voran.« ENDE
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Der nächste MYTHOR-Band Der Sohn des Kometen irrt mit seinem neuen Gefährten, dem ehemaligen König von Leone, durch das Labyrinth, das sich in den Höhlen unter den Inseln des Lichts erstreckt. Hier sucht Mythor seine Freunde Nottr und Sadagar ebenso wie den geheimnisvollen Koloß von Tillorn und einen Ausgang aus diesem Labyrinth wild wuchernder Pflanzen… Magie liegt in diesem unterirdischen Reich überall in der Luft. Die gesamte Umgebung ist nichts anderes als ein weiterer Fixpunkt des Lichtboten, an dem Mythor den nächsten Teil seiner Lichtausrüstung gewinnen kann, den Sonnenschild. Doch wieder trifft er auf seinen Rivalen Luxon. Die beiden Männer schließen ein Bündnis und ziehen gemeinsam weiter. Ihr nächstes Ziel ist Sarphand, wo Luxon einst als Meisterdieb bekannt war. Dort erfährt Mythor endlich, warum sich auch Luxon als Sohn des Kometen bezeichnet. Und er erfährt, daß sein weiterer Weg unwiderruflich in die ewige Stadt Logghard führen muß… Die weiteren Ereignisse in den Ländern an der Strudelsee schildert das nächste MYTHOR-Buch, das mit verblüffenden Erkenntnissen aufwartet. Versäumen Sie nicht
DER KOLOSS VON TILLORN
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