Dr. Keesby mischt Gift von AL CANN
Er hatte einen quadratischen Schädel, eine fliehende Stirn, die von winzigen Falten...
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Dr. Keesby mischt Gift von AL CANN
Er hatte einen quadratischen Schädel, eine fliehende Stirn, die von winzigen Falten zerschnitten war, eine kurze, aufwärtsstrebende Nase und einen harten Mund, über dem ein dünner Schnurrbart saß, der scharf ausrasiert war und an den Enden dicker wurde. Es war ein feistes Gesicht, dessen schwerer Hals um das kleine Kinn herumhing und an einen Schweinehals erinnerte. Sein Haar war dunkel und struppig. Er trug eine dunkle Brille, die an dünnen Metallbügeln saß. Es hätte des weißen Arztkittels nicht bedurft, um ihn unheimlich erscheinen zu lassen. Irgend etwas Beklemmendes ging von ihm aus. Er stand neben der Tür zum Warteraum, hatte den Instrumentenhänger zu Seite geschoben und warf durch eine Luke dahinter einen Blick in den Warteraum. Drüben war es leer bis auf einen einzigen Patienten. Es war eine Frau. Dr. Keesby hatte es so eingerichtet, daß niemand sich so setzen konnte, daß er dem heimlichen Beobachter
verborgen war. Denn an der Wand, die zum Behandlungszimmer führte, waren Bücherregale, und die Stühle standen in Hufeisenform um den ebenfalls hufeisenförmigen Tisch. Keesby sah die Frau im Profil. Sie mochte etwa neunundzwanzig oder dreißig sein, hatte ein bläßliches Gesicht und Augen, unter denen braune Schatten lagen. Ihre Figur war gut, wie Keesby sofort sachkundig festgestellt hatte. Das Haar war modisch frisiert und das türkisfarbene Sommerkostüm wirkte unaufdringlich. Sie trug schwarze Schuhe und hatte die Hände auf einer kleinen schwarzen Handtasche liegen. Unter den Händen hatten sich auf dem Lackleder dunkle Schweißstellen gebildet. Margret Hutton war die letzte Patientin, die nach langem Warten endlich dran war, ins Behandlungszimmer gerufen zu werden. Seit einigen Wochen hatte sie ein Schmerzgefühl unter den rechten Rippenbogen. Sie hatte es lange hinausgezögert, zum Arzt zu gehen. Jetzt hatte sie sich doch dazu entschlossen. Aber keinesfalls wollte sie zu dem jungen Arzt gehen, der im Haus nebenan von ihr in der Plainfield Road wohnte. Sie war deshalb in die Sunnyside Avenue gegangen und an der Ress-Park Avenue eingebogen. An dem Eckhaus zur Arthur Avenue hatte sie gestern im Vorbeigehen das Schild Dr. Keesbys gesehen. Ein Mann, den sie nicht kannte und der sie nicht kannte; so war es richtig. Fürchtete sie doch
nicht ohne Grund, daß es sich um eine unheilbare Krankheit handelte. Der letzte Besucher war gegangen. Seitdem waren drei Minuten vergangen. Die ganze Zeit über stand Keesby an der Beobachtungsklappe und lugte hinaus. Als er jetzt im Bestrahlungszimmer nebenan Schritte hörte, schob er den Hänger zurück und ging zu seinem Schreibtisch, um sich da niederzulassen. Eine Frau in den Fünfzigern, ebenfalls im weißen Arztkittel, trat ein. »Herr Doktor, es ist sieben Uhr. Sie wissen ja, daß ich meinen Bus nach…« Der Arzt nickte, hob kaum den Kopf und sagte mit seiner verhaltenen Stimme: »Schon gut, Miß Couler.« Die ärztlich-medizinische Assistentin verabschiedete sich mit einem gemurmelten »Good evening, Doktor«, und ging dann zurück ins Bestrahlungszimmer, von wo aus sie in den Korridor gelangen konnte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, stand Keesby auf, ging durch den Bestrahlungsraum und blickte durch das kleine Fenster in den schwarz tapezierten und mit Goldborten abgesetzten Flur, wo er Miß Couler eben aus der Wohnungstür gehen sah. Er öffnete die Tür zum Flur, ging zur Wohnungstür und schloß ab. Dann hängte er die Kette vor. Unbemerkt für die Frau, die nebenan im Warteraum saß, ging der
Arzt zurück in den Bestrahlungsraum und von da in sein Behandlungszimmer. Noch einmal trat er an den Spion in der Wand und blickte auf die Frau. Sie war nicht schön, wirklich nicht. Aber sie schien das Objekt zu sein, auf das er schon so lange gewartet hatte. Der harte Mund des Arztes öffnete sich, und tonlos flüsterte er vor sich hin: »Das ist sie.« Als er die Beobachtungsluke mit der Klappe zudeckte und den Hänger wieder vorschob, stand er sekundenlang mit gesenktem Kopf da. Dreiundvierzig Jahre war er alt, einsfünfundsiebzig groß und neunzig Kilo schwer. Nicht, daß er etwa einen überschweren Leib gehabt hätte oder einen plumpen Schritt, absolut nicht. Er wirkte nicht einmal besonders dick, wenn man ihn so ansah. Das war er ja auch nicht. Obgleich sie ihn früher auf der Universität wegen seiner massiven Gestalt gehänselt hatten. Er hatte Forscher werden wollen – Tierforscher. Aber sein Vater, ein ewig kränkelnder Arbeiter aus den Erzbergwerken im westlichen Illinois, hatte darauf bestanden, daß sein einziger Sohn Medizin studierte. Es hatte Herbert Keesby absolut keinen Spaß gemacht, dieses Studium, und mehrmals war er nahe daran gewesen, auszusteigen. Aber sein Vater hatte ihn immer wieder dazu getrieben. »Du wirst Arzt! Wir brauchen keinen Tierforscher, einen verqueren Kerl, der sich mit dem Privatleben der
Ameisen befaßt und mit den Verrücktheiten der Tiefseefische – wir wollen, daß du ein richtiger Doktor wirst.« Der Vater hatte dabei immer im Plural gesprochen, also »wir«, und dabei war er es allein, der diesen Wunsch hatte – und ihn auch durchsetzte. Herbert Keesby wurde Arzt. Zwar hatte er die Hauptprüfung nicht eben glänzend bestanden, aber er war durchgekommen, und der Trost des Vaters, daß auch große Ärzte oft nur mühsam des Examen geschafft hatten, war nur ein schwacher Trost. Und daneben war sein Leben – sein unterdrücktes Leben! Mit dreiundzwanzig hatte er Berryl kennengelernt, seine Traumfrau. Sie hatte den jungen Mediziner lange Zeit hingehalten und in der Hoffnung gelassen, daß er sie eines Tages besitzen dürfte. Aber dann hatte sie ihn sitzenlassen, ehe er sie auch nur einmal hatte anrühren dürfen. Als er ihr aufgelauert hatte, wie sie mit einem anderen wegwollte, hatte sie ihn mit einer Reitpeitsche ins Gesicht geschlagen. Die Narbe, die sich vom rechten Jochbein quer über die Nasenwurzel hart unter das linke Auge zog, würde niemals verschwinden. Die schwarze Brille verdeckte sie. Herbert Keesby, der vom Vater so sehr bewacht worden war, hatte sich von Jünglingsjahren an nach Mädchen gesehnt. Zunächst nach einem und dann nach vielen. Dieser Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Es hatte niemals eine gegeben, die ihn interessant genug gefunden hätte, als daß sie seine Freundin hätte sein wollen. Seine Bemühungen um die Freundschaft einer
Gymnasiastin, die viele Jahre neben ihm die Schulbank gedrückt hatte, waren nutzlos gewesen. Sie hatte sich einem Glücklicheren zugewandt – der heute in einem Krankenhaus Pfleger war und Operationssäle reinigen mußte. Als Keesby dann Student war, litt er schwer unter seiner sexuellen Not und hatte versucht, sich an eine junge Studentin heranzumachen, die wegen ihrer Unansehnlichkeit von sonst niemandem beachtet wurde, er opferte ihr sein ganzes Taschengeld, das er in Blumen und Pralinen investierte. Aber die Investitionen zahlten sich nicht aus. Die Studentin fand dann doch einen anderen, einen Busfahrer – und heute arbeitete sie als Schwester in einem Diakonissenheim. Auch sie war nichts geworden. Dann war Berryl in sein Leben getreten. Sie hatte ihn regelrecht an der Nase herumgeführt und bis zur Weißglut gereizt. Aber nicht einmal hatte er sie küssen dürfen, geschweige denn, daß sie ihm größere Gunstbeweise gegeben hätte. An dem Tag, an dem sie ihm vor ihrer Haustür drüben in Westmont die Reitpeitsche durchs Gesicht gezogen hatte, war etwas in ihm zerstört worden. Der Peitschenhieb hatte seinen Drang zum weiblichen Geschlecht nicht etwa geheilt, sondern nur verschüttet und in Bahnen geleitet, die ihn selbst entsetzt haben würden, wenn er sie als junger Mensch schon vorausgesehen hätte. All dies soll nicht als Entschuldigung für das, was Herbert Keesby getan hat, gesagt werden. Vielleicht ist es nicht einmal eine Erklärung für seine Verbrechen.
»Unvorstellbar«, meinte später ein Kriminalpsychologe, »daß ein Mann von seinem Stand und seinem Einkommen dreiundvierzig Jahre geworden sein soll, ohne zu einer Frau zu kommen…« Aber es war so. Von seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr an arbeitete er neunzehn Jahre in Krankenhäusern. Als Assistent, als Hilfsarzt, als Röntgenologe. Was niemand wußte: er studierte nebenbei die Gifte und deren Bekämpfung und hätte auf diesem Gebiet wirklich eine Chance gehabt – wenn er nicht eben Herbert Keesby gewesen wäre. Aber so sehr er sich auch bemühte, weiterzukommen, es gelang ihm nicht – nicht in neun langen Jahren. Er war auch nicht etwa von einem Ast auf den anderen gehüpft, also von einem Krankenhaus zum anderen. Im Gegenteil. Er war im Marien-Hospital sieben Jahre, drei Jahre in der Männerklinik Bethesda, fünf Jahre im Westpoint-Krankenhaus und die restlichen vier Jahre im großen Cronelli-Hospital im Zentrum der Stadt. Überall war er nur ein kleines Rad im großen Uhrwerk, in der Maschine der großen Krankenanstalten gewesen, hatte sich von jüngeren und brillanter auftretenden Ärzten den Rang ablaufen lassen müssen. Auch da, wo er glaubte, sich eine bessere Position durch zähen Fleiß erarbeitet zu haben, mußte er zurückstehen. Immer wieder war er enttäuscht worden. Das Verlangen nach Frauen war in ihm nicht etwa erstorben. Im Gegenteil. Es loderte weiter wie eine Flamme in seinem Blut, aber wie eine Gasflamme, die
den Behälter nicht zu sprengen vermochte, in dem sie glühte. Je älter er wurde, desto mehr verhornten die Kontakte zu seiner Umwelt, vor allem zum weiblichen Geschlecht, weil er da immer unsicherer wurde. So darbte er, jedenfalls in dieser Hinsicht, fast zwei Jahrzehnte dahin. Tag für Tag studierte er die Anzeigen in den ärztlichen Fachblättern und auch in der Tagespresse auf der Suche nach einer ärztlichen Praxis. Vor einigen Monaten fand er dann endlich das Richtige, jedenfalls hoffte er es. In der Ress-Park-Avenue an der Ecke der Arthur Avenue war der greise Dr. Hunter gestorben, und seine Praxis war verwaist. Keesby bewarb sich sofort darum, und er zahlte an die Witwe des Verstorbenen sogar einen wahren Liebhaberpreis für die verhältnismäßig armselige Praxis. Er ließ sie mit dem Rest seines ersparten Geldes modern herrichten und wartete dann vergeblich darauf, daß die Patienten des verstorbenen Arztes nun auch zu ihm kommen würden. Es war das Schicksal so vieler Ärzte, die hofften, nach dem Tod ihrer Vorgänger deren Patientenkreis mit übernehmen zu können. Im ersten Monat war es bitter, denn er hatte fast seine ganzen Ersparnisse in den Umbau der Praxis gesteckt, und die Einkünfte waren gleich Null. Da er für niemanden sonst zu sorgen hatte und seine Wohnung in der 31. Straße nur klein und bescheiden war, er auch sonst keine Verpflichtungen hatte, kam er durch. Am Ende des ersten Monats ging es dann langsam bergauf. Er praktizierte außer Mittwoch- und
Samstagnachmittag jeden Tag vor- und nachmittags. Manche Patienten kamen zwei-, drei- und fünfmal, aber die Tatsache, daß er nur sein eigener Chefarzt war, wenn auch in einem insgesamt recht bescheidenen Rahmen, änderte nichts daran, daß alles so blieb, wie es früher gewesen war. Die Menschen kamen und gingen. Keiner, der sich für ihn, den Menschen Herbert Keesby, interessiert hätte. Seine Hilfe war eine vertrocknete Frau, die er aus dem Krankenhaus mitgebracht hatte. Sie war zuverlässig und verrichtete ihre Arbeit stereotyp. Mehr war von ihr nicht zu erwarten. Er war schon auf dem Weg zu der ledergepolsterten Tür, die zum Wartezimmer führte, hielt dann inne, blieb stehen, wandte sich um, ging noch einmal zurück zu dem Instrumentenhänger, schob ihn von der Wand weg, zog den weißen Deckel, der aussah wie eine der in die Wand eingelassenen elektrischen Schaltdosen; dann blickte er noch einmal in den Behandlungsraum. Unverändert saß die junge Frau da, leicht verkrümmt, in sich zusammengesunken. Ihr Profil war weich, wie er jetzt feststellte, leicht gerundet die hohe Stirn. Fast übergangslos folgte die Nase, die ebenfalls weich war und nicht zu klein. Darunter lag ein großer, voller Frauenmund, zwar blaß, aber doch voll und groß – der Mund einer Frau, die das Leben genoß. Ein kleiner Mund ist ja ein untrügliches Zeichen für eine gewisse Gefühlsarmut; wohingegen der große, volle Frauenmund
Leidenschaft und Lebensfreude verrät. Sofort entzündete sich Keesbys Phantasie an diesem Frauengesicht. Als er jetzt wieder zur Tür ging und den Drehgriff mit einer kurzfingrigen weißen Hand umspannte, sog er die Luft tief in seinen breiten Brustkorb und öffnete dann mit einem Ruck. »Der Nächste bitte«, sagte er mit einer Stimme, der er versuchte Festigkeit und männlichen Klang zu geben. Aber es war eine zu hohe Stimme, die jenen Zwitterton hatte, der einen Zuhörer, der etwas weiter entfernt war, leicht im Zweifel darüber ließ, ob er die Stimme eines Mannes oder einer Frau hörte. Margret Hutton schrak zusammen, warf den Kopf herum und blickte den Arzt aus großen dunkelbraunen Augen an. Dann stand sie auf, preßte die Tasche fest gegen ihre Brust und kam mit unsicheren, trippelnden Schritten auf die geöffnete Tür zu. Da blieb sie stehen, blickte auf die Hand des Mannes, die sich ihr entgegenstreckte. Es ist in Amerika nicht üblich, daß man sich mit Handschlag begrüßt; diese Geste nahm ihr etwas von ihrer Angst. Unsicher griff sie nach der Hand des Arztes und verspürte einen kräftigen Druck. »Bitte, setzen Sie sich«, sagte Keesby. Wieder klang seine Stimme so, daß er sich selbst darüber ärgerte: manieriert, geschraubt, unmännlich. Dann saßen sie einander gegenüber, die Frau mit ihrem Leid, mit ihrer Angst vor der Wahrheit, mit ihrer
schweren Befürchtung – und der Mann mit seinen hintergründigen Gedanken, seinen finsteren Plänen. Während Keesby zu ihr hinüberblickte, hörte, wie sie ihren Namen nannte und hastig, sich immer wieder unterbrechend, schluckend und nach Worten ringend, einen Bericht zu geben versuchte, fragte er sich ernsthaft: Bin ich krank? Irrsinnig vielleicht? Ich sitze hier, habe eine Patientin ins Behandlungszimmer gebeten – und plane gerade ein Verbrechen an ihr. Das Unmännliche in ihm, das ihn vor jedem wirklich männlichen Kampf um eine Frau immer wieder abgehalten hatte, hatte ihn auf diesen Weg gebracht, auf dem er sich jetzt befand. Und er war sich darüber völlig im klaren – das war das Furchtbare. Er resignierte schon; hatte aufgegeben. Er würde nie einer der glücklichen Männer sein, die die Freuden des Lebens in den Armen schöner Frauen genießen können. Was er sich unter diesen Freuden vorstellte, übertraf daher das, was sie wirklich waren, bei weitem. Wahrscheinlich wäre er ziemlich enttäuscht gewesen, wenn er das Leben gekannt hätte. Jenes Leben jedenfalls, das ihm fehlte. »Sie wohnen also hier in Brookfield?« »Ja, in der Plainfield Road«, antwortete sie und bebte, weil sie ihm in der Aufregung ihren richtigen Namen angegeben hatte. »Verheiratet?« erkundigte er sich. Die Frau nickte. »Kinder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Und seit wann haben Sie diese Beschwerden?« Zitternd antwortete die Frau: »Seit dem vergangenen Monat.« »Nicht schon länger?« forschte er ohne besondere Betonung. Die Frau blickte erschrocken auf. »Ja, schon länger, schon seit zwei Monaten.« »Und immer an dieser Stelle?« »Ja.« Die Frau hatte ihre dunklen, eine Spur zu nahe bei der Nasenwurzel stehenden Augen ganz ängstlich auf ihn gerichtet. Sie suchte seine Augen, seinen Blick. Aber durch die dunklen Brillengläser war nichts davon zu sehen. »Es ist ganz furchtbar, Doktor«, preßte sie plötzlich hervor. »Ich leide entsetzlich. Ich kann es Ihnen gar nicht sagen, weil nämlich – meine Mutter…« »Ihre Mutter hatte Krebs, nicht wahr?« sagte er und scheute das Wort nicht. Die Frau zuckte zusammen wie unter einem Peitschenschlag. »Ja«, stieß sie hastig hervor. »Sie ist daran gestorben?« Da schüttelte die Frau den Kopf. »Nein, das nicht. Sie wurde vor drei Jahren überfahren.« »Und wie lange hatte sie Krebs?«
»Das weiß ich nicht sicher. Aber ich glaube, einige Jahre. Und sie wäre wahrscheinlich daran gestorben. Das heißt, nachher kann man das ja nicht mehr sagen. Aber sie litt sehr darunter. Es war unsäglich. Wir alle haben das miterlebt…« Er rührte sich nicht. Wie ein Betonklotz verharrte er hinter dem Schreibtisch und starrte durch die dunklen Brillengläser in das Gesicht, das da zum Greifen nahe vor ihm war. Über ihm war eine große, leere Etage, die einer Anzeigenfirma gehörte, die um sechs Uhr Feierabend machte. Unter ihm lagen die Büroräume zweier Rechtsanwälte. Die Fenster waren Milchglasscheiben, und draußen war ein weiter Hof, der vom Lärm eines Bierverlages erfüllt war. Das war seine Stunde! Seine Situation. Eine Situation, die er als Krankenhausarzt niemals hatte herbeiführen können. Sie war also neunundzwanzig Jahre alt, und verheiratet war sie auch. Eine Frau mit Erfahrung. Keine läppische Jungfrau, die in Ohnmacht fallen würde. »Ihr Mann? Ist der gesund?« »Ja, ich glaube schon. Er ist etwas schwächlich auf der Brust, aber er klagt eigentlich nie. Er arbeitet als Caféhauskellner. Leider auch in Nachtschichten.« In Nachtschichten? Wenn er heute Nachtschicht hat, dann war er also jetzt schon weggegangen? »Wo arbeitet er?« »In der Gigbec-Road.«
»Weiß Ihr Mann von Ihren Sorgen? Weiß er, daß Sie hier sind?« »Nein. Er ist schon zur Nachtschicht gegangen«, sagte die Frau. Wie geschickt er die Frage, die er eigentlich stellen wollte, hinter dem rein beruflichen Forschen des Arztes verborgen hatte. »Sie hätten aber mit ihm sprechen sollen.« »Das kann ich nicht. Er ist so schwach, wissen Sie. Sein Charakter ist so labil. Er war mehrere Jahre arbeitslos, und ich habe uns durch eine Beschäftigung in einem Damensalon durchbringen müssen.« Sieh an, Frisöse war sie. Na, da war sie ja kein Unschuldslamm. »Ich bin froh, daß er endlich die Stelle angenommen hat. Es würde ihn umwerfen.« »Gut«, sagte er halblaut, »dann wollen wir uns mal ausziehen.« Die Frau nickte, und er erhob sich. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Knie nachgeben müßten. Jetzt war es soweit. Wochenlang hatte sie mit sich um den Entschluß gerungen, endlich einen Arzt aufzusuchen, und jetzt würde sie die vernichtende Diagnose erhalten. Wie ein Urteil würde es über sie verhängt werden. Sie wandte sich um, ging auf die spanische Wand zu, die mit Goldbrokat geschmückt war, verschwand dahinter, dann hörte Herbert Keesby nur noch das Geräusch, das verursacht wird, wenn eine Frau
Kleidungsstücke auszieht. Sie zog ihre Kostümjacke aus, und dann knisterte Wäsche. »So, bitte, kommen Sie«, sagte er und blickte noch auf die Notizen, während er mit der fleischigen, kurzfingrigen Rechten auf den Behandlungstisch deutete, der in der Mitte des Raumes stand. Es war ein großer, mit grünem Leder gepolsterter Spezialtisch, der ihn allein über dreihundert Dollar gekostet hatte. Er war von Miß Couler, wie jeden Abend vor ihrem Weggang, mit einem frischen weißen Laken bezogen worden. Margret Hutton war hinter der spanischen Wand hervorgekommen und blieb dann stehen. Keesby hob den Kopf und blickte zu ihr hinüber. Ihr Anblick trieb ihm das Blut schneller durch die Adern. Er verspürte ein dumpfes Rauschen in seinen Ohren, und eine große Ader schlug an seiner linken Schläfe. Tausende von Menschen hatte er in zwei Jahrzehnten in der Krankenhauspraxis erlebt. Aber es waren ausschließlich Männer gewesen. Nur kurzzeitig war er auch in Frauenabteilungen beschäftigt gewesen. Dabei hatte er das Pech gehabt, daß es fast ausnahmslos ältere Frauen waren, mit denen er es zu tun hatte. Außerdem gab es im Krankenhaus für einen Arzt nie Gelegenheit, allein mit einem Patienten zu sein. Die Frau hatte nur den Oberkörper freigemacht. Es war ein gutgeformter Körper. Keesby preßte die Lippen hart aufeinander, als seine Augen die vollen, festen Brüste erfaßt hatten. Welch eine Schönheit!
»Sie müssen sich ganz ausziehen, Mrs. Hutton«, sagte er und hatte jetzt die allergrößte Mühe, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen und seine ungeheure Erregung zu verbergen. »Alles?« kam es leise von den Lippen der Frau. »Ja, das ist notwendig«, sagte er fast eine Nuance zu scharf, wandte sich dann zur Seite und ging auf den Schrank zu, wo er sein Stethoskop noch von der letzten Untersuchung liegen hatte. Margret Hutton war wieder hinter der spanischen Wand verschwunden. Diesmal brauchte sie sehr lange. Keesby, der an dem weißen Schleiflackschrank stand, lauschte auf jedes Geräusch. Was hatte sie vor? Zog sie sich etwa wieder an? Das durfte auf keinen Fall geschehen. »So, Mrs. Hutton«, sagte er mit einer Stimme, die jetzt das leichte Beben nicht mehr verbergen konnte, »wir wollen uns ein wenig beeilen, ich habe noch Besuche zu machen.« »Ja, Doktor«, preßte die Frau hervor, und da tauchte sie auch schon neben der spanischen Wand auf. Einen Herzschlag lang hielt der Mann den Atem an. Dann blickte er auf seine Schuhspitzen und griff mit der linken Hand nach dem Stethoskop. »So«, sagte er, mußte dann schlucken und deutete auf den Untersuchungstisch, »würden Sie sich bitte dort hinlegen? Ja, auf den Rücken, gut so.«
Mit ungelenken Bewegungen legte sich Margret Hutton auf den Untersuchungstisch. Sie vermied es, den Arzt anzusehen. Keesby war noch fünf Schritt von dem Tisch entfernt und starrte mit weit aufgerissenen Augen durch die dunklen Brillengläser auf den wohlgeformten weiblichen Körper, der da vor ihm lag. Dann griff er mit der Rechten nach der Brille, nahm sie langsam ab und klappte die Bügel zusammen. Er schob sie in seine Reverstasche. Langsam kam er auf die Frau zu. Sie vermied es immer noch, ihn anzusehen. »Dann wollen wir die Lunge erstmal abhorchen.« »Ich glaube«, preßte sie heiser durch die Kehle, »es ist nicht die Lunge.« »Damit muß bei einer gründlichen Untersuchung angefangen werden, wissen Sie?« Er tat nichts, was er sonst nicht auch tat. Er setzte den Gummibesatz des Stethoskops unter ihre Brust, oben unter ihren Hals, auf die linke Seite und auf die rechte Seite. Als er ganz zufällig einen Blick über ihren Körper hinweg auf den großen Spiegel warf, der über dem Waschbecken angebracht war, sah er, daß sein ganzes Gesicht mit Schweiß bedeckt war. »Es ist warm heute«, sagte er, »nicht wahr?« Die Frau nickte nur kurz. Er ging zum Spiegel und wischte sich das Gesicht mit dem Handtuch ab. »So«, meinte er dann wieder im leiernden Ton eines Arztes, der es gewohnt ist, täglich zahllose Menschen zu
untersuchen, »und jetzt setzen wir uns hin, ja, richtig hinsetzen, die Beine herunterbaumeln lassen.« Er ging auf die andere Seite des Untersuchungstisches und setzte das Stethoskop auf ihren Rücken. Sorgfältig horchte er die Lunge ab. Als er dann das Stethoskop sinken ließ und auf ihren nackten Rücken blickte, benetzte er die Unterlippe mit der Zunge. Langsam ging er wieder um den Tisch herum und blieb vor der Frau stehen. Margret Hutton preßte verzweifelt ihre Oberschenkel zusammen und hatte den Kopf gesenkt. Ein ganz merkwürdiges Gefühl hatte sie auf einmal erfaßt. Sie hätte es jedoch nicht erklären können. Nur, daß es kein gutes Gefühl war, das wußte sie. Da spürte sie die Hände des Arztes auf ihren Schultern. »Ja, sehen Sie mich bitte an, so, jawohl«, sagte er und mußte wieder schlucken. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Mrs. Hutton. Bis jetzt ist ja noch alles gut.« »Ja«, flüsterte sie, »aber da unten im Leib…« »Da kommen wir gleich hin. So, strecken Sie die Beine mal aus, ja, gut. Und jetzt legen Sie sich bitte wieder hin.« Ihre Glieder zitterten, als sie sich auf das weiße Leinen des Untersuchungstisches zurücklegte. Sie mußte die Hände ganz hart aufeinanderpressen, damit sie nicht klapperten. Keesby trat näher an den Tisch heran und legte seine rechte Hand vorsichtig auf ihren Leib. Langsam ließ er sie über die Leibrundung hinuntergleiten zum Oberschenkel, zog sie aber rasch zurück und fragte,
während er noch weit über dem Blinddarm einen leichten Druck ausübte: »Schmerzt es hier?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, höher.« Welch ein Gottesgeschenk war doch ein solch wohlgeformter, wie aus weißem Marmor gemeißelter Frauenkörper. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er davon geträumt, einmal eine Frau zu besitzen, sie anfassen zu dürfen, wie er wollte. Plötzlich lag seine rechte Hand auf ihrer Brust. Die Frau hielt den Atem an. Verzweifelt hatte sie die Augen geschlossen. Da spürte sie auch die andere Hand des Mannes auf ihrer Brust. Es waren heiße, schweißige Hände. Und sie blieben nicht still liegen. Keesby hatte sich über sie gebeugt, und sein Atem kam jetzt stoßweise. Einhalten! hämmerte es in seinem Hirn. Richte dich auf, wende dich ab. Du bringst dich um alles, um alles! Um alles? Um was denn? Um was konnte er sich denn schon bringen? Um das armselige Arztpatent? Was war das denn schon wert für einen Mann, der keine Frau haben durfte? Der sich mit der Sehnsucht begnügen mußte. Als seine linke Hand von ihrer Brust hinunterglitt über ihren Leib, richtete sich Margret Hutton mit einem Ruck auf. Keesby erschrak, stieß sie dann aber hart zurück. »Liegenbleiben!«
In diesem Augenblick zerriß ein heftiger Knall die Spannung im Untersuchungsraum. Keesby wirbelte herum. Die Frau saß kerzengerade aufrecht hinter ihm. Eine der Fensterscheiben war zersprungen. Keesby rannte um den Schreibtisch herum auf das Fenster zu und riß es auf. Drüben auf der anderen Seite des engen Hofes sah er gegen das schwache Licht eines Flurfensters die Silhouette eines Jungen, der eben seine Steinschleuder herunternahm und sich jetzt hinter dem Fenstersims niederduckte. Keesby stand sekundenlang an dem offenen Fenster und starrte über den Hof zu dem Jungen hinüber, der jetzt wieder über das Sims blickte. Der Arzt schloß das Fenster und wandte sich um. Der Untersuchungstisch hinter ihm war leer! Er starrte auf die spanische Wand und sagte dann: »Weshalb sind Sie aufgestanden, Mrs. Hutton? Die Untersuchung ist wichtig für Sie. Ich habe tatsächlich den Verdacht, daß Sie…« Jäh unterbrach er sich, stürmte vorwärts, riß die spanische Wand zurück und sah nur den leeren Stuhl und die leeren Kleiderhaken und Bügel. Er machte drei Schritte zurück, blieb stehen, sah sich im Raum um und rannte dann auf die angelehnte Tür zum Bestrahlungsraum zu, zerrte sie auf und hastete vorwärts, quer durch den Raum in den Flur. Er sah gerade noch, wie die Wohnungstür zufiel. Mit hechelndem Atem stand er in der Tür zum Bestrahlungszimmer, schweißnaß und halb von Sinnen.
Um Himmels willen, sie war geflüchtet! So wie sie war. Sie hatte ihre Kleider an sich gerafft und war aus der Praxis geflüchtet. Sie hatte die Kette an der Tür zurückgerissen und war nackt ins Treppenhaus gerannt. Er griff sich an die Stirn, nahm die Hand herunter und starrte auf den Schweiß, der daran klebte. * Greg Scranton stand mißmutig vor den Auslagen eines Lebensmittelgeschäftes. »Betrinken müßte man sich«, murmelte er tonlos vor sich hin. Und er hatte Grund dazu. Sechsundvierzig Jahre war er alt. Seit mehr als zweiundzwanzig Jahren war er mit Betty verheiratet. Damals, vor fast dreiundzwanzig Jahren, als er sie zum erstenmal gesehen hatte, an einem Stand mit türkischem Honig auf einem Kirmesplatz in Blue Islands, war sie ihm wie eine Märchenprinzessin erschienen. Mit der roten Baskenmütze, dem hochgeschlagenen Kragen ihres schwarzen Wintermantels und dem hellen Schal. Ihre kleine Stupsnase und ihre rundlichen Wangen, all das hatte ihn zutiefst beeindruckt. Und als sie dann lächelte, als er sie ansprach, glaubte er schon, das Große Los gezogen zu haben. Es war auch schön am Anfang mit Betty. Gegen keine Frau der Welt hätte er sie eingetauscht. Nicht einmal für eine der superbusigen und glutäugigen Leinwandschönheiten. Überschnell hatten sie geheiratet,
weil sie glaubten, daß etwas Kleines unterwegs war. Aber es war nie etwas Kleines gekommen. Schon in den ersten Ehejahren bemerkte er, daß sie nicht die richtige Frau für ihn war. Betty war herrschsüchtig und liebte den Luxus, aber ein Buchhalter konnte sich keinen Luxus leisten. Er war zwar im Laufe der Jahre zum Oberbuchhalter aufgestiegen, aber das brachte auch nicht viel mehr. Betty hatte sich den Luxus aus dem Kopf schlagen müssen, und der Verzicht, der ihr schwergefallen war, hatte sich bei ihr in einer gewissen Grantigkeit niedergeschlagen, mit der sie ihn sehr quälte. Jedes Jahr im Juni fuhr sie auf ein paar Tage zu ihrer Schwester nach Detroit hinüber. Es waren die schönsten Tage im ganzen Jahr für ihn. Er hätte Weihnachten, seinen Geburtstag, Neujahr und den »Thanks givings Day« zusammen dafür hingegeben, wenn sie zweimal im Jahr weggefahren wären. Heute endlich war es soweit gewesen. Sie hatte den Sechsuhrzug genommen. Er hatte sie zum Bahnhof gebracht, und gern hatte er den schweren Koffer die Treppen hinaufgeschleppt. Aber jetzt, wo sie weg war, fühlte er sich plötzlich so seltsam leer. In den ersten Jahren, als sie gefahren war, hatte er noch die Boys draußen im Bardor-Club aufgesucht und bis in die späte Nacht mit ihnen gepokert und getrunken. Aber seit Sigsdorf nicht mehr in Chicago wohnte und Andy Miller gestorben war, blieb es da auch leer. Er kannte die neuen jüngeren Leute nicht mehr, man hatte sich entfremdet. Entfremdet wie in der eigenen Ehe. Vor drei Jahren, als
Betty weggefahren war, hatte er das märchenhafte Glück gehabt, in einem Kino neben einem Mädchen zu sitzen, das sich anschließend auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen einladen ließ. Am nächsten Tag hatte er sie dann wiedergetroffen und ein bißchen in einem der Parks in Midway geküßt. Es war nicht allzuviel gewesen. Aber doch der siebte Himmel gegen das Leben mit Betty. Jetzt war er sechsundvierzig und resignierte schon. Er dachte an die Whiskyflasche, die er sich vor einigen Wochen besorgt hatte und die oben in seinem Badezimmer stand. Er würde sich betrinken. Das war die würdigste Art, Bettys Abreise zu feiern. Er hatte die Haustür geöffnet und ging langsam und mit müden Schritten die Treppen hinauf. Als er vor seiner Tür stand, den Schlüssel ins Schloß geschoben und geöffnet hatte, hörte er plötzlich oben hastige Schritte. Er wandte sich um und glaubte, daß er ein Gespenst sähe: Aus dem Geschoß über ihm kam eine Frau. Sie war nackt. Völlig nackt! Das heißt, sie hatte ein Bündel Kleider an ihren Leib gepreßt, stürzte auf ihn zu, sah die halboffene Tür, blieb neben ihm stehen und sah ihn flehentlich an. »Bitte, darf ich hineinkommen?!« Sie wartete seine Antwort nicht ab, zwängte sich an ihm vorbei und blieb drüben im Garderobenwinkel stehen. Greg Scranton verharrte vor der Tür und starrte immer noch auf die Treppe, von wo sie gekommen war. Dann wischte er sich mit der linken Hand durchs Gesicht.
Zum Teufel! Hatte er etwa Halluzinationen? Das mußte doch ein Spuk gewesen sein. Er hatte allen Ernstes auf der Treppe von oben eine Frau herunterkommen sehen. Schnell wie der Blitz, mit leichenblassem Gesicht. Eine blutjunge Frau! Splitternackt! Ganz langsam wandte er sich um, öffnete die Tür weiter – und stand dann mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund im Flur seiner Wohnung, und da war sie tatsächlich. »Bitte, entschuldigen Sie«, stammelte sie, »schließen Sie doch die Tür!« Mit dem linken Ellbogen schob er die Tür ins Schloß, stand da und starrte zu ihr hinüber. Das Gesicht der Frau war flammendrot, vom Haaransatz bis hinunter zum Hals. Das Kleiderbündel hatte sie vor ihren Körper gepreßt, eingeknickt stand sie da und blickte ihn aus weit aufgerissenen, flehenden Augen an. »Bitte, entschuldigen Sie. Darf ich mich anziehen?« »Ja, natürlich, Miß, selbstverständlich«, stotterte er und hob in einer sinnlosen Geste die linke Hand. »Danke«, stammelte die Frau. »Vielen Dank.« Sie sah sich dann verzweifelt um. »Vielleicht gehen Sie da durch die Tür in den Wohnraum. Ja, gehen Sie nur.« Sie wandte sich ab, und als er sie schräg von hinten sah, schlug er den Blick nieder. Wie eine Glutwelle war es in ihm aufgestiegen, als er ihren nackten Körper von hinten sah.
Zum Teufel, was hatte denn das zu bedeuten? Man mußte erstmal klarwerden. Wieder wischte er sich durchs Gesicht, blieb vor dem Garderobenspiegel stehen und erschrak über sich selbst. Wie sah er aus! Wie ein alter Mann, gebeugt, müde, mit verrutschter Krawatte, dem alten Hut und dem nicht mehr ganz sauberen Hemd. Ein solcher Bursche mußte ja wirken, als ob er zehn Jahre älter wäre. Kein Wunder, daß eine junge Frau erschrak, wenn sie ihn sah. Ja, und wie war es denn mit ihr? Was hielt sie denn davon, wenn er beim Anblick einer splitternackten Frau erschrecken mußte? Was fiel ihr überhaupt ein, so nackt durch einen Hausflur zu rennen? Am Ende war es eine Irre! Auf Zehenspitzen ging er auf die Wohnzimmertür zu und öffnete sie dann mit einem Ruck. Mit einem Schrei schrak die Frau zusammen und preßte die Unterkleider, die sie eben in der Hand gehalten hatte, vor sich. »Entschuldigen Sie bitte, nur, es ist bloß, ich meine…« »Ich werde es Ihnen nachher erklären«, keuchte Margret Hutton. »Ich verstehe schon. Es ist Ihnen etwas passiert?« »Ja«, stammelte sie. »Schon gut«, sagte er und nickte. Er ging nickend hinaus und nickte noch, als er schon wieder vor dem Garderobenspiegel ankam. Er sah schrecklich aus, uralt und wirklich greisenhaft. Er riß den Hut vom Kopf, fuhr sich durch sein noch immer volles dunkles Haar und zog
die Krawatte zurecht. Scheußlich, dieses schmutzige Hemd! Blitzschnell wandte er sich um, stürmte ins Schlafzimmer, riß den Sommermantel herunter, die Jacke, und dann zog er das Hemd aus. Eben hatte er ein frisches weißes Hemd angezogen, als er die Wohnzimmertür gehen hörte. Er stürmte auf den Korridor und sah die Frau vor der Wohnzimmertür stehen. Fast enttäuscht blickte er sie an. Es war eine einfach aussehende Frau in einem leichten Sommerjackenkleid. Sie hatte ihre kleine schwarze Handtasche an den Leib gepreßt und blickte ihn aus schuldbewußten Augen an. Sekundenlang war es still. »Entschuldigen Sie bitte. Ja, es ist wirklich verrückt, nicht wahr? Ich muß einen furchtbaren Eindruck auf Sie gemacht haben.« »Och – also – nun…« Die Frau wollte sich in Bewegung setzen und zur Wohnungstür gehen. »Sie brauchen sich nicht zu beeilen, Miß.« »Doch«, sagte sie und war schon an der Tür. Da geht sie! Es war nur ein Spuk. Und wenn er gleich in der Küche bei dem sauren Hering und dem Whisky saß, dann würde er sich darüber ärgern, daß er nicht gehandelt hatte. Aber was heißt denn handeln? Was sollte er denn tun? Sollte er sie vielleicht festhalten und über sie herfallen? Schließlich war er doch kein Bandit. »Hören Sie, Miß«, sagte er heiser. Die Frau blieb an der Tür stehen und wandte sich um.
Als er jetzt in ihre dunklen Augen sah, sah er sie plötzlich wieder so vor sich, wie sie ausgesehen hatte, als sie die Treppe heruntergekommen war, als er ihren nackten Körper gesehen hatte, ihre Brust, die zwar nicht allzu groß, aber doch wohlgeformt war, ihre glatten Oberschenkel. All dies war so anders als bei Betty, mit der er schon eine ganze Reihe von Jahren in dieser Beziehung gar nichts mehr zu tun hatte. Er machte ein paar Schritte vorwärts, stand vor ihr, griff dann nach ihrer Linken, die auf dem Türgriff lag, zog sie weg und blickte in ihre Augen. »Sie wollen schon weg?« Seine Stimme klang heiser und dumpf. »Ja, entschuldigen Sie bitte«, sagte sie. »Ich muß mich wirklich vielmals entschuldigen.« »Aber was ist denn geschehen?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Sind Sie überfallen worden?« »Nein, nein.« »Bleiben Sie nur einen Augenblick. Sie müssen sich doch erst beruhigen. Kommen Sie, ich werde Ihnen einen Drink geben.« »Nein, danke.« Wieder griff sie nach der Tür. Diesmal zog er sie mit einem Ruck zurück. Erschrocken starrte sie ihn an. Das Schicksal, das eine Etage höher durch ein Geschoß einer Kinderschleuder im allerletzten Augenblick an ihr vorübergegangen war, hatte sich noch nicht von ihr abgewendet. Mit Entsetzen sah sie in den plötzlich weit
gewordenen grauen Augen des Mannes die Gier aufflackern. Um Himmels willen! Wo hinein hatte sie sich da begeben. Der Arzt hatte sie untersucht. Ja, er hatte ihre Brust angefaßt. Aber – er hatte sie doch wirklich nur untersucht. Es war seine Pflicht und sein Recht. Nur war er ihr plötzlich so unheimlich geworden, und als dann die Scheibe zersprang, da war sie in panischer Hast geflüchtet. Vielleicht war es Unsinn, was sie getan hatte. Aber was sie jetzt gemacht hatte, das war nicht nur unüberlegt, sondern gefährlich. Der Mann da vor ihr war kein Arzt. Und unübersehbar stand in seinen Augen die nackte Gier. Sie riß den Mund auf und sog die Luft tief ein, um einen Schrei auszustoßen. Da aber hatte er ihr schon die Hand auf die Lippen gepreßt und zerrte sie mit sich vorwärts ins Wohnzimmer. * Keesby hatte nur einige Sekunden in der Tür des Bestrahlungszimmers gestanden und ging jetzt auf die Wohnungstür zu, öffnete sie vorsichtig und schlich dann auf Zehenspitzen zur Treppe. Sofort zuckte er zurück. Eben wurde unten eine Wohnungstür geschlossen. Es war die Wohnung, die nicht direkt unter ihm lag, sondern auf der anderen Seite. Da wohnte eine Mrs. Scranton. Sie war einmal bei ihm in der Praxis gewesen mit einem eingebildeten Leiden. Wahrscheinlich wollte
sie nur den neuen Arzt kennenlernen. Aber er war ihr offensichtlich nicht interessant und gesprächig genug gewesen, denn die geschwätzige Frau war nicht wiedergekommen. Ihren Mann hatte er nie gesehen. Vielleicht hatte sie gar keinen. Und zu ihr war diese Frau geflüchtet! Er ging zurück, schloß die Wohnungstür hinter sich und stand unschlüssig im Flur. Was jetzt? Fieberhaft schossen die Gedanken in seinem Hirn hin und her. Er mußte irgend etwas tun – und zwar rasch. Hastig rannte er durch das Wartezimmer in den Behandlungsraum, bückte sich zu dem kleinen weißlackierten Metallschrank hinter seinem Schreibtisch, zu dem nur er den Schlüssel hatte, riß ihn auf und nahm zwei kleine braune Fläschchen heraus, aus denen er mehrere Tropfen in sein Glas träufelte. Dann nahm er ein Stück Watte und wischte die Flüssigkeit bis zum Glasrand hinauf. Er nahm ein zweites Glas, griff nach der Flasche mit dem französischen Kognak und lief hinaus. Dreimal mußte er läuten, bis er ein Geräusch hinter der Tür von Mrs. Scranton hörte. Nur einen Spalt breit wurde die Tür geöffnet, dann sah der Arzt zu seiner Verblüffung das Gesicht eines Mannes vor sich. »Mr. Scranton?« fragte er. »Ja, was gibt’s?« »Ich bin Dr. Keesby. Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen?« »Ich bin allein. Meine Frau ist in Detroit.«
»Eben, deshalb will ich ja mit Ihnen sprechen.« »Wegen meiner Frau? Kennen Sie sie denn?« »Natürlich. Sie war doch bei mir.« »Wieso? Ich meine – was hat sie denn?« »Wir sprechen gleich darüber. Da Sie gerade Strohwitwer sind und ich gewissermaßen auch, könnten wir einen Drink miteinander nehmen.« Keesby hatte seine massige Figur an der schmächtigen Gestalt des Buchhalters vorbeigeschoben. Seine Augen, die jetzt nicht mehr hinter der schwarzen Brille verborgen waren, flogen durch den kurzen Flur. Nirgends eine Spur von Margret Hutton. »Eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht Mrs. Hutton gesehen haben.« »Wen?« »Ach, eine Patientin. Sie war bei mir zur Untersuchung. Und plötzlich wurde bei mir ein Fenster zerschossen. Irgend so ein Bengel hat mit einer Steinschleuder eine meiner Milchglasscheiben zertrümmert. Und als ich mich dann umblickte, war die Frau vom Behandlungstisch verschwunden.« »Nein«, stammelte Scranton, »nein, nein.« »So, Sie haben also niemanden gesehen?« Keesby war selbst viel zu erregt, als daß ihm die Erregung des anderen hätte auffallen können. Allerdings verstand er seine Erregung besser zu meistern als der im jahrelangen Kampf mit seiner Frau nervlich zermürbte Scranton.
»So, ich habe gedacht, daß sie vielleicht hier in die Wohnung geflüchtet wäre.« »Nein, nein.« »Ich dachte nur, weil ich die Tür gerade zugehen sah.« »Das – das liegt daran, daß ich gerade nach Hause gekommen bin. Wissen Sie, ich komme eben vom Bahnhof. Weil ich meine Frau ja weggebracht habe. Sie ist nach…« »… Detroit gefahren, ich weiß«, unterbrach ihn Keesby nicht ohne Schärfe. Gleich darauf ärgerte er sich darüber, daß er sich hatte gehenlassen. »Wir sollten uns nicht aufregen, Mr. Scranton. Es wird sich alles finden. Zunächst werden wir beide einmal miteinander einen guten Kognak trinken. Es ist eine alte Flasche, ich verwahre sie schon seit einer ganzen Weile. Sie stammt noch von meinem Freund Ted, der sie mir vor zwei Jahren zum Geburtstag schenkte. Es ist ganz bestimmt eine Kostbarkeit in einer solchen Zeit…« »Ja, ja, ganz gewiß. Vielleicht könnten wir heute abend irgendwann noch…« »Nein, nein, nicht heute abend, gleich jetzt, Mr. Scranton. Sie müssen verstehen, daß man so etwas gleich erledigen muß. Sie wissen doch: ich wollte mit Ihnen über Ihre Frau sprechen. Außerdem muß ich ja wieder an die Arbeit. Wahrscheinlich wird Mrs. Hutton zurückkommen. Vielleicht ist sie nur irgendwohin gelaufen. Das Verrückte ist, daß sie sich nicht einmal die Zeit genommen hat, sich anzuziehen. Ich will Ihnen nämlich anvertrauen«, sagte er, während er sich zu
Scranton hinunterbeugte, der einen halben Kopf kleiner war als er, »sie ist nicht ganz… Sie verstehen schon.« Scranton nickte hastig. Plötzlich nahm der Arzt, der wieder die einzelnen Zimmertüren gemustert hatte, den Kopf herum und blickte in das Gesicht des Buchhalters. Auf einmal sah er etwas, was ihm bisher nicht aufgefallen war, und zwar die unnatürlich geweiteten Pupillen Scrantons. Und er sah die großspurige blaurosafarbene Haut, wie sie in einem menschlichen Antlitz nur in allergrößter Erregung wahrzunehmen ist. »Was haben Sie, Mr. Scranton?« »Was soll ich denn haben? Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht, Doktor!« Keesby kam einen Schritt naher, blieb dicht vor ihm stehen und blickte ihm in die Augen. Dann setzte er den linken Daumen unter das untere rechte Augenlid und zog es hinunter. »Irgend etwas los?« Scranton schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein, nein, Doktor, es ist nur, ich habe noch einiges zu tun. Wir können uns bestimmt heute abend noch sehen. Ich komme rauf zu Ihnen…« Keesby griff jetzt unter das andere Auge, zog auch da das Lid herunter und schüttelte den Kopf. »Schon mal was mit dem Herzen gehabt?« »Nein«, stammelte Scranton, und seine Stimme war heiser vor Erregung.
»Hm, Sie sind fürchterlich erregt. Doch nicht meinetwegen?« »Nein, wirklich nicht!« »Gut, dann werden wir beide jetzt kurz miteinander anstoßen.« Er stellte die Gläser auf die Flurkommode und goß ein. Damned! Welches war jetzt das Glas, das er präpariert hatte? Aber der Kognak zeigte es ihm schon. Ein winziger Ölfilm zog sich in Scrantons Glas in einer spitzen Schleife in sanften Windungen auf die Mitte des Flüssigkeitsspiegels. Es war eine ganz kleine Spur von Öl in der Cretosinmischung. Der Kognak in dem anderen Glas schimmerte klar wie Kristall. Er nahm es auf und prostete Scranton zu. Mit zitternder Hand griff Scranton nach dem Kognak, hob ihn an, wollte ihn dann aber wieder abstellen. Er hat sie gesehen! hämmerte es im Kopf des Arztes. Er hat sie gesehen, und er weiß alles! Seiner Erregung ist es deutlich anzusehen. Er muß sterben! »Trinken Sie, Scranton! Sie haben es nötig! Sie müssen unbedingt trinken. Ich verordne es Ihnen!« Scranton hatte das Glas wieder hochgenommen und hielt vor dem Mund noch einmal inne. »So trinken Sie doch!« Der Buchhalter wollte das Glas wieder absetzen, weil ihm die Kehle vor Angst wie zugeschnürt war. Aber der Doktor trat dicht an ihn heran. Mit eindringlicher Stimme herrschte er ihn an:
»Trinken Sie schon, Scranton!« Da kippte der andere den vergifteten Kognak in die Kehle. Es war nur eine winzige Spur der Cretosinmischung, die die Glaswände angefeuert hatte. Aber ihr Gelosilgehalt wirkte doppelt so gefährlich wie die gleiche Menge Strychnin. Der Arzt setzte die Flasche auf die Kommode und stellte jetzt auch sein Glas ab. Gebannt hing sein Auge an dem Gesicht des anderen. »Die Frau ist hier, Scranton.« Er hatte es völlig ruhig gesagt. Aber die Wirkung war ungeheuerlich. Der andere griff plötzlich nach der Flasche und riß sie hoch, um sie Keesby auf den Kopf zu schmettern. Der wich irgendwie aus, und die Flasche zerschellte auf der Kommodenkante. Als Scranton mit dem aufgerissenen Flaschenhals, der ja eine gefährliche Waffe darstellte, auf Keesby zuging, riß der den linken Fuß hoch und stieß ihn ihm derb in den Unterleib. Mit einem röhrenden Schrei torkelte der Getroffene zurück und brach vor der Wohnzimmertür zusammen. Als er sich wieder aufrichtete, blickte Keesby ihn aus kalten Augen an. Denn es war nur ein Aufrichten kurz vor dem völligen Zusammenbruch. Scranton hatte sich erhoben, hatte aber plötzlich das Gefühl, daß sich ihm alles vor den Augen drehte. Er schwankte gegen den Türrahmen und glaubte, daß es noch von dem Tritt herrührte. Verzweifelt preßte er die
Hand auf den Leib, verzerrte das Gesicht, machte zwei, drei Schritte vorwärts, verzerrte das Gesicht wieder zu einer scheußlichen Grimasse und preßte jetzt beide Hände auf den Leib. Ja, es war der Leib, der ihn schmerzte und zwar so entsetzlich schmerzte, als wenn ein Rasiermesser unentwegt durch die Magenwände gezogen würde. Dann stolperte er nach vorn und sog die Luft noch einmal tief ein. Aber den Schrei, den er ausstoßen wollte, erstickte Keesby mit der Hand. Scranton sackte nach vorn und fiel aufs Gesicht. Keesby beugte sich sofort über ihn, wälzte ihn auf den Rücken und herrschte ihn an: »Reden Sie, Scranton, was hat sie gesagt?« »Eh – eh –« »So sprechen Sie doch. Sagen Sie, was sie Ihnen erzählt hat.« Da rutschte der Kopf des anderen zur Seite. Gregory Scranton war tot. Das mörderische Gift hatte ihn ausgelöscht. Keesby starrte auf sein Gesicht, richtete sich dann langsam auf und stand breitbeinig über der Leiche des anderen. Instinktiv griff er nach dem Drehgriff der Tür zum Wohnzimmer, schob sie auf und blieb wie angenagelt auf ihrer Schwelle stehen. Da lag sie. Vor der Couch am Boden auf einer schlechten wuscheligen Perserbrücke. Mit kalkigem Gesicht und aufgerissener Bluse. Ihre Zunge war dick
geschwollen und hing aus dem Mund. An ihrem weißen Hals waren die Würgemale deutlich zu sehen. Herbert Keesby hatte das Gefühl, daß sein Schädel wie ausgepumpt war. Scranton hatte sie erwürgt! Und er – er hatte ihn vergiftet! Einen Mord hatte er begangen, um einen Mörder zu beseitigen! Ein Irrsinn ohnegleichen! Er wandte sich um, stürmte in den Flur, nahm die beiden Gläser mit und schlich zur Tür. Behutsam öffnete er und lauschte in den Hausgang. Alles still. Er eilte hinauf, öffnete die Tür zu seiner Praxis und blieb schwer atmend im Flur stehen. Um Gottes willen! Was war geschehen? Vor kaum zehn Minuten hatte die Frau sich auf seinen Tisch gelegt, um sich von ihm untersuchen zu lassen. Was war in diesen unseligen zehn Minuten nicht alles geschehen? Er hatte sich vergessen, beide Hände auf ihre Brüste gepreßt und sich mit keuchendem Atem über sie gebeugt. Dann plötzlich war das Fenster zersprungen – und die Frau war geflüchtet. Eine Patientin war aus seiner Praxis geflüchtet, um sich in Sicherheit zu bringen! Sie hatte sich eine Etage tiefer in die Wohnung jenes Mannes gerettet, der ihr den Tod gegeben hatte. Alles innerhalb von zehn Minuten. Und dann war er gekommen und hatte Scranton getötet, weil er davon überzeugt war, daß er von der Frau erfahren hatte, was sich oben in der Praxis abgespielt hatte.
Hätte er doch bloß vorher einen Blick in den Wohnraum geworfen, dann wäre das alles unnötig gewesen. Dann wäre Scranton allein ein Mörder gewesen. So aber hatte er sie moralisch beide auf dem Gewissen. Die Frau moralisch, und Scranton hatte er ja tatsächlich umgebracht. Mit hängendem Kopf ging er in das Behandlungszimmer, starrte auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, und blickte dann auf die Klappe, durch die er sie beobachtet hatte. Dann stand er am Schreibtisch und starrte auf den grünen Filz der Tischplatte, auf die Karteikarte, die noch da lag und ihren Namen trug. Er nahm sie auf, starrte auf die Buchstaben, zog dann sein Feuerzeug heraus und hielt die Karte über die Flamme. Erst als sie völlig verbrannt war, ließ er sie drüben über dem Handwaschbecken fallen und spülte sie durch den Abguß. Als er sich umwandte, stellte er zu seiner Verblüffung fest, daß im Haus gegenüber die Lichter im Korridor aufflammten. Das hatte er doch bis durch seine Milchglasscheiben nicht sehen können. Ach ja, das Fenster, es war ja zersprungen, hatte zwei Löcher. Einige der Scherben lagen noch vor seinem Schreibtisch. Mitten im Raum blieb er stehen, preßte die zehn Finger gegen seine Schläfen und starrte auf das Fenster. Wie lange hatte er es vorhin auf gehabt? Allmächtiger! Wie lange hatte es offen gestanden? Sekundenlang?
Lange genug, um einem Menschen Einblick in den Raum hier zu gewähren, der ja hell erleuchtet war? Genau über dem Behandlungstisch brannte doch die große Operationslampe, die er sich für achtzehnhundert Dollar gebraucht in der Vincenz-Klinik gekauft hatte. Taghell war hier alles erleuchtet gewesen. Ein Beobachter drüben von der anderen Seite konnte zwar jetzt durch die zwei Löcher in der Scheibe nicht den Raum übersehen und auch nicht den Behandlungstisch. Aber vorhin, als er das Fenster sperrangelweit offenstehen hatte, da war der Blick zum Behandlungstisch frei gewesen, in dem grellen Licht mußte der Junge die Frau auf dem Tisch gesehen haben. Er mußte beobachtet haben, wie sie hochsprang und wie von Furien gehetzt auf die spanische Wand zuschoß, um ihre Sachen zu holen. Er mußte die ganze panische Flucht durch den Behandlungsraum mit angesehen haben. Keesby trat an den Lichtschalter und löschte die Lampen. Auch die Schreibtischlampe knipste er aus. Minutenlang stand er da und blickte vor sich hin. Draußen war es dämmrig geworden. Wie spät war es überhaupt? Er blickte auf seine Uhr. Sie war stehengeblieben. Sinnlos schüttelte er das Handgelenk hin und her, ging dann ins Bestrahlungszimmer und blickte da auf die Uhr. Aber anstatt auf die Wanduhr zu sehen, blickte er auf die Minutenuhr, die für die Bestrahlungszeiten über den beiden Liegen angebracht war.
Kopfschüttelnd verließ er den Raum, ging zurück, wusch sich die Hände, reinigte dann sorgfältig die beiden Gläser, putzte sie ab, schob sich die Serviette, mit der er sie abgeputzt hatte, in die Hosentasche und stellte die Gläser weg. Dann zog er den weißen Kittel aus, nahm seine Jacke und zog einen leichten hellen Staubmantel über. Wie immer hatte er den Kragen hochgestellt und verließ seine Wohnung. Ganz langsam ging er die Treppe hinunter. Mrs. Durbridge, die irgendwo in den fünf Geschossen über ihm wohnte, kam vorbei, grüßte ihn mit einem spitzmündigen Lächeln, verrenkte den Kopf dabei und blickte ihm nach. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, sah zurück, nickte dann noch einmal freundlich und ging weiter. Da hinter dieser braunlackierten Tür mit dem Schild Scranton lag ein Toter! Das heimtückische Gift, das Keesby ihm verabfolgt hatte, hatte ihn getötet. Und eine Tür weiter im Wohnzimmer der Scrantons lag die erwürgte Frau. Wieder ging er die Treppen hinunter und blieb unten vor der Tür stehen, um die Luft tief in die Lungen zu saugen. Er suchte nach seinen Zigaretten, fand sie nicht, ging ein Stück weiter bis zu dem Geschäft an der Ecke und zog sich welche aus einem Automaten. Scheußlich schmeckte das Kraut. Er warf die kaum angerauchte Zigarette sofort weg und zertrat sie.
Ein alter Neger, der am Rinnstein gesessen hatte und nach der Zigarette greifen wollte, schüttelte den Kopf und ballte die Faust. Scranton beachtete ihn nicht, ging weiter, bog in die Ress-Park-Avenue ein und betrat dann den ersten Hausgang. Er blieb stehen, ging zurück und blickte über die Straße. Drüben war ein Hutgeschäft. Er suchte sich einen hellgrauen Hut aus Antilope aus, zahlte, überquerte die Straße wieder, zog sich den Hut tief in die Stirn und setzte seine dunkle Brille wieder auf. Was hatte er vor? Er mußte den Jungen finden! Ohne sich Gedanken darüber zu machen, was er denn mit dem Kind anfangen wollte, setzte er seinen Weg fort. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb er stehen. Oben war der leichte Schritt einer Frau zu hören. Keesby blieb so stehen, daß das Flurfenster in seinem Rücken war, die Frau also sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte. »Entschuldigen Sie bitte, Miß, ich bin von der Schulaufsichtsbehörde und habe Heimbesuche zu machen. Hier wohnt doch zunächst ein kleines Mädchen…« »Ein Mädchen…?« »Nein, warten Sie«, sagte er, griff in die Jackentasche, nahm seine Brieftasche heraus und tat, als folgte er mit dem Zeigefinger einer Liste. »Nein, das ist der kleine…« »Das müßte der kleine Benny Coster sein.«
»Richtig, Bernhard Coster, da steht es.« »Ja, Benny, der wohnt hier.« Wieder tat Keesby, als würde er den Zeigefinger unter einem Namen weiterführen und sagte dann: »Er müßte auf der Vierten wohnen.« »Das stimmt, er wohnt auf der vierten Etage, und zwar über uns. Es ist ein netter Meiner Junge. Hat er etwas ausgefressen?« »O nein, nein, absolut nicht. Aber Sie wissen vielleicht, daß von Zeit zu Zeit Heimbesuche gemacht werden.« »Ja, zu meiner Zeit war das noch nicht so. Aber heute ist ja alles anders.« »Ach ja, ziemlich vieles.« Es war gar nicht so leicht, mit verstellter Stimme zu sprechen. Er mühte sich um einen tiefen Ton und ein rollendes R, und außerdem gab er sich etwas den texanischen Slang. Keesby war niemals in seinem Leben in Texas gewesen. Ja, eigentlich nicht einmal aus Chicago herausgekommen; so eintönig war sein Leben verlaufen. Aber der lange Toonby, mit dem er jahrelang auf einer Station in dem großen Männerkrankenhaus zusammengearbeitet hatte, der war aus Texas gewesen und war ihm mit seinem singenden Tonfall unentwegt auf die Nerven gefallen, ohne es zu ahnen. Von ihm hatte er einiges abgehört, das ihm jetzt zustatten zu kommen schien. Da stand sie vier, fünf Stufen vor ihm und lächelte freundlich. Sie hatte ein oval geschnittenes Gesicht, sehr blondes langes Haar, trug eine flammendrote hübsche
Bluse und einen weißen Rock. Ihre Beine waren wohlgeformt und steckten in hellen Sommerschuhen. In der linken Hand hielt sie eine weiße Tasche. Eine bildschöne junge Frau. Ein Traum gegen die einfache Margret Hutton, die jetzt drüben tot in der Wohnung Scrantons lag. Da lächelte die Frau noch einmal, nickte und ging weiter. Keesby lüftete den Hut nur ganz wenig, so daß sein Haar nicht zu sehen war, und murmelte einen dünnen Dank. Dann blickte er hinter der Frau her, die leichtfüßig die Treppe hinunterging und auf die Haustür zuhielt. Die Hände hatte er tief in die Taschen seines Staubmantels geschoben, als er die Treppen weiter hinaufstieg. Zum Teufel, es hatte keinen Zweck. Er konnte es sich nicht leisten, sich hier noch Zeugen auf den Hals zu ziehen. Eben wollte er sich umwenden, als er glaubte, nicht richtig zu sehen: Vor dem nächsten Hausflurfenster sah er einen Jungen sitzen, der an dem Gummi seiner Steinschleuder herumzurrte. Keesby musterte ihn aus schmalen Augen. Wenn das kein Wink des Himmels war! »Benny!« Der Kopf des Jungen flog herum. »Komm mal her.« Der Junge sprang vom Sims herunter, schwang sich auf das Treppengeländer, rutschte ein ganzes Stück
hinunter, stoppte dann aber plötzlich und sah den Mann zögernd an. »Ja –?« »Ich bin Mr. Barg von der Schulaufsichtsbehörde. Du bist doch Bernhard Coster?« »Ja«, kam es eingeschüchtert zurück. »Na, dann komm mal mit. Wir müssen uns unterhalten.« Der Junge machte einen Schritt vorwärts, zögerte dann aber wieder und wollte stehenbleiben. Da hob Keesby die Linke und drohte: »Na, du willst doch wohl keinen Ärger bekommen?« »Ich verstehe nicht, Mister, wieso? Der Lehrer…« »Wir werden uns darüber unterhalten. Es wird dir ja bestimmt lieber sein.« »Aber – um was geht’s denn?« »Das wirst du schon wissen.« Der kleine Ben dachte plötzlich an drei verschiedene Dinge. Einmal an die schlechte Leistung seiner letzten Rechenarbeit, und dann dachte er an das Mädchen, dem er so fest an den Zöpfen gezogen hatte, daß sie laut schreiend davongelaufen war. Und vor allem dachte er an die große Scheibe, die er hinter dem Schulbus in einem Anbau zerschossen hatte. Es konnte ja nicht wegen der Scheibe sein, die er da drüben bei dem Arzt vorhin zertöppert hatte. So schnell würden die ihn doch nicht von der Schule aus finden. Daß er hier den Arzt selbst vor sich hatte, darauf wäre der Elfjährige niemals gekommen.
Keesby ging mit schwerem Schritt die Treppe hinunter, ohne sich nach dem Jungen umzusehen. Aber mit angestrengten Sinnen lauschte er auf dessen Schritte. Benny Coster folgte ihm. Er hatte viel zuviel Angst, als daß er es gewagt hätte, jetzt etwa davonzulaufen. Wenn der Mann von der Schulaufsichtsbehörde kam, dann wußte er über alles Bescheid. Er war ja schon auf dem Weg zu seiner Wohnung gewesen. Was würde der Vater sagen, der seit drei Tagen daheim war und seinen Urlaub da absaß, weil sie nicht mal Geld genug hatten, daß er in seinem Urlaub verreisen konnte. Er war ohnehin schlecht gelaunt, und so etwas würde ihm gerade noch fehlen. Als sie unten auf der Straße waren, schritt Keesby rasch aus. Der Junge blieb einen halben Schritt hinter ihm. An der nächsten Straßenecke blieb Keesby stehen. »Na, Benny«, sagte er, »dann wollen wir mal sehen, daß wir einen Bus kriegen.« Einen Bus? Was hatte denn das zu bedeuten? Aber Ben war viel zu eingeschüchtert, als daß er den finsteren Mann von der Schulaufsichtsbehörde zu fragen wagte, wozu sie dann einen Bus nehmen müßten. Sie stiegen in den 76er und fuhren bis hinüber zur Western Avenue. Da gingen sie ein Stück zu Fuß den Garfield Boulevard hinunter bis zum Sherman Park. Dort stiegen sie wieder in einen Bus, der sie zur 55. Straße führte. Langsam gingen sie hinunter zum Jackson Park.
Keesby sprach überhaupt nichts. Als sie den Parkrand erreicht hatten, wurde dem Jungen plötzlich ziemlich mulmig zumute. »Sind wir bald da?« »Gleich«, sagte Keesby, der stehenblieb und wieder auf einen Bus zu warten schien. Jetzt fuhren sie am Wasser entlang hinauf zum 10. Distrikt. »So«, sagte Keesby, als sie ausstiegen, »und jetzt wollen wir uns über das alles mal unterhalten, Benny.« Der Junge schluckte schwer. Seine Hand krampfte sich um die kleine Steinschleuder, die er in der rechten Hosentasche hatte. Mehrmals unterwegs hatte er überlegt, ob er sie wegwerfen sollte. Aber sie war doch so teuer gewesen. Drei große bunte Glaskugeln hatte er dafür eintauschen müssen, ehe der dicke Fred sie ihm überlassen hatte. Sie gingen von einer Straßenecke zur anderen, bogen in die engen Gassen oben beim Shore Drive ein, blieben in der Huron Street stehen, und, Keesby blickte zum Himmel hinauf. Damned, es konnte ja noch Stunden dauern, bis es dunkel wurde. »Nun fang schon an«, sagte er auf einmal. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mister.« »Mein Name ist Barg.« »Wovon soll ich denn anfangen?« »Nun berichte zunächst mal. Du weißt schon.« »Ja, also, das kam so, ich meine – ich hätte sie nicht an den Zöpfen gezogen, aber sie hat gespuckt. Jawohl, Mister, sie hat gespuckt nach mir.«
»Red keinen Unfug.« »Es ist ganz bestimmt wahr.« »Ach, das mit den Zöpfen interessiert mich nicht. Du weißt schon, was ich meine, das mit der Schleuder…« Benny schluckte und griff sich verzweifelt in seinen blonden Schopf. »Das war eine ganz dumme Sache, Mr. Barg«, preßte er schließlich zitternd hervor. »Ich konnte mit der Schleuder noch nicht umgehen und wollte sie probieren, als ich sie von Freddy bekam.« »Du hast sie also von Freddy?« »Ja, von Freddy Black.« »Das werde ich mir gleich mal aufschreiben.« Keesby tat so, als würde er sich den Namen notieren. »Dann probierte ich die Schleuder, und versehentlich ging der Stein in das Fenster – Sie wissen schon.« »Ja, ich weiß schon. Aber das ist nicht das einzige, was ich von dir wissen möchte, Coster…« Er nannte ihn bewußt Coster, um den Schulton in den Vordergrund zu bringen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen Mr. Barg.« Da blieb Keesby stehen und schnarrte ihn in drohendem Ton an: »Ich meine das, was du vorhin getan hast, als du die Fensterscheibe drüben bei dem Arzt zertöppert hast.« Flammende Röte übergoß das Gesicht des Kindes. »Nun red schon!« Bens Kopf sank auf die Brust hinunter.
Keesby griff nach seinem Kinn und schob ihm den Kopf brutal hoch. »Du sollst den Mund aufmachen!« Der Junge schwieg. Klatsch! brannte eine Ohrfeige in dem Kindergesicht. »Ich habe gesagt, du sollst reden!« »Was denn?« stotterte der Junge weinerlich. »Du sollst sagen – weshalb hast du’s getan?« »Ich weiß es nicht.« »Du hast also die Scheibe zerschossen?« Der Junge nickte. »Und weiter? Du hast sie zerschossen, und was geschah dann?« »Der Doktor kam ans Fenster.« »Kanntest du ihn?« Ben schüttelte den Kopf. »Und was hast du dann gesehen?« Da senkte Ben den Kopf. Er schwieg. Er ahnte nicht, daß von dieser Antwort sein ganzes Leben abhing. Sein Leben, das er in einer Abendstunde dieses Tages in einem dumpfen Kanalwinkel des zehnten Distrikts elendiglich verröcheln würde. Keesby ging weiter mit ihm durch die Straßen und Gassen, und seine Füße brannten ihm schon von dem ungewohnten Marsch. Seine Waden schmerzten. Aber er mußte weiter. Endlich begann es zu dämmern. Er stand an der Hubbard Street und kam über die Northwater Street an den kleinen Chicago River. Da
blickte er zur Michigan Avenue hinüber, die in einer breiten Brücke den Chicago River überquerte. Hier unten am Ufer, unweit vom Lake Shore, war das Seeufer. Der Chicago River hatte hier mehrere kleine Seitenkanäle, die zur Northwater Street hinüberführten. Obgleich es jetzt schon ziemlich spät war, wollte es doch nicht richtig dunkel werden. Plötzlich blieb der Junge stehen. Keesby schrak zusammen. Er sah sich nach ihm um. »Was hast du?« »Ich will nicht mehr!« »Was ist los?« »Ich will nicht mehr.« »Was soll das heißen?« »Ich bin müde. Ich will nach Hause«, nörgelte der Junge, und dann wurde seine Stimme lauter und lauter. »Ich laufe hier die ganze Zeit mit Ihnen rum, ich habe Hunger und bin müde. Und meine Mutter wartet.« Lauter und lauter hatte er geredet. Keesby hatte sich nach allen Seiten umgesehen, ließ den Blick an den Giebeln der uralten kleinen zweigeschossigen Häuser hinaufgleiten, und dann sprang er auf Ben zu, preßte ihm die Rechte um die Kehle und stieß ihn gegen die Hauswand. Das Röcheln des Kindes erstickte er mit seiner kurzfingrigen Linken. Der Junge zappelte und schlug verzweifelt um sich. Aber der Mann preßte ihm den rechten Oberschenkel vor die Beine, so daß er sich mit den Füßen nicht mehr wehren
konnte, ließ die Rechte vom Hals des Kindes, griff nach seinen beiden Händen und herrschte den Jungen an: »Wenn du jetzt noch einen Laut von dir gibst, kannst du was erleben!« Ben schwieg. Noch einmal sah sich der unheimliche Arzt von Brookfield nach allen Seiten um. Dann legte er beide Hände um den Hals des Jungen und drückte zu. Fester und fester, mit brutaler Kraft. In seiner Todesangst versuchte das Kind sich zu wehren, griff mit beiden Händen in das Gesicht des Mannes und zerrte ihm die Brille herunter, die auf dem Pflaster zersprang. Dann schwanden dem Jungen die Sinne. Er sackte lautlos zurück. Aber noch gaben ihn die würgenden Hände Keesbys nicht frei. Erst als er schlaff in seinen Händen hing, ließ der Mörder los, nahm ihn auf den Arm, bückte sich nach der Brille, schob mit dem linken Schuh die Scherben auseinander, steckte das Brillengestell in die Tasche und nahm den Jungen hoch. Er brauchte nur fünf, sechs Schritte über die schmale Straße zu machen, dann konnte er ihn loslassen. Es gab ein klatschendes Geräusch, als der Körper des erwürgten Kindes auf das schmutzige Brackwasser in dem Kanal aufschlug. Keesby schrak zusammen und blickte sich nach allen Seiten um. Wie weit hatte man das Geräusch hören können?
Seine Augen tasteten die alte, windschiefe Häuserfront ab, aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Da wandte er sich langsam um und blickte auf das dunkle Wasser hinunter. Befriedigt stellte er fest, daß der Körper versunken war. Leichen kommen nach einiger Zeit wieder hoch. Wer wüßte das besser als ein Arzt! Aber bis dahin würde einige Zeit vergangen sein. Er ging die Straße hinauf bis an die nächste Ecke, nahm da das Brillengestell aus der Tasche, zerbog es und schleuderte es in den Chicago River. Dann lief er zur Michigan-Brücke, und nach wenigen Minuten war er im Gewimmel der großen Michigan Avenue untergetaucht. Wolkenlos spannte sich der sternbesäte Nachthimmel über die Millionenstadt, und niemand ahnte, daß der Mann, der da an den Schaufenstern entlangging und die Hände tief in seinen Manteltaschen vergraben hatte, ein dreifacher Mörder war. Ein dreifacher Mörder! Denn auch den Tod der Margret Hutton hatte er moralisch verschuldet. * Es war eine Nacht ohne Schlaf für den Mörder. Keesby saß daheim im dunklen Wohnzimmer und starrte in den Leuchtglobus, dessen Licht magisch grünlichen Schimmer verbreitete. Was war an diesem Tag aus ihm geworden? Es war der Tag, der sein Leben vernichtet hatte. Aber war es
nicht nur die Quersumme seines ganzen Lebens gewesen, was sich da heute abend abgespielt hatte? War es nicht das, was schon vor zehn, ja, schon vor neunzehn Jahren ebenso hätte geschehen können? Damals, als die Frau ihm die Peitsche durchs Gesicht gezogen hatte? Seine Linke tastete über die Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog. Wie oft war er mit dem linken Mittelfinger der Narbe gefolgt? Wie oft hatte ihn dabei der Gedanke an Berryl geplagt. In der Zeit, nachdem das damals geschehen war, hatte er mehrfach vorgehabt, sie zu töten. Dreimal war er mit geladenem Revolver unmittelbar neben ihrer Haustür gewesen und hatte auf sie gewartet. Sie war aber nicht gekommen. Dann hatte er ihr noch zweimal auf dem Weg zum Tanzklub aufgelauert; auch ohne Erfolg, denn jedesmal hatte sie einen männlichen Begleiter bei sich. Und dann hatte er sie noch einmal gesehen, als sie in ein Café ging. Es war Herbst gewesen; sie war da mit einer Freundin verabredet und kam später allein heraus. Es war drei Jahre nach dem Schlag gewesen, den sie ihm versetzt hatte. In der rechten Hand hielt er die Spritze, in die er das teuflische Cretosin gezogen hatte. Er war tödlich entschlossen gewesen, ihr die Nadel durch die Kleidung in den Körper zu stoßen. Aber als sie dann herauskam und nur anderthalb Schritt von ihm entfernt stehenblieb, um den Mantelkragen hochzuschlagen, da war ihm die Spritze aus der Hand gefallen. Berryl war erschrocken herumgefahren und hatte ihn angestarrt. Als sie den Blick senkte, sah sie die Spritze am
Boden liegen. Mit leichenblassem Gesicht hatte sie dagestanden, dann war sie laut schreiend davongerannt. Er hatte sich gebückt und die Splitter mit seiner Buskarte zusammengeschoben, um sie in eine Zeitung zu wickeln. Mehrere Leute waren stehengeblieben, aber er hatte rasch genug gehandelt, so daß niemand die Spritze, die er als Mordinstrument benutzen wollte, gesehen hatte. Seit diesem Tag hatte er es aufgegeben. Doch jetzt war er ein Mörder. Zwei Menschen hatte er getötet. Den einen mit Gift, den anderen mit seiner eigenen Hand. Und die Frau, die er wie ein wildes Tier in seiner Praxis angefallen hatte, lag jetzt auch tot auf einer billigen Perserbrücke in der Wohnung der neugierigen Mrs. Scranton. Man mußte die Gedanken von den Dingen wegbringen, die einen quälten. Man mußte an andere Dinge denken, beispielsweise an Berryl! Nein, nicht an Berryl! Man konnte an Mrs. Scranton denken, die eine komische Locke in der Stirn hängen hatte, zwei scharfe Falten zwischen den Brauen und einen dünnen Mund, der übermäßig stark geschminkt war. Mit hellroter Schminke. Es hatte etwas Lächerliches, dieses Frauengesicht mit der viel zu langen Nase und dem kurzen, kleinen Kinn, den großen Glasohrringen und den Luchsaugen, die den Arzt neugierig, ja, fast lüstern beobachtet hatten. Er hatte sich damals überlegt, daß diese Frau ganz sicher ihren Mann betrog, denn Frauen, die andere Männer so ansehen, hatten das Interesse an der Männerwelt noch nicht aufgegeben, es waren Frauen,
die jede Gelegenheit wahrnahmen. Er wußte nicht, ob es stimmte, was er sich da konstruiert hatte. Aber er war doch fest davon überzeugt, denn es war die Welt, die er sich selbst gebildet hatte. Man lebte ja immer in zwei Welten: in einer, die man wirklich erlebte, und in der anderen, die man sich vorstellte. Und beiden konnte man nicht entrinnen. Es war vier Uhr in der Nacht, als er endlich aufstand, ins Badezimmer ging, um zu duschen. Dann legte er sich auf sein Bett und wurde erst gegen elf Uhr am nächsten Morgen wach. Es war ein Samstag. Er hatte die Praxis heute nicht geöffnet. Schon seit einiger Zeit praktizierte er samstags nicht mehr. Dennoch machte er sich auf den Weg zur Ress-Park-Avenue. Als er an der Ecke der Jester Avenue stand, um den Fahrdamm zu überqueren, sah er sie plötzlich. Die hübsche junge Frau aus dem Haus, in dem Benny Coster wohnte – gewohnt hatte. Sie trug diesmal eine weiße Bluse, einen grünen Rock, weiße Schuhe und eine weiße Handtasche. Sie hatte einen Sonnenschirm in der Hand und wollte eben die Straße überqueren. Keesby starrte sie aus dunklen Augen an. Diese Frau war jetzt der einzige Mensch, der noch eine Brücke zu ihm, dem Mörder des Jungen, hätte schlagen können. Denn nur sie hatte den Mann von der »Schulaufsichtsbehörde« gesehen, und wenn der Junge vermißt wurde, dann würde sie der einzige Mensch sein,
der sich daran erinnerte, daß Benny von einem Mann gesucht wurde, der von der Schulaufsichtsbehörde kam. Sie würde der Polizei den Mann beschreiben können. So genau vielleicht, daß man auf ihn, Keesby, kommen konnte. Seine Augen wurden schmäler und schmäler. Wie hatte er nur den Irrsinn begehen können, mit ihr zu sprechen! Die Frau sah ihn gar nicht, überquerte die Straße und war schnell drüben im Gewimmel der Menschen auf dem Bürgersteig verschwunden. Keesby stand noch minutenlang da und blickte hinter ihr her. Gedankenverloren setzte er dann den Weg zu seiner Praxis fort. Alles war so seltsam, die schweigsame Wohnungstür von Mr. Scranton, die Treppe, die hinaufführte und auf der er gestern Mrs. Durbridge begegnet war. Dann die Räume der Praxis. Er stand im Wartezimmer, blickte wieder auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, der jetzt noch etwas zurückgerückt war, und blickte auf das Milchglasbild, das ein indianisches Jagdmotiv zeigte – öffnete dann die Tür zu seinem Behandlungszimmer und starrte auf den Tisch, auf dem das weiße Leinentuch lag. Er ging darauf zu und sah, daß es leicht zerknittert war. Sofort nahm er es herunter, schob es in seine Aktentasche und legte ein neues auf. Dann aber zählte er die neuen Tücher im Schrank und stellte fest, daß nur noch vier da lagen.
Wenn Miß Couler nun wußte, daß es fünf gewesen waren? Teufel auch, was jetzt? Ach was, sie würde denken, daß sie sich getäuscht hatte. Niemals traute sie ihm zu, daß er selbst ein Leinen auf den Behandlungstisch zog. So etwas war noch nie passiert. Und wenn schon, so etwas konnte ihn nicht verraten. Aber die Scheibe, die er im nächsten Augenblick vor sich sah, die zertrümmerte Scheibe! Er blieb da stehen, wo er stand, und starrte durch die beiden Löcher, in denen die Glasstücke fehlten, auf den grauen Häusergiebel hinüber, auf das Korridorfenster der vierten Etage. Da hatte gestern der Junge mit der Steinschleuder gesessen. Jetzt lag er in einem der Kanalschächte und war untergetaucht. Wenn er eines Tages wieder einmal hochkommen sollte, dann war er längst irgendwo andershin abgetrieben, oder er blieb für ewig unter den Rosten in der Kanalanlage liegen. Nein, Herbert Keesby hatte nicht gedankenlos gehandelt, als er den Jungen ausgerechnet dort ins Wasser geworfen hatte. Der Kanal lief da dem größten Chicago River zu, und das Wasser wurde unter den kleinen Brücken und unter den Wehren immer wieder von großen Rosten gesäubert, soweit man das säubern nennen konnte. Was man im Laufe der Zeit alles hinter den Rosten gefunden hatte, stand einmal in einer Samstagsausgabe der »Chicago News«. Es war der populäre Zeitungsmann Rufus Matherley gewesen, der einen aufsehenerregenden Bericht darüber geschrieben
hatte. Urplötzlich war es Keesby gestern eingefallen, als er mit dem Jungen durch die Straßen des 10. Bezirks lief und verzweifelt nach einer Gelegenheit suchte, das Kind stumm zu machen. Die junge Frau mit dem weißen Sonnenschirm geisterte durch sein angekränkeltes Hirn. Sie ging durch diese Stadt mit einem Wissen in ihrem Kopf, das ihm zum Verderben werden konnte. Wie weit konnte sie sich an ihn erinnern? Wie weit hatte sie ihn überhaupt gesehen? Hatte sie sein Gesicht so deutlich sehen können, daß sie es am Tag wiedererkennen würde? Das Gefährliche war dabei, daß sie nicht etwa weit von ihm entfernt wohnte, nicht etwa in einem Bezirk oben in Evanstown oder auch nur in Stickney drüben oder in Cicero; nein, sie wohnte gleich hier in dem Haus gegenüber, und zwar auf der dritten Etage. Das heißt, genau auf seiner Höhe. Wenn er sich die Zeit nahm und die Fenster beobachtete, dann würde er sie irgendwann einmal sehen. Oder sie würde ihn sehen, und das war bedeutend schlimmer! Er war mithin praktisch ständig in Gefahr, von ihr entdeckt zu werden. Durfte er es dahin kommen lassen? Die Kette, die in der sechsten Abendstunde des vergangenen Tages ihren Anfang genommen hatte, wollte kein Ende finden. Glied um Glied reihte sich aneinander. Es war die Kette des Todes. *
Drei Tage waren seit den Geschehnissen vergangen. Keesby hatte in den Zeitungen die Berichte über das Verschwinden des Jungen verfolgt. Erst war es nur ein kleiner Bericht gewesen, der am zweiten Tag erschien. Am dritten Tag war es schon ein größerer Bericht, in dem eine offene Fahndung nach dem kleinen Bernhard Coster durchgegeben wurde. Zweimal las er den Bericht und legte die Zeitung dann weg, weil Miß Couler hereinkam und eine neue Patientin ankündigte. Eine Miß Goglin. Er wollte sich erheben, wandte sich dann aber doch rasch um und nahm die Zeitung vom Tisch, da der Bericht mit der Fahndung nach dem Jungen obenauf gelegen hatte. Er faltete die Zeitung zusammen und gab Miß Couler das Zeichen, daß sie die Patientin hereinlassen könnte. Wenn er gehofft hatte, daß es diesmal vielleicht eine junge Frau sein könnte, die seine Praxis aufsuchte, dann sah er sich zum aberhundertsten Male getäuscht: Miß Goglin war sicherlich hoch in den Fünfzigern, hager wie ein Besenstiel, mit einer langen, spitzen Nase, einem dünnen Mund mit einer schlechtsitzenden Prothese und einem Adamsapfel, der ständig zwischen dem Kinn und den Brustknochen hin und her zuckte. Sie litt an Stenokardie und hatte außerdem etwas mit der Galle; und dann war ihre Blase auch nicht recht in Ordnung, wie sie ihm vorjammerte. Er hörte ihr gar nicht zu. Vor sich sah er ein ovalgeschnittenes Mädchengesicht, in dem ein frisches wasserhelles Augenpaar stand, eine kleine
Nase mit zartgeformten Flügeln und einen vollen roten, sinnlichen Mund. Er sah die weiße Bluse, den grünen Rock und stellte sich vor, wie ein solches Geschöpf ohne Bluse, ohne alles aussehen würde. »Und dann habe ich seit einiger Zeit auch Leberbeschwerden, Doktor«, drang Miß Goglins scharfe, keifende Stimme durch seine abschweifenden Gedanken. Keesby nickte und machte sich weiter automatisch Notizen. Ich muß sie umbringen! brannte es hinter seiner Stirn. »Weshalb machen Sie so ein finsteres Gesicht, Doktor!« Es war die störende Stimme von Miß Goglin, die ihn unterbrach. »Sie schauen ja gerade so drein, als ginge es mit mir schon zu Ende.« Ein dünnes Lächeln kroch um die Mundwinkel des Arztes. »Absolut nicht, Miß Goglin. Es handelt sich nur um die Notizen, die ich mir machen muß. Ich muß das ja alles festhalten, was Sie mir da sagen, damit die Behandlung auch entsprechend erfolgen kann. Also, es geht hauptsächlich um die Herzgeschichte, wie ich vermute.« »Das ist das eine und…« Sie redete zwanzig Minuten ununterbrochen – und ahnte nicht, daß sie ihm damit Gelegenheit gab, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Gedanken, die der blonden jungen Frau folgten und sie bereits mit düsteren Fäden umspannen. Es war wenige Minuten nach sechs, als er die Praxis gemeinsam mit Miß Couler verließ. Sie verabschiedeten
sich vor der Haustür, und während sich Keesby nach rechts wandte, ging Miß Couler die Straße nach links hinauf in Richtung Cicero. Keesby blieb an der anderen Straßenseite und beobachtete die Ampel. Plötzlich hatte sie ihn entdeckt. Die Blicke der beiden verfingen sich ineinander. Grün! Keesby sah, daß sie stehenblieb. Er überquerte die Straße und kam auf sie zu. Unwillkürlich ging sie zurück, wandte sich um und ging schneller vorwärts. Sie betrat den Fahrdamm, wo jetzt auf dieser Querstraße rot für sie war. In dem Augenblick, in dem sie den Kopf nach ihm umwandte, war ein großer grauer Wagen herangekommen, der sie mit seinem Kotflügel erfaßte. Aber mit äußerster Kraft hatte Keesby sie am linken Arm gepackt und schleuderte sie zurück. Er hätte später selbst nicht sagen können, wieso das möglich gewesen war. Als er jetzt dastand, auf sie niederblickte und die bebende Stimme des Fahrers hinter sich hörte, das Gemurmel der Menschen, das Quietschen von Bremsen und das Jaulen der Hupen hinter dem grauen Lieferwagen, da schloß er für ein paar Sekunden die Augen. War er denn irrsinnig! Wie hatte er sie nur aufhalten können? Sie wäre doch in den sicheren Tod gerannt! Es war nur eine normale menschliche Reaktion gewesen. Und vielleicht auch der Arzt in ihm, der den Eid auf den Äskulapstab geschworen hatte.
Es hatte sich eine Menschenmauer um die leblose Mädchengestalt am Gehsteigrand gebildet. »Ein Arzt muß her«, drang da wie aus weiter Ferne die Stimme eines Mannes an Keesbys Ohr. Er wandte sich um, zwängte sich durch die Leute, und da sagte einer: »Ach, das ist der Mann, der sie zurückgerissen hat! Vielleicht gehört er zu ihr.« »Ein Arzt muß her!« rief jetzt eine Frau. »Holt denn niemand einen Arzt!?« Keesby beugte sich nieder, griff mit einer Bewegung nach dem Puls des Mädchens, der in den Augen der Umstehenden keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, daß er der Arzt war, nach dem sie riefen. Er stellte fest, daß ihr Puls schwach ging, legte sie dann auf die Seite, so daß sie an einem eventuellen Blutsturz nicht etwa erstickte. Nach einigen Sekunden aber wußte er, daß sie unverletzt war. Der Wagen hatte wahrscheinlich erst ihren rechten Arm oder vielleicht sogar nur ihre Handtasche erfaßt, die immer noch auf dem Fahrdamm lag. Eine Frau holte sie und brachte sie ihm. Da bat Keesby einen Mann, der neben ihm stand, ihm zu helfen, die junge Frau aufzuheben. Als er sie allein auf den Armen hielt, sagte er: »Ich wohne gleich da drüben.« Es war grün. Er überquerte die Straße und hielt auf sein Haus zu. Einige Leute waren ihm noch gefolgt, aber es wurden immer weniger. Eine Frau hielt ihm die Tür auf. Dann war er allein im Hausgang und ging so schnell,
wie es ihm möglich war, mit der nicht ganz leichten Last die drei Treppen hinauf. Daß er auch kein Haus gefunden hatte, in dem ein Aufzug war! Er hatte sich sowieso schon oft darüber geärgert, daß die Leute drei Etagen zu einem Arzt hinauflaufen mußten. Wer tat denn so etwas? Wenn man den Arzt nicht gleich unten oder spätestens in der ersten Etage fand, dann ersparte man sich den Weg zu ihm. Kein Wunder, daß die Leute so spärlich kamen. Und die wenigen, die kamen, waren meistens Männer, denn Frauen scheuten die Treppen noch mehr als Männer. Vor allem junge, elegante, hübsche Frauen. So wie diese da, die er auf den Armen hielt. Als er seine Praxistür erreicht hatte, mußte er die Frau mit den Beinen herunterlassen, hielt sie mit der Linken fest, schob mit der Rechten den Schlüssel ins Schloß und zitterte vor Aufregung. Wenn jetzt nur niemand kam! Nur in diesem Augenblick nicht noch einen Zeugen! Sie war der letzte Zeuge, und er hatte sie auf eine unfaßlich gewaltlose Weise in seine Hand bekommen. Sicher, unten auf der Straße hatte es viele Zeugen gegeben. Vielleicht hundert Menschen und mehr. Aber keiner von denen gehörte hier ins Haus und kümmerte sich um ihn. Es waren Menschen aus der Masse, für die man ein Gesicht war, das wieder verschwand und mit dem Weggehen vielleicht für immer untergetaucht war. Immer noch war die junge Frau ohnmächtig. Keesby hatte sie ins Behandlungszimmer geschleppt und legte sie auf den grünen Tisch nieder.
Welch ein Glück, daß die Couler schon weg war. Das Licht hatte er noch nicht eingeschaltet. Er ging zum Fenster und kam dann zum Behandlungstisch zurück, überzeugt, daß ihn niemand beobachten konnte; vor allem nicht, wenn der Raum hier nicht erleuchtet war. Die Fenster waren eng und hoch und gaben nicht allzuviel Licht. Er öffnete ihr die Bluse am Hals und blickte in ihr kreidebleiches Gesicht. Noch niemals hatte er ein so hübsches Mädchen vor sich liegen gehabt. Wie alt mochte sie sein? Höchstens drei- oder vierundzwanzig. Zwei winzige Sommersprossen saßen auf dem kleinen Sattel ihres Nasenrückens. Links auf der Wange hatte sie einen Leberfleck. Ihre Lippen standen etwas offen und zeigten ihre gutgewachsenen weißen Schneidezähne. Wie voll ihre Lippen waren. Keesbys Atem ging noch keuchend von der Anstrengung. Unverwandt starrte er in das Frauengesicht. Es wirkte leblos, wie tot. Wie oft hatte er schon in die Gesichter von Toten gesehen. Sie hatten ihn ja über Zweidrittel seines Lebens begleitet, die Toten. Überhaupt waren es die Toten, die sein Leben gezeichnet hatten. Die tote Mutter, die allzufrüh von ihm gegangen war, hatte einen armen Teufel zurückgelassen, und der tote Vater schließlich hatte ihn aufatmen lassen. Dann war es der tote Professor gewesen, an der ersten Klinik, an der er gearbeitet hatte, der ihn ebenfalls aufatmen ließ, und dann ein Kollege, der überfahren worden war und auf dessen Platz er zu kommen hoffte. Eine ganze Reihe
von Patienten, die ihm sozusagen unter den Händen in den Krankenhäusern gestorben waren: alte, junge und sehr junge. Meistens Männer, auch einige alte Frauen. Er war ihm im Laufe der Jahre zum Weggefährten geworden, der Tod. Aber im Gesicht einer so jungen Frau wünschte man sich das Leben, das aus ihren leuchtenden Augen blickte. So wie neulich, als sie vor ihm im Treppenflur gestanden hatte. Man wünschte sich Bewegung um ihren Mund, ein Lächeln, das einen mit einem warmen Gefühl erfüllte. Man wünschte sich, daß das, was sich da unter ihrer Bluse befand, bewegte, daß es sich hob und senkte, daß es lebenerfüllt war! Er ging zu seinem Arzneischrank, nahm eine kleine Flasche heraus, öffnete sie, träufelte etwas von der Flüssigkeit auf einen Wattebausch und hielt es der Ohnmächtigen unter die Nase. Es dauerte lange, bis sie das Gesicht des Mannes deutlich sah. Es war wunderschön, in ihre Augen zu blicken, die immer größer wurden und ihn fragend anblickten. »Wo bin ich?« »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind gut aufgehoben.« »Wer – sind Sie?« »Ich bin Dr. Keesby.« »Doktor…?« Sie versuchte seiner Stimme nachzulauschen. Aber sie kannte sie nicht. Es war eine viel hellere und höhere Stimme als die, die sie zu kennen glaubte, an die sie diese Stimme erinnerte.
»Sind Sie – nicht der Herr – von der – Schulaufsichtsbehörde?« kam es da stockend über ihre Lippen. Keesby schrak zusammen. Wie ein eiskalter Strahl zuckte es durch seine Nervenbahnen und hinterließ einen physischen Schmerz in seinem Körper. Sie hat mich erkannt! Sie hat mich also erkannt. Vielleicht hätte sie es niemals herausgebracht. Aber jetzt, in diesem Zustand, da war es ihr entschlüpft, und er wußte es. Vielleicht hätte er jetzt anders reagiert, wenn er es nicht gewußt hätte. Da wollte sie sich aufrichten. Er aber drückte sie mit sanfter Gewalt zurück. »Bleiben Sie nur liegen, Miß… Wie heißen Sie eigentlich?« »Mein Name ist Granger, Simone Granger.« »Und wie alt sind Sie?« »Dreiundzwanzig.« »Wo wohnen Sie?« »In der Ress-Park-Street.« »Ach, das ist ja hier gleich die nächste Straße.« »Wo bin ich denn hier?« »In der Arthur Street.« »Was ist denn geschehen?« »Sie wären fast überfahren worden, Miß Granger.« Da richtete sie sich mit einem Ruck auf die Ellbogen auf. »Jetzt weiß ich es. Sie haben mich gerettet, nicht wahr?«
Verwundert blickte er sie an. Da sagte Simone Granger: »Ich weiß es. Ich wäre fast vor ein Auto gerannt. Ich hatte es eilig, und – plötzlich zogen Sie mich zurück. Ich war fast schon vor dem Wagen. Ich sah ihn erst, als ich am Boden lag und Bremsen kreischen hörte. Dann sah ich Sie vor mir!« Da war sie also erst in diesem Moment in Ohnmacht gefallen. Plötzlich sah Keesby zu seiner Verblüffung, wie sich ihm eine schlanke, feingliedrige Hand entgegenstreckte. Langsam hob er seine Rechte und nahm die schlanke Frauenhand, drückte sie sanft und hielt sie fest. Und da war es, das Lächeln! Es sprang in ihr Gesicht und entzündete eine Glutwelle in der Brust des Mannes. Es spiegelte sich sogar in seinem eigenen Gesicht wider, das aufgedunsen wirkte, großporig und schlaff. Er reckte sich etwas auf, fuhr sich mit der linken Hand über sein Haar und nahm das Taschentuch aus der Reverstasche, um etwas Parfümduft um sich zu verbreiten; schob es dann in die Tasche zurück und meinte, während er jetzt auch die Linke um die feinnervige Mädchenhand legte: »Na, fühlen wir uns jetzt besser?« Das Mädchen nickte. Dann wollte es sich aufrichten. »Bleiben Sie nur noch etwas liegen. Sie müssen sich erholen. Ich werde Ihnen einen Drink geben.« Als er sich umwandte und zum Schreibtisch ging, blieb er noch einmal stehen und blickte sich nach ihr um. Sie lag da, auf den rechten Ellbogen aufgestützt, und blickte ihm
nach. Ihre Augen waren groß und verwundert, und immer noch war das Lächeln um ihre Lippen. »Vielen Dank, Doktor«, sagte sie leise. Wie ein heißer Strahl ging es über seinen Rücken. Er wandte sich ab, stützte sich mit der rechten Hand auf den Schreibtisch auf und fuhr sich mit der Linken über die Augen. Seine Hände zitterten. Die Frau mußte es plötzlich gemerkt haben. Sie stand auf, machte ein paar rasche Schritte auf ihn zu und ergriff seinen linken Arm. »Doktor!« Keesby wandte den Kopf zu ihr und blickte in ihre erschrockenen Augen. »Was ist denn, Sie sollen doch liegenbleiben.« »Ich hatte plötzlich – ich hatte plötzlich Angst.« »Angst?« Stirnrunzelnd sah er sie an. »Weswegen denn?« »Ich dachte – ich dachte, daß Ihnen vielleicht nicht gut wäre.« »Mir –?« »Ja, es könnte ja sein, daß der Wagen Sie noch getroffen hat, denn…« Da schüttelte er den Kopf. »Nein, nein, bleiben Sie nur da liegen. Ich werde Ihnen jetzt den Drink bringen.« »Aber ich möchte gar keinen Drink.« »Trotzdem werden Sie sich wieder hinlegen.« Er führte sie zum Behandlungstisch und legte sie zurück.
Sekundenlang hielt er ihre rechte Hand und blickte in ihre Augen. War das die Minute, auf die er fast ein Mannesleben lang gewartet hatte? War diese Frau vielleicht der Wendepunkt in seinem Leben? Sollte es möglich sein, daß sie ihm ein neues Leben schenken könnte? Ihm – einem Mörder? Konnte das nicht alles vergessen werden, was da vor drei Tagen geschehen war? All das Furchtbare, das er verschuldet hatte? Mit eigenen Händen hatte er ein Kind erwürgt. Grausam, wie der Mann, der vor anderthalb Jahren drüben in den Nebeln des Washington Parks die Frauen gewürgt hatte. Jener entsetzliche Kerl, der ganz Chicago in Panik versetzte. Man soll nicht allzuviel in einer einzelnen Sekunde denken, hatte irgendein Dichter einmal gesagt, sonst geht einem alles Gedachte verloren. Und es stimmt. Es genügte doch, wenn man sich auf das Wesentliche konzentrierte, und das lag ja da vor ihm, greifbar nahe. Er nahm die Linke von ihrem Handrücken, streichelte ihren Arm und sah sie unverwandt an. Da richtete sie sich auf. »Ich glaube, es geht mir jetzt schon wieder besser.« Ihr Atem war frisch und blumig. Mit beiden Händen hätte er nach ihren Schultern greifen mögen, um sie an sich zu reißen. »Dreiundzwanzig sind Sie«, sagte er mit belegter Stimme, während er sich abwandte. »Wieviel Kinder?« »Kinder –?«
»Ja, wieviel Kinder haben Sie?« »Aber gar keine.« »Ach so. Sie sind noch allein mit Ihrem Mann.« »Ich bin nicht verheiratet.« »Nicht verheiratet? Dann wird’s aber Zeit.« »Finden Sie?« »Und ob ich das finde. Eine so hübsche junge Dame sollte allmählich unter die Haube kommen.« »Glauben Sie, daß es schon so spät für mich ist?« »Das will ich nicht sagen. Es ist immer noch Zeit. Ich meine, jedenfalls für Sie.« Simone Granger saß jetzt aufrecht, und ihre langen Beine baumelten von dem Behandlungstisch herunter. Keesby blickte über die Schulter zu ihr zurück und konnte den Blick nicht von ihren Beinen reißen. Es ist Irrsinn, hämmerte es in seinem Schädel. Ich darf mir keine Hoffnungen machen. Ich bin dreiundvierzig und habe das Leben hinter mir. Ich kann keine Frau mehr finden. Wenn ein Mann dreiundvierzig Jahre allein gewesen ist, dann ist es zu spät! Und außerdem – sie hat mich erkannt. Ganz deutlich hat sie es ausgesprochen, als sie noch in halber Ohnmacht lag. Da ist es über ihre Lippen gekommen. Sie hat gefragt, ob ich nicht der Mann von der Schulaufsichtsbehörde wäre, und wer sich in halber Betäubung daran erinnert, der hat es in seinem Kopf, irgendwo in den Windungen seines Hirns. In irgendeinem Augenblick kann es hervorkommen und mich vernichten. Wahrscheinlich wird das zu einem
Zeitpunkt sein, wo es mich noch viel schwerer treffen würde als jetzt. Sie muß sterben! Sofort muß sie sterben! * Es war am frühen Morgen des gleichen Tages, wenige Minuten nach vier Uhr. In einem Häuserwinkel unweit des Broncekanals unten im 10. District nahe am See lehnte ein Mann unter einem Brückenwinkel und beobachtete die Gasse, die sich mit den vorgeneigten Häusern am Kanal entlangzog. Wie Greise in ihren Sorgenstühlen hingen die uralten Häuser da und sahen aus, als wollten sie jetzt jeden Augenblick auf das dunkle Pflaster stürzen. Der Mann im Brückenwinkel kauerte schon lange da und regte sich nicht. Wenn man ihn nicht direkt suchte, konnte man ihn im Dunkel der Brücke kaum entdecken. Schon bleichten am Himmel die ersten Sterne, und der neue Tag kroch fern im Osten mit einem ersten grauen Hauch über den Horizont. Der Mann im Brückenwinkel warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Sechs Minuten nach vier. Mehr als anderthalb Stunden hatte er jetzt hier auf ihn gewartet – und er war nicht gekommen. Der Mann sah jetzt zum Kanal hinunter und blickte auf das brackige, trübe Wasser, das leise an die schweren Dockpfähle plätscherte. Es hatte einen fauligen Gestank,
den er nun schon seit über neunzig Minuten eingeatmet hatte. Wenn man hier lange genug aushielt, dann wurde man betäubt und stürzte hinunter. Es war ein sehr großer Mensch, sicher 1,90 hoch, mit breiten Schultern und einer schlanken und doch athletischen Figur. Sein Gesicht war kantig, scharfgeschnitten und wurde von einem eisblauen Augenpaar beherrscht. Es war das Gesicht des G-man Eliot Ness. Seit anderthalb Jahren war der FBI-Spezialagent hier in Chicago als Leiter der Sonderabteilung am Oakwood Cemetery, und es hatte viele Leute gegeben, die sich darüber gewundert hatten, daß der oberste Chef in Washington diesen jungen Mann auf diesen Posten gesetzt hatte. Aber Edgar Hoover hatte damals eine große Hellsichtigkeit bewiesen, als er den Sohn norwegischer Eltern in dieses Amt berief. Denn der junge Eliot Ness stand unter einem ganz besonderen Stern: Wenn sein Leben auch nur sehr kurz sein würde, so sollte es ihn doch hinauf bis zu den höchsten Höhen führen, die ein Mensch in seinem Beruf erreichen kann. Niemals hat Amerika einen genialeren Kriminalisten hervorgebracht als ihn. Sie nannten ihn den »Norweger« wegen seiner Abstammung. Doch die Unterwelt Chicagos hatte den Spottnamen, den ihm der Zeitungsmann Matherley gegeben hatte, aufgegriffen. Für die Gangster der Millionenstadt am Lake Michigan hieß er nur noch Mr. Chicago. Unter diesem Namen war er weit über die Grenzen der Stadt hinaus gefürchtet.
Während der kurzen Zeit, in der Eliot Ness in Chicago war und die FBI-Division am Oakwood Cemetery leitete, hatte er mehr Verbrechen aufgedeckt und mehr große Gangster zu Fall gebracht, als irgend jemand vor ihm in der zehnfachen Zeit. Aber da war vor allem der Gangster-Chief Alfonso Capone, dessentwegen man sich in der FBI-Zentrale in Washington und auch bei der Regierung größte Sorgen machte. Er hatte sich zum Staatsfeind Nr. 1 entwickelt, der infame Gangster aus dem fernen Italien. Er hatte ein Imperium aufgebaut, gegen das es offensichtlich kein Machtmittel des Staates zu geben schien. Die Polizei Chicagos resignierte schon längst, und als Edgar Hoover den jungen Inspektor Ness auf diesen härtesten Posten hierher schickte, hatte er vielleicht auch nicht allzuviel Hoffnung, daß dieser Mann den Machtblock Al Capones sprengen könnte. Er würde den FBI-Mann von einer Enttäuschung in die andere jagen und ihn nicht nur einmal an den Rand der Verzweiflung bringen. Alfonso Capone würde auch machtvoll demonstrieren, wie begrenzt die Möglichkeiten eines einzelnen G-man tatsächlich waren. Dabei war der Syndikatchef nicht so hochnäsig, den Norweger zu unterschätzen. Er respektierte dessen furchtlose Haltung durchaus und zollte ihm insgeheim so etwas wie Hochachtung. Jedoch wußte er seine eigenen Mittel virtuos einzusetzen und die Bemühungen des Eliot Ness gegen seine Organisation zu neutralisieren. Al Capone blieb die verbrecherische
Instanz, an der kein Weg vorbeiführte; er drückte in seiner Zeit Chicago einen Stempel auf. Aber nicht nur Capone allein war es, der Eliot Ness das Leben hier zur Hölle machte. Die Legion der übrigen Gangster, die Chicago bevölkerte, wurde seit einiger Zeit von einer Gang überwuchert, die den Namen Dillinger trug. Die Dillingers waren mehrere; niemand wußte genau, wie viele es jeweils waren. Es kamen immer wieder welche von ihnen in den Gangsterschlachten um, doch immer wieder schienen auch neue aus dem Boden zu wachsen. Und alle waren es Dillingers. Niemand hat das jemals begreifen können. Die Unausrottbaren wurden sie deshalb genannt. Man hätte meinen sollen, es müßte Eliot Ness helfen, daß Al Capone der Feind der Dillingers war. Aber es half ihm gar nichts. Allein stand er diesen Verbrecherorganisationen gegenüber. Daneben gab es noch eine Unzahl von kleineren Gangs, die ihm immer wieder zu schaffen machten. Aber gegen Capone und die Dillingers waren das nur kleine Lichter. Sicher, Borgast, Green, Woot und Lobster waren Bandenführer, die einem die Hölle schon heiß machen konnten. Aber einen Mann wie Eliot Ness rührte das nicht. Er hatte in den anderthalb Jahren, die er jetzt hier in der Stadt war, eine beachtliche Reihe gefürchteter Verbrecher zur Strecke gebracht. Nicht zuletzt Boß Drenkhan, einen Crew-Chief, der die Gastwirte in einem Viertel Chicagos auf eine ungeheuerliche Weise tyrannisierte und eine ganze Menge Morde auf seinem Konto hatte.
Aufsehenerregender war jedoch seine Jagd nach dem Aufschlitzer und sein erster Zusammenstoß mit den Dillingers. Nur war es so, daß es einfach zu viel Arbeit war, die Eliot Ness hier bewältigen sollte. Zwar hatte er in dem etwas älteren, rundlichen New Yorker FBI-Inspektor Pinkas Cassedy eine gute Stütze, aber es war zuviel, um das er sich noch selbst zu kümmern hatte. Oft war er vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein beschäftigt. Stundenlang saß er über Aktenbergen, durch die er sich hindurcharbeiten mußte, um über alles im Bilde zu sein; und dann war er oft bis in den grauenden Morgen auf Recherchengängen, jagte dünnen Spuren nach und verfolgte hartnäckig seinen Weg, der da die Parole trug: Wer am längsten aushält, siegt. In der vergangenen Nacht hatte er bis halb eins mit Cassedy drüben in Cicero einen Banditen gejagt, der sich schließlich von einem Wolkenkratzer in einen Hofschacht gestürzt hatte. Es war ein Gangster, von dem Eliot Ness zu Recht annahm, daß er zur Capone-Gang gehörte. Eine Schlüsselfigur, die lebendig gefangen, das FBI einen Schritt weitergebracht hätte. Aber die Gangster redeten nicht, wenn sie in Haft saßen. Von Fall zu Fall hoffte Ness, daß doch einmal einer der Banditen sprechen, sich verraten würde, in seiner Angst vor dem elektrischen Stuhl, der ja jedem drohte, vielleicht doch den Mund aufmachen würde. Doch bis zum heutigen Tag war das nicht geschehen. Aber da nicht alle Capones und Dillingers waren, gab er die Hoffnung nicht auf und
folgte jedem noch so kleinen Hinweis, jeder Vermutung, die ihm erfolgversprechend schien. Als sie vor der völlig entstellten Leiche des CaponeMannes standen, hatte der dicke Cassedy gemeint: »Damit wäre unsere Arbeit für heute getan, Chef, oder?« Der Chef-Inspektor hatte genickt und sich kurz, nachdem die Spezialisten vom FBI eingetroffen waren, von Cassedy verabschiedet. Angeblich, um nach Hause zu gehen. Er hatte drüben in West-Chester eine schöne Wohnung mit einem Ausblick auf »die Dächer der Weltstadt«, wie Cassedy es einmal passend genannt hatte, und auf ein kleines Stück des Chicagoer Himmels. Aber Eliot Ness war nicht nach Hause gegangen. Er war statt dessen an den Michigan gefahren und hatte sich unten in den engen Gassen am Westrand des 10. Distrikts in der Ontario Street in einer Kellerbar umgesehen, hatte mit einem Blinden gesprochen, der ihm den Namen Pint genannt hatte. Der Blinde war ein Polizeispitzel, von dem man jedoch niemals genau wußte, ob er nicht mehr Geld von seinen Freunden aus der Unterwelt bekam. Schließlich konnte die Polizei auch nicht annähernd solche Beträge zahlen, wie es etwa Leute wie Capone konnten. Roger Pint war der Freund des Mannes gewesen, der sich drüben in Cicero in der 24. Straße von dem Dach in den Hofschacht gestürzt hatte. Eliot wußte, daß Pint hier irgendwo in der Ontario Street zu Hause sein mußte. Er hatte zusammen mit dem Mann aus Cicero drüben in
Maywood einen Juwelier brutal niedergeknüppelt, ausgeraubt und anschließend in einem Kellerraum erschlagen. Pint! Das war der Name, den er schon länger gesucht hatte. Roger Pint! Sofort hatte er den Namen zum Oakwood Cemetery durchgegeben, hatte sich kurz mit Ted O’Keefe, einem seiner besten Leute, besprochen und war dann weitergegangen. Er hatte in der Eric Street in einer Hinterhofschenke eine gewisse Grete Bowlen, die von unerlaubter Prostitution lebte, ausgequetscht und erfahren, daß Pint unten in der Ontario Street lebte, und zwar in dem vorletzten Haus vor der kleinen Brücke. Eliot hatte so lange für diese Ermittlung gebraucht, daß es schließlich kurz vor halb drei war, als er wieder in der Ontario Street war und sich unter den Brückenpfeiler klemmte. Es war jetzt sieben Minuten nach vier. Zounds! Ob es überhaupt noch Sinn hatte auszuharren? Am Ende war Pint mit drüben in Cicero gewesen und hatte das Ende seines Partners erlebt. Dann würde er sich hüten, hierher zu kommen, denn er mußte ja damit rechnen, daß das FBI ihm auf die Sprünge gekommen war. Oder er lag irgendwo bei einem Mädchen und ließ es sich gutgehen. Wie manche Nacht hatte sich der Norweger schon um die Ohren geschlagen, und es gab keinen Dollar extra dafür vom FBI.
»G-man sein heißt Polizeisoldat und immer im Dienst sein!« hatte der letzte Präsident der Vereinigten Staaten ihnen gesagt, als er einige ausgewählte FBI-Offiziere mit Handschlag in der Highschool drüben in Denver begrüßt hatte. Da! War da nicht ein Geräusch? Und schien es nicht von hinten zu kommen? Eliot wandte sich um. In diesem Augenblick bekam er einen Schlag ins Gesicht, der ihn zurücktaumeln ließ. Er fing sich mit der Rechten an der eisernen Querstrebe des Brückenträgers, rutschte ab, und im nächsten Augenblick erhielt er einen Fußtritt, der ihn über den Rand des Brückensimses abrutschen ließ. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf das brackige Wasser auf. Oben sah er gegen den heller gewordenen Himmel und die bleichenden Sterne die Konturen eines Mannes, der mit hochgeschlagenem Mantelkragen und breiter Hutkrempe auf dem Brückengerüst stand und einen Revolver in der Hand hielt. Pint! Roger Pint! Da stand er. Eliot ließ sich absacken, und ein gurgelndes Geräusch kam mit ein paar Wasserblasen hoch. Ja, es war Roger Pint. Er war seit einer Viertelstunde hier und hatte die Gegend gründlich abgesucht. Er gehörte zu der Riesengang des Alfonso Capone, und er hatte miterlebt, was sich drüben in Cicero abgespielt hatte. Weil er glaubte, daß die G-man da alles abgesperrt hatten, war er hierher gekommen, hatte in der Schenke drüben mit einem Mann gesprochen, der beobachtet
hatte, wie die Bowlen mit einem Fremden redete. Natürlich konnte es ein Kunde sein, aber Pint war ein mißtrauischer Hund. Er kalkulierte richtig, und er ließ sich Zeit. Er kannte hier jede Ecke besser als irgendein anderer. Vor allem als die G-man, die sich hier vielleicht versteckt haben konnten. Schon wollte er auf sein Haus zugehen, als ihm plötzlich einfiel, im Brückenwinkel nachzusehen, wo er sich selbst schon dreimal vor der Polizei versteckt hatte, die an seinem Haus vorgefahren war. Da hatte er sich von hinten auf Strümpfen an den Pfeiler herangeschlichen, und dann hatte er ihn plötzlich entdeckt! Und doch hatte der Norweger das Geräusch noch gehört und war herumgefahren, sonst hätte ihn der Tritt noch viel schmerzhafter getroffen. Der Faustschlag ins Gesicht war halb so schlimm gewesen. Als Pint jetzt die Wasserblasen aufquirlen sah, kroch ein diabolisches Lächeln über sein pockennarbiges Verbrechergesicht. »Farewell, G-man«, flüsterte er tonlos vor sich hin. Von da unten gab’s kein Wiederkommen. Er blieb noch eine Weile stehen, wandte sich dann um und ging zu dem Haus hinüber, in dem er eine Schlafstelle gemietet hatte. Es war eine Kammer, in der noch ein anderer Mann schlief: ein sechsunddreißigjähriger Stadtstreicher namens Plogger. *
Eliot war unter Wasser weitergeschwommen, und zwar bis er wußte, daß er tief im Brückenschatten war. Dann erst wagte er es, vorsichtig aufzutauchen, schob erst den Mund über das Wasser und atmete vorsichtig und tief ein. Damned! Das hätte danebengehen können! Es gab für ihn keinen Zweifel, daß er dieses Bad Roger Pint zu verdanken hatte. »Warte nur, Brother, den Spaß werde ich dir versalzen. Du verbringst den Rest der Nacht im Jail.« Ness brachte jetzt den Kopf über Wasser. Doch plötzlich erfaßte ihn ein Strudel und schleuderte ihn gegen einen Eisenpfahl, so daß er halb benommen war. Er hatte Mühe, nicht zuviel Wasser zu schlucken und einen Hustenreiz zu unterdrücken. Endlich hatte er sich gefangen, klammerte die Rechte um einen rostigen, stark beschmutzten Eisenstab und stellte fest, daß er an einen der Roste getrieben worden war. Es war hier so dunkel, daß er die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Plötzlich trieb etwas gegen sein Gesicht. Etwas Hartes, das er mit dem Arm von sich schieben wollte. Eisiger Schreck durchzuckte ihn. Was hatte seine Hand da berührt? Das war ja ein menschlicher Schädel! Ein Gesicht! Eine Gänsehaut rann über den Körper des G-man. Sekundenlang verharrte er, ohne sich zu rühren. Dann hob er die rechte Hand und tastete noch einmal über das Gesicht.
Das war nicht der Kopf eines Erwachsenen, das war ein Kindergesicht. Er nestelte einen Lederriemen aus seiner Tasche hervor, zerrte den Körper von dem Rost zurück und band einen Arm an einen der Pfähle, die einige Yards von dem Rost entfernt waren. Dann schwamm er durch das schwarze, quirlige Wasser, das hier von Schwefeldünsten gärte, der winzigen Lichtquelle zu, die drüben unter der Brücke zu sehen war, der Stelle, von der aus er hergetrieben worden war. Er blieb jedoch im Wasser, schwamm weiter unter der Brücke hindurch und wagte erst auf ihrer anderen Seite hochzukommen. Dicht vor sich am Ufer sah er die nassen Stufen einer Steintreppe. Er stieg langsam hinauf, wäre fast auf dem glitschigen Stein wieder abgerutscht, konnte das harte Geräusch aber eben noch vermeiden, indem er sich mit beiden Händen festkrallte, und stieg an Land. Er wartete, bis das Wasser etwas abgetropft war, und kletterte dann die Stufen weiter hinauf ans Ufer. Drüben auf der anderen Seite hinter dem Steg sah er die Häuserzeile, in der Pint wohnte. In diesem Aufzug konnte er sich allerdings kaum noch vom Fleck bewegen. Er war ja naß durch und durch und total verschmutzt. Da drüben war eine Telefonzelle. Er ging auf quatschenden Schuhen über die Straße und schob einen Nickel in den Automaten. Es dauerte nicht lange, und die tiefe Baßstimme eines Mannes war zu hören.
»Wer ist da?« »Pink, es tut mir leid, daß ich Sie so früh am Morgen störe…« »Sie sind’s, Chef? Ja, zum Teufel, was ist denn los?« »Ich möchte Sie bitten, Pink, auf dem schnellsten Weg nach Downtown zu kommen.« »Wird gemacht. Bin in einer Viertelstunde da.« »Sie müssen mir eine Hose mitbringen, ein paar Socken und auch Schuhe.« »Was denn, eine Hose von mir?« »Na klar, von mir werden Sie ja wohl kaum eine in Ihrem Schrank haben.« »Tja, aber…« »Ich habe ein kleines Bad nehmen müssen, Pink.« Und dann erklärte er ihm genau seinen Standort. »Alles klar, Boß, komme sofort!« Es machte leise klick. Pinkas Cassedy hatte eingehängt. Dann rief Eliot noch den Nachtdienst im FBI-Gebäude an und informierte Inspektor O’Connor über seinen grausigen Fund im Kanal. Anschließend wartete er in der Telefonzelle. Hier zog es am wenigsten, und hier fiel er auch am wenigsten auf. Obgleich der dicke Cassedy einen ganz beachtlichen Weg zurückzulegen hatte, war er schon nach einundzwanzig Minuten da. Er sprang aus einer Taxe, schob dem Mann einen Geldschein zu und wartete, bis das Fahrzeug verschwunden war. Dann kam er langsam auf die Telefonzelle zu.
»Hallo, Boß – Allmächtiger! Das ist ja nicht nur ein kleines Bad gewesen. Sie sehen ja aus, als wären Sie durch den Sumpf gezogen worden.« Eliot erklärte kurz, was sich ereignet hatte. »Ist denn das die Möglichkeit«, meinte der stämmige FBI-Agent. »Anstatt, wie es sich für einen anständigen Menschen gehört, nachts im Bett zu liegen, treibt sich dieser Mann hier in den Hafengassen herum und wundert sich noch, daß er ein unfreiwilliges Bad nehmen muß. – Wo sagten Sie, wohnt dieser Pint?« »Da drüben in dem zweigeschossigen Bau, direkt hinter der Laterne.« »All right, wenn Sie die Klamotten gewechselt haben, werden wir ihn zum Frühsport abholen.« Cassedy hatte eine ganze Garnitur mitgebracht, Unterwäsche, Hemd, Hose, Jacke, Strümpfe und auch Schuhe. Sogar an einen Mantel hatte er gedacht, ebenso an eine Waffe. »Ich glaube, daß es mit dem Staubmantel nicht so auffällt, wenn Ihnen die Hose zu weit ist.« »Sie haben recht«, entgegnete Eliot, während er den Mantel anzog. Das nasse Bündel hatte er mit einem Gürtel zusammengeschnallt und hielt es etwas von sich weg. »In der Zelle sieht es so aus, als ob es geregnet hätte«, feixte der Dicke. Zehn Minuten später standen sie in einem Hausflur, in dem ihnen jener scheußliche Geruch entgegenschlug, der
uralten Häusern oft anhaftet: fauliger, weicher Stein, Kochdünste, Abortgeruch und dergleichen. Die Tür zum Hof war verschlossen und nirgends ein Schlüssel zu sehen. »Wir müssen es durch den Keller versuchen«, meinte Cassedy. »Hier am Wasser gibt’s keine Keller«, mußte ihn der Norweger belehren. »Da wird uns nichts anderes übrigbleiben, als nach nebenan zu gehen.« »Im Haus nebenan wohnt er ja schon.« »Zum Henker, was machen wir dann?« »Vielleicht könnten wir versuchen, hier im ersten Stock auszusteigen.« Sie stiegen eine Treppe hinauf, und Eliot öffnete das Fenster. Cassedy, der ihm über die Schulter geblickt hatte, flüsterte: »Tatsächlich, die Mauer geht ja fast bis unter das Fenster.« »Ja, und da stehen wir dann vor dem geschlossenen Flurfenster des Nebenhauses. Nein, auffälliger könnten wir da kaum einsteigen. Das hat keinen Zweck.« »Und was wollen Sie tun?« krächzte der Dicke. »Sie werden vorn durchs Haus gehen, und ich steige hier über die Hofmauer in den Nachbarhof und werde versuchen, unten ins Haus zu kommen. Er hat eine Schlafstelle gemietet, ich weiß allerdings nicht, ob das Zimmer oben oder unten liegt. Wenn ich im Hof bin und
Sie von vorn kommen, dann wird es ihm nicht so ganz leichtfallen, noch einmal zu türmen.« Cassedy nickte und meinte: »Dann geben Sie mir mal das Bündel her. Ich habe den leichteren Weg.« Eliot stieg aus dem Fenster, konnte mit dem rechten Fuß den Mauerrand erreichen und ließ sich drüben im Hof nieder. Damned, wenn die Hose nur nicht so kurz gewesen wäre. Das wirkte ja lächerlich. Und in den Mantel konnte er sich fast zweimal einwickeln. Aber Hauptsache, die Sachen waren trocken. Noch war hier niemand auf den Beinen. Natürlich ging hier und da hinter den Fenstern schon das Licht an, denn es gab ja immer Leute, die schon um diese Stunde aufstehen mußten. Eliot trat an die Hoftür heran und stellte fest, daß sie ebenfalls verschlossen war. Rechts von ihr war ein Fenster zu ebener Erde, links nur ein schmales Toilettenfenster. Er wartete, blickte durch den schmalen Fensterspalt in den düsteren Hausgang und sah zu seiner Verblüffung schon nach wenigen Augenblicken Cassedy im Hausflur auftauchen. Der Dicke legte das Bündel neben die Treppe und bückte sich vor der ersten Wohnungstür, um das Schild zu lesen. Kopfschüttelnd ging er auf die Treppe zu, hatte kaum sechs oder sieben Stufen genommen, als Eliot sah, wie sich unten die Wohnungstür öffnete. Ein Mann im Pyjama kam heraus und folgte Cassedy auf Zehenspitzen.
Er hatte einen Revolver in der Hand. Da stieß Eliot mit abgewandtem Gesicht den warnenden Ruf eines Bergkauzes aus. Als er sich umwandte, hörte er die knurrende Stimme Cassedys: »Zum Teufel, ich möchte bloß wissen, wo das Luder hingelaufen ist. Aber ich werde sie schon finden.« Cassedy knurrte immer weiter, während er die Treppe hinaufstieg. »Das habe ich gern: Erst setzt man so ein Girl in die Welt, und dann stinkt es mit irgend so einem Billy ab. Aber das werde ich ihr versalzen. Ihr und auch ihrem Macker!« Der Mann im Pyjama, der schon auf die Treppe hatte steigen wollen, hielt inne und senkte den Revolver. Das war für Eliot das Signal. Er stieß den Colt, den Cassedy ihm mitgebracht hatte, hart durch die Türfensterscheibe und spannte den Hahn. »Hände hoch, Pint!« Der Mann im Schlafanzug wirbelte herum und stieß den Revolver vor. Zweimal blitzte er auf. Dann gab es einen dumpfen Knall im Treppenhaus, und er selbst knickte zusammen. Der Mann, der angeblich seine geflüchtete Tochter suchte, hatte ihm einen Schuß ins Bein verpaßt. Cassedy stürmte die Treppe hinunter, sprang in weitem Satz noch von der fünften Stufe auf den hochkommenden Banditen und warf ihn zu Boden. Pint, der nur eine Fleischwunde in der rechten Wade hatte, sprang wieder auf und drosch beidhändig schlagend auf den FBI-Inspektor ein. Aber da kam er bei
Pinkas Cassedy an den falschen Mann. Der riß den linken Arm hoch, fintierte eine Volte, jagte die Rechte im Handkantenschlag hart hinunter und traf den Banditen zwischen Kopf und Schulter. Pint sackte zusammen; Cassedy zerrte ihn wieder hoch und schleuderte ihn an die Wand. Dann stieß er ihm den Revolver entgegen. »So, Junge, ich denke, du bist jetzt fit. Sonst müssen wir noch eine Weile Frühsport miteinander machen.« Der Gangster blutete aus der Nase und verzog das Gesicht, weil ihn die Beinwunde schmerzte. Cassedy dirigierte ihn vor sich her auf die Hoftür zu. »Zieh die Riegel zurück.« Als das geschehen war, knurrte er: »Schließ auf.« »Es steckt kein Schlüssel«, schnarrte der Gangster. »Aber du weißt, wo er ist.« »Keine Ahnung.« Cassedy trieb ihm das Knie ins Hinterteil und stieß ihn in die Ecke. Da warf sich der neunundzwanzigjährige Verbrecher herum und wuchtete dem Inspektor einen Schlag in die Magengrube – jedenfalls hatte er es vor. Aber er kam nicht ganz hin. Cassedys Linke sauste blitzschnell nach unten und traf das Handgelenk des Angreifers. Sofort riß er den rechten Ellbogen hoch und stieß ihn Pint ins Gesicht. Der war so schwer getroffen, daß er hart gegen die Tür prallte und an ihr niederrutschte.
In diesem Augenblick hatte Cassedy den Schlüssel entdeckt. Er lugte oben neben der Tür über ein kleines Holzbord. Cassedy griff danach und schloß die Tür auf. Eliot trat ein, packte Pint sofort und schleppte ihn zur Wohnung. Da ließ er ihn unter Cassedys Obhut im Flur zurück. Er öffnete die erste Zimmertür und stellte fest, daß von hier auch eine Treppe nach oben führte. Als er die hinter sich hatte, sah er eine alte Frau mit einer Schlafhaube und einem altertümlichen Nachtgewand vor sich stehen. »Um Gottes willen, was ist denn los?« »Gar nichts, beruhigen Sie sich, Madam.« Eliot schob die nächste Tür auf, die nur angelehnt war, und sah einen Mann verschlagen von seinem Lager hochkommen. Das zweite Lager war leer. Der Mann blickte ihn verdrießlich an. »Was wollen Sie denn?« »Stehen Sie auf, und kommen Sie mit.« »Was gibt’s?« »FBI.« »Auch das noch, am frühen Morgen. Wer soll das um diese Stunde schon verdauen können.« »Halten Sie keine Vorträge, kommen Sie mit.« Zwanzig Minuten später waren sie am Oakwood Cemetery.
Pints Zimmernachbar konnte nach Feststellung seiner Personalien und einer ebenso kurzen wie sorgfältigen Überprüfung seiner Person wieder gehen. Pint sah einer langen Zuchthausstrafe entgegen. Er wurde nach einem kurzen Verhör, währenddessen er nicht ein einziges Wort gesprochen hatte, ins Gerichtsgefängnis überwiesen. Kaum war der Gangster abgeführt worden, ging Eliot zum Fenster, öffnete es und sog die frische Morgenluft tief ein. Als er dann den Blick senkte und auf die langen grauen Gräberreihen des Friedhofs blickte, der gleich hinter dem Dienstgebäude des FBI lag, wandte er sich ab. Wie er diesen Blick da hinunter haßte! Cassedy meinte, während er auf das nasse Bündel blickte: »So, Boß, ich nehme an, daß Sie jetzt erst einmal ein paar Stunden Schlaf nehmen wollen.« »Noch nicht gleich, Pink. Es ist noch etwas zu tun.« »Aha?« »In dem Kanal, in dem ich mein unfreiwilliges Nachtbad genommen habe, gibt es noch etwas zu fischen.« Cassedy zog seine Brauen zusammen. »Was denn, Sie haben doch nicht etwa da unten in dem finsteren Loch etwas entdeckt?« »Leider doch. Die Leiche eines Kindes.« Cassedy zog sich mit vier Fingern seiner Linken den Kragen von der Kehle weg.
»Auch das noch. Haben Sie hier schon Bescheid gegeben?« Der Chef-Inspektor nickte. Es dauerte trotz der Eile, die das FBI mit dem Spezialwagen vorlegte, eine Dreiviertelstunde, bis Eliot Ness die Nachricht erhielt, daß die Leiche geborgen war und sich im Keller im Schauraum des Dienstgebäudes befand. Er rief Cassedy und ging mit ihm hinunter. Die Inspektoren Lock, O’Keefe und O’Connor kamen ebenfalls mit. Als Eliot einen kurzen Blick auf den aufgedunsenen Körper geworfen hatte, der da auf dem Tisch lag, sagte er sofort: »Das könnte der Junge sein, der in Brookfield verschwunden ist.« Es war der Junge aus Brookfield, der kleine Bernhard Coster. Am vergangenen Nachmittag hatte der Bürovorsteher Tomas Felberth aus der 36. Straße eine Vermißtenanzeige nach einem der Angestellten seiner Firma aufgegeben, und zwar nach Gregory Scranton. Drei Stunden später hatte die Kriminalpolizei die Wohnung des Vermißten aufgebrochen und da eine grausige Entdeckung gemacht: Zwei Leichen fand sie vor, von denen bis zum Abend nur die des Buchhalters identifiziert werden konnte. Er war vergiftet worden. Die erwürgte Frau konnte erst am nächsten Tag von ihrem entsetzten Ehemann identifiziert
werden, der ebenfalls eine Vermißtenanzeige aufgegeben hatte. Da das FBI über alle größeren Verbrechen, die sich in der Stadt ereigneten, informiert wurde, war es auch über die Morde in der Arthur Avenue unterrichtet worden, und zwar mit den alltäglich durchgegebenen roten Meldungen. Als Eliot Ness den Leichenschauraum verlassen hatte, fröstelte ihn. Die Kälte, die da unten herrschte, war fürchterlich. Anstatt hinauf in sein Zimmer zu gehen, winkte er Cassedy und ging mit ihm zum Eingang. Sie standen draußen vorm Portal, und der Norweger blickte in den vorüberströmenden Verkehr, der seine volle Spitze um diese Stunde kurz vor Bürobeginn erreicht hatte. »Da war doch vor ein paar Tagen auch etwas in Brookfield. Zwei Morde.« »Ja, ein vergifteter Mann und eine erwürgte Frau.« »Haben Sie die Einzelheiten im Kopf?« »Natürlich, Boß. Der Mann ist sechsundvierzig Jahre alt gewesen und war Buchhalter. Er wurde mit einem Gift umgebracht, dessen Zusammensetzung nicht völlig geklärt ist. Die Frau wurde erwürgt.« »In Brookfield«, sagte Eliot wie zu sich selbst. Die beiden Verbrechen, das an dem Kind und die beiden Toten in der Wohnung hatten wahrscheinlich keinen Zusammenhang miteinander. Nur eben, daß sie alle in Brookfield verübt worden waren.
In diesem Augenblick hielt mit quietschenden Bremsen eine schwere dunkelblaue Limousine vor dem Portal, und zwei Männer sprangen die acht Stufen zum Eingang des Dienstgebäudes des Bundeskriminalamtes hinauf. Sie blieben stehen, als sie Eliot Ness sahen. Einer von ihnen tippte kurz an den Hutrand und grüßte: »Morning.« »Morning, Bedford. Was gibt’s Neues?« »Es tut uns leid, Boß, dieser Pin oder Pint ist uns durch die Lappen gegangen. Sie hatten recht, er war in Cicero dabei, als der andere vom Dach sprang. Aber er ist uns dann entwischt.« »Es ist gut«, entgegnete Eliot. Da feixte Cassedy hinter ihm. »Macht euch keine Sorgen, Boys. Der sitzt schon hinter schwedischen Gardinen.« »Was…?« »Der Boß hat ihm unten in Downtown aufgelauert.« Da meinte der andere der beiden, ein Mann in den Vierzigern mit hagerem Kopf und kurzgeschorenem grauem Haar: »Ich habe Jake Berwyn gesehen, Mr. Ness.« »Wann?« »Vor einer Stunde, als ich hinauffuhr, um Bedford abzulösen.« »Und wo haben Sie ihn gesehen?« »In der 27. an der Ecke der Keeler Street.« »Also im 23. Bezirk.« »Genau da.«
»Und, haben Sie beobachtet, wo er hingegangen ist?« »Er betrat einen Lebensmittelladen, eine Art Kellergeschäft. Die Leute haben auch Blumen und so.« Der G-man nahm seinen Notizblock heraus und riß den Zettel ab. »Ich habe hier alles aufgeschrieben, Boß.« »Thanks.« Der blaue Wagen wartete noch unten auf eine Anweisung von Sergeant Bedford. Aber als der Fahrer den Chef kommen sah, stieg er schon aus. »Sie wollen sicher selbst fahren, Mr. Ness?« »Ja. Sie können zur Abmeldung hinaufgehen, Frank.« Der Fahrer folgte den beiden G-men ins Haus. Eliot Ness und Pinkas Cassedy brausten los. Unweit der Ecke der 27. Straße hielten sie an und verließen den Wagen. Das FBI hatte unauffällige, meist dunkelblaue Limousinen, wie sie hier in der Stadt häufig zu sehen waren. Dennoch aber konnte es möglich sein, daß die Gangster die Nummer der Wagen kannten. Sie wurden zwar aus diesem Grunde häufig gewechselt, aber das nützte letztlich auch nichts mehr, denn Eliot hatte vor drei Wochen eine ganz fatale Entdeckung gemacht. Die Gangster hatten fast sämtliche Wagen des Bundeskriminalamtes unten unter der Stoßstange an der Rückseite des Wagens mit einem phosphoreszierenden Kreuz gezeichnet, das sowohl am Tag als auch in der Nacht zu sehen war. Man mußte es nur wissen und darauf achten. Ein Einfall, der von Al Capone selbst stammen konnte. Wie mochte es den Banditen bloß
möglich gewesen sein, fast an sämtliche Fahrzeuge des FBI heranzukommen und das Phosphorkreuz anzubringen? Das war ein weiterer Beweis für die große Gefährlichkeit Al Capones und der Dillingers. Übrigens hatte man von den Dillingers in letzter Zeit nichts mehr gehört. Eliot Ness war überzeugt, daß der Mann, den er vor einigen Wochen in jenem Hehler-Kiosk auf einer leeren Limonadenkiste hatte sitzen sehen, der so heiß gesuchte Ric Dillinger war. Aber seitdem war er ihm nie wieder begegnet. Die Dillingers schienen im Moment vom Erdboden verschwunden. Aber das schien nur so. Langsam gingen die beiden Gmen auf die Straßenecke zu, dann blieb Eliot Ness stehen. Er nahm seine Brieftasche hervor und tat, als suchte er etwas darin, während er zu Cassedy sagte: »Drüben, fast an der Ecke ist es. Wie wollen wir es halten?« »Wie immer«, entgegnete der Dicke, während er sich eine lange Northstate zwischen die Lippen schob. Wie immer hieß bei den beiden, daß der Norweger das Haus von vorn betreten würde, während Cassedy versuchen wollte, an den hinteren Ausgang zu kommen. Es war gar nicht so einfach, immer den hinteren Ausgang der Häuser zu erreichen. Meist waren die Nachbarhäuser verschlossen oder vom anderen Ende des Blocks gab es keinen Zugang zu dem Hof. Es gab da eine Menge Hindernisse. Aber Cassedy fand diesmal sogar einen bequemen Durchgang, schob sich an einer Rotte krakelender Kinder vorbei und sah schon von weitem
hinter der Hoftür des Lebensmittelhändlers aufgestapelte leere Kisten und Kartons stehen. Er behielt die Hoftür scharf im Auge, während er sich damit beschäftigte, mit langen Schritten und einem Zollstock eine Seite des Hofes auszumessen. Man mußte sich nur zu beschäftigen wissen und sich einen beamteten Anschein zu geben verstehen. Und darauf verstand sich der G-man Pinkas Cassedy wie kaum ein zweiter. Eine Frau, die ihn neugierig gemustert hatte, meinte: »Aha, soll jetzt endlich der Transformator da drüben wegkommen?« »Sie haben es erraten, Madam; wir sind schon bei den ersten Vermessungen.« »Na, das wurde aber auch Zeit. Seit Weihnachten wird schon davon geredet, und geschehen ist bisher nichts. Aber die Miete einstreichen, das können sie, die dicken Herren.« »Es ist ja immer dasselbe, Madam«, meinte der Dicke vertraulich. »Wir haben doch alle nichts zu lachen mit den Brüdern, stimmt’s?« »Jawohl, das stimmt«, versetzte die Frau sofort in den gleichen Ton fallend, und das Gespräch plätscherte munter fort. Indessen hatte Eliot Ness das Lebensmittelgeschäft betreten. Hinter der Theke stand ein großer, ungeschlachter Mensch mit einem Boxergesicht. Das Blumenkohlohr an seiner linken Kopfseite zeigte sein Handwerk fast noch
deutlicher an als die eingeschlagene Sattelnase und die Augen, die unter schweren abdeckenden Brauen lagen. Der Mann gehörte zu jener Kategorie von Pricefightern, die sich auf Jahrmärkten und ähnlichen Schaustellungen etwas nebenher verdienten. Ganz offenbar konnte er hier im Laden nicht genug Geld anschaffen. Eliot wartete, bis die beiden schnatternden Frauen, die vor ihm an der Reihe gewesen waren, den Laden verlassen hatten, tat, als ob er noch etwas suchte. Als sich die Tür hinter den beiden schloß, wandte er sich plötzlich um, blickte den Boxertyp voll an und sagte: »Ich möchte Berwyn sprechen.« Der Boxer zog die Brauen zusammen und kratzte sich hinterm linken Ohr. »Ich weiß nicht, von wem Sie reden, Mister.« »Sehen Sie zu, daß Sie ihn mir rasch holen!« »Ja, das könnte ich eventuell tun. Aber dann warten Sie hier!« »Ich komme lieber mit.« Eliot machte einen Schritt über die beiden Stufen zur Eingangstür, drehte den Schlüssel um, und als er sich dann zurückwandte, sah er, daß der Mann drüben nach einem großen Wurstmesser gegriffen hatte. Da nahm der Inspektor seine inzwischen wieder völlig getrocknete, gesäuberte und frisch geölte Colt-Automatic aus dem Schulterhalfter und hielt sie dem Boxer entgegen. »Wir wollen keinen Ärger machen, Mister. Lassen Sie das Messer nur da liegen.«
Der Lebensmittelmann wischte sich seine gewaltigen roten Hände an seiner längst nicht mehr weißen Schürze ab, hob den Kopf etwas und nagte an seiner wulstigen Unterlippe. Schließlich schien er einen Gedanken zusammengebraut zu haben, den er endlich in Worte faßte: »Sie gehören zu Borgast, stimmt’s?« »Stimmt nicht«, entgegnete Eliot. »Was denn«, kam es da rauh von den Lippen des anderen, und jetzt stand deutlich der Schreck in seinen Augen. »Doch nicht etwa – zu den Dillingers?« »Wer hat denn das behauptet?« »Ach«, machte der Boxer, während er mit der Linken wütend abwinkte und ein paar Wurstschnipsel von der Theke herunterfegte, »die anderen sind doch keinen Schuß Pulver wert. Von denen traut sich doch keiner an einen Cap-man heran.« »Womit Sie also zugegeben haben, Mister, daß Sie zu Capone gehören.« »Na und? Ist das vielleicht eine Schande? Das ist immer besser als bei Ihrem Verein. Sie können sich darauf verlassen, Mann, daß Dillinger nicht lange machen wird. Wem der Big-Boß Rache geschworen hat, den fetzt er weg. So fetzt er ihn weg!« bellte er, während er ein paarmal mit der Hand auf die Tischplatte schlug und weiter Wurst- und Käsereste herunterfegte. In diesem Augenblick wurde hinten eine Tür geöffnet. »Kid, mit wem redest du da?« »Einer deiner Freunde ist da, Jake«, näselte der Boxer.
»Was soll das heißen?!« Das unverkennbare Geräusch einer rotierenden Revolvertrommel war zu hören. Eliot trat in den Winkel neben der Tür zum Nachbarraum und winkte dem Boxer mit dem Revolver zu, den Mann herauszurufen. »Komm schon, Jake.« »Wer ist es?« »Wer schon«, blaffte. Kid. »Einer von den Dillingers höchstwahrscheinlich.« Schon peitschte ein Schuß durch den Raum und zerschlug vorn die Scheibe zur Straße. Da der Polizeioffizier es nicht darauf ankommen lassen wollte, daß der Gangster noch Passanten verletzte, sprang er nach vorn, duckte sich sofort nieder, und diesmal pfiff eine Kugel dicht über seinen Kopf hinweg. Dann fauchte die Colt-Automatic des FBI-Agenten los. Von einem harten Streifschuß am rechten Jochbein getroffen, lag Jake Berwyn über einer Kiste mit fauligen Tomaten und stierte aus weit aufgerissenen, erschrockenen Augen auf den Mann, der sich jetzt an der Türschwelle aufrichtete. Der Boxer stand blöde neben Eliot und rührte sich nicht. Da öffneten sich Berwyns Lippen: »Du bist ein Idiot, Kid.« »Wieso? Ist er nicht von den Dillingers?« »Nein.« »Aber er sagt, daß er nicht zu Borgast gehört.«
»Das stimmt auch. Ebenso wie es stimmt, daß du ein Idiot bist«, ächzte der blutend über den faulen Tomaten liegende Gangster. »Stehen Sie auf, Berwyn«, gebot ihm der Inspektor. Der Bandit richtete sich keuchend auf, griff nach einem Handtuch, das auf einem Kartonstapel lag, und preßte es sich auf die rechte Gesichtsseite. »Nicht schlecht getroffen, Inspektor. So muß man es machen.« »Inspektor?« krächzte Kid. »Ja, Inspektor, du Idiot!« fauchte Berwyn ihn an. »Was soll das heißen? Ein Bulle?« »Und was für einer. Es ist Eliot Ness.« »Mr. Chicago?« »Ja, Mr. Chicago, du Hammel. Und damit du Bescheid weißt, du bist jetzt auch dran.« »Stimmt«, entgegnete Ness, »nehmen Sie ihre Hände hoch, Kid.« Da wurde hinten die Hoftür geöffnet, und Cassedy trat ein. Die beiden Gangster wurden in Handschellen abgeführt. Als sie später am Oakwood Cemetery verhört wurden, kam kein Sterbenswort über ihre Lippen. Eliot ließ den rasch verarzteten Berwyn abführen und blickte den langen Kid Nelson, der zurückbleiben mußte, forschend an. »Sie haben sich gut gehalten, Kid. Ich weiß, daß Sie auch lieber sterben werden, ehe Sie ein Wort reden.«
»Stimmt genau, G-man.« »Befleißige dich einer anderen Ausdrucksweise, Junge, sonst gibt’s Ohrfeigen!« fuhr ihn Cassedy an. »Weshalb droht der Mann mir, Inspektor?« »Es tut mir leid, Mr. Nelson«, sagte Eliot jetzt und zog eine bekümmerte Miene auf, »daß ich Ihnen eine betrübliche Eröffnung machen muß.« Der Boxer zog die Brauen zusammen. Wieder dachte er nach – und nichts fiel ihm schwerer als das Nachdenken. »Sie werden jetzt einige Jahre hinter Zuchthausmauern verbringen müssen. Wenn Sie rauskommen, sind Sie ein alter Mann. Dann ist es nichts mehr mit dem Boxen.« »Was soll denn das heißen? Wieso einige Jahre? Wie Sie da so reden, hört sich das ja schon nach einigen Jahrzehnten an.« »Genauso ist es auch, Nelson.« Da schluckte der Lebensmittelhändler und stand mit einem Ruck auf. »Das ist nicht Ihr Ernst, Ness.« »Mein völliger Ernst.« »Was wollen Sie von mir? Ich habe überhaupt nichts getan.« »Sie sind ein Mitglieder der Capone-Gang.« »Was heißt Mitglied! Ich habe Capone selbst nie gesehen. Nicht einmal seinen Ring.« (Damit wurden die sechs Männer bezeichnet, die zu seiner nächsten Umgebung gehörten.) »Ja, ich kenne nicht einmal die
Außenleute.« (So wurden sogenannte Unterführer bezeichnet, die die einzelnen Gruppen leiteten. Bei Capone war alles straff organisiert.) »Ich bin nur ein kleines, lächerliches Licht gewesen. Ein Bursche, der Zettel hin und her zu bringen hatte.« »Genügt vollkommen. Wo haben Sie die Zettel hingebracht?« »Nirgendwohin natürlich.« »Gerade haben Sie noch behauptet, daß Sie nur Zettel weggebracht haben. Das stimmt nämlich nicht. Sie sind kein Zettelträger, sondern Sie selbst sind ein Staffelführer.« »Was –?!« »Ein Staffelführer sind Sie. Ich habe Beweise dafür. Es sind hier drei Leute in Haft, die Sie als Staffelführer ausgegeben haben.« »Verflucht, das kann nur Ed Cahoon gewesen sein. Ich werde diesem Hund das Genick nach Süden drehen. Das verspreche ich Ihnen.« »Sie werden keine Gelegenheit mehr haben. Abführen!« »Augenblick, Inspektor. Wir sprachen gerade davon, daß ich ein kleines Licht bin, und das bin ich auch. Cahoon ist Staffelführer in unserer Ecke. Und wenn Sie ihn suchen wollen, er heißt in Wirklichkeit…« »Eduard Courads«, unterbrach ihn Eliot Ness schroff. »Geben Sie sich keine Mühe, Nelson.« »Wenn Sie es schon wissen, dann wissen Sie auch, daß ich eine kleine Flasche bin.«
»Nicht klein genug für den Richter, der sich mit Ihnen zu befassen hat – oder hatten Sie die Absicht, Mr. Nelson, uns zu sagen, wo wir Frederic Stock finden können?« Da erblaßte der Lebensmittelhändler und sackte auf seinen Stuhl zurück. »Na also, da sind Sie plötzlich still. Bei Frederic Stock versagen Ihnen wohl die Beine, was?« Stock! Das war der Name eines neu aufgetauchten Gangsterführers, der zu Capones Bande gehörte. Ein ganz besonders raffinierter, mit allen Wassern gewaschener Verbrecher mußte dieser Fred Stock sein. Zwar hatte das FBI seinen Namen erfahren, aber auch nicht mehr. Auch war es möglicherweise nur ein Deckname, denn eingetragen war Stock jedenfalls nicht in den Einwohnermeldelisten. Auch Nelson wurde abgeführt. Der Fang, den Eliot Ness da »so nebenbei« gemacht hatte, war keineswegs ein großer Schlag gegen Al Capone. Es war nur ein kleines Steinchen, das zum großen Mosaik beitragen würde. Aber ein Steinchen kam zum anderen. Der Fang brachte dem Imperium der Capone-Gang keine Schlappe bei. Es fehlte nur zunächst ein Rad am großen Getriebe, das aber von dem Big-Boß sehr schnell ersetzt werden würde. Wenn man nur rasch genug etliche weitere Räder ausschalten könnte, vor allem ein Hauptrad oder vielleicht einmal eine große Welle. Aber Capone handelte selbst immer blitzschnell, schlug an unerwarteten Stellen zu. Und wenn man gerade glaubte, ihn hier greifen zu können, tauchte er an
einer völlig anderen Ecke auf und ließ da eine Bombe hochgehen. Er war der unberechenbarste Mann, gegen den die Chicagoer Polizei jemals gekämpft hatte. Es war gegen Abend, als der Chef-Inspektor einen stundenlangen, ermüdenden Recherchengang durch Cicero beendete und gerade beschlossen hatte, zur 71. Straße zurückzufahren, wo er noch einen ganzen Berg von Akten durchzuackern hatte. Plötzlich fiel sein Blick auf einen Bus, der die Nummer 22 trug und an der Seite ein Schild mit der Aufschrift hatte: Brookfield, La Grange, Hinsdale. Brookfield! Schon wieder wurde er an den Jungen aus Brookfield erinnert, den er im Morgengrauen vor dem unterirdischen Rost in den Kanalschächten von Downtown gefunden hatte; an den toten Bernhard Coster aus der Ress-Park-Avenue; und an die beiden anderen Toten aus Brookfield, aus der Arthur Avenue. Kreuzte die Arthur Avenue nicht irgendwo die RessPark-Avenue? Kurz entschlossen sprang der Inspektor auf den schon abfahrenden Bus und fing sich dabei von dem Schaffner einen rügenden Pfiff und ein Kopfschütteln ein. Als er an der Ress-Park-Avenue ausstieg, nahm er die kleine rote Karte aus der Tasche, auf der eigens für ihn die schweren Verbrechen der letzten drei Tage allmorgendlich noch einmal von Ruth Everett, seiner Sekretärin, zusammengefaßt wurden, und ließ den Finger über die Namen gleiten.
Scranton, Gregory, Arthur Avenue 211. Er wandte sich um, ging zurück um die Ecke, warf einen Blick auf das andere Nummernschild und fuhr sich dann nachdenklich mit dem Daumennagel über die Unterlippe. Die beiden Häuser lagen rechtwinklig zueinander. Das Haus nämlich, in dem der kleine Benny Coster gewohnt hatte, und das Haus, in dem die beiden Toten aufgefunden worden waren, der vergiftete Greg Scranton und Margret Hutton. Eliot betrat das Haus in der Ress-Park-Avenue, stieg bis zum vierten Geschoß hinauf und läutete. Eine verhärmt aussehende Frau in den Dreißigern blickte ihm aus verweinten Augen entgegen. Sie trug ein schwarzes Kleid, eine graue Schürze, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe. »Was wollen Sie? Sagen Sie bloß nicht, daß Sie auch von der Zeitung sind, sonst…« »Entschuldigen Sie, Madam, ich bin nicht von der Zeitung. Mein Name ist Ness. Ich hätte gern einen Augenblick mit Ihnen gesprochen.« Im Hintergrund des Flurs tauchte ein untersetzter Mann auf, der gerade eine schwarze Krawatte umgebunden hatte. Er zog seine noch offene Weste über dem schweren Leib zusammen und knurrte: »Was wollen Sie, Mr. Ress?« »Ness ist mein Name.« »Ness? Sind Sie von der Polizei?« »Ja, vom FBI.« Eliot nahm seinen Ausweis hervor.
Der Mann stieß die Frau an und flüsterte in geheimnisvollem Ton: »Komm, laß ihn rein. Es ist Eliot Ness.« Der Frau sagte das nichts, aber dem Mann sagte es alles. Er führte den Chef-Inspektor in die Wohnstube und bot ihm einen Platz an. Eliot verzichtete darauf und kam mit kurzen Worten auf den Jungen zu sprechen. Er ließ sich die Fotografien zeigen, die der Vater auch schon den Männern von der Mordkommission gezeigt hatte, die hier waren. Einer der Zeitungsleute hatte sogar ein Foto gestohlen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Coster. Das Bild bekommen Sie zurück. Außerdem können Sie von der Zeitung, in der es ohne Ihre Erlaubnis erscheint, Schadenersatz bis zu fünfhundert Dollar verlangen.« »Ach, ist das wahr?« »Es ist wahr.« Eliot trat ans Fenster und blickte hinaus. »Kennen Sie viele Leute hier in der Nachbarschaft?« »Eigentlich niemanden. Hier unter uns lebte ein altes Ehepaar, die Synders, schräg unter uns wohnt Miß Granger, über uns die Dachsteins und ein alter Franzose, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Im Haus die Leute kennt man nur dem Namen nach: Vielleicht diesen oder jenen auch vom Ansehen. Aber richtig kennen tun wir niemanden hier. Wir wohnen ja selbst erst zwei Jahre in dieser Gegend. – Ist es nicht furchtbar, Inspektor, was passiert ist? Der Junge war unsere ganze Freude. Wie Sie sehen, sind wir selbst nicht mehr die Jüngsten und – Sie
können es ruhig wissen – wir haben ihn aus dem Waisenhaus geholt. Er war damals schon fünf. Aber er war ein liebes Kerlchen und hat uns eigentlich immer Freude gemacht…« Daß das letztere nicht stimmte, darüber sprach er kein Wort. Daß ihnen der kleine Benny nur Kummer gemacht hatte, erst mit Krankheiten, als er noch klein war, dann mit seinem launenhaften Charakter und seinen Streichen, je älter er wurde, darüber sprachen sie nicht. Sie hatten ihn gern gehabt, und dabei blieb es. Die Frau war vollkommen aufgelöst. Sie kam herein und stand händeringend neben dem Mann, blickte den Inspektor aus verweinten Augen an und schüttelte immer wieder schluchzend den Kopf. Eliot blieb etwa zwanzig Minuten und verabschiedete sich dann. Fünf Minuten später war er drüben auf der anderen Seite im Haus an der Ecke der Arthur Avenue. Er stand vor der Wohnung der Scrantons, ging dann weiter hinauf und begegnete einer Frau, die ihn neugierig anblickte. »Wollen Sie zu Dr. Keesby?« »Ja, ja, zu Dr. Keesby«, sagte er und ging weiter. »Dann wissen Sie ja, wo es ist.« »Ja, vielen Dank, Madam.« Eliot hatte die nächste Etage erreicht und sah das große weiße Schild des Arztes. Als er sich umblickte, bemerkte er, daß die Frau ihm gefolgt war und neugierig durch die Geländerstreben hinter ihm her blickte. Da öffnete er die Tür zur Praxis des Arztes. Ein schwarz ausgeschlagener, mit goldenen Borten
abgesetzter Flur mit einer kleinen japanischen Lampe lag vor ihm. Er trat auf das Wartezimmer zu, öffnete die Tür und fand es leer. Aus dem Nebenraum waren Stimmen zu hören. Er ging weiter. Plötzlich hörte er einen Ausruf, der aus einer Frauenkehle zu kommen schien. Er klopfte kurz an und öffnete dann die große weißlackierte Tür. Der nächste Augenblick war der Moment, in dem der FBI-Mann Eliot Ness den Dr. M. Herbert Keesby zum erstenmal sah. Der Arzt stand neben dem Behandlungstisch – ohne seinen weißen Kittel. Vor ihm saß mit baumelnden Beinen die Frau. Simone Granger blickte aus großen, erschrockenen Augen auf den Mann in der Tür, rutschte dann vom Tisch herunter und murmelte: »Entschuldigung, Doktor«, und lief an Eliot Ness vorbei hinaus. Der Arzt zog die Brauen zusammen und musterte Eliot finster. »Was gibt’s?« »Entschuldigen Sie, Doktor, ich wollte mich nur zu einer Untersuchung anmelden.« »Ja, aber dann platzt man doch nicht hier so herein. Kinder, was habt ihr denn für einen Anstand! Das sind doch keine Manieren! Also, kommen Sie am Montagmorgen um acht. Das heißt, um acht geht’s nicht, kommen Sie um halb neun.«
Eliot nickte und war froh, daß er seinen Namen nicht hatte nennen müssen. Als er wieder auf dem Korridor war, lief er die Treppen so schnell hinunter, daß er Simone Granger noch vor der Haustür eingeholt hatte. »Entschuldigen Sie, Miß, daß ich die Untersuchung gestört habe. Ich bin manchmal so ein Trampel.« Er lüftete seinen Hut und öffnete ihr die Tür. »Es macht gar nichts«, sagte sie und blieb draußen stehen, um den gutaussehenden großen Mann anzusehen. »Sagen Sie, ich will am Montag auch zu ihm; was ist das für ein Mensch, dieser Dr. Keesby?« Simone nahm den Blick vom Gesicht des Mannes, sah auf die Straße, und plötzlich stand all das, was sie vorhin da drüben erlebt hatte, wieder vor ihr auf. Sie brachte mit belegter Stimme hervor: »Er hat mir das Leben gerettet, vor zwanzig Minuten.« Und dann schilderte sie, was ihr passiert war. »Oh, ich muß auch irgendwann noch mal zu Dr. Keesby. Mein Sonnenschirm steht noch oben im Schirmständer.« Verwirrt schob sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Es war – ganz sonderbar, dies alles.« Eliot griff in die Tasche, nahm eine winzige, schmale blaue Karte hervor, auf der nur eine Telefonnummer stand. Eine ziemlich lange Nummer. Während er sie ihr gab, meinte er wie nebenbei: »Für den Fall, daß Sie einmal Hilfe brauchen – Sie können mich immer anrufen.«
Simone blickte ihn verwundert an, sah dann auf die Karte und schüttelte den Kopf. »Aber ich verstehe nicht, wie Sie das meinen.« »Es könnte ja mal sein, daß Sie Hilfe brauchen. Ich meine nicht ärztliche Hilfe.« Sie nickte »Ja, ja, ich verstehe…« »Natürlich können Sie sich auch an Ihren älteren Bruder wenden oder an Ihren Vater.« »Beide sind tot«, sagte sie. »Mein Vater ist bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Mein Bruder Ted war bei ihm.« »Das tut mir leid.« »Also«, sagte sie dann, »auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« * Als die Dunkelheit über die Stadt hereinbrach, verließ Simone Granger das Haus, ging in die 44. Straße hinüber und bog da in die Riverside Avenue ein, wo sie auf ein Kino zuging. Im Abstand von zweihundert Schritt folgte ihr ein Mann. Ein großer, massiger Mensch mit einem grauen Hut, einem hellen Mantel und einem verkniffenen Gesicht, das viel zu klein für diesen massigen Schädel wirkte. Es war Dr. Keesby.
Als er sah, wie sie zu dem Kino ging, blieb er stehen und wartete vor einem Geschäft, von wo aus er den Kinoeingang beobachten konnte. Simone verließ jedoch den Eingang des Lichtspieltheaters wieder und setzte ihren Weg fort. Er führte sie auf die große Haarlem Avenue, wo sie vor der Ecke der 42. Straße in ein Haus ging. Keesby war ihr in hundert Schritt Abstand gefolgt und blieb dann erneut vor einem Geschäft stehen. Nebenan war wieder ein Kino. Aber Simone Granger war weitergegangen und hatte ein Wohnhaus betreten. Anderthalb Stunden wartete Keesby unten auf der Straße, ging immer wieder ein Stück an den Häusern entlang, kam zurück, überquerte die Straße, blickte von drüben zu den Häusergiebeln hinauf und kam dann wieder an das Geschäft zurück. Plötzlich sah er einen Mann auf den Eingang des Kinos zugehen, den er mit gerunzelten Brauen beobachtete. Nanu, das war doch der Mann, der heute bei ihm so plötzlich in der Praxis aufgetaucht war. »Hallo, Doktor, wollen Sie etwa auch ins Kino?« »Ja – das heißt –« Sie gingen zusammen in den Vorraum des Kinos und betrachteten die Bilder. »Na, das sieht mir nicht sehr einladend aus«, meinte Eliot Ness. Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ist auch nicht mein Fall. Ein gefühlsduseliger Liebesfilm.« Sie traten zusammen auf den Gehsteig, und da hörte der FBI-Mann den Arzt plötzlich sagen:
»Wissen Sie was, wir werden da drüben zusammen einen Drink nehmen. Was dagegen?« Eliot schüttelte den Kopf. Sie gingen über die Straße hinüber und betraten die Bar, die Keesby vorhin schon mehrmals passiert hatte. Der Arzt setzte sich so, daß er von seinem Platz aus die gegenüberliegende Häuserfront beobachten konnte. Natürlich konnte er den Eingang nicht ständig im Auge haben, da der vorüberflutende Verkehr ihn meist verdeckte. Schweigend saßen sie da und warteten auf den Lemon-Drink. Als er kam, prosteten sie einander stumm zu. Keesby blickte den anderen an, schätzte, wie alt er sein mochte und überlegte, was so einen gesund aussehenden Mann zum Arzt führen könnte. Aber Mac Herbert Keesby hatte im Laufe von zwei Jahrzehnten gelernt, daß man im Gesicht der Menschen nur sehr wenig über ihren Gesundheitszustand lesen konnte. Es sei denn, man konnte in ihren Augen lesen. Dieser Mann, der ihm da gegenübersaß, hatte kristallen schimmernde tiefblaue Augen, die etwas Kühles hatten, in deren Blick etwas Zwingendes lag. »Mein Name ist übrigens Ness«, stellte sich der Norweger vor. »Machen Sie sich etwa Sorgen wegen der Sache, weswegen Sie zu mir kommen wollten?« fragte der Arzt und ließ den Blick nicht von der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Ach, nein«, entgegnete Eliot, »es wird schon nicht so schlimm sein.« »Man kann das natürlich nicht wissen. Es ist mit den Krankheiten ganz eigenartig. Erst meiden sie einen jahrelang, und plötzlich fallen sie alle zusammen über einen her. Ich habe das erlebt, vor sieben, acht Jahren. Damals, da bekam ich Scharlach, dann war die Grippe dran, dann gleich anschließend eine Lungenentzündung, und schließlich bekam ich eine Rippenfellentzündung – alles Dinge, an die ich früher nicht im Traum dachte. Plötzlich sind sie da und überfallen einen wie wilde Tiere.« Keesby war ins Reden gekommen. Er sprach von seinem Leben, und er tat dabei etwas, was er bisher niemals gemacht hatte. Er sprach, weil da einer saß, der ihm zuhörte, ohne selbst zu reden. Das war eine der großen Tugenden des Eliot Ness, vielleicht einer der Schlüssel zu seinem Erfolg: Er war ein Mann, der zuhören konnte. Herbert Keesby berichtete von seinem Leben; als er davon sprach, war kaum etwas von der Tragik in seinen Schilderungen, die sein wirkliches Leben tatsächlich zeichnete. Und es schien ein ganz abwechslungsreiches gutes, erfülltes Leben zu sein, wie er so davon sprach. »Wissen Sie«, meinte er, als er den dritten LemonDrink hinuntergekippt hatte, »ich hatte viele Freunde und doch keinen Freund. Verstehen Sie, wie ich das meine?« »Das verstehe ich, Doktor.«
Sie unterhielten sich eine volle Stunde. Das heißt, während dieser Zeit sprach eigentlich nur Keesby. Und er hatte keine unangenehme Art zu sprechen. »Tja, das war damals im St. Joseph-Haus eine ziemlich merkwürdige Geschichte. Da hatte ich eine große Chance, Oberarzt zu werden. Aber wie das so ist im Leben, Sie wissen es ja selbst, man tappt immer daneben.« Plötzlich wandte er den Kopf und blickte den Inspektor an. »Sind Sie eigentlich verheiratet, Ness?« »Noch nicht.« »Na, dann sind wir ja Leidensgenossen. Ich bin auch noch nicht dazu gekommen. Die Arbeit frißt einen auf.« Als sie sich erhoben und Eliot Ness zahlen wollte, winkte Keesby herrisch ab. »Kommt nicht in Frage. Ich hatte Sie eingeladen.« Er zahlte und gab dem Kellner ein mäßiges Trinkgeld. Als sie wieder auf der Straße waren, erklärte er: »Sehen Sie, man steht doch nie allein da. Es gibt andere Leute, die genauso sind, wie man selbst ist. Zum Beispiel Sie. Wir sind beide unverheiratet und beide ohne Hobby.« »Ich wüßte schon eines für mich«, meinte Eliot lachend. »Girls. Wir sollten uns mal umsehen unter den Schönen des Landes, Doktor.« Keesby wurde plötzlich ernst. Ohne den Mann, der ihn um halbe Haupteslänge überragte, anzusehen, sagte er: »Sie sind hinter Simone her, nicht wahr?« »Hinter wem?«
»Hinter Miß Granger.« Eliot hörte den Namen heute zum zweitenmal. Der Vater des toten Jungen hatte auch von einer Miß Granger gesprochen. »Ich habe sie heute zum erstenmal gesehen, Doktor. He, ist sie etwa Ihre Flamme?« Keesby schüttelte langsam den Kopf. »Nein.« Als sie sich verabschiedet hatten, wartete Keesby, bis der andere die nächste Straßenecke erreicht hatte und überquerte dann selbst den Fahrdamm, um von der anderen Seite aus hinter ihm herblicken zu können. Aber der Norweger war verschwunden. Wahrscheinlich wohnte er da irgendwo. Herbert Keesby verspürte plötzlich so etwas wie Eifersucht in sich aufsteigen. Dieser Ness ist hinter Simone her! Er kennt sie. Er mißtraut mir! Vielleicht hat er mich beobachtet? Er ging zurück auf die andere Straßenseite und blieb wieder in der Nähe der Bar stehen. Wo war sie bloß da drüben? Was tat sie da? Wohnte da ihr Freund? Höchstwahrscheinlich! Kaum hatte er das Haus neben der Bar erreicht und wollte gerade den Hausgang betreten, als er sie drüben aus der Tür kommen sah. Leichtfüßig wie sie gekommen war, ging sie an dem Kino vorbei, blieb bei den Bildern in den Auslagen noch einmal stehen, überquerte dann die Straße – und plötzlich sah sie ihn vor sich stehen.
»Doktor…« Keesby lüftete den Hut. »Miß Granger.« Sie sah ihn aus großen, erstaunten Augen an. »Das ist aber eigenartig. Ich hatte gerade an Sie gedacht.« Schweigend blickte er sie an. »Sie waren im Kino?« »Nein.« Sie blickte sich um und deutete auf das Haus, aus dem sie gekommen war. »Ich war bei meiner Tante Judy.« »Aha. Ich wollte mir gerade mal die Kinobilder ansehen.« Unschlüssig blieben sie voreinander stehen. Dann preßte der Mann mit belegter Stimme hervor »Darf ich Sie vielleicht ins Kino einladen?« »Ist es nicht schon etwas spät?« »Ich weiß ja nicht, wann Sie morgen früh aufstehen müssen.« »Nicht so sehr früh. Ich arbeite oben am Columbus Park in einer Parfümerie.« In einer Parfümerie also. Da paßte sie nicht hinein. Mädchen, die beim Frisör arbeiteten, die taugten nicht viel, hieß es, und gleich hinter ihnen kamen die aus der Parfümerie. Daß es traurige Papierweisheiten waren, denen er da nachhing, darüber war er sich nicht im klaren. Sie gingen zusammen zurück und blickten noch einmal auf die Kinobilder. Dann ging sie mit ihm in »Des
Lebens Herzschlag«. Es war ein trübseliger Film, der Keesby anödete. Er war froh, als er zu Ende war. Schweigend gingen sie im Strom der Menschen hinaus, und Simone fröstelte, als sie auf die Straße kam. Dabei wehte ein lauer Sommerwind vom Michigan herüber und trug die warme Luft, die den ganzen Tag über dem Wasser gelegen hatte, in die Straßenschlucht der Millionenstadt. Schweigend gingen die beiden nebeneinander. Keesby fühlte sich innerlich völlig zerrissen. Er war plötzlich unschlüssig geworden. Was sollte er tun? Die Frau war die einzige Person, die als Mitwisserin in Frage kam. Sie stellte also eine Gefahr für ihn dar. Denn sie allein hatte ihn in dem Haus gesehen, in dem er nach dem Jungen suchte. Sie hatte mit ihm gesprochen, seine Stimme gehört, seine Gestalt gesehen und sich an ihn erinnert. Daß es so war, hatte sie im ersten Moment, als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, selbst unbewußt verraten. Sie wußte jetzt ganz sicher nichts mehr davon, daß sie ihn gefragt hatte, ob er der Mann von der Schulaufsichtsbehörde wäre. Schweigend verließen sie den Stadtteil Stickney, gingen durch den großen Lyons Park und kamen nach Brookfield hinüber. In der 44. Straße verlangsamte Keesby plötzlich seinen Schritt und blieb vor einem Kiosk stehen, an dem die letzte Nachtausgabe der »Chicago News« in dem Scheinwerferlicht hing, das der raffinierte Kioskbesitzer
an einem Baum hatte anbringen lassen. Auf einem roten Balken stand da die Schlagzeile: Wieder ein Toter in Brookfield! Unter dem roten Balken stand: Der vermißte Junge aus der Ress-Park-Avenue in einem der Kanäle von Downtown tot aufgefunden. Langsam war Simone dem Mann gefolgt, blickte über seine Schulter auf die Zeitung und erschauerte plötzlich. Da wandte Keesby sich um und blickte in ihr Gesicht. In ihre großen wasserhellen Augen stand auf einmal die Angst. »Ist es nicht furchtbar?« preßte sie dumpf hervor. »Was meinen Sie?« »Das mit dem kleinen Benny Coster. Er wohnte doch bei mir im Haus, gleich über mir.« »Ach –?« »Er ist plötzlich verschwunden. Und wissen Sie, was das Merkwürdige daran ist…« Jäh unterbrach sie sich. »Was ist merkwürdig?« drang da die Stimme des Mannes an ihr Ohr. »Ach, nichts.« »Haben Sie plötzlich das Vertrauen zu mir verloren, Miß Granger?« drängte Keesby. Sie schüttelte den Kopf und ergriff seinen Arm, hakte sich bei ihm ein und blickte ihn lachend an. »Nein, nein, es war nichts.« Sie hat sich bei mir eingehakt! Seit neunzehn Jahren hat sich keine Frau mehr bei mir eingehängt. Berryl war die erste, und sie war auch die letzte, die es getan hatte.
Sie hängt sich bei mir ein, um mich zu verspotten und zu verlachen. Dann schlug sie mir zum Abschied mit der Peitsche ins Gesicht. Wenn ich damals die Kugel durch den Lauf gebracht hätte, als ich auf sie wartete, hätte ich in ihr Gesicht geschossen, in ihre Augen, in ihren Mund. Sechs Schüsse hätte ich auf sie abgegeben. Noch im Stürzen hätte sie meine Kugeln aufgefangen. War es nicht ein Unsinn, sich mit diesen Gedanken zu befassen? War es nicht direkt schon krankhaft, das in einem Augenblick zu tun, wo sich eine andere Frau bei ihm eingehängt hatte und dicht neben ihm herging? Sie schwiegen, bis sie vor Simones Haustür standen. »Hier wohnen Sie?« »Ach ja, das wußten Sie ja gar nicht. Es ist gleich hier um die Ecke. Wenn ich also mal krank bin, habe ich es nicht weit zu Ihnen.« »Ich wünsche nie, daß jemand krank ist«, sagte er da wie zu sich selbst. Plötzlich wurde seine Kehle pulvertrocken. Was sollte das bedeuten! Fing es wieder so an wie damals vor neunzehn Jahren? Drang alles noch einmal auf ihn ein, was er schon einmal erlebt hatte? Kam alles wieder zurück? War wieder eine Frau in sein Leben getreten, die ihn in glühende Hitze versetzte, nur um ihn dann zu verspotten, ihm ins Gesicht zu schlagen?! Er trat einen halben Schritt zurück, senkte den Kopf, blickte auf den grauschimmernden Asphalt der Straße, sah den vorübersirrenden Autos nach und blickte dann auf seine Armbanduhr.
»So, ich glaube, ich sollte Sie jetzt nicht länger aufhalten, Miß Granger.« »Vielleicht werde ich aber doch einmal wieder krank«, sagte das Mädchen. »Darf ich dann zu Ihnen kommen?« Ganz tief aus seiner Brust bohrte sich ein winziger glühender Punkt nach vorn und fraß sich den Weg über die Nervenbahnen zu seinem Herzen, drang weiter hinauf bis in seinen Schädel und brannte dann glühend hinter seiner Stirn zu einer lodernden Flamme auf. Plötzlich griff er nach ihrer Hand, bückte sich über sie und preßte einen feuchten, leidenschaftlichen Kuß darauf. Erschrocken zog Simone die Hand zurück. Als sie die Tür schon geöffnet hatte, blieb sie noch einmal stehen, lächelte ihm zu und sagte: »Ich werde sicher bald wieder krank, Doktor.« Noch minutenlang stand Keesby vor ihrer Haustür mit dem Gefühl, daß sich alles um ihn drehte. Was geschah da! War sie in ihn verliebt? Ja, das mußte es sein. Ja, sie war in ihn verliebt. Um Himmels willen, und dieses Geschöpf hatte er vernichten wollen! Niemals hatte er den Heimweg von seiner Praxis froheren Mutes angetreten als an diesem späten Abend. Das furchtbare Geschehen in der Wohnung unter seiner Praxis, das mußte vergessen werden. Und auch das, was sich da vor drei Tagen drüben in Downtown ereignet hatte. Aber dann sah er wieder das verquollene Gesicht des Jungen vor sich, der unter seiner würgenden Hand
erstickte, und der ihn aus Augen angestarrt hatte, in denen das tödliche Entsetzen stand. Sie hatten ihn aus dem Kanal gefischt. Damit hatte er ja rechnen müssen. Nur hatte er gehofft, daß es sehr viel später geschehen würde. Aber was konnte es ihm schaden? Er hatte mit dem Jungen nichts zu tun. Und doch! Wieder unterbrach er seine Gedanken, blieb stehen, blickte sich um und starrte in die grellen Scheinwerfer eines Wagens, der dicht neben dem Gehsteig hielt. Ein Wagenschlag sprang auf, und eine große Frau im weißen Kostüm stieg aus. Sie hatte schulterlanges blondes Haar und ein hübsches Gesicht. Der Mann, der jetzt auf der anderen Seite des Wagens ausstieg, um das Fahrzeug herum kam, blieb vor ihr stehen, zog sie an sich und küßte sie sanft. Keesby wandte sich ab. Er würde auch bald eine Frau küssen, und zwar nicht nur sanft, sondern wild und leidenschaftlich. Aber diese gleiche Frau war das einzige Verbindungsglied zu dem toten Jungen aus dem Kanal in Downtown! Er rannte plötzlich los, als wären sie hinter ihm her. Sein Körper trieb Schweiß, und mit keuchendem Atem kam er vor dem Haus an, in dem er wohnte. *
Am Montagmorgen, als Keesby auf dem Weg zu seiner Praxis war, blieb er vor einem Zeitungskiosk stehen und starrte aus schmalen Augen auf die Schlagzeilen einer Zeitung, die ihm da entgegenblickte. Polizei auf der Spur des Kindesmörders! Das FBI ist mit der Aufklärung des Mordes an dem kleinen Bernhard Coster beschäftigt. Wie ein Sprecher des Bundeskriminalamtes mitteilte, steht der Fall kurz vor seiner Aufklärung. Der Mörder muß noch von einem Zeugen identifiziert werden. Keesby taumelte zurück. Er hatte das Gefühl, von einem schweren Faustschlag getroffen worden zu sein. War das ein Bluff? Wahrscheinlich. Ebensogut konnte es den Tatsachen entsprechen. Das bedeutete dann, daß ein Zeuge da war, der ihn identifizieren würde. Irgend jemand mußte ihn gesehen haben. Aber es hatte ihn niemand gesehen. Er wußte genau, daß ihn niemand mit dem Jungen in Downtown beobachtet hatte. Aber auf dem Weg dorthin hatten sie viele Menschen gesehen. Hunderte sogar. Aber es war eine bekannte Tatsache, daß man unter vielen Leuten selbst einer von vielen war und niemandem auffiel. Einzelnen, denen fiel man eher auf. Vor allem einem einzigen. Sie hat mich verraten! Wild hämmerte das Blut in seinen Schläfen. Sie hat mich verraten! Er blieb stehen, preßte beide Hände vors Gesicht und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Was war jetzt zu tun? Er mußte vollkommen ruhig werden und
ganz klar und nüchtern überlegen. So klar und nüchtern, wie er den Mord an Mrs. Scranton geplant hatte. Jawohl, er hatte ja Mrs. Scranton umbringen wollen. Statt ihrer hatte er den Mann umgebracht. Sie war ja nicht daheim gewesen. Er mußte völlig ruhig bleiben, wenn er sich nicht selbst in die Hölle reiten wollte. Noch war nichts geschehen. Noch hatte sich niemand von der Polizei bei ihm blicken lassen. Verdammt, er mußte in die Praxis. Genau um acht kam die alte Fettel aus der Plainview Avenue, die mit dem offenen Bein. Und dann war der Mann mit der zerschnittenen Hand da, der angeblich in Glasscherben gefallen war. Dann wollte sich noch dieser Ness dazwischenschieben lassen; mochte der Teufel wissen, was so einen Menschen zum Arzt führte. Vielleicht hatte er ein eingebildetes Leiden. Na ja. Von solchen Leuten lebten die meisten Ärzte. Man muß das eingebildete Leiden zu pflegen verstehen, hatte ein alter deutscher Professor einmal in der ersten Klinik gesagt, in der gearbeitet hatte, dann hält man sich als Arzt am besten am Leben. Denn gegen die wirklichen Krankheiten haben wir ja kaum etwas auszurichten. Es war eine bittere Wahrheit. Aber eine Wahrheit. Er mußte sofort zu ihr. Für den Fall, daß sie gesprochen hatte, vielleicht nur eine Andeutung gemacht hatte, sollte sie zu nichts weiterem kommen. Vielleicht hatte sie seinen Namen ja noch nicht genannt.
Und er hatte noch geglaubt, daß ein Glück auf ihn zugekommen wäre, ein Glück, das ihm Liebe verheißen sollte. Liebe in den Armen der schönen Simone Granger! Ein Frevel war ein solcher Gedanke. Er wußte es selbst. Seit zwanzig Jahren wußte er, daß es sinnlos war – und länger schon. Denn die Frauen verachteten ihn. Er stand auf einem Abstellgleis des Lebens, auf dem es kein Vorwärtskommen gab. Diese Simone hatte ihn genauso verlacht wie Berryl, und die Stunde, in der sie ihm die Peitsche ins Gesicht geschlagen hatte, wäre nicht fern gewesen. Er ersparte sich jetzt nichts anderes als den Schlag, den sie ihm versetzt hätte. »Sie muß sterben!« kam es röchelnd aus seiner Kehle. »Ich muß ruhig werden. Vollkommen ruhig.« Er tastete nach seiner Jackentasche, in der er die beiden kleinen Fläschchen mit den Giftlösungen hatte. Es waren Mixturen, die er selbst zusammengestellt hatte. Absolut tödliche Mixturen. Und schwer nachweisbare Giftstoffe. Er hatte lange darüber nachgegrübelt, ohne sich damals Gedanken darüber gemacht zu haben, daß er einen Menschen damit vom Leben zum Tod befördern wollte. Dabei war in seinem Unterbewußtsein niemals ein anderer Gedanke gewesen als der der Rache. Jawohl, er würde sich rächen an Berryl und an allen Frauen. Als er das Haus erreichte, in dem Simone Granger wohnte, ging er mit raschem, aber nicht hastigem Schritt die Treppe hinauf, und schon vom letzten Treppenabsatz
her sah er zu seiner Verblüffung, daß die Wohnungstür nur angelehnt war. War das ein Wink des Himmels? Er blieb stehen, lauschte ins Treppenhaus, schob dann die Tür etwas weiter auf und stand gleich darauf im Korridor. Er schloß die Tür und hörte plötzlich den raschen Schritt eines Mädchens nebenan im Zimmer. Die Tür zum Wohnraum wurde geöffnet, und Keesby blickte in ihr Gesicht. Da stand sie vor ihm und sah ihn aus großen, erschrockenen Augen an. Er hatte den Mund geöffnet und schob die Unterlippe vor. Nur die vom Rauchen gelben Zähne des Unterkiefers waren zu sehen. Seine Augen waren klein und strichdünn geworden. Ein Zittern war in seinen Händen. »Ja, bitte«, preßte die Frau mit belegter Stimme hervor. »Ich bin’s nur«, brach er heiser über die Lippen. »Was wollen Sie?!« »Sie sollen nicht erschrecken.« »Aber erlauben Sie…« Da war er bei ihr, schob sie zurück und stieß die Tür zum Wohnzimmer zu. Sie wollte ausweichen. Aber schon hatte er sie gepackt, stieß sie gegen die Wand neben der Wohnzimmertür und preßte ihr seine breite, kurzfingrige Hand über den Mund. Das Mädchen war steif vor Entsetzen und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Plötzlich gaben die Hände, die sich nach dem Hals des Mannes ausgestreckt hatten, die nach seinem Haar greifen wollten, nach, fielen
schlaff an ihrem Körper hinunter. Sie sackte in sich zusammen und lag ohnmächtig neben der Tür. Keesby sah sich fieberhaft um, lief auf den Wandschrank zu, nahm eine Mineralwasserflasche heraus und ein Glas, goß etwas Mineralwasser in das Glas, und dann träufelte er aus jeder seiner Flaschen zwei Tropfen in die Flüssigkeit. Er schüttelte das Glas. Und im Augenblick, in dem das Mädchen die Augen öffnete, hielt er ihr das Glas an die Lippen. »Trinken Sie. Sie müssen einen Schluck trinken.« Das Mädchen hatte die Flüssigkeit schon im Mund, spie sie dann aber wieder aus, schluckte nun doch und wurde von einem kräftigen Hustenkrampf befallen, da ihr etwas von der Flüssigkeit in die Luftröhre gekommen war. Plötzlich war sie wieder voll zu sich gekommen und blickte den Mann tödlich erschrocken an. Sie wollte sich aufrichten, sackte aber in das linke Knie ein, krampfte die Hand um eine Sessellehne, wollte nach der Türklinke greifen, fiel aber wieder zu Boden, stürzte hintenüber und lag lang ausgestreckt auf den Dielen. Ihre Augen standen weit offen – und sie waren dunkelbraun! Keesby nahm es mit einem eisigen Erschauern wahr, plötzlich stieg es an die Oberfläche und dann war es ganz deutlich für ihn: Sie ist es nicht! Es ist nicht Simone! Wie gelähmt von dieser Erkenntnis, verharrte er auf der Stelle und starrte auf die Frau nieder.
Und doch war sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Was hatte es mit diesem Spuk auf sich? In panischer Hast verließ er die Wohnung. Er hatte kaum die Straßenecke erreicht und blickte sich noch einmal um, als er sie auf der anderen Straßenseite kommen sah. Mit federndem Schritt und in einem hellblauen Kleid. Simone! Keesby war schweißnaß. Er wandte sich um und ging in seine Praxis. Vom Flur aus hörte er schon das Husten der Leute im Wartezimmer und ging weiter durchs Bestrahlungszimmer in den Behandlungsraum, wo er Miß Couler schon mit rügender Miene vorfand. »Es ist ein paar Minuten später geworden. Ich bin noch aufgehalten worden«, sagte er. »Kann ich Mr. Goddard hereinlassen, Doktor?« »Ja, ja, Augenblick. Ich wasche mir nur eben die Hände.« Kaum stand er vor dem Becken und hatte die Hände unter den kühlen Wasserstrahl getaucht, als das Telefon schrillte. Er wandte sich nicht um, wusch sich die Hände weiter und hörte, wie Miß Couler abhob und sich meldete. »Hier Praxis Dr. Keesby. Wer ist da? Ich verstehe nicht, Miß Granger?« Keesby hielt inne, ließ die nassen Hände über dem Becken und lauschte angestrengt.
»Doktor, hier ist eine Frau, die Sie unbedingt sprechen will.« Er trocknete sich ohne Hast die Hände ab, kam dann mit seinem etwas kurzen Schritt auf den Schreibtisch zu und nahm den Hörer auf. »Keesby.« »Hier ist Simone, Doktor«, hörte er ihre bebende Stimme. »Es ist etwas Entsetzliches passiert.« »Aber beruhigen Sie sich doch, Miß Granger. Wenn Sie wollen, komme ich gleich hin.« »Ja, bitte, Doktor. Ich flehe Sie an. Es ist etwas mit meiner Schwester…« Er nickte und sagte: »Ich komme sofort.« Er legte den Hörer auf und blickte Miß Couler an. »Ich muß noch für ein paar Augenblicke weg. Es ist nicht sehr weit von hier.« »Ja, gut, Doktor«, sagte die Frau und zog die Schultern hoch, um dann mit Leichenbittermiene auf das Wartezimmer zuzugehen. Als sie die Tür aufgerissen hatte, ächzte sie im freundlichen Krankenhauston: »Der Doktor kommt ein paar Minuten später.« Die Patienten nahmen es schweigend zur Kenntnis. Als Keesby vor der Wohnungstür stand, die er erst vor wenigen Minuten nach dem Mord an dem Mädchen hinter sich geschlossen hatte, setzte er nur zögernd den Finger auf den Klingelknopf.
Rasche Schritte waren zu hören. Da wurde die Tür aufgerissen. Mit kalkweißem Gesicht stand Simone Granger da und blickte ihn an. »Doktor«, stammelte sie, »stellen Sie sich vor: Meine Schwester, sie liegt da und rührt sich nicht mehr. Und sie hat die Augen offen. Sie muß in einem Starrkrampf liegen.« Der Arzt trat näher, legte dem Mädchen beruhigend die Hand auf die Schultern, während er die Tür schloß. »Kommen Sie, Simone, beruhigen Sie sich erstmal. Es wird sich alles finden.« Er ging an ihr vorbei und blieb in der offenen Wohnzimmertür stehen. Er bückte sich über die leblose Gestalt, prüfte ihren Puls und horchte dann nach ihrem Herzschlag. Ganz langsam hob er den Kopf und blickte zu Simone auf, die mit zusammengefalteten Händen hinter ihm stand. »Es tut mir leid, Simone. Ich muß Ihnen eine traurige Mitteilung machen.« »Nein«, stammelte das Mädchen bebend vor Erregung. Er nickte langsam. »Doch, Simone. Ihre Schwester ist tot.« »Aber das ist doch unmöglich! Das kann doch gar nicht sein. Sie war doch noch ganz munter, als sie vorhin kam. Wir wollten zusammen zum Tennis gehen, denn wir haben heute beide frei. Wissen Sie, es ist in jedem Monat ein Tag…« Langsam erhob er sich. »Ist sie immer gesund gewesen?«
»Ja«, kam es etwas zögernd über ihre Lippen. »Na, ich glaube, Sie verschweigen mir da etwas, Simone.« Das Mädchen sank auf einen Stuhl und stürzte den Kopf in beide Hände. »Sie ist – sie war herzleidend. Irgend etwas mit ihrem Herzen war nicht in Ordnung. Das hatte sie schon als Kind.« Keesby hatte das Gefühl, daß ihm ein Mühlstein von der Seele gerutscht war. Nickend erklärte er. »Sehen Sie, Simone, das ist es. Ihr Herz hat ausgesetzt. Ganz plötzlich.« »Ich kann das nicht verstehen«, stammelte sie. »Ich kann es einfach nicht verstehen.« Er blickte sie forschend an. Nein, plötzlich wußte er es: Diese Frau hatte ihn nicht verraten. Sie griff nach seiner Hand wie nach einem rettenden Strohhalm, an dem sie sich aufzurichten versuchte, umspannte sie und legte ihr tränennasses Gesicht auf seinen Unterarm. »Ach, Doktor, ich bin ja so unglücklich!« * Hautnah war der Spürwolf vom Oakwood Cemetery dem Mörder schon gekommen, als er im letzten Augenblick von der Fährte abgelenkt wurde. Es war Mrs. Betty Scranton, die ihn von der heißen Spur wegzog. Es war nicht etwa so, daß er einen greifbaren Verdacht gegen Dr. Keesby gehabt hätte. Es
gab ja nicht den mindesten Anhaltspunkt dazu. Er hatte andere Leute im Hause befragt, hatte die Büroleiter der Firmen des Hauses in der Arthur Street 94 verhört, und Keesby, der ja auch zu den Mitbewohnern des Hauses zählte, hatte er gesprochen. Daß er ihm dann später ein Stück gefolgt war, hatte noch nichts auf sich. Es war nur ein Gefühl gewesen, das ihn auf diesen Weg gebracht hatte. Er ahnte nicht, wie nahe er da bereits der Lösung des Rätsels gewesen war. Wie gesagt: Betty Scranton zog ihn von der heißen Spur ab. Er hatte Keesby kennengelernt und sich mit ihm unterhalten. Es war bei ihm immer eine Unterhaltung, die das tatsächliche Verhör verbarg. Ein Verhör, bei dem der andere sprach. Es genügte Eliot Ness, wenn der Mann, mit dem er sprechen wollte, redete. Und Keesby hatte ja geredet. Er war ein eigenartiger Mensch und doch auch wieder durchschnittlich. Ein Arzt mit Eigenheiten, mit Alltäglichkeiten und Sorgen. Daß er nicht verheiratet war, konnte ihm schwerlich als belastend angerechnet werden. Denn letztlich war der Chef-Inspektor der Spezial-Abteilung des FBI am Oakwood Cemetery auch nicht verehelicht. Und doch war da etwas mit diesem Doktor Keesby, dessen Leben der Agent Ness sofort hatte durchleuchten lassen. Es gab keinen dunklen Punkt darin. Alles hatte seine Ordnung. Und doch –!
Eliot Ness hätte nicht erklären können, was ihn wie mit magischer Kraft hinauf zu diesem Mann in die Praxisräume gezogen hatte, als er bei den Scrantons an der Tür gewesen war. Er hätte dann auch bestimmt nicht sagen können, was ihn Stunden später hinter Keesby hergeführt hatte. Er war ihm ganz einfach gefolgt und hatte ihn angesprochen. Sie waren zusammen in der Bar gewesen, hatten etwas miteinander getrunken, und dann hatte Keesby etwas von sich erzählt. Alles war so, wie es sich hunderttausendfach an den Abenden in den Bars in der Stadt abspielte. Zwei Männer saßen beieinander und unterhielten sich. Daß es in diesem Fall einmal der sonst so schweigsame Herbert Keesby war, der gesprochen hatte, lag eben an der Stimmung, in der er sich befand. Niemals sonst hätte er ein Wort über seine Lippen gebracht. Er hatte ja nichts gesagt, das ihn belastete, nichts, das ein schiefes Licht auf ihn hätte werfen können. Im Gegenteil. In der Stunde, in der Eliot Ness ihn kennengelernt hatte, hatte der Arzt einem Mädchen das Leben gerettet. Wenn das nichts war, das für ihn sprach, was sollte dann noch für einen Menschen sprechen. Und doch –! Weshalb mußte man sich etwas suchen, das für einen Menschen sprach, dem man aus einem unbewußten Gefühl heraus gefolgt war? Doch zurück zu Betty Scranton. Eigentlich trug Cassedy die Schuld. Denn er hatte herausgefunden, daß sie keineswegs nach Detroit
gefahren war, wie sie dem Ehemann und zwei Hausbewohnerinnen erklärt hatte. Er hatte festgestellt, daß sie bei der Schwester erst für den übernächsten Tag angemeldet war. Sie mußte also, nachdem sie, wie festgestellt wurde, den Zug nach Detroit genommen hatte, an den ihr Mann sie noch begleitet hatte, unterwegs ausgestiegen sein. Der Apparat des FBI lief auf Hochtouren. Achtzehn Stunden später hatten die G-men festgestellt, daß eine Elisabeth Scranton in South Bend in einer Pelzhandlung eine Bestellung aufgegeben hatte. Sie war am Morgen des Tages nach ihrer Abfahrt in dem Versandhaus aufgetaucht, mußte also die Nacht in South Bend zugebracht haben, und hatte sich dann mehrere Stunden lang Pelze vorführen lassen: Winterpelze zu Sommerpreisen. Das FBI stellte fest, daß sie seit längerem in schriftlichem Kontakt mit dem Versandhaus stand. Als sie am späten Nachmittag des nächsten Tages in Chicago vor Eliot Ness und Pinkas Cassedy im Verhörzimmer saß, war ihr Gesicht kreidebleich, und ihre Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen. Sie hatte die Nachricht vom Tod ihres Mannes bei ihrer Schwester erhalten, als sie da von FBI-Leuten nach ihrem Eintreffen abgefangen wurde. Sie mußte sofort mit nach Chicago kommen und wurde Eliot Ness vorgeführt. Zitternd und zusammengekauert hockte die große, füllige Frau da und starrte den Chef-Inspektor aus ängstlichen Augen an.
»Also, Mrs. Scranton, Sie sind nicht gleich durch nach Detroit gefahren?« »Nein«, stammelte sie. »Wo sind Sie gewesen?« »Ich habe unterwegs in South Bend Bekannte besucht.« »Bekannte?« »Ja, es wird doch wohl noch gestattet sein, Bekannte zu haben.« »Sie brauchen nicht so aufgeregt zu antworten, Mrs. Scranton. Es handelt sich hier um die Untersuchung eines Mordfalles.« »Das weiß ich ja«, gab sie jetzt scharf zurück. Obwohl sie vor Angst bebte, gab sie unentwegt spitze Antworten. »Also, Sie haben Bekannte in South Bend besucht?« »Ja. Weshalb auch nicht?« »Wie heißen die Leute?« »Weshalb soll ich das sagen?« »Ich sagte es Ihnen schon. Es handelt sich hier um die Aufklärung eines Mordfalles, Mrs. Scranton, und nicht um unsere persönliche Neugier.« »Ja, ja, natürlich, es handelt sich um einen Mordfall.« »Nicht um irgendeinen Mordfall, Mrs. Scranton, sondern um den Mord an Ihrem Mann.« Sie schrak zurück und schüttelte den Kopf. »Weshalb betonen Sie das so? Ich weiß ja, daß er ermordet worden ist. Es ist mir so unfaßlich wie Ihnen. Das können Sie mir glauben. Sicher, Greg ist immer ein
eigenartiger Bursche gewesen. Und weiß der Teufel, was er angestellt hat…« »Ein eigenartiger Bursche ist er gewesen?« forschte Cassedy rasch. »Ja, natürlich. Das war er schon. Das muß man sagen. Ich hätte ihn damals nicht heiraten sollen. Meine Mutter ist gegen ihn gewesen.« »Ihre Mutter ist tot?« »Ja.« »Was für Bekannte haben Sie in South Bend?« »Ich sagte Ihnen doch schon, daß es Sie nichts angeht.« »Irrtum, Mrs. Scranton, Sie müssen die Wahrheit sagen.« »Well, ich habe da eine alte Freundin besucht.« »Das stimmt aber nicht, Mrs. Scranton.« »Es stimmt wohl! Ich möchte wissen, was dieser Besuch mit dem Mord an meinem Mann zu tun hat.« »Das wollen wir ja eben herausfinden. Wie lange waren Sie in South Bend, Mrs. Scranton?« »Von morgens…« »Ach, Sie haben die Freundin morgens aufgesucht?« »Ja, natürlich.« »Wo haben Sie geschlafen?« »In einem Hotel.« »Können Sie uns den Namen nennen?« »Nein, den habe ich vergessen.« »Sie waren im Victoria-Hotel, unweit vom Bahnhof.« Die Frau schrak zurück und preßte ihre Hände verzweifelt um ihre Handtasche.
»Also, Mrs. Scranton, wollen Sie sich nicht zu einem Geständnis bequemen?« kam es da in fast väterlichem Ton über die Lippen Cassedys. »Zu einem Geständnis?« Sie fuhr hoch und beugte sich weit über den Tisch. »Was soll das heißen? Sie wollen mich doch nicht etwa der Mittäterschaft beschuldigen?« »Von Mittäterschaft kann keine Rede sein, Mrs. Scranton«, sagte Eliot kühl. »Aha, und was wollen Sie dann von mir? Ich weiß von der ganzen Geschichte nichts. Greg ist ein merkwürdiger Bursche gewesen.« »Sie sagten es schon einmal. Würden Sie es uns bitte erklären?« »Was gibt’s da zu erklären. Meine Mutter war gegen ihn und meine Tante auch. Ich hätte auf sie hören sollen. Sie mochten ihn schon immer nicht. Er war ein vertrockneter Bursche, der nur geilen Weibern nachblickte…« »Mrs. Scranton, wir müssen Sie bitten, sich genauer auszudrücken.« »Nun ja, Sie sollen es ruhig wissen. Vor sieben Jahren hat er ein Verhältnis mit einer Bardame gehabt. Jawohl. Ich kann es beschwören. Meine Freundin Mary kann es beweisen.« »Aha. Wie ist der Name Ihrer Freundin?« »Felicitas Mary Myers.« »Wohnung?« »91. Straße Nummer 137, III.« »Und der Name der Freundin Ihres Mannes?«
»Sie hieß Ruth. Ich weiß nur, daß sie Ruth hieß. Ich glaube Anderson. Aber beschwören kann ich es nicht. Es kann auch Larsen sein oder Ohlsen. Irgend so ein nordischer Name war es. Sie war eine Schwedin und hatte langes blondes Haar und ein fürchterlich geschminktes Gesicht. So eine richtige Filmlarve, wissen Sie? Mein Mann trug sein ganzes Geld zu ihr.« »Wie heißt die Bar, in der diese Frau arbeitete?« »Es war die – ich habe es vergessen.« »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie sich daran erinnern würden.« »Ich werde es mir überlegen. Vielleicht fällt es mir wieder ein.« »Wo gingen Sie hin, nachdem Sie bei Ihrer Freundin in South Bend waren?« »Ich habe den Zug bestiegen und bin weitergefahren.« »Nein, das stimmt nicht. Sie sind erst am nächsten Morgen weitergefahren und haben auch eine zweite Nacht in South Bend verbracht.« »Woher wissen Sie das?« »Das ist unsere Sache. Würden Sie sich jetzt also zur Wahrheit bequemen?« »Ich habe Ihnen schon alles gesagt. Ich habe mit meiner Freundin ein paar Tage zu tun gehabt.« »Ach, zu tun hatten Sie mit ihr.« »Wie heißt die Freundin?« »Ich erklärte Ihnen schon, daß ich das nicht sagen möchte. Auch auf die Gefahr hin, daß Sie glauben, daß ich da einen Mann getroffen hätte.«
»Diese Erklärung ist gar nicht so uninteressant, Mrs. Scranton«, kam es da barsch von Cassedys Lippen. »Was soll das heißen?« »Es wäre nicht uninteressant für die Polizei, wenn die Frau eines Mannes, der ermordet worden ist, ihren Freund aufgesucht hat. Vielleicht gibt’s da gewisse Zusammenhänge.« Ein Schatten flog über das Gesicht der Frau. Sie ballte die Fäuste und legte sie auf den Tisch. Man merkte, daß sie es gewohnt war, unbeherrscht zu reagieren. Am liebsten hätte sie jetzt losgebrüllt, so, wie sie es mit ihrem Mann immer getan hatte, der jetzt drüben im Leichenschauhaus lag, wo er seziert worden war. Da sie noch keine Einzelheiten über den Tod ihres Mannes erfahren hatte, fragte sie jetzt: »Er ist erschossen worden?« »Wissen Sie es nicht?« »Nein, sonst würde ich ja nicht fragen. Er ist also nicht erschossen worden? Ich habe schon immer gewußt, daß es ein bitteres Ende nehmen würde. Es war ja schon unheimlich mit ihm.« »Wieso war es unheimlich mit ihm?« »Er hatte so seltsame Angewohnheiten.« »Und die wären?« »Das kann ich so nicht sagen. Er bastelte an so eigenartigen Geräten herum.« »Meinen Sie die kleinen Windmühlen, die er gemacht hat?«
»Na ja, finden Sie nicht, daß es merkwürdige Gebilde sind?« »Ich kann nichts Merkwürdiges daran finden.« »Mir jedenfalls sind sie immer unheimlich vorgekommen. Und dann sein komischer Klub da draußen.« »Meinen Sie den Klub, in dem Ihr Mann einige Jahre verkehrte?« »Ja, den meine ich.« »Aber den besuchte er doch schon seit langem nicht mehr.« »Das kann sein. Aber als ich vor ein paar Jahren aus dem Urlaub zurückkam, da war er so ganz anders. Bestimmt hatte er da irgend etwas getan. Ich bin überzeugt, daß eine Frau im Spiel steckte und vielleicht noch etwas anderes.« »Was meinen Sie mit etwas anderes?« »Ach, das kann ich Ihnen nicht so genau beschreiben. Jedenfalls wundere ich mich gar nicht, daß er vergiftet worden ist.« Da war es! Dieses Wort war es, das den Norweger von der Fährte abzog. Bis jetzt nämlich hatte er diese Frau nur für selbstherrlich, verdreht, egoistisch und hochgradig hysterisch gehalten. Er kannte ja ihren Weg nach Detroit. Er wußte, daß sie sich die Tage in South Bend aufgehalten hatte und da das Pelzversandhaus aufgesucht hatte. Nachmittags war sie dann in Cafés gewesen und hatte das sogenannte Urlaubsgeld in
bessere Abendrestaurants getragen. Sie hatte am Abend, bevor sie nach Detroit weitergefahren war, einen Mann in einem Restaurant kennengelernt und sich mit ihm für eine Kinovorstellung verabredet. Es war ein Farmer aus der Umgebung der Stadt, ein neunundfünfzigjähriger Mann, den sie selbst angesprochen hatte. Der Lebenshunger hatte die Frau vor diesem Abenteuer nicht haltmachen lassen. Sie war mit dem Mann anschließend in ein Hotel gegangen und hatte ihn mit auf ihr Zimmer genommen. All das hatte das FBI festgestellt. Während ihr Mann daheim vergiftet in seiner Wohnung lag, hatte sie sich in South Bend mit einem alternden Farmer abgegeben, um ein Abenteuer zu suchen. All das war logisch, schien auf einer Ebene zu liegen, paßte zum Gesamtbild. Aber was sie da eben über die Lippen gebracht hatte, das änderte alles mit einem Schlag. Sie hatte das Wort »vergiftet« ausgesprochen. Davon konnte sie noch nichts wissen! Kein Mensch hatte mit ihr über die Todesart ihres Mannes gesprochen. Das war strikter Befehl von Chicago an alle G-men gewesen, die mit diesem Fall in Verbindung standen. Und nichts klappte besser als die Befehlsdurchsage beim Federal-Bureau of Investigation. Das Bundeskriminalamt hatte seine Leute darauf eisern geschult. Eliot Ness wußte genau, daß die Frau nichts darüber erfahren haben konnte. Also hatte sie etwas damit zu tun!
»Mrs. Scranton«, sagte Pinkas Cassedy schroff, während er sich mit seinem Stuhl erhob. »Sie haben Ihren Mann ermordet.« »Was!« »Sie haben eben gesagt, daß Ihr Mann vergiftet worden ist.« »Habe ich das?« »Ja, das haben Sie. Glauben Sie es nicht? Soll ich das Band zurücklaufen lassen?« »Ja, ich weiß, ich habe es gesagt.« »Wer hat es Ihnen gesagt?« »Der Sheriff, der mich an der Haustür bei meiner Schwester in dieser ordinären Weise abfing.« »Ach, das hat er Ihnen gesagt? Wenn Sie gestatten, Mrs. Scranton, war es kein Sheriff, der Sie da abfing, sondern einer unserer Beamten. Und unsere Beamten hatten strikte Anweisung, Ihnen über die Art des Ablebens Ihres Mannes keinerlei Auskünfte zu erteilen.« Die Frau blickte Cassedy mit zusammengezogenen Brauen an. »Was wollen Sie? Sie verdammter Schuft. Sie wollen mir da einen Mord unterschieben.« »Bezähmen Sie sich, Mrs. Scranton, und seien Sie sehr vorsichtig in der Wahl Ihrer Ausdrücke.« »Was erlauben Sie sich!« giftete sie ihn an und ließ ihre Tasche krachend auf die Tischplatte fallen. Da stieß Cassedy seinen mächtigen Schädel plötzlich nach vorn und wäre fast mit ihr zusammengeprallt. »Setzen Sie sich!« brüllte er sie an.
Sie prallte förmlich auf ihren Stuhl zurück. Und als Eliot Ness um den Tisch herumging, neben ihr stehenblieb und die Arme über der Brust kreuzte, um sie forschend anzusehen, schluckte sie schwer. »Ich war es nicht«, stammelte sie. »Weshalb haben Sie es getan?« fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf. »Antworten Sie, Mrs. Scranton, warum haben Sie es getan?« »Ich war es nicht!« Und dabei blieb sie. Sie brach in einen Weinkrampf aus und wurde so hysterisch, daß sie schließlich einen Nervenschock bekam. Doc Hollister mußte ihr eine Spritze geben, dann wurde sie abgeführt. Also das war es. Sie hatte ihren Mann in eine Falle gelockt. Sie war von South Bend zurückgekehrt und hatte ihn in der Wohnung mit der anderen Frau erwischt. Sie hatte die Frau erwürgt und ihren Mann vergiftet. Es schien alles vollkommen klar zu sein. Als sie nach sechs Stunden noch einmal verhört wurde, saß sie zusammengesunken im Sessel und starrte dösend vor sich hin. »Ich war es nicht«, lallte sie nur. Cassedy, der vor ihr in die Hocke gegangen war, blickte ihr in die Augen. »Mrs. Scranton. Machen Sie es sich und uns doch nicht noch schwerer. Sie haben Ihren Mann getötet, und Sie haben auch die Frau getötet, die bei ihm in der Wohnung war.«
Da warf sie ihren Kopf plötzlich hoch. In den Tiefen ihrer Augen glühte es auf. Und dann nickte sie, erst langsam und dann immer schneller, so daß man befürchten mußte, daß ihr Kopf von ihrem Rumpf herunterfliegen müßte. Cassedy wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog sie aus dem Sessel hoch. »Bleiben Sie stehen, und sehen Sie mich an, Elizabeth Scranton.« Die Frau stand schwankend da und starrte in die Augen des Mannes hinauf. »Sie haben Margret Hutton erwürgt und Ihren Mann anschließend vergiftet.« Eliot Ness, der neben Cassedy am Tisch gelehnt hatte, blickte sie gebannt an. Und als sie jetzt nickte, wandte er sich ab und ging hinaus. * Die Nachtblätter schrien die Nachricht in die Welt hinaus: Betty Scranton hat die beiden Morde in Brookfield gestanden! Der große Rufus Matherley, der zu den zähesten Eliot Ness-Gegnern in der Stadt gehörte und von Al Capone dafür schon mehrfach einen Riesenstrauß weißer Chrysanthemen offeriert bekommen hatte, erkühnte sich zu der weiteren Behauptung in seiner Chicago News:
Die Mörderin nahm dem FBI die Arbeit aus der Hand, Eliot Ness konnte die Hände in den Schoß legen. Die Mörderin sagte ja! Millionen Menschen lasen diese Zeilen, die der feiste Matherley da in die Weltstadt geschleudert hatte. Es war ein Artikel, der nicht nur einen Bericht über das Geständnis der »Mörderin« brachte, sondern in dem es vor Gehässigkeit gegen den Leiter der FBI-Dienststelle am Oakwood Cemetery nur so wimmelte. Der Zeitungsmann Matherley gehörte zu den Leuten, die damals sehr dagegen gewesen waren, daß man Eliot Ness hier auf diesen Posten nach Chicago berief. Weshalb er dagegen gewesen war, ist selbst Historikern nicht gelungen, völlig einwandfrei zu klären. Vermutlich hatte Matherley selbst einen Kandidaten für diesen Posten bereit. Er war ein herrschsüchtiger Mensch, der es liebte, Anordnungen zu erteilen, und wenn es auch nur mit Hilfe der Riesenauflage seiner Zeitung möglich war. Er hatte Senatoren hin und her geschoben und nicht selten bei einer Gouverneurswahl mit seiner mächtigen Stimme den Ausschlag gegeben. Es gab kaum jemanden, der nicht wußte, daß er ein erklärter Gegner von Eliot Ness war. Nun war das in Amerika keineswegs etwas Besonderes, daß irgendein exponierter Mann einen Gegner hatte. Jeder Gouverneur hatte einen Widersacher, jeder Senator hatte einen, jeder Mann, der irgendeinen besonderen Posten hatte, der hatte auch Widersacher. Das gehörte nun mal in Amerika dazu, und alles lebte
trotzdem friedlich nebeneinander her, ohne daß es zu größeren Komplikationen kommen mußte. Zwischen dem FBI-Chef-Inspektor und dem Journalisten Matherley war es jedoch schon mehrfach zu Zusammenstößen gekommen. Allerdings hatte der Journalist sie selbst herbeigeführt. Mehrfach schon war er wie ein Elefant in das Dienstgebäude des FBI hineingestampft und plötzlich im Zimmer des ChefInspektors aufgetaucht, um diesen zu beschimpfen. Beim letztenmal war dem dicken Cassedy der Kragen geplatzt. Er hatte ihm eine gehörige Antwort gegeben und ihn hinausgeworfen. Der »Norweger« war ein Muster an Geduld und Ruhe. Nichts vermochte ihn offenbar aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vielleicht war auch das einer der Schlüssel zu seinem Geheimnis und letztlich zu seinem großen Erfolg. Doch Rufus Matherley verdarb ihm eine gerechtere öffentliche Wahrnehmung. Wie ein willenloses Werkzeug des übermächtigen Alfonso Capone agierte der Zeitungsmann, dessen Hetzartikel gegen Eliot Ness wider besseres Wissen verfaßt erschienen. Was versprach er sich wirklich von der Gunst des berüchtigten Syndikatchefs? Es war gefährlich, in die Abhängigkeit dieses auch für Matherley viel zu einflußreichen Mannes zu geraten. Al Capone kannte nur eine Meinung, die er gelten ließ – und das war seine eigene. Betty Scranton hatte also den Doppelmord gestanden. Damit war einer der eigenartigsten Kriminalfälle auf die seltsamste Weise verzwickt worden.
Weshalb Mrs. Scranton gestanden hatte, obgleich sie mit den beiden Morden gar nichts zu tun hatte, war ein Rätsel für sich. Vielleicht war es ihr eine Genugtuung, eine Rivalin tot zu wissen. Eine Frau, die mit ihrem Mann in der Wohnung gewesen war, war erwürgt worden. Wer sie erwürgt hatte, wußte sie nicht, vielleicht war es Greg selbst gewesen, der seine Liebschaft abschaffen wollte und dazu die Abwesenheit seiner Frau benutzte. Anschließend hatte er sich dann wahrscheinlich aus Angst das Leben genommen. Aber wie kam eine Frau dazu, sich mit einer solchen Schuld zu belasten? Mit der Schuld anderer? Das war ein Kapitel, das in dieser Phase des Geschehens noch keine Rolle spielte. Noch saß sie im Untersuchungsgefängnis und hatte auf den Prozeß zu warten, der noch nicht einmal anberaumt war. Also hatte der Tod des Jungen in der Ress-ParkAvenue nichts mit den beiden Morden in der Arthur Avenue zu tun. Das jedenfalls war das Fazit des Geständnisses der Elizabeth Scranton. * Es war gegen zehn Uhr am Abend. Der Himmel hatte sich mit einem Wolkenschleier bezogen, durch den die ersten Sterne nur schwach hindurchblitzten. Trotzdem war es immer noch nicht dunkel. Ein leichter Regen ging nieder und brachte angenehme Erfrischung nach der Wärme, die tagsüber geherrscht hatte.
Die beiden FBI-Agenten Ness und Cassedy standen am Ende der 71. Straße und blickten auf das Verkehrsgetriebe, das immer noch auf den großen, breiten Hauptstraßen herrschte und erst kurz vor Mitternacht etwas abflaute. »So, Boß«, meinte Cassedy, während er sich den Kragen seines leichten Mantels hochschlug. »Ich bin dafür, daß wir uns eine schöne Abendmahlzeit einverleiben.« »An was hatten Sie da so gedacht?« meinte Ness, ohne sich auch mit den Gedanken den Worten des anderen zuzuwenden. »Ach, es könnte etwas Italienisches sein.« »Hatten wir das nicht erst?« »Na, hören Sie, das ist doch schon einige Wochen her. Gut, dann werden wir etwas Französisches nehmen.« »All right.« Sie suchten ein französisches Eßlokal in der Madison Avenue auf, saßen in der ersten Etage am Fenster an einem kleinen Tisch, und Eliot konnte durch die großmaschigen Gardinen hinunter auf den vorüberflutenden Verkehr blicken. Irgend etwas war im Fall Scranton nicht in Ordnung. Aber er vermochte nicht herauszufinden, was es war. Elizabeth Scranton hatte die Morde gestanden. Mit dem Mord an dem Jungen konnte sie schwerlich etwas zu tun haben. Auf die Frage, woher sie das Gift hätte, mit dem sie ihren Mann umgebracht hatte, hatte sie nur ein Kopfschütteln.
Eliot war noch nicht ganz mit dem Essen fertig, als er sich plötzlich erhob, bei Cassedy entschuldigte und quer durch den Speisesaal auf die Theke zuging. Cassedy, der ihm nachblickte, sah ihn in der Telefonzelle verschwinden. »Was den Mann nur zu seiner Unruhe treibt«, brummte er. Dabei war Eliot Ness äußerlich absolut nicht unruhig. Im Gegenteil, er war sogar vollkommen ruhig. Eliot nahm den Hörer ab, warf einen Nickel ein und rief seine Dienststelle an. Er wurde sofort mit Inspektor Lock verbunden. »Hallo, Joe, gibt’s was Neues?« »Ja, Chef, in der Ress-Park-Avenue ist in dem gleichen Haus, in dem der kleine Bernard Coster gewohnt hat, eine junge Frau an einem Herzschlag gestorben. Nur eine Etage tiefer.« »Weiß man schon Näheres?« forschte der Norweger. »Noch nicht.« »Wer hat die Todesursache festgestellt? Der Polizeiarzt?« »Nein, ein Dr. Keesby. Er hat seine Praxis gleich nebenan.« »Vielen Dank, Joe.« Er hing ein und kam langsam an den Tisch zurück. »So«, meinte Cassedy, »haben Sie mit Ihrer Liebsten gesprochen?« Eliot setzte sich schweigend hin. Da winkte der Dicke dem Kellner und meinte, während er noch fingerschnippend dasaß:
»Na, ich wette, daß es der schwarze Lockenkopf aus dem Nestroy ist.« Eliot blickte schweigend auf die Straße. Ein schwarzbefrackter Kellner war herangekommen. »Bringen Sie mir bitte einen Kaiserschmarren«, bestellte Cassedy. »Was bitte?« »Einen Kaiserschmarren. Sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, was das ist? Das ist ein wunderbares österreichisches Gericht, und in einem erstklassigen französischen Restaurant muß ich erwarten…« »Natürlich, Mister, Sie bekommen sofort Ihren Kaiserschmarren«, meldete sich ein älterer Kellner, der neben dem jüngeren aufgetaucht war. »Kommen Sie mit, Philippe.« Eliot hob den Kopf und blickte den Dicken an. »Sie haben offensichtlich wieder großen Appetit?« »Das kann ich wohl sagen.« Der Kaiserschmarren kam, war zwar kalt, schmeckte aber ausgezeichnet. Cassedy rieb sich behaglich den Bauch. »Ach, wissen Sie, Eliot. Ich halte es mit Lukullus, der da gesagt hat: Vorsichtshalber soll man sich den Himmel schon auf Erden beschaffen.« Es war nur schwach, das Lächeln, das um die Lippen des Inspektors spielte. »Ich habe vorhin mit Lock telefoniert.« »Als wenn ich’s mir nicht gedacht hätte. Gibt’s was Neues?«
»Ja, in dem gleichen Haus, in dem der Junge gewohnt hat, den ich draußen in dem Kanal gefunden habe, ist eine junge Frau an Herzschlag gestorben.« »Scheint ja eine düstere Ecke zu sein«, meinte der Dicke, während er die Spitze einer riesigen Zigarre abbiß und dann ein Zündholz anriß. »Ein Dr. Keesby hat die Todesursache festgestellt.« Cassedy ließ das Zündholz auf den Aschenbecher zurücksinken. »Ober, zahlen!« Zwanzig Minuten später waren sie in der Ress-ParkAvenue. Aber die Wohnung war verschlossen, und auch Dr. Keesby war nicht mehr in der Praxis. Als die beiden auf dem Weg zum Oakwood Cemetery waren, fand Cassedy: »Vielleicht sollten wir uns gleich in Brookfield irgendwo etablieren, Boß. Dann hätten wir nicht immer einen so weiten Weg.« Kaum war der Chef-Inspektor in seinem Arbeitszimmer, als das Telefon schrillte. Es war der Apparat, auf dem er direkt erreicht werden konnte, ohne daß das Gespräch über die Vermittlung ging. Eine Frauenstimme drang an sein Ohr. »Sind Sie der Herr, der mir neulich die schmale hellblaue Karte mit der langen Telefonnummer gegeben hat?« »Ich hoffe es.« »Ach«, kam es leise zurück. »So sicher ist das also gar nicht. Demnach verschenken Sie Ihre hübschen Karten wohl an viele Mädchen?«
»Mit wem spreche ich?« »Ich bin Simone Granger.« Granger!? Da war er wieder, der Name. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Miß Granger? Mein Name ist übrigens Ness.« »Ach, ich weiß nicht, Mr. Ness. Wahrscheinlich ist es ganz dumm, daß ich Sie anrufe.« »Sprechen Sie nur.« Der Mann am Oakwood Cemetery hatte auf einmal das Gefühl, daß er hier etwas Wichtiges in der Hand hatte. Etwas, das ihn brennend interessieren mußte. War es etwa das Mädchen? Das blonde Girl mit den wasserhellen hübschen Augen? Nein, es mußte etwas anderes sein. »Ich glaube, Mr. Ness, ich muß mich entschuldigen, daß ich Sie angerufen habe. Es ist…« »Bitte, Simone! Sagen Sie doch, was Sie auf dem Herzen haben. Ist etwas passiert?« »Ja«, kam es ganz leise durch die Leitung an sein Ohr. »Und was?« »Meine Schwester – ich habe eine Zwillingsschwester. Das heißt, ich hatte sie…« »Simone«, sagte der Mann leise mit seiner dunklen Stimme, als plötzlich ein Schluchzen an sein Ohr drang. »Beruhigen Sie sich. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.« »Nein – das glaube ich wirklich nicht.« »Was ist mit Ihrer Schwester?« »Sie ist tot.«
Es war einen Moment still. Nur das Summen der Leitung konnten die beiden Menschen an den Enden der Drähte hören. »Plötzlich ist sie gestorben?« »Ja. An einem Herzschlag. Sie – war früher schon herzkrank. Oder nein, Mutter sagte immer, daß die Ärzte festgestellt hätten, daß sie ein empfindliches Herz hätte. Als ich heute morgen vom Brötchenholen zurückkam, lag sie tot im Wohnzimmer neben derTür. Ich konnte es erst gar nicht fassen. Sie war doch noch so munter, als sie kam. Wir wollten zum Tennis. Sie hat noch einen Schluck Wasser getrunken, denn das Glas stand auf dem Tisch neben ihr, und dann…« Wieder wurde Simone durch ein unüberwindbares Schluchzen unterbrochen, das ihr die Kehle zuschnüren wollte. »Woher wissen Sie, daß sie einem Herzschlag erlag?« »Ich habe den Arzt gerufen. Sie kennen ihn ja, Dr. Keesby. Er stellte es fest.« Eliot stand schon neben seinem Schreibtisch. »Wo sind Sie jetzt, Simone?« »In der Telefonzelle unten an der Arthur Avenue.« »Gehen Sie bitte nach Hause. Ich komme gleich.« »Aber, Mr. Ness…« »Bitte!« »Ja, gut.« *
Simone hatte die Telefonzelle verlassen, stand einen Moment unschlüssig davor und blickte die Straße hinunter. Wie ihr der ständige Verkehrslärm plötzlich auf die Nerven ging. Viel zu laut war dieses Chicago. Da war der Tod also ganz dicht zu ihr herangekommen. Der Tod, an den sie seit dem schweren Unglück so oft gedacht hatte, das den Vater und den Bruder gnadenlos dahingerafft hatte. Die Mutter war kurz darauf vor Gram gestorben. Als der kleine Bernhard Coster gestorben war, hatte sie die ganze Nacht, nachdem man ihn draußen am See in dem Kanal gefunden hatte, nicht schlafen können. Weshalb hatte er einen so kleinen Jungen geholt. Und weshalb jetzt die Schwester. Marilyn, dieses federleichte Geschöpf, das so wenig vom Leben gehabt hatte wie sie selbst. »Na, so allein?« Sie schrak zusammen und blickte in das Gesicht Dr. Keesbys. Sie wollte aufatmen und konnte es doch nicht. »Mit Ihrer Mutter telefoniert?« forschte der Arzt. »Mutter ist lange tot.« »Also mit dem Bräutigam.« Sie lächelte müde. »Da gibt es niemanden…« »Mit wem haben Sie gesprochen?« kam es da heiser über die Lippen des Mannes. Simone sah ihn fast erschrocken an. Er spürte den Fehler und griff rasch nach ihrer Hand. »Kommen Sie, ich werde Sie nach Hause bringen. Sie gefallen mir gar nicht.«
Gehorsam ging sie neben ihm her. Oben vor ihrer Wohnungstür blieb sie stehen. »Ich habe solche Angst, Doktor.« »Sie brauchen keine Angst zu haben, Simone. Ich bin ja da.« Sie nickte und schloß dieTür auf. Im Flur blieb sie stehen und sah auf die offene Wohnzimmertür. Da hatte sie gelegen, gleich neben der Tür. Von hier aus hatte sie ihre verdrehten Beine gesehen und ihre verkrampften Hände. Nie würde sie den Anblick vergessen. Plötzlich spürte sie die Hand des Mannes auf ihrer Schulter. »Wen haben Sie angerufen?« Simone stand ganz steif da, langsam wandte sie sich um. Und als sie in die Augen des Mannes sah, erschrak sie zutiefst. Sie wußte plötzlich, daß sie schon immer Angst vor ihm gehabt hatte. Eine namenlose, völlig verrückte Angst. »Mit einem Bekannten. Ness heißt er.« »Ness…« »Sie kennen ihn auch. Es ist der junge Mann, der neulich so ungestüm in Ihre Praxis kam.« »Ness?« murmelte Keesby, und fuhr sich gedankenvoll über seine faltenzerschnittene Stirn. Simone griff in dieTasche ihres Sommermantels. »Hier, das ist seine Nummer.« Sie reichte ihm ihre Karte.
Der Arzt hatte plötzlich das Gefühl, daß ihm ein Schraubstock um den Hals zusammengezogen würde. »Ness…« »Ja, so nannte er sich.« »Woher kennen Sie ihn?!« schrie er sie an. Simone wich zurück. »Aus Ihrer Praxis. Was haben Sie, Doc?« Er schüttelte den Kopf. »Ach, nichts. Ich bin auch schon durchgedreht und sehe Sie von allen Seiten bedroht. – Was wollte er von Ihnen, dieser Ness? Ach, ja, Sie haben ihn ja angerufen.« »Er sagte mir, daß ich ihn anrufen sollte, wenn ich in Not wäre…« Keesbys Gesicht war plötzlich leichenblaß. »Dann ist er also… von der Polizei?« »Von der Polizei?« stammelte Simone verblüfft. »Ja, weshalb sollte er Ihnen sonst seine Hilfe angeboten haben? Oder aber…. er will sonst etwas von Ihnen.« »Sonst etwas?« »Kannte er Ihre Schwester?« »Ich glaube nicht.« Simone sank erschöpft auf den Stuhl neben der Wohnungstür. »Warten Sie, ich gebe Ihnen etwas. Ein paar Tropfen, die werden Ihnen helfen. Sie sind ja ganz blaß.« Er ging in die Wohnstube, nahm das Glas, holte in der Miniaturküche wieder etwas Wasser dazu – und
blitzschnell goß er einige Tropfen aus dem Fläschchen in das Wasser. Als er zurückkam, war Simone aufgestanden. Keesby kam auf sie zu. Sie sah, daß seine Hand, die das Glas hielt, zitterte. »So, das werden Sie trinken.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. Da trat er dicht an sie heran. »Mund auf.« Sie nahm den Kopf zur Seite. »Sie werden das jetzt schlucken, zum Teufel!« Da schrillte die Türglocke. Die beiden sahen einander aus großen Augen an. Simone wandte sich um und öffnete. Draußen stand der Norweger und sah sie lächelnd an. Als er Keesby erblickte, meinte er: »Na, da hätte ich mir den Weg wohl sparen können. Sie haben ja schon Hilfe gefunden.« »Nein! Bleiben Sie!« flehte sie und hielt ihn krampfhaft fest. »Ich wäre sowieso nicht gegangen, Simone. Weil ich mich nämlich mit dem Doc noch zu unterhalten habe.« »Mit mir?« »Mit Ihnen.« »Worüber?« »Woran ist Simones Schwester gestorben?« »Am Herzschlag. Sie hatte ein schwaches Herz. Miß Granger hat es selbst bestätigt.«
»Sie liegt im Leichenschauhaus seit zehn Minuten und wird eben untersucht«, bluffte der Polizeioffizier. Da preßte der kalkig gewordene Arzt durch die Zähne: »Sie sind also doch – von der Polizei.« Eliot nahm seinen Ausweis hervor. »Wer hat Margret Hutton erwürgt, Dr. Keesby? Wer hat sie umgebracht?« »Sind Sie verrückt! Was geht mich eine verrückte Frau an, die nackt vom Untersuchungstisch rennt und sich bei diesem Kerl…« Jäh hielt sie inne. »Sie ist also aus Ihrem Untersuchungszimmer geflüchtet und hat bei Scranton Hilfe gesucht?« Keesby senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie hatte Krebs.« »Und?« »Scranton hat sich an ihr vergriffen.« »Und?« »Was und?« »Wer hat Scranton umgebracht?« »Er – sich?« Da hob Keesby blitzschnell das Glas an die Lippen. Der G-man schlug es ihm weg. Aber etwas von der Flüssigkeit spritzte doch noch in den offenen Mund des Mörders. Er stand mit gespreizten Beinen da und stierte den Gman an. »Reden Sie, Keesby!« »Ja, ich habe – ihn vergiftet.«
»Weil Sie fürchteten, daß Mrs. Hutton etwas verraten könnte?« »Ja.« »Und den Jungen haben Sie umgebracht, weil er etwas wußte. Weil er etwas gesehen hatte…«, tastete er sich vor. Da sackte der schwere Mann vor ihm plötzlich zusammen. Er kniete am Boden und keuchte: »Ja, er mußte sterben…« Simone stand dabei und war keines Wortes fähig. »Und ihre Schwester, weshalb starb sie?« Keesby keuchte. »Ich hielt sie für Simone. Wußte nicht…. daß sie eine Zwillingsschwester hatte…« »Und weshalb sollte Simone sterben?« Keesby schüttelte nur den Kopf und röchelte schwer. Schaum trat vor seinen Mund. Er erlitt den qualvollsten Tod, den je ein Mann durch eine Spur dieses Giftes erlitten hatte. »Jetzt weiß ich es«, flüsterte Simone da hinter dem Polizeioffizier. »Er war es also doch, der Mann, der mich nach dem Jungen gefragt hat…« Mac Herbert Keesby wurde weggeschafft. Fünf Ärzte versuchten verzweifelt, sein Leben zu retten. Aber es wäre nur eine Rettung für den elektrischen Stuhl gewesen. Neunzehn Stunden lebte der Mörder noch, ehe er dem Gift nach entsetzlichen Krämpfen erlag. – ENDE –
In 14 Tagen erscheint
Party des Todes Roman von Al Cann Der Giftmischer Dr. Keesby konnte seinem Schicksal nicht entgehen, und Eliot Ness legte einen weiteren Fall zu den Akten, der ihn von seiner eigentlichen Aufgabe abhielt, die Banden Capones und der Dillingers zu bekämpfen. Der FBI-Agent vom Oakwood Cemetery mußte mit ansehen, wie die Gangs größer und mächtiger wurden, weil er einfach keine Handhabe gegen die im Hintergrund arbeitenden Bosse aufweisen konnte. Doch Eliot Ness wußte, daß die Zeit für ihn arbeitete und daß es am Ende nur einen Sieger geben würde – das FBI. Allerdings hatte er auch in dieser Hinsicht den berüchtigten Alfonso Capone eher noch unterschätzt. Aber zunächst verschlug es ihn auf die
Party des Todes… Bei Ihrem Zeitschriftenhändler erhältlich
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