Jon Kabat-Zinn
Zur Besinnung kommen Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratene...
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Jon Kabat-Zinn
Zur Besinnung kommen Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Stephan Schuhmacher
Arbor Verlag Freiamt im Schwarzwald
Inhalt Einführung: ................................................................................................................................................... 4 Die Herausforderung eines Lebens und eine lebenslange Herausforderung................................................... 4 Erster Teil – Meditation ist nicht das, was Sie denken............................................................................... 15 Meditation ist nichts für Feiglinge ................................................................................................................ 16 Ein Zeugnis hippokratischer Integrität ......................................................................................................... 23 Meditation ist überall.................................................................................................................................... 25 Ursprüngliche Momente .............................................................................................................................. 27 Odysseus und der blinde Seher..................................................................................................................... 30 An nichts festhalten ..................................................................................................................................... 37 Wie die Schuhe entstanden: Eine Fabel ........................................................................................................ 40 Meditation ist nicht das, was Sie denken....................................................................................................... 43 Zwei Sichtweisen der Meditation.................................................................................................................. 47 Warum sich Mühe geben? — Die Bedeutung der Motivation...................................................................... 51 Ausrichten und Aufrechterhalten ................................................................................................................. 56 Präsenz ........................................................................................................................................................ 59 Ein radikaler Akt der Liebe .......................................................................................................................... 63 Gewahrsein und Freiheit .............................................................................................................................. 65 Übertragungslinien — Nutzen und Grenzen von Gerüsten ......................................................................... 69 Ethik und Karma ......................................................................................................................................... 76 Achtsamkeit ................................................................................................................................................. 79 Zweiter Teil – Die Macht der Aufmerksamkeit und das Un-Wohlsein der Welt....................................... 83 Warum ist Aufmerksamkeit so ungemein wichtig? ....................................................................................... 84 Un-Wohlsein................................................................................................................................................ 90 Dukkha ........................................................................................................................................................ 92 Dukkha-Magneten ....................................................................................................................................... 94 Dharma........................................................................................................................................................ 97 Die Stress Reduction Clinic........................................................................................................................ 100 Die unaufmerksame Gesellschaft ............................................................................................................... 103 Rund um die Uhr verfügbar ....................................................................................................................... 108 Das Gefühl verstreichender Zeit ................................................................................................................ 111 Gewahrsein hat kein Zentrum und keine Peripherie.................................................................................. 115 Leere.......................................................................................................................................................... 118 Dritter Teil – Die Welt der Sinne............................................................................................................ - 127 Das Geheimnis der Sinne und der Zauber des Sinnlichen .......................................................................... 128 Sehen ......................................................................................................................................................... 131 Gesehen werden......................................................................................................................................... 134 Hören ........................................................................................................................................................ 137 Geräuschlandschaften ................................................................................................................................ 139 Luftlandschaften ........................................................................................................................................ 143 Berührungslandschaften ............................................................................................................................. 146 In Kontakt mit der Haut ............................................................................................................................ 150 Geruchslandschaften.................................................................................................................................. 152 Geschmackslandschaften ........................................................................................................................... 155 Landschaften des Geistes ........................................................................................................................... 159 Die Landschaft des Jetzt ............................................................................................................................ 161 Vierter Teil – Die Übung der Meditation – Achtsamkeit schmecken ...................................................... 164 Meditation im Liegen ................................................................................................................................. 165 Meditation im Sitzen .................................................................................................................................. 171 Meditation im Stehen ................................................................................................................................. 178 Meditation im Gehen ................................................................................................................................. 181 Yoga .......................................................................................................................................................... 185 Nur Wissen ................................................................................................................................................ 189 Nur Hören ................................................................................................................................................. 191 Nur Atmen ................................................................................................................................................ 193 Die Meditation der Liebenden Güte........................................................................................................... 195 Mache ich es richtig? .................................................................................................................................. 204 Häufige Hindernisse auf dem Weg zur Meditation .................................................................................... 207 Stützen für die Praxis ................................................................................................................................. 211 Fünfter Teil – Möglichkeiten der Heilung – Das Reich von Geist und Körper ....................................... 216 2
Bewußtsein................................................................................................................................................. 217 Das ist nicht persönlich gemeint, aber, verzeihen Sie ... sind wir wirklich, wer wir zu sein glauben?........... 222 Selbst unsere Moleküle berühren sich......................................................................................................... 230 Keine Fragmentierung................................................................................................................................ 234 Keine Trennung......................................................................................................................................... 236 Orientierung in Zeit und Raum - Im Gedenken an meinen Vater.............................................................. 238 Orthogonale Wirklichkeit — Quantensprünge des Bewußtseins ................................................................ 243 Orthogonale Institutionen.......................................................................................................................... 247 Heilung und Bewußtsein ............................................................................................................................ 252 Glücklichsein — Meditation, das Gehirn und das Immunsystem ............................................................... 259 Homunkulus .............................................................................................................................................. 265 Propriozeption - Die gefühlte Empfindung des Körpers............................................................................ 275 Neuroplastizität und die unbekannten Grenzen des Möglichen ................................................................. 278 Sechster Teil – An der eigenen Tür ankommen ....................................................................................... 286 „Ich kann meine eigenen Gedanken nicht hören!” ..................................................................................... 287 Ich bin nicht einen Moment zum Verschnaufen gekommen ..................................................................... 288 Der Selbstbetrug der Geschäftigkeit ........................................................................................................... 291 Sich selber unterbrechen ............................................................................................................................ 295 All unsere Augenblicke anfüllen ................................................................................................................. 299 Ankommen ................................................................................................................................................ 303 Von hier aus kommen Sie dort nicht hin .................................................................................................... 306 Überwältigt ................................................................................................................................................ 318 Dialog und Diskussion............................................................................................................................... 320 Auf der Bank sitzen.................................................................................................................................... 322 Sie verrückt! ............................................................................................................................................... 325 Übergänge.................................................................................................................................................. 326 Sie machen, Sie haben ................................................................................................................................ 329 Jede Idealvorstellung von Meditation ist auch nur eine Fabrikation ........................................................... 333 Meinst du das ernst?................................................................................................................................... 335 Arroganz und Anspruchsdenken ................................................................................................................ 337 Tod ............................................................................................................................................................ 341 Stirb, bevor du stirbst................................................................................................................................. 345 Stirb, bevor du stirbst (II)........................................................................................................................... 349 Der Weiß-nicht-Geist................................................................................................................................. 352 An der eigenen Tür ankommen.................................................................................................................. 353 Siebter Teil – Die Heilung des politischen Körpers ................................................................................. 355 Die Heilung des politischen Körpers.......................................................................................................... 356 „I Read the News Today, Oh Boy” ............................................................................................................ 365 Selbstgerechtigkeit bringt uns nicht weiter.................................................................................................. 372 Politik im 21. Jahrhundert einmal anders................................................................................................... 377 Was wir von der Medizin lernen können .................................................................................................... 383 Die zähmende Kraft des Kleinen ............................................................................................................... 392 Achtsamkeit und Demokratie..................................................................................................................... 395 Talking Vietnam Meditation Blues — Ein Schnappschuß aus der Vergangenheit ... oder sollte es die Zukunft sein? ........................................................................................................................................................... 398 Wag the Dog — Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt...................................................................... 404 „Ich weiß nicht, was ich ohne meine Übung getan hätte!“......................................................................... 407 Das Aussetzen der Zerstreuung.................................................................................................................. 410 Momente der Stille ..................................................................................................................................... 413 Die Achtsamen sind im Kommen .............................................................................................................. 415 Achter Teil – Laßt die Schönheit, die wir lieben, das sein, was wir tun .................................................. 419 Unterschiedliche Wege des Wissens machen uns weiser ............................................................................. 420 Auf der Schwelle: Karma trifft Dharma — Ein Quantensprung für den Homo sapiens sapiens ................ 426 Reflexionen über das Wesen der Natur und unseren Platz darin................................................................ 431 Die Entfaltung verborgener Dimensionen ................................................................................................. 436 Die richtige Perspektive gewinnen.............................................................................................................. 438 Literatur ..................................................................................................................................................... 441
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Einführung:
Die Herausforderung eines Lebens und eine lebenslange Herausforderung Vielleicht ist es so, daß wir dann zu unserer wahren Arbeit gelangt sind, wenn wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen, und daß wir dann unsere wirkliche Reise angetreten haben, wenn wir nicht mehr wissen, wohin wir gehen sollen. Wendell Berry Für mein Empfinden ist die Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten heute an einem entscheidenden Punkt angelangt. Es könnte sich in ganz unterschiedliche Richtungen entwickeln. Die Welt scheint in Flammen zu stehen und es sieht so aus, als stünden unsere Herzen ebenfalls in Flammen — sie sind entflammt von Furcht und Ungewißheit. Die Menschen haben keine Überzeugungen mehr und sind oft von einer leidenschaftlichen, aber unklugen Intensität erfüllt. Wie wir uns selbst sehen und wie wir die Welt sehen — das kann für die weitere Entwicklung einen großen Unterschied machen. Was uns als Individuen und als Gesellschaft in der Zukunft widerfahren wird, hängt in beträchtlichem Ausmaß davon ab, ob wir die uns angeborene, also von Natur aus innewohnende Gabe des Gewahrseins in diesem Augenblick nutzen und wie wir sie benutzen. Die Geschehnisse werden entscheidend davon abhängen, ob wir etwas dafür tun, das Unbehagen, die Unzufriedenheit und das schiere Unwohlsein, die unser Leben und unser Zeitalter durchdringen, zu heilen, während wir gleichzeitig alles in uns und in der Welt, was gut, schön und gesund ist, nähren und beschützen. Wir sind dazu aufgerufen, zur Besinnung1 zu kommen, als Individuen und als Spezies. Zwar gibt es auch heute schon viele, wenn auch noch wenig wahrgenommene, Bäche und Flüsse menschlicher Kreativität, Güte und Fürsorge, die zu einem anwachsenden Strom der offenherzigen Wachheit, des Mitgefühls und der Weisheit zusammenfließen. Aber wohin dieses Abenteuer uns als Spezies und als Individuen führen wird, ist noch völlig ungewiß. Die Endstation dieser kollektiven Reise, der wir uns nicht verweigern können, ist weder festgelegt noch vorherbestimmt. Es gibt kein Ziel, nur die Reise selbst. Das, was wir jetzt erleben und wie wir diesen Augenblick verstehen und damit umgehen, gestaltet das, was im nächsten Augenblick auftaucht, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht festgelegt ist, ja die letztlich unbestimmbar und geheimnisvoll bleibt. Es geht auf dieser kollektiven Reise um unser Leben, und die Herausforderung besteht darin, es so zu gestalten, als käme es wirklich auf jeden einzelnen von uns an. Als Menschen haben wir in dieser Hinsicht immer eine Wahl. Wir können uns entweder Der Titel der amerikanischen Originalausgabe dieses Buches lautet Coming to Our Senses. Diese vieldeutige Formel ist an dieser Stelle offensichtlich mit „zur Besinnung kommen“ zu übersetzen. Doch um zur Besinnung zu kommen, müssen wir nach Ansicht des Autors „zu unseren Sinnen (zurück)finden“, wir müssen „unsere Sinneswahrnehmung aktivieren und schärfen“. All diese möglichen Bedeutungen schwingen also hier in „zur Besinnung kommen“ mit. (Anm. d. Übers.) 1
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von Kräften und Gewohnheiten, die zu hinterfragen wir uns beharrlich weigern, davontragen lassen, oder wir können unser Leben in die Hand nehmen, indem wir uns ihrer bewußt werden und sie aktiv mitgestalten, unabhängig davon, ob das, was gerade geschieht, uns gefällt oder nicht. Nur wenn wir aufwachen, wird unser Leben real, und wir haben eine Chance, uns von unseren individuellen und kollektiven Verblendungen, Krankheiten und Nöten zu befreien. Vor vielen Jahren fragte mich ein Meditationslehrer während einer zehntägigen Meditationsklausur zu Beginn einer Einzelunterweisung: „Wie behandelt die Welt Sie denn so?“ Ich murmelte etwas wie: Es sei schon ganz in Ordnung. Dann fragte er mich: „Und wie behandeln Sie die Welt?“ Darüber war ich ziemlich verblüfft. Das war die letzte Frage, die ich erwartet hatte. Es war offensichtlich, daß er sie nicht in einem allgemeinen Sinn meinte. Er machte keineswegs Konversation. Er wollte wissen, wie ich genau hier, während der Klausur, an diesem Tag und in Angelegenheiten, die mir damals vielleicht banal oder gar trivial vorkamen, mit der Welt umging. Ich hatte gedacht, ich würde mich während dieser Klausur mehr oder weniger aus der „Welt“ ausklinken. Diese Bemerkung machte mir jedoch klar, daß es nicht möglich ist, aus der Welt auszusteigen, und daß die Art und Weise, wie ich in jedem einzelnen Augenblick mit ihr umging, selbst in dieser künstlich vereinfachten Umgebung, wichtig, ja wesentlich war für das, was ich mit der Teilnahme an dieser Klausur bezweckte. Ich erkannte in diesem Augenblick, daß ich noch viel über die Gründe zu lernen hatte, die mich hierhergeführt hatten, über den Sinn der Meditation im allgemeinen und über die allem zugrundeliegende Frage, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte. Im Laufe der Jahre erkannte ich dann allmählich das Offensichtliche, nämlich daß diese beiden Fragen lediglich die zwei Seiten einer Medaille sind. Wir stehen in jedem Augenblick in einer intensiven Beziehung zur Welt. Diese Beziehung bestimmt und definiert unser Leben sowie die Welt, in der wir leben und in der sich unsere Erfahrungen entfalten. Allerdings betrachten wir diese beiden Aspekte des Lebens – wie die Welt uns behandelt und wie wir die Welt behandeln – meist als voneinander unabhängige Dinge. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie leicht wir uns auf die Vorstellung versteifen, wir seien Akteure auf einer an sich leblosen Bühne, so als sei die Welt nur „dort draußen“ und nicht genauso „hier drinnen“? Haben Sie bemerkt, daß wir uns oft so verhalten, als gäbe es eine nennenswerte Trennung zwischen da draußen und hier drinnen, auch wenn unsere Erfahrung uns sagt, daß da nur eine ganz dünne Membran ist, im Grunde also keine wirkliche Trennung? Selbst wenn wir uns der engen Beziehung zwischen innen und außen bewußt sind, kann es sein, daß wir nur wenig Gespür dafür haben, auf welche Weise unser Leben die Welt und auf welche Weise die Welt wiederum unser Leben in einem symbiotischen Tanz der Gegenseitigkeit und Interdependenz beeinflußt und gestaltet. Das reicht von der tiefen Beziehung zu unserem Körper und unserem Geist bis hin zu den Beziehungen zu unseren Familienmitgliedern, von unseren Kaufgewohnheiten über das, was wir von den Fernsehnachrichten halten, bis hin zu der Art und Weise, wie wir uns im größeren Kontext der politischen Welt verhalten. Dieser Mangel an Gespür ist besonders schädlich, ja sogar zerstörerisch, wenn wir versuchen, die Dinge so hinzubiegen, wie wir sie gern hätten. Dabei kümmert es uns nicht, daß ein solches Verhalten, mit dem wir den natürlichen Rhythmus der Dinge 5
unterbrechen, etwas Gewalttätiges hat. Früher oder später leugnet ein solches Erzwingen die wechselseitige Abhängigkeit, die Schönheit des Gebens und Nehmens und die Komplexität des Tanzes selbst. Am Ende treten wir damit, gewollt oder ungewollt, vielen Menschen auf die Zehen. Wenn wir derart unsensibel geworden sind und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben, isoliert uns das von unseren eigenen Möglichkeiten. Weigern wir uns anzuerkennen, wie die Dinge tatsächlich sind, und versuchen wir – aus Angst, daß unsere Bedürfnisse sonst nicht befriedigt werden – eine Situation oder eine Beziehung gewaltsam so hinzubiegen, wie wir sie haben wollen, dann vergessen wir dabei, daß wir gewöhnlich sowieso kaum wissen, was wir wirklich wollen. Und wir vergessen, daß dieser Tanz von einer außerordentlichen Komplexität und zugleich Einfachheit ist und neue und interessante Dinge geschehen, wenn wir nicht vor unseren Ängsten kapitulieren und, statt die Dinge erzwingen zu wollen, einfach unsere Wahrheit leben. Was dann geschehen kann, geht weit über unsere begrenzten Möglichkeiten hinaus, die Welt kurzfristig zu kontrollieren. Als Individuen und als Spezies können wir es uns nicht länger leisten, die Tatsache der wechselseitigen Verbundenheit und Abhängigkeit zu ignorieren. Ebensowenig dürfen wir übersehen, welche neuen Möglichkeiten sich aus unseren Sehnsüchten und Absichten ergeben, wenn wir, ein jeder auf seine spezielle Weise, zu ihnen stehen. Durch die Wissenschaften sowie unsere spirituellen Traditionen haben wir erfahren, daß unsere Gesundheit und unser Wohlergehen als Individuen, unser Glück und sogar unser Fortbestehen als menschliche Spezies davon abhängen, wie wir unser Leben gestalten. Gleichzeitig ist uns als Kultur deutlich geworden, daß alles Leben auf dieser Erde ganz wesentlich abhängig ist von ebendiesen Entscheidungen, die durch unser kollektives Verhalten als soziale Wesen noch entschieden größere Dimensionen bekommen. Ein Beispiel dafür ist der Treibhauseffekt. Wie die Klimaforschung zeigen konnte, ist der CO2-Gehalt der Atmosphäre in den vergangenen 44 Jahren sprunghaft um 18 Prozent angestiegen – auf das höchste Niveau der letzten 160 000 Jahre. Diese alarmierende Zunahme des CO2-Gehalts ist ganz und gar auf menschliches Handeln zurückzuführen. Wenn diese Entwicklung anhält, wird sich nach Vorhersage der internationalen Kommission für den Klimawandel der Anteil an Kohlendioxid in der Atmosphäre bis zum Jahre 2100 verdoppelt haben, und die Durchschnittstemperaturen dürften als Folge davon weltweit dramatisch ansteigen. Eine Konsequenz wird sein, daß das Eis beider Polarkappen immer mehr abschmilzt und die Gletscher weltweit verschwinden. Die potentiellen Konsequenzen in Form einer Auslösung chaotischer Fluktuationen, die das Klima weltweit destabilisieren, sind ernüchternd, wenn nicht gar erschreckend. Auch wenn diese Prozesse an sich nicht vorhersehbar sind, so ist doch wahrscheinlich, daß es in relativ kurzer Zeit zu einem dramatischen Anstieg des Meeresspiegels kommen wird und deshalb die bewohnten Küstenregionen und Küstenstädte weltweit überflutet werden. Stellen Sie sich Hamburg oder Manhattan vor, wenn der Meeresspiegel um 18 Meter ansteigt! Wir könnten dies als eines von vielen Symptomen einer Art Autoimmunerkrankung der Erde bezeichnen, die darauf zurückgeht, daß das menschliche Handeln das dynamische Gleichgewicht des „Körpers der Erde“ als Ganzes ernsthaft unterminiert. Ist uns das bewußt? Kümmert uns das? Ist es das Problem von irgend jemand anderem? Ist es „ihr“ Problem, wer immer „sie“ auch sein mögen ... die Naturwissenschaftler, die 6
Regierungen, die Politiker, die Versorgungsbetriebe, die Autoindustrie? Ist es möglich, daß wir alle als Teil eines einzigen Körpers kollektiv zur Besinnung kommen und uns darum bemühen können, wieder ein dynamisches Gleichgewicht herzustellen? Ich denke, es ist höchste Zeit, daß wir dem Aufmerksamkeit schenken, was wir bereits wissen oder spüren – nicht nur, was die äußere Welt unserer Beziehungen zu anderen und zu unserer Umwelt angeht, sondern auch unsere eigenen Gedanken und Gefühle, Wünsche und Ängste, Hoffnungen und Träume betreffend. Den meisten von uns ist der Wunsch gemeinsam, in Frieden leben, unseren individuellen Sehnsüchten und kreativen Impulsen nachgehen und auf sinnvolle Weise zu einem größeren Zweck beitragen zu können. Wir möchten zu etwas zugehörig sein, möchten Wertschätzung für das erhalten, was wir sind, möchten als Individuen und Familien gedeihen. Wir würden gern in einer Gesellschaft leben, die ein vernünftiges Ziel hat und in der gegenseitige Achtung herrscht, wir möchten als Individuen in einem dynamischen Gleichgewicht leben, das als „Gesundheit“ bekannt ist, aber auch in einem kollektiven Gleichgewicht, welches man als „Gemeinwohl“ bezeichnet hat. Es sollte ein Gleichgewicht sein, welches unserer Verschiedenheit Rechnung trägt, unsere jeweiligen kreativen Potentiale fördert und uns die Möglichkeit eröffnet, frei zu sein von willkürlicher Gewalt und von dem, was unsere wichtigsten Lebensgrundlagen bedroht. Ironischerweise ist ein solches Gleichgewicht jederzeit zum Greifen nahe; in kleinen Dingen, die gar nicht so klein sind und nichts mit Wunschdenken, starrer oder autoritärer Kontrolle oder Utopien zu tun haben. Eine solche Balance ist bereits vorhanden, wenn wir uns auf unseren Körper und unseren Geist einstimmen, auf unsere Motivation und unsere Vision dessen, wofür es sich zu leben lohnt und was getan werden muß. Sie ist vorhanden in den kleinen guten Taten des Alltags – innerhalb der Familie, aber auch unter Fremden und in Kriegszeiten sogar unter angeblichen Feinden. Sie ist auch immer dann vorhanden, wenn wir unseren Müll recyceln, wenn wir Wasser sparen, mit anderen zusammenarbeiten, um unser Viertel zu verschönern, oder ein Stück wilder Natur oder eine vom Aussterben bedrohte Spezies retten. Wenn die Ursache dieser Autoimmunerkrankung der Erde in den Taten und Bewußtseinszuständen der Menschheit zu suchen ist, dann sollten wir in Erwägung ziehen, was uns die Pioniere der modernen Medizin über den wirksamsten Umgang mit solchen Erkrankungen sagen. In den vergangenen dreißig Jahren hat es umfangreiche Forschungen und klinische Erfahrungen im Bereich der sogenannten Geist/KörperMedizin gegeben, in der Verhaltensmedizin, der psychosomatischen Medizin, der integrativen Medizin und Komplementärmedizin. Wir haben daraus gelernt, daß das geheimnisvolle dynamische Gleichgewicht, das wir „Gesundheit“ nennen, sowohl vom Körper als auch vom Geist abhängig ist (wenn wir das Vokabular der merkwürdigen und künstlichen Spaltung, durch die wir diese beiden voneinander trennen, benutzen wollen), und daß es möglich ist, dieses Gleichgewicht durch spezifische Eigenschaften der Aufmerksamkeit, die unterstützend, erneuernd und heilend wirken können, zu verbessern. Wie sich zeigt, besitzen wir alle tief in unserem Inneren das Potential, zu einem dynamischen und lebenserhaltenden inneren Frieden und Wohlsein, zu einer vielschichtigen, uns angeborenen Intelligenz zu finden, die weit über unser begriffliches Fassungsvermögen hinausreicht. Wenn es uns gelingt, diese Kapazitäten zu mobilisieren und weiterzuentwickeln, dann werden wir körperlich, emotional und 7
spirituell gesünder. Und dazu noch viel glücklicher. Selbst unser Denken wird klarer, und wir werden viel weniger von heftigen Gemütsschwankungen geplagt. Diese Fähigkeit, aufmerksam zu sein und intelligent zu handeln, läßt sich mit der nötigen Motivation weit über unsere wildesten Erwartungen hinaus entwickeln. Es ist traurig, daß wir als Individuen oft erst dann dazu motiviert sind, wenn wir bereits lebensbedrohlich erkrankt sind oder einen Schock erlitten haben, der enorme körperliche und seelische Schmerzen hervorruft. Diese Motivation entsteht vielleicht, wie das bei so vielen der Patienten unserer Stress Reduction Clinic der Fall war, wenn wir uns durch einen solchen Schock unsanft der Tatsache bewußt werden, daß die Möglichkeiten der sich auf moderne Technologien stützenden Medizin trotz ihrer bemerkenswerten Fortschritte doch äußerst begrenzt sind. Wie die medizinische Forschung gezeigt hat, ist es dem Individuum möglich, tiefe innere Kraftquellen anzuzapfen, die uns als Menschen von Natur aus zu eigen sind: Ressourcen des Lernens, des Wachsens, der Heilung und der Transformation, die uns allen während unseres gesamten Lebens zur Verfügung stehen. Zugang zu ihnen erhalten wir immer von dem Punkt aus, wo wir uns gerade befinden, nämlich „hier“, und in dem einzigen Augenblick, der uns zur Verfügung steht, nämlich „jetzt“. Wir alle besitzen das Potential zu Heilung und Transformation, ganz gleich, in welcher Situation wir uns befinden. Diese inneren Ressourcen sind unser Geburtsrecht. Es liegt in unserer Natur als Spezies, zu lernen, zu wachsen, heil zu werden und fortzuschreiten zu größerer Weisheit, zu größerem Mitgefühl mit uns selbst und mit anderen. Aber diese Fähigkeiten müssen erst einmal aufgedeckt, entwickelt und nutzbar gemacht werden. Darin liegt die Herausforderung unseres Lebens: die Chance zu nutzen, aus den Augenblicken, die uns gegeben sind, das Beste zu machen. Oft vergeuden wir die kostbaren Momente unseres Lebens mit allem möglichen Kram, doch wir haben nun einmal nicht mehr zur Verfügung als ebendiese Augenblicke. Wenn wir in diesen Augenblicken wirklich präsent sind, beginnen interessante Dinge zu geschehen. Es ist ein lebenslanges Abenteuer, diese Herausforderung für unser Leben – das Potential zum Lernen, zum Wachsen, zum Heil werden und zur Transformation – genau in diesem Augenblick zu entwickeln. Das Abenteuer beginnt als eine Reise zur Erkenntnis dessen, was wir wirklich sind, und zu einer Weise, das Leben zu leben, als käme es wirklich darauf an. Und es kommt tatsächlich auf uns an; mehr, als wir glauben. Diese Reise zu größerer Gesundheit und geistiger Klarheit beginnt damit, daß wir die Ressourcen, die wir bereits besitzen, mobilisieren und weiterentwickeln. Die wichtigste davon ist unsere Fähigkeit, jenen Aspekten unseres Lebens Aufmerksamkeit zu schenken, um die wir uns bisher kaum gekümmert haben. Durch Aufmerksamkeit wird unser Bewußtsein geschärft, jener Aspekt unseres Daseins, der uns, zusammen mit der Sprache, als Spezies definiert. Wir wachsen, wandeln uns und lernen durch die direkte Wahrnehmung der Dinge mittels unserer fünf Sinne, in Verbindung mit der Kraft des Geistes, den die Buddhisten als ein sechstes Sinnesvermögen ansehen. Wir sind fähig wahrzunehmen, daß jeder einzelne Aspekt unserer Erfahrung innerhalb eines unendlichen Netzwerkes von Wechselwirkungen existiert, die für unser unmittelbares und unser langfristiges Wohlergehen wesentlich sind. 8
Es ist zweifellos richtig, daß wir viele dieser Beziehungen nicht gleich erkennen. Sie mögen bislang mehr oder weniger verborgene Dimensionen im Gefüge unseres Lebens gewesen sein, die noch der Entdeckung harren. Aber nichtsdestoweniger sind diese verborgenen Dimensionen (oder das, was wir neue Grade der Freiheit nennen könnten), ein Potential, das uns zur Verfügung steht. Es wird sich allmählich enthüllen, wenn wir unsere Fähigkeit zum bewußten Gewahrsein kultivieren und darin verweilen, indem wir unsere Aufmerksamkeit voller Ehrfurcht und Zärtlichkeit auf das verblüffend komplexe Universum gerichtet halten, auf das Terrain – etwa die Familie, den Körper, den Geist – , innerhalb dessen wir uns orientieren und unseren Platz suchen. All das befindet sich auf allen Ebenen in einem ständigen Wandel und Fluß, so daß uns zahllose unerwartete Möglichkeiten, zu wachsen und klarer zu sehen, präsentiert werden. Wir können zu größerer Weisheit in unserem Handeln gelangen und das quälende Leiden in unserem aufgewühlten Geist lindern, der gewohnheitsmäßig so weit von seiner Heimat, von Ruhe und Frieden entfernt ist. Diese Reise zu Gesundheit und geistiger Klarheit ist nicht weniger als eine Einladung, zur Fülle unseres Lebens zu erwachen, solange wir noch Zeit dazu haben, statt dies erst, wenn überhaupt, auf unserem Totenbett zu tun. Davor hat uns schon Henry David Thoreau eindringlich gewarnt, als er in Walden schrieb: Ich ging in die Wälder, weil ich bewußt leben und mich nur mit den wesentlichen Tatsachen des Lebens auseinandersetzen wollte, weil ich herausfinden wollte, ob es mir nicht möglich wäre zu lernen, was das Leben mich zu lehren hat, um nicht dann, wenn es ans Sterben ginge, entdecken zu müssen, daß ich nicht gelebt hatte. Zu sterben, ohne wirklich gelebt zu haben, ohne zu unserem Leben erwacht zu sein, ist eine Gefahr, die angesichts unserer automatisierten Gewohnheiten und des gnadenlosen Tempos, in dem sich die Dinge heutzutage entwickeln, ständig auf uns lauert. Dazu trägt die Gedankenlosigkeit bei, mit der wir im allgemeinen unsere Beziehungen zu dem behandeln, was für uns vielleicht das Allerwichtigste, in unserem Leben aber gleichzeitig das am wenigsten Offensichtliche ist. Wir sind fähig, zu lernen und uns in dem uns eigenen Vermögen zu weiser und offenherziger Aufmerksamkeit zu verankern. Wenn wir das Gewahrsein von Herz und Geist schmecken und darin verweilen, kann es die Schleier unserer zur Routine gewordenen Gedankenmuster, Sinneswahrnehmungen und Beziehungen durchdringen und uns von ihnen, aber auch von den häufig sehr turbulenten und destruktiven Bewußtseinszuständen und Emotionen, die mit ihnen einhergehen, befreien. Solche Gewohnheiten sind immer von der Vergangenheit bestimmt, also nicht nur von unserem genetischen Erbe, sondern auch von unseren Erfahrungen: von Traumata und Ängsten, vom Mangel an Vertrauen und Sicherheit, von Gefühlen der Wertlosigkeit, sowie von lang gehegtem Groll aufgrund alter Kränkungen, Ungerechtigkeiten oder ganz offensichtlichem Mißbrauch. Es sind diese Gewohnheiten, die heute unsere Sicht einschränken, unser Verständnis verzerren und uns, wenn wir nichts gegen sie unternehmen, daran hindern, zu wachsen und heil zu werden. Um zur Besinnung zu kommen, müssen wir zuerst zum Körper zurückkehren, zu jenem Ort, an dem unsere biologischen Sinne und das, was wir den Geist nennen, 9
auftreten. Oft bewohnen wir unseren Körper kaum und kümmern uns nicht darum, ihm Aufmerksamkeit zu schenken und ihn zu achten. Unser eigener Körper ist seltsamerweise eine Landschaft, die uns sowohl vertraut als auch erstaunlich fremd ist. Manchmal fürchten, ja verabscheuen wir ihn, je nach dem, was wir erlebt haben oder zu erleben fürchten. Dann wiederum sind wir völlig eingenommen von ihm; wir sind besessen von seiner Größe, seiner Form, seinem Gewicht, seinem Aussehen. Und wir laufen Gefahr, in unbewußte und scheinbar endlose Selbstbespiegelung und puren Narzißmus zu verfallen. Wie wir aus vielen in den vergangenen dreißig Jahren im Bereich der Geist/KörperMedizin erstellten Studien wissen, ist es auf der Ebene des Individuums möglich, zu einem gewissen Grad an Frieden in Körper und Geist zu gelangen - und damit zu mehr Gesundheit, Wohlbefinden, Glück und Klarheit, selbst inmitten großer Schwierigkeiten und Herausforderungen. Viele tausende von Menschen haben diese Reise bereits unternommen und haben darüber berichtet, wieviel sie für sich selbst, aber auch für ihre Mitmenschen daraus gewonnen haben. Es hat sich gezeigt, daß Aufmerksamkeit ein Weg ist, auf dem wir Zugang zu diesen verborgenen Dimensionen und diesen neuen Graden von Freiheit finden können, ein Weg, der nicht nur einigen wenigen Auserwählten offensteht. Jedermann kann sich auf diesen Pfad begeben und dort sehr viel finden, was ihm nützt und ihm wohltut. Zur Besinnung kommen ist auch eine Arbeit, die keine Zeit erfordert, einzig und allein unsere Präsenz und Wachheit hier und jetzt. Paradoxerweise ist es zugleich eine lebenslange Aufgabe. Man könnte sagen, daß wir uns dieser Aufgabe „für unser Leben“ widmen - in jedem möglichen Sinn dieses Satzes. Wollen wir auf allen nur möglichen Ebenen zur Besinnung kommen, dann besteht der erste Schritt darin, daß wir eine besondere Art des Gewahrseins kultivieren, die Achtsamkeit genannt wird. Achtsamkeit ist der letzte gemeinsame Nenner auf dem Weg zu unserem eigentlichen Menschsein, unserer Fähigkeit zu Gewahrsein und Selbsterkenntnis. Achtsamkeit wird dadurch geschult, daß wir aufmerksam sind, und diese Aufmerksamkeit wiederum wird, wie wir sehen werden, durch eine Praxis entwickelt und verfeinert, die Achtsamkeitsmeditation genannt wird. Diese Praxis hat sich in letzter Zeit - nicht zuletzt aufgrund einer ständig wachsenden Zahl medizinischer Studien über ihre vielfältigen Wirkungen - rasch in der ganzen Welt ausgebreitet und ist zu einem Bestandteil der westlichen Kultur geworden. Sollten Sie jedoch, wenn Sie nur das Wort „Meditation“ hören, plötzlich das Gefühl haben, dies sei etwas Seltsames, Verrücktes, Exotisches oder einfach „nichts für mich“, dann liegt das vielleicht nur an den Vorstellungen, die Sie von der Meditation haben. Denn die Meditation, und insbesondere die Achtsamkeitsmeditation, ist nicht das, was Sie denken. An der Meditation ist überhaupt nichts Außergewöhnliches oder Seltsames. Es geht dabei nur darum, daß wir in unserem Leben so achtsam sind, als käme es auf jeden Augenblick an. Trotzdem mag es hilfreich sein, wenn wir im Gedächtnis behalten, daß die Meditation gleichzeitig auf eine kaum vorstellbare Weise etwas ganz Besonderes und Transformierendes ist. Wenn wir Achtsamkeit entwickeln und verfeinern, kann sie auf jeder Ebene unseres Lebens ihre Wirksamkeit entfalten, auf der privaten und der geschäftlichen, der gesellschaftlichen, politischen und globalen. Allerdings setzt das voraus, daß wir 10
motiviert sind herauszufinden, wer wir wirklich sind, und unser Leben so zu leben, als käme es tatsächlich auf uns an. Das lebenslange Abenteuer entfaltet sich von dieser Stufe aus. Wenn wir diesen Pfad beschreiten, wie wir es in diesem Buch gemeinsam tun werden, werden wir sehen, daß wir mit unseren Bemühungen ebensowenig allein dastehen wie mit unseren Schwierigkeiten. Denn wenn Sie mit der Praxis der Achtsamkeit beginnen, dann werden Sie Teil einer Art globalen Gemeinschaft der Ausrichtung und Erkundung, die letztlich uns alle umfaßt. Und noch eine Sache, bevor wir uns auf den Weg machen. Soviel wir auch an uns arbeiten mögen, um zu lernen, zu wachsen und um das zu heilen, was der Heilung bedarf: Es ist nicht möglich, in einer Welt, die in vielerlei Hinsicht zutiefst krank ist und in der es überall so viel Leiden und Not gibt, völlig gesund und heil zu sein. Da wir mit allem verbunden sind, ist das Leiden der anderen auch unser eigenes Leiden, auch wenn wir uns manchmal gern davon abwenden würden, weil es so schwer zu ertragen ist. Dies muß jedoch kein Problem sein; es kann vielmehr zu einem stark motivierenden Faktor für die innere und äußere Transformation werden. Unsere Welt wurde in ihrer Geschichte immer wieder von Krämpfen des Irrsinns geschüttelt, nämlich zu Zeiten, in denen eine Art kollektiven Wahnsinns in Form von Engstirnigkeit und Fundamentalismus die Vorherrschaft übernommen hat, und großes Elend, Verwirrung und die Gesellschaft zersetzende Kräfte den Status quo beherrschten. Diese Eruptionen sind das genaue Gegenteil von Weisheit und Gleichgewicht. Nicht selten gehen sie mit einer arroganten Verherrlichung der eigenen Position und der schamlosen Ausbeutung anderer einher und fast immer beruhen sie auf einer Ideologie politischer, kultureller, religiöser oder wirtschaftlicher Überlegenheit, auch wenn sich diese den Mantel von Humanismus, wirtschaftlicher Entwicklung und Globalismus umhängt. Unter der sichtbaren Oberfläche haben diese Kräfte oft eine kulturelle Gleichschaltung und die Zerstörung der Umwelt zur Folge, einhergehend mit einer krassen Mißachtung der Menschenrechte. Das Pendel scheint immer schneller auszuschlagen, so daß es kaum Zeiten gibt, in denen der Irrsinn vorübergehend aussetzt und wir tatsächlich einmal zu Gemütsruhe und einem Gefühl tiefen Friedens finden können. Im 20. Jahrhundert hat es bekanntlich mehr systematisches Morden im Namen des Friedens und der Beendigung von Kriegen gegeben als in allen Jahrhunderten davor zusammengenommen. Und im 21. Jahrhundert geht es so weiter, wenn auch in ganz anderen, jedoch nicht minder erschreckenden Erscheinungsformen. Die Kriege, zu denen auch nicht erklärte Kriege und Antiterrorkriege gehören, werden auf allen Seiten stets im Namen überaus hehrer Ideale und Prinzipien geführt. Doch wenn wir uns zur Lösung von Problemen der Anwendung von Gewalt bedienen, statt auf andere, kreativere Mittel zurückzugreifen, macht uns das blind für die Tatsache, daß Krieg und Gewalt selbst Symptome jener Autoimmunerkrankung sind, unter der unsere gesamte Spezies zu leiden scheint. Es macht uns auch blind dafür, daß uns andere Wege zur Wiederherstellung von Harmonie und Balance zur Verfügung stehen. Es ist nun einmal sehr viel leichter, einen Krieg zu „gewinnen“ als anschließend auch einen wirklichen Frieden zu erreichen. Dazu ist eine völlig andere Art des Denkens, des Bewußtseins und der Planung erforderlich, eine Denkart, die nur daraus 11
erwachsen kann, daß wir uns selbst besser verstehen und ein mitfühlendes Verständnis für andere entwickeln, die vielleicht gar nicht nach dem streben, was wir für das Wichtigste halten, die ihre eigene Kultur haben, ihre eigenen Gebräuche und Werte, und die dieselben Ereignisse vielleicht ganz anders wahrnehmen als wir. Angesicht des Zustands der Welt ist es vielleicht an der Zeit, daß wir Zugang zu den tieferen Dimensionen der menschlichen Intelligenz und Verbundenheit finden, die unseren unterschiedlichen Weltanschauungen zugrunde liegen. Das legt die Vermutung nahe, daß es zutiefst unklug sein könnte, einzig und allein nach unserem individuellen Wohlergehen und unserer eigenen Sicherheit zu streben, weil nämlich unser Wohlergehen und unsere Sicherheit ganz eng mit allem anderen in dieser zunehmend kleiner werdenden Welt verbunden sind. Zur Besinnung kommen bedeutet auch, daß wir ein umfassendes Bewußtsein all unserer Sinne (worunter aus buddhistischer Sicht auch der Geist fällt), und ihrer Begrenztheit erlangen, und daß wir der Versuchung widerstehen, in Zeiten der Verunsicherung die äußere Welt so weit wie nur möglich kontrollieren zu wollen. Ein solches Unterfangen ist Schlichtweg unmöglich; es zehrt unsere Kräfte auf und leistet der Gewalt Vorschub. Auch was den größeren Bereich der Gesundheit des Planeten Erde angeht, müssen wir ein Bewußtsein für den Körper erlangen, in diesem Fall für den „Körper“ von Gemeinschaften, Unternehmen und Nationen, die alle ihre ganz eigenen Beschwerden, Erkrankungen und Weltanschauungen haben. In allen finden sich auch im Rahmen ihrer eigenen Tradition und Kultur Ressourcen für die Förderung von Selbstgewahrsein und Heilung; außerdem ergeben sich aus dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Traditionen – einem Kennzeichen der heutigen Welt – ganz neue Möglichkeiten. Eine Autoimmunerkrankung bedeutet, daß das Immunsystem, welches die Sicherheit des Körpers garantieren soll, Amok läuft und der Körper seine eigenen Zellen und Gewebe angreift. Kein Körper, auch kein politischer, kann unter solchen Bedingungen lange weiter bestehen, ganz gleich, wie gesund und vital er sonst sein mag. Wie es bei Menschen der Fall ist, die durch einen Herzanfall oder eine unerwartete Diagnose urplötzlich auf den Weg der Suche nach mehr Gesundheit und umfassenderem Wohlergehen gestoßen werden, kann ein solcher Schock, wie schrecklich er auch sein mag, zu einem Weckruf werden. Er kann tiefe und machtvolle Ressourcen der Heilung und Neuorientierung mobilisieren, mit denen wir unsere Energien und Prioritäten neu ausrichten können. Es sind Ressourcen, die wir vielleicht für lange Zeit vernachlässigt oder sogar ganz vergessen haben. Die Heilung der Welt als Ganzes ist das Werk vieler Generationen. Sie hat in vielen Bereichen, wo Menschen sich bewußt geworden sind, welch enormes Risiko wir eingehen, wenn wir die lebensbedrohliche Erkrankung des Patienten „Erde“ weiterhin ignorieren, bereits begonnen. Denn das Handeln des Menschen in der heutigen Zeit bestimmt das Schicksal der Lebewesen auf dieser Erde für viele kommende Generationen. Es ist also gefährlich, wenn wir der so offensichtlichen Diagnose Autoimmunerkrankung keine Beachtung schenken und uns nicht um Behandlungsformen kümmern, solange noch die Möglichkeit dazu besteht. Unsere Welt zu heilen, und sei es auch nur im Ansatz, verlangt, daß wir unsere verschieden geartete Intelligenz in den Dienst des Lebens, der Freiheit und des Strebens nach wahrem Glück stellen, für uns selbst und für zukünftige Generationen – und nicht 12
nur für die Menschen des Westens, sondern für alle Bewohner dieses Planeten, für all jene, die im Buddhismus „die fühlenden Wesen“ genannt werden. Denn am Ende sind es das Fühlen und die Sinneswahrnehmungen, die uns als Schlüssel dienen, wenn wir zur Besinnung kommen und zu dem erwachen wollen, was möglich ist. Wenn wir nicht lernen, unsere Bewußtheit sowie unser Vermögen, klar zu sehen und selbstlos zu handeln, zu nutzen, zu entwickeln und uns zu eigen zu machen, verdammen wir uns selbst zu der Autoimmunkrankheit unserer Unbewußtheit, aus der endlose Kreisläufe von Illusion, Verblendung, Habgier, Angst, Grausamkeit, Selbsttäuschung und letztlich auch willkürlicher Zerstörung und Tod resultieren. Es ist an der Zeit, daß wir uns für das Leben entscheiden und darüber nachdenken, was eine solche Wahl von uns verlangt. Diese Wahl ist etwas ganz Konkretes, von Augenblick zu Augenblick, nicht irgendeine gewaltige und einschüchternde Abstraktion. Die kreativen und phantasievollen Bemühungen und Tätigkeiten eines jeden von uns zählen, und es steht nicht weniger auf dem Spiel als die Gesundheit des Planeten Erde. Wir könnten sagen, daß die Welt, buchstäblich und metaphorisch verstanden, für uns als Spezies stirbt, damit wir zur Besinnung kommen. Darum ist es an der Zeit, daß wir zur Fülle unserer Schönheit erwachen, daß wir das Werk unserer Selbstheilung, der Heilung unserer Gesellschaften und dieses Planeten angehen, es vorantreiben und dabei auf alles Wertvolle aufbauen, das bereits existierte und das jetzt zur Blüte kommt. Keine Absicht ist zu klein und keine Bemühung zu unbedeutend. Jeder Schritt auf diesem Weg zählt. Und, wie Sie sehen werden: Jeder einzelne von uns zählt. Dieses Buch ist in acht Teile gegliedert, und in jeden Teil habe ich Geschichten aus meinem eigenen Erfahrungsschatz eingewoben. Damit will ich dem Leser ein Gefühl für das Paradoxon vermitteln, daß die Meditation einerseits etwas ganz Persönliches und Individuelles ist, andererseits aber sehr unpersönlich und universell, jenseits all der egozentrischen Skripte zu „meinem“ Leben und „meiner“ Erfahrung, die von der Ichbildenden Gewohnheit des Geistes unablässig ausgeheckt werden. Ich möchte ein Gefühl dafür vermitteln, wie wichtig es ist, die eigene Erfahrung ernst, aber nicht persönlich zu nehmen und ihr mit einem gesunden Maß an Unbekümmertheit und Humor zu begegnen, insbesondere angesichts des ungeheuren Leids, in das wir als Menschen unentrinnbar verwickelt sind, und im Lichte der Vorläufigkeit all jener Zerrbilder, die wir unsere Meinungen und Ansichten nennen und an denen wir verzweifelt festhalten, um unserem Dasein irgendeinen Sinn abzugewinnen. Im ersten Teil werden wir erkunden, was Meditation ist und was die Kultivierung von Achtsamkeit beinhaltet. Der zweite Teil untersucht die Quellen unseres Leidens und unseres „Un-Wohlseins“2 und zeigt, daß Aufmerksamkeit eine befreiende Wirkung hat, wenn wir sie bewußt und ohne zu urteilen einsetzen. Er zeigt auch, wie die Meditation in die Medizin integriert wurde und neue Dimensionen unseres Geistes und unseres Herzens offenbart, die zutiefst heilend und transformierend sein können. Der dritte Teil erkundet die „Sinnes-Landschaften“ unseres Lebens und geht der Frage nach, wie eine größere Bewußtheit der Sinneswahrnehmungen unser Wohlergehen fördert und unser Leben bereichert. Im vierten Teil erhält der Leser detaillierte Anweisungen 2
Im Original steht hier das Kunstwort „dis-ease“, was, so geschrieben, mit „Un-Wohlsein“ zu übersetzen ist, während „disease“ eigentlich „Krankheit“ bedeutet. Wenn in diesem Buch von „Un-Wohlsein“ die Rede ist, klingt also immer auch „Krankheit“ mit. (Anm. d. Übers.)
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zur Entwicklung von Achtsamkeit durch die verschiedenen Sinne; hierbei wird ein Spektrum unterschiedlicher Meditationsmethoden vorgestellt, das uns einen Geschmack ihres außerordentlichen Reichtums vermittelt. Der fünfte Teil erkundet, wie die Entwicklung der Achtsamkeit durch eine „Umkehr im Bewußtsein“ zu Heilung und größerem Glück führen kann. Im sechsten Teil werden weitere Möglichkeiten der Kultivierung von Achtsamkeit angesprochen und etliche Beispiele dafür gegeben, wie sie die verschiedenen Aspekte unseres täglichen Lebens beeinflussen kann. Das reicht von der Erfahrung des eigenen Ortes bis zum „Sterben, bevor wir sterben“. Im siebten Teil werden die Welt der Politik und die Belastungen, denen die Welt ausgesetzt ist, aus der Perspektive der Geist/KörperMedizin unter die Lupe genommen und einige Wege vorgeschlagen, wie Achtsamkeit helfen könnte, die Gesundheit des Körpers der Politik und der gesamten Erde zu verbessern und sie zu transformieren. Der achte Teil stellt unser Leben und die Herausforderung, mit der wir heute konfrontiert sind, in den größeren Kontext der Evolution der menschlichen Spezies und enthüllt verborgene Dimensionen dessen, was möglich ist, damit wir unser Leben von Augenblick zu Augenblick und von Tag zu Tag so leben können, als käme es wirklich darauf an.
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Erster Teil
Meditation ist nicht das, was Sie denken
Die Bandbreite dessen, was wir denken und tun, wird von dem begrenzt, was wir wahrzunehmen versäumen. RONALD D. LAING
Da gibt es dieses Etwas in mir ... Ich weiß' nicht, was es ist ... aber ich weiß, es ist in mir. WALT WHITMAN
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Meditation ist nichts für Feiglinge In einer Zeit, wo die Dinge sich so schnell verändern wie heute, ist es schwierig, von der zeitlosen Schönheit und dem Reichtum des gegenwärtigen Augenblicks zu sprechen. Doch je schneller die Dinge sich verändern, desto wichtiger ist es für uns, gelegentlich in das Zeitlose einzutreten und uns sogar darin einzurichten. Sonst könnten wir den Kontakt zu Dimensionen unseres Menschseins verlieren, die den Unterschied zwischen Glück und Elend ausmachen, zwischen Weisheit und Torheit, zwischen Wohlsein und dem Kraft raubenden Tumult im Geist, im Körper und in der Welt, den wir in diesem Buch „Un-Wohlsein“ (dis-ease) nennen wollen. Denn unsere Unzufriedenheit ist tatsächlich eine Krankheit (disease), selbst wenn sie uns nicht als solche erscheint. Manchmal bezeichnen wir diese Gefühle und Zustände, dieses UnWohlsein, das wir so oft empfinden, umgangssprachlich als „Streß“. Gewöhnlich sind sie unangenehm; sie belasten uns. Und sie gehen immer mit einem Grundgefühl des Unbefriedigtseins einher. Im Jahr 1979 habe ich die Stress Reduction Clinic gegründet. Wenn ich heute an jene Zeit zurückdenke, dann frage ich mich: „Was für ein Streß?“ – so sehr hat sich die Welt inzwischen verändert, so sehr hat sich das Tempo unseres Lebens beschleunigt und so nahe sind die Wechselfälle und Gefahren des Lebens an unsere Haustür herangerückt. Wenn es damals bereits wichtig war, unsere persönliche Situation und unsere Umstände nüchtern zu betrachten und im Interesse unserer Gesundheit und Heilung neue und phantasievolle Wege des Umgangs damit zu finden, so ist es heute, wo wir in einer Welt leben, die im Laufe der Ereignisse in zunehmendes Chaos und wachsende Geschwindigkeit hineinkatapultiert worden ist, während sie gleichzeitig wesentlich vernetzter und kleiner wurde, noch unendlich viel wichtiger und dringlicher. In einer Zeit von solch exponentieller Beschleunigung ist es wichtiger und dringlicher denn je, daß wir lernen, im Zeitlosen zu Hause zu sein und daraus Trost zu schöpfen und Klarsicht zu gewinnen. Das war von Beginn an das zentrale Anliegen der Stress Reduction Clinic. Ich spreche nicht von einer fernen Zukunft, in der Sie nach Jahren des Bemühens endlich etwas erreichen, einen Geschmack von der zeitlosen Schönheit und der Wirkung meditativen Gewahrseins bekommen, um dann endlich ein effektiveres, befriedigenderes und friedlicheres Leben führen zu können. Ich spreche davon, daß Sie in ebendiesem Augenblick zum Zeitlosen Zugang gewinnen können – weil es sozusagen schon immer vor unserer Nase liegt –, und daß Sie damit auch Zugang zu jenen Dimensionen des Möglichen erhalten, die uns gegenwärtig verborgen bleiben, weil wir uns weigern, präsent zu sein, weil wir so sehr verführt, konditioniert, hypnotisiert oder verschreckt sind, daß wir uns in die Zukunft oder die Vergangenheit flüchten. Wir lassen uns davontragen vom Strom der Ereignisse und den Wetterwendungen unserer Reaktionen und unserer eigenen Taubheit, ständig mit dem beschäftigt, wenn nicht gar von dem besessen, was wir oft gedankenlos als „dringend“ bezeichnen, während wir zugleich den Kontakt zu dem verlieren, was für unser Wohlergehen, für unsere geistige Gesundheit und sogar für unser Überleben wirklich wichtig, überaus wichtig, ja geradezu lebenswichtig ist. Dieses Eingenommensein von der Zukunft und der Vergangenheit ist uns dermaßen zur Gewohnheit geworden, daß wir meistenteils keinerlei Gewahrsein des gegenwärtigen Moments besitzen. Die Folge davon ist, daß wir wenig oder überhaupt keine Kontrolle über die Höhen und Tiefen in 16
unserem Leben und in unserem Geist zu besitzen meinen. In der Broschüre, welche die Achtsamkeits-Kurse und -Schulungsprogramme beschreibt, die unser Institut, das Zentrum für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitswesen und Gesellschaft („Center for Mindfulness in Medicine, Health Care, and Society”, kurz CFM), Führungskräften in der Wirtschaft anbietet, heißt es zu Beginn: „Meditation ist nichts für Feiglinge, nichts für jene Menschen, die aus Gewohnheit die leise Stimme der Sehnsucht ihres Herzens ignorieren.“ Dieser Satz steht dort natürlich mit voller Absicht; er soll sofort all jene von der Teilnahme abhalten, die noch nicht bereit sind für das Zeitlose, die es nicht verstehen würden oder die noch nicht einmal genügend Raum in ihrem Herzen und ihrem Verstand schaffen würden, um einer solchen Erfahrung oder einem solchen Verständnis eine Chance zu geben. Kämen solche Menschen zu einer unserer Programme, dann würden sie wahrscheinlich die ganze Zeit mit sich selbst kämpfen und vermutlich meinen, die Meditationsübungen, denen sie sich hier widmen sollen, seien Unsinn, reine Folter oder einfach Zeitverschwendung. Höchstwahrscheinlich wären sie so sehr mit ihrem Widerstand und ihren Einwänden beschäftigt, daß sie niemals in den kostbaren und dabei so kurzen Momenten ankommen würden, die wir haben, um auf diese Weise zusammenzuarbeiten. Wenn die Leute also zu diesen Klausuren kommen, können wir annehmen, daß sie entweder wegen oder trotz dieses Satzes gekommen sind. So oder so sollte bei ihnen – so war unsere strategische Überlegung – eine implizite, wenn nicht gar unerschrockene Bereitschaft vorhanden sein, die innere Landschaft des Geistes und des Körpers zu erkunden, jenen Bereich, den die alten chinesischen Daoisten und Chan-Meister3 das Nichttun genannt haben. Dies ist die Domäne der wahren Meditation, in der es so aussieht, als werde hier nichts oder nicht viel getan, in der jedoch gleichzeitig nichts Wichtiges ungetan bleibt, so daß sich als Konsequenz auf bemerkenswerte Weise jene geheimnisvolle Energie eines offenen, wachen Nichttuns in der Welt des Tuns manifestieren kann. Wir schwimmen Tag für Tag im Strom des Lebens, und wie es halt so ist, hören wir dabei die meiste Zeit nicht auf das geflüsterte Verlangen unseres eigenen Herzens. Und ich will auch keineswegs behaupten, daß Meditation immer leicht oder gar angenehm ist. Sie ist einfach, aber sie ist durchaus nicht immer leicht. So ist es nicht leicht, in einem geschäftigen Leben regelmäßig auch nur eine kurze Zeit am Stück für eine formelle Meditationsübung aufzubringen, ganz zu schweigen davon, sich daran zu erinnern, daß uns die Achtsamkeit, wie man so sagen könnte, auf „informelle“ Weise in jedem der sich entfaltenden Augenblicke unseres Lebens zur Verfügung steht. Doch manchmal können wir das, was uns unser eigenes Herz nahelegt, nicht länger ignorieren: Manchmal fühlen wir uns durch die lebenslange Sehnsucht unseres Herzens, sich selbst zu begegnen, irgendwie und auf geheimnisvolle Weise dazu hingezogen, uns an Orte zu begeben, die wir normalerweise nicht aufsuchen würden. Wir fühlen uns vielleicht zu Orten hingezogen, an denen wir als Kind eine Zeitlang gelebt haben, zur Wildnis, einer Meditationsklausur, einem Buch, einem Kurs oder einem Gespräch, zu 3
Chan ist die ursprüngliche chinesische Bezeichnung für die in China aus der Begegnung von Buddhismus und Daoismus entstandene Schule der Meditation, die im Westen heute vor allem unter ihrem japanischen Namen bekannt ist, als „Zen“. (Anm. d. Übers.)
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allem, was es dieser lange ignorierten Seite in uns selbst ermöglichen könnte, sich dem Sonnenlicht zu öffnen, so daß wir sie wahrnehmen und sie uns zu eigen machen können. Das Abenteuer, welches das Universum der Achtsamkeit für uns bereithält, kann möglicherweise ein Zugang zu den Dimensionen unseres Seins sein, die wir vielleicht allzu lange ignoriert oder verleugnet haben. Achtsamkeit hat, wie wir sehen werden, das große und vielschichtige Vermögen, die Entfaltung unseres Lebens zu beeinflussen. Und aus denselben Gründen ist sie in der Lage, die größere Welt zu beeinflussen, in die wir so nahtlos eingebettet sind – unsere Familie, unsere Arbeit, die Gesellschaft insgesamt und die Art und Weise, wie wir uns als ein Volk verstehen, als das, was ich den „Körper der Politik" nenne, und den Körper der Welt, also alle Bewohner des Planeten Erde zusammengenommen. Und all das kann deshalb durch Ihre eigene Erfahrung der Achtsamkeit geschehen, eben weil Sie so nahtlos eingebettet sind und weil es diese wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Dasein und dem Tun gibt. Es steht nämlich außer Frage, daß wir nahtlos in das Gewebe des Lebens selbst eingebettet sind, ebenso wie in das Gewebe dessen, was wir den Geist nennen könnten, eine unsichtbare und nicht greifbare Essenz, die es möglich macht, daß unser Empfinden und Bewußtsein und das Potential des Gewahrseins Unwissenheit in Weisheit und Zwietracht in Versöhnung und Übereinstimmung umzuwandeln. Das Gewahrsein bietet uns einen sicheren Hafen, in dem wir uns ausruhen und erholen können – in einer vitalen und dynamischen Harmonie, Gelassenheit, Kreativität und Freude, und zwar jetzt, und nicht erst in einer fernen und bloß erhofften Zukunft, in der die Dinge „besser geworden“ sind oder in der wir alles unter Kontrolle haben oder zu „besseren Menschen“ geworden sind. So seltsam es sich anhören mag: Unsere Fähigkeit zur Achtsamkeit erlaubt es uns, das zu schmecken und zu verkörpern, was wir uns am tiefsten ersehnen, was uns so häufig entgleitet und erstaunlicherweise doch immer so nahe ist – eine größere Stabilität des Geistes, eine größere Gemütsruhe und alles, was damit einhergeht, und zwar in jedem Augenblick unseres Lebens. Im Mikrokosmos ist uns der Friede nicht ferner als ebendieser Augenblick. Im Makrokosmos ist Friede etwas, was kollektiv fast jeder von uns auf die eine oder andere Weise anstrebt, besonders wenn dieser Friede begleitet ist von Gerechtigkeit sowie der Anerkennung der Menschenrechte und der uns innewohnenden Menschlichkeit. Einen solchen Frieden können wir schaffen, wenn wir tatsächlich lernen, als Individuen etwas mehr aufzuwachen und noch sehr viel mehr als Spezies; wenn wir lernen können, voll und ganz das zu sein, was wir wirklich sind und unser angeborenes menschliches Potential verwirklichen. Wie ein Sprichwort sagt: „Es gibt keinen Weg zum Frieden – Friede ist der Weg." Das gilt für die äußere Landschaft der Welt, aber auch für die innere Landschaft des Herzens. Und diese beiden Landschaften sind, in einem tiefen Sinne, eigentlich nicht verschieden. Weil Achtsamkeit, die wir uns als ein offenes, nichturteilendes Gewahr-sein von Augenblick zu Augenblick vorstellen können, am besten durch Meditation kultiviert wird und nicht bloß, indem wir über sie nachdenken, und weil sie im Rahmen der buddhistischen Tradition, in der die Achtsamkeit oft als das Herz der buddhistischen Meditation beschrieben wird, am ausführlichsten und vollständigsten artikuliert wurde, habe ich mich entschlossen, hier und dort etwas über den Buddhismus und seine 18
Beziehung zur Achtsamkeitspraxis zu sagen. Ich tue dies, damit wir aus dem, was diese außerordentliche Tradition der Welt auf der Grundlage ihrer inzwischen zweitausendfünfhundert Jahre dauernden Inkubation an diesem Punkt in der Geschichte anzubieten hat, mehr Verständnis gewinnen und Nutzen ziehen können. So wie ich es sehe, geht es dabei gar nicht um den Buddhismus als solchen. Wir können uns den Buddha vorstellen als ein Genie unseres Zeitalters, einen großen Wissenschaftler, der eine zumindest ebenso überragende Gestalt darstellt wie Darwin oder Einstein, und der, wie es der buddhistische Gelehrte Alan Wallace gern sagt, kein anderes Instrument zur Verfügung hatte als seinen eigenen Geist, um das Wesen von Geburt und Tod und des anscheinend unausweichlichen Leidens bis in die Tiefe zu erforschen. Um diesen Forschungen nachgehen zu können, mußte er zuerst das Instrument, also seinen eigenen Geist, verstehen, entwickeln und verfeinern, und lernen, es wie ein Naturwissenschaftler im Labor zu eichen und zu stabilisieren. Auch Wissenschaftler müssen die Instrumente ständig weiterentwickeln, verfeinern, eichen und stabilisieren, die sie zur Erweiterung ihrer Sinnesorgane benutzen – gigantische optische Teleskope, Radio- oder Elektronenmikroskope oder Scanner zur Positronenemissionstomographie –, um damit die Natur des Universums und des riesigen Spektrums der wechselseitig verbundenen Phänomene, die sich darin entfalten, zu erforschen, sei es im Bereich der Physik und der physischen Phänomene, in der Chemie, Biologie, Psychologie oder irgendeinem anderen Forschungsbereich. Indem der Buddha sich dieser Herausforderung stellte – und mit ihm all jene, die in seine Fußstapfen traten –, nahm er es auf sich, tiefe Fragen im Hinblick auf das Wesen des Geistes und die Natur des Lebens zu erforschen. Ihre gemeinsamen Bemühungen der Selbsterforschung führten zu bemerkenswerten Entdeckungen. Es gelang ihnen, eine genaue Kartographie jenes Territoriums zu erstellen, das die Quintessenz des menschlichen Daseins ist; es ging dabei um Aspekte des Geistes, die uns allen gemein sind, unabhängig von unseren individuellen Gedanken und Überzeugungen und der Kultur, in der wir leben. Sowohl die Methode, die sie benutzten, als auch die Früchte dieser Forschungsarbeit sind universell und haben nichts mit Ismen, Ideologien, Religionen und anderen Glaubenssystemen zu tun. Was sie entdeckten, ist eher mit medizinischen oder naturwissenschaftlichen Einsichten vergleichbar, also mit Bezugssystemen, die jedermann an jedem Ort untersuchen kann; ein jeder kann sie unabhängig von anderen für sich selbst auf die Probe stellen – was der Buddha seinen Anhängern selber von Anfang an empfahl. Weil ich Achtsamkeit praktiziere und lehre, mache ich immer wieder die Erfahrung, daß viele Menschen mich für einen Buddhisten halten. Wenn man mich danach fragt, sage ich gewöhnlich, ich sei kein Buddhist, auch wenn es eine Periode in meinem Leben gegeben hat, in der ich mich als Buddhist verstanden habe, und auch wenn ich mich in verschiedenen buddhistischen Praktiken geschult habe und weiterhin schule und sie sehr liebe und achte. Ich bin vielmehr jemand, der sich intensiv und mit Hingabe der buddhistischen Meditation widmet, nicht so sehr, weil ich per se ein Anhänger des Buddhismus wäre, sondern weil ich seine Lehren und Praktiken als so tiefgründig, so universell anwendbar, so ungemein lehrreich und heilend erfahren habe. Das habe ich nicht nur während der vergangenen vierzig Jahre in meinem eigenen Leben bestätigt gefunden, sondern auch im Leben vieler anderer Menschen, mit denen zusammenzuarbeiten und zu praktizieren ich das Privileg hatte Und ich bin immer wieder zutiefst von Menschen berührt – Lehrer oder Nichtlehrer, Menschen aus dem 19
Osten oder aus dem Westen –, welche die Weisheit und das Mitgefühl, die zentrale Inhalte der buddhistischen Lehren und Praktiken sind, in ihrem eigenen Leben verkörpern. Für mich ist die Praxis der Achtsamkeit im Grunde eine Liebesgeschichte, eine Liebesgeschichte mit dem, was das Grundlegendste in unserem Leben ist, mit dem, was ist, mit dem, was man die Wahrheit nennen könnte, die für mich Schönheit, das Unbekannte und das Mögliche einschließt, mit dem, was die Dinge wirklich sind – und das alles eingebettet ins Hier, in diesen Augenblick (denn es ist alles bereits hier), und gleichzeitig ins Überall, denn hier kann tatsächlich überall sein. Achtsamkeit ist zudem immer jetzt, denn wie wir bereits gesagt haben und es immer wieder sagen werden: Nur diese eine Zeit, das Jetzt, gehört uns. Hier und jetzt, überall und immer, das gibt uns viel Raum zur Zusammenarbeit, zumindest wenn Sie interessiert und bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln und die Arbeit des Zeitlosen zu tun, die Arbeit des Nichttuns, die Arbeit des Gewahrseins, das in Ihrem eigenen Leben verkörpert ist, so wie es sich von Moment zu Moment entfaltet. Tatsächlich ist es sowohl eine zeitlose Arbeit als auch die Arbeit eines ganzen Lebens. Keine Kultur, keine Kunstform hat ein Monopol auf die Wahrheit oder die Schönheit. Aber ich finde es ebenso nützlich wie aufschlußreich, wenn wir bei der ganz speziellen Erkundung, die wir zusammen auf diesen Seiten und in unserem Leben unternehmen wollen, auf das Werk jener besonderen Menschen auf unserem Planeten zurückgreifen, die sich mit der Sprache des Herzens und Geistes befassen, die wir Poesie nennen. Unsere größten Dichter haben sich – so wie die größten Yogis und Lehrer in den meditativen Traditionen – einer tiefen inneren Erforschung des Geistes und der Begrifflichkeiten und der engen Beziehungen zwischen inneren und äußeren Landschaften gewidmet. Es ist in den . meditativen Traditionen in der Tat nichts Seltenes, daß Augenblicke der Erleuchtung und Einsicht mit Hilfe der Poesie zum Ausdruck gebracht werden. Yogis wie Poeten sind unerschrockene Erforscher dessen, was ist, und wortgewandte Hüter des Möglichen. Das Vergrößerungsglas, das uns große Dichtung vor die Augen hält, hat wie jede authentische Kunst das Potential, unsere Sehfähigkeit zu verbessern. Noch wichtiger ist jedoch, daß sie uns in die Lage versetzen kann, deutlicher die Dringlichkeit und Relevanz unserer eigenen Situation, unserer eigenen Psyche, unseres Lebens zu spüren, und zwar auf eine Art und Weise, die uns hilft zu verstehen, wohin die Meditationspraxis unsere Aufmerksamkeit lenken will, damit wir hinschauen und sehen, wofür wir uns nach ihrer Anleitung öffnen können und, am allerwichtigsten, was zu fühlen und zu wissen sie uns ermöglicht. Poesie ist aus allen Kulturen und Traditionen auf diesem Planeten hervorgegangen. Man könnte sagen, daß unsere Dichter die Hüter des Gewissens und der Seele unseres Menschseins sind und es zu allen Zeiten gewesen sind. Sie sprechen viele Aspekte einer Wahrheit aus, die zu kontemplieren und zu beachten sich lohnt. Nordamerikanische, mittelamerikanische, südamerikanische, chinesische, japanische, europäische, türkische, persische, indische oder afrikanische, christliche, jüdische, islamische, buddhistische oder hinduistische, animistische oder klassische, weibliche oder männliche, antike oder moderne Dichter, sie alle halten eine geheimnisvolle Gabe für uns bereit, die zu erkunden, zu genießen und wertzuschätzen sich lohnt. Sie geben uns eine neue 20
Perspektive, aus der heraus wir uns anschauen und jenseits von Zeit und Kultur kennenlernen können; sie bieten uns etwas Grundlegenderes und Menschlicheres an als das Erwartete oder bereits Bekannte. Eine solche Perspektive mag nicht immer beruhigend sein. Manchmal kann sie sogar ausgesprochen aufrüttelnd und verstörend sein. Und vielleicht sind es gerade Gedichte dieser Art, bei denen wir länger verweilen sollten, weil sie nämlich das gesamte, sich ständig verändernde Spektrum von Licht und Schatten offenbaren, das ständig über den Bildschirm unseres Geistes huscht und in die untergründigen Strömungen unseres eigenen Herzens eindringt. In ihren besten Momenten bringen Dichter das Unaussprechliche zum Ausdruck, und in solchen Momenten werden sie durch irgendeine geheimnisvolle, von der Muse und ihrem Herzen gewährte Gnade zu Meistern der Worte jenseits aller Worte verklärt, und das Unaussprechliche, um das sie gerungen, das sie geformt haben und auf das sie verweisen, wird auch durch unsere Teilhabe an ihren Gedichten lebendig. Gedichte erwachen dann zum Leben, wenn wir uns ihnen in den Momenten des Lesens und des Hörens annähern und sie zu uns kommen lassen, wenn wir mit all unserer Sensibilität und Intelligenz bei jedem Wort verharren, bei jedem evozierten Ereignis oder Moment sind, bei jedem Atemzug, den wir dabei machen, bei jedem Bild, das kunst- und klangvoll evoziert wird und uns über alles Gekünstelte hinausträgt, zurück zu uns selbst und zu dem, was so ist, wie es ist. Und so werden wir auf unserer gemeinsamen Reise gelegentlich Rast machen, um in diesen Wassern der Klarheit und der Seelenqual zu baden und so von dem unvermeidbaren, quälenden Verlangen der Menschheit durchdrungen zu werden, sich selbst zu erkennen, sich, manchmal sogar mit Erfolg, an ihr tieferes Wissen zu erinnern, und in einem zutiefst freundlichen und letztlich überaus großzügigen und mitfühlenden Akt (auch wenn dieser kaum je zu ebendiesem Zweck unternommen wird), auf mögliche Wege der Vertiefung unseres Lebens und unseres Sehens hinzuweisen und dadurch vielleicht mehr wertzuschätzen, ja zu zelebrieren, wer und was wir sind und werden könnten. Mein Herz erhebt sich, gedenkt, dir Neuigkeiten zu bringen von etwas, das dich angeht und das viele Menschen angeht. Sieh dir doch an, was heute als Neuigkeit durchgeht. Dort wirst du es nicht finden, vielmehr in mißachteten Gedichten. Es ist nicht leicht, aus Gedichten die Neuigkeiten zu erfahren, und doch sterben täglich Menschen kläglich an einem Mangel dessen, was dort zu finden ist. WILLIAM CARLOS WILLIAMS
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Draußen die frostige Wüstennacht. Diese andere Nacht wird warm, lodernd. Mag die Landschaft bedeckt sein von einer dornigen Kruste. Hier drinnen haben wir einen sanften Garten. Wenn die Kontinente explodieren, werden die Metropolen und Städte, alles, zu einem versengten schwarzen Ball. Die Neuigkeiten, die wir hören, sind voller Jammer für diese Zukunft, doch die wahren Neuigkeiten hier drinnen sagen, daß es durchaus nichts Neues gibt. RŪMĪ (nach der englischen Übertragung von Coleman Barks)
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Ein Zeugnis hippokratischer Integrität Im schwindenden Nachmittagslicht liege ich an einem der letzten Septembertage zusammen mit fünfzehn Patienten auf dem Teppichboden des geräumigen und blitzsauberen, neuen Konferenzraums der Belegschaft des Medical Center der University of Massachusetts. Heute findet die erste Sitzung im ersten Zyklus des Programms für Streßbewältigung und Entspannung der kurz zuvor von mir gegründeten und später Stress Reduction Clinic genannten Institution statt. Wir befinden uns gerade in der Mitte einer längeren geführten Meditationsübung, die Body Scan genannt wird und bei der man mit Hilfe seines Bewußtseins durch den gesamten Körper wandert. Alle liegen auf brandneuen, mit Stoff in verschiedenen leuchtenden Farben bezogenen Schaumstoffmatten auf dem Rücken, an einem Ende des Raums zusammengedrängt, damit jeder meine Anleitungen hören kann. Mitten in einer langen Schweigephase geht plötzlich die Tür des Konferenzraums auf, und herein kommt eine Gruppe von etwa dreißig Personen in weißen Kitteln. Sie wird von einem großen, stattlichen Mann angeführt, der herüberkommt und zuerst mich mustert, der ich in schwarzem T-Shirt und schwarzen Karatehosen barfüßig auf dem Boden liege, und dann mit einem erstaunten und leicht amüsierten Ausdruck die anderen. Dann sieht er wieder mich an und sagt nach einer langen Pause schließlich: „Was geht denn hier vor?“ Ich bleibe liegen, genau wie die restlichen Teilnehmer meiner Gruppe, die wie tot auf ihren farbigen Matten liegen und ihre Aufmerksamkeit auf irgendeine Körperregion zwischen den Füßen, wo wir mit der Übung begonnen haben, und dem Kopf, wo sie im Verlauf der Übung hinwandern sollte, gerichtet haben, während hinter der imposanten Gestalt im Halbdunkel schweigend die anderen Weißkittel schweben. „Dies ist das neue Streßbewältigungsprogramm des Krankenhauses“, antworte ich, immer noch im Liegen, und frage mich, was zum Teufel hier los ist. Er entgegnet: „Nun, wir haben hier ein Treffen unserer Chirurgen mit den Chirurgen aus den uns angeschlossenen Krankenhäusern, und wir haben diesen Konferenzraum schon vor langer Zeit für diesen Zweck reserviert.“ Nun stehe ich auf und stelle mich dem Mann vor, der mich um mehr als eine Kopflänge überragt. „Ich weiß nicht, wie es zu dieser Doppelbelegung kommen konnte. Ich habe mehrmals bei der Verwaltung angefragt, um sicherzugehen, daß dieser Raum in den nächsten zweieinhalb Monaten jeden Mittwochnachmittag zwischen vier und sechs Uhr für uns reserviert ist.“ Noch einmal mustert mich der hochgewachsene Mann von Kopf bis Fuß. Auf der Vorderseite seines weißen Kittels ist mit blauem Garn sein Name eingestickt: Dr. H. Brownell Wheeler, Chefarzt Chirurgie. Wir sind uns nie zuvor begegnet, und er hat gewiß noch nicht von diesem neuen Programm gehört. Die Patienten und ich müssen ein seltsames Bild abgegeben haben, wie wir da ohne Schuhe und Strümpfe in Sweatshirts und Trainingshosen im Konferenzraum auf dem Boden lagen. Mir gegenüber stand einer der mächtigsten Männer des Medical Center, der ein, wie ich später erfuhr, sehr wichtiges Treffen zu leiten hatte, und die Zeit verstrich, während er sich einem völlig unerwarteten und von außen betrachtet äußerst bizarren Ereignis gegenübersah, das von jemandem geleitet wurde, der im Medical Center so gut wie 23
nichts zu sagen hatte. Er sah sich nochmals um und betrachtete die am Boden liegenden Gestalten, von denen sich einige inzwischen aufgerichtet hatten, um zu sehen, was da los war. Und dann stellte er eine Frage: „Sind das unsere Patienten?“ fragte er. „Ja“, antwortete ich, „es sind unsere Patienten.“ „Dann werden wir einen anderen Raum finden, um dort unser Treffen abzuhalten“, sagte er, drehte sich um und führte seine Gruppe wieder aus dem Raum. Ich bedankte mich bei ihm, schloß die Tür und legte mich wieder auf den Boden, um mit der Übung fortzufahren. Das war meine erste Begegnung mit Brownie Wheeler. In jenem Moment wußte ich, daß mir die Arbeit hier gefallen würde. Jahre später, nachdem Brownie und ich Freunde geworden waren, erinnerte ich ihn an diese Episode und erzählte ihm, wie beeindruckt ich damals von seinem unbedingten Respekt für die Patienten des Krankenhauses gewesen war. Es war typisch für ihn, daß er das offensichtlich für selbstverständlich hielt. Es war für ihn ein unverbrüchliches Prinzip, daß die Patienten immer an erster Stelle kamen, ganz gleich, worum es ging. Inzwischen weiß ich, daß er selbst Meditation praktizierte und sich der Verbindung von Körper und Geist und des sich daraus ergebenden Potentials für die Transformation der Medizin wohl bewußt war. Er war mehr als zwei Jahrzehnte lang ein großer Befürworter der Stress Reduction Clinic; heute, nachdem er sich aus der Position des Chefarztes der Chirurgie zurückgezogen hat, ist er Anführer einer Bewegung, die sich dafür einsetzt, daß Menschen in Frieden und Würde sterben können. Daß er an jenem Nachmittag seine Macht und Autorität nicht dazu benutzte, um die Situation an sich zu reißen, gab mir das Gefühl, gerade etwas erlebt zu haben, was man in unserer Gesellschaft leider nur allzu selten antrifft: Weisheit und Mitgefühl in Aktion. Der Respekt, den er den Patienten in diesem Moment erwies, gehörte zu den Dingen, die wir an jenem Nachmittag, als die Tür des Konferenzraums aufging, gerade zu entwickeln versuchten. Es ging um ein tiefes und nichturteilendes Annehmen unserer selbst und um die Entwicklung unseres eigenen Potentials für Heilung und Transformation. Dr. Wheelers großzügige Geste war ein gutes Omen dafür, daß an diesem Ort das alte hippokratische Prinzip der Medizin, das in dieser Welt in vieler Hinsicht so bitter nötig ist, nicht nur als Lippenbekenntnis geachtet wurde. Es wurden keine großen Worte gemacht. Und doch blieb nichts ungesagt.
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Meditation ist überall Stellen Sie sich das einmal vor: Patienten, die in Krankenhäusern im ganzen Land und überall auf der Welt auf Anraten ihrer Ärzte Yoga und Meditation praktizieren. Und manchmal sind es die Ärzte selbst, die die Meditationsanleitung geben. Oder die Ärzte nehmen an den Kursen teil und meditieren Seite an Seite mit ihren Patienten. Andries Kroese, ein prominenter Gefäßchirurg aus Oslo, hatte schon dreißig Jahre lang Meditation praktiziert und in Indien periodisch an Vipashyanā-Klausuren4 teilgenommen, als er nach Kalifornien kam, um sich während einer siebentägigen Klausur für im Bereich Gesundheitsfürsorge Tätige in Streßbewältigung durch Achtsamkeit (mindfulness-based stress reduction, kurz MBSR) schulen zu lassen. Bald nachdem er wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, entschloß er sich, seine Chirurgentätigkeit zu reduzieren und in der dadurch gewonnenen Zeit seine Kollegen und Patienten in Skandinavien Meditation zu lehren; er erfüllte sich damit einen schon seit Jahren gehegten Wunsch. Er schrieb in der Folge auf norwegisch ein populäres Buch über Streßbewältigung auf der Basis von Achtsamkeit, das in Norwegen und Schweden zu einem Bestseller wurde. Eines Tages rief Harold Nudelman, Chirurg am El Camino Hospital in Mountain View in Kalifornien, bei uns an. Er sagte, er habe ein Melanom und fürchte, daß er nicht mehr lange leben werde. Er sei mit Meditation vertraut und sie habe sein Leben verändert. Als er mein Buch Gesund durch Meditation gelesen habe, sei ihm klargeworden, daß wir bereits einen Weg gefunden hätten, etwas zu tun, von dem er schon seit langem geträumt habe, nämlich die Meditation in die Medizin einzubringen. Er wolle sich in der ihm noch verbleibenden Zeit darum bemühen, die Meditation auch in seinem Krankenhaus zu etablieren, Einen Monat später stattete er uns in Begleitung einer Gruppe von Ärzten und Verwaltungsbeamten seines Krankenhauses einen Besuch ab. Nach Hause zurückgekehrt, richteten sie in ihrem Krankenhaus ein Programm zur Streßbewältigung durch Achtsamkeit ein. Es wurde von dem hervorragenden Achtsamkeits-Lehrer Bob Stahl geleitet, der weitere wunderbare Lehrer hinzuzog, als das Programm größeren Zuspruch bekam. Heute, mehr als zehn Jahre später, läuft dieses Programm immer noch. Harold selbst hat mir nie erzählt, daß er der Vorsitzende einer Organisation war, die in der Bay Area in Kalifornien ein Klausurzentrum für Achtsamkeitsmeditation aufbauen wollte (das schließlich als das Spirit Rock Meditation Center in Woodcare, Kalifornien, bekannt wurde). Er starb ein Jahr nach seinem Besuch bei uns. El Camino ist heute eines von über dreißig Krankenhäusern und Polikliniken in San Francisco und Umgebung, die MBSR-Programme anbieten, zum Teil nicht nur für ihre Patienten, sondern auch für die Ärzte und das Pflegepersonal. MBSR-Programme gibt es inzwischen zudem in einer ganzen Reihe von Krankenhäusern in anderen Regionen der Vereinigten Staaten, in Kanada, Südamerika, Europa, Asien und Australien. Immer mehr Wissenschaftler führen klinische Studien über die Anwendungsmöglichkeiten von Achtsamkeit in der Medizin und der Psychologie durch. Eine neue Therapie zur Rückfall-Verhütung bei Depressionen, genannt „achtsamkeitsbasierte kognitive 4
Vipashyanā (Skrt.; Pali: Vipassanā) ist die Achtsamkeitsmeditation in der buddhistischen Tradition des Theravāda, der „Lehre der Ordensältesten“.
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Therapie“, die sich in mehreren klinischen Versuchen als sehr erfolgreich erwiesen hat, findet unter Klinischen Psychologen große Beachtung. Noch vor dreißig Jahren war es praktisch undenkbar, daß Meditation und Yoga eines Tages Einzug in den medizinisch-klinischen Bereich halten und breite Beachtung finden würden. Heute ist das etwas ganz Normales und gilt nicht einmal mehr als „alternative Medizin“, sondern einfach als „gate Medizin“. Zunehmend werden auch Kurse in Achtsamkeit für Medizinstudenten und Krankenhauspersonal angeboten. Selbst in einigen der auf Knochenmarktransplantationen spezialisierten Krankenhäuser, die mit Hochtechnologie arbeiten, wird den Patienten inzwischen Meditation vermittelt. Außerdem werden MBSR-Programme für Stadtbewohner, Obdachlose, Schmerz- und Krebspatienten, Herzkranke und Schwangere angeboten. Viele Patienten warten nicht mehr darauf, daß sie solche Programme von ihren Ärzten empfohlen bekommen, sie fragen von selbst danach oder kommen aus eigenem Antrieb zu den Kursen. Selbst in Anwaltskanzleien und an den juristischen Fakultäten der Universitäten Yale, Columbia, Harvard, Missouri und anderen amerikanischen Universitäten wird inzwischen die Achtsamkeitsmeditation gelehrt, und es werden Symposien über Achtsamkeit und das Rechtswesen abgehalten. Wirtschaftsbosse nehmen an strengen Fünftagesklausuren teil, die von unserem „Zentrum für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitswesen und Gesellschaft“ angeboten werden, und stören sich nicht daran, daß hier um sechs Uhr morgens mit der Meditation begonnen wird, weil sie sich in Achtsamkeit schulen, ihren Streß reduzieren und größere Bewußtheit in ihr Geschäfts- und Privatleben bringen wollen. Einige private und öffentliche Schulen mit Pioniergeist haben Achtsamkeitskurse auf allen Schulstufen eingeführt. Im Bereich des Sports gibt es immer mehr Trainer, die ganzen Sportmannschaften sowie einzelnen Hochleistungssportlern meditative Techniken vermitteln, um ihre mentale Stabilität und Geistesgegenwart zu schulen. Es gibt Meditationsprogramme für die Insassen und das Personal von Strafanstalten, für die Mitglieder von Umweltorganisationen und so weiter. In den Medien wird immer häufiger und längst nicht mehr in abfälligem Ton über die positive Wirkung von Meditation und Yoga berichtet, und Lifestyle-Magazine feiern Meditation, Yoga und Zen als coole WellnessTrends. Kurz gesagt: Meditation ist längst keine suspekte Beschäftigung für gewisse Randgruppen mehr, sondern hat Eingang gefunden in die Mitte unserer Gesellschaft. Was um Himmels willen geht da vor? Man könnte sagen, daß sich unsere Kultur in den frühen Stadien eines Erwachens befindet. Wir als Kultur sind dabei, zum Potential der innersten Natur zu erwachen, zu den Möglichkeiten, die in der Kultivierung von Achtsamkeit und dem Vertrautsein mit Ruhe und Stillhalten verborgen sind. Wir beginnen zu erkennen, daß das Präsentsein im gegenwärtigen Augenblick uns mehr Klarheit und Einsicht, größere emotionale Stabilität und Weisheit bescheren kann. Die Meditation ist in unserer Kultur nichts Exotisches mehr, sie ist bei uns angekommen und ist heute etwas durchaus Abendländisches. Und angesichts des Zustands unserer Welt und der destruktiven Kräfte, die auf uns einwirken, kann man nur sagen: Gott sei Dank! Vergessen Sie dabei nur eines nicht: Meditation ist nicht das, was Sie denken!
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Ursprüngliche Momente In den siebziger Jahren war ich Schüler eines koreanischen Zen-Meisters namens Seung Sahn. Die wörtliche Übersetzung dieses Namens lautet „Hoher Berg“. Wir nannten ihn jedoch einfach Soen Sa Nim, was, wie ich kürzlich herausfand, „verehrter Zen-Meister“ heißt. Ich glaube nicht, daß damals einer von uns wußte, was das wirklich bedeutete. Für uns war das einfach sein Name. Er war aus Korea in die USA gekommen und irgendwie in Providence auf Rhode Island gelandet. Dort „entdeckten“ ihn einige Studenten der Brown University an einem ziemlich unwahrscheinlichen Ort (wir sollten später herausfinden, daß so ziemlich alles an ihm ausgesprochen unwahrscheinlich war): Er reparierte Waschmaschinen in einer kleinen Werkstatt, die im Besitz koreanischer Landsleute war. Die Studenten organisierten um ihn herum eine informelle Gruppe, um herauszufinden, wer dieser Typ war und was er anzubieten hatte. Aus diesen kleinen informellen Treffen entwickelte sich schließlich das Providence Zen Center und daraus wiederum in den folgenden Jahrzehnten viele andere Zentren auf der ganzen Welt, die sich auf die Lehren von Soen Sa Nim gründeten. Ich hörte von einem meiner Studenten an der Brandeis University von ihm und fuhr eines Tages nach Providence, um ihn mir anzusehen. Soen Sa Nim hatte etwas außerordentlich Faszinierendes. Zunächst einmal war er ein Zen-Meister (was immer das war), der Waschmaschinen reparierte und damit offensichtlich recht glücklich war. Er hatte ein rundes Gesicht und war entwaffnend offen und gewinnend. Er war vollkommen präsent, vollkommen er selbst, ohne Getue, ohne Hochmut. Sein Kopf war kahlrasiert (er nannte Haare „Unwissenheits-Gras“ und sagte, Mönche müßten es regelmäßig abrasieren). Er trug komische weiße Gummislipper (koreanische Mönche tragen kein Leder, weil es tierischen Ursprungs ist), und ließ sich damals meist nur in Unterwäsche blicken. Wenn er lehrte, trug er allerdings eine lange graue Robe und ein einfaches braunes Kesa, ein viereckiges Stück Stoff, das aus vielen einzelnen Flecken zusammengesetzt ist. Es hing um seinen Hals und über seiner Brust und symbolisiert im Zen das Flickengewand der frühen ZenMönche in China. Er besaß auch aufwendigere und farbenfrohere Gewänder für besondere Gelegenheiten und Zeremonien, die er für die örtliche koreanische Gemeinde abhielt. Seine Ausdrucksweise war ziemlich ungewöhnlich, teils, weil er zu Anfang nur wenige englische Wörter kannte, teils, weil ihm die Grammatik des Englischen vollkommen fremd war. So sprach er denn eine Art gebrochenes koreanisches Englisch, mit dem er sich dennoch auf unglaubliche Weise verständlich machte. Seine Worte drangen mit atemberaubender Frische in den Geist der Zuhörer vor, weil ihr Geist niemals zuvor einem solchen Denken begegnet war und sie es deshalb nicht so einzuordnen vermochten, wie sie es gewöhnlich mit dem taten, was sie hörten. Wie es unter solchen Umständen leicht geschieht, verfielen viele seiner Schüler darauf, auf dieselbe Weise auch untereinander zu kommunizieren. Sie begannen gebrochenes Englisch zu sprechen und sagten Dinge wie: „Gehen einfach geradeaus; nicht fragen Kopf' oder „Pfeil bereits in Innenstadt“ oder „Leg es hin, einfach leg es hin“ oder „Du schon verstehen“ ... Dinge, die für sie sinnvoll klangen, aber für alle anderen ziemlich verrückt. 27
Soen Sa Nim war gerade mal eins sechzig groß, nicht dünn, aber auch nicht rundlich. Korpulent ist vielleicht am treffendsten. Er schien alterslos zu sein, war aber wahrscheinlich Mitte Vierzig. Es hieß, er sei in Korea sehr bekannt und werde dort hoch geachtet, aber er hatte sich offenbar entschlossen, nach Amerika zu kommen und seine Lehre dorthin zu tragen, wo es damals hoch herging. In den frühen Siebzigern besaß die amerikanische Jugend eine Menge Elan und Enthusiasmus für östliche meditative Traditionen, und er gehörte zu der großen Zahl von asiatischen Meditationslehrern, die in den sechziger und siebziger Jahren nach Amerika schwärmten. Wer einen Geschmack von seinen mündlichen Lehren in jener Zeit bekommen will, sollte das von Stephen Mitchell herausgegebene Buch Buddha steht kopf. Die Lehren des ZenMeisters Seung Sahn lesen. Seung Sahn begann seine öffentlichen Vorträge oft damit, daß er den „Zen-Stock“ zur Hand nahm, den er gewöhnlich in Reichweite hatte. Es war ein Stock aus dem polierten Holz eines bizarr geformten Baumastes, und manchmal stützte er, während er die Zuhörer anstarrte, sein Kinn darauf. Er nahm also diesen Stock, hielt ihn waagerecht über seinen Kopf und bellte die Zuhörer an: „Sehen Sie das?“ Langes Schweigen. Verwirrte Blicke. Dann drosch er mit dem Stock mit einem lauten Knall auf den Boden oder auf den Tisch vor ihm. „Hören Sie das?“ Langes Schweigen. Noch mehr verwirrte Blicke. Anschließend begann er mit seinem Vortrag. Oft erklärte er nicht, was dieser Eröffnungszug bedeuten sollte. Aber die Botschaft wurde langsam klar, vielleicht erst, nachdem man ihn immer wieder dasselbe hatte tun sehen. Es ist nicht nötig, die Dinge zu verkomplizieren, wenn es um Zen oder Meditation oder Achtsamkeit geht. Bei der Meditation geht es nicht darum, eine großartige Philosophie des Lebens oder des Geistes zu entwickeln. Es geht überhaupt nicht ums Denken. Es geht darum, einfach zu bleiben. Sehen Sie – genau jetzt, in diesem Augenblick? Hören Sie? Dieses Sehen und dieses Hören ist, wenn wir nichts hinzufügen, die Wiederentdeckung des ursprünglichen Geistes, frei von allen Begriffen, einschließlich des „ursprünglichen Geistes“. Und der ist bereits hier. Er gehört uns bereits. Tatsächlich ist es unmöglich, ihn zu verlieren. Wenn Sie den Stock sehen – wer sieht dann? Wenn Sie den Schlag hören – wer hört dann? Im ersten Moment des Sehens gibt es nur das Sehen, noch bevor das Denken einsetzt und der Geist alle möglichen Gedanken hervorbringt, wie zum Beispiel: „Ich frage mich, was das bedeutet.“ – „Natürlich sehe ich den Stock.“ - „Das ist aber ein merkwürdiger Stock.“ – „Ich glaube, ich habe noch nie einen solchen Stock gesehen.“ – „Woher er ihn wohl hat?“ – „Vielleicht aus Korea.“ – „Ich hätte auch gern so einen Stock.“ – „Ich verstehe, was er da mit dem Stock macht.“ – „Ob wohl sonst noch jemand das versteht?“ – „Das ist wirklich cool.“ – „Irre!“ – „Meditation ist etwas ziemlich Abgefahrenes.“ – „Das könnte mir gefallen.“ – „Ich frage mich, wie ich wohl in einer solchen Robe aussähe.“ Oder beim Hören des lauten Knalls: „Das ist eine merkwürdige Weise, einen Vortrag zu beginnen.“ – „Natürlich habe ich das Geräusch gehört.“ – „Der hält uns wohl für taub.“ – „Hat er tatsächlich auf den Tisch gehauen?“ – „Er hat bestimmt eine riesige Kerbe hinterlassen.“ – „Das war aber ein Hieb!“ – „Wie kann er nur so etwas tun?“ – „Weiß er nicht, daß der Tisch jemandem gehört?“ – „Das kümmert ihn wohl gar nicht.“ – „Was ist das überhaupt für ein Typ?“ 28
Das war alles, worum es ging. „Sehen Sie?“ Wir sehen fast nie einfach nur. „Hören Sie?“ Wir hören fast nie einfach nur. Gedanken, Interpretationen und Gefühle brechen nach jeder einzelnen Erfahrung so schnell über uns herein – und kommen als Erwartungen schon vor dem Auftreten einer Erfahrung –, daß wir kaum behaupten können, wir seien für den ursprünglichen Moment des Sehens, den ursprünglichen Moment des Hörens überhaupt „da“ gewesen. Wären wir es gewesen, dann wäre es „hier“ und nicht „da“ gewesen. Statt den Stock zu sehen, sehen wir unsere Vorstellungen. Wir hören unsere Vorstellungen, nicht den Schlag. Wir bewerten, wir urteilen, wir schweifen ab, wir kategorisieren, wir reagieren emotional - und zwar so schnell, daß der Augenblick des reinen Sehens, der Augenblick des reinen Hörens verlorengeht. Wenigstens was diesen Moment angeht, waren wir, so könnte man sagen, „von Sinnen“, haben wir uns von unseren Sinnen verabschiedet. Natürlich färben solche Momente der Unbewußtheit auf das ab, was als nächstes kommt. Darum neigen wir dazu, verlorenzubleiben, uns über längere Zeit in automatische Muster des Denkens und Fühlens zu verlieren, ohne daß wir uns dessen bewußt werden. Wenn Soen Sa Nim also fragte: „Sehen Sie das? Hören Sie das?“, dann war das durchaus nicht so trivial, wie man auf den ersten Blick annehmen mochte. Er lud uns ein, aus dem Traum der Selbstbezogenheit zu erwachen, aus dem endlosen Produzieren von Geschichten, die uns von dem entfernen, was tatsächlich in diesen Augenblicken geschieht – in den Momenten, die sich schließlich zu dem addieren, was wir unser Leben nennen.
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Odysseus und der blinde Seher Manchmal sagen wir zu jemandem: „Komm zur Besinnung!“ und fordern ihn damit auf, zur Wirklichkeit zu erwachen. Doch gewöhnlich kommen die Menschen, wie Ihnen vielleicht bereits aufgefallen ist, nicht deshalb wie durch Zauberei zur Besinnung, weil wir sie darum bitten (wir selbst tun das übrigens ebensowenig, auch wenn wir uns selbst anflehen). Die gesamte Orientierung der Menschen im Hinblick auf sie selbst, die Situation, in der sie sich befinden, und alles andere müssen verändert werden, manchmal sogar ziemlich drastisch. Aber wie macht man so etwas? Manchmal ist eine gesundheitliche Krise erforderlich, damit wir aufwachen ... wenn wir nicht vorher daran sterben. Wir sagen von jemandem, er sei „von Sinnen“, wenn wir meinen, er sei nicht mehr in Kontakt mit der Realität. Meistens ist es nicht gerade leicht, diesen Kontakt wieder herzustellen. Wo sollen wir bloß anfangen, wenn wir bereits dermaßen daneben sind? Und was können wir überhaupt tun, wenn die ganze Gesellschaft oder die ganze Welt dermaßen von Sinnen ist, daß ein jeder sich auf irgendeinen Aspekt des Elefanten konzentriert, aber niemand den ganzen Elefanten wahrnimmt?5 Inzwischen verwandelt sich das, was wir für einen Elefanten gehalten haben, in eine Art Amok laufendes Ungeheuer, doch wir sind nicht bereit, wahrzunehmen und zuzugeben, was Sache ist, ganz ähnlich wie das Volk in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Es ist in der Tat nicht leicht, zur Besinnung zu kommen, ohne darin geübt zu sein. Im allgemeinen sind wir einfach vollkommen aus der Übung. Was unsere Sinne angeht, sind wir tatsächlich in ziemlichschlechter Verfassung. Wir sind auch dort nicht gerade gut, wo es darum geht, unsere Beziehung zu jenen Aspekten von Körper und Geist anzuerkennen, die an den Sinnen teilhaben, die die gleiche Ausdehnung haben wie die Sinne, die von den Sinnen informiert und von ihnen mitgestaltet werden. Mit anderen Worten: Wir sind, was Wahrnehmung und Gewahrsein sowohl des Inneren als auch des Äußeren angeht, total neben der Spur. Doch wir können wieder zur Besinnung kommen, wenn wir unsere Fähigkeit, aufmerksam zu sein, immer und immer wieder übend einsetzen. Das, was durch diese Art von Fitneßtraining oft trotz beträchtlichen Widerstands von seiten unseres Geistes stärker, robuster und flexibler wird, ist sehr viel interessanter als ein Bizeps. Die meiste Zeit spielen uns unsere Sinne, zu denen nach buddhistischem Verständnis auch unser Geist gehört, alle möglichen Streiche. Sie tun das einfach aus Gewohnheit und aufgrund der Tatsache, daß sie nicht passiv sind, sondern ständig einer konsequenten aktiven Einschätzung und Interpretation durch verschiedene Regionen des Gehirns bedürfen. Wir sehen, aber wir sind uns des Sehens kaum als einer Beziehung bewußt, als der Beziehung zwischen unserem Sehvermögen und dem, was es zu sehen gibt. Wir glauben das, was wir vor uns zu sehen meinen. Tatsächlich jedoch schimmern dabei unsere diversen unbewußten Gedankenkonstrukte ebenso durch wie die rätselhafte Annahme, daß wir in einer Welt leben, die wir mit den Augen erfassen können. 5
Der Autor bezieht sich hier auf die Sufi-Geschichte „Die Blinden und der Elefant“, in der eine Gemeinschaft von Blinden zu einem Elefanten geführt wird. Die Männer versuchen, sich durch Ertasten ein Bild von dem Tier zu machen. Jeder faßt es an einem anderen Körperteil an und verteidigt über diesen Eindruck sein Bild eines Elefanten, ohne am Ende eine Gesamtvorstellung von ihm zu haben. (Anm. d. Übers.)
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Wir sehen also einige Dinge, aber gleichzeitig kann es sein, daß wir gerade das nicht sehen, was für unser sich entfaltendes Leben am wichtigsten und relevantesten ist. Wir sehen gewohnheitsmäßig, und das bedeutet, daß wir auf sehr eingeschränkte Weise sehen, oder wir sehen überhaupt nicht, manchmal selbst das nicht, was sich genau vor unserer Nase befindet. Wir haben beim Sehen auf Automatik geschaltet, wir halten das Wunder des Sehens für etwas Selbstverständliches, so daß es schließlich nur noch ein Teil des nicht zur Kenntnis genommenen Hintergrunds ist, innerhalb dessen wir unseren Geschäften nachgehen. Wir haben Kinder und verbringen Jahre mit ihnen, ohne sie wirklich zu sehen, weil wir allein unsere Gedanken über sie „sehen“, die von unseren Erwartungen oder unseren Ängsten gefärbt sind. Dasselbe kann auch auf jede einzelne oder auf alle unserer Beziehungen zutreffen. Wir leben in der Natur, aber die meiste Zeit nehmen wir auch sie nicht wirklich wahr: Wir übersehen, wie das Sonnenlicht von einem ganz bestimmten Blatt reflektiert wird oder in welchem Ausmaß wir in der Stadt von verzerrten Widerspiegelungen in Fenstern und Windschutzscheiben umgeben sind. In der Regel spüren wir auch nicht, daß wir von anderen gesehen und gefühlt werden, einschließlich der Tiere und Pflanzen in der Wildnis – verbrächten wir eine Nacht in einem Regenwald, würde uns das stärker bewußt –, und zwar auf eine Art und Weise, die sich von unserer Selbstwahrnehmung stark unterscheiden mag. Vielleicht ist diese allgegenwärtige und endemische Blindheit bei uns Menschen ein Grund dafür, daß Homer, der in der Morgendämmerung abendländischer Literaturtradition etwa um 800 v. Chr. seine nur mündlich überlieferte Odyssee ersann, worin er Odysseus in der Mitte der Geschichte Teiresias an der Grenze des Hades aufsuchen und ihn an diesen die Frage richten läßt, was sein Schicksal sei und was er tun müsse, um sicher in die Heimat zurückkehren zu können. Denn Teiresias ist ein blinder Seher, und wann immer ein „blinder Seher“ auftritt, weiß man, daß die Dinge jetzt interessanter und wirklicher werden. Homer scheint uns sagen zu wollen, daß wahres Sehen weit über das Vermögen intakter Augen hinausgeht. Ja, intakte Augen können sogar zu einem Hindernis werden, wenn wir unseren Weg finden wollen. Wir müssen lernen, wie wir jenseits unserer eigenen gewohnheitsmäßigen und charakterbedingten Blindheit sehen können. Bei Odysseus resultierte diese aus seiner Arroganz und Listigkeit, die Stärken von ihm, aber gleichzeitig sein Verderben waren und deshalb ein unvergleichliches Geschenk, das er in Betracht ziehen und aus dem er lernen mußte.6 Wir sehen meistens nicht das, was da ist. Oft sehen wir auch etwas, was nicht da ist. Tatsächlich sagt Teiresias Odysseus eine zweite Reise voraus, eine Reise, die er allein und ohne seine Schar von Kriegern unternehmen muß, eine einsame Reise ins Innere, auf der er ein Ruder auf der Schulter trägt, bis ihn schließlich ein Fremder, der nie die See gesehen hat, fragt: „Was ist das für ein Worfelfächer auf deiner Schulter?“ Ein Worfelfächer wurde in alter Zeit benutzt, um den Weizen von der Spreu zu trennen — was hier ein Symbol für weise Unterscheidungsfähigkeit ist, eine Weisheit, zu der Odysseus lange nach der Beendigung seiner Odyssee gelangen wird, wenn die Freier seiner Frau vernichtet sind und sein Reich wiederhergestellt ist. Diese Reise ins Innere in seinen späteren Jahren wird von dem blinden Seher vorhergesagt und von Homer nie wieder erwähnt. Nach Helen Luke, die es gewagt hat, die Geschichte zu schreiben, die Homer nie erzählt hat, sagt er die Reise des Alters voraus, die Reise zu Weisheit und innerem Frieden und zur Versöhnung mit den Göttern, die wir durch unsere eigene Blindheit und Hybris beleidigen. 6
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Wie sehr das Auge doch Dinge produziert! Der Geist erfindet Dinge. Das liegt zum Teil an unserer blühenden Phantasie. Zum Teil liegt es auch an der Art und Weise, wie unser Nervensystem verschaltet ist. Ist da nun ein Dreieck in der als Kanizsa-Dreieck bekannten Figur auf der gegenüberliegenden Seite vorhanden oder nicht? Soen Sa Nim würde sagen: „Wenn du sagst, da ist ein Dreieck, werde ich dir dreißig Hiebe [mit seinem Zen-Stock] versetzen [er tat das nicht wirklich, aber die Zen-Meister im alten China teilten wirklich Hiebe aus]. Wenn du sagst, da ist kein Dreieck, werde ich dir dreißig Hiebe versetzen. Was kannst du also tun?“ Er benutzte zwar kein Kanizsa-Dreieck, aber jedes Ding, das er gerade zur Hand hatte. „Wenn du sagst, dies sei ein Glas/kein Glas, eine Uhr/keine Uhr, ein Stein/kein Stein, werde ich dich schlagen ... Was kannst du also tun?“ Diese Methode lehrte uns gewiß, weder an der Form noch an der Leere festzuhalten – oder uns das Festhalten zumindest nicht anmerken zu lassen. Aber auch wenn wir das nicht wollten, war es uns die meiste Zeit doch anzumerken. Wir lavierten uns einfach hindurch, in der Hoffnung, im Laufe der Schulung schon irgendwie zu lernen und zu wachsen, vielleicht durch das Mitgefühl, das er in seinen scheinbaren Mangel an Mitgefühl einfließen ließ, wenn schon nicht durch etwas anderes. Wir alle wissen, daß wir, wenn es um die Wahrnehmung mit unseren Augen geht,
bestimmte Dinge sehen und andere nicht, auch wenn sie sich unmittelbar vor unserer Nase befinden. Und man kann uns leicht dazu konditionieren, bestimmte Dinge zu sehen und andere nicht. Zauberer nutzen bei ihren Taschenspieler-Kunststücken unsere selektive Wahrnehmung aus. Ihre Kunst verblüfft und erheitert uns, weil sie unsere Aufmerksamkeit so geschickt ablenken und unseren Sinnen einen Streich spielen. Auf einer universelleren Ebene können Menschen in verschiedenen Kulturen das gleiche Ereignis abhängig von ihrem Glaubenssystem und ihrer Ausrichtung ganz unterschiedlich wahrnehmen. Sie sehen durch verschiedene Brillen des Geistes und sehen deshalb unterschiedliche Realitäten. Keine davon ist ganz wahr. Die meisten von ihnen sind zu einem gewissen Maß wahr. Waren die Amerikaner nun die Befreier des Irak oder seine Besatzer? Seien Sie vorsichtig bei dem, was Sie sagen. Wie leicht haften wir einer bestimmten Sichtweise an, die nur teilweise richtig ist? Wir alle neigen bisweilen dazu, gedankenlos in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen und an absolute Wahrheiten zu glauben. So fühlen wir uns besser, sicherer – aber es 32
macht uns auch ziemlich blind: Dies ist gut. Das ist böse. Dies ist richtig. Das ist falsch. Wir sind stark. Die anderen sind schwach. Wir sind klug, sie sind es nicht. Sie ist ein Schatz. Er ist eine Nervensäge. Ich bin ein Versager. Die spinnen. Er wird das niemals überwinden. Sie ist so unsensibel. Ich werde das nie schaffen. Man kann nichts dagegen tun. Alle diese Aussagen sind Gedanken und sie haben die Tendenz, unsere Sicht zu verzerren und zu begrenzen, selbst wenn sie teilweise wahr sind. Denn in den allermeisten Fällen sind die Dinge in der realen Welt nur teilweise wahr. So etwas wie einen großen Menschen gibt es nicht. Er ist nur einigermaßen groß. So etwas wie einen klugen Menschen gibt es nicht. Er ist nur einigermaßen klug. Von der Warte eines umfassenderen Bewußtseins aus gesehen, tendiert ein solches Denken dazu, rigide, einschränkend und unvermeidlicherweise zumindest zum Teil falsch zu sein. So führt unser Schwarz-Weiß- oder Entweder-Oder-Sehen und -Denken sehr schnell zu vorgefaßten und beschränkten Urteilen, zu denen wir oft aus einem Reflex heraus gelangen, automatisch und ohne zu überlegen, was sehr oft unsere Fähigkeit beeinträchtigt, unseren Weg durch die Unwägbarkeiten des Lebens zurück in die „Heimat“ zu finden. Etwas ganz anderes als das Urteilen ist hingegen das Unterscheidungsvermögen. Es führt uns dazu, unendliche Schattierungen und Nuancen von Grau zwischen dem Nur-Weiß und dem Nur-Schwarz, dem Ganz-Gut und dem Ganz-Böse zu sehen, zu hören, zu fühlen und wahrzunehmen. Das könnten wir „weises Unterscheiden“ nennen und es gibt uns die Möglichkeit, verschiedene Öffnungen zu sehen und durch sie hindurchzuschiffen, während wir mit unseren SchnellschussUrteilen Gefahr laufen, solche Öffnungen gar nicht erst zu erkennen, so daß uns das volle Spektrum des Wirklichen entgeht und wir, ohne es mitzubekommen, das Mögliche einschränken. Es gibt eine ganze Disziplin in der Mathematik und im Maschinenbau, die auf diesen komplexen fraktalen Mustern der Welt zwischen dem Entweder und dem Oder basiert. Man nennt sie fuzzy mathematics (wörtlich: „verschwommene Mathematik“). Das Komische ist, daß unser Geist desto klarer und nicht etwa verschwommener wird, je mehr wir der Tatsache Rechnung tragen, daß Dinge viele verschiedene Schattierungen haben. Es wird uns bei unserer weiteren Erforschung der Achtsamkeit eine Hilfe sein, wenn wir uns daran erinnern. In seinem Buch Die Zukunft ist fuzzy. Unscharfe Logik verändert die Welt zeigt Bart Kosko von der University of Southern California auf, daß die Welt von Null und Eins, Schwarz und Weiß, die von Aristoteles formulierte Welt ist – der, nebenbei gesagt, auch zum ersten Mal in der abendländischen Kultur über die fünf Sinne geschrieben hat. Alle Schattierungen von Grau plus die Welt von Null und Eins – das ist die von Buddha artikulierte Welt. Welches Modell der Welt ist also richtig? Geben Sie acht! Äpfel können rot, grün oder gelb sein. Aber wenn man genau hinsieht, so wird klar, daß sie nur bis zu einem gewissen Grad rot, grün oder gelb sind. Manchmal sind größere oder kleinere Flecken der anderen Farben untergemischt. Kein natürlicher Apfel ist vollkommen rot oder grün oder gelb. Der Meditationslehrer Joseph Goldstein erzählt die Geschichte einer Grundschullehrerin, die einen Apfel hochhielt und ihre Klasse fragte: „Welche Farbe hat dieser Apfel, Kinder?“ Viele Kinder sagten rot, einige sagten gelb, andere sagten grün, aber ein Junge sagte „weiß“. „Warum sagst du, er sei 33
weiß?“ fragte die Lehrerin. „Du kannst doch deutlich sehen, daß er nicht weiß ist.“ Daraufhin stand der Junge auf, nahm den Apfel, biß hinein und hielt ihn dann der Klasse und der Lehrerin hin, damit sie sehen konnten, daß er tatsächlich weiß war. Goldstein weist auch gern darauf hin, daß es keinen Großen Wagen am Himmel gibt, sondern nur Sterne, die aus einem bestimmten Blickwinkel so aussehen wie ein großer Wagen. Aber wenn wir in einer dunklen Nacht zum Himmel aufsehen, sieht das Sternbild tatsächlich aus wie ein großer Wagen. Und natürlich hilft uns dieser Große Wagen, der kein großer Wagen ist, immer noch, den Polarstern zu lokalisieren und ihn als Orientierungshilfe zu verwenden. Halten Sie einen Moment inne und sehen Sie sich die untenstehende Abbildung genau an. Was sehen Sie?
Manche Menschen sehen eine alte Frau und nichts weiter als eine alte Frau. Andere sehen eine junge Frau und nichts weiter als eine junge Frau. Was ist denn nun richtig? Wenn ich, bevor ich dieses Bild zeige, der Hälfte einer großen Zuhörerschaft fünf Sekunden lang einen kurzen Blick auf das linke der auf der folgenden Seite stehenden Bilder gewähre, während die andere Hälfte die Augen geschlossen hat, dann werden erstere in der obigen Abbildung mit größerer Wahrscheinlichkeit eine junge Frau sehen, während die andere Hälfte, denen zuvor kurz das rechte der beiden Bilder gezeigt wurde, mit größerer Wahrscheinlichkeit eine alte Frau sehen wird. Sobald eines der beiden Muster erst einmal „eingerastet“ ist, ist es für viele Menschen sehr schwer, das andere zu sehen, auch wenn sie das Bild sehr lange anschauen – sofern man ihnen nicht 34
die beiden unzweideutigen Zeichnungen nebeneinander zeigt. In dem wundervollen kleinen Buch Der Kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupery findet sich die folgende zauberhafte Geschichte: Als ich sechs Jahre alt war, sah ich einmal in einem Buch über den Urwald, das „Erlebte Geschichten“ hieß, ein prächtiges Bild. Es stellte eine Riesenschlange dar, wie sie ein Wildtier verschlang ...
In dem Buche hieß es: „Die Boas verschlingen ihre Beute als Ganzes, ohne sie zu zerbeißen. Daraufhin können sie sich nicht mehr rühren und schlafen sechs Monate, um zu verdauen.“ Ich habe damals viel über die Abenteuer des Dschungels nachgedacht, und ich vollendete mit einem Farbstift meine erste Zeichnung. Meine Zeichnung Nr. 1. So sah sie aus:
Ich habe den großen Leuten mein Meisterwerk gezeigt und sie gefragt, ob ihnen meine Zeichnung nicht angst mache. Sie mir geantwortet: „Warum sollen wir vor einem haben Hute Angst haben?“ Meine Zeichnung stellte aber keinen Hut dar. Sie stellte eine Riesenschlange dar, die einen Elefanten verdaut. Ich habe dann das Innere der Boa gezeichnet, um es den großen Leuten deutlich zu machen. Sie brauchen ja immer Erklärungen. Hier meine Zeichnung Nr. 2:
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Die großen Leute haben mir geraten, mit den Zeichnungen von offenen oder geschlossenen Riesenschlangen aufzuhören und mich mehr für Geographie, Geschichte, Rechnen und Grammatik zu interessieren. So kam es, daß ich eine großartige Laufbahn, die eines Malers nämlich, bereits im Alter von sechs Jahren aufgab. Der Mißerfolg meiner Zeichnungen Nr. 1 und Nr. 2 hat mir den Mut genommen. Die großen Leute verstehen nie etwas von selbst, und für die Kinder ist es zu anstrengend, ihnen immer und immer wieder erklären zu müssen.8 Damit wir zur Besinnung kommen können, müssen wir vielleicht unsere angeborene Fähigkeit, über die Oberfläche der Erscheinungen hinaus grundlegendere Dimensionen der Wirklichkeit zu sehen, entwickeln und ihr vertrauen - jene Fähigkeit, die Teiresias, der blind war, aber sehen konnte, was wichtig war, für Odysseus verkörperte, der nicht blind im wörtlichen Sinne war, aber doch nicht erkennen konnte, was zu sehen und zu wissen für ihn das Wichtigste war. Vielleicht können diese neuen Dimensionen, die nur vor uns verborgen zu sein scheinen, uns helfen, zum vollen Spektrum unserer Erfahrung der Welt zu erwachen, und zu unserem Potential, uns selbst zu verstehen und Wege zu finden, wie wir sein und wie wir von Nutzen sein können, Wege, die sowohl uns selbst als auch die Welt nähren und das in uns zum Vorschein bringen, was das Tiefste und Beste in uns ist, und auch das Menschlichste. Mein Inneres, höre auf mich, der grölte Geist, der Lehrer, ist nahe. Wach auf wach auf.! Laufe hin zu seinen Füßen er steht gerade jetzt nahe deinem Kopf. Du hast geschlafen Millionen und Abermillionen von Jahren. Warum nicht heute morgen aufwachen? KABIR (nach der englischen Nachdichtung von Robert Bly)
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An nichts festhalten Ein Witz macht die Runde, der folgendermaßen geht: Frau Meier unterhält sich mit ihrer Nachbarin über ihren Sohn Karl, der zur NullBock-Generation gehört. Sagt Frau Meier: „Mein Karl beschäftigt sich neuerdings mit Meditation. Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber es ist bestimmt besser, als wenn er rumsitzt und nichts tut.“ Die Tatsache, daß die Leute die Pointe dieses Witzes mitbekommen, weist darauf hin, daß die buddhistische Meditation für die kollektive Psyche unserer Kultur nichts Fremdes mehr ist. Daß der Buddhismus innerhalb weniger Jahrzehnte Eingang in die abendländische Kultur finden würde, war in meiner Jugendzeit in den fünfziger Jahren noch ausgesprochen unwahrscheinlich, wenn nicht gar unvorstellbar. So meinte auch C. G. Jung, der abendländische Geist würde größte Schwierigkeiten haben, das Zen zu verstehen, auch wenn er selbst den größten Respekt für dessen Ziele und Methoden hatte. Doch inzwischen hat sich die Situation geändert, und daß Jung sich seinerzeit trotz seiner Bedenken weiterhin intensiv mit den östlichen Weisheitslehren beschäftigt hat, war vielleicht nicht nur ein Omen, sondern hat auch mitgeholfen, sie bei uns heimisch zu machen. Der Historiker Arnold Toynbee soll gesagt haben, daß die Begegnung des , Westens mit dem Buddhismus sich als das vielleicht wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts erweisen werde. Angesicht der vielen außerordentlichen Ereignisse in diesen einhundert Jahren, einschließlich des unglaublichen Leidens, das Menschen in diesem Jahrhundert einander zugefügt haben, ist das eine höchst erstaunliche Aussage. Ob er damit recht behalten wird, muß sich erst noch erweisen. Wahrscheinlich braucht es noch einmal einhundert Jahre, bevor man diese Behauptung im Rückblick wird bestätigen oder widerlegen können. Aber zweifelsohne tut sich hier etwas. Auf jeden Fall haben die Leute die Pointe begriffen, und es finden sich heute schon in Zeitschriften wie dem New Yorker „buddhistische“ Witze in Form von Karikaturen. Zum Beispiel: Abgebildet sind zwei Mönche in buddhistischen Roben, die offenbar gerade eine Phase der Sitzmeditation hinter sich haben. Einer der Mönche dreht sich zu dem anderen um. Die Bildunterschrift lautet: „Denkst du gerade nicht, was auch ich nicht denke?“ Unsere Kultur hat etwas vom Geist der Meditation mitbekommen. Und das gilt nicht nur für das eher intellektuelle Publikum des New Yorker. Wir finden buddhistische Anspielungen in Comicstrips, in Filmserien wie Krieg der Sterne, auf Plakatwänden in U-Bahn-Stationen, in Zeitschriften und im Fernsehen. Innerer Friede soll heute so gut wie alles vermarkten, von Strandferien über neue Autos bin hin zu Parfüms. Ich will nicht behaupten, daß das eine gute Sache ist, aber es sagt etwas darüber aus, daß die Dinge sich heute zu verändern beginnen, dadurch, daß wir uns auf einer gewissen Ebene der Verheißung und der praktischen Realität solcher Unternehmungen stärker bewußt werden – und natürlich auch unserer Neigung, so gut wie alles zur Vermarktung 37
eines Produkts auszunutzen. In einem Comicstrip, den mir vor einigen Jahren ein junger Patient mitgebracht hat, wird die Bildfolge von dem folgenden Dialog begleitet. Nach dem Text kann man sich vorstellen, wie die Bilder aussehen könnten: „Was machst du da, Mort?“ „Ich übe Meditation. Nur ein paar Minuten, und mein Kopf ist völlig leer.“ „Ach so, und ich dachte schon, du wärest so geboren worden.“ Daß es in der Meditation darum gehe, den Geist völlig leer zu machen, beruht auf einem totalen Mißverstehen der Ausrichtung von Meditation. Aber ganz gleich, was die Leute sich unter Meditation vorstellen, sie ist wie nie zuvor ein Teil unserer abendländischen Kultur geworden. Der Dalai Lama lächelt uns heute, der Bild-Zeitung sei Dank, von großen Plakatwänden an. Ich gehe in den nächsten Schreibwarenladen, um Büroartikel zu kaufen, und da liegt ein ganzer Stapel seines Buchs Der Weg zum Glück neben der Kasse. Etwas sehr Tiefgreifendes hat sich da während der vergangenen dreißig Jahre ereignet. Man könnte es das Ankommen des Dharma im Westen nennen. Sollte Ihnen das Wort „Dharma“ unbekannt oder seine Bedeutung im Moment nicht ganz klar sein – wir werden im zweiten Teil dieses Buches genauer darauf eingehen. Im Moment reicht es, wenn wir sagen, daß „Dharma“ sowohl die formellen Lehren des Buddha bezeichnen kann als auch eine innewohnende Gesetzmäßigkeit, welche die Art und Weise beschreibt, wie die Dinge sind und wie die Natur des Geistes, der wahrnimmt und weiß, beschaffen ist. Der Buddha hat einmal gesagt, der Kern seiner Lehre – und er hat fünfundvierzig Jahre lang unablässig gelehrt – ließe sich in einem Satz zusammenfassen. Für den Fall, daß dem wirklich so ist, könnte es keine schlechte Idee sein, sich diesen Satz einzuprägen. Man weiß ja nie, wann er einem einmal nützlich sein könnte, wenn er plötzlich verständlich wird, auch wenn er es einen Moment zuvor noch nicht war. Dieser Satz lautet: Man soll nichts als „ich“, „mich“ oder „mein“ verstehen und daran festhalten. Mit anderen Worten: Keinerlei Anhaften. Insbesondere nicht an fixen Ideen über uns selbst und darüber, wer wir sind. Diese Aussage ist auf den ersten Blick schwer zu verdauen, stellt sie doch alles in Frage, was „ich“ zu sein glaube – und das beruht zum größten Teil auf Dingen, mit denen ich mich identifiziere: mit meinem Kör- , per, meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meinen Beziehungen, meinen Werten, meiner Arbeit, meinen Erwartungen dessen, was geschehen sollte, und wie die Dinge für mich ablaufen sollten, damit ich glücklichsein kann, mit meiner Geschichte darüber, woher ich komme, wohin ich gehe und wer ich bin. Aber lassen Sie uns nicht so vorschnell reagieren, auch wenn sich der Rat Buddhas auf den ersten Blick recht furchteinflößend oder sogar verrückt oder irrelevant anhört. Das Wort, auf das es hier ankommt, heißt „festhalten“. Es ist wichtig zu verstehen, was 38
mit diesem Festhalten gemeint ist, so daß wir diese Handlungsanweisung nicht als etwas verstehen, das alles abwertet, was uns teuer ist. Sie ist ganz im Gegenteil eine Einladung dazu, in direktere und lebendigere Berührung mit allen Menschen zu kommen, die uns lieb sind, und mit allem, was für unser Wohlergehen als ganze Person in Körper, Geist und Seele am wichtigsten ist. Dazu gehört auch das, womit wir nur schwer umgehen und ins Reine kommen können – der Streß und die Ängste, wenn das Leben mal wieder verrückt spielt, wie es früher oder später auf die eine oder andere Weise unausweichlich der Fall sein wird. Der Buddha sagt damit, daß unser Festhalten an unseren Gedanken darüber, wer wir sind, uns vielleicht gerade daran hindert, das Leben in vollen Zügen zu leben, daß es vielleicht jeder Erkenntnis dessen, wer und was wir eigentlich sind und was wichtig und möglich ist, hartnäckig im Wege steht. Vielleicht ist es das Festhalten an unserer ichbezogenen Weise, zu sehen und zu sein, an den Bestandteilen unserer Sprache, die wir die Personalpronomen „ich“, „mich“ und „mein“ nennen, das die nicht hinterfragte Gewohnheit des Festhaltens und Anhaftens an dem, was nicht grundlegend ist, aufrechterhält, wobei uns ständig das entgeht, was ist.
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Wie die Schuhe entstanden: Eine Fabel Es gibt eine alte Fabel darüber, wie es dazu kam, daß die Schuhe erfunden wurden: Es war einmal vor langer, langer Zeit eine Prinzessin, die sich eines Tages auf einem Spaziergang den großen Zeh an einer Wurzel stieß, die auf ihrem Pfad aus dem Boden hervorragte. Verdrießlich rief die Prinzessin „autsch“, lief zum Premierminister des Reiches ihres Vaters, des Königs, und verlangte von ihm ein Edikt zu erlassen, daß der Boden im gesamten Königreich mit Leder bedeckt werden solle, damit sich niemand mehr schmerzhaft den Zeh stoßen müsse. Der Premierminister wußte, daß der König seiner Tochter gern alle ihre Wünsche erfüllte und sich deshalb tatsächlich veranlaßt sehen könnte, das ganze Königreich mit Leder bedecken zu lassen. Das hätte zwar das Problem gelöst, die Prinzessin glücklich gemacht und es allen Untertanen des Königs erspart, sich den Zeh zu stoßen, aber es wäre in vieler anderer Hinsicht recht problematisch gewesen und nicht zuletzt ziemlich teuer. Doch der Premierminister war ein kluger Kopf, und ihm fiel zum Glück rasch eine Lösung ein. „Ich habe es!“ rief er aus. „Statt das ganze Königreich mit Leder zu bedecken, Eure Hoheit, warum lassen wir nicht zwei Stücke Leder auf die Form Eurer Füße zuschneiden und machen sie an den Füßen fest? Wo immer Ihr dann hingeht, wird Euer Fuß dort, wo er in Kontakt mit dem Boden kommt, geschützt sein, und wir müssen uns nicht in solch ungeheure Kosten stürzen und uns des Anblicks der Erde berauben.“ Die Prinzessin war hoch erfreut über diesen Vorschlag. Auf diese Weise kamen die Schuhe in die Welt, und viel Torheit wurde abgewendet. Ich finde diese Geschichte bezaubernd. Sie offenbart uns im Gewand eines schlichten Märchens etliche tiefgründige Einsichten in die Beschaffenheit unseres Geistes. Zuerst einmal geschehen Dinge in unserem Leben, die in uns Verdruß und Widerwillen hervorrufen. Das sind zwei Begriffe, die in gewissen buddhistischen Traditionen gern verwendet werden, da sie recht gut beschreiben, welche Gefühle in uns entstehen, wenn die Dinge nicht so verlaufen, wie wir es gern hätten. Wir stoßen uns den Zeh, und das löst Verdruß aus. Wir fühlen uns irgendwie angegriffen, und Widerwille entsteht. Wir sagen vielleicht sogar: „Ich hasse es, mir den Zeh zu stoßen.“ In genau diesem Moment machen wir aus der Angelegenheit ein Problem, gewöhnlich „mein“ Problem, das nach einer Lösung verlangt. Wenn wir nicht achtgeben, kann die Lösung weit schlimmer sein als das Problem. Weisheit besteht hingegen darin, das Gegenmittel dort anzuwenden, wo es zum Kontakt kommt, und zwar genau im Moment des Kontakts. Wir schützen uns vor dem Anstoßen von Zehen, indem wir unsere Füße schützen, nicht indem wir aus Unwissenheit, Verlangen, Angst oder Zorn die ganze Welt bedecken. Auf ähnliche Weise können wir uns gegen die Flut verwirrender und uns oft ganz vereinnahmender Gedanken und Gefühle schützen, die gewöhnlich von einer bloßen Sinneswahrnehmung ausgelöst werden. Wir können das tun, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Stelle des Kontakts lenken, auf den Moment des Kontakts mit 40
der Sinneswahrnehmung. Wenn es zum Sehen kommt, dann sind unsere Augen auf diese Weise augenblicklich in Kontakt mit der nackten Wirklichkeit des Gesehenen. Im nächsten Moment wallen alle möglichen Gedanken und Gefühle auf: „Ich weiß, was das ist.“ – „Ist es nicht wunderbar?“ – „Ich mag es nicht so, wie ich das andere mochte.“ – „Ich wünschte, es würde so bleiben.“ – „Ich wünschte, es würde verschwinden.“ – „Warum ist das bloß so und muß mich gerade jetzt stören und frustrieren?“ Und so weiter und so fort. Das Objekt und die Situation sind einfach nur das, was sie sind. Können wir die Sache im Augenblick des Sehens mit offener, reiner Aufmerksamkeit ansehen? Und können wir dann unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, zu sehen, wie eine Flut von Gedanken und Gefühlen von dieser Wahrnehmung ausgelöst wird – Mögen und Nichtmögen, Beurteilungen, Wünsche, Erinnerungen, Hoffnungen, Ängste und Panik, die auf den ursprünglichen Kontakt so sicher folgen wie der Tag auf die Nacht? Wenn wir in der Lage sind, auch nur einen Moment lang einfach beim Sehen dessen, was es zu sehen gibt, zu verweilen und die Achtsamkeit aufmerksam auf den Moment des Kontakts zu lenken, dann wird uns bewußt werden, wie diese Flut als eine Folge der Tatsache einsetzt, daß wir die Erfahrung in diesem Moment entweder angenehm, unangenehm oder neutral finden, und dann können wir uns entscheiden, uns nicht in diese wie auch immer geartete Angelegenheit zu verwickeln, sondern können ihr einfach erlauben, sich zu entfalten, wie sie ist, ohne ihr nachzujagen, wenn sie angenehm, oder sie zurückzuweisen, wenn sie unangenehm ist. In genau diesem Moment können wir auch sehen, wie der Verdruß sich auflöst, weil wir ihn einfach als ein Phänomen erkennen, das in unserem Geist entsteht. Wenn wir Achtsamkeit im Moment des Kontakts anwenden, am Punkt des Kontakts, dann können wir in der Offenheit des reinen Sehens verweilen, ohne uns so sehr in das höchst konditionierte, reaktive und gewohnheitsmäßige Denken oder in einen Strom des Aufruhrs im Fühlen zu verstricken, der dann nur zu noch mehr Aufruhr und Turbulenz im Geist führt und uns von der Möglichkeit entfernt, die nackte Wirklichkeit dessen, was ist zu würdigen, beziehungsweise auf effektive und authentische Weise darauf zu antworten. Achtsamkeit ist uns so dienlich wie unsere Schuhe; sie schützt uns vor den Konsequenzen unserer Gewohnheiten, emotional zu reagieren, zu vergessen und unbewußt zu verletzen, die daraus resultieren, daß wir die tiefere Natur unseres eigenen Seins in dem Moment, in dem eine – irgendeine – Sinneswahrnehmung auftaucht, nicht erkennen, uns nicht an sie erinnern, nicht in ihr zu Hause sind. Wenn wir Achtsamkeit in diesem Moment dergestalt anwenden, dann darf das Wunder des Sehens das sein, was es ist, und die essentielle Natur des Geistes wird nicht gestört. Für diesen Moment sind wir frei von allem Übel, frei von begrifflichem Denken, frei von allen Spuren des Anhaltens. Wir verweilen allein im Wissen um das Gesehene, Gehörte, Gerochene, Geschmeckte, Gefühlte und Gedachte – sei es nun angenehm, unangenehm oder neutral. Wenn wir auf diese Weise Augenblicke der Achtsamkeit aneinanderreihen, dann ermöglicht uns das, allmählich immer länger in einem nichtbegrifflichen, weniger reaktiven Gewahrsein zu verweilen, in dem wir eher eine Wahl haben; dann können wir jenes Wissen, welches das Gewahrsein ist, tatsächlich sein, wir können seine Geräumigkeit, seine Freiheit sein. Nicht schlecht für ein Paar billiger Schuhe. In Wirklichkeit sind sie gar nicht so billig. Sie sind unbezahlbar und unschätzbar 41
wertvoll. Wir können sie noch nicht einmal kaufen, sondern sie nur selber aus unserem Leiden und unserer Weisheit herstellen. Letztlich kosten sie uns, wie T. S. Eliot meinte, „nicht weniger als alles“.
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Meditation ist nicht das, was Sie denken Es dürfte gut sein, einige weit verbreitete Mißverständnisse über die Meditation von vornherein zu klären. Zuerst einmal sollte man sich Meditation eher als eine Art zu sein vorstellen denn als eine Technik oder eine Sammlung von Techniken. Ich sage es noch einmal. Meditation ist eine Art zu sein, keine Technik. Das heißt nicht, daß es in einer Meditationspraxis keine Methoden und Techniken gibt. Es gibt sie. Tatsächlich gibt es Hunderte von ihnen, und wir werden guten Gebrauch von einigen davon machen. Aber wenn wir nicht begreifen, daß alle Techniken nur Hilfsmittel zur Orientierung sind, die auf Seinweisen hinweisen, Weisen, auf die wir mit dem gegenwärtigen Augenblick, mit unserem eigenen Geist und unserer eigenen Erfahrung in Beziehung sein können, dann können wir uns leicht in Techniken verlieren, sowie in unseren fehlgeleiteten, wenn auch völlig verständlichen Versuchen, sie dazu zu benutzen, anderswohin zu gelangen und ein ganz besonderes Resultat zu erzielen oder einen besonderen Zustand zu erfahren, von dem wir glauben, er sei das Ziel der ganzen Sache. Wie wir sehen werden, kann eine solche Ausrichtung ein ernsthaftes Hindernis für das Verständnis des vollen Reichtums der Meditation und dessen sein, was sie uns zu bieten hat. Es wäre also hilfreich, wenn , wir uns zuerst einmal daran erinnerten, daß Meditation eine Seinsweise ist, oder, wie wir sagen könnten, eine Weise des Sehens, eine Weise des Wissens, ja sogar eine Weise des Liebens. Zweitens ist Meditation keine alternative Bezeichnung für Entspannung. Vielleicht sollte ich auch das noch einmal sagen: Meditation ist keine alternative Bezeichnung für Entspannung. Das bedeutet nicht, daß Meditation nicht oft von tiefen Zuständen der Entspannung und tiefen Empfindungen des Wohlbefindens begleitet ist. Natürlich ist sie das, oder sie kann es sein, manchmal. Doch Achtsamkeitsmeditation umfaßt sämtliche Bewußtseinszustände mit ihrem Gewahrsein, ohne einen Zustand den anderen Zuständen vorzuziehen. Vom Standpunkt der Achtsamkeitspraxis aus sind Schmerz oder Seelenqual, genauso wie Langeweile, Ungeduld, Frustration Angst oder Spannungen im Körper relevante Objekte unserer Aufmerksamkeit, wenn sie im gegenwärtigen Augenblick auftauchen. Sie alle sind eine gute Gelegenheit, zu Einsicht zu gelangen und daraus zu lernen, und in ihnen ist das Potential zur Befreiung vorhanden. Wir sollten also nicht glauben, sie seien ein Zeichen dafür, daß unsere Meditationsübung nicht „erfolgreich“ ist, weil wir uns in diesem Moment gerade nicht entspannt fühlen oder keine Glückseligkeit erfahren. Man könnte sagen, daß Meditation im Grunde ein Mittel ist, den Umständen, in denen man sich gerade befindet, in jedem einzelnen Augenblick angemessen zu entsprechen. Wenn wir uns völlig in der Zerstreutheit unseres Geistes verloren haben, dann können wir in diesem Moment entweder nicht angemessen oder überhaupt nicht gegenwärtig sein. Wir bringen dann bereits eine bestimmte Voreingenommenheit in alles ein, was wir sagen, tun oder denken, auch wenn uns das nicht bewußt ist. Wenn wir begonnen haben, uns in Achtsamkeit zu schulen, bedeutet das nicht, daß 43
nicht trotzdem alle möglichen Dinge in unserem Geist vor sich gehen, von denen einige chaotisch, turbulent, schmerzlich oder verwirrend sind. Das ist etwas ganz Natürliches. Das ist einfach zu bestimmten Zeiten die Natur unseres Geistes und unseres Lebens. Aber wir müssen uns von diesen Dingen nicht vereinnahmen lassen und uns so in sie verstricken, daß sie auf unsere Fähigkeit, in vollem Maß wahrzunehmen, was vor sich geht und was notwendig ist, abfärben (oder auf unsere Fähigkeit, wahrzunehmen, daß wir keinen blassen Schimmer haben, was vor sich geht und was notwendig ist). Das, was wir als diese Seinsweise namens Meditation bezeichnen, ist das Nicht-Festhalten und daraus folgend das klare Wahrnehmen und die Bereitschaft, unter allen auftretenden Umständen angemessen zu handeln. Häufig hegen Menschen, die nicht mehr über die Meditation wissen als das, was sie aus den Medien erfahren haben, die Vorstellung, daß Meditation im wesentlichen eine willentliche innere Manipulation sei, etwa so, als würde man einen Schalter im Gehirn umlegen, damit unser Geist augenblicklich leer wird. Kein Denken und keine Sorgen mehr. Man katapultiert den Geist in den einen „meditativen“ Zustand, der immer ein Zustand tiefer Entspannung, des Friedens, der Ruhe und Einsicht ist, wie er im Bewußtsein der Öffentlichkeit mit Vorstellungen vom Nirvana verbunden ist. Diese Vorstellung ist ein ernstes, wenn auch verständliches Mißverständnis. Die Meditationspraxis kann beladen sein mit Gedanken, Sorgen, Verlangen und sämtlichen anderen Bewußtseinszuständen und Leiden, von denen Menschen heimgesucht werden. Nicht der Inhalt unseres Bewußtseins ist wichtig. Was wichtig ist, ist vielmehr unsere Fähigkeit, dieses Inhalts gewahr zu sein und, noch wichtiger, uns der Faktoren bewußt zu sein, die die Entfaltung dieses Inhalts vorantreiben, sowie der Art und Weise, wie diese Faktoren uns von Moment zu Moment und jahraus, jahrein entweder befreien oder versklaven. Es stimmt durchaus, daß Meditation zu tiefer Entspannung, Frieden, Ruhe, Einsicht, Weisheit und Mitgefühl führen kann und der Begriff „Nirvana“ sich tatsächlich auf eine wichtige und verifizierbare Dimension der menschlichen Erfahrung bezieht und nicht nur der Name eines Parfüms oder einer schicken Segeljacht ist - es ist nie das, was man denkt, und das, was man denkt, ist nie die ganze Geschichte. Das ist eines der Geheimnisse der Meditation, und darin liegt auch ihr Reiz. Doch manchmal vergessen sogar erfahrene Meditierende, daß es bei der Meditation nicht darum geht, irgendwohin zu gelangen, und streben oder sehnen sich nach bestimmten Resultaten, die ihren Wünschen oder Erwartungen entsprechen. Selbst wenn wir es besser wissen, können sich solche Erwartungen doch von Zeit zu Zeit einstellen, und in solchen Momenten müssen wir uns daran erinnern, von solchen Wünschen und Vorstellungen abzulassen, sie wie jeden anderen Gedanken, der im Geist auftaucht, zu behandeln und an gar nichts festzuhalten. Vielleicht können wir sogar sehen, daß diese Vorstellungen im Grunde leer sind, bloße Machenschaften des verlangenden Geistes. Eine andere verbreitete Vorstellung besteht in der Annahme, daß Meditation ein Weg sei, um seine Gedanken zu kontrollieren oder bestimmte Gedanken zu haben. Auch an dieser Vorstellung ist etwas Wahres, da es Formen der diskursiven Meditation gibt, die darauf abzielen, spezifische Eigenschaften wie Liebende Güte und Gleichmut sowie positive Gefühle wie Freude, Mitgefühl und Gelassenheit zu entwickeln. Aber oft macht das, was wir über die Meditation denken, das Üben schwieriger, als es sein müßte, und hält uns davon ab, den gegenwärtigen Augenblick mit offenem Herzen und 44
offenem Geist so zu erleben, wie er tatsächlich ist. Denn Meditation, und insbesondere Achtsamkeitsmeditation, bedeutet nicht, daß man einen Schalter umlegt und sich irgendwohin katapultiert. Und es geht auch nicht darum, bestimmte Gedanken zu pflegen und andere zu vermeiden. Wir machen unseren Geist dabei auch nicht leer oder zwingen uns, friedlich oder entspannt zu sein. Meditation ist vielmehr eine nach innen gerichtete Geste, die das Herz und den Geist (die als ein nahtloses Ganzes angesehen werden) auf ein umfassendes Gewahrsein des gegenwärtigen Moments ausrichtet, ein Gewahrsein, welches das, was geschieht, so akzeptiert, wie es ist, einfach deshalb, weil es bereits geschieht. Diese innere Ausrichtung wird in der Psychotherapie manchmal als „radikale Akzeptanz“ bezeichnet. Sie zu erreichen, ist harte Arbeit, sehr harte Arbeit, besonders wenn das, was geschieht, nicht unseren Erwartungen, Wünschen und Phantasien entspricht. Und unsere Erwartungen, Wünsche und Phantasien sind allgegenwärtig und anscheinend endlos. Sie können auf alles abfärben, manchmal auf eine sehr subtile Weise, die alles andere als offenkundig ist, besonders wenn es dabei um die Meditationspraxis geht und um Dinge wie „Fortschritt“ und „Verwirklichung“ geht. Bei der Meditation geht es nicht darum, irgendwohin zu gelangen. Es geht vielmehr darum, daß Sie sich selbst erlauben, genau dort zu sein, wo Sie sind, und genau so zu sein, wie Sie sind, und daß Sie auch der Welt gestatten, genau so zu sein, wie sie im Moment gerade ist. Das ist gar nicht einfach, denn wenn wir innerhalb unseres Denkens bleiben, gibt es immer etwas, an dem wir zu Recht etwas auszusetzen haben. Und deshalb werden Geist und Körper sich wahrscheinlich sehr dagegen sperren, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind, und sei es auch nur für einen Moment. Dieser Widerstand gegen das, was ist, kann noch heftiger sein, wenn wir meditieren, weil wir hoffen, damit etwas ändern, unser Leben zum Positiven wenden und die Welt verbessern zu können. Das heißt nicht, daß an Ihrem Bestreben, positive Veränderungen bewirken, Ihr Leben oder die Welt verbessern zu wollen, etwas falsch ist. Es handelt sich hierbei durchaus um ernstzunehmende Möglichkeiten. Nur indem Sie meditieren, sich hinsetzen und still sind, können Sie sich und die Welt tatsächlich ändern. Ja, Sie haben es bereits getan, nur indem Sie sich hingesetzt haben und still geworden sind, auf geringfügige und doch bedeutsame Weise. Das Paradox ist jedoch, daß Sie sich selbst und die Welt nur verändern können, wenn Sie für einen Moment beiseite treten, wenn Sie sich hingeben und es den Dingen vertrauensvoll erlauben, so zu sein, wie sie bereits sind, ohne etwas anzustreben, insbesondere keine von Ihrem Denken produzierten Ziele. Albert Einstein hat das sehr einsichtig formuliert: „Die Probleme, die es heute auf der Welt gibt, lassen sich nicht auf der Ebene des Denkens lösen, das sie erzeugt hat.“ Diese Aussage impliziert, daß wir unseren Geist und seine Fähigkeit, zu sehen, zu wissen, zu erkennen und sämtliche Motive, Konzepte und Gewohnheiten des Nichtbewußtseins, die die Probleme, denen wir uns gegenübersehen, erzeugt haben, transzendieren, entwickeln und verfeinern müssen – einen Geist, der auf neue Weise weiß und sieht, der anders motiviert ist. Das meint dasselbe wie die Aussage, daß wir zu unserem ursprünglichen, unberührten, unkonditionierten Geist zurückkehren müssen. Wie können wir das tun? Eben indem wir einen Moment innehalten, um den Weg freizumachen, um uns aus dem Fluß des Denkens herauszunehmen, am Ufer zu sitzen 45
und für eine Weile in den Dingen, wie sie unterhalb unseres Denkens – oder, wie Soen Sa Nim gern sagte, „vor dem Denken“ – sind, auszuruhen. Das bedeutet, daß wir für einen Augenblick bei dem bleiben, was ist, und auf das vertrauen, was das Tiefste und Beste in uns ist, auch wenn das dem denkenden Geist nicht sinnvoll erscheint. Sie sind weit mehr als die Summe Ihrer Gedanken, Ideen und Meinungen, einschließlich Ihrer Gedanken darüber, wer Sie sind, Ihrer Gedanken über die Welt und die Geschichten und Erklärungen, die Sie sich selbst über all diese Dinge erzählen, und deshalb stoßen Sie, wenn Sie zur reinen Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks kommen, tat-, sächlich auf genau die Qualitäten, die zu kultivieren Sie hoffen – denn sie alle entstehen aus dem Gewahrsein, und es ist Gewahrsein, in das wir hineinfallen, wenn wir aufhören, irgendwohin gelangen und besondere Gefühle haben zu wollen, und uns selbst gestatten, dort zu sein, wo wir gerade sind, und genau das zu fühlen, was wir eben jetzt fühlen. Gewahr-sein selbst ist der Lehrer, der Schüler und die Lektion. Vom Standpunkt des Gewahrseins aus ist also jeder Bewußtseinszustand ein meditativer Zustand. Zorn oder Traurigkeit zu untersuchen ist ebenso interessant, nützlich und relevant, wie Begeisterung oder Freude zu untersuchen, und es ist weit wertvoller als ein leerer Geist, ein Geist, der nichts wahrnimmt und mit nichts in Kontakt ist. Zorn, Furcht, Schrecken, Traurigkeit, Haß, Ungeduld, Begeisterung, Freude, Verwirrung, Abscheu, Verachtung, Neid, Wut, Lust, sogar Dumpfheit, Zweifel und Trägheit, ja in der Tat alle Bewußtseinszustände und körperlichen Zustände sind Gelegenheiten, uns selbst besser kennenzulernen. Das setzt jedoch voraus, daß wir innehalten, schauen und lauschen können, wenn wir, mit anderen Worten, zur Besinnung kommen und dem ganz nah sein können, was sich in jedem einzelnen Moment unserem Gewahrsein darbietet. Das Erstaunliche ist, daß nichts anderes geschehen muß. Wir können davon ablassen, etwas Bestimmtes herbeiführen zu wollen. Indem wir von dem Wunsch ablassen, daß etwas Besonderes geschehen möge, erkennen wir vielleicht, daß bereits jetzt und schon immer etwas ganz Besonderes geschieht, nämlich das Leben, das sich in jedem Moment als Gewahrsein selbst entfaltet.
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Zwei Sichtweisen der Meditation Nachdem wir festgestellt haben, daß Meditation keine Technik oder eine Sammlung von Techniken ist, sondern eine Art zu sein, sollten wir uns noch vor Augen führen, daß es zwei scheinbar gegensätzliche Sichtweisen der Meditation gibt, und daß die Mischung aus diesen beiden Ansätzen bei verschiedenen Lehrern aus verschiedenen Traditionen unterschiedlich ist. Sie werden feststellen, daß ich die Terminologie beider Sichtweisen gleichzeitig benutze, denn beide sind gleichermaßen wahr und wichtig, und die Spannung zwischen ihnen ist schöpferisch und nützlich. Der eine Ansatz sieht die Meditation als ein Instrument, eine Methode, eine Disziplin, die es uns erlaubt, unser Vermögen, aufmerksam zu sein, zu kultivieren, zu verfeinern und zu vertiefen und im Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks zu verweilen. Je mehr wir die Methode praktizieren, die auch aus mehreren verschiedenen Methoden bestehen kann, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit entwickeln wir im Laufe der Zeit eine größere Stabilität in unserem Vermögen, auf jedes einzelne Objekt oder Ereignis, das in unserem Feld des Gewahrseins im Innern oder im Äußeren auftaucht, aufmerksam einzugehen. Diese Stabilität läßt sich körperlich und geistig erfahren, und sie geht oft mit einer zunehmenden Lebhaftigkeit der Wahrnehmung und einer Ruhe im Beobachten selbst einher. Es besteht die Tendenz, daß aus dieser systematischen Praxis ganz von selbst Momente der Klarheit und der Einsicht in die Natur der Dinge und unserer selbst erwachsen. So gesehen gibt es ein Fortschreiten in der Meditation; es gibt einen Vektor, der auf Weisheit, Mitgefühl und Klarheit hinzielt, einen Entwicklungspfad, der einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, auch wenn man den Prozeß kaum als linear bezeichnen kann. Manchmal fühlt es sich eher so an, als gehe man einen Schritt vorwärts und sechs Schritte zurück. In dieser Hinsicht ähnelt die Meditation jeder anderen Fähigkeit, die wir entwickeln, indem wir daran arbeiten. Und es gibt Lehren und Anleitungen, die uns auf diesem Pfad führen können. Diese Sichtweise der Meditation ist notwendig, wichtig und berechtigt. Aber – und dieses Aber hat Gewicht – auch wenn selbst der Buddha sechs Jahre lang hart an seiner Meditation arbeitete und schließlich einen Durchbruch hatte, der zu einer außerordentlichen Verwirklichung von Freiheit, Klarheit und Begreifen führte, ist dieser methodische Ansatz zur Beschreibung des Prozesses in sich unvollständig und kann, für sich allein genommen, zu einer irrigen Vorstellung dessen führen, was Meditation wirklich ist. So wie sich die Physiker durch die Resultate ihrer Experimente und Berechnungen gezwungen sahen, das Wesen der Elementarteilchen auf zwei komplementäre Weisen zu beschreiben, nämlich einerseits als Partikeln und andererseits als Welle, obwohl sie in Wirklichkeit nur ein Ding sind – und hier versagt schließlich die Sprache, weil sie auf dieser Ebene nicht wirklich Dinge sind, sondern eher so etwas wie Eigenschaften von Energie und Raum in undenkbar winzigem Maßstab im Kern aller Dinge –, so gibt es auch für die Meditation eine zweite, ebenso gültige Beschreibung, eine Beschreibung, die für ein vollständiges Verständnis dessen, was Meditation ist, wenn wir sie tatsächlich praktizieren, wesentlich ist. Diese andere Beschreibung besagt, daß „Meditation“, was immer sie sein mag, auf jeden Fall nicht instrumentell ist. Wenn sie überhaupt eine Methode ist, dann eine 47
Methode der Nichtmethode. Sie ist kein Tun. Es gibt keinen Ort, zu dem wir hingehen, nichts, was wir üben könnten, keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende, keine Errungenschaft und nichts, was wir erlangen könnten. Sie ist vielmehr die direkte Verwirklichung und Verkörperung dessen, was wir bereits sind, in ebendiesem Augenblick, außerhalb von Zeit und Raum und von jeglichen Konzepten, ein Ruhen in der eigentlichen Natur unseres Seins, also in dem, was manchmal der natürliche Zustand, der ursprüngliche Geist, reines Gewahrsein, Nicht-Geist oder einfach Leere genannt wird. Sie sind bereits all das, was Sie zu erlangen hoffen, keine Willensanstrengung ist nötig – nicht einmal eine, die den Geist zum Atem zurückbringt –, und nichts kann erlangt werden. Sie sind es bereits. Es ist bereits hier. Hier ist bereits überall, und jetzt ist bereits immer. Es gibt keine Zeit, keinen Raum, keinen Körper, keinen Geist – um Kabir zu paraphrasieren. Und es gibt keinen Zweck der Meditation, sie ist ein menschliches Tun (oder vielmehr Nichttun), dem wir uns um seiner selbst willen widmen, zu keinem anderen Zweck, als für das wach zu sein, was wirklich ist. Wie könnten Sie zum Beispiel Ihren Fuß „erlangen“, wenn er doch von Anfang an nicht von Ihnen getrennt ist? Wir kämen niemals auf den Gedanken, unseren Fuß erlangen zu wollen, weil er bereits hier ist. Das Denken macht einen „Fuß“ daraus, ein Ding, aber wenn er nicht vom Körper abgetrennt wurde, ist er kein separates Ding mit seiner eigenen ihm innewohnenden Existenz. Er ist einfach das Ende des Beins, das der Aufgabe des Stehens und aufrechten Gehens angepaßt ist. Wenn wir denken, dann ist er ein Fuß, doch wenn wir im Gewahrsein sind, außerhalb, unterhalb und jenseits des Denkens, dann ist er einfach, was er ist. Und Sie haben ihn bereits, oder, anders gesagt, er ist nichts von Ihnen Verschiedenes und war es nie. Dasselbe gilt für Ihre Augen und Ohren, für Ihre Nase und Zunge und jeden anderen Teil Ihres Körpers. Wie der heilige Franziskus gesagt hat: „Das, wonach du suchst, ist das, was sucht.“ Und genauso: Wie könnten Sie zu Sinneswahrnehmung, Wissen, ursprünglichem Geist gelangen, wenn es, um Ken Wilber zu paraphrasieren, der ursprüngliche Geist ist, der diese Worte liest? Wie können Sie zur Besinnung und zu Ihren Sinnen kommen, wenn diese Sinne bereits in vollem Umfang funktionieren, wenn Ihre Ohren bereits hören, Ihre Augen bereits sehen, Ihr Körper bereits fühlt? Nur wenn wir sie zu Begriffen machen, dann trennen wir sie de facto vom Körper unseres Seins ab, der von Natur aus ungeteilt ist, der bereits ganz ist, bereits vollständig, fühlend, wach. Diese beiden Sichtweisen der Meditation sind komplementär und paradox, genauso wie die Wellen- und Teilchen-Natur der Materie auf Quantenniveau und darunter. Das bedeutet, daß keine von beiden für sich genommen vollständig ist. Und keine von beiden ist vollständig , wahr. Erst zusammengenommen werden beide wahr. Aus diesem Grund ist es wichtig, daß wir von Anfang an beide Beschreibungen kennen und uns daran erinnern, wenn wir mit der Übung der Meditation, insbesondere der Achtsamkeitsmeditation, beginnen. Auf diese Weise ist es weniger wahrscheinlich, daß wir uns in den spitzen Stacheln des dualistischen Denkens verfangen und entweder zu angestrengt danach streben, das zu erlangen, was wir bereits sind, oder behaupten, bereits das zu sein, was wir in Wirklichkeit noch nicht geschmeckt und verwirklicht haben und dessen wir uns nicht bedienen können, auch wenn theoretisch wahr ist, daß wir es bereits sind. Es ist nicht einfach nur so, daß wir das Potential besitzen, es zu werden, auch wenn das, von einem relativen Standpunkt aus gesehen, technisch der Fall ist. Wir sind es – aber wir wissen es nicht. Es mag genau vor unserer Nase liegen, näher 48
als nah, und trotzdem bleibt es verborgen. Diese beiden Erklärungen befruchten sich gegenseitig. Wenn wir beide, und sei es zuerst rein begrifflich, präsent halten, dann wird das Bemühen, das wir beim Sitzen, beim Durchwandern unseres Körpers, beim Yoga oder dabei zeigen, Achtsamkeit in alle Aspekte unseres Lebens einzubringen, die echte Art von Bemühen sein, und wir werden die richtige Einstellung besitzen, weil wir uns daran erinnern, daß wir in Wirklichkeit, gemäß der grundlegenden Natur des Lebens und des Geistes, nirgendwohin gehen müssen und kein Streben nötig ist. Tatsächlich kann das Streben schnell kontraproduktiv werden. Wenn wir uns daran erinnern, werden wir eher geneigt sein, freundlich und sanft mit uns selbst umzugehen, entspannt, annehmend und klarsichtig, auch angesichts des Aufruhrs in unserem Geist oder in der Welt. Wir werden weniger dazu tendieren, unsere Praxis zu idealisieren und uns in Phantasien darüber zu verlieren, was wir „gewinnen“ könnten, wenn wir nur „alles richtig machen würden“. Wir werden uns weniger in den Verzerrungen unserer Reaktionsweisen verstricken, werden eher in der Lage sein, loszulassen und ohne Anstrengung im Nichttun zu verweilen, im Nichtstreben, in unserem ursprünglichen Anfängergeist,7 im natürlichen Leuchten der endlos geräumigen, mitfühlenden und verbundenen Verfügbarkeit. Jenseits jeder Art von instrumenteller Selbstbelehrung könnten wir dann, aus der instrumentellen Perspektive gesehen, den Eindruck haben, und das zu Recht, daß wir uns selber ins Ohr flüstern. Aus der zeitlichen und relativen Perspektive gesehen, ist das erforderlich, was der Buddha „rechtes Bemühen“ nannte (recht ist hier mit „weise“ gleichzusetzen), und wir werden diese Lektion lernen und es aus erster Hand wissen, indem wir über Tage, Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte praktizieren. Denn es steht außer Frage, daß wir uns immer wieder in die unablässige Geschäftigkeit von Körper und Geist verlieren. Es steht außer Frage, daß wir dann, wenn wir uns hinsetzen, um zu meditieren, immer wieder feststellen müssen, daß unsere Aufmerksamkeitsspanne kurz und die Aufmerksamkeit schwer aufrechtzuerhalten ist, daß unsere Bewußtheit immer wieder vernebelt und der Geist alles andere als leuchtend und klar ist, daß die Objekte unserer Aufmerksamkeit keineswegs deutlich sind, ganz gleich, wieviel wir uns selbst über den natürlichen Zustand des Geistes und seine lichte, leere Natur erzählen. Darum ist es von entscheidender Wichtigkeit, daß wir uns selbst ermahnen, sitzen zu bleiben, statt sofort aufzuspringen, wenn der Geist sich zu langweilen beginnt oder in Aufruhr gerät, daß wir, zum Beispiel, zum Atem zurückkehren und von der Assoziationskette ablassen, die uns davongetragen hat, daß wir uns immer wieder im Gewahrsein selbst einrichten. Wenn Sie eine Weile mit diesen beiden Beschreibungen der Meditation zugebracht haben, werden Sie feststellen, daß sie langsam zu guten Freunden und Verbündeten werden. Die Praxis transzendiert allmählich oder manchmal auch plötzlich alle Ideen von Praxis und Bemühung, und alles Bemühen, das wir einbringen, ist dann keinerlei Anstrengung mehr, sondern nur noch Liebe. Unsere Bemühungen werden zur Verkörperung der Selbsterkenntnis und damit der Weisheit. Aber das ist nichts Besonderes. Man könnte eher sagen, daß wir es sind, als daß wir es tun, denn es gibt genausowenig einen Unterschied zwischen uns und dem Gewahrsein wie zwischen uns 7
Dies ist ein von Shunryu Suzuki Rōshi, dem Gründer des San Francisco Zen Center, geprägter Ausdruck für die Unschuld eines offenen und ungehinderten Erforschens dessen, was man selbst ist und was der Geist ist, durch direkte Erfahrung auf dem Meditationskissen. „Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, doch im Geist des Experten nur wenige.“
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und unserem Fuß. Wir sind nie ohne Gewahrsein. Und doch ... der Fuß eines Michail Baryschnikow oder einer Martha Graham zu ihren besten Zeiten ist nicht genau dasselbe wie die Füße von uns gewöhnlichen Menschen. Ihre Füße „wissen“ etwas, was unsere vielleicht nicht wissen, auch wenn sie von ihrem eigentlichen Wesen her dasselbe sind. Wir können über diese Gleichheit und über diesen Unterschied staunen. Wir können sie lieben. Und wir können sie auch sein. Denn in unserer Essenz sind wir es bereits.
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Warum sich Mühe geben? — Die Bedeutung der Motivation Aus der Perspektive der Meditation ist alles, was Sie suchen, bereits hier, auch wenn es nicht leicht ist, unseren denkenden Geist an diese Idee zu gewöhnen. Der ist nämlich geneigt zu fragen: Wenn es wirklich nichts zu erreichen und zu erlangen gibt, wenn wir uns nicht verbessern können, wenn wir und auch die Welt bereits ganz und vollständig sind – warum zum Teufel sollten wir uns dann noch die Mühe machen zu meditieren? Und warum sollten wir dann überhaupt Achtsamkeit entwickeln? Warum also bestimmte Methoden und Techniken benutzen, wenn sie alle nur dazu dienen, nirgendwohin zu gelangen, und wenn außerdem, wie ich gerade gesagt habe, Methoden und Techniken sowieso nicht die ganze Sache sind? Die Antwort ist: Solange die Bedeutung von „Alles, was Sie suchen, ist bereits hier“ nur eine Vorstellung ist, ist sie eben das, eine Vorstellung, nur ein weiterer netter Gedanke. Und solange es nur ein Gedanke ist, ist seine Kraft, Sie zu transformieren, jene Wahrheit zu manifestieren, auf die diese Aussage hinweist – und letztlich die Art und Weise zu verändern, wie Sie sich selbst befinden und in der Welt verhalten – äußerst begrenzt. Ich bin dahin gelangt, die Meditation mehr als alles andere als einen Akt der Liebe anzusehen, eine nach innen gerichtete Geste des Wohlwollens und der Freundlichkeit uns selbst und anderen gegenüber, eine Geste des Herzens, die unsere Vollkommenheit selbst inmitten unserer offensichtlichen Unvollkommenheit anerkennt, in all unseren Mängeln, unseren Verletzungen, in unserem Verdruß und unserer gewohnheitsmäßigen Unbewußtheit. Das ist eine sehr tapfere Geste: Eine Zeitlang seinen Sitz einzunehmen und ohne Ausschmückung auf den gegenwärtigen Moment einzugehen. Indem wir innehalten, schauen, lauschen und uns all unseren Sinnen, einschließlich des Geistes, in jedem Moment überlassen, verkörpern wir in jenem Augenblick das, was uns in diesem Leben das Heiligste ist. Diese Geste zu machen - wozu gehören könnte, eine bestimmte Haltung für die formelle Meditation einzunehmen, was aber auch bedeuten könnte, einfach nur achtsamer zu sein und uns selbst mehr zu verzeihen -, bringt uns augenblicklich in Kontakt mit unserem Körper und unserem Geist. Wir könnten sagen, daß es uns in einem gewissen Sinne erfrischt, daß es diesen Augenblick frisch, zeitlos, befreit und offen macht. In solchen Momenten transzendieren wir das, was wir zu sein glauben. Wir gehen über all unsere Geschichten und unser unablässiges Denken hinaus, wie tiefschürfend und wichtig es manchmal auch sein mag, und wir verweilen im Sehen dessen, was es zu sehen gibt, sowie im direkten, nichtbegrifflichen Wissen um das, was es zu wissen gibt, und das müssen wir nicht erst suchen, weil es bereits und schon immer hier ist. Wir verweilen im Gewahrsein, im Wissen selbst, das natürlich auch unser Nichtwissen umfaßt. Wir werden zum Wissen und zum Nichtwissen, wie wir immer wieder sehen werden. Und weil wir vollkommen in Schuß und Faden des Universums eingebettet sind, gibt es tatsächlich keine Grenze für diese wohlwollende Geste des Gewahr-seins, keine Trennung von anderen Lebewesen und auch keine Grenze für Herz und Geist, keine Grenze für unser Sein, unser Gewahrsein oder unsere offenherzige Präsenz. In Worte gefaßt, mag es sich anhören wie eine Idealisierung. Es 51
erfahren habend, ist es einfach das, was es ist, das Leben, das sich selbst zum Ausdruck bringt, Empfindungsvermögen, das in der Unendlichkeit vibriert und bei den Dingen ist, so wie sie sind. Wenn wir in irgendeinem Augenblick in Gewahrsein verweilen, bedeutet das auch, daß wir uns all unseren Sinnen überlassen, daß wir in Kontakt sind mit der inneren und äußeren Landschaft als einem nahtlosen Ganzen und damit in Berührung mit der Ganzheit des Lebens, das seine Fülle in jedem Augenblick und an jedem Ort, an dem wir uns innerlich wie äußerlich befinden mögen, entfaltet. Der vietnamesische Zen-Meister, Achtsamkeitslehrer und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh weist darauf hin, daß einer der Gründe, warum wir vielleicht Achtsamkeit praktizieren möchten, der ist, daß wir die meiste Zeit unwissentlich das Gegenteil praktizieren. Jedesmal wenn wir zornig werden, werden wir besser im Zornigwerden und verstärken die Gewohnheit des Zorns. Wenn es wirklich schlimm kommt, sagen wir, daß wir rotsehen, was bedeutet, daß wir kaum sehen, was wirklich vor sich geht, und deshalb könnten wir sagen, daß wir in diesem Moment „von Sinnen“ sind. Jedesmal wenn wir total mit uns selbst beschäftigt sind, werden wir besser darin, mit uns selbst beschäftigt zu sein und unbewußt zu werden. Jedesmal wenn wir ängstlich werden, werden wir besser im Ängstlichsein. Übung macht den Meister. Wenn wir des Zorns oder der Beschäftigung mit uns selbst oder des Unbehagens oder irgendeines anderen Geisteszustands, der uns, wenn er auftaucht, völlig in Anspruch nehmen kann, nicht gewahr sind, dann verstärken wir jene synaptischen Verbindungen innerhalb unseres Nervensystems, die unseren konditionierten Verhaltensweisen und unbewußten Gewohnheiten zugrunde liegen, und damit wird es zunehmend schwieriger, uns daraus zu befreien, selbst wenn wir dessen, was geschieht, gewahr sind. In jedem Moment, in dem wir uns von Verlangen, von einem Gefühl, einem nicht hinterfragten Impuls, einer Idee, einer Meinung vereinnahmen lassen, werden wir in einem ganz konkreten Sinn augenblicklich von unserer gewohnten verkrampften Weise, zu reagieren, gefangengenommen, sei es nun die Gewohnheit, sich zurückzuziehen und auf Distanz zu gehen, wie es bei Depression und Traurigkeit der Fall ist, oder die Gewohnheit, aufzubrausen und emotional zur „Geisel“ unserer Gefühle zu werden, wenn wir uns kopfüber in Angst oder Zorn stürzen. Solche Momente sind immer von einer körperlichen und geistigen Verkrampfung begleitet. Aber, und das ist entscheidend, uns steht gleichzeitig auch eine potentielle Öffnung zur Verfügung, eine Chance, nicht in diesen Krampf zu verfallen oder uns zumindest schnell davon zu erholen, wenn wir Gewahrsein ins Spiel bringen. Denn wir werden nur durch unsere momentane Blindheit im automatischen Ablauf unserer Reaktionen und dem, was sich daraus ergibt (nämlich das, was im nächsten Moment in der Welt und in uns selbst geschieht), gefangengehalten. Wenn wir die Blindheit beseitigen, dann sehen wir, daß der Käfig, in dem wir uns gefangen glaubten, bereits offensteht. Jedesmal wenn wir in der Lage sind, ein Begehren als Begehren zu erkennen, Zorn als Zorn, eine Gewohnheit als Gewohnheit, eine Meinung als Meinung, einen Gedanken als Gedanken, eine Torheit als Torheit oder eine intensive körperliche Empfindung als intensive Empfindung, sind wir dementsprechend befreit. Nichts anderes muß geschehen. Wir müssen nicht einmal das Begehren oder was es sonst sein mag aufgeben. Die Sache zu sehen und sie als Begehren oder was auch immer sie sein mag zu erkennen, reicht aus. In jedem einzelnen Moment praktizieren wir entweder 52
Achtsamkeit, oder wir praktizieren de facto Achtlosigkeit. Wenn wir es auf diese Weise sehen, entsteht vielleicht der Wunsch, mehr Verantwortung dafür zu übernehmen, wie wir der Welt innerlich und äußerlich in jedem gegebenen Moment begegnen, vor allem, wenn wir uns klarmachen, daß es in unserem Leben keine „Übergangsmomente“ gibt. Meditation ist also sowohl überhaupt nichts – da wir nirgendwohin gehen und nichts tun müssen – als auch die schwerste Arbeit der Welt, da unsere Gewohnheit der Achtlosigkeit so stark ausgeprägt und so resistent dagegen ist, von unserem Gewahrsein durchschaut und abgebaut zu werden. Und wir brauchen Methoden, Techniken und Bemühungen, um unser Vermögen des Gewahrseins zu entwickeln und zu verfeinern, damit es die widerspenstigen Eigenschaften des Geistes, die ihn zeitweilig so trübe und unsensibel machen, zähmen kann. Diese Charakteristika der Meditation, daß sie nämlich sowohl überhaupt nichts als auch die schwerste Arbeit der Welt ist, bedingen, daß ein hohes Maß an Motivation notwendig ist, damit wir üben können, ohne jedes Anhaften und jede Identifikation vollkommen präsent zu sein. Doch wer möchte schon die schwerste Arbeit der Welt leisten, wenn wir sowieso schon mehr Dinge zu erledigen haben, als wir jemals erledigen können – wichtige Dinge, notwendige Dinge, Dinge, an deren Ausführung wir vielleicht sehr hängen, weil sie uns erlauben, das aufzubauen, was wir aufzubauen versuchen, oder dorthin zu gelangen, wohin wir zu gelangen versuchen, oder Dinge, die wir einfach nur hinter uns bringen wollen, damit wir sie auf unserer Aufgabenliste endlich abhaken können. Und wozu sollen wir meditieren, wenn das sowieso nicht bedeutet, irgend etwas zu tun, und wenn das Resultat all dieses Nichttuns ist, daß wir niemals irgendwohin gelangen außer dorthin, wo wir bereits sind? Was hätte ich schließlich nach all meinen Nicht-Bemühungen, die doch so viel Zeit und Energie und Aufmerksamkeit verlangen, vorzuweisen? Alles, was ich darauf antworten kann, ist folgendes: Jeder Mensch, den ich getroffen habe, der sich jemals auf die Übung von Achtsamkeit eingelassen und einen Weg gefunden hat, sie in seinem Leben für einen gewissen Zeitraum aufrechtzuerhalten, hat mir gegenüber irgendwann einmal – gewöhnlich dann, wenn er an einem absoluten Tiefpunkt war – das Gefühl zum Ausdruck gebracht, daß er sich nicht vorstellen könne, was er wohl ohne diese Praxis getan hätte. So einfach ist die Sache – und so tiefgreifend. Wer einmal Achtsamkeit praktiziert hat, der weiß, was das heißen soll. Wer sie nie praktiziert hat, der kann es auch nicht wissen. Und natürlich fühlen sich die meisten Menschen anfangs deshalb zur Übung von Achtsamkeit hingezogen, weil sie unter Streß oder irgendwelchen Schmerzen leiden oder sie mit Aspekten ihres Lebens unzufrieden sind und das Gefühl haben, die Sache ließe sich vielleicht durch die sanfte Anwendung von direkter Beobachtung, Selbsterforschung und Mitgefühl mit sich selbst in Ordnung bringen. Streß und Schmerz werden so zu potentiell wertvollen Pforten, zu motivierenden Faktoren, durch die wir in die Praxis eintreten. Und noch etwas: Wenn ich sage, Meditation sei die schwerste Arbeit der Welt, so ist das nicht ganz richtig, wenn Sie nicht verstehen, daß ich damit nicht nur „Arbeit“ im üblichen Sinn meine, sondern ebenfalls Spiel. Meditation hat auch etwas Spielerisches, allein schon deshalb, weil es urkomisch ist, die Winkelzüge unseres Geistes zu beobachten. Er nimmt sich viel zu ernst, als daß wir ihn ernst nehmen könnten. Humor 53
und eine spielerische Einstellung, die jeden Anflug von Schein-Heiligkeit unterminieren, sind ganz wesentliche Elemente der rechten Achtsamkeit. Außerdem: Vielleicht ist ja auch das Elternsein die schwerste Arbeit der Welt. Aber wenn Sie Mutter oder Vater sind – sind das denn zwei verschiedene Dinge? Ich bekam kürzlich einen Anruf von einem Kollegen, der erst Ende Vierzig ist und sich bereits einer Hüftgelenksoperation unterziehen mußte, was in diesem Alter nicht häufig vorkommt. Vor der Operation mußte eine Kernspinresonanztomographie durchgeführt werden, und er berichtete mir, wie sehr sich seine Atemübungen bewährt haben, als er von der Maschine verschluckt wurde. Er sagte, er könne sich nicht vorstellen, wie eine solche Untersuchung auf einen Patienten wirken müsse, der nicht mit Achtsamkeit und dem Gebrauch des Atems zur Erdung in einer schwierigen Situation vertraut sei, auch wenn täglich viele Menschen so etwas durchmachen. Er sagte auch, er sei erstaunt gewesen über das Ausmaß von Achtlosigkeit, dem er während seines Krankenhausaufenthalts in vieler Hinsicht begegnet sei. Er fühlte sich in diesem Prozeß immer mehr seines Status als Arzt beraubt (und er ist ein ziemlich prominenter Arzt) und schließlich sogar seiner Persönlichkeit und Identität. Er war in den Genuß „medizinischer Versorgung“ gekommen, aber bei dieser Versorgung hatte es kaum Fürsorge gegeben. Fürsorge verlangt Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit, eine aufrichtige Präsenz – Dinge, die gerade dort, wo sie am offensichtlichsten gebraucht werden, in erstaunlichem Maße fehlen. Schließlich sprechen wir doch von Gesundheitsfürsorge. Es ist erschreckend, schockierend und traurig, daß solche Geschichten heute nur allzu häufig erzählt werden, sogar von Ärzten selbst, wenn sie zu Patienten werden und selbst der Fürsorge bedürfen. Über die Allgegenwärtigkeit von Streß und Schmerzen in meinem eigenen Leben hinaus ist meine Motivation für das Üben von Achtsamkeit ganz einfach: Jeder verlorene Augenblick ist ein nicht gelebter Augenblick. Und jeder verlorene Augenblick macht es noch wahrscheinlicher, daß ich auch den nächsten Augenblick verlieren und ihn versunken in achtlose Gewohnheiten automatischen Denkens, Fühlens und Handelns durchleben werde, statt in Gewahrsein, aus Gewahrsein heraus und durch Gewahrsein zu leben. Ich sehe, wie das immer und immer wieder passiert. Denken im Dienste von Gewahrsein ist der Himmel. Denken in Abwesenheit von Gewahrsein kann die Hölle sein. Denn Unachtsamkeit ist nicht bloß naiv oder unsensibel, unbeholfen oder ahnungslos. Die meiste Zeit ist sie, bewußt oder unbewußt, ausgesprochen schädlich für uns selbst und für andere, denen wir begegnen oder mit denen wir unser Leben teilen. Außerdem ist das Leben zutiefst interessant, aufschlußreich und staunenswert, wenn wir uns dem Gewahrsein aus ganzem Herzen stellen und auf die Einzelheiten achten. Wenn wir all die verlorenen Momente zusammenrechnen, kann sich zeigen, daß Unaufmerksamkeit praktisch unser gesamtes Leben verschlingt und auf alles abfärbt, was wir tun, auf jede Wahl, die wir treffen oder die zu treffen wir versäumen. Ist es das, wofür wir leben - unser Leben zu versäumen und damit zu vergeuden? Ich ziehe es vor, mich jeden Tag mit offenen Augen auf ein neues Abenteuer einzulassen, indem ich dem Aufmerksamkeit schenke, was das Wichtigste ist, selbst wenn ich mich dabei manchmal mit der Schwächlichkeit meiner Bemühungen (wenn ich sie für „meine“ halte) und der Zähigkeit meiner tiefverwurzelten und robotergleichen Gewohnheiten (wenn ich sie für 54
„meine“ halte) konfrontiert sehe. Ich finde es nützlich, jedem Augenblick frisch zu begegnen, ihn als Neuanfang zu betrachten und immer wieder zum Gewahrsein des Jetzt zurückzukehren. Dabei hält mich eine sanfte, aber feste Ausdauer, die sich aus der Disziplin entwickelt, wenigstens einigermaßen offen zu sein für das, was auftaucht, so daß ich es anschauen, wahrnehmen und in die Tiefe gehend untersuchen kann, damit ich lernen kann, was immer aus der Situation zu lernen ist, indem ihre Natur offenbar wird. Wenn wir der Sache einmal auf den Grund gehen: Was gibt es denn sonst zu tun? Wenn wir nicht in unserem Sein verwurzelt sind, wenn wir nicht in Wachheit verwurzelt sind, vergeuden wir dann nicht das Geschenk unseres Lebens und die Chance, von wirklichem Nutzen für andere zu sein? Es ist sehr hilfreich, wenn ich mein Herz von Zeit zu Zeit frage, was genau jetzt, in diesem Augenblick, das Allerwichtigste ist, und dann sehr genau auf die Antwort höre. Wie Thoreau am Ende von Walden sagt: „Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind.“
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Ausrichten und Aufrechterhalten Eine Kollegin, die aus einer Meditationsklausur kam, sagte mir einmal, bei der Meditationspraxis gehe es darum, die Aufmerksamkeit auszurichten und dann diesen Fokus von Moment zu Moment aufrechtzuerhalten. Damals tat ich das als ziemlich selbstverständlich, beinahe trivial ab. Außerdem, so sagte ich urteilend zu mir selbst, war zu viel von einem „Handeln“ darin, zuviel von einem Gefühl, daß etwas getan wird, und damit zuviel Verlaß auf jemanden, der das Tun tut. Ich brauchte Jahre, bis sich mir der Wert dieser Einsicht meiner Kollegin offenbarte und sie sich für mich als grundlegend erwies. Denn genausowenig wie das Atmen nicht grundsätzlich einen „Jemand“ voraussetzt, den wir uns als den „Atmenden“ vorstellen, auch wenn wir den Gedanken eines solchen erzeugen können (etwa so: „Der Atmende, das muß natürlich ich sein; ich atme.“), sowenig setzt das Ausrichten und Aufrechterhalten jemanden voraus, der das tut, auch wenn wir uns natürlich auch hier künstlich so jemanden ausdenken können und anfangs aufgrund unserer hartnäckigen Gewohnheit des „Ich-Erzeugens“ stark an solche Vorstellungen gebunden sind. Doch tatsächlich kommt es ganz natürlich zum Ausrichten und Aufrechterhalten, wenn wir darin geübter und damit vertrauter werden, im Gewahrsein selbst zu verweilen, in dem, was wir „das Wissen sein“ nennen könnten. Nehmen wir den Atem als Beispiel. Die Atmung ist grundlegend für das Leben. In der Regel schenken wir ihr wenig Beachtung, es sei denn, wir bekommen gerade keine Luft oder geraten unter Wasser oder wir haben eine Allergie oder eine Erkältung. Doch stellen Sie sich vor, daß Sie in einem Gewahrsein des Atmens verweilen. Damit wir das tun können, müssen wir zuerst einmal den Atem fühlen und ihm einen Platz im Feld unseres Gewahrseins einräumen. Dieses verändert sich ständig in Abhängigkeit von dem, was der Geist oder der Körper oder die Welt zur Ablenkung unserer Aufmerksamkeit anbieten. Vielleicht sind wir fähig, den Atem zu fühlen, aber schon in der nächsten Sekunde ist er zugunsten von etwas anderem vergessen. Das Ausrichten ist vorhanden, aber kein Aufrechterhalten. Also müssen wir uns wieder und wieder ausrichten. Wir kommen zum Atem zurück, kommen zurück, kommen zurück — immer und immer wieder. Und jedesmal nehmen wir zur Kenntnis, nehmen wir zur Kenntnis, nehmen wir zur Kenntnis, was unsere Aufmerksamkeit davonträgt. Das Aufrechterhalten kommt mit der Absicht, Aufrechterhalten zuzulassen. Den Fokus bei der Empfindung des Atmens zu halten verlangt beträchtliche Aufmerksamkeit, denn unsere Aufmerksamkeit ist im allgemeinen ziemlich labil und wird leicht abgelenkt. Doch über Tage, Wochen, Monate und Jahre hinweg gelangen wir mit weiser und sanfter Aufmerksamkeit auf dem Aufrechterhalten und der Ausdauer in unserer Übung, die aus unserer Liebe zu einer größeren Authentizität entstehen, von der wir spüren, daß sie möglich ist, und vielleicht das vage Gefühl haben, daß sie in unserer Lebensführung fehlt, dazu, daß wir leichter im Atem ruhen können, im Wissen um den Atem, wie er sich von Moment zu Moment entfaltet. Dieses Aufrechterhalten wird im Sanskrit Samādhi genannt. Es ist diese gesammelte Qualität, des auf einen Punkt gerichteten, konzentrierten Geistes, der, wenn schon nicht vollkommen unerschütterlich, so doch wenigstens einigermaßen stabil ist. Samādhi wird entwickelt und vertieft, wenn unser normalerweise hektischer Geist allmählich zur Ruhe 56
kommt. Dies geschieht durch das fortgesetzte Üben unserer Fähigkeit, zu erkennen, wann der Geist von dem vereinbarten Objekt der Aufmerksamkeit, in diesem Fall dem Atem, abgeschweift ist, und ihn immer wieder ohne Urteil, Reaktion oder Ungeduld dazu zurückzubringen. Einfach ausrichten, aufrechterhalten, erkennen, wann das Aufrechterhalten sich verflüchtigt hat, wieder ausrichten und erneut aufrechterhalten. Wieder und wieder und wieder und immer wieder. Wie der Kiel eines Segelboots stabilisiert Samādhi den Geist im Angesicht von Wind und Wellen, die sich allmählich legen, weil sie nicht mehr durch unsere Unaufmerksamkeit und unser wahrhaft süchtiges Verlangen nach ihrer Anwesenheit und ihrem Inhalt genährt werden. Und wenn der Geist relativ stabil geworden ist, gewinnt das Objekt, dessen wir gewahr sind, an Lebendigkeit und wird mit größerer Klarheit wahrgenommen. In den frühen Stadien zeigt sich Samādhi mit größter Wahrscheinlichkeit vor allem dann als ein möglicher Zustand unseres Geistes, wenn wir uns in einem Kurs oder Workshop befinden, besonders in einer strukturierten Meditationsklausur, wenn wir uns also mit Absicht für eine Weile vom üblichen Getümmel des Lebens mit seinen endlosen Voreingenommenheiten, Pflichten und Gelegenheiten der Zerstreuung abgesondert haben. Allein schon eine solche anhaltende Stille im Außen sowie die innere Stille, die damit einhergehen kann, erfahren zu können, ist Grund genug, sein Leben so zu arrangieren, daß man von Zeit zu Zeit diese Möglichkeit kultivieren und darin baden kann. Dann sehen wir vielleicht, daß die Winde und Wellen des Geistes nicht fundamental sind, sondern einfach Wetterbedingungen, in die wir uns manchmal verirren und verstricken, weil wir meinen, der Inhalt des Gewahrseins sei das Wichtigste und nicht das Gewahrsein selbst, innerhalb dessen sich die Inhalte unseres Geistes entfalten können. Haben Sie erst einmal ein gewisses Maß an Sammlung und Stabilität des Fokus in Ihrer Aufmerksamkeit geschmeckt, dann wird es etwas leichter, sich auch außerhalb von Meditationsklausuren mitten in einem geschäftigen Leben in einer solchen Stabilität des Geistes zu verankern und darin zu verweilen. Das bedeutet natürlich nicht, daß dann alles im Geist ruhig und friedlich sein wird. Wir werden im Laufe der Zeit von allen möglichen geistigen und körperlichen Zuständen heimgesucht, manche davon sind angenehm, andere unangenehm, und manche sind vielleicht so neutral, daß wir sie kaum bemerken. Doch was ruhiger und stabiler wird, ist unsere Fähigkeit, aufmerksam zu sein. Es ist die Plattform unseres Beobachtens, welche stabiler wird. Und mit einem gewissen Maß an anhaltender Ruhe in unserem Aufmerksamsein geschieht – wenn wir nicht um dieser Ruhe selbst willen daran festhalten – ganz unweigerlich die Entwicklung von Einsicht, welche durch unser Gewahrsein angefeuert und offenbart wird, die Entwicklung von Achtsamkeit selbst, der dem Geist innewohnenden Fähigkeit, sämtliche Objekte der Aufmerksamkeit in jedem einzelnen Moment so zu kennen, wie sie sind, jenseits von allem begrifflichen Wissen, welches mit Hilfe des Denkens Dinge etikettiert, um ihnen einen Sinn zu geben. Achtsamkeit erkennt den Atem als tief, wenn er tief ist. Sie erkennt den Atem als flach, wenn er flach ist. Sie weiß um das Einströmen und das Ausströmen. Sie weiß um die unpersönliche Natur des Atems auf die gleiche Weise, wie Sie irgendwo in der Tiefe wissen, daß nicht „Sie“ es sind, der atmet – es ist eher so, daß das Atmen geschieht. Achtsamkeit weiß um die vergängliche Natur jedes Atemzuges. Sie kennt jeden einzelnen Gedanken, jedes einzelne Gefühl, jede einzelne Wahrnehmung und jeden 57
Impuls, wie sie in jedem Atemzug, darum herum und außerhalb davon entstehen. Denn Achtsamkeit ist die wissende Qualität des Gewahrseins, die wesentliche Eigenschaft des Geistes selbst. Sie wird durch Aufrechterhalten gestärkt, und sie erhält sich selber aufrecht. Achtsamkeit ist der Bereich des Wissens. Wenn dieser Bereich durch Ruhe und Ausrichtung auf einen Punkt stabilisiert wird, dann wird das Entstehen von Wissen selbst aufrechterhalten, und die Qualität des Wissens wird verstärkt. Dieses Wissen um die Dinge, wie sie sind, nennt man Weisheit. Sie entsteht aus dem Vertrauen zu unserem ursprünglichen Geist, der nichts anderes ist als ein stabiles, unendliches, offenes Gewahrsein. Dieses Gewahrsein ist ein Feld des Wissens, das augenblicklich alles wahrnimmt, was in seiner unendlichen Weite auftaucht, sich bewegt oder verschwindet. Wie das Feld des Sonnenlichts ist es stets präsent, wird aber oft von Wolken verhüllt, von der vom Geist durch seine Gewohnheiten der Zerstreuung selbst erzeugten Vernebelung, von seiner endlosen Vervielfältigung der Bilder, Gedanken, Geschichten und Gefühle, von denen viele nicht gerade zutreffend sind. Je mehr wir üben, unsere Aufmerksamkeit auszurichten und aufrechtzuerhalten, desto mehr lernen wir, mühelos im Aufrechterhalten-Modus zu verweilen, so wie die Saiten eines Klaviers nach dem Anschlag noch lange weiterschwingen, wenn wir das Pedal durchgetreten halten. Je mehr wir mühelos im Aufrechterhalten-Modus verweilen, desto deutlicher wird das natürliche Leuchten unserer eigentlichen Natur als ein zugleich lokaler und unendlicher Ausdruck von Weisheit und Liebe offenbart, nicht länger vor anderen und, was noch wichtiger ist, vor uns selbst verhüllt.
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Präsenz Wenn Sie auf einen Menschen stoßen, der gerade meditiert, wissen Sie augenblicklich, daß Sie in den Dunstkreis von etwas Ungewöhnlichem und Bemerkenswertem gelangt sind. Da ich Meditationskurse und -klausuren leite, mache ich diese Erfahrung ziemlich oft. Vor mir sitzen manchmal Hunderte von Menschen in Stille, und nichts geschieht außer dem, was sich im jeweiligen Augenblick gerade in den verschiedenen inneren Landschaften des Lebens der einzelnen Teilnehmer abspielt. Jemand, der zufällig vorbeikommt, könnte es für merkwürdig halten, daß da hundert Menschen in einem Raum in Stille sitzen und nichts tun – und zwar nicht nur kurze Momente, sondern einige Minuten lang, manchmal sogar bis zu einer Stunde. Gleichzeitig könnte diese Person sich jedoch von einem Gefühl einer geradezu greifbaren Präsenz angerührt fühlen, das für die meisten von uns eine leider viel zu seltene Erfahrung ist. Wenn Sie diese Person wären, dann wäre es gut möglich, daß Sie sich, auch wenn Sie keine Ahnung haben, was da vor sich geht, auf unerklärliche Weise dazu veranlaßt fühlen, zu verweilen, sich diese Versammlung mit großer Neugier anzusehen und sich auf dieses Energiefeld der Stille einzulassen, dem etwas Anziehendes und Harmonisierendes innewohnt. Das Gefühl einer mühelosen, wachen Aufmerksamkeit hinter diesem bewegungslosen Sitzen in Stille hat etwas Überwältigendes, genauso wie die Empfindung einer gewissen Intention, die in einer solchen Versammlung verkörpert ist. Aufmerksamkeit und Intention. Einhundert Menschen, die in achtsamer Stille präsent sind, ohne sich zu bewegen und mit keinem anderen Vorhaben als dem Gegenwärtigsein, das ist eine überwältigende Manifestation menschlicher Güte. Diese unbewegte Präsenz ist zutiefst bewegend. Aber im Grunde bewegt mich dasselbe Gefühl, wenn ich mich in der Präsenz nur eines einzigen meditierenden Menschen befinde. In einem Raum mit einhundert Meditierenden sind natürlich immer einige Menschen, die gerade daran arbeiten, präsent zu sein, was etwas anderes ist als das Präsentsein selbst, auch wenn sie nur um Haaresbreite davon entfernt sind. Wenn man allerdings gerade denkt oder sich anstrengt oder Schmerzen hat, dann kann sich der Abstand wie ein tiefer Abgrund anfühlen. Innerlich kann es also viel Hin und Her geben. Man kommt in das Gewahrsein hinein und fällt wieder heraus, besonders wenn die Aufmerksamkeit noch wenig entwickelt ist und man das Gefühl hat, sich auf einem steinigen Weg zu befinden. Gewöhnlich überträgt sich das dann auch als äußere Ruhelosigkeit: man wackelt, rutscht hin und her, sackt in sich zusammen. Doch von den Menschen, die ein gewisses Maß an Sammlung entwickelt haben oder die von Natur aus konzentrierter und fokussierter sind, strahlt ein Gefühl der Präsenz aus. Es kann sein, daß ein Mensch auf subtile Weise von innen her zu leuchten scheint. Manchmal rührt der Frieden in einem Gesicht mich zu Tränen. Manchmal liegt der Hauch eines Lächelns auf einem Gesicht, wirklich nur ein Hauch, nicht etwa ein breites Grinsen. Es ist nicht das Lächeln eines Subjekts, sondern zeigt in diesem Moment im Gegenteil an, daß das Subjekt abwesend ist. Das ist ganz deutlich zu sehen. Die Person ist nicht mehr nur eine Person oder Persönlichkeit. Er oder sie ist zu reinem, unverfälschtem Sein geworden. Nur Sein. Nur Wachheit. Nur Frieden. Und da die 59
Person Frieden ist, ist in diesem Moment die Schönheit der Person als reines Sein unverkennbar. Ich brauche das nicht einmal zu sehen, um darum zu wissen. Wenn ich neben jemandem sitze, mit dem zusammen ich lehre, oder wenn ich mich selbst in einer Klausur befinde und umgeben bin von Menschen, die alle miteinander etwa eine Stunde in einem Raum in Stille sitzen, dann spüre ich die Präsenz und Schönheit der Menschen um mich herum viel deutlicher, als wenn ich mich mit ihnen unterhalte. Auch wenn manche vielleicht gerade Schmerzen erfahren oder in innere Kämpfe verwickelt sind, läßt ihre Bereitschaft, die Schmerzen zu ertragen und sich dafür zu öffnen, sie doch in dieses Feld der Präsenz eintreten, das Feld der Achtsamkeit, der schweigenden Erleuchtung. Wenn Lehrer in Schulklassen auf der ganzen Welt die Namen der Schüler aufrufen, damit sie ihre Präsenz kundtun, dann antworten die Schüler in ihrer jeweiligen Sprache mit einem Wort, das soviel wie „anwesend“ bedeutet. So geht dann jedermann stillschweigend davon aus, daß das Kind sich tatsächlich in der Klasse befindet. Das Kind glaubt das, die Eltern glauben das, und die Lehrer glauben es ebenfalls. Doch sehr oft befindet sich in Wirklichkeit nur der Körper des Kindes in der Klasse. Sein Blick ist vielleicht für lange Zeit, manchmal gar für Jahre, durch das Fenster nach draußen gewandert, wo es Dinge sieht, die sonst niemand sieht. Die Psyche des Kindes befindet sich vielleicht in einem Traumland der Phantasie oder inkarniert sich, wenn das Kind im Grunde glücklich ist, nur gelegentlich im Klassenzimmer, weil es wichtigere karmische Arbeit zu leisten hat. Oder das Kind befindet sich, ohne daß andere es merken, in einem Alptraum der Angst, wird von Dämonen des Selbstzweifels und der Selbstverachtung oder des lähmenden inneren Aufruhrs heimgesucht, Dämonen, denen das Kind in dieser Umgebung – wenn überhaupt – keinen Ausdruck verleihen kann, und die Präsenz und Konzentration zu beinahe unmöglichen Aufgaben machen, weil das Kind in einer Welt lebt, in der es ständig und regelmäßig, manchmal auch nur gelegentlich, mißbraucht, mißachtet und vernachlässigt wird. Die Tibeter benutzen manchmal das Wort „Kundun“, wenn sie vom Dalai Lama sprechen. Kundun bedeutet Präsenz. Und dieser Name ist durchaus zutreffend und keine Übertreibung. In seiner Präsenz wird man selbst präsenter. Ich habe den Dalai Lama einige Tage lang beobachten können, in einem Raum zusammen mit einer kleinen Gruppe von Menschen, die in Diskussionen und Vorträgen komplexe wissenschaftliche Fragen erörterten, die natürlich manchmal mehr, manchmal weniger interessant waren. Aber er schien die ganze Zeit unmittelbar präsent zu sein, nicht nur in seinem Denken, sondern auch in seinen Gefühlen. Er war stets mit ganzer Aufmerksamkeit beim anstehenden Thema, und mir fiel auf, daß alle um ihn herum durch seine bloße Präsenz nicht nur präsenter wurden, sondern auch offener und liebevoller. Er unterbricht, wenn er etwas nicht versteht. Er denkt tief nach, man sieht es an seinem Gesicht. In der Umgebung von Wissenschaftlern, älteren Mönchen und Gelehrten stellt er zu den Darlegungen anderer oft pointierte Fragen – und oft genug lautet die Antwort darauf: „Das, Eure Heiligkeit, sind genau die Fragen, die wir uns an diesem Punkt selber stellen und die wir mit unseren nächsten Experimenten erhellen wollen.“ Manchmal scheint er abgelenkt zu sein, aber gewöhnlich merke ich dann, daß ich mich habe täuschen lassen, da er immer bei der Sache bleibt. Doch er sieht oft so aus, als sei er tief in Gedanken versunken, als ringe er um eine Antwort oder bedenke einen Punkt. Ich nächsten Augenblick kann er dann ganz verspielt sein, kann Vergnügen und Freundlichkeit 60
ausstrahlen. Man kann sagen, er sei so geboren, und das ist natürlich noch eine ganz andere Geschichte, aber diese Eigenschaften sind auch das Resultat einer jahrelangen strengen Schulung von Geist und Herz. Er ist eine Verkörperung dieser Schulung, auch wenn er selber bescheiden sagen würde, das sei gar nichts – was wiederum in einem mehr als beiläufigen Sinn richtig ist. Als er einmal gefragt wurde, warum die meisten Menschen so positiv auf ihn reagierten, sagte er: „Ich besitze keine besonderen Qualitäten. Vielleicht liegt es daran, daß ich mein ganzes Leben lang mit ganzem Einsatz meines Geistes über Liebe und Mitgefühl meditiert habe.“ Offenbar tut er das immer noch jeden Morgen mehrere Stunden lang, ganz gleich, wo er sich befindet und welche Verpflichtungen er an diesem Tag hat, und nochmals für kurze Zeit am Abend. Stellen Sie sich das vor! Präsent sein ist alles andere als eine Kleinigkeit. Es ist vielleicht die schwerste Arbeit der Welt. Ach, vergessen Sie ruhig das „vielleicht“. Es ist die schwerste Arbeit der Welt – zumindest das Aufrechterhalten der Präsenz. Und die wichtigste Arbeit. Wenn Sie zur Präsenz gelangen – und gesunde Kinder leben die meiste Zeit in der Landschaft der Präsenz –, dann wissen Sie es augenblicklich, dann fühlen Sie sich sofort zu Hause. Und da Sie zu Hause sind, können Sie sich entspannen, können Sie loslassen, können Sie in Ihrem Sein ruhen, in Gewahrsein, in der Präsenz selbst, in Ihrer eigenen guten Gesellschaft. Kabir, der ungezügelt ekstatische Dichter aus dem Indien des 15. Jahrhunderts, der von Muslimen und Hindus gleichermaßen verehrt wird, hat eine wilde Art und Weise, dem Ruf der Präsenz und der Tatsache, daß sie uns so leicht entgeht, Ausdruck zu geben:
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Hoffe auf den Gast, mein Freund, solange du noch lebst. Spring in die Erfahrung, solange du noch lebst! Denk nach ... denk nach ... solange du noch lebst. Was du „Erlösung“ nennst, gehört in die Zeit vor deinem Tod. Wenn du deine Bande nicht zerreißt, solange du noch lebst, glaubst du denn, die Geister würden es nachher für dich tun? Die Vorstellung, die Seele werde sich mit dem Ekstatischen verbinden, nur weil der Körper verrottet ist das ist ein bloßes Wunschdenken. Was du jetzt findest, ist eben das, was du hiernach finden wirst. Und wenn du jetzt nichts findest, wirst du bloß in einem Haus der Stadt des Todes enden. Wenn du dich jetzt in Liebe mit dem Göttlichen vereinst, wirst du im nächsten Leben das Antlitz eines Menschen haben, der Befriedigung erfuhr. Darum springe hinein in die Wahrheit, finde heraus, wer der Große Lehrer ist, glaube an den Großen Klang! So spricht Kabir: Wenn du nach dem Gaste suchst, ist es die Intensität deines Verlangens, die die ganze Arbeit tut. Schau mich an, und du siehst einen Sklaven genau dieser Intensität. KABIR (nach der englischen Nachdichtung von Robert Bly)
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Ein radikaler Akt der Liebe Zur Meditation in ihrer äußeren Manifestation scheint entweder zu gehören, daß wir innehalten und den Körper in einer Stille parken, die vorübergehend alle Aktivität zum Stillstand bringt, oder daß wir uns fließender Bewegung überlassen. In beiden Fällen ist sie eine Verkörperung weiser Aufmerksamkeit, einer inneren Geste, die vorwiegend in der Stille ausgeführt wird und die bedeutet, daß wir vom Tun zum schlichten Sein übergehen. Sie ist ein Akt, der anfangs künstlich erscheinen mag, der aber - wie wir bald entdecken werden, wenn wir weiter üben - letztlich ein Akt reiner Liebe für das Leben ist, das sich in uns und um uns herum entfaltet. Wenn ich eine Gruppe von Menschen in der Meditation unterweise, fordere ich sie oft dazu auf, den Gedanken „Ich meditiere“ beiseite zu lassen und einfach nur wach zu sein, ohne etwas zu versuchen, ohne einen Plan, ohne Vorstellungen darüber, wie es aussehen oder sich anfühlen sollte oder worauf die Aufmerksamkeit sich richten sollte ... einfach wach zu sein für das, was in genau diesem Augenblick ist, ohne Ausschmückung und Kommentare. Eine solche Wachheit ist anfangs nicht leicht zu schmecken, wenn man sich nicht wirklich im Anfängergeist9 befindet, doch sie ist eine wichtige Dimension der Meditation, um die wir von Anfang an wissen sollten, selbst wenn es scheint, als wäre die Erfahrung eines solchen offenen, geräumigen und nichtwählenden Gewahrseins in bestimmten Momenten nur schwer greifbar. Da wir einfacher werden müssen und nicht komplizierter, ist es anfangs schwer für uns, uns nicht selber im Wege zu stehen, damit wir diese absolute Ungebundenheit des Nichttuns schmecken können, eines bloßen planlosen Verweilens im Sein bei voller Wachheit. Das ist der Grund dafür, daß es so viele verschiedene Methoden und Techniken für die Meditation gibt und so viele verschiedene Richtungen und Anleitungen. Man kann sich diese Methoden als nützliche Wege vorstellen, auf denen wir uns mit Absicht und willentlich aus einer Myriade von verschiedenen Richtungen und Orten zurückholen können, an denen wir benebelt und verwirrt feststecken, zurück zu totaler und offener Stille, zu dem, was wir unsere ursprüngliche Wachheit nennen könnten, die in Wirklichkeit niemals nicht da war, niemals nicht da ist, genauso wie die Sonne immer scheint und der Ozean in seiner Tiefe immer still ist. Ich habe das Gefühl, daß mein Boot da unten in der Tiefe gegen etwas gestoßen ist, gegen etwas Großes. Und nichts geschieht! Nichts ... Stille ... Wellen ... – Nichts geschieht? Oder ist alles geschehen, und wir stehen jetzt, still, im neuen Leben? JUAN RAMON JIMINEZ, „OZEANE“ (nach der englischen Übertragung von Robert Bly)
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Da das Tempo unseres Lebens von zahllosen Einflüssen, die sich anscheinend unserer Kontrolle entziehen, ständig beschleunigt wird, fühlen sich immer mehr Menschen zu einer Beschäftigung mit der Meditation hingezogen, zu diesem radikalen Akt des Seins, diesem radikalen Akt der Liebe, auch wenn das angesichts der materialistischen, vom Tun, von der Geschwindigkeit, vom Fortschritt, von der Prominenz und vom Leben anderer Leute besessenen Ausrichtung unserer Kultur erstaunlich erscheint. Wir bewegen uns aus vielen Gründen in Richtung eines meditativen Gewahrseins, nicht zuletzt, weil wir uns unsere geistige Gesundheit bewahren möchten, oder auch, weil wir wieder etwas Übelsicht gewinnen und einen Sinn im Leben finden wollen, oder einfach, um mit dem wahnsinnigen Streß und der Unsicherheit unserer Tage umgehen zu können. Indem wir innehalten und willentlich zu dem erwachen, wie die Dinge in diesem Moment sind, ganz bewußt, ohne ins Reagieren oder Urteilen zu verfallen, und indem wir klug mit solchen Ereignissen umgehen, mit einem gesunden Maß an Mitgefühl mit uns selbst, wenn wir ihnen doch einmal verfallen sind, sowie durch unsere Bereitschaft, uns trotz all unserer Pläne und Aktivitäten, die darauf abzielen, irgendwo anders hin zu gelangen, ein Projekt zu beenden oder Objekten oder Zielen unserer Begierde nachzujagen, für eine Weile im gegenwärtigen Moment anzusiedeln, entdecken wir, daß ein solcher Akt einerseits ungeheuer und entmutigend schwierig ist, andererseits jedoch ungemein einfach, tiefgründig und letztlich doch total möglich, und daß Körper, Geist und Seele dadurch wiederhergestellt werden. Es ist in der Tat ein radikaler Akt der Liebe, wenn wir uns einfach nur eine Weile allein hinsetzen und still sind. Sich auf diese Weise hinzusetzen bedeutet in Wirklichkeit, in unserem Leben, wie es eben jetzt ist, einen Standpunkt zu beziehen. Wir beziehen einen Standpunkt hier und jetzt, indem wir uns hinsetzen, und zwar aufrecht hinsetzen. Es ist eine der Herausforderungen unserer Zeit, in einer zunehmend verrückten Welt seine geistige Gesundheit zu bewahren. Wie sollte uns das je gelingen, wenn wir ständig verstrickt sind in das Geplapper unseres eigenen Geistes, in das verwirrende Gefühl, verloren oder isoliert zu sein und nicht mehr zu wissen, was das alles zu bedeuten hat und wer wir wirklich sind; wenn wir das Gefühl haben, daß alles, was wir tun und erreichen, irgendwie leer ist, und wir erkennen, wie kurz das Leben ist? Letztlich ist es nur die Liebe, die uns erkennen lassen kann, was wirklich und was wichtig ist. Und darum macht dieser radikale Akt der Liebe Sinn – Liebe zum Leben und zum Auftauchen unseres wahren Wesens. Sich einfach hinzusetzen und in die Präsenz fallenzulassen ist eine dezidierte und machtvolle Weise, um zu bestätigen, daß wir langsam, aber sicher zur Besinnung kommen und daß die Welt der direkten Erfahrung hinter all dem Denken und der Versunkenheit in uns selbst immer noch intakt ist und uns zur Verfügung steht, so daß wir sie in vollen Zügen genießen können, damit wir heil werden und wissen, wie man sein kann, und dann, wenn wir zum Tun zurückkehren, wissen, was zu tun ist und wie wir endlich anfangen können.
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Gewahrsein und Freiheit Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß Ihr Gewahrsein des Schmerzes selbst dann keine Schmerzen erfährt, wenn Sie Schmerzen haben? Ich bin sicher, daß Sie das bereits erfahren haben. Das ist eine weitverbreitete Erfahrung, besonders in der Kindheit, aber wir untersuchen sie im allgemeinen nicht näher und sprechen nicht darüber, weil sie so flüchtig ist und der Schmerz so viel zwingender ist, wenn er uns überfällt. Haben Sie schon einmal bemerkt, daß Ihr Gewahrsein der Furcht sich nicht fürchtet, wenn Sie sich fürchten? Oder daß Ihr Gewahrsein von Depression nicht deprimiert ist, daß Ihr Gewahrsein Ihrer schlechten Gewohnheiten kein Sklave dieser Gewohnheiten ist ... und daß sogar Ihr Gewahrsein, dessen, was Sie sind, nicht das ist, was Sie zu sein glauben? Sie können das alles jederzeit in Ihrer eigenen Erfahrung nachprüfen, wenn Sie einfach das Gewahrsein erforschen - indem Sie sich des Gewahrseins selbst gewahr werden. Das ist ganz einfach, aber wir denken fast nie daran, es zu tun, weil Gewahrsein, ebenso wie der gegenwärtige Augenblick, praktisch eine verborgene Dimension in unserem Leben ist, die überall eingebettet und deshalb nirgendwo leicht zu bemerken ist. Gewahrsein ist immanent und letztlich unendlich zugänglich, aber es tarnt sich wie ein scheues Tier. Gewöhnlich bedarf es eines gewissen Maßes an Bemühung und Stille, um einen Blick darauf zu erhaschen, auch wenn es im Grunde völlig offensichtlich ist. Um es sehen zu können, muß man wachsam, neugierig und motiviert sein. Wo es um das Gewahrsein geht, müssen wir bereit sein, das Wissen zu uns kommen zu lassen, es einzuladen - still und geschickt inmitten dessen, was wir denken oder erfahren. Schließlich sehen Sie ja bereits; schließlich hören Sie ja bereits. In all dem ist Gewahrsein, es kommt durch alle Sinnestore zu uns, auch durch unseren Geist, genau hier, genau jetzt. Wenn Sie sich mitten im Schmerz ins reine Gewahrsein begeben, und sei es auch nur für einen kurzen Moment, dann wird sich Ihre Beziehung zum Schmerz in ebendiesem Augenblick verändern. Es ist unmöglich, daß sie sich nicht verändert, denn die bloße Geste des Haltens des Gewahrseins - selbst wenn es nicht lange aufrechterhalten wird, vielleicht nur für zwei, drei Sekunden - offenbart bereits, daß es sich hier um eine größere Dimension handelt. Und diese Verschiebung in Ihrer Beziehung zu der Erfahrung verleiht Ihnen einen höheren Grad an Freiheit in Ihrer Haltung und Ihrem Handeln in der jeweils gegebenen Situation ... selbst wenn Sie nicht wissen, was Sie tun sollen. Wenn das Nichtwissen selbst von Gewahrsein getragen wird, ist es eine andere Form von Wissen. Das hört sich seltsam an, ich weiß; aber wenn Sie lange genug üben, werden Sie immer mehr begreifen, was das bedeutet, aus dem Bauch heraus, auf eine Weise, die tiefer ist als Denken. Gewahrsein transformiert emotionalen Schmerz ebenso wie es den Schmerz transformiert, den wir mehr dem Bereich der körperlichen Empfindungen zuordnen. Wenn wir in emotionale Schmerzen versunken sind, dann können wir, wenn wir genau achtgeben, wahrnehmen, daß es da immer einen Überbau von Gedanken gibt und eine 65
Fülle anderer Gefühle über den Schmerz, den wir erfahren. So läßt sich auch hier die gesamte Konstellation dessen, was für uns der emotionale Schmerz ist, willkommen heißen und im Gewahrsein halten, so verrückt sich das im ersten Moment auch anhören mag. Es ist erstaunlich, wie wenig wir daran gewöhnt sind, so etwas zu tun, und wie zutiefst aufschlußreich und befreiend es sein kann, mit unseren Emotionen und Empfindungen auf diese Weise umzugehen, auch wenn sie toben und uns zur Verzweiflung bringen - ja besonders dann, wenn sie toben und uns zur Verzweiflung bringen. Niemand muß sich selbst Schmerz zufügen, um die Gelegenheit zu erhalten, diese einzigartige Eigenschaft des Gewahrseins zu testen, die Tatsache, daß das Gewahrsein größer und von einer völlig anderen Art sein kann als der Schmerz. Alles, was wir tun müssen, ist, für das Auftreten von Schmerz wach zu sein, wann immer er auftaucht und welche Form er auch haben mag. Unsere Wachheit bringt im Augenblick des Kontakts mit dem auslösenden Ereignis, sei es nun eine Empfindung oder ein Gedanke, ein Blick oder eine Geste, was jemand sagt oder was in einem bestimmten Moment geschieht, Gewahrsein hervor. Es kommt genau hier, im Punkt des Kontakts, im Moment des Kontakts, zur Anwendung von Weisheit – ob wir uns nun mit dem Hammer auf den Daumen schlagen oder ob etwas Unvorhergesehenes in der Welt geschieht und wir uns einem Aspekt der „ganzen Katastrophe“8 gegenübersehen und plötzlich Kummer und Schmerzen, Zorn und Angst sich scheinbar dauerhaft in unser Leben eingenistet haben. In diesem Moment und in dem, was darauf folgt, können wir Gewahrsein in den Zustand, in dem wir uns befinden, hineintragen, in den Zustand von Körper, Geist und Herz. Und dann machen wir einen weiteren Sprung und bringen Gewahrsein in das Gewahrsein selbst hinein und finden heraus, ob unser Gewahrsein an sich leidet, ob es zornig, ängstlich oder traurig ist. Das wird es nicht sein. Es kann es nicht sein. Aber das müssen Sie für sich selbst herausfinden. In dem bloßen Denken daran liegt keine Freiheit. Das Denken ist nur insofern nützlich, als es uns daran erinnern kann, hinzuschauen, diesen bestimmten Augenblick mit Gewahrsein zu umfangen und dann Gewahrsein in unser Gewahrsein zu bringen. Dann merken wir es selber. Man könnte auch sagen: Das ist das Merken, denn das Gewahrsein weiß augenblicklich. Es hält vielleicht nur für einen Moment an, aber in diesem Moment liegt die Erfahrung von Freiheit. Die Tür zu Weisheit und Herzlichkeit, die, wenn wir Freiheit erfahren, natürliche Eigenschaften unseres Seins sind, öffnet sich in diesem Augenblick. Mehr gibt es nicht zu tun. Das Gewahrsein öffnet sie und lädt uns ein, einen Blick zu riskieren, und sei es nur für eine Sekunde, und es selber zu sehen. Damit soll nicht gesagt sein, daß Gewahrsein eine kalte und gefühllose Strategie ist, um uns von der Tiefe des Schmerzes in Momenten der Seelenqual und des Verlustes oder ihrer Nachwirkungen abwenden zu können. Niederlage und Seelenqual, Verlust und Trauer, Angst und Verzweiflung gehören ebenso wie all die Freude, die wir erfahren können, zum Kern des Menschseins und fordern uns auf, ihnen geradeheraus 8
10 Mit diesem immer wieder auftauchenden Begriff (engl.: the full catastrophy) bezieht der Autor sich wie in seinem ersten Buch Full Catastrophy Living (1990; dt.: Gesund und streßfrei durch Meditation. Bern u.a.: O.W. Barth, 1991) auf einen Satz aus dem Film Zorba the Greek (1964; dt.: Alexis Sorbas-, nach dem Roman von Nikos Kazantzakis), in dem Sorbas auf die Frage, ob er schon einmal verheiratet gewesen sei, sinngemäß antwortet: „Bin ich nicht ein Mann? Natürlich war ich auch verheiratet. Frau, Haus, Kinder, einfach alles ... die ganze Katastrophe!“ (Anm. d. Übers)
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zu begegnen, wenn sie auftreten, sie kennenzulernen und so zu akzeptieren, wie sie sind. Das, was am dringendsten nötig ist und was das Gewahr-sein verkörpert, ist eben gerade eine Hinwendung und ein Annehmen und nicht ein Sichabwenden und Leugnen oder Unterdrücken des Fühlens. Gewahrsein verringert vielleicht nicht unter allen Umständen das enorme Ausmaß unseres Schmerzes. Aber es stellt uns ein größeres Gefäß zur Verfügung, in dem wir unser Leiden unter allen und jeglichen Umständen sanft auffangen und näher kennenlernen können. Wie sich zeigt, ist allein das schon transformierend und kann den ganzen Unterschied ausmachen zwischen einem endlosen Gefangensein in Schmerz und Leid und einer Freiheit vom Leiden, auch wenn es uns nicht immun macht gegen die verschiedenen Formen des Schmerzes, die wir als Menschen unweigerlich erleiden müssen. Natürlich gibt es eine Fülle von großen und kleinen Gelegenheiten, Gewahrsein in unser tägliches Leben einzubringen, und so kann unser ganzes Leben zu einer nahtlosen Schulung in Achtsamkeit werden. Wenn wir die Herausforderung, zu unserem Leben zu erwachen und uns von der Wachheit transformieren zu lassen, annehmen, dann ist das eine eigene Form des Yoga, der Yoga des Alltagslebens, der in jedem Augenblick anwendbar ist: bei der Arbeit, in unseren Beziehungen, im Leben mit unseren Kindern, in unserer Beziehung zu unseren Eltern, ob sie nun noch leben oder nicht, in unserer Beziehung zu unseren eigenen Gedanken über die Vergangenheit und die Zukunft sowie in der Beziehung zu unserem Körper. Wir können Gewahrsein in alles bringen, was geschieht, in Momente des Konflikts und Momente der Harmonie und auch in Momente, die so neutral sind, daß wir sie vielleicht gar nicht zur Kenntnis nehmen. In jedem dieser Momente können Sie für sich selbst testen, ob die Welt sich nicht in Antwort darauf, daß Sie Gewahrsein in den Moment einbringen, für Sie öffnet, ob sie sich nicht, mit den Worten der Dichterin Mary Oliver, „Ihrer Imagination darbietet“, ob sie Ihnen nicht neue und umfassendere Weisen des Sehens und des Gegenwärtigseins für das, was ist, anbietet und Sie damit vielleicht von der Gefahr partieller Blindheit befreit und von Ihrem normalerweise starken Haften an einseitigen Anschauungen, an denen Sie einfach festhalten, weil es Ihre Anschauungen sind und Sie deshalb für sie voreingenommen sind. Wenn ich, auch wenn ich dabei große Schmerzen leide, wieder einmal im Banne meiner Geschichte vom Ich stehe, die ich ständig aus bloßer Gewohnheit weiterspinne, habe ich eine Gelegenheit, ja zahllose Gelegenheiten, zu sehen, wie sie sich entfaltet, und ich kann damit aufhören und davon ablassen, sie weiter zu nähren. Ich kann, wenn es nötig ist, eine einstweilige Verfügung dagegen erlassen, kann den Schlüssel zu meiner Zelle, der die ganze Zeit bereits im Schloß steckte, umdrehen, so daß ich aus dem Gefängnis freikommen und der Welt auf neue, umfassendere und angemessenere Weise zu begegnen vermag, indem ich sie voll und ganz annehme, statt mich zu verkrampfen, zurückzuweichen oder mich abzuwenden. Diese Bereitschaft, das anzunehmen, was ist, und dann damit zu arbeiten, erfordert viel Mut und große Geistesgegenwart. Wir können die Sache also in jedem Moment, ganz gleich, was passiert, überprüfen und selbst sehen, was geschieht. Macht das Gewahrsein sich Sorgen? Verrennt sich das Gewahrsein in Zorn, Gier oder Schmerz? Oder weiß das in einen Moment, selbst den winzigsten Moment, eingebrachte Gewahrsein einfach und befreit uns durch dieses Wissen? Finden Sie es heraus. Meine Erfahrung ist, daß wir durch Gewahrsein wieder zu uns selbst kommen. Es ist die einzige Kraft, die ich kenne, die das bewerkstelligen kann. Es ist die Quintessenz von Intelligenz, physischer, emotionaler und moralischer 67
Intelligenz. Es sieht so aus, als müßten wir das Gewahrsein erst herbeiführen, aber in Wirklichkeit ist es schon die ganze Zeit da, wir müssen es bloß aufdecken, wiederentdecken, annehmen und uns darin einrichten. Hierin liegt die Arbeit des Kultivierens, im Erinnern. Und dann darin, loszulassen und die Dinge sein zu lassen, in dem zu ruhen, was der große japanische Dichter Ryōkan „nur dies, nur dies“ genannt hat. Das ist es, was mit der Übung der Achtsamkeit gemeint ist. Wie wir gesehen haben, ist es eine zweifache Herausforderung: Zuerst müssen wir, so gut es eben geht, Gewahrsein in unsere Momente bringen, und sei es auf noch so flüchtige und vorübergehende Weise. Und dann müssen wir dieses Gewahrsein aufrechterhalten, es besser kennenlernen und in seiner umfassenderen und nie geschmälerten Ganzheit leben. Wenn wir das tun, sehen wir, daß die Gedanken sich selbst befreien, selbst mitten in unserem Kummer – so, als griffen wir nach einer Seifenblase und brächten sie durch unsere Berührung zum Platzen. Puff – schon ist sie dahin. Wir sehen, wie Kummer sich selbst befreit, auch wenn wir etwas unternehmen, um ihn in anderen zu lindern, und im akuten Schmerz dessen, was ist, verweilen. In dieser Freiheit können wir allem und jedem mit größerer Offenheit begegnen. Wir können uns der Herausforderung, der wir uns heute gegenübersehen, mit mehr Seelenstärke, Geduld und Klarheit stellen. Wir leben bereits in einer größeren Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, aus der wir schöpfen können, indem wir Schmerz und Kummer, wenn sie auftreten, mit weiser und liebevoller Präsenz umfangen, mit Gewahrsein, mit ungekünstelten Akten der Freundlichkeit und des Respekts uns selbst und anderen gegenüber, mit einem Handeln, das sich nicht mehr in der illusionären Trennung von innen und außen verliert. Aber damit wir das, praktisch gesehen, im Verlauf eines ganzen Lebens tun können, brauchen wir gewöhnlich eine Art umfassenden Bezugsrahmen, der uns sagt, wo wir anfangen können; der uns Rezepte zum Ausprobieren, Orientierungshilfen und kluge Ratschläge zur Verfügung stellt, so daß wir uns den Erfahrungsschatz und das Wissen anderer Menschen zunutze machen können. Dazu gehören, wenn wir sie brauchen, auch verschiedene Sprungbretter zu Gewahrsein und Freiheit, die uns zwar bereits in jedem Augenblick zur Verfügung stehen, sich aber dennoch manchmal außerhalb unserer Reichweite zu befinden scheinen.
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Übertragungslinien — Nutzen und Grenzen von Gerüsten Wenn es mir möglich war, weiter zu sehen, dann nur, weil ich auf den Schultern von Giganten stand. Sir Isaac Newton Wir alle wissen, daß es große Vorteile hat, wenn wir uns Vorausgegangenes zunutze machen, wenn wir auf den Genius und die harte Arbeit anderer, die ihr Äußerstes getan haben, um die Natur der Dinge zu erforschen, aufbauen können, ob diese Vorläufer nun Wissenschaftler, Poeten, Künstler, Philosophen, Handwerker oder Yogis waren. In jedem Bereich, der Lernen voraussetzt, stehen wir auf den Schultern unserer Vorläufer und recken die Hälse, um das zu sehen, was sie mit viel Mühe und Hingabe herausgefunden haben. Wenn wir klug sind, werden wir uns alle Mühe geben, ihre Landkarten zu lesen, ihren Fußspuren zu folgen, ihre Methoden zu erkunden und ihre Entdeckungen zu bestätigen, damit wir wissen, wo wir anfangen sollten, was wir uns zu eigen machen sollten, worauf wir bauen können und wo sich neue Einsichten, Gelegenheiten und potentielle Neuerungen finden lassen. Oft sind wir erschreckend unwissend, was den Grund angeht, auf dem wir stehen, das Haus, in dem wir leben, und die Brillen, durch die wir sehen. Sie alle erhielten wir von zumeist anonymen Spendern als Geschenk. William Butler Yeats war sich bewußt, wie grenzenlos das ist, was wir unseren Vorläufern schulden, und er widmete jenen Menschen, die er unsere unbekannten Lehrmeister nannte, vier unsterblich gewordene Zeilen des Dankes, ohne deren tiefgründige, doch in gewisser Hinsicht flüchtige, schwer faßbare und unvergleichliche Errungenschaften nichts Weitergehendes erbaut oder erkannt werden könnte: Was sie zu tun sich aufgemacht, das brachten sie zustand. Alles hängt wie ein Tropfen Tau an eines Grashalms Rand. Allein schon unser Vermögen, in Worten zu sprechen und zu denken, ist ein Beispiel dafür, wie unmöglich es uns ist, durch unsere eigenen Bemühungen die Höhe auch nur dessen zu erreichen, was unser angeborenes biologisches Vermögen ist. Wir alle besitzen das Potential, uns der Sprache zu bedienen. Doch wenn ein Mensch von Kindheit an isoliert aufwächst und die Sprache nicht durch den Kontakt mit anderen erlernt (durch Hören oder als Zeichensprache), so kann diese Fähigkeit später offenbar nicht mehr in vollem Umfang entwickelt werden. Ganze Bereiche mentaler Funktionen, kognitive wie emotionale, kommen zum Stillstand, und die Sprache und selbst das Schlußfolgern bleiben drastisch eingeschränkt. Der Rahmen, von dem wir ausgehen können, ist uns mitgegeben, aber er muß durch das Eintauchen in von Menschen hervorgebrachte Klänge, das Sehen von Gesichtern, die diese Klänge hervorbringen, durch Augenkontakt, Modulation, durch die Beziehung 69
zu anderen Menschen, durch die Begegnung mit ihrem Geruch ebenso wie mit ihren Klängen und durch eine Fülle anderer sinnlich-emotionaler Verbindungen ausgefüllt, gestaltet, geformt und genährt werden. Denn das Gehirn schafft seine Vernetzungen in nicht unerheblichem Maße durch eigene Erfahrungen. Und das muß im Laufe der individuellen Entwicklung offenbar innerhalb eines bestimmten Zeitfensters geschehen, wenn es zur Entwicklung von Sprache kommen soll. Wird dieses Fenster aus irgendwelchen Gründen verpaßt, dann bleiben wir weitgehend stumm, und das Erblühen unserer natürlichen Fähigkeit und ihres Potentials bleibt unerreichbar, weil die Beziehungsdimension, die unsere angeborene Fähigkeit hätte tragen und formen können, nicht vorhanden war. Ich möchte ein weiteres, noch grundlegenderes Beispiel nennen: Selbst unsere biologische Struktur ist ganz und gar historisch. Neues Leben entsteht aus altem. Das Leben baut auf sich selbst auf. Zellen entstehen nicht voll ausgeformt aus einer nichtzellularen Umgebung, auch wenn man annimmt, daß sie sich höchstwahrscheinlich in höchst rudimentärer Form in einer präbiotischen Umgebung entwickelt haben, vor vielleicht drei Milliarden Jahren und unter Bedingungen, die vollkommen anders waren, als wir sie heute auf der Erde haben. Zellstrukturen wachsen. Sie fügen ständig etwas zu sich hinzu, stellen mehr von sich selbst her und bewahren dabei ihre eigene organisatorische Integrität. Das heißt dann Autopoesis. Manche Naturwissenschaftler betrachten die Autopoesis als das erste rudimentäre Verbindungsglied zwischen Leben und Kognition, sozusagen das ursprüngliche Wissen um sich selbst. Ob das nun zutrifft oder nicht, auf jeden Fall hätten wir kein neues Leben ohne eine vorgeschaltete Struktur, aus der es in seiner dreidimensionalen molekularen Struktur nahtlos hervorgehen könnte. Das Leben ist ganz und gar historisch. Es besteht also auf allen Ebenen – von der biologischen Ebene zur psychischen zur sozialen zur kulturellen – eine fundamentale Notwendigkeit für das, was ich „Gerüste“ nenne. Wir sind abhängig von Unterweisungen, Richtlinien, einem Kontext, einer Beziehung und einer Sprache, um für das Abenteuer der Wildnis unseres Geistes und der Wildnis der Natur gerüstet zu sein, für den Kosmos, in dem wir uns vorfinden, auch wenn wir manchmal von den eingefahrenen Wegen abweichen und uns selber einen Weg durch noch nicht verzeichnete Gebiete bahnen müssen. Das Wissen, auf das wir aufbauen, wurde über Jahrhunderte und Jahrtausende durch die Übertragungslinien unserer Vorläufer entwickelt, verfeinert und destilliert – Übertragungslinien des Überlebens durch Jagen und Sammeln, der Domestizierung von wilden Pflanzen und Tieren, Übertragungslinien in den Wissenschaften, im Maschinenbau und der Architektur, in der Kunst und auch in den meditativen Traditionen. Diese Linien haben wir einer Geschichte von reich entwickeltem und hart erarbeitetem Wissen um bestimmte Landschaften zu verdanken, einschließlich der Fähigkeiten, die wir brauchen, um uns in diesen Landschaften gut zurechtzufinden. Dieses Wissen wurde so destilliert und strukturiert, daß wir darauf aufbauen können. Doch das können wir erst, nachdem wir die Pfade, die andere gebahnt haben, und ihre Instruktionen zum Nachvollzug dessen, wohin sie gereist sind, durchdrungen und verstanden haben. Und auch erst, nachdem wir uns wenigstens einigermaßen mit dem Terrain und den Herausforderungen, die sie beschrieben haben, und den Lösungen, zu denen sie gelangt sind, vertraut gemacht haben. Das ist unsere Hinterlassenschaft, wenn wir mit der Meditation beginnen. Denn die 70
Meditationsübungen sind nicht aus einem Vakuum heraus in unser Zeitalter eingetreten. Jene, die uns vorausgegangen sind, die direkten und vielfach verzweigten Traditionslinien von Lehrern, die zurückgehen bis in die Zeit des Buddha und noch viel weiter zurück, liefern uns einen Straßenatlas. Er ist ein Geschenk, das uns für unsere Erforschung als Orientierung zur Verfügung steht. Diese Landkarten verstärken und bereichern unsere Möglichkeiten der inneren Erforschung des menschlichen Geistes und seines Potentials, der Forschungsreise, auf die wir uns bereits begeben haben. Wir Menschen haben das außerordentliche Glück, daß uns eine solche Hinterlassenschaft zur Verfügung steht, daß es solch hohe und kräftige Schultern gibt, auf denen wir stehen können. Denn auch wenn die Meditationspraxis auf den ersten Blick ziemlich unkompliziert und vielleicht sogar offensichtlich nützlich erscheint, ist das ganze Spektrum der Möglichkeiten meditativer Erkundung – die Notwendigkeit einer strengen Disziplin, der Gebrauch des eigenen Lebens, Geistes und Körpers als ein Laboratorium für die Erforschung dessen, was für unser Menschsein das Grundlegendste ist, sowie die Kraft, die in einer Gemeinschaft von Individuen liegt, die ihre wechselseitige Verbundenheit in einer Welt des dauernden Wandels, der Ungewißheit und Verletzlichkeit anerkennen – ein Vermächtnis, auf das wir allein auf uns gestellt nicht so leicht stoßen würden. Dieses Vermächtnis wurde uns, mehr als eine Wissenschaft des Geistes und des Herzens denn alles andere, als Geschenk mitgegeben, und wir können daran teilhaben und darauf aufbauen, so wie wir individuell und kollektiv auf das aufbauen, was uns in anderen Bereichen des Wissens und Verstehens vorausgegangen ist. Natürlich wissen wir, daß es seltene, sehr seltene Beispiele für autodidaktische Genies gibt. Doch selbst Mozart studierte bei seinem Vater. Selbst der Buddha praktizierte die meditativen Traditionen seiner Zeit, bevor er seinen eigenen Pfad entwickelte. Er ging dabei über das hinaus, was er von anderen gelernt hatte, baute aber auch auf alte Traditionen auf, wobei der Legende nach seine einzige Inspiration ursprünglich der Anblick eines wandernden Asketen gewesen war, dessen strahlende und friedvolle Erscheinung ihn beeindruckt hatte. Fast alle Naturwissenschaftler hatten selbst Mentoren oder wurden an irgendeinem Punkt ihrer Karriere von anderen Menschen dazu inspiriert, ein bestimmtes Problem einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Selbst James Clerk Maxwell, der die nach ihm benannten Maxwellschen Gleichungen des Elektromagnetismus - eine der überragenden Errungenschaften der Physik im 19. Jahrhundert - ableitete, stützte sich bei seiner Arbeit auf das Werk von Michael Faraday, der ihm vorausgegangen war und ihm in vieler Hinsicht glich, wenn vielleicht auch nicht in seiner mathematischen Virtuosität. Um zu seinen atemberaubenden Einsichten zu gelangen, die es ihm erlaubten, mit vier schlichten Gleichungen die Ausbreitung von elektromagnetischen Feldern im Raum zu beschreiben, benutzte Maxwell eine mechanische Analogie, ein mentales Modell von sich drehenden Zahnrädern, mit dem er sich selbst erklärte, wie diese geheimnisvollen, nie zuvor visualisierten, immateriellen Kräfte von Elektrizität und Magnetismus miteinander verbunden sein könnten. Das Modell war völlig falsch, aber es diente ihm als Gerüst, über das er so weit aufsteigen konnte, bis er endlich einen Überblick hatte und einen Punkt erreichte, an dem eine wahre Einsicht in die Natur der Kräfte, die er zu verstehen suchte, möglich wurde. Die vier Gleichungen, zu denen er durch das Klettern über sein Gedankengerüst gelangte, waren vollkommen richtig und vollständig. 71
Maxwell war klug genug, sein mechanisches Modell nie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er hatte dessen Nützlichkeit transzendiert. Es hatte seine Schuldigkeit getan. Die Gesetzmäßigkeit von unsichtbaren, immateriellen elektromagnetischen Feldern war ein für allemal beschrieben. Das Gerüst war nicht mehr wichtig. So ähnlich ist es auch mit der Meditation. Auch wir können guten Gebrauch von allen möglichen Gerüsten machen, die aus manchem bestehen, was wir selbst geschaffen haben, und manchem, das von unseren Vorläufern stammt. Solche Gerüste können uns motivieren und uns helfen, das Terrain unseres eigenen Geistes und Körpers kennenzulernen und zu verstehen und auch deren Beziehung zu dem Bereich, den wir die Welt nennen. Doch an einem bestimmten Punkt werden wir das Gerüst transzendieren müssen, jene Plattformen, die wir als Aussichtspunkte errichtet haben; wir müssen über die von uns selbst erdachten und die ererbten Modelle hinausgehen zur direkten Erfahrung dessen, worauf die Anleitungen, Worte und Konzepte verweisen. Von seltenen Ausnahmen einmal abgesehen, wird die bloße Tatsache, das jemand sich gelegentlich oder sogar über Jahre hinweg regelmäßig „zum Meditieren“ hinsetzt, allein wahrscheinlich noch nicht zu Einsicht, Transformation und Befreiung führen, auch wenn dieser bloße Impuls zu meditieren von unschätzbarem Wert ist und der Glaube an sich selbst wesentlich für jemanden ist, der sich auf dieses Abenteuer einlassen will. In aller Regel brauchen unsere Bemühungen jedoch einen Kontext, ohne daß wir uns allerdings in die Geschichten verstricken, die solche Bezugsrahmen und Kontexte im allgemeinen beinhalten. Zu diesen meditativen Erzählungen gehören die Vorstellungen von einem festgelegten Ziel. Was die Meditation angeht, haben wir bereits durch unsere Betonung des gegenwärtigen Augenblicks sowie der Erkenntnis, daß alles bereits hier ist und es keinen „Ort“ gibt, zu dem wir hingehen müßten, deutlich gemacht, daß die Reise selbst das Wichtigste ist, so klischeehaft das auch klingen mag. Der Bestimmungsort ist in einem ganz realen Sinne immer „hier“, genauso wie das, was die Naturwissenschaft entdecken kann, immer schon hier ist, noch bevor es gesehen, erkannt, beschrieben, getestet, bestätigt und verstanden werden kann. Erinnern Sie sich daran, daß Michelangelo behauptete, er entferne von einem Marmorblock nur das, was unnötig sei, um dadurch die Statue zu offenbaren, die er mit seinem inneren Auge des Künstlers bereits vor sich sähe und die in gewissem Sinne von Anfang an dagewesen sei. Doch ohne wirkliche Arbeit bleibt das, was im Bereich unseres eigenen Herzens und Geistes bereits da sein mag und der Enthüllung harrt, undurchsichtig, und wir können es nicht gebrauchen, auch wenn es schon hier ist. Es ist nur als Potential hier. Damit es offenbart werden kann, müssen wir an einem Prozeß der Enthüllung teilnehmen und bereit sein, uns in diesem Prozeß wiederum selbst verwandeln zu lassen. Aus diesem Grund ist es zweifellos hilfreich, wenn wir eine Karte des Terrains besitzen, das wir betreten werden, sobald wir zu meditieren beginnen. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, auch wenn dies mancher ebenfalls für ein Klischee halten mag, daß die Landkarte nicht das Gebiet ist. Das Gebiet der inneren und äußeren Landschaften unserer Erfahrung als menschliche Wesen und unseres Geistes scheint praktisch grenzenlos zu sein. Ohne eine Landkarte, die uns bei unserer Meditationspraxis als Orientierungshilfe dient, könnte es geschehen, daß wir tage- oder auch jahrzehntelang im Kreis herumwandern, ohne jemals Momente der Klarheit, des 72
Friedens oder der Freiheit von den uns bedrückenden Ideen, Meinungen und Begierden zu schmecken. Ohne eine Karte zur Orientierung könnten wir uns in diese Dinge verstricken, vielleicht weil wir die Verheißung eines ganz bestimmten Ergebnisses idealisieren, uns in Illusionen und Selbsttäuschungen über etwas zu „Erlangendes“ verfangen, über das Erlangen von Klarheit oder Frieden oder Freiheit, da es sich doch ganz so anhört, als gäbe es tatsächlich einen ganz besonderen Ort oder einen besonderen Zustand, den man erreichten könnte. Es gibt sie, und es gibt sie nicht. Das ist der Grund, warum wir eine Karte brauchen und warum wir den Anleitungen jener folgen müssen, die uns vorangegangen sind, auch wenn oder gerade deshalb weil, wie wir im weiteren noch genauer sehen werden, gerade manche dieser Anleitungen behaupten, daß es keine Karte, keine Richtung, keine Vision, keine Transformation, keine Verwirklichung und nichts zu verwirklichen gäbe. Außerdem – und das mag sich seltsam anhören – muß unsere Motivation für die Übung ebenfalls in die Gleichung eingehen, damit wir nicht aufgrund einer aggressiven, erfolgsorientierten, suchenden Einstellung in die Irre gehen, einer Einstellung, die uns selbst und anderen im Verlauf des Weges schaden kann. Sind Sie nun einigermaßen verwirrt? Macht nichts. Im Moment genügt es, wenn wir sagen, daß es Ihnen wahrscheinlich eine Hilfe ist, wenn Sie schon etwas über den Weg, den Sie beschreiten werden, und seine Wechselfälle wissen. Dazu haben wir die Berichte jener zur Hand, die den Weg in der Vergangenheit beschritten und so genau nachgezeichnet haben, wie es ihnen nach ihren eigenen kurzen Begegnungen mit dem Unendlichen möglich war. Sie sind ebenso hilfreich wie das, was andere über ihre Routen beim Aufstieg auf den Mount Everest zu berichten haben; wir brauchen uns bei einem Aufstieg also nicht allein auf unser Glück, unsere guten Absichten und unser eigenes Urteilsvermögen zu verlassen. Es ist nicht nur hilfreich, sondern vielleicht lebenswichtig, gut ausgerüstet zu sein, nicht nur mit Bergsteigerausrüstung, sondern auch mit Informationen und Wissen, die aus der Erfahrung anderer stammen, mit Karten und, darüber hinaus – in dem Maße, in dem sie übertragbar ist, was sie nicht ist, aber doch erahnbar – ausgerüstet mit der uns angeborenen, aber auch der von anderen übermittelten Weisheit. Ansonsten geschieht es nur allzuleicht, daß wir uns selber in die Irre führen und auf dem Berg sterben – unnötigerweise. Es ist schon mit all den uns stützenden Gerüsten schwer genug, am Leben zu bleiben, und es ist wichtig, daß Sie nicht über all den Details der Wegbeschreibung und des Überlebens vergessen, die ehrfurchtgebietende Schönheit und Präsenz des Berges und Ihre eigene Schönheit in vollen Zügen zu genießen. Selbst wenn Sie sich verirren, ist das nicht unbedingt ein Problem. Das mag sogar ein wichtiger Teil der Reise sein, und es kann selbst dann passieren, wenn Sie die besten Landkarten besitzen. Sich zu verirren und nicht mehr zu wissen, wo es langgeht, ja selbst Fehler zu machen, das gehört einfach alles zum Lernen. Auf diese Weise eignen wir uns das Terrain selbst an, so lernen wir es genau und aus erster Hand kennen. Zur Meditationspraxis brauchen wir also bestimmte Gerüste – besonders am Anfang, in gewissem Ausmaß aber eigentlich immer –, nur daß uns diese schließlich so sehr zur zweiten Natur werden können, daß kein „Wille“, kein „Versuchen“ und keine „Erinnerungen“ mehr nötig sind. Diese Gerüste haben die Form von Meditationsanleitungen und bestimmten Methoden und Techniken. Zu diesen Gerüsten 73
gehört auch ein größerer Kontext, in dem man bereit ist, sich auf solch ein seltsames lebenslanges Abenteuer einzulassen, darauf, seine Fähigkeit zum Verweilen in Stille auszubilden, zur tiefen Erkundung der Natur unseres eigenen Geistes und zur Verwirklichung der befreienden Geräumigkeit des Gewahrseins in ebendiesem Moment und in allen Momenten, die sich uns präsentieren. So wie wir ein Gerüst brauchen, um ein Haus bauen zu können, so brauchten auch Michelangelo und seine Gesellen ein Gerüst, um die Fresken an der Decke der Sixtinischen Kapelle malen zu können, und genauso brauchen auch wir eine Art von Gerüst, von dem aus wir Zugang zur Essenz dieser inneren Arbeit finden, genau an der Schwelle zu dieser Einatmung, dieser Ausatmung, diesem Körper, diesem Augenblick. Doch wie das Gerüst, das niemals Teil der Essenz unseres Unterfangens war, nicht mehr benötigt und abgebaut wird, wenn das Haus errichtet oder die Decke bemalt ist, so ist es auch bei der Meditation: Das Gerüst der Anleitungen und Rahmenbedingungen wird wieder abgebaut, ja es demontiert sich quasi von selbst, und nur die ungreifbare, wortlose Essenz bleibt zurück. Diese Essenz ist das Wachsein selbst, das jenseits und unterhalb davon liegt, noch vor jedem Auftauchen von Denken. Was die Sache interessant macht, ist, daß wir das meditative Gerüst in jedem einzelnen Moment brauchen, daß wir es aber ebenso in jedem einzelnen Moment demontieren müssen, nicht erst später, wenn irgendein großes Werk wie das Ausmalen des Sixtinischen Kapelle getan ist, sondern Augenblick für Augenblick. Das erreichen wir, indem wir uns vor Augen halten, daß es nur ein Gerüst ist, wie notwendig und wichtig es auch sein mag, und uns nicht daran klammern. Wir lassen von Moment zu Moment zu, daß es aufgebaut und demontiert wird. Was die Sixtinische Kapelle angeht, mag es nötig sein, das Gerüst aufzubewahren oder ein neues herzustellen, damit im Laufe der Jahre Reparaturen oder Feinabstimmungen vorgenommen werden können. Doch im Falle der Meditation ist das Meisterwerk immer im Entstehen begriffen und gleichzeitig in jedem Moment bereits vollendet – wie das Leben selbst. Eine angemessene Unterweisung kann also dazu verhelfen, die Meditation von Beginn an als ein Sprungbrett anzusehen, von dem aus wir in das eintauchen können, was die Tibeter Nichtmeditation nennen, auch wenn dies anfangs nur ein geheimnisvoll undurchschaubares Hilfsmittel sein mag, eine bloße Andeutung, die wir für später im Gedächtnis behalten. Denn allein schon der Gedanke, daß Sie meditieren, ist ein Gerüst. Dieses Gerüst hilft bei der Ausrichtung und Aufrechterhaltung Ihrer Praxis, aber um richtig üben zu können, ist es auch wichtig, daß wir es als Gerüst durchschauen. Das Ausrichten und das Aufrechterhalten wirken von Moment zu Moment, während Sie sitzen, während Sie in Gewahrsein verweilen, während Sie auf irgendeine Weise praktizieren, und zwar jenseits der Reichweite begrifflichen Denkens und seines unablässigen Ausspinnens von Geschichten, selbst der Geschichten über die Meditation uns Sie selbst. Dieses Buch und alle Bücher über Meditation, alle Meditationslehren, Übertragungslinien und Traditionen, wie ehrwürdig sie auch sein mögen, alle CDs und Kassetten und Hilfsmittel für die Praxis sind im Grunde auch nichts weiter als Gerüste, oder, um es mit einem anderen Bild zu verdeutlichen, Finger, die auf den Mond weisen, die uns nicht nur daran erinnern, wohin wir schauen sollten, sondern auch daran, daß es da überhaupt etwas zu sehen gibt. Wir können uns auf das Gerüst oder den zeigenden Finger fixieren, oder unseren Fokus verändern, um unmittelbar das wahrzunehmen, 74
worauf hingewiesen wird. Wir haben immer die Wahl. Es ist ungemein wichtig, daß wir dies von Beginn unserer Begegnung mit der Meditation an wissen und uns daran erinnern, damit wir uns nicht in das rein Begriffliche verlieren, uns an ein Ideal, einen bestimmten Lehrer oder eine besondere Lehre klammern, wie verlockend und befriedigend das auch zu sein scheint. Wenn wir auf diesem Gebiet nicht achtgeben, laufen wir Gefahr, eine überzeugende Geschichte zu erfinden, warum die Meditation wichtig für uns ist, eine Geschichte, auf die wir dann selber hereinfallen, statt die Essenz dessen zu erkennen, wer und was wir in dem einzigen Moment sind, den wir dazu zur Verfügung haben, und das ist niemals ein anderer Moment.
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Ethik und Karma Jedes Gerüst braucht ein stabiles Fundament. Es ist nicht klug, ein Gerüst auf Treibsand oder auf einem Grund zu errichten, der leicht zu Schlamm wird. Die Fundamente der Achtsamkeitspraxis, ja jeder meditativen Forschung und Erkundung, sind Ethik und Moral und vor allem die Motivation des Nichtverletzens. Warum? Weil Sie nicht ernsthaft hoffen können, Stille und Gelassenheit in Geist und Körper zu erfahren oder diese Eigenschaften in der Welt verkörpern und umsetzen zu können, wenn Ihr Tun ständig das Instrument, mit dessen Hilfe Sie sehen, nämlich Ihren eigenen Geist, aufrührt und destabilisiert. Und noch viel weniger können Sie hoffen, mit einem derartigen Geist als Instrument des Wissens die Wirklichkeit der Dinge, wie sie unter der Oberfläche ihrer Erscheinung tatsächlich sind, wahrnehmen zu können. Wir alle wissen, daß die Konsequenzen unweigerlich destruktiv sind, wenn wir uns in irgendeiner Weise vergehen, wenn wir unehrlich sind, lügen, stehlen, töten und anderen schaden, wozu auch sexuelles Fehlverhalten gehört, wenn wir andere verleumden, wenn wir unseren Geist stimulieren, abstumpfen oder verschmutzen, indem wir aus unserem Unglücklichsein und dem Wunsch, eine Linderung unseres Leidens zu erfahren, zu Alkohol und Drogen greifen. Dann fügen wir uns und anderen, ob uns das bewußt ist oder nicht, ob es uns kümmert oder nicht, unsagbaren Schaden zu. Zu den Konsequenzen eines solchen Tuns gehört die Gewißheit, daß diese Substanzen unseren Geist umnebeln und ihn mit allen möglichen Energien anfüllen, welche Ruhe, Stabilität und Klarheit, aber auch die lebendige, in die Tiefe gehende Wahrnehmung, die mit einer solchen Klarheit einhergeht, verhindern. Sie haben auch negative Auswirkungen auf den Körper. Sie halten ihn in einem chronisch verkrampften, angespannten und defensiven Zustand, die Auswirkungen von Zorn, Angst, Erregung, Verwirrung und letztlich von Isolation und wahrscheinlich auch von Kummer und Bedauern. Schon allein deshalb ist es wichtig, daß wir untersuchen, wie wir unser Leben tatsächlich leben, was wir wirklich tun, wie unser tatsächliches Verhalten aussieht. Es ist wichtig, daß wir uns bewußt machen, welche Auswirkungen unsere Gedanken, Worte und Taten in der Welt und in unserem Herzen haben. Wenn wir in unserem Leben ständig Erregung erzeugen und uns selbst und anderen Schaden zufügen, dann werden wir dieser Erregung und diesen Verletzungen in unserer Meditationspraxis erneut begegnen, weil wir genau das die ganze Zeit über nähren. Schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß wir solche schädlichen Neigungen nicht mehr mit uns herumtragen sollten, wenn wir auf ein gewisses Maß an Frieden in Herz und Geist hoffen. Allein indem wir die Absicht hegen, solche Impulse zu erkennen und von ihnen Abstand zu nehmen, können wir beginnen, von ungesunden und destruktiven Bewußtseinszuständen, die der Buddhismus zutreffend „nichtförderliche“ Zustände und Taten nennt, zu gesünderen, förderlicheren, weniger vernebelten Zuständen von Geist und Körper überzugehen. Großzügigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Freundlichkeit, Mitgefühl, Dankbarkeit, Freude am Glück anderer, Offenherzigkeit, Akzeptanz und Gleichmut sind Eigenschaften des Geistes und Herzens, die Wohlergehen und Klarheit in uns selbst fördern und höchst wohltuende Wirkungen auf die Welt haben. Sie sind die Grundlage eines ethischen und moralischen Lebens. 76
Wenn wir habgierig sind und den Versuch machen, uns auf welcher Ebene auch immer etwas anzueignen, was nicht freiwillig gegeben wurde, wenn wir nicht vertrauenswürdig sind, sondern unehrlich, unethisch und unmoralisch, grausam und voller böser Absichten, zerrissen und getrieben von Egoismus auf Kosten anderer, von Zorn und Haß, und wenn wir verstrickt sind in Verwirrung, Erregung und Sucht, dann sind das Eigenschaften des Geistes, die es beinahe unmöglich machen, ein Leben voll innerer Zufriedenheit, Gleichmut und Frieden zu führen, ganz zu schweigen von deren negativen Auswirkungen auf die Welt. Doch Achtsamkeit erlaubt es uns, mit solchen Bewußtseinszuständen zu arbeiten, statt sie einfach zu leugnen, zu verdrängen oder weiterhin auszuleben. Wenn wir von solchen Energien heimgesucht werden, können wir sie tatsächlich mit Gewahrsein durchdringen, statt uns völlig von ihnen aufzehren zu lassen. Wir können sie untersuchen und von ihnen etwas über die Quellen unseres Leidens lernen. Wir können die tatsächlichen unmittelbaren Auswirkungen unserer Einstellungen und Taten auf uns selbst und auf andere fühlen und sehen, und wir können mit der Möglichkeit experimentieren, diese Bewußtseinszustände zu unseren Meditationslehrern werden zu lassen, auf daß sie uns zeigen, wie wir leben oder nicht leben sollten, wo das Glück zu finden ist und wo es ganz bestimmt nicht zu finden ist. Das, was man im Osten Karma nennt, ist im Grunde das Gesetz, dem zufolge unser Tun in der Gegenwart letztlich das beeinflußt, was uns und anderen im weiteren Verlauf in Zeit und Raum widerfährt. Das karmische Gesetz, das ein Gesetz von Ursache und Wirkung ist, besagt, daß alles, was wir in der Vergangenheit getan haben, unausweichliche Konsequenzen im Hier und Jetzt haben wird – einige davon sind subtil, andere reichlich drastisch, einige nachvollziehbar, andere unverständlich und manche kaum wahrnehmbar. Und sie alle werden moduliert von unserer ursprünglichen Motivation und Absicht, der Qualität des Bewußtseins, die zu dem Verhalten selbst geführt hat. Dazu gehören natürlich auch Fälle, in denen wir wie so oft nicht die geringste Ahnung haben, welche Motivation hinter dem steht, was wir gesagt oder getan haben, weil wir in jenem Moment dermaßen erregt waren, daß wir buchstäblich nicht mehr wußten, was wir taten. Die Vergangenheit mag hinter uns liegen, aber wir tragen die angesammelten Konsequenzen dessen, was bereits geschehen ist, mit uns herum. Dazu gehören vielleicht Bedauern über vergangene Entscheidungen und Taten sowie Ärger über Dinge, die uns widerfahren sind und die wir nicht verhindern oder kontrollieren konnten. Aber mit der nötigen Bemühung und einem angemessenen Rüstzeug und Gerüst können wir unser Karma auch verändern, indem wir so offen und achtsam wie möglich an den jeweiligen Augenblick herangehen und die Absicht entwickeln, von eher schädlichen und vielleicht sogar destruktiven zu eher förderlichen Geisteszuständen überzugehen. Wir verändern unser Karma bereits in positiver Weise, wenn wir Gewahrsein in unsere Motivation einbringen, in die Motivation, die unserem äußeren Handeln zugrunde liegt, aber auch dem inneren Handeln, das in Körper und Geist durch Gedanken und Rede zum Ausdruck kommt. Indem wir ein solches Gewahrsein der Motivation über eine gewissen Zeitraum aufrechterhalten, indem wir wohlwollende Beweggründe nähren und uns reflexhafter Reaktionen aus nichtförderlichen Motiven oder Unachtsamkeit heraus nach Möglichkeit enthalten, indem wir uns also einem innerlich wie äußerlich ethischen und moralischen 77
Lebenswandel von Moment zu Moment und nicht nur im Prinzip verpflichten, bereiten wir den Boden für tiefe Transformation und Heilung. Ohne das ethische Fundament ist es sehr unwahrscheinlich, daß Transformation und Heilung stattfinden können. Der Geist ist dann einfach zu aufgewühlt, zu sehr in Konditionierungen, in Selbsttäuschung und in destruktive Emotionen verstrickt, um einen Nährboden für die Kultivierung dessen zu bieten, was das Tiefste und Beste und Gesündeste in uns ist. Letztlich ist ein jeder von uns moralisch ebenso für sein Handeln und dessen Konsequenzen verantwortlich wie rechtlich. In Ethik und Moral geht es im Grunde um die Art und Weise, wie wir von Tag zu Tag und von Moment zu Moment unser Leben leben und wie unsere grundlegende Einstellung gegenüber jenen Neigungen in unserem eigenen Geist ist, die uns zu Habgier, Haß und Verblendung veranlassen, wenn doch das, was wir am nötigsten brauchen, eigentlich darin besteht, die tieferen Potentiale unseres Herzens anzuzapfen: Freundlichkeit, Großzügigkeit, Mitgefühl und Wohlwollen. Das sind nicht nur sentimentale Gefühle, derer man sich vielleicht am Heiligabend befleißigt, sondern es ist tatsächlich eine Art, zu leben, eine Praxis an sich und das Fundament für Heilung, für Transformation und die Entfaltung der Möglichkeiten, die uns durch Meditation und Achtsamkeit eröffnet werden. Wir sollten allerdings nicht außer acht lassen, daß es zwar, gut ist, dieses Thema in der Meditationspraxis schon zu Beginn anzusprechen, wir aber allzuleicht auch Gefahr laufen, uns in einer Art moralisierender Rhetorik zu ergehen, die sich sehr nach Predigen anhört. Das führt unvermeidlich zu der berechtigten Frage, ob die Person, die solche Werte predigt, auch selbst danach lebt. Es gab ja genug Fälle, auch in einigen Meditationszentren, in denen die Verantwortlichen – religiöse Figuren, Politiker, Therapeuten, Ärzte oder Rechtsanwälte – ihre eigenen Regeln gebrochen und gegen den Ehrenkodex ihres Berufsstandes verstoßen haben. In der Stress Reduction Clinic halten wir es für effektiver und authentischer, wenn wir uns, als wesentlicher Teil unserer eigenen Achtsamkeitspraxis zuerst so gut wie möglich um die Verkörperung von offenherziger Präsenz, Vertrauenswürdigkeit, Großzügigkeit und Freundlichkeit bemühen sowie darum, wie wir leben und lehren und uns verhalten, und die ausführlichere Diskussion moralischer und ethischer Fragen den Gesprächen überlassen, in denen die Menschen sich über ihre Erfahrungen mit der Meditationspraxis und damit dem Leben selbst austauschen. Die Meditationsanleitungen selbst bestärken das Nichtverletzen und das klare Sehen von reaktiven und destruktiven Bewußtseins-zuständen, und wenn wir uns im Rahmen der Praxis gewissenhaft an diese Anleitungen halten, dann schult uns das zu größerer Bewußtheit über den Nutzen bestimmter Gedankenabläufe und Handlungen sowie über die Gefahren anderer. Ethik und Moral werden eher dadurch gesehen, erkannt und anerkannt, daß man sie lebt, als daß man mit noch so schönen Worten darüber spricht. Und in gewisser Weise sind sie, wie Sie zweifellos selber sehen, fühlen und erfahren werden, der Kultivierung von Achtsamkeit implizit, weil wir darin aus erster Hand die inneren und äußeren Auswirkungen unserer Taten und Worte, ja selbst unserer Gedanken und unseres Gesichtsausdrucks sehen und spüren, und zwar buchstäblich von Moment zu Moment, von Atemzug zu Atemzug und von Tag zu Tag.
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Achtsamkeit Was ist Achtsamkeit denn nun eigentlich? Dem buddhistischen Gelehrten und Mönch Nyanaponika Thera zufolge ist Achtsamkeit „der unfehlbare Hauptschlüssel zum Erkennen des Geistes und damit der Ausgangspunkt; das perfekte Werkzeug zur Gestaltung des Geistes und damit der Brennpunkt; und die erhabene Manifestation der verwirklichten Freiheit des Geistes und damit der Höhepunkt“. Nicht schlecht für etwas, was im Grunde auf bloßes Aufmerksamsein hinausläuft. Man kann sich Achtsamkeit als nichturteilendes Gewahrsein von Moment zu Moment vorstellen, ein Gewahrsein, das kultiviert wird, indem man auf eine bestimmte Weise aufmerksam ist, das heißt im gegenwärtigen Augenblick und so wenig reaktiv, so wenig urteilend und so offenherzig wie möglich. Wenn sie willentlich kultiviert wird, nennt man sie manchmal auch absichtliche Achtsamkeit. Wenn sie spontan entsteht, wie es bei fortlaufender absichtlicher Kultivierung immer häufiger geschieht, dann nennt man sie manchmal mühelose Achtsamkeit. Letztlich ist Achtsamkeit, wie immer wir dazu kommen, einfach Achtsamkeit. Von all den meditativen Weisheitspraktiken, die sich in den traditionellen Kulturen in der ganzen Welt entwickelt haben, ist Achtsamkeit vielleicht die grundlegendste, die einflußreichste, die universellste, eine der am leichtesten zu begreifende und zu praktizierende und wahrscheinlich die heutzutage am dringendsten gebrauchte. Denn Achtsamkeit ist nichts anderes als die Fähigkeit, die wir alle bereits besitzen, um zu wissen, was geschieht, während es geschieht. Der Vipassanā-Lehrer Joseph Goldstein beschreibt sie als „die Eigenschaft des Geistes, die das, was präsent ist, ohne Urteil und ohne Einmischung bemerkt. Sie ist wie ein Spiegel, der deutlich das widerspiegelt, was vor ihm auftaucht.“ Larry Rosenberg, ein weiterer Vipassanā-Lehrer, nennt Achtsamkeit „die beobachtende Kraft des Geistes, eine Kraft, die je nach der Reife des Übenden variiert“. Doch, so könnten wir hinzufügen, wenn Achtsamkeit ein Spiegel ist, dann ist sie ein Spiegel, der auf nichtbegriffliche Weise weiß, was in sein Blickfeld kommt. Und da sie nicht zweidimensional ist, könnten wir sagen, daß sie eher eine Art elektromagnetisches Feld ist, ein Feld des Wissens, ein Feld des Gewahrseins, ein Feld der Leere in dem Sinne, in dem ein Spiegel im Grunde leer ist und deshalb alles „enthalten“ kann, was vor ihm auftaucht. Auch wenn Achtsamkeit eine dem Geist innewohnende Eigenschaft ist, ist sie doch eine Eigenschaft, die durch systematische Übung noch verfeinert werden kann. Und bei den meisten von uns muß sie durch Übung verfeinert werden. Wir haben ja bereits darauf hingewiesen, wie wenig wir in Form sind, was die Ausübung der uns angeborenen Fähigkeit der Aufmerksamkeit angeht. Und genau das ist es, worum es bei der Meditation geht ... die systematische und willentliche Kultivierung von achtsamer Gegenwärtigkeit und dadurch von Weisheit, Mitgefühl und anderen Eigenschaften von Herz und Geist, die uns dazu verhelfen, uns aus den Fesseln unserer eigenen hartnäckigen Blindheit und unserer Verblendungen zu befreien. Der Zustand der Aufmerksamkeit, den wir Achtsamkeit nennen, wurde von 79
Nyanaponika Thera als „das Herz buddhistischer Meditation“ beschrieben. Er ist zentral für alle Lehren Buddhas und alle buddhistischen Traditionen, von den vielen Richtungen und Strömungen des Zen in China, Korea, Japan und Vietnam über die verschiedenen Schulen des Vipassanā oder der Einsichtsmeditation in der TheravādaTradition von Myanmar (Birma), Kambodscha, Thailand und Sri Lanka bis hin zu den Schulen des tibetischen Buddhismus oder Vajrayana in Indien, Tibet, Nepal, Ladakh, Bhutan, der Mongolei und Rußland. Heutzutage haben fast alle diese Schulen und die dazugehörenden Traditionen feste Wurzeln in den abendländischen Kulturen geschlagen, wo sie gegenwärtig eine neue Blüte erleben. Diese Ankunft des Buddhismus im Westen während der vergangenen Jahrzehnte ist ein bemerkenswertes historisches Beispiel für das Aufblühen des Buddhismus, der in den Jahrhunderten nach Buddhas Tod von Indien aus ganz Asien in seinen verschiedenen Erscheinungsformen erfaßte und in letzter Zeit auch wieder auf Indien zurückwirkt, wo er für einige Jahrhunderte vom Hinduismus und vom Islam verdrängt worden war. Präzise formuliert, führt die Anwendung von Achtsamkeit zu Gewahr-sein. Je stärker und stabiler die Achtsamkeit ist, desto größer sind das Gewahrsein und die Einsicht, die sich daraus ergeben mögen. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe Achtsamkeit und Gewahr-sein jedoch oft als Synonyme verwendet, und der Einfachheit halber werden auch wir uns hier an diese Konvention halten. Und da Aufmerksamsein oder Gewahrsein nichts speziell Buddhistisches und auch nichts dezidiert Östliches oder Westliches, Nördliches oder Südliches sind, ist die Essenz der Achtsamkeit universell. Sie hat mehr zu tun mit der Natur des menschlichen Geistes als mit irgendeiner Ideologie, einem Glauben oder einer Kultur. Es geht dabei weniger um eine bestimmte Religion, Philosophie oder Weltanschauung, als vielmehr um unsere Fähigkeit, zu wissen, um die unsere kognitiven Fähigkeiten umfassende „Sinneswahrnehmung“. Wenn wir zum Gleichnis des Spiegels zurückkehren, so gehört es zu den Kardinaltugenden eines jeden Spiegels, sei er groß oder klein, daß er eine jede Landschaft enthalten kann, je nachdem, wie man ihn dreht, und ob er von Staub bedeckt oder durch Alter blind geworden ist. Es besteht keine Notwendigkeit, den Spiegel der Achtsamkeit zu verankern, so daß er unter Ausschluß anderer gleichermaßen einleuchtender Landschaften nur eine ganz bestimmte Ansicht widerspiegeln kann. Es gibt viele Möglichkeiten, zu wissen. Achtsamkeit umfängt und beinhaltet sie alle, so wie wir auch sagen könnten, daß es nicht viele Wahrheiten gibt, sondern nur eine Wahrheit, aber viele verschiedene Weisen, sie entsprechend der Fülle kultureller und geographischer Bedingungen in der Unendlichkeit von Zeit und Raum zum Ausdruck zu bringen. Die Metapher vom Spiegel hat in mancher Hinsicht Grenzen, ist aber auch außerordentlich hilfreich. Denn ein reflektiertes Bild ist immer spiegelverkehrt. Wenn Sie Ihr Gesicht im Spiegel ansehen, sehen Sie nicht das Gesicht, das Sie der Welt präsentieren, sondern dessen Spiegelbild, in dem links und rechts vertauscht sind. Da der Spiegel eine Oberfläche ist, reflektiert er die Dinge nicht genau so, wie sie sind, sondern erzeugt nur ein illusionäres Bild von ihnen. Achtsamkeit wird – wenn vielleicht auch nicht unter diesem Namen, so doch von ihrer Qualität her – in praktisch allen modernen und alten Kulturen geschätzt. Ja, wir 80
könnten tatsächlich sagen, daß unser Leben und unsere Präsenz in dieser Welt von der Klarheit unseres Geistes als einem Spiegel abhängig gewesen sind, von seiner fein abgestimmten Kapazität, die Dinge, so wie sie sind, mit großer Genauigkeit widerzuspiegeln, zu enthalten und ihnen zu begegnen. So mußten zum Beispiel unsere frühen Vorfahren praktisch von Moment zu Moment ihre augenblickliche Situation korrekt einschätzen. Dieses Vermögen konnte über Leben und Tod eines Individuums oder gar einer ganzen Gemeinschaft entscheiden. Damit ist jeder Mensch, der heute auf der Erde lebt, ein Abkömmling ganzer Generationen von Überlebenskünstlern. Es gab ganz klar einen evolutionären Vorteil für Menschen mit einem Geist, der das Geschehen in Realzeit zu verarbeiten und augenblicklich zu wissen vermochte, daß das, was er wußte, als Handlungsgrundlage verläßlich war. Jene Menschen, deren Spiegel vielleicht nicht ganz klar waren, vermochten vielleicht keine Entscheidungen zu treffen, die ihr Überleben so lange sicherte, daß sie ihr Erbgut weitergeben konnten. Bei der evolutionären Selektion gab es also einen definitiven Vorteil für einen klaren Spiegel, der all die für das Überleben wichtigen Botschaften, die durch die Sinnestore hereinkamen, augenblicklich erkennen und genau reflektieren konnte. Wir Heutigen sind die Erben dieses sich unablässig selbstverfeinernden Auswahlprozesses. In diesem Sinne sind wir alle überdurchschnittlich begabt – weit über dem Durchschnitt. Wir sind, wenn man es sich genau überlegt, in der Tat geradezu wunderbare Wesen. Über die Jahrhunderte ist das universale, angeborene Potential zu ungemein fein abgestimmtem Gewahrsein und zu Einsicht erkundet, kartographisch dargestellt, bewahrt, entwickelt und verfeinert worden – allerdings im Laufe der Evolution nicht mehr in den prähistorischen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften, sondern vielmehr in Klöstern. Diese mit voller Absicht von der Welt abgeschiedenen Umgebungen entstanden im frühen Altertum und haben Jahrtausende überlebt. In dieser Umgebung entsagten die Menschen weltlichen Belangen, um ihre Energien um so effektiver der Kultivierung, Verfeinerung und Vertiefung der Achtsamkeit widmen zu können und die Achtsamkeit dazu zu benutzen, die Natur des menschlichen Geistes mit der Absicht zu erforschen, zu einer vollen und verkörperten Erkenntnis dessen zu gelangen, was es bedeutet, ganz und gar menschlich zu sein und freizukommen aus dem Gefängnis notorischer mentaler Widrigkeiten und Leiden. Diese Klöster waren wahrhafte Laboratorien für die Erforschung des Geistes, und die Mönche, die darin lebten und heute noch leben, waren bei dieser fortlaufenden Forschungsarbeit sowohl die Wissenschaftler selbst als auch das Objekt ihrer Forschungstätigkeit. Diese Mönche und Nonnen und gelegentlich auch Laien orientierten sich am Beispiel Buddhas und seiner Lehren. Wie wir gesehen haben, war der Buddha ein Mensch, der es aus verschiedenen karmischen Gründen auf sich nahm, sich hinzusetzen und seine Aufmerksamkeit auf die zentrale Frage des Leidens zu richten. Er erforschte dabei die Natur des Geistes selbst sowie das Potential zur Befreiung von Krankheit, Alter und Tod und von dem, was man das grundlegende Un-Wohlsein des Menschen nennen könnte. Er tat das nicht, indem er diese Dinge leugnete oder versuchte, sie irgendwie zu umgehen, sondern indem er sich in die direkte Erforschung der menschlichen Erfahrung an sich vertiefte. Als Instrument gebrauchte er dabei die Fähigkeit, die wir alle mit ihm gemeinsam 81
haben, allerdings selten im gleichen Maße entwickeln – das Vermögen, alle Dinge erst einmal mit unerschütterlicher Aufmerksamkeit und vollem Gewahrsein anzusehen, sowie das Potential zu tiefer und klärender Einsicht, welches sich aus dieser Aufmerksamkeit ergibt. Wenn man ihn fragte, beschrieb er sich selbst nicht als einen Gott, zu dem ihn einige Menschen, die von seiner Weisheit, seiner offenkundigen Ausstrahlung und seiner schieren Präsenz beeindruckt waren, machen, sondern einfach als einen „Erwachten“. Diese Wachheit war eine unmittelbare Konsequenz seiner tiefen Einsicht in die menschliche Befindlichkeit und das Leiden sowie seiner Entdeckung, daß es möglich ist, aus dem anscheinend endlosen Kreislauf der Selbsttäuschung, Fehlwahrnehmung und geistigen Verwirrung auszubrechen und zu der Freiheit, dem Gleichmut und der Weisheit zu gelangen, die uns auf einer tieferen Ebene bereits innewohnen. Immer und immer wieder werden wir zur Achtsamkeit zurückkehren, dazu, was Achtsamkeit ist sowie zu den unterschiedlichen formellen und informellen Weisen, sie zu kultivieren, in der Hoffnung, daß wir uns nicht in unsere Geschichten darüber verstricken, auch wenn wir sie unvermeidlicherweise erzeugen. Wir werden die Achtsamkeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, werden uns in ihre verschiedenen Energien und Eigenschaften einfühlen und werden untersuchen, in welcher Weise sie vielleicht auf allen Ebenen für spezifische Aspekte unseres Lebens relevant ist, für unser kurzfristiges und langfristiges Wohlergehen wie für unser Glück. Zuerst werden wir uns genauer ansehen, warum das Aufmerksamsein für unser Wohlergehen von so wesentlicher Bedeutung ist und was für eine Rolle es im größeren Rahmen der Heilung und Transformation unseres Lebens und der Welt spielt.
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Zweiter Teil
Die Macht der Aufmerksamkeit und das Un-Wohlsein der Welt Das Vermögen, eine wandernde Aufinerksamkeit willentlich zurückzubringen, wieder und immer wieder, ist die eigentliche Wurzel von Urteilskraft, Charakter und Wille. Niemand ist bei klarem Verstand, der dieses Vermögen nicht besitzt. Eine Erziehung, die dieses Vermögen ausbildet, wäre die Erziehung par excellence. Doch es ist leichter, dieses Ideal zu definieren, als praktische Anleitungen zu seiner Verwirklichung zu geben. WILLIAM JAMES, Die Prinzipien der Psychologie (1890)
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Warum ist Aufmerksamkeit so ungemein wichtig? Als William James die oben zitierte Passage schrieb, wußte er offensichtlich nichts von der Praxis der Achtsamkeit. Doch ich bin sicher, er wäre entzückt gewesen zu erfahren, daß es in der Tat eine Erziehung gibt, durch welche die Fähigkeit, eine wandernde Aufmerksamkeit immer wieder zurückzubringen, verstärkt wird. Denn genau das haben die buddhistischen Praktizierenden auf der Grundlage von Buddhas Lehren über Jahrtausende zu einer großen Kunst entwickelt, und diese Kunst ist reich an praktischen Anleitungen, um diese Art von Selbsterziehung zu bewerkstelligen. Obwohl William James das Fehlen von etwas beklagte, was in einer für ihn unzugänglichen Welt bereits existierte, hatte der Begründer der modernen amerikanischen Psychologie das Ausmaß des Problems bereits erkannt. Er wußte, wie stark die Neigung des Geistes ist, zu wandern, und von welch wesentlicher Bedeutung es ist, seine eigene Aufmerksamkeit im Zaum zu halten, wenn man ein Leben voller „Urteilskraft, Charakter und Willen“ führen will. Wir gebrauchen unsere Aufmerksamkeit nämlich dermaßen selektiv und zufällig, daß wir oft nicht sehen, was genau vor unserer Nase liegt, oder Geräusche nicht hören, die doch an unser Ohr dringen. Entsprechendes ließe sich von den anderen Sinnen sagen. Vielleicht ist Ihnen das ja selbst schon aufgefallen. Es passiert schnell, daß wir essen, ohne zu schmecken, den Duft der feuchten Erde nach einem Regenguß nicht wahrnehmen und sogar andere Menschen berühren, ohne uns der Gefühle bewußt zu sein, die wir aussenden. Über diese uns allen bekannten Fälle, in denen uns das entgeht, was wir mit unseren Augen, Ohren oder anderen Sinnen eigentlich hätten wahrnehmen können, sagen wir, wir hätten den Kontakt verloren. Wir benutzen den Kontakt, die Berührung, als eine Metapher für das In-Verbindung-Treten mit Hilfe unserer Sinne, weil die Welt durch all unsere Sinne buchstäblich mit uns in Kontakt tritt, durch die Augen, die Ohren, die Nase, die Zunge, den Körper und auch durch unseren Geist. Und trotzdem haben wir in vieler Hinsicht den Kontakt zur Welt verloren und wissen meist noch nicht einmal, daß das der Fall ist. Wenn wir dieses Phänomen untersuchen, indem wir einfach von Zeit zu Zeit unser inneres und äußeres Leben beobachten, dann wird bald deutlich, wie sehr wir den Kontakt verloren haben. Wir sind nicht in Berührung mit unseren Empfindungen und Wahrnehmungen, nicht mit unseren Impulsen und Gefühlen, nicht mit unseren Gedanken und nicht mit dem, was wir sagen, ja nicht einmal mit unserem Körper. Das liegt zumeist daran, daß wir völlig von anderen Dingen eingenommen sind. Wir machen uns ständig Sorgen, wir haben uns in unserem Geist und in Gedanken verloren; wir sind besessen von Vergangenheit oder Zukunft, vollkommen vereinnahmt von unseren Plänen und Hoffnungen, abgelenkt von unserer Sucht nach Unterhaltung, getrieben von unseren Erwartungen, Ängsten, Begierden des Augenblicks, auch wenn das alles vielleicht ziemlich unbewußt und gewohnheitsmäßig abläuft. Und deshalb haben wir zu einem erschütternden Maß den Kontakt zum gegenwärtigen Augenblick verloren. Und das beschränkt sich nicht nur darauf, daß wir Dinge nicht sehen, die vor unserer Nase liegen, Geräusche nicht hören, obwohl sie an unser Ohr dringen, und daß uns viel von der Welt des Geruchs, des Geschmacks und der Berührung entgeht, weil wir derart 84
voreingenommen und abgelenkt sind. Wie oft sind wir schon versehentlich gegen die Tür gelaufen, die wir gerade dabei waren zu öffnen, wie oft haben wir uns die Hand oder den Ellbogen an etwas gestoßen oder haben etwas fallen lassen, weil wir in dem Moment einfach nicht ganz „da“ waren und deshalb für diesen Moment auch den Kontakt zur räumlichen und zeitlichen Orientierung unseres Körpers verloren haben, die uns normalerweise mühelos gelingt. Und ist es nicht auch so, daß wir manchmal ebensosehr den Kontakt zu dem verloren haben, was wir die „äußere“ Welt nennen? Sind wir dessen gewahr, was für eine Wirkung wir auf andere Menschen haben? Sind wir nicht manchmal vollkommen abgeschnitten von dem, was ihnen wichtig ist, was sie gerade durchmachen und fühlen, selbst wenn es ihnen ins Gesicht geschrieben steht oder in ihrer Körpersprache zum Ausdruck kommt? Sind wir genügend bei Sinnen, um es überhaupt zu bemerken? Der einzige Weg, mit diesen Dingen in Berührung zu kommen, ist der unserer Sinne. Durch sie allein wissen wir um unsere innere Welt und auch um die äußere Landschaft, die wir „Welt“ nennen. Wir besitzen mehr Sinne, als wir glauben. Die Intuition ist eine Art von Sinn. Die Propriozeption, die „Eigenempfindung“ des Körpers, durch die wir Zustandsänderungen des Bewegungs- und Halteapparats wahrnehmen, ist ein Sinn; die Interozeption, durch die wir im „inneren Milieu“ entstehende Reize wahrnehmen, ist ebenfalls ein Sinn. Auch unseren Geist können wir als einen Sinn verstehen, und in der Tat gilt er ja im Buddhismus als die sechste Sinnespforte. Denn das meiste von dem, was wir von der inneren und der äußeren Landschaft wissen, wird durch die Verarbeitung im Geist komplettiert. Ohne den Geist würden uns auch unsere vollkommen intakten Sinne der Augen und Ohren, der Nase, Zunge und Haut kein besonders nützliches Bild von der Welt vermitteln, in der wir leben. Wir müssen wissen, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und berühren, und wir wissen es nur infolge der Interaktion des Sinnes mit dem, was wir den Geist nennen, jener geheimnisvollen wissenden Qualität des Bewußtseins, die das Denken beinhaltet, aber nicht auf bloßes Denken beschränkt ist. Darum könnten wir das Gewahrsein selbst unseren sechsten Sinn nennen, nicht nur den denkenden Geist. Gewahrsein und Geistessenz sind gewissermaßen dasselbe. Vieles von dem, was wir tatsächlich wissen, wissen wir auf nichtbegriffliche Weise. Denken und Erinnerung kommen ein wenig später, folgen dem anfänglichen Moment des reinen Sinneskontakts aber sehr schnell. Das Denken und die Erinnerung können sehr leicht auf unsere ursprüngliche Erfahrung abfärben und uns so von der reinen Erfahrung ablenken oder diese verzerren. Aus diesem Grund ziehen es Maler oft vor, sich erst einmal in ein neues Gemälde einzufühlen, statt es bloß aus dem Begrifflichen entstehen zu lassen. Das Begriffliche hat seinen Platz, aber es folgt oft erst auf jene, von ihm zuerst angesprochenen rohen Gefühle, die die Sinne dazu bewegen, frisch und unerwartet zu erwachen. Die nackte Wahrnehmung ist roh, elementar, vital und damit kreativ, imaginativ und enthüllend. Wenn unsere Sinne intakt sind, können wir mit ihnen und durch Gewahrsein selbst auf solche Weise aufmerksam sein. Das zu tun, heißt, lebendiger zu sein.
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Wie nun sollen wir diese neue Form des Betrachtungs-Hauses nennen, die in unserer Stadt eröffnet wurde, wo die Menschen still dasitzen und ihren Blick sich ergießen lassen, wie Licht, wie Antworten? RŪMĪ „KEIN PLATZ FÜR FORM“ (nach der englischen Übertragung von Coleman Barks) Wenn ich anderen Menschen etwas über die Bedeutung von Aufmerksamkeit für Gesundheit und Wohlergehen lehre, stelle ich ihnen ein nützliches und erhellendes Modell vor, das erstmals von dem Psychologen Gary Schwartz formuliert wurde, der die entscheidende Rolle der Aufmerksamkeit für Gesundheit und Krankheit hervorhebt. Bedenken Sie nur, was für Auswirkungen es hat, wenn wir nicht auf das achten, was unser Körper und unser Geist uns unablässig mitteilen. Natürlich können wir auch dann ziemlich lange über die Runden kommen - besonders wenn wir einigermaßen gesund sind -, wenn wir auf all das nicht achten. Zumindest scheint es, oberflächlich betrachtet, so zu sein. Doch wenn wir die verschiedenen Zeichen und Symptome, und seien sie noch so subtil, ignorieren und uns lange Zeit nicht darum kümmern, und wenn die Verfassung, in der wir uns befinden, eine zu große Belastung für Körper und Geist ist, dann kann diese Un-Aufmerksamkeit zu einer Un-Verbundenheit führen. Dabei verkümmern bestimmte neuronale Verbindungen, deren fein abgestimmte Funktionalität für die Erhaltung der dynamischen Prozesse, die der Gesundheit zugrunde liegen, oder sie werden ganz unterbrochen. Diese Un-Verbundenheit kann dann wiederum zu einem Un-Gleichgewicht führen, in dem die Dinge nun wirklich schieflaufen und sich drastisch vom Zustand der natürlichen Homöostase entfernen. Das Un-Gleichgewicht kann seinerseits zu regelrechter Un-Ordnung auf der Ebene von Zellen, Geweben, Organen und der systemischen Ebene führen, wo die Dinge in einen unregulierten, chaotischen Prozeß abstürzen. Diese Un-Ordnung führt dann wiederum zu Krankheit (disease) oder, anders ausgedrückt, zu Un-Wohlsein (disease) beziehungsweise manifestiert sich als solche. Ein einfaches Beispiel: Wir haben Nackenschmerzen, die sich zuerst als eine Empfindung von Steifheit oder Muskelspannung zeigen können. Das wären, besonders wenn sie anhalten, die erste Anzeichen, die ersten Hinweise, daß etwas unserer Aufmerksamkeit bedarf, wir also zum Arzt gehen, eine Körpertherapie beginnen oder Yoga üben sollten. Ignorieren wir diese Symptome, dann können sie häufiger und heftiger auftreten und zu chronischen Beschwerden werden, die vielleicht ein Symptom tiefer liegender Prozesse sind. Inzwischen haben wir uns aber vielleicht schon an die Symptome gewöhnt, und wenn die Schmerzen nicht zu schlimm und wir sehr beschäftigt sind, dann tun wir sie vielleicht als bloße Anspannung oder Streß ab und ignorieren sie auch weiterhin. Über die Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre wird ein solcher Zustand, wenn wir uns nicht darum kümmern, entweder von selbst verschwinden oder er wird sich verschlimmern, insbesondere als Reaktion auf Streß. Und er macht uns vielleicht anfälliger für Verletzungen, etwa wenn wir beim Autofahren den Kopf zu schnell 86
drehen oder auch, wenn wir uns im Bett etwas „verliegen“. Inzwischen ist das Ganze vielleicht zu einer Art Syndrom geworden, an das wir uns so sehr gewöhnt haben, daß wir gelernt haben, es gar nicht mehr wahrzunehmen, oder es zu ertragen und vielleicht sogar zu leugnen, daß es wichtig sein könnte, etwas dagegen zu unternehmen. Unsere Unverbundenheit kann zu einer allmählichen Funktionsstörung der Muskeln und Nerven im Nacken in Form chronischer Verspannungen führen und zu einer Kompensationshaltung, die ihrerseits im Laufe der Zeit wieder die Knochen und Bindegewebe beeinträchtigen kann, was den Zustand noch weiter verschlechtert. Die Dinge können so weit aus dem Gleichgewicht geraten, daß unser Nacken nicht mehr normal funktioniert und der Schmerz, das Un-Wohlsein, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die Fehlhaltung immer schlimmer werden. Das kann dann wiederum zu einer Entzündung als Reaktion auf die Reizung oder auf eine Verletzung führen; es herrscht immer mehr Unordnung, die vielleicht zur erhöhten Wahrscheinlichkeit einer Arthritis führen kann, einer schwerwiegenderen Erkrankung, die sehr viel Un-Wohlsein mit sich bringt. Umgekehrt können wir sagen, daß Aufmerksamkeit und insbesondere kluge Aufmerksamkeit, nicht neurotische Egozentrik und Hypochondrie, Verbindung oder Verbundenheit wiederherstellt. Verbundenheit führt wiederum zu größerer Regulierung, die ihrerseits zu einem Zustand dynamischer Ordnung führt, die das Kennzeichen von Wohlsein ist, von Gesundheit im Gegensatz zu Krankheit. Und damit es dazu kommen kann, muß die Aufmerksamkeit natürlich von Absicht aufrechterhalten und genährt werden, so daß Aufmerksamkeit und Absicht eine bedeutende Rolle dabei spielen können, einander in dem Wechselspiel von Yin und Yang, das der Gesundheit und der Heilung zugrunde liegt, zu unterstützen sowie Klarheit und Mitgefühl zu fördern. In dem obigen Beispiel kann das Aufmerksamsein beinhalten, daß wir uns um unseren Nacken kümmern, indem wir an einem Yoga-Kurs teilnehmen oder uns von Zeit zu Zeit eine gute Massage geben lassen oder indem wir uns dazu erziehen, zu merken, wie sich zu bestimmten Zeiten Streß und Spannungen im Nacken ansammeln und daß unser Gewahrsein deren Auftreten beeinflussen und mindern kann. So bekommen wir tatsächlich besseren Kontakt zu unserem Nacken und wissen, was dort vor sich geht und was er zu tun vermag. Diese Verbundenheit führt zu stärkerer Regulierung, da der Nacken auf unsere Aufmerksamkeit reagiert. Wenn wir weiterhin auf die Botschaften des Körpers hören, dann nehmen wir vielleicht an einem Programm zur Streßbewältigung teil, um zu lernen, wie wir mit angesammelten Spannungen umgehen können, damit sie nicht in den Nacken wandern, uns also buchstäblich nichts „im Nacken sitzt“. Vielleicht lernen wir auch etwas so Einfaches, wie den Empfindungen im Nacken mit mehr Achtsamkeit zu begegnen, so daß wir mit den frühen Warnsignalen und Symptomen in Berührung kommen und in der Lage sind, sie zu erkennen, statt sie zu ignorieren. Vielleicht können wir auch lernen, mit dem Atem etwas von den angesammelten Spannungen aufzulösen. Auf diese Weise gelingt es uns vielleicht, die Verkettung von Umständen, die schließlich zu einer Verschlechterung unseres Zustands führen würde, schon im Ansatz zu unterbinden, so daß wir selbst unter Streß die Erfahrung von zunehmender „Ordnung“, von Wohlsein, machen und keine Nackenschmerzen bekommen. Auch wenn wir etwas sehr aufmerksam betrachten, können wir gelegentlich unwillkürlich einer Fehlwahrnehmung verfallen, wenn wir nämlich, aus welchem Grund 87
auch immer, nicht klar sehen, was in einem bestimmten Moment vor sich geht. So können wir den wirklichen Kontakt verpassen und damit die Kettenreaktion, die von der Aufmerksamkeit zu größerer Verbundenheit führt und schließlich zu Wohlergehen, Klarheit und selbst einem Grad an Weisheit (in Beziehung zu unserem Nacken) sowie zu Mitgefühl (das uns freundlicher zu uns selbst und unserem Nacken sein läßt). Dieser Moment der Fehlwahrnehmung kann, wenn wir nicht darauf achten, selbst wiederum zu einer Fehleinschätzung einer Situation oder von Umständen führen und von dort zu einer Fehlzuschreibung der betreffenden Ursachen. Das kann wiederum geradewegs zu tatsächlichen Mißverständnissen führen, wobei wir etwas, was wir einfach nur für wahr halten, als die tatsächliche Wirklichkeit der Dinge betrachten und aus dieser Kausalkette von Fehlwahrnehmung, Fehleinschätzung, Fehlzuweisung und Mißverständnis ein Handeln folgt und wir infolgedessen Fehler machen. Wenn wir in unserem täglichen Leben Fehler machen, so ergeben diese sich sehr oft aus einer Fehlwahrnehmung und Fehleinschätzung. Wenn wir solche Abläufe nicht untersuchen, kann auch das zu einer Straße des psychischen, sozialen und physischen Un-Wohlseins werden. Was unser Beispiel von den Nackenschmerzen angeht, so kann die Fehlwahrnehmung die Form einer zwanghaften Beschäftigung mit flüchtigen Empfindungen im Nacken annehmen, Empfindungen, die wir zu Schmerzen hochstilisieren, indem wir sozusagen aus einer Mücke einen Elefanten machen, was zu Hypochondrie führen mag und vielleicht sogar dazu, daß wir völlig unnötig eine Nackenstütze tragen, statt den Nacken zu trainieren, was ihn stärker und flexibler machen könnte. So laufen wir vielleicht herum und identifizieren uns mit etwas, was wir selbst für ein chronisches Nackenproblem halten, und verpassen alle Gelegenheiten, uns die Sache näher anzuschauen. Man könnte dies eine Form von unkluger Aufmerksamkeit nennen, die in reaktiver Selbstbezogenheit wurzelt und uns in einer Unverbundenheit anderer Ordnung feststecken läßt. Eine Form unkluger Aufmerksamkeit ist viel zu oft auch die treibende Kraft in der Politik, wenn man die Menschen mit falschen, unvollständigen oder fehlerhaft interpretierten Informationen dazu bringt, eine neue Politik zu formulieren oder politische Entscheidungen zu treffen. Die Konsequenzen solcher Fehlwahrnehmungen und Fehler können alles andere als trivial sein und dazu führen, daß alle möglichen Gelegenheiten verpaßt werden. Oft führen solche Fehleinschätzungen zur Eskalation von bereits hochbrisanten Umständen, die wir eigentlich viel richtiger hätten wahrnehmen können, wenn wir von Anfang an darauf geachtet hätten, ob die Optik unserer Wahrnehmung auch wirklich klar ist. Aus diesem Grund sind genaue Wahrnehmung und zutreffende Auffassung sehr wichtig dafür, um zur Besinnung zu kommen. Wenn wir mit Hilfe der Achtsamkeitspraxis lernen, durch alle seine Sinnestore auf den Körper zu hören und auf den Fluß unserer Gedanken und Gefühle zu achten, dann setzen wir einen Prozeß in Gang, durch den wir die Verbundenheit in unserer eigenen inneren Landschaft wiederherstellen und stärken. Diese Aufmerksamkeit nährt die Vertrautheit und Verbundenheit mit unserem Leben, wie es sich auf der körperlichen und geistigen Ebene entfaltet; eine Vertrautheit, die das Wohlergehen und ein Gefühl des Wohlseins in unserer Beziehung zu all dem stärkt, was sich in unserem Leben von Moment zu Moment ergibt. So bewegen wir uns vom Un-Wohlsein, wozu auch 88
regelrechte Krankheit gehört, zu mehr Wohlsein und Harmonie und, wie wir sehen werden, zu mehr Gesundheit. Und wie wir später noch genauer untersuchen werden, trifft dies genauso für unsere Institutionen und den „politischen Körper“ zu wie für unseren individuellen Geist.
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Un-Wohlsein Verzehrt mein Herz, krank vor Verlangen und gebunden an ein sterbendes Tier, es weiß nicht, was es ist, .. . W. B. YEATS, „Sailing to Byzantium“ Das grundlegendste Un-Wohlsein ergibt sich aus Unaufmerksamkeit und Unverbundenheit, aus Fehlwahrnehmung und Fehlzuschreibung. Es ist die Not der menschlichen Situation selbst, das Leid des ganz normalen Lebens, das nicht hinterfragt wurde und dem man nichts entgegenzusetzen weiß. So gut wie jeder Mensch trägt diese flüsternde Stimme der Sehnsucht in sich, die tief aus seiner Psyche kommt und von einem Leben voller Träume und Möglichkeiten spricht, einer Sehnsucht, die wir gewöhnlich in unserem Herzen verborgen halten, ohne sie jemals genau anzusehen. Das Traurige ist, daß wir sie gewöhnlich sogar vor uns selbst verbergen. Die Folge davon ist tiefes Leid. Oft halten wir dieses Geheimnis ein ganzes Leben lang aufrecht, ohne die leiseste Ahnung zu haben, daß wir Komplizen eines Selbsttäuschungsmanövers sind, welches unser Leben ernsthaft stören, ja zerstören kann. Was ist denn nun das Geheimnis? Das Geheimnis ist, daß wir in der Tat nicht wissen, wer oder was wir sind – unter der Oberfläche unserer Voreingenommenheiten, Vorspiegelungen der inneren und äußeren Spielchen, die wir erfinden, um uns selbst und andere zu täuschen. Wird unser Herz etwa ab und zu von unbefriedigten und scheinbar endlosen Wünschen und Begierden angefüllt, getrieben, manchmal gar heimgesucht, ganz gleich, wie erfolgreich wir äußerlich zu sein scheinen und wie gut es uns, oberflächlich gesehen, geht? Und ist uns nicht zumindest auf einer untergründigen Ebene der Psyche vage bewußt, daß wir, wie W. B. Yeats sagt, tatsächlich „gebunden sind an ein sterbendes Tier“? Und daß wir nicht wissen, wer oder was wir wirklich sind? In seinem Gedicht formuliert Yeats in drei Zeilen die gesamte menschliche Situation: Einmal, daß wir unerfüllt sind und deshalb leiden; zweitens, daß wir Krankheit, Alter und Tod unterworfen sind, dem unausweichlichen Gesetz der Vergänglichkeit und des unablässigen Wandels; zum dritten, daß wir nicht um die wahre Natur unseres eigenen Daseins wissen. Ist es nicht an der Zeit, daß wir entdecken, um wie vieles größer wir sind, als wir uns selbst zu wissen erlauben? Ist es nicht an der Zeit, daß wir die Möglichkeit entdecken, in diesem umfassenderen Wissen zu leben und uns vielleicht von der tiefsitzenden Angst zu befreien, die aus unserer hartnäckigen Gewohnheit entsteht, das zu ignorieren, was am allerwichtigsten ist? Ich möchte behaupten, daß dies längst überfällig ist, aber daß andererseits jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür ist. Natürlich erhaschen wir manchmal durch vage Regungen in unserer Seele schon eine flüchtige Ahnung unseres Unbehagens. Dann und wann erfahren wir vielleicht sogar ein 90
augenblickliches Aufblitzen unserer tiefen Angst, wenn wir etwa völlig desorientiert und verängstigt mitten in der Nacht aufwachen, wenn jemand, der uns nahesteht, großes Leid erfährt oder stirbt, oder wenn das Konstrukt unseres eigenen Lebens plötzlich auseinanderfällt, als sei es auf eine seltsame Weise von vornherein und schon immer eine bloße Vorstellung gewesen. Und ist es nicht ebenfalls so, daß wir dann so schnell wie möglich in einem wörtlichen und metaphorischen Sinn wieder einzuschlafen suchen oder uns bemühen, uns mit irgendeiner Form von Zerstreuung zu betäuben? Dieses Ur-Unwohlsein des Menschen, von dem Yeats spricht, daß wir nämlich nicht wissen, was wir sind, scheint uns einfach zu riesig zu sein, um es ertragen zu können. Also vergraben wir es tief in unserer Psyche; wir machen ein wohlgehütetes und vor dem Licht des Tagesbewußtseins verborgenes Geheimnis daraus. Wie wir gesehen haben, bedarf es oft einer akuten Krise, um uns aufzuwecken, uns erkennen zu lassen, daß es Möglichkeiten echter Heilung und der Befreiung aus der Dunkelheit unserer Angst und Unwissenheit gibt. Daß wir uns von diesen tiefsten Ahnungen unseres Menschseins abwenden, führt zu enormem Leiden in Körper und Geist. Vielleicht fühlen wir uns „verzehrt“ und in manch anderer Hinsicht herabgesetzt, weil wir die volle Wirklichkeit dessen, was wir sind, mißachten. Aber wahrscheinlich wissen wir nicht einmal das mit einer gewissen Klarheit und Überzeugung. Dieses Un-Wohlsein der Unbewußtheit, des Nichtwissens um das, was das Grundlegendste in unserer eigenen Natur ist, beeinflußt unser Leben als Individuen praktisch von Moment zu Moment und über die Jahrzehnte hinweg. Das kann kurz- wie langfristig Auswirkungen auf die Gesundheit unseres Körpers und unseres Geistes haben. Außerdem ist unvermeidlich, daß es auf unser Familienleben und Arbeitsleben abfärbt, und zwar in einer Weise, die häufig nicht sofort sichtbar ist, oder erst Jahre, nachdem ein bestimmter Schaden angerichtet wurde oder bestimmte unkluge Entscheidungen getroffen wurden. Und das Vorhandensein dieses Un-Wohlseins greift durch die Art, wie wir uns kollektiv selber definieren und wie wir unsere Geschäfte abwickeln, auch auf die gesamte Gesellschaft über. Es durchdringt unsere Institutionen und die Art und Weise, auf die wir unsere innere und unsere äußere Landschaft gestalten oder ignorieren. Alles, was wir tun, wird auf die eine oder andere Art davon beeinflußt, daß wir die Malaise des Nichtwissens um das, was wir sind, ignorieren. Dies ist das grundlegende Leiden, die grundlegende Krankheit. Und als solche bringt sie viele Variationen hervor, viele verschiedene Manifestationen der Angst und des Leidens auf der Ebene des Körpers, des Geistes und der Welt.
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Dukkha Die Buddhisten haben ein bemerkenswertes und äußerst nützliches Wort für das UnWohlsein, das darauf beruht, daß wir voller Verlangen sind, daß wir gebunden sind an ein sterbendes Tier und nicht wissen, was wir sind. Sie nennen es Dukkha. Das ist ein Begriff aus dem Pali, der Sprache, die der Buddha gesprochen hat. Dukkha ist nur schwer durch ein Wort in einer westlichen Sprache wiederzugeben; verschiedene Übersetzer und Gelehrte übersetzen es als Leiden, Pein, Streß, Unbehagen, Un-Wohlsein oder Ungenügen. Die erste Edle Wahrheit der Lehren des Buddha betrifft die zentrale Rolle, die Universalität und Unvermeidlichkeit von Dukkha, dieses uns angeborenen Leidens des Un-Wohlseins, das auf subtile oder gar nicht so subtile Weise unausweichlich auf die tieferen Strukturen unseres Lebens abfärbt. Alle meditative Praxis im Buddhismus kreist um das Erkennen von Dukkha, die Identifizierung der Wurzeln und Ursachen von Dukkha und die Beschreibung, Entwicklung und Anwendung von Methoden, durch die wir frei werden können von den niederdrückenden, blind machenden und versklavenden Einflüssen von Dukkha. Die verschiedenen Pfade zur Freiheit vom Leiden, von Dukkha, sind im Grunde ein einziger Pfad, eine Methode, die darauf abzielt, uns zu dem zu erwecken, was wir bisher vor uns selbst verborgen oder geheimgehalten haben. Wir tun das, indem wir allem, was in unserer Erfahrung auftritt, kluge Aufmerksamkeit schenken, statt das zu tun, was wir üblicherweise tun, nämlich die Sache entweder gar nicht zu beachten, oder darin zu schwelgen, sie zu romantisieren, sie still und hoffnungslos zu ertragen, dagegen anzukämpfen, sie zu ertränken oder uns endlos abzulenken, um ihr zu entfliehen. Dieser Pfad bietet uns die Möglichkeit, ein sehr viel befriedigenderes und authentischeres Leben zu führen. Darum ist die Universalität von Dukkha keineswegs ein rührseliges und passives Beklagen seiner Unvermeidlichkeit – eben weil dieses Ungenügen oder diese Pein weder etwas Dauerhaftes ist noch uns im Grunde einschränken kann. Wir können damit arbeiten, selbst unter den schrecklichsten Umständen. Es kann unser Lehrer werden, und es kann dazu dienen, uns zu zeigen, wie wir uns aus seinen Klauen befreien können. Und was ganz wichtig ist: Wir erkunden die Möglichkeit der Befreiung vom Leiden, von Dukkha, sowie eines authentischeren und befriedigenderen Lebens nicht nur für uns selbst, auch wenn das an sich schon eine ziemliche Leistung wäre und eine ausreichende Motivation, uns zur Übung von Achtsamkeit zu bringen. Wir tun das vielmehr auf eine sehr realistische und gar nicht romantische Art und Weise zum Wohle aller Lebewesen, mit denen unser Leben unlösbar verknüpft ist. Und wie sich zeigt, sind das sehr viele Wesen, ja im Grunde das gesamte Universum. Im Zentrum all dieser meditativen Praktiken zur Erkenntnis von Dukkha, der Befreiung davon und seiner Beendigung liegt das Kultivieren von Achtsamkeit, eine völlig neue Art und Weise, mit diesem allgegenwärtigen Umstand des Un-Wohlseins umzugehen, zu der gehört, daß wir es annehmen und bereit sind, damit zu arbeiten, es vorurteilslos in seinen intimsten Eigenschaften zu beobachten. Wie schon gesagt, können wir uns Achtsamkeit als ein offenherziges, nichturteilendes Gewahr-sein von 92
Moment zu Moment vorstellen, das direkte, nichtbegriffliche Wissen um unsere Erfahrung in ihrem Entstehen, augenblicklichen Verweilen und Vergehen. Als der Buddha einmal jene ansprach, die seine Lehren durch intensive und systematische Praxis selber verkörpern wollten, sagte er: Dies ist der direkte Pfad zur Reinigung der Lebewesen, zur Überwindung von Kummer und Klagen, zum Verschwinden von Schmerz und Trauer, zur Erlangung des wahren Weges, zur Verwirklichung von Nirvana – genannt die Vier Grundlagen der Achtsamkeit. Das ist schon ein ziemlich starkes Versprechen! Der gesamte Buddhismus ist auf ein Erwachen aus den Verblendungen ausgerichtet, die wir uns selber zurechtspinnen und zu denen wir durch vergangene Erfahrungen konditioniert sind. Indem wir erwachen, befreien wir uns von dem Leiden und den Seelenqualen, die aus unserem Mißverständnis der Natur der Wirklichkeit aufgrund unserer beschränkten egoistischen Ansichten entstehen und aus unserer Neigung, nach dem zu greifen und an dem festzuhalten, was wir uns wünschen, und das zurückzuweisen, wovor wir uns fürchten. In den vergangenen 2500 Jahren haben die verschiedenen meditativen Traditionen innerhalb des Buddhismus ein ganzes Spektrum von überaus raffinierten und wirksamen Methoden zur Kultivierung von Achtsamkeit und jener Weisheit und jenem Mitgefühl, die sich ganz natürlich aus dieser Praxis ergeben, entwickelt, erkundet und verfeinert. Thomas Cahill hat einmal ins Feld geführt, die Iren hätten die abendländische Zivilisation gerettet, weil sie während des Mittelalters in Europa die alten Manuskripte aus den Klöstern kopiert haben, und das Geschenk der Juden an die Welt sei es gewesen, ihr das erste Konzept der Entfaltung einer historischen Zeit gegeben zu haben und damit einen Sinn für die mögliche Entwicklung des Individuums innerhalb der Zeit in persönlicher Verbindung mit dem Numinosen. So könnten wir auch sagen, daß die historischen Gestalten des Buddha und seiner Nachfolger der Welt ein präzise definiertes System hinterlassen haben, einen Pfad der Erforschung, den der Buddha selbst auf der Suche nach dem beschritten hat, was für die Natur des Menschen das Grundlegendste ist: die Möglichkeit, vollkommen bewußt, völlig wach und frei von den Fesseln unserer eigenen Konditionierungen zu sein, zu denen auch unsere nicht hinterfragten Gewohnheiten des Denkens und der Wahrnehmung gehören sowie die verstörenden Gefühle, die diese so oft ungebeten begleiten.
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Dukkha-Magneten Bedenken Sie folgendes: Ob Sie es nun Streß, Un-Wohlsein oder Dukkha nennen, es ist ziemlich offensichtlich, daß die Krankenhäuser in unserer Gesellschaft als große Dukkha-Magneten funktionieren. Ihre Kraftfelder ziehen jene unter uns an, die zu einer bestimmten Zeit am meisten leiden, sei es nun an einer Krankheit, an einem UnWohlsein oder an beidem; an Streß, einem Trauma und allen möglichen Erkrankungen. Die Menschen gehen ins Krankenhaus oder werden dorthin gebracht, wenn sie nirgendwo anders mehr hingehen können, wenn sie keine anderen Optionen und Ressourcen mehr haben. In der Regel sind Krankenhäuser keine Orte, die man aufsucht, um sich zu amüsieren, um unterhalten oder aufgeklärt zu werden. Sie sind vielmehr Orte, die wir in der Hoffnung aufsuchen, behandelt und hoffentlich „wiederhergestellt“, wenn nicht gar geheilt zu werden. Wir gehen mit der Erwartung dorthin, daß man sich dort um uns kümmert, und zwar angemessen um uns kümmert, und daß man mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit für uns sorgt – und daß wir, wenn wir Glück haben, sogar darüber „aufgeklärt“9 werden, was mit uns los ist und was wir tun müssen. Wenn man bedenkt, wieviel Leiden ein Krankenhaus anzieht, dann könnte man sagen: „Wie könnte es einen besseren Ort geben, um eine Schulung in Achtsamkeit anzubieten, von der keine geringere Autorität als der Buddha selbst gesagt hat, sie sei der direkte Pfad zur Überwindung von Kummer und Klagen und zum Verschwinden von Schmerzen und Trauer – in einem Wort, zur Linderung von Leiden? Wenn diese Achtsamkeit tatsächlich so machtvoll und grundlegend ist, wie der Buddha behauptet, könnte eine gewisse Bekanntschaft mit ihr nicht für viele Menschen, die ins Krankenhaus kommen, von großem Nutzen sein?“ Natürlich soll ein solches Angebot kein Ersatz für gute und kompetente medizinische Behandlung sein, aber sie könnte eine potentiell entscheidende Ergänzung zu den verschiedenen Behandlungsmethoden darstellen. Und welcher Ort wäre besser geeignet, um eine solche Schulung anzubieten, nicht nur für die Patienten, sondern auch für das Personal, das in vielen Fällen ebenso gestreßt ist wie die Patienten? Aus diesem Grund wurde die Streßbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) geboren. Zuerst wurde sie den Patienten angeboten, die, wie man sagen könnte, zwischen allen Stühlen unseres Gesundheitssystems saßen, Menschen, denen man mit den verfügbaren Behandlungsmethoden nicht wirklich helfen konnte. Und das waren ziemlich viele. Dazu gehörten auch Patienten, deren Beschwerden unter der traditionellen medizinischen Behandlung keine Besserung erfuhren oder die unter Krankheiten litten, für die die Medizin keine Behandlungsmethode oder gar Heilung anzubieten hat. Wir waren glücklich, diesen Menschen die Gelegenheit geben zu können, selbst die Grenzen des Möglichen zu erkunden. Doch das Programm zog ein immer breiteres Spektrum der Patienten unseres Krankenhauses an. Schließlich hat „Streßbewältigung“ schon von sich aus etwas Attraktives. Auf unsere Anzeige in den Korridoren lautete die Reaktion fast überall: „So etwas könnte ich auch gebrauchen“, oft gefolgt von dem Gedanken: „Aber natürlich habe ich keine Zeit dafür.“ Aber inzwischen, fünfundzwanzig Jahre nach den Anfängen, 9
Im englischen Original steht hier enlightened, was nicht nur „aufgeklärt“, sondern auch „erleuchtet“ bedeutet. Ersteres ist hier sicher die angemessenere Übersetzung, letzteres klingt mit an. (Anm. d. Übers.)
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wird immer mehr Patienten und auch immer mehr Ärzten klar, daß sie es sich vielleicht gar nicht leisten können, dieses Angebot nicht wahrzunehmen und dem, was so lange vernachlässigt geblieben ist, nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Von Anfang an bot die Stress Reduction Clinic den Ärzten – über viele Fachrichtungen und Spezialisierungen hinweg – eine neue Option für ihre Patienten. Sie war ein Ort innerhalb des Krankenhauses, an dem ambulante Patienten lernen konnten, als Ergänzung zu der laufenden medizinischen Behandlung aus eigenem Antrieb etwas für sich zu tun; etwas, das potentiell sehr machtvoll und zudem schwer zu bekommen und deshalb sehr kostbar war. Die Stress Reduction Clinic entlastete aber auch die Ärzte selbst von dem Streß, daß sie einigen Patienten keine guten Behandlungsmöglichkeiten mehr anzubieten hatten. Nun gab es einen Ort im Krankenhaus, wohin sie diese Patienten schicken konnten und wo diese eingeladen wurden, mehr Verantwortung für den Zustand ihres Körpers und ihres Geistes zu übernehmen, wie schmerzhaft, problematisch oder chronisch dieser auch sein mochte. Sie konnten hier an einem Programm teilnehmen, das ihnen die Möglichkeit bot, zu ihnen bisher unbekannten, aber sehr tiefen und universellen inneren Ressourcen des Lernens, des Wachstums, der Heilung und der Transformation Zugang zu finden, und zwar nicht nur für die acht Wochen, die das Programm dauerte, sondern, wie wir hofften, für den Rest ihres Lebens. In diesem Prozeß sollten Menschen, die sich bisher als weitgehend passive Empfänger einer Gesundheitsfürsorge erfahren hatten, die Gelegenheit erhalten, volle Teilnehmer und wichtige Partner in der Fürsorge um ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlergehen zu sein. Und es sollte ihnen möglich gemacht werden, einen solchen Prozeß zu durchlaufen, während man sich vollauf um sie kümmerte und ihnen allein schon aufgrund der Tatsache, daß sie menschliche Wesen waren, daß sie die Menschen waren, die sie waren, und daß sie schon vieles durchgemacht hatten, mit Hochachtung begegnete. Hier sollten sie während des gesamten Prozesses über acht Wochen von der entstehenden Gemeinschaft des guten Willens und der Freundlichkeit umfangen und getragen werden, von dem, was die Buddhisten Sangha nennen und was überall dort spontan zu entstehen scheint, wo Menschen gemeinsam Achtsamkeit praktizieren. Und da die Wörter „Medizin“ und „Meditation“ tatsächlich von derselben Wurzel kommen, schien es selbst damals, im Jahr 1979, doch keine so weit hergeholte Idee zu sein, als medizinisches Zentrum und Universitätskrankenhaus seinen Patienten Meditation anzubieten. Sowohl „Medizin“ als auch „Meditation“ stammen vom Lateinischen mederi ab, was „heilen“ bedeutet. Die tiefere indogermanische Wurzel von mederi hat zudem die Kernbedeutung von „messen“. Damit ist nicht unsere geläufige Vorstellung vom Messen als einem Akt der Bestimmung der quantitativen Relation zu einem festgelegten Maßstab für eine bestimmte Eigenschaft wie Länge, Volumen oder Fläche gemeint. Messen bezieht sich hier vielmehr auf die Platonsche Vorstellung, daß alle Dinge ihr eigenes inneres Maß besitzen, jene Eigenschaften oder jene „Isthaftigkeit“, die das Objekt zu dem macht, was es ist. Man kann Medizin als das verstehen, was dieses innere Maß wieder herstellt, wenn es gestört wurde, und Meditation als die direkte Wahrnehmung des rechten inneren Maßes und des tiefen Erfahrungswissens um dessen Natur. Krankenhäuser sind nicht die einzigen Dukkha-Magneten in unserer Gesellschaft, 95
nur die offensichtlichsten. Auch Gefängnisse sind Dukkha-Magneten, da sie die Endstation für allzu viele Menschen darstellen, deren Leben von Dukkha bestimmt war und die deshalb dazu prädisponiert waren, anderen Menschen und sich selbst dauerndes und unsägliches Leid zuzufügen. Außerdem produzieren viele unserer Institutionen, wie etwa Schulen und Fabriken, ihre eigene Sorte von Dukkha oder ziehen dieses an. Genaugenommen ist Dukkha, wie es der Buddha gelehrt hat, allgegenwärtig – einfach eine Tatsache des Lebens. Der einzige Weg aus dem Leiden heraus ist, wie Helen Keller so weise bemerkt hat, der Weg durch das Leiden. Und der einzige Weg durch das Leiden ist das Erkennen von Dukkha, wenn es auftaucht, und das augenblickliche Durchschauen seiner Natur, von Moment zu Moment.
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Dharma Die Qualität unserer Beziehung zur Erfahrung sowie zu den vielfältigen Landschaften, den inneren wie den äußeren, in denen sich unsere Erfahrung entfaltet, ist natürlich erst einmal von uns selbst abhängig. Wenn wir uns zum Beispiel wünschen, die Welt möge friedvoller sein, können wir dann erst einmal uns selbst genau unter die Lupe nehmen, um zu sehen, ob wir selbst friedlich sein können? Sind wir bereit, zur Kenntnis zu nehmen, wie oft wir alles andere als friedlich sind und was da vor sich geht? Ist uns klar, wie streitlustig und aggressiv, wie egozentrisch und selbstbezogen wir im Mikrokosmos unseres eigenen Lebens und Geistes oft sind? Wenn wir von anderen verlangen, sie sollten doch klarer sehen, können wir dann erst einmal darauf zu achten beginnen, wie wir selbst die Dinge sehen und ob wir in der Lage sind, das, was in jedem gegebenen Moment geschieht, ohne Voreingenommenheit und ohne Vorurteile wahrzunehmen und zu verstehen? Und sind wir bereit zuzugeben, wie schwierig, aber zugleich wichtig das ist? Wenn wir uns im Sinne der Aufforderung von Sokrates „selbst erkennen“ wollen, führt kein Weg daran vorbei, uns selbst sehr genau unter die Lupe zu nehmen. Wenn wir die Welt verändern wollen, täten wir vielleicht gut daran, uns zuerst um eine Veränderung in uns selbst zu bemühen, ganz besonders angesichts unserer eigenen Widerstände gegen jede Veränderung. Schließlich können wir das Gesetz der Vergänglichkeit und der Unausweichlichkeit des Wandels nicht leugnen, so sehr wir uns dem Wandel auch widersetzen und versuchen, alles unter Kontrolle zu behalten. Wenn wir den Quantensprung zu größerem Gewahrsein vollziehen wollen, dann führt kein Weg daran vorbei, uns ernsthaft um ein Erwachen zu bemühen. Genauso verhält es sich, wenn wir uns wünschen, in der Welt möge mehr Weisheit und Freundlichkeit herrschen. Vielleicht sollten wir damit beginnen, daß wir unseren eigenen Körper mit mehr Freundlichkeit und Weisheit bewohnen – und sei es, daß wir uns auch nur einen Augenblick lang mit Freundlichkeit und Mitgefühl als das akzeptieren, was wir sind, anstatt uns dazu zu zwingen, einem unmöglich zu erreichenden Ideal zu entsprechen. Die Welt wäre augenblicklich völlig anders. Wenn wir in dieser Welt wirklich etwas verändern wollen, dann müssen wir vielleicht erst einmal lernen, eine Beziehung zu unserem eigenen Leben und unserem Wissen aufzubauen, oder wir müßten es zumindest im Laufe der Ereignisse lernen, was im Grunde dasselbe ist, denn die Welt wartet nie auf uns, sondern entfaltet sich mit uns in enger Wechselwirkung. Und wenn wir uns wünschen, zu wachsen, uns zu verändern, geheilt zu werden, vielleicht weniger heftig oder besitzergreifend zu sein oder mehr Vertrauen und Großzügigkeit an den Tag zu legen, dann müssen wir vielleicht erst einmal Stille und Gemütsruhe kennenlernen und herausfinden, daß aus ihrem Brunnen zu trinken an sich schon Heilung und Transformation bedeutet, weil wir dadurch das, was wir hier in diesem Augenblick vorfinden, einschließlich unserer tiefsitzenden und unbewußten Neigungen, mit Gewahrsein umfangen. All das ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Aber befreiende Praktiken wie die Meditation wurden über Jahrhunderte zumeist nur in der Abgeschiedenheit von Klöstern gepflegt, von ganz bestimmten kulturellen und religiösen Traditionen gehütet 97
und aus verschiedenen Gründen mehr oder weniger geheimgehalten. Heutzutage ist jedoch alles, was Menschen jemals entdeckt haben, so leicht zugänglich wie nie zuvor, darunter insbesondere die buddhistische Meditation und die damit verbundene Weisheitsüberlieferung, der sogenannte Buddhadharma oder einfach Dharma. Was die Buddhisten den Dharma nennen, ist eine uralte Kraft in dieser Welt, ganz ähnlich wie das Evangelium, nur daß der Dharma im Grunde nichts mit religiöser Bekehrung oder mit organisierter Religion zu tun hat, ja nicht einmal mit dem „Buddhismus“, wenn man ihn sich als eine Religion vorstellt. Doch wie das Evangelium, so ist auch der Dharma im wahrsten Sinne des Wortes eine frohe Botschaft. Der Dharma wurde ursprünglich vom Buddha in dem formuliert, was er die Vier Edlen Wahrheiten nannte. Er hat ihn dann während seiner gesamten lebenslangen Lehrtätigkeit weiter ausgearbeitet, und er wurde über ununterbrochene Übertragungslinien in den verschiedenen buddhistischen Traditionen bis auf den heutigen Tag überliefert. Es wäre in vieler Hinsicht zutreffend, wenn man den Dharma als eine Art „Wissenschaft“ bezeichnen würde, einen Kenntnisbereich, der ständig wächst und sich verändert, dem aber ein Kern von Methoden, Beobachtungen und Naturgesetzen eigen ist, die über Tausende von Jahren innerer Forschung mit Hilfe höchst disziplinierter Methoden der Selbstbeobachtung und Selbsterforschung herausdestilliert wurden, durch eine sorgfältige Aufzeichnung und Kategorisierung von Erfahrungen, die bei der Erforschung der Natur des Geistes gewonnen wurden sowie durch direkte empirische Überprüfung und Bestätigung der Resultate. Die „Gesetzmäßigkeit“ des Dharma ist also eine, die nur dann zu Recht „Dharma“ genannt werden kann, wenn sie nicht nur für den Buddhismus gültig ist – genausowenig, wie das Gesetz der Schwerkraft aufgrund der Herkunft von Isaac Newton „englisch“ ist, oder die von Boltzmann formulierten Gesetze der Thermodynamik „österreichisch“ sind. Die von diesen und anderen Naturwissenschaftlern entdeckten und beschriebenen Naturgesetze transzendieren stets bestimmte Kulturen, weil sie eben die Natur als solche beschreiben, und die ist ein nahtloses Ganzes. So transzendiert auch die vom Buddha dargelegte Gesetzmäßigkeit des Dharma seine besondere Epoche und Kultur, auch wenn eine Religion darauf gegründet wurde. Allerdings ist dies eine aus westlicher Sicht ziemlich seltsame Religion, da sie nicht auf der Anbetung einer höchsten Gottheit basiert. Achtsamkeit und Dharma stellt man sich am besten als universell gültige Beschreibungen der Funktionsweise des menschlichen Geistes vor, und zwar hinsichtlich der Qualität der eigenen Aufmerksamkeit in bezug auf die Erfahrung von Leiden und auf das Potential zum Glücklichsein. Sie sind für den menschlichen Geist im allgemeinen gültig, genauso wie die Gesetze der Physik überall im (uns bekannten) Universum gültig sind. Was die Frage der Universalität des Buddhismus angeht, nun, erinnern wir uns daran, daß der Buddha selbst kein Buddhist war. Er war Heiler und Revolutionär, wenn auch ein eher stiller und innerlicher Revolutionär. Er diagnostizierte unser kollektives menschliches Un-Wohlsein und verordnete eine wohltuende Medizin zur Wiederherstellung von geistiger Gesundheit und Wohlergehen. Damit der Buddhismus als ein Vehikel des Dharma auf dem heutigen Stand der Evolution des Planeten seine im Bereich der Medizin dringend gebrauchte maximale Wirksamkeit entfalten kann, wäre 98
es deshalb vielleicht besser, wenn er sich nicht mehr als „Buddhismus“ im formalen religiösen Sinn bezeichnen oder zumindest sein Festhalten an religiösen Formen aufgeben würde. Da es im Buddhismus letztlich um Nichtdualität geht, können Unterscheidungen von Buddhadharma und universellem Dharma, zwischen Buddhisten und Nichtbuddhisten sowieso nicht grundlegender Natur sein. So gesehen sind die besonderen Traditionen und Formen, in denen er sich präsentiert, lebendig, vielfältig und in ständiger Entwicklung begriffen; gleichzeitig aber bleibt seine Essenz in ihrer Formlosigkeit, Grenzenlosigkeit und Nichtdualität immer dieselbe. Tatsächlich ist ja selbst der Begriff „Buddhismus“ nicht buddhistischen Ursprungs. Er wurde vielmehr im 17. und 18. Jahrhundert von europäischen Ethnologen, Philologen und Religionswissenschaftlern geprägt, die mit Hilfe ihrer eigenen religiösen und kulturellen Vorstellungen und stillschweigenden Prämissen von außen her versuchten, eine exotische Welt auszuloten, die ihnen in vieler Hinsicht rätselhaft war. Mehr als zweitausend Jahre lang haben sich jedenfalls jene Menschen, die die Lehren des Buddha praktizierten, ganz gleich, welcher der vielen verschiedenen Linien, die es manchmal sogar innerhalb eines einzigen Landes gab, sie angehörten, einfach als „Anhänger des Weges“ oder als „den Dharma Praktizierende“ bezeichnet und nicht als „Buddhisten“. Kommen wir also zurück zum Dharma, wie der Buddha ihn lehrte: Die erste der Vier Edlen Wahrheiten, die er aufgrund seiner intensiven Erforschung der Natur des Geistes formulierte, war das universelle Vorherrschen von Dukkha, des für den Zustand des Menschen grundlegenden Un-Wohlseins. Die zweite Wahrheit war die Ursache von Dukkha, das der Buddha als unmittelbare Folge von Anhaften, Festhalten und nicht hinterfragten Begierden begriff. Die dritte Wahrheit, die er auf der Grundlage seiner persönlichen Erfahrungen als Experimentierender im Labor seiner eigenen Meditationspraxis formulierte, besagt, daß die Beendigung von Dukkha möglich ist, daß es mit anderen Worten möglich ist, gänzlich von dem von durch Anhaften und Festhalten erzeugten Un-Wohlsein geheilt zu werden. Und die vierte Edle Wahrheit umreißt einen systematischen Weg der Annäherung an die Beendigung von Dukkha, genannt der Edle Achtfältige Pfad, einen Weg zur Auflösung von Unwissenheit und damit zur Befreiung. Achtsamkeit ist eine der acht Praktiken auf diesem Weg, und zwar die Methode, die alle anderen vereint und trägt. Diese acht Praktiken werden weise oder „rechte“ Sicht, weises Denken, weise Rede, weises Handeln, weiser Lebenserwerb, weise Bemühung, weise Achtsamkeit und weise Versenkung genannt. In jeder dieser Praktiken sind die sieben anderen enthalten; sie sind ausnahmslos verschiedene Aspekte desselben nahtlosen Ganzen. So sagte der vietnamesische Meditationsmeister Thich Nhat Hanh: Wo Rechte Achtsamkeit vorhanden ist, da sind auch die Vier Edlen Wahrheiten und die sieben anderen Elemente des Achtfältigen Pfades gegenwärtig.
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Die Stress Reduction Clinic Kommen wir noch einmal auf Dukkha und das Un-Wohlsein zurück: Hätte ich es nicht aufgrund meiner eigenen Meditationspraxis und der Beobachtung meiner eigenen hartnäckigen Neigung, unbewußt zu werden und mich völlig im Dickicht des denkenden Geistes und reaktiver Gefühle zu verstricken, bereits gewußt, dann hätte mir die Arbeit in einer Klinik für Streßbewältigung schon bald gezeigt, wie weit verbreitet das Un-Wohlsein der Unachtsamkeit tatsächlich ist, und wie sehr wir danach hungern, diesen Zustand zu korrigieren, wie sehnlich wir uns eine konsistente, authentische und intensive Erfahrung des Lebendigseins, des Ungeteiltseins wünschen, wie sehr wir nach innerem Frieden hungern, danach, der Tretmühle unablässigen physischen und emotionalen Leidens zu entrinnen. Alle diese und viele andere Facetten des Dukkha tauchen regelmäßig in den Vorbereitungsgesprächen auf, die wir mit unseren Patienten führen, die an dem Programm teilnehmen. Ich muß das Gespräch einfach mit der Frage „Warum suchen Sie Streßbewältigung?“ beginnen und dann nur noch zuhören. Solch eine Frage lädt dazu ein, seinem Herzen Luft zu machen. Sie erkennt die Tatsache an, daß es unauslotbare Tiefen des eigenen Leidens geben mag oder sich manchmal zumindest so anfühlt, und akzeptiert sie. Durch das Zuhören ist mir klargeworden, daß unsere Patienten zwar aus vielen verschiedenen Gründen in unsere Klinik kommen, diese aber im wesentlichen auf einen einzigen Grund hinauslaufen: Sie wollen wieder heil, das heißt ganz sein, sie wollen eine Lebendigkeit wiederfinden, die sie früher vielleicht einmal gefühlt haben oder die sie nie gespürt haben, nach der sie sich aber sehnen. Sie kommen, weil sie lernen wollen, sich zu entspannen, weil sie etwas von ihrem Streß loswerden möchten, weil sie körperliche Schmerzen lindern oder lernen wollen, damit zu leben. Sie möchten Gemütsruhe finden und wieder ein Gefühl des Wohlseins erfahren. Sie kommen, weil sie wieder die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen wollen, weil sie endlich keine Schmerzmittel oder Psychopharmaka mehr nehmen möchten und weil sie, wie sie so oft sagen, „nicht mehr so nervös und angespannt“ sein wollen. Die Leute kommen in unsere Klinik, weil sie an einer Herzkrankheit oder an Krebs oder an chronischen Schmerzen oder an irgendeinem anderen gesundheitlichen Problem leiden, das einen übermäßigen Einfluß auf ihr Leben hat und sie daran hindert, ihren Träumen nachzugehen. Sie kommen, weil sie sich, vielleicht aus purer Verzweiflung, zu guter Letzt dafür geöffnet haben, etwas für sich selbst zu tun, etwas, was sonst niemand auf diesem Planeten für sie tun kann, ihre Ärzte eingeschlossen – nämlich ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und selbst zu tun, was immer möglich ist, um das zu ergänzen, was die traditionelle allopathische Medizin ihnen zu bieten hat, und weil sie sich erhoffen, dadurch stärker, gesünder und vielleicht sogar innerlich wie äußerlich weiser zu werden. Sie kommen, weil ein Aspekt ihres Lebens oder ihres Körpers nicht mehr so recht funktioniert und weil sie wissen, daß die Möglichkeiten der Medizin beschränkt sind und das, was sie zu erreichen vermag, nicht ausreicht oder zumindest bisher nicht ausgereicht hat. Sie kommen, weil ihre Ärzte ihnen die Erlaubnis gegeben haben, sich einfach der Tatsache von Streß und Schmerz in ihrem Leben zu stellen und selber etwas 100
dagegen zu unternehmen, und weil sie ihnen deshalb empfohlen haben, uns aufzusuchen. Sie kommen, weil unsere Klinik sich in ihrem Krankenhaus befindet und sie Achtsamkeit und Streßbewältigung, Meditation, Yoga und all die oft in der Stille geleistete innere Arbeit, die zu tun wir sie einladen, deshalb als einen Teil der konventionellen Medizin und Gesundheitsfürsorge ansehen können und darum als akzeptable Methoden zum Umgang mit ihren Problemen. Und vielleicht kommen sie vor allem auch deshalb und bleiben dabei, weil jemand im Raum eine Atmosphäre erzeugt hat, die sie zu tiefem und offenem Zuhören einlädt, eine Atmosphäre, welche die Teilnehmer sofort als wohltuend, mitfühlend, respektvoll und tolerant erkennen. Diese Art von Gefühlslage trifft man in einem großen und betriebsamen Krankenhaus unglücklicherweise nur sehr selten an. Weil wir den Patienten viel Zeit geben, auf die eine Frage „Was führt Sie hierher?“ zu antworten, sind die meisten bereit, ja sogar glücklich, ehrlich und offen und oft mit großer Eindringlichkeit von ihrem Un-Wohlsein und ihrer Krankheit zu erzählen, davon, daß sie sich verloren oder überfordert oder irgendwie zum Opfer gemacht fühlen oder daß ihnen irgend etwas fehlt, weit über die Krebsdiagnose oder das Herzproblem oder die Schmerzen hinaus, die als primäre Diagnose genannt werden und derentwegen sie zu uns geschickt wurden. Die Geschichten sprechen oft von einem tiefen Herzschmerz, der daher rührt, daß die Menschen in ihrer Kindheit nicht von anderen geachtet wurden und deshalb aufgewachsen sind, ohne ein Gefühl für ihr eigenes Gutsein, ihre Schönheit oder ihre Liebenswürdigkeit zu entwickeln. Und natürlich sprechen sie anrührend vom Leiden des Körpers ... von chronischen Rückenschmerzen, Nackenschmerzen, Schmerzen im Gesicht, in den Beinen, von vielen verschiedenen Formen des Krebses, HIV und Aids, Herzkrankheiten und Myriaden anderer somatischer Beschwerden, die in vielen Fällen noch durch das Leiden des Geistes verschlimmert werden, das sich in chronischer Angst und Panikattacken, von Depression und Enttäuschung, in Kummer, Verwirrtheit, Erschöpfung, chronischer Reizbarkeit und Spannung sowie zahllosen anderen überwältigenden und leidvollen Gefühlszuständen äußert. Wie viele Menschen, die an dem Programm teilgenommen haben, im Laufe der Jahre immer wieder für sich selbst herausgefunden haben und wie es eine ständig zunehmende Zahl von medizinischen Studien dokumentiert, die nicht nur in unserer eigenen Klinik gemacht wurden, sondern auch in auf Achtsamkeit basierenden Programmen in Krankenhäusern und Kliniken auf der ganzen Welt, besteht die gute Nachricht darin, daß jeder von uns sich endlich daran beteiligen kann, sich der Fülle dessen, was wir als menschliche Wesen sind, zu stellen und diese Fülle anzunehmen, indem wir bekräftigen, daß es möglich ist, zu dem in uns zu erwachen, was verborgen und undurchsichtig, verängstigt und beängstigend ist und bewußt oder unbewußt unser Leben prägt, und daß wir genausogut zu anderen, gesünderen Sehnsüchten erwachen können, die uns aus der Tiefe unseres Herzens rufen, und die wir in unserem Leben auf eine Weise aufblühen lassen können, die stärkend und heilend ist und in vielen Fällen die vorhandenen Symptome dramatisch reduziert. Meine Kollegen und ich, die wir an Kliniken für Streßbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) im ganzen Land und auf der ganzen Welt arbeiten, haben dieses in zahllosen Fällen bei Menschen geschehen sehen, die in kaum vorstellbarem Maß unter Streß, Schmerzen, Krankheit und den unglücklichsten Lebensumständen litten, eben an 101
der „ganzen Katastrophe“, dem ganzen Spektrum und der Härte der menschlichen Befindlichkeit an sich in all ihrer Dringlichkeit und ihren herzzerreißenden und unendlich Details. Das Ausmaß an Transformation, sei es nun groß oder klein, grob oder subtil, zu dem es bei Menschen in relativ kurzer Zeit kommen kann, erstaunt mich immer wieder. Manchmal sehe ich auch, wie das bei mir selbst geschieht, wenn meine Sinne sich nicht von mir verabschieden oder ich mich von ihnen verabschiede. Und erstaunlicherweise kann ich mich manchmal sogar bei diesem Sichverabschieden erwischen, während es geschieht, und vermag so ein gewisses Maß an momentanem oder sogar andauerndem Gleichgewicht und an Klarheit zu erreichen. Die ganze Katastrophe anzunehmen, das ist ein Teil des Prozesses des Aufwachens zu unserem Leben, des Prozesses, durch den wir das Leben, das zu leben uns gegeben wurde, auch wirklich leben können. Zum Teil besteht er darin, nicht zuzulassen, daß das Un-Wohlsein und das Dukkha, wie grob oder wie subtil sie auch sein mögen, unbemerkt und ungenannt bleiben. Es gehört dazu, daß wir bereit sind, uns allem, was in unserer Erfahrung auftaucht, zuzuwenden und damit zu arbeiten, daß wir wissen und das Vertrauen besitzen, daß wir damit umgehen können, besonders wenn wir bereit sind, eine bestimmte Art von Arbeit an uns selbst zu leisten, die Arbeit des Gewahrseins, die unter anderem darin besteht, daß wir uns immer wieder sanft in den gegenwärtigen Moment zurückbringen – mit allem, was er zu bieten hat, und indem wir uns erinnern, im Gewahrsein zu verweilen und uns all seine bemerkenswerten Energien in der Entfaltung unseres Lebens, so, wie wir es gerade vorfinden, zunutze zu machen.
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Die unaufmerksame Gesellschaft Eine Ausdrucksform des Un-Wohlseins von Dukkha, die in unseren Breiten besonders häufig auftritt, ist das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, kurz ADS. Zu diesem Syndrom gehört eine schwerwiegende Störung im Prozeß der Aufmerksamkeit selbst. Sie tritt bei Erwachsenen ebenso auf wie bei Kindern. Noch vor dreißig Jahren existierte diese Diagnose nicht einmal. Heute scheint das Syndrom eine weitverbreitete und immer häufiger auftretende Störung zu sein. Da es bei der Meditation um die Schulung unserer Fähigkeit zum Aufmerksamsein geht, sollte man annehmen, daß die meditative Perspektive uns Hinweise darauf geben kann, wie man dem ADS vielleicht vorbeugen kann, und das ist tatsächlich der Fall. Aber wir sollten uns vielleicht klarmachen, daß unsere gesamte Gesellschaft, vom Standpunkt der meditativen Traditionen aus, unter dem Aufmerksamkeits-DefizitSyndrom und seiner vorherrschenden Variante, der Aufmerksamkeits-DefizitHyperaktivitäts-Störung (ADHS), leidet. Und die Sache wird von Tag zu Tag schlimmer. Zu lernen, wie wir das Vermögen, aufmerksam zu sein und diese Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, ausbilden können, dürfte bald schon kein Luxus mehr sein, sondern könnte sich als lebensnotwendige Rückbindung an das erweisen, was das Bedeutsamste in unserem Leben ist, was wir am leichtesten übersehen, ignorieren oder leugnen und über das wir so schnell hinweggehen, daß wir gar keine Chance haben, es zu bemerken. Mir scheint, daß wir als Mitglieder der westlichen Wohlstandsgesellschaften auch noch auf eine andere, etwas subtilere und untergründigere Weise unter einem Aufmerksamkeitsdefizit leiden. Viele Menschen fühlen sich nämlich zunehmend einsam und unsichtbar in dieser von prominenten Persönlichkeiten geradezu besessenen Unterhaltungskultur, die dazu neigt, die Menschen immer mehr zu vereinzeln. Denken Sie nur daran, was es für Auswirkungen hat, wenn man Abend für Abend allein vor dem Fernseher sitzt, sich mit Seifenopern und Reality-TV-Shows abspeisen läßt und dabei emotional nur noch das Leben oder die Phantasien anderer Menschen nachvollzieht, oder wenn man seine intimsten Beziehungen online in Chat-Räumen findet. Denken Sie daran, wie konsumbesessen unsere Gesellschaft ist, wie sehr die Menschen von dem Bedürfnis getrieben sind, ihre Zeit irgendwie vollzustopfen, irgendwohin zu gelangen, sich irgend etwas zu „holen“, was ihnen zu fehlen scheint, damit sie glücklich und zufrieden sein können. In unserer Einsamkeit und Isolation rührt sich ein tiefes Verlangen, eine gewöhnlich unbewußte oder überspielte Sehnsucht nach Zugehörigkeit, danach, mit einem größeren Ganzen verbunden zu sein, nicht mehr anonym zu sein, sondern gesehen und erkannt zu werden. Denn Beziehung, Austausch, Geben und Nehmen, insbesondere auf der emotionalen Ebene, sind Dinge, die uns spüren lassen, daß wir einen Platz in dieser Welt haben, die uns in unserem Herzen wissen lassen, daß wir zu etwas gehören. Wir gewinnen eine tiefe Befriedigung aus der Beziehung zu anderen Menschen. Und wir hungern nach diesem Gefühl der Zugehörigkeit, nach dem Gefühl, mit etwas verbunden zu sein, das größer ist als wir selbst. Wir hungern danach, von anderen wahrgenommen zu werden als das, was wir tatsächlich sind gesehen und geschätzt zu werden, nicht nur für das, was wir tun. Nur allzuoft werden wir das nicht. 103
Nur selten kommt es vor, daß andere Menschen uns wohlwollend als das sehen und erkennen, was wir sind. Meist haben sie es viel zu eilig und sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie lange genug Aufmerksamkeit für einen anderen aufbrächten. Und so wird das Leben der Menschen überall, in der Stadt und auf dem Land, immer einsamer und isolierter. Selbst dort, wo es draußen noch sicher genug für sie wäre, hocken Kinder aus Gewohnheit und Langeweile Stunde um Stunde vor dem Fernseher oder verschwinden in Computerspielen, statt mit Kindern aus ihrer Nachbarschaft zu spielen. Während sie fernsehen, ist ihre Aufmerksamkeit völlig passiv. Es ist eine asoziale Aufmerksamkeit, die eine ständige Ablenkung von ihrem eigenen Inneren, von verkörpertem In-Beziehung-Stehen bedeutet. Viele Untersuchungen zeigen, daß aktives soziales Engagement bei Kindern immer seltener wird. Wenn wir dann erwachsen sind, kann es sein, daß wir unsere Nachbarn nicht einmal mehr kennen, und ganz gewiß verlassen wir uns nicht mehr auf sie, wie es in früheren Generationen noch gang und gäbe war. Nur selten noch bilden Nachbarn in unserer Welt eine echte Gemeinschaft. Selbst innerhalb der Familie besteht heutzutage das große Risiko, daß Eltern nicht mehr für ihre Kinder da sind, selbst wenn sie physisch anwesend sind – einfach weil sie dermaßen gestreßt, von anderen Dingen eingenommen und höllisch beschäftigt sind. Eltern sind oft so chronisch überfordert, daß sie ihre Kinder in bestimmten Momenten gar nicht mehr wahrnehmen, geschweige denn, in den Arm nehmen können, wenn sie Kummer haben. Das läuft darauf hinaus, daß in der Familie niemand mehr die Aufmerksamkeit erhält, die sie oder er braucht und verdient. Im Bereich der Medizin ist es heute fast überall ebensoschwer, wenn nicht gar unmöglich, die Aufmerksamkeit unseres Arztes zu gewinnen. Die Ärzte haben einfach zu wenig Zeit für ihre Patienten. Sie stehen unter großem zeitlichen Druck und enormem Streß. Unbeabsichtigte Achtlosigkeit ist zu einem großen Berufsrisiko für Ärzte geworden, dem immer mehr Mediziner erliegen. Gute Ärzte hüten sich so gut es ihnen möglich ist davor, doch selbst die besten Ärzte ersticken unter dem Zeitdruck in dieser Welt des zunehmend verwalteten und profitorientierten Gesundheitswesens. Kein Wunder, daß so viele von uns in der Natur Stille suchen und sie auch finden. Die natürliche Welt kennt keine Künstlichkeit. Der Baum vor unserem Fenster und die Vögel in diesem Baum stehen allein im Jetzt. Sie sind Überreste einer einst jungfräulichen Wildnis, die dort, wo es sie in geschützten Bereichen noch gibt, für uns Menschen das Zeitlose repräsentiert. Wir haben instinktiv das Gefühl, ein Teil der Natur zu sein, weil unsere Vorfahren aus ihr und in sie hinein geboren wurden und die natürliche Welt für sie die einzige Welt war, die es gab. Sie bot ihren Bewohnern eine Vielfalt von Erfahrungsdimensionen, und der Mensch mußte sie alle verstehen, um überleben zu können. Dazu gehörte auch das, was sie manchmal die Welt der Geister oder die Welt der Götter nannten, Welten, die man spüren, aber gewöhnlich nicht sehen konnte. Der Wandel der Jahreszeiten, Wind und Wetter, Tag und Nacht, Berge, Flüsse, Bäume, Meere und Meeresströmungen, Felder, Pflanzen, die Wildnis und wilde Tiere – das alles spricht auch heute noch zu uns. Sie locken uns und laden uns ein in die Gegenwart, in der sie jederzeit existieren – wir natürlich auch, nur daß wir das vergessen haben. Sie helfen uns, uns zu sammeln und wieder auf das zu achten, was wirklich wichtig ist. Sie erinnern uns, in Mary Olivers wohlgesetzten Worten, an 104
„unseren Platz in der Familie der Dinge“. Doch in den letzten einhundert Jahren hat sich viel für uns verändert. Wir haben uns der natürlichen Welt und einem Leben der Verbundenheit innerhalb der Gemeinschaft, in die wir geboren wurden, immer mehr entfremdet. Und dieser Wandel ist in den beiden letzten Jahrzehnten noch drastischer geworden, seit die digitale Revolution sich über die ganze Welt ausgebreitet hat. Alle unsere „zeitsparenden“ Gerätschaften haben unser Leben immer schneller werden lassen und zu immer größerer Abstraktion geführt – wir sind unserem Körper zunehmend fremder und ferner geworden. Es ist immer schwerer geworden, aufmerksam bei einer Sache zu bleiben, und die Dinge, die um unsere Aufmerksamkeit heischen, vermehren sich ständig. Wir sind nur allzuleicht abgelenkt und noch leichter zerstreut. Informationen, Forderungen, Termine, Mitteilungen stürmen unablässig auf uns ein. Und fast all die Dinge, die uns in gnadenloser Geschwindigkeit bombardieren, sind menschengemacht. Es steht eine Absicht dahinter, und meistens wird dabei entweder an unsere Gier oder an unsere Angst appelliert. Diese Angriffe auf unser Nervensystem stimulieren und nähren unablässig Begehren und Erregung statt Zufriedenheit und Ruhe. Sie begünstigen bloßes Reagieren anstelle von Kommunizieren, nähren Zwietracht anstelle von Eintracht oder Frieden, sie kitzeln unsere Begehrlichkeit, so daß wir nicht mehr mit dem zufrieden und in Frieden sein können, was wir sind. Und wenn wir nicht achtgeben, berauben sie uns vor allem unserer Zeit, unserer kostbaren Momente. Dieser ständige Ansturm dringlicher Angelegenheiten zwingt uns nachgerade dazu, uns in die Zukunft zu projizieren, in Gedanken an die Zukunft zu leben. All diese Geschwindigkeit, diese Habgier und dieser Mangel an körperlicher Sensibilität bringen uns dazu, immer mehr in unserem Kopf zu leben. Wir versuchen, uns die Dinge zurechtzulegen und dem Geschehen immer einen Schritt voraus zu sein, statt zu spüren, wie die Dinge wirklich sind. In einer Welt, die längst nicht mehr vorwiegend natürlich oder lebendig ist, haben wir es ständig mit Maschinen zu tun, die unsere Reichweite ausdehnen, während wir uns durch die Gewöhnung an ihren Gebrauch – sei es das Radio im Auto, das Auto selbst, der Fernseher im Schlafzimmer oder der Computer im Büro und zunehmend auch in der Küche – immer mehr von unserem Körper entfremden. Die gnadenlose Beschleunigung unseres Lebensstils während der vergangenen Jahrzehnte hat die Konzentration auf irgendeine Sache zu einer beinahe verlorengegangenen Kunst gemacht. Die wachsende Zahl unserer technischen Hilfsmittel hat unsere Fähigkeit und Neigung unterminiert, unsere Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und dadurch die Dinge wirklich bis in die Tiefe kennenzulernen, bevor wir zum Handeln übergehen. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit läßt uns zum Beispiel beim Versenden einer E-Mail auf „Absenden“ klicken, und uns erst im nächsten Augenblick daran erinnern, daß wir vergessen haben, das Dokument anzuhängen, das wir eben noch als Anhang angekündigt haben. Oder uns fällt erst im nachhinein ein, daß wir eigentlich nicht sagen wollten, was wir gerade gesagt haben, oder daß wir nicht gesagt haben, was wir eigentlich sagen wollten ... zu spät! Die Technologie selbst verleitet uns dazu, uns keine Zeit zum Reflektieren zu nehmen. Sie fördert einen manchmal geradezu unwiderstehlichen Drang, die Nachricht rasch zu senden und dann weiterzuscrollen zur nächsten Mail in unserer In-box. 105
Vielleicht seufzen wir innerlich und gehen zum nächsten Punkt über oder wir schicken eine Korrektur hinterher, soweit das noch möglich ist. Auf diese Weise kann sich eine alles durchdringende Mittelmäßigkeit in unsere alltägliche Kommunikation und unsere Kontakte einschleichen, insbesondere dann, wenn wir uns dieser tückischen Entscheidungen, die wir unablässig treffen, gar nicht bewußt sind. Wir werden nämlich, wie einige ADS-Spezialisten beobachtet haben, von all den verlockenden Wahlmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, geradezu zur Zerstreuung genötigt. Angesichts dieses zwanghaften Springens von einer Sache zur nächsten haben wir weitgehend die Fähigkeit und den Willen verloren, unseren Geist zu konzentrieren und ihn nur auf eine Sache auszurichten. Es ist bezeichnend und im Grunde tragisch, daß heute viele Kinder bis hinab zum Alter von drei Jahren mit Medikamenten gegen ADS und ADHS eingestellt werden. Könnte es nicht sein, daß es in vielen Fällen die Erwachsenen sind, die die Kinder zu dieser Zerstreuung und Hyperaktivität erziehen – wenn ein solches Verhalten angesichts der heutigen Umstände nicht schon „normal“ geworden ist? Vielleicht ist das Verhalten des Kindes ja nur Symptom einer umfassenderen Störung des Familienlebens und unseres gesamten Lebensstils, wie es wahrscheinlich auch bei dem um sich greifenden Phänomen der Fettleibigkeit bei Kindern und Erwachsenen der Fall ist. Wenn die Eltern nur selten anwesend sind, weil sie so beschäftigt und überfordert sind; wenn sie selbst dann, wenn sie anwesend sind, in Gedanken verloren sind, wenn sie fast immer bei der Arbeit sind, auch an den Abenden und Wochenenden, und wenn sie dann, sind sie mal zu Hause, die meiste Zeit am Telefon hängen und damit beschäftigt sind, irgendwie den Haushalt zu bewältigen, dann leiden unsere Kinder vielleicht am Entzug elterlicher Zuwendung und an einem riesigen, beinahe genetischen Kummer dahinter. Vielleicht ist einfach ein Defizit an Aufmerksamkeit von seiten der Eltern vorhanden, ein Mangel an tatsächlich gelebter, atmender, fühlender, zärtlicher, verläßlicher und nicht nur gelegentlicher, unabgelenkter Präsenz. Schließlich leben wir in einer Erwachsenenwelt – oder wenigstens glauben wir Erwachsenen daran. Wenn also wir Erwachsenen ständig mehr oder weniger zerstreut sind, wenn es uns dermaßen schwer fällt, uns längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, ist es dann ein Wunder, wenn es immer mehr Kindern ebenso ergeht, vor allem wenn man sich vor Augen hält, daß ihre Rhythmen besonders im Säuglings- und im Kleinkindalter aufs engste mit den unseren verknüpft sind? Vielleicht ist es ja auch so, daß einige Kinder, bei denen ADS diagnostiziert wurde, gar nicht wirklich daran leiden, zumindest nicht, bevor sie ein Handy besitzen und der SMS-Manie anheimgefallen sind. Möglicherweise sind sie ja ganz normale Kinder, die einfach von ihrer Veranlagung her sehr viel Energie besitzen. Es könnte sein, daß sie einfach deshalb als Störenfriede in der Klasse empfunden werden und ADS oder ADHS bei ihnen diagnostiziert wird, weil die Erwachsenen einfach keine Zeit oder keine Lust oder keine Geduld haben, mit der natürlichen überschäumenden Energie von Kindern umzugehen. Viele von uns empfinden sich einerseits als Gefangene der Umstände, sind aber gleichzeitig dem Tempo des modernen Lebens verfallen. Selbst unser Streß und unsere Belastungen können sich irgendwie gut anfühlen, ja sie können sogar süchtig machen. So kann es sein, daß wir uns sogar dagegen sträuben, etwas langsamer zu machen und uns auf den gegenwärtigen Moment einzulassen, die Bedürfnisse unserer Kinder zu 106
achten, wenn sie den unseren entgegenlaufen, Bedürfnisse, die sich ständig ändern, nicht, weil die Kinder eine Verhaltensstörung hätten, sondern einfach weil sie Kinder sind. Es kann also sein, daß die Kinder nur deshalb in ein Un-Wohlsein hineingetrieben werden, weil sie mit uns in unseren ADS-Haushalten leben und auf eine ADS-Schule gehen müssen, wo ihnen ein körperfeindlicher Lehrplan aufgezwungen wird, der ihnen das Lernen von zum größten Teil fragmentierten und zusammenhanglosen Informationen abverlangt. Und nach dieser Initiation in das Leben verlangt man von ihnen, daß sie sich in unserer ADS-Gesellschaft zurechtfinden und auf sinnvolle Weise mit einer Arbeit, mit Beziehungen und ihrem eigenen Leben umzugehen wissen. Auch wenn diese Beschreibung der Situation vielleicht nur teilweise zutrifft, sollte sie uns doch zu denken geben.
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Rund um die Uhr verfügbar Wir brauchen wirklich nicht viel Aufmerksamkeit, um erkennen zu können, daß unsere Welt sich vor unserer Nase so radikal verändert, wie es das menschliche Nervensystem wohl noch nie zuvor erlebt hat. Angesichts des enormen Ausmaßes dieser Veränderungen sollten wir uns vielleicht einmal Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen sie auf unsere Arbeit, unsere Familie und unser Leben im Ganzen haben. Es wäre wohl keine schlechte Idee, sich einmal genauer anzusehen, was die Tatsache, daß wir heute sieben Tage in der Woche jeweils vierundzwanzig Stunden vernetzt und verfügbar sind, mit unserem Leben anstellt. Ich vermute, daß die meisten von uns kaum bemerkt haben, wie sie in diese Situation hineingeschlittert sind. Wir waren so damit beschäftigt, mit den neuen Möglichkeiten und Herausforderungen Schritt zu halten, zu lernen, die neuen Technologien zu benutzen, um mehr in kürzerer Zeit und möglichst besser leisten zu können, daß wir im Verlauf dieses Prozesses völlig von diesen Technologien abhängig geworden, ja geradezu süchtig nach ihnen sind. Und ob es uns nun bewußt wird oder nicht, wir werden von diesem Sog der Zeitbeschleunigung mitgerissen, und es gibt keine Anzeichen dafür, daß er sich wieder verlangsamen wird. Die Technologie, die uns angeblich so viel effektiver machen und uns damit mehr Muße bringen sollte, droht uns sowohl unserer Effektivität als auch unserer Muße zu berauben ... wenn das nicht schon längst geschehen ist. Kennen Sie etwa jemanden, der mehr Freizeit hat? Muße scheint in unserer Gesellschaft ein Fremdwort geworden zu sein ... etwas, was es vor Jahrzehnten vielleicht einmal gegeben hat. Mit unseren Handys, Laptops und drahtlosen Palm-Geräten sind wir heute dermaßen „vernetzt“, daß wir jederzeit mit Hinz und Kunz in Verbindung sein und an jedem Ort der Welt rund um die Uhr unsere Geschäfte abwickeln können. Aber ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß wir angesichts dieser Rundumvernetzung Gefahr laufen, den Kontakt zu uns selbst zu verlieren? Angesichts der von allen Seiten auf uns einstürmenden Verführungen können wir leicht vergessen, daß unsere wichtigste Verbindung zu unserem Leben durch unser Inneres zustande kommt – es ist die Erfahrung unseres eigenen Körpers und all unserer Sinne, einschließlich des Geistes, die es uns erlaubt, mit der Welt in Berührung zu sein und uns von ihr berühren zu lassen sowie angemessen auf sie zu reagieren. Und um das tun zu können, brauchen wir Momente, die nicht von irgend etwas angefüllt sind, in denen wir nicht auf dem Sprung sind, noch ein Telefonat anzunehmen oder noch eine E-Mail zu senden, in denen wir nicht noch eine weitere Aktivität planen oder unseren Terminkalender weiter anfüllen. Wir brauchen Augenblicke der Reflexion, der Besinnung, der Nachdenklichkeit. Wo bleibt mitten in all diesem Gerede von Vernetzung die Verbindung zu uns selbst? Sind wir dermaßen intensiv mit anderen in Verbindung, daß wir niemals wirklich dort sind, wo wir uns befinden? Auch am Strand haben wir noch das Handy am Ohr – sind wir dann wirklich dort? Wir gehen die Straße entlang, wir fahren Auto und telefonieren gleichzeitig – sind wir also wirklich dort? Haben wir angesichts der Beschleunigung unseres Lebensstils und der Möglichkeiten augenblicklicher Kontaktaufnahme die Möglichkeit, in unserem eigenen Leben präsent zu sein, über Bord gehen lassen? 108
Wie wäre es, wenn wir in unseren „freien Momenten“ mal nicht mit irgend jemandem Kontakt aufnähmen. Wir wäre es, wenn wir statt dessen einmal mit demjenigen in Verbindung träten, der an diesem Ende des Drahtes ist? Wie wäre es, wenn wir uns mal bei uns selbst meldeten und nachsähen, was da gerade vor sich geht? Wie wäre es, wenn wir in Kontakt mit unseren Gefühlen träten, auch in solchen Momenten, wo wir uns „daneben“ fühlen, wo wir überfordert, gelangweilt, aus dem Tritt, verängstigt oder deprimiert sind ... oder wo wir den Zwang verspüren, noch eine Sache zu erledigen? Wie wäre es, wenn wir mit unserem Körper in Verbindung träten und mit den Universen von Sinneswahrnehmungen, durch die wir die äußere Landschaft empfinden und erkennen? Wie wäre es, wenn wir mal nicht nur automatisch reagierten und etwas länger als nur einen flüchtigen Moment beim Gewahrsein dessen verweilen würden, was in jedem einzelnen Moment in unserem Geist auftaucht: bei den Gefühlen, den Stimmungen, Empfindungen und Gedanken sowie bei unseren Meinungen? Wie wäre es, wenn wir nicht nur bei ihrem Inhalt verweilten, sondern auch bei den Gefühlslagen, die damit einhergehen, bei ihrer Wirklichkeit als Energien und bedeutsamen Ereignissen in unserem Leben, als große Reservoire an Informationen zur Selbsterkenntnis, als großartige Gelegenheiten zur Auslösung von Transformation, als Gelegenheiten dazu, das, was wir wissen und verstehen, auf authentische Weise zu leben? Wie wäre es, wenn wir uns ein umfassenderes Bild von der Situation machen würden, das uns selbst auf allen möglichen Ebenen einschließt, selbst wenn dieses Bild immer im Entstehen begriffen ist, immer vorläufig bleibt, sich ständig verändert und manchmal ziemlich klar ist und manchmal nicht? Unsere neuerlangte technologische Konnektivität dient häufig keinerlei Zweck und ist bloße Gewohnheit, die manchmal ans Absurde grenzt, wie in einer Karikatur aus dem New Yorker deutlich wird: Eine Zugstation zur Hauptverkehrszeit. Massen von Menschen ergießen sich aus den Zügen oder in die Züge. Sie alle haben ihr Handy am Ohr. Die Bildunterschrift lautet: „Ich steige gerade aus dem Zug.“ „Ich steige gerade in den Zug.“ Wer sind diese Menschen? (Ach ja, ich vergaß – das sind wir alle!) Was ist verkehrt daran, einfach aus einem Zug zu steigen oder in einen Zug einzusteigen, ohne dieses unglaublich wichtige Ereignis irgend jemandem mitzuteilen? Steigt heute denn niemand mehr einfach auf die altmodische Weise aus einem Flugzeug aus und trifft sich dann mit den Menschen, mit denen er verabredet ist, wobei er das Handy nur zur Sicherheit in der Tasche hat? Wenn wir nicht aufpassen, sind wir bald soweit, daß es heißt: „Ich gehe jetzt auf die Toilette. Ich wasche mir jetzt die Hände.“ Wer muß das wirklich wissen? Wenn wir das nur zu uns selbst sagten, dann könnte das auch ein achtsames ZurKenntnis-Nehmen unserer Erfahrung sein. Es würde uns dann helfen, ein Gewahrsein der verkörperten Erfahrung zu gewinnen, wie sie sich im gegenwärtigen Augenblick entfaltet. Ich steige in den Zug (und bin mir dessen bewußt). Ich steige aus dem Zug (und bin mir dessen bewußt). Ich gehe auf die Toilette (und bin mir dessen bewußt). Ich spüre das Wasser auf meinen Händen (und bin mir dessen bewußt). Ich weiß zu schätzen, daß mir sauberes Wasser zur Verfügung steht, und weiß, wie kostbar es ist. 109
Das ist verkörperte Wachheit. Wenn wir das weiterhin üben, wird uns klar, daß das Personalpronomen gar nicht nötig ist ... es geschieht einfach Einsteigen, Aussteigen, Gehen, Fühlen, Wissen, Wissen, Wissen ... Muß das jemandem erzählt werden? Wer braucht diese Information schon? Sie kann den Augenblick durch Ablenkung, Zerstreuung, Verdinglichung zerstören. Manchmal scheint es uns nicht mehr zu genügen, in und mit unserer Erfahrung allein zu sein – auch wenn es dabei um unser Leben in diesem Augenblick geht. Können wir nicht einmal eine Pause machen? Vielleicht ist diese Pause alles, was wir brauchen, um unsere Verbundenheit mit dem Körper, mit dem Atem, mit der unverfälschten, analogen, nichtdigitalisierten Welt der Natur zu erkennen, mit diesem Augenblick, wie er ist, und mit dem, was wir tatsächlich sind. Ich will hier keinesfalls für ein technologiefeindliches „zurück zur Natur“ plädieren und die Nützlichkeit unserer neuen Technologie in Abrede stellen. Ich will nur sagen, daß es in dieser Situation, die unser Nervensystem beansprucht, wie das nie zuvor der Fall gewesen ist, besonders wichtig sein könnte, in unserer Innenwelt ein verläßliches Gegengewicht zu erzeugen – etwas, was unser Nervensystem beruhigt und einstimmt und es in den Dienst eines weisen und für uns und andere förderlichen Lebensstil stellt. Wir können dieses Gegengewicht erzeugen, indem wir unserem Körper, unserem Geist und unserer Erfahrung an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen mehr Achtsamkeit schenken – einschließlich der Momente, in denen wir uns der neuen Technologien bedienen, um mit anderen in Verbindung zu treten ... oder in denen der Impuls auftritt, dies zu tun. Ansonsten laufen wir Gefahr, das Leben eines Roboters zu führen, der keine Zeit mehr hat zu kontemplieren, wer denn all das Machen macht, wer irgendwohin gelangt, wo es angenehmer ist, und ob es dort wirklich angenehmer ist.
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Das Gefühl verstreichender Zeit Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß Ihr inneres Zeitgefühl sich dramatisch verlangsamt, wenn Sie an einem Ihnen unbekannten Ort irgend etwas Abenteuerliches erleben? Reisen Sie nur einmal für eine Woche in eine Ihnen unbekannte Stadt im Ausland und tun Sie dort viele verschiedene Dinge. Wenn Sie dann nach Hause kommen, werden Sie das Gefühl haben, länger als eine Woche fortgewesen zu sein. Ein Tag kann so lang erscheinen wie eine Woche und eine Woche so lang wie ein Monat, so viel haben Sie erlebt und solchen Spaß haben Sie dabei gehabt. Etwas Ähnliches kann Ihnen passieren, wenn Sie eine Woche lang in der Wildnis zelten gehen. Jede Erfahrung, die Sie dort machen, ist neu. Es geht zwar nicht um das Bestaunen von „Sehenswürdigkeiten“, doch alles, was Sie sehen, ist neu für Sie. Darum ist die Häufigkeit dessen, was wir für bemerkenswerte Momente halten, höher als bei uns zu Hause. Und natürlich gibt es hier in der Wildnis nicht so viele der üblichen Ablenkungen. Inzwischen haben die Leute, die zu Hause geblieben sind, eine mehr oder weniger gewöhnliche Woche erlebt, die für sie wie im Flug verging. Für sie sieht es also so aus, als seien Sie kaum losgefahren und schon wieder da. Nach Ray Kurzweil, einem Computerspezialisten und Erfinder von Hilfsgeräten für Menschen mit sensorischen Behinderungen, kalibrieren wir unser inneres, subjektives Gefühl verstreichender Zeit nach den Intervallen zwischen dem, was für uns „Meilensteine“ oder bemerkenswerte Ereignisse sind, und dem „Ausmaß an Chaos“ im System. Er nennt dies das Gesetz von Zeit und Chaos. Wenn die Ordnung abnimmt und das Maß an Chaos (die Häufigkeit ungeordneter Ereignisse innerhalb eines Prozesses) in einem System zunimmt, dann verlangsamt sich die Zeit (die Zeit zwischen bedeutsamen Ereignissen). Und wenn in einem System die Ordnung zunimmt und das Chaos abnimmt, dann beschleunigt sich die Zeit (die Zeit zwischen bedeutsamen Ereignissen). Dieser Zusammenhang, den er das „Gesetz des sich beschleunigenden Gewinns“ nennt, beschreibt evolutionäre Prozesse wie die Evolution von Spezies, aber auch von Technologien oder der Kapazität von Rechnern. Babys und Kleinkinder erleben in den ersten prägenden Jahren sehr viele Meilenstein-Ereignisse, und im Laufe der Zeit nimmt die Häufigkeit solcher Ereignisse ab, auch wenn das Maß an Chaos im System (zum Beispiel unvorhersehbare Ereignisse im Leben) zunimmt. Das Intervall zwischen Meilenstein-Ereignissen ist kurz, und deshalb ist die gefühlte Erfahrung der Kindheit eine Erfahrung von Zeitlosigkeit oder einer sehr langsam verstreichenden Zeit. Wir sind der Zeit kaum gewahr, so sehr sind wir im gegenwärtigen Augenblick. Wenn wir älter werden, scheinen die Intervalle (Zeit) zwischen bemerkenswerten evolutionären Meilensteinen immer länger zu werden, und der gegenwärtige Augenblick scheint uns oft leer und unerfüllend zu sein es ist immer dasselbe. Subjektiv fühlt sich das so an, als beschleunige sich die Zeit, wenn wir älter werden, weil unser Bezugsrahmen länger wird. Wenn man also das innere Gefühl, daß unser Leben verstreicht - und vielleicht an uns vorübergeht -, verlangsamen will, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine besteht darin, unser Leben mit so vielen neuen Erfahrungen, die hoffentlich „Meilensteine“ darstellen, anzufüllen wie nur möglich. Viele Menschen sind nach diesem Lebensstil geradezu süchtig. Sie sind ständig auf der Suche nach dem nächsten 111
Kick, der dem Leben Sinn verleiht, sei es die große Reise in exotische Länder, Extremsport oder der nächste Besuch in einem Feinschmecker-Restaurant. Der andere Weg besteht darin, mehr aus unseren gewöhnlichen Momenten zu machen, so daß sie schon dadurch zu bemerkenswerten Momenten werden, daß wir sie überhaupt bemerken. Dies reduziert zudem das Chaos und vergrößert die Ordnung im Geist. Die kleinsten Momente können zu wahrhaften Meilensteinen werden. Wenn Sie wirklich für Ihre Augenblicke präsent sind, während diese sich entfalten, dann entdecken Sie, ganz gleich, was geschieht, daß jeder Augenblick einzigartig und neu und deshalb ein großartiges Ereignis ist. Ihre Erfahrung von Zeit würde sich verlangsamen. Es könnte sogar sein, daß Sie ganz aus der subjektiven Erfahrung verstreichender Zeit heraustreten, indem Sie sich für die zeitlose Qualität des gegenwärtigen Augenblicks öffnen. Da Ihnen in Ihrem Leben noch eine astronomisch große Zahl an Momenten verbleibt, egal wie alt Sie sind, wird Ihr Leben um so lebendiger, je mehr Sie für diese Augenblicke da sind. Je reicher die Momente selbst und je kürzer das Intervall zwischen ihnen, desto langsamer verstreicht die Zeit vom Standpunkt Ihrer persönlichen Erfahrung und desto „länger“ wird Ihr Leben. Interessanterweise gibt es jedoch noch eine weitere Möglichkeit, das Gefühl verstreichender Zeit zu verlangsamen. Diese Möglichkeit fühlt sich allerdings ziemlich schlecht an. Sie tritt nämlich dann ein, wenn wir in einer Depression stecken, uns in emotionalem Aufruhr befinden oder unglücklich sind. Wenn etwa während unserer Ferien etwas schiefläuft, dann kann eine Woche, ja sogar ein Tag uns endlos erscheinen, weil wir einfach nicht hier sein wollen. Die Dinge laufen nicht so, wie wir es uns wünschen. Unsere Erwartungen werden nicht erfüllt, und wir befinden uns in einem scheinbar endlosen Kampf mit den Gegebenheiten, weil sie nicht so sind, wie wir es uns wünschen. Die Zeit ist dann eine Bürde, und wir können es nicht erwarten ... bis wir wieder nach Hause kommen oder bis der Regen endlich aufhört oder bis was auch immer geschieht, was wir als Voraussetzung für unsere Erfüllung, für unser Glück empfinden. Ob wir nun unterwegs sind oder zu Hause, wenn wir in eine Depression und die damit einhergehenden Stimmungslagen verfallen, so ist es ein ständiger Kampf, Dinge zu erledigen, und dennoch erscheint uns alles, was wir tun, leer und sinnlos zu sein, alles erscheint ungemein mühsam und die Zeit selbst zieht uns noch weiter hinunter in den Morast. Es fühlt sich so an, als käme es einfach nie mehr zu einem großartigen uns aufheiternden Ereignis, als gäbe es keine Meilensteine der Entwicklung mehr, die wir erreichen oder erfahren könnten. Was den Bereich der äußeren Welt angeht, so sagt Kurzweil, erleben wir ein exponentielles Wachstum unserer Technologie, und so kommen die Meilensteine der technologischen Entwicklung immer schneller. Da unser Leben und unsere Gesellschaft heute dermaßen eng mit unseren Maschinen verknüpft sind, reißt diese Beschleunigung des Wandels auf der technologischen Ebene gleichzeitig auch unseren Lebensstil mit, so daß die Dinge nicht nur schneller abzulaufen scheinen, sondern es tatsächlich tun. Wir müssen uns diesem Prozeß anpassen, der von uns verlangt, immer schneller zu arbeiten, und der immer größere Anforderungen mit sich bringt; wir müssen große Mengen an Informationen möglichst schnell verarbeiten, müssen sie effektiv kommunizieren und müssen immer mehr wichtige oder doch zumindest „dringende“ Angelegenheiten erledigen. Selbst unsere Möglichkeiten, uns zu unterhalten, nehmen immer schneller zu, 112
so daß wir in unserem Streben, Momente der Entspannung und Befriedigung zu finden, immer mehr und immer schneller Entscheidungen fällen müssen. Wie Ray Kurzweil glauben auch andere Computerfachleute, daß nicht etwa Menschen, sondern die Maschinen, die auf immer mehr „Intelligenz“ hin programmiert werden – in dem Sinne, daß sie fähig sind, zu lernen und ihren Output auf der Grundlage ihres Inputs („Erfahrung“) zu modifizieren –, selbst die nächste Generation von Maschinen entwerfen werden. Dies geschieht teilweise jetzt schon. So kann es sein, daß die Evolution angesichts des Potentials von Silikon-Implantaten (etwa als Gedächtnis-“Upgrades“), von Robotern, die Denken und vielleicht sogar Gefühle simulieren, von Nanotechnologie und Genmanipulation, wie einige vorausschauende Ingenieure warnen, bereits über das Humane hinausgegangen ist und inzwischen auch die Evolution von Maschinen beinhaltet, so daß das Zeitalter des Menschen, wie wir ihn kennen und als „menschliches Wesen“ definieren, zu Ende geht, und zwar schneller als die meisten von uns ahnen oder sich vorstellen können. Wenn dies auch nur im Entferntesten wahr sein könnte, dann wäre es vielleicht an der Zeit, daß wir das volle Repertoire unserer Menschlichkeit und unseres evolutionären Erbes erkunden, solange es uns noch zur Verfügung steht. Dazu würde auch gehören, die Frage zu stellen, wie sehr uns als Gesellschaft daran liegt, diese technologische Evolution bewußt zu steuern, damit sie nicht jene Aspekte unseres genetischen Erbes aus etwa einer Milliarde Jahre der vormenschlichen Evolution auslöscht und aus vielleicht 100 000 Jahren der Evolution als Homo sapiens sapiens sowie der nur etwa 5000 Jahre sogenannter „Zivilisation“, die wir für wichtig und wertvoll halten. Wir waren als Spezies außerordentlich frühreif, insbesondere was die Entwicklung und den Gebrauch von Werkzeugen, Sprache, Kunstformen, Naturwissenschaft und Technologie anging. Aber in anderen Bereichen sind wir noch weit davon entfernt, ein wirklich umfassendes Wissen um unser Potential erlangt zu haben, etwa was die Bereiche Selbsterkenntnis, Weisheit und Mitgefühl angeht. Diese Dimensionen unseres Erbes sind unserem großen Gehirn und unserem außerordentlichen Körper angeboren, aber sie liegen immer noch auf beklagenswerte Weise brach. Sollte es uns nicht gelingen, diese Aspekte unseres eigenen Geistes zu kultivieren, im Inneren wie im Äußeren Möglichkeiten zur Verlangsamung der Zeit zu finden und unsere Fähigkeit zu klarem Sehen und weisem Handeln besser zu nutzen, dann könnte es uns sehr schwer fallen, uns dem anzupassen, was uns in den kommenden Jahrzehnten noch erwartet. Was nun die Erfahrung des Verstreichens von Zeit angeht, so kann Achtsamkeit uns unsere Augenblicke zurückgeben, indem sie uns daran erinnert, daß es möglich und sogar wertvoll ist, bei ihnen zu verweilen, sich in ihnen einzurichten, sie mit all unseren Sinnen zu fühlen und in Gewahrsein um sie zu wissen. Dieses Gewahrsein, so könnten wir sagen, ist von der Erfahrung her außerhalb der Zeit, im ewigen Jetzt, in der Gegenwart. Augenblicke, die wir in stiller Wachheit verbringen, ohne daß irgend etwas als nächstes geschehen muß, mit keiner anderen Absicht als der, lebendig und wach genug zu sein, um das Leben so, wie es in diesem Augenblick ist, schätzen zu können, können uns wieder jenes so lebenswichtige Gleichgewicht und jene Klarheit schenken, die fast immer von der Turbulenz und Hartnäckigkeit unserer inneren und äußeren Neigungen untergraben werden. Auf diese Weise verlangsamt Achtsamkeit das Gefühl verstreichender Zeit oder bringt es für eine Weile sogar ganz zum Stillstand. Gleichzeitig finden wir durch 113
Achtsamkeit eine neue Art, das, was in der äußeren Landschaft geschieht, und unsere Reaktion darauf genauer wahrzunehmen und zu untersuchen. So erlangen wir durch die Vorgänge im Bereich von Technologie, Gesellschaft und Politik auch ein neues Verständnis unserer Verletzlichkeit und unserer Verstrickung in jene Vorgänge. Und was die innere Landschaft betrifft, können wir durch Achtsamkeit über die emotionalen Reaktionen und Muster, die uns so viel Unglücklichsein und ein Gefühl der Verzweiflung und Einsamkeit bescheren, hinaussehen. Wir bekommen die Chance, mit dem Mysterium der gleichzeitigen Leere und Fülle der Zeit und des Verstreichens von Zeit zu arbeiten.
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Gewahrsein hat kein Zentrum und keine Peripherie Es ist schwer zu sehen, aber ebenfalls schwer zu übersehen, daß Gewahrsein, wenn wir darin verweilen, kein Zentrum und keine Peripherie hat. In diesem Sinne gleicht es dem Raum selbst und dem, was wir über die grenzenlose Struktur des Universums wissen. Doch trotz Galilei, trotz der kopernikanischen Wende und trotz Hubbles verblüffender Entdeckung, daß das Universum sich von jedem Ort aus gesehen in alle Richtungen ausdehnt, neigen wir immer noch dazu, so zu denken, zu fühlen und zu reden, als sei unser winziger Planet das Zentrum des Universums. Wir sagen, die Sonne ginge im Osten auf und im Westen unter, und diese Abmachung funktioniert für unser Alltagsleben gut genug, auch wenn wir im Grunde sehr genau wissen, daß es tatsächlich nicht so ist, sondern daß in Wirklichkeit unser Planet rotiert und damit, von unserem Standpunkt aus, den Anschein des Sonnenlaufes erweckt. Wir geben uns fröhlich mit der Erscheinung von Dingen zufrieden, auch wenn deren Wirklichkeit vielleicht ganz anders ist. Unsere Sichtweise hat sich natürlich durch die Sinne des Körpers entwickelt, und so ist unser Festhalten am Gaia-Zentrismus und an unserer Ego-Zentrik verständlich und verzeihlich. Das ist es, was wir die konventionelle Subjekt-Objekt-Anschauung der Welt nennen könnten. Sie ist zwar nicht ganz wahr, aber im großen und ganzen funktioniert sie, soweit sie reicht, ganz gut. Dieser gleiche Impuls, ein Zentrum zu bestimmen und uns selbst in diesem Zentrum zu positionieren, färbt praktisch auf alles ab, was wir sehen und tun. So ist es kein Wunder, daß es sich auch auf unsere Erfahrung des Gewahrseins auswirkt, solange wir nicht die konventionelle Sichtweise, die wir uns selbst auferlegen, abstreifen und das Gewahrsein so erfahren, wie es wirklich ist. Unsere Sichtweise ist unvermeidbar von unserem Standpunkt abhängig. Da der Körper im Zentrum unserer Erfahrung steht, scheint alles, was wir wahrnehmen, auf seinen Ort bezogen zu sein und durch die Sinne wahrgenommen zu werden. Da gibt es einen Sehenden und das Gesehene, einen Riechenden und das Gerochene, einen Schmeckenden und das Geschmeckte – in einem Wort: den Beobachter und das Beobachtete. Es scheint eine natürliche Trennung zwischen den beiden zu geben, die so selbstverständlich ist, daß sie von den Philosophen kaum jemals in Frage gestellt oder erforscht wurde. Wenn wir Achtsamkeit zu üben beginnen, besteht diese Empfindung der Getrenntheit, die als die Trennung des Beobachters vom Beobachteten Ausdruck findet, fort. Wir haben das Gefühl, unseren Atem zu beobachten, so als sei er von demjenigen, der da beobachtet, getrennt. Wir beobachten unsere Gedanken. Wir beobachten unsere Gefühle, so als gäbe es hier drinnen etwas, ein „Ich“, das der Anweisung folgt, die Beobachtung ausführt und die Ergebnisse erfährt. Wir lassen uns nicht träumen, daß es Beobachtung ohne einen Beobachter geben könnte – zumindest solange wir nicht ganz natürlich, ohne irgend etwas zu erzwingen, ins Beobachten, Aufmerken, Wahrnehmen und Wissen hineinfallen, mit anderen Worten: bis wir ins Gewahrsein hineinfallen. Wenn das geschieht, und sei es auch nur für einen kurzen Moment, kann es zu der Erfahrung kommen, daß alle Trennung zwischen Subjekt und Objekt verschwindet. Da ist nur noch Wissen ohne einen Wissenden, Sehen ohne einen Sehenden, Denken ohne 115
einen Denker; es ist so, als entfalteten sich einfach unpersönliche Geschehnisse im Gewahrsein. Die Plattform, von der aus wir sehen, deren Zentrum das Ich ist und die deshalb im wahrsten Sinn des Wortes „egozentrisch“ ist, löst sich auf, wenn wir wirklich im Gewahrsein verweilen, im Wissen selbst. Das ist einfach eine Eigenschaft des Gewahrseins und des Geistes. Es bedeutet nicht, daß wir keine Person mehr sind, sondern nur, daß sich die Grenzen und Möglichkeiten unseres Personseins dramatisch erweitert haben und wir nicht länger auf den abgetrennten Bereich beschränkt sind, den wir üblicherweise bewohnen und in dem es ein „Ich“ hier drinnen und eine Welt da draußen gibt, wobei alles um mich als den Handelnden, den Beobachtenden oder sogar als den Meditierenden kreist. Die umfassendere, weniger egozentrische Sichtweise taucht auf, wenn wir über die konventionellen Grenzen unserer fünf Sinne hinausgehen und in die Landschaft oder vielleicht besser gesagt den Weltraum des Gewahrseins selbst eintreten, in das, was man auch „reines“ Gewahr-sein nennen könnte. Das ist etwas, was wir alle bereits auf die eine oder andere Weise in bestimmten, meist nur kurzen Momenten geschmeckt haben, auch wenn wir uns noch nie mit Meditation beschäftigt haben. Widmen wir uns jedoch mit ganzem Herzen der Übung von Achtsamkeit, nimmt unser Vermögen zu, in einem subjektlosen, objektlosen, nichtdualen Gewahrsein zu verweilen (in dem es kein „wir“ mehr gibt, das in irgend etwas verweilt). Dieser Zustand kann sich uns unter bestimmten Umständen auch spontan offenbaren, oft ausgelöst durch intensiven Schmerz oder, nicht so oft, durch intensive Freude. Die Egozentrik fällt weg, und es gibt kein Zentrum und auch keine Peripherie des Gewahrseins mehr. Es gibt einfach nur noch Wissen, Sehen, Empfinden, Fühlen, Denken. Wir alle haben schon eine Kostprobe der Grenzenlosigkeit erhalten, wenn es uns in bestimmten Momenten möglich war, unseren persönlichen Standpunkt hintanzustellen und für ein Weilchen den Blickwinkel einer anderen Person einzunehmen und mit ihr zu fühlen. Wir bezeichnen das als Einfühlungsvermögen. Wenn wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt und ständig nur in unsere eigene Erfahrung verstrickt sind, dann werden wir nicht in der Lage sein, unsere Perspektive auf diese Weise zu verschieben. Wenn wir dermaßen von uns selbst eingenommen sind, dann sind wir uns ganzer Bereiche der Wirklichkeit nicht bewußt, auch wenn wir mitten darin leben und sie sich ständig auf unser Leben auswirken. Unsere Gefühle, insbesondere die besonders heftigen Emotionen, die uns „den Boden unter den Füßen wegreißen“, wie etwa Zorn, Angst und Trauer, können uns dann nur allzuleicht für das vollständige Bild dessen blind machen, was mit uns selbst und mit anderen geschieht. Eine solche Unbewußtheit hat unausweichlich ihre Konsequenzen. Warum sind wir wohl manchmal so überrascht, wenn eine Beziehung zerbricht, wo wir diese doch über viele Jahre hinweg durch unsere eigene Egozentrik erstickt haben, während wir gleichzeitig nicht wahrgenommen haben, was sich die ganze Zeit genau vor unserer Nase abspielte? Da Gewahrsein auf den ersten Blick eine subjektive Erfahrung zu sein scheint, können wir es nur schwer vermeiden zu denken, daß wir das Subjekt, der Denker, der Fühlende, der Sehende, der Handelnde und als solcher das Zentrum des Universums sind, eben das Zentrum unseres Bewußtseinsfeldes. Und da wir auf diese Weise wahrnehmen, nehmen wir alles im Universum, oder zumindest in unserem Universum, ziemlich persönlich. 116
Es kann sich so anfühlen, als dehnte sich unser Bewußtsein von einem in uns lokalisierten Zentrum in alle Richtungen aus. Deshalb fühlt es sich so an, als sei es „mein“ Bewußtsein. Aber das ist nur ein Streich, den uns unsere Sinne spielen, genauso, wie es für das Gefühl gilt, daß der Ort, von dem aus wir hinausschauen, das Zentrum des Universums ist. In gewisser Weise stehen wir vielleicht tatsächlich im Zentrum des Gewahrseins, in dem Sinne nämlich, daß wir ein lokalisierter Knotenpunkt der Empfänglichkeit sind. In fundamentalerer Hinsicht jedoch ist das nicht der Fall. Gewahrsein hat, ebenso wie der Raum selbst, kein Zentrum und keiner Peripherie. Bevor das Denken die Erfahrung in Subjekt und Objekt aufspaltet, ist Gewahrsein zudem nichtbegrifflich. Es ist leer und kann deshalb alles enthalten, einschließlich des Denkens. Es ist grenzenlos. Und es ist vor allem, wunderbarerweise, Wissen. Die Tibeter nennen diese grundlegende Qualität des Wissens „Geistessenz“. Die Kognitionswissenschaft nennt sie Bewußtsein. Niemand versteht sie. Wie wir wissen, ist sie in manchem von Neuronen abhängig, von der Gehirnarchitektur und ihrer unendlichen Anzahl möglicher neuronaler Verbindungen, denn man kann sie durch bestimmte Gehirnschäden verlieren, und außerdem scheinen auch Tiere sie in unterschiedlichem Maß zu besitzen. Aus einem anderen Blickwinkel beschreiben wir mit dem neuronalen Modell vielleicht nur die notwendigen Eigenschaften eines Empfängers, der es uns erlaubt, ein Feld der Potentialität anzuzapfen, das von Anfang an vorhanden war ... denn die bloße Tatsache, daß wir gewahr sind, bedeutet bereits, daß das Potential für Bewußtsein von Anfang an vorhanden war, was immer „Anfang“ hier bedeutet. Mit anderen Worten: Wissen war schon immer möglich, sonst wären wir nicht hier und wüßten. Das ist das sogenannte anthropische Prinzip, von dem die Kosmologen in ihrem Diskurs über die Ursprünge des Universums und die Möglichkeit multipler Universen sprechen. Bescheiden formuliert könnten wir sagen, daß wir zumindest ein Vehikel sind, welches das Universum entwickelt hat, um sich selbst zu erkennen – in dem Maße, in dem das möglich ist und ohne daß hier eine Absicht vorausgesetzt wird oder eine kosmische „Notwendigkeit“ zur Evolution von Bewußtsein besteht. Da wir dieses Erbe besitzen, wäre es vielleicht nützlich, wenn wir die scheinbaren Grenzen unserer Selbsterkenntnis genauer untersuchten. Jedoch nicht als etwas, was von der Natur getrennt ist, sondern als ein nahtlos in das Universum eingebetteter Ausdruck desselben. Könnte es ein größeres Abenteuer geben, als das Feld des Gewahrseins, des Bewußtseins selbst zu erforschen? Auch wenn die Naturwissenschaften nahelegen, daß unser Bewußtsein – nach Steven Pinker in seinem Buch Wie das Denken im Kopf entsteht „das am wenigsten bezweifelbare Ding, das es gibt“ (auch wenn es kein „Ding“ ist) – sich vielleicht für immer unserem begrifflichen Verständnis entzieht, muß uns das nicht im geringsten von dessen Erkundung abhalten. Denn es gibt Wege des Wissens, die über das begriffliche Verstehen hinausgehen und solche, die der Entstehung von Konzepten vorausgehen. Wenn das Bewußtsein sich selbst erfährt, öffnen sich neue Dimensionen des Möglichen. Durch die absichtliche Schulung in Achtsamkeit können wir die Wahrscheinlichkeit, daß das Bewußtsein sich selbst erfährt, beträchtlich erhöhen also indem wir lernen, ohne Konzepte und ohne Urteile aufmerksam zu sein, so als sei es wirklich wichtig ... denn das ist es zweifellos. 117
Leere Ich bin niemand! Wer bist du? Bist du – niemand – ebenso? Dann gibt's also zwei von uns? Verrat es niemandem – du weißt, sie würden's nur herumposaunen! Wie öde wär es doch – Jemand – zu sein! Wie indiskret – ganz wie ein Frosch – während des ganzen lebenslangen Juni – einem Tümpel voller Bewunderer den eignen Namen zu verkünden! EMILY DICKINSON Während des Festtagsgottesdienstes wurde einst ein Rabbi von einem Gefühl der Einheit und Verbundenheit mit dem Universum und mit Gott überwältigt. In einen plötzlichen Zustand der Ekstase versetzt, rief er aus: „Oh Herr, ich bin Dein Diener. Du bist alles, ich bin nichts.“ Der Kantor, tief in seinem Herzen davon angerührt, rief ebenfalls: „Oh Herr, ich bin nichts.“ Da hörte man den Hausmeister der Synagoge, der davon seinerseits tief berührt war, ausrufen: „0 Herr, ich bin nichts.“ Da beugte sich der Rabbi zum Kantor hinüber und flüsterte: „Nun sieh mal einer an, wer sich da ebenfalls für nichts hält.“ Und so geht es immer weiter mit unseren unablässigen Versuchen, uns als ein Jemand und nicht als ein Niemand zu definieren. Vielleicht tun wir das, weil wir tief in unserem Innern ahnen, daß wir tatsächlich ein Niemand sind und daß unser Leben, egal was wir darin erreicht haben, auf Treibsand gebaut ist und wir kein festes Fundament, ja vielleicht überhaupt keinen Boden unter den Füßen haben. In seiner überaus eleganten Analyse in Somebodies and Nobodies betrachtet Robert Fuller diese Spannung in uns und untereinander als die eigentliche treibende Kraft hinter den gesellschaftlichen und politischen Übeln von Gewalt, Rassismus, Sexismus, Faschismus, Antisemitismus und der Geringschätzung alter Menschen. Und was bietet er als Lösung an? Das, was er „Wertschätzung“ nennt, nämlich, daß wir jedermann als einen Menschen behandeln, der dieselbe grundlegende Würde besitzt, die seinen gesellschaftlichen Status und seine Errungenschaften transzendiert. Und der Aids-Forscher Jonathan Mann, der unermüdlich die Rolle von Würde für die Wiederherstellung und Bewahrung der Gesundheit auf einer globalen Ebene betonte, schrieb: „Verletzungen der persönlichen und kollektiven Würde stellen vielleicht eine bisher noch nicht erkannte pathogene Kraft dar, die das physische, mentale und soziale Wohlergehen ebenso beeinträchtigen kann wie Viren und Bakterien.“ Starke Worte! Wir Menschen sind tatsächlich alle Genies der einen oder anderen Art, und das, wonach wir am meisten hungern und was am dringendsten geschützt werden muß, ist unsere grundlegende Würde. „Es stellt sich heraus“, so schreibt Fuller, „daß die Menschen es nicht etwa brauchen und sich wünschen, andere zu beherrschen, sondern sie brauchen es und wünschen sich, von ihnen anerkannt zu werden.“ 118
Doch trotz all unseres Verlangens nach Anerkennung, danach, als das gesehen und angenommen zu werden, was wir sind, und diese Anerkennung als grundlegendes Menschenrecht geachtet zu sehen, verstricken wir uns doch nur allzuleicht in unser eigenes egozentrisches Denken, und sei es auch ein sogenanntes „spirituelles“ Denken, ja vielleicht gerade, wenn es ein sogenanntes spirituelles Denken ist. Und in diesem Prozeß können wir tatsächlich das, was wir am besten kennen, was wir am ehesten sind, was uns am wichtigsten ist, Lügen strafen und verraten. Denn das Denken ist schließlich und endlich, ganz gleich, was für ein Denken es ist, doch nicht mehr als Denken. Für wen halten wir uns denn? „Nun sieh mal einer an, wer sich da ebenfalls für nichts hält.“ Und was glauben wir zu sein? Das sind Fragen, denen wir aus dem Weg gehen. Wir vermeiden es, unsere gesamte Intelligenz darauf zu verwenden, solche Dinge zu erkunden, auch wenn es genau darauf am meisten ankäme. Wir erfinden lieber eine Geschichte, die einen Aspekt unseres Ichs als ein dauerhaftes, bleibendes Etwas erscheinen läßt, selbst wenn man dieses Etwas „Niemand“ oder „Nichts“ nennt. Und statt die geheimnisvolle Natur unseres Seins jenseits unseres Namens, unserer Erscheinung, unserer Rollen, unserer Errungenschaften und unserer eingefleischten mentalen Konstrukte zu erforschen, klammern wir uns lieber an dieses Etwas und machen uns Sorgen darum, selbst wenn wir wissen, daß wir das nicht wirklich sind. Diese Gewohnheit, Geschichten über uns selbst zu erfinden, die sich bei näherem Hinsehen nur als teilweise wahr erweisen, macht es schwer, inneren Frieden zu finden, weil immer das untergründige Gefühl bleibt, daß wir nicht gänzlich das sind, wofür wir uns halten. Vielleicht fürchten wir ja, weniger zu sein, als wir zu sein glauben, wo wir doch in Wirklichkeit unendlich viel mehr sind. Wenn wir glauben, „Jemand“ zu sein, ganz gleich, wer das ist, dann sind wir auf dem Holzweg. Soen Sa Nim würde dazu vielleicht sagen: „Wenn du sagst, daß du jemand bist, dann hängst du an Name und Form, und ich werde dir dreißig Schläge versetzen. Wenn du sagst, daß du niemand bist, dann hängst du an der Leere, und ich werde dir dreißig Schläge versetzen. Was also kannst du tun?“ Eventuell ist ja das Denken selbst hier das Problem. Die wundervolle amerikanische Zen-Lehrerin und Großmutter Joko Beck leitet ihr Buch Einfach Zen mit einem kraftvollen Gleichnis ein, welches den vergänglichen und flüchtigen Charakter unseres Lebens als Individuen im größeren Strom des Lebens betont: Wir sind im Grunde Wirbel im Fluß des Lebens. Im Vorwärtsströmen trifft der Fluß vielleicht auf Felsblöcke, Äste oder Unebenheiten im Flußbett, durch die plötzlich hier und da ein Wirbel entsteht. Das Wasser, das in den Wirbel fließt, schießt herum und wird rasch wieder Teil des Flusses, bis es schließlich Teil eines neuen Wirbels wird und sich dann wieder weiterbewegt. Auch wenn es für kurze Zeit scheinbar als etwas Eigenes unterschieden werden kann, ist das Wasser im Wirbel doch nichts anderes als der Fluß selbst. Die Stabilität eines Wirbels ist sehr vergänglich. ... Aber wir möchten glauben, daß der kleine Wirbel, der wir sind, nicht Teil des Flusses ist. Wir wollen uns als dauerhaft und stabil sehen. Wir verbrauchen unsere ganze Energie in dem Versuch, unser eingebildetes Getrenntsein zu 119
schützen. Um es zu schützen, ziehen wir künstliche, festgelegte Grenzen, und dadurch häufen wir unnötig Ballast an, überflüssiges Zeug, das in unseren Wirbel rutscht und nicht mehr heraus kann. Dadurch wird unser Wirbel verstopft, und alles gerät durcheinander.... Benachbarte Wirbel bekommen weniger Wasser, weil wir so krampfhaft festhalten.10 Wenn wir uns erlauben zu erkennen, wie unpersönlich der Prozeß des Lebens tatsächlich ist, und wie schnell wir aus Angst und aus unserem Denken heraus geneigt sind, es auf absolutistische Weise zu etwas Persönlichem zu verdinglichen, um dann in den beengenden Strukturen, die wir selbst geschaffen haben, festzustecken, dann gewinnen wir Nutzen und Freiheit daraus. Wir leben in einer Kultur der Dingwörter. Wir machen Dinge zu Dingen, und auch das, was kein Ding ist, wie etwa ein Strudel oder das Bewußtsein, machen wir zu einem Ding. Auf diese Weise werden wir unwillkürlich Namen und Form verhaftet. Wir müssen vor allem auf unsere Beziehung zu den Personalpronomen achten. Ansonsten werden wir Dinge automatisch persönlich nehmen, wo sie es gar nicht sind, und werden dabei an dem, was wirklich ist, vorübergehen oder es mißverstehen. Wie in dem Kapitel „An nichts festhalten“ schon ausgeführt, hat der Buddha einst gesagt, man könne seine gesamte Lehre in einem Satz zusammenfassen: „Man soll nichts als ,ich`, ,mich` oder ‚mein' betrachten und daran festhalten.“ Das wirft sofort die Frage nach unserer Identität und unserem Selbstverständnis auf und stellt unsere Gewohnheit in Frage, das Personalpronomen zu einem absoluten und nicht hinterfragten „Selbst“ zu verdinglichen oder zu konkretisieren und dann ein Leben lang in dieser „Geschichte von einem Ich“ zu leben, ohne jemals zu untersuchen, ob die Geschichte nicht vielleicht unzutreffend oder unvollständig ist. Im Buddhismus wird diese Verdinglichung als die Wurzel allen Leidens und aller quälenden Emotionen angesehen, einefälschliche Identifizierung unseres Seins mit der begrenzten Geschichte, die wir um das Personalpronomen herum arrangieren. Es kommt zu dieser Identifikation, ohne daß wir es bemerken oder uns fragen, ob sie zutreffend ist. Aber wir können lernen, sie zu durchschauen und dahinter eine tiefere Wahrheit zu sehen, eine größere Weisheit, die uns jederzeit zur Verfügung steht. Dieses Leersein von einem soliden, dauerhaften Ort, den wir als ein Selbst identifizieren und mit dem wir uns identifizieren können, betrifft eine ganze Reihe von Prozessen, von der Politik über die Wirtschaft bis hin zu unserer eigenen Biologie. Nehmen wir ein Beispiel aus der Wirtschaft. Geschäftsleute sagen oft: „Das Wichtigste ist der Prozeß, nicht das Produkt.“ Oder: „Kümmere dich um den Prozeß, und das Produkt wird für sich selbst sorgen“, womit, wie ich annehme, gemeint ist, daß ein gutes Produkt im Laufe eines Prozesses entstehen wird, bei dem man auf verschiedenen Ebenen das Wesentliche im Auge behält, den Zweck dieses Prozesses eingeschlossen. Manchmal heißt es auch, daß man sich als Geschäftsmann immer bewußt sein soll, in welchem Geschäft man sich befindet. Allerdings ist es nicht so leicht, den Finger darauf zu legen, in welchem Geschäft man sich befindet. Das Geschäft besteht nicht aus den Arbeitgebern, nicht aus den Angestellten, nicht aus den Zulieferern, nicht aus den Kunden und auch nicht aus den Produkten. Es besteht aus ihrer gesamten, sich ständig verändernden Wechselwirkung, aus einem verknüpften Prozeß. Man findet „das Geschäft“ nicht in einem seiner Teile. Es ist, so könnte man sagen, leer von einer ihm 10
Charlotte Joko Beck, Einfach Zen. München: Droemer Knaur, 2000, S. 17 f 120
eigenen Existenz. Und doch: Wenn es läuft, dann läuft es. Auf der konventionellen Ebene kann dieser Prozeß, der im Kern leer von eigenständiger Existenz ist, Dinge in Bewegung bringen, er kann das Leben von Menschen verbessern und an der Börse gehandelt werden. Allerdings könnte der ganze Prozeß gesünder sein, wenn man darin all seiner Aspekte, einschließlich der ihm innewohnenden Leerheit, gewahr bleibt und sie als angemessen würdigt. Um ein Beispiel aus der Biologie zu nennen: Das Leben selbst ist ein Prozeß, und zwar ein viel komplizierterer als irgendein Geschäft. Nehmen Sie Ihren eigenen Körper. Die etwa einhundert Billionen „Angestellten“, Ihre Zellen, sind ständig aktiv, und eine jede tut hoffentlich und wunderbarerweise das, was sie tun soll, so daß Knochenzellen nicht glauben, sie seien Leberzellen, und Herzzellen nicht glauben, sie seien Nierenzellen oder Nervenzellen, auch wenn sie alle dieses Potential besitzen, weil sie den Bauplan und die Handlungsanweisungen irgendwo in den „Stapeln“ ihrer Chromosomen-Bibliotheken enthalten, so daß sie im Prinzip all diese anderen „Jobs“ übernehmen könnten. Das Komische ist nun aber – führen Sie sich das einmal vor Augen! –, daß keine dieser einhundert Billionen Arbeitskräfte in Ihrem Körper für „Sie“ arbeitet. Das Ganze ist ziemlich unpersönlich. Die Zellen tun einfach das, was sie tun. Sie folgen ihrer Natur, wie sie durch den genetischen Code und die historische Kontinuität des Lebens auf der Grundlage von Zellen in der Evolution bestimmt ist. Das, was wir für unsere einzigartige Persönlichkeit halten, ist auf geheimnisvolle Weise das Produkt dieses Prozesses, so wie jedes Geschäft ein Produkt seiner eigenen Energien und Prozesse und Produkte ist. Unser Körper und seine Gesundheit, unser Bewußtsein und unsere Gefühle sind aufs engste mit unserer Biochemie verbunden. Eine unglaubliche Vielfalt von komplexen zellulären Prozessen ist nahtlos in eine Gesellschaft integriert, die wir einen lebenden Organismus nennen, und bis heute haben wir noch nicht alle dieser Prozesse verstanden. Und auch diese Prozesse sind, wenn wir genau hinsehen, leer von einem festen, dauerhaften Selbst. Es läßt sich darin kein „Ich“, kein „Jemand“ auffinden, so sehr wir auch danach suchen mögen. „Wir“ sind nicht in unseren Ribosomen oder Mitochondrien, nicht in unseren Knochen oder unserer Haut und auch nicht in unserem Gehirn, selbst wenn die Erfahrung, eine Person zu sein, ein Leben zu leben und mit einer Welt im Austausch zu stehen, davon abhängig ist, daß all diese Dinge einigermaßen funktionieren und einen Zusammenhang bilden – auf eine Weise, die wir uns trotz aller Fortschritte der Wissenschaft bis heute noch kaum vorstellen können. Und wir sind auch nicht unsere Augen. Wir wissen zwar viel über das Sehvermögen, verstehen aber trotzdem nicht, wie wir aus dem Licht, das in unsere Augen eintritt, die Welt erzeugen, in der wir leben. Wir machen die Erfahrung eines blauen Himmels an einem klaren Tag, und doch läßt sich weder im Licht dieser bestimmten Wellenlänge noch in der Retina noch im Sehnerv, noch im Sehzentrum des Gehirns so etwas wie „Bläue“ auffinden. Und doch erfahren wir den Himmel augenblicklich als blau. Wo kommt diese Erfahrung von „blau“ her? Wie kommt sie zustande? Wir wissen es nicht. Es ist ein Mysterium, so wie jedes andere Phänomen, das durch unsere Sinne auftaucht, einschließlich unseres Geistes und unserer Empfindungen, ein separat existierendes Selbst oder Ich zu sein. Unsere Sinne bauen eine Welt für uns und plazieren uns in dieser Welt. Diese konstruierte Welt hat gewöhnlich ein hohes Maß an Kohärenz, und es gibt darin die starke Empfindung des Vorhandenseins eines 121
Wahrnehmenden und dessen, was wahrgenommen wird, eines Denkers und dessen, was gedacht wird, eines Fühlenden und dessen, was gefühlt wird. Das Ganze ist ein unpersönlicher Prozeß, und wenn man von einem Produkt dieses Prozesses sprechen kann, dann findet es sich jedenfalls nicht in den einzelnen Teilen selbst. Wir sind natürlich eine der Lösungen, die die Evolution für eine Spezies gefunden hat, erfolgreich auf diesem Planeten zurechtzukommen – genauso wie Spinnen, Erdwürmer und Kröten. Wir sind gut angepaßt an die Herausforderung, mit Hilfe unseres Verstandes zu überleben und nicht bloß durch unsere Instinkte, auch wenn das die Wichtigkeit unserer Instinkte keineswegs schmälern soll. Wir haben durch die Oppositionsbewegung des Daumens eine Greifhand zur Verfügung, wir haben einen aufrechten zweibeinigen Gang, der unsere Hände dafür frei macht, nach Dingen zu greifen und Werkzeuge zu benutzen. Und was besonders wichtig ist, wir haben Denken und Gewahrsein zu unserer Verfügung, zumindest als angeborene Fähigkeiten, die wir ausbilden und die unter schnell wechselnden Bedingungen zu den verschiedensten Zwecken einsetzen können. Wissenschaftler nennen diese Charakteristika „emergente Phänomene“. Ursula Goodenough, eine meisterliche Biologin und Dozentin an der Washington University in St. Louis, nennt sie mit einem Bonmot „etwas mehr als nur das“. Und genau das ist es, was emergente Eigenschaften tun. Sie entstehen als Formen und Strukturen aus der Komplexität des Prozesses selbst. Man kann sie nicht den einzelnen Teilen des Prozesses zuschreiben, sondern sie resultieren aus den Wechselwirkungen zwischen den Teilen. Und sie sind auch nicht im einzelnen vorhersehbar. Sie liegen, wie man sagt, „am Rande des Chaos“. Keine Komplexität, kein Chaos, und man hat ein streng geordnetes und vorhersehbares System, etwa einen Stein oder einen längst toten Körper. Ein zu hohes Maß an Chaos in einem dynamischen System, und wir bekommen Unordnung, Fehlregulierung, Un-Wohlsein und die Symptome jener Fehlregulierung wie Herzflimmern oder Panikattacken. Es herrscht ein Mangel an übergeordneter Kohärenz oder Ordnung. In dem Bereich zwischen diesen Extremen passieren die interessanten Dinge. Ein lebendiges dynamisches System am Rande des Chaos ist immer, nun ... am Rande des Chaos. Es verlangt nach etwas, was einerseits ein sehr labiles Gleichgewicht zu sein scheint, doch andererseits auch ein erstaunlich robuster Prozeß ist: Es hat eine komplexe und sich ständig verändernde, ihm eigene Ordnung, die ziemlich stabil bleibt. Nehmen Sie ein Rhinozeros. Was für eine außerordentliche Manifestation, und so gut an seine Umgebung angepaßt ... solange es noch in einer Umwelt lebte, die nicht von Kräften jenseits seines Gesichtskreises bedroht war. Seine bloße Existenz, das dynamische Gleichgewicht und die Komplexität von unpersönlichen Prozessen des Lebens, das Geheimnis all dessen, seine eigentümliche Form und Funktion, die etwas entstehen lassen, was jenseits von Form und Funktion ist, eine Emergenz von Bewußtsein, eines Rhinozeros-Geistes, etwas, was nach seinen eigenen Regeln innerhalb seiner eigenen Kohärenz lebt, völlig eingebettet und gänzlich integriert in seine eigene natürliche Rhinozeros-Welt – und doch leer von einer ihm eigenen Existenz als isoliertes Wesen, ein „Strudel“ im Strom des Lebens. Dies ist es, was das Leben so interessant macht. Und, so möchte ich hinzufügen, was es zu etwas Heiligem macht und zu etwas, was zu respektieren und zu schützen ist. Emergente Phänomene gibt es nicht nur in lebenden Systemen. Das Schachspiel 122
besteht im wesentlichen nicht aus den Schachfiguren oder den Zügen, sondern ist das, was emergiert oder entsteht, wenn erfahrene Spieler nach den Regeln des Spiels interagieren. Die Regeln zu beherrschen, das macht noch kein Schachspiel aus. Wir schmecken Schach beim Spielen, wenn wir dieses Universum tatsächlich durch die totale Versenkung in das Spiel und das Wechselspiel von zwei Geistern, einer Reihe von vereinbarten Regeln, dem Schachbrett und den Schachfiguren kennenlernen. Nichts davon ist das Schachspiel an sich. Doch das alles ist nötig, damit Schach emergieren kann. Dasselbe gilt natürlich für Fußball oder jeden anderen Sport. Und wir lieben es, dem zuzuschauen, was da emergiert, wieder und wieder und immer wieder, weil man nie weiß, was dabei herauskommt. Das ist der Grund, warum das Spiel gespielt werden muß. Das „Herz-Sūtra“, das Mahäyäna-Buddhisten auf der ganzen Welt rezitieren, lautet: Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form. In der Tat: Form ist Leere, Leere ist Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Bewußtsein. Manche Menschen bekommen Angst, wenn sie so etwas hören, und halten es für nihilistisch. Aber es ist alles andere als nihilistisch. Leere bedeutet Leersein von innewohnender Selbst-Existenz, das heißt, daß nichts, keine Person, kein Geschäft, keine Nation, kein Atom an sich und aus sich selbst heraus als eine dauerhafte Entität existiert, die isoliert, absolut und unabhängig von allem anderen besteht. Nichts! Alles emergiert aus dem komplexen Wechselspiel bestimmter Ursachen und Bedingungen, die sich selbst ständig verändern. Das ist eine großartige Einsicht in die Natur der Wirklichkeit. Und diese Entdeckung wurde schon lange vor Ankunft der Quantenphysik und der Theorie komplexer Systeme gemacht, und zwar durch direkte, nichtbegriffliche meditative Praxis und nicht etwa durch Denken oder bloßes Philosophieren. Denken Sie daran. Das neue Auto, das Ihnen so viel bedeutet – ein Strudel, nicht mehr. Leer. Schon bald ein Haufen Abfall. Etwas, dessen man sich bis dahin erfreuen kann, an dem man jedoch nicht festhalten sollte. Dasselbe gilt für unseren Körper. Dasselbe gilt für andere Menschen. Wir machen so viel Aufheben um andere Menschen, wir verdinglichen sie zu Göttern oder Teufeln, wir erzählen uns selbst große Romane oder kleine Histörchen über ihre Triumphe oder Tragödien, wir teilen sie ein in „Jemande“ und „Niemande“, aber sie alle und wir alle sind schon bald nicht mehr, trotz aller Probleme und aller Schönheit, die wir in die Welt gebracht haben. Was gestern noch ein großes Thema war, ist heute schon ein alter Hut. Die großen Themen von heute werden morgen nichts mehr sein. Das soll nicht heißen, daß sie nicht wichtig waren oder nicht wichtig sind. Sie mögen tatsächlich weit wichtiger gewesen sein, als wir es uns vorstellen können. Deshalb sollten wir auch höchst vorsichtig sein, daß wir sie nicht gedankenlos zu einer Art Futter machen, das nur dafür da ist, gedanklich konsumiert zu werden. Wenn wir die Leere der Dinge erkennen, dann erkennen wir gleichzeitig ihre Gewichtigkeit, ihre Fülle, ihre wechselseitige Verbundenheit. Das kann uns veranlassen, mit mehr Ausrichtung und größerer Integrität zu handeln, vielleicht auch mehr Weisheit in unserem Privatleben und bei der Gestaltung der Politik eines Landes und unseres Verhaltens als politischer 123
Körper auf der Weltbühne walten zu lassen. Es kann in der Tat äußerst hilfreich sein, wenn wir jederzeit die innewohnende Leere dessen erkennen, was uns in sämtlichen Phänomenen und zu jeder Zeit als dauerhafte Selbst-Existenz erscheint. Es könnte uns, individuell wie kollektiv, von unserem Festhalten an engstirnigen, egoistischen Interessen und Wünschen befreien, letztlich sogar von jeglicher Anhaftung. Und es könnte uns ebenfalls von dem engstirnigen und egoistischen Handeln befreien, das so oft von einer unzutreffenden, nicht selten sogar völlig falschen Wahrnehmung dessen motiviert ist, was in der inneren oder äußeren Landschaft vor sich geht. Das soll nicht auf eine Art unmoralischer Passivität oder auf einen Quietismus hinauslaufen, vielmehr auf ein mitfühlendes Bewußtsein, welches das inhärente Leersein von einem Selbst nicht vergißt und sich nicht scheut, kraftvoll und von ganzem Herzen aus diesem Verständnis heraus zu agieren und abzuwarten, was dann geschieht. Denn Leere ist ganz eng mit Fülle verbunden. Leere ist keineswegs ein sinnloses Nichts, eine Gelegenheit zu Nihilismus, Passivität und Verzweiflung oder ein Aufgeben menschlicher Werte. Ganz im Gegenteil: Leere ist Fülle, bedeutet Fülle, läßt Fülle erst zu; sie ist der unsichtbare, unfaßbare „Raum“, innerhalb dessen einzelne Ereignisse auftauchen und sich entfalten können. Gäbe es keine Leere, dann gäbe es auch keine Fülle – so einfach ist das. Leere weist auf die wechselseitige Verbundenheit aller Dinge, Prozesse und Phänomene hin. Leere macht eine echte Ethik möglich, die auf einer Achtung des Lebens und der Anerkennung der Verbundenheit aller Dinge beruht, und sie läßt uns erkennen, wie töricht es ist, ständig zu versuchen, zur Maximierung des eigenen Vorteils die Dinge nach unseren eigenen kurzsichtigen und engstirnigen Vorstellungen zurechtzubiegen, wo es doch gar kein dauerhaftes „Ich“ gibt, das davon profitieren könnte, ob dieses „Ich“ sich nun auf eine Person oder ein Land bezieht. Im „Herz-Sūtra“ heißt es weiterhin: In der Leere gibt es kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper und keinen Geist; es gibt keine Farbe, keinen Klang, keinen Geruch, keinen Geschmack, keine Berührung und keine Geist-Objekte; es gibt kein Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und keine Bewußtseinstätigkeit. Sehen Sie nur, was sie mit den Sinnen macht, mit unseren Pforten zum Erkennen der Welt! Das Sūtra erinnert uns daran, daß keiner unserer Sinne oder nichts von dem, was von den Sinnen wahrgenommen wird, eine absolute unabhängige Existenz besitzt. Das alles ist nur Teil eines umfassenderen Gefüges von miteinander verwobenen Ursachen und Ereignissen. Daran müssen wir immer wieder erinnert werden, wenn wir die hartnäckige Gewohnheit des Glaubens an die Realität der Erscheinung der Dinge durchbrechen oder zumindest in Frage stellen wollen. In der Leere gibt es keine Unwissenheit und keine Überwindung der Unwissenheit, keine Aktivität und kein Auslöschen der Aktivität, kein Bewußtsein und kein Auslöschen des Bewußtseins; es gibt nicht „Nameund-Form“ und kein Auslöschen von „Name-und-Form“; keine Sinnesorgane und kein Auslöschen von Sinnesorganen, keinen Kontakt [mit 124
Sinnesobjekten] und kein Auslöschen des Kontakts, keine Sinneswahrnehmung und kein Auslöschen der Sinneswahrnehmung; es gibt kein Verlangen und kein Auslöschen des Verlangens, kein Anhaften und kein Auslöschen des Anhaftens; es gibt kein Sein und kein Auslöschen des Seins, keine Geburt und kein Auslöschen der Geburt, kein Alter und keinen Tod und kein Auslöschen von Alter und Tod. Hier erinnert uns das Sūtra daran, daß all unsere Konzepte leer sind von ihnen innewohnender Selbst-Existenz, einschließlich unserer Ansichten von uns selbst und unserer Möglichkeiten, irgend etwas zu verbessern oder zu transzendieren. Es weist hin auf die Nichtdualität jenseits allen Denkens, jenseits aller begrenzenden Ideen, einschließlich der buddhistischen Lehren, von denen hier und in den folgenden Zeilen ganz klar gesagt wird, daß sie keine ihnen innewohnende Selbst-Existenz besitzen: In der Leere gibt es kein Leiden, keine Entstehung des Leidens, keine Aufhebung des Leidens und keinen Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. In der Leere gibt es keine Weisheit und nichts, was zu erlangen wäre. Die Vier Edlen Wahrheiten, der Edle Achtfältige Pfad, das alles wird über Bord geworfen. Und doch, und doch ... Da es nichts zu erlangen gibt, ist der Geist des Bodhisattva, der in der Prajnäpäramitä verweilt, ohne Behinderung; da er ohne Behinderung ist, ist er ohne Furcht. Über jeglichen Irrtum und alle Täuschung hinausgehend, erreicht er das endgültige Nirvana. Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweilen in der Prajnäpäramitä; deshalb verwirklichen sie das Höchste Vollkommene Erwachen. Sobald wir erkennen, uns daran erinnern und in der Art und Weise, wie wir mit unserem Körper und unserem Leben umgehen, verkörpern, daß es nichts zu erlangen und keine Verwirklichung gibt, wird, wie das Sūtra uns sagt, alle Verwirklichung möglich. Dies ist das Geschenk der Leere, die Praxis der Nichtdualität, die Manifestation der Prajnäpäramitä, der Höchsten Vollkommenen Weisheit. Und wir besitzen sie bereits. Alles, was nötig ist, ist, sie zu sein. Wenn wir sind, dann ist Form Form, und Leere ist Leere. Und der Geist steckt nicht mehr in irgend etwas fest. Er ist nicht mehr egozentrisch. Er ist frei.
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Ich sagte zu der verlangenden Kreatur in mir: Was ist dieser Fluß, den du überqueren willst? Es gibt keine Reisenden auf der Strafe am Fluß und es gibt keine Straße. Siehst du irgend jemanden, der wandert am Flugufer oder dort rastet? Es gibt keinen Flug und kein Boot und auch keinen Fährmann. Es gibt kein Treidelseil und niemanden, der es zieht. Es gibt keinen Boden, keinen Himmel, keine Zeit, kein Ufer und keine Furt! Und es gibt keinen Körper und keinen Geist! Glaubst du, daß es einen Ort gibt, an dem die Seele weniger dürstet? In jener großen Abwesenheit wirst du nichts finden. Darum sei stark, und tritt in deinen eigenen Körper ein. Dort hast du einen festen Boden unter den Füßen. Bedenke das sorgfältig. Mach dich nicht davon – anderswohin! Kabir sagt: Wirf ab alles Denken an vorgestellte Dinge, Und stehe fest in dem, was du bist. KABIR (nach der englischen Übertragung von Robert Bly)
„Es gibt keinen Löffel.“ SATZ AUS DEM FILM Matrix
Du lebst in Illusionen und der Erscheinung der Dinge. Es gibt eine Wirklichkeit – und du bist die Wirklichkeit. Wenn du dies begreifst, wirst du erkennen, daß du nichts bist. Und wenn du nichts bist, bist du alles. Das ist alles. KALU RINPOCHE
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Dritter Teil
Die Welt der Sinne Wer hat die Welt gemacht? Wer hat den Schwan und den schwarzen Bären gemacht? Wer hat den Grashüpfer gemacht? Dieser Grashüpfer, ich meine — der, der sich aus dem Gras katapultiert hat, der, der Zucker aus meiner Hand frißt, der seinen Kiefer vor und zurück bewegt statt auf und ab — der sich umschaut mit riesigen und komplizierten Augen. Jetzt hebt er seine blassen Vorderarme und wäscht sich gründlich das Gesicht. Jetzt klappt er seine Flügel aus und schwirrt davon. Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist. Ich weiß jedoch aufmerksam zu sein, mich fallenzulassen ins Gras, niederzuknien im Gras, müßig und gesegnet zu sein, durch die Felder zu schlendern, und das habe ich den ganzen Tag getan. Sag mir, was hätte ich sonst tun sollen? Stirbt nicht am Ende alles, und viel zu bald? Sag mir, was planst du anzufangen mit deinem einen wilden und kostbaren Leben? MARY OLIVER, „THE SUMMERDAY“
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Das Geheimnis der Sinne und der Zauber des Sinnlichen Was fähig ist zu sehen, zu hören, sich zu bewegen und zu handeln, das muß dein ursprünglicher Geist sein. CHINUL, KOREANISCHER ZEN-MEISTER DES 12. JAHRHUNDERTS Unter besonderen Umständen können unsere Sinne außerordentlich sensibel werden. Es heißt, daß die Jäger der Aborigines in Australien die größeren Monde des Jupiters mit dem nackten Auge sehen konnten, so scharf war ihr jagdgeschultes Auge. Wenn man bei der Geburt oder bis zum Alter von zwei Jahren ein Sinnesvermögen verliert, scheinen die anderen Sinne in einem Ausmaß geschärft zu werden, das wir gewöhnlich für unmöglich halten. Das wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen, sogar mit normalsichtigen Menschen, deren Sehvermögen für relativ kurze Zeit, einige Stunden bis zu einigen Tagen, ausgeschaltet wurde. Sie ließen zum Beispiel, in den Worten von Oliver Sacks, „eine erstaunliche Verbesserung der taktil-räumlichen Sensibilität“ erkennen. Helen Keller konnte allein durch ihren Geruchssinn den Beruf von Menschen erkennen, mit denen sie sich in einem Raum befand. „Die Gerüche von Holz, Eisen, Farbe und Medikamenten haftet an der Kleidung von Menschen, die damit arbeiten. ... Wenn eine Person schnell von einem Ort zum anderen geht, erhalte ich einen Geruchseindruck davon, wo sie gewesen ist - in der Küche, im Garten oder im Krankenzimmer.“ Die verschiedenen isolierten Sinne (wir neigen dazu, sie als getrennte und sich nicht überschneidende Funktionen zu betrachten) sind für uns das Gegenstück zu verschiedenen Aspekten der Welt, und sie machen es möglich, daß wir aus rohen Sinneswahrnehmungen und unserer Beziehung zu ihnen die Welt konstruieren und erkennen. Jeder Sinn hat seine eigene einzigartige Konstellation von Eigenschaften, aus denen wir nicht nur unser „Bild“ der Welt „da draußen“ zusammensetzen, sondern aus denen wir auch Sinn sowie unsere Fähigkeit konstruieren, uns von Moment zu Moment in dieser Welt zu orientieren. Aus den Berichten von Menschen, die nicht mehr über einen oder mehrere der Sinne verfügen, die wir anderen gemeinsam haben - sei es von Geburt an oder aufgrund eines späteren Verlusts -, können wir sehr viel über uns selbst lernen und über das, was wir für völlig selbstverständlich halten. So können wir zumindest einmal darüber nachdenken, was die Erfahrung eines solch schweren Verlusts (so fühlt sich das für uns zumindest an) für uns bedeuten würde, und wir können etwas von denen lernen, die Wege gefunden haben, mit solchen Behinderungen ein erfülltes Leben zu leben. Auf diese Weise lernen wir vielleicht, das Geschenk der Sinne, die uns momentan zur Verfügung stehen, sowie des praktisch unbegrenzten Potentials, sie in den Dienst unseres wachsenden Gewahrseins der inneren und äußeren Landschaften zu stellen, besser zu würdigen. Denn das, was wir wissen, wissen wir nur durch das volle Spektrum der Sinne und jener Fähigkeit des Geistes, die wir das wissende Selbst nennen könnten. 128
Helen Keller schreibt: Ich bin genauso taub wie blind. Die Probleme der Taubheit sind tiefer und komplexer als die der Blindheit. Taubheit ist ein viel schlimmeres Unglück. Denn sie bedeutet den Verlust des allerwichtigsten Reizes - des Klangs der Stimme, die die Sprache vermittelt, die Gedanken in Bewegung setzt und uns Teil der intellektuellen Gesellschaft der Menschen bleiben lässt ... Könnte ich noch einmal leben, würde ich viel mehr für die Tauben tun. Nach meiner Erfahrung ist Taubheit ein viel größeres Handicap als Blindheit. Der Dichter David Wright beschreibt die Erfahrung seiner Taubheit als einen Zustand, der nur selten ganz ohne eine Empfindung von Klang ist. Nehmen wir an, es ist ein ruhiger Tag, vollkommen still, ohne daß ein Zweig oder Blatt sich rührt. Mir wird er vorkommen, als herrsche Grabesruhe, auch wenn die Hecken vielleicht voll sind vom Gezwitscher unsichtbarer Vögel. Dann kommt eine Brise auf, sie reicht aus, ein Blatt in Bewegung zu setzen; ich werde diese Bewegung sehen und hören wie einen Ausruf. Die illusorische Lautlosigkeit wurde unterbrochen. So als hörte ich, als sähe ich einen visionären Klang im Flirren der Blätter. ... Manchmal muß ich mir bewußt einen Ruck geben, um mich daran zu erinnern, daß ich nicht wirklich etwas „höre“, weil es da nichts zu hören gibt. Zu diesen Nicht-Lauten gehören der Flug und die Bewegungen von Vögeln, ja selbst von Fischen, die im klaren Wasser eines Bassins oder Aquariums schwimmen. Ich vermute, daß der Flug der meisten Vögel, zumindest in einiger Entfernung, lautlos ist ... Und doch erscheint er mir hörbar. Jede Spezies erzeugt dabei eine andere „Augen-Musik“, von der nonchalanten Melancholie der Möwen bis zum Stakkato hin und her flitzender Meisen. John Hull, der mit Ende Vierzig sein Augenlicht vollständig verlor, erfuhr allmählich einen Verlust aller visuellen Vorstellungen und Gedächtnisinhalte, während er in das versank, was er „tiefe Blindheit“ nannte. In einem Artikel im New Yorker sagt Oliver Sacks, ein „Ganzkörper-Seher“ zu sein (das ist Hulls Ausdruck zur Charakterisierung seines Zustands tiefer Blindheit) beinhalte, die eigene Aufmerksamkeit, den inneren Schwerpunkt zu anderen Sinnen hin zu verschieben. Wie Sacks bemerkt, „schreibt Hull immer wieder, wie diese Sinne eine neue Kraft und neuen Reichtum gewinnen. So spricht er etwa davon, daß der Klang des Regens, dem er früher nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte, nun eine Landschaft für ihn zeichnen könne, denn sein Geräusch auf dem Gartenweg sei anders als sein Trommeln auf den Rasen oder auf die Büsche im Garten oder auf den Zaun, der den Garten von der Straße trenne.“ Regen ist in der Lage, die Konturen von allem hervorzuheben. Er wirft eine farbige Decke über zuvor unsichtbare Dinge. Anstelle einer unterbrochenen und damit fragmentierten Welt erzeugt der gleichmäßig fallende Regen eine Kontinuität in der akustischen Erfahrung ... er offenbart die Fülle einer ganzen Situation auf einmal ... er gibt eine Empfindung von Perspektive und 129
der tatsächlichen Beziehung von Teilen der Welt zueinander. Sacks Formulierung ist bezeichnend: „dem er früher nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte“. Die Notwendigkeit fördert und vertieft eine solche Zuwendung von Aufmerksamkeit bei jenen Menschen, denen ein Sinn abgeht oder denen mehrere Sinne abgehen. Aber es muß nicht erst zum Verlust des Sehvermögens oder des Gehörs oder irgendeines anderen Sinnes kommen, damit wir aufmerksamer sind. Die Achtsamkeit lädt uns dazu ein, unseren Sinnen am Punkt des Kontakts zu begegnen, diese Welten in ihrer ganzen Fülle zu erkennen und in diesem Erkennen zu verweilen, anstatt in jenem schwachen Abklatsch, der aufgrund unserer Unachtsamkeit und der gewohnheitsmäßigen Trübung sowohl der Sinnespforten als auch des Geistes übrigbleibt, ein Abklatsch des Geistes, der den Sinneseindrücken begegnet und ihnen und uns selbst einen Sinn gibt. Wir können über die Fähigkeiten jener, die einen oder mehrere Sinne verloren haben und deshalb außerordentliche Umgewöhnungen und Anpassungen in Körper und Geist vollzogen haben, um ein erfülltes Leben führen zu können, erstaunt sein und von ihnen lernen. Und genauso können wir daraus lernen, daß wir der natürlichen Welt absichtlich mehr Aufmerksamkeit schenken – einer Welt, in der unsere Sinne ausgeprägt und verfeinert wurden und in die wir von Anfang an nahtlos eingebettet waren. Auch wenn wir es nicht bemerken, nehmen wir doch mit all unseren Sinnen in jedem einzelnen Moment etwas wahr. Selbst in den Beschreibungen von Wright und Hull gibt es Querverweise auf die verlorenen Sinne. Wright muß sich daran erinnern, daß er nicht hört, was er sieht, denn es „erscheint ihm hörbar“, es manifestiert sich als „AugenMusik“. Und Hull, der keinerlei visuelle Erfahrung hat, spricht doch von einer „farbigen Decke“, die „über zuvor unsichtbare Dinge“ geworfen wird, und sagt damit, daß sie durch sein aufmerksames Hören „sichtbar“ geworden sind. Die Sinne überschneiden sich, vermischen sich miteinander und befruchten sich gegenseitig. Diese Erfahrung nennt man Synästhesie. Wir sind in unserem Sein nicht fragmentiert und waren es auch niemals. Diese unsere Sinne formen unser Wissen um die Welt und unsere Teilhabe an ihr von Augenblick zu Augenblick. Daß wir das nicht erkennen, ist bloß ein Ausdruck unserer Entfremdung von unserem eigenen fühlenden Körper und von der natürlichen Welt. In die natürliche Welt eingetaucht und in sie eingebettet, kennen wir sie nur durch unsere Sinne, und wir werden durch die Sinne anderer Wesen gekannt, einschließlich nichtmenschlicher Wesen, die uns dennoch auf die ihnen eigene Weise wahrnehmen, sei es eine Mücke, die ihr Mittagessen sucht, oder seien es Vögel, die unser Eindringen in eine Schlucht in den Bergen ankündigen. Wir sind Teil dieser Landschaft, wir sind darin aufgewachsen und sind immer noch im Besitz all ihrer Geschenke, auch wenn unsere Sinne im Vergleich zu denen unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren durch den Mangel an Gebrauch etwas verkümmert sein mögen. Doch der Zauber des Sinnlichen ist nicht ferner als der gehörte Klang des Regens, das Gefühl des Windes auf der Haut, die Wärme der Sonne auf unserem Rücken oder der Blick in den Augen unseres Hundes, wenn wir näher kommen. Können wir ihn fühlen? Können wir ihn erfahren? Können wir ihn annehmen? Und wann soll das sein? Wann? Wann? Wann? Wann? Wann?
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Sehen Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf. JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (29.1.1826) Wir sind ständig dabei zu sehen: durch Linsen, Teleskope, Fernsehröhren.... Unser Sehen wird täglich perfektioniert — doch wir sehen immer weniger. Es ist nie dringender gewesen, vom Sehen zu reden, ... wir sind Betrachter, Zuschauer .. . wir sind,, Subjekte , die „Objekte“ ansehen. Schnell bringen wir Aufkleber an allen Dingen an, die ein für allemal festkleben. Mit Hilfe dieser Aufkleber erkennen wir alles wieder, aber wir sehen nichts mehr. FREDERICK FRANK, Zen in der Kunst des Sehens
In der Nähe meines Hauses gibt es eine Weide, die mein Auge, wenn ich einen bestimmten Blickwinkel einnehme, besonders erfreut. Ich gehe mehrmals am Tag am unteren Ende der Weide entlang, und in jeder Jahreszeit gehe ich dort mit dem Hund spazieren. Manchmal bin ich allein, manchmal in Gesellschaft anderer Menschen, manchmal gehe ich sogar ohne den Hund. Es spielt keine Rolle. Die Weide bietet dem Vorübergehenden ständig eine Palette von Licht und Schatten, Form und Farbe, und es fordert mich heraus, alles, was den Augen, Ohren, der Nase, dem Gaumen und der Haut dort angeboten wird, in jeder nur möglichen Weise zu spüren und in mich aufzusaugen. Jeden Tag, jede Stunde, mit jeder vorüberziehenden Wolke, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit ist das, was es hier zu sehen gibt, anders; es verändert sich ständig, wandelt sich mit dem Licht und der Hitze und der Jahreszeit von einem Aspekt zum nächsten, wie Landschaften mit Bergen und Schluchten und wie die Felder mit Heuhaufen, die Monet verlockten, am selben Fleck mit mehreren Staffeleien zu malen, während der Tag fortschritt, während die Jahreszeiten sich wendeten, um das uneinfangbare Licht und seine geheimnisvolle Erzeugung von Gestalt und Textur und Form einzufangen. Die Herausforderung für uns besteht darin, zu sehen, daß die Welt, die wir bewohnen, uns tatsächlich überall ein solches Schauspiel bietet. Doch diese spezielle Weide am Hang eines sanft nach Osten ansteigenden und unregelmäßigen Hügels mit den beiden Stellen, an denen der aus dem Boden hervortretende Fels die Unregelmäßigkeit noch verstärkt, hat eine ganz besondere katalytische Wirkung auf mich, besonders, wenn ich es von unten her sehe. Wenn ich meinen Blick darauf ruhen lasse, werde ich irgendwie verändert, neu abgestimmt, sensibler auf die innere und die äußere Landschaft eingestimmt. Ich mag diese Weide; aus irgendeinem geheimnisvollen Grund belebt es mein Sehen, 131
wenn ich darunter entlanggehe und meinen Blick dabei über die Weide schweifen lasse. Die ganze Welt erscheint mir plötzlich lebendiger. Ich setze mich für einen Moment im Schatten nieder und schaue von der südwestlichen Ecke der Weide schräg den Hang hinauf. Die Sonne hängt an diesem 4. Juli schon ziemlich hoch am Vormittagshimmel und badet das Feld in intensives Licht und starke Hitze. Eine Baumreihe an seiner südlichen Ecke läßt einen schmalen, sich ständig verbreiternden Schattenstreifen von rechts nach links über die Weide wandern. Die Weide ist von hohen Gräsern überwuchert, die schon zu Braun- und Goldtönen verdorrt sind und ihre Samen ausstreuen. Hier und da ist ein weißer Farbtupfer von Gänseblümchen, die die Kühe noch nicht abgeweidet haben. Weiße Schmetterlinge flattern umher und gelegentlich auch eine Libelle von der großen Sorte, die schnell und niedrig auf der Suche nach Mücken in der trägen Luft über den Gräsern patrouilliert. Gleich vor mir stehen zwei hohe Büsche am südwestlichen Rand der Weide, ein Stück weiter überschatten einige höhere Bäume den niedrigen kleinen Kuhstall, wo der Bauer jedes Jahr zwei Kälber, seine „Babys“, hält. Der Tag fühlt sich schon jetzt ziemlich schwül an. Der Himmel hinter mir ist blau und weitgehend wolkenlos, doch in meinem Gesichtsfeld ist der Himmel über dem Rand von höheren Bäumen jenseits der sich anschließenden regelmäßigen Weide ganz weiß. Wenn ich dann ein Weilchen im Gras gesessen und die Weide angeschaut habe, gehe ich den Weg unterhalb der Weide und des Bauernhauses wieder zurück, und die Fläche mit rotem Wiesenschwingel zu meiner Linken scheint mit irgendwie röter zu sein als auf dem Hinweg. Jetzt sehe ich hier und dort große Flecken von Purpur im Gras, wahrscheinlich blühende Wicken, die ich zuvor kaum wahrgenommen habe. Die gelben Lilien, die dichtgedrängt in großen gemähten Kreisen an den Rändern der großen Rasenfläche um das Bauernhaus stehen, sind noch gelber. Ihre Mikro-Bewegungen, fast wie ein Flackern in der leichten Brise, fangen meinen Blick eher ein. Ich sehe wesentlich mehr Libellen in meiner Nähe als zuvor und bemerke nun, wie die Schwalben, die mir vorher kaum aufgefallen sind, im Tiefflug über das hohe Gras schießen, dann über die Rasenfläche und die prächtigen Beete mit orangefarbenen, roten, blauen, purpurnen und goldenen Blumen (die der Farmer liebt), das alles abgegrenzt von den leuchtendgelben Blüten eines Fetthennen-Gewächses mit seinen dicken grünen Blättern, das über die horizontalen Ränder eines zweistufigen Steingartens quillt, der sich am anderen Ende der großen Rasenfläche um das Bauerhaus erhebt. Wenn ich zur Straße komme, gehe ich nach rechts immer noch denselben Hügel hinauf zu meinem Haus. Ich weiß, daß die Weide und der Spaziergang, den ich an diesem Nachmittag noch machen werde, wieder ganz anders sein werden, daß ich aufgrund des Unterschieds anders sein werde, wenn ich wieder auf neue Weise präsent sein muß für das, was sich den Sinnen in jedem Augenblick darbietet. Und so ist es immer wieder, im Sommer und im Winter, im Frühjahr und im Herbst, gestern oder heute, bei Regen und trübem Wetter und Schnee, in der Nacht unter den Sternen ... ich bin stets dabei, anzukommen. Es ist immer schon hier, so wie es ist, immer dieselbe Weide und doch nie dieselbe. Wenn ich diese Pfade entlanggehe, gibt es immer weniger Trennung zwischen mir und der Aussicht, wenn ich mich einfach dem Aufmerksamsein überlasse, wenn ich mir erlaube, zur Besinnung zu kommen und in meinen Sinnen zu leben. Subjekt (der 132
Sehende) und Objekt (das Gesehene) verschmelzen im Augenblick des Sehens. Sonst wäre es kein wirkliches Sehen. In einem Moment bin ich getrennt von einer bekannten Szenerie, wie ich sie mir in meinem Kopf beschrieben habe. Im nächsten Moment ist keine Szenerie mehr da, keine Beschreibung, nur Hiersein, nur Sehen, nur Aufsaugen durch die Augen und die anderen Sinne, die so rein sind, daß sie bereits das, was gerade präsent ist, ohne Anleitung, ohne Gedanken aufzusaugen wissen. In solchen Augenblicken gibt es nur Gehen oder Stehen, nur Sitzen oder vielleicht auch nur Liegen dort in dieser Weide, nur ein Spüren der Luft. Unter allen Sinnen ist es dieser Sinn, das Reich der Augen, das in unserer Sprache und in unseren Metaphern dominiert. Wir sprechen von unserer Weltanschauung und davon, daß wir Einsicht und Perspektive gewinnen. Wir ermahnen einander, „hinzuschauen“ und dann zu „sehen“ – was von bloßem Hinschauen so verschieden ist wie Lauschen von bloßem Hören oder Riechen von bloßem Schnüffeln. Sehen heißt wahrnehmen, auffassen, einsaugen, Beziehungen erkennen (einschließlich ihrer emotionalen Beschaffenheit), wahrnehmen, was tatsächlich hier ist. C. G. Jung hat gesagt: „Wir sollten nicht so tun, als verstünden wir die Welt nur durch den Intellekt; wir begreifen sie ebensosehr durch das Fühlen.“ Und Marcel Proust schrieb: Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, daß man neue Landschaften aufsucht, sondern darin, mit frischen Augen zu sehen. Wir sehen, was wir sehen wollen, nicht das, was wir wirklich vor Augen haben. Wir schauen, aber es kann sein, daß wir dabei nicht erfassen oder begreifen. Vielleicht müssen wir unser Sehen einstimmen, so wie wir ein Instrument stimmen, um seine Sensibilität, seine Reichweite, seine Klarheit und sein Einfühlungsvermögen zu erweitern. Man könnte sagen, das Ziel sei, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, nicht so, wie wir sie sehen wollen, wie wir fürchten, daß sie sind, oder wie sie zu sehen oder zu fühlen wir von der Gesellschaft konditioniert sind. Wenn Jung recht hat, dann begreifen wir auch mit unseren Gefühlen – ja, aber wenn wir das tun, dann sollten wir sie am besten sehr gut kennen, denn sonst werden sie uns nur eine verzerrte Wahrnehmung ermöglichen. Wie es auch bei den anderen Sinnen der Fall ist, verdunkelt unser Geist auf die eine oder andere Weise sehr oft unsere Fähigkeit, klar zu sehen. Wenn wir das Leben also ganz erfahren, es ganz in die Hand nehmen wollen, dann müssen wir uns dazu erziehen, hinter das zu sehen, was die Dinge nur zu sein scheinen. Wir müssen eine Nähe zum Strom unseres eigenen Denkens kultivieren, der auf alles im Bereich unserer Sinne abfärbt, wenn wir die innere und die äußere Landschaft einschließlich der darin auftretenden Ereignisse und Abläufe in dem Maße wahrnehmen wollen, wie sie gekannt werden können, also so, wie sie wahrhaftig sind.
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Gesehen werden Meine Frau Myla und ich machen mit den Menschen, die unseren Workshop für achtsame Elternschaft besuchen, häufig eine bestimmte Übung. Dabei geht es darum, sich an einen Augenblick in der eigenen Kindheit zu erinnern, in dem man sich von einem Erwachsenen, nicht unbedingt einem Elternteil, völlig als das gesehen und angenommen fühlte, was man war, und dann in dem Gefühl und den Gedanken zu verweilen, die von dieser Erinnerung heraufbeschworen werden. Wenn solche Erinnerungen, in der Kindheit gesehen worden zu sein, nicht auftauchen, kann man alternativ darauf achten, ob Erinnerungen an Momente auftauchen, in denen man sich von einem Erwachsenen nicht gesehen, mißachtet und ganz und gar nicht als das akzeptiert fühlte, was man war. Es ist erstaunlich, wie schnell und wie lebhaft in der Sicherheit solcher Gruppen Erinnerungen an Momente auftauchen, in denen wir gesehen und völlig angenommen wurden. Geschichten tauchen auf über stille Augenblicke, in denen jemand als Kind zusammen mit seiner Großmutter in der Erde gebuddelt hat, wie man Hand in Hand mit Vater oder Mutter am Ufer gestanden und in einen Fluß geschaut hat, wie jemand mit Absicht ein Ei zu Boden fallen ließ, nachdem uns versehentlich eines aus der Hand gefallen war, nur damit wir uns nicht allein fühlten und uns schämten. Diese Erinnerungen tauchen spontan auf, oft ohne daß wir uns zuvor jemals bewußt an das Ereignis erinnert haben. Sie waren hier bei uns, unser ganzes Leben lang, nie vergessen, denn es ist unwahrscheinlich, daß wir selbst als Kind Momente vergessen, in denen wir uns völlig gesehen und angenommen fühlten. Im allgemeinen sind das wortlose Momente. Sie entfalten sich oft im Schweigen, in der Parallelität gemeinsamen Handelns oder wortlosen Zusammenseins. Vielleicht bestehen sie nur im Austausch eines Blicks, in einem Lächeln, in einer Umarmung oder dem Gefühl, an der Hand gehalten zu werden. Aber in diesem Augenblick weiß man, daß man gesehen und erkannt und gefühlt wird, und nichts in der Welt, gar nichts, fühlt sich besser an, entspannt uns mehr, bringt die Welt schneller in Ordnung und schenkt uns mehr Frieden. Selbst wenn wir nur eine einzige solche Erinnerung haben, tragen wir sie für immer in uns. Wir vergessen sie niemals. Sie ist hier drinnen, weil sie uns so viel bedeutet, weil sie so viel offenbart hat und wir sie so sehr in Ehren halten. Was da geschehen ist, war als Geschenk viel größer, als wir es jemals bewußt bemerkt haben. Doch intuitiv wußten wir immer darum. Unser Körper wußte es. Die Seele wußte es. Und wir wußten es, ohne daß wir es in Worte hätten fassen können. Und in diesem nichtbegrifflichen Wissen waren wir davon angerührt und sind bis heute von der Erinnerung daran gerührt. Es ist auch erstaunlich, wie wenige solche Erinnerungen manche von uns haben und wie viele von uns gar keine solchen Erinnerungen haben. Statt dessen mag es manche Erinnerungen an Momente geben, in denen wir uns ganz deutlich nicht gesehen oder nicht angenommen fühlten, und manchmal sogar für das, was wir waren, beschämt oder lächerlich gemacht wurden. Die Botschaft solcher Übungen für Eltern ist natürlich, daß jeder Augenblick mit unseren Kindern eine Gelegenheit ist, diese als das zu sehen und anzunehmen, was sie 134
sind, und zwar in jedem Alter. Wenn solche Augenblicke, in denen wir gesehen wurden, für uns als Kinder so wichtig waren, daß wir sie nie vergessen haben, auch wenn sie äußerst selten oder gar einzigartig waren, warum sollten wir dann nicht achthaben auf die heilende Kraft solch stiller Präsenz, die daraus entspringt, daß Sie wenigstens gelegentlich Ihre Kinder jenseits all dessen ansehen, was Sie von ihnen erwarten, jenseits Ihrer Ängste, Ihrer Urteile und sogar jenseits Ihrer Hoffnungen. Die Momente mögen flüchtig sein, aber wenn sie erkannt und angenommen werden, sind sie eine wunderbare Nahrung für die Seele, eine Infusion Liebender Güte mitten in das Herz des anderen. Unser Blick selbst ist also etwas, was unsere Aufmerksamkeit verdient, dessen wir gewahr sein und dessen Konsequenzen wir sehen, fühlen und kennen sollten. Denn nicht nur das Sehen ist von Bedeutung, auch das Gesehen-Werden. Und wenn das für uns selbst gilt, dann gilt es auch für den anderen, für alle anderen. Sehen und Gesehenwerden bilden einen geheimnisvollen Kreislauf der Gegenseitigkeit, eine Gegenseitigkeit der Präsenz, die Thich Nhat Hanh „Intersein“ (engl.: interbeing) nennt. Diese Präsenz trägt uns, ermutigt uns und läßt uns wissen, daß unser Wunsch, das zu sein, was wir wirklich sind, und uns anderen in unserer ganzen Fülle zu zeigen, ein gesunder Impuls ist, denn das, was wir wirklich sind, wurde gesehen und erkannt, und wir wurden in der Souveränität, die unseren Kern ausmacht, angenommen. All das ist Teil der Wechselseitigkeit des Sehens, wenn es wahres Sehen ist. Wenn die Schleier unserer Ideen und Meinungen dünn genug sind, daß wir die Dinge sehen und erkennen können, wie sie sind, dann wird unser Blick wohltuend, still, friedvoll und heilend. Und er wird von anderen augenblicklich so empfunden. Er wird gefühlt, er wird erkannt und er fühlt sich sehr gut an. Nicht nur Kinder und andere Menschen spüren, wenn sie angesehen werden, und können augenblicklich die Qualität und Absicht dieses Blicks fühlen. Auch Tiere wissen darum und sie spüren, auf welche Weise wir sie anschauen, mit welchen Eigenschaften von Herz und Geist, ob in Angst oder voller Freude. Und natürlich kennen Frauen die ominöse, sie entpersönlichende und zu einem Objekt machende raubtierhafte Aggressivität im Blick mancher Männer, die keinerlei Zuneigung zu ihnen empfinden und sich nicht um die Souveränität anderer scheren. Manche Naturvölker glauben, daß die Welt unseren Blick spürt und sie uns ihrerseits ansieht, daß selbst die Bäume und Büsche und sogar die Felsen uns ansehen. Und wenn sie jemals eine Nacht allein im Regenwald oder in irgendeinem Wald verbracht haben, dann werden Sie erfahren haben, daß die Qualität Ihres Sehens und Ihres Seins nicht allein von der Welt der Menschen gesehen wird. Sie werden gespürt haben, daß Sie fraglos so gesehen und erkannt wurden, wie Sie wirklich sind und nicht etwa, wie Sie normalerweise zu sein glauben, und daß Sie, ob Ihnen das angenehm ist oder nicht, ein integraler Bestandteil dieser einen belebten und empfindenden Welt sind.
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Nur der Garten war immer wundervoll. Schon seit langer Zeit hatte sich niemand darum gekümmert und er war bereits ziemlich verwildert. Seine Schönheit lag in einer Subtilität, die nur genaues Hinsehen wahrzunehmen vermochte. GIOI TIMPANELLI, Sometimes the Soul Da waren sie, würdevoll, unsichtbar, In Bewegung ohne Drang, über den toten Blättern, In der Herbsthitze, durch die flimmernde Luft, Und der Vogel rief in Antwort auf Die ungehörte Musik verborgen im Unterholz, Und der ungesehene Augenstrahl kreuzte sich, denn die Rosen Boten den Anblick von Blüten, die angesehen werden. T. S. ELIOT, Four Quartets, „BURNT NORTON“
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Hören Der alte Weiher. Ein Frosch springt hinein Wasserplatschen. BASHO (1644-1694)
Schwerer Spätherbst-Regen trommelt in der Dunkelheit auf das Dach über meinem Kopf. In jedem Augenblick ist da sein Geräusch. Kann ich es hören ... jenseits aller Gedanken über den Regen, nur für einen Augenblick? Kann ich dieses Geräusch „empfangen“, wie es ist, ohne jegliches Konzept, ohne jeden Begriff von Regen? Ich bemerke, daß es ohne Anstrengung zum Hören kommt. Ich muß gar nichts dazu tun. Ja in der Tat muß ich, um wirklich hören zu können, beiseite treten. Mein „Ich“ ist etwas Zusätzliches. Ein „Ich“, welches das Hören leistet, welches nach dem Geräusch auf der Suche ist, also lauscht, ist gar nicht notwendig. In der Tat bemerke ich, daß es eben der Ort ist, von dem alles Denken ausgeht, ausgelöst durch Erwartungen, durch Gedanken über meine Erfahrung. Ich experimentiere: Kann ich das Geräusch einfach kommen und auf das „HörBewußtsein“ treffen lassen, das in der bloßen Erfahrung des Hörens auftaucht, wie es ja bereits in jedem einzelnen Moment geschieht? Ist es wirklich möglich, daß ich mir nicht selbst im Weg stehe und einfach nur Hören da sein lasse, daß ich die Geräusche an mein Ohr dringen lasse, sie im Ohr, in der Luft, im Augenblick sein lasse, ohne irgend etwas hinzuzufügen, ohne irgend etwas zu versuchen? Einfach nur hören, was es zu hören gibt, wo die Geräusche doch sowieso schon an die Pforte meiner Ohren klopfen. In der Stille offener Aufmerksamkeit beim Hören sein. Tropf, tropf, tropf, glucker, glucker, glucker, wirbel, wirbel, wirbel ... die Luft ist voller Geräusche. Der Körper wird in Klang gebadet. In völliger Stille ist da nur der Regen auf dem Dach, der manchmal vom Wind gepeitscht in Sturzbächen gegen das Fenster prasselt, reiner Klang in meinen Ohren, der den Raum erfüllt. In diesem Augenblick ist da irgendwo, weit im Hintergrund, das Wissen, daß ich hier sitze, daß Regen fällt; doch die Erfahrung „vor dem Denken“, hinter allen Gedanken, die sich absondern, ist die von reinem Klang, nur Hören, keine Trennung eines Hörenden von dem Gehörten mehr. Da ist nur Hören, Hören, Hören ... und im Hören das Wissen um Klang jenseits von Begriffen wie „Regen“, jenseits von Konzepten wie „Ich“ und „Hören“. Das Wissen verweilt im Hören. In diesem Moment sind sie eins. An diesem Morgen ist der Regen so mächtig, so unwiderstehlich, so aufsaugend, daß die Aufmerksamkeit mühelos aufrechterhalten wird. Die Erfahrung des Klangs hat in diesem Augenblick den denkenden Geist übertrumpft. Das ist nicht immer, nicht gewöhnlich so. Es ist zu leicht, ins Denken abzurutschen. Es ist so leicht, mich selbst abzulenken, mich vom Regen so weit weg tragen zu lassen, daß ich ihn nicht einmal mehr höre, ganz gleich, wie heftig er ist, und obwohl der Körper und die Ohren immer noch so sehr in sein Geräusch eingetaucht sind wie zuvor, als es „nur dies“ gab ... Es ist also eine elementare Herausforderung des Hörens, im Gewahr-sein des Hörens 137
zu verweilen, nur das zu hören, was da ist, von Moment zu Moment zu Moment: Klänge tauchen auf und verschwinden, Stille in den Klängen und unterhalb der Klänge, jenseits einer Interpretation der augenblicklichen Erfahrung als angenehm oder unangenehm oder neutral, jenseits aller Urteile und Gedanken über irgend etwas, mich einfach hingeben an das Sitzen, Hören, Atmen, Wissen. Im Hören gibt es augenblickliche Freiheit von jedem „Ich“, das hört, von dem, was gehört wird, von einem Wissenden und etwas Gewußtem. Nichts fehlt. Ein Augenblick ursprünglichen Geistes, leer, wissend, unendlich. Für einen kurzen Augenblick vielleicht sind wir zur Besinnung gekommen, sind wir bei unseren Sinnen angekommen. Können wir hier für eine Weile bleiben? Können wir hier leben? Was würden wir verlieren? Was gäbe es zu gewinnen? Wiederzufinden? Wann sind uns Klänge und der Raum zwischen den Klängen nicht präsent? Wann sind uns Anblicke nicht präsent? Sind wir für sie hier? Können wir hier bei ihnen sein? Können wir das Wissen sein, in dem Wissen verweilen, aus dem Wissen heraus handeln, gänzlich präsent sein für das, was bereits ist? Was ist die Gefühlslage eines solchen Augenblicks? „Es versuchen“, das ist nicht die Antwort. Um hören zu können, müssen wir es nicht erst versuchen. Aber der Geist macht gern Umwege. Können wir es wissen? Können wir es wissen? Selbst in Kioto hab ich — Hör ich den Kuckuck rufen — Sehnsucht nach Kioto. BASHO
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Geräuschlandschaften Es ist 6 Uhr 42 Uhr an einem Morgen Ende Juni. Bei offenem Fenster bade ich im Zwitschern von Vögeln, die ich nicht kenne, im Zirpen und Pfeifen, Trillern und Klicken, Ruf und Antwort, kurz und lang, manche nach einigen Wiederholungen bald wiedererkannt, andere nicht so leicht wieder herauszuhören, alle moduliert, in Synkopen, einige melodiös, andere chaotisch, erfüllen sie die Welt mit Liedern über Liedern, mit Gesang auf Gesang. Es geht immer weiter in einem großen Chor, von Moment zu Moment, immer wieder neu, immer jubilierend, ein Füllhorn von Klängen, das sich überallhin ergießt. Außerdem ist das zunehmende Brummen des Verkehrs auf einer nicht allzu fernen Ausfallstraße zu hören, einer nicht unwichtigen Verkehrsader, die von der nordwestlichen Peripherie her tief in den Körper der Stadt hineinverläuft und dort weiter genau ins Herz der Stadt. Manchmal hört man das Heulen eines rasch beschleunigenden Motors oder das ungeduldige Quietschen von Reifen heraus, doch im allgemeinen verschwimmen all diese Geräusche zu einem Klangstrom, der mir signalisiert, daß mit den Vögeln auch die Welt menschlicher Belange und der Industrie erwacht. Eine köstliche Geräuschlandschaft, von Zeit zu Zeit akzentuiert durch das Rauschen der Blätter des riesigen Norwegischen Ahorns an der Rückseite des Hauses und dem Seufzen gelegentlicher Windstöße in den Zweigen der Hemlocktannen vor dem Haus. In diese Klangkulisse mischen sich die Stimmen von Hundebesitzern, die beim morgendlichen Gang mit ihrem Hund ein paar Worte miteinander wechseln. Dann sticht das Heulen einer Sirene hervor, kurz und nicht wiederholt, und ab und zu hört man das dumpfe Geräusch von etwas Schwerem, das auf dem Bauernhof unterhalb des Hügels von einem Lastwagen geworfen wird. Auch das schrille Warnsignal eines zurücksetzenden Baufahrzeugs ist in der Ferne zu hören. Diese Geräuschlandschaft ist immer präsent. Sie ist immer gleich und immer wieder anders, während die Minuten und Stunden verstreichen. Und immer, in jedem Moment, sind da der Gesang der Vögel und gelegentliche Vogelschreie. Ich höre auf, an die Quelle der Geräusche zu denken und gebe mich dem reinen, bloßen Hören hin. Die Geräuschlandschaft ist alles. Sie ist nicht mehr in der Welt, sie ist die Welt. Oder, genauer gesagt, es gibt keine Welt mehr. Es gibt kein „Ich“ mehr, das lauscht, und keine Geräusche „da draußen“. Es gibt keine Vögel, keine Bäume, keine Lastwagen und keine Sirenen mehr. Es gibt nur Klang und den Raum zwischen den Klängen. Es gibt nur das Hören in diesem ganz plötzlich zeitlosen Augenblick des Jetzt, auch während er fließend in den nächsten zeitlosen Augenblick des Jetzt übergeht. Und im Hören ist auch das unmittelbare Wissen um den Klang, wie er in seinem Entstehen, seinem kürzeren oder längeren Bestehen und in seinem Vergehen gehört wird. Es ist nicht die Art von Wissen, die auf Denken beruht, sondern ein tieferes Wissen, ein eher intuitives Wissen, ein Wissen, das irgendwie den Wörtern und Begriffen vorgelagert ist, die unser Wissen umkleiden, etwas, was unterhalb des Denkens ist, das grundlegender ist als das Denken ... das gemeinsame Entstehen des Wissens mit dem Klang als Klang, als einfach nur das, was ist, bevor es von unserem denkenden Geist 139
aufgeputzt und von unserem Benennen bewertet wird, von unserem Mögen und Nichtmögen der Dinge, von unserem urteilenden Geist. Dieses Wissen ist so etwas wie ein Spiegel für den Klang, der einfach widerspiegelt, was davor auftaucht, ohne Meinung oder Einstellung, offen, leer und deshalb fähig, alles zu enthalten, was sich zeigt. In diesem Moment ist das Eintauchen so vollständig, daß es kein Eintauchen mehr gibt. Klang ist überall, das Wissen ist überall, innerhalb der Hülle des Körpers und außerhalb, denn es gibt hier keinerlei Grenzen mehr. Da ist nur Klang, nur Hören, nur stilles Wissen innerhalb einer unendlichen Geräuschlandschaft, nur das, einfach nur das ... Das soll nicht heißen, daß keine Gedanken auftauchen. Es heißt vielmehr, daß das Vorhandensein von Gedanken nicht mehr auf das Hören abfärbt oder ihm im Wege steht. Es ist beinahe so, als seien die Gedanken selbst zu Klängen geworden und würden zusammen mit allem anderen in ihrem Entstehen und Vergehen gehört. Sie sind nicht mehr ablenkend oder störend, denn da sie erkannt werden, neigen sie dazu, dahinzuschmelzen und sich nicht endlos zu vervielfältigen. Das Wissen ist wie der Himmel, wie die Luft. Wie der Raum ist es überall, grenzenlos. Es ist nichts anderes als Gewahrsein selbst. Rein. Vollkommen einfach. Es ist auch vollkommen geheimnisvoll, denn es ist nicht etwas, was ich erzeuge, sondern eher so etwas wie eine Qualität des Seins, die manchmal auftaucht - wie ein scheues Tier, das aus dem Wald hervorkommt, um sich in einer Lichtung auf einem Baumstamm zu sonnen. Es verweilt, wenn ich still bin und keine plötzlichen Bewegungen mit meinem Willen mache. Das Zifferblatt vor mir zeigt jetzt 8 Uhr 33 Uhr an. In diesen Stunden ist eine unendliche Zahl von Momenten vorübergezogen - und doch ist keine Zeit vergangen. Ich fühle mich gesalbt, gesegnet von diesem Bade, von diesem Eintauchen in eine Geräuschlandschaft, die keinen Anfang und kein Ende kennt, von diesem Wunder des Hörens, das Wachheit ist, das Wissen ist. Ich frage mich, ob es Momente gibt, in denen mir dieses „nur das“ nicht zur Verfügung steht. Was ist die Voraussetzung dafür, daß wir hören können, was immer bereits vorhanden ist, um gehört zu werden - akzentuiert und getragen von einer noch größeren zugrunde-liegenden Stille. Später am Tag wird mir deutlich: Wenn ich nicht aufpasse, wenn ich also nicht in Gewahrsein verwurzelt bin, während der Tag sich entfaltet, kann es passieren, daß ich, ehe ich mich's versehe, für viele Stunden nichts mehr höre außer dem dröhnenden Geräusch des Gedankenstroms in meinem Kopf - ganz gleich, was an mein Ohr dringt. Unser Hund weiß wohl, daß das Nichtgehörte genauso zur Geräuschlandschaft gehört wie das Gehörte. Wenn er hört, daß sich die Fliegentür an unserem Hintereingang öffnet und schließt, ohne daß das Schloß hörbar einschnappt, dann weiß er, daß er aus dem Haus entwischen kann. Er weiß es einfach. Dies ist nur ein Beispiel dafür, daß auch ein Nichthören in der Geräuschlandschaft signifikante Information enthalten kann, wenn wir genug darauf eingestimmt sind, um die Abwesenheit von Geräuschen sowie Veränderungen im Muster von Klang und Stille zu entdecken. Musik mag unsere Gehörnerven kitzeln, aber die Geräuschlandschaft ist nicht nur Klang, sie besteht vielmehr aus dem gesamten Universum von Geräuschen und Stille, an dem wir durch unser Hören teilhaben, wenn wir bereit sind, uns völlig dem bloßen Sein zu überlassen - nichts weiter, nur beim 140
Hören sein. Während ich hier sitze, höre ich draußen ein Geräusch wie von einem Müllwagen. Es ist jedoch nicht Müllabholtag. Vielleicht ist es ein Straßenkehrer, sagt mein Geist, der das Geräusch irgendwie identifizieren möchte. Aber es hört nicht auf. Vielleicht Bauarbeiten? Es hört sich an, als fahre ein Lastwagen einen steilen Abhang hinauf, ohne daß das Geräusch jedoch näher kommt oder sich entfernt. Vielleicht bessern sie irgendwo die Straße aus. Ich kann hier sitzen und endlos darüber nachdenken, wo das Geräusch herkommt, wie sehr ich mir wünsche, daß es aufhört, warum da am frühen Morgen so viel Krach gemacht wird. Vielleicht sollte ich aufstehen und nachsehen, woher das Geräusch kommt. Aber wozu? Eben jetzt sitze ich hier und habe die Wahl, ob ich mich gestört fühle oder nicht. Doch der Gedanke, daß ich die Wahl habe, scheint irgendwie weit hergeholt, eine Übung in Willenskraft, eine Weise, mich dem zu widersetzen, was bereits ist, was bereits hier ist, nämlich dieses Geräusch. Ich beobachte, wie es zwischen Gestörtsein und Nichtgestörtsein hin und her geht. Hinter diesem Spiel meines Geistes ist reiner Klang. Das Geräusch hören und nicht wissen, „was“ es ist - das ist beides Wissen. In diesem Moment kann ich einfach in diesem Wissen verweilen, dem Wissen, das nicht weiß und nicht wissen muß und das sich damit zufriedengibt, daß diese Geräusche in diesem Augenblick bereits hier sind. Die Dinge sind genau jetzt bereits so, wie sie sind. Kann ich sie akzeptieren, so wie sie sind, weil alles andere nur zu Nichtmögen, Frustration, Störung und noch größerer Abgelenktheit führen würde? Der Geist sondert einen Gedanken ab: Vielleicht könnte ich das Geräusch leichter annehmen, wenn ich wüßte, was es ist, wer es produziert und wie lange es wahrscheinlich dauern wird. Gewahrsein erkennt auch diesen Gedanken als einen Gedanken, während er entsteht. Es sieht, wie der denkende Geist herumfuchtelt und verzweifelt nach einer Erklärung tastet, nach etwas sucht, das ihm Sicherheit gibt, nach einem Koordinatensystem, das ihm das Annehmen erleichtert, nachdem er durch einen völlig unnötigen alchemistischen Prozeß aus dem, was bloße Geräusche waren, „Krach“ gemacht hat. Gewahrsein sieht auch, daß diese Gedanken, die Irritation, der innere Kampf, das Herumtasten etwas Zusätzliches sind, das ebenso unnötig ist. All das sind Hindernisse für die Gemütsruhe, und dummerweise viel größere Hindernisse als das Geräusch selbst. In dem Hören und in dem Wissen unterhalb des Geräuschs ist Gemütsruhe. Ich lasse mich da hineinfallen. Für einen Augenblick hört das Geräusch auf und setzt dann wieder ein. Kein Hindernis entsteht. Plötzlich erfährt der Geist einen Krampf des Unbehagens. Er besteht darauf, herauszufinden, woher das Geräusch kommt. Mein Gewahrsein und meine Absicht, etwas Umfassenderes zum Zuge kommen zu lassen, schwinden dahin. Dieser Krampf des Verlangens, die Quelle des Geräuschs zu identifizieren, bringt meinen Körper dazu, aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen. Ein großer Lastwagen fährt vorbei. Das ist ein Geräusch, aber nicht das Geräusch. Was hat das Aufstehen und Nachsehen mir gebracht? Gar nichts. Ich nehme das Sitzen wieder auf und richte mich im Hören ein. Der Drang, herauszufinden, woher das Geräusch kommt, wird immer stärker, je länger es anhält. 141
Ich sitze weiter und gehe in diesem Drang auf. Nach einer Weile entfernt sich das Geräusch und verschwindet, und das Vogelzwitschern taucht wieder auf. Das Denken läßt sich etwas Neues einfallen, selbst jetzt, wo es ruhiger ist. Das wird gesehen. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Der Atmen strömt ein und aus. Hier sitzen, nur sitzen und hier sitzen ... eine Geräumigkeit, die nicht mehr befleckt ist von Gedanken über Geräusche und Stille. Gewahrsein. Keine Unterbrechungen mehr. Der Geist unterbricht sich selbst nicht mehr. Im Augenblick ist da nur noch „nur das“. Nur das. Das Geräusch kehrt zurück. Das Lächeln wird breiter, verweilt, löst sich auf.
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Luftlandschaften Stellen Sie sich vor, Sie wären unter Wasser, könnten aber trotzdem noch atmen. Und jetzt versuchen Sie, sich zu bewegen. Bewegen Sie zunächst nur einen Arm, erst ganz langsam. Können Sie „fühlen“, wie das „Wasser“ um den Arm herumströmt, zwischen den Fingern hindurch und über Ihren Handrücken? Während ich mir das jetzt vorstelle, spüre ich in der Bewegung selbst so etwas wie eine Flüssigkeit; es ist, als besäßen mein Arm und meine Hand plötzlich ein neues Leben. Sie scheinen geneigt, von sich aus auf Entdeckungsreise zu gehen, überallhin zu fließen und zu wogen, spontan mit größerer Freiheit der Bewegung zu experimentieren. Diese langsamen, in sich eleganten Bewegungen scheinen allein durch meine Vorstellung, mich in einer Flüssigkeit zu befinden, noch flüssiger zu werden. Wenn Sie das jetzt ebenfalls tun, können Sie dann fühlen, wie anmutig Ihre Bewegungen bereits geworden sind? Und wie mühelos? Verweilen Sie so lange in diesem Gefühl, wie Sie mögen, während Sie sich dabei weiterbewegen. Und wenn Sie mögen, überlassen Sie nun Ihren ganzen Körper der Bewegung. Werden Sie zu einem Streifen Seetang, der rhythmisch in einem Bett wogenden Seetangs in der Nähe der Küste hin und her schwingt. Wenn Sie gerade sitzen, könnten Sie jetzt aufstehen und den ganzen Körper, die Arme, Beine, den Rumpf und den Kopf sich bewegen lassen, wie Sie wollen. Spüren Sie den schwingenden Fluß um Ihren Körper herum, der sich dem Strömen um ihn herum hingibt und sich in der Flüssigkeit, in die er eingetaucht ist, bewegt, wie es ihm gefällt. Wir leben tatsächlich am Grunde eines Ozeans - des Ozeans der Luft. Lassen Sie jetzt also das Bild des Wassers los, und versuchen Sie, diesen Ozean der Luft spielerisch mit Ihrer Haut zu spüren, während Sie wie zuvor Arme und Hände langsam bewegen. Fühlen Sie das Strömen der Luft durch Ihre Finger, um Ihre Hände herum, baden Sie in den Empfindungen, die auftauchen, wie immer sie auch sein mögen. Bringen Sie immer mehr Gewahrsein in den Körper als Ganzes, indem Sie sich nun mehr und mehr in Ihrem Körper spüren, lassen Sie ihn sich von selbst bewegen, auf seine Art. Vielleicht bemerken Sie ja, wie die Empfindung des Körpers in Bewegung plötzlich auf wunderbare Weise in die Essenz des Taiji umschlagen kann - fließende Bewegung in der Stille in einem Ozean des Gewahrseins, einem Ozean von Luft. Jetzt lassen Sie sich zur Ruhe kommen, und spüren Sie die Luft mit Ihrem ganzen Körper. Statt ein bestimmtes Gefühl zu suchen, lassen Sie es von selbst auftauchen, so als lauschten Sie mit Ihrer Haut auf das Sprechen der Luft. Sie müssen nicht hinausgreifen oder versuchen, irgend etwas zu tun oder zu fühlen. Schließlich ist die Luft ja bereits überall um Sie herum und in Ihnen - und berührt Sie. Spüren Sie, wie Sie bereits in diese Flüssigkeit eingebettet sind, wie der Ozean der Luft Ihre Haut liebkost, wie er sie einhüllt und umfängt, selbst wenn er sich in einem Zimmer kaum bewegt, selbst wenn er völlig stillsteht. Spüren Sie, wie es Sie auf geheimnisvolle Weise dazu drängt, ihn wieder und immer wieder durch Nase und Mund in Ihren Körper einzuziehen, wie das ohne Ihr Zutun geschieht, ohne daß Sie irgend etwas erzwingen müssten, ja völlig unwillkürlich. Spüren Sie, wie die Luft durch das Gefäß Ihrer Lungen aufgenommen wird, und denken Sie einen Augenblick lang darüber 143
nach, wie der Sauerstoff über die Lungen in Ihren Blutkreislauf gerät und zu den Billionen Zellen in Ihrem Körper transportiert wird, die ohne diese lebenswichtige Nahrung schon bald sterben würden. Eine solche Reflexion gibt Ihnen vielleicht Gelegenheit, für einen Moment innezuhalten, zu „verschnaufen“ und sich ganz bewußt in der Luftlandschaft zu positionieren. Ich habe zur Zeit eine Heiß-kalt-Liebesaffäre mit der Luft. Wenn ich an die Luft denke, ist sie heiß. Wenn ich sie vergesse, ist sie kalt, bis die Luft selbst mich wieder daran erinnert und mich wieder im Körper sein läßt. Dabei ist es gar nicht so schwer, die Luft zu lieben. Im Sommer strömt mir eine leichte Morgenbrise über die nackten Schultern, während ich mit offenen oder geschlossenen Augen dasitze und atme. Ich spüre die Luft um meinen Körper herum mit meiner Haut, und schon ist die Haut erfrischt. Ich bade in den gelegentlichen Windstößen und dem dann wieder sanfteren Strömen im Raum, trinke die Feuchtigkeit und Frische der Luft und bin plötzlich viel wacher als zuvor. Die Feuchtigkeit eines manchmal schwülen Abends spricht in ihrer eigenen Sprache zu Haut und Nase, ebenso wie eine aufregend frische Brise Seeluft, der Balsam von Tauwetter mitten im Winter und ein frostig-scharfer Januarwind, der sich an jeder freiliegenden Stelle in die Haut beißt. Das war nicht immer so. Während des größten Teils meines Lebens war die Luft einfach nur Luft; ich nahm sie nicht wirklich wahr und wußte sie noch weniger zu schätzen. Ganz langsam ist mir dann die Einsicht aufgedämmert, daß sie in der Tat „nur Luft“ ist - aber dennoch ein enormes Geschenk. Diese Einladung, zu spüren, was sich uns bereits darbietet, das zu erfahren, was uns ständig umhüllt und ernährt, ist sogar ein ausgesprochen sinnliches Geschenk. Wir atmen, und wir werden geatmet. Wir leben in der Luft und von der Luft. Wenn ich mit einer gewissen Zuneigung, Intimität und Konstanz mit der Luft umgehe, also mit zunehmender Achtsamkeit, dann komme ich nicht darum herum zu bemerken, daß die Luftlandschaft ständig im Fluß ist. Einen Moment ist sie in Bewegung, im nächsten Moment steht sie still. Wenn ich sie auf diese Weise erfahre, dann lockt sie mich, weckt sie mich auf und läßt mich aufmerksam sein. Jetzt ist sie warm. Ich schaue und fühle wieder, und sie ist kühl. Zu verschiedenen Tages- oder Jahreszeiten begegne ich den verschiedenen Persönlichkeiten der Luft. Die süße „Wie damals in der Schule“-Kühle mit all ihren Erinnerungen, die erfrischende Frostigkeit des Winters und noch mehr Erinnerungen, die gelegentliche Wärme im Winter, mit diesem ganz eigenen Gefühl eines Tages, der vorgibt, Sommer zu sein, und es doch nicht schafft, während ringsum noch Schnee und Eis herrschen, dieses Tauwetter, das der Luft eine ganz einzigartige Qualität von Gefühlen und Gerüchen gibt. Die Luft, die Luft, die Luft. Wenn Sie erst einmal beginnen, darauf zu achten, wenn Sie lernen, sie zu lieben, dann werden Sie verstehen, warum die Luft von alten Kulturen als das ursprüngliche Element angesehen und verehrt wurde. Die Luft! Die Luft! Ich schaue hinaus auf die Reihe von Hemlocktannen, wie sie im Wind schwanken und ihr Taiji spielen. Ich spüre, wie dieselbe Luft, die sie bewegt, jetzt auch über meinen Rücken, meine Schultern und meinen Nacken streicht. Darin sind wir eins, werden wir von derselben Welle berührt, und ein jedes bewegt sich darin auf seine Weise, darin haben wir gemeinsam teil an einem Austausch, der größer ist als wir, an dem alles Leben, Pflanzen wie Tiere, in jedem Augenblick auf dem gesamten Planeten teilhat und worin es vereint ist - ein Geben und Nehmen zwischen den beiden großen Reichen des 144
Lebens auf kosmischem Niveau. Und dieser dynamische Austausch, Wunder aller Wunder, erhält diese dünne und seltsam verletzliche Decke der Atmosphäre aufrecht, die unseren Heimatplaneten innerhalb der Unendlichkeit des Vakuums, das wir Weltraum nennen, einhüllt und umarmt, in einem Vakuum beinahe völliger Leere, wo fast nichts ist. Und das ist, von unserem Standpunkt als Lebewesen aus, alles ... denn ohne die unsichtbare Luft wären auch wir sehr schnell wieder nichts. Hast du, der du nur Luft bist, Sinn, Gespür für ihre Leiden? WILLIAM SHAKESPEARE, Der Sturm
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Berührungslandschaften Nicht nur die Luft berührt uns, auch wenn ihre Berührung ununterbrochen ist. Unser Körper berührt jeden Stuhl, auf dem er sitzt, jeden Grund und Boden, auf dem er steht, jede Oberfläche, auf der er liegt, jedes Kleidungsstück, mit dem die Haut in Kontakt kommt, jedes Werkzeug, das wir in die Hand nehmen, jedes Ding, das wir ergreifen, hochheben, werfen, auffangen oder weitergeben. Und, was wahrscheinlich das Wichtigste ist, wir berühren einander auf die vielfältigste Weise, manchmal automatisch, manchmal beiläufig, manchmal sinnlich, manchmal romantisch, manchmal liebevoll, manchmal aggressiv, manchmal gefühllos, manchmal voller Zorn. Je nachdem, wie wir berührt werden, können wir uns geliebt, angenommen, geschätzt oder ignoriert, mißachtet oder angegriffen fühlen. Aber wie immer wir berühren und was immer wir berühren, sei es etwas Belebtes oder etwas Unbelebtes, eine Pflanze, ein Tier oder ein menschliches Wesen, ein Fremder, ein Klient, ein Kollege, ein Freund, ein Kind, ein Elternteil, ein Geliebter oder eine Geliebte, wir können sie entweder unachtsam oder auch achtsam berühren. Und in jedem einzelnen Augenblick haben wir die Möglichkeit, durch das Gewahrsein unmittelbar zu wissen, wie wir selbst berührt werden, wie wir uns fühlen und was wir von Augenblick zu Augenblick als Konsequenz der Art, wie wir berühren oder berührt werden, empfinden. Dies ist die Welt der Berührung, die Berührungslandschaft, das Feld der Sinneswahrnehmung des immer gegenseitigen unmittelbaren somatischen Kontakts zwischen uns selbst und der Welt, die wir entweder oberflächlich oder tief mit jedem Quadratzentimeter unseres Körpers fühlen können. Während ich hier mit überkreuzten Beinen vor meinem Schreibtisch auf dem Fußboden sitze, bin ich der Empfindungen gewahr, die von meinem Gesäß im Kontakt mit dem Meditationskissen (Zafu) kommen sowie von der Außenseite meiner Unterschenkel, die von den Knien bis zu den Fußgelenken gestreckt sind, und von meinen nach oben gedrehten Füßen, die einer hinter dem anderen auf der mit Baumwolle gefütterten Sitzmatte auf dem Fußboden liegen. Dies sind momentan die einzigen Teile meines Körpers, die in Kontakt mit meiner Unterlage sind, die mich aufrecht halten, während die Schwerkraft jeden Teil meines Körpers ständig nach unten zieht, so daß ich völlig entspannt in dem Gleichgewicht ruhen kann, das diese Stellung mit sich bringt. Der Rest meines Körpers berührt nur die Luft um mich herum, abgesehen von dem Kontakt meiner Handballen mit der Auflagefläche meines Laptops und meiner Fingerspitzen mit den Tasten, während ich an diesem Tisch mit den abgesägten Beinen, der mir als Schreibtisch dient, sitze und schreibe. Zu den Empfindungen in den Handballen gehören Wärme (der Laptop strahlt Wärme ab), Glätte und Härte der Plastikoberfläche, auf der sie liegen, und die ihnen innewohnende Schwere. Die Handballen, die das Gewicht der Arme tragen, fühlen sich verankert und gewichtig an. Die Finger, in der üblichen Haltung über der Tastatur gekrümmt, fühlen sich leicht an, voller Energie und pulsierend. Natürlich ist die Berührung nicht abgekoppelt von den anderen Sinneswahrnehmungen, und so bin ich in diesem Augenblick auch der Geräuschlandschaft gewahr, die mich vermittels der Luft erreicht, die meine Haut badet 146
und die mit jeder Kontraktion meines Zwerchfells und jeder Bewegung meines Bauchs in meine Lungen einströmt. Ich werde auch davon berührt, aber auf eine Weise, die sich anders anfühlt als die direkte somatosensorische Empfindung der Berührungslandschaft. Die Geräuschlandschaft fühlt sich weniger greifbar an, körperloser, bis ich bemerke, daß mein gesamter Körper die Geräusche aufnimmt, nicht nur meine Ohren. Und während ich jetzt genauer darauf achte, spüre ich tatsächlich die physischen Vibrationen der Geräusche, die in manchen Fällen bis auf die Knochen gehen. Gleichzeitig bin ich dessen gewahr, was sich ständig meinen Augen darbietet, und was wir die Gesichtslandschaft nennen könnten: der Bildschirm, auf dem diese Wörter erscheinen - noch vor dreißig Jahren, im Zeitalter der elektrischen Schreibmaschinen, hätte man eine solche Erfahrung dem Bereich der Science-fiction zugeordnet -, und jenseits des Bildschirms das Zimmer, in dem das Sonnenlicht des frühen Morgens, das durch das Fenster zu meiner Rechten fällt, gerade einmal einige vertikale Oberflächen erhellt, die Rückseite des Schreibtischsessels, ein Stück des Schreibtischs, ein rotes Buch mit losen Blättern, das vertikal in die Lücke neben dem Drucker gestopft ist, und die der Sonne eigene Kalligraphie - die Schatten einiger weniger Blätter des Ahornbaums vor meinem Fenster -, die auf magische Weise auf dem vertikalen Brett auftaucht, welches das Regalbrett über dem Drucker abstützt. Nach einigen Minuten sehe ich wieder hin und alles ist anders, kein Licht mehr auf dem Schreibtisch, die Schattenkalligraphie wird jetzt aus einem anderen Winkel projiziert, und Blätter und Zweige erscheinen flacher und klarer umrissen. In seinem Buch über das Berühren merkt Ashley Montague an, daß das englische Wort touch (Berührung) sich dadurch auszeichnet, daß es den längsten Eintrag im Oxford English Dictionary hat. Das heißt, dieser Eintrag ist sogar länger als der für das Wort love (Liebe). Und wenn wir mal einen Moment darüber nachdenken, dann sollte uns das nicht überraschen. Denn was wäre die Liebe schon ohne Berührung? Die Berührung ist so grundlegend für das Leben. Wir sind in die Welt eingebettet und kennen sie durch all unsere Sinne, aber der grundlegendste Sinn, der am wenigsten spezialisierte und der globalste Sinn muß die Berührung sein, die sich über die Membrane der Haut vermittelt, die uns umschließt, die unseren Körper und unser inneres Milieu von der Außenwelt abgrenzt und trennt. Bevor wir geboren werden, wachsen wir innerhalb der lebendigen Umwelt eines anderen Körpers in unseren Körper und unser Sein hinein, innerhalb weiterer Membranen werden wir getragen, sind aber doch irgendwie verschmolzen, nicht richtig zwei, noch keine zwei getrennten Körper. Vor unserer Geburt und danach werden wir durch Berührung, durch fürsorgliche Berührungen, liebevolle Berührungen und liebevolle Umarmungen genährt. Wenn Babys gestillt werden, tasten sie im allgemeinen nach der anderen Brustwarze und halten sie fest; sie berühren die eine mit den Lippen und die andere mit ihren winzigen, vollkommenen Fingern und schließen so einen Kreislauf der Liebe und der ständigen Fürsorge, einer nährenden Verbindung, die eine Nahrung bereitstellt, die weit über die bloße Muttermilch hinausgeht. Und wenn sie von den Eltern getragen werden, dann sind Kinder ständig in Berührung mit deren Körpern. Wenn Babys mit ihren Eltern in einem Bett schlafen, dann sind sie auch im Schlaf oft in körperlichem Kontakt mit den Eltern, eingehüllt in denselben warmen und liebevollen Kokon. Der Sinn der Berührung, auch Tastsinn genannt, ist vom neurologischen Standpunkt aus im Grunde eine Anzahl verschiedener Sinneswahrnehmungen, von denen wir 147
jedoch wie von einem einzigen Sinn sprechen. Den Druck des Kontakts zu spüren ist eine solche Wahrnehmung. Die Temperatur des Kontakts zu spüren ist eine andere. Und einen Kontakt zu spüren, der so intensiv ist, daß er Schmerz verursacht, ist wieder eine andere. Auch wenn wir eine Liebkosung spüren, die so liebevoll ist, daß sie uns Lust bereitet, ist das noch einmal eine andere Sinneswahrnehmung. Eine weitere Dimension dieses Sinnes betrifft unsere Fähigkeit, den Körper innerlich zu spüren, also zum Beispiel zu wissen, wo unsere Hände sind, ohne daß wir hinsehen oder sie bewegen, oder zu wissen, wie die Haltung unseres Körpers in einem bestimmten Moment ist. Diese Sinneswahrnehmung, die wir alle besitzen, wird, wie bereits erwähnt, Propriozeption oder die „Eigenempfindung“ des Körpers genannt. Sie erlaubt uns, zu spüren und zu wissen, wie der Körper im Raum orientiert ist, und die Bewegungen und Absichten des Körpers zu spüren.11 Die Propriozeption ist so grundlegend, daß wir ihr fast nie besondere Beachtung schenken. Wie halten sie einfach für selbstverständlich. Aber wie wir später noch sehen werden, ist der Verlust der Propriozeption durch eine Schädigung der sensorischen Nerven eine totale Katastrophe. Man weiß und fühlt nicht mehr, daß man sozusagen der Bewohner des Körpers ist, der ein wollendes Universum potentiell absichtlicher Aktivität innerhalb einer größeren Welt bewohnt. Unsere Hände und Beine gehören uns dann nicht mehr. Sie sind fremde Objekte, ohne Wert und Nützlichkeit. Wir können sie nicht mehr auf die gewohnte Weise bewegen. Die Verbindung zu ihnen und zur Gesamtheit des Körpers ist unterbrochen. Das ist dann die Stufe des „Keinen-KontaktHabens“. Zum Glück ist dieser Zustand äußerst selten. Daß jemand der Propriozeption jedoch nicht gewahr ist und damit de facto keinen Kontakt zu sich selbst hat, ist allerdings traurigerweise ein ziemlich häufiger Zustand. Zum Glück läßt sich in diesem Fall sehr viel dafür tun, daß wir diese wundervolle Dimension der gelebten Erfahrung augenblicklich wiedergewinnen, denn sie ist nie weit weg, ist uns immer näher als nah. Wir sind nur deshalb nicht mit uns selbst in Kontakt, weil wir das, was bereits vorhanden ist, einfach ignorieren. Wenn wir dieses Ignorieren fallenlassen, dann kommen wir augenblicklich zur Besinnung und zu unseren Sinnen, weil die Sinne bereits zu uns gekommen sind. Das ist ihre Natur. Wir brauchen bloß zu ihnen zu erwachen.
In den letzten Jahren wurde von den Neurologen noch ein weiterer Terminus eingeführt, der der Interozeption, die es uns ermöglicht, das innere Milieu des Körpers zu spüren, also zu spüren, ob die innere Regulierung hinreicht, um einen Zustand des Gleichgewichts, der Homöostase, aufrechtzuerhalten. Das ist, wenn man so will, ein „inneres Berühren“, welches dazu führt, daß wir wissen, wie es uns geht. 11
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Nach einem Regenfall nach vielen Tagen ohne Regen bleibt es kühl, heimelig und gereinigt unter den Bäumen, und die Feuchtigkeit dort, nun vermählt mit der Schwerkraft, fällt von Ast zu Ast, Blatt zu Blatt, hinab zum Boden, wo sie verschwinden wird - und doch nicht fort sein wird, außer für unsere Augen. Die Wurzeln der Eichen bekommen ihren Teil davon, und die weiten Fäden der Gräser, und das Mooskissen; einige wenige Tropfen, rund wie Perlen, werden in den Tunnel des Maulwurfs eindringen, und bald werden viele kleine Steine, vergraben seit Tausenden von Jahren, sich berührt fühlen. MARY OLIVER, „LINGERING IN HAPPINESS“
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In Kontakt mit der Haut Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan. Irgendjemand hat einmal ausgerechnet, daß sie bei einem Erwachsenen eine Oberfläche von etwa 1,8 Quadratmetern bedeckt und etwa acht Pfund wiegt. Wir bezeichnen die Haut im allgemeinen als das Organ der Berührung, auch wenn man sagen könnte, daß wir auch durch die anderen, stärker spezialisierten Sinnesorgane von der Welt „berührt“ werden. Doch das, was wir mit dem Wort „Berührung“ assoziieren, hat vor allem mit unserer Haut zu tun. Dasselbe gilt für einen bestimmten Gebrauch des Wortes „fühlen“. Denn über die Haut findet das statt und fühlen wir das, was wir einen „körperlichen“ Kontakt mit der Welt nennen, und hier ist die Wechselseitigkeit unseres Kontakts mit der Welt am offensichtlichsten. Denn wir können nicht etwas berühren, ohne im selben Moment davon berührt zu werden. Wenn wir barfuß gehen, küssen unsere Füße die Erde mit jedem Schritt, und die Erde küßt uns, wie wir fühlen, zurück. Wenn wir natürlich „den Kontakt verloren haben“, dann fühlen wir es nicht, auch wenn die Berührung nicht zu leugnen ist. Und wir verlieren den Kontakt im allgemeinen dann, wenn unser Geist von etwas anderem eingenommen ist - wenn wir in Grübelei versunken sind, in den Strom unserer Gedanken und Gefühle, in unsere Beschäftigung mit uns selbst, wie das so oft der Fall ist. Dann sind wir nicht offen für die direkte Erfahrung des Augenblicks. Wir wissen auch, daß eine sehr enge Beziehung zwischen der Haut und unseren Gefühlen besteht. Wenn wir es zulassen, dann gehen uns die Dinge „unter die Haut“. Wir erröten vor Scham, bekommen vor Stolz einen roten Kopf, werden bleich vor Angst, grau vor Kummer, grün vor Neid. Aus all diesen Gründen und vielen mehr lohnt es sich, über die Haut zu meditieren. Wenn wir der Haut unsere Aufmerksamkeit zuwenden, dann spüren wir vielleicht zum ersten Mal in unserem Leben bewußt die Luft um unseren Körper herum. Zuerst mag es leichter sein zu spüren, wie die Luft unsere Haut und wie unsere Haut die Luft berührt, wenn eine Brise geht, aber mit etwas Übung können wir jederzeit die Luft um unseren Körper spüren, auch wenn es windstill ist, einfach dadurch, daß wir unserer Körperhülle Aufmerksamkeit schenken. Die Haut atmet, und wir können spüren oder uns vorstellen, wie vermittels dieser Membrane ein Austausch zwischen unserem Fleisch und dem Rest der Biosphäre stattfindet, einfach indem wir unseren Geist bei der Haut verweilen lassen. Unser Gewahrsein kann unsere Haut umfangen, so wie ein Handschuh unsere Hand umfängt. Das Gewahrsein durchtränkt unsere Haut, so wie Wasser einen Schwamm durchtränkt. Wenn wir der Empfindungen in unserer Haut gewahr sind, dann fühlt sich das an, als wohnte unser Geist in unserer Haut. Geist und Haut sind nicht voneinander getrennt, außer wenn der Geist einschläft. Man könnte sogar mit einiger Berechtigung sagen, daß die Haut ein Aspekt unseres Geistes ist. Das ist gar nicht so weit hergeholt, wie es sich anhören mag. Wie wir später noch sehen werden, gibt es im Gehirn eine Reihe von Körper-Landkarten; ein solcher Kartensatz ist der sogenannte „sensorische Homunkulus“. Die Regionen des sensorischen Homunkulus korrespondieren mit der Oberflächenbeschaffenheit der Haut. Allerdings nehmen Hände, Füße und Lippen im sensorischen Homunkulus im Verhältnis zu anderen Bereichen unserer Haut einen sehr großen Raum ein, weil in diesen Bereichen besonders viele sensorische Nervenenden lokalisiert sind. Wenn wir 150
unseren Geist also absichtlich auf unsere Hände, Füße oder Lippen richten, dann werden wir in diesen Regionen besonders lebhafte Empfindungen spüren. Die Haut ist eine sensorische Welt für sich. Sie scheint nie ganz ohne Empfindungen zu sein, auch wenn sie scheinbar gerade nichts berührt. Denn weil sie eine Schnittstelle ist, ist sie immer mit etwas in Berührung. Sie hat zu jeder Zeit ihren eigenen sensorischen Tonus. Sie ist immer in Kontakt — die Frage ist nur, ob wir es auch sind. Können wir in Kontakt mit unserer Haut sein? Daß wir in unseren Händen, Füßen und Lippen stärkere Empfindungen haben, könnte auch darin begründet sein, daß wir in diesen Regionen, insbesondere in den Händen, sehr viele motorische Nerven besitzen. Die sensorischen und die motorischen Funktionen gehen, wenn ich mir erlauben darf, das so zu formulieren, „Hand in Hand“. Wenn Sie in Ihre Hände hineinspüren und durch die Haut der Hände nach außen, dann werden Sie eine Schönheit der Form und der Funktion fühlen, die in ihrer Schönheit den von Michelangelo in Marmor gehauenen Händen in nichts nachsteht. Wir schätzen die Kunstfertigkeit und Ästhetik, die „dem Stein Leben einhaucht“ auch deshalb so sehr, weil sie uns wieder mit der uns selbst innewohnenden Schönheit verbindet. Es ist eine Schönheit, die das Alter transzendiert und alles, was uns passiert ist und was auf die eine oder andere Weise in unseren Körper eingeschrieben sein mag ... wir fühlen uns davon berührt. Die Schönheit des Kunstwerks erinnert uns daran, daß es sich hierbei um unsere eigenen wundervollen Hände handelt, die wir so wenig kennen, die wir für so selbstverständlich halten und so mechanisch benutzen, daß wir sie schon gar nicht mehr richtig spüren. Wenn wir also das Leben so greifbar im Marmor pulsieren sehen, dann erwachen wir selbst wieder zum Leben, wir werden in gewisser Weise wiedergeboren. Dies ist ein weiterer Vorteil der unvermeidlichen Wechselseitigkeit, die dem Fühlen innewohnt, das in diesem Fall an der Schnittstelle stattfindet, wo der Austausch zwischen der inneren und der äußeren Welt durch die zähe und doch sensible Oberfläche der Finger und der Handfläche stattfindet, durch das Wunder der Hände. Du bist viel schöner noch als jede andere, und doch besaß dein Körper einen Makel: deine kleinen Hände waren nicht schön, so daß ich bang mich frage, ob du wohl hingehst, in dem geheimnisvollen, stets zum Überlaufen vollen See bis zu den Handgelenken zu paddeln, wie es jene tun, die, heiligem Gesetz gehorchend, dort paddeln und vollkommen sind. Laß unverändert diese Hände, die ich geküßt habe, der alten Zeiten eingedenk. W. B. YEATS, „BROKEN DREAMS“
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Geruchslandschaften Ich sitze im Hochsommer auf der Terrasse eines Hauses auf Cape Cod, und die salzige Luft, die ich schon von Kindheit an so gut kenne, trägt meiner Nase eine Ahnung des nahen Ozeans zu. Dieser mir vertraute Duft ist unverwechselbar und doch in seiner Feinheit und Komplexität beinahe unbeschreiblich. Wann immer ich nach Cape Cod zurückkehre, bemerke ich an diesem Duft, in dem sich Land und Meer mischen, daß ich mich dem Ozean nähere. In der sanften Brise dieses Vormittags liegt Feuchtigkeit. Ich spüre nicht nur, wie sie meine Haut streichelt, ich rieche sie jetzt auch um so stärker, da meine Aufmerksamkeit sich der durch die Nase eingezogenen Luft zuwendet. Ein ganz leichter Geruch von Seetang liegt in der Luft, dazu der Geruch von nassem Sand, von Seegras, der Geruch all des pflanzlichen und tierischen Lebens, das uns auf drei Seiten an den Stränden und in Prielen umgibt. Dazu kommt der Geruch der schweren feuchten Erde der nahen Sassafras-Wälder und Marschen, und gelegentlich eine Duftwolke von den Hortensien im Blumengarten und von dem ungemähten Gras unter der immer heißer brennenden Sonne des späten Vormittags. Unverkennbar ist auch der Geruch des schwarzen Rindenmulchs, der erst unlängst unter den Zedern ausgebreitet wurde, vermischt mit dem schwachen Geruch von nassem Stuck, der von dem Neubau auf dem Nachbargrundstück herüberweht. Doch sehen Sie, was ich getan habe: Ich konnte den Geruch selbst oder die Empfindung dieser Geruchslandschaft nur dadurch beschreiben, daß ich Dinge aufgezählt habe, in der Hoffnung, daß dadurch in Ihnen Erinnerungen an Orte und Zeiten wachgerufen werden, wo Sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich deshalb an die typischen Gerüche erinnern. Ich kann die Essenz dieser Geruchslandschaft weder für Sie noch für mich irgendwie einfangen. Sie ist so komplex, so vielfältig, so einzigartig und sich in jedem Moment verändernd, während sie zugleich die ganze Zeit ziemlich gleichförmig bleibt. Man kann sie weder in Flaschen füllen, noch sie aufbewahren oder übermitteln. Ich kann mögliche Quellen des Geruchs benennen, doch tue ich mich schwer, die tatsächliche Erfahrung zu beschreiben. Sie müßten den Geruch selber riechen, um ihn zu kennen, und selbst dann würde es uns schwerfallen, darüber zu sprechen. Und vielleicht täten wir besser daran, nicht zu reden, vielleicht wäre die Erfahrung vielfältiger und sinnlicher, wenn wir sie einfach schweigend miteinander teilten, statt, wie wir das so oft bei jeglicher Art von Erfahrung tun, in mehr oder weniger gedankenloses Geplapper zu verfallen, welches so leicht die unaussprechliche Fülle des stillen Wahrnehmens und schweigenden Miteinander-Teilens übertönt. Gerüche bieten uns durch den am feinsten abgestimmten unserer Sinne eine ganz eigene Welt dar. Die Nase vermag winzigste Anteile von Duftstoffen in der Luft zu entdecken, und das Riechen funktioniert, wie der Geschmackssinn, im Grunde auf der molekularen Ebene. Natürlich sind Riechen und Schmecken anatomisch und funktional eng miteinander verbunden. Wenn unsere Nase verstopft ist, dann schmecken wir auch kaum etwas. Moleküle in der Luft sind die Quelle aller Geruchserfahrungen — einmal abgesehen 152
von Erfahrungen, die wir allein aus der Erinnerung hervorbringen, wenn es uns irgendwie gelingt, die olfaktorischen Gehirnregionen so zu stimulieren, daß wir wie Proust aus dem Gedächtnis eine Erfahrung hervorrufen, die ebenso lebhaft ist, wie es die ursprüngliche Erfahrung war. Auch wenn unser Geruchssinn im Vergleich zu dem der meisten Tiere ziemlich unterentwickelt ist, prägt sich der Erinnerung doch nichts so sehr ein wie ein Geruch. Unsere Zuneigung oder Abneigung kann, wie bei einem Tier, ein augenblicklicher Reflex sein, wenn ein Geruch besonders angenehm oder unangenehm ist. Der über lange Zeiträume entwickelte biologische Imperativ von Annäherung und Vermeidung (den manche Menschen „primitiv“ nennen würden, auch wenn er in Wirklichkeit wenig Primitives hat) lauert in der Welt der Gerüche in seiner grundlegendsten Form, und er hat uns, die wir mit einem Reflex darauf reagieren, fest im Griff. In der Tat verbinden Duftstoffe wie die Pheromone uns miteinander. Sie helfen uns, einander zu finden, indem sie, wie bei anderen Spezies auch, daran beteiligt sind, die Choreographie für die sozialen und sexuellen Tänze, die wir aufführen, festzulegen, und indem sie unsere Entscheidung, mit wem zusammen wir unsere Gene an künftige Generationen weitergeben wollen, beeinflussen. Die Suche nach künstlichen Duftstoffen, die uns für andere anziehend machen und die sich massenweise produzieren und verkaufen lassen, ist, was kaum verwundern sollte, für viele chemische Labors unserer Zeit so etwas wie die Suche nach dem Heiligen Gral geworden. Da die meisten Gerüche allerdings weder allzu angenehm noch allzu unangenehm sind, neigen wir dazu, sie gar nicht zu bemerken. Doch selbst an starke Gerüche gewöhnt sich die Nase sehr schnell. Wir brauchen ihnen nur kurze Zeit ausgesetzt zu sein, und schon riechen wir nichts mehr, riechen wir selbst giftige Dämpfe nicht mehr. Die Nase ist ein sehr feines Instrument, doch sie ermüdet schnell, wenn ihr zu viel angeboten wird. Es fällt uns schon schwer, während einer ganzen Mahlzeit das Essen zu riechen, das wir gerade verzehren. Wieder einmal ist es die Luft, die zwischen der Quelle und dem Empfänger vermittelt, denn die Luft überträgt sehr viel mehr als nur Schall. Gerüche, Düfte, Aromen und Gestank übertragen sich ebenfalls über die Luft. Unsere Hunde erfahren diese sehr viel stärker und entdecken sie sehr viel früher als wir - wenn wir sie überhaupt wahrnehmen. Hunde bewohnen eine weitaus vielfältigere Geruchslandschaft als wir. Ihr Universum ist weitgehend geruchsorientiert; es bietet ihnen eine Menge relevanter Informationen über andere Hunde, Menschen und Orte, und offenbar können sie sich ganze Geschichten oder Wegstrecken mit dem Geruchssinn erschließen. Das olfaktorische Epithel in der Nase (wo die Arbeit des Riechens stattfindet) eines Hundes kann eine um das Siebzehnfache größere Oberfläche haben als beim Menschen und kann das Hundertfache an Geruchsrezeptoren besitzen. Bei der Ratte und der Spitzmaus macht der olfaktorische Kortex einen großen Teil des gesamten Kortex aus, beim Menschen ist dieser Anteil dagegen winzig. Natürlich besitzen Spitzmäuse und Hunde nicht so beträchtliche über die sensorischen und motorischen Funktionen hinausgehende Hirnrindenanteile, wie das beim Menschen der Fall ist – Bereiche, die uns für höhere kognitive und kreative Funktionen zur Verfügung stehen. Menschen, Länder, Städte, Dörfer, Häuser, Landschaften, Meere – sie alle haben ihren bezeichnenden Geruch. Der erste Geruchseindruck von Neu Delhi ist unvergeßlich, und dasselbe gilt für die meisten Orte und Jahreszeiten, wenn wir ihre 153
Gerüche nicht zwanghaft überdecken und sterilisieren. Gerüche haben uns viel zu erzählen, sie rufen viele Gefühle hervor, Gefühle, die weit über bloße Nostalgie und Erinnerung hinausgehen. Düfte und Gerüche können uns in Trauer oder Ekstase versetzen. Gleichzeitig aber wecken sie uns auch auf, laden sie uns ein, uns völlig dem gegenwärtigen Augenblick hinzugeben, im Duft und den Düften des Jetzt zu schwelgen. Eines strahlenden Tages rief der Wind meine Seele an mit einem Duft von Jasmin. „Als Gegengabe für den Duft meines Jasmins will ich von dir den Duft all deiner Rosen ... „ ANTONIO MACHADO (nach der englischen Übertragung von Robert Bly) Es ist nicht verwunderlich, daß Machado diese Dringlichkeit des Verlangens nach Austausch zwischen den Düften im Wind und denen in seiner eigenen Seele verspürt. Aber waren die beiden denn je voneinander getrennt?
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Geschmackslandschaften Ich habe mich entschlossen, eine Mandel zu essen, um durch die Beschreibung der Erfahrung einen Eindruck von der Geschmackslandschaft vermitteln zu können. Ich nehme die Mandel aus der Müslimischung, die ich letzte Woche vorbereitet habe, wozu ich die Mandeln zusammen mit Olivenöl, Ahornsirup, viel Haferflocken, Sesamsamen, Sonnenblumenkernen, etwas Zimt und Salz geröstet habe. Als ich die Mandel in den Mund nehme, bin ich erst einmal überrascht von ihrer Größe. Dann spüre ich, wie ihre Haut weich wird, und plötzlich habe ich zwei Dinge im Mund, einerseits die runzlige Haut und andererseits den glatten Mandelkern. Ich beginne zu kauen und bemerke, daß beide Teile überraschend knusprig sind. Die Knusprigkeit wird aber bald von einer maismehlartigen Konsistenz abgelöst. Es ist erstaunlich, wie der Geschmack meinen Mund überflutet, einen Höhepunkt erreicht und dann wieder abnimmt. Das alles geht viel schneller, als ich gedacht hatte; deshalb schlucke ich die erste Mandel hinunter und nehme eine zweite, um mich noch mehr auf den Geschmack zu konzentrieren. Ich kaue langsam, achtsam, kaue und schmecke, schmecke. Hmmm. Alles, was in meinem Mund vor sich geht, gehört zum Reich der Geschmackslandschaft, aber was ist es genau in diesem Moment? Es ist zweifellos süß, aber doch nur auf ganz subtile Weise. Hätte man mir die Augen verbunden und mir die Mandel in den Mund gesteckt, hätte ich am Geschmack sofort erkannt, daß es eine Mandel ist. Aber hätte ich dem Geschmack auch entnommen, daß die Mandel mit anderen Geschmäckern in Berührung gekommen ist? Ich bin mir nicht sicher. Ich kann eigentlich nicht behaupten, daß ich den Zimt herausschmecke, auch wenn er wahrscheinlich zum Geschmack der Mandel, den ich jetzt auf der Zunge habe, beiträgt. Dasselbe gilt für den Ahornsirup und die anderen Zutaten. Alles in allem ist auch hier der Geschmack an sich nicht so einfach zu beschreiben. Wie beschreibt man den Geschmack von Zimt, ohne den Begriff „Zimt“ zu benutzen? Und doch ist die Erfahrung des Geschmacks etwas ungemein leicht Wiederzuerkennendes, und ich verweile gern wortlos dabei. Gestern abend bestellte ich in einem Restaurant in der Nähe Heilbutt mit Koriander und grünem Curry sowie Jasminreis. Das Gericht war von den Geschmäckern und der Konsistenz her eine ganz erstaunliche Kombination, jeder Bissen eine Supernova von Subtilitäten ... der Koch wußte wirklich, wie er seinen Gästen durch das Essen eine ganz besondere Erfahrung bescheren konnte. Jeder Bissen des Fischs, der so zubereitet war, daß er auf der Zunge zerging, zusammen mit etwas Reis und einer Spur Soße rief bei mir zuerst, ohne Übertreibung, einen Moment der wortlosen Ekstase hervor, wobei ich den Kopf instinktiv neigte, um mit noch größerer Achtsamkeit dem folgen zu können, was in meinem Mund vor sich ging. Es folgte dann jeweils ein Ausruf der Lust und Befriedigung, wobei ich mich bemühte, mit Rücksicht auf meine Frau Myla, die etwas anderes bestellt hatte, nicht allzu enthusiastisch zu wirken. Nach jedem Bissen hielt ich dann einen Moment inne, um dieser wirbelnden, explosiven Mischung raffinierter Geschmäcker nachzuspüren — einer milden Süße mit einem Hauch von Kokosnußmilch-Aroma und einer pikanten, aber nicht zu heftigen Schärfe. Auch hier ist es mir im Grunde wieder unmöglich, den Geschmack zu beschreiben. 155
Ich schätze, das ist der Grund, warum wir solche Feinschmecker-Restaurants aufsuchen - einfach nur über den Genuß zu lesen, selbst wenn der Autor sehr begabt ist, mag uns zwar Appetit machen, aber es wird niemals unseren Hunger stillen oder uns den wirklichen Geschmack schmecken lassen. Um den Geschmack tatsächlich zu kennen, müssen wir schon selber essen. Hier heißt schmecken in der Tat wissen. Wenn wir mit Achtsamkeit essen, dann beschert uns selbst das einfachste Gericht ein ganzes Universum sinnlicher Erfahrungen. Ein Bissen eines Apfels oder einer Banane, ein Stück Brot oder Käse bieten uns eine erstaunliche Vielfalt von Geschmäckern an, wenn wir nur aufmerksam genug sind. Das ist vielleicht der Grund, warum während einer Wanderung in der freien Natur oder beim Zelten, wenn wir uns außerhalb des Rahmens unserer alltäglichen Erfahrungswelt befinden, auch ganz einfache Speisen, selbst Erbsen aus der Büchse oder Ölsardinen so viel besser schmecken als sonst. Dies ist auch der Grund, warum das Essen einer Rosine oft die erste Meditation ist, die wir den Klienten unserer Stress Reduction Clinic anbieten. Achtsames Essen läßt uns schnell all die vorgefaßten Meinungen vergessen, die wir von der Meditation haben mögen. Es siedelt die Meditation von vornherein im Bereich des Gewöhnlichen an, des Alltäglichen, der Welt, die wir bereits kennen, die wir nun aber auf eine andere Weise kennenlernen werden. Ganz, ganz langsam eine Rosine zu essen, lädt uns dazu ein, uns völlig mühelos und ganz natürlich und auf eine Art, die jenseits von Worten und Denken ist, auf das Wissen einzulassen. Diese Einladung ist nur deshalb ungewöhnlich, weil wir im allgemeinen eher automatisch und unbewußt essen. Eine solche Übung, einfach essen, einfach schmecken, führt augenblicklich zu einer Art von Wachheit, einem Moment, in dem es nur das Schmecken gibt. Alles andere sind bloß Wörter und damit Denken, zumindest einen Schritt entfernt von der Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks, vom Schmecken selbst, vom innerlichen Kennen und Genießen – von der Geschmackslandschaft im Mund. Denken wir noch einen Moment über das Essen nach. Nach dem Atmen gehört es für jeden lebenden Organismus zu den grundlegendsten Dingen. Wir können nicht überleben, ohne zu essen, und der Trieb, seinen täglichen Bedarf an fester und flüssiger Nahrung zu decken, nach Maßgabe des Geschmacks, der uns in der Wildnis davor bewahrt, uns zu vergiften, auch wenn wir sehr hungrig oder durstig sind, verlangt nach täglicher Befriedigung. In den Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften wurde fast sämtliche Energie aller rüstigen Mitglieder auf die Nahrungsbeschaffung verwendet. Auch in der Agrargesellschaft, wo der größte Teil der Nahrung durch Ackerbau und Viehzucht gewonnen wurde, wurde immer noch ein großer Teil der Energie innerhalb der Gesellschaft in die Nahrungsversorgung investiert. Dennoch erlaubten Ackerbau und Viehzucht zumindest in klimatisch günstigen Regionen das Erwirtschaften eines Nahrungsüberschusses. Dieser ermöglichte eine zunehmende Komplexität innerhalb der sozialen Gruppen und führte zur Entstehung von Städten und einer Zivilgesellschaft, in der nicht jedermann mit der Produktion und Verteilung von Nahrung beschäftigt war, auch wenn jedes Mitglied dieser Gesellschaft essen mußte, um zu überleben. Dieser Trend hat sich fortgesetzt, und in der industriellen und postindustriellen Gesellschaft war und ist ein immer kleinerer Teil der Gesellschaft mit der Produktion von Nahrung 156
beschäftigt. Auf diese Weise hat sich unsere Einstellung zur Nahrung während der vergangenen zehntausend Jahre dramatisch verändert, da es zunehmend leichter wurde, Nahrung bereitzustellen, sie zu konservieren, zu lagern und zu verteilen. Außerdem stand uns eine immer größere Vielfalt von Nahrungsmitteln in immer besserer Qualität und mit immer größerem Nährwert zur Verfügung. Daß die Nahrung überall [in unserer Wohlstandsgesellschaft] so leicht zugänglich ist und wir unsere Nahrungsmittel nicht mehr selber anbauen oder jagen müssen, hat dazu geführt, daß wir sie für selbstverständlich halten und uns sehr weit von der Fähigkeit entfernt haben, uns selbst zu versorgen, wenn die Nahrung einmal knapp werden sollte. Dennoch ist das Essen auch weiterhin grundlegend für das Überleben eines jeden von uns, ganz genauso wie in den prähistorischen Gesellschaften. Da das Essen in unserem Bewußtsein jedoch so stark von der Erhaltung unseres Lebens abgekoppelt ist, leben wir mit der Spannung von Nichtanerkennung und Nichtwürdigung, die recht bizarr sein kann. Im allgemeinen essen wir ziemlich automatisch und sind uns dabei kaum der Wichtigkeit des Essens für die Erhaltung unseres Lebens und unserer Gesundheit bewußt. Wir werden dabei mehr von der Lust als von einem Bedürfnis angetrieben, und unsere Beziehung zur Nahrung ist von sozialem Druck, der Werbung und der Lebensmittelindustrie sowie von konditionierten Geschmacksvorlieben geprägt; dabei haben wir uns an Portionen gewöhnt, deren Größe in den Ländern der Ersten Welt und insbesondere in den Vereinigten Staaten während des letzten Jahrzehnts praktisch zu einer epidemischen Ausbreitung von Fettleibigkeit geführt haben. Unsere Eßgewohnheiten werden oft von ziemlich archaischen Trieben bestimmt und sind von einem ebenso archaischen und total unbewußten Verhalten begleitet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß es zu den schwierigsten Achtsamkeitsübungen gehört, sich dessen bewußt zu werden, wie wir essen und ob wir dabei wirklich etwas schmecken, auch wenn das auf den ersten Blick ganz leicht aussieht. Doch die Gewohnheitsmuster, die mit der Art und Weise verbunden sind, wie wir uns Nahrung zuführen, gehen sehr tief und haben, wie gesagt, oft eine archaische Komponente. Wir alle haben gelernt, Nahrung zu uns zu nehmen, und wir tun es ständig, nicht nur, um unser Leben zu erhalten, sondern aus reiner Gewohnheit und um Gelüste zu befriedigen, die oft wenig mit bloßer Ernährung und oft mehr mit emotionalem Unbefriedigtsein als mit wirklichem Hunger zu tun haben. Natürlich ist das Teilen einer Mahlzeit mit der Familie oder mit Freunden eines der grundlegendsten, tiefreichendsten und befriedigendsten Vehikel, um soziale Verbundenheit zu pflegen. Es nährt auch andere Bedürfnisse in uns, die sehr tiefe Wurzeln haben. Wir erkennen und kontaktieren die Welt unter anderem durch den Mund und die Zunge und durch ihre fein abgestimmte Fähigkeit, Geschmack und Konsistenz zu unterscheiden. Der der Zunge entsprechende Anteil unseres sensorischen Kortex ist relativ groß, was Ausdruck der Wichtigkeit des Schmeckens für unser Erkennen der Welt auch über den spezialisierten Geschmackssinn hinaus ist. Als Babys haben wir alle Dinge in den Mund gesteckt. Das war eine ursprüngliche und sehr direkte Art, die Dinge zu erkunden. Steine sind hart. Sand knirscht. Erdbeeren sind saftig. Jedes Ding hat seine einzigartige Konsistenz und ist mit einem bestimmten Gefühl im Mund verbunden. 157
Wenn wir gezielt Gewahrsein in den Mund bringen, während wir unsere Rosine kauen - nachdem wir sie zuerst eine Weile angesehen haben, so daß wir sie tatsächlich jenseits unserer Begriffe und Meinungen gesehen haben -, kann es sein, daß der Geschmack in unserem Geist auf eine Weise explodiert, die überraschend neu und sehr aufschlußreich ist ... ein Universum aus Sinneswahrnehmungen, die sich in jedem Moment entfalten und miteinander vermischen. Und es muß keine Rosine sein. Wenn wir die Dinge etwas langsamer angehen, dann können wir den Geschmack von allem, was wir essen, mit Achtsamkeitwahrnehmen. Wir können ganz bei diesem Mundvoll Essen sein, das Essen wirklich schmecken, es kauen, es erkennen, bevor wir es hinunterschlucken. Es heißt, daß der Geschmack - vielleicht in seiner engen Koppelung mit dem Geruchssinn - der Sinn ist, der auf besonders unmittelbare Weise Erinnerungen hervorruft. Eine berühmte Passage aus der Weltliteratur, in der es um ebendieses Vermögen des Geschmackssinns geht, stammt aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust: Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts mehr für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertag, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ daraufhin eines jener dicklichen, ovalen Sandtörtchen holen, die man „Petites Madeleines“ nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, doch bedrückt über den trüben Tag und die Aussicht auf ein trauriges Morgen, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt ... Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? ... Wo konnte ich sie fassen? ... Sicherlich muß das, was auf dem Grund meines Ich in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört ... Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Leonie anbot, nachdem sie es in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Bitte behalten Sie das im Gedächtnis, denn wir werden darauf zurückkommen, wenn wir in einem späteren Teil des Buches die inneren Verbindungen zwischen dem Gehirn, unseren inneren und äußeren Sinnen, unserer Erinnerung und dem Gewahrsein selbst erkunden. 158
Landschaften des Geistes Landschaften, visuelle Landschaften, Geräuschlandschaften, Berührungslandschaften, Geruchslandschaften, Geschmackslandschaften – letztlich läuft das alles auf etwas hinaus, das wir „Landschaften des Geistes“ nennen könnten. Ohne das Unterscheidungsvermögen unseres Geistes würden wir keine Landschaften kennen, weder innere noch äußere. Wenn wir gewahr werden, wenn wir im Wissen verweilen, dann verweilen wir in der tiefen Essenz der Landschaft des Geistes, in der endlosen leeren Geräumigkeit, die das Gewahrsein selbst ist. Es ist sein eigener Sinn – vielleicht der letzte Sinn. Es ist allerdings keineswegs leicht, auf dieses Gewahrsein zu stoßen oder darin zu verweilen. Doch die Schulung in Achtsamkeit zeigt uns, wie wir uns dafür öffnen können, wie wir dieses Gewahrsein schmecken, es riechen, es sein können, um es uns so verfügbar zu machen wie möglich. Wenn wir hier verweilen, im Gewahrsein, völlig wach für das gesamte Feld der Erfahrung, wie eng oder weit wir die Linse auch immer eingestellt haben, dann wird uns schnell klar, daß jeder Aspekt der Erfahrung kommt und geht. Nichts, was auftaucht, ist von Dauer. Ansichten, Klänge, Empfindungen im Körper, einschließlich dieses Einatmens und dieses Ausatmens, Gerüche, Geschmäcker, Wahrnehmungen, Impulse, Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Meinungen, Vorlieben oder Abneigungen – das alles kommt und geht, ist ständig im Fluß, verändert sich ständig, bietet uns vielfältige Gelegenheit, die Vergänglichkeit ebenso wie unsere eigenen Gewohnheiten des Wünschens und Festhaltens zu beobachten. In jedem Moment können wir die Dinge sehen, hören, berühren, riechen, schmecken und kennen, wie sie sind. Das ist nicht irgendein Ideal, nach dem wir streben. Es ist vielmehr die vielseitige und multidimensionale kaleidoskopische Realität einer augenblicklichen Erfahrung des Lebendigseins, zweifelsohne komplex, und doch so einfach, daß wir sie uns zu eigen machen können ... wenn wir aufmerksam genug sind. Wenn wir etwas von der Landschaft des Geistes dadurch erkennen, daß wir fortwährend eine Nähe zu den Dingen, wie sie in diesem Bereich sind, kultivieren und uns mit ihnen vertraut machen, dann sind wir in jedem einzelnen Augenblick besser in der Lage, unsere Angst loszulassen, die Dinge könnten nicht so laufen, wie wir es uns wünschen (in der Zukunft); wir können auch von unserem ständigen Bemühen ablassen, darauf hinzuwirken, daß die Dinge so laufen, wie wir es uns wünschen (wiederum in der Zukunft), wodurch wir mehr oder weniger subtil versuchen, den Lauf der Dinge zu erzwingen. In diesem Moment, in jedem solchen Moment kann, sobald die Geräumigkeit des Gewahrseins, die wir kennengelernt und in unserer Praxis geschmeckt haben, etwas Stabilität und Konsistenz gewonnen hat, oder wir zumindest gelegentlich eine Ahnung von ihr bekommen haben, unsere Orientierung in der Landschaft des Geistes auf eine Anerkennung, wenn nicht gar auf ein völliges Annehmen der Dinge, wie sie sind, hinlenken. Dann könnte es sein, daß wir in jedem Augenblick tatsächlich in Kontakt mit unserer eigenen Ganzheit kommen, mit unserer eigenen Schönheit jenseits von „Name und Form“, jenseits von Erscheinung, jenseits von Mögen und Nichtmögen, jenseits von 159
Gut und Böse. Hier und nur hier ist Frieden zu finden. Hier und nur hier können wir mit unserer Weisheit, mit unserer Energie und mit unserer Liebe etwas für die Menschen, die wir lieben, und für die Welt tun. Und wir tun das, indem wir unsere enge Verbundenheit mit der Landschaft des Geistes verkörpern. Wir können also sagen, daß die Landschaft des Geistes, die Landschaft des Körpers, den Bereich der Sinne und den Körper selbst umfaßt - und umgekehrt. Auf geheimnisvolle Weise ist die Landschaft des Geistes völlig verkörpert und aus diesem Grund mitfühlend und weise. Das bedeutet übrigens nicht, daß es nicht bereits im nächsten Augenblick Konflikt und einen Mangel an Akzeptanz, ein Reißen und Ziehen in Ihrem Geist und in Ihrem Leben geben kann. Das kann sehr wohl der Fall sein. Das gehört genausogut zur Landschaft des Geistes von Menschen - auch solchen, die Achtsamkeit praktizieren wie alles andere. Allerdings kann sich der Schwerpunkt unserer Erfahrungswelt mit der Zeit von inneren Konflikten zu Gleichmut verschieben, von Zorn zu Mitgefühl, von einer Sichtweise, die vor allem die Erscheinungen sieht, hin zu einer tieferen Auffassung der Wirklichkeit der Dinge. Doch auch hier mag es Schwankungen geben, mal ist es so, mal ist es nicht so. In jedem Augenblick kann es ein gewisses Maß an Gleichmut, an Mitgefühl mit einem selbst, ein gewisses Maß an Einsicht geben, und wir müssen diese ebenso wie alle anderen Kreaturen, die diese innere Landschaft bewohnen, bemerken und würdigen. Im Grunde gibt es hier kein Ideal, nach dem wir streben müssten. Die Landschaft des Geistes ist einfach und immer, wie sie ist. Die Herausforderung besteht in der Frage: Können wir darum wissen? Ist es möglich, daß wir uns nicht davon einfangen lassen? Können wir frei davon sein? Können wir frei darin sein?
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Die Landschaft des Jetzt Alles, was sich entfaltet, entfaltet sich jetzt, und deshalb könnten wir sagen, es entfaltet sich in der Landschaft des Jetzt. Wir haben schon beobachtet, wie sich die Natur allein und immer im Jetzt entfaltet. Die Bäume wachsen jetzt. Die Vögel fliegen nur jetzt durch die Lüfte oder sitzen in einem Baum. Die Flüsse und Berge sind im Jetzt. Der Ozean ist im Jetzt. Der Planet Erde selbst rotiert jetzt. Ein Physiker, der über Einstein und die Zeit geschrieben hat, bemerkte, daß der Wandel von etwas die Art ist, wie wir Zeit messen, und so könnten wir alles, was sich auf regelmäßige Weise verändert, eine Uhr nennen. Tatsächlich ist es richtiger zu sagen, daß Zeit die Art ist, wie wir Wandel messen, denn die Zeit ist in sich selbst und an sich ein Geheimnis. Alles verändert sich, und darum erfahren wir Zeit. Alles wandelt sich, und darum können wir den Wandel erfahren, indem wir für einen Moment aus der Zeit heraustreten und uns mit dem vertraut machen, was ist, jenseits dieser Abstraktion, die das Mysterium der Zeit ist. Die Zeit verströmt, die Zeit vergeht, aber wir wissen nicht, was Zeit ist. Und wenn wir uns fragen, was Zeit ist, dann gibt es nur eine Antwort, und die betrifft den Augenblick, ganz gleich, was Big Ben oder unser Wecker oder unsere Armbanduhr oder auch der Grand Cañon uns sagen. Nun, was glauben Sie? Natürlich, es ist jetzt. Es braucht wirklich nur ein klein wenig Nachdenken, um darauf zu kommen, daß der gegenwärtige Augenblick der einzige Augenblick ist, den wir haben, um lebendig zu sein. Vielleicht muß diese Einsicht, die scheinbar dermaßen trivial und offensichtlich ist, sich erst einmal setzen und tief unten in unserer Psyche ankommen, im tiefen Brunnen unseres Herzens. Aber es ist in der Tat gar nicht leicht, dies wirklich anzunehmen, es tatsächlich auszuloten. Es gibt keine Zeit außer dem Jetzt. Im Gegensatz zu dem, was wir denken, „gehen“ wir nirgendwohin. Es wird in keinem künftigen Moment besser sein als jetzt. Wir mögen uns zwar ausmalen, daß es irgendwann in der Zukunft schöner sein wird als jetzt, aber wir können nie sicher sein. Eines ist jedoch klar: Was immer die Zukunft bringt, es wird nicht das sein, was Sie erwarten, und wenn es dann eintritt, wird es ebenfalls jetzt sein. Auch dann wird es ein Moment sein, den man leicht verpassen kann, genauso leicht wie diesen Moment. Und auch dieser Moment wird dem Wandel unterliegen und den Wechselfällen all der Ursachen und Bedingungen, die diesen Augenblick in vorangegangenen Augenblicken hervorgerufen haben. In diesem Sinne haben wir immer nur Momente zu leben, wohin auch immer wir gehen, wo auch immer wir sind, was auch immer geschieht und ganz gleich, wieviel Uhr es ist und was der Kalender sagt. Das könnte uns doch dazu veranlassen, das Beste aus unseren Momenten zu machen, solange wir es noch können. Dies verlangt eine gewisse Bemühung darum, im gegenwärtigen Moment und auf den gegenwärtigen Moment aufmerksam zu sein, da er so schnell vorübergeht und da es so leicht passieren kann, daß wir uns in die Landschaften der Sinne und des Geistes verstricken und uns dermaßen auf deren vielfältige Einwohner und Energien fixieren, daß wir rasch den Kontakt zu uns selbst, zu anderen und zur Welt verlieren. Wir können abheben in die Zukunft, uns über die Vergangenheit ärgern, darüber nachdenken, wieviel besser die Dinge in der Zukunft sein werden, wenn nur dies geschieht und wenn das nicht 161
geschieht. All das mag zu einem gewissen Grad richtig sein, aber es führt dennoch dazu, daß Sie Ihr Leben verpassen. Wir könnten das als die Große Ausflucht bezeichnen. Wir verlassen die Sinneslandschaften und die Landschaft des Geistes, verabschieden uns von der Landschaft des Jetzt, alles in dem verzweifelten Versuch, zu fliehen. Das ist ein Schachzug, den wir nur allzuoft verwenden, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir es uns wünschen ... und komischerweise auch dann, wenn alles nach Wunsch geht. Wir können also entweder die inneren und äußeren Landschaften des Geistes, des Körpers und der Welt bewohnen und nicht wirklich davon getrennt sein, oder wir können uns der Großen Ausflucht bedienen und vergessen, daß unser Leben unablässig und auf wunderbare Weise reich ist an Möglichkeiten, selbst in den schwierigsten und mühsamsten Zeiten. Und daß wir diese Gelegenheiten nicht verpassen sollten. Die Sinne können uns aufwecken, aber sie können uns auch in den Schlaf wiegen. Der Geist kann uns aufwecken, aber er kann uns auch in den Schlaf wiegen. Die Sinne entfalten sich nur in der Gegenwart, aber sie können uns augenblicklich in die Erinnerung katapultieren und damit in die endlose und für gewöhnlich unproduktive Beschäftigung mit der Vergangenheit, mit dem, was geschehen ist und was nicht geschehen ist, und mit dem, was das jetzt für „mich“ bedeutet. Oder sie katapultieren uns in eine Vorwegnahme der Zukunft, in zwanghaftes Sichsorgen und Planen für ein später kommendes Jetzt, in dem wir uns entspannen und sein können, wer wir sind, wozu wir jetzt allerdings keine Zeit haben. Wenn das geschieht, dann kann es für den gegenwärtigen Moment, den einzigen Moment, den wir haben, ziemlich eng werden, so eng, daß wir ihn kaum jemals sehen, fühlen oder kennen und ihn deshalb auch nicht nutzen. Nur die Achtsamkeit kann ihn neu konstituieren und uns in den Augenblick bringen und diesen zu uns zurückbringen, denn tatsächlich gibt es keinen Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Wir und die Landschaft des Jetzt sind immer hier und niemals getrennt. Doch diese Wirklichkeit kann nur gefühlt werden. Sie läßt sich vom Denken allein nicht ausloten, denn ihre Erfahrungsdimensionen werden im Prozeß des Denkens selbst „denaturiert“. Diese Wirklichkeit läßt sich nicht auf das Denken reduzieren, denn sie ist völlig unreduzierbar. Das Jetzt ist derart fundamental. Und Sie sind es auch. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir uns nicht um die Zukunft kümmern können und sollten, daß wir nicht hart für sozialen Wandel, für mehr Gerechtigkeit und ökonomische Freiheit, für ein größeres ökologisches Gleichgewicht und für eine friedlichere Welt für alle Lebewesen arbeiten sollen. Es bedeutet ebensowenig, daß wir apathisch werden und nicht darauf hinarbeiten sollten, unsere Ziele zu erreichen und unsere Visionen und Träume zu verwirklichen. Es bedeutet nicht, daß wir nicht weiter daran arbeiten können, zu lernen, zu wachsen, heil zu werden und unsere schöpferische Vorstellungskraft und unsere Energien zu unserem eigenen Wohl und unserem Glück einzusetzen sowie durch das, was wir tun, und durch unsere Liebe zum Leben einen Beitrag zum Leben anderer und zu dieser Welt zu leisten. Es ist vielmehr so, daß wir, wenn wir uns verständlicherweise eine andere Zukunft wünschen – ob es nun um die größere nationale, internationale, soziale oder geopolitische Ebene geht oder um eine Verbesserung unserer eigenen Lebenssituation oder einfach darum, das zu erledigen, was am dringendsten erledigt werden muß –, immer nur eine einzige Zeit haben, um diese Zukunft zu beeinflussen. 162
Denn jetzt ist bereits die Zukunft, und sie ist bereits hier. Jetzt ist die Zukunft des vorangegangenen Moments, der gerade Vergangenheit geworden ist, und die Zukunft aller Momente, die diesen vorangingen. Denken Sie einen Moment lang an Ihr eigenes Leben zurück, wie es war, als Sie noch ein Kind waren, ein Jugendlicher, ein junger Erwachsener oder in einem anderen Alter. Dies ist die Zukunft jener Zeiten. Derjenige, der Sie zu werden hofften, sind Sie jetzt. Genau hier. Genau jetzt. Sie sind es. Er oder sie gefällt Ihnen nicht? Wem gefällt das nicht? Wer denkt das? Wer möchte, daß „Sie“ besser wären, daß etwas anderes aus Ihnen geworden wäre. Sind Sie dieses Sie? Wachen Sie auf! Dies ist es. Sie sind es bereits geworden. Aber wissen Sie denn, wer Sie wirklich, genau jetzt, in diesem Moment sind? Das ist die Frage. Das ist es, worum es bei der Achtsamkeit geht, weil dies tatsächlich „es“ ist. Achtsamkeit ist ein kontinuierliches Wohnen in der Landschaft des Jetzt. Sie ist eine Wachheit, die jenseits einer ständigen Verstrickung in Mögen und Nichtmögen, in Wünschen und Zurückweisen und in destruktive und nicht hinterfragte emotionale Gewohnheiten und Gedankenstrukturen ist, ganz gleich, wie wichtig das ist, worum es geht, ganz gleich, wie hoch das Risiko ist. Stellen Sie sich vor, von diesem Standpunkt aus, mit dieser Perspektive in der Welt und für die Welt zu arbeiten. Das könnte eine lohnende Aufgabe sein, eine lohnenswerte Herausforderung, die wir an uns selbst stellen könnten, um zu üben, die Welt in genau diesem Augenblick zu verkörpern, genau hier und heute. Jeder Moment des Jetzt ist das, was wir einen Scheideweg nennen könnten. Wir wissen nicht, was als nächstes geschehen wird. Der gegenwärtige Moment birgt Möglichkeiten und Potentiale in sich. Wenn wir jetzt achtsam sind, ganz gleich, was wir gerade tun oder sagen oder arbeiten oder erfahren, dann wird der nächste Moment von unserer Geistesgegenwart beeinflußt und ist deshalb anders, als er gewesen wäre, wenn wir nicht aufmerksam gewesen wären, wenn wir in irgendeinem Strudel im Geist oder im Körper oder in der äußeren Landschaft festgesessen hätten. Wenn wir uns also um die Zukunft kümmern wollen, die, wenn wir dort angekommen sind, ebenfalls jetzt sein wird, dann können wir das einzig und allein dadurch tun, daß wir uns um diese Zukunft aller vergangenen Momente und Bemühungen kümmern, also um die Gegenwart. Die einzige Weise, dies zu tun, besteht darin, zu erkennen, daß wir in jedem Augenblick an einem Scheideweg stehen und daß das, was wir jetzt tun, einen großen Einfluß darauf hat, wie die Welt sich entfalten wird, Ihre Welt und Ihr wildes und kostbares Leben. Wir kümmern uns am besten um die Zukunft, indem wir uns um das gegenwärtige Jetzt kümmern. Das sollte Ansporn genug sein, mit Integrität und Geistesgegenwart zu handeln sowie mit Mitgefühl und Freundlichkeit für uns selbst und für andere. Irgendwann in der Zukunft an einem wünschenswerteren Ort anzukommen ist eine Illusion. Dies ist es. Das ist wohl auch kein schlechter Grund, um zu üben, für „es“ dazu-sein. Genau darum geht es in der formalen Meditationspraxis, mit der wir uns im nächsten Teil des Buches beschäftigen wollen.
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Vierter Teil
Die Übung der Meditation — Achtsamkeit schmecken
Haben Sie schon einmal die Erfahrung gemacht, so vollkommen innezuhalten, so total in Ihrem Körper zu sein, so gänzlich in Ihrem Leben aufzugehen, daß alles, was Sie wußten und was Sie nicht wußten, was gewesen war und was noch kommen sollte, und auch die Dinge wie sie gerade jetzt waren, keine Spur von Angst oder Zwietracht mehr enthielten? Das wäre ein Augenblick vollkommener Präsenz, jenseits allen Strebens, jenseits bloßen Annehmens, jenseits des Wunsches, zu entfliehen oder irgend etwas in Ordnung zu bringen oder voranzustürmen, ein Augenblick reinen Seins, der nicht mehr zur Zeit gehört, ein Moment reinen Sehens, reinen Fühlens, ein Moment, in dem das Leben einfach ist, und diese „Isthaftigkeit“ packt Sie bei all Ihren Sinnen, bei all Ihren Erinnerungen, ja sogar bei Ihren Genen, bei Ihren Lieben und heißt Sie willkommen zu Hause.
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Meditation im Liegen Das Wichtigste, worauf Sie achten müssen, wenn Sie Meditation im Liegen üben, ist, daß es darum geht, „in Wachheit zu fallen“. Wenn wir uns hinlegen, besteht allerdings immer die Gefahr, daß wir einschlafen. Deshalb müssen wir tatsächlich daran arbeiten, uns angesichts eines nicht unerheblichen Risikos, in Schläfrigkeit und Unbewußtheit abzudriften, daran zu erinnern, in Wachheit zu fallen und nicht in Schlaf. Mit einiger Übung können wir tatsächlich lernen, in Wachheit zu fallen, sowohl im konventionellen Sinn des Nicht-in-Schlaf-Fallens als auch im tieferen Sinn der völligen Gegenwärtigkeit im Gewahrsein. Die Meditation im Liegen hat viele Vorteile. Zum einen mag es für Sie in den frühen Stadien der Meditationsübung bequemer sein, zu liegen als zu sitzen, und wahrscheinlich können Sie so für längere Zeit stillhalten. Da wir uns zum Schlafen hinlegen, gibt uns das außerdem mehrmals am Tag Gelegenheit, zu uns selbst zurückzukehren, einmal bevor wir am Ende des Tages einschlafen, und einmal am Morgen, wenn wir aufwachen. Das eignet sich perfekt, um eine Phase der formellen Meditationspraxis in den Ablauf unseres Alltags einzubauen, sei es nur für wenige Minuten oder für längere Zeit. Wenn der Körper ausgestreckt ist, vor allem, wenn wir auf dem Rücken liegen, ist zudem leichter spürbar, wie sich der Bauch mit der Atmung bewegt, wie er sich beim Einatmen hebt und ausdehnt und beim Ausatmen zurücksinkt und sich zusammenzieht. Diese Position gibt uns auch ein Gefühl des „Aufgehobenseins“, von dem, worauf wir liegen, gehalten und getragen zu werden. Wir können uns der Umarmung der Schwerkraft ganz und gar hingeben; wir können uns in den Boden oder die Matte oder das Bett fallen lassen und sie die Arbeit tun lassen. Manchmal kann sich das so anfühlen, als schwebten wir. Das kann sehr angenehm sein und unsere Motivation erhöhen, uns in unserem Körper und im gegenwärtigen Augenblick einzunisten. Außerdem kann das Hingeben des Körpers an die Schwerkraft den Geist in jener Geisteshaltung schulen, die wir bedingungslose Hingabe nennen könnten. Wir unterwerfen uns damit nicht einer äußeren Bedrohung unseres Wohlergehens, sondern überlassen uns ganz und gar dem gegenwärtigen Moment, unabhängig von jeglichem Zustand, in dem wir uns befinden mögen. Wenn wir üben, uns in die Arme der Schwerkraft fallenzulassen, sind wir motivierter und eher bereit, uns bedingungslos in das Jetzt fallenzulassen, mit einer radikalen und offenherzigen Akzeptanz an das heranzugehen, was im jeweiligen Moment in unserem Geist, unserem Körper und unserem Leben vor sich geht. Wenn wir im Liegen Achtsamkeit üben, dann meditieren wir gewöhnlich in der Haltung, die im Yoga die „Totenstellung“ genannt wird, auf dem Rücken liegend, mit den Armen neben dem Körper und nach außen fallenden Fußspitzen. Diese Stellung hat nichts Morbides, sie erinnert uns einfach daran, daß wir mit Absicht für unsere Vergangenheit und für unsere Zukunft sterben und uns ganz und gar dem gegenwärtigen Augenblick und dem Leben, wie es jetzt in uns zum Ausdruck kommt, hingeben können. Da man dabei so ähnlich daliegt wie ein Leichnam, ist es in dieser Haltung leicht, willentlich eine innere Einstellung hervorzurufen, als würden wir, 165
zumindest vorübergehend, für die Dinge sterben, mit denen unser Geist und die Welt gewöhnlich beschäftigt sind, und uns dem Reichtum des Augenblicks öffnen. Allerdings können Sie Achtsamkeit auch in jeder anderen liegenden Haltung üben, die Ihnen gefällt, etwa zusammengerollt auf der Seite oder auch auf dem Bauch liegend. Jede Stellung hat ihre eigenen einzigartigen Energien und Herausforderungen, und jede Stellung ist perfekt dazu geeignet, dem gegenwärtigen Moment mit Wachheit und Mitgefühl mit einem selbst zu begegnen. Und natürlich gibt es, welche Stellung man auch immer für die Übung einnehmen mag, viele verschiedene Weisen zu üben und viele verschiedene Praktiken, die man auf den gegenwärtigen Augenblick anwenden kann. Wenn wir also auf einer angenehm gepolsterten Unterlage liegen, entweder auf einem Teppich oder auf einer Matte, einem Bett oder einer Couch, dann geben wir uns zuerst einmal der Erfahrung hin, so, wie wir sind, einfach dazusein, in welcher Stellung auch immer. Dazu könnte gehören, daß wir uns für die Geräuschlandschaft öffnen und sie sprechen lassen, so als seien wir tatsächlich gestorben und hörten der Welt nur noch zu, wie sie jetzt ohne uns weitergeht. Es kann sein, daß wir mit dieser inneren Einstellung und Orientierung Klänge und die Räume dazwischen auf eine völlig neue Art und Weise hören. Wir können allerdings anfänglich auch nur bemerken, daß wir überhaupt keine Klänge gehört haben, weil wir so vollkommen von dem Dröhnen der durch den Körper flutenden Empfindungen absorbiert waren, von dem, was man die mentale Geräuschkulisse nennen könnte, von den Gedanken, die unablässig durch unseren Kopf jagen. Wir können die ganze Meditation dem Gegenwärtigsein für das Hören widmen und unsere Aufmerksamkeit, wenn sie abschweift, immer wieder zum Hören zurück lenken. Dabei können wir uns auf nichtdiskursive Weise fragen: „Wer hört da?“ Das ist eine überaus wirkungsvolle Weise zu üben – das durch den Sinn des Hörens Zur-BesinnungKommen. Wir können das Hören aber auch einfach einen Aspekt unserer gelebten Erfahrung sein lassen, was es natürlich ist, und mit einer offenen, weniger stark gelenkten Geräumigkeit der Aufmerksamkeit üben, die alle von den Sinnen ausgehenden Empfindungen und Wahrnehmungen, äußerliche wie innerliche, so wie sie von Moment zu Moment auftreten, gleichzeitig wahrnimmt. Da wir den Geist ja als eine Art sechstes Sinnesorgan betrachten, würden dann natürlich auch sämtliche mentalen Phänomene zum Feld des Gewahrseins gehören. Diese Übung der ungerichteten Geräumigkeit der Aufmerksamkeit, die wir später noch detaillierter erkunden werden, wird wahlloses Gewahrsein genannt. Eine andere Möglichkeit wäre, zu üben, einzig und allein auf die Empfindung des Atmens zu achten oder nur auf die Empfindungen in einer bestimmten Körperregion oder auf die allumfassende Empfindung des Körpers als Ganzes. Als Teil dieser letzteren Übung könnten wir uns entschließen, die Haut besonders herauszuheben, die Gesamtheit der Körperhülle zu spüren, uns auf sämtliche Empfindungen einzustimmen, die auftauchen, während wir hier liegen, und dessen gewahr zu sein, wie sie sich verändern. Wir könnten uns auch auf die Empfindung der Luft um den Körper herum einstimmen, wie sie den Körper badet, wie sie den Körper einhüllt, wie sie den Körper atmet, und wir könnten vielleicht sogar empfinden oder fühlen, wie die Haut selbst atmet. 166
Wir können auch einfach beim Beobachten unserer Gedanken und der emotionalen „Ladungen“, die sie tragen, verweilen. Wir können beobachten, ob sie positiv, negativ oder neutral sind, relativ stark oder relativ schwach, und können sie so ins Rampenlicht unseres Gewahrseins stellen, so daß alle anderen Aspekte des gegenwärtigen Augenblicks in den Hintergrund treten. Oder wir stellen ein Objekt unserer Aufmerksamkeit für einige Zeit in den Vordergrund und lassen es dann in den Hintergrund zurücktreten, während wir einen anderen Aspekt des Feldes des Gewahrseins zum Zentrum der Aufmerksamkeit machen. Wie Sie sehen, ist die Palette der Achtsamkeit sehr groß, wie immer auch unsere Körperhaltung sein mag. Sie lädt uns ständig ein, die verschiedenen Methoden und Gerüste zu gebrauchen und dabei zu würdigen, wie notwendig und wichtig sie für die Schulung und Vertiefung von Gewahrsein, Gleichmut und Nichtanhaften sind. Gleichzeitig können wir, wie wir gesehen haben, in Erinnerung behalten und uns ständig daran erinnern, daß wir bei jedem Objekt der Aufmerksamkeit in Gewahrsein verweilen können, beim Atem, bei verschiedenen Aspekten des Körpers, bei Empfindungen und Wahrnehmungen, bei den Myriaden von Gedanken und Gefühlen, die durch unseren Geist fluten, oder auch in einem weiten, grenzenlosen, wahllosen, offenen Gewahrsein jenseits allen Tuns, wo wir einfach nur das Wissen sind, welches Gewahrsein selbst ist. Wir können uns nicht nur für eine dieser Möglichkeiten entscheiden, sondern haben auch die Wahl, die Augen offen oder geschlossen zu halten. Wenn wir sie in der Totenstellung offen halten, dann empfangen wir durch die Augen einfach, was sich oberhalb von uns befindet – gewöhnlich irgendeine Decke. Wenn Sie natürlich an einem warmen, klaren Tag auf einer Wiese liegen, dann kann Ihre Meditation auch darin bestehen, stundenlang in die Wolken zu blicken oder in die Äste eines Baumes, unter dem Sie liegen. Die Augen offen zu halten, kann natürlich auch denn sehr hilfreich sein, wenn Sie müde oder schläfrig sind. Es ist jedoch auch etwas sehr Schönes, die Meditation im Liegen mit geschlossenen Augen zu üben. Vielen Menschen hilft das, wenn sie ihr Gewahrsein der inneren Landschaften von Körper und Geist verfeinern wollen. Für sie fördert es die Innenschau und die Konzentration. Das ist etwas, was in unserer eigenen Entscheidung liegt und womit man von Zeit zu Zeit bewußt experimentieren kann. Es gibt nicht nur eine richtige Art und Weise, zu üben. In manchen Traditionen meditiert man mit offenen Augen, in anderen mit geschlossenen. Manchmal wird unsere Entscheidung einfach von den jeweiligen Umständen abhängen und davon, wie wir uns gerade fühlen. Gerade in den frühen Jahren der Meditation empfiehlt es sich jedoch, nicht je nach Stimmung hin und her zu springen, sondern hauptsächlich bei einer Methode zu bleiben, so daß wir das, wofür wir uns entschieden haben, wirklich in seiner ganzen Tiefe ausschöpfen können. Wie schon gesagt, ist es sehr wertvoll, wenn wir die Meditationsübung im Liegen vor dem Einschlafen oder gleich nach dem Aufwachen ausführen. Wenn Sie Ihr alltägliches Tun auf diese Weise einrahmen, können Sie so Ihren Entschluß, Ihre Achtsamkeit zu schulen, stärken und vertiefen. Das kann eine zutiefst positive und wohltuende Auswirkung auf Ihren ganzen Tag haben und dazu führen, daß Sie im Tagesverlauf eine Gelegenheit nach der anderen zur Praxis finden, buchstäblich von Moment zu Moment. Sie könnten sogar, bevor Sie dann aufstehen, die Absicht 167
formulieren, den ganzen Tag zu einer nahtlosen Meditation zu machen, indem Sie für Ihr Leben in seiner Entfaltung vollkommen präsent sind und in jeden Augenblick eine offenherzige Wißbegier und Klarheit hineintragen. Dieses Gewahrsein kann dann gegenwärtig sein, während sie aus dem Bett steigen, sich die Zähne putzen, duschen und bei allen Ihren anderen Aktivitäten im Laufe des Tages. Wenn Sie dann am Ende des Tages wieder im Bett liegen, können Sie dessen gewahr sein, wie der Zustand Ihres Körpers und Geistes in diesem Augenblick eine Nachwirkung all dessen ist, was während des Tages geschehen ist, und Sie können in einer gefühlten Empfindung des Körpers als Ganzes und in einer offenen Geräumigkeit des Geistes ruhen, ohne zu beurteilen, was an diesem Tag gut und was schlecht gewesen ist. So daliegend, können wir uns auf ein Gefühl für den Körper als Ganzes einstimmen, auf die Ganzheit unseres Daseins, und wir können spüren, daß wir in immer weitere Sphären der Ganzheit eingebettet sind, die sich weit über uns selbst hinaus erstrecken. Auf diese Weise vermögen wir langsam von allem, was geschehen ist, loszulassen und den Schlaf willkommen zu heißen. Wir können nicht nur vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen Meditation im Liegen praktizieren, sondern im Grunde jederzeit. Dabei geht es jeweils, wie bei aller Meditation, darum, sich auf diesen Augenblick, wie er ist, einzulassen und in Gewahrsein zu verweilen, außerhalb der Zeit, und in jedem Augenblick deutlich wahrzunehmen und klar zu unterscheiden, wie die Dinge wirklich sind. Es gibt Zeiten, da verspüre ich das dringende Bedürfnis, mich zum Meditieren auf den Boden oder ein Bett zu legen und nicht im Sitzen zu üben. Sich einfach für eine Weile auf den Boden oder auch auf die Erde zu legen, kann unsere Einstellung zum dem, was in diesem Augenblick und an diesem Tag geschieht, drastisch verändern. Es kann die drängende Vorwärtsbewegung des Kopfes abbremsen, so daß wir zur Besinnung kommen können und uns mehr in dem verkörpert finden, was wir gerade zu tun haben. Es kann uns eine umfassendere Sicht unseres Körpers und Geistes in diesem Augenblick schenken und uns deutlich machen, wie sie auf das reagieren, was gerade vor sich geht. Und natürlich kann die Meditation im Liegen äußerst wertvoll sein, wenn Sie krank im Bett liegen, im Krankenhaus sind oder sich einer schwierigen diagnostischen Prozedur wie etwa einer Kernspintomographie zu unterziehen haben, bei der Sie längere Zeit stilliegen müssen. Wir können fast jede Situation, in der wir uns hinlegen müssen, als Gelegenheit zum Üben wahrnehmen und dabei verborgene Dimensionen unseres eigenen Lebens entdecken sowie neue Gelegenheiten zum Lernen, Wachsen, Heilwerden und zur Transformation. Diese Gelegenheiten sind mitten im gegenwärtigen Augenblick vorhanden, und es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß sich neue Einsichten einstellen, wenn wir bereit sind, präsent zu sein und bei dem zu sein, was gerade auftaucht. Und schließlich gibt es da noch den Body Scan, das Körperdurchwandern.12 Das Körperdurchwandern hat sich als überaus effektive und heilende Form der Meditation erwiesen. Es ist der Kern der Meditationsübungen im Liegen, die wir bei der Streßbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) anwenden. Dazu gehört, daß wir mit dem Es gibt verschiedene Bezeichnungen für diese bekannte Methode der Achtsamkeitsmeditation. Im Englischen wird neben body scan auch body sweeping oder sweeping („Körperdurchkehren“) verwendet; manche deutschen Meditationslehrer sprechen auch vom „Körperdurchfließen“. (Anm. d. Übers.) 12
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Geist systematisch durch den Körper wandern und dabei den verschiedenen Regionen des Körpers eine wohlwollende, offenherzige und interessierte Aufmerksamkeit entgegenbringen. Gewöhnlich beginnt man bei den Zehen des linken Fußes, geht dann durch den ganzen Fuß – die Fußsohle, die Ferse, den Spann – und dann weiter das Bein hinauf, vom Fußgelenk zu Wade und Schienbein, dem Knie, der Kniescheibe, durch den gesamten Oberschenkel an der Oberfläche und im Inneren bis zur Lende und zur linken Hüfte. Von dort geht man über zum rechten Fuß, wo man in derselben Reihenfolge das Bein hinaufwandert. Der Fokus unserer Aufmerksamkeit wandert dann langsam durch den gesamten Unterbauch, berührt noch einmal die Hüften, dann die Pobacken und die Genitalien, das Kreuz, den Bauch. Von da geht es weiter durch den Oberkörper, den Rücken, den Brustkorb und die Rippen zu den Brüsten, zum Herzen, zu den Lungen und den großen Blutgefäßen, die im Brustkorb angesiedelt sind, weiter zu den Schulterblättern bis zum Schlüsselbein und den Schultern. Von den Schultern gehen wir zu den Armen über, wobei wir oft beide Arme gleichzeitig durchwandern, von den Fingerspitzen durch die Finger, den Handballen, die Handfläche und den Handrücken, durch das Handgelenk, den Unterarm, den Ellbogen den Oberarm und die Armbeuge wieder bis zu den Schultern. Dann gehen wir zu Nacken und Kehle über und wandern schließlich mit unserer Aufmerksamkeit durch Gesicht und Schädel. Es kann sein, daß wir uns bei dieser Wanderung durch den Körper auf einige der bemerkenswerten anatomischen Strukturen, biologischen Funktionen und, etwas poetischer, metaphorischen und emotionalen Dimensionen der verschiedenen Körperregionen einstimmen sowie auf die besondere individuelle Geschichte und das Potential jeder dieser Regionen: sei es die Fähigkeit der Füße, unser Gewicht zu tragen, sei es die der Sexualität und Fortpflanzung dienende Funktion der Geschlechtsorgane, sei es bei Frauen das Vermögen, Leben zu gebären, oder seien es Erinnerungen an Schwangerschaften und Geburten. Wir können uns der reinigenden und ausscheidenden Funktionen von Blase, Nieren und Darm bewußt werden, des Verdauungsfeuers des Magens und der Rolle des Bauchs beim Atmen und bei unserer Verwurzelung im physischen Schwerpunkt des Körpers, wir können uns der Belastungen und Triumphe des Kreuzes, das uns, der Schwerkraft trotzend, aufrecht hält, bewusst werden. Wir können des ausstrahlenden Potentials des Solarplexus gewahr werden, des Brustkorbs als Sitz des physischen wie des metaphorischen Herzens (wir sagen zum Beispiel, unser Herz sei leicht, schwer, hart, gebrochen, warm oder freudvoll, und wir sprechen davon, daß uns „eine Last von der Brust“ genommen wurde). Wir können an die enorme Beweglichkeit der Schultern denken, die Schönheit der Hände und Arme, die bemerkenswerte Struktur und Funktion des Kehlkopfs, der es uns in Zusammenarbeit mit der Lunge und der Zunge und den Lippen erlaubt, das, was wir im Herzen und im Geiste tragen, durch Sprache oder Gesang zum Ausdruck zu bringen. Wir können daran denken, wie hart das Gesicht arbeitet, um das, was wir fühlen, mitzuteilen oder auch um unsere Gefühle zu verbergen, und an die stille Würde eines menschlichen Gesichts im Schlaf sowie an die erstaunlichen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns und Nervensystems. All das kann eingebettet sein in eine Wertschätzung des Körpers, während wir ihn mit liebevoller Aufmerksamkeit und achtsamer Wachheit durchwandern. Man kann das Körperdurchwandern mit großer Präzision und sehr vielen Details 169
ausführen, die verschiedenen Körperregionen vor dem inneren Auge visualisieren und außerhalb der Zeit mit Gewahrsein darin verweilen. Dazu kann gehören, daß man spürt, wie der Atem zu jeder dieser Regionen hinströmt und sie durchflutet – was er natürlich tatsächlich tut, denn die Atemenergie erreicht und durchflutet all diese Bereiche durch das mit Sauerstoff angereicherte Blut. Wenn Sie das Körperdurchwandern ohne Anleitung auf Kassette oder CD ausführen und Zeit und Lust dazu haben, dann können Sie ganz gemächlich vorgehen und dabei jeden dieser Bereiche ganz durchdringen und sich durch Ihren Atem und die unmittelbare Aufmerksamkeit auf die puren Empfindungen, die daraus aufsteigen, damit vertraut machen. Wenn Sie soweit sind, können Sie zum nächsten Bereich weiterwandern. Die Patienten unserer Stress Reduction Clinic üben das Körperdurchwandern während der ersten beiden Wochen des Programms täglich fünfundvierzig Minuten lang mit Anleitung auf Kassette oder CD. In den folgenden Wochen üben sie es abwechselnd zuerst mit Achtsamkeits-Yoga und später mit formaler Sitzmeditation, beides ebenfalls mit Anleitung auf Kassette oder CD. Eine solch intensive Anwendung des Körperdurchwanderns empfiehlt sich, wenn man unter einer chronischen Erkrankung und/oder chronischen Schmerzen leidet. Allerdings ist der Body Scan nicht für jeden geeignet, und manchmal ist er auch für Menschen, die ihn liebend gern praktizieren, nicht unbedingt die zu bevorzugende Methode. Er ist dennoch von hohem Wert und es ist gut, damit vertraut zu sein und ihn von Zeit zu Zeit zu praktizieren, ganz gleich, unter welchen Umständen und in welchem Zustand man sich befindet. Wenn Sie sich den Körper als Musikinstrument vorstellen, dann ist das Körperdurchwandern eine Art, dieses Instrument zu stimmen. Wenn Sie ihn sich als Universum vorstellen, so ist das Körperdurchwandern eine Möglichkeit, dieses Universum kennenzulernen. Stellen Sie sich Ihren Körper als Haus vor, dann ist es so, als öffneten Sie alle Türen und Fenster und ließen das Haus durch die frische Luft des Gewahrseins ausfegen. Wenn Sie aufgrund der Umstände nur wenig Zeit haben, kann das Körperdurchwandern auch sehr viel schneller gehen. Sie können es mit einem Ein- und einem Ausatmen vollziehen oder eine Minute, zwei, fünf, zehn oder zwanzig Minuten darauf verwenden. Wie präzise und mit wie vielen Details Sie vorgehen, ist natürlich von der Geschwindigkeit abhängig, mit der Sie durch den Körper wandern. Jede Geschwindigkeit hat ihre Vorteile, und letztlich geht es darum, daß Sie völlig außerhalb der Zeit so gut wie irgend möglich mit ihrem gesamten Sein und Ihrem gesamten Körper in Kontakt sind. Sie können morgens oder abends im Bett ein langes oder kurzes Körperdurchwandern praktizieren. Sie können es auch im Sitzen oder im Stehen üben. Es gibt zahllose Möglichkeiten, das Körperdurchwandern oder jede andere Form der Liegemeditation in Ihren Alltag einzubringen. Wenn Sie diese Methoden anwenden, werden Sie höchstwahrscheinlich bemerken, wie diese zu einer neuen Lebendigkeit führen. Sie werden eine neue Wertschätzung für den Körper gewinnen und dafür, daß er so gut als ein Vehikel geeignet ist, um hier und jetzt das zu verkörpern, was das Tiefste und Beste in Ihnen ist, einschließlich Ihrer Würde, Ihrer Schönheit, Ihrer Vitalität und Ihres Geistes, wenn dieser offen und ungestört ist.
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Meditation im Sitzen Wie bei der Meditation im Liegen gibt es auch bei der Meditation im Sitzen verschiedene Möglichkeiten der Schulung von Achtsamkeit. Letztlich laufen all diese Methoden darauf hinaus, daß Sie lernen, geschickt mit dem umzugehen, was Sie in der Landschaft des Jetzt vorfinden, und mit den Dingen zu sein und sie zu kennen, wie sie tatsächlich sind. Das hört sich einfach an. Und das ist es auch. Aber gleichzeitig hat die Sitzmeditation nichts Beiläufiges, so wie jede andere Form der Meditationsübung nicht beiläufig praktiziert werden kann. Wir können und müssen sanft und freundlich mit uns selbst umgehen und dennoch so „sitzen“, als hinge unser Leben davon ab. Und wenn man es recht betrachtet, hängt unser Leben tatsächlich davon ab. Um das verstehen zu können, müssen wir begreifen, was es bedeutet, zu sitzen. Es heißt nicht nur einfach dasitzen. Es bedeutet, daß wir in Beziehung zum gegenwärtigen Augenblick unseren Sitz einnehmen. Es bedeutet, daß wir sitzend einen Standpunkt in unserem Leben beziehen. Deshalb ist das Einnehmen und Aufrechterhalten einer Position, die Würde verkörpert - was immer das für Sie bedeuten mag -, die Essenz der Sitzmeditation. Von der Verkörperung von Würde strahlt innerlich und äußerlich sofort eine Art Souveränität in unserem Leben aus. Es ist die Souveränität dessen, wer und was Sie sind - jenseits aller Worte, Begriffe und Beschreibungen, und auch jenseits von allem, was andere von Ihnen denken und was Sie selbst von sich denken. Es ist eine Würde ohne Selbstbehauptung, in der Sie weder nach vorn, auf etwas zu drängen noch vor etwas zurückweichen, ein Balancieren in schierer Gegenwart - reines Gegenwärtigsein. Auch wenn sich das für Sie vielleicht nicht immer so anfühlt, ist es doch eine große Hilfe, wenn Sie an das Sitzen herangehen, als sei es ein radikaler Akt der Liebe, einfach auf diese Weise zu sitzen - der Liebe zu Ihnen selbst, der Liebe zu anderen, der Liebe zur Welt, der Liebe zur Stille und zur Einsicht, der Liebe zum Mitgefühl, der Liebe zu dem, was das Wichtigste im Leben ist. Mit der Zeit werden Sie erkennen, daß dies tatsächlich so ist, und zwar auf eine Art, die weit tiefer geht als diese Worte oder alle Vorstellungen, die Sie von der Meditationsübung haben, zu fassen vermögen. So gesehen können wir das, was wir mit „Sitzen“ meinen, in jeder Körperstellung üben, auch im Liegen oder im Stehen. Denn hier ist die Rede von einer inneren Orientierung und nicht davon, ob Sie buchstäblich sitzen oder nicht. Es ist der Geist, der „sitzt“. Aber auch wenn dem so ist, hat doch die formale Sitzmeditation im wörtlichen Sinne sehr viele Vorteile. Und dabei ist die große potentielle Stabilität dieser Haltung nicht der geringste dieser Vorteile. Im Vergleich zum Liegen ist die Wahrscheinlichkeit, daß Sie dabei einschlafen, sehr viel geringer, und im Vergleich zum Stehen ist es weniger wahrscheinlich, daß Sie allein durch das Aufrechterhalten der Position ermüden. Besonders wenn Sie lernen, eine stabile Sitzposition einzunehmen, die nur ganz geringer muskulärer Anstrengung bedarf, kann das Sitzen Ihre Bemühungen um die Übung von Achtsamkeit mit einer stabilen, durchdringenden und unerschütterlichen Qualität von Körper und Geist unterstützen. Was die Körperhaltung angeht, so entsteht die größte Stabilität, wenn man mit 171
verschränkten Beinen auf dem Boden sitzt (es gibt da verschiedene Varianten), wobei das Gesäß durch ein Sitzkissen etwas angehoben wird.15 Manchen Menschen behagt es nicht, auf dem Boden zu sitzen, besonders zu Beginn der Meditationspraxis, und dann sollten sie sich auch nicht dazu zwingen. Da es beim Üben letztlich nicht um die Stabilität des Körpers geht, sondern um einen stabilen, offenen und klaren Geist und die Ernsthaftigkeit der Motivation zum Üben, ist es eigentlich unwichtig, worauf Sie sitzen. Selbst die Körperhaltung ist letztlich eher unwichtig. Auf einem Stuhl zu sitzen, ist eine ebenso geeignete und wirksame Position für die Sitzmeditation, besonders wenn der Stuhl eine gerade Lehne hat und Sie dabei unterstützt, in einer aufrechten Haltung zu sitzen, die Wachheit und Würde verkörpert. Wir sollten allerdings auch nicht zu sehr am Konzept der Würde oder an einer bestimmten Haltung festhalten. Im Grunde ist es die innere Haltung, die zählt, nicht die äußere Sitzposition. Sobald wir eine geeignete Sitzhaltung eingenommen haben, überlassen wir uns dem gegenwärtigen Moment. Wie bei der Meditation im Liegen können wir auch bei der Sitzmeditation mit offenen oder mit geschlossenen Augen üben. Das Hören ist vielleicht der grundlegendste Zugang zum Sitzen, denn wir haben dabei nichts anderes zu tun, als der Klänge gewahr zu sein, die sowieso schon an unser Ohr gelangen. Da alles bereits geschieht, da wir bereits hören, gibt es in der Tat nichts weiter zu tun, als dessen gewahr zu sein. Allerdings stellt sich die Frage: Sind wir fähig, dessen gewahr zu sein? Können wir tatsächlich von Moment zu Moment dasitzen und einfach hören, was es zu hören gibt, ohne die Ausschmückungen, Hinzufügungen und Ablenkungen des diskursiven Denkens? Für die meisten von uns ist die Antwort: „Meistens kann ich es nicht.“ Aber immerhin können wir diese Herausforderung erkunden. Wir können damit experimentieren, ein Gewahrsein dessen zu entwickeln, wie sehr wir den Kontakt zu einem so offensichtlichen Aspekt des gegenwärtigen Augenblicks verloren haben. Bei dieser besonderen Form der Übung öffnen wir unsere Aufmerksamkeit also für die Geräuschlandschaft und erhalten sie innerhalb der Geräuschlandschaft von Moment zu Moment so gut wie möglich aufrecht. Mit den Worten Buddhas: Beim Hören gibt es nur das Gehörte. Wenn der Geist abschweift, was er unvermeidlich tun wird, dann nehmen wir zur Kenntnis, was wir in diesem Moment denken oder in den Momenten gedacht haben, die darauf gefolgt sind, bis wir bemerkt haben, daß wir mit unserer Aufmerksamkeit nicht mehr beim Hören waren. Wir nehmen das, so gut es uns möglich ist, ohne jedes Urteil und ohne jede Kritik zur Kenntnis, beziehungsweise ohne jedes Verurteilen des Urteilens und Kritisierens, wenn es bereits dazu gekommen ist. Dann und dort, was immer schon hier und jetzt ist, lassen wir einfach zu, daß unser Gewahrsein wieder das Hören umfaßt. Und wir lassen das Hören so wieder seinen Platz als den primären Lokus unserer Aufmerksamkeit einnehmen. Wenn unser Geist abschweift, abgelenkt wird und nicht mehr beim Hören ist, dann bringen wir ihn zum Hören zurück, und zwar immer und immer wieder. Eine alternative Methode, die in der Anfangsphase der Meditationspraxis ebenso einfach und leicht zu üben ist, besteht darin, statt der Geräuschlandschaft die Atmung zum primären Objekt der Aufmerksamkeit zu machen, denn der Atem ist ebenfalls immer präsent. Wie beim Hören ist auch die Einladung, von Moment zu Moment auf die Erfahrung unseres eigenen Atems zu achten, als Idee sehr einfach, aber danach zu üben ist alles andere als leicht, besonders was das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit angeht. Wie die Hörmeditation ist auch die Atemmeditation potentiell so tiefgründig wie jede andere Form der Meditation, denn die Achtsamkeit, die dabei geschult wird, ist 172
letztlich dieselbe, und auch die Einsichten, die daraus entstehen können, sind dieselben. Die grundlegenden Anweisungen für die Achtsamkeit des Atmens sind, daß wir uns, während wir die würdevolle Sitzposition, die wir eingenommen haben, aufrechterhalten, auf die Empfindungen an einem Ort im Körper sammeln, wo sie besonders deutlich sind, gewöhnlich um die Nasenlöcher herum oder im Bauch. Dann erhalten wir dieses Gewahrsein des Gefühls des ein- und ausströmenden Atems um die Nasenlöcher so gut wie möglich aufrecht oder das aufmerksame Verweilen bei den Empfindungen, die mit dem Heben und Senken der Bauchdecke beim Atmen verbunden sind. Wenn wir bemerken, daß der Geist von diesem primären Ort der Aufmerksamkeit abgeschweift ist – was wieder und wieder geschehen wird –, dann nehmen wir einfach ohne Urteilen und Selbstverurteilung zur Kenntnis, was in dem Moment, wo wir uns wieder an das Atmen erinnern und bemerken, daß wir schon einen Weile nicht mehr beim Atmen selbst sind, in unserem Geist vorgeht. Wir stellen fest, daß das Bemerken der Tatsache, daß wir nicht mehr beim Atem sind, an sich schon Gewahrsein ist, und damit sind wir wieder zurück im gegenwärtigen Augenblick. Wichtig ist folgendes: Wir müssen das, was unseren Geist noch einen Moment zuvor beschäftigt hat, nicht vertreiben oder unterdrücken, ja, wir müssen uns noch nicht einmal daran erinnern, was es war. Wir erlauben einfach nur der Atmung, wieder ihren Platz als primäres Objekt unserer Aufmerksamkeit einzunehmen, denn sie war niemals nicht vorhanden und sie ist uns in diesem Augenblick wie in jedem anderen zugänglich. Eine andere sehr wirksame Form der Sitzmeditation, die wir üben können, sobald entweder die Hörmeditation oder die Atemmeditation stabil geworden ist, besteht darin, das Feld des Gewahrseins so auszudehnen, daß es die Empfindungen im Körper umfaßt. Dazu kann ein Gewahrsein der Empfindungen in verschiedenen Teilen des Körpers gehören. Wir sind gewahr, wie sie entstehen, vielleicht für eine Weile vorherrschen und sich dann während eines Augenblicks oder im Verlauf einer ganzen Meditationssitzung verändern – etwa Empfindungen wie Schmerzen im Knie oder im Kreuz oder auch Kopfschmerzen, aber genauso lebhafte Empfindungen der Entspannung, des Wohlbefindens und der Freude im Körper. Zu solchen Empfindungen kann das Gefühl von Druck oder Temperatur an den Stellen gehören, wo unser Körper den Boden berührt, es kann ein Prickeln, Jucken, Pulsieren, Ziehen, Pochen oder die leichte Berührung durch einen Luftzug, Wärme oder Kälte irgendwo im Körper sein – der Möglichkeiten sind unzählige. Zu diesen Empfindungen kann auch ziemlich starkes körperliches Unwohlsein oder starker Schmerz gehören, der entweder daraus resultiert, daß Sie längere Zeit gesessen haben, ohne sich zu rühren, oder der das Symptom einer Erkrankung ist, mit der Sie gerade arbeiten. Solche unangenehmen Empfindungen müssen kein Hindernis für eine Sitzmeditation sein, auch wenn wir nicht mit Gewalt über unsere Grenzen hinausgehen sollten. Wir sitzen einfach in dem uns möglichen Ausmaß mit einem Gewahrsein der Empfindungen in unserem Körper, ganz gleich, ob diese angenehm, unangenehm oder neutral sind, und nehmen deren Intensität zur Kenntnis. So gut es uns möglich ist, reagieren wir nicht emotional auf diese Empfindungen oder stacheln sie noch dadurch an, daß wir uns wünschen, unser Zustand wäre anders, als er augenblicklich ist, damit wir noch „besser“ meditieren können, als es jetzt der Fall ist. Wir legen, mit anderen Worten, einfach den roten Teppich aus für alle Empfindungen, die in diesem Augenblick entstehen mögen, und nehmen sie an, wie sie sind und wo immer sie sind, 173
unterhalb all der Färbungen durch unsere Vorlieben und Abneigungen und durch unsere Erwartungen, wie die Dinge sein sollten. Das alles dient dazu, eine größere Vertrautheit mit der Landschaft des Jetzt zu kultivieren, wozu gehört – wie wir in so vieler Hinsicht wieder und immer wieder gesehen haben –, daß wir im Körper verankert sind. Auf diese Weise gelangen wir zu einer exquisiten Vertrautheit mit der Landschaft des Körpers und den Empfindungen, durch die er sich bemerkbar macht. Eine weitere Form der Sitzmeditation besteht im Sitzen mit einer Empfindung für den Körper als Ganzes, wie er dasitzt und atmet. Dies ist eine Übung, die mir persönlich besonders liegt. In einigen Traditionen nennt man sie das Ganzkörpersitzen. Dabei öffnen wir uns für das subtilere Wissen der Propriozeption und Interozeption ebenso wie für die spezifischeren und isolierteren Empfindungen innerhalb des Körpers. Das Gewahrsein umfaßt die Gesamtheit des Körpers, auch die Haut und Sitzposition selbst. Dabei können wir bemerken, wie jegliche Empfindungen, einschließlich der oben erwähnten, in diesem Feld der Sinneswahrnehmung ständig durch unseren ganzen Körper fluktuieren, und wir können, wie zuvor, einfach dafür offen sein und im Moment des Kontakts zur Kenntnis nehmen, ob sie angenehm, unangenehm oder neutral sind und können sie in dem uns möglichen Maß einfach so annehmen, wie sie sind und wo immer sie sind. Bei dieser Übung kommen die Atmung und der Körper als Ganzes zusammen (obwohl sie natürlich niemals getrennt waren), und wir sehen und spüren sie als Einheit. Wir verweilen einfach hier von Moment zu Moment und kehren selbstverständlich immer wieder in diesen Zustand zurück, wenn wir aufgrund innerer und äußerer Ablenkungen aus ihm herausgefallen sind. Wie Sie sehen können, ist der Prozeß, das Feld des Gewahrseins auszudehnen, ausgehend vom Atem und dem sitzenden Körper in seiner Gesamtheit, praktisch unbegrenzt. Wir können das Hören hinzunehmen, das Sehen (wenn wir mit offenen Augen sitzen), das Riechen, während wir hier sitzen, und wir können jeweils eine Sinneswahrnehmung hervorheben oder auf alle gleichzeitig in ihrer Entfaltung von Moment zu Moment achten. Die Grundhaltung bleibt dabei immer dieselbe: Wir verweilen im Gewahrsein selbst und sehen, hören, fühlen, empfinden, was immer es da zu sehen, hören, fühlen und empfinden gibt – im Moment seines Entstehens, im Moment seines Verweilens und im Moment seines Vergehens. Wir sind das Wissen, weil wir uns auf das einstimmen, was das Grundlegendste in uns ist, nämlich unsere Fähigkeit zum Gewahrsein, zum Wissen selbst, jenseits der konventionellen Grenzen von Namen und Form und jeder Art von Begriffen und Konzepten. Bei der Sitzmeditation können wir uns auch dazu entschließen, die Welt der somatischen Empfindungen, einschließlich der mit dem Atem verbundenen, in den Hintergrund treten zu lassen, zusammen mit der Geräuschlandschaft und anderen Bereichen der Sinneswahrnehmung, und statt dessen einen bestimmten Aspekt unserer momentanen Erfahrung wie etwa den Denkprozeß selbst und/oder unsere Gefühle ins Rampenlicht unserer Aufmerksamkeit zu holen. Hier achten wir auf die Aktivität des Geistes selbst als ein Sinnesorgan, ganz ähnlich, wie wir ja auch auf die Aktivität der fünf traditionelleren Sinnesorgane achten können. Dadurch machen wir uns enger mit den geistigen Vorgängen vertraut und sehen, wie sie das Gewahrsein entweder steigern oder ersticken können. Bei dieser Übung lenken wir unsere Aufmerksamkeit während des Sitzens auf 174
Gedanken als Geschehnisse im Feld des Gewahrseins: Wir beobachten, wie sie auftauchen und verschwinden – manchmal wie ein reißender Strom oder ein Wasserfall. Wir nehmen so gut wie möglich ihren Inhalt zur Kenntnis, ihre emotionale Ladung (angenehm, unangenehm oder neutral) und ihre flüchtige und vergängliche Natur, während wir gleichzeitig und ebenfalls so gut wie möglich versuchen, uns nicht in den Inhalt eines dieser Gedanken hineinziehen zu lassen. Denn das würde, wie wir leicht herausfinden können, nur zu weiteren Gedanken, Bildern, Erinnerungen oder Phantasien führen, so daß wir von dem Strom eines Gedankens, der zum nächsten Gedanken führt, mitgerissen würden. So könnten wir dann nicht mehr in jenem Wissen verweilen, das die Gedanken mit einem gewissen Maß an Gleichmut betrachtet und sie als Geschehnisse mit einem bestimmten Inhalt und einer emotionalen Ladung versteht, und wir könnten sie noch weniger leicht als die Energie sehen, die sie im Grunde sind, als im Augenblick entstehende, verweilende und vergehende Ereignisse in der Landschaft des Geistes, im Feld des Gewahrseins. Wie diese begriffliche Beschreibung des Prozesses bereits zeigt, können gewisse Bilder die Übung unterstützen, solange wir nicht zu starr an ihnen festhalten oder sie zu wörtlich nehmen. Wenn wir uns unsere Gedanken und Gefühle zum Beispiel als einen Fluß vorstellen, der ununterbrochen dahinströmt, ob wir nun gerade meditieren oder nicht, ob wir ihn beobachten oder nicht, dann können wir die Übung als eine Einladung betrachten, am Flußufer zu sitzen und auf das ununterbrochene Gurgeln, Plätschern und Glucksen zu hören, auf die Stimmen des Flusses und die Geschichten, die sie erzählen, ohne daß wir in die Strömung eintauchen und von ihr mitgerissen werden. Wir können am Ufer des Stroms unserer Gedanken sitzen und durch unser Zuhören diesen Strom sehr viel besser kennenlernen als jemand, der in seine Strömung eingetaucht ist. Das ist eine direkte und wirksame Methode, die Natur unseres Geistes zu erforschen, wobei wir unseren eigenen Geist gleichzeitig als Werkzeug und als Forschungsobjekt benutzen. Ein anderes damit verwandtes und für manche hilfreiches Bild ist das eines Wasserfalls. Wir beobachten, wie der Strom unseres Geistes von einem hohen Felsen herabstürzt und sozusagen einen Wasserfall bildet. Wir können uns vorstellen, daß es hinter dem Vorhang aus Wasser und Gischt eine Höhle in der Felswand gibt, in der wir sitzen und dem Strom von Gedanken und Gefühlen zusehen und auf ihn hören. Vielleicht gelingt es uns ja, wenigstens einige Gedanken und Gefühle als einzelne Geschehnisse innerhalb der chaotischen Komplexität des fallenden Wassers zu erkennen, einzelne Ereignisse, die wir sehen und fühlen und um die wir wissen können, ohne in die wirbelnde Wasserkaskade hineinzustürzen und von der Gischt durchnäßt zu werden. Wir verweilen warm und trocken im Zustand des bloßen Wissens um jedes geistige Ereignis, um jede Luftblase, die auftaucht, verweilt und sich auflöst. Ein weiteres Bild ist das des Beobachtens einer endlosen Prozession von Autos, die auf einer Straße unter uns vorbeizieht, während wir oben hinter einem Fenster stehen. Unsere Aufgabe besteht darin, einfach leidenschaftslos jeweils das Auto zur Kenntnis zu nehmen, das in diesem Moment gerade vor dem Fenster vorbeifährt. Da die Autos alt oder neu, schick oder schäbig, selten oder gewöhnlich sein können, mag es passieren, daß unser Geist sich noch lange nachdem ein Auto bereits vorbeigefahren ist, damit beschäftigt. Wenn ein Auto zum Beispiel aus irgendeinem Grund eine sentimentale Bedeutung für uns hat, dann löst sein Anblick vielleicht eine Kette von Erinnerungen in uns aus, etwa an einen Familienausflug mit dem Auto in unserer Kindheit. Oder wir beginnen von einem Wagen zu träumen, den wir uns gern kaufen würden. So kann es 175
sein, daß Hunderte weiterer Autos vorbeifahren, ohne daß wir sie überhaupt bemerken, weil wir in Gedanken diesem einen Auto nachhängen. Wenn so etwas passiert ist, dann nehmen wir so gut wie möglich zur Kenntnis, was das für eine Assoziationskette war, von der wir davongetragen wurden. Wir nehmen zur Kenntnis, wo wir jetzt sind, und wir machen mit dem Auto weiter, das sich gerade jetzt vor unserem Fenster befindet. Ganz gleich, welches Bild oder welchen Prozeß wir benutzen, unsere Gedanken und Gefühle zu beobachten ist immer außerordentlich schwierig, weil sie sich so ungezügelt vermehren und weil sie, auch wenn sie substanzlos und flüchtig sind, doch unsere Realität herstellen, die Geschichte darüber erzählen, wer und was wir sind, was wichtig für uns ist und worin wir Sinn sehen, und auch deshalb, weil sie mit solchen emotionalen Befrachtungen daherkommen, die nichts anderes darstellen als unsere zum größten Teil nie hinterfragten Gewohnheiten, mit denen wir unser Überleben sicherzustellen und uns in der Welt zu orientieren versuchen. Als Folge davon hängen wir zumeist an vielen, wenn nicht an den meisten unserer Gedanken und Gefühle, worin diese auch immer bestehen mögen, und gehen, ohne sie in Frage zu stellen, so damit um, als stellten sie die Realität dar. Dabei erkennen wir kaum jemals, daß Gedanken und Gefühle in Wirklichkeit einzelne Ereignisse im Feld des Gewahrseins sind, winzige und flüchtige Geschehnisse, die gewöhnlich ein wenig wenn nicht sogar sehr ungenau und unzuverlässig sind. Unsere Gedanken mögen gelegentlich zu einem gewissen Grad relevant und zutreffend sein, doch oft sind sie mindestens teilweise von unseren eigennützigen und selbstverliebten Neigungen verzerrt, etwa von unseren Wünschen und Abneigungen und unserer alles beherrschenden Tendenz, die Dinge zu ignorieren oder uns von ebendiesen Wünschen und Abneigungen verblenden zu lassen. Und dann gibt es da noch das wahllose Gewahrsein. Wenn wir einmal davon ausgehen, daß das Feld des Gewahrseins, das wir durch die oben beschriebenen Übungen kultiviert haben, im Grunde von Natur aus unbegrenzt ist, dann können wir unser Gewahr-sein noch weiter ausdehnen, über das spezifische Achten auf den Strom unserer eigenen Gedanken und Gefühle, wie sie in jedem Moment entstehen und vergehen, hinaus. Wir können das Feld des Gewahrseins statt dessen im wesentlichen unendlich und grenzenlos wie der Raum selbst oder wie das weite Firmament sein lassen und dann zur Kenntnis nehmen, daß es sämtliche Aspekte unsrer Erfahrung, die inneren und die äußeren, die Sinneseindrücke und die Wahrnehmungen, die Gefühle und die Gedanken als primäre Objekte der Aufmerksamkeit enthalten kann und daß wir in diesem unendlichen, himmelsgleichen Feld des Gewahrseins verweilen können, ohne zwischen einzelnen Ereignissen zu wählen oder eines davon ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu holen. Statt dessen lassen wir sie einfach kommen und gehen, auftauchen und verschwinden, wie sie wollen, und erkennen sie einfach von Moment zu Moment in ihrer Fülle, denn diese scheinbar isolierten „Ereignisse“ sind, wie unsere sinnliche Erfahrung, potentiell synästhetisch. Sie sind in Wirklichkeit deckungsgleich und gleichzeitig in der Landschaft des Jetzt enthalten. Dies ist die Übung dessen, was Krishnamurti das wahllose Gewahrsein oder das nichtwählende Bewußtsein genannt hat; es gleicht der Praxis des Shikantaza oder „nichts als treffend Sitzen“ im Zen und dem Dzogchen in der tibetischen Tradition. Der 176
Buddha nannte es themenlose Konzentration des Gewahrseins. Der Geist selbst ist, wenn er einmal auf diese Weise geschult wurde, in der Lage, augenblicklich um das, was auftaucht, zu wissen, was immer es ist, und, indem es auftaucht, augenblicklich seine wahre Natur zu erkennen. Beim Auftauchen wird es vom Geist selbst unmittelbar auf nichtbegriffliche Weise erkannt, so als wüßte das Firmament um die Vögel, die Wolken und das Mondlicht, die in ihnen auftauchen. Und in diesem Wissen ohne Anhaftung und ohne Abneigung, in diesem Erkennen in diesem Augenblick des Jetzt, „befreit sich“, wie die Tibeter sagen, das Ereignis, die Sinneswahrnehmung, die Erinnerung, die Gedankenblase im mentalen Strom, das Gefühl von Verletztheit, Traurigkeit, Zorn oder Freude „selbst“. Es ist, als berührten wir eine Seifenblase, jedoch mit unserem Geist, und sie zerplatzt, oder als lösten sich diese Dinge auf wie etwas, was „aufs Wasser geschrieben“ wurde. Dieses Menschsein ist wie ein Gasthaus – jeden Morgen eine neue Ankunft. Eine Freude, eine Depression, eine Gemeinheit, irgendein augenblickliches Gewahrsein kommt als ein unerwarteter Besucher. Heiße sie alle willkommen und bewirte sie! Selbst wenn es sich um eine Schar von Heimsuchungen handelt, die dein Haus mit brutaler Macht all seiner Möbel berauben, solltest du doch jeden Gast in Ehren empfangen. Vielleicht räumt er dich ja nur aus, damit du Platz für eine neue Freude hast! Der dunkle Gedanke, die Beschämung, die Bosheit, empfange sie lachend an der Eingangstür, und bitte sie herein. Sei dankbar für jeden, der da ankommt, denn jeder wurde dir vom Jenseits als Führer auf dem Weg gesandt. RŪMĪ (nach der Übersetzung von Coleman Barks)
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Meditation im Stehen Auch im Stehen kann man meditieren. Neben dem Sitzen, Liegen und Gehen ist das Stehen eine der vier klassischen Positionen für die Meditation. Inspiration für die Stehmeditation können wir von den Bäumen bekommen, denn diese wissen wirklich, wie man lange Zeit an einem Ort steht – zumindest relativ zu unserer kurzen Lebensspanne gesehen13. Und doch bringen die Bäume es fertig, die ganze Zeit im zeitlosen Jetzt zu sein, wie jung oder alt sie auch sein mögen. Es kann uns also manchmal eine Hilfe sein, wenn wir einfach für eine Weile neben unserem Lieblingsbaum stehen und üben, außerhalb der Zeit zu stehen. Dabei hören wir, was der Baum hört, erfahren wir das Licht, das der Baum erfährt, fühlen wir die Luft, die der Baum fühlt, stehen wir auf der Erde, auf der der Baum steht, leben wir in dem Augenblick, in dem der Baum wohnt und wohnt und wohnt ... Wie bei allen Meditationsübungen ist es von Nutzen, wenn wir über den ersten Impuls aufzuhören hinaus mit der Übung fortfahren, wenn wir also über unsere momentane Grenze der Geduld hinaus stehen bleiben, und sei es nur für eine kleine Weile. Von Nutzen ist es natürlich auch, wenn wir dabei ganz in unserem Körper sind und uns vielleicht vorstellen, wenn nicht sogar spüren, daß unsere Füße im Boden verwurzelt sind und daß unser Kopf mit einem Gefühl der Anmut und Leichtigkeit in den Himmel ragt (das chinesische Schriftzeichen für „Mensch“ ist eine stehende Figur) – denn zwischen Himmel und Erde liegt das Reich, in dem der Mensch sich entfaltet. Diese Art des Stehens ist eine bewußte Verkörperung des Stehens in der Mitte unseres Lebens, der Tatsache, daß wir in unserem Leben einen Standpunkt beziehen. Ihre ganze Haltung, wie gleichmäßig das Gewicht auf Ihre Füße verteilt ist, wie Sie Ihren Kopf, Ihre Arme und Ihre Handflächen halten, ja selbst wie lange Sie bereit sind, stehen zu bleiben – das alles ist Teil dieser großen Geste der Achtsamkeit in stehender Position, und deshalb ist es von Nutzen, dieser Elemente gewahr zu sein. Natürlich stehen Sie, so gut Sie können, aber es hilft, wenn Sie die Absicht aufrechterhalten, sich nach der zentralen vertikalen Achse Ihres Seins auszurichten, mit anderen Worten: würdevoll zu stehen. Solch eine Haltung disponiert uns zu einer Klärung und Beruhigung des Geistes und erlaubt es unserem Geist, geräumiger und weniger verkrampft und überfüllt zu sein. In dieser Haltung lassen wir dann ein geräumiges Gewahrsein der Landschaft des Jetzt sich entfalten, einschließlich der einzelnen Sinneslandschaften und der Landschaft des Geistes im gegenwärtigen Augenblick. Dann überlassen wir uns dem bloßen Gegenwärtigsein mit dem, was in diesem Moment ist, und üben wie im Sitzen oder Liegen mit der Art von Thema oder Gerüst, die uns im Augenblick gerade geeignet erscheint, oder auch ohne jedes Gerüst, indem wir einfach nur in diesem Augenblick hier stehen, sonst nichts, und das Wissen sind, das bereits vorhanden ist. Dieses wahllose Gewahrsein in der stehenden Position ist ein wahlloses Gewahrsein, welches die Haltung des stehenden Körpers umfaßt, die Atmung, das Hören, Sehen, Berühren, Fühlen, Spüren, Riechen, Schmecken und Wissen selbst. Sie gehen nirgendwo hin. Sie sind hier eingepflanzt und stehen still, in den Worten Kabirs „fest verankert in dem, was Im daoistischen „stillen Qigong“, einer chinesischen meditativen Disziplin, gibt es in der Tat eine Übung namens „Stehen wie ein Baum“. (Anm. d. Übers.) 13
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du bist“. Natürlich kann man die Stehmeditation überall, nicht nur in der Nähe eines Baumes, und für eine beliebige Zeitdauer praktizieren. Man kann im Stehen meditieren, während man auf einen Aufzug wartet oder im Aufzug steht, während man auf einen Bus oder Zug wartet, während man auf einem öffentlichen Platz, wo es nicht angebracht ist, sich hinzusetzen, auf einen Menschen wartet, mit dem man verabredet ist. So kann man jederzeit und überall üben. Es ist nicht nötig, daß man auf irgend jemanden oder irgend etwas wartet. Man kann um des Stehens willen stehen, ohne zu zappeln, ohne sich viel zu bewegen, einfach ein Mensch, der in seinem Leben steht. Nur stehen. Nur sein. Nur lebendigsein. Berggipfel, Wälder, Strände, Molen, Terrassen oder auch einfach eine Ecke in einem Zimmer Ihres Hauses sind gute Orte, um zu üben, wie man steht und Zeuge der Geschehnisse der Welt ist. Wenn das Stehen von Achtsamkeit geprägt sein soll, dann ist wie immer eine genügend starke Absicht und Aufmerksamkeit notwendig, ob Sie sie nun willentlich herbeiführen oder ob sie sich mühelos im Augenblick einstellen. Einige Gedichte sprechen von dieser Aufmerksamkeit und ihrer Beziehung zum Stehen, ihrer Beziehung zu Bäumen und zur Schönheit dieses gegenwärtigen Augenblicks, dem wir uns ganz hingeben. Steh still. Die Bäume vor dir und die Büsche neben dir sind nicht verirrt. Wo immer du bist, das nennt man Hier, und du mußt es behandeln wie einen mächtigen Fremden, mußt um Erlaubnis bitten, es zu kennen und erkannt zu werden. Der Wald atmet. Horch! Er antwortet: Ich habe diesen Ort um dich herum gemacht, und wenn du ihn verbüßt, so darfst du wiederkommen, sagst du nur Hier. Keine zwei Bäume sind gleich für den Raben. Keine zwei Äste sind gleich für den Zaunkönig. Wenn dir entgeht, was ein Baum tut oder ein Busch, dann bist du sicherlich verirrt. Steh still. Der Wald weiß wo du bist. Du mußt dich von ihm finden lassen. DAVID WAGONER
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Mein Leben ist nicht diese steile Stunde, darin du mich so eilen siehst. Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde, ich bin nur einer meiner vielen Munde und jener, welcher sich am frühsten schließt. Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen, die sich nur schlecht aneinander gewöhnen: denn der Ton Tod will sich erhöhn — Aber im dunklen Intervall versöhnen Sich beide zitternd. Und das Lied bleibt schön. RAINER MARIA RILKE, Das Stunden-Buch, „VOM MÖNCHISCHEN LEBEN“
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Meditation im Gehen Die Gehmeditation ist eine weitere Tür in denselbem Raum, in den man auch durch das Sitzen, die Meditation im Liegen oder im Stehen gelangt. Der Geist der Übung und die Orientierung sind dieselben, aber das Gerüst ist etwas anders, weil wir uns bewegen. Doch letztlich ist es dieselbe Praxis. Aber, und das ist ein großer Unterschied zum gewöhnlichen Gehen, wir gehen nirgendwohin. Bei der formalen Gehmeditation geht es nicht darum, zu Fuß irgendwohin zu gehen. Statt dessen sind Sie bei jedem Schritt, ganz da, wo Sie tatsächlich sind. Sie versuchen nicht, irgendwohin zu gelangen, nicht einmal zum nächsten Schritt. Es gibt kein anderes Ankommen als das ununterbrochene Ankommen im gegenwärtigen Augenblick. Beim Gehen haben wir die Gelegenheit, auf etwas andere Weise in unserem Körper zu sein als beim Sitzen oder Liegen. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf unsere Füße lenken und bei jedem Schritt den Kontakt des Fußes mit dem Boden fühlen, so als küßten wir die Erde und die Erde küßte uns zurück. Wir haben bereits über das Wunder dieser Gegenseitigkeit in der Berührung gesprochen. Es gibt eine Myriade von Empfindungen, propriozeptive und andere, die wir in das Feld des Gewahrseins einschließen können. Gehen ist ein kontrolliertes Vorwärtsfallen, ein Prozeß, den zu meistern wir lange Zeit gebraucht haben, und jetzt halten wir es für dermaßen selbstverständlich, daß wir ganz vergessen haben, wie wunderbar es im Grunde ist. Wenn also der Geist abschweift, was er bei der Gehmeditation ebenso tun wird wie bei jeder anderen Meditation, dann nehmen wir zur Kenntnis, wohin er gegangen ist, woran wir im Moment denken, und geleiten ihn dann sanft zurück zu diesem Augenblick, diesem Atemzug und diesem Schritt. Da wir nirgendwohin gehen, ist es am besten, wenn möglichst wenige Gelegenheiten zur Ablenkung gegeben sind, indem wir immer wieder denselben Gartenweg hin- und hergehen. Dieser Weg muß nicht lang sein; zehn Schritte in der einen Richtung, zehn Schritte wieder zurück, das reicht schon. Wir gehen schließlich nicht auf eine Besichtigungstour. Unsere Augen sind mit weichem Blick nach vorn gerichtet. Wir brauchen nicht auf die Füße zu schauen; sie wissen auf wunderbare Weise, wo sie sind, und unser Gewahrsein kann bei ihnen verweilen und von Moment zu Moment bei jedem Teil des Zyklus des Schreitens sowie beim gesamten Körper in seinem Gehen und Atmen sein. Man kann die Gehmeditation im unterschiedlichsten Schrittempo üben, und deshalb ist sie im Alltag bei vielen Gelegenheiten durchführbar. Wir können zum Beispiel durchaus vom achtsamen Gehen zum achtsamen Laufen übergehen, was an sich schon eine wunderbare Übung ist. Dann natürlich gehen wir über den Gartenweg hinaus, wie wir es natürlich auch bei der formalen Gehmeditation über längere Distanzen tun. Wenn wir jedoch im Rahmen der MBSR die formale Gehmeditation lehren, ist das Tempo äußerst langsam. Das soll nicht nur unsere Neigung bremsen, uns schnell zu bewegen, sondern es soll auch helfen, unsere Vertrautheit mit den sensorischen Dimensionen der Erfahrung des Gehens zu vertiefen. Wir sollen dabei die Empfindungen verfolgen können, die im ganzen Körper beim Gehen und Atmen auftauchen, sowie deutlich wahrnehmen, was im Geist vor sich geht. 181
Wir beginnen damit, daß wir an einem Ende des Weges, den wir uns zur Gehmeditation ausgesucht haben, stehen und unsere Aufmerksamkeit dem Körper als Ganzes zuwenden. Das Feld des Gewahrseins kann dabei die gesamte Landschaft des Jetzt umfassen. An einem bestimmten Punkt bemerken wir, wiederum auf wunderbare Weise, einen Impuls im Geist, den Prozeß des Gehens durch das Heben eines Fußes einzuleiten. Wir sind also des Anhebens des Fußes gewahr, aber nicht, bevor wir den Impuls zum Anheben zur Kenntnis genommen haben. Das ist so ähnlich wie bei der Meditation des Essens einer Rosine, wo wir die gekaute Rosine erst dann hinunterschlucken, wenn wir zuvor des Impulses zum Schlucken gewahr geworden sind. Indem wir erst eine Ferse anheben, bleiben mir mit dem Gewahrsein bei der Vorwärtsbewegung des Fußes und des Beins und dann beim Aufsetzen des Fußes, gewöhnlich mit der Ferse zuerst. Während die ganze Fußsohle des nun vorderen Fußes auf den Boden aufsetzt, nehmen wir zur Kenntnis, wie sich das Körpergewicht vom hinteren Fuß zum vorderen verlagert und wie sich dann der hintere Fuß hebt, zuerst die Ferse und dann der ganze Fuß, während das Körpergewicht nun ganz auf dem vorderen Fuß lastet und der Zyklus weiterläuft: bewegen, aufsetzen, verlagern – heben, bewegen, aufsetzen, verlagern – heben, bewegen, aufsetzen, verlagern ... Bei jedem Aspekt des Gehens können wir mit dem vollen Spektrum der Empfindungen im Körper, die mit dem Gehen verbunden sind, in Kontakt sein: dem Anheben der Ferse des hinteren Fußes, dem Schwung des Beins in seiner Vorwärtsbewegung, dem Aufsetzen der Ferse auf dem Boden, der Verlagerung des Gewichts auf den vorderen Fuß und der nahtlosen Integration all dieser Aspekte, der Kontinuität des Gehens, so langsam es auch sein mag. Wir können die verschiedenen Aspekte des Gehzyklus mit der Atmung koordinieren oder einfach nur beobachten, wie die Atmung beim Gehen verläuft. Das hängt natürlich ganz davon ab, wie schnell oder langsam wir gehen. Beim langsamen Gehen machen wir kleine Schritte. Es ist einfach gewöhnliches Gehen, nur eben ziemlich langsam. Es ist nicht nötig, die Bewegungen des Gehens zu übertreiben oder zu stilisieren, auch wenn der Impuls dazu auftaucht. Es geht hier einfach um ganz gewöhnliches Gehen, nur daß wir langsamer und achtsam gehen. Wenn Sie mit einer Koordinierung der Atmung und des Gehzyklus experimentieren wollen, dann können Sie zum Beispiel folgendes versuchen: Sie atmen ein, während Sie die Ferse des hinteren Fußes anheben. Dann atmen Sie aus, während Sie innehalten, ohne die Bewegung weiterzuführen. Beim nächsten Einatmen hebt der hintere Fuß ganz ab und schwingt nach vorn. Beim Ausatmen setzt die Ferse des nun vorderen Fußes auf und stellt den Kontakt zum Boden her. Beim nächsten Einatmen setzt der vordere Fuß ganz auf den Boden auf, während die Ferse des hinteren Fußes sich vom Boden hebt und das Gewicht sich auf den vorderen Fuß verlagert. Beim Ausatmen halten wir wiederum inne. Beim nächsten Einatmen führen wir wieder den hinteren Fuß nach vorn, und so machen wir immer weiter, Moment für Moment, Atemzug für Atemzug, Schritt für Schritt. Wenn sich das für Sie zu gezwungen oder gekünstelt anfühlt oder es Ihnen zu schwer fällt, dann können Sie den Atem einfach fließen lassen, wie er will. Dann sind da noch Ihre Hände. Was machen Sie mit den Händen? Wie wäre es, wenn Sie einfach nur der Hände gewahr wären? Sie können die Arme gerade herunterhängen lassen, oder Sie können die Hände hinter Ihrem Rücken oder vor Ihrem 182
Körper zusammenlegen, entweder in einer tiefen Position oder in Brusthöhe. Lassen Sie Ihre Hände eine Position finden, in der sie in Ruhe, in Frieden sein können, ein Teil des gesamten Körpers und der Erfahrung des gehenden Körpers. Vergessen Sie nicht, daß all diese Instruktionen nur ein Gerüst sind, und daß es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, mit der Gehmeditation zu experimentieren. Letztlich gibt es, wie bei jeder anderen formalen Meditationspraxis, nicht nur die eine richtige Art, und Sie können experimentieren, was sich für Sie als Methode des achtsamen Gehens am besten anfühlt. Die Übung besteht einfach darin, daß Sie gehen und wissen, daß Sie gehen, und dabei des ganzen Spektrums der mit dem Gehen verbundenen Empfindungen im Körper gewahr sind. Es geht mit anderen Worten darum, daß Sie präsent sind beim Gehen, bei jedem einzelnen Schritt, und daß Ihr Geist nicht sonstwohin vorauseilt. Wie es im Zen heißt: Wenn du gehst, dann geh einfach. Das ist allerdings sehr viel leichter gesagt als getan, genauso wie beim bloßen Sitzen. Denn Sie werden wie wir alle feststellen, daß der Geist tut, was er will. Und so kann es passieren, daß der Körper geht, während der Geist mit etwas völlig anderem beschäftigt ist. Die Herausforderung beim achtsamen Gehen besteht darin, Körper und Geist im gegenwärtigen Augenblick bei dem, was gerade geschieht, zusammenzuhalten. Was da geschieht, ist, wie in jedem anderen Moment, sehr komplex. Doch beim Gehen versuchen wir, die mit dem Gehen verbundenen Empfindungen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu halten, und wir führen unsere Aufmerksamkeit dorthin (also hierher) zurück, wenn sie anderswohin abgeschweift ist. In diesem Sinne unterscheidet sich die Gehmeditation nicht von allen anderen Achtsamkeitspraktiken, und wir können das Feld des Gewahrseins einengen oder ausdehnen, wie es uns gefällt, vom bloßen Zur-Kenntnis-Nehmen der Empfindungen in den Füßen von Moment zu Moment bis hin zum wahllosen Gewahrsein der Geräumigkeit der Landschaft des Jetzt, während wir gehen. Wir sind noch nicht zu den Anweisungen für die formale Praxis Liebender Güte vorgedrungen, aber wir können, um das einmal kurz vorwegzunehmen, beim Gehen sogar Liebende Güte praktizieren. Wir können uns bei jedem Schritt eine Person vorstellen, die wir in das Feld unserer Liebenden Güte einschließen wollen. Wir können uns bei jedem einzelnen Schritt immer wieder dieselbe Person vorstellen. Oder wir können uns mit der Abfolge der Schritte nacheinander eine Gruppe von Menschen vorstellen und diese Sequenz dann wiederholen: Möge diese Person glücklich sein, möge jene Person glücklich sein. Möge diese Person frei sein von Leiden. Möge jene Person frei sein von Leiden. Wie das im einzelnen geht, wird Ihnen klar, wenn Sie das entsprechende Kapitel lesen. Diese Übung funktioniert am besten, wenn Sie langsam und achtsam gehen und dabei ganz in Ihrem Körper sind.
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Suchst du außerhalb von dir selbst nach der Wahrheit, dann entfernt sie sich immer weiter von dir. Heute, wo ich allein gehe, treffe ich ihn14, wohin ich meinen Fuß auch setze. Er ist derselbe wie ich, und doch bin ich nicht er. Nur wenn du es auf diese Weise begreifst, wirst du eins mit den Dingen, so wie sie sind. DONGSHAN, CHINESISCHER ZEN-MEISTER DES 9. JAHRHUNDERTS
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Meister Dongshan spricht hier von seinem Zen-Meister. (Anm. d. Übers.) 184
Yoga Dies hier ist nicht der Ort für eine ausführliche Darstellung der Yoga-Praxis15. Es genügt festzuhalten, daß Yoga eines der großen Geschenke an die Menschheit ist, und daß es außerordentlich inspirierend, verjüngend, belebend, ekstatisch oder einfach nur entspannend sein kann, sich des Yoga zu bedienen, um mit Hilfe der Yoga-Asanas und der fließenden Abfolge bestimmter Yoga-Stellungen Achtsamkeit in Körper und Geist zu bringen. Man kann sich den Yoga als eine körperliche Rundumschulung vorstellen, die auf natürliche Weise zu größerer Kraft, größerem Gleichgewicht und größerer Flexibilität führt. Er ist auch, insbesondere wenn er achtsam geübt wird, eine tiefgreifende Meditationspraxis, die zusammen mit der Stärke, dem Gleichgewicht und der Flexibilität des Körpers dieselben Eigenschaften auf der geistigen Ebene entwickelt. Er ist außerdem ein Weg zu Stille, zu Reichtum, zur Komplexität des Körpers und seinen Selbstheilungskräften, und wie alle anderen meditativen Übungen ist er eine gute Gelegenheit zum wahllosen Gewahrsein. Für die Patienten unserer Stress Reduction Clinic ist Yoga zu einer nützlichen und wirksamen Form der Übung von Achtsamkeit geworden. Auch wenn dies also nicht der Ort ist, um ins Detail zu gehen, mag es doch unsere weitere Erkundung anregen und unser Verständnis vertiefen, wenn wir anmerken, daß das Sitzen eine Yoga-Stellung ist (es gibt im Yoga tatsächlich viele verschiedene Positionen für das Sitzen), daß das Stehen eine Yoga-Stellung ist (genannt der Berg), und daß das Liegen, wie wir bereits gesehen haben, ebenfalls eine Yoga-Stellung ist (die Totenstellung). So ist im Grunde praktisch jede andere Position, die der Körper einnehmen kann, eine Yoga-Stellung, vor allem wenn man sie mit Achtsamkeit einnimmt. Es soll im Hatha-Yoga mehr als 84 000 Grundstellungen geben, wobei es für jede wiederum mindestens zehn Varianten gibt. So kommt man auf 840 000 YogaStellungen, und das bedeutet, daß es praktisch unendlich viele Möglichkeiten der Kombination und Abfolge dieser Stellungen gibt. Es ist also jede Menge Raum zum Ausprobieren und für Neuerungen vorhanden. Außerdem ist die Atmung ein wichtiger Teil der Yoga-Praxis. Wie wir atmen, während wir eine Yoga-Stellung einnehmen und beibehalten, die Qualität und Tiefe des Atems in bestimmten Anordnungen des Körpers und, was besonders wichtig ist, die Qualität unseres Gewahrseins der Atmung und dessen, was von Moment zu Moment in den Sinnen und im Geist vor sich geht, sind von zentraler und entscheidender Bedeutung für die achtsame Übung des Yoga. Im Yoga sind die Stellungen selbst im Vergleich zu der inneren Einstellung, mit der wir üben, also zu der Geistesgegenwart und Offenheit des Herzens, von sekundärer Bedeutung. Nur eine begrenzte Anzahl der 84 000 Stellungen bildet die grundlegenden Übungen und Sequenzen, und diese kann man heute von vielen ausgezeichneten YogaLehrern aus den verschiedensten Yoga-Traditionen lernen. In Yoga-Schulen, Wochenendseminaren und Klausurzentren dieser Traditionen kann man die Übungen nicht nur erlernen, sondern auch regelmäßig mit anderen zusammen üben. Die große Verbreitung, die der Yoga im Westen gefunden hat, ist ein Zeichen für die große 15
Wie im Westen verbreitet, meint der Autor mit „Yoga“ hier den Hatha-Yoga, den Yoga der Körperstellungen. In Asien ist „Yoga“ ein Sammelbegriff für eine der inneren Entwicklung dienende körperliche und /oder geistige Disziplin, wie etwa die Meditation. Man unterscheidet dort auch zwischen spezifischen Disziplinen wie dem Yoga der Tat (Karma-Yoga), dem Yoga der liebenden Hingabe (Bhakti-Yoga) und so weiter. (Anm. d. Übers.)
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Sehnsucht und Suche nach einem erweiterten Bewußtsein von Geist und Körper. Millionen von Menschen im Westen praktizieren Yoga auf diese Weise, ebenso wie Taiji oder Qigong, um auf ein größeres und echteres Wohlergehen von Körper und Geist in ihrem Leben hinzuarbeiten. Achtsamer Hatha-Yoga war von Anfang an ein integraler Bestandteil der Streßbewältigung durch Achtsamkeit. Er ist auch ein wichtiger Bestandteil des Heart Healthy Lifestyle Program (Lifestyle-Programm für ein gesundes Herz) von Dr. Dean Ornish und des Commonwealth Cancer Help Program (Gemeinwohl-KrebshilfeProgramm), das von Rachel N. Remen und Michel Lerner entwickelt wurde. Man kann den achtsamen Yoga äußerst sanft und langsam üben, so daß praktisch jedermann irgendeine Form des Yoga zu praktizieren vermag, auch ein Mensch, der unter chronischen Schmerzen oder an einer alten Verletzung leidet, oder jemand, der sich seit Jahrzehnten kaum bewegt hat. Man kann Yoga sogar im Bett oder im Rollstuhl praktizieren. Man kann ihn auch als eine Art Gymnastik betreiben. Es gibt sehr viele verschiedene Schulen des Yoga, die ihn auf unterschiedliche Weise lehren. Aber im wesentlichen ist der Yoga etwas Universales, und die Stellungen sind eine Widerspiegelung der außerordentlich hohen Fähigkeit des Körpers zur Bewegung, Balance und Stille. Unsere Patienten visualisieren manchmal nur, daß sie die Stellungen einnehmen, die sie wegen einer Behinderung oder chronischer Schmerzen physisch nicht einnehmen können, und auch das kann seine Wirkung haben. Vielleicht werden das Nervensystem und die Muskulatur auf diese Weise daraufhin eingestellt, daß wir diese Übungen künftig ausführen können, wenn die Entzündung in bestimmten Regionen nachgelassen hat, und außerdem werden die Konzentration, das Selbstvertrauen und die innere Ausrichtung gestärkt, wenn man sich nur vorstellt, die Übungen auszuführen. Wenn man für den Anfang nur ganz sanft einige Stellungen einnimmt, so gut es uns unser körperlicher Zustand erlaubt, so wird dadurch bereits ein Prozeß eingeleitet, der einer Atrophie infolge von Minderbeanspruchung entgegenwirkt, der die Gesundung beschleunigt und verschiedene Körperregionen wieder beweglicher macht. Mit der Zeit kann dies zu einer größeren Beweglichkeit vieler Gelenke sowie zu einer zunehmenden Bewegungsfreiheit des Körpers und zu mehr Kraft und Gleichgewicht führen. So wie es wichtig ist, die formale Meditation im Sitzen oder im Liegen regelmäßig zu üben, ist es auch sehr wertvoll, wenn wir auf der Grundlage des Yoga täglich mit unserem Körper arbeiten. Es gibt kaum etwas Schöneres, als den Körper auf den Boden zu bringen und sanft und regelmäßig und vor allem achtsam damit zu arbeiten, indem man die verschiedenen Yoga-Stellungen und ihre Abfolgen benutzt, um sich wieder mit vollem Gewahrsein in seinem Körper einzufinden und seine sich ständig verändernden Grenzen, Beschränkungen und Fähigkeiten im gegenwärtigen Augenblick zu erforschen. Sie werden erleben, wie sich Ihr Körper und Ihr Geist im Verlauf der Wochen, Monate und Jahre auf bemerkenswerte Weise verändern, ganz gleich, wie alt Sie sind und wie Ihr Zustand war, bevor Sie mit dem Yoga begonnen haben. Das Geheimnis ist, daß Sie sanft vorgehen und Ihre Grenzen niemals überschreiten. Auf diese Weise verringern Sie die Wahrscheinlichkeit, Ihre Muskeln, Bänder und Gelenke zu überdehnen oder zu überanstrengen, und geben Ihrem Körper die Gelegenheit, in sich selbst hineinzuwachsen und weit über seine scheinbaren Begrenzungen hinauszugehen. Auch hier gibt es kein Ende für die Übung, und selbst 186
die kleinsten Anstrengungen sind schon nützlich und wichtig. Und wie immer heißt es: „Das ist es“ und das Sichaneignen geschieht immer im Hier und Jetzt. Der Weg ist auch weiterhin das Ziel, selbst wenn Sie sich immer höhere Ziele setzen, um sich zu motivieren und Ihre Energien zu mobilisieren. Gleichzeitig gibt es keinen Weg und kein Ziel, sondern nur den gegenwärtigen Augenblick. Wenn Sie auf diese Weise auf den Körper achtgeben, dann wird er Sie schließlich lehren, was Sie wissen müssen, um sein Wohlergehen von Moment zu Moment am besten sicherzustellen. Wir können das fühlen und genau in diesem Augenblick wissen, wenn wir uns ohne Erwartungen in diese Erfahrung fallenlassen. Wenn der Körper mit der Zeit stärker und gesünder wird, ist das um so besser. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, daß der Yoga Ihre Übung im Sitzen nicht nur ergänzen, sondern auch verfeinern und vertiefen wird. Durch die Übung von achtsamem Yoga können wir unseren Sinn dafür ausweiten und vertiefen, im Körper zu Hause zu sein und ein differenzierteres und nuancierteres Gefühl für den gelebten Körper im gelebten Moment zu erlangen. Tatsächlich ist die tiefere Bedeutung des Wortes „Rehabilitation“ ja, daß man lernt, wieder im Körper zu wohnen (vom französischen habiter = wohnen). Die indogermanische Wurzel ist ghabe, was „geben“ und „empfangen“ bedeutet. Was soll denn nun aber Geben und Empfangen mit dem Wohnen im Körper zu tun haben? Nun, ist es nicht so, daß wir, wenn wir in eine neue Wohnung oder ein neues Haus einziehen, uns diesem neuen Raum, seinen Besonderheiten und Eigenschaften hingeben? Der Lage der einzelnen Räume, dem Fließmuster der Bewegung durch diese Räume, dem Lichteinfall in die verschiedenen Zimmer zu unterschiedlichen Tageszeiten, der Position der Türen und Fenster und der Art und Weise, wie die Energie in dieser Umgebung fließt. Und gibt uns der Raum, wenn wir dafür empfänglich sind, mit der Zeit nicht seinerseits ein Gefühl dafür zurück, was wo hingehört, wie wir in diesem Raum am besten zu Hause sein können und welche Renovierungen seine Nützlichkeit für uns erhöhen würden? Wir können nicht um all das wissen, indem wir an dem Tag, an dem wir die Wohnung das erste Mal sehen oder an dem wir einziehen, vorschnelle Schlußfolgerungen ziehen. Wir müssen zulassen, daß der Raum sich uns langsam offenbart, und das ist nur möglich, wenn wir bereit sind, ihn zu „empfangen“. Diese Art der Sensibilität ist eine Form von Weisheit. In China wurde sie Feng Shui genannt und zu einer eigenen Kunst und Wissenschaft weiterentwickelt. Ähnlich ist es, wenn der Körper einer Rehabilitation bedarf, besonders nach einer Erkrankung oder Verletzung, oder wenn er unter einer chronischen Krankheit oder unter chronischen Schmerzen leidet, oder auch einfach, wenn wir den Körper für längere Zeit vernachlässigt haben. Dann überlassen wir uns dem gesamten Feld des Körpers, der Körperlandschaft, wie wir sie vorfinden. Wir tun dies weitgehend dadurch, daß wir uns von Moment zu Moment in ihn einfühlen, ihn spüren, ihn mit Hilfe des Geistes und durch achtsame, sanfte Bewegungen erkunden. Auf diese Weise gibt der Körper, wenn wir aufmerksam genug sind, etwas zurück; er informiert uns darüber und läßt uns wissen, was in diesem Moment seine Grenzen und seine Bedürfnisse sind. Die Gegenseitigkeit der Beziehung zwischen dem gefühlten Körper und unserer gelebten Erfahrung des Körpers ermöglicht es uns, von Tag zu Tag, von Moment zu Moment zu lernen, wie wir uns wieder darin einrichten und in ihm zu Hause sein können. Wessen Körper und wessen Leben brauchen nicht von Zeit zu Zeit eine solche 187
Wiederherstellung, eine solche Rehabilitation? Und müssen wir, bevor wir damit anfangen, erst warten, bis wir krank oder verletzt sind? Das Ausmaß, in dem der Körper uns antwortet, ist immer ungewiß; wir können uns seiner nie ganz sicher sein und seine Kooperation für selbstverständlich halten. Aber er liebt den Prozeß. Er liebt die Aufmerksamkeit. Und er reagiert auf eine Weise, die wir uns manchmal nur schwer vorstellen können ... und die manchmal ganz und gar unglaublich erscheint. Im folgenden, fünften Teil des Buches werden wir im Fall des Schauspielers Christopher Reeve einem extremen und äußerst bemerkenswerten Beispiel für den Prozeß einer tiefen Rehabilitation begegnen. Doch dieselben Prinzipien liegen für jedermann, der achtsam Yoga übt oder Achtsamkeit in die Arbeit mit dem Körper einbringen will, der Praxis zugrunde. Das gilt insbesondere auch für alle am MBSRProgramm Teilnehmenden, für die achtsamer Yoga ein Teil ihrer eigenen Rehabilitation und Heilung darstellt und die, ein jeder für sich, in jedem Augenblick auf ihrer eigenen Ebene arbeiten. Die Rehabilitation des Körpers – im Sinne eines vollen Im-Körper-Wohnens und einer Kultivierung der Vertrautheit mit dem Körper, wie er gerade ist – ist eine universale Eigenschaft der Achtsamkeitsübung im allgemeinen und des achtsamen Yoga im besonderen. Und da es letztlich wenig Sinn ergibt, den Körper als getrennt vom Geist oder den Geist als getrennt vom Körper zu beschreiben, sprechen wir natürlich zwangsläufig von der Rehabilitation unseres gesamten Seins und der Wiederentdeckung unserer Ganzheit von Moment zu Moment, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, wobei wir, wie immer, dort beginnen, wo wir jetzt sind.
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Nur Wissen In jeder Form der Meditation – im Liegen, Sitzen, Stehen, beim Gehen und beim Yoga – können wir, wie wir gesehen haben, in unserem Feld des Gewahrseins mit Absicht den Denkprozeß ins Zentrum rücken. Wir können unsere Gedanken beobachten, wie sie als einzelne Ereignisse wie Wolken am Himmel entstehen und vergehen. Das kann ein herrlicher Zuschauersport sein, zumindest bis der „Zuschauer“-Aspekt, der mit dem unvermeidlichen Gerüst dieser Methode einhergeht, eines Tages wegfällt. Wenn Sie den Prozeß des Denkens selbst beobachten, wird Ihnen deutlich, wie solche winzigen und flüchtigen „Absonderungen“ des Geistes, die keinerlei substantielle Existenz besitzen und die oft komplett illusorisch oder völlig unzutreffend und irrelevant sind, doch enorme Auswirkungen haben können. Sie können sich dramatisch auf den Zustand unseres Geistes und Körpers auswirken, können unsere Entscheidungen beeinflussen, was im weiteren Verlauf der Geschehnisse potentiell katastrophale Konsequenzen für uns und für andere haben kann, und sie hindern uns in jedem Fall daran, für die Dinge, wie sie in einem gegebenen Moment tatsächlich sind, präsent zu sein. Die Übung, Ihre Gedanken von Moment zu Moment zu beobachten, kann überaus aufschlußreich und befreiend sein. Überlassen Sie sich im Sitzen oder Stehen einfach dem Beobachten und Spüren der jeweils aufsteigenden Gedanken, so als wären sie Luftblasen, die vom Boden eines Wasserkessels aufsteigen, wenn das Wasser zu kochen beginnt, oder als wären sie das Gurgeln eines Bergbachs, der in seinem Bett über Felsbrocken dahinrauscht. Ein anderes Bild, das Ihnen helfen kann, diese Praxis zu vertiefen, besteht darin, daß Sie sich vorstellen, Ihre Gedanken so zu beobachten, als stellten Sie den Ton bei Ihrem Fernsehgerät ab und betrachteten das, was auf dem Bildschirm abläuft – natürlich ohne Untertitel. Der Inhalt des Programms verliert viel von seiner Macht über Sie, und Sie sehen alles ganz anders, weil Sie nicht mehr so in den Inhalt, den Kommentar, die Dramatik hineingezogen und davon absorbiert werden. Die Chance ist größer, daß es zu bloßem Sehen, zu reinem Wissen kommen kann. Wie wir schon mehrfach angemerkt haben, scheinen unsere Gedanken wie auf einem Faden aufgereiht oder wie Autos auf einer belebten Straße aufzutauchen. Ein Gedanke folgt auf den anderen; manchmal scheint eine offensichtliche Verbindung zwischen den Gedanken zu bestehen, manchmal sind sie auf bizarre Weise zufällig und unverbunden. Manchmal ist der Strom der Gedanken ein bloßes Rinnsal, zu anderen Zeiten ist er eine rauschende Stromschnelle oder ein tosender Wasserfall. Die Herausforderung ist immer dieselbe: die einzelnen Gedanken als Gedanken zu erkennen und sich nicht von ihrem Inhalt einfangen zu lassen, auch wenn wir den Inhalt durchaus wahrnehmen. Es geht darum, die einzelnen Gedanken als Geschehnisse innerhalb des größeren Stroms, als getrennte Ereignisse im Feld des Gewahrseins zu sehen, sie als Gedanken zu erkennen, wenn sie entstehen, während sie verweilen und wenn sie vergehen ... und im allgemeinen dem nächsten Gedanken Platz machen. Eine andere Herausforderung besteht darin, den Zwischenraum zwischen den Gedanken zu sehen oder zu fühlen und das Gewahrsein darin und in dem, was die Gedankenereignisse umfängt, verweilen zu 189
lassen. Wir verweilen im Gewahrsein, sind das Gewahrsein, das Feld, das unmittelbar um jede Bewegung in seinem Kontinuum weiß, um jedes Auftauchen einer Gedankenenergie, ein Tröpfchen, eine Absonderung, das Keimen einer Idee, einer Meinung oder eines Urteils, eine Blase, ein Verlangen innerhalb des Stroms, innerhalb des Wasserfalls. Der Gedanke wird gesehen und erkannt. Seine emotionale Ladung wird gesehen und erkannt. Und das ist alles. Wir unternehmen nichts, um den Gedanken zu verfolgen oder zu unterdrücken, um ihn festzuhalten oder zurückzuweisen. Er wird einfach gesehen und erkannt, zur Kenntnis genommen, und dadurch gewissermaßen vom Gewahrsein selbst „berührt“ – dadurch, dass er augenblicklich als ein Gedanke erkannt wird. Und indem er auf diese Weise berührt, erkannt, gesehen wird, zerplatzt der Gedanke wie eine Seifenblase, die wir mit dem Finger berühren, er vergeht augenblicklich, löst sich auf, verschwindet. Man könnte, wie es die Tibeter tun, sagen, daß er sich in dem Augenblick, wo er erkannt wird, selbst befreit. Er taucht in der weiten Offenheit des Gewahrseinsfeldes auf und vergeht, ohne unser Zutun, ohne unsere Absicht. Es ist wie mit den Wellen des Ozeans, die sich für einen Moment auftürmen, dann in den Ozean zurücksinken und dadurch ihre Identität, ihre momentane relative Selbstheit wieder verlieren und zu ihrer undifferenzierten Wassernatur zurückkehren. Wir haben nichts getan, außer Abstand davon zu nehmen, dem Gedanken irgendwie Nahrung zuzuführen, was nur bewirken würde, daß er zu einem weiteren Gedanken führt, einer weiteren Welle, noch einer Blase. Diese Übung führt dazu, daß wir immer mehr in unserem Dasein verweilen können, ohne uns so oft in unseren Gedanken und Gefühlen zu verlieren. Unser Gesichtsausdruck, die Art und Weise, wie wir in unserem Körper sind, und was wir sagen und was wir tun, all das ist nicht mehr so eng an unsere Gedanken gekoppelt. Da wir von Moment zu Moment immer klarer sehen, können wir immer mehr der unklugen, reaktiven, selbstsüchtigen, aggressiven oder ängstlichen Impulse loslassen, während sie dadurch, daß sie erkannt werden, gleichzeitig von uns ablassen. Es kommt hier also zu einer wechselseitigen Freilassung, wenn wir sehen und erkennen, daß unsere Gedanken einfach nur Gedanken sind und nicht die Wirklichkeit der Dinge – und ganz gewiß keine genaue Repräsentation dessen, was wir sind. Wenn sie gesehen und erkannt werden, dann können sie gar nicht anders, als sich „selbstzubefreien“, und im gleichen Moment sind wir von ihnen befreit. Wie in der formalen Meditationspraxis hilft uns in unserem alltäglichen Leben das Wissen ungemein, daß wir nicht unsere Gedanken sind (einschließlich unserer Ideen, Ansichten und sogar der felsenfesten Überzeugungen) und daß unsere Gedanken nicht unbedingt zutreffend sein müssen oder zumindest nur teilweise zutreffend sind und oft überhaupt nichts taugen. Wir können uns nur dann nicht von der unglaublich machtvollen, hartnäckigen und sehr oft irreführenden Energie der Gedanken befreien, wenn wir sie gar nicht als Gedanken erkennen, wenn wir kein Gewahrsein des Stroms der Gedanken an sich und der einzelnen Blasen, Strömungen und Wirbel besitzen.
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Nur Hören Wie wir schon mehrfach festgestellt haben, dringen ständig Klänge und die Zwischenräume zwischen den Klängen an unser Ohr. Wenn wir also irgendwo sitzen oder liegen, um zu meditieren, dann geben wir uns mit Absicht dem Hören hin. Wir hören einfach, was es in diesem Moment zu hören gibt, nichts weiter. Das heißt, daß wir nichts tun müssen. Die Geräusche kommen von selbst. Können wir sie hören? Bringen wir es fertig, von Augenblick zu Augenblick bei ihnen zu sein, den Klängen und den Räumen dazwischen mit Gewahrsein zu begegnen, so wie wir es mit den Gedanken und Zwischenräumen zwischen den Gedanken gemacht haben – ohne Zuneigung und Abneigung, ohne etwas zu bevorzugen oder zurückzuweisen, ohne zu bewerten und zu urteilen, einzuordnen und in etwas zu schwelgen. Natürlich können die meisten von uns das mit Musik tun, was an sich schon eine wunderbare Übung ist. Aber nun besteht die Herausforderung darin, mit sämtlichen Geräuschen, die auftauchen, auf diese Weise zu üben, und die sind oft nicht so angenehm, wenn wir selbst nicht ganz durchlässig sind. Bei dieser Übung spielt das jedoch keine Rolle, denn wir üben damit ja, dem Angenehmen oder Unangenehmen nicht verhaftet zu sein. Wir üben „nur Hören“. Dies nennt man „beim Hören sein“. Sehen Sie, ob Sie in der Lage sind, im reinen Gewahrsein des Hörens zu sein. Natürlich können in jedem Augenblick durch das, was Sie hören, Gedanken ausgelöst werden sowie Gefühle, die mit diesen Gedanken einhergehen – ein ganzes Spektrum von Gefühlen unterschiedlicher Stärke mit positiver oder negativer Ladung, je nachdem, was die Klänge hervorrufen: vielleicht Erinnerungen, vielleicht Phantasien, vielleicht auch gar nichts. In jedem Fall wird es immer wieder darauf ankommen, daß wir das, was nicht Klang ist, nicht weiter beachten und nur das reine Hören innerhalb des Gewahrseinsfeldes im Rampenlicht stehenlassen – solange, bis es vielleicht gar keine Rampe, keinen Hintergrund und keine Kulissen mehr gibt. Und vielleicht gibt es dann auch kein „Ich“ mehr, das hört, und nichts mehr, auf das gehört wird. Statt dessen ist da „nur Hören“, vor und unter allem anderen, nur die reine Erfahrung des Hörens. Sie geben sich also auf diese Weise dem Hören hin, verweilen von Moment zu Moment im nackten Hören und kehren immer wieder dazu zurück, wenn Sie merken,. daß Sie von etwas, was hinter den Kulissen geschehen ist, davongetragen wurden. Denn sobald Sie davongetragen werden, kommt es zum Denken, und dann müssen Sie sich neu fokussieren, dann brauchen Sie ein wenig Gerüst und Methode, um Ihre Aufmerksamkeit neu auszurichten. Dann gibt es plötzlich wieder ein „Ich“ und eine Bühne – und natürlich auch die Möglichkeit, zum reinen und schlichten Hören zurückzukehren. In solchen Momenten geht es darum, die Absicht, aufmerksam zu sein und die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, wieder und wieder zu bekräftigen und sich erneut dem Hören hinzugeben, das ja sowieso geschieht, ohne daß Sie irgend etwas tun oder sich anstrengen müßten. In der Tat können Sie sich selbst in solchen Momenten ganz und gar loslassen, indem Sie sich wieder völlig den Klängen und den Zwischenräumen zwischen den Klängen hingeben, sowie auch der Stille, die in allen Klängen und unter allen Klängen vorhanden ist. Lassen Sie Klang und Gewahrsein deckungsgleich sein, so daß jeder 191
Klang und jede Stille augenblicklich und ohne Denken bloß als das erkannt werden, was sie sind. Denn sie sind genau das, was die Essenz des Geistes, das, was wir den „ursprünglichen Geist“ genannt haben, tun ... diese Essenz weiß nichtbegrifflich. Sie weiß bereits, ohne jedes Denken und vor dem Denken. Im Hören verweilen, zum Hören werden, mit dem Hören verschmelzen, bis es – und anfänglich mögen das nur ganz kurze Momente sein – keinen Hörenden und nichts Gehörtes mehr gibt, sondern nur noch Hören, Hören, Hören ... ein reines Gewahrsein ohne Zentrum oder Peripherie, ohne Subjekt oder Objekt, zu dem wir immer wieder Zugang finden, das wir stets berühren können, und das sich um so besser von selbst aufrechterhält, je tiefer wir mit dieser Übung vertraut werden.
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Nur Atmen So wie ohne Unterlaß Geräusche an unser Ohr dringen, so hört auch die Atmung, solange wir leben, niemals auf. In jedem Augenblick des Jetzt befinden wir uns irgendwo innerhalb des Atemkreislaufs von Einatmung und Ausatmung und den Pausen dazwischen. Darum überlassen wir uns, wenn wir im Sitzen oder Stehen, im Gehen oder beim Yoga Meditation üben, ganz den Empfindungen im ganzen Körper, die mit der Atembewegung verbunden sind. Wenn wir nicht gerade keine Luft bekommen oder unter Wasser geraten oder an einer schweren Erkältung leiden, nehmen wir diese Empfindungen nur selten wahr oder kümmern uns darum; die Atmung ist uns so selbstverständlich, daß wir ihre Wahrnehmung ausblenden. Wenn wir nun die Achtsamkeit des Atmens schulen, stimmen wir uns bewußt auf die Empfindungen der Atmung ein. Wir tun das mit einer solchen Leichtigkeit der Berührung; wir erlauben unserer Aufmerksamkeit, sich dem Atem so sanft anzunähern, als wollten wir uns einem in einer Waldlichtung auf einem Baumstumpf hockenden Tier annähern – mit derselben Behutsamkeit und demselben Interesse, voller Liebe und nicht wie ein Jäger. Oder um ein anderes Bild zu benutzen: Wir erlauben es unserer Aufmerksamkeit, sich so sanft auf dem Atem niederzulassen, wie ein Blatt auf einen Teich hinuntersegelt und dann auf seiner Oberfläche schwimmt: Wir reiten auf der Welle des Atems, die durch den Körper läuft und ihn dann wieder verläßt, in Kontakt mit der vollen Dauer eines jeden Atemzugs, der in den Körper einströmt, in Kontakt mit der vollen Dauer eines jeden Atemzugs, der aus dem Körper ausströmt, in Kontakt mit den Atempausen nach dem Ein- und Ausatmen, mit dem Höhepunkt und dem Wellental einer jeden Atembewegung. Es ist nicht so, daß wir an den Atem oder die Atemempfindungen denken, wir fühlen den Atem vielmehr, wir reiten auf seinen Wellen wie ein Blatt auf einem Teich oder ein Gummiboot auf den sanften Wellen des Ozeans. Auf diese Weise geben wir uns total den Atemempfindungen hin, Moment für Moment für Moment. Pures Vertrauen. Segeln Blätter nicht herab einfach so? Wenn Sie sich auf diese Weise dem Atmen hingeben, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf ausrichten und sie dann aufrechterhalten, dann führt dies schließlich dazu, daß die Empfindung eines Beobachters, der den Atem beobachtet, sich in „nur Atmen“ auflöst. Das Subjekt („Ich“) und das Objekt (der Atem oder auch „mein Atem“) lösen sich auf in bloßes Atmen, schlicht und einfach, und in ein Gewahrsein, das kein „Ich“ als Wissenden braucht, das bereits um den Atem und seine Entfaltung weiß, jenseits des Denkens, unterhalb des Denkens und vor allem Denken, wie wir das schon beim Hören erfahren haben. Indem wir hier sitzen und atmen, ist da nur dieser Augenblick, nur dieser Atemzug, nur dieses nichtbegriffliche Wissen. Der ganze Körper atmet, die Haut, die Knochen, alles, innen und außen, und es ist eher so, als würde er geatmet, als daß er atmete – jenseits aller Vorstellungen, die wir vom Atem haben könnten. 193
Indem wir hier verweilen, sind wir das Atmen, sind wir das Wissen, von Moment zu Moment, wenn es noch Momente gibt, von Atemzug zu Atemzug zu Atemzug, wenn es noch Atemzüge gibt ... wir schmecken den Atem, riechen den Atem, trinken den Atem. Wir lassen zu, daß wir geatmet werden, daß wir von der Luft berührt werden, gestreichelt werden. Wir verschmelzen mit der Luft in der Lunge, auf der Haut, überall Luft, überall im Körper Atem, überall das Wissen und ebenso nirgendwo. Und natürlich kommen wir, wie bei allen anderen Übungen, immer wieder zum Atem zurück, wenn der Geist ins Denken abschweift, in Erinnerungen oder Erwartungen, in alle möglichen Geschichten, die wir uns erzählen – natürlich auch Geschichten darüber, daß wir meditieren und völlig mit dem Atem eins werden, oder daß es kein „Ich“ mehr gibt.
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Die Meditation der Liebenden Güte Lange Zeit wollte ich die Liebende Güte in der Stress Reduction Clinic nicht als eigene Meditationspraxis lehren. Ich war nämlich der Meinung, daß sämtliche Meditationsübungen im Grunde einen Akt der Liebenden Güte darstellen und deshalb, wenn sie auf diese Weise gelehrt werden, eine eigene Praxis zur Förderung der Liebenden Güte überflüssig machen. Mein größter Vorbehalt gegenüber einer Unterweisung in der formalen Praxis der Liebenden Güte war jedoch, daß sie Menschen verwirren könnte, die gerade erst begonnen haben, sich mit der Praxis des Nichttuns und der Absichtslosigkeit vertraut zu machen, welche sämtlichen Meditationsübungen zugrunde liegt, die wir bisher behandelt haben. Ich wollte die Ausrichtung auf eine direkte, nichtreaktive, nichturteilende Aufmerksamkeit von Moment zu Moment, die für uns Menschen im Westen so ungewohnt ist, nicht unterminieren. Diese Art der Aufmerksamkeit kann nämlich, wenn wir sie ernsthaft üben und durch unsere eigene weise Bemühung um eine entsprechende Disziplin zu einer Lebensweise machen, zutiefst transformierend und befreiend sein. Der Grund für mein Zögern war, daß die Anweisungen zur Meditation der Liebenden Güte unweigerlich den Eindruck erzeugen, daß wir hier aufgefordert werden, etwas zu tun, nämlich bestimmte Gefühle und Gedanken und wünschenswerte Bewußtseinszustände hervorzurufen. Das fühlt sich ganz anders an, als einfach zu beobachten, was ganz von selbst auftaucht, ohne daß wir unsere Gedanken und Gefühle zu irgend etwas anderem heranziehen als der Schulung von Wachheit selbst; oder es scheint dieser Praxis sogar diametral entgegengesetzt zu sein. Unsere Klienten sollten keineswegs in bezug auf die Kernpraxis und die Haltung des Nichttuns verunsichert werden, denn diese bildet die Grundlage der Achtsamkeitsübung sowie der Weisheit und des Mitgefühls, die ganz natürlich aus der Achtsamkeit entstehen. Ich wollte die Menschen nicht verwirren, indem ich ihnen innerhalb eines kurzen Zeitraums zu viele neue Dinge vorsetzte. Schließlich ist die Meditation ein weites und sehr komplexes Feld, was bereits deutlich wird, wenn man sich die verschiedenen Praktiken ansieht, die allein schon innerhalb einer bestimmten Tradition angeboten werden. Sich mit nur einem kleinen Teil der verfügbaren Praktiken vertraut zu machen und diese zu vertiefen, ist bereits nicht weniger als eine Lebensaufgabe. Es ist unmöglich, ein großes Gebäude durch alle seine Eingänge gleichzeitig zu betreten, und es ist töricht, ständig durch die verschiedenen Türen ein und aus zu gehen. Wenn man das tut, wird man letztlich kaum Zeit im Gebäude selbst verbringen. Ich wollte diese Unterschiede im Ansatz also nicht überdecken, kam schließlich aber doch zu der Ansicht, daß die Menschen in der Stress Reduction Clinic zumindest einen Geschmack von der formellen Praxis der Liebenden Güte bekommen sollten, weil diese unser Herz so tief zu berühren vermag und weil sie viel zur Stärkung von Liebe und Güte in der Welt beitragen kann. Außerdem ist es so, daß auf den ersten Blick zwar alles, was ich oben zu dieser Praxis gesagt habe, richtig ist, daß die Unterweisungen auf einer tieferen Ebene aber nur scheinbar darauf hinzielen, etwas geschehen zu machen. Mir ist klargeworden, daß sie in der Tiefe nur Gefühle offenbaren, die wir tatsächlich bereits haben, die aber so tief vergraben sind, daß wir sie sehr hartnäckig einladen und uns um ihre Aufrechterhaltung bemühen müssen, um wirklich mit ihnen in Kontakt zu 195
kommen. Letztlich geht es um das Herz, wie es ist, darum, daß es sich selbst als das erkennen und verwirklichen kann, was es ist. Dieses Erkennen und Verwirklichen ist praktisch endlos. Aus diesem Grund präsentieren wir unseren Klienten die Praxis der Liebenden Güte während der ganztägigen Stille-Klausur in der sechsten Woche des Programms als eine geführte Meditation, auch wenn wir aus pädagogischen und praktischen Gründen die Schulung in der formellen Praxis der Liebenden Güte im Rahmen der MBSR nur nebenbei behandeln. Liebende Güte, in Pali mettd, ist eine der vier grundlegenden Praktiken, die der Buddha gelehrt hat und die zusammen die vier „Göttlichen Verweilungszustände“ (brahma-vihāra) genannt werden: Liebende Güte, Mitgefühl, mitfühlende Freude und Gleichmut. Jede einzelne für sich genommen ist eine anspruchsvolle Meditationspraxis, und alle werden vor allem dazu benutzt, um den Samādhi oder die „auf einen Punkt gerichtete“ Aufmerksamkeit zu schulen, aus der heraus die Kraft der jeweiligen Qualität entsteht, die unser Herz transformiert. Allerdings ist die Essenz all dieser Praktiken bereits in den Achtsamkeitsübungen, die wir schon behandelt haben, vorhanden und wird durch diese zugänglich gemacht. Nichtsdestoweniger kann es uns in unserer Praxis helfen, diese Qualitäten des Herzens zu erkennen, sollten sie spontan während der Achtsamkeitsübung auftauchen, wenn wir sie zuvor benannt und ihre Rolle in der Meditationsübung hervorgehoben haben. Außerdem kann es besonders in schwierigen Zeiten hilfreich sein, das Herz und den Geist häufiger auf diese Eigenschaften auszurichten. Tatsächlich können diese Übungen als manchmal notwendige und geschickte Gegenmittel gegen solche „Geistesgifte“ wie heftigen Zorn dienen, Geisteszustände, die manchmal einfach zu stark sind, als daß wir mit Hilfe der direkten Beobachtung allein damit fertig werden, wenn wir in der Meditationspraxis nicht sehr weit fortgeschritten sind. In diesen Momenten kann die formelle Praxis der Liebenden Güte dazu dienen, unsere Beziehung zu solch überwältigend schädlichen Geisteszuständen dahingehend zu beeinflussen, daß wir ihren Energien nicht mehr so wehrlos ausgeliefert sind. Sie können uns auch helfen, besser an solche Geisteszustände heranzugehen und mit ihnen zu arbeiten. Mit genügend Übung kann die direkte Beobachtung allein jeden Geisteszustand annehmen, wie schädlich und toxisch er auch sein mag. Indem wir ihn auf diese Weise sehen und zur Kenntnis nehmen, in offenherzigem, nichtreaktivem, nichturteilendem Gegenwärtigsein, können wir die Natur des Zorns oder des Kummers – was immer der Geisteszustand sein mag – erkennen. Und indem wir einen Geisteszustand so sehen, ihn annehmen und darum wissen, beginnt er sich schon abzuschwächen und zu verflüchtigen, zerplatzt er, wie wir gesehen haben, wie eine Seifenblase oder löst sich auf wie etwas aufs Wasser Geschriebenes. Was in solchen Momenten zum Vorschein kommt, ist nichts anderes als Liebende Güte selbst, die ganz natürlich, und ohne daß wir sie ausdrücklich einladen müßten, aus einer ausgedehnten Stille hervortritt, weil sie nämlich niemals nicht bereits vorhanden war. Bei der Unterweisung oder der Praxis Liebender Güte verlasse ich mich oft auf Bilder und betone das unmittelbare Fühlen Liebender Güte, statt mich nur auf die Losungen zu verlassen, die traditionellerweise benutzt werden, um sie hervorzurufen. Was einige dieser Bilder und Annäherungsweisen angeht, bediene ich mich der Vorgaben und der Terminologie meines Kollegen Saki Santorelli. 196
In der sitzenden Position oder im Liegen oder Stehen richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Atem und den gesamten atmenden Körper. Verweilen Sie eine Weile dabei und legen Sie, indem Sie auf den Wellen des Atems reiten, ein relativ stabiles Fundament für die Aufmerksamkeit von Moment zu Moment. Wenn Sie das Gefühl haben, gut beim Fluß Ihres Atems verweilen zu können, stellen Sie sich vor Ihrem geistigen Auge einen Menschen in Ihrem Leben vor, der Sie bedingungslos liebt oder geliebt hat. Erinnern Sie sich an die Qualität der selbstlosen Liebe und Güte, die Ihnen dieser Mensch entgegengebracht hat, und geben Sie sich ganz dem Fühlen und der ganzen Aura oder dem Feld der Ihnen entgegengebrachten Liebe hin. Atmen Sie mit diesen Gefühlen, baden Sie darin, verweilen Sie im Feld dieser von Herzen kommenden Zuneigung, die Ihnen so entgegengebracht wird oder wurde, wie Sie sind. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß Sie so angenommen und geliebt wurden, wie Sie sind, ohne daß Sie anders sein mußten, ohne daß Sie sich erst dieser Liebe würdig erweisen mußten, ohne sie sich besonders verdienen zu müssen. Vielleicht halten Sie sich selbst ja nicht für besonders liebenswert, aber das spielt keine Rolle. Es ist in der Tat völlig irrelevant. Die Tatsache, die zählt, ist, daß Sie geliebt wurden oder geliebt werden. Es ist eine Liebe, die Ihnen gilt, so wie Sie sind, so wie Sie jetzt sind und wie Sie es schon immer gewesen sind. Sie ist wahrhaft bedingungslos. Baden Sie mit Ihrem ganzen Sein in diesem Gefühl, lassen Sie sich davon umarmen, im Rhythmus Ihres Herzschlags davon wiegen, im Fluß Ihres Atems davon streicheln, spüren Sie, wie Sie im Feld dieses Wohlwollens, dieser Liebenden Güte, getragen und davon durchtränkt werden. Und wenn Sie aus Ihrer Erinnerung keine solche Person heraufbeschwören können, dann sehen Sie, ob Sie sich jemanden vorstellen können, der Sie auf diese Weise sieht. Wenn Sie sich nun bereit fühlen, oder sobald Sie sich bereit fühlen, sehen Sie, ob Sie sowohl zu der Quelle als auch zum Objekt ebendieser Gefühle werden können; machen Sie sich diese Gefühle also so zu eigen, als seien es Ihre eigenen und nicht die Gefühle eines anderen Menschen. Verweilen Sie beim rhythmischen Schlagen Ihres Herzens und hegen Sie in Ihrem eigenen Herzen diese Gefühle der Liebe und Akzeptanz, jenseits allen Urteilens. Baden Sie in diesem Gefühl der Liebenden Güte wie ein Kind in der Umarmung seiner Mutter, und seien Sie dabei zugleich die Mutter und das Kind. Verweilen Sie, so gut es Ihnen möglich ist, von Moment zu Moment in diesen Gefühlen, baden Sie in Ihrer eigenen gütigen Zuneigung und Akzeptanz für sich selbst, so wie Sie sind. Lassen Sie dieses Gefühl sich selbst nähren, lassen Sie es ganz natürlich sein, in keiner Weise erzwungen oder künstlich. Jedes noch so kleine Schmecken dieses Gefühls ist Balsam und Trost für all die Negativität, all die Selbstkritik und den Selbsthaß, die unter der Oberfläche unserer Psyche verborgen sein können. Während Sie in diesem Feld, in dieser Umarmung der Liebenden Güte verweilen, mag es nützlich sein, wenn Sie sich innerlich leise die folgenden Sätze vorsagen (oder wenn Sie hören, wie der Wind, die Luft, der Atem, die Welt Ihnen die folgenden Worte zuflüstern):
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Möge ich sicher und geborgen sein und frei von innerer und äußerer Not. Möge ich glücklich und zufrieden sein. Möge ich soweit nur irgend möglich gesund und heil sein. Möge ich die Leichtigkeit des Wohlbefindens erfahren. Zuerst mag es sich ein wenig gekünstelt anfühlen, wenn Sie solche Dinge zu sich selbst sagen oder sie nur denken. Wer ist denn schließlich dieses „Ich“, das dies wünscht? Und wer ist das „Ich“, das der Empfänger dieser Wünsche ist? Letztlich verschwinden beide in dem Gefühl, in diesem Augenblick geborgen und frei von Not zu sein, in dem Gefühl, in diesem Augenblick glücklich und zufrieden zu sein, in dem Gefühl, in diesem Augenblick heil zu sein, da wir ja immer schon heil sind, in das Gefühl, in der Leichtigkeit des Wohlbefindens zu ruhen, weit entfernt von dem UnWohlsein und der Zersplitterung, unter denen wir so häufig leiden. Dieses Gefühl ist die Essenz der Liebenden Güte. Nun könnten Sie vielleicht einwenden: Wenn dies eine selbstlose Praxis sein soll, warum konzentriere ich mich dann auf mich selbst, auf meine eigenen Gefühle der Geborgenheit und des Wohlseins, auf mein eigenes Glück? Eine mögliche Antwort lautet: Weil Sie nicht von dem Universum getrennt sind, das Sie hervorgebracht hat, und weil Sie es deshalb ebenso wert sind, das Objekt Liebender Güte zu sein, wie jedes andere Ding und jedes andere Lebewesen. Ihre Liebende Güte kann weder liebend noch gütig sein, wenn sie nicht Sie selbst mit einschließt. Und auch aus folgendem Grund müssen Sie sich keine Gedanken machen: Die Liebende Güte ist nicht auf Sie selbst beschränkt - weil sie grenzenlos ist. Wenn Sie so wollen, können Sie die Übung der Liebenden Güte, wie sie bis zu diesem Punkt beschrieben wurde, auf der relativen Ebene auch als ein Stimmen Ihres Instruments betrachten, bevor Sie damit für die Welt aufspielen. In diesem Fall ist das Stimmen des Instruments selbst ein großartiger Akt der Liebe und Güte und kein Mittel zu einem Zweck. Das Üben geht weiter ... Sobald Sie ein einigermaßen stabiles Feld der Liebenden Güte um sich herum erzeugt und eine Weile in dem Gefühl verweilt haben, in seiner Umarmung gehalten und gewiegt zu werden, können Sie das Feld das Herzens nun bewußt ausdehnen, so wie wir gelernt haben, in der Achtsamkeitspraxis das Feld des Gewahrseins auszudehnen. Wir können das Feld der Liebenden Güte um unser eigenes Herz und unser eigenes Sein herum ausdehnen und andere Wesen entweder en masse oder einzeln in diese sich ausdehnende Umarmung einbeziehen. Dies zu tun ist nicht immer ganz einfach; deshalb sollten wir mit einer Person beginnen, für die wir bereits ganz selbstverständlich Gefühle der Liebenden Güte hegen. Sie beschwören vor Ihrem inneren Auge und in Ihrem Herzen also das Gefühl oder das Bild eines Individuums, zu dem Sie große Zuneigung empfinden, von jemandem, der Ihnen gefühlsmäßig sehr nah ist. Können Sie diese Person mit derselben Qualität der Liebenden Güte in Ihrem Herzen tragen, die Sie sich selbst entgegengebracht haben? Ob es nun eines Ihrer Kinder, Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester, Großmutter oder Großvater ist, ein anderer naher oder ferner Verwandter, ein enger Freund oder eine liebe Nachbarin - wir atmen mit dieser Person oder diesen Personen in unserem Herzen, tragen sie in unserem Herzen, stellen sie uns so gut wie möglich in unserem Herzen vor (keine dieser Vorstellungen muß sehr lebhaft sein, damit die Praxis 198
wirksam ist), und wünschen ihr oder ihnen Gutes: Möge sie oder er, mögen sie sicher und geborgen sein und frei von innerer und äußerer Not. Möge sie, möge er, mögen sie glücklich und zufrieden sein. Möge sie, möge er, mögen sie soweit nur irgend möglich gesund und heil sein. Möge sie, möge er, mögen sie die Leichtigkeit des Wohlbefindens erfahren. Verweilen Sie so von Moment zu Moment im Feld der Liebenden Güte in Ihrem eigenen Herzen, bei diesen Sätzen, die Sie sich selbst leise vorsagen, und seien Sie vor allem bei dem Impuls dahinter, während Sie sie in dieser Reihenfolge immer und immer wieder wiederholen, und zwar nicht mechanisch, sondern achtsam, mit vollem Gewahrsein, im Wissen um das, was Sie sagen, und fühlen Sie die Absicht hinter dem Gefühl, die Absicht und das Gefühl hinter jedem dieser Sätze. Von diesem Punkt aus können Sie, einzeln oder zusammen, auch jene in das Feld des liebenden Herzens einladen, die Sie nicht so gut kennen, zu denen Ihre Beziehung eher neutral ist, ja selbst Menschen, die Sie überhaupt nicht kennen und von denen Sie nur aus zweiter Hand gehört haben, etwa die Freunde von Freunden. Und wieder wünschen Sie ihnen allen Gutes, indem Sie sie in Ihrem Herzen wiegen: Möge sie oder er, mögen sie sicher und geborgen sein und frei von innerer und äußerer Not. Möge sie, möge er, mögen sie glü cklich und zufrieden sein. Möge sie, möge er, mögen sie soweit nur irgend möglich gesund und heil sein. Möge sie, möge er, mögen sie die Leichtigkeit des Wohlbefindens erfahren. Von hier aus können Sie das Feld des Gewahrseins nun so weit ausdehnen, daß es auch ein Individuum oder mehrere Individuen umfängt, die für Sie in irgendeiner Hinsicht problematisch sind, mit denen Sie in der Vergangenheit unangenehme Erfahrungen gemacht haben, die Ihnen vielleicht Leid zugefügt haben oder die Sie, aus welchem Grund auch immer, eher als Gegner oder Widersacher empfinden denn als Freunde. Das bedeutet nicht, daß von Ihnen verlangt wird, diesen Menschen zu vergeben, was sie getan haben, um Sie zu verletzen oder Ihnen oder anderen Schaden zuzufügen. Sie erkennen einfach an, daß auch sie menschliche Wesen sind, die Wünsche haben, daß auch sie unter Un-Wohlsein oder vielleicht auch Krankheiten leiden, daß auch sie sich danach sehnen, glücklich und geborgen zu sein. Sie dehnen also, so gut es Ihnen möglich ist, und nur in dem Maße, in dem Sie spüren, daß Sie dazu bereit sind – oder wenigstens willens, damit zu experimentieren – die Liebende Güte auch auf diese Menschen aus, trotz all der Schwierigkeiten und Probleme, die zwischen ihnen stehen:
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Möge sie oder er, mögen sie sicher und geborgen sein und frei von innerer und äußerer Not. Möge sie, möge er, mögen sie glücklich und zufrieden sein. Möge sie, möge er, mögen sie soweit nur irgend möglich gesund und heil sein. Möge sie, möge er, mögen sie die Leichtigkeit des Wohlbefindens erfahren. Sie sehen schon, wohin das führt. Genauso wie bei der Schulung von Achtsamkeit, wo wir bei einem Objekt der Aufmerksamkeit verweilen oder das Feld ausdehnen können, so daß es die verschiedensten Objekte der Aufmerksamkeit umfängt, können wir auch bei der Praxis der Liebenden Güte Tage, Wochen, Monate oder Jahre bei verschiedenen Ebenen des Übens verweilen, die alle ihre Gültigkeit besitzen und letztlich sämtliche anderen Ebenen enthalten. Ob Sie die Liebende Güte nun dadurch entwickeln wollen, daß Sie sie in einer Sitzung oder in vielen Sitzungen auf sich selbst ausrichten, beides ist vollkommen in Ordnung. Und wenn Sie die Liebende Güte lieber auf jene Menschen ausdehnen möchten, die Ihnen etwas bedeuten und die Sie lieben, vielleicht auch nur auf einen solchen Menschen, so ist auch das völlig in Ordnung. Da Ihre Liebesfähigkeit jedoch, ob Sie es nun wissen oder nicht, unbegrenzt ist (das ist einfach die Natur von Liebe, sie ist grenzenlos und steht deshalb auch in unbegrenzter Menge zur Verfügung), ist es jedoch sehr wahrscheinlich, daß Sie mit der Zeit ganz natürlich das Bedürfnis empfinden, immer mehr Wesen in das Feld der Liebenden Güte einzuladen, die Sie innerlich und äußerlich in alle Richtungen ausstrahlen. Sie werden sehen, daß sie manchmal auch uneingeladen hereinschlüpfen. Ist es nicht interessant, daß so etwas geschieht? Wenn Sie sie nicht bewußt einladen, wie kommt es dann, daß sie trotzdem auftauchen? Und wie finden sie Zugang? Hmmm. Vielleicht ist Ihr Herz ja größer und weiser, als Sie selbst annehmen. Im Geiste der Grenzenlosigkeit des Herzens und der Liebe können wir das Feld der Liebenden Güte so weit ausdehnen, daß es auch unsere Nachbarn und unser Stadtviertel umfängt, unsere Gemeinde und unser Land, unseren Kontinent, die gesamte Welt. Es kann unsere Haustiere umfangen, alle Tiere, alle Pflanzen, alles Leben, die gesamte Biosphäre, alle fühlenden Wesen. Sie können auch sehr gezielt vorgehen, ganz bestimmte Menschen, selbst Politiker, in das Feld Ihrer Liebenden Güte einschließen, auch wenn das ziemlich schwierig sein mag, weil sie überhaupt nicht mit ihnen übereinstimmen, sie verurteilen oder sogar sehr an ihrer Menschlichkeit zweifeln. Um so wichtiger ist es, daß Sie auch diese Menschen einschließen. Da sie Menschen sind, sind sie der Liebenden Güte wert, und vielleicht reagieren sie darauf, indem sie auf eine Weise, die für ihren Verstand völlig unbegreifbar ist, weicher werden. Und vielleicht bewirkt die Übung bei Ihnen ja dasselbe ... Sie können auch ausdrücklich all jene Menschen in das Feld der Liebenden Güte einschließen, die weniger gut dran sind als Sie, die an ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause ausgebeutet oder ausgenutzt werden, zudem all jene, die zu Recht oder zu Unrecht im Gefängnis sitzen, all jene, die ihren Feinden ausgeliefert sind, die im Krankenhaus liegen, oder die krank sind und im Sterben liegen, all jene, die unter chaotischen Verhältnissen oder in Angst leben, die in irgendeiner Art und Weise leiden. Was immer sie in diese Situation gebracht hat, sie möchten genauso wie wir selbst lieber die Leichtigkeit des Wohlergehens erfahren als Krankheit und Zersplitterung. So wie wir 200
wollen auch sie glücklich und zufrieden, heil und gesund, geborgen und frei von Not sein. Wir erkennen also an, daß wir alle aufgrund unseres gemeinsamen Wunsches, glücklich zu sein und nicht zu leiden, miteinander eins sind, und wir wünschen ihnen Gutes: Mögen alle Wesen nah und fern sicher und geborgen sein und frei von innerer und äußerer Not. Mögen alle Wesen nah und fern glücklich und zufrieden sein. Mögen alle Wesen nah und fern soweit nur irgend möglich gesund und heil sein. Mögen alle Wesen nah und fern die Leichtigkeit des Wohlbefindens erfahren ... Und wir müssen es nicht dabei belassen. Warum sollten wir nicht die gesamte Erde in das Feld der Liebenden Güte einbeziehen? Warum sollten wir nicht auch die Erde umfangen, die unser Heim ist, die ein eigener Organismus ist, die in gewisser Weise ein Körper ist, ein Körper, der durch unser bewußtes oder unbewußtes Tun auf eine Weise aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann, welche eine große Gefahr für das Leben darstellt, das sie erhält, und für die Intelligenzen, die in all diese Aspekte des Lebens, die tierischen, die pflanzlichen und die mineralischen, eingebettet sind und in der freien Natur so nahtlos miteinander agieren? So können wir also das Feld des liebenden Herzens, unsere Liebende Güte, so weit ausdehnen, daß es auch den Planeten als Ganzes umfängt und darüber hinaus das gesamte Universum, in dem der Planet Erde nicht mehr ist als ein Atom und wir ... noch nicht einmal ein Quark.19 Möge unser Planet und das ganze Universum sicher und geborgen sein und frei von innerer und äußerer Not. Möge unser Planet und das ganze Universum glücklich und zufrieden sein. Möge unser Planet und das ganze Universum gesund und heil sein. Möge unser Planet und das ganze Universum die Leichtigkeit des Wohlbefindens erfahren. Es mag Ihnen ein wenig komisch, vielleicht sogar animistisch vorkommen, dem Planeten Erde und dem gesamten Universum Glück zu wünschen, doch warum sollten wir das nicht tun können? Ob wir nun von einzelnen Menschen sprechen oder vom gesamten Universum - das, worauf es am Ende ankommt, ist, daß wir unser Herz auf Einbeziehen und Einschließen ausrichten statt auf Abtrennen und Ausschließen. Was immer die Konsequenzen für andere, für den Planeten Erde, für das Universum oder für irgendeine der Ebenen dazwischen sein mögen, letztlich ist es unsere Bereitschaft, uns auf diese Weise im wörtlichen und im übertragenen Sinne auszuweiten, die Reichweite unseres Herzen auszudehnen, die tiefgreifende Konsequenzen für unser eigenes Leben hat sowie für unser Vermögen, auf eine Weise in dieser Welt zu leben, die Weisheit und Mitgefühl, Liebende Güte und Gleichmut verkörpert und letztlich die Freude zum Ausdruck bringt, die darin liegt, am Leben zu sein, sowie die grenzenlose Freude, die darin enthalten ist, uns von all unseren Konditionierungen des Geistes und des Herzens 201
sowie von dem Leiden, welches diese Konditionierungen mit sich bringen, zu befreien. Das in der Meditation der Liebenden Güte zu tun, bedeutet, die Befreiung des Herzens zu praktizieren, hier und jetzt, jetzt und immer. Ohne Zweifel wird die Welt geläutert und erzielt Nutzen, wenn auch nur ein einziges Individuum eine solche Absicht bekundet. Und die Beziehungen in der Struktur der Wirklichkeit und im Netzwerk allen Lebens verschieben sich geringfügig, aber nicht unerheblich durch unsere Offenheit und Bereitschaft, von allem Groll und aller Böswilligkeit, die wir gehegt haben mögen, abzulassen, für wie gerechtfertigt wir diese auch gehalten haben. Gleichzeitig werden wir, die wir aus der Erde, aus dem Lebensstrom, dem Universum heraus entstanden sind, durch unsere Treue zu einer solchen Praxis und zur tiefsten Natur unseres Herzens irgendwie gesegnet und gereinigt und heil gemacht, durch die Großzügigkeit der Geste der Praxis Liebender Güte aus ihr selbst und ihrer Wirkung auf das Herz heraus, das wenigstens einen Moment lang nicht mehr willens ist, weiterhin Groll und Böswilligkeit zu hegen. So sind denn wir selbst die ersten, die davon profitieren, wenn wir uns dazu entschließen, die Liebende Güte formell oder informell, und sei es auch nur ein wenig, zu praktizieren.
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Bevor du weißt, was Güte wirklich ist, mußt du Dinge verlieren, mußt fühlen, daß die Zukunft sich in einem Moment auflöst, wie Salz in einer verdünnten Brühe. Was du in der Hand gehalten hast, was du gezählt und sorgsam gespart hast, all das muß gehen, damit du weißt, wie einsam die Landschaft sein kann zwischen den Bereichen der Güte. Wie du fährst und fährst und denkst, der Bus wird niemals anhalten, und die Passagiere, die Mais und Hühnchen essen, werden für immer aus dem Fenster starren. Bevor du die zärtliche Schwerkraft der Güte kennenlernst, mußt du gereist sein, wo der Indianer in einem weißen Poncho tot am Straßenrand liegt. Du mußt sehen, daß du das hättest sein können, daß auch er jemand gewesen ist, der voller Pläne durch die Nacht gereist ist, und du mußt den einfachen Atem kennen, der ihn am Leben erhielt. Bevor du die Güte als das Tiefste im Inneren kennst, mußt du den Kummer als das andere Tiefste kennen. Du mußt aufwachen mit Kummer. Du mußt dazu sprechen, bis deine Stimme den Faden allen Kummers aufnimmt und du die Größe des Tuchs erkennst. Dann ist es nur noch Güte, die noch irgendeinen Sinn macht, nur Güte, die deine Schuhe zubindet, und die dich hinausschickt in den Tag, Briefe abzuschicken und Brot zu kaufen, nur Güte, die ihren Kopf hebt aus der Menge der Welt, um zu sagen: Ich bin es, nach der du gesucht hast, und die dann überallhin mit dir geht, wie ein Schatten oder ein Freund. NAOMI SHIHAB NYE, „KINDNESS“
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Mache ich es richtig? Es ist nur natürlich, daß wir eine solche Frage stellen, wenn wir uns einer neuen Unternehmung widmen, bei der wir durch Lernen Fortschritte machen. Natürlich möchten wir überprüfen und herausfinden, ob wir die Sache richtig machen, was immer „die Sache“ sein mag, und welche Wegweiser und Orientierungszeichen wir am Wegesrand vorfinden, um ablesen zu können, daß wir tatsächlich vorankommen und nicht in irgendeinem Brackwasser herumdümpeln oder endlos im weiten Ozean des Geistes im Kreis fahren, daß wir Fortschritte machen, daß wir irgendwohin gelangen, und zwar an ein wünschenswertes Ziel, und daß wir zumindest ein wenig liebevoller, gütiger, ruhiger und achtsamer werden. Und natürlich möchten wir auf unserem Weg eine Bestätigung und Rückversicherung finden, daß das, was wir fühlen, das ist, was wir fühlen sollten, daß das, was geschieht, das ist, was geschehen sollte, daß es „normal“ ist und nicht ein Anzeichen für Inkompetenz oder dafür, daß wir in die falsche Richtung gehen und uns auf unserem Weg vielleicht ungewollt alle möglichen schlechten Gewohnheiten angewöhnen. Wenn wir die Meditation instrumentell betrachten, als eine Fertigkeit, die sich entwickelt, während wir daran arbeiten, dann ist es in der Tat sinnvoll, wissen zu wollen, ob wir es richtig machen. Und es gibt tatsächlich Hinweise auf dem Weg: etwa ein stärkeres Gefühl der Stabilität und der Ruhe, was unsere Aufmerksamkeit angeht; die Fähigkeit, länger zu sitzen und sich dabei zunehmend wohl zu fühlen; tiefe Einsicht und mehr Gleichmut angesichts dessen, was uns widerfährt; die Fähigkeit, dem, was im Feld unseres Gewahrseins auftaucht, sofort und unmittelbar zu begegnen; das Komische daran zu sehen, daß wir alles so furchtbar ernst nehmen, insbesondere alles, was mit unserem Selbstbild und unseren Anhaftungen zu tun hat. Vielleicht entdecken wir in uns ja auch den Wunsch und einen gewissen Enthusiasmus, mehr zu praktizieren, finden die Bereitschaft, uns Dinge genauer anzusehen, die wir normalerweise nicht so gern ansehen, und finden mehr Gewahrsein dafür, wie unser Geisteszustand sich auf uns selbst und auf andere auswirkt. Es mag Ihnen auch auffallen, daß Sie den Zauber und die Beschaffenheit der Welt der Sinne immer intensiver und differenzierter erfahren. Es mag sein, daß Sie sich spontan als besser im Körper verankert empfinden: mehr in Kontakt mit Ihrer Haut, mit der Haltung des Körpers und mit dem Gefühl, daß die Atmung den ganzen Körper erfaßt. All diese und noch viele andere Orientierungshilfen stehen bereit, und Sie werden sie erkennen, wenn Sie einfach weiterüben, ob Sie nun wollen oder nicht, ob Sie sich danach fühlen oder nicht, und wenn Sie eine lebenslange Herausforderung aus der Meditation machen und sich ihr für Ihr ganzes Leben verschreiben. Wenn Sie das große Glück haben, mit einem guten Lehrmeister arbeiten zu können, dann kann er oder sie Ihnen sagen, ob Sie „es richtig machen“, kann Ihre Erfahrungen bestätigen und kann Ihnen Vorschläge machen, wie Sie mit den Myriaden Erfahrungen umgehen können, die unweigerlich im Laufe eines Lebens und während der Übung von Achtsamkeit auftreten. Aber es gibt noch eine andere Antwort auf die Frage und den Gedanken: „Mache ich 204
es richtig?“, an die Sie denken sollten, wenn sie in ihrem Geist auftaucht und zu Sorgen, Zweifel oder Verwirrung führt. Und diese Antwort basiert auf der nichtinstrumentellen Natur der Meditationspraxis, zu der gehört, daß es bei der Meditation nicht darum geht, anderswohin zu gelangen, sondern einfach nur dort zu sein, wo Sie bereits sind, und es zu wissen. So gesehen machen Sie alles richtig, wenn Sie in Gewahrsein verweilen, ganz gleich, was Sie erfahren und ob es angenehm, unangenehm oder neutral ist. Wenn Sie sich langweilen und dessen gewahr sind, dann machen Sie es richtig. Wenn Sie Angst haben und dessen gewahr sind, dann machen Sie es richtig. Wenn Sie verwirrt sind und dessen gewahr sind, dann machen Sie es richtig. Wenn Sie deprimiert sind und darum wissen, dann machen Sie es richtig. Wenn Ihr Denken niemals zur Ruhe kommt und im gegenwärtigen Augenblick ein Gewahrsein dessen vorhanden ist und Sie dieses Wissen sein können, statt sich von den aufgewühlten Gedanken davontragen zu lassen, dann machen Sie es richtig. Und wenn Sie tatsächlich von den Gemütsbewegungen und der Vermehrung der Gedanken und Hirngespinste und dem Wasserfall des denkenden Geistes davongetragen werden und ein Gewahrsein dessen vorhanden ist und Sie in diesem Augenblick dieses Wissen sein können, dann machen Sie es ebenfalls richtig. Tatsächlich gibt es nichts, was Sie tun könnten oder was Ihnen widerfahren könnte, das es nicht wert wäre, ein Teil Ihrer Praxis zu sein, wenn Sie nur dessen gewahr sein und sich vertrauensvoll diesem Verweilen im Gewahrsein überlassen können, statt unablässig in den Tumult, die Gemütsbewegungen, das Festhalten, das Annehmen oder Zurückweisen dessen, was auftaucht, verstrickt zu sein. Natürlich kann es jederzeit zu einer gravierenden Vermischung von Dukkha und Verblendung kommen, wenn Sie das Gewahrsein verlieren und sich in ungeschickte und schädliche Handlungsweisen verstricken, die aus Ihrem Unwohlsein, Ihrer Angst oder anderen schädlichen Geisteszuständen entspringen könnten, wenn Sie sich zu sehr und ohne jedes Gewahrsein damit identifizieren. In Momenten, in denen das Gewahrsein verdunkelt oder verschleiert wird, können wir den Kontakt verlieren, völlig neben uns stehen und vergessen, wer wir in unserer ganzen Fülle sind. In solchen Momenten kann es sein, daß wir etwas tun, womit wir uns selbst schaden, ganz zu schweigen von dem Unheil, das wir für andere anrichten können. Doch selbst in solchen Situationen ist Gewahrsein immer zugänglich. Es gibt keine Situation, in der die Praxis nicht anwendbar wäre. Es ist jedoch sehr viel geschickter, wenn wir allmählich lernen, das Auftauchen solcher potentiell schädlichen und zerstörerischen Dinge in unserem Geist und in unserem Handeln frühzeitig zu erkennen. Dann können wir sie mit vollem Gewahrsein im gegenwärtigen Augenblick umfangen und uns entschließen, diesen Augenblick zu einem Neuanfang zu machen, zu einer neuen Gelegenheit, uns schädlichen und destruktiven Tuns zu enthalten und fest in dem zu stehen, was wir sind. Ihr Gewahrsein ist ein sehr weiter Raum, in dem Sie sich zu Hause fühlen können. Es ist immer für Sie da als Verbündeter, Freund, als Heiligtum und als Zuflucht. Und es ist niemals nicht vorhanden, es ist nur manchmal verschleiert. Aber darum zu wissen, ist etwas sehr Subtiles. Wir müssen den Bereich des Gewahrseins immer wieder aufsuchen, und sei es auch nur für kurze Zeit. Ausrichten und aufrechterhalten, ausrichten und aufrechterhalten, ausrichten und aufrechterhalten. Wenn Sie in Ihren Zweifeln, in Ihrem Unglück, in Ihrer Verwirrung, in Ihrer Angst, in Ihrem Schmerz das Gewahrsein 205
anrufen, dann sind diese Geisteszustände nicht mehr die „Ihren“. Sie sind einfach Wetterlagen im Geist und im Körper. Jene Dimension von „Ihnen“, die bereits weiß, daß Sie zweifeln, daß Sie unglücklich, verwirrt, voller Angst, Schmerz oder Abscheu sind, ist keines von diesen Dingen; sie ist bereits völlig heil und in Ordnung. Sie wird niemals nicht das sein, was Sie in Wirklichkeit und auf der grundlegendsten Ebene sind. Wenn Sie sich also daran erinnern, daß das nichturteilende Gewahrsein in diesem Augenblick immer eine Option ist, wenn Sie lernen, darauf zu vertrauen, und wenn Sie es von Zeit zu Zeit besuchen oder gar längere Zeit darin verweilen, dann „machen“ sie es nicht nur „richtig“, sondern dann gibt es in Wirklichkeit kein Machen und hat es nie ein Machen gegeben und auch niemanden, der etwas macht. Es geht hier nicht darum, etwas zu tun, und es ging auch nie darum. Es geht darum, zu sein - und das Wissen zu sein, einschließlich des Wissens des Nichtwissens. Sind die beiden denn verschieden? Lassen Sie uns einen Moment lang bei dieser Frage verweilen.
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Häufige Hindernisse auf dem Weg zur Meditation Das häufigste Hindernis für die Praxis der Meditation ist, daß Sie keine Lust haben zu üben. Ein Teil von Ihnen sagt sich vielleicht, daß es sicher ganz gut wäre, wenn Sie es täten, aber sobald der Impuls zu üben als flüchtiger Gedanke oder Gefühl auftaucht, stellen sich sofort alle möglichen anderen Gedanken ein, die Ihnen sagen: „Nicht jetzt“ oder „Keine Zeit“ oder „Ich wollte doch noch das Buch lesen“ oder „Ich muß unbedingt noch XY anrufen“ oder „Es ist Zeit, daß ich etwas esse“ oder „Ich habe momentan einfach zu viel Arbeit“ oder „Ich werde später üben“ oder „Morgen fange ich bestimmt damit an“ oder „Ich werde einfach bei dem, was ich gerade tue, achtsam sein“. Der Geist sondert immer irgendwelche Gedanken ab, die den ursprünglichen Impuls umlenken oder uns davon ablenken können. Deshalb sind Ausrichtung und Motivation so wichtig. Meditation ist eine Disziplin, und diese Disziplin wird uns wohltun, wenn wir üben, ob es uns gerade gefällt oder nicht, und ganz gleich, mit welcher Art von Propaganda unser Geist uns berieselt, um uns von unserer Absicht abzubringen. Wenn Sie also den Wunsch haben, in Ihrem Alltag mit Hilfe der formellen Praxis Übung Achtsamkeit zu entwickeln und zu verfeinern - und wenn diese Praxis etwas Neues für Sie ist und Sie noch nicht die Disziplin des regelmäßigen Übens entwickelt haben, oder wenn die Übungsdisziplin sich im Laufe der Jahre verflüchtigt hat oder schal und künstlich geworden ist -, dann mag es tröstlich für Sie sein zu hören, dass es leicht ist, eine solche Praxis zu etablieren oder wieder aufzunehmen, wenn Sie sich dazu entschließen, früher aufzustehen und sich Zeit für sich selbst zu nehmen, bevor die anderen Tätigkeiten und Verpflichtungen des Tages die Oberhand gewinnen und Ihre gute Absicht zunichte machen. Denken Sie nur: Sie können Zeit für sich allein haben Zeit, die Sie nicht mit irgend etwas anfüllen und mit der Sie nichts anfangen müssen, in der Sie einfach in Ihrer eigenen guten Gesellschaft sein, in der Sie ausruhen und sich mit der Entfaltung des Lebens und der Art, wie es von Moment zu Moment in Ihrem eigenen Körper, Geist und Herz zum Ausdruck kommt, vertraut machen können. Natürlich beschränken die Hindernisse für die Übung der Meditation sich nicht darauf, dass etwas Sie daran hindert, anzufangen. Sobald Sie auf dem Kissen sitzen (womit hier jede Form der Meditationspraxis gemeint ist), kann es leicht geschehen, daß Sie von Ihrer Absicht, für das präsent zu sein, was sich im Augenblick entfaltet, abgelenkt werden. Zunächst einmal kann der Körper unruhig oder zappelig sein, geplagt von kribbelnden und juckenden Empfindungen oder von unwiderstehlichen Impulsen, sich zu bewegen und herumzurutschen. Das ist alles kein Problem. Das sind nur vorübergehende Stadien, die der Körper durchläuft. Mit etwas Übung können wir diese Empfindungen, wenn wir sie als bloße Empfindungen sehen und erkennen, genauso wie andere Empfindungen im Körper leicht und sanft im Gewahrsein halten, insbesondere dann, wenn wir ihnen nicht durch erregte Gedanken im Geist, der sie ständig beurteilt, gegen sie ankämpft, sie verändern oder sich ihnen ergeben will, noch mehr Nahrung geben oder uns Dinge sagen wie „Ich wußte doch, daß ich einfach nicht zum Meditieren geschaffen bin“ oder „Das beweist mal wieder, daß Meditation schiere Tortur ist, ein 207
masochistisches Unterfangen für Menschen, die noch nicht genug Probleme in ihrem Leben haben“. All das ist natürlich blanker Unsinn – es ist nichts als ein reaktives Gezappel des Denkens, das wir auf das reaktive Gezappel des Körpers noch draufpacken. Sobald Sie sich in der Stille unterhalb dieser Oberflächenwellen des Geistes niederlassen und vertraut werden mit der Topologie der inneren und äußeren Landschaften Ihres gesamten Seins - mit der Körperlandschaft, der Landschaft des Geistes, der Landschaft des Jetzt, der Luftlandschaft, den Landschaften der Sinne –, beruhigt sich das, was Sie an der Praxis hindert, um schließlich ganz zu verschwinden. Wenn sie dannnach einer Weile doch von Zeit zu Zeit wieder auftauchen, dann sehen und erkennen wir sie einfach als unterschiedliche körperliche und geistige Zustände. Es gibt immer Millionen Gründe dafür, nicht zu üben, wie man im Hier und Jetzt präsent ist. Doch wenn wir im Gewahrsein verweilen und nur dieses Wissen sind, dann sehen wir bald, daß auch diese Zustände, ebenso wie alle anderen Phänomene im Reich der Erfahrung, nicht lange dauern. Wenn Sie sich allerdings noch in den Anfangsstadien der Entwicklung einer Achtsamkeitspraxis befinden, dann könnten Sie, wenn die körperlichen Empfindungen wirklich sehr schlimm sind, zuerst einmal mit YogaÜbungen beginnen und sich dann allmählich an die Stille herantasten, entweder im Sitzen oder im Liegen oder Stehen. Denn wie ich gerade schon angedeutet habe, kann der Geist ebenso zappelig sein wie der Körper. Es kann gut sein, daß Sie zwischen Ungeduld und Erregung, Ungeduld und Erregung, Ungeduld und Erregung hin und her schwanken. Sie verstehen, was ich meine. Auch solche Zustände sind kein Problem. Sie sind bloße Gewohnheiten des Geistes, und wenn wir sie zusammen mit dem Atem und jedem anderen Objekt, das in das Feld unseres Gewahrseins einzuschließen wir uns entschlossen haben, betrachten, dann werden sie im allgemeinen bald als das gesehen, was sie sind, nichts weiter als unpersönliche Geisteszustände. Und sie beginnen sich aufzulösen, wenn wir ihnen nicht dadurch Nahrung geben, daß wir gegen sie ankämpfen und uns wünschen, sie mögen verschwinden. Sie können sogar für sich genommen als wichtige, ja in der Tat äußerst hilfreiche Objekte der Meditation dienen. Es könnte sogar sein, daß Sie mit Ihrer Ungeduld und Ihrer Erregung Freundschaft schließen. Sich auf diese Weise mit den Phänomenen vertraut zu machen und dadurch einen engen Bezug zu ihnen zu haben, das ist die Meditationspraxis und führt zu Gleichmut, ohne daß wir irgend etwas vertreiben müßten. Es ist jenseits und unabhängig von Bedingungen und Konditionierungen und ist deshalb Freiheit. Schläfrigkeit kann sich ebenfalls wie ein gravierendes Hindernis für die Praxis anfühlen, wie wir bei der Übung im Liegen gesehen haben. Doch wenn Sie es mit der Meditation wirklich ernst meinen, dann ist auch Schläfrigkeit kein großes Problem. Wenn Sie allerdings an totalem Schlafentzug leiden, dann sollten Sie versuchen, etwas mehr Schlaf zu bekommen, bevor Sie sich daranmachen, eine Meditationspraxis zu entwickeln. Wenn dem Geist der Schlaf entzogen wird, wird er leicht ein wenig verrückt und verliert den Überblick. Das beste Mittel dagegen ist Schlaf. Wenn Sie jedoch auch ohne Schlafentzug jedesmal einschlafen, wenn Sie sich zum Üben hinsetzen, dann ist alles, was Sie tun können, um Ihre Praxis zu unterstützen, sinnvoll. Sie können sich Gesicht und Nacken mit kaltem Wasser benetzen, bevor Sie sich auf Ihr Kissen setzen, Sie können vorher kalt duschen, Sie können mit offenen 208
Augen sitzen oder im Stehen üben. Wenn Sie wirklich in Ihrem Leben und für Ihr Leben aufwachen wollen, dann werden Sie gute Mittel und Wege finden, diese Absicht zu stärken und es dazu kommen zu lassen. Wenn ich schläfrig werde, während ich spät in der Nacht mit dem Auto unterwegs bin, und nichts zu helfen scheint, nicht einmal laute Rockmusik aus dem Radio oder frische Luft, und wenn es im Moment gerade nicht angeraten ist, einfach anzuhalten, dann gebe ich mir selbst eine kräftige Ohrfeige, wenn nötig auch mehrmals. In einer solchen Situation kann das in der Tat ein Akt der Weisheit und des Mitgefühls sein. Bei der Meditation stellt sich letztlich die Frage, ob wir bereit sind, so zu üben, als hinge unser Leben davon ab. Ein anderes häufiges Hindernis für die authentische Praxis ist eine Idealisierung der Übung – wenn man sich zum Beispiel überhöhte Maßstäbe setzt und dann aus der Übung einen Kraftakt macht, fast einen Akt der Aggression mit wenig oder gar kein Mitgefühl mit sich selbst und ohne jeden Sinn für Humor. Denken Sie daran, daß die Achtsamkeitspraxis ein radikaler Akt der Liebe ist, daß Mitgefühl und Selbsterbarmen also zu ihren Grundlagen gehören. Wenn wir mit uns selbst und den Erfahrungen, die wir jetzt gerade machen, nicht freundlich und verständnisvoll umgehen können, wenn wir ständig irgendwelche anderen und besseren Erfahrungen haben wollen, um uns selbst oder andere davon zu überzeugen, daß wir uns „entwickeln“, daß wir zu einem besseren Menschen werden, dann sollten wir die Meditation wohl besser aufgeben. Wir werden uns dann nämlich nur unnötig unter Druck setzen und uns selbst das Leben schwermachen, und dann werden wir der Meditation schließlich vorwerfen, sie funktioniere nicht, wenn es doch in Wirklichkeit einfach so ist, daß wir schlicht nicht willens sind, mit den Dingen zu arbeiten, wie sie sind, wie wir sie vorfinden, wenn wir uns nicht so akzeptieren mögen, wie wir sind. Wenn wir derart gewaltsam nach etwas streben, dann kann manchmal der Eindruck entstehen, daß „etwas in Bewegung kommt“, daß wir“Fortschritte machen“ und mit unserer Übung „etwas erreichen“. Aber wenn wir uns selbst nicht akzeptieren und kein Mitgefühl mit uns selbst haben, dann sind diese Verkrampfung und dieser Zwang nicht gerade eine geschickte und weise Motivation für die Erkundung von Stille, und selbst wenn wir damit eine beträchtliche Konzentration und Stabilität des Geistes entwickeln mögen, wird die Weisheit sich uns entziehen, denn sie ist nicht etwas, was man „erwerben“ könnte, sondern sie ist eine Art, zu sehen und zu sein, die von selbst in uns wächst, wenn die Umstände stimmen. Der Acker tiefer Meditationspraxis braucht den Dünger tiefer Selbstakzeptanz und tiefen Selbsterbarmens. Aus diesem Grund ist ein freundlicher Umgang mit uns selbst nicht etwa Luxus, sondern eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß wir zur Besinnung kommen. Härte und Ehrgeiz führen dagegen letztlich nur zu Unbewußtheit und Gefühllosigkeit und weiterer Zersplitterung, wo die Meditation uns doch eigentlich die Gelegenheit geben soll zu erkennen, daß wir bereits heil und völlig in Ordnung sind. Im Grunde gibt es unendlich viele Hindernisse für die Übung. Aber alle Hindernisse, die vorhergesehenen wie die unerwarteten, werden zu Verbündeten, wenn wir sie mit Gewahrsein umfangen. Wenn wir sie als das erkennen, was sie sind, und sie einfach als Teil der Landschaft des Jetzt dasein lassen – weder etwas Gutes, noch etwas Schlechtes –, dann können sie unserer Übung Nahrung geben, statt sie zu behindern.
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Wenn deine Augen müde sind, ist die Welt ebenfalls müde. Wenn deine Vision dahin ist, kann kein Teil der Welt dich finden. Zeit, sich ins Dunkel zu begeben, wo die Nacht Augen hat, um ihresgleichen zu erkennen. Dort kannst du sicher sein, daf du nicht jenseits von Liebe bist. Das Dunkel wird dein Mutterschoß sein heute Nacht. Die Nacht wird dir einen Horizont geben, der weiter ist, als du sehen kannst. Eine Sache muft du lernen: Die Welt wurde gemacht, damit du frei bist in ihr. Gib alle anderen Welten auf, außer der, zu der du gehörst. Manchmal bedarf es der Dunkelheit und der süßen Beschränkung deines Alleinseins, damit du lernst, daf alles, was dich nicht lebendig macht, zu klein für dich ist. DAVID WHYTE, „SWEET DARKNESS“
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Stützen für die Praxis Schließlich und endlich sind die Qualität Ihre Motivation sowie die Entschlossenheit, mit der Sie die Sache angehen, die wichtigsten Stützen für Ihre Achtsamkeitspraxis. Noch so viele äußere Hilfen können kein Ersatz für dieses innere Feuer sein, für diese stille Leidenschaft für ein Leben, das so gelebt wird, als käme es wirklich auf uns an, und in dem uns bewußt ist, wie leicht wir große Teile unseres Lebens an Unbewußtheit, automatische Reaktionen und unsere tiefen Konditionierungen verlieren. Darum halte ich die Menschen, die mit mir zusammen üben, immer so dringlich dazu an, so zu üben, als hinge ihr Leben davon ab. Nur wenn Sie wissen, daß dem so ist, oder wenn Sie es zumindest ahnen, werden Sie genug Energie haben, um auch dann zu sitzen, wenn Sie sich gerade nicht danach fühlen, und nur dann werden Sie sich diese Unendlichkeit zeitloser Augenblicke unabhängig davon, wie lange Sie der Uhr nach sitzen, wirklich zu eigen machen und sie ausschöpfen können, und zwar ganz ohne daß Sie etwas tun müßten. Nur wenn Sie wissen oder zumindest ahnen, daß Ihr Leben tatsächlich von Ihrer Meditationspraxis abhängt, werden Sie genügend Motivation und Energie haben, um früher aufzustehen, als Sie es sonst tun würden, damit Sie ungestört etwas Zeit für sich haben – Zeit, die für nichts anderes eingeteilt ist und in der Sie einfach nur sein können, eine Zeit außerhalb der Zeit –, oder werden Sie bereit sein, irgendeine andere Tageszeit, die Ihnen besser geeignet scheint, als sakrosankte Zeit für die Übung zu bestimmen. Nur dann werden Sie auch an Tagen praktizieren, an denen ziemlich viel los ist, und nur dann werden Sie Ihr ganzes Leben zur wahren Übung machen können, so daß es nicht einfach darum geht, sich Zeit für das regelmäßige Üben zu nehmen, sondern um die Bereitschaft, jedem Augenblick mit Achtsamkeit zu begegnen, ganz gleich, was Sie gerade tun oder was los ist, so daß es sich allmählich eher so anfühlt, als machte die Übung Sie, als daß Sie die Übung machten. All das kommt nach und nach von selbst, und Sie müssen sich immer weniger um die Übung bemühen, sie wird immer natürlicher zu der Weise, wie Sie leben möchten. Doch der Eifer und die Leidenschaft für diesen radikalen Akt, der in unserer gehetzten, von Zeitnot getriebenen und von einem Meer der Ablenkungen und Anforderungen überschwemmten Epoche so ungewöhnlich ist, sind unerläßlich, wenn wir den Schwung der Praxis aufrechterhalten und uns der Befreiung von der Unbewußtheit und dem Leiden, das diese unvermeidlich mit sich bringt, verpflichten wollen. Wenn wir das verstanden haben, dann gibt es außerdem noch zahllose Möglichkeiten, um diese stille Leidenschaft für die Wachheit und die Entschlossenheit, frei von unseren Konditionierungen zu leben, zu stärken und zu stützen. Wir können damit beginnen, wahrzunehmen, wie sehr wir buchstäblich von Moment zu Moment im Griff der Konditionierung sind, und können durch das bloße Sehen und Erkennen dieser Konditionierung bereits Schritte zur Loslösung daraus unternehmen. Wir können uns bewußt sein, daß wir in jedem Augenblick an einem Scheideweg stehen, und können unsere Sinne und unsere Sensibilität verfeinern, unsere Fähigkeit steigern, die Hindernisse und Fallgruben zu umschiffen, die in jedem Augenblick gegeben sind, auf daß wir erfahren, wie wir allmählich instinktiv und fließend auf Klarheit, Ruhe und Nicht-anhaften hinsteuern, ganz gleich, wie steinig der Weg zu sein scheint und wie 211
viele Hindernisse uns unterwegs begegnen. Das Wichtigste ist, daß wir uns daran erinnern, daß es nicht nur eine einzige richtige Art zu üben gibt, daß wir die Übung letztlich zu unserer eigenen machen oder vielmehr zulassen müssen, daß sie allmählich zu unserer eigenen wird, indem wir bereit sind, uns der Übung hinzugeben und sie zu unserem Lehrer werden zu lassen. In Wirklichkeit ist es das Leben selbst, das dann zum Lehrer und zum Lehrplan wird. Wenn Sie aufmerksam sind und die Augen offenhalten, werden Sie immer wieder sehen, daß das Leben ein ganz außerordentlicher Lehrmeister ist, selbst in den gewöhnlichsten Momenten und bei den alltäglichsten Ereignissen. Und unser „Klassenzimmer“ ist die gesamte Landschaft der inneren und äußeren Welt, die Landschaft der Sinne, die Landschaft des Geistes, die Landschaft des Jetzt und alles, was geschieht – alles ohne Ausnahme –, sowie die Leere, die Stille und die Fülle, die all das enthält. In dieser Welt gibt es keine Hindernisse für die Übung, nur scheinbare Hindernisse. Es gibt keinen Ersatz für den Eifer und die Leidenschaft, mit denen Sie darangehen, das Leben voll und ganz und voller Dankbarkeit zu leben. Und wenn Sie der einzige Mensch auf dem Planeten wären, der Achtsamkeit kultiviert, so wäre das kein Grund, es aufzugeben, auch wenn das ein ziemlich entmutigender Gedanke wäre. Tatsächlich wäre das sogar noch ein Grund mehr, sich darin zu schulen. Zum Glück gibt es Millionen Menschen auf dieser Erde, die sich der Übung von Achtsamkeit und einem Leben in Gewahrsein verpflichtet haben, und in jedem einzelnen Augenblick gibt es Millionen von Menschen, die gerade sitzen. Das ist eine der stärksten Stützen der Praxis – zumindest habe ich das immer so empfunden. Wenn Sie sich also, wo auch immer, zur Meditation hinsetzen, dann können Sie sich dessen bewußt sein, daß Sie nicht allein sind. Sie klinken sich in ein stilles Gegenwärtigsein ein, das keine Grenzen kennt, das kein Zentrum und keine Peripherie hat. Sie schließen sich einer sehr großen Gemeinschaft von verwandten Seelen an, die alle Ihre Begeisterung für Wachheit und Befreiung teilen. Und es werden täglich immer mehr Menschen, die auf einem der vielen Wege, die heute, anders als in der Vergangenheit, zur Verfügung stehen, zur Meditationspraxis finden. Wie wir früher schon beiläufig erwähnt haben, nennen die Buddhisten diese Gemeinschaft von Menschen, die dem Dharma verpflichtet sind, den Sangha. Ursprünglich bezeichnete dieser Begriff die Gemeinschaft der Mönche und Nonnen, die dem weltlichen Leben entsagt hatten, um den Lehren Buddhas zu folgen. Und das ist auch heute noch eine der wichtigen Bedeutungen von „Sangha“. Doch heute hat das Wort eine breitere Bedeutung bekommen und bezeichnet all jene, die sich einem Leben der Achtsamkeit und Gewaltlosigkeit verpflichtet haben. Wenn wir nur den geringsten Antrieb zur Praxis verspüren, dann sind wir gewissermaßen alle Teile des Sangha, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Er ist keine Organisation, der man beitritt, er ist eine Gemeinschaft, der man kraft der eigenen Verpflichtung und Leidenschaft und Fürsorge angehört. Und diese Verbindung zu haben, kann an sich schon eine enorme Stütze der eigenen Praxis sein. Ein Bild, das mich sehr anspricht, ist, daß wir alle Blätter desselben Baums sind. Ein jeder von uns hat seinen ganz eigenen Standort und seinen eigenen Blickwinkel von diesem Standort aus. Ein jeder von uns ist eine Ganzheit, und die Ernährung und das Überleben des ganzen Baumes hängt von jedem seiner Blätter ab, wie umgekehrt jedes Blatt von ihm. Wir sind zugleich ein Ganzes und Teil eines viel größeren Ganzen, ja im 212
Grunde von ins Unendliche verschachtelten Ebenen der Ganzheit. Wie immer wir auch zur Meditationspraxis gekommen sind oder zur Praxis kommen werden – es ist eine Tatsache, daß wir sie nicht erfunden haben. Sie wurde uns überliefert, so daß wir damit experimentieren und. sie für uns selbst erkunden können, und wir sollten das mit der größten Integrität und Hochachtung für das tun, was uns geschenkt wurde und für all den Einsatz, das Leiden und die Genialität, die dahinterstehen. Es gibt eine lange, über Jahrtausende zurückreichende Linie von Frauen und Männern, die dem Dharma und der Weisheit verpflichtet waren. Sie sind die „unbekannten Lehrmeister“, von denen Yeats spricht, und wenn wir es mit einer authentischen Übertragungslinie zu tun haben, werden wir wahrscheinlich immer wieder voller Dankbarkeit sein für das Erbe, mit dem sie uns ausgestattet hat. Viele der Menschen, die solchen Linien angehören, haben uns Aufzeichnungen über ihre Erfahrungen hinterlassen, so daß wir heute die Möglichkeit haben, uns des Dharma zu bedienen, den sie uns übermittelt haben. Dieses ist ein Geschenk früher Generationen an die späteren, und nie war es für die Menschheit so bitter nötig wir heute. Wir haben das große Glück, in einem Zeitalter zu leben, in dem der universelle Dharma in seinen unterschiedlichen Ausprägungen so leicht zugänglich ist wie nie zuvor. So waren zum Beispiel noch nie so viele Bücher von großen Meditationslehrern, Praktizierenden und Gelehrten zum Thema Meditation verfügbar wie heute. Wir können aus reichen Quellen schöpfen, um uns von großen Lehrern in den unterschiedlichsten Traditionslinien unterweisen zu lassen. Im Literaturverzeichnis am Ende dieses Buches finden Sie eine relativ kurze Liste der Lehrer, die den größten Einfluß auf mein Leben und das Leben meiner Kollegen und Schüler gehabt haben. Auch CDs, Audiokassetten und Videos mit Anleitungen zu Aspekten der Praxis können eine wichtige Hilfe für Ihre Übung sein. Die Hilfsmittel, die ich in meinen Unterweisungen benutze und die als Begleitmaterial zu meinen Büchern entwickelt wurden, werden ebenfalls am Ende des Buches genannt. Aber Hilfsmittel reichen nicht aus, wenn Sie es nicht schaffen, sich mit Ihrem Hintern auf das Meditationskissen zu setzen. Lesen kann eine Inspiration sein, großen Lehrern zu begegnen kann eine Inspiration sein, mit anderen zusammen zu sitzen kann eine enorme Hilfe sein (dazu später noch mehr), aber Sie müssen immer noch selber üben, mit Ihrem Körper, Ihrem Geist, Ihren Umständen. Sie können sich auch zu viele Bücher „reinziehen“; dann sind die Bücher, wie authentisch, inspirierend und hilfreich sie auch sein mögen, nicht viel mehr als Nahrung für Ihr unersättliches Verlangen nach Information und diskursivem Denken. Jedes gute Dharma-Buch kann man mit großem Gewinn wieder und wieder lesen und studieren – indem man sich vielleicht immer nur eine oder zwei Seiten, ein oder zwei Kapitel vornimmt und dann darüber reflektiert und sich ernstlich darum bemüht, das Gelesene in die Praxis umzusetzen. Und dazu mag ein ganzes Leben nötig sein. Die Fülle des zur Verfügung stehenden Materials ist geradezu überwältigend, und es geht hier nicht um Quantität. Schließlich und endlich werden Sie Ihre eigene Reiseroute, Ihren eigenen Weg finden müssen. Wie Sie den Geschichten über Soen Sa Nim und über die Stress Reduction Clinic entnehmen konnten, ist es von großem Nutzen, andere Menschen zu finden, mit denen zusammen Sie üben und mit denen Sie über Ihre Praxis sprechen können. Schon ein 213
einziger Dharma-Freund kann eine enorme Stütze für Ihre Praxis sein, und wie bei allen Beziehungen ist der Nutzen gewöhnlich keine Einbahnstraße. Das heißt mit anderen Worten, daß Sie sich am Ende gegenseitig unterstützen und einander helfen, bestimmte Punkte der Praxis zu klären, indem Sie sich einfach darüber unterhalten. Oft mögen Sie sich gar nicht dessen bewußt sein, daß es Ihrer Übung weiterhilft, aber das ist tatsächlich der Fall. Noch vor zwanzig, dreißig Jahren hätten Sie sich wahrscheinlich schwergetan, selbst in einer großen Stadt eine Meditationsgruppe zu finden. Heute gibt es sie überall. Es gibt nationale und internationale Vipassanā-Netzwerke, die Listen von Meditationsgruppen zur Verfügung stellen. Und es gibt heute auf der ganzen Welt ZenGruppen und Gruppen, die den tibetischen Buddhismus praktizieren. Außerdem gibt es Meditationszentren, in denen Sie an Achtsamkeits-Kursen unterschiedlicher Länge teilnehmen können, von Wochenendseminaren bis zu Klausuren über mehrere Monate. In einigen dieser Zentren gibt es hervorragende Unterweisungen von Lehrern, die ihr Leben dem Dharma gewidmet haben und die Ihre Muttersprache sprechen. Im Zeitalter des Internets ist es kinderleicht, solche Zentren ausfindig zu machen. Und dann sind da die Lehrer selbst. Es kann überaus wertvoll und lehrreich sein, verschiedene Achtsamkeitslehrer aufzusuchen und sich ihren Dharma genau anzuhören. Bei den besten von ihnen, den authentischsten, werden Sie nicht nur von dem profitieren, was sie sagen, sondern auch durch das Beobachten ihres Verhaltens, dessen, was diese Menschen sind – wenigstens in dem Ausmaß, in dem sie es zulassen, gesehen zu werden, wie sie tatsächlich sind. Niemand ist vollkommen, und so kann es helfen zu beobachten, wie sie mit ihren eigenen Gewohnheiten der Unachtsamkeit, des Verlangens und der Aversion umgehen (oder nicht umgehen), wenn diese auftauchen. Denn bei der Praxis geht es nicht darum, so zu tun, als ob, und vorzugeben, daß man irgend etwas erreicht hat. Ein Lehrer muß also nicht unbedingt ohne Makel und Schwächen und jenseits gewöhnlicher Gefühle sein, oder jenseits davon, Fehler zu machen. Es geht darum, daß er echt ist, authentisch ist, nicht an irgend etwas festhält – und vor allem darum, daß sie oder er niemandem schadet und integer, ehrlich und warmherzig ist. Sie können sehr viel lernen, wenn Sie sich ansehen, wie verschiedene Lehrer den einen Dharma präsentieren. Jeder tut es auf seine Art, und es gibt keine beste oder auch nur die eine richtige Art, das zu tun. Wenn Sie verschiedene Lehrer beobachten, wird Ihnen klar, daß Sie unmöglich sich selbst und Ihrem eigenen Pfad treu bleiben können, wenn Sie nur diese Lehrer imitieren oder verehren, auch wenn das in den frühen Stadien der Übung durchaus keine schlechte Sache sein mag. Doch wenn sie wirklich gute Lehrer sind, dann werden sie Abhängigkeit von ihrer Person letztlich nicht ermutigen und werden Sie drängen, Ihren eigenen Weg zu finden, durch fortgesetzte Praxis zu Ihrem eigenen Verständnis zu gelangen und das Leben selbst zum Lehrer werden zu lassen, auch während Sie weiterhin mit ihnen oder anderen Lehrern arbeiten. Der Buddha selbst hat das in den letzten Worten auf seinem Sterbebett betont, mit denen er seinen Sangha ermahnte: „Seid euch selbst ein Licht.“ Letztlich werden Sie feststellen, daß dann, wenn das Leben der wahre Lehrer ist, jedermann in Ihrem Leben zu einem Lehrer wird. Jeder Augenblick und jedes Geschehnis ist dann eine Gelegenheit zum Üben, eine Gelegenheit, über die oberflächliche Erscheinung der Dinge hinauszusehen und Ihre eigenen Neigungen, zu 214
reagieren, sich zu verkrampfen und gefühlsmäßig zu verschließen, zu durchschauen. Zu solchen Reaktionen kommt es besonders dann, wenn die Dinge nicht ganz so laufen, wie Sie es sich wünschen. Diese Gelegenheit bietet sich auch, wenn Sie sich manchmal einbilden, jemand zu sein, oder in Momenten, in denen Sie danach streben oder vorgeben, jemand zu sein; schließlich auch in Momenten, in denen Sie wissen, daß Sie ein Niemand sind, oder wenn die Angst auftaucht, Sie könnten zu einem Niemand werden, oder wenn Ihr Ehrgeiz es für ein Zeichen Ihres spirituellen Status und Ihrer Verwirklichung hält, ein Niemand zu sein. In all diesen Fällen und in vielen anderen kann sich herausstellen, daß Ihr Ehemann oder Ihre Ehefrau, Ihr Partner, Ihre Kinder oder Familienangehörigen, Ihre Freunde und Kollegen oder sogar völlig Fremde Ihre besten Lehrer sind. Es kann die Politesse sein, die Ihnen ein Bußgeld für falsches Parken aufbrummt, der Mann am Fahrkartenschalter, jemand, der Sie auf den Tod nicht leiden kann, einfach jedermann. Und natürlich gilt das auch für alles, was Ihnen widerfährt. Erinnern Sie sich daran, daß wir im letzten Kapitel festgestellt haben, daß es mit der richtigen Motivation keine Hindernisse für die Praxis gibt, sondern nur den Anschein von Hindernissen. Alles ist eine Stütze für Ihre Wachheit, wenn Sie bereit sind, sich aufwecken zu lassen, indem Sie wirklich zur Besinnung kommen. Wirklich alles. Aber das verlangt ein mutiges Herz und einen Geist, der sieht, wie töricht es ist, an irgend etwas festzuhalten. Schließlich und endlich ist immer das Leben der beste Lehrer und der Lehrplan und die Praxis, auch wenn wir ganz außerordentlich von all den Menschen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft profitieren können, die uns ihre Liebe, ihre Weisheit und ihre Einsichten zum Geschenk machen. Letztlich werden wir zurückgeworfen auf unser eigenes persönliches Interesse an Gewahrsein und Befreiung, auf unsere Motivation, unsere Entschlossenheit und unsere Bereitschaft, alles, was uns begegnet, als Gelegenheit zur Vertiefung unserer Hingabe an das Erwachen zu benutzen – ganz gleich, was geschieht und nicht nur für uns selbst, auch wenn es völlig in Ordnung ist, mit uns selbst zu beginnen, sondern in dem Bestreben, durch weises und mitfühlendes Handeln ein Knoten im größeren Netz des Lebens zu sein. Wenn Sie sich auf diese Weise verpflichten, dann können nicht nur die oben angesprochenen Ressourcen zu unverzichtbaren Stützen Ihrer Praxis werden. In gewisser Weise wird dann das gesamte Universum, wie wir im folgenden Teil sehen werden, in Resonanz mit Ihrer neuen Sichtweise und Ausrichtung treten. Aber es wartet darauf, daß Sie den ersten Schritt tun.
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Fünfter Teil
Möglichkeiten der Heilung — Das Reich von Geist und Körper
[Die Menschen) sollten wissen, daß aus dem Gehirn und nur aus dem Gehirn unsere Vergnügungen, Freuden, unser Lachen und unsere Scherze entspringen, ebenso wie unsere Sorgen, Schmerzen, unser Kummer und unsere Tränen. Insbesondere denken wir durch es, wir sehen, hören und unterscheiden das Häßliche vom Schönen, das Schlechte vom Guten, das Angenehme vom Unangenehmen ... Es ist dasselbe Ding, das uns irre werden läßt, das uns Angst und Furcht einjagt, ob bei Tag oder bei Nacht, das uns Schlaflosigkeit bringt, unpassende Fehler, unbegründete Befürchtungen, Geistesabwesenheit und sittenwidriges Verhalten. Diese Dinge, die wir erleiden, kommen alle aus dem Gehirn, wenn es nicht gesund ist, sondern abnorm heil kalt, feucht oder trocken oder irgendeinen anderen unnatürlichen Affekt erleidet, an den es nicht gewöhnt ist. Wahnsinn entsteht aus seiner Feuchtigkeit. Wenn das Gehirn abnorm feucht ist, dann muß es sich bewegen, und wenn es sich bewegt, dann halten weder Sehen noch Hören still, sondern wir sehen oder hören bald das eine, bald das andere, und die Zunge redet in Übereinstimmung mit den bei jeder Gelegenheit gesehenen und gehörten Dinge. Doch wann immer das Gehirn still ist, kann ein Mensch angemessen denken. HIPPOKRATES ZUGESCHRIEBEN (5. JH. V. CHR.) (übersetzt nach Eric Kandel und James Schwartz, Principles of Neural Science)
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Bewußtsein Ist Ihnen schon jemals aufgefallen, daß alles an Ihnen, was vollkommen das ist, was es ist, in diesem Sinne vollkommen ist? Bedenken Sie für einen Augenblick: Wie jedermann sonst wurden auch Sie geboren, haben sich entwickelt, sind aufgewachsen, leben Ihr Leben, treffen Entscheidungen. Die Dinge, die Ihnen widerfahren sind, sind Ihnen widerfahren, ob Sie es so wollten oder nicht. Wenn Ihr Leben nicht unerwartet verkürzt wird, und selbst wenn das geschehen ist, sind Sie mit dem umgegangen, womit Sie umgehen konnten. Sie haben Ihre Arbeit geleistet, haben auf die eine oder andere Weise einen Beitrag geleistet, haben ein Erbe hinterlassen. Sie haben Beziehungen zu anderen und zur Welt gehabt, und vielleicht haben Sie Liebe geschmeckt oder wurden darin gebadet und haben Ihre Liebe mit der Welt geteilt. Sie altern unausweichlich und erreichen, wenn Sie Glück haben, ein höheres Lebensalter und teilen weiterhin Ihr Dasein auf vielfältige Weise, sei sie nun befriedigend oder unbefriedigend, mit der Welt, und schließlich sterben Sie. Das ist jedem Menschen geschehen, der jemals auf diesem Planeten gelebt hat. Und es wird auch Ihnen geschehen. Es wird mir geschehen. So ist das menschliche Leben. Aber das ist noch nicht alles. Der komprimierte Überblick, den ich eben skizziert habe, ist natürlich kläglich unvollständig, auch wenn er nicht als Karikatur gemeint war. Denn es gibt noch ein anderes unsichtbares Element, das mit unserem Leben deckungsgleich und wesentlich für seine Entfaltung ist, das allerdings dermaßen in das Gefüge all unserer Momente eingewoben ist, dass es so offensichtlich ist, daß wir es kaum jemals in Betracht ziehen. Dennoch ist es diese Essenz, die uns nicht nur zu dem macht, was wir sind, sondern uns Fähigkeiten von einem Ausmaß verleiht, das wir nur selten spüren, geschweige denn würdigen und voll verwirklichen. Ich spreche natürlich vom Gewahrsein, von dem, was wir Bewußtsein oder unser Vermögen, zu wissen, nennen, von unserer subjektiven Erfahrung. Schließlich haben wir ja unsere eigene Spezies den Homo sapiens sapiens genannt — mit einer doppelten Dosis des Mittelworts der Gegenwart von sapere, was „schmecken, wahrnehmen, wissen, weise sein“ bedeutet. Was das impliziert, ist klar. Das, was uns unserer Ansicht nach von den anderen Spezies unterscheidet, ist unsere Fähigkeit, in unserem Wahrnehmen weise zu sein, zu wissen und unseres Wissens gewahr zu sein. Doch diese Charakterisierung halten wir in unserem gewöhnlichen Alltagsleben für dermaßen selbstverständlich, daß wir sie praktisch übersehen, nicht darum wissen oder sie höchstens vage anerkennen. Wir machen nicht den besten Gebrauch von unserem Bewußtsein, obwohl es uns doch faktisch in jedem Moment unseres wachen und träumenden Lebens definiert. Es ist das Bewußtsein, das uns Leben einhaucht. Es ist das letzte Geheimnis, das, was uns zu mehr macht als einem Mechanismus, der denkt und fühlt. Ja, wir sind Wahrnehmende wie alle Lebewesen, aber wir sind fähig zu einer erkennenden und unterscheidenden Weisheit, die über die reine Wahrnehmung hinausgeht. Das ist ein Geschenk, das auf dieser kleinen Erde tatsächlich einzig und allein uns gehören könnte. Unser Bewußtsein definiert unsere Möglichkeiten, setzt uns aber keinerlei Grenzen des 217
Möglichen. Wir sind die Spezies, die in sich selbst hineinwächst. Wir sind Kreaturen, die immerzu lernen und als Konsequenz daraus sich und die Welt verändern. Und als eine sich entwickelnde Spezies sind wir in bemerkenswert kurzer Zeit so weit gekommen. Heute weiß die Gehirnforschung eine ganze Menge über das Gehirn und den Geist, aber sie hat nicht die geringste Ahnung, was das Bewußtsein ist und wie es zustande kommt. Es ist ein großes Rätsel, ein Mysterium, das unauslotbar zu sein scheint. Wenn Materie nur komplex genug arrangiert ist, kann sie offenbar die Welt geistig erfassen und um sie wissen. Der Geist taucht auf. Bewußtsein emergiert. Wir haben keine Ahnung, wie. In der Kognitionswissenschaft nennt man dies das „harte Problem“ des Bewußtseins. Daß wir auf unserer Netzhaut auf dem Kopf stehende zweidimensionale Bilder haben – das ist das eine. Etwas ganz anderes ist es, zu sehen: die lebhafte Erfahrung einer Welt zu haben, die „da draußen“ in drei Dimensionen existiert, jenseits unseres eigenen Körpers, eine Welt, die real zu sein scheint, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, in der wir uns bewegen, derer wir uns bewußt sein können und die wir uns sogar mit geschlossenen Augen in vielen Einzelheiten vorstellen können. Und in diesem Vorstellen wird irgendwie auch die Empfindung eines persönlichen Selbst erzeugt, das Gefühl eines Sehenden, der das Sehen leistet und der wahrnimmt, was es zu sehen gibt, der um das weiß, das wir als zu Erkennendes kennen können, zumindest zu einem gewissen Grad. Und doch ist das alles eine Vorstellung, ein Konstrukt des Geistes, buchstäblich ein Machwerk – die synthetische Herstellung einer Welt aus sensorischem Input, eine Synthese, die zumindest teilweise darauf beruht, daß wir Unmengen an sensorischen Informationen durch komplexe Netzwerke im Gehirn, ja durch das gesamte Nervensystem und letztlich den gesamten Körper verarbeiten. Das ist wahrhaftig eine phänomenale Leistung. Es ist ein riesiges und ganz außerordentliches Geheimnis, auch wenn wir alle es gewöhnlich für ein völlig selbstverständliches Erbe halten. Der Neurobiologe und Entdecker der Doppelhelix-Struktur der DNS, Francis Crick, sagte: „Trotz all dieser Arbeit [in der Psychologie, Physiologie und molekularen sowie Zellbiologie des Sehvermögens] haben wir tatsächlich noch keine klare Vorstellung davon, wie wir irgend etwas sehen.“ Selbst die Farbe Blau (oder jede andere Farbe) existiert weder in den Photonen, aus denen das Licht dieser bestimmten Wellenlänge besteht, noch irgendwo im Auge oder im Gehirn. Wir sehen an einem wolkenlosen, sonnigen Tag zum Himmel auf und wissen, daß er blau ist. Und wenn wir schon keine klare Vorstellung davon haben, wie wir irgend etwas sehen, dann trifft das erst recht für unser Verstehen zu, physiologisch gesprochen für die Art und Weise, wie wir etwas wissen. In seinem Buch Wie das Denken im Kopf entsteht beschreibt der Linguist und Neuropsychologe Steven Pinker das Bewußtsein als eine Kategorie für sich: Was die Erforschung des Geistes angeht, so schwebt das Bewußtsein auf seiner eigenen Ebene hoch über den Kausalketten der Physiologie und Kognitionswissenschaft. ... Wir können das Bewußtsein nicht aus unserem Diskurs verbannen oder es auf den Zugang zu Informationen reduzieren, 218
denn unser moralisches Verständnis hängt davon ab. Das Konzept des Bewußtseins liegt unserer Gewißheit zugrunde, daß Folter von übel ist und daß die Zerstörung eines Roboters Sachbeschädigung ist, die Zerstörung eines Menschen jedoch Mord. Es ist der Grund dafür, daß der Tod eines geliebten Menschen uns nicht nur mit Selbstmitleid wegen des erlittenen Verlustes erfüllt, sondern mit dem verständnislosen Schmerz darüber, daß die Gedanken und die Freuden dieses Menschen für immer verschwunden sind. Dennoch behauptet Crick, daß Bewußtsein, was immer es sein möge, sowie die Empfindung einer wirkenden Kraft, die wir mit den Pronomen „ich“ und „mich“ verbinden, ebenso wie alle anderen Eigenschaften, Phänomene und Erfahrungen, die wir mit dem Geist assoziieren, letztlich durch die Aktivität von Neuronen erzeugt werden, daß sie also ein emergentes Phänomen der Gehirnstruktur sind und eine Aktivität, hinter der keine wirkende Kraft steht, sondern nur neuroelektrische und neurochemische Impulse: Das geistige Bild, das die meisten von uns haben, ist das eines kleinen Mannes (oder einer kleinen Frau) irgendwo innerhalb unseres Gehirns, der das, was vor sich geht, verfolgt (oder zumindest sich sehr anstrengt, dem zu folgen). Ich werde das den „Irrtum des Homunkulus“ (homunculus ist Lateinisch für „kleiner Mann“) nennen. Viele Menschen sehen das in der Tat so – und diese Tatsache wird an geeigneter Stelle einer eigenen Erklärung bedürfen –, aber unsere „Erstaunliche Hypothese“ behauptet, daß dies nicht der Fall ist. Flapsig formuliert besagt sie: „Das machen alles die Neuronen.“ Es muß Strukturen oder Abläufe im Gehirn geben, die sich auf irgendeine geheimnisvolle Weise so verhalten, als entsprächen sie dem geistigen Bild des Homunkulus. Der Philosoph John Searle antwortet darauf: „Wie könnte es möglich sein, daß das physische, objektive, quantitativ beschreibbare Feuern von Neuronen qualitative, private, subjektive Erfahrungen verursacht?“ Dies ist eine große Herausforderung für das noch junge Feld der Roboterforschung, wo die Wissenschaftler versuchen, Maschinen zu bauen, die so etwas tun können wie den Rasen mähen, wenn er gemäht werden muß, oder Geschirr wegzuräumen, wenn es sauber ist – Dinge, die wir tun können, ohne darüber nachdenken zu müssen (so sagen wir wenigstens), die aber für Roboter unglaublich schwer zu lösende Probleme darstellen. Es gibt darüber hinaus etliche Wissenschaftler, die behaupten, daß in nicht allzu ferner Zukunft vom Menschen entworfene Maschinen die nächste Generation von Maschinen entwerfen und bauen werden, und daß in diesem Prozeß die Komplexität und Lernfähigkeit der Maschinen derart zunehmen wird, daß sie eines Tages handeln werden, als hätten sie Gefühle und könnten denken – all das mit integrierten Schaltkreisen anstelle von Neuronen und dennoch so, daß sie zumindest das „nachahmen“, was wir Agenz, Intelligenz und Gefühl nennen. Und vielleicht sind auch wir selbst in Wirklichkeit hochentwickelte „Empfänger“, die sich aufgrund ihrer Neuronen auf ein nichtlokales „Bewußtsein“ einer viel höheren Größenordnung 219
einstimmen, ein Bewußtsein, das eine Eigenschaft des Universums ist. Heute sind zumindest einige Forscher der Ansicht, daß sich diese Möglichkeit nicht gänzlich ausschließen läßt. Für uns kommt es hier darauf an, nicht zu weit in das Feld der verschiedenen Erklärungsversuche für das Bewußtsein sowie der kontroversen Meinungen darüber abzuschweifen, so faszinierend diese Fragen und die wissenschaftlichen und philosophischen Disziplinen, die sich damit befassen, auch sind, etwa die Kognitionswissenschaft, die Phänomenologie, die künstliche Intelligenz und die sogenannte Neurophänomenologie. Es kommt vielmehr darauf an, daß wir unser Bewußtsein als etwas Grundlegendes erkennen und uns überlegen, wie es uns individuell und kollektiv helfen kann, diese außerordentliche Fähigkeit des Wissens zu entwickeln, eine Fähigkeit, die, was bemerkenswert und wichtig ist, natürlich auch unzählige Gelegenheiten umfaßt, zu wissen, daß wir nicht wissen. Zu wissen, daß wir nicht wissen, ist ebenso wichtig wie alles, was wir wissen können – wenn nicht sogar noch wichtiger. Hier tut sich das Reich des Unterscheidungsvermögens und der Weisheit auf. Am Ende einer Klausur für Psychologen, die eine Ausbildung in kognitiver Therapie auf der Grundlage von Achtsamkeit erhielten, sagte ein Therapeut, der den ganzen Tag lang mit Menschen sowie ihren Gefühlen und Gedanken arbeitet: „Ich schotte mich von den Menschen ab. Das ist etwas, von dem ich nicht wußte, daß ich es nicht wußte.“ Wir leben unser Leben allzuoft im Banne von Gewohnheiten und Konditionierungen, derer wir uns nicht im geringsten bewußt sind, die aber unsere Augenblicke und unsere Entscheidungen, unsere Erfahrungen und unsere emotionalen Reaktionen darauf prägen – selbst wenn wir glauben, wir wüßten es besser, oder wenn wir es besser wissen sollten. Diese Tatsache allein weist schon auf einige der praktischen Grenzen des Denkens hin. Und doch steht uns wunderbarerweise ständig das Gewahrsein zur Verfügung, mit dem wir gegen diese Konditionierung angehen und unser Gefühl für die Dinge ausweiten können, so daß wir besser in Kontakt mit ihnen sind und mit unserem Vermögen, tatsächlich das zu verstehen, was der Kognitionswissenschaftler Antonio Damasio das „Gefühl dessen, was geschieht“ nennt. Das Bewußtsein ist uns näher als nah. Gewahrsein ist unsere Natur und ist in unserer Natur. Es ist in unserem Körper, in unserer Spezies. Man könnte, wie es die Tibeter tun, sagen, daß Erkennen, die nichtbegriffliche wissende Qualität, die Essenz dessen ist, was wir Geist nennen – zusammen mit Leere und Grenzenlosigkeit, welche der tibetische Buddhismus als komplementäre Aspekte derselben Essenz betrachtet. Die Fähigkeit zum Gewahrsein scheint uns eingebaut zu sein. Wir können nicht anders als gewahr sein. Das ist das unsere Spezies definierende Charakteristikum. Es liegt in unserer Biologie gegründet, geht jedoch weit über das rein Biologische hinaus. Es ist das, was und wer wir in Wirklichkeit sind. Doch wenn dieses Vermögen des Bewußtseins nicht kultiviert und verfeinert und in mancher Hinsicht auch geschützt wird, besteht die Gefahr, daß es von Schlingpflanzen und Unterholz überwuchert wird und schwach und unterentwickelt bleibt, in mancher Hinsicht ein bloßes Potential. Wir können relativ empfindungslos werden, unsensibel und mehr schlafend als wach, wenn 220
es um unser Vermögen geht, über die Grenzen egoistischen Denkens hinaus etwas zu wissen. Zu diesem Vermögen gehört auch, darum zu wissen, daß bestimmte Gedanken egoistisch sind, und damit schon in dem Moment, wo sie entstehen, zu wissen, daß sie beschränkt und eventuell unklug sind. Wird das Bewußtsein kultiviert und gestärkt, dann erleuchtet es unser Leben und die Welt und schenkt uns ein Maß an Freiheit, das wir uns kaum vorstellen konnten, auch wenn unsere Vorstellungskraft aus eben diesem Bewußtsein stammt. Dieses Bewußtsein schenkt uns auch eine Weisheit, die uns, wenn wir sie entwickeln, aus unserer Neigung herausführen kann, bewußt oder unbewußt Schaden anzurichten; sie vermag statt dessen Wunden zu heilen und die Souveränität und Heiligkeit unserer Mitgeschöpfe überall anzuerkennen.
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Das ist nicht persönlich gemeint, aber, verzeihen Sie ... sind wir wirklich, wer wir zu sein glauben? Der wahre Wert eines menschlichen Wesens wird vor allem von dem Ausmaß bestimmt, in dem es Freiheit von sich selbst erlangt hat. ALBERT EINSTEIN
Als ich Biologie studierte, wurde uns eingehämmert, daß das Leben den Gesetzen der Physik und der Chemie gehorcht und daß in biologischen Phänomenen genau dieselben Gesetze walten. Auch wenn das Leben sehr komplex ist und die Moleküle des Lebens weitaus komplizierter sind als die einfacheren atomaren und molekularen Strukturen der unbelebten Natur, so sagte man uns, bestehe kein Grund zu der Annahme, daß es eine ganz besondere belebende Kraft oder „Lebensenergie“ gäbe, welche die „Ursache“ für die Lebendigkeit eines Systems sei. Es gäbe also nichts Besonderes über eine einigermaßen prekäre Konstellation von Umständen hinaus, die es den Komponenten und Strukturen von lebenden Systemen erlauben, so zusammenzuwirken, daß die Eigenschaften des Ganzen, also zum Beispiel einer lebenden, wachsenden und sich teilenden Zelle, emergieren. Dasselbe Prinzip gälte, weitergedacht, den Stammbaum der Evolution hinauf auch für die zunehmend komplexeren Lebensformen, die sich immer weiter hinein in das Pflanzen- und Tierreich entfalten und natürlich auch in unsere Säugetierlinie, in der zunehmend komplexere Nervensysteme emergierten, bis dann mit der Zeit wir selbst auf den Plan traten. Aus dieser Sicht gibt es keinen inhärenten Grund dafür, anzunehmen, daß wir nicht eines Tages Leben erzeugen können, auch wenn wir bis heute nicht einmal auf der Ebene einer einzelnen Zelle, nicht einmal auf der Ebene eines ganz „einfachen“ einzelligen Organismus wie eines Bakteriums das verstehen, was wir „Leben“ nennen, und obwohl wir noch keine einzelne Zelle aus den uns im Labor verfügbaren Bestandteilen einer Zelle oder gar aus den Bestandteilen zerfallener Zellen zusammensetzen konnten. Mir scheint, die meisten Biologen glauben einfach, daß es irgendwann passieren wird, so wie es unlängst Forschern mit dem Polio-Virus gelungen ist, den sie im Labor aus einfachen Chemikalien anhand der im Internet gefundenen Informationen über die genetische Sequenz des Virus zusammengebaut haben. Nachdem sie es erzeugt hatten, konnten sie zeigen, daß es infektiös war und sich in einer lebenden Zelle replizieren und neue Viren erzeugen konnte - womit bewiesen war, daß keine „zusätzliche“ Lebensenergie notwendig war. Diese Perspektive gilt in der Biologie als ein Bollwerk gegen das, was früher „Vitalismus“ genannt wurde. - Das ist der Glaube, daß es einer besonderen Energie bedarf, die jenseits der von Physik, Chemie und Biologie erklärbaren Kräfte ist und nicht allein dadurch zustande kommt, daß sehr lange Zeiträume zur Verfügung stehen, um dem Leben seine einzigartigen Eigenschaften zu verleihen, zu denen auch das Bewußtsein gehört. Der Vitalismus wurde als mystisch, irrational, anti-wissenschaftlich 222
und schlichtweg falsch angesehen. Und nach der bisherigen historischen Bilanz war und ist er es auch. Das heißt jedoch nicht, daß eine reduktionistische und rein materialistische Sichtweise richtig sein muß. Es gibt andere Methoden, das Mysterium des Lebens wissenschaftlich zu erforschen und zu verstehen, Methoden, die höhere Ordnungen von Phänomenen und deren emergente Eigenschaften in Betracht ziehen und anerkennen. Vom Standpunkt der Biologie aus gibt es an der Basis lebender Systeme, einschließlich des Menschen, nichts anderes als unpersönliche Mechanismen. Sie sieht die Emergenz des Lebens selbst als eine Folge einer umfassenderen Emergenz, nämlich der Evolution des Universums und all der geordneten Strukturen und Prozesse, die sich darin entfalten. An einem Punkt dieser Evolution, vielleicht vor etwa drei Milliarden Jahren, als die Bedingungen günstig waren auf dem noch jungen Planeten Erde – der sich aus dem interstellaren Staub gebildet hatte, welcher den in Entstehung befindlichen Stern umgab, den wir heute unsere Sonne nennen, einem Staub, der selbst wiederum das Ergebnis eines kolossalen Zerfalls früherer Sterne auf dem Weg über einen Gravitationskollaps war, in dem außer Wasserstoff eben die Atome entstanden, aus denen unser Körper und alles andere auf diesem Planeten gemacht ist –, konnte es gar nicht anders kommen als zur Synthese von Biomolekülen durch natürlich auftretende anorganische Prozesse in warmen Tümpeln und Ozeanen in Millionen und aber Millionen Jahren, vielleicht ausgelöst von Blitzen, von Tonerden und anderen unbelebten Mikroumgebungen, die auf verschiedene Weise zu solchen Prozessen beitragen können. In genügend großen Zeiträumen fanden diese verschiedenen Biomoleküle Möglichkeiten, entsprechend den Gesetzen der Chemie zu interagieren, was zur Entstehung rudimentärer Polymerketten von Nukleotiden (dem Stoff, aus dem die DNS und die RNS gemacht sind) und von Aminosäuren mit ganz bestimmten Eigenschaften führte. Ihrer Natur nach haben Polynukleotidketten das Vermögen, in der Sequenz der vier Basen, aus denen sie bestehen, große Mengen an Informationen zu speichern; außerdem können sie sich selbst durch Replikation mit hoher Präzision verdoppeln und dabei diese Informationen bewahren, oder es kann unter bestimmten Bedingungen zu kleinen Veränderungen kommen, wodurch als Mutationen bezeichnete Varianten erzeugt werden, die in seltenen Fällen einen selektiven Vorteil im Wettstreit um natürliche Ressourcen haben können. Diese Informationen in den Polynukleotidketten werden in die lineare Sequenz von Aminosäuren übersetzt, die jene Polynukleotidketten bilden, die, wenn sie eingefaltet sind, Proteine genannt werden, welche die Arbeitspferde der Zelle sind, die all ihre Tausende von chemischen Reaktionen vollziehen, in welchem Fall sie Enzyme genannt werden, und die eine Myriade struktureller Schlüsselbausteine zur Verfügung stellen, aus denen die Zellen erzeugt werden, in welchem Fall sie strukturelle Proteine genannt werden. Wie das alles so zustande kam, daß es überhaupt zu einer organisierten Zelle führte, selbst einer äußerst primitiven Zelle, kann man bis heute nicht erklären. Aber nach Ansicht der Biologie kann es im Prinzip verstanden werden und wird dies eines Tages auch – und alles, was nötig sein wird, um es zu verstehen, wird ein tieferes Verständnis komplexer Systeme aus Molekülen sein, die selbst keine Lebenskraft besitzen außer dem Vermögen, unter günstigen Bedingungen und im Zusammenwirken mit vielen anderen solcher Moleküle unvorhersehbare neue Phänomene emergieren zu lassen, einschließlich, und das ist wichtig, der Stabilisierung, Speicherung und 223
Wiederherstellung von Informationen und der Modulation des Informationsflusses. In diesem Sinne ist das Leben eine natürliche Erweiterung der Evolution des Universums, sobald einmal Sterne und Planeten entstanden sind, welche die notwendigen Bedingungen bereitstellen, unter denen auf chemischen Prozessen basierende lebende Systeme emergieren können. Und Bewußtsein, das dann in lebenden Systemen emergiert, welche denselben Gesetzen der Physik und Chemie gehorchen, wenn die Bedingungen günstig sind und es genügend Zeit dafür gibt und der Selektionsdruck groß ist, damit sich eine solche Ebene der Komplexität entwickeln kann, wird deshalb als eine natürliche, wenn auch höchst unwahrscheinliche Emergenz aus einem evolutionären biologischen Prozeß gesehen, der leer von einer treibenden Kraft, leer von Teleologie und ganz und gar nicht mystisch ist. Wenn Bewußtsein, zumindest ein chemisch begründetes Bewußtsein, bereits als potentielle Möglichkeit in ein sich entwickelndes Universum eingebaut ist und es sich aus diesem Potential entwickelt, wenn die geeigneten Anfangsbedingungen gegeben sind und genügend Zeit vorhanden ist, dann könnte man sagen, daß das Bewußtsein in lebenden Organismen eine Weise des Universums ist, sich selbst zu kennen, sich selbst zu sehen und zu verstehen. Wir könnten sagen, daß dieses Geschenk in der lokalen Nachbarschaft der unermeßlichen Weite von allem uns zugefallen ist, dem Homo sapiens sapiens, anscheinend in stärkerem Maße als allen anderen Spezies auf diesem unendlich winzigen Staubkorn, das wir in der unvorstellbaren Weite des sich ausdehnenden Universums bewohnen, in diesem Universum, wo unsere Art der Materie, aus der unser Körper ebenso besteht wie die Planeten und sämtliche Sterne, nur einen winzig kleinen prozentualen Anteil der Substanz und Energie des Universums auszumachen scheint.16 Nach dieser Ansicht ist unsere Fähigkeit zu Bewußtsein uns nicht aufgrund irgendeiner besonderen moralischen Tugend zugefallen, sondern durch reinen Zufall, durch die Wechselfälle des evolutionären Selektionsdrucks auf die Spezies der baumbewohnenden Primaten, von denen sich einige, als sie sich in die Savannen hinausbewegten, sich zum aufrechten Stehen hinentwickelten, wodurch ihre Arme und Hände zu anderem Gebrauch frei wurden, und was ihr Gehirn vor die Aufgabe stellte, mit einem größeren Spektrum an Herausforderungen umzugehen. Sie waren natürlich unsere direkten Vorfahren. Wie wir unser ererbtes Bewußtsein verstehen und was wir individuell und kollektiv als Spezies damit anfangen, ist ohne Zweifel das unsere heutige Zeit definierende Thema. Es ist durchaus interessant, die unpersönliche Natur der biologischen Sicht lebender Systeme hervorzuheben, denn sie besagt ganz deutlich, daß der Entfaltung des Lebens keine mystische Dimension innewohnt. Sie besagt, daß Bewußtsein den Prozeß nicht etwa lenkt, sondern aus dem Prozeß emergiert, auch wenn das Potential für seine Emergenz die ganze Zeit latent vorhanden war. Nichtsdestoweniger kann das Bewußtsein, wenn es erst einmal hoch genug entwickelt ist, tiefgreifenden Einfluß auf alle Bereiche des Lebens haben, und zwar durch die Entscheidungen, die wir darüber treffen, wie wir leben und wo wir unsere In der Tat sind die Kosmologen heute der Ansicht, daß das Universum zu etwa 30 Prozent aus „dunkler Materie“ besteht, die vielleicht in Schwarzen Löchern eingefangen ist, und zu mehr als 65 Prozent aus „dunkler Energie“, die vielleicht für die Kraft hinter der Ausdehnung des Universums, eine Art AntiSchwerkraft, verantwortlich ist. 16
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Energien investieren wollen, sowie durch die Art und Weise, wie wir unseren Einfluß auf die Welt, in der wir leben, einschätzen. Bewußtsein konnte nur durch die dafür angemessenen Ursachen und Bedingungen emergieren, und es bestand keine Garantie dafür, daß sie eintraten. Doch wenn sie nicht vorhanden gewesen wären, dann wäre niemand von uns da, der ihre Abwesenheit kommentieren könnte. Wenn wir selbst das Produkt unpersönlicher Ursachen und Bedingungen sind, die den Gesetzen von Physik und Chemie gehorchen, wie komplex diese auch immer sein mögen, und wenn es keine „Lebenskraft“ hinter all dem gibt, dann können wir sehen, warum der Antivitalismus der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, zu der Behauptung führt, daß es so etwas wie die Seele, ein lebenswichtiges Zentrum in einem Lebewesen, das anderen Gesetzen gehorcht als denen der Physik und Chemie, nicht gibt. Im 17. Jahrhundert behauptete Descartes, die Zirbeldrüse tief im Gehirn sei der Sitz der Seele. Moderne Neurobiologen würden sagen, daß die Zirbeldrüse zwar viele Dinge leistet, daß sie aber keine Seele hervorbringt, weil es keinen Grund dafür gibt, eine dauerhafte Entität oder Energie zu postulieren, die immateriell ist und im Organismus wohnt oder mit diesem irgendwie verbunden ist und dessen Weg durchs Leben lenkt. Das bedeutet nicht, daß das Leben und das Bewußtsein nicht ein großes Mysterium für uns sind und damit heilig, so, wie auch das gesamte Universum ein großes Mysterium ist. Es heißt auch nicht, daß wir nicht von der Seele sprechen können, wenn wir damit das meinen, was sich tief in der Psyche und im Herzen bewegt, und auch nicht von der Quelle der Erbauung und Transfiguration, die wir den „Geist“ im spirituellen Sinne nennen. Es impliziert ebenfalls nicht, daß unsere persönlichen Gefühle und unser persönliches Wohlergehen unwichtig wären und daß es keine Basis für ethisches und moralisches Handeln oder für eine Empfindung des Numinosen gäbe. Tatsächlich könnten wir sagen, daß es unsere Natur und Berufung als fühlende Wesen ist, unsere Situation mit Ehrfurcht und Staunen zu betrachten und uns tiefe Fragen über das Potential zur Erweiterung unseres Bewußtseins zu stellen und dieses einzusetzen für das Wohlergehen anderer und dessen, was in dieser lebendigen Welt das Schönste und das Heiligste ist. Die Buddhisten haben ein ähnliches Verständnis von der unpersönlichen Natur der Phänomene. Wie wir schon im Falle des „Herz-Sūtra“ gesehen haben, hat der Buddha auf der Grundlage seiner eigenen persönlichen Forschungen und Erfahrungen gelehrt, daß die gesamte erfahrbare Welt - also das, was er die fünf Skandhas (Aggregate, Anhäufungen) nannte, nämlich Form, Empfindung, Wahrnehmung, psychische Formkräfte und Bewußtsein - leer ist von jeglicher dauerhaften und aus sich selbst existierenden Eigenschaft. So sehr man auch danach suchen mag, es wird einem nicht gelingen, eine dauerhafte, unveränderliche Selbstheit in oder unter den Phänomenen aufzufinden, den unbelebten und den belebten einschließlich unserer selbst, weil alles wechselseitig miteinander verknüpft ist und jede Manifestation einer Form oder eines Prozesses für ihre individuelle Emergenz und in bezug auf ihre charakterisierenden Eigenschaften von einem sich ständig wandelnden Gefüge von Ursachen und Bedingungen abhängig ist. Der Buddha fordert uns heraus, selber hinzusehen und nachzuforschen, ob dem so ist oder nicht, ob das Selbst oder Ich nicht einfach ein Konstrukt ist, so wie unsere Sinne irgendwie zusammenarbeiten, um sowohl die Welt, die „da draußen“ zu sein scheint, als 225
auch die Empfindung einer Person „hier drinnen“, die die Welt wahrnimmt, zu konstruieren. Nun, wenn dem nicht so wäre, wie könnten wir dann das Gefühl haben, daß es ein Selbst gibt, daß wir ein Ich sind und daß das, was geschieht, „mir“ geschieht, daß jeden Morgen dasselbe Ich aufwacht und sich als solches im Spiegel wiedererkennt? Sowohl die moderne Biologie und Kognitionswissenschaft als auch der Buddhismus würden sagen, daß dies in gewisser Weise eine Fehlwahrnehmung ist, die sich selbst in eine dauerhafte individuelle und kulturelle Gewohnheit eingebaut hat. Wenn Sie jedoch den Prozeß einer systematischen Suche nach diesem Ich oder Selbst durchlaufen, so sagen beide Anschauungen, dann werden Sie kein dauerhaftes, unabhängiges Selbst finden, ob Sie nun danach in „Ihrem“ Körper – einschließlich seiner Zellen, spezialisierten Drüsen, seinem Nervensystem, Gehirn und so weiter – suchen, oder ob Sie in „Ihren“ Gefühlen, Überzeugungen, Gedanken, Beziehungen oder sonstwo suchen. Und der Grund dafür, daß Sie nirgendwo ein dauerhaftes, isoliertes, aus sich selbst existierendes Ich finden können, das „Sie“ sind, besteht darin, daß dieses Ich ein Trugbild ist, eine holographische Emergenz, ein Phantom, das Produkt eines an Gewohnheiten gebundenen und emotional aufgewühlten denkenden Geistes. Dieses „Ich“ wird ständig, von Moment zu Moment, konstruiert und wieder dekonstruiert. Es ist andauernd dem Wandel unterworfen und deshalb im Sinne von etwas Identifizierbarem und Isolierbarem weder dauerhaft noch wirklich. Es ist eher virtuell als solide, zumindest metaphorisch vergleichbar mit den virtuellen Elementarteilchen, die für kurze Augenblicke im Quantenschaum des leeren Raumes aus dem Nichts aufzutauchen scheinen und sich sofort wieder in das Nichts auflösen. Lassen Sie uns ein wenig mit dieser Vorstellung spielen und unter die Lupe nehmen, was jemand meint, wenn er sagt: „mein Körper“. Wer sagt das? Wer behauptet da, einen Körper zu „haben“ und damit von ebendiesem Körper getrennt zu sein? Das ist doch ziemlich mysteriös, nicht wahr? Unsere Sprache selbst ist rückbezüglich – rückbezüglich auf ein Selbst. Sie verlangt, daß wir von „unserem“ Körper sprechen – zählen Sie nur einmal die Fälle auf dieser Seite, in denen ich ein Personalpronomen benutzen muß, um irgend etwas über uns auszusagen –, und wir gewöhnen uns daran, zu denken, daß es eben das ist, was wir sind, oder doch zumindest ein großer Teil dessen, was wir sind. Das wird zu einem nicht hinterfragten Teil unserer konventionellen Realität. Auf der Ebene der Erscheinungen ist das, relativ gesprochen, natürlich tatsächlich der Fall. In den meisten Fällen würden wir nicht „die“ Hand oder „das“ Bein oder „der“ Kopf sagen, sondern wir würden das Personalpronomen „mein“ verwenden, weil, relativ gesehen, dieser unser Körper (da haben Sie es schon wieder) in einer Beziehung zu dem Sprechenden steht, wer immer das ist. Sprächen wir von „unserer“ Hand als „der“ Hand17, erschiene uns das distanziert, entfremdet, irgendwie unverkörpert und krankhaft. Nichtsdestoweniger gibt es eine geheimnisvolle Beziehung zwischen mir und meinem Körper, jedoch eine, die wir gewöhnlich in keiner Weise hinterfragen. Weil sie nicht hinterfragt wird, verfallen wir so leicht darauf, zu glauben, daß es „unser“ Körper ist, ohne uns bewußt zu sein, daß wir gar nicht genau wissen, wer es ist, der da behauptet, der Besitzer zu sein, und daß dieser Besitzanspruch nur eine Sprachfloskel ist 17
Wie das im Deutschen eher üblich ist als im Englischen: Wir sagen „Ich hebe die Hand“ und nicht wie im Englischen „I lift my hand“ („Ich hebe meine Hand“), weil in diesem Kontext selbstverständlich ist, daß wir die eigene Hand heben und nicht die eines anderen. (Anm. d. Übers.)
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und keine Tatsache. Natürlich ist das relativ wahr (schließlich ist es nicht der Körper von jemand anderem – würden wir das denken oder fühlen, dann wären wir in großen Schwierigkeiten und uns stünde wohl die Einweisung in eine Nervenklinik bevor), doch aus der absoluten Sicht gilt das nicht. Wenn das, was das „Herz-Sūtra“ sagt, wahr ist, dann ist die Erscheinung selbst leer. Dasselbe trifft auch für den Geist zu. Wessen Geist ist es denn? Und wer gibt sich Mühe, einen Geist zu erfinden? Und wer will das wissen? Stellen Sie sich einen Augenblick lang vor, daß das, was die Biologen und die Buddhisten sagen, wahr ist – auch wenn der Geist für die Buddhisten durchaus einer anderen Dimension angehört, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit besitzt, und er zwar mit materiellen Phänomenen, also dem Gehirn, in Zusammenhang gebracht, jedoch nicht auf Materie reduziert werden kann. Als Lebewesen wären wir nach dieser Ansicht das Produkt von Chemie, Physik und Biologie, von gänzlich unpersönlichen Prozessen, die, sobald wir mit der Welt jenseits unserer Haut und mit dem Milieu von Körper und Geist in Verbindung treten, unsere Erfahrung hervorbringen. Die Empfindung eines Selbst, eines „Ich“, das all diese Erfahrungen macht, das diese Gedanken denkt, diese Gefühle fühlt, das Entscheidungen trifft und auf diese oder jene Weise handelt, ist nur ein Epiphänomen, eine Nebenprodukt komplexer biologischer Prozesse. Sowohl die Ichempfindung als solche als auch unsere Persönlichkeit sind in einem tiefen Sinne unpersönlich, wenn auch eindeutig einzigartig und relativ wirklich, so wie auch unser Gesicht einzigartig und relativ wirklich ist, wenn auch weit entfernt davon, alles darzustellen, was wir sind. Wenn dem so wäre, was würden wir verlieren? Und was könnten wir durch eine solch radikale Verschiebung des Blickwinkels hin zu einer größeren, umfassenderen und vielleicht grundlegenderen Sichtweise gewinnen? Was wir verlieren würden, wäre eine allzu starke Identifizierung mit praktisch jeglicher inneren wie äußeren Erfahrung als „ich“, „mich“ und „mein“ anstelle einer Sichtweise, für die sich die Phänomene entsprechend verschiedenen Ursachen und Bedingungen entfalten oder sie, wie man sagen könnte, einfach geschehen. Wenn wir lernen könnten, die Art und Weise, wie sich eine Ichempfindung um Geschehnisse und Erscheinungen herum kristallisiert und sich dann, koste es, was es wolle, selbst behauptet, in Frage zu stellen, wenn wir uns fragten, ob diese Ichempfindung grundlegend real ist und nicht bloß ein Konstrukt des Geistes, und wir untersuchen wollten, ob sie unveränderlich oder in ständigem Wandel begriffen ist, und bedenken würden, wie wichtig unsere Ansichten in jedem Moment in Relation zum größeren Ganzen sind, dann wären wir vielleicht nicht so sehr von uns eingenommen und die meiste Zeit so sehr mit unseren Gedanken und Meinungen sowie unseren persönlichen Geschichten über Gewinn und Verlust beschäftigt und damit, ersteren zu maximieren und letzteren zu minimieren. Dann könnten wir vielleicht durch diesen von uns selbst erschaffenen Schleier, der auf subtile oder nicht so subtile Weise auf jeden Aspekt unserer Erfahrung abfärbt, hindurchsehen. Wir könnten uns selbst vielleicht sehr viel besser hören. Wir würden uns und die Geschichten, die wir darüber erfinden, wie die Dinge sein müßten, damit wir glücklich sein können, und damit sie nach „unseren Vorstellungen“ laufen, vielleicht weniger ernst nehmen. Würden wir das tun, dann würden wir vielleicht auch mit einem größeren Gefühl von Leichtigkeit unseren Körper bewohnen und in der Welt leben, dann würden wir 227
vielleicht sehr viel mehr über die bloße Tatsache unserer Existenz, die bloße Tatsache des Wissens staunen, ohne uns allzusehr in das feste Gefühl eines „Wissenden“ verrennen zu müssen, das sich von dem Gewußten abspaltet und damit sowohl ein Subjekt (ein Ich) als auch ein Objekt da draußen (das vom Subjekt erkannt wird) erzeugt sowie Distanz schafft zwischen den beiden statt Nähe in ihrer Wechselseitigkeit, einem gemeinsamen Entstehen mit dem Gewahrsein und im Gewahrsein. Stellen Sie sich vor, wir wären auf diese Weise weniger mit uns selbst beschäftigt, wir müßten nicht ständig unsere kleingeistigen Pläne vorantreiben, weil wir sähen und wüßten, daß die Ichempfindung an sich leer ist von inhärenter Existenz, daß sie nur den Anschein der Existenz erweckt und daß eine starke Identifizierung mit ihr uns gefangenhält in einer verzerrten, verarmten und eklatant unvollständigen Sicht auf unser Sein und auf unser Leben, insbesondere in Beziehung mit dem Leben anderer, und auf unseren Pfad in dieser Welt. Was das angeht, so ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen, daß unsere Ichempfindung uns die ganze Zeit glauben macht, wir seien nicht vollständig. Sie sagt uns, daß wir anderswohin gelangen müssen, daß wir etwas Erstrebenswertes erlangen müssen, daß wir ganz werden, glücklich werden, etwas verändern, uns sputen müssen – und all das mag teilweise richtig und relativ wahr sein, und in diesem Maße sollten wir auch auf diese Eingebungen hören. Aber unsere Ichempfindung vergißt, uns daran zu erinnern, daß auf einer tieferen Ebene, jenseits der Erscheinungen und der Zeit, all das, was es zu erreichen gilt, bereits hier ist, jetzt und daß es nicht möglich ist, das Selbst zu verbessern. Wir können lediglich seine wahre Natur als sowohl leer als auch voll und damit als ausgesprochen nützlich zu erkennen. Wenn wir das zutiefst wissen, wenn wir es mit unserem ganzen Sein wissen, dann vermögen wir in diesem Wissen selbst zu ruhen und können wesentlich weniger egozentrisch in der Welt handeln, auf potentiell erstaunlich kreative Weise zum Wohle anderer Lebewesen, und mit einer Einstellung der Gewaltlosigkeit und ohne etwas erzwingen zu wollen. Wir sind dazu in der Lage, weil wir auf einer grundlegenden Ebene wissen, daß die „anderen“ immer wir selbst sind. Diese wechselseitige Verbundenheit ist ursprünglicher Natur. Sie ist der Geburtsort von Einfühlung und Mitgefühl, unseres Gefühls für die anderen, unseres Impulses und unserer Neigung, uns an die Stelle eines anderen zu setzen, mit einem anderen zu fühlen. Das ist die Grundlage von Ethik und Moral, auf der wir wahrhaft menschlich werden können – jenseits des potentiellen Nihilismus und des unbegründeten Relativismus, der aus einer rein mechanistischen und reduktionistischen Sichtweise des Geistes und des Lebens entspringt. Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind Sie in einem ganz wirklichen Sinn nicht derjenige, der Sie zu sein glauben. Und alle anderen Menschen sind auch nicht das, was sie zu sein glauben. Das ist keine Kritik. Es ist eine bloße Tatsache. Es ist also nicht persönlich gemeint, darum fassen Sie es bitte nicht so auf.
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Ich bin nicht ich. Ich bin der, der neben mir geht und den ich nicht sehe, den ich gelegentlich zu besuchen vermag und den ich zu anderen Zeiten vergesse ... JUAN RAMÓN JIMÉNEZ (nach der englischen Übersetzung von Robert Bly)
Genug. Diese wenigen Worte genügen. Wenn nicht diese Worte, dann dieser Atem. Wenn nicht dieser Atem, dann dieses hier Sitzen. Diese Öffnung für das Leben, der wir uns verweigert haben, wieder und immer wieder, bis jetzt. Bis jetzt. DAVID WHYTE
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Selbst unsere Moleküle berühren sich Der Kognitionswissenschaftler, Neurobiologe, neurophänomenologische Philosoph und zudem ernsthafte Dharma-Praktiker Francisco Varela war Mitbegründer des Mind Life Institute, das in regelmäßigen Abständen Symposien mit Naturwissenschaftlern und dem Dalai Lama organisiert. Er starb, noch relativ jung, im Jahr 2001. Francisco Varela pflegte jene Eigenschaften des Immunsystems zu betonen, die über dessen Rolle als effektives Verteidigungssystem gegen Eindringlinge von außen hinausgehen. Denn das Immunsystem dient auch als ein System der Selbstwahrnehmung und es verfügt über Mechanismen, die es dem Körper erlauben, durch molekulare Berührung ständig seine „Selbstheit“ zu überwachen und zu bestätigen, also die völlig einzigartige molekulare Identität all der Strukturen, aus denen er besteht. Gleichzeitig betonte Varela, daß diese „Selbstheit“, die der einzelne als „seine“ körperliche Identität bezeichnen würde, tatsächlich nicht mehr unabhängige Existenz besitzt als wir selbst, sondern daß sie dynamisch aus den komplexen Interaktionen zwischen den verschiedenen Bestandteilen des Körpers entsteht. Manchmal wird das Immunsystem auch das „zweite Gehirn“ des Körpers genannt, weil es in der Lage ist, zu lernen und sich zu erinnern, und weil es sich an sich verändernde Bedingungen anpassen kann. Anatomisch gesehen, ist es zu Teilen in der Thymusdrüse, im Knochenmark und in der Milz angesiedelt, ist aber auch insofern nicht lokalisiert, als seine Lymphozyten und die Antikörper-Moleküle, von denen diese produziert werden, unabhängig im Blut und in der Lymphe zirkulieren können. Lymphozyten besitzen spezialisierte Rezeptormoleküle (die Antikörper eingeschlossen), die in ihre Membran eingebettet sind und es ihnen erlauben, die Konturen und die Architektur des Körpers auf der molekularen Ebene zu „fühlen“, die Topologie seiner zirkulierenden Moleküle, seiner Zellen, Organe und Gewebe, und die es dem Körper dadurch erlauben, sich selbst zu erkennen und nicht zum Selbst gehörige „fremde Eindringlinge“ durch ständige Überwachung und hochspezialisierte Molekülerkennung aufzuspüren. Selbst in Abwesenheit von fremden Eindringlingen oder Krankheitsprozessen scheint es einen ständigen Dialog zwischen allen Mitgliedern des Zellverbundes, die den Körper bilden, zu geben, einem Dialog, der mit Hilfe der Sprache und der Signale des Immunsystems geführt wird. Durch diese Kommunikation werden all die verschiedenen Funktionen des Körpers auf der zellulären Ebene koordiniert. Ohne einen solchen Dialog würde der Körper zerfallen. Wie Francisco Varela sagt: Sinnesorgane wie Augen und Ohren, die das Gehirn mit der Umwelt verbinden, haben Parallelen in einer Reihe von Lymphorganen. Das sind ganz bestimmte Regionen, die als Sensoren fungieren und mit Reizen interagieren: zum Beispiel Stellen im Darm, die ständig mit dem in Austausch sind, was Sie essen. Wenn etwas schiefläuft, wenn zum Beispiel bestimmte Zellen mutieren und beginnen, unkontrolliert zu wachsen, oder wenn fremde Viruspartikeln oder andere Substanzen im Körper auftauchen, werden sie durch das Immunsystems aufgespürt, 230
indem sie durch das Berührungs-Erkennungssystem „gefühlt“ werden. Dann werden verschiedene Mechanismen auf der Grundlage von Zellen und Antikörpern aktiviert, die diese Störfaktoren mit erstaunlicher Genauigkeit eingrenzen und neutralisieren. Dieser Vorgang basiert auf Klonselektion und der Verstärkung jener Lymphozyten, die über spezifische Erkennungsmoleküle verfügen, so daß die anormalen Zellen oder Chemikalien neutralisiert werden können, während die normalen Zellen nicht angegriffen oder geschädigt werden. Das Immunsystem ist ein wahrer Bienenstock selektiver Berührungen und Erkennungen, ein Überwachungssystem, das niemals schläft. Somit bleibt im dynamischen Lebensfeld des Körpers die Harmonieaufrechterhalten, während er potentiell schädlichen Agenten aus seinem Inneren oder von außen ausgesetzt ist. Das Immunsystem funktioniert sowohl auf molekularer als auch zellulärer Ebene mit exquisiter Eleganz: Der Körper vermag auf Bedrohungen zu reagieren, die ihm nie zuvor begegnet sind, seien es nun infektiöse Agenten oder vom Menschen hergestellte Substanzen, die zur Zeit der Evolution des Menschen noch nicht auf diesem Planeten existierten, die aber nichtsdestoweniger als potentiell schädlich erkannt, ausgegrenzt und neutralisiert werden können. Das Immunsystem kann diese Reaktion lernen und sich bei Bedarf daran erinnern. Wenn dieses System zusammenbricht, wie das manchmal auf unerklärliche Weise geschieht, verlieren wir die schützende Selbsterkennung unseres Körpersystems. Das führt dann zu den sogenannten Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem normales Körpergewebe anzugreifen beginnt. Der Kontakt unter den Mitgliedern dieses Verbundes von Zellen und Geweben, aus denen der Körper besteht, ist dann nicht mehr von einer Art, die zur Optimierung von Harmonie und Gesundheit führt. Der Austausch zwischen ihnen verstummt oder wird toxisch. Das ist nichts sehr viel anderes, als wenn soziale Gruppen oder Nationen keine gemeinsame Grundlage mehr finden können. Was die Frage der körperlichen Identität und die über die Selbstverteidigung hinausgehende Rolle des Immunsystems angeht, benutzte Francisco Varela eine soziale Analogie, um ein Gefühl für seine nicht aus sich heraus existierende Natur zu vermitteln. Da er in Paris lebte, nahm er Frankreich als Beispiel. Im Gespräch mit dem Dalai Lama führte er folgendes aus: Was ist die Natur der Identität einer Nation? Frankreich zum Beispiel hat eine Identität, und die sitzt nicht im Büro von Francois Mitterand [dieses Gespräch fand 1990 statt, als Mitterand noch französischer Staatspräsident war]. Wenn zu starke fremdländische Einflüsse in das System eindringen, dann wird es sich natürlich nach außen gerichteter Abwehrfunktionen bedienen. Die Armee startet also eine militärische Reaktion; dennoch wäre es töricht zu behaupten, daß diese militärische Reaktion die Gesamtheit der französischen Identität darstellt. Was ist die Identität Frankreichs, wenn es keinen Krieg gibt? Es ist das Gefüge des sozialen Lebens, die Kommunikation, die entsteht, wenn Menschen einander begegnen und miteinander sprechen, welche Identität erzeugt. Das ist der Pulsschlag des Landes. Man geht durch eine Stadt und sieht die Leute in Cafes sitzen, Bücher schreiben, Kinder aufziehen, kochen - aber vor allem reden. Etwas Analoges geschieht im Immunsystem, während wir unsere körperliche 231
Identität aufbauen. Zellen und Gewebe besitzen eine Identität als ein Körper, weil es das Netzwerk von B-Zellen und T-Zellen gibt, die sich ständig durch den Körper bewegen und dort Verbindungen mit jedem einzelnen molekularen Profil herstellen und wieder auflösen. Sie verbinden sich auch ständig untereinander und lösen diese Verbindung wieder auf. Ein großer Teil der Kontakte einer B-Zelle besteht aus Kontakten mit anderen B-Zellen. Wie in einer Gesellschaft bauen die Zellen ein Gefüge wechselseitiger Interaktionen auf, ein funktionales Netzwerk. ... Und durch diese wechselseitigen Interaktionen werden Lymphozyten gehemmt oder in Klonen vervielfältigt, so wie Menschen degradiert oder befördert werden, wie Familien sich ausdehnen oder kleiner werden. Diese Bestätigung der Identität eines Systems, die keine Abwehrreaktion ist, sondern eine positive Konstruktion, ist eine Art von Selbst-Bestätigung. Das ist es, was unser „Selbst“ auf der molekularen und zellulären Ebene ausmacht.... Es gibt TZellen, die sich mit jedem einzelnen molekularen Profil im Körper verbinden können, so wie es für jeden Aspekt des französischen Lebens Museen und Bibliotheken, Cafes und Bäckereien - Menschen geben muß, die damit umgehen. ... Tatsächlich findet man Antikörper zu jedem einzelnen molekularen Profil in unserem Körper (Zellmembranen, Muskelproteine, Hormone und so weiter). ... Durch diese verteilte Interdependenz wird ein globales Gleichgewicht hergestellt, so daß die Moleküle meiner Haut in Kommunikation mit den Zellen meiner Leber stehen, weil sie durch dieses zirkulierende Netzwerk des Immunsystems wechselseitig beeinflußt werden. Aus der Perspektive der NetzwerkImmunologie ist das Immunsystem nicht anderes als etwas, was die ständige Kommunikation zwischen den Zellen unseres Körpers ermöglicht, so wie die Neuronen voneinander entfernte Orte im Nervensystem miteinander verbinden ... Die Zellen des Immunsystems sterben etwa in einem Rhythmus von zwei Tagen ab und werden durch neue ersetzt [bei einigen ist das der Fall, andere leben viel länger, Wochen oder sogar Monate], so wie Menschen in einer Gesellschaft nach einer bestimmten Zeit sterben und ständig wieder Kinder geboren werden. Auf sehr komplexe Weise bildet die Gesellschaft die Kinder aus diesem Reservoir dazu aus, verschiedene Aufgaben zu übernehmen. Auf diese Weise erneuert das System seine Bestandteile. Es kommt zu Lernen und Erinnerung, weil neue Zellen durch „Erziehung“ in das System eingepaßt werden. Die neuen Zellen sind nicht mit den alten identisch, aber sie spielen dieselbe Rolle für den übergeordneten Zweck des emergierenden globalen Bildes.... Wir sind es nicht gewohnt, uns den Körper als ein Selbst vorzustellen, das ein ebenso komplexes Ding ist wie unser kognitives Selbst, aber wir funktionieren tatsächlich auf diese Weise.... Um wieder zu meiner sozialen Analogie zurückzukehren: Ich kaufe mein Brot jeden Tag bei einem Bäcker in Paris, dessen Familie diese Bäckerei bereits seit 200 Jahren betreibt. Er ist Teil der Gesellschaft und weiß, wie er sein Brot zu backen hat. Wenn ich eines Tages plötzlich einen anderen Bäcker in derselben Bäckerei vorfinde, der vielleicht die gleichen Dinge tut und das gleiche Brot verkauft, wird das trotzdem nicht dasselbe sein. Mein Bäcker gehört aufgrund der langen Geschichte seiner Interaktionen an diesen Ort; er kennt die Leute des 232
Viertels schon seit langem und sie sprechen eine gemeinsame Sprache. Sie könnten versuchen, diesen französischen Bäcker zu imitieren, aber wenn Sie nicht die richtige Geschichte haben und dieselbe Sprache und Fähigkeit zur Kommunikation besitzen, dann werden die Nachbarn Sie ablehnen. Was meine Zellen an ihrem Ort etabliert und es meinen Leberzellen erlaubt, sich als Leberzellen zu verhalten, meinen Thymuszellen erlaubt, sich als Thymuszellen zu verhalten und so weiter, das ist die Tatsache, daß sie diese gemeinsame Sprache besitzen, so daß sie in einem Kontext miteinander operieren können. Auf ähnliche Weise weiß der Bäcker, daß auch der Bankier zu seiner Gemeinschaft gehört, selbst wenn der Bankier etwas ganz anderes tut. Da wir so sehr an das Funktionieren unseres Körpers gewöhnt sind, wissen wir die Komplexität dieses emergierenden Prozesses, der sein Funktionieren aufrechterhält, gar nicht mehr zu würdigen. So ähnlich wie im menschlichen Gehirn, wo das Erinnerungsvermögen oder die Empfindung eines Selbst emergierende Eigenschaften aller Neuronen sind, gibt es im Immunsystem eine emergierende Fähigkeit, den Körper zu erhalten und eine Geschichte damit zu haben, ein Selbst zu haben. Als emergierende Eigenschaft ist das etwas, was entsteht, das aber nicht irgendwo existiert. ... Meine körperliche Identität ist nicht in meinen Genen oder in meinen Zellen lokalisiert, sondern im Komplex ihrer Interaktionen. Wir können uns an diese vitale und dynamische Perspektive erinnern, wenn wir uns im siebten Teil mit der Metapher der Welt als lebendigem Körper beschäftigen.
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Keine Fragmentierung Wie Sie inzwischen dadurch, daß Sie den Aktivitäten Ihres eigenen Körpers und Geistes von Moment zu Moment etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, vielleicht schon in gewissem Ausmaß erfahren haben, neigen wir dazu, innerlich wie äußerlich ein stark fragmentiertes Leben zu führen. Und wir haben an dieser Fragmentierung Anteil und tragen dazu bei, indem wir zeitweilig vergessen, wer wir in unserer tiefsten Natur tatsächlich sind, sowie auch durch den Impuls, nicht so zu sein, wie wir sind, sondern wie andere oder wir selbst uns am liebsten haben würden. So spalten wir uns von uns selbst ab. Wir spalten uns auf, um Chimären nachzujagen, manchmal für Jahre oder gar Jahrzehnte, und in diesem Prozeß verlieren wir den Kontakt zu unserer wahren Natur, zu unserer Souveränität und verraten manchmal sogar die Schönheit dessen, was wir tatsächlich sind, sowie unsere ungeteilte und unaufteilbare Ganzheit. Dies ist ein Symptom unserer endemischen Überlastung und unseres Un-Wohlseins als Individuen und als Gesellschaft. Vielleicht ist dieses Abspalten von uns selbst der Wurzelkonflikt. Vielleicht ist er sogar der Kern aller Konflikte. Heilwerden ist ein Prozeß, zu dem gehört, daß wir unsere Ganzheit anerkennen und uns standhaft dagegen wehren, uns zersplittern zu lassen, selbst wenn wir vor etwas Angst haben oder vom Leben zerbrochen werden. Heilwerden heißt letztlich, daß wir mit den Dingen, so wie sie sind, Frieden schließen, statt ständig darum zu ringen, sie zu zwingen, so zu sein, wie sie einmal waren oder wie wir sie gern haben würden, damit wir uns sicher fühlen können, oder einfach, um unseren Willen zu bekommen. Wie Saki Santorelli in seinem Buch über die heilende Kraft der Achtsamkeit gesagt hat, geht es bei der Heilung darum, zu wissen, daß wir zerbrochen und doch ganz sein können. Emily Dickinson hat diesen endemischen Impuls, Teile von uns selbst abzuspalten, uns angesichts unserer eigenen Ängste und Wunden zu fragmentieren, mit unglaublicher Prägnanz formuliert: Mich zu verbannen aus mir selbst besäße ich die Kunstfertigkeit meine Festung wäre uneinnehmbar für jedes Herz. Doch da ich selbst es bin, der mich belagert wie könnt ich Frieden finden, wenn nicht, indem ich das Bewußtsein unterwürfe? Und da wir beide für einander Herrscher sind, wie könnt dies sein, wenn nicht durch Abdankung des Ich - von mir? Wie oft verbannen wir uns freiwillig, doch ohne uns dessen bewußt zu sein, aus uns selbst, wie oft danken wir ab von unserer Ganzheit, wie oft unterwerfen wir unser 234
Bewußtsein und unseren gesunden Menschenverstand, unsere Souveränität und die Möglichkeiten wahrer Heilung in der Hoffnung, Unverletzlichkeit zu finden, uns selbst vor weiteren Schmerzen zu bewahren und unser Leiden zu lindern? Was ist der Preis, den wir für eine solche Abdankung zahlen? Und ist er die Sache wert? Was wäre, wenn wir uns entschlössen, mutig zu sein und unser Bewußtsein nicht mehr zu unterwerfen? Oder es wenigstens für einen Moment nicht mehr zu tun? Wer wären wir dann? Wie würden wir uns innerlich fühlen? Wie würden wir uns äußerlich verhalten?
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Keine Trennung Albert Einstein, der zu seiner Zeit tiefere Einsicht in die Natur von Zeit und Raum, von Masse und Energie, von Licht und Schwerkraft besaß als andere, sah vielleicht ebenso tiefgehend, welch blind machende Wirkungen Begehren und Anhaften haben und wie wichtig es ist, das aufzulösen, was er die „Täuschung der Getrenntheit“ nannte. Als sich einmal ein Rabbi an ihn wandte und ihn um Rat fragte, wie er den Tod seiner Tochter, eines „wunderschönen sechzehnjährigen Mädchens ohne Sünde“ deren älterer Schwester erklären solle, entgegnete Einstein: Ein Mensch ist Teil des Ganzen, das wir „Universum“ nennen, ein in Zeit und Raum begrenzter Teil. Es erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas vom Rest Getrenntes - eine Art optischer Täuschung seines Bewußtseins. Diese Täuschung ist wie ein Gefängnis für uns, da sie uns auf unsere persönlichen Wünsche und auf die Zuneigung für einige wenige Menschen, die uns am nächsten stehen, beschränkt. Unsere Aufgabe besteht darin, uns aus diesem Gefängnis zu befreien und den Kreis unseres Mitgefühls derart auszuweiten, daß er alle lebenden Kreaturen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit umfängt. Niemand ist fähig, das vollkommen zu erreichen, aber das Streben nach einer solchen Errungenschaft ist an sich bereits ein Teil der Befreiung und ein Fundament für innere Sicherheit. Daß Einstein als großer Physiker von Befreiung und innerer Sicherheit spricht, ist an sich schon sehr bezeichnend. Es unterstreicht, wie sehr er das Gefühl hatte, daß wir alle von der Täuschung der Getrenntheit geplagt werden, der Trennung meiner selbst von mir selbst, meiner selbst von dir, des Ich vom Du, und wieviel er von dem Leiden verstand, das daraus resultiert, sowie von der Notwendigkeit, sich durch das Kultivieren von Mitgefühl dagegen zu schützen. Er sah in Begriffen der Ganzheit, mit den Augen der Ganzheit. Und in Begriffen der Befreiung von Täuschung. Und seine Antwort war ... Mitgefühl. Können wir von uns selbst verlangen, mit den Augen der Ganzheit zu sehen und uns bewußt zu sein, was für ein Gefängnis wir aufgrund unserer Täuschung der Getrenntheit für uns selbst und für andere errichten, wo es doch im Grunde gar keine Trennung gibt? Können wir, wie Einstein es formulierte, den Kreis unseres Mitgefühls so weit ausdehnen, daß er „alle lebenden Kreaturen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit“ umfängt? Und können wir uns selbst in diesen Kreis des Mitgefühls mit einbeziehen? Warum nicht. Es ist schließlich eine Sache der Übung, nicht der Philosophie. Und diese Übung nennt man aufwachen aus der Täuschung, aus der Fragmentierung, aus der Abdankung, aus den Machenschaften unserer eigenen Mißverständnisse. Das nennt man die Befreiung unserer selbst von dem, was „Getrenntheit“ zu sein scheint, wo wir doch in Wirklichkeit auf der allertiefsten Ebene wahrhaft zugehörig sind, wo wir doch schon immer nahtlos in das Ganze eingewoben sind, wo wir doch bereits zu Hause sind, hier, 236
in diesem Augenblick, mit diesem Atemzug, an diesem Ort. Ach, nicht getrennt zu sein, nicht durch so wenig Wandung vom Sternen-Maß Innres, was ists? Wenn nicht gesteigerter Himmel durchwarfen mit Vögeln und tief von Winden der Heimkehr. RAINER MARIA RILKE
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Orientierung in Zeit und Raum Im Gedenken an meinen Vater Wer bin ich? Wo bin ich? Wie spät ist es? Wo war ich? Was habe ich gerade getan? Wo gehe ich hin? Nein, das ist nicht der Titel eines Gemäldes von Gauguin, auch wenn er das sein könnte. Doch das sind grundlegende Fragen. Wir schätzen uns glücklich, wenn wir uns daran erinnern können, den Herd abzuschalten, nachdem wir ihn benutzt haben, und uns, was sehr viel schwieriger ist, einige Zeit später noch daran erinnern können, daß wir ihn abgeschaltet haben. Doch wir schätzen uns im allgemeinen nicht glücklich, wenn wir wissen, was wir tun, wer wir sind, wo wir sind oder wie spät es ist. Wir sollten aber froh darüber sein. Wir halten schrecklich viel für selbstverständlich, was eigentlich überaus wunderbar und belebend ist und jedem sich entfaltenden Moment unseres Lebens einen Sinn gibt. Als mein Vater allmählich große Bereiche seines Verstands an die AlzheimerKrankheit verlor, wurde mir auf beunruhigende Weise klar, wieviel ich bisher für selbstverständlich gehalten hatte. Ich wußte, wo ich war, wie ich dort hingekommen war, was ich zuvor getan hatte und was als nächstes kommen könnte. Und ich brauchte gar nicht darüber nachzudenken. Ich wußte es einfach. All das löste sich für ihn immer mehr auf. Es war, als entstünden große Löcher in seinem Gehirn. Zeit und Raum und Kausalität gehörten zu den frühen Opfern. Mein Vater, Elvin Kabat, hatte seine gesamte berufliche Laufbahn am Medical Center der Columbia University absolviert, abgesehen von einer Zeitspanne von zwanzig Jahren gegen Ende seines Berufslebens, in denen er, erstaunlich für einen Mann seines Alters, jedes Wochenende zwischen seinem Labor in New York und einem von ihm geleiteten Projekt an den National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, Maryland, hin und her fuhr. Bei diesem Projekt wurden die Sequenzen aller bekannten Antikörper-Moleküle und später ihrer Gene gesammelt, und die Daten wurden ins Internet gestellt und ständig aktualisiert. Eines Tages erzählte mir einer seiner Kollegen von der Columbia University die folgende Geschichte: Gegen Ende ihres gemeinsames Mittagessens in der Ärztekantine sagte mein Vater zu ihm, er werde sich gleich zum Flughafen aufmachen, um nach New York zurückzukehren. Das Problem war, daß er sich bereits in New York befand. Als ich diesen Anruf erhielt, wußten ich und meine Familie bereits Bescheid. Die erste Episode, der ich es erlaubte, in mein Bewußtsein zu dringen oder die ich einfach nicht mehr übersehen konnte, ereignete sich in jenem Jahr, als er, wie immer ohne Steuerberater, seine Steuererklärung machte. Er berichtete mir voller Begeisterung, er werde das Finanzamt dazu bewegen, ihm die Kosten für all seine Reisen zwischen New York und den NIH zu erstatten. Doch dabei verwechselte er, was früher unvorstellbar gewesen wäre, einen Steuerabzug mit einer Rückzahlung. Ich war am Boden zerstört. Ich erinnere mich bis zum heutigen Tag an dieses Gefühl des Absackens, das irgendwo tief in meiner Brust begann und sich dann als Übelkeit in der Magengegend festsetzte, als mir klar wurde, was das zu bedeuten hatte. Dies war ein 238
Symptom von einer ganz anderen Größenordnung als die gelegentliche Schwierigkeit, das richtige Wort zu finden oder zu vergessen, wo er seine Schlüssel abgelegt hatte. Konnte das wahr sein? Was sollte dies für meinen Vater bedeuten, dessen eigener Mentor, der große Immunologe Michael Heidelberger, 103 Jahre alt geworden war und der bis zum Alter von 102 Jahren noch täglich in seinem Labor aufgetaucht war, um mit den Studenten zu diskutieren und seine Forschungsberichte zu schreiben. Meines Vaters einziger Wunsch war es – und dieser Wunsch wurde immer stärker, während er selber spürte, daß er älter wurde –, kreativ zu bleiben und in seinem geliebten Labor das leisten zu können, was er „produktive Arbeit“ nannte. Sein ganzes Leben lang hatte er, der er mit einem rasiermesserscharfen Intellekt begabt war, fast ausschließlich in und von seinem Verstand gelebt. Er hatte einen Lehrstuhl in Mikrobiologie inne und war in drei anderen Fakultäten als Professor tätig, und er hatte für seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Immunochemie und der Molekularen Immunologie aus der Hand des Präsidenten die National Medal of Science erhalten. Er war altgedientes Mitglied der National Academy of Sciences, ein Mann, der schon überall als Dozent und Berater gearbeitet hatte und der sich praktisch als einziger auf weiter Flur und unter großen Kosten für seine berufliche Karriere gegen den Loyalitätseid verwahrt hatte, den das öffentliche Gesundheitssystem während der McCarthy-Ära allen Wissenschaftlern abverlangte, die Forschungsgelder beantragten. Er boykottierte die National Institutes of Health öffentlich und gewährte vom Public Health Service finanzierten Wissenschaftlern so lange keinen Zugang zu seinem Labor, bis, so lautete zumindest seine Version der Geschichte, die Regierung nachgab und einige Jahre später die Forderung zurücknahm. Ich erinnere mich, wie er damals, ich war noch ein Schuljunge, nach Hause kam und eine Flasche Champagner für die Familie öffnete, um seinen Sieg zu feiern. Prinzipientreue und Ehrlichkeit waren ihm heilig; seine ethische Leitlinie als Naturwissenschaftler war, die Daten für sich sprechen zu lassen. Soweit ich weiß, ist er während seiner gesamten wissenschaftlichen Arbeit niemals von diesem Prinzip abgewichen. Er hatte in seinem Labor in Zusammenarbeit mit Kollegen aus aller Welt fast fünfhundert Forschungsberichte veröffentlicht. Er war der Koautor von drei Ausgaben eines gewichtigen Lehrbuchs mit dem Titel Experimental Immunochemistry, zu seiner Zeit die Bibel auf diesem Gebiet, und hatte eine Reihe anderer Fachbücher veröffentlicht, von deren Inhalt ich trotz meiner Ausbildung in Molekularbiologie kaum ein Wort verstand. Und nun verwechselte dieser Mann einen Steuerabzug mit einer Rückzahlung, fragte mich, in wessen Haus er sich befand, wenn er mich besuchen kam, erklärte mir mit einiger Befriedigung, er habe eine besondere Abmachung mit der Telefongesellschaft, daß er seine Telefonrechnung mit Einzahlungsbelegen statt mit einem Scheck begleichen dürfe, und war dabei so überzeugend und liebenswürdig, daß ich ihm für einen Moment beinahe Glauben schenkte. Nun erzählte er gelegentlich, wie er einst eine Zeitlang unter den Pygmäen in Afrika gelebt habe, und daß sie, die bereits alle seine Forschungsberichte gelesen hatten, „sehr glücklich“ gewesen seien, ihn zu treffen, als er in ihrem Dorf ankam. Das Bild der kleinen Menschen, die zu ihm aufsahen und ihm ihre Ehrerbietung erwiesen, war nicht zu übersehen. Als ich ihn fragte, wo in Afrika das gewesen sei, antwortete er „Südamerika“. Und in diesem Stil ging es weiter. Er lief ziellos in der Nachbarschaft umher. Er wurde inkontinent. Er begriff seine eigene Arbeit nicht mehr. Und er wußte 239
immer weniger zu sagen, wer seine Freunde waren. Die Zeit, die ich mit ihm verbringen konnte, war mir kostbar, ganz gleich, was geschah, während sich der Vorhang auf sein Gedächtnis herabsenkte und er immer weniger wußte, wo er war und was mit ihm geschah. Wir saßen nebeneinander und hielten uns bei der Hand, manchmal stundenlang. Er konnte sehr lange dasitzen. Es war, als meditierten wir zusammen. Er war auf seine Weise präsent und ich auf meine. Das Wichtigste war, daß wir zusammen waren. Unsere gemeinsame Zeit war kostbar, schmerzlich und nervenaufreibend. Er hatte lichte Momente, in denen er einen umwerfenden Humor an den Tag legte. So kommentierte er das Kommen und Gehen der Krankenwagen, das er vom Fenster seines Zimmers in dem Pflegeheim, in dem er schließlich untergebracht werden mußte, aus beobachtete, eines Tages mit dem Satz: „Wenn du stirbst, dann schmeißen sie dich raus.“ Ich spürte, wie seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten immer mehr nachließen, und eine Zeitlang spürte er es ebenfalls und lehnte sich dagegen auf, bis auch diese Auflehnung sich schließlich auflöste. Aber es kam nie soweit, daß er nicht mehr wußte, wer seine Frau, wer seine Kinder und Enkelkinder waren. Er konnte uns allein an der Stimme am Telefon erkennen. Wenn ich ihn anrief und nur „Hi, Dad“ sagte, wußte er sofort, daß ich am Apparat war und nicht einer meiner beiden Brüder, deren Stimme sehr ähnlich ist. Seine liebevolle Begrüßung „Hi, Johnny, Schatz“ traf mich mit schmerzlicher Wucht und löste Dankbarkeit und Traurigkeit zugleich aus. An dem Tag, an dem er starb, hatte ich ihn einige Stunden lang in meinen Armen gehalten und ihm seine Lieblingslieder von Gilbert und Sullivan vorgesungen, Lieder, die er für mich gesungen hatte, als ich noch ein Kleinkind gewesen war. Hier und da veränderte ich den Text und erfand neue Verse, um ihm die Botschaft zu vermitteln, wie sehr er in der Liebe seiner Familie lebte, und daß es ganz in Ordnung war, wenn er nun Abschied nahm. Zwischen diese Lieder streute ich immer wieder Rezitationen von Mantren und Texten ein, die ich im Lauf der Jahre in den verschiedenen Traditionen, in denen ich Meditation praktiziert hatte, gelernt hatte, einschließlich des „Herz-Sūtra“ auf englisch und koreanisch, um dann immer wieder in lange Perioden des Schweigens zu verfallen. Es fühlte sich irgendwie richtig an, „Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form“ anzustimmen, während mir Tränen über die Wangen liefen. In all dem und besonders in den langen Phasen der Stille war ich mir seiner zaghaften, unregelmäßigen Atmung bewußt, aber auch meiner eigenen. Und dann kam nach vielen Stunden ein Moment, in dem seine Ausatmung stockte – und keine Einatmung folgte. Schluchzend hielt ich ihn noch lange in den Armen. Während der acht langen Jahre, in denen mein Vater seinen Verstand verlor, wurde mir sehr viel über die Dinge klar, die ich für selbstverständlich gehalten hatte. Er verlor zunehmend den Kontakt zu dem, was nur wenige Momente zuvor geschehen war. Er war zwar präsent, aber es war eine verwirrte Präsenz. Er war sich des Zusammenhangs der Dinge nicht mehr bewußt. Er besaß keine Orientierung in einem umfassenden Bewußtsein, das ein Gefühl für Vergangenheit und Zukunft beinhaltete. Er brachte es oft nicht fertig, Gedanken, die er zweifellos hatte, festzuhalten und in Worte zu fassen. So sprach er zum Beispiel über bestimmte Dinge, mußte dann aber, weil ihm das Wort nicht einfiel, auf Begriffe wie „Substanz“ oder „Material“ zurückgreifen, die er in seinem wissenschaftlichen Vokabular oft verwendet hatte, was zur Folge hatte, daß wir 240
ihn einfach nicht verstehen konnten, weil das alles so vage war. Seine Beziehungen außerhalb der Familie wurden für ihn immer verschwommener, doch seine Gefühle waren weiterhin intakt. Nach einer schrecklichen und erschreckenden Phase intensiver Frustration und Wut über seine mißliche Lage und seine Unfähigkeit, trotz aller Versuche, an seinem Leben und seinem Labor und seiner Welt festzuhalten, etwas daran zu ändern, wurde er sanfter und ganz offenkundig liebevoller. Er vereinsamte zunehmend und war immer mehr in seiner Welt isoliert. Er freute sich über alle Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte. Er liebte Aufmerksamkeit. Das war schon immer einer seiner herausragenden Charakterzüge gewesen, ganz gleich, wie sehr seine Leistungen von der Welt anerkannt wurden. Doch bis zum Ende mußte es eine respektvolle Aufmerksamkeit sein. Er nahm sehr wohl wahr, ob jemand nur so tat, als ob, und sich über ihn lustig machte, oder ob die Zuwendung von Herzen kam. Die Krankheit meines Vaters machte mir klar, wie wichtig es ist, von dem vollen Spektrum unserer geistigen Fähigkeiten Gebrauch zu machen, solange wir sie noch besitzen, und sie auf keinen Fall für selbstverständlich zu halten. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, diese Fähigkeiten zu entwickeln, um die Wirklichkeit der Dinge erkennen zu können und sich nicht dazu verführen zu lassen, die bloße Erscheinung irrtümlich für die Realität zu halten. Das war meinem Vater in seiner Laufbahn als Wissenschaftler nie passiert, aber wie wir alle war er in anderen Bereichen des Lebens nicht dagegen immun, auch wenn er Immunologe war. Schließlich müssen wir alle wissen, wo wir in Zeit und Raum lokalisiert sind (und sei es nur, daß wir wissen, daß wir uns verirrt haben), und wenn wir nicht gerade an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz leiden, dann wissen wir das auch. Und wir alle müssen mit der relativen Empfindung des Wissens darum in Kontakt sein, wann wir etwas erfahren (jetzt) und wo wir uns befinden (hier), und wir müssen unsere Position innerhalb eines Stroms von „vorher und nachher“ bestimmen können und wissen, wo wir wann waren. Unser Nervensystem übernimmt auf eine Weise, die wir noch nicht verstehen, diese orientierenden Funktionen für uns und macht seine Arbeit zeitlebens bemerkenswert gut. Aber wir sollten nicht vergessen, daß dies eine Eigenschaft des Geistes ist, die selbst vergänglich ist, der wir uns nicht sicher sein und die wir nicht für selbstverständlich halten dürfen. Wenn wir Achtsamkeit kultivieren, dann machen wir den besten Gebrauch von dieser Fähigkeit, solange uns das noch möglich ist. Die Anfangsszene des Romans Die Diagnose von Alan Lightman, in der ein Geschäftsmann auf dem Weg zur Arbeit irgendwo zwischen dem Alewife-Bahnhof in einem Vorort und seinem Bestimmungsort im Zentrum von Boston einfach und auf unerklärliche Weise vergißt, wer er ist und wohin er gerade fährt, beschreibt diesen Verlust der grundlegenden Funktion der Orientierung mit erschreckender Eindringlichkeit. Der surreale Alptraum, sein Ziel und seine Orientierung zu verlieren („Wohin fahre ich denn heute morgen in meinem Geschäftsanzug? Ach ja. Natürlich ins Büro, wie all die Leute in diesem Zug. Aber wo arbeite ich denn und was habe ich eigentlich für einen Beruf?“), führt plötzlich dazu, daß er sich in einem traumartigen Zustand verliert, in dem ihm alles vage bekannt vorkommt, es dann aber doch nicht ist. Ein Traum, der sehr schnell zu einem echten Alptraum wird. Wir leben alle ständig am Rande eines solchen Alptraums. Aber irgendwie ist unser Orientierungssystem so robust, daß uns der pathologische Zustand und der Alptraum 241
erspart bleiben - zumindest auf der konventionellen Ebene. Aber „Wer bin ich?“ und „Wohin gehe ich?” sind tiefgründige Fragen, im Grunde echte Zen-Kōans18, und ich denke, daß es uns sehr gut tun würde, wenn wir uns diese Fragen als eine Meditationsübung regelmäßig selber stellten, statt das, was wir sind und was wir tun, für selbstverständlich zu halten, besonders wenn wir glauben, die Antwort zu wissen und nicht dazu neigen, das Häutchen der oberflächlichen Erscheinung und der Geschichten, die wir uns selbst erzählen und die vielleicht die Tiefenstruktur und die vielfältigen Dimensionen unseres wahren Lebens überdecken, zu entfernen. Denn keiner von uns kann sich jemals sicher sein, daß ihm diese Fähigkeiten auch weiterhin zur Verfügung stehen werden, und wie lange er noch leben wird, um zu lernen und in die Fülle seiner selbst hineinzuwachsen. Was bei meinem Vater erhalten blieb, als sein Gedächtnis und sein Verstand schon fast gänzlich dahin waren, war die Liebe seiner Familie und die tiefen Bande zu vielen wunderbaren Freunden, Kollegen und Studenten in aller Welt, und das, was er in der Welt getan, gegeben und geliebt hatte. Das sind die menschlichsten unserer Verbindungsfäden zu dieser Welt. Aber auch sie sind flüchtig und vergänglich, so daß wir sie am besten anerkennen, sie kultivieren und uns ihrer erfreuen sollten, solange wir noch Gelegenheit dazu haben. Was ein jeder von uns irgendwann einmal vielleicht am tiefsten bedauern könnte, wäre, daß er den Moment nicht beim Schopfe gepackt und als das gewürdigt hat, was er war, solange er greifbar war, insbesondere was unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur angeht. Vielleicht ist das die wesentlichste Orientierung, sowohl innerhalb von Zeit und Raum als auch gleichzeitig außerhalb von Zeit und Raum: eine nahtlose Kontinuität des Wissens um das, was ist, direkt, nichtbegrifflich und erfahrungsbezogen. Und die Tatsache, es zu lieben.
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Ein Kōan ist ein Hilfsmittel der Zen-Schulung, eine Herausforderung in Form einer Frage oder eines Dialogs, die man versucht, während der Meditation vor dem inneren Auge zu halten, die man begreifen und auf die man antworten soll, ohne mit dem diskursiv denkenden Geist zu antworten, da jegliche Antwort, die aus dem Denken kommt, nicht authentisch und nicht den gegebenen Umständen angemessen sein wird. Beispiele für ein Kōan sind die Fragen „Was bin ich?“ oder „Hat ein Hund die Buddha-Natur?“ oder „Was ist Buddha?“. Praktisch sämtliche Situationen unseres Lebens könnte man als ein Kōan ansehen; es könnte etwa „Was ist dies?“ oder sogar „Was jetzt?“ lauten. Die Antwort könnte in jedem Augenblick eine andere sein. Es geht einzig darum, daß sie authentisch und angemessen ist und nicht aus dem dualistischen Denken hervorgeht. Es kann auch eine nichtverbale Antwort sein. 242
Orthogonale Wirklichkeit — Quantensprünge des Bewußtseins In der Regel sind wir Menschen bewunderungswürdige Erforscher und Bewohner der konventionellen Realität gewesen, der Welt „da draußen“, wie sie von unseren fünf klassischen Sinnen definiert und moduliert wird. Wir haben uns im Laufe der menschlichen Geschichte in dieser Welt eingerichtet und haben gelernt, sie nach unseren Bedürfnissen und Wünschen zu gestalten. Dank der Anstrengungen der Naturwissenschaften verstehen wir Ursache und Wirkung in der physischen Welt, zumindest in der Welt der Newtonschen Physik, immer mehr, und dieses Verständnis vertieft sich ständig noch weiter, während neue Entdeckungen gemacht werden. Doch selbst in den Naturwissenschaften ist es, wenn wir die Grenzbereiche betrachten, nicht so klar, ob wir die zugrundeliegende Wirklichkeit wirklich verstehen, die auf beunruhigende Weise rein statistisch, unvorhersagbar und geheimnisvoll zu sein scheint, etwa bei der Frage nach Ursache und Zeitpunkt eines bestimmten Vorgangs von radioaktivem Zerfall im Kern eines radioaktiven Atoms, oder ob das Universum endlich ist oder nicht, ob Zeit tatsächlich existiert, was im Inneren eines Schwarzen Lochs geschieht, warum das Vakuum so viel Energie besitzt oder ob der Raum nichts oder etwas ist. Nichtsdestoweniger haben wir in der alltäglichen Realität der gelebten Erfahrung, wie schon früher angemerkt, einen Körper; wir werden geboren, leben unser Leben und sterben. Zum größten Teil bleiben wir dabei, den Schein der Dinge zu akzeptieren und mehr oder weniger bequeme Erklärungen dafür zu finden, wie die Dinge sind und warum sie so sind. Und unsere Sinne können uns einlullen, wenn wir uns von unseren Gewohnheiten bestimmen lassen und nicht wirklich von Moment zu Moment mit den Dingen in Kontakt sind und wenn wir dermaßen von unserem Denken und Handeln absorbiert sind, daß wir uns vom Bereich des Seins, vom Bewußtsein entfernen, auch wenn er uns in jedem Moment näher als nah ist. Während ein junger Mensch auf der Straße an uns vorbeigeht, sage ich zu Myla: „Hat er nicht ein schönes Gesicht?“ Worauf sie antwortet: „Nun ja, wenn du das Fehlen jeglichen Gefühls darin übersiehst.“ Es hängt alles davon ab, was wir bereit sind zu sehen oder was wir aus einem Reflex heraus ignorieren, wie bereitwillig wir unsere momentane Wahrnehmung an das Seil eines aus Gewohnheit unachtsamen Wahrnehmens andocken lassen, bei dem wir nicht wirklich hinsehen, aber doch so tun, als täten wir es. In der Welt der konventionellen Realität tun wir unser Bestes. Wir verdienen unseren Lebensunterhalt, bringen das Essen auf den Tisch, lieben unsere Kinder und kümmern uns um unsere Eltern. Wir tun unsere Arbeit und was sonst noch nötig ist, um unsere Vorwärtsbewegung durch das Leben aufrechtzuerhalten, und vielleicht lernen wir sogar, wie der Grieche Alexis Sorbas zu tanzen - auch im Angesicht der existentiellen Prüfungen des Lebens, von Streß, Schmerzen, Krankheit, Alter und Tod, eben dem, was Sorbas „die ganze Katastrophe“ nannte. Und die ganze Zeit sind wir eingetaucht in einen Strom von Gedanken, deren Ursprung und Inhalt uns häufig nicht klar sind und 243
die zwanghaft, sich ständig wiederholend, ungenau, quälend unaufhörlich und toxisch sein können, Gedanken, die auf den gegenwärtigen Augenblick abfärben und ihn vor uns verbergen. Außerdem werden wir oft von Gefühlen überwältigt, die wir nicht zu kontrollieren vermögen und die bei uns und anderen großen Schaden anrichten können oder die das Resultat früher Verletzungen oder vermeintlicher Verletzungen sind. Diese Gedanken hindern uns auch daran, einigermaßen klar zu sehen, selbst wenn unsere Augen weit offen sind. Unangenehme Momente sind verwirrend und verstörend. Deshalb betrachten wir sie oft als Verirrungen oder Hindernisse für jenes Glück, nach dem wir ständig auf der Suche sind und um das wir so viele Geschichten spinnen. Wir übertünchen solche Momente mit unserer andauernden Unaufmerksamkeit, so daß sie schnell in Vergessenheit geraten. Es kann aber auch sein, daß wir um unser Versagen, unsere Unzulänglichkeiten und unsere Missetaten eine ebenso unangenehme und quälende Geschichte herumbauen, eine Geschichte, die erklärt, warum wir unsere Begrenzungen und unser Karma nicht transzendieren können. Oft halten wir diese Geschichte dann auch noch für wahr, vergessen, daß sie bloß eine der vielen Geschichten ist, die wir uns selbst erzählen, und halten verzweifelt daran fest, als hingen unsere Identität, unser Überleben und all unsere Hoffnungen davon ab. Außerdem vergessen wir gern, daß unsere konventionelle Realität, die Konsensusrealität, die wir das normale Leben nennen, selber in einem Pawlowschen Sinne zutiefst konditioniert ist. Als ein Ergebnis dieser lebenslangen Konditionierung sind wir nicht wirklich so „frei“, wie wir zu sein glauben, wenn wir annehmen, wir besäßen die Freiheit, zu tun und zu lassen, was immer wir wollten, was jedoch nur bedeuten mag, daß wir völlig im Griff des gewohnheitsmäßigen Festhaltens und Zurückweisens unseres Geistes und diesem total ausgeliefert sind. Wir sind uns nicht einmal unseres Potentials zu jener Freiheit bewußt, von der Einstein und Buddha gesprochen haben. Und warum? Weil wir vergessen oder nicht wissen, daß wir nicht unaufhörlich in einem Reagieren auf die Ereignisse feststecken müssen, in unseren oft unbewußten Entscheidungen, dies oder jenes zu tun, uns mit diesem oder jenem zu beschäftigen, dieses oder jenes zu meiden, dieses oder jenes zu vergessen. Uns ist nicht klar, daß all diese Konditionierungen sich zu dem addieren, was aussieht wie ein Leben, oft aber beunruhigend oberflächlich und unbefriedigend bleibt. Das bringt das schale Gefühl mit sich, daß es noch etwas mehr geben muß, einen tieferen Sinn, eine Möglichkeit, sich in seiner eigenen Haut wirklich wohl zu fühlen, unabhängig von den Umständen, ob die Dinge nun gerade „gut“ oder „schlecht“ stehen, „angenehm“ oder „unangenehm“ sind. Wir erleben solches Unbehagen, solche Enttäuschung, solche Unzufriedenheit, und gelegentlich bemerken wir, daß diese Empfindungen unser ganzes Leben bestimmen wie eine ständig vorhandene Hintergrundstrahlung der Unzufriedenheit in uns allen, über die wie aber in aller Regel nicht sprechen. Gewöhnlich ist das einfach eine Art Schatten, etwas Bedrückendes. Hmmm ... das hört sich sehr nach Dukkha an, Dukkha und noch mehr Dukkha. Doch wenn wir uns dieses Unbehagen näher ansehen, wenn wir untersuchen, was dieser Hintergrund des Unbefriedigtseins tatsächlich ist, wenn wir uns dazu hingezogen fühlen, zu hinterfragen, wer denn da in diesem Augenblick leidet, dann erkunden wir damit eine völlig andere Dimension der Wirklichkeit, eine Dimension, die uns eine 244
bisher ungeahnte, aber immer verfügbare Freiheit von dem beengenden Gefängnis der konventionellen Gedankenwelt anbietet, auch wenn wir dieser Welt geben, was ihr gebührt und weiterhin ihre Existenz anerkennen, deren Begrenztheit wir nun aber kennen und die uns längst nicht mehr so einengt wie zuvor. Unser bloßes Interesse an der Freiheit vom Leiden sowie daran, niemandem mehr unnötig und unbewußt Leiden zuzufügen, wird zu einer Pforte zur Verwirklichung einer neuen Dimension des Daseins und einer umfassenderen Lebensweise, in der ein Leben in Beziehung und wechselseitiger Verbundenheit im Vordergrund steht. Dieser Prozeß fühlt sich an wie ein Erwachen aus einer Konsensus-Trance, einer Traumwelt, und so, als stünden uns plötzlich vielfältige Grade der Freiheit zur Verfügung und sehr viel mehr Optionen, aus ganzem Herzen und mit Achtsamkeit auf jegliche Situation einzugehen, in der wir uns vorfinden und auf die wir zuvor bloß aus tiefsitzenden, konditionierten Gewohnheiten heraus reagiert hätten. Das gleicht dem Übergang aus einem zweidimensionalen „Flachland“ in die dritte Dimension des Raumes, die sich in einem rechten Winkel (orthogonal) zu den anderen beiden anderen findet. Alles öffnet sich, auch wenn die beiden „alten“ Dimensionen dieselben sind wie immer, allerdings weniger einengend. Indem wir uns einfach nur fragen, „Wer leidet?“ oder „Wer möchte, daß das, was gerade geschieht, nicht geschieht?“ oder „Wer fühlt sich verunsichert, unerwünscht oder verloren?“ oder „Wer bin ich?“, setzen wir nicht weniger als eine Rotation des Bewußtseins in eine andere „Dimension“ in Gang, die orthogonal zur konventionellen Realität steht und die deshalb gleichzeitig mit der konventionelleren Realität Bestand haben kann, weil wir einfach nur „mehr Raum hinzugefügt“ haben. Nichts muß sich verändern. Es ist einfach nur so, als würde unsere Welt augenblicklich sehr viel größer und wirklicher. All die alten Dinge sehen jetzt anders aus, weil wir sie in einem neuen Licht sehen, mit einem Gewahrsein, das nicht mehr von der konventionellen Dimensionalität und Geistesverfassung eingeschränkt ist. Was den Wandel angeht, nun, zu dem kommt es sowieso irgendwie. Oft stehen wir einem natürlichen Wandel und Wachstum im Wege, weil wir versuchen, die Dinge in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Dadurch wird die Wirklichkeit verengt und wir bleiben im konditionierten Geist und in unseren konditionierten Ansichten eingeschlossen, weil wir jene anderen Dimensionen und Optionen, die uns neue Grade an Freiheit in unserer inneren und äußeren Landschaft anbieten, zum Einsturz bringen. Wenn Sie in Ihrem Bewußtsein eine Rotation empfinden, so daß Ihre Welt sich ganz plötzlich größer und wirklicher anfühlt, dann erhaschen Sie einen Blick auf das, was die Buddhisten die absolute oder letzte Wirklichkeit nennen, eine Dimension, die sich jenseits aller Konditionierung befindet, aber in der Lage ist, Konditionierung zu erkennen, wenn sie auftaucht. Sie ist Gewahrsein selbst, das wissende Vermögen des Geistes, das jenseits eines Wissenden und von etwas Gewußtem ist - bloßes Wissen. Wenn wir im Gewahrsein verweilen, dann ruhen wir in dem, was wir als orthogonale Realität bezeichnen, in einer Realität, die grundlegender ist als die konventionelle Realität und genauso wirklich. Beide haben Moment für Moment Bestand, und wir müssen beide anerkennen und würdigen, wenn wir das volle Spektrum unseres Menschseins, unsere wahre Natur als fühlende Wesen ausfüllen und verkörpern wollen. Wenn wir in dieser orthogonalen Dimension zu Hause sind, dann sehen wir die Probleme der konventionellen Realität aus einer anderen Perspektive, einer 245
geräumigeren als der eines engstirnigen Egoismus. Die Situation, mit der wir uns konfrontiert sehen, ermöglicht mehr Freiheit, Klärung, Akzeptanz, Kreativität, Mitgefühl und Weisheit - Möglichkeiten, die in der konventionellen Geistesverfassung buchstäblich unvorstellbar waren, die nicht auftauchen und andauern konnten. Dieses erweiterte Universum der Freiheit ist die Verheißung der Achtsamkeit, sowohl in unserem individuellen Leben als auch in der Welt. In der Welt kann das bei sehr vielen Menschen in relativ kurzer Zeit zu einer Rotation im Bewußtsein führen. Solch ein Sprung kann die Natureiner schwierigen Situation augenblicklich in einem neuen Licht zeigen, in all ihrer Komplexität und Einfachheit und mit zusätzlichen Dimensionen und Graden der Freiheit und Möglichkeit ... zu neuer Einsicht, zu weisem Handeln und zur Heilung. Das ist es, was eine orthogonale Perspektive uns zu bieten hat. Das ist es, was Achtsamkeit uns zu bieten hat ... Einsicht in das, was das Allergrundlegendste und Allerwichtigste ist und was wir nur allzuleicht vergessen oder verlieren. An der konventionellen Realität ist nichts „Falsches“. Sie ist einfach nur unvollständig. Und darin liegt die Quelle unseres Leidens und die Quelle unserer Befreiung vom Leiden. Solche orthogonalen Sprünge sind uns nichts Fremdes. Eine authentische Entschuldigung zum Beispiel vermag, wie Aaron Lazare in seinem Buch On Apology („Über das Vergeben“) mit zahlreichen Fallbeispielen eindrucksvoll demonstriert hat, innerhalb eines Moments eingefleischten Groll, Haß, Erniedrigung, Schuldgefühle und Scham bei beiden betroffenen Parteien aufzulösen und kann fast augenblicklich zu Heilung, zu Vergebung, zu einem Ausdruck der Liebe und zu Fürsorge zwischen einzelnen Menschen, aber auch zwischen Nationen führen. Was noch einen Moment zuvor höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar völlig unmöglich erschien, kann tatsächlich geschehen. Was wir für einen „verbotenen Übergang“ in uns selbst gehalten haben, erweist sich also nicht nur als nicht verboten, sondern als zutiefst möglich. Der Zustand des Glücks, der auf die Entschuldigung folgt, steht orthogonal zum Zustand des Leidens vor der Entschuldigung. Er war die ganze Zeit als Potential, als Möglichkeit vorhanden, doch es bedurfte einer Rotation innerhalb der Landschaft des Geistes, damit er sich als real manifestieren konnte. Und indem wir diesen Übergang durchlaufen, werden alte Wunden geheilt, alte Verletzungen vergeben, und auf scheinbar wunderbare Weise entstehen neues Verständnis und Versöhnung und eine Geräumigkeit des Herzens und des Geistes.
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Orthogonale Institutionen Wenn es bei Individuen eine Rotation im Bewußt sein geben kann, dann kann das auch bei Institutionen und sogar bei Nationen geschehen. Schließlich haben wir heute in diesem Land eine völlig andere Sichtweise der Sklaverei als noch vor zweihundert Jahren; wir haben andere Ansichten über die Geschlechterrollen, die Rechte der Frau und darüber, was sexuelle Belästigung ist; und wir halten eine Krebsdiagnose nicht mehr routinemäßig vor dem Patienten geheim, um diesen nicht zu beunruhigen. Zu all dem bedurfte es einer Rotation im Bewußtsein: dazu, wie wir die Dinge betrachten und was wir in einer Situation für besonders wichtig halten, und auch dazu, wie wir unser Verständnis in der Welt verkörpern - wie wir uns tatsächlich verhalten. Solche Wandlungen in der sozialen Ordnung gehen meist auf den hartnäckigen Aktivismus von Menschen zurück, die oft in großer Zahl entweder von innen oder von außen einen solchen Wandel einfordern, moralische Entrüstung an den Tag legen, unbequeme Wahrheiten aussprechen, die niemand so recht hören mag, und manchmal sogar für ihre Sache in den Tod gehen. Die Trägheit und die Interessen bestimmter Personen oder Gruppen, den Status quo aufrechtzuerhalten, machen es in den meisten Situationen unwahrscheinlich, daß die treibende Kraft zum Anstoß einer orthogonalen Rotation in der Sichtweise aus der jeweiligen Institution selbst kommt. Nichtsdestoweniger geschehen dann für gewöhnlich interessante Dinge, wenn Ansichten sich verändern, Visionen sich wandeln, wenn die Menschen einen Vorgeschmack bekommen auf neue Möglichkeiten zur Heilung vergangener Untaten oder zur Korrektur grundlegend problematischer Verhältnisse - etwa bei der Frage, wie man die Demokratie demokratischer machen oder wie man gleiche Rechte für alle und grundlegende Menschenrechte sicherstellen könnte -, Dinge, die man nicht für möglich gehalten oder an die zuvor überhaupt noch niemand gedacht hatte. Normalerweise ist das für unsere Gesellschaft und für unsere Institutionen von Vorteil, weil solche Rotationen im Bewußtsein uns im allgemeinen zu einer verfeinerten Verkörperung und Verwirklichung menschlicher Werte treiben: zur Freiheit für jeden einzelnen, nach der Verwirklichung seines praktisch unendlichen und so gut wie immer unerkannten Potentials zu streben, sowie in Frieden zu leben und Wohlergehen zu erfahren und potentiell frei zu sein von innerer und äußerer Gewalt. Nach meinem Verständnis wäre eine orthogonale Institution eine Organisation, deren Bewußtsein zu einem gewissen Grad rotiert hat und die daher, wie im letzten Kapitel angemerkt, im selben, wenn auch weit größer und weiter dimensionierten Raum und zur selben Zeit wie konventionellere Elemente der Organisation existieren könnte. Oder sie bestünde innerhalb der größeren konventionellen Realität für sich. Wenn Sie also durchgängig ein offenes Gewahrsein in Ihre Arbeit oder Familie einbringen, kann das dazu führen, daß Ihre Arbeit oder Ihre Familie funktional orthogonal zu der konventionellen Geistesverfassung sowie dem Koordinatensystem steht, innerhalb dessen die Dinge normalerweise zu funktionieren pflegen. Das führt die innere und die äußere Landschaft zu einem nahtlosen, ungeteilten Ganzen zusammen, das es all unseren Intelligenzen erlaubt, gleichzeitig präsent zu sein, und es uns ermöglicht, unser Tun, was immer es sein mag, aus unserem Sein und damit aus unserer angeborenen Weisheit und unserem Potential zu weisem und mitfühlendem Handeln hervortreten zu 247
lassen - selbst angesichts äußerer Konflikte und in Konfrontation mit Gruppen, die völlig andere und gegensätzliche Ansichten vertreten. Die Stress Reduction Clinic hat von ihrem Entwurf und ihrer Ausrichtung her immer als eine orthogonale Institution funktioniert. Es war ihr Ziel, die Methoden und Perspektiven der Achtsamkeit und der auf Achtsamkeit basierenden Geist/KörperAnsätze in den Bereichen Gesundheitswesen und Heilkunde in das Feld der Schulmedizin einzubringen. Die Welt der Medizin und der Meditation, ganz zu schweigen vom Yoga, zusammenzubringen und damit Sichtweisen miteinander zu verbinden, die gewöhnlich fast nichts miteinander zu tun hatten, schien im Jahr 1979 noch ein recht gewagtes Unterfangen zu sein. Vom Standpunkt der damaligen Medizin aus konnte man die Meditation leicht als unwissenschaftliches Wischiwaschi ohne jeden praktischen Wert oder sogar mit einem potentiell negativen Wert verstehen. Doch die orthogonale Perspektive, die der MBSR und der Achtsamkeit inhärent ist, erlaubte es ihnen, in jenen frühen Jahren auf eine Weise mit der Medizin zu koexistieren, die allmählich deutlich machte, wieviel sie gemeinsam hatten, wie sehr sie einander dienlich sein konnten und wie sie auf profunde Weise das zu verstärken vermochten, was man einem breiten Spektrum an Patienten als Teilhabe an greifbaren und sinnvollen Methoden im Bereich ihrer eigenen Gesundheit und Gesundheitsfürsorge und ihres Wohlergehens anzubieten hatte. Von außen betrachtet, sah die Stress Reduction Clinic aus wie jede andere Abteilung im Krankenhaus. Sie hatte einen Namen und einen Standort, und es gab offizielle Wegweiser in den Korridoren, die zu ihr hinführten. Sie war (und ist) Bestandteil der Medizinischen Fakultät der University of Massachusetts. Es gab eine Broschüre für die Patienten und die üblichen Abrechnungsverfahren. Und im Laufe ihres Wachstums brachte sie es schließlich zu einem Direktor und einem stellvertretenden Direktor, zu einem Verwalter und einer Belegschaft von Lehrkräften und Empfangspersonal. Zu Anfang mußten wir uns noch Büroräume von anderen Abteilungen ausleihen, dann benutzten wir Abstellkammern und andere Räume, die sonst niemand in Anspruch nahm. Lange Zeit benutzten wir für unsere Unterweisungen den Konferenzraum der Medizinischen Abteilung und später den Raum für seltene Bücher innerhalb der Bibliothek. Daß es keine speziell für unsere Abteilung reservierten Räumlichkeiten gab, machte uns nichts aus. Mit der Zeit bekamen wir dann schöne Büros, einen ansprechenden Empfangsbereich, einen großen Unterrichtsraum und viele kleinere Räume, in denen wir persönliche Gespräche mit den uns überwiesenen Patienten führen konnten. Aber in all diesen Veränderungen funktionierte die Klinik doch wie eine ganz normale Klinik. Sie stellte Rechnungen wie eine Klinik, bezahlte ihre Angestellten wie eine Klinik, jedermann innerhalb der Medizinischen Klinik nannte sie eine Klinik, und die Ärzte überwiesen Patienten zu uns wie zu jeder anderen Klinik. Doch wenn jemand zu einem Termin in unser Büro kam, ein Gespräch zur persönlichen Beratung in einem unserer Gesprächsräume hatte oder zu einem Vortrag in unseren Unterrichtsraum kam, dann trat er oder sie in einem sehr realen Sinne in eine andere Wirklichkeit ein, auch wenn er oder sie sich immer noch in der konventionellen Wirklichkeit befand. Auch wenn dieser Mensch das zu dieser Zeit vielleicht noch nicht völlig realisierte, wurde seine Welt doch zu einer Rotation im Bewußtsein eingeladen, dazu, sich auszuweiten, ein ungeahntes Ausmaß an Möglichkeiten zu umfangen. Denn 248
einmal abgesehen davon, daß die Stress Reduction Clinic eine Klinik im Krankenhauskomplex war, war und ist sie auch ein anderer Planet, befand und befindet sie sich in einem orthogonalen Universum, dem Universum der Achtsamkeit. Die Menschen hatten meist von Anfang an das Gefühl, daß hier etwas anders war. Für das Personal war das nichts Besonderes, einfach nur eine bewußte und eher selbstverständliche Verpflichtung dazu, so achtsam wie möglich zu sein, für die Menschen präsent zu sein, zuzuhören, freundlich zu sein, das deutlich auszusprechen, was sich mitteilen ließ, ebenso deutlich zu sagen, was sich nicht beschreiben ließ, und das zu verkörpern, von dem jede Klinik nur hoffen kann, daß ihre Belegschaft es verkörpert, nämlich aufrichtige Präsenz - nicht in der Theorie, sondern ganz konkret Tag für Tag und Augenblick für Augenblick. Und auch wenn das nichts Besonderes war, war und ist es doch zugleich etwas außerordentlich Besonderes. Von Anfang an stand für uns im Vordergrund, uns so gut wie nur irgend möglich an die hippokratischen Prinzipien zu halten und jede Person, die zu uns überwiesen wurde, zuerst einmal als ein menschliches Wesen und nicht als Patienten zu sehen, als ein Wesen mit einer grenzenlosen ihm innewohnenden Fähigkeit, zu wachsen und zu lernen. Eine Grundvoraussetzung dafür war, daß wir Achtsamkeit in unsere Arbeit einbrachten und all ihren Aspekten eine durchgängige, offenherzige und mitfühlende Aufmerksamkeit entgegenbrachten, daß wir in jedem Moment so gut wie möglich daran arbeiteten, völlig präsent zu sein, ohne nicht hinterfragte Absichten, die sich auf unsere Begegnungen mit den Patienten sowie auf unsere Bemühungen, sie auf sinnvolle Weise an die verschiedenen Meditationspraktiken heranzuführen und an ihr Potential, selbst ihr Leben zu beeinflussen, störend statt förderlich hätten auswirken können. Und es lag auf der Hand, daß wir nicht versuchten, irgend jemandem irgend etwas zu verkaufen, sondern den Patienten die Entscheidung, ob sie an unserem Programm teilnehmen wollten, selbst überließen. Wenn sie also zu einem Gespräch zu uns kamen, begegneten wir ihnen so offenherzig wie möglich und achteten darauf, daß wir sehr aufmerksam dem zuhörten, was sie uns über die Gründe erzählten, die sie in unsere Klinik führten. Wenn es dann angebracht schien, beschrieben wir ihnen, was sie von der Teilnahme an dem Programm zu erwarten hätten, und erklärten, warum eine relativ intensive Schulung in Meditation in ihrer speziellen Situation für sie relevant sein könnte, falls wir eine solche Relevanz vermuteten. Von Anfang an präsentierten wir MBSR als eine große Herausforderung und ließen keinen Zweifel daran, daß die bloße Teilnahme an dem Programm schon eine tiefgreifende Veränderung des Lebensstils bedeutete, weil dazugehörte, acht Wochen lang einmal in der Woche zu Unterweisungen zu kommen und am Wochenende der sechsten Woche an einer ganztägigen Klausur in Schweigemeditation teilzunehmen sowie die tägliche Meditation an sechs Tagen in der Woche für mindestens fünfundvierzig Minuten unter Anleitung einer Audiokassette durchzuführen. Ich sagte den Patienten oft, daß es nicht darauf ankäme, ob sie Lust dazu hätten, die Meditation in dieser disziplinierten Weise als Hausaufgabe zu praktizieren. Sie sollten es einfach nur tun, ob ihnen gerade danach zumute wäre oder nicht, ob es ihnen gefalle oder nicht, und sie sollten erst einmal jede Beurteilung dieser Angelegenheit zurückstellen. Am Ende der acht Wochen sollten sie uns dann wissen lassen, ob es ihnen gut getan habe oder nicht. Doch bis dahin, so lautete unsere Abmachung, würden sie einfach praktizieren und zu den Unterweisungen kommen. 249
Manchmal sagte ich auch, daß es - so ähnlich wie bei der Bekämpfung eines Waldbrandes - bisweilen nötig sein könnte, ein Feuer zu legen, um ein größeres Feuer zu löschen, und daß sie es vielleicht als Streß empfinden könnten, an dem Programm zur Streßbewältigung teilzunehmen. Außerdem könnten sie, ganz gleich, wie ausführlich wir die Meditationspraktiken im voraus beschrieben, solange einfach nicht wissen, worauf sie sich da einließen, wie sie die Praxis nicht tatsächlich durchführten. Ich pflegte den Menschen auch zu sagen, daß aus unserer Sicht bei ihnen mehr in Ordnung sei als nicht, ganz gleich, was im einzelnen nicht in Ordnung war, ganz gleich, welche Diagnose oder Diagnosen sie jeweils bekommen hatten, ganz gleich, wie groß und schmerzlich ihnen die „ganze Katastrophe“ ihres Lebens erschien. Die grundlegende Einladung bestand darin, daß wir während unserer Zusammenarbeit in diesen acht Wochen genau dem Energie zuführen würden, was bei ihnen in Ordnung war, und es dem Rest des medizinischen Teams überlassen würden, sich dort, wo es nötig war, um das zu kümmern, was nicht in Ordnung war, und daß wir einfach beobachten würden, was dabei geschähe. Am Ende des Vorgesprächs lag es dann an den Patienten, sich zu entscheiden, ob sie sich auf diese Sache einlassen wollten oder nicht. Niemand war also gezwungen, zu unseren Unterweisungen zu kommen. Man mußte herkommen und dabei sein wollen, um zugelassen zu werden. Die Menschen stimmten also buchstäblich mit den Füßen über ihre Teilnahme ab. Im allgemeinen war ihnen innerhalb des Systems der Gesundheitsfürsorge noch niemand auf diese Art und Weise begegnet, mit diesem Maß an nüchterner, aber offenherziger Präsenz und mit einer unerschütterlichen Hochachtung für ihr Potential, tiefe innere Quellen des Körpers und des Geistes anzuzapfen, um mit welchem Aspekt der vollen Katastrophe auch immer, die sie in unsere Klinik geführt hatte, umgehen zu können. Und die meisten Patienten spürten das damals und spüren es auch heute noch. Sie wissen vielleicht nicht gleich, was es ist, was sie da spüren, aber die meisten von uns fühlen sich besser, wenn man ihnen mit authentischer Präsenz und Achtung begegnet, ohne Herablassung oder gekünstelte Jovialität. Wir fühlen uns gut, wenn man uns als fähig betrachtet, wenn man so mit uns umgeht, als besäßen wir das Vermögen, die härteste Arbeit der Welt zu bewältigen, wenn uns viel abverlangt wird, aber auf eine Weise, die auf die uns innewohnenden Begabungen und Intelligenzen zählt. Wenn wir unter uns waren, sagten wir oft im Scherz, daß wir unsere Klinik ebensogut Mindlessness-based Stress Production Clinic (Achtlosigkeitsbasierte Streßproduktions-Klinik) hätten nennen können – angesichts des Tempos, der Intensität und der Anforderungen der Arbeitsumgebung, in die wir eingebettet waren und in der alle unter dem Druck standen, nicht nur einem endlosen Strom leidender Menschen zur Verfügung zu stehen, sondern auch noch den ganzen Rattenschwanz der damit verbundenen Aufgaben und Verpflichtungen erledigen zu müssen. Aber die innere Verpflichtung der Lehrer und der ganzen Belegschaft, die Arbeit selbst als eine Praxis anzusehen und in alle Aspekte dieser Arbeit Achtsamkeit einzubringen, nicht nur in den Unterrichtsraum, baute uns immer wieder auf und gab uns zahllose, zur Demut gemahnende Gelegenheiten, immer wieder zu sehen, wie verhaftet und achtlos wir selbst manchmal sein konnten. Daß wir die Arbeit als Praxis betrachteten, ermutigte uns dazu, uns immer wieder einer Rotation im Bewußtsein verpflichtet zu fühlen, Achtsamkeit und Nichthaftung zu verkörpern, bei dem, was in jedem Moment ist, völlig 250
präsent zu sein, was auch immer das sein mochte, und uns dem, was uns das im jeweiligen Moment abverlangte, mit einer gesunden Portion Humor zu stellen. Man könnte eine solche Ausrichtung „Das Dao der Arbeit“ nennen. Nichts könnte eine größere Herausforderung sein, und nichts könnte befriedigender sein. Und da letztlich alles auf dem Nichttun basiert und tatsächlich nichts ist, müssen wir auch nichts tun, damit die Sache blüht und gedeiht. Wir tun nichts, und doch bleibt, wie es bei Laozi heißt, „nichts ungetan“. Das ist die alles bestimmende Einstellung und Perspektive. Gleichzeitig aber verlangt das auch eine ganze Menge an Arbeit und ein ständiges Bemühen, ein Gleichgewicht zwischen Tun und Nichttun zu finden. Denn paradoxerweise haben alle Menschen, die sich der Arbeit der MBSR gewidmet haben, herausgefunden, daß es eine Menge an Tun braucht, um die angemessenen Bedingungen für weiteres Nichttun zu schaffen und auf die vielen Anforderungen und Herausforderungen zu antworten, die das Betreiben einer Streßbewältigungsklinik im Rahmen eines geschäftigen Krankenhauses mit sich bringt. Es ist ebenfalls paradox, daß Gewahrsein, Ausrichtung und Freundlichkeit im Kontext vieler Krankenhausbetriebe auf betrübliche Weise unterentwickelt sind, wo es in einem Hospital angeblich doch gerade darum geht. Das Wort „Hospital“ weist von seinem Ursprung her ja bereits auf Gastfreundschaft hin, darauf, daß man hier willkommen ist und mit Ehren empfangen und aufgenommen wird. Doch leider passiert es, auch wenn niemand das beabsichtigt, noch viel zu häufig, daß die Menschen sich in einem Hospital und in den Abläufen der medizinischen Versorgung verloren fühlen, daß ihnen niemand wirklich begegnet, daß niemand sie hört und wirklich sieht, daß niemand mit ihnen bis zu einem Punkt der Vollendung und persönlichen Befriedigung mitgeht. Die einzelnen Menschen innerhalb dieses Systems können durchaus wundervolle Menschen sein, und doch kann das System als solches viele seiner Patienten im Stich lassen. Die Welt verlangt in so vieler Hinsicht nach orthogonalen Institutionen, die im selben Rahmen wie die bereits existierenden bestehen oder als brandneue orthogonale Institutionen in der größeren Welt für sich stehen. Und es gibt bereits einige davon ... überall auf der Welt und in allen Bereichen gibt es Menschen, die die Prinzipien der Fürsorge für das größere Wohl verkörpern, die sehr genau untersuchen, worin dieses größere Wohl besteht und dann das tun, was dafür getan werden muß.
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Heilung und Bewußtsein Stellen Sie sich folgende Situation vor: Eine Frau mit der Hautkrankheit Psoriasis steht praktisch nackt in einem zylindrischen Lichtkasten, der mit langen ultravioletten Lichtröhren ausgestattet ist, die den Körper rundherum bestrahlen. Ihre Augen sind durch eine dicht abschließende dunkle Brille geschützt, und als Schutz für ihr Gesicht hat man ihr einen Kopfkissenbezug über den Kopf gestülpt. Ihre Brustwarzen sind ebenfalls abgedeckt, so wie die Genitalien bei den Männern. Ventilatoren surren und verwirbeln die stickige Luft in dem Behandlungsraum im Untergeschoß eines großen Krankenhauses. Wenn die Lichter angehen, tauchen sie nicht nur die Lichtbox und die darin stehende Patientin, sondern, weil die Box oben offen ist, auch den ganzen Raum in ein gespenstisches violettes Licht von brutaler Intensität, das den Körper der Patientin mit dem Licht einer speziell ausgewählten Wellenlänge bestrahlt. Diese Behandlungsform nennt man Phototherapie. Damit die Haut nicht verbrannt wird, muß der Patient viele Wochen lang dreimal in der Woche zur Bestrahlung kommen. Dabei wird die Dauer der Bestrahlung allmählich verlängert, von zuerst vielleicht dreißig Sekunden bis zu zehn oder fünfzehn Minuten nach einigen Wochen, je nach Hauttyp des Patienten. Mit der Zeit beginnen die aufgequollenen, roten, entzündeten Hautregionen, die in schweren Fällen große Teile des Körpers bedecken, abzuflachen und ihre Farbe zu verändern, so daß sie immer mehr der normalen Haut des Patienten gleichen. Wenn die Behandlung beendet ist, sieht die Haut vollständig sauber und normal aus. Die schuppigen Stellen sind verschwunden. Diese Behandlung führt jedoch nicht zu einer Heilung. Die unschönen Flecken können zurückkehren. Rückfälle werden sehr oft von psychischem Stress ausgelöst. Man weiß noch wenig über die genetische Veranlagung, die Hauptursachen und die molekulare Biologie dieser Krankheit. Es handelt sich dabei zweifellos um eine unkontrollierte Zellvermehrung in der Epidermis, aber es ist kein Krebs. Die schnell wachsenden Zellen dringen nicht in andere Gewebe ein, und die Krankheit führt auch zu keinen anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder gar zum Tod. Aber sie ist in gewisser Weise entstellend und psychisch sehr belastend. Aufgrund der Tatsache, daß die Haut unschön aussieht und man das nicht völlig verbergen kann, bringt sie eine gewisse soziale Stigmatisierung mit sich. Das kann sich anfühlen, als hätte man die Pest. John Updike hat das Leiden an dieser Krankheit so eindringlich beschrieben, wie es nur einem großen Schriftsteller aus eigener Erfahrung möglich ist: 31. Oktober Seit langem bin ich Töpfer, Junggeselle und Aussätziger. Das, woran ich leide, ist eigentlich nicht die Lepra, aber was in der Bibel Lepra oder Aussatz genannt wurde, war wahrscheinlich dieses Ding, das einen komplizierten griechischen Namen hat, den zu schreiben mir schwerfällt. Die Krankheit nimmt folgende Formen an: Flecken, Ausschlag, Lawinen überflüssiger Haut, die aufgrund eines eher trivialen, aber hartnäckigen Irrtums in der Steuerung des Metabolismus von der Epidermis produziert werden und sich über den Körper ausbreiten wie Flechten über einen Grabstein. Ich bin silbrig, schuppig. Wo immer ich mein Fleisch ruhen lasse, bilden sich Pfützen von Schuppen. Jeden Morgen säubere ich mein 252
Bett mit dem Staubsauger. Meine Qual geht unter die Haut: Es gibt keine Schmerzen, nicht einmal ein Jucken; wir Aussätzigen leben lange Zeit, und es ist eine Ironie des Schicksals, daß wir in anderer Hinsicht gesund sind. Wir sind voll der Lust, doch es fällt schwer, uns zu lieben. Wir haben einen scharfen Blick, doch wir hassen es, uns selbst anzuschauen. Der Name dieser Krankheit ist, seelisch gesehen, Erniedrigung. 1. November Der Doktor stößt ein Pfeifen aus, als ich die Kleidung ablege. „Ein ziemlich schwerer Fall.“ ... Mir fällt auf, daß der Boden seiner Praxis von Hautschuppen übersät ist. Es gibt also noch andere Aussätzige. Wenigstens bin ich nicht allein ... Als ich mich wieder anziehe, rieselt es silbrig auf den Boden hinab. Er nennt das, professionell, „Schuppung“. Ich nenne es, innerlich, Schmutz. JOHN UPDIKE, „FROM THE JOURNAL OF A LEPER“, The New Yorker, 1976 Ich hörte während einer Meditationsklausur an der medizinischen Fakultät in den frühen achtziger Jahren von Psoriasis und Phototherapie. Beim Mittagessen saß ich zufällig neben einem jungen, fröhlich aussehenden Mann, der, wie sich herausstellte, Dr. Jeff Bernhard war, der Leiter der Dermatologischen Abteilung. Wir kamen ins Gespräch, und als er hörte, daß ich die Stress Reduction Clinic leitete und wir unsere Patienten buddhistische Praktiken lehrten (wenn auch „ohne Buddhismus“, wie ich es manchmal formulierte), fragte er mich, ob ich das Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist von Shunryū Suzuki kenne. Ich war erstaunt zu hören, daß er das Buch gelesen hatte, und noch erstaunter, daß er es liebte. Also wandte sich unser Gespräch der Meditation und dem Zen zu, und ich berichtete ihm, daß wir (die Medizinische Abteilung der Universität) unseren Patienten in rudimentärer Form das anboten, was wir für die Essenz jener Schulung und jener Praktiken hielten, von denen Suzuki sprach (natürlich in modifizierter Form, die dem säkularen Rahmen eines Hospitals und unserer westlichen Kultur angepaßt war). Ich sah ein Licht in seinem Kopf angehen, als er mich fragte, ob wir seinen Patienten, die mit Phototherapie behandelt wurden, beibringen könnten, sich zu entspannen, während sie in der Lichtbox standen. Er beschrieb die Krankheit und ihre Behandlung dann so ähnlich, wie ich es gerade getan habe. Er wies auch darauf hin, daß die Phototherapie für die Patienten aus verschiedenen Gründen eine sehr streßbeladene Prozedur sei. Zuerst einmal mußten die Patienten dreimal in der Woche zu sehr kurzen Behandlungen in das Krankenhaus kommen; diese Behandlungen waren so kurz, daß es wesentlich länger dauern konnte, einen Parkplatz zu finden, als die Behandlungen selbst in Anspruch nahmen. Dann mußten die Patienten sich ausziehen und ihren Körper einölen, in ihrem Zustand eine ziemlich schmierige Angelegenheit. Dann mußten sie die schwarze Schutzbrille anlegen und sich den Kopfkissenbezug überstülpen, nackt in der engen Lichtbox stehen, in der Hitze und der stickigen Luft, in der aggressiven Intensität des Lichts, das ihre Haut versengte, umgeben von surrenden Ventilatoren. Schließlich mußten sie sich duschen, um das Öl abzuwaschen (viele Patienten wuschen es nicht ab), mußten sich wieder 253
anziehen und ihr Auto auf dem großen Parkplatz wiederfinden. Die Behandlungen fanden nur tagsüber statt, und bis zu drei Monate lang dreimal wöchentlich zur Behandlung zu kommen, das war für die meisten Patienten ziemlich lästig und eine heftige Störung ihres normalen Tagesablaufs, besonders wenn sie berufstätig waren. Außerdem konnten sie keine Zeitschrift lesen oder sich auf die übliche Weise ablenken, wie es Patienten bei anderen Behandlungsformen möglich ist. Die ganze Sache hatte für sie etwas Entwürdigendes und Belastendes. Könnte es sein, fragte Jeff Bernhard, daß das, was wir mit unseren Patienten in der Stress Reduction Clinic machten, seinen Patienten helfen würde, sich zu entspannen und besser mit dem Streß der Phototherapie zurechtzukommen? Die Sache war ihm wichtig, weil viele seiner Patienten nicht mehr regelmäßig zur Behandlung kamen, auch wenn ihre Haut noch nicht rein geworden war, und andere die Therapie aufgaben, weil sie ihnen einfach zu unangenehm war und die Motivation, sich dieser aufwendigen Prozedur zu unterziehen, nicht immer groß genug war. Schließlich war die Krankheit ja nicht lebensbedrohlich. Die meisten Patienten kamen aus kosmetischen Gründen. Außerdem war die Wirkung der Behandlung nur vorübergehend und brachte keine dauerhafte Heilung. Könnte die Meditation, so eine weitere Frage, die ganze Erfahrung der Phototherapie für seine Patienten vielleicht angenehmer machen und ihre Motivation erhöhen, die Behandlung ordnungsgemäß zu Ende zu führen? Als er mir die Situation beschrieb und ich sie mir vorstellte, leuchteten auch in meinem Kopf einige Lichter auf. Ja, antwortete ich, wir würden seine Patienten sicherlich effektive Methoden der Entspannung in der Lichtbox lehren können, Praktiken, die ihnen helfen würden, mit den unangenehmen Aspekten der Behandlungsmethode besser umzugehen. Da die Patienten in der Lichtbox ohnehin stehen mußten, schien dies eine perfekte Situation zu sein, sie in der Praxis der Stehmeditation zu unterweisen. Das konnte Atemmeditation mit einschließen sowie Hörmeditation, die Das-Licht-auf-der-Haut-spüren-Meditation, die Beobachten-wieder-Geist-immer-mehr-gestreßt-wird-Meditation, mit einem Wort: ein volles Spektrum an Achtsamkeits-Praktiken, die genau auf ihre Erfahrung in der Lichtbox von Moment zu Moment zugeschnitten waren. Und, so sagte ich, ich sei sicher, daß zumindest einige seiner Patienten als Resultat dieser Praktiken entspannter sein würden und sie tatsächlich mehr Freude an ihrer Behandlung hätten, da sie bei den Übungen ihre eigene Kraft, aufmerksam zu sein, ins Spiel bringen könnten, so daß wahrscheinlich einige der unangenehmen Aspekte der Behandlung neutralisiert und weniger Patienten die Therapie abbrechen würden. Aber, so fuhr ich fort, wir könnten vielleicht noch etwas viel Abenteuerlicheres tun. Das ganze Drum und Dran der Phototherapie schien mir nämlich perfekt dazu geeignet, die wichtige Frage, ob und wie der Geist die Heilung zu beeinflussen vermag, wissenschaftlich zu untersuchen. In diesem Fall sei es ja leicht, den Heilungsprozeß zu fotografieren und den Verlauf zu dokumentieren. Warum sollten wir seine PsoriasisPatienten nicht im Rahmen einer kontrollierten Studie in Techniken auf der Grundlage von Achtsamkeit unterweisen, um herauszufinden, ob der Geist selbst vielleicht einen Einfluß auf die Rückführung der Haut in einen Normalzustand haben kann. Wir könnten seine Patienten nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufteilen. In einer Gruppe würden die Patienten unter Anleitung auf einer speziell auf ihre Situation 254
zugeschnittenen Audiokassette in der Lichtbox Stehmeditation üben. Die Patienten der anderen Gruppe würden die übliche Phototherapie erhalten, ohne Meditationsanweisungen. Um die Chance zu vergrößern, ein signifikantes Ergebnis zu erhalten, schlug ich vor, in den späteren Stadien der Behandlung - wenn die Behandlungen also länger dauerten, so daß genügend Zeit vorhanden war, der Unterweisung zu folgen -, zu der Meditationsübung noch eine Visualisationsübung hinzuzufügen, bei der die Patienten sich vorstellten, das Licht habe heilende Wirkung auf ihre Haut. Wir gingen es also an und arrangierten eine Pilotstudie. Dabei fanden wir heraus, daß die Hautunreinheiten bei den meditierenden Patienten im Durchschnitt schneller verschwanden als bei den nicht meditierenden. Mit diesem ermutigenden Resultat in der Tasche machten wir uns daran, eine zweite Studie durchzuführen, um uns davon zu überzeugen, daß wir uns nichts vormachten. Diesmal sollten mehr Patienten beteiligt sein, und die Bedingungen sollten strenger kontrolliert werden. Wir wollten zum Beispiel unterschiedliche Methoden zur Beurteilung des Verlaufs der Hautveränderungen benutzen, wozu gehören sollte, daß wir die stärksten Protuberanzen regelmäßig fotografierten und die Fotos zwei Dermatologen, die nicht wußten, zu welcher Gruppe die Patienten gehörten und wer sie waren, zur unabhängigen Beurteilung vorlegten. Wieder fanden wir, daß die Haut bei den Meditierenden schneller heilte als bei den Nichtmeditierenden. Diesmal konnten wir auch sagen, um wieviel schneller. Wie die Statistiken zeigten, verschwanden die Hautunreinheiten bei den Meditierenden beinahe viermal so schnell wie bei den Nichtmeditierenden. Während diese Studie noch lief, machte Bill Moyers in der Stress Reduction Clinic Fernsehaufnahmen für ein Programm des PBS mit dem Titel Healing and the Mind.25 Es war frustrierend, daß wir über unsere Studie, in der es um ebendieses Thema ging, in dieser Sendung nicht sprechen konnten. Sie musste erst mit einer ausreichend großen Zahl von Patienten abgeschlossen sein. Hätten wir die Studie damals schon publik gemacht, hätte dies ihren Ausgang beeinflussen können und die Chancen, sie als wissenschaftliche Studie zu publizieren, verringert. Außerdem mußten wir uns die Daten erst noch vornehmen und sie analysieren, so daß wir damals noch nicht wußten, worauf die Studie hinauslaufen würde. Als wir die Ergebnisse schließlich vorliegen hatten und mit der Analyse beginnen konnten, waren die Dreharbeiten schon lange abgeschlossen. Jetzt, wo die Studie veröffentlicht ist, können wir über sie sprechen und darüber, was ihre Ergebnisse über die möglichen Einflüsse des Geistes auf einen Heilungsprozeß aussagen. Weil die Heilung bei den Meditierenden so viel schneller voranschritt als bei der Kontrollgruppe, wird uns von Medizinern oft die Frage gestellt: „Was befindet sich auf diesen Audiokassetten?“, so als müsse es eine ganz spezielle Magie geben, die zu diesen Resultaten führte. Doch der Inhalt dieser Kassetten ist ganz gewöhnlich: Sie enthalten nur Achtsamkeitsunterweisungen, die Visualisationsübung und kurze Phasen der Stille dazwischen. Deshalb sage ich manchmal spaßeshalber, es befinde sich nichts auf dem Band, nur Stille und Anweisungen dazu, wie man in der Stille verweilen und sie sich zunutze machen könne. Das ist vom Geist der Sache her wahr, doch unter praktischen Gesichtspunkten muß man in einem Zeitraum von weniger als fünfzehn 255
Minuten und unter den gegebenen Bedingungen (keine Unterrichtsstunden, keine Lehrkräfte, keine Hausaufgaben) natürlich eine ganze Menge gesprochener Instruktionen geben, um die verschiedenen Aspekte der Meditationspraxis zu behandeln. Bei den Unterweisungen auf der Kassette ging es im Grunde darum, eine tiefe innere Stille und Offenheit noch unterhalb der Unterweisungen zu kultivieren, eine Offenheit, in der man sich mit voller Aufmerksamkeit und mit voller Präsenz von Körper und Geist den Momenten in der Lichtbox und dem Licht überlassen konnte, mit der Absicht, daß all das die anstehende Arbeit tun könnte: die Reinigung der Haut. Da es sowohl bei der Krankheit als auch bei der Behandlung um die Haut ging, war es nur natürlich, daß die Meditationsanleitungen sich darauf konzentrierten, ein erhöhtes und ausdauerndes Gewahrsein der Hülle des Körpers, also der Haut, zu kultivieren, zu fühlen, wie die Haut „atmet“, und alle Empfindungen wahrzunehmen, die mit der Bestrahlung durch das Licht verbunden waren, also die intensive Hitze, das Gefühl der von der Ventilation bewegten Luft, wie sie den Körper umspielte. Dies war nur eine vorbereitende Studie, die aber nichtsdestoweniger vermuten läßt, daß die geistige Ausrichtung einen signifikanten Einfluß auf den Heilungsprozeß haben kann. Wir hoffen, daß andere Dermatologen unsere Studie wiederholen und sie vielleicht über den uns damals möglichen Rahmen hinaus ausweiten werden. Meiner Ansicht nach spiegeln die Ergebnisse der Studie ein Potential wider, das uns allen innewohnt, ein Potential, das in unserer Stress Reduction Clinic immer wieder auf unterschiedlichste Weise zum Ausdruck gekommen ist, wenn wir unsere Patienten dazu einluden und ermutigten, bei ihrer Sorge um ihre Gesundheit und bei ihrer medizinischen Behandlung zu aktiven Teilnehmern zu werden. Sei es nun allein in der Lichtbox oder bei der Meditation als einem Teil des Programms der Stress Reduction Clinic, ich betrachte die aktive Einbeziehung des Patienten in seine eigene Gesundheitsfürsorge als Beispiel für das, was wir „partizipatorische Medizin“ nennen könnten, eine Medizin, in der der Arzt seine Rolle hat, aber auch der Patient seine Aufgaben und seine Verantwortung wahrnimmt. Manchmal führt diese Kombination von Bemühungen und Absichten zu interessanten Ergebnissen, zu denen es sonst nicht gekommen wäre. In beiden Fällen ergaben sich die Resultate aus etwas, was wir Gegenwärtigsein nennen könnten, aus dem Gewahrsein. Die Psoriasis-Studie ist ein Beispiel für das, was man heute „integrative Medizin“ nennt, weil sie Geist/Körper-Interventionen wie die Meditation unmittelbar in konventionellere Behandlungsmethoden integriert. In diesem Falle findet die Geist/Körper-Behandlung (die Meditation und Visualisation) in Zeit und Raum deckungsgleich mit der allopathischen Behandlung (der UV-Bestrahlung) statt. Man könnte sagen, daß sie orthogonal zueinanderstehen, während sie im gleichen Raum und zur gleichen Zeit stattfinden. Es ist interessant anzumerken, daß die Patienten in der Psoriasis-Studie die Kassetten für die geführte Meditation nicht nach Hause mitnahmen; anders als im Programm der Stress Reduction Clinic, welches von den Patienten verlangt, daß sie täglich zu Hause mit Hilfe von Achtsamkeitsunterweisungskassetten oder -CDs übten, praktizieren sie von sich aus und allein auch keinerlei formelle Meditation. Das legt nahe, daß selbst kurze Phasen der Meditation unter den richtigen Bedingungen bereits eine tiefgreifende 256
Wirkung auf den Körper und wahrscheinlich auch auf den Geist haben. Nebenbei sei noch angemerkt, daß die Stress Reduction Clinic selbst ein weiteres Beispiel für integrative Medizin ist. Zuerst einmal ist sie ein integraler Bestandteil der Medizinischen Abteilung der Universität. Ärzte aus vielen anderen Abteilungen der Allgemeinmedizin und mit den unterschiedlichsten Spezialisierungen können ihre Patienten an uns überweisen, wenn ihnen das ein angemessener Bestandteil ihres Behandlungsplans zu sein scheint. Zweitens werden ihre Dienste als integrierte Ergänzung zu den anderen Behandlungen angeboten, denen sich die Patienten jeweils unterziehen. Man könnte sagen, daß die integrative Medizin ein Vorbote dessen ist, was man in der Zukunft einmal schlichtweg gute Medizin nennen wird. In vielen Krankenhäusern und für viele Krankenhauspatienten ist diese Zukunft in gewissem Ausmaß bereits Gegenwart. Unsere Studie über Heilung und Bewußtsein hat eine Reihe von Implikationen. Die offensichtlichste davon ist, daß der Geist, zumindest unter bestimmten Umständen, den Heilungsprozeß positiv beeinflussen kann. Etwas, was die Psoriasis-Patienten in der Meditationsgruppe taten, dachten, hofften oder praktizierten, war mit größter Wahrscheinlichkeit für das schnellere Tempo der Klärung ihrer Haut verantwortlich. Es kann die Meditationspraxis selbst gewesen sein oder die Visualisation, es können die Erwartungen, der Glaube, die Absichten der Patienten gewesen sein oder eine Kombination aus all dem; wir können das nicht mit Sicherheit sagen, solange nicht weitere Studien durchgeführt werden. Doch was immer der Beschleunigung der Hautklärung zugrunde lag, wir können sagen, daß es auf die eine oder andere Weise mit Aktivitäten des Geistes zu tun hatte. Eine andere Implikation der partizipatorischen Medizin könnte sein, daß sie in manchen Fällen sehr viel Geld einsparen kann. Unsere Studie war im Grunde gleichzeitig eine Kosteneffizienzstudie. Schnelle Heilung bedeutet, daß weniger Behandlungen bis zur Hautklärung nötig sind und deshalb geringere Behandlungskosten für die Meditierenden anfallen. Da die Gesundheitsfürsorge und das ganze System der medizinischen Versorgung unter einer Kostenexplosion leiden, könnte diese Beteiligung der Patienten an ihrem Heilungsprozeß dort, wo es möglich und angemessen ist, zu einer deutlichen und nachhaltigen Reduzierung der Gesundheitskosten führen, zu einer merklich größeren Zufriedenheit der Patienten mit ihrer medizinischen Versorgung sowie zu einer größeren allgemeinen körperlichen und psychischen Gesundheit und mehr Wohlergehen in unserer Gesellschaft. Hinzu kommt in obigem Beispiel noch, daß ultraviolettes Licht ja an sich ein Risikofaktor für Hautkrebs ist; weniger Behandlungen würden also bedeuten, daß die Haut nicht so hoher UV-Strahlung ausgesetzt ist und das Risiko von Hautkrebs als Nebenwirkung der Phototherapie verringert wird. Da Psoriasis ein Beispiel für unkontrollierte Zellvermehrung ist, die in gewisser Weise dem Krebs verwandt ist - tatsächlich scheinen manche der für die Psoriasis relevanten Gene auch eine Rolle für das basale Zellkarzinom zu spielen -, läßt der Beweis, daß der Geist die Hautklärung bei Psoriasis positiv beeinflussen kann, die Vermutung zu, daß ähnliche Meditationsübungen und ähnliche Motivationen auch die viel gefährlichere unkontrollierte Zellvermehrung bei Hautkrebs positiv beeinflussen 257
könnten. Da die Meditierenden während der Behandlung zudem in der Lichtbox allein waren, nur einer Kassette mit geführten Meditationen zuhörten und die Person, die die Kassette erstellt hatte, niemals persönlich trafen, wird man die Resultate unserer Studie zu guter Letzt wohl auch nicht sozialer Unterstützung zuschreiben können, einer wohlbekannten und sehr machtvollen Einflußgröße im Hinblick auf unsere Gesundheit, die sich aus dem Gefühl ergibt, zu einer größeren Gruppe von Menschen zu gehören, sei es eine Familie oder eine Kirchengemeinde, eine ethnische oder eine kulturelle Gruppe oder selbst die Zugehörigkeit zu einer temporären Gruppe wie etwa der Gruppe der Teilnehmer an einem Programm der Stress Reduction Clinic. Aufgrund der Gesamtsituation bei der Phototherapie-Behandlung, bei der die Patienten, während sie sich in der Lichtbox befinden, sowohl voneinander als auch von den Krankenschwestern und Ärzten isoliert sind, sind die Resultate wohl eher den inneren mentalen Bemühungen und der Einstellung der einzelnen Patienten zuzuschreiben. Wieviel soziale Unterstützung kann es wohl geben, während man nackt und ganz allein in einer zylindrischen Lichtbox eingeschlossen dasteht, mit einer schwarzen Schutzbrille auf der Nase und einem Kopfkissenbezug über dem Kopf?
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Glücklichsein — Meditation, das Gehirn und das Immunsystem In Zusammenarbeit mit Dr. Richard Davidson von der University of Wisconsin in Madison haben wir eine andere Studie zu den Auswirkungen von Achtsamkeit auf Wohlergehen und Gesundheit durchgeführt. Bei dieser Studie wurde MBSR selbst getestet, wobei, wie wir gesehen haben, die Menschen in relativ großen Klassen die Meditation lernen und praktizieren, und zwar unter Anleitung eines Lehrers und nicht isoliert in einer Lichtbox, wo sie wie in der Psoriasis-Studie die Anleitungen allein vom Band erhalten. Stellen Sie sich folgendes vor: Die Angestellten eines hochmodernen Biotechnologie-Unternehmens in Madison werden dazu eingeladen, an einer Studie darüber teilzunehmen, wie Meditation die Reaktion des Gehirns und des Immunsystems auf Streß beeinflußt. Bevor sonst irgend etwas geschieht, werden diejenigen, die sich für den Versuch gemeldet gaben, im Labor vier Stunden lang einem grundlegenden Test unterzogen, in dem verschiedene Aspekte der Gehirnfunktion bewertet werden, während die Person einer Reihe emotionaler Reize ausgesetzt wird, die darin bestehen, daß ihr einige angenehme und einige belastende Aufgaben gestellt werden. Nach diesen vorbereitenden Tests werden die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe nimmt an dem achtwöchigen MBSRProgramm teil, das im Frühherbst desselben Jahres beginnt. Die zweite Gruppe wartet darauf, im Frühjahr des kommenden Jahres an dem Programm teilzunehmen. Nach Abschluß des Herbstprogramms werden die Teilnehmer beider Gruppen, also jene, die das Programm absolviert haben und jene, die es noch nicht absolviert haben, wiederum im Labor demselben Test unterzogen. Vier Monate nach dem zweiten Test werden alle ein drittes Mal getestet. Erst danach nehmen auch die Teilnehmer der Frühjahrs-Gruppe an der MBSRSchulung teil. In der Studie diente diese Gruppe als Warteliste-Kontrollgruppe, so daß wir die Resultate derjenigen, die an dem MBSR-Programm teilgenommen hatten, mit den Resultaten jener vergleichen konnten, die noch nicht teilgenommen hatten. Auch wenn es theoretisch eine gute Idee gewesen wäre, die Wirkung des MBSR-Programms auf die Frühjahrs-Gruppe ebenfalls zu messen, taten wir das nicht, weil dies der erste Anlauf zu einer solchen Studie war und die ganze Prozedur zu zeitaufwendig und zu teuer geworden wäre. Das Unternehmen ist ziemlich progressiv, und ohne die Unterstützung des Geschäftsführers hätte die Studie nicht durchgeführt werden können. Er gestattete, daß das Programm während der Arbeitszeit innerhalb des Unternehmens angeboten wurde. Allerdings mußten die zweieinhalb Stunden pro Woche, die die Teilnehmer an den Meditationsunterweisungen teilnahmen, irgendwie wieder hereingeholt werden. Das setzte die im Herbst an dem MBSR-Programm teilnehmende Gruppe potentiell einem größeren Streß aus als die Warteliste-Kontrollgruppe, da die Teilnehmer ihre Zeitpläne ändern mußten, um die zusätzlichen Stunden für das MBSR-Programm darin unterzubringen. Zusätzlich gab es für alle Teilnehmer beider Gruppen noch den Streß, daß sie sich zu 259
drei verschiedenen Gelegenheiten jeweils vier Stunden lang den Tests in Dr. Davidsons Labor für Affektive Neurowissenschaft zu unterziehen hatten. Die Testpersonen mußten mit einem Elektrodenhelm für das EEG (Elektroenzephalogramm) auf dem Kopf in einem dunklen Raum sitzen, ohne etwas essen und trinken oder auf die Toilette gehen zu können, während die Techniker sie einer ganzen Reihe streßbeladener und emotional herausfordernder Tests unterzogen, um zu sehen, wie ihr Gehirn mit all dem umging. Manche dieser Tests, die zum Beispiel darin bestanden, unter Zeitdruck in Dreierschritten von hundert rückwärts zu zählen, während andere Personen die Gehirnfunktionen überwachten, konnten regelrecht beschämend sein. Der Cortex cerebralis, die Großhirnrinde, ist der größte Teil unseres Gehirns. Dieser Teil, der sich zuletzt entwickelt hat und an all unseren kognitiven Fähigkeiten höherer Ordnung und an der Verarbeitung von Gefühlen beteiligt ist, besitzt zwei Hemisphären, eine linke und eine rechte. Neben zahllosen anderen Funktionen kontrolliert die linke Gehirnhälfte die motorischen und sensorischen Funktionen auf der rechten Seite des Körpers und die rechte Gehirnhälfte kontrolliert diese Funktionen auf der linken Körperseite. Jahrzehntelange Forschungen von Dr. Davidson und seinen Kollegen sowie von anderen Wissenschaftlern haben gezeigt, daß es in bezug auf den Gefühlsausdruck eine ähnliche Asymmetrie zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte gibt. Aktivitäten in spezifischen Regionen auf der linken Seite des frontalen und präfrontalen Kortex (der Region des Gehirns, die sich mehr oder weniger hinter der Stirn befindet) pflegen mit dem Ausdruck positiver Gefühle wie Glück, Freude, Energiegeladenheit und Wachheit assoziiert zu sein. Im Gegensatz dazu scheinen Aktivitäten in ähnlichen Regionen auf der rechten Seite mit dem Ausdruck schwieriger und verstörender Gefühle wie Angst und Traurigkeit verbunden zu sein. Jeder von uns hat eine Art Angelpunkt seines Temperaments, der durch die grundlegende Ratio zwischen den beiden Seiten definiert ist und für seine emotionale Disposition und sein Temperament charakteristisch ist. Bevor diese Studie durchgeführt wurde, nahm man an, daß dieser Angelpunkt für die Lebenszeit eines Menschen ziemlich festgelegt sei. Interessanterweise wird eine rechtsseitige Aktivierung in diesen frontalen Regionen der Gehirnrinde im allgemeinen mit Vermeidung assoziiert. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern für Primaten im allgemeinen und vielleicht auch für andere Säugetierarten wie etwa Nagetiere. Andererseits verbindet man linksseitige Aktivierung mit Annäherung und mit lustbetonten Reaktionen. Annäherung und Vermeidung ... zwei der grundlegendsten Verhaltensmuster aller lebenden Systeme, selbst derjenigen von Pflanzen, die nicht einmal ein Nervensystem besitzen. Diese beiden Charakteristika gehören zu den uns am tiefsten definierenden Zügen, da sie für jegliches Leben so grundlegend sind, aber auch da sie durch Erfahrung und soziale Normen so stark konditioniert werden. Deshalb können wir so leicht von unseren gewohnheitsmäßigen und unbewußten Gefühlsreaktionen auf verschiedene Ereignisse in unserem Leben gefangen- oder gar zur Geisel genommen werden, je nachdem, wie wir die Dinge, die uns widerfahren, interpretieren. Wenn wir ein Ereignis oder eine Situation als bedrohlich, gefährlich oder feindlich erfahren, dann neigen wir dazu, sie instinktiv zu vermeiden, da unsere primäre Motivation das Überleben ist und unsere Konditionierung noch zu dieser instinktiven Reaktion beiträgt. Wenn ein Ereignis oder eine Situation andererseits als angenehm 260
wahrgenommen wird - sei es nun etwas Schönes zu essen, eine erfreuliche soziale Situation oder einfach nur Umstände, die uns ein wenig Seelenfrieden versprechen , dann tendieren wir dorthin, denn angenehme Erfahrungen bringen das Verlangen nach weiteren angenehmen Erfahrungen hervor oder auch den Wunsch, herauszufinden, welche Dinge uns ein gewisses Maß an Lust bereiten können. Könnte man zeigen, daß wir durch Achtsamkeit ein gewisses Maß an weiser Kontrolle über diese eingefleischten und zutiefst konditionierten Gefühlsreaktionen ausüben können, dann würde das darauf hinweisen, daß Achtsamkeit den Menschen zu helfen vermag, effektiver mit gewissen sehr grundlegenden emotionalen und motivierenden Konditionierungen umzugehen, die mit dem Festhalten und Zurückweisen verbunden sind und praktisch auf alles abfärben, was wir tun. Aus all diesen Gründen waren wir sehr gespannt darauf zu sehen, was nach acht Wochen MBSR-Schulung mit diesem Angelpunkt des Temperaments im Gehirn, also mit der Ratio zwischen rechtseitiger und linksseitiger Aktivierung in spezifischen Regionen des frontalen und präfrontalen Kortex, geschehen würde, besonders in einer streßgeladenen Arbeitssituation. Würden die Menschen lernen, besser mit Streß umzugehen? Würden sich solche Veränderungen im Gehirn widerspiegeln? Würden wir eine Korrelation solcher Veränderungen mit biologisch signifikanten Indikatoren für Gesundheit, etwa mit der Reaktionsbereitschaft des Immunsystems auf die Konfrontation mit einem Virus, aufzeigen können? Das waren Fragen, auf die wir mit dieser Studie eine Antwort finden wollten. Doch bevor wir zu den Ergebnissen der Studie kommen, lassen Sie uns kurz einige der Herausforderungen betrachten, welche die Durchführung einer solchen Studie mit sich bringt. Wir machten uns von Beginn des Planungsprozesses an Gedanken darüber, ob es angemessen sei, eine solch umfängliche und teure Studie mit berufstätigen Menschen durchzuführen, die im Grunde gesund waren und in einer nur als herrlich zu bezeichnenden Umgebung arbeiteten. Die klinischen Wirkungen von MBSR waren bisher nur im Kontext eines Krankenhauses nachgewiesen worden, mit Patienten, die an chronischen Krankheiten und allen möglichen Schmerz- und Streßzuständen litten. Diese Patienten wurden uns von ihren Ärzten eben wegen dieser medizinischen Befunde überwiesen, und so waren sie potentiell sehr viel stärker motiviert, sich mit vollem Engagement auf die Übung von Meditation und die Kultivierung von Achtsamkeit zu stürzen als eine Gruppe von Angestellten, die sich einfach freiwillig zur Teilnahme an dieser Forschungsstudie gemeldet hatten. Ihre Motivation bestand einerseits in dem Wunsch, zur Erweiterung unseres wissenschaftlichen Verständnisses des Gehirns und der Gefühle beizutragen, andererseits aber auch in der Hoffnung, für sich selbst etwas aus dem Erlernen neuer Methoden zum Umgang mit Streß zu gewinnen. Ich machte mir allerdings Sorgen, daß diese Motivationen vielleicht nicht von der gleichen Größenordnung sein würden wie die Motivation von Patienten, die in unsere Stress Reduction Clinic kamen, eine Motivation, die auf starker emotionaler und körperlicher Überlastung durch eine Krankheit, gekoppelt mit einem alles durchdringenden Unwohlsein, beruhte, mit anderen Worten: auf dem andauernden Kampf dieser Patienten mit chronischem Streß, Schmerzen und Krankheit. Würden die Angestellten dieses Unternehmens motiviert genug sein, tatsächlich zu üben, statt nur äußerlich so zu tun, als ob? 261
Als man uns bei unserem ersten Besuch die VIP-Führung durch das Unternehmen gewährte, hatten wir ernste Zweifel daran, ob die Angestellten, die Wissenschaftler, Techniker, Manager und anderen Mitglieder der Belegschaft, die vielleicht als Testpersonen an der Studie teilnähmen, angesichts des offensichtlich so streßfreien Arbeitsklimas überhaupt irgendwelchen nennenswerten Streß erfahren würden. Hier waren wir also, kurz davor, eine teure Studie zu beginnen, ohne irgendwelche Pilotdaten, die darauf hinwiesen, daß es in dieser Umgebung überhaupt eine positive Reaktion auf das MBSR-Programm geben würde, sowohl was die Motivation der freiwilligen Teilnehmer anging, während der Studie bei der Sache zu bleiben und ernsthaft Meditation zu praktizieren, als auch was die Frage betraf, ob die Teilnehmer bei ihrem offenbar sehr niedrigen Streßniveau überhaupt von dem Programm profitieren würden. Ihre Arbeitsumgebung schien nachgerade zu gut zu sein, um wahr sein zu können, und das hätte sich für unsere Studie vielleicht nicht gerade als ein Vorteil erwiesen. Gleichzeitig waren wir uns natürlich darüber im klaren, daß Menschen nun einmal Menschen sind, daß Arbeit Arbeit ist und daß der menschliche Geist der menschliche Geist ist. Also vermuteten wir, daß es auch in dieser Umgebung mehr Streß geben könnte, als nach außen hin sichtbar war. Und wie sich herausstellte, war das tatsächlich der Fall. Kommen wir nun auf die Studie selbst zurück. Am Ende ließ sie doch einige interessante Dinge erkennen. Vor der Meditationsschulung waren die beiden Gruppen hinsichtlich der Muster ihrer Gehirnaktivierung nicht zu unterscheiden. Nach acht Wochen Schulung in Achtsamkeit ließen die Meditierenden als Gruppe eine deutliche Verschiebung hin zu einem größeren Anteil an linksseitiger Aktivierung in gewissen Regionen erkennen, während es bei der Kontrollgruppe tatsächlich eine Verschiebung in die Gegenrichtung, also hin zu rechtsseitiger Aktivierung gab.27 Der höhere Grad der Aktivierung in den linken Frontalregionen der Gehirnrinde bei den Meditierenden im Vergleich zu den Versuchspersonen der Kontrollgruppe zeigte sich in einem bleibenden Grundzustand und in der Reaktion auf verschiedene streßbeladene Aufgaben. Diese Gehirnveränderungen stimmen mit einer Verschiebung hin zu positiveren Emotionen und einer effektiveren Verarbeitung schwieriger Emotionen unter Streß überein. Wir stellten auch fest, daß die Verschiebung in der Ratio zwischen linksseitiger und rechtsseitiger Aktivierung, die wir bei den Meditierenden nach acht Wochen MBSRSchulung beobachteten, noch weitere vier Monate anhielt, während bei der Kontrollgruppe keine solche Veränderung beobachtet wurde. Das wies darauf hin, daß das, was man bisher für einen feststehenden Angelpunkt des Temperaments für die Kontrolle und Regulierung von Gefühlen gehalten hatte, vielleicht doch nicht so fixiert ist und daß sich der Angelpunkt durch die Kultivierung von Achtsamkeit verändern läßt. Diese Gehirnbefunde am Ende des Programms und nach den darauffolgenden vier Monaten stimmten mit den persönlichen Aussagen der Meditierenden überein, die von einer geringeren Neigung zu Angstreaktionen und weniger mentalen und physischen Reaktionen auf Streß berichteten, sowohl zur Zeit der beiden Tests als auch im Vergleich zu ihrem Zustand vor Beginn der Studie. Wir gaben allen Teilnehmern in beiden Gruppen zudem am Ende des Programms 262
eine Grippeimpfung, um zu sehen, wie das Immunsystem reagiert. Würden die Meditierenden eine stärkere Immunreaktion als die Kontrollgruppe zeigen, eine Reaktion, die sich an der Menge der produzierten Antikörper gegen die mit der Impfung verabreichten Grippeviren ablesen ließe? Sie zeigten tatsächlich eine stärkere Immunreaktion. Und nicht nur das. Als wir den Grad der Veränderung im Gehirn (die Verschiebung von rechts nach links) in Relation zur Antikörperreaktion im Immunsystem der Meditierenden setzten, fanden wir eine lineare Relation zwischen den beiden. Je höher die Veränderung im Gehirn, desto stärker war auch die Immunreaktion. Bei der Kontrollgruppe gab es keine solche Relation. Was bedeutet das nun alles? Es weist darauf hin, daß die Teilnahme an einem MBSR-Programm und einer Schulung in Achtsamkeit und ihre Anwendung im Alltag meßbare Konsequenzen haben, die für die geistige und körperliche Gesundheit von Bedeutung sein können. Es zeigt auch, daß Menschen sich in einem solchen Programm engagieren und, zumindest kurzfristig gesehen, davon profitieren können, während sie unter einigermaßen streßbeladenen Bedingungen ihrer Arbeit nachgehen. In anderen Studien haben Dr. Davidson und seine Kollegen die Gehirnmuster von östlichen und westlichen Lamas und Mönchen des tibetischen Buddhismus untersucht, die eine Reputation als „Adepten“ der Meditation besaßen und sich der Meditationspraxis in manchmal mehrere Jahre dauernden Schweigeklausuren gewidmet hatten. Das ist natürlich eine ganz andere Gruppe von Testpersonen als die Teilnehmer an unserer Studie, die im Kontext ihrer Arbeitsumgebung zum ersten Mal und unter dem Mantel der „Streßbewältigung“ mit der Meditation Bekanntschaft machten. Als diese Lamas getestet wurden, ließen sie als Grundzustand einen hohen Anteil an linksseitiger gegenüber rechtsseitiger Aktivierung erkennen, und das Verhältnis verschob sich während der Praxis verschiedener Formen der Meditation in einigen Fällen noch sehr viel stärker zu linksseitiger Aktivierung hin. Interessanterweise wiesen die allgemeinen Gehirnmuster bei den Lamas Verschiebungen in derselben Richtung und in denselben Regionen des frontalen Kortex auf wie in unserer Studie, nur daß die Verschiebungen bei den Lamas quantitativ größer waren. Der Vergleich läßt vermuten, daß sich bei gewöhnlichen Menschen, die in die Meditation erst einsteigen, bereits in relativ kurzer Zeit Veränderungen im Gehirn und im Körper zeigen können, die jenen von Menschen mit weit intensiverer Ausbildung und größerer Meditationserfahrung gleichen, Veränderungen, die mit einer Ausbildung der eigenen Fähigkeit, aufmerksam zu sein und in größerem mitfühlendem Gewahrsein zu verweilen, einhergeht. All das läßt auch vermuten, daß die „Verdrahtung“ des Gehirns, die für die Verarbeitung von Gefühlen verantwortlich ist, durch Meditation verändert werden kann; das wäre ein Beispiel für die grundlegende Neuroplastizität des Gehirns als Reaktion auf gelebte Erfahrung und Schulung. Unsere Studie liefert Belege dafür, daß die Praxis von Achtsamkeit dazu führen kann, daß ein Mensch sich weniger in destruktive Gefühle verstrickt und diesen ausgeliefert ist, daß sie uns zu größerer emotionaler Intelligenz und Ausgewogenheit und letztlich auch zu größerem Glück prädisponiert. Dieses Glück ist vielleicht so tief und so sehr ein Teil unserer Natur, daß es wie die Sonne ist, die immer scheint. 263
Allerdings kann auch die uns angeborene Befähigung zum Glücklichsein durch Wolken und Unwetter überschattet werden, durch die oft stark konditionierten Wetterbedingungen unseres eigenen Geistes. Aber genauso, wie die Sonne durch die Wetterbedingungen auf der Erde nicht beeinflußt wird, so mag die uns angeborene Glückseligkeit von den Ursachen und Bedingungen, die in unserem Alltagsleben um uns herum dräuen, unbeeinflußt bleiben, auch wenn wir uns nicht immer daran erinnern, daß dem so ist. Die uns innewohnende Glückseligkeit mag angesichts der ganzen Katastrophe nicht immer offensichtlich sein, doch wie diese Studie zu zeigen scheint, ist sie immer zugänglich und kann berührt, angezapft und in unserem täglichen Leben mehr zur Geltung gebracht werden. Das ist keine schlechte Art und Weise, uns selbst zu sehen. Und noch besser wäre es, wenn wir das verwirklichen würden.
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Homunkulus Wir sind diesem seltsamen Wort (lateinisch für „kleiner Mann“, wir könnten auch sagen „kleine Person“) schon früher begegnet, nämlich im Zusammenhang mit Francis Cricks Behauptung, daß es keinen solchen „kleinen Mann“ in unserem Kopf gibt, der für unser Bewußtsein verantwortlich ist und die Tatsache, daß wir Bewußtsein besitzen, erklären könnte - auch wenn es sich manchmal so anfühlen mag, wenn wir uns in die Empfindung von „ich, mich und mein“ verstricken und nicht so recht darauf achten, von wem wir da sprechen und wer diese Gedanken (oder überhaupt jegliche Gedanken) denkt. Es gibt in Ihrem Kopf ganz gewiß keine irgendwie geartete „kleine Person“, die Ihre Wahrnehmungen wahrnimmt, Ihre Gefühle fühlt und Ihr Leben lenkt. Es gibt allerdings die nicht zu leugnende Tatsache und Erfahrung von Gewahrsein, von Bewußtsein - aber das ist, wie wir gesehen haben, ein großes Mysterium; außerdem ist es im Grunde unpersönlich, solange wir nicht darauf bestehen, an unserer konventionellen Wahrnehmung unserer selbst als unabhängige Wesenheiten festzuhalten, auch wenn diese sich bei näherer Nachforschung eher als illusorisch denn als wirklich erweist. Doch interessanterweise spielt ebendieses Wort „Homunkulus“ dennoch eine wichtige Rolle in der Gehirnforschung. Es wird verwendet, um bestimmte Landkarten des Körpers im Gehirn zu beschreiben, wie wir sie in den nebenstehenden Abbildungen sehen können.
Wir haben dieses Thema bereits beiläufig angesprochen, als wir vom Body Scan (Körperdurchwandern) gesprochen haben. In Ihrem Gehirn gibt es eine Reihe topologisch zu nennender Karten, die Ihren gesamten Körper abbilden. Sie sind in dem Sinne Landkarten, daß so gut wie jede Region der Oberfläche des Körpers und der darunterliegenden Muskulatur eine korrespondierende Region im Gehirn hat, mit der sie verbunden ist und in einer engen wechselseitigen Beziehung steht. Es ist schon interessant genug, nur über diese Tatsache nachzudenken, aber noch viel interessanter, 265
sie von der Erfahrung her zu erkunden. Das ist etwa so, als hätte die Karte der Stadt, in der Sie zu Hause sind, direkte Verbindungen von jedem einzelnen Punkt auf der Landkarte zu dem entsprechenden Ort in der Stadt selbst. Eine ziemlich ungewöhnliche Landkarte! Und mehr noch: Wenn Sie die Karte nicht hätten, hätten Sie auch keine Stadt. Eine der topologischen Karten in der Gehirnrinde betrifft den Tastsinn, den Sinn der Berührung. Auf einer weiteren Karte finden sich all die Gebiete des Körpers, die mit willkürlicher Bewegung zu tun haben. Der Sinn der Berührung ist in einer Region des Gehirns lokalisiert, die man den somatosensorischen Kortex nennt; er erstreckt sich in einem Band über die Gehirnrinde, von einer Seite des Gehirns bis zur anderen. Die willkürliche Bewegung ist im sogenannten motorischen Kortex lokalisiert, der hinter der Frontalregion liegt; er erstreckt sich ebenfalls in einem Band gleich vor dem somatosensorischen Kortex, ist von diesem jedoch durch eine der tiefen Spalten im Gehirn getrennt. Entsprechend den anderen Sinnen, dem Sehen, Hören, Riechen und Schmecken, gibt es andere spezialisierte Gehirnregionen, die primär für diese Sinne verantwortlich sind. Der visuelle Kortex zum Beispiel liegt im hinteren Bereich des Gehirns (der Okzipitalregion), der auditive Kortex, der für das Hören zuständig ist, auf den Seiten des Gehirns (den Temporallappen). Da in Berührung und Bewegung jedoch sämtliche Regionen des Körpers beteiligt sind, sind ihre Landkarten im Gehirn das, was man die Homunkuli nennt. Wenn man diese Karten - welche die Körperoberfläche und die willkürliche Muskulatur widerspiegeln, über den entsprechenden Gehirnregionen proportional zu den Regionen, die sie kontrollieren, darstellt -, dann erhält man die verzerrten Figuren, die in den obenstehenden Abbildungen zu sehen sind. Tatsächlich gibt es sowohl für den sensorischen Homunkulus als auch für den motorischen Homunkulus jeweils zwei Karten, eine für jede Gehirnhälfte. Als wir im vorigen Kapitel, wo es um unsere Studie über die Wirkung von Achtsamkeitsschulung auf das Gehirn und das Immunsystem ging, von der Gehirnrinde sprachen, sagten wir, daß der Kortex zwei Hauptteile hat, nämlich die linke Hemisphäre und die rechte Hemisphäre, die in mancher Hinsicht auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert sind. Bei den topologischen Karten sowohl für den Sinn der Berührung als auch für die Bewegung ist die Karte in der linken Hemisphäre jeweils mit der rechten Seite des Körpers verbunden (oder, so könnten wir sagen, kontrolliert diese), und die Karte in der rechten Hemisphäre ist für die linke Körperseite zuständig. Die Karten für den somatosensorischen und den motorischen Kortex wurden zuerst
in den vierziger und fünfziger Jahren in Montreal von dem kanadischen Neurochirurgen 266
Wilder Penfield erstellt. Er fand heraus, daß es möglich ist, proportionale Repräsentationen des Körpers auf der Grundlage der Größe jedes Bereichs im Gehirn, der für eine bestimmte Körperregion zuständig ist, zu zeichnen. Auf diese Weise erhalten wir tatsächlich das Bild eines kleinen Mannes (beziehungsweise einer kleinen Frau), wenngleich diese Figur entsprechend der Dichte der motorischen oder sensorischen Neuronen, die verschiedene Körperregionen innervieren, stark verzerrt ist. Interessanterweise entdeckte Penfield diese Landkarten des Körpers im Gehirn durch seine Gehirnoperationen an mehr als eintausendzweihundert Patienten, die an Formen von Epilepsie litten, welche sich mit Medikamenten nicht kontrollieren ließen. Mit Erlaubnis seiner Patienten, die bei der Operation bei vollem Bewußtsein waren, benutzte Penfield eine Elektrode, um verschiedene Regionen des freigelegten Kortex zu stimulieren (das freigelegte Gehirn spürt keinen Schmerz, da es auf der Oberfläche des Gehirns keine Nervenenden gibt), zum Teil, um sicherzugehen, daß der chirurgische Eingriff, den er vornehmen wollte, die Fähigkeiten des Patienten zur Verbalisierung nicht beeinträchtigen würde. Auf diese Weise entdeckte er, daß die Stimulation bestimmter Gehirnregionen Empfindungen eines Kribbelns in verschiedenen Teilen des Körpers auslöste. Indem er die Elektrode vorsichtig umherbewegte und verbale Rückmeldungen von seinen Patienten erhielt, konnte Penfield eine Karte des gesamten Körpers auf dem somatosensorischen Kortex erstellen, welche zur Entstehung des Bildes vom sensorischen Homunkulus führte. In anderen Regionen, die vor jenen lagen, welche diese Empfindungen hervorbrachten, führte die elektrische Stimulation des Gehirns zu einem Zucken und anderen Muskelbewegungen in verschiedenen Körperregionen. Indem Penfield auf diese Weise allmählich eine Karte des Körpers auf der Oberfläche des motorischen Kortex erstellte, wurde der motorische Homunkulus entdeckt. Aus den Abbildungen auf Seite 391 können Sie sofort ersehen, daß die Karte des Körpers im Gehirn nicht völlig zusammenhängend, sondern auf nichtanatomische Weise aufgeteilt ist. So kommt zum Beispiel die Repräsentation der Hand zwischen dem Gesicht und dem Kopf; die Genitalien finden sich auf dieser Karte irgendwo unterhalb der Zehen. Auch entsprechen die Größenverhältnisse auf der Karte nicht denjenigen des Körpers. Die beiden Homunkuli sehen eher aus wie Karikaturen. Der Mund, die Zunge und die Finger sind übergroß, während Rumpf, Arme und Beine winzig sind. Das liegt daran, daß die Karte im Gehirn in Relation zur Anzahl der sensorischen oder motorischen Neuronen steht, die mit den jeweiligen Körperregionen in Verbindung stehen. Wir haben zum Beispiel sehr viel mehr Empfindung und sehr viel mehr Vermögen zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Empfindung in unseren Händen und Fingern sowie in unserer Zunge und unseren Lippen (erinnern Sie sich daran, daß Dinge in den Mund zu stecken, für uns als Babys eine der ersten Methoden war, die Welt und unsere Verbindung zu ihr zu erkunden und herauszufinden, wie und was die Dinge waren) als in unseren Armen oder Beinen. Und was die Bewegung angeht, so haben Finger und Hände sowie Lippen und Zunge sehr viel mehr Bewegungsfreiheit und Subtilität in der Bewegung als andere Körperregionen, etwa die Mitte unseres Rückens oder die Rückseite der Beine. Was etwa die Zunge und den Mund betrifft, so ist es doch zum Beispiel geradezu wunderbar, wie sie ohne weiteres zwischen der Hervorbringung des „K“ in den Wörtern 267
„Käse“ und „Korb“ differenzieren können, die sich geringfügig voneinander unterscheiden. Die Zunge macht das mühelos und ohne Nachdenken. Sprache und Vokalisierung brauchen deshalb sehr viel motorische Innervation. Die Größe der verschiedenen Regionen der somatosensorischen Karte hat auch mit der relativen Wichtigkeit des Inputs aus dem jeweiligen Teil des Körpers zu tun und damit, wie oft er gebraucht wird. Vom Standpunkt des Überlebens aus gesehen, ist es sehr viel nützlicher, Informationen aus unserem Zeigefinger zu erhalten als etwa aus unserem Ellbogen. Im selben Sinne sind taktile Empfindungen aus dem Mund, den Lippen und der Zunge für das Hervorbringen eines verständlichen Sprechens von größter Wichtigkeit, und deshalb nehmen sie, wie wir bereits angemerkt haben, auf der Karte viel mehr Platz ein als zum Beispiel der Hinterkopf. Das ist natürlich auch der Grund, warum wir beim Küssen so viel Lust und ein so großes Gefühl der Verbundenheit empfinden können. Die somatosensorischen Karten des Körpers im Gehirn und weitere Karten, die in einer anderen spezialisierten Region der Gehirnrinde, Insula genannt, angesiedelt sind, lassen vermuten, daß es immer dann, wenn wir irgendwo im Körper eine Empfindung fühlen - sagen wir ein Jucken, einen Nadelstich oder ein Prickeln -, eine korrespondierende Aktivität im somatosensorischen Kortex und der Insula gibt, die für diesen spezifischen Teil des Körpers zuständig sind. Wir „fühlen“ und „wissen“, wo unser Körper berührt wird, ohne daß wir hinsehen müssen, weil dies auf unseren Karten des Körpers im Gehirn aufleuchtet. Ohne enge Verbindungen zu diesen Karten im Kortex sowie zu anderen Regionen im Gehirn, die die Erfahrung für uns interpretieren und abrunden und ihnen eine gewisse emotionale Färbung verleihen, würde der rein sensorische Input aus dieser Körperregion für sich allein noch nicht annähernd zu etwas führen, was wir als Fühlen, Wahrnehmen oder Wissen bezeichnen könnten. Es ist so, als würden diese Systeme im Körper und Gehirn die Pfade bereitstellen, über die wir in jedem gegebenen Moment wissen, was wir fühlen, wie wir uns fühlen und wo wir es fühlen. Selbst wenn uns ein Körperteil fehlt, können wir ihn trotzdem fühlen, als wäre er noch vorhanden, weil es die Karte im Gehirn noch gibt. Wenn spontane Aktivitäten in den Nervenenden im Stumpf eines amputierten Armes oder Beins jene Region auf der Karte stimulieren, mit der diese Nervenenden verbunden sind, dann erzeugt das die Empfindung, als sei der Arm oder das Bein noch vorhanden; dies ist das Phänomen der Phantomgliedmaßen. Jüngere Forschungen haben gezeigt, daß die Karten des Körpers im Gehirn sehr stark formbar sind. Sie reorganisieren sich selbst in Reaktion auf ein erfahrungsorientiertes Training oder auf Lernen oder auch bei der Erholung von einer Verletzung. Das nennt man heute die Plastizität des Nervensystems oder auch Neuroplastizität. Im Falle des Verlusts von Gliedmaßen oder eines Fingers kann die Gehirnregion, die mit diesem Körperteil assoziiert ist, schließlich dazu gebracht werden, sich mit einer anderen, angrenzenden Region des Körpers zu verbinden. Der somatosensorische Kortex arrangiert sich in der Tat neu, um sich veränderten Bedingungen im Körper anzupassen. Nach einiger Zeit kann die Stimulation der Oberfläche oder einer anderen Region in der Nähe des fehlenden Armes ebenfalls die Region im Gehirn stimulieren, die einst für den Arm zuständig war, und kann auf diesem anderen Weg die Erfahrung eines 268
Phantomglieds auslösen. Ein neueres Lehrbuch der Neurologie hat darauf hingewiesen, daß es zwar für einen Menschen mit einem fehlenden Glied problematisch sein kann, wenn einer bestimmten Körperregion mehr somatosensorischer Kortex gewidmet ist, daß dies aber etwa für einen Musiker potentiell vorteilhaft sein könnte. Bei Untersuchungen der Gehirnfunktionen mit bildgebenden Verfahren hat sich herausgestellt, daß die Region des somatosensorischen Kortex, welche für die Finger der linken Hand zuständig ist, bei Geigern, die mit der linken Hand die Griffe ausführen, wesentlich erweitert ist in Relation zu der Region im Gehirn, die für die rechte Hand zuständig ist, mit der sie den Bogen führen und die für das Spiel zwar wichtig ist, aber nicht im gleichen Ausmaß sensorisch stimuliert wird wie die Finger der linken Hand. Die allgemeine Schlußfolgerung aus einer ganzen Reihe höchst interessanter Experimente in dieser Richtung läuft darauf hinaus, daß die Landkarten im Gehirn von Menschen und Tieren dynamisch und in der Lage sind, sich mit der Zeit an Veränderungen in der Erfahrung anzupassen, besonders wenn sie häufig benutzt werden und an Lernprozessen beteiligt sind. Dies gilt nicht nur für den somatosensorischen Kortex, sondern auch für den motorischen Kortex und ebenso für die visuellen und auditiven Landkarten im Gehirn. Tatsächlich weisen immer mehr Forschungsergebnisse darauf hin, daß unsere Karten des Körpers im Gehirn in mancher Hinsicht außerordentlich flexibel sind und die Fähigkeit besitzen, sich im Laufe unseres Lebens ständig zu verändern, besonders wenn sie in Aktivitäten involviert sind, die wir regelmäßig über Tage, Wochen, Monate oder Jahre hinweg ausführen.19 Und nicht nur das. Jede Karte im Gehirn ist sehr stark mit anderen Gehirnsystemen koordiniert und in diese integriert, damit wir höchst komplexe und verfeinerte Bewegungen ausführen können, die von Augenblick zu Augenblick einer Vielzahl sensorischer und propriozeptiver Inputs bedürfen - wie etwa, wenn wir nach einem Objekt greifen und es in die Hand nehmen, oder wenn wir einen Baseball schlagen, der mit einer Geschwindigkeit von beinahe 160 Stundenkilometern auf uns zufliegt, oder wenn wir Bewegungen ausführen, die einer feinabgestimmten motorischen Sensibilität bedürfen, wie etwa das Aufheben einer Büroklammer, oder wenn wir uns auf eine Weise bewegen, welche Gefühle verkörpert und zum Ausdruck bringt, wie es etwa im Tanz der Fall ist. Ein Beispiel für von Erfahrung angetriebene Neuroplastizität wurde von einer Studie offengelegt, in der das Gehirn von erfahrenen Londoner Taxifahrern mit dem Gehirn von Fahrern verglichen wurde, die sich gerade erst auf die Prüfung für die Taxifahrerlizenz vorbereiteten. Der vordere Hippokampus war bei den erfahrenen Fahrern wesentlich größer und der hintere Hippokampus entsprechend kleiner im Vergleich zu jenen Fahrern, die sich noch in der Ausbildung zum Taxifahrer befanden und noch nicht gelernt hatten, sich mit Leichtigkeit in dem mittelalterlichen Irrgarten der Londoner Straßen zurechtzufinden. Wie sich gezeigt hat, spielt der vordere Hippokampus eine wesentliche Rolle für die räumliche Orientierung. Es sieht so aus, als sei er tatsächlich physisch größer geworden, um die Straßenkarte Londons und das damit verbundene Wissen um Kreisverkehre, Einbahnstraßen und die komplizierten Muster des Verkehrsflusses „aufnehmen“ zu können. Stellen Sie sich nur zum Spaß einmal vor, wir würden dadurch, daß wir wieder und wieder den Body Scan ausführen, unseren somatosensorischen Kortex und andere damit verbundene Regionen im Gehirn auf ähnliche Weise zum Wachsen bringen und ihn umgestalten. Durch jahrelange Praxis kommen wir natürlich sehr viel direkter in Berührung mit dem Körper, und es ist gut möglich, daß das Gehirn sich in Reaktion auf eine solche tägliche Übung entsprechend umorganisiert. Wir wollen nicht vergessen, daß unser Körper weitaus komplexer ist als die Anlage der Londoner Straßen, die die Taxifahrer interessanterweise „das Wissen“ (the knowledge) nennen. 19
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Neuere Untersuchungen der Gehirnfunktionen mit bildgebenden Verfahren bei buddhistischen Mönchen und anderen Meditierenden mit Tausenden von Stunden intensiver Meditationspraxis, wie sie etwa von Richard Davidson durchgeführt wurden, lassen Ebenen der Gehirnaktivierung, der Kohärenz zwischen verschiedenen Gehirnregionen und der Stabilität von Aktivierungsmustern in Verbindung mit bestimmten Meditationsübungen erkennen, die den Wissenschaftlern noch vor wenigen Jahren völlig unbekannt waren. Außerdem haben wir bereits gesehen, daß es bei Menschen, die am Arbeitsplatz gelernt haben zu meditieren, indem sie lediglich acht Wochen an einem MBSRProgramm teilgenommen haben, zu positiven Gehirnveränderungen in Regionen kommen kann, die unter Streß negative oder destruktive Emotionen regulieren, und daß diese Veränderungen bis zu vier Monate anhalten. Das ist ein weiterer Beweis für mögliche Verbindungen zwischen Meditationspraxis und Neuroplastizität und dafür, wie sich durch eine systematische Geistesschulung solche Gehirnveränderungen zu unserem Wohle erreichen ließen. Kehren wir zurück zur nackten Erfahrung von Empfindungen und erinnern wir uns daran, daß es, wie bei den anderen Sinneswahrnehmungen, ein absolutes Rätsel ist, wie wir von der Aktivierung von Nervenenden etwa in der Schulter, die einen sensorischen Stimulus aufnehmen, worin immer dieser bestehen mag, zum Fühlen der Empfindungen als eine Berührung in dieser besonderen Körperregion gelangen. Die Kognitionswissenschaft hat keine ausreichende Erklärung dafür, wie die gesamte Körperempfindung erzeugt wird und innerhalb dieser die individuellen Empfindungen bestimmter Körperregionen. Es ist ein Teil des Mysteriums des Bewußtseins, wie wir wissen, was wir wissen, und wie wir die innere Erfahrung eines Körpers und die äußere Erfahrung einer bewohnbaren Welt erzeugen. Wenn wir den Body Scan praktizieren, dann bewegen wir unsere Aufmerksamkeit systematisch und willentlich durch den Körper und achten auf die verschiedenen Empfindungen in unterschiedlichen Regionen. Daß wir überhaupt auf diese Körperempfindungen achten können, ist schon ziemlich bemerkenswert. Daß wir es willentlich tun können, entweder einem Impuls folgend oder auf diszipliniertere und systematischere Weise, ist noch erstaunlicher. Ohne einen Muskel zu bewegen, können wir unseren Geist auf irgendeine von uns gewählte Stelle im Körper ausrichten und können fühlen und dessen gewahr sein, welche Empfindungen dort in diesem Moment vorhanden sind. Von der Erfahrung her könnten wir das, was wir während eines Body Scan tun, als eine Einstimmung auf oder eine Öffnung für diese Empfindungen beschreiben, bei der wir uns selbst gestatten, dessen gewahr zu werden, was sich bereits entfaltet, von dem wir aber im allgemeinen das meiste ausblenden, weil es so offensichtlich, so gewöhnlich und so vertraut ist, daß wir kaum bemerken, daß es da ist ... vielmehr daß es hier ist. Und dementsprechend könnten wir auch sagen, daß wir die meiste Zeit in unserem Leben kaum wissen, daß wir hier sind und den Körper erfahren, uns im Körper erfahren ... es ist einfach nicht möglich, die Essenz dieser Erfahrung in Worte zu fassen. Wenn wir davon sprechen möchten, so sind wir, wie bereits angemerkt, von unserer Sprache her dazu gezwungen, von einem separaten „Ich“ zu sprechen, das einen Körper „hat“. Das hört sich am Ende hoffnungslos dualistisch an. 270
Und doch gibt es zweifellos auf irgendeine Weise ein separates Ich, das einen Körper „hat“, zumindest gibt es den sehr starken Anschein, daß dies der Fall ist, und wir haben dies als die Ebene der konventionellen Realität bezeichnet, als die relative Wahrheit, die Ebene der Erscheinungen. Im Bereich der relativen Wirklichkeit gibt es einen Körper und seine Empfindungen (Objekt), und es gibt den diese Empfindungen Wahrnehmenden (Subjekt). Diese erscheinen als getrennt und voneinander verschieden. Dann gibt es aber auch Momente des reinen Wahrnehmen, die manchmal in der Meditationspraxis oder in anderen besonderen Momenten unseres Lebens auftauchen. Allerdings sind uns solche Momente potentiell jederzeit verfügbar, da sie einfach Attribute des Gewahrseins selbst sind. Das Wahrnehmen vereint das scheinbare Subjekt und das scheinbare Objekt im Erfahren selbst. Subjekt und Objekt lösen sich in das Gewahrsein auf. Gewahrsein ist größer als die Sinneswahrnehmung. Es hat ein Leben an sich, getrennt vom Leben des Körpers und doch in enger Abhängigkeit vom Körper. Das Gewahrsein ist jedoch zutiefst beeinträchtigt, wenn es aufgrund von Krankheit oder Verletzung, insbesondere einer Verletzung des Nervensystems, keinen vollständigen Körper hat, mit dem es arbeiten kann. Ein intaktes Nervensystem stattet uns mit all den außerordentlichen Pforten des Zugangs zur Welt der Sinneswahrnehmung und des Fühlens aus. Doch wir halten, wie bei fast allem anderen auch, diese Fähigkeiten für dermaßen selbstverständlich, daß wir kaum noch bemerken, dass jeder kostbare Moment unseres Lebens in seinen inneren und äußeren Beziehungen von ihnen abhängig ist. Wir könnten nicht nur stärker zur Besinnung kommen. Wir könnten auch erkennen, daß wir nur durch unsere Sinne wissen - wenn wir den Geist oder das Gewahrsein ebenfalls als einen Sinn, wie man sagen könnte, den „letzten Sinn“, betrachten. Wenn wir also den Body Scan durchführen, dann scannen wir, wie inzwischen offensichtlich sein sollte, de facto gleichzeitig und eng damit verbunden auch die Karte des Körpers im somatosensorischen Kortex und in anderen Bereichen des Gehirns wie der Insula. Die Karten und der „Körper“ sind nicht voneinander getrennt. Sie sind nicht wirklich voneinander verschiedene „Dinge“, sondern sind Teil ein und desselben nahtlosen Ganzen, das wir (und hier versagen wieder die Worte) als den Körper erfahren, wenn wir tatsächlich damit in Kontakt sind. Wir würden wahrscheinlich keine Erfahrung von Sinneswahrnehmung oder eine ganz andere Erfahrung von Sinneswahrnehmung haben, wenn entweder die Karten des Körpers selbst beschädigt wären oder wenn die Verbindung zwischen den Karten und dem Körper unterbrochen wäre. Allerdings verstärkt die Einführung von Gewahrsein in dieses Zusammenspiel aus irgendeinem Grund die Sinneswahrnehmung, und sie führt auch zu einer stärkeren Integration von Gehirn und Körper und einer umfassenderen Sichtweise der Erfahrung selbst. Zumindest fühlt es sich so an. Vielleicht ordnet sich der somatosensorische Kortex ja wirklich als Reaktion auf eine regelmäßige Meditationspraxis dieser Art neu. Ganz gewiß machen wir die Erfahrung, daß das Gewahrsein unseres Körpers feiner wird, subtiler, sensibler und emotional nuancierter, während wir uns auf die verschiedenen Dimensionen der Körperlandschaft einstimmen. Und dieses Gefühl wird bestätigt durch die Erfahrungsberichte einer großen Zahl ärztlich betreuter Patienten, die sich in Achtsamkeit geschult hatten und die, nachdem sie über einen Zeitraum von mehreren Wochen täglich den Body Scan praktiziert hatten, von tiefgreifenden 271
Veränderungen in ihrer Beziehung zu chronischen Schmerzzuständen, zu Krebs oder Herzkrankheiten, zu ihrem Angstempfinden und zu ihrer Sicht des Körpers berichten. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn während der Praxis des Body Scan die Körperempfindungen stärker gespürt werden; es kann sogar so sein, daß mehr Schmerz empfunden wird, weil die Empfindung in bestimmten Körperregionen einfach intensiver wird. Gleichzeitig kommt es jedoch im Kontext der Achtsamkeitsübung dazu, daß wir mit den Sinneswahrnehmungen, worin immer sie bestehen und wie intensiv sie auch sein mögen, besser und angemessener umgehen können, daß wir sie weniger mit Interpretationen, Urteilen und Reaktionen wie tiefer Abneigung oder dem Impuls davonzulaufen überlagern. Im Body Scan entwickeln wir eine stärkere Vertrautheit mit der nackten Sinneswahrnehmung; wir öffnen uns für das Geben und Nehmen, das in die wechselseitige Beziehung zwischen den Sinneswahrnehmungen selbst und unserem Gewahrsein dieser Wahrnehmungen eingebettet ist. Ein nicht ungewöhnliches Resultat davon ist, daß wir weniger von diesen Wahrnehmungen verstört werden oder daß wir auf eine andere, klügere Weise davon verstört werden, selbst wenn sie sehr unangenehm sind. Das Gewahrsein lernt, sie so sein zu lassen, wie sie sind, und bei ihnen zu bleiben, ohne es zu übermäßigen emotionalen Reaktionen und zu einem allzu aufgeregten Nachdenken darüber kommen zu lassen. Wir sprechen manchmal davon, daß Gewahrsein und Unterscheidungsvermögen zwischen der sensorischen Dimension der Erfahrung von Schmerz und der emotionalen und kognitiven Dimension von Schmerz unterscheidet und diese vielleicht auf natürliche Weise voneinander abkoppelt. In diesem Prozeß kann manchmal auch die Intensität der Sinneswahrnehmungen selbst nachlassen. Auf jeden Fall kann es dazu kommen, daß man sie als weniger quälend und weniger beeinträchtigend empfindet. Es sieht so aus, als heile das Gewahrsein selbst, das bei den Sinneswahrnehmungen bleibt, ohne sie zu beurteilen oder auf sie zu reagieren, unsere Sichtweise des Körpers und mache es ihr möglich, wenigstens in einem gewissen Ausmaß mit den Bedingungen zurechtzukommen, die im Augenblick gegeben sind, so daß sie nicht mehr auf überwältigende Weise unsere Lebensqualität aushöhlen, nicht einmal im Angesicht von Schmerzen und Krankheit. Das Gewahrsein von Schmerz ist in der Tat etwas ganz anderes als das Festhängen im und Kämpfen mit dem Schmerz, und wenn wir in den Bereich des Gewahrseins eintreten, erfahren wir etwas Linderung und Erleichterung. Dies ist an sich eine Erfahrung von Befreiung, einer profunden Freiheit, zumindest in jenem Moment, von einem engstirnigeren Festhalten an der Erfahrung von Schmerz, weil wir ihn nicht als nackte Sinneswahrnehmung betrachten. Damit sind die Schmerzen selbst natürlich nicht aus der Welt geschafft, aber es kommt zu einem Lernen, einer Öffnung und einem Akzeptieren, so daß wir mit dem Auf und Ab einer Situation umzugehen vermögen, die zuvor extrem schwierig, ja unerträglich erschien. Was wir den Menschen, die in die Stress Reduction Clinic kommen, sagen, ist folgendes: Ganz gleich, in welcher Situation, in welchem Zustand sie sich befinden, welches Leiden und welchen Schmerz sie bisher auch zu ertragen hatten, ganz gleich, wie verzweifelt sie sein mögen - wenn sie sich mit vollem Einsatz auf die Meditationsübungen einließen, dann würden sie höchstwahrscheinlich feststellen, daß es Möglichkeiten gäbe, mit der Situation einigermaßen umzugehen. Und manchmal ist dieses „einigermaßen“ etwas sehr Großes und Erhellendes. 272
Das Leben antwortet auf bemerkenswerte Art auf weise Aufmerksamkeit; das liegt vielleicht zum Teil an der Plastizität des Nervensystems. Doch weise Aufmerksamkeit setzt voraus, daß wir dann, wenn wir uns mit großen Herausforderungen konfrontiert sehen, besonders mit solchen, die enormes Leiden und großen Kummer mit sich bringen, bereit sind, im Angesicht all unserer Schmerzen und allen inneren Aufruhrs und sogar angesichts von Verzweiflung eine gewisse Arbeit mit und an uns selbst zu leisten, eine Arbeit, die niemand auf diesem Planeten für uns tun kann, ganz gleich, wie gern er oder sie das auch tun würde, ganz gleich, wie groß seine oder ihre Liebe für uns ist, ganz gleich, wie diese Menschen mit uns mitfühlen, ganz gleich, wie sehr sie uns auch dort, wo das möglich ist, helfen und beistehen mögen. Es ist erstaunlich, wie gut ein Mensch mit Dingen in der inneren und äußeren Erfahrung umzugehen vermag, aber das gilt manchmal um so mehr oder auch nur dann, wenn er bereit ist, es anzupacken und die Arbeit zu tun. Es mag die schwierigste Arbeit auf der Welt sein, und ich gehöre zu denjenigen, die glauben, daß das Kultivieren von Achtsamkeit und das Schmecken des Freiseins vom konditionierten Geist in der Tat die allerschwierigste Arbeit auf der Welt ist. Aber was gibt es schließlich anderes zu tun? Es ist immerhin Ihr eigenes Leben, das auf dem Spiel steht, und allein schon aus diesem Grund ist die Arbeit zutiefst befriedigend und nicht nur eine enorme Herausforderung. Wir entdecken, daß es tatsächlich ausgesprochen erfüllend ist, völlig präsent zu sein, auf nichtreagierende und nichturteilende Weise präsent zu sein, auch wenn das und gerade wenn das, wofür wir präsent sind, vielleicht Angst, Einsamkeit, Verwirrung und die seelischen Schmerzen sind, die mit solchen Bewußtseinszuständen einhergehen. Wir entdecken, daß es tatsächlich möglich ist, mit solchen Bewußtseinszuständen und solchen körperlichen Zuständen umzugehen, und das heißt, daß sie letztlich auf sehr profunde Weise heilbar sind. Wenn ich den Body Scan praktiziere, dann habe ich, ob ich nun gerade Schmerzen im Körper empfinde oder nicht, manchmal das Gefühl, daß ich, wenn ich den Körper und darüber auch, wie wir gesehen haben, den somatosensorischen Kortex und andere damit verbundene Karten, die das Gefühl erzeugen, daß man sich „im“ Körper befindet, auf diese Weise scanne, tatsächlich mein Gehirn füttere, daß ich es auf eine Weise trainiere, wie mein Hund seinen olfaktorischen Kortex trainiert, wenn er die Welt erschnuppert. Ich halte mich also in meinem eigenen Leben an den Body Scan und an die Atembewußtheit sowie daran, mich meinen Sinnen hinzugeben, wie schmerzlich oder bitter das im Moment auch sein mag. Inzwischen schnüffelt mein Hund im Freien und am Straßenrand herum. Meine Straßen und Gassen sind die Pfade der Propriozeption und der Interozeption, der gefühlten Empfindung der Gegenwart und Position des Körpers im Raum und seiner inneren Befindlichkeit sowie natürlich der Antriebe meines Geistes im jeweiligen Augenblick. Ich kann wirklich Spaß daran haben, mein Gewahrsein in meine Füße zu lenken, in meine Fußgelenke, Knie, Beine, meinen Bauch und den ganzen Körper, wie er hier liegt. Das nährt mich und es ist zweifellos eine Feinabstimmung des somatosensorischen Kortex, und vielleicht wird dieser sogar angeregt oder aktiviert, wie die Neurologen sagen. Vielleicht wachsen durch diese regelmäßigen Besuche auch gewisse Regionen des somatosensorischen Kortex und die damit in Verbindung stehenden Bereiche. 273
Ob weitere Studien das nun bestätigen werden oder nicht, ich halte es für eine gute Sache, diese Verbindungen zu entwickeln, sich mit dem Homunkulus anzufreunden, den sensorischen und motorischen Kortex zu massieren und das Nervensystem zu füttern. Ich meine, es ist eine gute Sache, den Geist darin zu trainieren, im Körper zu wohnen, unsere Erfahrung des Lebendigseins deckungsgleich mit dem Körper und in den Körper eingefaltet sein zu lassen, nicht als einen fixierten Zustand, sondern als einen vitalen und sich von Moment zu Moment entfaltenden Fluß. Auf diese Weise bekommt die Erfahrung, verkörpert zu sein, die Gelegenheit, sich zu einem stabilen, verläßlichen Gefühl zu entwickeln, das nicht länger Gefahr läuft, durch die Dumpfheit unserer gewohnheitsmäßigen Unbewußtheit und ständigen Mißachtung dessen, was uns am allernächsten ist, untergraben und ausgehöhlt zu werden, durch eine Unbewußtheit, die uns am Ende nur von unserem eigenen Leben und unseren Möglichkeiten abschneidet und uns in einer tiefgehenden Entfremdung von der Natur und von unserem eigenen Inneren gefangenhält. Ich will eine Aussage von James Joyce aus einer seiner Kurzgeschichten in Die Dubliner frei zitieren: „Mr. Duffy lebt nicht weit von seinem Körper entfernt.“ Das ist vielleicht eine Adresse, die er mit allzu vielen von uns gemein hat. Es ist ein schrecklicher Verlust, wenn man das Wunder der Verkörperung für selbstverständlich hält. Und es würde eine tiefgehende Heilung unseres Lebens bedeuten, wenn wir wieder Kontakt mit unserem Körper aufnehmen könnten. Alles, was dazu nötig ist, ist die Übung, zu unseren Sinnen zurückzukommen, zu ihnen allen. Und ... eine gewisse Abenteuerlust.
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Propriozeption Die gefühlte Empfindung des Körpers Wir wissen, daß es möglich ist, die gefühlte Empfindung des gesamten Körpers oder von Teilen davon durch eine traumatische Verletzung zu verlieren. Bei Verletzungen des Rückenmarks kann die Nervenverbindung zwischen Körper und Gehirn schwer beeinträchtigt oder ganz unterbrochen werden. In einer solchen Situation ist die Person in der Regel in den Bereichen, die von den Rückenmarksnerven unterhalb der Unterbrechung kontrolliert werden, gelähmt und nicht in der Lage, ihren Körper zu fühlen. Sowohl die sensorischen als auch die motorischen Pfade zwischen Körper und Gehirn und zwischen Gehirn und Körper sind davon betroffen. Der Schauspieler Christopher Reeve erlitt eine solche Verletzung im Nacken, als er von einem Pferd abgeworfen wurde. Wir werden im folgenden Kapitel über diesen bemerkenswerten Fall sprechen. Vor einigen Jahren hat der Neurologe Oliver Sacks seine Begegnung mit einer jungen Frau beschrieben, die aufgrund einer ungewöhnlichen und sehr seltenen Polyneuritis (Entzündung) der sensorischen Wurzeln ihrer spinalen und kranialen Nerven lediglich die sensorische Dimension ihrer Körpererfahrung verloren hatte. Diese Entzündung erstreckte sich unglücklicherweise auf das gesamte Nervensystem der Frau. Schlimmerweise war sie wahrscheinlich durch eine Behandlung mit Antibiotika ausgelöst worden, die man ihr in einem Krankenhaus prophylaktisch vor einer Routineoperation wegen Gallensteinen verabreicht hatte. Alles, was diese Frau, die Sacks Christina nannte, noch zu fühlen vermochte, war eine leichte Berührung. Sie konnte den Luftzug auf ihrer Haut spüren, wenn sie in einem offenen Cabriolet fuhr, und sie fühlte Temperatur und Schmerz, doch dies nur in einem stark reduzierten Maß. Sie hatte jedoch jedes Gefühl dafür verloren, einen Körper zu haben, in ihrem Körper zu sein, also das, was man technisch als Propriozeption bezeichnet und was Sacks den „vitalen sechsten Sinn“ nennt, „ohne den ein Körper unwirklich und unbewohnt bleiben muß“. Christina hatte nicht das geringste Gefühl für Muskeln, Sehnen oder Gelenke und auch keine Worte, um ihren Zustand zu beschreiben. Interessanterweise konnte sie, ähnlich wie wir es bei Menschen gesehen haben, die blind oder taub sind, nur von anderen Sinnen abgeleitete Analogien
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benutzen, um ihre Erfahrungen zu beschreiben.20 „Es ist, als sei mein Körper sich selbst gegenüber blind und taub ... Er hat kein Gefühl für sich selbst.“ In den Worten von Oliver Sacks: „Wann immer sie Gelegenheit dazu hat, geht sie ins Freie; sie genießt es, in einem offenen Wagen zu fahren, wo sie den Wind auf ihrer Haut spüren kann (die Empfindung der Haut für leichte Berührung ist nur wenig beeinträchtigt).“ - „Es ist herrlich“, sagt sie. „Ich spüre den Wind auf der Haut, auf den Armen und im Gesicht, und dann merke ich undeutlich, daß ich tatsächlich Arme und ein Gesicht habe. Es ist nicht das echte Gefühl, aber es ist immerhin etwas - es nimmt eine Zeitlang diesen schrecklichen Todesschleier von mir.“ Mit dem Verlust der Propriozeption ging der Verlust dessen einher, was Sacks die grundlegende Verankerung der Identität nennt - jener verkörperte Sinn des Daseins, der Sinn dafür, eine körperliche Identität zu besitzen. „Für Christina existiert dieses allgemeine Gefühl - dieses ,Fehlen der egoistischen Empfindung von Individualität’ -, auch wenn es im Laufe der Zeit durch Gewöhnung abgenommen hat.“ Interessanterweise stellte sich heraus, daß ihr die Sinne von Sehen und Hören halfen, sich wieder ein gewisses Maß an äußerer Kontrolle über die Positionierung ihres Körpers und seine Fähigkeit zur Vokalisierung anzueignen, doch sie muß all ihre Bewegungen mit extremer Absichtlichkeit und bewußter Aufmerksamkeit ausführten. Gleichzeitig bleibt jedoch „ein spezifisches organisch begründetes Gefühl der Körperlosigkeit, das noch ebenso stark und unheimlich ist wie am ersten Tag“. Doch anders als bei Menschen, die infolge einer Durchtrennung des Rückenmarks im oberen Bereich der Wirbelsäule gelähmt sind und ebenfalls die Propriozeption verloren haben, ist Christina zwar „körperlos“, kann sich aber noch bewegen. Verstehen Sie das nicht falsch. So wie der Verlust des Wissens darum, wer man selbst ist, bei Alzheimer-Kranken keineswegs ein Abkürzungsweg zur Selbstlosigkeit ist, ist auch dieser Verlust der propriozeptiven Verankerung in keinem Sinn des Wortes eine Befreiung. Das ist weder Erleuchtung noch eine Auflösung des Egos und auch nicht das Loslassen von einer übermäßigen Verhaftung an den Körper. Es ist ein pathologischer und äußerst zerstörerischer Prozeß, der das Individuum all dessen beraubt, was Sacks, der hier den Philosophen Ludwig Wittgenstein zitiert, „den Ausgangspunkt und die Basis allen Wissens und aller Gewißheit“ nennt. Wir haben keine Worte zur Beschreibung der Gefühle, die uns angesichts eines solchen Verlusts Ein Beispiel für von Erfahrung angetriebene Neuroplastizität wurde von einer Studie offengelegt, in der das Gehirn von erfahrenen Londoner Taxifahrern mit dem Gehirn von Fahrern verglichen wurde, die sich gerade erst auf die Prüfung für die Taxifahrerlizenz vorbereiteten. Der vordere Hippokampus war bei den erfahrenen Fahrern wesentlich größer und der hintere Hippokampus entsprechend kleiner im Vergleich zu jenen Fahrern, die sich noch in der Ausbildung zum Taxifahrer befanden und noch nicht gelernt hatten, sich mit Leichtigkeit in dem mittelalterlichen Irrgarten der Londoner Straßen zurechtzufinden. Wie sich gezeigt hat, spielt der vordere Hippokampus eine wesentliche Rolle für die räumliche Orientierung. Es sieht so aus, als sei er tatsächlich physisch größer geworden, um die Straßenkarte Londons und das damit verbundene Wissen um Kreisverkehre, Einbahnstraßen und die komplizierten Muster des Verkehrsflusses „aufnehmen“ zu können. Stellen Sie sich nur zum Spaß einmal vor, wir würden dadurch, daß wir wieder und wieder den Body Scan ausführen, unseren somatosensorischen Kortex und andere damit verbundene Regionen im Gehirn auf ähnliche Weise zum Wachsen bringen und ihn umgestalten. Durch jahrelange Praxis kommen wir natürlich sehr viel direkter in Berührung mit dem Körper, und es ist gut möglich, daß das Gehirn sich in Reaktion auf eine solche tägliche Übung entsprechend umorganisiert. Wir wollen nicht vergessen, daß unser Körper weitaus komplexer ist als die Anlage der Londoner Straßen, die die Taxifahrer interessanterweise „das Wissen“ (the knowledge) nennen. 20
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verbleiben, denn der Verlust des gefühlten Sinns für den Körper, besonders dann, wenn der Körper sich noch bewegen kann, ist für uns unvorstellbar. Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Diese Worte Wittgensteins hat Oliver Sacks seiner Geschichte über diesen „sechsten Sinn“ als Motto vorangestellt, diesen Sinn, von dem wir keine Ahnung haben, daß wir ihn besitzen, weil er so selbstverständlich ist, nämlich der gefühlte Sinn des Körpers im Raum. Er ist so eng mit unserer Körperlichkeit verbunden, mit unserer physischen „Präsenz“, unserem Sinn dafür, daß der Körper uns eigen ist und deshalb uns gehört, daß er uns überhaupt nicht auffällt und wir seine zentrale Rolle für unsere Konstruktion der Welt und dessen, was wir zu sein glauben, nicht zu schätzen wissen. Wenn wir den Body Scan praktizieren, umfängt unser Gewahrsein eben jenen Sinn der Propriozeption, den Sacks beschreibt und den Christina auf so tragische Weise verlor, die gefühlte Empfindung, einen Körper zu haben, sowie, innerhalb des Universums des Körpers als ein nahtloses Ganzes, der gefühlte Sinn all seiner verschiedenen Regionen, die wir in unserem Geist zu einem gewissen Maß isolieren können, auf die wir uns ausrichten und die wir „bewohnen“ können. Wenn wir den Body Scan praktizieren, eignen wir uns die Lebendigkeit des Körpers, wie er ist, wieder an, wir gewinnen sie zurück aus der Wolke der Unbewußtheit, die daher rührt, daß wir den Körper für selbstverständlich halten, einfach weil er uns dermaßen vertraut ist. Ohne zu versuchen, irgend etwas zu verändern, wenden wir ihm einfach unsere Aufmerksamkeit zu und damit auch unsere Wertschätzung und unsere Liebe. Wir sind Forschungsreisende in diesem geheimnisvollen, sich ständig verändernden KörperUniversum, das wir auf eine sehr profunde Weise sind und das wir auf ebenso profunde Weise nicht sind. Wenn wir also auf irgendeine Form von Heilung hoffen und diese eine Möglichkeit bleibt, wie fern sie auch zu sein scheint, so ist die Bereitschaft, den Körper aus der Vergessenheit der Selbstverständlichkeit oder aus einer narzißtischen Egozentrik zurückzuholen, eine Grundvoraussetzung. Wenn das Gewahrsein die Sinne umfängt, dann belebt es sie. Wir haben das alle schon in gewissen Momenten erfahren, in Augenblicken außerordentlicher Lebendigkeit. Im Falle der Propriozeption ist es unmöglich vorherzusagen, was geschehen könnte, wenn wir uns wirklich auf eine disziplinierte und liebevolle Weise dem Lauschen auf den Körper hingeben und für Tage, Wochen, Monate und Jahre dabeibleiben würden, auch wenn wir anfangs vielleicht nicht viel hören. Eines ist auf jeden Fall gewiß. So gut er nur kann, lauscht der Körper ebenfalls, und er antwortet auf die ihm eigene Art.
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Neuroplastizität und die unbekannten Grenzen des Möglichen Schwieriges wird sofort erledigt. Das Unmögliche braucht etwas länger. MOTTO DES INGENIEURKORPS DER US-ARMEF,
Ich ziehe es vor, dieses Motto der Armee-Ingenieure nicht als Ausdruck einer arroganten Macho-Einstellung und totaler Überheblichkeit zu betrachten, sondern als Widerspiegelung der potentiellen Macht eines wirklich offenen Geistes und einer Einstellung, die nicht bereit ist, klein beizugeben, einer Bereitschaft, es mit jeder Situation aufzunehmen, die unsere alten konditionierten Denkgewohnheiten zu vorschnell als etwas Unmögliches einstufen mögen. Wir wissen ja wohl aus eigener Erfahrung nur zu gut, daß unser Verstand manchmal etwas für unmöglich hält, was sich später als durchaus möglich erweist. Und lassen Sie uns nicht vergessen, daß auch die Überquerung des Ozeans einst für unmöglich gehalten wurde. Fliegen hielt man einst für unmöglich. Ohne einen schrecklichen Krieg zwischen den Rassen die Apartheid in Südafrika zu beenden und dort eine Demokratie zu installieren, auch das galt einst als unmöglich. Wir können niemals wirklich wissen, was in unserer Landschaft des Geistes und der Landschaft des Körpers möglich ist, auch nicht angesichts schwerwiegender Verletzungen oder Krankheiten und des großen Schadens und der Störungen, die diese hervorrufen mögen. Das gilt besonders, wenn wir diesen scheinbar nicht zu bewältigenden Herausforderungen, worin auch immer sie bestehen mögen, mit äußerster Aufmerksamkeit und Entschlossenheit begegnen. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall des Schauspielers und Regisseurs Christopher Reeve, der wohl besonders für seine Darstellung des Superman in dem gleichnamigen Film bekannt geworden ist. Sein Mut und seine Entschlossenheit sowie seine Großzügigkeit des Geistes angesichts dessen, was ihm widerfahren ist, scheint diesem Namen, der an ihm haften geblieben ist, auf seltsame Weise angemessen. Nach einem Reitunfall im Jahr 1995 war er vom Nacken abwärts gelähmt, und seine Ärzte sagten ihm immer wieder, daß er niemals mehr in der Lage sein werde, einen Teil seines Körpers unterhalb des Nackens zu bewegen. Seine Situation wurde als „das Szenario des schlimmstmöglichen Falls“ beschrieben. Doch nach den Worten von Dr. Michael Merzenich von der University of California in San Francisco, einem Pionier der Forschung auf dem Gebiet der Neuroplastizität sowie der Veränderungen, zu denen es in Gehirnkarten im somatosensorischen Kortex und im auditiven Kortex infolge von Lernen und wiederholtem Gebrauch kommen kann, hat Christopher Reeve „sämtliche Annahmen über die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns und des Rückenmarks, sich nach einer katastrophalen Verletzung wieder zu erholen, in Frage gestellt“. Bis vor kurzem lautete das Dogma der Neurologie, daß es unmöglich ist, sich von einer schweren neurologischen Verletzung des Rückenmarks zu erholen, weil die auseinandergerissenen oder zerstörten Nervenzellen nicht nachwachsen und sich nicht 278
wieder verbinden können, um wieder Leitbahnen für Nervenimpulse zwischen Körper und Gehirn herzustellen. Diese Leitbahnen müssen intakt sein, damit der motorische Kortex und andere Bewegungszentren im Gehirn die Muskeln des Körpers kontrollieren können, damit der Körper propriozeptives Feedback darüber geben kann, was in der Bewegung geschieht, und damit mit Berührung verbundene Empfindungen jeder Art an den somatosensorischen Kortex und andere Gehirnzentren, die dafür verantwortlich sind, die physische Welt zu begreifen, weitergeleitet werden können. Doch Christopher Reeve und andere Patienten mit Verletzungen des Rückenmarks und Schädigungen durch einen Gehirnschlag strafen heute infolge der Veränderungen, die sie als Resultat neuer Therapieformen erfahren, dieses Dogma lügen und treiben eine stille Revolution im Bereich der Rehabilitationsmedizin voran. Dadurch wird auch das Verständnis für die klinischen Implikationen und die Relevanz der Neuroplastizität für den Körper und seine sensorischen und motorischen Funktionen erweitert. Im Fall von Christopher Reeve waren wenigstens zwei Drittel der Nervenbahnen in seinem Rückenmark auf der Höhe des Nackens durchtrennt, und was noch übrig geblieben war, funktionierte nicht mehr. Er war vom Nacken abwärts total gelähmt, konnte dort nichts mehr fühlen oder bewegen, und er konnte nicht einmal mehr ohne ein Ventilator-Modul atmen, da die Verletzung auch die Nerven beeinträchtigt hatte, die das Zwerchfell kontrollieren. Während der ersten fünf Jahre nach dem Unfall machte er von passiver elektrischer Stimulation Gebrauch, um seine Muskelmasse aufrechtzuerhalten und den Kreislauf anzuregen. Er verbrachte auch Zeit auf einem Tisch liegend, der ihn in die Vertikale kippte, um die Knochendichte zu erhöhen und den Blutkreislauf noch weiter zu stimulieren. Und er versuchte, in einem Geschirr aufgehängt über einem eingeschalteten Laufband zu hängen. All diese Bemühungen, seinen Körper wieder aufzuwecken, fruchteten klinisch nichts. Er stellte keinerlei Verbesserung fest. Aber er weigerte sich, aufzugeben. Nach fünf Jahren ohne Veränderung seines körperlichen Zustands und einer Vielzahl lebensbedrohlicher medizinischer Komplikationen führte Reeve mit Hilfe seiner Ärzte und Pfleger ein Trainingsprogramm durch, das man nur als „übermenschlich“ bezeichnen kann; es wird ABR oder „activity-based recovery“ (Wiederherstellung auf der Grundlage von Bewegung) genannt. Im Rahmen dieses Programms wurde sein Körper durch computergestützte elektrische Stimulation der Hauptmuskelgruppen in seinen Beinen auf einem stationären Fahrrad passiv bewegt. Er machte dieses Training dreimal in der Woche eine Stunde lang bei einem fixierten Leistungsoutput (dreitausend Umdrehungen pro Stunde). Zusätzlich ließ er täglich abwechselnd wichtige Muskelpartien in den Armen und im Rumpf elektrisch stimulieren. An einem bestimmten Punkt wurde einmal in der Woche eine Wassertherapie eingeführt, bei der er sich in einem Schwimmbecken bewegen und von einem Therapeuten bewegen lassen konnte: gegen einen Widerstand, aber ohne gegen die Schwerkraft kämpfen zu müssen. Er begann auch ein Training mit Atemübungen. Reeve hielt dieses intensive passive Trainingsprogramm aufrecht, weil es, wie er sagte, seine Muskeln stark hielt und seine Stimmung verbesserte. Eines Morgens, nach beinahe sechs Jahren ohne Gefühl in seinem Körper und ohne willkürliche Kontrolle von Bewegungen, und fast ein Jahr, nachdem er das intensive ABR-Programm begonnen hatte, fiel ihm auf, daß er willkürlich ein spastisches Zucken seines linken Zeigefingers auszulösen vermochte. 279
Dieser winzige Vorbote, daß Bewegung möglich war, war der Beginn einer langsamen Wiedergeburt motorischer Kontrolle und Empfindung während der nächsten drei Jahre. An jenen Tag zurückdenkend, sagte Reeve: „Meine erste Reaktion war, meinen Enthusiasmus zu dämpfen. Doch innerlich hoffte und glaubte ich, daß ich, wenn ich plötzlich meinen Finger auf Kommando bewegen konnte, alle anderen Teile meines Körpers erforschen mußte, um zu sehen, was möglich war. ... Damals entschloß ich mich, das Trainingsprogramm noch zu intensivieren.“ Vergessen Sie nicht, daß Christopher Reeve, als er dies sagte, unterhalb des Nackens noch weniger Propriozeption hatte als Christina (im vorangegangenen Kapitel). Wenn er also „mein Körper“ sagt, dann war das zu dieser Zeit mehr ein Gedanke und eine Erinnerung als eine im gegenwärtigen Moment vorhandene Beziehung ... bis sein Finger sich bewegte. Als der sich bewegte, entstand eine neue Ebene der Verbindung. Er wurde wieder „sein“ Finger im Gegensatz zu einem gefühllosen, unbeweglichen Fortsatz seines Körpers, den er zwar sehen, aber nicht fühlen konnte und der nicht im geringsten auf seinen Willen reagierte. Als er sich an jenem Tag erneut kontrolliert bewegte, erwachte der Finger, wie man sagen könnte, wieder zum Leben. Und in den folgenden Jahren wurden mehr und mehr Teile seines Körpers wieder lebendig. Stellen Sie sich vor, wieviel Vertrauen, Entschlossenheit, Disziplin und nicht erlahmende Ausrichtung des Geistes nötig waren, um tagaus, tagein weiterhin einen Körper zu trainieren, der nicht zu fühlen war - ohne wahrnehmbaren „Fortschritt“ und während er, sinnbildlich gesprochen, stromaufwärts gegen die Strömung des vorherrschenden klinischen Verständnisses anschwimmen mußte, eine Sichtweise, die ganz klar sagte, daß es keinen Fortschritt geben könne. Doch wie die klinischen Aufzeichnungen belegen, waren Reeves Fortschritte ganz außerordentlich. Nach drei Jahren des Wiederherstellungsprogramms auf der Grundlage von Bewegung hatte sich sein Zustand zu dem Zeitpunkt, zu dem dies geschrieben wurde,21 auf der Skala der Rückenmarksverletzungen um zwei Grade verbessert, ein Ausmaß der Wiederherstellung, das noch nie zuvor bei einem Patienten mit einer derart schwerwiegenden Verletzung beobachtet worden ist. Schon vorher hatte sein Körper selbst ohne jede funktionale Verbesserung sehr positiv auf das Training reagiert. Dazu gehörte eine Zunahme der Muskelmasse und der Knochendichte, größere kardiovaskuläre Ausdauer und eine Abnahme von Muskelkrämpfen. Diese körperlichen Veränderungen verbesserten seine Gesundheit und seine Lebensqualität beträchtlich. Die Anzahl an Infektionen, die den Einsatz von Antibiotika nötig machten, nahm drastisch ab. Seine schwere Osteoporose, die zu pathologischen Brüchen zweier der größten Knochen in seinem Körper, dem Femur und dem Humerus, beitrug, wurde komplett rückgängig gemacht und auf die Ebene zurückgeführt, die er vor seinem Reitunfall hatte. Etwas später begann Christopher Reeve das zu erfahren, was die Ärzte eine funktionelle Verbesserung nennen. Von jenem Tag an, an dem er seinen Finger bewegen konnte, kehrten ganz langsam Empfindung und motorische Kontrolle zurück. Diese Veränderungen nahmen auch weiterhin zu. Im zweiundzwanzigsten Monat des Übungsprogramms hatte die Empfindung von leichter Berührung sich Christopher Reeve verstarb im Alter von 52 Jahren im Oktober 2004 nach einer schweren Infektion an den Folgen eines Herzanfalls. (Anm. d. Übers.) 21
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auf 52 Prozent des Normalzustands verbessert; nach weiteren sechs Monaten waren 66 Prozent des Normalzustands erreicht. Zusätzlich zur Wiederherstellung der Empfindung von leichter Berührung und von Nadelstichen (Schmerz) nahm die Fähigkeit zu, Vibration zu erkennen und warm von kalt zu unterscheiden, und erstaunlicherweise nahm auch sein Sinn der Propriozeption zu, der ihm schließlich erlaubte zu wissen, wann seine Position verändert werden mußte, weil er sich wundgelegen hatte oder weil die Blutzufuhr in eine Körperregion abgeschnitten war. Zum Zeitpunkt des klinischen Berichts, den seine Ärzte im Jahr 2002 veröffentlichten, waren etwa 70 Prozent von Reeves Körper aktiv in seinem Gehirn repräsentiert, was bedeutet, daß die sensorische Information wieder von der Peripherie, also von seiner Haut, den Muskeln, Knochen und Gelenken, zu seinem Gehirn floß und daß motorische Botschaften von seinem motorischen Kortex in seine Arme und Beine sowie andere Körperbereiche flossen. Es gab zudem eine Verbesserung um 20 Punkte (von 0 auf 20 auf einer Skala von 100 Punkten) bei den motorischen Werten, was sich als Bewegung in den meisten Gelenken, einschließlich Ellbogen, Handgelenke, Finger, Hüften und Knie, manifestierte. Die meisten Muskeln in den Beinen waren noch nicht in der Lage, der Schwerkraft standzuhalten, aber es wurde ihm möglich, im Pool zu stehen und sogar zu gehen. Außerdem konnte er daran arbeiten, seine Arm-, Bein- und Rumpfmuskulatur selbständig gegen angemessenen Widerstand zu trainieren. Er war auch in der Lage, mehr als eine Stunde lang ohne den Ventilator zu atmen, auch wenn er weiterhin darauf angewiesen war. „Dadurch, daß ich über lange Zeiträume trainiert habe, sind, wie ich glaube, schlafende Nervenbahnen wieder erwacht“, sagte Reeve. Seine Ärzte stimmen dem wohl zu, und sie sind dabei, Theorien zu entwickeln, die erklären sollen, wie er in Reaktion auf das intensive Trainingsprogramm solche Fortschritte machen konnte, ähnlich wie die komplexe neurologische Vernetzung bei Kleinkindern und Kindern sich ja bekanntermaßen in Reaktion auf Bewegung entwickelt. Die natürliche Plastizität des Nervensystems nimmt im Erwachsenenalter beträchtlich ab, aber offensichtlich geht sie nicht ganz verloren. Nach Ansicht von Dr. John W McDonald von der medizinischen Fakultät der Washington University in St. Louis, Missouri, dem Neurologen von Reeve, bleiben bei vielen Verletzungen des Rückenmarks einige aufsteigende (vom Körper zum Gehirn) und absteigende (vom Gehirn zum Körper) Nervenbahnen lebendig, wenn auch betäubt. Ohne Anregung verkümmern diese Bahnen, und die Person landet im Rollstuhl. Doch wenn die Muskeln mit Elektroden stimuliert und trainiert werden, dann können diese Nervenbahnen manchmal teilweise wiederbelebt werden. Eine Weise, die Plastizität im erwachsenen Gehirn und Körper voranzutreiben, besteht darin, das, was zu lernen ist, in kleine Schritte aufzuteilen. Außerdem muß die Anregung, wie Dr. Merzenich sagt, für das Individuum wichtig sein. Wenn sie langweilig und geistlos ist, dann werden die Mechanismen der Plastizität im Gehirn nicht greifen. Nach einem Bericht in der New York Times vom 22. September 2002 gehen die Moleküle im Gehirn zur Belohnungs-Schaltung über, wenn eine Person sich sammelt und aufmerksam ist, und diese fördert die Plastizität. Der Grad der Wiederherstellung, der bei Christopher Reeve zu beobachten war, hat, wie wir uns vorstellen können, sein Leben beträchtlich verändert. Acht Jahre nach dem 281
Unfall und drei Jahre nach Beginn des ABR-Programms notiert sein Arzt in seinem medizinischen Bericht, daß Reeve seit mehr als dreieinhalb Jahren nicht mehr ins Krankenhaus mußte. „Vorher hatte ich Blutgerinnsel, Lungenentzündung, eine kollabierte Lunge, sehr schwere Dekubitus-Geschwüre und ein infiziertes Fußgelenk, weshalb man mir beinahe mein Bein amputieren mußte. Ich beurteilte meine Lage und mein Leben sehr zögernd, weil ich nie wußte, was als nächstes schiefgehen würde. Doch während der letzten paar Jahre habe ich hinsichtlich meiner Gesundheit viel Mut geschöpft. Es war mir möglich, keine Antibiotika mehr nehmen zu müssen. Mein Gewicht ist unter Kontrolle. Ich kann ohne Probleme bis zu fünfzehn oder sechzehn Stunden in meinem Stuhl aufbleiben. Wenn man bedenkt, daß ich ein Ventilatorabhängiger C2-Fall [Grad der Verletzung des Rückenmarks] bin, dann kann man sagen, daß ich mich in der bestmöglichen Verfassung befinde. Ich kann auf eine Weise arbeiten und reisen, die sehr befriedigend ist. Der nächste kleine Schritt, den ich mir als Ziel gesetzt habe, ist, ohne den Ventilator auszukommen.“ Das ist ihm in der Tat eine Zeitlang gelungen, nachdem man eine experimentelle Operation durchgeführt hatte, um ihm einen Zwerchfellstimulator einzupflanzen, der im wesentlichen eine Art Schrittmacher für die Lunge ist und der es ihm erlaubte, für gewisse Zeiträume ohne das Beatmungsgerät zu atmen und so die Muskulatur des Zwerchfells zu kräftigen. Das führte dazu, daß er nach acht Jahren zum ersten Mal wieder durch Nase und Mund atmen und ohne das Atemgerät normal sprechen konnte. Er erlangte auch seinen Geruchssinn wieder, den er nach dem Unfall gänzlich verloren hatte, und konnte, wie sein Ärzteteam bei einem Test feststellte, ohne weiteres den Duft von Kaffee, Pfefferminze und Orangen identifizieren. „Ich wünsche mir eine noch brauchbarere funktionale Wiederherstellung. Ich bin in der Lage, meine Arme, Finger und Beine zu bewegen, aber ich sitze noch immer in diesem Rollstuhl. Ich hoffe, daß meine Rehabilitation in diesem Sinne in kleinen Schritten weitergeht, so dass ich in einem anderen Rollstuhl sitzen kann, der mir mehr Bewegungsfreiheit erlaubt und mich weniger von anderen abhängig macht.“ Und er fährt fort: „Es ist jetzt leichter, die Ziele in meinem Leben zu verwirklichen, denn ich kann dem Produzenten eines Films jetzt sagen, daß ich zum Drehort reisen kann, um Regie zu führen, was ja mein Beruf ist. Ich kann auch Vorträge halten, was ebenfalls Teil meines Berufs ist. Man kann mit mir rechnen. In der Vergangenheit haben Infektionen und andere Krankheiten mich daran gehindert, meinen Verpflichtungen nachzukommen. Es ist eine enorme Erleichterung, zu wissen, daß ich eine Verpflichtung eingehen und sie dann aufgrund meines Gesundheitszustands auch einhalten kann. Die Bedeutung [der Wiederherstellung] für mein tägliches Leben bestand in größerer Mobilität und leichterer Atmung. Noch 1995, 1996 oder 1997 wäre ein Versagen des Ventilators furchtbar gewesen, denn ich konnte wirklich nicht atmen. Jetzt kann ich recht gut atmen. Wenn ich atme, benutze ich die richtige Technik. Ich bin in der Lage, mein Zwerchfell zu bewegen, eine Fähigkeit, die ich durch Übung und Training erlangt habe. Das ist der tröstlichste Aspekt meiner Wiederherstellung, dieser Sicherheitsfaktor. Die Empfindung unterhalb meines Nackens hat sich von null auf etwa 65 Prozent [des Normalwerts] verbessert. Was am Fühlen so wichtig ist, ist der Kontakt zu anderen Menschen. Es ist ein riesiger Unterschied, wenn jemand dich an der Hand berührt und du das fühlen kannst. Man stellt eine sehr viel tiefere Verbindung her. 282
Ich betrachte den Aufbau von Muskelmasse als eine Vorbereitung für die Wiederherstellung, die mein langfristiges Ziel ist. Wichtiger aber ist, daß die Muskelmasse wesentlich für alle Bewegungen ist, die man machen muß, um das kardiovaskuläre System funktionstüchtig zu erhalten, und sie hat auch mit der Aufrechterhaltung einer angemessenen Knochendichte zu tun. Sagen wir einmal, Sie hätten sehr schwache Beinmuskeln. Auf einem Kipptisch zu stehen wäre gefährlich für die Knochen in Ihren Beinen, da sie von der Muskulatur zu wenig gestützt werden. Ich habe auch das durchgemacht. Ich wußte nicht, daß ich eine schwere Osteoporose hatte. Durch Training und hohe Dosen von Kalzium konnte ich die Osteoporose völlig umkehren. Ich habe heute wieder die Knochen, die ich im Alter von dreißig Jahren hatte. [Reeve war zum Zeitpunkt dieses Interviews fast Fünfzig.] Es ist wichtig, dass die Mediziner wissen, daß die Osteoporose bei Rückenmarksverletzungen rückgängig gemacht werden kann. Aber auch was mein Selbstbild angeht, ist es sehr wichtig für mich, auf meine Beine hinabsehen zu können und keine Nudeln zu sehen. Tatsächlich ist die Größe meiner Beinmuskulatur und meines Bizeps wieder beinahe wie vor meinem Unfall. Das ist jetzt sieben Jahre her, und es trägt sehr viel dazu bei, daß ich mich wohl fühle in meiner Haut. Ich bin in der Lage, mit meiner Familie auszugehen, ... und ich kann meinen Kindern und meinen Freunden beim Spielen zusehen. Ich kann so nahe wie möglich an das Spielfeld herangehen, ohne selber teilzunehmen, aber ich habe auch gelernt, aus dem Beobachten der Freizeitbetätigungen meiner Kinder und Freunde Befriedigung zu gewinnen. So bin ich dabei und habe teil daran, auch wenn ich nicht so mitmachen kann wie früher. Ich habe das Gefühl, daß der Fortschritt, den ich bisher gemacht habe, symbolisch ist für den Fortschritt, der noch kommen wird ... Ich möchte mich im Prozeß der Rehabilitation dem Normalzustand so weit wir nur möglich annähern und ich halte an diesem Ziel fest. Ich lasse nicht davon ab, und vielleicht ist es ein psychologischer Indikator für das, woran ich glaube, daß ich in den sieben Jahren seit meiner Verletzung niemals einen Traum gehabt habe, in dem ich behindert war. Ich will mein Leben zurück haben.“ Vom Standpunkt April 2004 aus betrachtet, hat Reeve danach etliche entmutigende Rückschläge erlitten. Sein Körper stieß den Zwerchfell-Schrittmacher nach einer Reihe von Infektionen und einer Lungenentzündung ab, und als Folge davon war er wieder von dem Atemgerät abhängig. Er konnte nicht mehr im Pool üben und konnte sein Wiederherstellungsprogramm deshalb nicht fortsetzen. Er konnte auch nicht auf dem Laufband trainieren, da sein Femur infolge von Osteoporose bei seinem ersten Versuch entzweigebrochen war und er nun eine Metallplatte und fünfzehn Schrauben in seinem Bein hatte. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, und es machte ihm Freude, daß er Pionier sein konnte, dessen Erfahrungen für alle, die nach ihm in eine ähnliche Situation kommen, sehr wichtig waren. Er wies darauf hin, daß er erst der zweite Mensch auf der Welt war, dem ein solcher Zwerchfell-Schrittmacher eingepflanzt wurde, und auch wenn das bei ihm nicht funktioniert hat, machte das, was die Ärzte aus seinem Fall gelernt haben, es doch den nächsten sieben Patienten möglich, ohne den Ventilator auszukommen. Seine Erfahrung trug auch dazu bei, daß man Patienten mit Rückenmarksschäden heute routinemäßig auf Osteoporose untersucht, bevor man sie auf dem Laufband trainieren läßt. Darum ist es 283
ihm eine Befriedigung und ein Trost, daß er dazu beitragen konnte, die Lebensqualität von Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, zu verbessern. Es ist offensichtlich, daß Reeve sein Rehabilitationsprogramm nicht nur für sich selbst verfolgt hat. Nach seinem Unfall ist Reeve zu einer Inspiration und einem Fürsprecher für Menschen mit Rückenmarksverletzungen geworden, und er brachte ihnen die Botschaft, daß „das Leben mit einer physischen Verletzung nicht zu Ende ist und sie immer noch ein erfülltes und interessantes Leben leben können“. Er hat eine Stiftung zur Förderung weiterer Forschung auf diesem Gebiet gegründet und betätigte sich im Kongreß als Lobbyist für die Behandlung von Lähmungen. Er reiste viel, traf sich mit Menschen, die von Rückenmarksverletzungen betroffen waren und deren Angehörigen, und er hielt öffentliche Vorträge. Wie wir alle es nicht wissen können, konnte auch Christopher Reeve nicht wissen, was die Grenzen des Möglichen sind. Er war unerschütterlich in seiner Entschlossenheit, nicht von seinem Kurs abzuweichen, und von Moment zu Moment, von Tag zu Tag an den Grenzen des für seinen Körper und seinen Geist Möglichen zu arbeiten, wobei er sein langfristiges Ziel im Auge behielt, sich aber stets auf den heutigen Tag und die Herausforderungen dieses Augenblicks fokussierte. Angesichts der Tragödien in seinem Leben und der Hindernisse und Rückschläge, die er erfahren mußte, hätte er nur allzuleicht der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, dem Selbstmitleid und der Isolation anheimfallen können. Daß er die Herausforderung annahm, mit seiner Situation zu arbeiten, die Hoffnung aufrechtzuerhalten und in den Beziehungen zu seinen Lieben und zu seiner Arbeit verankert zu bleiben, ist ein bewegendes Zeugnis dafür, welche Kraft zur Heilung in Geist und Körper steckt, wenn sie im Einklang mit der angemessenen medizinischen Versorgung und Unterstützung arbeiten, und kreative Ansätze zur Mobilisierung und Verstärkung der natürlichen Fähigkeiten des Körpers zur Selbstregulierung und Wiederherstellung ins Spiel gebracht werden und man auf diese vertraut, selbst wenn ein positives Ergebnis ungewiß ist oder als Möglichkeit sogar ausgeschlossen wird. Und Christopher Reeve ist auf diesem Gebiet kein Einzelfall. Menschen, die Rückenmarksverletzungen, einen Gehirnschlag oder andere neurologische Verletzungen erlitten haben, machen in Rehabilitationszentren auf der ganzen Welt unerwartete Fortschritte, wobei neue Rehabilitationsmethoden angewendet werden wie zum beispielsweise die Ruhigstellung eines funktionierenden Arms, damit der Patient gezwungen ist, bei seinen alltäglichen Verrichtungen den verletzten Arm zu benutzen, oder das Aufhängen in einem Geschirr über einem Laufband, wobei die Füße des Patienten zu einer Laufbewegung gebracht werden. Die Rehabilitationsmedizin benutzt heute sogar Roboter, um gelähmten Patienten zu helfen, das Gehen zu üben. Mit Hilfe solcher Techniken ist es bisher etwa 500 Querschnittsgelähmten, die eine eingeschränkte Empfindungsfähigkeit im Unterkörper und keine motorischen Funktionen mehr hatten, möglich gewesen, kurze Distanzen ohne Unterstützung oder mit Gehhilfen zu gehen, ein bemerkenswerter Meilenstein auf dem Pfad der „Wiederbewohnung des Körpers“, was ja die Wortbedeutung von „Rehabilitation“ ist. Gibt es hieraus etwas für jene von uns zu lernen, die im Vergleich dazu einen relativ funktionstüchtigen Körper haben? Ich glaube schon. Aerobische Übungen und ein Training für die Muskeln und den gesamten Bewegungsapparat, das den Körper fit hält, erhalten ganz offensichtlich ebenso den Tonus des Nervensystems und erhöhen seine 284
Feinabstimmung. Es besteht kein Zweifel daran, daß dies für jedes Alter gilt und daß es besonders wichtig ist, wenn wir älter werden. Aber über ein solches Training hinaus könnte das Zusammenbringen von Aufmerksamkeit, Entschlossenheit und Liebe zum Leben in dem Bemühen, in den Grenzbereichen unser physischen und psychischen Fähigkeiten zu arbeiten, das entscheidende Element dafür sein, daß wir den Mut aufbringen, mit schwierigen Situationen, ganz gleich, worin sie bestehen mögen, zu arbeiten und dabei das Engagement und die Liebe ins Spiel zu bringen, die es uns erlauben, das Leben zu leben, das zu leben uns gegeben ist, uns selbst nie aufzugeben und an das zu glauben, was möglich ist, wenn wir unseren Kurs nicht aufgeben und durch dick und dünn mit dem in Kontakt bleiben, was das Allerwichtigste ist. Ob wir nun durch bewußte Kultivierung dazu gelangen oder, wie im Fall von Christopher Reeve, durch schiere Entschlossenheit und Willenskraft, so stellt doch die Bereitschaft, in jedem Moment an der Grenze des Möglichen zu arbeiten und für jeden Moment mit Geduld, Entschlossenheit, Demut und großer Aufmerksamkeit präsent zu sein, den Kern der Achtsamkeitspraxis dar und schenkt uns die Motivation, um seiner selbst willen nicht von unserem Kurs abzuweichen und zu wachsen. Reeve vertraute auf die Eingebundenheit in Beziehungen und auf die gegenseitige Verwiesenheit - mit seinem Körper, mit seiner Familie und seinen Freunden und mit seinem Beruf -, selbst als er die physische Berührung anderer nicht fühlen konnte und sein Körper ihm zunächst nicht antwortete. Später tat er dies in zunehmendem Maße. Was sich noch hätte entfalten können, wenn er nicht gestorben wäre, weiß niemand zu sagen. Das ist immer so. Wir alle wissen das. Ich hörte Reeve im April 2004 in einem öffentlichen Vortrag sagen: „Wenn die Dinge nicht so gut laufen, dann halte ich trotzdem an der Disziplin fest, komme, was wolle. Unser Geist hat eine unglaubliche Fähigkeit, den Körper zu beeinflussen.“
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Sechster Teil
An der eigenen Tür ankommen
Die Zeit wird kommen, da du voller Überschwang dich selbst als Ankömmling an deiner eigenen Tür begrüßen wirst ... DEREK WALCOTT, „LOVE AFTER LOVE“
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„Ich kann meine eigenen Gedanken nicht hören!” Sind Sie schon einmal mit einem solchen Satz herausgeplatzt? Gewöhnlich sagt man so etwas verärgert und frustriert, wenn man sich konzentrieren will, aber jemand im Raum zu viel Krach macht. Man will sagen: „Ich kann bei dem Lärm nicht klar denken. Kannst du nicht etwas leiser sein!“ Doch wenn wir in die Stille eintreten wollen, dann sind unsere Gedanken manchmal alles, was wir noch hören, und die können lauter, störender und ablenkender ein als jedes äußere Geräusch. Der Lärm unseres Denkens kann geradezu ohrenbetäubend sein und er scheint nie aufzuhören. Er kann uns daran hindern, eine auch nur annähernd stabile Konzentration und Sammlung aufzubauen. Dieser Lärm überdeckt auch den Frieden und die Stille, die wir dicht unter diesem Aufruhr im Geist vorfinden können, sobald der Geist gelernt oder sich darin geschult hat, ruhiger zu werden und Stille zu halten. Wenn wir beginnen, auf den Strom des Denkens als bloßes Denken zu hören, wenn wir die Gedanken als Ereignisse im Feld des Gewahrseins zur Kenntnis nehmen und äußerlich eine gewisse Ruhe und Stille entwickeln, dann gelingt es uns, unser Denken sehr viel klarer zu sehen. Wir sind in der Lage, ihm zuzuhören und ganz genau zu sehen, was in unserem Kopf vor sich geht und wieviel davon einfach nur mentaler Lärm ist. Sobald wir das aus allernächster Nähe erkannt haben, können wir neue Wege erkunden, damit umzugehen. Zuerst mögen wir über das, was wir dabei entdecken, ziemlich schockiert sein, darüber, wie chaotisch unser Denken manchmal ist und wie kleingeistig und repetitiv es sein kann, geprägt von unserer persönlichen Geschichte und unseren Gewohnheiten. Und doch dürfte es besser sein, dies aus erster Hand zu erfahren, als gar nicht darum zu wissen. Wenn wir uns nicht darum kümmern, dann geht das Denken mit uns durch und beherrscht unser Leben, ohne daß wir uns dessen bewußt werden. Achten wir jedoch voller Aufmerksamkeit darauf, dann haben wir nicht nur eine Chance, uns selbst besser kennenzulernen und zu wissen, was in unserem Geist vor sich geht, sondern können unser Denken auch besser zügeln, so daß es unser Leben nicht mehr beherrscht. So können wir einige sehr reale Momente von Freiheit schmecken, die nicht davon abhängig sind, ob um uns herum gerade Stille herrscht oder nicht.
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Ich bin nicht einen Moment zum Verschnaufen gekommen Sind Sie gestreßt? Sind Sie so sehr auf die Zukunft ausgerichtet, daß die Gegenwart nur noch ein Vehikel ist, um dorthin zu gelangen? Streß wird dadurch verursacht, daß wir „hier“ sind, aber „dort“ sein wollen, oder daß wir uns in der Gegenwart befinden, aber in der Zukunft sein möchten. Das ist eine Spaltung, die uns innerlich zerreißt. Eine solche innere Spaltung zu erzeugen und damit zu leben, das ist der reine Wahnsinn. Die Tatsache, daß alle Leute das so machen, macht es nicht weniger wahnsinnig. ECKHART TOLLE,
Jetzt! Die Kraft der Gegenwart Diese Einschätzung von Eckhart Tolle ist eine der besten Beschreibungen der Ursache von psychischem Streß, die ich kenne. Sie benennt das endemische Produkt der Tatsache, daß wir gewöhnlich die Dinge nicht so akzeptieren, wie sie in dem einzigen Moment sind, der einem jeden von uns zum Leben zur Verfügung steht. Doch verstehen Sie mich nicht falsch: Mit Akzeptanz ist hier durchaus keine passive Resignation gemeint. Ganz im Gegenteil! Es braucht sehr viel Seelenstärke und Motivation, um das annehmen zu können, was ist, besonders wenn es uns nicht gefällt, und dann weise und effektiv damit umzugehen – so gut es uns unter dem Umständen, in denen wir uns gerade befinden, und mit den uns zur Verfügung stehenden inneren und äußeren Mitteln möglich ist –, die Situation zu besänftigen, zu heilen, neu auszurichten und das zu ändern, was sich ändern läßt. Ein solches Annehmen wird „radikale Akzeptanz“ genannt, weil es bis an die Wurzel der Dinge geht. Es ist ein Annehmen der Dinge und Antworten auf die Dinge, wie sie tatsächlich sind, unterhalb der Oberfläche der Erscheinungen und ohne jede Bevorzugung oder Abneigung, die aus Ansichten darüber entstehen, wie die Dinge sein oder funktionieren sollten. Die Geschichten, die wir uns darüber erzählen, wie die Dinge sein sollten und wessen Schuld es ist, daß sie nicht so sind, zu durchschauen und loszulassen, das ist gar nicht so einfach. Doch wenn wir uns darum bemühen, haben wir die Chance, eine tiefere Wahrheit der Dinge zu erkennen, die uns oft enthüllt, wie wir weiser und mit mehr Mitgefühl mit den Dingen umgehen können. Wenn wir so eine intelligentere und treffendere Weise entwickeln, das zu sehen, was ist, darum zu wissen und es zu akzeptieren, dann ändert sich allein dadurch schon die Dynamik des Geschehens, und in der Folge solcher Umbrüche im Bewußtsein kommt es oft zu sehr interessanten Veränderungen. Diese Veränderungen werden möglich, weil Sie jetzt eine tiefere Wahrheit sehen, die Sie vorher nicht zu sehen vermochten, weil die Geschichte, die Sie sich selbst erzählt haben (und die meist nicht ganz richtig ist, wenn überhaupt irgend etwas Wahres an ihr ist), Ihre Sinne mit solcher Macht vernebelt hat, daß Sie gar nichts anderes hereinlassen konnten. Auch wenn wir es „im Prinzip“ besser wissen mögen, unterwerfen wir uns doch im allgemeinen aus Gewohnheit denselben endlosen, oft frenetischen und nicht 288
hinterfragten Gedanken, die uns sagen, wir müßten erst einmal irgendwohin gelangen, bevor wir uns ausruhen können: Wir denken, wir müssen erst bestimmte Dinge erledigen, damit wir das Gefühl haben können, etwas geleistet zu haben, und dann glücklich sein können ... und dabei geben wir die Schuld dafür, daß wir so viel zu tun haben und unglücklich sind, zum größten Teil den äußeren Umständen: Terminplänen, den Anforderungen von Arbeitgebern, Bergen von Arbeit, die abgetragen werden müssen, und Erledigungen, die abzuhaken sind, oder auch dem starken Verkehr, der uns ganz fürchterlich auf die Palme bringt, wenn er uns daran hindert, rechtzeitig an unser Ziel zu gelangen. Haben Sie sich schon einmal sagen hören: „Ich bin nicht einen Moment zum Verschnaufen gekommen“, wenn Sie rückblickend einen Tag beschreiben, an dem Sie irgend etwas einfach hinter sich bringen wollten, damit Sie zur nächsten Sache übergehen, zum Flughafen fahren oder einfach ins Bett fallen konnten? Wir sagen das so einfach dahin: „Ich bin nicht einen Moment zum Verschnaufen gekommen.“ Aber Moment mal, ist das denn tatsächlich wahr? Oder ist es nicht vielmehr so, daß wir einfach nicht daran gedacht haben, uns einen Moment Zeit zu nehmen, um uns zu orientieren, uns im Körper zu verankern, den Atem zu fühlen und zu spüren, welche Spannungen gerade im Körper und im Geist vorhanden sind? Wenn es uns möglich ist, in jedem Moment zu erkennen, was wir wirklich tun und was wir wirklich fühlen, dann können wir vielleicht die Art und Weise beeinflussen, wie wir zu dem, was genau in diesem Augenblick oder in dieser Abfolge von Augenblicken geschieht, in Beziehung stehen. Wir könnten uns dann entschließen, im selben Tempo weiterzumachen, oder wir könnten feststellen, daß es durchaus zu unserem Vorteil sein könnte, einen Gang zurückzuschalten, so daß wir in der Lage sind, präsenter zu sein und letztlich vielleicht sogar effektiver zu agieren. Vielleicht erkennen wir sogar, wie töricht es ist, uns von dem Wunsch, alles erledigen zu wollen, dermaßen unter Druck setzen zu lassen, daß wir uns chronisch gehetzt und überfordert fühlen, was nur allzuleicht dazu führt, daß alles, was wir unternehmen, mehr oder weniger darunter leidet. Wir könnten natürlich auch das Gefühl haben, daß wir in diesem Moment einfach nicht innehalten können, selbst wenn uns der Gedanke daran gekommen ist. Vielleicht sind wir der Meinung, daß einfach zuviel auf dem Spiel steht. Aber es ist immer möglich, mit etwas mehr Präsenz und Achtsamkeit zu eilen und damit dem Moment des Wahnsinns, in dem wir total in die „Wichtigkeit“ einer Sache verrannt sind, die Spitze zu nehmen, so daß wir wenigstens etwas weniger Streß haben. Wenn im Moment tatsächlich so viel auf dem Spiel steht, daß wir einfach nicht innehalten können, wie wir uns ja so häufig weismachen, dann können wir es uns ganz gewiß nicht leisten, in diesem Moment achtlos und automatisch zu handeln. Indem wir zu uns selbst zurückkehren, wird uns deutlich, wie töricht es ist, uns dermaßen vergiften zu lassen. Die Geste der Achtsamkeit und der Liebenden Güte kann uns helfen, längerfristige Entscheidungen darüber zu treffen, wie und wo wir unsere Angelegenheiten anders regeln können, so daß wir nicht mehr so sehr unter Druck stehen. Wenn unsere höchste Priorität darin besteht, unter allen Umständen im gegenwärtigen Augenblick zu leben, weil wir uns daran erinnern, daß er alles ist, was wir haben, und weil wir wissen, daß Gewahrsein die wertvollste Ressource ist, derer wir 289
uns bedienen können, dann besteht die Chance, daß wir uns in einer Welt, die oft verrückt zu sein scheint - einer Welt, die das, was in Eckhart Tolles Sinn Wahnsinn ist, für gesund hält, und die das geistig Gesunde gern als verrückt oder auch langweilig bezeichnet -, wieder auf geistige Gesundheit einstimmen können. Zu einer solchen Umstimmung mag es in einem einzigen Augenblick kommen. Tatsächlich kann sie nur im Augenblick geschehen. Wir müssen einzig und allein die Gelegenheit erkennen und uns daran erinnern, daß die Welt nicht so ist, wie wir meinen, und daß wir deshalb kein zukünftiges Ergebnis zu erzwingen brauchen, indem wir uns im Augenblick selbst betrügen. Wir können damit arbeiten, wie die Dinge jetzt sind, wie immer sie sein mögen, und zwar so achtsam wie möglich. Auf diese Weise lernen wir vielleicht, gelegentlich zu verschnaufen und damit unsere Augenblicke einzufangen und ihre vielfältigen Möglichkeiten wahrzunehmen. Meinen Sie nicht, daß wir es riskieren könnten, verrückt genug zu sein, um unsere geistige Gesundheit zu finden?
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Der Selbstbetrug der Geschäftigkeit Sich zu viele Dinge vorzunehmen und jedermann bei allem helfen zu wollen, das heilt, sich der Gewalt der modernen Zeiten zu unterwerfen. THOMAS MERTON
„Ich halte mich auf Trab.“ Viele Rentner sagen so etwas, wahrscheinlich um sich selbst und anderen zu beweisen, daß sie sich nicht gehen lassen und langsam in Vergessenheit geraten, nur weil sie kein festes Gehalt mehr beziehen. Eines Tages hörte ich, wie diese Worte während eines Telefonats aus irgendeinem tief verborgenen Winkel meines Geistes aufstiegen, und noch ehe ich mich bremsen konnte, hatte ich sie schon ausgesprochen. „Moment mal!“ wollte ich ausrufen. „Was sage ich denn da, und wer zum Teufel sagt das?“ Ich halte mich nicht auf Trab. Wenn ich überhaupt etwas mache, dann ist es eher so, daß ich versuche, Tempo herauszunehmen - und das erweist sich bereits als eine Vollzeitbeschäftigung. Ich habe mich langsam von einem krankhaften Niveau des Beschäftigtseins und des Machens entfernt und habe dabei gemerkt, daß es gar nicht so einfach ist, von den inneren und äußeren Gelegenheiten Abstand zu nehmen, die so attraktiv, so notwendig, so wichtig, so vernünftig und so machbar erscheinen - jede für sich genommen -, und die letztlich doch immer wieder so viel mehr Energie beanspruchen als erwartet, und die es schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen zu erfahren, wie schön es sein kann, mehrere Monate lang an einem Ort zu verweilen und in einem nachhaltigen Gleichgewicht zwischen inneren und äußeren Belangen zu leben. Wenn wir zu so vielen Dingen ja sagen, für die wir dann doch nicht mehr mit Gelassenheit und Integrität gegenwärtig sein können, dann sagen wir damit gleichzeitig nein zu all den anderen Dingen und Menschen und Orten, zu denen wir zuvor bereits ja gesagt haben. Warum das so ist? Nun, ganz einfach weil wir dann, wenn wir überfordert sind, wahrscheinlich so aufgeregt, so angespannt und so mit uns selbst beschäftigt sind, daß wir keinem Menschen und keiner Situation mehr mit Gelassenheit und aus der Fülle unseres Seins heraus begegnen können - und dazu gehört natürlich auch und vor allem eine authentische Begegnung zwischen uns selbst und den Menschen, die uns besonders lieb sind. Es könnte uns gut tun, einmal die Impulse unter die Lupe zu nehmen, die uns in solch ein unglückseliges Beschäftigtsein hineintreiben. Doch selbst wenn wir uns sagen, daß wir Achtsamkeit üben und sie so gut wie möglich von Moment zu Moment verkörpern wollen - solange wir uns nicht darum kümmern, ein wahres Gleichgewicht innerhalb der Entfaltung der Dinge in unserem Leben herzustellen, kommt uns das teuer zu stehen. Wenn wir alles so arrangieren, daß es praktisch unmöglich wird, in unserem Leben zu einem echten Gleichgewicht zu finden, dann werden wir dem, was uns am teuersten ist und was unsere Prioritäten im Leben sein sollten, im Grunde untreu. Damit fallen wir dem anheim, was der Dichter und Unternehmensberater David Whyte eine Art von Selbstbetrug und Untreue nennt. 291
Wir betrügen uns selbst, und wahrscheinlich betrügen wir auch unsere Beziehung zu anderen Menschen und sogar zu bestimmten Orten. Und wir verlieren, ohne es zu bemerken, das Gespür für unsere Beziehung zur Zeit. Wenn wir uns in wichtigen Momenten unserer Prioritäten wirklich bewußt sind, dann fällt es uns vielleicht leichter, nein zu sagen. Whyte formuliert dieses Dilemma sehr elegant: Ungeachtet dessen, was manche New-Age-Gurus behaupten mögen, ist es nicht so, daß wir unsere eigene Realität erzeugen. Wir haben einen bescheidenen Anteil daran, in Abhängigkeit davon, wie wach wir für die Strömungen und Untiefen der Zeit sind. Realität ist das Gespräch zwischen uns selbst und den nie endenden Produktionen der Zeit. Je näher wir der Quelle dieser Produktionen der Zeit - also dem Ewigen - sind, desto leichter fällt es uns, genau die Strömungen zu erkennen, in denen wir an einem bestimmten Tag navigieren müssen. Der Fluß der Zeit kann zum Beispiel ganz plötzlich aus einem angenehmen und ruhigen Dahinströmen in eine turbulente Stromschnelle übergehen, wenn unser Chef uns fragt, ob wir ein bestimmtes Projekt übernehmen wollen, von dem wir wissen, daß wir es angesichts der momentan bereits vorhandenen Verpflichtungen kaum noch einigermaßen vernünftig bewältigen können. Da uns die nötige Weite fehlt, sagen wir ja, in dem Versuch, unsere Identität durch das Machen zu begründen, und aus lauter Angst vor der Stille, die sich in Gegenwart dieser Autoritätsperson auftun könnte. Gehetzt von der Zeit, fühlen wir uns von anderen gehetzt, doch wenn wir uns für Geräumigkeit und Stille öffnen, kann die Stille, die auf ein freundliches, aber festes Nein folgt, zu etwas sehr Faszinierendem werden. Von außen gesehen mag diese Weigerung mutig erscheinen, aber vom inneren Standpunkt ist sie einfach Ausdruck einer gesunden Beziehung zur Zeit. Ja zu sagen wäre, betrachten wir unsere Beziehung zur Zeit als eine eheliche Verbindung, eine Art Promiskuität, wäre Untreue und Verrat. Streß bedeutet, daß wir Ehebruch begangen haben. Wenn wir die Besonderheiten unserer Realität verstehen wollen, müssen wir verstehen, wie wir tagtäglich mit unserer Beziehung zur Zeit umgehen. In den Stunden liegt das Geheimnis eines Arbeitstages, und an jedem Arbeitstag ist die Art, wie wir mit unserem Partner Zeit und, daraus folgend, mit unserer Reise durch den Tag umgehen, entscheidend für das Glück, das wir uns wünschen. (Aus: Crossing the Unknown Sea) Eine der Herausforderungen eines achtsamen Lebens besteht darin, mit den natürlichen Rhythmen der Entfaltung unseres Lebens in Berührung zu sein, auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, uns weit von ihnen entfernt oder ganz den Kontakt zu ihnen verloren zu haben. In solchen Momenten müssen wir wieder ganz frisch auf jene inneren Kadenzen und Aufforderungen hören, mit großer Zartheit und großem Respekt. Was in einem anderen Moment geschehen oder nicht geschehen könnte - manchmal mögen unsere Phantasien mit uns durchgehen, aus Wunschdenken oder aus Angst. In der Tat wird so etwas immer wieder geschehen. Doch diese Wahngebilde sowie die damit einhergehenden Ängste lassen sich durch eine Weisheit, die langsam in uns wächst, konterkarieren und richtig einordnen, eine Weisheit, die aus unserer Treue zur 292
Praxis der Achtsamkeit erwächst und aus der Art und Weise, wie wir mit unseren Momenten, den kleinen und den großen, umgehen. Ob uns das gelingt, ist davon abhängig, daß wir nicht vergessen, was wirklich wichtig ist, und daß wir erkennen, wie süchtig wir danach sind, etwas zu tun, und wie leicht wir untreu werden, indem wir uns einreden, daß wir das alles schon irgendwie hinkriegen werden, obwohl die Tatsachen uns doch ganz deutlich sagen, das der Preis dafür höher sein wird als der Gewinn. Es hängt davon ab, daß wir uns daran erinnern, wer wir wirklich sind, und daß wir nicht vergessen, daß diese Beschäftigungen im Vergleich zu ebendiesem Augenblick verblassen - womit auch immer wir gerade befaßt sein mögen oder was auch immer wir uns vorgaukeln, daß wir es verpassen könnten, denn all das ist gefärbt von unseren unhinterfragten Wahrnehmungen, die allesamt nichts als Hervorbringungen unseres Geistes sind.
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Eines Tages wußtest du endlich, was du zu tun hattest, und fingst damit an, auch wenn die Stimmen um dich herum dir weiterhin ihre schlechten Ratschläge zuschrieen obwohl das ganze Haus zu beben begann und du dieses altbekannte Zerren an deinen Fußgelenken fühltest. „Bring mein Leben in Ordnung!“ schrie jede dieser Stimmen. Doch du hieltest nicht an. Du wußtest, was du zu tun hattest, auch wenn der Wind mit seinen steifen Fingern an den Grundmauern rüttelte, und obwohl ihre Schwermut fürchterlich war. Es war bereits spät genug und eine stürmische Nacht, und der Weg war steinig und voller abgerissener Äste. Doch ganz allmählich, während ihre Stimmen hinter dir zurückblieben, begannen durch die Wolkendecke hindurch die Sterne zu funkeln, und da war eine neue Stimme, die du ganz langsam als deine eigene erkanntest, die dich begleitete, während du weiter und weiter in die Welt hinausgingst, entschlossen, das einzige zu tun, was du tun konntest entschlossen, das einzige Leben, das du retten kannst, zu retten. MARY OLIVER, „THE JOURNEY“
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Sich selber unterbrechen Ob es nun darum geht, zu unserem Chef nein zu sagen, oder darum, uns selbst in schwierigen Situationen gegenläufiger Erwartungen und einander widersprechender Interessen treu zu bleiben - die meisten von uns würden wahrscheinlich davon profitieren, wenn sie das entwickelten, was man „Kommunikationskompetenz“ nennt, wenn sie lernten, freundlich und höflich, aber dennoch fest und bestimmt zum Ausdruck zu bringen, wie sie eine bestimmte Situation sehen und, noch wichtiger, wie sie sich in dieser Situation fühlen. Bevor wir aber mitteilen können, wie wir eine Sache wirklich sehen oder was wir fühlen, müssen wir natürlich des Terrains in uns selbst gewahr werden. Und sehr oft sind wir das eben nicht oder nur teilweise, insbesondere wenn wir uns in einem Konflikt befinden und uns zerrissen fühlen. Dann scheinen alle Optionen, an die wir denken können, problematisch und vielleicht gar zu kostspielig. Wir verstricken uns in das Gefühl des Widerstreits und sitzen damit fest. Manchmal können wir uns in einer potentiell schwierigen Kommunikation mit anderen zu Klarheit und beidseitiger Zufriedenheit vorantasten, wenn wir das Gefühl das uns von der anderen Person entgegenkommt, zur Kenntnis nehmen und darauf antworten, statt uns in den gedanklichen Inhalt des Gesprächs zu verwickeln und darauf zu reagieren. Denn in solchen Gesprächen geht es selten gänzlich um diesen Inhalt, und wir umgehen damit das große Risiko, zu denken, daß wir ganz im Recht sind und der andere ganz im Unrecht oder auf dem falschen Gleis ist. Es kann äußerst aufschlußreich sein und uns demütig machen, wenn wir auch nur ein wenig mehr darauf achten, wie unsere Gespräche und unsere Kommunikation sich entfalten und welche Art von Kompetenz nötig sein könnte, um mit mehr Gewahrsein durch die Gewässer dessen zu navigieren, was in uns selbst und in den anderen innerlich und äußerlich vor sich geht. Ein Beispiel nur: Uns fällt vielleicht auf, wie häufig wir von anderen mitten im Satz unterbrochen werden, und daß es uns auffällt, könnte uns helfen, effektive Wege zu finden, damit umzugehen. Ansonsten könnten es passieren, daß wir das Gefühl bekommen - und das ist kein schönes Gefühl, besonders wenn es zu einem Muster wird -, daß das, was wir zu sagen haben, für die Menschen, mit denen wir uns gerade unterhalten, nicht zählt. Das könnte dazu führen, daß wir uns von bestimmten Menschen am Arbeitsplatz oder zu Hause nicht respektiert sehen, uns von ihnen unterschätzt, überrumpelt oder eingeschüchtert fühlen und den Eindruck bekommen, daß wir nie effektiv, klar, überzeugend und authentisch darlegen können, was wir denken und fühlen. Und so werden unsere Gesprächspartner, die Familie oder die Arbeitsgruppe vielleicht unseres Beitrags beraubt, unserer Kreativität und unserer einzigartigen und potentiell wertvollen Sichtweise. Und dabei fühlen wir uns die ganze Zeit schlecht, nicht für voll genommen, mißachtet. Und oft sind wir in einer solchen Situation auch noch wütend auf uns selbst. Meistens sind die Menschen, die Sie ständig unterbrechen, sich überhaupt nicht bewußt, daß sie Sie nicht ausreden lassen und Ihnen nicht wirklich zuhören. Diese Menschen sind vielleicht überrascht oder sogar beleidigt, wenn Sie andeuten, daß sie dazu neigen, ein Gespräch zu dominieren, und daß sie schlechte Zuhörer sind. Es könnte aber auch sein, daß sie Ihren Hinweis schnell wieder vergessen, ob sie nun von Ihrer Aussage überrascht waren oder nicht. Das liegt daran, daß die Gewohnheit, 295
andere zu unterbrechen, so unbewußt, so eingefleischt und so stark konditioniert ist. Vielleicht sind wir alle durch unsere Sozialisation mehr oder weniger darauf getrimmt, einander in einem Gespräch zu unterbrechen. In einer Runde streitlustiger Männer bekommt man manchmal das Gefühl, daß es hier eigentlich um Rituale der Männlichkeit und der Macht geht, ganz gleich, worum die Diskussion sich dreht. Für jemanden, der dazu neigt, sich nicht dessen bewußt zu sein, wie oft er oder sie andere beim Sprechen unterbricht - und dazu mögen von Zeit zu Zeit die meisten von uns gehören -, braucht es einiges an Seelenstärke und Geistesgegenwart sowie eine große Offenherzigkeit, um einen solchen Hinweis auf die eigenen automatischen Gesprächsmuster anzunehmen. Das gilt besonders dann, wenn dieses Unterbrechen, bewußt oder nicht, im Grunde ein Ausdruck von Egozentrik ist und ich dem anderen damit eigentlich zu verstehen gebe, daß das, was ich sagen möchte, deshalb nicht warten kann, weil es, wenigstens in diesem Moment, wichtiger ist als jede Ansicht oder jedes Gefühl, das der andere zum Ausdruck bringen möchte, ganz gleich, wer dieser andere ist und wie sehr ich ihn oder sie mag. Ein Augenblick der Reflexion wird jedoch offenkundig machen, daß ein solches Verhalten in der Tat eine Form mehr oder weniger subtiler Gewalt ist und daß dies den Menschen, den wir unterbrechen und damit mißachten, kränken und der Integrität des kollektiven Prozesses, in dem wir uns befinden, schaden kann. Es ist ein Zeichen von Charakterstärke, wenn wir, sobald uns ein solches Muster bewußt geworden ist, dafür offen sein können, uns davon zu befreien. Und es verlangt sehr viel Achtsamkeit, wenn wir genau auf unser Verhalten im Bereich dessen achten wollen, was die Buddhisten „rechte Rede“ nennen. Doch wenn wir es hassen, von anderen unterbrochen zu werden, und wenn wir sehen, wie oft wir vielleicht andere unterbrechen, dann könnte es uns wohl anstehen, noch eine ganz andere Dimension des Unterbrechens zu erkennen, derer wir uns im allgemeinen noch viel weniger bewußt sind - nämlich wie oft wir uns selber unterbrechen. Bei der Meditationsübung können wir uns leichter dabei ertappen. Erkennen wir es dort, ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß wir es auch in unserem täglichen Leben erkennen. Wenn wir beginnen, in der formalen Meditationsübung die Entfaltung von Gedanken im Geist und von Empfindungen im Körper zu beobachten, entdecken wir sehr bald, daß neue Ereignisse auftauchen und unsere Aufmerksamkeit von dem ablenken, was wir noch vor einem Augenblick gedacht oder gefühlt haben. Unsere Erfahrung des Moments wird dadurch unterbrochen und oft im Zuge der nächsten Sache, die unseren Hunger nach Neuem kitzelt oder irgendwelche Gefühlsreaktionen auslöst, vergessen. Auf diese Weise können wir leicht eine Erfahrung, nämlich jene, die wir gerade haben, in der Hoffnung auf eine andere, „bessere“ Erfahrung unabsichtlich verraten, ohne daß wir es der ersten gestatten, mit Gewahrsein aufgenommen zu werden und sich zu vollenden. Hier spielt unsere Fähigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, eine wichtige Rolle. Die Übung der Achtsamkeit führt nicht nur dazu, daß wir uns dieser starken Neigung bewußt werden, uns selbst zu unterbrechen, uns zu zerstreuen und von dem ablenken zu lassen, worauf wir in ebendiesem Moment achten, von dem, was wir das primäre Objekt unserer Aufmerksamkeit nennen könnten. Wie wir gesehen haben, führt Achtsamkeit 296
auch zu einer stabileren, unerschütterlicheren Aufmerksamkeit, die sich weniger in den unterbrechenden und ablenkenden Energien des Gedankenstroms und der flüchtigen Gefühle verirrt. Auf diese Weise verfeinern wir mit der Zeit das Instrument unserer Aufmerksamkeit, so daß es gut verankert und stabil ist und wie ein Mikroskop funktionieren kann, das sich mit größerer Genauigkeit und größerem Auflösungsvermögen auf das zu konzentrieren und das zu unterscheiden vermag, was unter der Oberfläche der Erscheinungen und unserer eigenen Unbewußtheit vor sich geht. Ohne diese Stabilität werden wir uns auch weiterhin unserer Neigung, uns selbst zu unterbrechen, ergeben, ohne uns dessen überhaupt bewußt zu werden. Uns selber zu unterbrechen, bedeutet aber nicht weniger, als uns selbst zu unterwandern. Dabei wird eine große Menge Energie zerstreut, und wenn wir nicht aufpassen, kann uns das daran hindern, jemals das volle Spektrum unserer Stärken, unserer Kreativität und unserer Sensibilität zu entfalten. Wir können jahrzehntelang in solchen Mustern vor uns hin trotten und das übersehen, was genau vor unserer Nase oder in uns liegt, weil wir ständig zulassen, daß die Brille, durch die wir sehen, beschlägt. Wir leben dabei unversehens an unserer eigenen Authentizität, der authentische Ausrichtung unseres Lebens vorbei und fühlen uns im Endeffekt total verloren und ausgelaugt, ohne die geringste Ahnung zu haben, woran das liegen könnte. Es kann also überaus aufschlußreich sein, wenn wir die Momente, in denen wir von unserer größeren Zielsetzung abgelenkt werden - und zwar durch unsere eigenen, selbsterzeugten Ablenkungen, in Fällen also, wo wir niemand anderen außer uns selbst dafür verantwortlich machen können -, wenn wir solche Ablenkungen in den Momenten, wo sie auftauchen, innerhalb des Feldes unseres Gewahrseins ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken und sie in ebendiesen Momenten zum Objekt unserer Meditation werden lassen könnten. Dieser innere Prozeß der Selbstunterbrechung läßt sich gelegentlich auch in unseren äußeren Verhaltensmustern beobachten, und auch das kann ein lohnendes Objekt der Meditation sein. Ihnen ist vielleicht schon einmal aufgefallen, daß Sie manchmal, wenn Sie mit Familienmitgliedern sprechen, bereits mit der nächsten Sache, die Ihnen einfällt, herauszuplatzen, noch bevor Sie einen Gedanken oder Satz zu Ende geführt haben. Das tun wir natürlich auch in Gesprächen mit anderen Menschen. Unser Geist geht mit uns durch und wir hören auf, aufmerksam zu sein. Unser Geist ist dermaßen in Fahrt, daß er gar nicht mehr richtig hört, was er selbst sagt, geschweige denn, was die anderen sagen. In solchen Fällen beginnen wir dann andere und uns selbst zu unterbrechen. Ein wenig Gewahrsein kann in dieser Hinsicht schon viel erreichen, aber dennoch sind diese unbewußten Muster in unserer Psyche dermaßen eingefahren, daß es großer Entschlossenheit bedarf, mitzubekommen, wann wir in diese Muster hineinfallen, damit aufzuhören und auch dabei zu bleiben. Wie sonst könnten wir uns selbst jemals wirklich kennenlernen und in der Lage sein, uns selbst zuzuhören und uns zu verstehen, wenn wir damit fortfahren, uns selbst zu unterbrechen, ohne es zu bemerken? Und wie könnten wir jemals für andere Menschen präsent sein, wenn wir uns weigern, ihnen zuzuhören, und selber ihre Sätze beenden (weil wir stillschweigend und mit gehöriger Arroganz annehmen, daß wir besser als diese Menschen selbst wissen, was sie zu sagen versuchen), oder wenn wir unbewußt heraustrompeten, was immer uns im Augenblick gerade in den Sinn kommt, auch wenn es vielleicht gar keine Beziehung zu dem hat, was gerade gesagt wurde? 297
Die Qualität unserer Beziehung zu anderen, ganz zu schweigen von der Qualität der Beziehung zu uns selbst, kann sehr in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn wir nicht ein gewisses Maß an Gewahrsein in diesen Bereich einbringen.
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All unsere Augenblicke anfüllen Als Reaktion auf dieselben, oft von flüchtigen Sinneseindrücken ausgelösten chaotischen Turbulenzen im Geist, die uns dazu bringen, uns selbst so oft zu unterbrechen, und die uns geneigt machen, andere zu unterbrechen, neigen wir auch dazu, all unsere Augenblicke mit irgend etwas anzufüllen, um nur nicht untätig zu sein, uns zu langweilen oder sogar Stille aushalten zu müssen. Wir springen den lieben langen Tag von einer Sache zu nächsten, besonders wenn wir gerade nicht arbeiten. Wir lesen vielleicht die Zeitung, nehmen eine Zeitschrift zur Hand, zappen durch die Fernsehprogramme, legen einen Film ein, rufen Freunde an, gehen zum Kühlschrank, drehen das Radio an, sobald wir ins Auto eingestiegen sind, machen Besorgungen, putzen zwanghaft unsere Wohnung, lesen im Bett oder reden achtlos Dinge daher, die im Moment völlig irrelevant sind und nur die mehr oder weniger zufälligen Gedanken widerspiegeln, die uns ständig überfluten. All diese und viele andere völlig normale Arten, unsere Zeit zu verbringen, von denen zumindest einige durchaus für die Bewältigung des Alltags und unserer Aufgaben nötig sein mögen, können auch zu einem Mittel werden, uns von echtem Wachsein abzulenken. Wenn wir beginnen, auf diese Impulse bereits zu achten, wenn sie gerade erst aufsteigen, dann fällt uns vielleicht auf, daß wir geradezu süchtig danach sind, uns abzulenken. Und so taumeln wir denn, von unseren Gewohnheiten getrieben, durch unsere Augenblicke und füllen sie mit Aktivitäten und allem möglichen Kram an, ohne wirklich in ihnen anzukommen. Wir füllen unsere Zeit aus und fragen uns dann, warum wir niemals Zeit haben. Auf diese Weise lenken wir uns ab, so wie man den Lauf eines Flusses ablenken kann, und fragen uns dann, wenn wir einmal wieder für wenige Momente etwas mehr bei uns sind, wo wir in unserem Leben überhaupt stehen und warum wir uns so weit von dem entfernt fühlen, was wir eigentlich suchen, von der Erfüllung unserer tiefsten Wünsche, von Zufriedenheit, Frieden, davon, in uns selbst zu Hause und in tiefer Verbindung mit anderen zu sein. In solchen Momenten mögen wir uns fragen, wohin unser Leben wohl führt, warum es nicht besser darum bestellt ist und wir so wenig Befriedigung finden. Dann verbringen wir möglicherweise ein oder zwei schlaflose Nächte, nur um schon bald wieder in unsere gewohnten Zerstreuungen zurückzufallen, zum großen Teil einfach deswegen, weil sie sich kurzfristig besser anfühlen und wir damit die Zeit herumbringen, die sich andernfalls unendlich lang, leer und beängstigend anfühlen könnte. Wenn wir es uns recht überlegen, haben wir vielleicht sogar Angst davor, Zeit zu haben, auch wenn wir uns gern über Zeitmangel beklagen. Vielleicht fürchten wir uns vor dem, was passieren könnte, wenn wir die Zeit nicht anfüllten, wenn wir damit aufhörten, uns selbst zu unterbrechen, und uns einfach im Jetzt niederließen, und sei es nur für wenige Augenblicke. Vielleicht haben wir ja genau die richtige Menge an Zeit und haben nur vergessen, klug damit umzugehen. Wie wäre es wohl, wenn Sie sich einfach in Ihrem Körper niederließen, in einem Gefühl des bloßen Lebendigseins, und sei es auch nur für einige Augenblicke oder, sagen wir, für fünf Minuten am Ende eines Tages, wenn Sie im Bett liegen oder in 299
Ihrem Sessel sitzen, oder zu Beginn eines Tages, noch bevor Sie aus dem Bett steigen? Wie wäre das wohl? Das können Sie natürlich einfach herausfinden, indem Sie zu sich selbst zurückkommen und den gegenwärtigen Augenblick bewußt nicht mit irgend etwas anfüllen, vor allem nicht mit Sorgen um die Zukunft und all dem, was Sie „eigentlich“ tun sollten, oder mit Ärger über das, was bereits geschehen und nicht genau so gelaufen ist, wie Sie es sich gewünscht hätten. Wenn solche Gefühle dennoch auftauchen und in Ihnen herumwabern, insbesondere Angst, Sorgen, Ärger oder Traurigkeit, dann können Sie versuchen, sich dessen bewußt zu sein. Sie können damit spielen, herauszufinden, wie es ist, bei solchen Gefühlen zu verweilen und einfach' mit ihnen zu atmen, und zwar ein klein wenig länger, als Sie das aushalten zu können glauben. In solchen Augenblicken können Sie sich dann immer fragen, ob Ihre Empfindung des Unbehagens oder der Unruhe selbst unbehaglich oder unruhig ist. Und selbst wenn Sie nicht unruhig sein sollten, können Sie sich immer wieder einmal daran erinnern - zum Beispiel, wenn Sie unter die Dusche gehen -, einmal nachzuprüfen, ob Sie wirklich unter der Dusche sind oder ob Ihr Geist anderswo herumschwirrt, sich mit allen möglichen Dingen anfüllt und vergißt, im Hier und Jetzt zu sein - und beim Wasser auf Ihrer Haut. Selbst im Urlaub können wir all unsere Zeit damit anfüllen, uns amüsieren zu wollen, nur um uns irgendwann zu fragen, wo die Zeit geblieben ist, und dann mit dem Gefühl einer vagen Unzufriedenheit nach Hause zurückzukehren. Wir haben noch ein Fotoalbum, um zu beweisen, daß wir dort waren - aber waren wir es wirklich? Unsere „Postkarte aus der Fremde“ könnte den lapidaren Satz tragen: „Ich amüsiere mich prächtig ... ich wünschte, ich wäre hier.“ Ein Teilnehmer an einer siebentägigen Klausur zur Ausbildung in Streßbewältigung durch Achtsamkeit beschrieb seine Erfahrung am Ende einmal mit diesem Satz. Das Gelächter war groß, weil wir uns alle bewußt waren, wie gern der Geist sich abmeldet, indem er sich selbst anfüllt. Es ist sehr ernüchternd zu beobachten, wie oft das geschieht, selbst wenn wir Meditation üben. Wir können es in der Tat gerade dann beobachten, wenn wir meditieren, denn natürlich sehen wir es sehr viel klarer, wenn wir den Geist so genau betrachten. Denken Sie an das Haiku von Bashō: Selbst in Kioto hab ich Hör ich den Kuckuck rufen: Sehnsucht nach Kioto. Selbst in der Einsamkeit, selbst mitten in unberührter Wildnis ist es leicht, die Zeit mit Tagträumen anzufüllen, mit allen möglichen Dingen, die man meint, tun zu müssen, oder mit der Suche nach „Sehenswürdigkeiten“. All dieses Auf und Ab in Geist und Körper kann uns von der Natur trennen oder von dem, was gerade ansteht, indem wir schon vorwegnehmen, was als nächstes kommen könnte, oder uns in Erinnerungen und Wunschträumen verlieren. Der Geist, der auf Sehenswürdigkeiten aus ist, könnte uns die Sicht auf alles Interessante oder Wichtige versperren, selbst auf die schönsten Ausblicke vor unserer Nase, weil wir immer auf der Suche nach einem besseren Moment, einer besseren Aussicht, einer besseren Erfahrung 300
sind. Sie haben zwar das Bärenjunge gesehen, aber Sie waren nicht nahe genug dran. Oder vielleicht haben Sie die Schwanzflosse des Wals gesehen, aber Ihnen ist der Anblick seines ganzen Rumpfes beim Ausblasen entgangen. In einem Augenblick, der mit solchen Gedanken angefüllt ist, kann es leicht passieren, daß wir völlig das Geräusch des Blasens des Wals verpassen oder das Bellen eines Fuchses. Und vielleicht entgeht uns auch die Stille, selbst die Stille der unberührten Wildnis, weil unser Geist immer viel zu angefüllt ist von seinem eigenen Lärm, um solche Dinge wahrnehmen zu können. Auf diese Weise vergessen wir leicht den gegenwärtigen Augenblick jenseits des Denkens, jenseits unseres zwanghaften Bedürfnisses, etwas zu tun, jenseits unseres Wunsches, anderswo zu sein und etwas Neues und Aufregendes zu entdecken. Wir könnten uns in solchen Momenten sogar fragen: „Wer ist das, der da etwas Neues und Aufregendes braucht?“ Und auch: „Was ist ,Aufregung` eigentlich genau?“ Ob wir uns nun zurücklegen und die Wolken beobachten, im Vogelgezwitscher oder der Wüstenbrise baden, die Luft um den Körper herum fühlen und die Hitze, die von den Wänden eines Canons zurückstrahlt, das Spiel des Lichts auf dem Fels betrachten, oder ob wir spüren, wie die Muskeln in unserem Nacken sich verkrampfen, während wir in dem Wissen, daß wir sowieso schon zu spät dran sind, in einem Schneesturm einen Parkplatz in der Innenstadt suchen – was immer an dem Ort, an dem wir uns gerade befinden, sei es die Wildnis oder die Innenstadt oder ein Vorort, auf uns zukommt, warum sollten wir es zurückweisen und anderswo nach Aufregung und Unterhaltung und Ablenkung suchen, wenn sich das Leben doch immer hier und jetzt entfaltet und es keinen besseren Ort und keine andere Zeit gibt? Welchen Sinn macht es, sich selbst abzulenken, wenn uns das, wie bei dem umgelenkten Fluß oder Strom, aus unserem Leben herausdrängt und es unsere vollkommenen Momente und unseren wunderbaren Geist, so schwierig sich diese manchmal darstellen mögen, mit Dingen anfüllt, die einfach nicht gebraucht werden? Könnten Sie nicht einfach hier sein, wo immer Sie sich gerade befinden? Und bei dem sein, was gerade geschieht? Jetzt? Wenn Sie das können, dann stellen Sie vielleicht fest, daß Sie sich bereits prächtig amüsieren, prächtiger, als Ihnen klar war. Schließlich und endlich finden Sie sich vielleicht ganz einfach gemütlich zu Hause eingekuschelt ... in Ihnen selbst, ganz unabhängig von den äußeren Umständen. Eines der vielen Bonmots, die im Internet zirkulieren und die die Meditationspraxis in einer sarkastischen Formulierung auf den Punkt bringen, lautet: Wo immer du hingehst, da bist du. Mit deinem Gepäck ist das eine andere Sache. Eine Mutter brachte ihrem Kind bei, die Uhr zu lesen, und machte ihm das vor: „Wenn die beiden Zeiger zusammen nach oben zeigen, dann ist es zwölf Uhr, Zeit für das Mittagessen. Wenn die beiden Zeiger, so wie jetzt, eine gerade Linie bilden, dann ist es sechs Uhr, Zeit für das Abendessen. Wenn die beiden Zeiger so stehen wie jetzt, dann ist es neun Uhr, Zeit für den Kindergarten. Wenn sie so stehen wie jetzt, dann ist es drei Uhr, Zeit für dein Bad.“ 301
Das Kind antwortete: „Und wo, Mama, ist dann viel Zeit?“
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Ankommen Es war während eines Winters in Kalifornien. Ich machte gerade eine Gehmeditation auf einer Terrasse neben der Meditationshalle, von der aus man einen herrlichen Ausblick hatte: hinab auf den Fluß, der in einer steilen Schlucht verschwindet, über die kahlen Hügel von Marin County und Hügelketten, die sich in der Ferne erhoben, als ich plötzlich wie auf einen Schlag, der mir durch alle Sinnestore in die Eingeweide fuhr, wußte, daß ich in Kalifornien war. Natürlich wußte ich auch vorher schon, daß ich mich in Kalifornien befand; schließlich war ich einen Tag zuvor auf dem Flughafen von San Francisco gelandet. Aber in diesem Augenblick auf der Terrasse war ich erst wirklich in Kalifornien „angekommen“. Kalifornien war erkannt, bestätigt und offenbart worden. Das rief sofort Jugenderinnerungen in mir wach, Ausblicke, Gerüche und Gefühle (so wie man im Alter von sechs oder sieben Jahren einen Ort fühlt, an dem man nicht zu Hause ist und der ganz anders ist als alles, was man kennt). In diesem Moment wurde Kalifornien, oder zumindest dieser Ort, diese Mikro-Umwelt namens Spirit Rock Meditation Center in Marin County mit seinen einzigartigen Eigenschaften von Erde, Luft, Wasser und Leben bis hin zu den Eigenheiten der Vegetation und dem Quaken der Frösche im Fluß gesehen, gerochen, gehört, geschmeckt, gefühlt und erkannt. Ein schwacher, kühler feuchter Hauch, kommt den frühmorgendlichen Berg herab, umhüllt mein Gesicht wie ein Schal und weht verführerisch in empfängliche Öffnungen. Ich trete aus dem Eßraum hinaus, und hebe meine Augen empor (die archaische Formulierung kommt mir wie eine Offenbarung, und scheint gerade richtig für einen solch archetypischen Moment, genau wie in den Psalmen) zu den Hügeln, die golden daliegen im milden Morgenlicht. Während der Tage vor jenem Augenblick auf der Terrasse befand ich mich, wie mir schien, nur in meiner Vorstellung von Kalifornien. Es brauchte eine Weile, bis ich wirklich dort ankam. Es kann uns überall und jederzeit geschehen, derart an einem Ort anzukommen, wenn wir es nur schaffen, ohne unsere üblichen Filter ganz gegenwärtig zu sein. Wenn uns das nicht gelingt, befinden wir uns vielleicht nur in unserer Vorstellung von diesem Ort - ob er nun in Kalifornien liegt, in Paris oder auf einer Ferieninsel in der Karibik oder ob es Ihr Büro ist - und kommen niemals wirklich dort an. Da trifft dann zu, was auf der Postkarte aus der Fremde steht: „Ich wünschte, ich wäre hier.“ Aber Sie sind es doch! Aber Sie sind es doch! Eine andere oft erzählte Geschichte enthält eine ähnliche Mahnung. Mitglieder eines afrikanischen Stammes wurden von einem amerikanischen Fernsehteam angeheuert, sie mit ihrer ganzen Ausrüstung durch den Dschungel in die nächste Stadt zu bringen. Da 303
das Fernsehteam unter Zeitdruck stand, trieb es die Eingeborenen während mehrerer Tagesmärsche ständig zur Eile an. Als sie nur noch einen Tagesmarsch von ihrem Bestimmungsort entfernt waren, weigerten sich die Träger plötzlich weiterzugehen, und alles Bitten und Betteln sowie alle Versprechungen des Fernsehteams halfen nichts. Sie seien doch schon beinahe am Ziel, meinten die Fernsehleute, und eine einzige letzte Anstrengung würde den Marsch beenden - aber die Eingeborenen waren nicht zum Weitermarschieren zu bewegen. Der Grund? Sie waren, wie sie sagten, in einem solch unnatürlichen Tempo marschiert, daß sie jetzt für eine Weile Rast machen mußten, damit ihre Seele ihren Körper einholen konnte. Denn nur, wenn wir ganz präsent sind, außerhalb des Denkens und völlig in unseren Sinnen, können wir an einem Ort ankommen. Vielleicht ist dies das ständige Puzzle, die Herausforderung und das Rätsel unseres Lebens. Können wir schließlich und endlich „am Ende all unseres Forschens ... dort ankommen, von wo wir ausgegangen sind, und den Ort zum ersten Mal erkennen“? Dieser Satz von T. S. Eliot ist eine Bestätigung. Wir werden es. Wir werden es! Wir werden nicht nachlassen in unserem Forschen, und am Ende all unseres Forschens werden wir dort ankommen, von wo wir ausgegangen sind, und werden den Ort zum ersten Mal erkennen. Durch das unbekannte, erinnerte Tor, wenn das Letzte auf Erden, was noch zu entdecken bleibt, das ist, was der Anfang war; an der Quelle des längsten Flusses die Stimme des verborgenen Wasserfalls und die Kinder im Apfelbaum, was wir nicht kannten, weil wir es nicht erwarteten, doch was wir hörten, halbwegs hörten, in der Stille zwischen zwei Brechern des Meeres. T. S. ELIOT, Four Quartets, „LITTLE LIDDING“
Doch was würde es bedeuten, dort anzukommen, von wo Sie ausgegangen sind, und den Ort zum ersten Mal zu erkennen? Und was würden wir dazu brauchen? Wann werden wir es erkennen? Und wissen wir, daß wir bereits haben, was wir dazu brauchen und daß wir es sind? Wissen wir, daß wir bereits dort sind ... ich meine, hier? In der letzten Strophe von „Four Quartets“ fährt Eliot fort, ohne das Versmaß und den Rhythmus zu unterbrechen:
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Geschwind jetzt, hier, jetzt, immer Eine Bedingung für völlige Einfachheit, (die uns nicht weniger kostet als alles) und alles wird gut sein und alle Arten von Dingen werden gut sein, wenn die Flammenzungen eingefaltet werden in den gekrönten Knoten aus Feuer und das Feuer und die Rose eins sind. „Eine Bedingung für völlige Einfachheit.“ Wo glauben Sie, daß wir sie finden könnten? „Die uns nicht weniger kostet als alles.“ Dies ist wirklich ein lebenslanges Abenteuer ... und nicht weniger, weil es in Klammern steht. „Und alles wird gut sein.“ Vielleicht ist ja schon längst alles gut ... vollkommen das, was es ist. Hier. Jetzt. Ankommend. Hier ankommen. Im Jetzt ankommen. Und hier und jetzt zum ersten Male erkennen, von Moment zu Moment zu Moment.
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Von hier aus kommen Sie dort nicht hin An diesem „Dort ankommen, von wo wir ausgegangen sind, und den Ort zu ersten Mal erkennen“ ist mehr dran, als wir vielleicht auf den ersten Blick sehen. Zuerst einmal besteht die Gefahr, daß es niemals geschieht. So viele Dinge können dazwischenkommen, besonders unsere Art, zu denken, oder auch die Vorstellungen, an denen wir festhalten, ohne sie jemals zu hinterfragen. An einem Ort oder bei einer Sicht anzukommen, an irgendeinem Ort, bei jeder authentischen Sicht, das verlangt Offenheit. Letztlich verlangt es einen Zustand völliger Einfachheit, so daß wir sehen können, was es zu sehen gibt, und erkennen können, was es zu erkennen gibt, was beides unmöglich ist, wenn wir weiter darauf beharren, nur durch den Filter unserer eigenen Ideen und Meinungen zu sehen, so wundervoll und gelehrt diese auch sein mögen. Radikale Offenheit für das, was wir noch nicht erfahren haben, kostet uns nicht weniger als alles. Manchmal wollen wir diesen Preis nicht zahlen, weil wir so sehr daran hängen, unseren Willen zu bekommen, oder dermaßen konditioniert sind, daß wir glauben zu wissen, was unser Wille ist, wo doch ein jeder von uns in Wirklichkeit immer ein Neuling ist, der sich ständig dem Horizont des Gerade-jenseits-desBekannten, des Unbekannten annähert. Und ich betone immer, ob wir es im jeweiligen Moment wissen oder nicht. In diesem Terrain ist das Vertrauen auf unsere eigene tiefste Intuition, selbst dann, wenn sie gegen den Strich des vorherrschenden konventionellen Denkens geht, entscheidend für“ Kreativität und Entdeckung. Wenn wir tatsächlich ständig lernen, werden wir letztlich, wie schwierig und schmerzlich das manchmal auch sein mag und wie sehr es auch auf und ab gehen mag, von unserer Erfahrung dazu gezwungen, die Grenzen unserer eigenen stillschweigenden Annahmen — die oft das Produkt unserer beruflichen Ausbildung sind und natürlich der Konditionierung, die wir von früher Kindheit an erfahren haben — sowie die Muster der Wahrnehmung und des Denkens, in die wir so leicht verfallen, weil sie uns so vertraut und gewohnt sind und weil sie unter bestimmten Umständen so gut funktionieren, zu erkennen und sie zu überschreiten. Solche gewohnheitsmäßigen geistigen Muster und stillschweigenden Annahmen können uns manchmal auf Denkund Verstehensweisen festlegen, die jedes orthogonale Denken unmöglich machen, so sehr wir auch versuchen mögen, unseren Geist intellektuell in neue Richtungen umzulenken. Das gilt zu bestimmten Zeiten für uns alle, ganz gleich, wie tüchtig, einsichtig oder gelehrt wir sind. Für mich ist das eine unablässige Lektion in Demut und NichtAnhaften, und es ist eine harte Lektion, bei der ich immer wieder versage. Letztlich ist es die Lektion, daß alles im Leben unsere Übung ist, nicht nur die Dinge, die wir mögen oder die so laufen, wie wir es uns wünschen. Es ist eine unablässige Einladung, unserer eigenen Intuition und Erfahrung zu vertrauen und offen zu bleiben für das Nichtwissen, selbst oder gerade angesichts unserer eigenen Blindheit und unserer Mängel. In solchen Momenten ist etwas völlig anderes, etwas ungemein Tapferes und Wagemutiges nötig, denn es geht darum, ein Terrain, das wir kennen und auf dem wir uns wohl fühlen, aufzugeben zugunsten des Terrains des Ungewohnten, des noch nicht Gekannten jenseits des Horizonts dessen, was wir sehen können, von dem uns unsere Intuition aber sagt, daß es wichtig sein könnte, es aufzusuchen. Das zu tun ist 306
wahrscheinlich nicht leicht und jagt uns Angst ein. Tatsächlich gibt es nichts Schwierigeres. Ich will nun von einem im Rahmen der kognitiven Therapie neu entwickelten Feld berichten, einer Entwicklung, die ein völliges Umdenken in Hinsicht auf das verlangte, was man unter „psychologischer Behandlung“ versteht. Ich berichte davon, weil Achtsamkeit heute in Kreisen der traditionellen Psychologie immer populärer wird, was zum Teil der Streßbewältigung durch Achtsamkeit, zum Teil der im Folgenden dargestellten Arbeit der kognitiven Therapie auf der Grundlage von Achtsamkeit (mindfulness-based cognitive therapy, kurz MBCT) zuzuschreiben ist. Dieses zunehmend breite Interesse ist für mich einfach ein Beispiel für den Hunger nach Authentizität und Klarheit und Frieden in uns selbst, der sich in der Welt heute in so vielen Bereichen bemerkbar macht. Das wachsende Interesse und der Enthusiasmus für Achtsamkeit ist eine sehr positive Entwicklung, eine potentiell ungemein heilsame Entwicklung in unserer Welt. Doch während die Achtsamkeit – zwangsläufig zuerst einmal als bloßes Konzept – immer populärer wird, kann sie leicht von ihrer Verankerung in der Praxis und damit von ihrem transformierenden Potential abgekoppelt werden. Weil es auf den ersten Blick eine so gute und faszinierende Idee ist, im eigenen Leben präsenter und weniger urteilend zu sein, nehmen manche Psychologen natürlich an, daß man Achtsamkeit rein intellektuell begreifen und andere auf diese Weise auch lehren kann, nämlich als ein Konzept, und daß man dies tun kann ohne die feste Basis persönlicher Praxis. Doch wie klug, wortgewandt, sensibel oder therapeutisch das, was man anbietet, auch sein mag, ohne Praxis ist es einfach keine Achtsamkeit, ist es kein Dharma. Denn es ist die Praxis, die uns Zugang zum Raum des orthogonalen Denkens gibt, der über die konventionellen Ansichten hinausgeht, in denen wir gewöhnlich festsitzen. Es ist, wie wir wieder und immer wieder gesehen haben, die Übung selbst, die das Vehikel darstellt, durch das wir zur Besinnung kommen und zum vollen Spektrum dessen erwachen, was ist und was möglich sein könnte. Wie die Doktoren Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale von den Universitäten von Toronto, North Wales (heute Oxford) und Cambridge, angesehene Kollegen auf dem Gebiet Klinische Psychologie und Kognitionswissenschaft, in ihrem Buch Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression berichten, besuchten sie im Jahr 1993 erstmals die Stress Reduction Clinic. Sie hatten von Marsha Linehan, einer Verhaltenstherapeutin, die eine wissenschaftlich fundierte und erfolgreiche Methode namens dialektische Verhaltenstherapie (dialectical behavior therapy, kurz DBT) zur Behandlung von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt hat, zum ersten Mal von unserer Arbeit gehört. Marsha selbst hat sich lange im Zen geschult, und die dialektische Verhaltenstherapie verkörpert den Geist und die Prinzipien der Achtsamkeit und leitet zu formaler Meditationsübung an, soweit es Menschen mit dieser besonders schwierigen Problematik überhaupt möglich ist, diese zu praktizieren. Als sie uns besuchten, arbeiteten Segal, Williams und Teasdale bereits seit achtzehn Monaten im Team daran, eine neue Form der kognitiven Therapie zu entwickeln, die Rückfälle in heftige Depressionen verhüten sollte, eine lähmende Störung, die in der Welt sehr häufig ist und die Fähigkeit, zu arbeiten, zu schlafen, zu essen und sich an ehemals lustvollen Betätigungen zu erfreuen, enorm beeinträchtigen kann. Aus 307
zwingenden theoretischen, aber auch aus wichtigen und sehr praktischen klinischen Gründen hatten sie beschlossen, daß ihre Arbeit an diesem Punkt einer logischen und potentiell entscheidenden Ausweitung bedurfte, nämlich der Einführung eines Übungsprogramms für Gruppen, welches die Achtsamkeitsmeditation und ihre Anwendung im täglichen Leben einschließen sollte. Sie hatten vor, die Auswirkungen von Achtsamkeit als Strategie zur Regulierung von Aufmerksamkeit in Synergie mit traditionelleren Aspekten der kognitiven Therapie zu erforschen. Sie hofften, damit eine potentiell neuartige Lösung für ein sehr ernstes Problem im Zusammenhang mit heftiger Depression lösen zu können, nämlich daß es bei Menschen, die erfolgreich mit Antidepressiva behandelt wurden und folglich nicht mehr klinisch deprimiert sind, sehr häufig zu Rückfällen kommt, sobald die medikamentöse Behandlung beendet ist. Aus einer Reihe von Gründen nahmen sie an, daß der Ansatz der Achtsamkeitsschulung in Gruppen in Verbindung mit Methoden der kognitiven Therapie, die größtenteils in Einzeltherapie angewendet wird, geeignet sein könnte, die starke Tendenz depressiver Menschen zu konterkarieren, nach Abschluß einer erfolgreichen Behandlung in negatives Grübeln zu verfallen. Solches Grübeln kann selbst nämlich wieder depressives Denken auslösen und dann verstärken, so daß die Person wieder in eine Abwärtsspirale hineinrutscht, die zu einem ausgewachsenen Rückfall führt. Die Begründung für ihren Wunsch, Achtsamkeit als Gegenmittel gegen die Tendenz zum Grübeln zu erkunden, war ausgesprochen einleuchtend: Achtsamkeit könnte ein wirksamer Rahmen sein, um ihre Patienten das zu lehren, was sie in ihrer Fachterminologie die „Fähigkeit zur Dezentrierung“ nannten. Damit meinten sie die Fähigkeit eines Menschen, einen Schritt zurück zu tun und das eigene Denken auf eine weniger egozentrische Weise zu beobachten, die eigenen Gedanken bei ihrem Auftreten einfach als Gedanken zu erkennen und sie nicht für zutreffende Widerspiegelungen der Realität und von einem selbst zu halten, ungeachtet ihres Inhalts. Sie wollten ihre Patienten darin schulen, zu erkennen, wann es mit ihrer Stimmung abwärts ging (damit sie dann den inneren Standpunkt der Dezentrierung einnehmen konnten), und anschließend Techniken anzuwenden, die sie, wieder in ihrer wissenschaftlichen Terminologie, als Techniken bezeichneten, „welche die begrenzten Ressourcen in den Kanälen der Informationsverarbeitung, die normalerweise grüblerische Gedanken/Affektzyklen aufrechterhalten, mit Beschlag belegt“. Meine Kollegen und ich spürten bei unserer Unterredung von Anfang an, daß ihre individuelle und kollektive Motivation für die Teilnahme an dem vorgeschlagenen Projekt durchdrungen war von Mitgefühl mit Menschen, die an dieser weltweit äußerst verbreiteten Krankheit leiden, und von einem wundervollen Enthusiasmus, den Horizont ihres wissenschaftlichen Verständnisses und ihrer klinischen Ansätze in bezug auf das heikle Problem der Rückfallraten zu erweitern. Nur einer der drei, nämlich John Teasdale, besaß Erfahrung mit der Meditation. Er praktizierte selbst bereits seit längerer Zeit Meditation und hatte sie auch schon erfolgreich in der Therapie einzelner Klienten eingesetzt. Er war zutiefst von dem potentiellen therapeutischen Wert der Entwicklung nichturteilender und annehmender Bewußtseinszustände durch Achtsamkeit für Menschen mit wiederkehrenden Depressionen überzeugt. Gleichzeitig war deutlich, daß Mark Williams und Zindel 308
Segal, wie sie selbst zugaben, sich nur schwer vorstellen konnten, was sie mit Achtsamkeit würden anfangen können. Allein ihr Interesse an der ganzen Frage der Aufmerksamkeitskontrolle und deren potentieller Nützlichkeit als möglicherweise wirksames Mittel zur Förderung der Dezentrierung im Kontext klinischer Gruppenarbeit hatte sie überhaupt dazu gebracht, sich näher mit Streßbewältigung auf der Grundlage von Achtsamkeit zu beschäftigen. Die drei Therapeuten planten, einvernehmlich eine Behandlungsmethode zu entwickeln, diese dann in Programmen, die sie am jeweiligen Ort ihres Wirkens mit ihren Patienten durchführen wollten, zu testen, und dann die erzielten Resultate im Rahmen einer Forschungsstudie zur Wirksamkeit dieses Ansatzes zu vergleichen. Wesentlich für die Entwicklung von Achtsamkeit ist natürlich die systematische Übung des Beobachtens und Zur-Kenntnis-Nehmens von Gedanken von Moment zu Moment, wobei sie mit stabiler und nackter Aufmerksamkeit als Ereignisse im Feld des Gewahrseins erkannt werden, ohne daß man sich in eine Beurteilung der Gedanken oder in ihren Inhalt selbst verstrickt. Auch in der kognitiven Therapie geht es darum, Gedanken zu beobachten und zu identifizieren; allerdings ist dieser Ansatz diskursiver und im Rahmen einer Problemlösungsstrategie angesiedelt, die den Inhalt der Gedanken als zutreffend oder unzutreffend einschätzt und dann versucht, zutreffendere und stärker die Gesundheit fördernde Gedanken an die Stelle von Gedanken zu setzen, deren Inhalt eher unzutreffend und potentiell selbstzerstörerisch ist. Unsere Besucher waren aufgrund diverser Hinweise und Überlegungen zu der Vermutung gelangt, daß einer der wichtigsten Schlüssel zur bewiesenen therapeutischen Wirksamkeit der kognitiven Therapie zur individuellen Behandlung von rückfallgefährdeten Patienten die Identifikation von Gedanken im Geist als Gedanken von Moment zu Moment war und nicht die Beschäftigung mit ihrem Inhalt. Wenn das der Fall sein sollte, so argumentierten sie, dann könnte der Ansatz der Achtsamkeitsmeditation, zu dem eine im Vergleich zur kognitiven Therapie sehr viel robustere und tragfähigere Entwicklung von Aufmerksamkeit gehört sowie eine diszipliniertere formale Übung des Achtens auf Gedanken als Gedanken, sich als besonders nützlich im Umgang mit wiederkehrendem negativem Grübeln erweisen. Anfänglich war es also ihre Absicht gewesen herauszufinden, ob sich die Achtsamkeitspraxis nicht mit der kognitiven Therapie verbinden ließe. Sie vermuteten, daß die Übung der Achtsamkeit vielleicht ein direkterer und wirksamerer Ansatz zum Umgang mit drei schon erwähnten Schlüsselaspekten sein konnte, nämlich mit der „Dezentrierung“, der Sensibilisierung für frühe Anzeichen einer Stimmungsverlagerung hin zum Negativen und der bewußten Kultivierung von Aufmerksamkeit auf eine Art und Weise, die in bestimmten Kanälen der Informationsverarbeitung im Geist „Raum beanspruchen“ würde, der sonst depressivem Grübeln offenstünde. Achtsamkeit als eine die Aufmerksamkeit sammelnde und dezentrierende Strategie mit einem konventionelleren Ansatz problemlösender kognitiver Therapie zu kombinieren, schien theoretisch machbar zu sein, aber von Anfang an hatten die drei Therapeuten erhebliche Zweifel, ob Achtsamkeit effektiv genug wäre, um mit Widerstand umzugehen oder mit problematischen Emotionen oder Krisen, sollten diese im Laufe der Praxis selbst oder im Leben der Patienten auftauchen. Bei unserem ersten Treffen waren sie deshalb der Ansicht, daß ihre therapeutische Expertise nötig sei, um mit solchen Situationen umgehen zu können. 309
Es ist eine übliche Praxis in der Klinischen Psychologie, in einem therapeutischen Prozeß Elemente der Intervention zu addieren oder zu kombinieren, und das ist auch sinnvoll, wenn alles, was man dabei tut, darin besteht, eine weitere Methode oder Technik zur Aufmerksamkeitsregulierung, zur Vertiefung der Entspannung oder zur Kultivierung von Einsicht zu einem breiten Spektrum von Ansätzen hinzuzufügen, die alle zu einer erfolgreichen Therapie beitragen. Das hinzugefügte Modul oder die hinzugefügte Technik „funktioniert“ entweder zu einem bestimmten Zweck oder sie tut es nicht. Es ist also nichts Ungewöhnliches, wenn Therapeuten Achtsamkeit in diesem Sinne verstehen, als eine potentiell wichtige Technik, die sie in einen therapeutischen Rahmen „einstöpseln“ können, damit sie dort einen ganz bestimmten, wohldefinierten Zweck erfüllt, während der Rest der Therapie von anderen Elementen erledigt wird. Was nun unsere Besucher anging, so ahnten sie bereits, daß Achtsamkeit eine radikale Neuorientierung verlangt, weg von den Standardansichten der kognitiven Therapie, und daß eine Kombination der beiden Ansätze, die beiden gerecht werden sollte, gar nicht einfach sein würde – wenn überhaupt möglich. Wir unsererseits waren besorgt, daß die drei ohne umfassende Schulung in der Achtsamkeitsmeditation und genügend individuelle Erfahrung mit der Meditation unvermeidlich in ihre gewohnte Sichtweise zurückfallen und auf ihre Kompetenz als gut ausgebildete Therapeuten zurückgreifen würden, ohne das volle Spektrum und die Tiefe der Meditationspraxis an sich auszuschöpfen. Wir befürchteten, daß die Meditationspraxis auf diese Weise trotz ihrer besten Absichten de facto bestenfalls als ein „Modul“ angewendet würde, als eine Technik in Kombination mit einer ganzen Reihe anderer Ansätze. Wie wir in unseren gemeinsamen Gesprächen über ihre Absichten und Erwartungen vom ersten Moment an betonten, ist die Achtsamkeit ein Universum ganz anderer Ordnung. Sie eignet sich nicht gut für eine begrenzte, modulare Anwendung, solange man in einem konventionellen Bezugsrahmen verbleibt, in dem man sie als eine „Technik“ versteht, die Menschen benutzen und in deren Anwendung sie „gut“ werden können und die für bestimmte Dinge „funktionieren“ kann, während andere davon unberührt bleiben. Schließlich ist Achtsamkeitsmeditation nicht bloß eine aufmerksamkeitsregulierende klinische Strategie, auch wenn sie sowohl die Stabilität der Aufmerksamkeit als auch die Einsicht dramatisch zu vertiefen vermag. Sie ist genausowenig eine Entspannungstechnik, auch wenn sie tiefe Zustände der Entspannung und Gefühle des Friedens und Wohlbefindens herbeiführen kann. Sie ist ebenfalls keine kognitive Therapie zur Lösung von Problemen durch eine Neustrukturierung unserer Gedankenmuster oder unserer Beziehung zu spezifischen Gefühlen oder Stimmungen, auch wenn sie eine transformierende Wirkung auf die Beziehung eines Menschen zu gewohnheitsmäßigen Denkmustern sowie zu emotionaler Reaktivität und uns vereinnahmenden Stimmungen haben kann. Zudem ist sie nicht ausschließlich auf den Denkprozeß ausgerichtet, unabhängig von Gefühlen, emotionalem Aufruhr und emotionalen Reaktionen. Und schließlich ist sie auch nicht unabhängig von dem, was im Körper und in der größeren Welt vor sich geht. In der Achtsamkeitspraxis werden diese Dinge und alles andere, was innerhalb der Erfahrung unserer verschiedenen Bewußtseinszustände geschieht, als ein nahtloses Ganzes verstanden, als verschiedene Aspekte der eigenen Persönlichkeit und der gelebten Erfahrung. Wir betonten auch, daß die Achtsamkeitspraxis im Grunde keine Therapie ist. Ihr 310
Hauptziel besteht nicht etwa darin, eine Person in Ordnung zu bringen oder ein bestimmtes Problem zu lösen. Unserer Ansicht nach, so erklärten wir den Therapeuten, geht es bei der Meditation eher darum, nichts zu tun als irgend etwas zu erreichen – so merkwürdig sich das auch für jemanden anhören mag, der mit der Meditation nicht vertraut ist, und so seltsam das gerade in einem professionellen, auf das Erzielen von Ergebnissen ausgerichteten Kontext klingt, in dem es darum geht, sie als klinische Intervention anzuwenden. Wir versuchten ihnen klarzumachen, daß es bei der Meditation um die Erforschung und Kultivierung dessen geht, was wir den Bereich des Seins nennen. Jeder Wandel ist der Rotation des Bewußtseins zu verdanken, die sich oft aus der Verschiebung vom Modus des Handelns hin zum Modus den Seins ergibt, und nicht einer Intervention mit dem Ziel, ein Problem zu beheben oder ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, wie das in der kognitiven Therapie üblich ist. Nichtsdestoweniger bestand für uns in der Stress Reduction Clinic aufgrund unserer Erfahrung mit Menschen, die unter verschiedensten Krankheiten, unter Panikattacken und Angstzuständen litten, kein Zweifel daran, daß Achtsamkeit, wenn sie mit vollem Einsatz geübt wird, bei vielen Menschen und bei unterschiedlichsten Problemen deutlich das Befinden verbessern kann. Sie kann zu einer Abschwächung der Symptome führen, kann helfen, effektiver mit den emotionalen Reaktionen in Streßsituationen umzugehen, und kann zur Einsicht in tiefere Dimensionen des Seins und in alte und einschränkende Muster des Denkens und Fühlens führen. Wenn die Achtsamkeit also im Grunde eine Seinsweise ist, eine Weise des Sehens, Spürens und Fühlens, und nicht nur eine Technik, und sie sie dann in eine Behandlungsmethode zur Rückfall-Verhütung depressiver Zustände integrieren wollten und hofften, daß ihre Patienten sich wirklich mit vollem Einsatz und einer gewissen Disziplin und Regelmäßigkeit einer formalen Praxis widmeten, dann, so betonten wir gegenüber den Therapeuten, würde für sie kein Weg darum herumführen, einen Ansatz zu finden, der die Patienten ermutigen würde, die Übung der Achtsamkeit mit einer Ausrichtung des Nicht-Strebens auszuführen, also sozusagen um ihrer selbst willen. Man würde sie im Kontext einer fortlaufenden Praxis, eines ständigen Forschens und eines fortgesetzten Dialogs lehren müssen, und zwar in der ihr eigenen Terminologie, die sich, wie alle im Raum sich bewußt waren, sehr von der Terminologie der kognitiven Therapie unterscheidet. Man müsste die Übung als ein radikales Nichttun vorstellen, damit sie zu einer inneren Haltung der Akzeptanz und Öffnung führen und von ihren künftigen Patienten als eine neue und vielleicht freundlichere und von mehr Selbstannahme erfüllte Weise erfahren werden könnte, im eigenen Körper anwesend zu sein, und allen Gedanken und Gefühlen mit Akzeptanz zu begegnen, ohne sie zu beurteilen und ohne zu versuchen, ein Gedankenmuster gegen ein anderes auszutauschen. Wenn sie nicht wollten, daß die Kombination mit der kognitiven Therapie zu einer Verfälschung der Essenz der Achtsamkeitspraxis führte, dann müssten sie all diese Punkte berücksichtigen. Wenn sie hofften, daß die Achtsamkeit ihnen wirklich etwas brächte, dann müssten sie unserer Ansicht nach die Schulung in Achtsamkeit als das organisierende Prinzip ihres gesamten Unterfangens betrachten, so daß diese Übung der Kern dessen wäre, was beim Auftreten von schwierigen Gefühlen und herausfordernden Umständen angewendet werden sollte. Alles andere würde mit größter Wahrscheinlichkeit dazu führen, daß ihre Bemühungen nichts weiter als eine Karikatur 311
tatsächlicher Achtsamkeitspraxis wären, wodurch sie ihre innewohnende Kraft und den Reichtum ihrer vielschichtigen Dimension verlöre. Das, was wir ihnen da schon bei unserer ersten Begegnung auftischten, war für sie sicher schwer zu schlucken. Uns war damals noch nicht klar, ob sie als Gruppe das ganze Ausmaß der Implikationen realisiert hatten, die ein solcher Ansatz für sie und ihre Patienten mit sich brächten. Doch da sie selbst so offen und sympathisch waren, fiel es uns leicht, ihnen mit aller Offenheit zu sagen, wie die Dinge aus unserer Sicht aussahen. Aber es gab da noch ein weiteres Problem. Die drei Therapeuten waren ursprünglich davon ausgegangen, daß ihre Patienten lernen könnten zu meditieren, indem sie einfach nur regelmäßig unsere Audiokassetten mit Anleitungen zur geführten Meditation benutzten, auch in den Gruppensitzungen. Auch wenn einer von ihnen sich schon seit langem für Meditation interessiert und Erfahrungen mit einer persönlichen Meditationspraxis erworben hatte, hatte er noch keine praktische Erfahrung darin, eine Gruppe von Menschen die Meditation zu lehren. Selbst für jemanden, der schon seit vielen Jahren Meditation gelehrt hat, bleibt das nämlich immer noch eine große Herausforderung und eine sehr ernüchternde Erfahrung. Es wurde sehr bald deutlich, daß sie als Team noch nicht ernsthaft die Möglichkeit in Betracht gezogen hatten, daß ein jeder von ihnen, wenn sie wirklich ihr Ziel erreichen wollten, nicht nur selber Meditation würde praktizieren müssen, sondern auch fähig sein müßte, seine Patienten in den Gruppensitzungen auf der Grundlage eigener Erfahrungen mit der Praxis anzuleiten und zu unterweisen, ganz gleich, welche Kassetten sie den Patienten als Hausaufgaben bis zur nächsten Sitzung empfehlen wollten. Für uns war es eine Tatsache, daß es nicht nur wenig effektiv, sondern geradezu unmöglich ist, anderen Menschen die Meditation nahezubringen, ohne selbst kontinuierlich Meditation zu praktizieren. Als wir das ansprachen, war das zumindest für zwei der drei eine überraschende Wendung. Der Gegensatz zwischen einer Orientierung, die beinhaltet, andere Menschen aufzufordern, etwas zu tun, das man selbst nicht tut und von dem man deshalb (zumindest was die Meditation angeht) selbst keine innere Erfahrung hat, und einer Orientierung, die verlangt, daß man sich selbst zusammen mit seinen Patienten der Meditationspraxis widmet, unterstreicht einige der fundamentalen Unterschiede zwischen konventionellen Therapieansätzen in der Psychologie, wo die Methoden als Mittel zu einem spezifischen therapeutischen Zweck angewendet werden, und der Schulung in der Meditation, in der die Übung als eine Weise des Seins praktiziert wird, die ihr eigener Zweck ist und nicht einfach eine instrumentelle Technik zum Erreichen eines erwünschten Zustands oder einer wünschenswerteren Sichtweise. Außerdem gibt es in Therapeutenkreisen eine stark betonte professionelle Ethik, die eine strikte Trennung jedweder eigener persönlicher Bedürfnisse, Interessen und Beschäftigungen von den Bedürfnissen der Patienten verlangt. Wir jedoch legten ihnen hier nahe, daß sie, um die Übung der Achtsamkeit und ihre potentielle Wirkung auf ihre Patienten wirklich verstehen zu können, sich selber mit ganzem Herzen dieser Praxis würden widmen müssen, was darauf hinauslief, sich selbst auf ein Abenteuer einzulassen, dessen Ausgang nicht absehbar wäre und das man nicht als „professionell“ in einem strikten, engeren Sinn bezeichnen könnte, weil sie sich selbst in dem Prozeß als Person vermutlich verändern würden. Damit sollte nicht gesagt sein, daß sie nicht 312
den höchsten Standards professionellen Verhaltens entsprechen und sich nicht der zu respektierenden Grenzen bewußt sein könnten, sondern nur, daß ihr eigenes Selbstverständnis als Therapeut dahingehend ausgeweitet werden müßte, daß es auch die Rolle eines gestandenen Meditationslehrers mit einschlösse – wahrlich keine Kleinigkeit. Wie könnte jemand, so formulierten wir es ganz praktisch, schlicht und einfach, mit seinen Patienten die Achtsamkeitspraxis teilen und erkunden, der sie nicht selbst kultivierte? Dann würde nämlich bei zweien von ihnen keine Vertrautheit von Moment zu Moment mit der Landschaft des Jetzt, wie sie sich aus der Praxis ergibt, und auch keine systematisch kultivierte Vertrautheit aus erster Hand mit dem eigenen Geist, einschließlich all seiner Aktivitäten, Widerstände und Ablenkungen, sowie mit dem eigenen Körper und all dem, was in ihm als Reaktion auf die eigenen Gedanken und Gefühle vor sich geht, zu ihrem täglichen Repertoire gehören, während sie doch ebendiese Vertrautheit und ebendiese Anstrengungen von ihren Patienten verlangten – oder verlangen müßten, wenn sie tatsächlich Gebrauch vom vollen heilenden und transformierenden Potential der Meditation machen wollten. Wäre das der Fall, dann hätten sie keine verläßliche Grundlage, von der aus sie sich den meditativen Erfahrungen ihrer Klienten würden nähern können, kein authentisches Reservoir an Erfahrungen, aus dem heraus sie die sehr konkreten Fragen ihrer Patienten zu ihrer Meditationspraxis würden beantworten können, und sie würden nicht kompetent mit den Gefühlen ihrer Patienten gegenüber der Praxis und mit deren Schwierigkeiten bei der Integration dieser Praxis in den Alltag umgehen können. Meine Kollegen und ich waren sehr erfreut darüber, dieses Gespräch mit ihnen führen zu können, glücklich darüber, daß sich andere Profis zu unserer Arbeit hingezogen fühlten und nach einer Möglichkeit suchten, sie in ihrem eigenen Arbeitsund Interessenbereich anzuwenden. Genau das war es, worauf wir gehofft hatten, daß nämlich die Achtsamkeitspraxis zu einer positiven Kraft in der Medizin und der Gesundheitsfürsorge würde. Doch als ich an jenem Nachmittag den Psychologen zuhörte, spürte ich einen tiefen Graben zwischen unseren jeweiligen Bezugsrahmen, so als redeten wir total aneinander vorbei, wenn wir, ein jeder von seinem Standpunkt aus, über die Achtsamkeit sprachen. Gleichzeitig war jedoch ihre Offenheit, Authentizität und Fürsorge greifbar. Also dachte ich darüber nach, wie wir ihnen unsere radikal andere Sicht auf ihr Ziel verständlich machen konnten, ohne den Anschein zu erwecken, daß wir starrsinnig an einer engen und voreingenommenen Sichtweise festhielten, sei es aus Gewohnheit oder weil wir uns von ihren Ansichten bedroht fühlten. Ich verspürte den Drang, klarzustellen, was ich für das Kernproblem bei ihrem Unterfangen hielt, und gleichzeitig der offensichtlichen Tatsache Rechnung zu tragen, daß ihre Intuition und ihre Motivation ins Schwarze trafen. Unser Gespräch war ins Stocken geraten, und wir waren eine Zeitlang verstummt – wie ich annahm, weil wir uns alle der Größenordnung des Problems, das wir diskutierten, und des tiefen Grabens zwischen unseren Anschauungen bewußt wurden. Schließlich brach ich das Schweigen. „Wissen Sie“, begann ich, „bei den Menschen, die an der zerklüfteten Küste von Maine leben, gibt es eine Redewendung. Sie sind berüchtigt dafür, daß sie, wenn einer der vielen Touristen, die im Sommer dorthin kommen, sie nach dem Weg fragt, einfach antworten: ,Oh, von hier aus kommen Sie dort nicht hin.' Ich habe immer mehr das Gefühl, daß dies auf das, was Sie vorhaben, 313
zutrifft.“ Damit wollte ich weder ihre Pläne noch ihre Motivation untergraben, der ich hier kaum wirklich gerecht werden kann, von der Sie sich aber selber überzeugen können, wenn Sie ihren lebendigen Bericht über dieses und die darauffolgenden Treffen in ihrem Buch nachlesen. Vielleicht wollte ich aber auch einfach nur sehen, wie sie reagierten, wollte testen, wie weit sie wirklich bereit und entschlossen waren, einen Weg zu finden, wie man Achtsamkeit und kognitive Therapie auf eine Weise „kombinieren“ könnte, die nach unser aller Meinung der Breite und Tiefe der Achtsamkeitspraxis gerecht würde. Ich wollte damit sagen, daß sie unmöglich zu einem Verständnis der Achtsamkeit kommen konnten, einmal ganz abgesehen von den schwierigen Fragen, wie sie diese dann in ihre klinische Arbeit integrieren könnten, wenn nur einer von ihnen Meditation praktizierte, sie aber alle drei die Intervention vornehmen wollten. Sie würden vielmehr alle drei praktizieren müssen, und nicht nur mal eben ein bißchen, um einen Geschmack von der Sache zu bekommen oder um den Anschein von Praktizierenden zu erwecken oder auch um selbst zu erfahren, was sie von ihren Patienten verlangten, sondern von ganzem Herzen um ihrer selbst willen und in Übereinstimmung mit dem Prinzip, das für uns alle im Bereich der Streßbewältigung durch Achtsamkeit gilt, nämlich daß wir nichts von unseren Patienten verlangen, was wir nicht selbst jeden Tag genauso von uns selbst verlangen. Doch wie, so fragte ich mich, würden diese drei hervorragenden Wissenschaftler und Klinischen Psychologen, die so sehr in den Modellen und der Terminologie der kognitiven Therapie verwurzelt waren und von denen nur einer aus erster Hand Erfahrung mit der Meditationspraxis besaß, einen Weg finden, sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise in ihrer Arbeit zu einigen? Und wie würde jeder von ihnen als Mitglied eines Teams es schaffen, seine Vorbehalte nicht nur gegenüber der Praxis der Meditation, sondern auch gegenüber der Anforderung, Meditationslehrer sein zu müssen, beiseite zu lassen? Würden die beiden, die zuvor keinerlei Interesse an und keine Erfahrung mit der Meditation besaßen, ein jeder für sich so weit aus dem Bezugsrahmen heraustreten können, in dem sie sich in den langen Jahren ihrer Berufsausbildung und -praxis bewegt hatten, daß sie überhaupt den Wunsch verspüren konnten, selber die Übung der Meditation aufzunehmen und dies vielleicht zuerst aus reiner Neugier zu tun, später aber vielleicht aus einer tieferen Motivation heraus als der, daß wir ihnen gesagt hatten, sie könnten die Meditation anders nicht verstehen? Würde ihre Motivation als Individuen und als Team, diese Arbeit zu leisten und ihrer tiefsten Intuition zu folgen, sie weit genug über ihre ursprünglichen Erwartungen, Konzepte und Vorbehalte hinaustragen - besonders wenn dies wahrscheinlich bedeuten würde, daß sie beim Unterweisen ihrer Patienten das spezialisierte Vokabular der kognitiven Therapie aufgeben und vom Modus des Therapeuten mehr zum Modus eines Achtsamkeitslehrers würden übergehen und eine Zeitlang bewußt ihre klinischen Ansichten, Ideen und Konzepte von der Funktionsweise des menschlichen Geistes würden beiseite stellen müssen? Verlangten wir doch von ihnen, daß sie sich persönlich auf systematische und disziplinierte Weise auf die Praxis einließen, die sich entfaltende Aktivität ihres eigenen Geistes und Körpers zu beobachteten und das, was zutage trat, eine Zeitlang um seiner selbst willen anzunehmen, anstatt gleich eine Beziehung zu den Theorien der Aufmerksamkeitskontrolle, zum Geist ihrer Klienten und zum Problem einer erneuten Depression herstellen zu wollen.
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Natürlich würde einiges davon nicht zu umgehen sein, ein unvermeidlicher Inhalt des Gedankenstroms. Und natürlich würde auf lange Sicht irgendeine Form von Synthese zwangsläufig notwendig, ja wünschenswert sein. Das leugneten wir keineswegs. Doch würden sie willentlich ihren gewöhnlichen Bezugsrahmen für eine Weile aufgeben können, ihr kognitives Koordinatensystem, um einfach nur die Beobachtung ihrer eigenen Geistes und Körper zu üben? Ich wagte nicht zu hoffen, daß sie geneigt sein würden, sich individuell und kollektiv auf ein solches Abenteuer einzulassen. Aus unserer Sicht war das aber die Mindestanforderung, die sie erfüllen mußten, wenn sie das, was sie vorhatten, verwirklichen und dabei authentisch sein wollten. Ohne diese Voraussetzung würde es für sie keinen Weg geben, von hier aus nach dort zu kommen. Komischerweise würden sie, wenn es ihnen möglich sein würde, von den spezifischen Brillen, durch die sie sahen, abzulassen, entdecken, daß das „Dort“, zu dem sie gelangen wollten, bereits „hier“ war. Alles, was dazu nötig sein würde, wäre eine Brille für eine Weile beiseite zu legen und eine neue ins Spiel zu bringen oder das, was man die „Nicht-Filter“ des ursprünglichen Geistes nennen könnte, auf das anzuwenden, was sich von Moment zu Moment in ihrer eigenen Erfahrung ereignete, also mit nackter, nichturteilender, nichtreaktiver und nichtbegrifflicher Aufmerksamkeit. Da keiner von ihnen Erfahrung mit dem Lehren von Meditation in einer Gruppensituation hatte, würde dieser Aspekt der ganzen Angelegenheit, der wiederum eine ganz eigene Praxis ist, zusätzlich zu ihrer persönlichen Meditationspraxis viel Zeit beanspruchen und Vertiefung verlangen. Alles in allem würden sie einen enormen Einsatz erbringen müssen, wenn sie sich entschlossen, die Sache weiter zu verfolgen, und das ohne jede Erfolgsgarantie. Sie konnten nur individuell und gemeinsam als Team zu einer solchen Entscheidung kommen, und natürlich nur aus ihren eigenen Gründen. Was sie da vor sich hatten, war, aus unserer Perspektive, ein riesiger Sprung ins Unbekannte. Erstaunlicherweise taten sie genau das, und zwar nicht nur, weil wir es verlangten, sondern auch, weil ihnen das, was wir sagten, zu denken gab und weil sie fanden, daß es mit ihrer Intuition und Motivation übereinstimmte, die sie überhaupt dazu gebracht hatten, uns aufzusuchen, und weil es, wie sie nach ihrer Heimkehr feststellten, noch stärker den Erwartungen ihrer Patienten entsprach. Sie brachten, wie sie in ihrem Buch berichten, ihre Ideen in einen ersten Ansatz klinischer Intervention ein, und es stellte sich heraus, daß sie tatsächlich sehr häufig darauf verfielen, auf ihre Kompetenz in kognitiver Therapie zurückzugreifen, wenn starke Gefühle oder andere Probleme auftauchten, statt diese als Teil der Meditationspraxis selbst anzugehen. Diese anfänglichen Erfahrungen bei der Lehre von Achtsamkeit brachte sie dazu, in die Stress Reduction Clinic zurückzukehren, um an weiteren Kursen teilzunehmen und ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, was in der Streßbewältigung durch Achtsamkeit geschieht, und um zu beobachten und zu studieren, was verschiedene MBSR-Lehrer wirklich taten und wie sie es in verschiedenen Stadien des Prozesses taten. Irgendwann während dieses zweiten Besuchs beschlossen Mark Williams und Zindel Segal, wie John Teasdale täglich regelmäßig Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren. Bei späteren Gesprächen wurde offensichtlich, daß sie sich mit ganzem Einsatz in diese Praxis geworfen hatten, und zwar nicht primär als Therapeuten, sondern als 315
Menschen, die sich mit ihren unterschiedlichen professionellen Unannehmlichkeiten und Vorbehalten konfrontiert sahen und damit umgehen mußten. Ihrem eigenen Bericht zufolge war das schwierig und schmerzlich und brachte gelegentlich ein gerüttelt Maß an Zweifeln und inneren Kämpfen mit sich. Doch jeder von ihnen vertiefte auf seine Weise die regelmäßige Praxis und führte sie fort, und sie alle arbeiteten daran, eine auf Neugier und Selbstannahme basierende Motivation in die Praxis einzubringen, zusätzlich zu ihrem Wunsch, anderen Menschen, die an Depressionen litten, zu helfen. Sie erhielten sehr viel Ermutigung und moralische Unterstützung von jedermann am CFM, da wir sie lieben und respektieren gelernt hatten und zu schätzen wußten, welch ungeheure und tiefgreifende Innovation sie in das Feld der kognitiven Therapie einzuführen versuchten. Außerdem schätzten wir ihre Kompetenz als Wissenschaftler und Therapeuten - einmal ganz abgesehen davon, daß es immer ein große Vergnügen war, mit ihnen zusammenzusein. Und diese Freundschaften haben sich im Laufe der Jahre immer weiter vertieft. Als Ergebnis ihrer persönlichen Erkundungen und wissenschaftlichen Forschungen konnten sie wichtige Beiträge zur Behandlung von Patienten liefern, die in die Depression zurückfielen. Das wäre meiner Ansicht nach nicht zustande gekommen, wenn sie nicht als Team den Mut gehabt hätten, den eigenen professionellen Bezugsrahmen für eine Weile aufzugeben und sich, ein jeder auf seine Weise, in die Stille hätten fallen lassen, um die Entfaltung ihrer eigenen direkten Erfahrung von Moment zu Moment zu beobachten und so nicht weniger zu tun, als sich selbst als ein Labor zu benutzen, um zu einem andersartigen Verständnis ihres eigenen Geistes und auch des Geistes ihrer Patienten zu gelangen. Daß sie sich überhaupt gemeinsam darauf einließen, ist bereits ein Wunder. Daß sie dann über Tage, Wochen, Monate und Jahre durch dick und dünn damit weitermachten, ist ein noch größeres Wunder. Für mich waren ihre Einstellung und ihr Wagemut ein verkörperter Beweis, auch wenn wir keinen solchen Beweis brauchten, dafür, daß Statusdenken und Ego-Anhaftung keine fundamentalen Motive in ihrem Leben waren. Sie schienen sich weder persönlich noch professionell gegen den Weg zu sträuben, auf den sie sich da einließen, auch wenn sie manchmal, meist mit einem Lächeln, Besorgnis darüber äußerten, was ihre Berufskollegen wohl sagen würden, wenn bekannt würde, daß sie tatsächlich Meditation praktizierten und lehrten. Sie waren offen dafür, zu lernen und ihren Bezugsrahmen in Hinsicht auf den Geist zu erweitern, und nicht nur in Hinsicht auf den Geist, sondern auch, was in der Tradition der kognitiven Therapie nicht betont wird, auf den Körper. Und in ihrem Buch tun sie etwas radikal Mutiges und Einfallsreiches: Sie erzählen die Geschichte der Entwicklung einer auf Achtsamkeit basierenden kognitiven Therapie vom Standpunkt ihrer eigenen persönlichen Erfahrung und des Aufs und Abs ihres Lernprozesses, etwas, was in einem professionellen Lehrbuch fast nie zu finden ist. Mit diesem Ansatz vermitteln sie dem Leser einen tiefen Eindruck davon, was es tatsächlich bedeutet, auf authentische Weise einem Pfad zu folgen, der zwei sehr unterschiedliche, aber wirksame Ansätze zum Verständnis des Geistes und zur Auslösung einer Heilung von Leiden zusammenbringt. Das, und natürlich auch die Tatsache, daß ihre wissenschaftliche Studie der Wirkung ihrer Arbeit so fundiert und die Ergebnisse eindrucksvoll genug waren, führte dazu, daß viele ihrer Kollegen ihr Buch und die Arbeit, die es beschreibt, nicht nur wissenschaftlich überzeugend, sondern auch 316
inspirierend fanden. Die Publikation dieses Buches und eine fortlaufende Serie von Studien, die ihre weitere Arbeit dokumentieren, haben zu einer bemerkenswerten Zunahme des Interesses an der Achtsamkeit und ihrer Anwendung auf dem Feld der Klinischen Psychologie geführt. Wenn man sie nur eindringlich genug fragte, würde wohl ein jeder von ihnen bestätigen, daß ihre Ansichten über den Geist und den Körper und darüber, was für ihre Patienten möglich sein könnte, aufgrund ihres persönlichen Engagements in der Praxis und Lehre von Achtsamkeit und aufgrund des breiten Spektrums von Ergebnissen, die sie bei den Menschen beobachtet haben, die an ihrem Projekt teilgenommen haben, nuancierter, sensibler, verständnisvoller und vielleicht auch optimistischer im Hinblick auf das geworden ist, wozu Menschen fähig sind. Wenn das wahr ist, dann ist dies nicht etwas, was sie von uns erhielten, sondern was sie allein durch ihre sich vertiefende Erfahrung der Meditationspraxis erwarben. Während der vielen Jahre unserer Zusammenarbeit haben wir mindestens ebensoviel von ihnen gelernt wie sie von uns, und in diesem Prozeß haben wir weiterhin viel Freude daran, das Mysterium unserer gemeinsamen Arbeit und unsere Liebe zu den Beziehungen und Abenteuern, die sie mit sich gebracht hat, zu erkunden. Ihre Arbeit hat auf bedeutsame Weise dazu beigetragen, eine Brücke zwischen zwei Welten zu schlagen, die bis vor kurzem fast nie miteinander ins Gespräch gekommen sind, zwischen der Welt der Klinischen Psychologie und der der Meditationspraxis und darüber hinaus des Dharma. Der Verkehr, der heute in beide Richtungen über die Brücke fließt, trägt dazu bei, die Einsicht und das Verständnis in beiden Welten zu vertiefen. Ihre Studien und ihre wissenschaftlichen Einsichten in die Natur der Gefühle und wie man sie durch Achtsamkeit regulieren kann, um das Leiden zu verringern und Menschen von den dunklen Schatten der Depression zu befreien, tragen außerdem dazu bei, mit Achtsamkeit arbeitende Ansätze zur Heilung in der Welt zu verbreiten, Ansätze, die auf dem Verständnis basieren, daß sie in der Praxis selbst verankert sein müssen und nicht nur auf einem Konzept der Achtsamkeit fußen dürfen.
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Überwältigt Eines Tages, als ich mich gerade auf ein Treffen mit einer Gruppe von Universitätsdozenten vorbereitete, die ein Kontemplations-Curriculum für Studenten entwickeln wollte, sprach ich mit einem ihrer Professoren am Telefon. Im Laufe unseres Gesprächs sagte er mir, er sei außerordentlich beschäftigt mit all seinen Verpflichtungen in verschiedenen Kommissionen zusätzlich zu seiner Lehrtätigkeit, seinen Forschungen, seinen Reisen und dem Aufziehen seiner noch kleinen Kinder. Aus irgendeinem Grund war meine erste Reaktion, ihn auszulachen und ein wenig damit aufzuziehen. Dann wurde mir klar, daß die Sache durchaus nicht so komisch war, zumindest nicht für ihn. Es war ein für unser Zeitalter typisches und bezeichnendes Indiz, und als mir das klar wurde, war ich traurig und auch ein wenig enttäuscht. Irgendwo in den tiefsten Winkeln meiner Psyche hegte ich offenbar das archetypische Bild eines Professors alten Stils, insbesondere eines orientalischen Gelehrten und langjährigen Praktizierenden der Meditation, der auf einem idyllischem Campus ein stilles und friedliches Leben führt. Wenn ich mit jemandem von der medizinischen, der juristischen, der wirtschaftswissenschaftlichen oder auch der biologischen Fakultät gesprochen hätte, so gestand ich ihm, dann hätte mich diese Aussage nicht überrascht. Aber bei einem Religionswissenschaftler! Noch als ich das aussprach, wurde mir klar, wie sehr mein Geist in Schubladen eingeteilt war. Da gab es immer noch romantische Erinnerungsspuren früherer Zeiten, vielleicht aus den frühen sechziger Jahren, in denen ich das College besucht hatte. Damals schien dort alles nochrecht langsam und gemütlich zu laufen; das Leben entfaltete sich in einem wesentlich menschlicheren Rhythmus und in einer Geschwindigkeit, die noch nicht zum Gefühl ständiger Überforderung führte. Heute hat sich unsere innere unmittelbare Erfahrung des Laufs der Dinge dermaßen beschleunigt, daß wir sowohl individuell als auch kollektiv kaum noch mitbekommen, was um uns herum geschieht. Wie der sprichwörtlich Frosch, den man in einen Topf mit Wasser setzt, der dann langsam erhitzt wird, bemerken wir oft gar nicht mehr, wie schnell und ungezügelt und heiß die Dinge für uns geworden sind, bis wir schon beinahe versengt sind oder, im Falle des Frosches, tot, ohne auch nur versucht zu haben, aus dem Topf zu springen, wie er es getan hätte, wenn man ihn gleich ins heiße Wasser geworfen hätte. Dieses Tempo hat sich an uns herangeschlichen. Es ist ganz allmählich zu einem Lebensstil geworden, gegen den wir nichts einzuwenden haben und nach dem wir geradezu süchtig geworden sind, ohne es auch nur zu merken. Wir sind langsam an eine inzwischen unablässige Beschleunigung gewöhnt worden, haben immer größere Erwartungen, immer mehr immer schneller erledigen zu können, endlose Mengen an Informationen verarbeiten zu können, sowohl die Informationen, die wir uns wünschen, als auch die, mit denen wir einfach überschüttet werden. Wir erwarten möglichst sofortige Befriedigung, und sei es nur durch die Geschwindigkeit, mit der unser Computer am Morgen seinen Startvorgang durchläuft, wenn wir ihn überhaupt jemals ausschalten, oder durch die Geschwindigkeit, mit der wir im Internet surfen können. Wie wir gesehen haben und tief in unserem Herzen wissen, laufen wir dermaßen auf Hochtouren, um in unserem Terminplan bleiben und alles erledigen zu können, und um das, was wir uns wünschen, kaufen und vor dem, was wir uns nicht wünschen, 318
wegrennen zu können, daß es sich über weite Strecken so anfühlt, als sei unser Reservetank gleich leer und wir hätten keinen Moment Zeit, um zu Atem zu kommen oder einfach nur ohne jeglichen Terminplan still zu halten oder einfach nur einmal eine Pause zu machen, um über das glücklich zu sein, was wir bereits erlangt oder erreicht haben, oder um unseren Schmerz und unsere Traurigkeit zu fühlen. Um in einem solchen Zeitalter unsere geistige Gesundheit zu bewahren, müßte sich vielleicht ein jeder von uns mit der Stille vertraut machen. Vielleicht ist es heute kein Luxus mehr, sich der Ruhe und Stille hinzugeben, wenn es jemals so ausgesehen hat, als sei das ein „Luxus“, und vielleicht sind das keine Erfahrungen, die nur etwas für Mönche und Nonnen sind, die dem weltlichen Leben entsagt haben, oder für Abenteurer in der Wildnis oder Urlauber in einem Naturpark. Ich spreche hier nicht von „Freizeit“, ich spreche vom Nichttun. Ich spreche davon, tiefe Zeit im Verweilen in purer Wachheit zu verbringen, außerhalb der Zeit, mit geräumigem und offenem Geist. Wenn das heilsam für uns ist, wenn wir uns mit einer lebensbedrohenden oder einer chronischen Krankheit konfrontiert sehen, wie könnte es nicht heilsam sein angesichts der Krankheit, sich total und chronisch überfordert und unausgefüllt zu fühlen, so als rase unser Leben schneller dahin, als ein menschliches Nervensystem und eine menschliche Psyche verkraften können. Ich leitete einmal während einer Konferenz von Geschäftsleuten in Chicago einen Workshop in Achtsamkeit. Etwa fünfzig Personen in Anzügen fanden sich ein. Ich eröffnete den Workshop mit dem Vorschlag, wir sollten einfach einige Minuten zusammensitzen, ohne Unterweisungen und ohne Agenda. Ich schlug vor, wir sollten sämtliche Erwartungen und Vorstellungen, mit denen wir in den Raum gekommen waren, Vorstellungen darüber, was wir von dem Workshop erwarteten und warum wir hier waren (schließlich mußte irgend etwas sie hierher gebracht haben, sie waren ja nicht bloß zufällig in diesen Raum eingetreten) fallen lassen, wir sollten die Kaffeebecher abstellen und die Zeitungen aus der Hand legen und uns einfach nur einige Minuten lang erlauben, zu fühlen, wie die Dinge in diesem Moment für uns stünden. Einige der Geschäftsleute begannen zu weinen. Ich fragte, woher die Tränen kämen. Einer der Manager sagte: „Ich mache nie etwas ohne eine Agenda.“ Viele Köpfe nickten zustimmend. Allein schon die Worte „Lassen Sie uns ohne jede Agenda zusammensitzen“ hatten etwas Befreiendes, setzten aufgestaute Gefühle des Kummers frei, von dem sie nicht einmal wußten, daß sie ihn in sich trugen. Jeder von uns mag wohl auf seine Weise nach einer Zeit ohne Agenda hungern, nach Nichttun und Stille, sogar jenseits des Konzepts der Meditation oder der Vorstellung, daß ich jetzt entweder etwas tue oder nichts tue (wie etwa der Gedanke: „Ich meditiere jetzt“). Ich meine damit nicht, daß wir uns mit der Zeitung ablenken oder einen Snack zu uns nehmen oder mit anderen über uns selbst plaudern oder auch tagträumen. Ich meine, daß wir gewahr sind, im Sein ruhen, im Wissen selbst, jenseits des Denkens, im Das-Wissen-und-das-Nichtwissen-Sein. In dem, was Soen Sa Nim in seiner unnachahmlichen Art den „Weißnicht-Geist“ genannt hat.
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Dialog und Diskussion Zu lernen, wie man anderen zuhört und ihr Ansichten wertschätzt, insbesondere wenn man etwas gegen ihre Ansichten, Standpunkte und Methoden hat, ist ein wichtiger Teil der Heilung von Zerwürfnissen, die eitern und giftig werden können, was wir nur allzuoft in der Welt beobachten können. In gewissen Kreisen der Geschäftswelt und der Welt des Dharma und ganz gewiß innerhalb der Streßbewältigung durch Achtsamkeit sprechen wir vom Dialog als der äußeren Entsprechung zur inneren Kultivierung des nichturteilenden Gewahrseins von Moment zu Moment, der Achtsamkeit. Genauso wie in der Praxis der Achtsamkeit achten wir auf alle „Stimmen“, die sich im Raum des Geistes und im Raum des Jetzt erheben. Wir hören, fühlen, berühren, schmecken und erkennen das volle Spektrum alles Auftauchenden, seines Verweilens, seines Vergehens und aller Eindrücke und Folgerungen, die es für den nächsten Moment hinterläßt, und zwar ohne Urteil oder Reaktion (oder im Gewahrsein des Urteilens und Reagierens, wenn sie entstehen). Auf diese Weise können wir uns auf dieselbe Weise wie bei der inneren Übung auch im Gespräch mit anderen dem Sein überlassen. So wie es nötig ist, daß wir uns in unserer eigenen Meditationspraxis offen und sicher fühlen, so müssen wir auch bei einer Begegnung genügend Offenheit und Sicherheit und Geräumigkeit des Herzens für andere Menschen erzeugen, damit sie sich sicher genug fühlen, das, was sie meinen und was ihnen am Herzen liegt, aussprechen zu können, ohne befürchten zu müssen, daß sie verurteilt werden. Niemand muß in einem Dialog dominieren, ja, er würde sogar in dem Moment kein Dialog mehr sein, in dem eine Person oder eine Gruppeversuchte, ihn zu beherrschen. Wir beobachten das, was auftaucht, und hören dem Ausdruck von Ideen, Meinungen, Gedanken und Gefühlen zu; wir nehmen das alles in einem Geist der tiefen Erkundung in uns auf, so ähnlich wie wir in der formalen Meditationspraxis im Gewahrsein verweilen. Dabei lassen wir zu, daß alles als gleichwertig betrachtet wird, als etwas, was es zumindest wert ist, gesehen, gehört und erkannt zu werden, ohne daß wir es bearbeiten, zensieren oder zurückweisen. In einem Dialog zeigt sich oft auf überraschende Weise eine größere Intelligenz, die der Gruppe als Ganzes, nicht einem ihrer Mitglieder innewohnt, und so kommt es als direktes Ergebnis solcher Geräumigkeit und Offenherzigkeit zu einem tieferen kollektiven Verständnis. Leider ist dies oft nicht der Fall, wenn wir an unserem Arbeitsplatz eine Besprechung mit Kollegen haben. Auch im Bereich der Politik und selbst zu Hause in unserer Familie ist es oft so, daß widerstreitende Vorstellungen und Positionen den Diskurs beherrschen. Normalerweise diskutieren wir und führen keinen Dialog. Bei Besprechungen diskutieren wir endlos über ein Thema. Wir haben bestimmte Absichten, wir planen Dinge voraus, wir einigen uns auf eine Vorgehensweise und führen dann unsere Strategien und Aktionspläne durch. Doch oft gibt es in solchen Diskussionen verborgene Absichten und Machtspiele zwischen den Teilnehmern, die unausgesprochen bleiben, derer sich die Teilnehmer sogar manchmal nicht bewußt sind und die im Prozeß selbst eine Art Gewalt ausüben, wenn die „andere“ Dimension nicht be- oder geachtet wird. Es kann also sehr wertvoll sein, wenn wir Achtsamkeit in die ganze Dimension 320
dessen einbringen, wie wir uns in Begegnungen mit anderen verhalten, besonders wenn es um wichtige Dinge geht, etwas erledigt werden muß und die Gruppe auf kohärente Weise funktionieren soll, selbst wenn widerstreitende Meinungen, Ansichten und Positionen vehement zum Ausdruck gebracht werden. Ob es nun darum geht, in einem Automobilkonzern eine Geschäftsstrategie für die Zukunft zu entwickeln, ob es sich um diplomatische Belange oder Friedensgespräche handelt, wenn man Achtsamkeit mit an den Verhandlungstisch bringt und zudem das, was manche Menschen „gewaltlose Kommunikation“ nennen, kann das entscheidend sein dafür, ob eine neue Ebene des Verstehens und der Einigung erreicht werden kann, die weiteres Lernen und Wachstum, weitere Heilung und weiteres gegenseitiges Verständnis fördert und Potentiale und Möglichkeiten Wirklichkeit werden lassen. Zu lernen, zuzuhören und an einem Dialog mit anderen teilzunehmen, ist das Herz einer solchen Heilung sowie das Herz wahrer Kommunikation und echten Wachstums. Es ist eine Verkörperung von Beziehung und von gegenseitigem Respekt. In einer Gruppe sind niemandes Ansichten, Meinungen und Gefühle unwichtig, ganz gleich, was es für ein Machtgefälle geben mag. Sie werden nur vergiftet oder beeinträchtigen das in einem „Prozeß“ enthaltene Potential für „Fortschritt“, wenn man sie abtut und nicht darauf achtet. Es hat bereits etwas Heilendes, wenn man einfach nur gehört, gesehen, anerkannt und erkannt wird. Und aus solchen Begegnungen können sich wirklich völlig neue und überraschende Möglichkeiten ergeben, so wie das auch der Fall sein kann, wenn man sich selbst im Schweigen und in der Stille begegnet. Deshalb finde ich es nützlich, einen Unterschied zwischen „Dialog“ und „Diskussion“ zu machen und sich ihrer unterschiedlichen Bedeutung in Hinsicht auf die eigene Beziehung und die Absicht bestimmter Begegnungen bewußt zu sein. Ich will damit nicht sagen, daß wir den Begriff „Diskussion“ aus unserem Diskurs streichen sollten. Wir sollten uns nur daran erinnern, welchem Zweck Diskussionen dienen und welchen Verlauf sie im allgemeinen nehmen, vor allem, wenn sie nicht in ein umfassenderes Gewahrsein eingebettet sind und die gesamte Gruppe keine gemeinsame Ausrichtung besitzt. Das Tätigkeitswort „diskutieren“ hat die Bedeutung „eine zu erörternde Sache zerlegen, sie im einzelnen durchgehen“ und ist dem lateinischen discutere, was „zerschlagen, zerteilen, zerlegen“ bedeutet, entlehnt. Gibt uns das nicht bereits in der Bezeichnung einen Hinweis darauf, was in einer Diskussion oft geschieht? „Dialog“ hingegen ist von dem griechischen diálogos, „Gespräch“, abgeleitet beziehungsweise von dialégesthai, wobei dia „zwischen“ und légesthai „sprechen“ bedeutet. Dialog hat also eher die Bedeutung eines Austauschs, eines Gesprächs zwischen Menschen, und ein solcher Austausch wird oft, wie in den Sokratischen Dialogen, im Geiste einer tiefen gemeinsamen Erkundung durch ein offenes Fragen geführt. Diese Qualität von Beziehung und der offene Raum des „zwischen“ ist der Schlüssel zur Entstehung von etwas ganz Neuem. Das ist also keine schlechte Haltung für eine geschäftliche Besprechung, auch wenn sonst niemand ahnt, daß Sie eine solche Einstellung haben. Doch mit der Zeit kann eine Gruppe diesen Ansatz bewußt für ihre gemeinsame Arbeit übernehmen, und wenn das geschieht, wird es sehr viel mehr Gemeinsamkeit in der Arbeit geben und sie wird häufig sehr viel kreativer und produktiver. Vielleicht wird sie sogar zu einem gemeinsamen Abenteuer. 321
Auf der Bank sitzen Ich weiß nicht, bei wie vielen Berufen das Tätigkeitswort „sitzen“ in der Berufsbeschreibung auftaucht, aber der Beruf des Richters ist einer davon. Richter sitzen über jemanden zu Gericht, und zwar auf der Gerichtsbank, und von ihrem in den meisten Gerichtssälen erhöhten Sitz herab werden sie Zeuge einer unablässigen Parade der schlimmsten Dinge, die Menschen einander und sich selbst zufügen können. Und man erwartet von ihnen, daß sie dabei leidenschaftslos und weise sind und so die Darlegung aller Beweise und die Entfaltung der Geschichten, die zugunsten oder gegen die Beklagten vorgebracht werden, regeln und überwachen. Der Richter erzeugt sozusagen einen Zusammenhang, der es den Geschworenen (wenn es sich um ein Geschworenengericht handelt) ermöglicht, die verschiedenen relevanten Tatsachen und Argumente auf angemessene und vernünftige Weise in sich aufzunehmen. Erst dann können die Geschworenen nach gründlicher Beratung „im Namen des Volkes“, also der gewöhnlichen Menschen wie du und ich, Recht sprechen. Ich wurde einmal eingeladen, für eine Gruppe von Richtern des Massachusetts District Court ein achtwöchiges Programm in Streßbewältigung durch Achtsamkeit zu leiten. Mir wurde schon bald klar, daß für Richter Streß zu den größten Berufsrisiken gehört. Tag für Tag und Woche für Woche sehen sie sich mit dem auf die Dauer abstumpfenden Schrecken eines endlosen Stroms drastischer Beweise für die Gier, den Haß, die Ignoranz, die Unaufmerksamkeit der Menschen und deren unglücklichen Konsequenzen konfrontiert. Außerdem wird jedes Wort im Gerichtssaal protokolliert und als öffentliche Angelegenheit in den Akten festgehalten. Alles, was sie sagen, kann von den Medien aufgegriffen und aus dem Kontext gerissen zitiert werden. Wenn sie sich nur den kleinsten Ausrutscher erlauben, kann das zu massiver Kritik in der Presse und in der Öffentlichkeit führen, und so neigen sie dazu, so wenig wie möglich zu sagen. Außerdem laufen sie Gefahr, daß man sie bei einem Nickerchen ertappt, denn viele Fälle können ziemlich monoton und langweilig werden, besonders wenn man schon eine endlose Reihe ähnlicher Fälle erlebt hat. Angesichts all dieser Dinge neigen Richter selbstverständlich dazu, sehr vorsichtig zu sein, teilweise wegen ihrer professionellen Standards der juristischen Unparteilichkeit, teilweise aber auch, weil sie es vermeiden wollen, einen Narren aus sich zu machen. Außerdem müssen sie in Fällen, wo keine Geschworenen herangezogen werden, selber Urteile fällen, und das kann eine weitere Quelle von Streß sein, da sie unvermeidlich nur eine Partei zufriedenstellen können und manchmal sogar beide Seiten unzufrieden sind. Manchmal können ihre Entscheidungen zudem schwerwiegende politische Konsequenzen haben, was nur noch zu ihrem Streß beiträgt, ob sie nun in ihr Amt gewählt werden oder eine lebenslange Berufung erhalten haben. Dazu kommt, daß sie aus einsichtigen Gründen nicht jeden Abend mit ihrer Familie im Detail teilen mögen, was sie am Tag erlebt haben. Aber solange sie keinen effektiven Weg gefunden haben, so durchlässig zu sein, daß diese Dinge sich nicht festsetzen, und in wahrem Gleichmut und echter Weisheit zu ruhen, kann es durchaus sein, daß sie jeden Tag allein durch die Tatsache, daß sie ihre Arbeit machen und sich all die Beweise und Argumente anhören, eine gewisse Dosis Gift in sich aufnehmen. Zu all dem kommt noch hinzu, daß man sie in der Regel nicht das Sitzen gelehrt 322
hat, auch wenn, wie wir oben festgestellt haben, das Sitzen zur Definition ihres Berufs gehört. Zu lernen, wie man im Kontext der Streßbewältigung durch Achtsamkeit „sitzt“, schien also genau das Richtige für die Richter des District Court zu sein, und wir hatten während der acht Wochen des MBSR-Programms eine wundervolle Zeit miteinander. Die meisten hatten hier zum ersten Mal einen Rahmen, in dem sie ziemlich offen mit Kollegen über ihre Gefühle sprechen konnten; einen geschützten Rahmen, denn das Ganze fand fern aller juristischen Fallgruben in einer Klinik statt. Und ihr Streß wurde hier im größeren Kontext der Achtsamkeitsübung angesprochen, wobei es um die Entwicklung von Ansätzen ging, mit diesem Streß unter Berücksichtigung ihrer besonderen Position kreativ umzugehen. Einige Monate, nachdem ich mit den Richtern gearbeitet hatte, traf ich auf einer Party im Hause eines Freundes einen jungen Anwalt namens Tom Lesser. Im Gespräch stellte sich heraus, daß er buddhistische Meditation und seit langem Achtsamkeitsmeditation praktizierte, und er erzählte mir von einer großen Überraschung, die er als einer der Anwälte der Verteidigung in einem Fall erlebt hatte, der in den Vereinigten Staaten damals großes Aufsehen erregt hatte. Zum einen, weil zusammen mit einem bekannten Umweltaktivisten auch Amy Carter, die Tochter des früheren Präsidenten Jimmy Carter, unter Anklage stand, zum anderen, weil in diesem Prozeß unrechtmäßige Praktiken der CIA aufgedeckt wurden, so daß im Grunde die CIA vor Gericht stand. Im allgemeinen werden die Geschworenen in einem amerikanischen Gericht erst dann vom Richter instruiert, wie sie den Fall betrachten sollen, nachdem ihnen alle Beweise vorgelegt wurden. Lesser war überrascht, daß der Richter die Geschworenen in diesem Fall schon zu Beginn der Verhandlung instruierte, und er war noch überraschter, als er hörte, wie er das tat. Ich zitiere hier wörtlich aus dem Gerichtsprotokoll: Es ist wichtig, daß Sie die einzelnen Elemente dieses Falls verstehen. Es ist auch wichtig, daß Sie entsprechend der Terminologie der Achtsamen Meditation [sic], die ich unlängst kennengelernt habe, aufmerksam sind. Achtsame Meditation ist ein Prozeß, in dem man von Moment zu Moment aufmerksam ist. Es ist zudem wichtig, daß Sie sich einen offenen Geist bewahren und daß Sie sich in diesem Fall auf nichts festlegen, bevor Sie nicht alle Beweise, die Ihnen vorgelegt wurden, in Betracht gezogen haben. Tom Lesser fiel fast vom Stuhl, als er den Richter so sprechen hörte. Der Richter gab den Geschworenen Unterweisung in Achtsamkeit! Nach Beendigung des Prozesses suchte er den Richter in der Kammer auf, um ihn zu fragen, wo er Achtsamkeit und Meditation gelernt habe. Nach Lessers Erinnerung antwortete der Richter darauf etwa folgendermaßen: „Nun, ich habe bloß an der medizinischen Fakultät der University of Massachusetts an einem Programm zur Streßbewältigung für Richter teilgenommen. Während des Kurses sprach Jon Kabat-Zinn darüber, wie wichtig es sei, die Dinge von Moment zu Moment zu betrachten. Und das war für mich einfach ein verblüffendes Konzept. Ich hatte mir selbst schon gedacht, daß man die Dinge eigentlich von Moment zu Moment ansehen müßte, aber das hier, die Beobachtung der Entfaltung von Ereignissen von Augenblick zu Augenblick, war etwas radikal anderes – die Idee, daß Aufmerksamkeit durchgehend und kontinuierlich sein kann, war für mich einfach höchst erstaunlich. Denn es ist im Grunde genau das, was man von den Geschworenen 323
verlangen möchte. Es schien mir also eine gute Idee, die Geschworenen aufzufordern, auf diese Weise aufmerksam zu sein, um ihnen zu helfen, zuzuhören, ohne zu urteilen.“ Vor den Abschlußplädoyers in diesem Fall wiederholte der Richter nochmals die Instruktion zur Achtsamkeit. Ich zitiere nochmals das Gerichtsprotokoll: Im möchte Sie nun bitten, ganz besonders aufmerksam den Abschlußplädoyers zuzuhören, aber auch sehr aufmerksam auf meine Instruktionen zu achten. Sie werden sich erinnern, daß ich den Begriff der Achtsamen Meditation früher schon einmal verwendet habe, nicht wahr? Ich möchte nicht, daß Sie einschlafen, auch wenn das auf diesen Stühlen wahrscheinlich ziemlich unmöglich ist; ich möchte vielmehr, daß Sie von Moment zu Moment aufmerksam sind. Das ist ganz wichtig. Es ist wichtig, weil Sie nach unserem Rechtssystem heute Ihre verfassungsmäßigen Rechte ausüben, und es ist besonders wichtig, weil Sie dabei jeden Bürger dieses Landes repräsentieren. Vielleicht sollten Geschworene regelmäßig vor jeder Gerichtsverhandlung Achtsamkeitsunterweisungen erhalten. Hier sind einige allgemeine Formulierungen, die jeder Richter zur Vorbereitung auf einen Fall verwenden könnte, ohne dabei jemals das Wort „Meditation“ in den Mund zu nehmen: Ich möchte, daß Sie dem, was ihnen in diesem Gerichtssaal vorgetragen wird, mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit zuhören. Dabei könnte Ihnen helfen, wenn Sie eine Sitzhaltung einnehmen, die Würde und Geistesgegenwart verkörpert, und dabei mit dem Gefühl Ihres in den Körper einströmenden und wieder aus dem Körper ausströmenden Atems in Kontakt bleiben, während Sie den vorgetragenen Beweisen zuhören. Seien Sie sich der Neigung Ihres Geistes bewußt, voreilig Schlußfolgerungen zu ziehen, bevor alle Beweise vorgelegt und die Schlußplädoyers gehalten wurden. Versuchen Sie statt dessen, so gut wie möglich alles Urteilen hintanzustellen, und seien Sie einfach mit Ihrem ganzen Sein von Moment zu Moment Zeuge dessen, was Ihnen im Gerichtssaal vorgelegt wird. Wenn Sie feststellen, daß Ihr Geist abschweift, dann können Sie ihn immer zum Atem und zu dem, was Sie hören, zurückbringen, wenn nötig, wieder und immer wieder. Wenn die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, dann wird es an Ihnen als den Geschworenen sein, sich zu beraten und zu einer Entscheidung zu kommen. Aber nicht vorher.
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Sie verrückt! Eines Abends hielt ich den öffentlichen Mittwochabend-Vortrag am Cambridge Zen Center, und danach beantworte Soen Sa Nim, der neben mir saß, Fragen. Das war seine Art, seine Schüler zu Lehrern auszubilden. Die erste Frage kam von einem jungen Mann auf der rechten Seite im mittleren Teil des Saals. Die Frage (ich habe vergessen, worum es dabei ging) war dermaßen konfus, daß spürbar eine Welle des Befremdens und der Neugier durch das Auditorium lief. Viele Hälse reckten sich, weil man, so diskret wie möglich, sehen wollte, wer da sprach. Soen Sa Nim starrte den jungen Mann eine ganze Weile über den Rand seiner Brille an. Im Auditorium konnte man eine Stecknadel fallen hören. Er rieb sich seinen geschorenen Schädel und starrte den Fragenden weiter an. Dann sagte er, indem er immer noch seinen Scheitel massierte und mit leicht nach vorn geneigtem Körper über den Brillenrand lugte, in seiner typischen, bis ins Mark treffenden Art: „Sie verrückt!“ Mir stockte, wie dem Rest der Anwesenden, der Atem. In einem Sekundenbruchteil stieg die Spannung um ein Vielfaches. Ich wollte mich zum ihm hinüberneigen und ihm ins Ohr flüstern: „Hören Sie, Soen Sa Nim, wenn jemand wirklich verrückt ist, ist es keine so gute Idee, das in aller Öffentlichkeit so auszusprechen. Seien Sie etwas nachsichtig mit dem armen Burschen, um Gottes willen.“ Ich war schockiert. All das lief in meinem Geist und wahrscheinlich auch im Geist aller anderen Anwesenden innerhalb eines Moments ab. Das Echo dessen, was er gerade gesagt hatte, hallte im Raum nach. Aber er war noch nicht fertig. Nach einem Schweigen, das ewig zu dauern schien, auch wenn es in Wirklichkeit nur wenige Sekunden waren, beendete er seinen Satz: ,, ... aber [noch eine lange Pause] ... Sie nicht verrückt genug!“ Alle Anwesenden atmeten auf, und eine heitere Leichtigkeit breitete sich im Raum aus. Es mag förderlich für diesen jungen Mann gewesen sein, in diesem speziellen Moment eine solche Botschaft von jemandem mit der Herkunft und der imposanten Erscheinung eines Soen Sa Nim zu erhalten. In jenem Moment war es wohl angesichts der gegebenen Umstände auf jeden Fall so gekonnt wie mitfühlend. Ich habe keine Ahnung, ob es förderlich für ihn war oder nicht, ich kann es nur hoffen. Ich weiß nicht, ob Soen Sa Nim mit diesem Mann weiterarbeitete oder nicht, aber auf eines konnte man sich bei ihm verlassen – er gab nie jemanden auf. Wie ich gern glauben will, wollte Soen Sa Nim sagen, daß wir wagemutig sein müssen, um geistig gesund sein zu können, daß wir unsere Verrücktheit annehmen und sie umarmen müssen, ohne uns ihrer zu schämen, daß wir uns ihr stellen und sie benennen müssen, und, indem wir das tun, größer sein müssen als sie, um nicht länger in ihr festzusitzen, so daß wir in engen Kontakt mit unserer Ganzheit kommen und nicht nur gesund sind, sondern gesünder als gesund. Das ist besonders wichtig, wo doch das, was auf der Bühne dieser Welt als geistig gesund gilt, oft der pure Wahnsinn ist.
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Übergänge Wenn unsere wahre Natur tatsächlich Ganzheit ist, warum fühlen wir uns dann die meiste Zeit so fürchterlich fragmentiert? Wie ist das zu verstehen? Die folgende Analogie könnte zum Verstehen beitragen. Wir wissen, daß Wasser sich in Abhängigkeit von der Temperatur und dem Druck, unter dem es steht, in unterschiedlicher Form manifestieren kann. Auf Meereshöhe ist es bei Raumtemperatur flüssig. Bei 100° Celsius wird es gasförmig und beginnt zu kochen. Und wenn man es unter 0° abkühlt, dann gefriert es und wird fest. Doch welche Form es auch annimmt, es bleibt stets Wasser. Die Übergänge zwischen dem festen, dem flüssigen und dem gasförmigen Zustand nennt man in der Physik und in der Chemie Phasenwechsel, weil das Wasser von der einen Form oder Phase in eine andere übergeht. In den verschiedenen Phasen haben die Wassermoleküle, die H2O-Moleküle, unterschiedliche Beziehungen zueinander. Das ist der Grund, warum Eis hart ist und warum Wasser aus dem Hahn fließen und die Form jedes Behälters annehmen kann, in dem es sich befindet, und warum Wasserdampf das gesamte Volumen ausfüllt, in dem er sich befindet. Ob es jedoch gerade fest, flüssig oder gasförmig ist, es ist immer H2O, das nur entsprechend den Umständen verschiedene Formen annimmt (je nach Temperatur und Druck – denken Sie nur daran, daß Wasser auf dem Mount Everest schon bei Temperaturen weit unter 100° kocht, weil der Luftdruck dort so niedrig ist. Darum ist es so schwierig, sich in großer Höhe etwas zu kochen – kochendes Wasser ist dort längst nicht so heiß wie auf Meereshöhe). Wir könnten sagen, daß H2O die Grundnatur oder wahre Natur von Wasser ist (seine ursprüngliche Essenz). Abhängig von unterschiedlichen Umständen kann es sich im gefrorenen Zustand, als Flüssigkeit oder als Gas manifestieren. In jeder dieser Formen wird es unterschiedliche Eigenschaften und Wirkungen haben. Mit anderen Worten: Seine äußere Erscheinung wird unterschiedlich sein, es wird sich anders „anfühlen“ und wird sich anders verhalten. Mit Geist und Körper ist es ähnlich. Wenn die Umstände sich verändern, kann es sich so anfühlen, als gingen Geist und Körper durch einen Phasenwechsel. Die sich verändernden Umstände können Druck erzeugen oder vorhandenen Druck verringern. Unterschiedliche Umstände können die Dinge emotional, kognitiv, somatisch oder spirituell anheizen oder sie abkühlen. Wir nennen diese Umstände, die von uns verlangen, uns so oder so anzupassen, „Stressoren“, und wir bezeichnen unsere Erfahrung von solchen Veränderungen, besonders wenn wir nicht mit Anpassung reagieren können, als „Streß“. Als Reaktion auf streßgeladene Situationen, sei es in der äußeren oder in der inneren Landschaft, können unser Körper und unser Geist sich augenblicklich verändern, wenn der Streß fühlbar wird. Wir erstarren vielleicht körperlich vor Angst „zu Eis“. Wir alle haben so etwas schon einmal erfahren. Der Geist kann ebenfalls einfrieren und erstarren, etwa in einem bestimmten Gedanken oder einer bestimmten Meinung, in Haß oder Verletztheit. Er kann sehr schnell unnachgiebig und kalt werden, und dieses Eingefrorensein manifestiert sich dann als tiefsitzendes Gedanken-, Gefühls- oder Verhaltensmuster. Oder er kann sich vor Erregung, Konfusion, Furcht oder Verwirrung 326
aufheizen und sich anfühlen wie Dampf. Wir sprechen ja nicht umsonst gelegentlich davon, daß wir „Dampf ablassen“ müssen. Zweifellos haben wir alle bereits unsere Erfahrungen mit diesen beiden Extremen gemacht. Oder der Geist kann sich anfühlen, als sei er irgendwo dazwischen, mehr wie Schneematsch, nicht richtig Wasser und nicht richtig Eis, einfach nur matschig und verschwommen. Zu anderen Zeiten, wenn andere Umstände herrschen, wenn wir frei sind von Druck, und die Dinge sich nicht so anfühlen, als würden sie bis zum Siedepunkt überhitzt oder bis zum Punkt der Kontraktion und des Einfrierens abgekühlt, kann der Geist so geräumig sein wie ein Gas, kann er sich endlos ausdehnen und alles umfangen, was darin geschieht, oder er kann frei fließen wie Wasser, das ungehindert über Felsbrocken und andere Hindernisse auf unserem Weg hinweg- oder um sie herumfließen kann. Manchmal kommt es spontan und als Ergebnis sich verändernder Ursachen, Bedingungen und Umstände in der äußeren Landschaft unseres Lebens - sei es am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Gesellschaft und /oder bei ökonomischen oder politischen Umwälzungen - zu solchen Phasenwechseln. Doch sehr häufig ergeben sie sich auch aus unseren eigenen selbsterzeugten Aufregungen und Reaktionen innerhalb der inneren Landschaft. Sie entstammen unseren nicht hinterfragten Gewohnheiten des Geistes, die uns unglücklicherweise in bestimmte eingefahrene Muster des Denkens, Fühlens und Sehens (oder Nichtsehens) einrasten lassen, durch die wir starr und eingefroren bleiben. In solchen Situationen, ob sie nun von äußeren Bedingungen oder inneren Ereignissen ausgelöst wurden, sind wir oft nicht in der Lage, uns an unsere wahre Natur zu erinnern und sie zu erkennen, diese Natur, die durch den gefrorenen Zustand oder jeden anderen Zustand weder begrenzt noch gebunden ist, sondern die der zugrundeliegenden H2O-artigen Essenz ähnelt, die es uns erlaubt, viele verschiedene Zustände des Geistes und des Körpers anzunehmen und so mit größerer Weisheit und Effektivität auf die verschiedenen äußeren Herausforderungen und inneren Fluktuationen in Geist und Körper, mit denen wir in jedem Augenblick konfrontiert werden können und mit denen wir in der Tat in dem einen oder anderen Ausmaß in jedem Moment konfrontiert sind, zu antworten. Es ist die Achtsamkeit, die uns helfen kann, aus dem gefrorenen Zustand in den freieren Zustand der Geräumigkeit hinein aufzutauen und zu erkennen, daß selbst die Geräumigkeit nicht unsere wahre Natur ist, sondern nur eine weitere Manifestation dieser Natur. Wir könnten sagen, daß unsere wahre Natur unsere Fähigkeit zu wissen ist, unser angeborenes Gewahrsein, das sämtliche Zustände und Phasenwechsel umfangen und wissen kann, daß sie nur Manifestationen der einen zugrundeliegenden Ganzheit sind, die jegliche Form und Phase transzendiert, sei es nun Eis oder Flüssigkeit oder Dampf oder die Strudel, von denen die Zen-Lehrerin Joko Beck spricht. Letztlich sind es nicht die Stressoren, die den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben, auch wenn es natürlich einfacher ist, äußere Umstände oder unseren inneren Geisteszustand für unser Un-Wohlsein, unsere Verzweiflung und unser dysfunktionales Verhalten verantwortlich zu machen. Es ist vielmehr unser Anhaften, unsere Neigung, an ihnen festzuhalten, die uns gefangennimmt, zuerst einmal dadurch, daß wir die wahre Natur der auftauchenden Ereignisse, die, wie wir gesehen haben, im Grunde leer ist, nicht erkennen, und zweitens dadurch, daß wir Widerstand leisten, uns verkrampfen, Schuld zuweisen, hassen und versuchen, die Veränderung einer Wirklichkeit, die wir nicht mögen, in eine 327
uns genehme Richtung zu erzwingen, eine Richtung, die wir für befriedigender, angenehmer oder sicherer halten, ohne zuerst einmal die Tiefenstruktur von dem, was geschieht, sowie das volle Spektrum unserer Optionen, damit weise umzugehen, gesehen zu haben. Wenn Gewahrsein an sich unsere wahre Natur ist, dann befreit uns das Verweilen in Gewahrsein davon, in irgendeinem Zustand von Körper und Geist, Denken oder Gefühlen steckenzubleiben, ganz gleich, wie schlimm die Umstände sind oder zu sein scheinen. Doch wenn wir zum Beispiel in Eis eingeschlossen sind, dann glauben wir noch nicht einmal an die Möglichkeit von Wasser, und wir erinnern uns auch nicht daran, daß unsere wahre Natur jenseits jeder Form ist, die sie annehmen kann. Ein Augenblick des Erinnerns kann uns von einem lebenslangen gewohnheitsmäßigen Krampf befreien, weil wir nicht länger die eine oder andere Phase für das halten, was wir sind oder was das Grundlegendste ist. Meister Chinul, ein koreanischer Zen-Meister des 12. Jahrhunderts, sagte: Auch wenn wir wissen, daß ein gefrorener Weiher ganz und gar Wasser ist, ist doch die Wärme der Sonne nötig, um ihn zu schmelzen. Auch wenn wir zu der Tatsache erwachen, daß ein gewöhnlicher Mensch Buddha ist, ist doch die Kraft des Dharma nötig, daß die Buddha-Natur unsere Schulung durchdringt. Wenn der Weiher geschmolzen ist, fließt das Wasser frei und kann zur Bewässerung und zum Waschen benutzt werden. Dieses Schmelzen, dieses freie Fließen, weiträumiges Gewahrsein in einem wechselseitig eingebetteten Universum, fühlt sich sehr nach Liebe an - nach der Hitze der Sonne, die die Wasser des Geistes wie des Körpers freisetzt.
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Sie machen, Sie haben Soen Sa Nim, der in der Übertragungslinie von Chinul steht, nur acht Jahrhunderte nach diesem, sagte gern: „Sie machen Problem, Sie haben Problem.“ Was er da sagte, war einfach und unglaublich relevant. So etwas wie ein Problem gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Das Konzept eines „Problems“ ist genau das, ein Konzept, eine Überlagerung, die Interpretation einer Situation. Das Denken macht aus einer Situation ein Problem. Probleme sind ganz in Ordnung als Hausaufgaben in Mathematik oder Physik. Doch im Leben gibt es in Wirklichkeit keine Probleme, nur Situationen, die eine Antwort erfordern, und zwar nach Möglichkeit eine Antwort, die den Umständen und Herausforderungen einer solchen Situation gerecht wird. Und das verlangt gewöhnlich eine Art zutreffender Einschätzung oder sogar eine instinktive oder wohlbedachte Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Mit Situationen sind Umstände gemeint, die sich so präsentieren, wie sie sind, in der Unmittelbarkeit dessen, was ist, der Dinge, wie sie sind. Aber allzuoft machen wir aus einer Situation ein Problem, wir verschieben unsere gesamte psychische Orientierung derart, daß wir ein Problem haben, und diese Orientierung kann unseren Blickwinkel gerade dann verengen, wenn es besonders wichtig ist, daß wir offen und kreativ bleiben und uns nicht von der Schwere einer „Problematik“ einfangen lassen, so daß wir glauben, ein „großes Problem“ zu haben, wodurch augenblicklich auch das „Ich“ oder „Wir“ verfestigt und verdinglicht wird, das ein Problem hat. Meine Tochter berichtet, daß es im Backofen, gerade als sie anfangen wollte, ihr köstliches Bananenbrot mit Mandelmehl zu backen, eine heftige Verpuffung gegeben hat, der Ofen danach ausging und sich nicht wieder anzünden ließ. Ich überprüfe die Brenner oben auf dem Gasofen und sehe, daß sie nicht anspringen, auch wenn ich den Knopf drehe und der Anzünder klickend Funken sprüht, und der Backofen ebenfalls nicht angeht. Da wir erst unlängst Probleme mit dem „Ofen“ hatten, die es nötig machten, einen Monteur kommen zu lassen, sage ich, daß wir wohl die Werkstatt anrufen müssten. Zu dumm, aber das Bananenbrot wird warten müssen. Da sagt meine Frau Myla: „Willst du nicht einmal das Sicherheitsventil für die Gaszufuhr überprüfen?“ In dem Augenblick, wo sie das ausspricht, weiß ich, daß es das ist, was dieses Problem verursacht. Warum habe ich nicht daran gedacht? Ich bin doch derjenige, von dem man erwartet, so etwas zu wissen. Ich gehe in den Keller, und natürlich, das Sicherheitsventil für die Gaszufuhr des Ofens hat sich geschlossen. Ich lege den Hebel um und, voila, der Backofen funktioniert wieder. In einem Augenblick hatte mein Geist das, was geschehen war, zu einem „Problem mit dem Ofen“ gemacht und damit verhindert, daß ich die Möglichkeit sah, die in Mylas Geist auftauchte. Statt für die Situation offenzubleiben, hatte mein Geist sie zu einem Problem gemacht, das wir in der Vergangenheit bereits gehabt hatten, anstatt die Situation so zu sehen, wie sie gegenwärtig war. Die vorschnelle Fehldiagnose machte alles weitere klare Denken, zumindest für diesen Moment, unmöglich. 329
Die Herausforderung jedes einzelnen Augenblicks besteht also darin, so an die Dinge heranzugehen, daß wir in jeder Situation von Moment zu Moment angemessen handeln können, ob die Situation nun angenehm, unangenehm oder neutral ist, und auch wenn der denkende Geist, wie er das normalerweise tut, ein Problem daraus machen möchte und die Situation damit zugleich falsch wahrnimmt und das kleine „Ich“ sich einmischt und aus dem Dilemma ein Melodrama macht - wenn es eine Geschichte von „mir“ und „meinem“ Problem erfindet und darüber, wie die Dinge laufen oder nicht laufen. Nach einer Weile wurde der Ausspruch „Sie machen Problem, Sie haben Problem“ verkürzt zu „Sie machen, Sie haben“, so daß er nun eine weitere Bedeutung erhielt und alle „Baustellen“ des Geistes, die großen und die kleinen, umfaßte. Das war eine der vielfältigen Weisen, auf die Soen Sa Nim uns lehrte, daß das Denken selbst etwas Fabriziertes ist (vom lateinischen fabricari, „etwas machen“). Es zieht einen Schleier zwischen uns und die direkte Erfahrung. Er wollte uns darauf hinweisen, daß es gut sein könnte, sich jedesmal dann, wenn das geschah, dessen bewußt zu werden, so daß wir uns nicht unwillkürlich in unser Denken verhedderten und den Kontakt zur direkten Wahrnehmung und dem direkten Wissen verloren. Klares Denken kann ungemein nützlich und machtvoll sein - aber oft ist unser Denken eben nicht klar, und es kann den Bereich der direkten Erfahrung sowie anderer Arten des Wissens, die nicht durch das Denken vermittelt werden, vollkommen verschleiern. Jahrzehnte später war ich hoch erfreut, zu entdecken, daß die Tibeter in einem ähnlichen Sinne von „Nicht-Fabriziertem“ oder „Nicht-Erzeugtem“ als einer grundlegenden Eigenschaft dessen sprechen, was sie den ursprünglichen reinen Geist oder die natürliche Große Vollkommenheit nennen.22 Wir könnten sagen und es für uns selbst allein schon durch die Beobachtung unseres eigenen Geistes bestätigen, daß das, was alle meditativen Traditionen den ungeschulten Geist nennen, ständig Ideen und Meinungen, Ansichten und Probleme erzeugt, so wie Soen Sa Nim behauptete. Dieser „Leerlauf' des Geistes wird in meditativen Kreisen manchmal als „Proliferation“ oder das „Wuchern“ von Gedanken, bezeichnet, weil die Gedanken, Phantasien und Tagträume mit ihren jeweiligen emotionalen Auswirkungen sich endlos vermehren und weiterverbreiten. Diese Proliferation, diese endlosen Machenschaften des Geistes sind für einen Geist, der nicht damit vertraut ist, sich selbst zu beobachten, praktisch unsichtbar. Wir bekommen dann noch nicht einmal mit, was da geschieht. Dies ist es, was William James in seiner weiter oben zitierten Aussage über die Erziehung und das Zurückbringen des wandernden Geistes beklagt. Der Geist, der eine gewisse Erfahrung mit der Schulung in Achtsamkeit hat, erfährt auch weiterhin Proliferation und Fabrikation, denn sie sind nun einmal Aspekte der Natur des Geistes. Aber bei einiger Schulung und mit zunehmender Stabilität des Geistes sowie der Entwicklung eines gewissen Grades an Gleichmut und Einsicht erkennt man diese Aktivität und geht anders damit um. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß man das Wuchern des Denkens und die Erzeugnisse des Geistes dann auf immer subtilere Weise wahrnimmt, so wie man auch zunehmend subtilere Formen des Anhaftens und Ergreifens erkennt. Es mag zwar so sein, daß die gröberen Manifestationen von Proliferation und Fabrikation nicht verschwinden, aber ihre starken Schwankungen werden im allgemeinen beträchtlich verringert, wenn man sie nicht Eine Einführung in die tibetische Sicht der natürlichen Großen Vollkommenheit findet sich in: Nyoshul Khenpo und Surya Das, Der Buddha im Inneren. Unterweisungen zur Verwirklichung der natürlichen Großen Vollkommenheit. Freiamt: Arbor, 2005. 22
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ständig nährt und auf sie reagiert. Und zeitweilig können sie sich sogar mehr und mehr abschwächen und sich einfach auflösen. Wie kann es dazu kommen? Wenn wir Achtsamkeit kultivieren und sie immer stabiler und feiner wird, dann ist es die Achtsamkeit selbst, die Fabrikationen als Fabrikationen erkennt, schon während sie entstehen. Unser Gewahrsein beschließt dann, sie nicht weiter zu nähren, indem sich der Geist achtlos und reflexartig in die Gewohnheit verstrickt, sich an diese Erzeugnisse zu heften und immer weiterwuchernde Geschichten darüber zu erfinden. Wenn wir auf diese Weise damit umgehen, dann ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß wir die Machenschaften des Geistes in der Form von Gedanken und Gefühlen, Ideen und Meinungen als das erkennen, was sie sind, als flüchtige Gebilde ohne Substanz, als schlichte Ereignisse im Feld des Gewahrseins, die entstehen und unweigerlich wieder vergehen wie Wolken am Himmel oder etwas auf das Wasser Geschriebenes - beide Vergleiche beschreiben sehr treffend und bildkräftig den unablässigen Tanz des Geistes und die Flüchtigkeit seiner Inhalte. Wenn wir eine Haltung des Nicht-Erzeugens in unsere Übung auf dem Meditationskissen und abseits des Meditationskissens, auf der Yoga-Matte und abseits der Yoga-Matte einbringen können, dann wird uns die geräumige, wissende und mitfühlende Essenz des Geistes besser zugänglich. Aber wie können wir das erreichen? Zunächst einmal, indem wir uns vornehmen, überhaupt nichts zu machen, auch nicht den Gedanken, daß wir jetzt meditieren, und daß wir uns nun unserer Fabrikationen bewußter sein werden ... zwar sind auch diese Gedanken Fabrikationen, aber sie sind zumindest hilfreiche Erzeugnisse. Wir lassen also los, gehen freundlich mit uns um und lassen uns in die Landschaft des Jetzt fallen - mit der sanften, aber doch festen Entschlossenheit, uns nicht ablenken zu lassen, vollkommen aufmerksam zu sein und nichts zu machen. Der zweite Punkt ist ebenso wichtig: Dader Geist trotzdem etwas fabrizieren wird, so sehr wir uns auch vornehmen, es nicht zu tun, beobachten wir diesen Hang zur Fabrikation selbst und erkunden, was diese beobachtende Fähigkeit, was die Fähigkeit, zu wissen, wirklich ist. Die wissende Fähigkeit macht sich mit den Machenschaften vertraut, nicht so sehr durch das Denken, sondern eher durch das Fühlen. Wir erkennen die Proliferationen und die unzähligen Baustellen des Geistes, und wir bemerken, wie leicht wir uns von ihnen einnehmen lassen, wie schnell wir uns emotional in sie verrennen. Wir erkennen, wie rasch wir daran festhalten und Meinungen darüber bilden, seien sie positiv oder negativ, angenehm oder unangenehm. Wenn wir es genau betrachten, so stellt sich heraus, ist all das nur eine Fabrikation. So betrachten wir also, wie die Erzeugnisse des Geistes entstehen und wieder vergehen. Wir verweilen im Gewahrsein selbst, gänzlich jenseits des Denkens, auch jenseits der Gedanken des Beobachtens und Wissens. Wie ruhen augenblicklich in diesem Gewahrsein, und dieser „Augenblick“ ist selbst jenseits der Zeit. Nach und nach treten solche zeitlosen Augenblicke aus dem Hintergrund der Proliferation und der Fabrikation hervor, und wir sehen sie und wissen um sie, weil sie uns immer vertrauter und dadurch sichtbarer und zugänglicher werden. Wir fühlen uns dann ganz natürlich dazu hingezogen, in dem unberührten Frieden und der Klarheit zu verweilen, ganz gleich, was geschieht. Wir haben uns selbst, zumindest zeitweilig, beiseite gestellt, und dadurch liegt der Weg offensichtlich, klar und ohne Hindernisse vor uns, selbst wenn die sprichwörtliche Kacke am Dampfen ist - oder gerade dann, 331
wenn die sprichwörtliche Kacke am Dampfen ist. Und wenn wir uns in einem bestimmten Moment in Fabrikationen verrennen, dann fällt uns vielleicht ein, die Sicherheitsventile zu überprüfen - die im Keller und die im Geist.
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Jede Idealvorstellung von Meditation ist auch nur eine Fabrikation Natürlich ist das, was ich im letzten Kapitel gesagt habe, auch nur eine Ansicht und in mancher Hinsicht eine Idealisierung. Es passiert nur allzuleicht, daß wir die Vorstellung von der Meditationspraxis, unserer eigenen Praxis, idealisieren, uns in Vorstellungen von Errungenschaften und besonderen Bewußtseinszuständen verrennen und dann für Jahre in unseren Ideen und Idealen von der Meditationspraxis steckenbleiben, ohne zu sehen, daß sie selbst riesige Fabrikationen sind. Denn immer wieder steckenzubleiben ist auch nichts anderes als die Übung, solange wir bereit sind, das zu erkennen und durch ständiges Loslassen sowie durch unablässige Freundlichkeit uns selbst gegenüber damit zu arbeiten. Eines ist praktisch sicher: Wir werden zunächst immer wieder steckenbleiben, ganz gleich, was wir tun oder denken, denn das ist die Natur des unerforschten und unterentwickelten Geistes. Wir werden immer wieder Probleme sowie all die anderen Geschichten vom Ich, die unser Geist sich einfallen lassen kann, produzieren. Und sobald wir mit der Meditation anfangen, werden wir uns über die Meditation ebenso Geschichten einfallen lassen wie über alle anderen Dinge in unserem Leben. Das ist nur natürlich, und es muß nicht unbedingt ein Problem darstellen. Wie alle Fabrikationen und Proliferationen des Geistes ist das einfach Teil der Landschaft der Übung. Die Herausforderung, und es ist eine große und unbarmherzige Herausforderung, besteht darin, auch dann achtsam zu bleiben, wenn wir feststecken, oder unsere Achtsamkeit zumindest schnell wider zu erlangen, wenn wir abgeschweift sind und uns unseren zahllosen von Angst und Unsicherheit geprägten tiefsitzenden und geistesabwesenden Gewohnheiten hingegeben haben. Dies ist kein Ideal, es ist harte Arbeit. Es setzt eine Einstellung voraus, die darauf beharrt, daß es keine andere Zeit für uns gibt als das Jetzt, ganz gleich, wie konfliktbeladen oder aufgewühlt wir uns im Moment fühlen. Es gibt einfach keine andere, bessere Gelegenheit, wach zu sein, keine andere, bessere Gelegenheit, gewahr zu sein. Und darum ist es buchstäblich, wie das Sprichwort sagt, jetzt oder nie. Wenn wir uns für das Jetzt entscheiden, dann öffnen wir uns dem Jetzt und verweilen im Gewahrsein selbst. Jetzt können wir handeln - ganz spontan -, in der Landschaft des Jetzt, aus ebendieser Dimension des Seins und Wissens heraus, auf die denkbar einfachste und reinste Weise. So können wir Ganzheit und Weisheit verkörpern, nicht durch Denken oder Fabrikation, sondern weil Ganzheit und Weisheit das sind, was wir bereits sind - unsere H2O-Natur, unsere wahre Natur -, was wir aber traurigerweise immer wieder vergessen.
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Der Große Weg ist gar nicht schwer für jene, die nicht an Vorlieben festhalten. Wenn weder Liebe noch Haß gegenwärtig sind, wird alles klar und unverhüllt. *** Wenn du dich auf dem Einen Weg bewegen willst, dann lehne auch die Welt der Sinne und Ideen nicht ab. In der Tat: Sie ganz zu akzeptieren, ist identisch mit der Erleuchtung. SENGCAN, DER 3. PATRIARCH DES ZEN, IN DER „MEISSELSCHRIFT VOM GLAUBEN AN DEN GEIST“
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Meinst du das ernst? Ich wuchs in New York auf, und dort waren diese Worte damals eine Kampfansage. Man hörte sie ziemlich oft. Jemand sagte etwas Beleidigendes zu jemand anderem, und der Beleidigte sagte dann: „He Mann, meinst du das ernst?“ Und wenn die Antwort lautete: „Ja, ich meine das ernst“, dann ging das Gerangel oder gar eine Schlägerei los. Meinst du das ernst? Eine interessante Herausforderung, besonders für hartgesottene Straßenkinder der fünfziger Jahre. Angesichts dessen, was wir über den Geist und über seine Neigung gesagt haben, Dinge zu fabrizieren, finde ich es interessant, darüber nachzudenken, was wir als Erwachsene mit diesem Satz anfangen können. Wenn man die Angelegenheit im Straßenjargon jener Tage „ernst meinte“, dann hieß das, daß man bereit war, den nächsten Schritt zu tun, also das, was man gesagt hatte, zu bekräftigen. Wenn man es ernst meinte, dann bedeutete das, daß die Angelegenheit für einen konkret geworden war, daß man wirklich an diese Beleidigung glaubte, daß man sie nicht zurücknehmen wollte, und sei es auch nur aus jugendlicher Langeweile oder Gewohnheit. Gewöhnlich war die Aussage eine mit schmutzigen sexuellen Anspielungen gespickte Beschimpfung eines Familienangehörigen des anderen Burschen, gewöhnlich seiner Mutter, und es war etwas, was man sich gegenseitig um die Ohren hauen konnte. Sehr schnell ging es dann gar nicht mehr um die ursprüngliche Beleidigung, sondern eher darum, „ob man es ernst meinte“. „Ja, ich meine es ernst, wenn du es auch ernst meinst ...“ Es gab jedoch eine allgemein akzeptierte Weise, die Sache fallenzulassen, und wenn man diesen Weg einschlug, dann verlor man nicht das Gesicht, weder als der Beleidigte noch als der Beleidigende. Wenn man ganz cool und locker, nonchalant und humorvoll blieb, wenn man der Beleidigung also mit Gleichmut begegnete und sie einfach durch sich hindurchgehen ließ - besonders wenn man selbst die Zielscheibe der Beleidigung war -, dann konnte man sie einfach abtun, weil sie sowieso total dämlich und hirnrissig war, wie der ganze Wortwechsel, und dann war alles okay. Doch wenn einer der beiden die Angelegenheit ernst nahm und sich tatsächlich beleidigen ließ - auch wenn man wußte, daß sie eigentlich nur im Scherz ausgesprochen wurde, und besonders wenn man die Zielscheibe der Beleidigung war -, dann wurde er wütend und wollte dem anderen die Bemerkung über die eigene Mutter oder Schwester heimzahlen. Das war genau das, was die andere Person wollte - sie warf einen Köder aus, um zu sehen, ob man die Fassung verlor. Das Ganze war völlig blödsinnig, aber was sonst sollte man tun, wenn man gegen Ende der Fünfziger an einer Straßenecke herumhing und sich zu Tode langweilte. (Wie man mir erzählt, sind solche Spielchen und Rituale auch heute noch in, auch wenn solche aggressiven Energien heute eher durch Rappen zum Ausdruck gebracht werden, was ein sehr viel kreativerer, poetischerer, nuancierterer und sozial bewußterer Ansatz ist als alles, was uns damals einfiel.) Aber Moment mal! Wenn man es genau betrachtet: Gibt es denn überhaupt etwas, was wir nicht ernst meinen? Wir nehmen so gut wie alles ernst, und indem wir das tun, beißen wir uns fest. Bei unseren jugendlichen Straßenritualen ging es im Grunde darum, mit Anhaften oder Nichtanhaften herumzuspielen. Fiel man auf die Worte und 335
Gedanken herein, die eigentlich nur ein saftiger Köder sein sollten, dann mußte man sich schlagen, um die eigene „Ehre“ zu retten. Aber wenn man sich die Sache nicht zu Herzen nahm, wenn man nicht anbiß, sondern den Köder einfach losließ, dann gab es kein Problem. Unsere Ehre war dann sowieso nie in Frage gestellt. Dieses Ritual, mit dem wir uns damals endlos gegenseitig herausforderten, läßt im Grunde ein tiefes Verständnis für den Sachverhalt erkennen, auf den Soen Sa Nim uns mit den Worten „Sie machen, Sie haben“ hinwies. Ich finde das ziemlich interessant, zumal niemand uns das als einen Weg der Erkundung und der Selbsterkenntnis gelehrt hatte. Das war Selbsteingemachtes aus Washington Heights. Es hat uns vielleicht nicht besonders weit gebracht, aber es war etwas, was weit über unser damaliges Verstehen hinausging, und es hatte etwas, man könnte sagen, Weises. Sie machen Problem, Sie haben Problem. Sie machen Beleidigung, Sie haben Beleidigung. Wir haben unendlich viele Möglichkeiten, uns in Fabrikationen zu verrennen, uns auf irgendein Ereignis festzulegen und etwas Ernstes daraus zu machen, es zu völlig unangemessener Größe aufzublasen. Dies ist der Ursprung von sehr viel Kummer und Besessenheit. Wenn wir eine große Sache aus unseren Wahrnehmungen machen, eine Riesengeschichte, etwa „Er liebt mich nicht“ oder „Sie respektiert mich nicht“ oder „Das hätte nicht geschehen dürfen“ oder „Mein Körper ist nicht attraktiv“ oder „Ich bin ein Versager“ oder „Ich bin der Größte“ oder „Ich bin das Paradebeispiel eines modernen Offiziers“ oder ein „Filmstar“ oder wofür immer Sie sich gerade halten, statt die essentielle Leere/Fülle der Ereignisse zu sehen und in Gleichmut und Akzeptanz in unserem Herzen zu ruhen, in der Integrität des geräumigen, offenherzigen, nichtwählenden Gewahrseins, dann mögen wir recht haben oder nicht, dann mag uns das vergolten werden oder nicht, aber wir werden niemals Frieden finden, wir werden niemals den größeren Zusammenhang sehen, jenseits der großen und kleinen Geschichten, die wir uns selbst erzählen und von denen wir dann vergessen, daß wir sie selbst erfunden, fabriziert haben. Unser „Ich“ wird uns immer die Sicht versperren, wird unser Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen behindern, wird unserem Herzen und unserem Geist sowie unseren Augenblicken im Wege sein. Wenn wir unsere Fabrikationen erkennen, dann können wir sie vielleicht loslassen, ohne uns so häufig von ihnen gefangennehmen zu lassen. Und wenn wir dann doch unvermeidlich auf sie hereinfallen, dann merken wir das vielleicht früher. Das ist eine würdige Herausforderung und eine lohnende Übung. Also lassen Sie sich fragen: „Meinen Sie das etwa ernst?“ Geben Sie acht!
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Arroganz und Anspruchsdenken Weil wir viele Dinge für einen oder zwei Augenblicke kontrollieren können, erzählen wir uns auf subtile Weise ständig Geschichten darüber, wie die Dinge zu laufen haben. Flugzeuge haben gefälligst pünktlich abzufliegen und anzukommen, und natürlich darf mein Flug nicht annulliert werden, da ich schließlich dorthin gelangen muß, wo ich zu einer bestimmten Zeit aus diesem oder jedem Grund zu sein habe. Spüren Sie, wie gehetzt und egozentrisch diese Einstellung ist? Von anderen Menschen erwarten wir, daß sie zuverlässig sind und das tun, was sie zugesagt haben, ganz besonders, wenn sie mit mir zu tun haben. Bei Investitionen muß natürlich der Wert steigen. Es ist klar, daß Kinder sicher sein müssen. Und unser Körper hat gefälligst gesund zu bleiben, wenn wir uns richtig ernähren und etwas für unsere Fitneß tun. Je mehr Dinge eine Zeitlang so laufen, wie wir es uns vorstellen, desto zuversichtlicher glauben wir daran, daß es genau so sein muß. Und wenn die Dinge dann mal nicht wie gewünscht laufen – was früher oder später immer der Fall sein wird –, dann kann es sein, daß wir verärgert, enttäuscht, deprimiert oder total fertig sind und dabei vergessen, daß der Lauf der Dinge sich noch nie nach uns gerichtet hat. Wie unser Leben sich entfaltet, das entspricht praktisch niemals unseren Vorstellungen davon, wie es sein sollte. Wir haben das Leben nie ganz unter Kontrolle. Dennoch beharren wir darauf, zu denken, daß die Dinge auf eine bestimmte Weise sein sollten, daß wir es nicht verdient haben, diesen Verlust oder jene Beschämung zu erleiden, daß man uns auf eine bestimmte Weise zu behandeln hat und ganz gewiß nicht so! Wir meinen, die Welt müsse so oder so sein, es dürfe keine Kriege und keine Erdbeben geben. Und je mächtiger wir sind, was unseren Status in einer Organisation oder in der Gesellschaft oder auch in der Gesellschaft in unserem eigenen Kopf angeht, desto anfälliger werden wir für den Glauben an unsere eigene Unfehlbarkeit, für eine Arroganz, die vergißt, daß alle Dinge sich auf eine Weise verändern, die nicht mit Gewißheit vorhersagbar ist, daß nichts für lange Zeit feststeht und wir alle dem Gesetz der Vergänglichkeit unterworfen sind. Das ist eigentlich eine ganz einfache und elegante Einsicht. Wenn wir sie nicht vergessen, dann könnte sie unserem Hang zu Arroganz und Selbstüberschätzung entgegenwirken und uns helfen, mehr in Einklang mit dem Dharma zu leben, mit dem Dao, mit der Gesetzmäßigkeit aller Dinge, insbesondere im Angesicht von Schwierigkeiten, von Dukkha und von Angst. Was immer die Umstände im einzelnen sind - und es sind die Einzelheiten, die immer am schwersten zu akzeptieren sind, weil wir im allgemeinen wissen, daß die Dinge sich auf eine Art und Weise entfalten, die nur eine vage Ähnlichkeit mit unseren Phantasien und Ängsten hat -, bei näherem Hinsehen stellt sich immer heraus, daß das alles nur eine Geschichte war, die wir am Ende uns selbst erzählt haben, wenn vielleicht auch unbewußt, und daß diese Geschichte, diese nicht hinterfragten Bilder und Ströme von Gefühlen uns in eine alles durchdringende Unbewußtheit hineinlocken, gerade dann, wenn wir es am nötigsten bräuchten, bei Sinnen zu bleiben. Wir lassen uns verführen von der Erscheinung der Dinge und geraten in den Bann des Samsāra, der Māyā - das sind Sanskrit-Begriffe für das illusorische Spiel einer sinnlichen Welt, die wir nicht klar wahrnehmen und verstehen und von der wir allzuleicht in eine Trance der Verblendung und Illusion versetzt werden, wozu auch die Träume von Unsterblichkeit 337
und Allmacht unseres „kleinen“ Ich gehören. Zweifellos ist es so, daß Glück und harte Arbeit zusammenkommen können, um ein greifbares Gefühl der Stabilität, des „Fortschritts“ in unserem persönlichen und unserem beruflichen Leben und, wenn wir großes Glück haben, sogar in beiden zu erzeugen, und oft tun sie das auch, besonders wenn wir in einer stabilen Gesellschaft vielfältiger Möglichkeiten leben, in der es weitgehend wohlwollende Gesetze gibt, die das Leben und die Freiheit des Individuums achten. In vielen sogenannten Entwicklungsländern liegen die Dinge ganz und gar nicht so und sind ganz offensichtlich viel chaotischer. Aber in den sogenannten entwickelten Ländern kann es oft für lange Zeit so aussehen, als liefen die Dinge „nach Plan“, besonders während Perioden, die als „Frieden“ gelten. Doch das subtile Gefühl der Befriedigung darüber, daß die Dinge immer wieder „richtig laufen“, kann zu einer großen Selbsttäuschung werden, wenn es allmählich zu einem Gefühl der Selbstzufriedenheit und zu einem Anspruchsdenken wird, nur weil die Dinge sich bis jetzt so entwickelt haben, wie sie sollten. Dann laufen wir Gefahr, ein böses Erwachen zu erleben, wenn die Dinge sich so verändern, daß sie nicht mehr mit unserem Szenario übereinstimmen, mit unseren Entwürfen davon, wie die Dinge in dieser Welt zu sein haben - wenn wir uns vom Schlaf haben übermannen lassen. Wenn wir uns plötzlich damit konfrontiert sehen, daß die Dinge nicht so sind, wie wir gedacht, erhofft, erwartet, verlangt haben, wie wir es uns ausgerechnet haben, sei es auf der persönlichen oder auf der beruflichen Ebene, dann ist das in der Tat ein deutlicher Weckruf und vielleicht ein sehr böses und schmerzliches Erwachen. Wir entdecken, daß die Dinge nicht immer so waren, wie wir gedacht hatten, und daß sie es die ganze Zeit nicht gewesen sind. Ja, vielleicht waren sie niemals so. Es mag nur für ein Weilchen so ausgesehen haben, als wären sie es. Das Ganze war eine Maskerade, an der wir uns nur allzugern beteiligt haben. Vielleicht haben wir uns selbst getäuscht, als Individuen oder als Gesellschaft oder beides, denn das kann in Gesellschaften genauso passieren wie in Familien. Wenn unsere Laufbahn auf diesem Planeten nicht unsanft abgekürzt wird, dann werden wir, ob wir es mögen oder nicht und ob wir uns damit arrangieren können oder nicht, unweigerlich alt werden, und zwar oft auf eine Art und Weise, die in unserem Szenario für den Lauf der Dinge nicht vorgesehen war. Wir können zum Beispiel unseren Verstand langsam, aber unaufhaltsam an die Alzheimer-Krankheit verlieren oder unseren Körper an irgendeine andere entsetzliche Krankheit. Wir mögen Menschen auf eine Art und Weise verlieren, die wir uns niemals vorgestellt haben. Wir sterben Tode, die nicht mit unseren Wunschträumen übereinstimmen. Der Aktienmarkt mag in den Keller gehen, nachdem er für Jahre geboomt hat - aus Gründen, die gewiß nicht ganz gesund waren ... aber wo zum Teufel kann man schon so schnell so viel Geld machen? Gewinnsucht, Wirtschaftskriminalität und unethisches Verhalten werden als systemimmanent entlarvt in Unternehmen, die jährlich Milliarden ausgeben, um ein Bild ihrer eigenen Makellosigkeit und Unfehlbarkeit zu erzeugen, und wir sind schockiert. Und dennoch: Schon am nächsten Tag oder im Jahr darauf ist alles wieder vergessen. Die wiederkehrenden Weckrufe machen nur noch deutlicher, daß wir chronisch schlafwandeln. Darum erwischt es uns in einem Traum, an den wir glauben und in dem wir leben, in den wir unsere Gefühle investiert haben und den wir gar nicht durchschauen möchten, weil wir persönlich so sehr an diesem Traum hängen, besonders 338
wenn es ein schöner Traum ist. Eine gewisse subtile oder vielleicht auch nicht so subtile Arroganz mag sich in unser Herz eingeschlichen haben, weil wir es für unser eigenes inneres Leben einfach so haben wollen, daß die Dinge so sind, wie wir es uns wünschen und wofür wir gearbeitet haben, wie wir es uns ausgemalt und es uns erträumt haben. Ein feiner Nebel des Anspruchsdenkens mag sich ausgebreitet und alles in eine Decke des Glaubens eingehüllt haben, daß die Dinge für mich und die Meinen schon so laufen werden, wie geplant und erhofft. Und dann plötzlich, in einem Moment der Offenbarung, ändern sich die Dinge, und wir sehen, daß sie, in den Worten des ZenMeisters Shunryū Suzuki, „nicht immer so“ sind. Wir sehen, wie sehr wir mit Blindheit geschlagen waren - aufgrund unseres Hängens an Gewißheit, aufgrund der Bequemlichkeit, daß die Dinge für eine ganze Weile so gelaufen sind, wie wir es uns gewünscht haben, oder weil wir einfach in der Illusion gelebt haben, daß sie so gelaufen sind, auch wenn das nicht der Fall war. Wenn wir einmal ein böses Erwachen erlebt haben oder von irgendeinem anderen Pfad aufgeweckt wurden, dann besteht die wahre Herausforderung darin, nicht wieder einzuschlafen und in ständige Ablehnung und Schuldzuweisung abzutrudeln sowie in die Alpträume, zu denen diese sich weiterentwickeln. Denn die Gewohnheit, zu schlafen, die Verlockung des Samsāra, ist stark, und es braucht große Entschlossenheit und Wachheit, um ihr entgegenwirken zu können. Hier soll niemand angeklagt werden. Es ist unvermeidlich, daß wir uns in unsere eigenen Träume verstricken, insbesondere wenn die ganze Gesellschaft sich verschworen hat, sich selbst nur eine Seite ihres Gesichts zu zeigen, und die andere Seite verleugnet wird. Doch wir können auch aus diesen Träumen zu etwas Größerem und Wahrerem aufwachen, das deshalb letztlich heilender ist, auch wenn es schmerzlicher sein mag. Um aufwachen zu können, müssen wir von einem Festhalten, dessen wir uns vielleicht kaum bewußt gewesen sind, ablassen zugunsten einer umfassenderen, wahreren, nüchterneren Sicht, die aber auch wirklicher ist und deshalb befreiend. Sie ist ein Ort, an dem wir wohnen und von dem aus wir der Welt auf völlig angemessene Weise begegnen können, jetzt entweder ohne Illusionen - was für uns fast unmöglich sein mag, wenn wir auch die subtileren Illusionen mit einbeziehen -, oder indem wir unserer Illusionen, wenn sie sich einschleichen, wenigstens ziemlich bald gewahr werden. Dieses „Größere“, die umfassendere Sicht, muß eine grundlegende Anerkennung der Tatsache einschließen, daß die Angst und die Not für den Menschen zunimmt, wenn er sich an etwas festhält, um seine eigene Befriedigung zu erreichen, statt sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern. Dieses Größere enthält auch die Anerkennung der Tatsache, daß Dinge, von denen wir uns wünschen, sie möchten gleichbleiben, und an denen wir festhalten, sich unweigerlich wandeln werden, und daß Dinge, von denen wir uns sehnlichst wünschen, sie möchten sich ändern, stagnieren und sich dem Wandel widersetzen, solange wir versuchen, sie mit Gewalt nach unseren Wünschen zu verändern. Außerdem gehört auch die Anerkennung der Tatsache dazu, daß die „Gesetze“, die diese Ereignisse vorantreiben, grundsätzlich unpersönlich sind und mit Ursachen und Bedingungen zu tun haben, die oft von unserer kollektiven Gier, unserem Haß und unserer Unwissenheit beeinflußt sind sowie von unserer selbstgefälligen Verblendung und unserem geheimen Einverständnis. Und schließlich gehört die Anerkennung der Tatsache dazu, daß diese 339
sich ständig verändernden Ursachen und Bedingungen unsere reaktiven Phasenwechsel antreiben, während sie gleichzeitig unsere essentielle Natur verschleiern, die größer und grundlegender ist als jeder der Schlafzustände, in die wir fallen können. Wir müssen nicht wieder einschlafen, wenn wir es geschafft haben aufzuwachen, aber ohne daß wir irgendeine Art der Achtsamkeitspraxis pflegen, ist es eher wahrscheinlich, daß wir uns dann, wenn die Umstände entsprechend sind, erneut in einen hübschen Traum hineinlocken lassen und wieder vergessen. Wenn wir jedoch üben, wach zu bleiben, dann haben wir eine größere Chance, unsere Kurzsichtigkeit zu erkennen und etwas dagegen zu unternehmen. Wir können nicht nur die Rosen riechen, sondern auch den Geruch unserer eigenen Arroganz und unseres Anspruchsdenkens, die sich wieder einschleichen, wie subtil auch immer. Wenn wir das tun, dann sind wir relativ schnell zur Besinnung gekommen und können bei den Dingen bleiben, wie sie wirklich sind. Wir dürfen Vertrauen in unsere eigene Geistesgegenwart und in unser Herz setzen, wenn der Geist und das Herz sich keine Geschichten mehr zu erzählen brauchen, sondern einfach verfügbar sein können, wenn sie im Gewahrsein offenbleiben sowie furchtlos und liebevoll handeln können, ohne Erwartungen, aus dem Gewahrsein heraus, angesichts der Dinge, wie sie genau jetzt wirklich sind. ... du weißt, der Sproß ist im Samen verborgen. Wir alle ringen noch; keiner von uns ist weit gegangen. Laß deine Arroganz gehen und sieh dich um im Inneren. Der blaue Himmel öffnet sich weiter und weiter, das tägliche Gefühl des Versagens schwindet, der Schaden, den ich mir selber angetan, verblaßt, Millionen Sonnen brechen hervor mit ihrem Licht, wenn ich gefestigt sitze in jener Welt. KABIR (nach der englischen Übertragung von Robert Bly)
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Tod Da die Vergänglichkeit in unseren Erkundungen ein ständiges Thema gewesen ist, betrachten Sie noch einmal einen Augenblick lang die Flüchtigkeit des Lebens. Unser Körper, eine quantisierte Kondensation vitalen Protoplasmas, das komplexeste und differenzierteste Konglomerat von Masse und Energie, das wir in diesem Universum kennen, entsteht und vergeht wieder. Und mit seinem Vergehen verblassen und verschwinden die Details jedes individuellen Lebens und seines persönlichen Ausdrucks. Was bleibt, sind die Fotos, die privaten Videos, die Erinnerungen, die kleinen Triumphe und Gesten, die Geschichten, an die wir, die wir noch hier sind, uns erinnern oder die wir uns in aller Stille über das erzählen, was jemand war oder nicht war. Und auch die Geschichten über die verpaßten Momente: über das, was hätte geschehen können, aber nicht geschah, was hätte sein können, aber nicht war. Und doch geht das Leben selbst weiter, das pulsierende, vernetzte System, in das alle Organismen eingebunden sind. In einem sehr wirklichen Sinne ist der Körper nur ein Vehikel für die Weitergabe der Gene in verschiedenen Kombinationen, die ihr Überleben unter sich wandelnden Bedingungen garantieren. Wir glauben, wir haben die Kontrolle, aber unsere Gene haben ihr eigenes Leben. Und während wir ein relativ kurzes Leben haben, ist das ihre unermeßlich viel länger. Man könnte uns Organismen als bloßes Nebenprodukt ihres Herumkommens in der Welt betrachten. Richard Dawkins' treffsicherer Begriff für diese Perspektive ist das „egoistische Gen“. Wer redet da von Leere! O Dunkel, Dunkel, Dunkel. Sie alle gehen ins Dunkel, die leeren interstellaren Räume, das Leere in das Leere, die Kapitäne, Händler, Banker, die berühmten Literaten, die großzügigen Kunstmäzene, die Staatsmänner und die Herrscher, würdige Staatsdiener, die Vorsitzenden der vielen Ausschüsse, Industriemagnaten und Kleinunternehmer, sie alle gehen ins Dunkel .. . Und wir alle gehen mit ihnen ... T. S. ELIOT, Four Quartets, „EAST COKER“
Jetzt sind alle meine Lehrer tot, außer der Stille. W. S. MERWIN
All die prominenten Wissenschaftler einer früheren Generation, die dazu beigetragen haben, die Molekularbiologie zu prägen, als ich noch Student war, sind heute tot, pensioniert oder stehen kurz vor der Pensionierung, auch wenn sie im 341
allgemeinen bis in ihre Siebziger oder Achtziger gearbeitet haben. Ihre Hinterlassenschaft lebt weiter, wenn auch immer häufiger in anonymer Form. Ihr im Laufe einer lebenslangen Karriere hart erarbeitetes Wissen gab den folgenden Generationen von Wissenschaftlern Nahrung und lieferte die Basis für das, was sich in den Laboratorien heute entfaltet. Meine Lehrer staunten über die Geschwindigkeit, mit der es zu neuen Einsichten kam, und über den Grad der Automatisierung bei der Manipulation von Genen, die in den Laboratorien rund um die Welt heute an der Tagesordnung ist. Und ich denke mir, sie würden vielleicht zusammenzucken und schlucken angesichts des ethischen Dilemmas, in dem sich der menschliche Geist, der in mancher Hinsicht so bewundernswert fortgeschritten ist, in vieler anderer dagegen moralisch und auch emotional unterentwickelt, ja geradezu infantil ist, heute befindet, da er so nahe daran ist, in einem Ausmaß in die Gestaltung des Lebens einzugreifen, wie das bisher noch nie möglich gewesen ist. Ich habe gesehen, wie Wissenschaftlern - bildlich gesprochen - das Wasser im Munde zusammenlief angesichts der Möglichkeit der Verlängerung des Lebens, wenn nicht gar der Unsterblichkeit, durch die Isolation und Manipulation von sogenannten Alterungsgenen, jener Strecken von DNS im Genom, die die Langlebigkeit von Spezies zu beeinflussen scheinen. Manche von ihnen bezeichnen das Altern in der Tat als eine möglicherweise heilbare Krankheit. Ich schätze, wir alle kennen Momente, in denen wir uns nach Unsterblichkeit sehnen, um für immer weiterleben zu können. Doch in welcher Form? In welchem Alter? Und was würde das uns selbst, andere und diesen Planeten kosten? Wir haben noch nie mit solchen Aussichten umgehen müssen, und der bisherige Lauf der Geschichte läßt vermuten, daß wir kaum dafür gerüstet sind. Aber wir werden uns vielleicht schon bald gezwungen sehen, die Tiefen des Geistes auf sein Weisheitspotential hin auszuloten, wenn wir nicht alle zusammen die ungeahnten Konsequenzen unseres Handels erleiden wollen, Konsequenzen von möglicherweise prometheischen Ausmaßen. Einige Biologen gewannen unlängst den Nobelpreis dafür, daß sie Mechanismen der Apapotose, also des programmierten Zelltodes, erhellt haben. Denn was die meisten von uns nicht wissen: Der Tod ist tatsächlich genetisch in das Leben einprogrammiert. Viele unserer völlig gesunden Zellen müssen in der Tat sterben, damit der Gesamtorganismus wachsen und sich optimieren kann. Zu diesem selektiven Zelltod kommt es bereits, während unsere Gliedmaßen und unsere Organe sich im Mutterleib heranbilden, und dieses Zellsterben setzt sich während unseres gesamten Lebens fort. Ja, es ist für unser Leben absolut notwendig, daß viele unserer Zellen sterben, und daß sie wissen, wann sie sterben müssen. Unsterblichkeit auf der Ebene der Zellen ist Krebs. Krebszellen verstehen die Botschaft nicht, daß dieses Wachsen und Sichteilen im Dienste eines größeren Ganzen steht und deshalb moduliert, nach Bedarf reguliert und unter flexibler Kontrolle gehalten werden muß. In unterschiedlichen Größenordnungen leben in der Tat all unsere Zellen für eine gewisse Zeit und sterben dann, um durch neue Zellen ersetzt zu werden. Das trifft für unsere Haut und die Auskleidung unseres Magens und Darms zu, für die Muskeln sowie für Nerven-, Blut- und Knochenzellen. Da gibt es ein ständiges Annehmen von Form und Wiederverlieren von Form. Ohne das Wiederverlieren kann es kein Kommen oder Werden geben. Vielleicht versuchen selbst unsere Zellen uns zu sagen, daß der Tod keine so schlimme Sache ist und nichts, 342
was wir fürchten müßten. Vielleicht ist unser Wissen um den Tod, unsere Fähigkeit, seine Unausweichlichkeit vorauszusagen, während wir gleichzeitig nicht wissen, wann seine Zeit kommen wird, gerade unser Antrieb, zu unserem Leben zu erwachen, es, solange wir noch können, in vollen Zügen, leidenschaftlich, weise, liebevoll und freudig zu leben. Denn wir sterben jeden Tag ein wenig, genauso, wie wir jeden Tag ein wenig geboren werden. Wir sterben mit jeder Ausatmung, nur um mit der nächsten Einatmung ins Leben zurückgeatmet zu werden. Wir sind schon von Anfang an gestorben. Dieses Sterben fegt unser Haus aus und schafft Platz für etwas Neues. Und so können wir, wenn wir gewahr sind, wenn wir uns auf diese neue Perspektive einstellen, fortfahren, in uns selbst hineinzuwachsen, in den Sinn und in die Fülle, indem wir auf das aufbauen, was wir bereits sind, indem wir dort beginnen, wo wir bereits sind, und indem wir wissen, daß dies bereits es ist. Und aus der umfassenderen Perspektive der Ganzheit gesehen, indem wir wissen, daß es niemals besser wird, als es jetzt ist, weil alles immer jetzt ist. Denken Sie an die Worte von Kabir: Freund, hoffe auf den Gast, während du lebst. Spring hinein in die Erfahrung, während du lebst. Denke ... und denke ... während du lebst. Was du „Erlösung“ nennst, gehört in die Zeit vor deinem Tod. Wenn du deine Fesseln nicht sprengst, während du noch am Leben bist, glaubst du denn, die Geister würden das nachher für dich tun? Die Vorstellung, daß die Seele sich mit dem Ekstatischen verbinden wird, nur weil der Körper verrottet ist das ist alles Phantasie. Was du jetzt findest, das findest du dann. Wenn du jetzt nichts findest, dann endest du einfach in einer Wohnung in der Stadt des Todes. Wenn du dich jetzt in Liebe mit dem Göttlichen vereinst, wirst du im nächsten Leben die Befriedigung all deiner Wünsche auf dem Antlitz tragen ... KABIR (nach der englischen Übertragung von Robert Bly)
Mit dem Abschied von dieser seltsamen Welt ist er mir nun ein wenig vorausgegangen. Das ist nicht von Bedeutung. Für uns gläubige Physiker hat die Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer Illusion, wenn auch einer hartnäckigen.
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ALBERT EINSTEIN, ALS ER VOM TOD SEINES ENGEN FREUNDES MICHELANGELO BESSO ERFUHR.
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Stirb, bevor du stirbst Als ich meine Dissertation schrieb, wollte ich darin zumindest einen Hinweis auf den existentiellen Kampf hinterlassen, den sie für mich bedeutet hatte, sowie auf meine Entdeckung von Yoga und Meditation, die so befreiend und lebensrettend für mich gewesen waren. So schrieb ich auf einer extra Seite gleich nach der Titelseite den geheimnisvollen Satz: „Wer stirbt, bevor er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt.“ Ich weiß nicht einmal mehr, woher ich diesen Satz hatte. Die Prüfungskommission für meine mündliche Prüfung bestand aus sechs Männern und Frauen, alle zwischen Ende Vierzig und Ende Fünfzig, alle bemerkenswert kreative Menschen. Sie waren Leuchten der Wissenschaft an der vordersten Front der Molekularbiologie. Die meisten von ihnen waren Mitglieder der angesehenen National Academy of Sciences, darunter auch mein Doktorvater Salvador Luria, der 1969 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie erhalten hatte, und zwar für seine schon Jahrzehnte zuvor in Zusammenarbeit mit dem Physiker Max Delbrück durchgeführte, überaus einfallsreiche statistische Arbeit, durch die er den Beweis geliefert hatte, daß Mutationen in Bakterien spontan und zufällig auftreten. Zu meinem Erstaunen ging es dann im ersten Teil meiner mündlichen Prüfung nicht um den Inhalt meiner Doktorarbeit und um die Experimente, die ich durchgeführt hatte, sondern um den Aphorismus. Jemand begann mit einer Frage dazu, vielleicht nur, damit ich mich vor Beginn der eigentlichen Prüfung ein wenig entspannte. Aber eine Frage führte zur nächsten, und die Fragen der Prüfungskommission ließen echte Neugier erkennen. Es war deutlich, daß diese Wissenschaftler wissen wollten, was der Satz bedeutete und warum ich ihn meiner Dissertation vorangestellt hatte. Auf ihr Drängen hin erklärte ich, daß das „Sterben, bevor man stirbt“ sich für mich auf den Tod des Festhaltens an einer engstirnigen Sicht des Lebens bezieht, einer Sicht, die sich um das Ego dreht, diese von sich selbst eingenommene und selber konstruierte GeschichtenOptik, durch die wir alles innerhalb des aufgeblähten Kontexts unserer eigenen selbstbezogenen Gewohnheit ansehen und uns selbst als das unbestreitbare Zentrum des Universums betrachten, auch wenn wir das vielleicht nicht zugeben möchten. Sterben, bevor man stirbt, das bedeutet, zu einer größeren Wirklichkeit zu erwachen, die jenseits der kleinlichen Sicht des eigenen Egos und seiner Selbstbespiegelung liegt, einer Wirklichkeit, die uns von unseren begrenzten Ideen und Meinungen und zutiefst konditionierten Vorlieben und Abneigungen verschleiert wird, besonders wenn diese nicht hinterfragt werden. Es bedeutet, bewußt zu werden, aber nicht im Sinne eines intellektuellen Wissens, sondern mehr im Sinne eines direkten Fühlens, wobei wir uns der flüchtigen Natur des Lebens und all unserer Beziehungen und der letztlich unpersönlichen Natur des Lebens bewußt bleiben. Innerhalb eines solchen Koordinatensystems könnte man sich dann - in dem Ausmaß, in dem man damit umzugehen vermag - bewußt dazu entschließen, außerhalb des von Routine diktierten Automatismus zu leben, der uns so oft durch engstirnige Ambitionen und Ängste verführt, uns damit taub macht für die Schönheit und das Geheimnis des Lebens (selbst 345
als Biologe) und davon abhält, höchst kreativ die tiefe Natur der Dinge zu untersuchen, einschließlich unserer selbst (selbst als Naturwissenschaftler), die hinter all den Oberflächenerscheinungen liegt, wie auch hinter den Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Ich kann mich heute natürlich nicht mehr erinnern, was ich damals gesagt habe - aber im wesentlichen ging es in diese Richtung. Was nun „nicht sterben, wenn man stirbt“ angeht, so fuhr ich fort, so bedeute es für mich folgendes: Wenn man ein waches Leben führt, während man noch am Leben ist, und die sich unablässig selbst aufbauende Ego-Energie beobachtet, ohne sich in sie zu verstricken, dann kommt man zu der Einsicht, daß diese überwältigend dominante Selbstbezüglichkeit ein unzutreffendes und im Grunde leeres Konstrukt ist, und daß es, genaugenommen, kein Ich gibt, das sterben könnte. Was stirbt, wenn man stirbt, bevor man stirbt, ist die Vorstellung von einem separaten, konkreten, isolierten Ich. Hat man das einmal erkannt, dann gibt es zu keiner Zeit einen Tod, außer als Vorstellung im Geist, und auch niemanden, der stirbt. Darum sprach der Buddha von der Befreiung als dem „Todlosen“. Ich bin mir sicher, daß ich auf ihre Fragen damals im Alter von siebenundzwanzig Jahren zwar mit großer Ehrlichkeit antwortete, im Rückblick aber wahrscheinlich auch mit einem Ernst und einer Selbstgewißheit, die, wenn sie nicht schierer Arroganz entsprang, so doch zumindest daran grenzten. Ich lief unter diesen Umständen sicherlich Gefahr, einer Anhaftung zu verfallen, nämlich an die Sichtweise, die ich da mit einer solchen Überzeugung predigte. Ich war auf etwas gestoßen, hatte durch Experimente einer anderen Art etwas entdeckt, das weit außerhalb der Grenzen der Realität lag, auf die sich diese Menschen geeinigt hatten (oder zumindest glaubte ich das), und das natürlich jenseits des Horizonts jenes Anlasses lag, zu dem wir uns an diesem Tag versammelt hatten. Ich war während meiner Ausbildung irgendwie in die Meditation und den Yoga hineingestolpert und hatte ein leidenschaftliches Interesse an den Möglichkeiten entwickelt, die diese Disziplinen mir offenbart hatten. Zudem hatte ich nicht das Gefühl, daß diese Methoden zur Erforschung der Wirklichkeit einen Bereich beschrieben, der gänzlich jenseits der Grenzen der Wissenschaft lag. Ganz und gar nicht. Allerdings lagen Meditation und Yoga ganz offensichtlich mehr als nur ein wenig von dem klar umrissenen Pfad der Molekularbiologie und dem Thema meiner Forschungsarbeit für die Dissertation entfernt. Als also das Thema jenes Eröffnungszitats angesprochen wurde, hoffte ich wohl trotz des ungewöhnlichen Rahmens tief in meinem Herzen, meinen Mentoren die Sache auf eine Art und Weise erklären zu können, die sie verstehen würden. Vielleicht war dies sogar ein unbewußtes Motiv hinter meinem Einfall, den Aphorismus dort hinzuschreiben, während der Hauptgrund wohl eine sehr deutliche Ahnung war, daß die Vollendung dieser Lebensphase meiner akademischen Ausbildung an sich ein Tod und eine Wiedergeburt war. Der Satz stand dort, weil ich mich selbst daran erinnern wollte (ein interessanter Satz, nicht wahr?), welche Mühen und Prüfungen zu jener Zeit mit dieser Arbeit verbunden gewesen waren, und daß ich nicht an dem festhalten mußte, was diese Arbeit bedeutete, sondern dafür sterben konnte. Allein schon eine solche philosophische Diskussion im Kontext einer mündlichen Prüfung an der biologischen Fakultät des Massachusetts Institute of Technology (MIT) 346
zu führen, war etwas ausgesprochen Ungewöhnliches. Und daß gerade die Männer in der Prüfungskommission, die den größten Teil der Diskussion führten, überhaupt daran interessiert waren und darüber sprechen wollten, erstaunte mich sehr, denn sie waren, soweit ich sie kannte, und ich kannte sie ziemlich gut, zuerst und vor allem waschechte Rationalisten. Ich schrieb es der Tatsache zu, daß sie alle in einem Alter waren, in dem sie bereits den Löwenanteil dessen, was sie der Welt durch ihre wissenschaftliche Arbeit zu schenken vermochten, erledigt hatten, und sie sich stärker ihres Alterns und ihrer eigenen Sterblichkeit bewußt geworden waren. Irgendwie forderte dieser poetische Satz über das Sterben, bevor man stirbt, und die Tatsache, daß er ihnen am Anfang der Forschungsarbeit eines Studenten präsentiert wurde, den sie gut kannten, ihr Interesse und vielleicht auch ihr Ego heraus. Ich nehme an, sie hatten bereits entschieden, daß die Doktorarbeit gut genug war, um angenommen zu werden, solange ich nur im Detail intelligent darüber reden könnte, und waren deshalb vielleicht ein wenig entspannter, als sie es unter anderen Umständen wahrscheinlich gewesen wären, so daß sie sich die Zeit nahmen, über etwas zu diskutieren, daß mit dem Gegenstand der Prüfung so wenig zu tun hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten unseres Gesprächs. Zweifellos lag so etwas wie amüsierte Nachsicht in der Luft, und vielleicht gab es auch ein gewisses höfliches Stirnrunzeln über meine Antworten, aber es waren ihre zahlreichen Fragen, die unsere Diskussion verlängerten und mir deutlich machten, daß sie tatsächlich über das Sterben vor dem Sterben reden wollten. Nach einer Weile wandten sie sich dann den eigentlichen Prüfungsfragen zu. Das war 1971. Heute, mehr als dreißig Jahre danach, ist Salva Luria längst verstorben, und ich bin älter, als jeder von ihnen es zu jener Zeit war. Es gab eine tiefe Zuneigung zwischen Salva und mir. Allerdings hatte unsere Beziehung etwas von der Strenge der Beziehung zwischen einem Vater und seinem rebellischen Sohn, und eine gewisse Heftigkeit, weil er offensichtlich nicht mit dem Lebensweg einverstanden war, den ich einzuschlagen begann und den er nicht verstand. In Wahrheit war es so, daß ich ihn ziemlich häufig wahnsinnig machte, und das aus sehr verständlichen Gründen, wenn man bedenkt, wer er war und wer ich war. Jahre später war er so großzügig, die erste Fassung meines Buchs Gesund durch Meditation zu lesen. Um mit ihm im Gespräch bleiben zu können, hatte ich ihn um sein kritisches Urteil gebeten sowie um Rat, wie ich das Buch verbessern könnte. Und als er schließlich an Krebs erkrankte, fragte er mich, ob ich nicht vorbeikommen könnte, um ihn ein bißchen Meditation zu lehren. Wir machten in dem Jahr, bevor er starb, zusammen einige Sitzungen in seinem Heim (zu jener Zeit wohnte er ganz in meiner Nähe), aber soweit ich weiß, ist er nie wirklich mit der Meditation warm geworden oder hat sie intuitiv begriffen. Also sah ich auf meinem Heimweg einfach ab und zu bei ihm vorbei, um etwas mit ihm zu plaudern und mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Zu jener Zeit war unsere Beziehung nur noch freundschaftlich. Ich brauchte weitere dreißig Jahre, um klar zu sehen, daß ich zur Zeit meiner mündlichen Prüfung hauptsächlich Konzepte vertreten hatte, auch wenn das, was ich damals sagte, auf meiner Übung und meinen anfänglichen Erfahrungen und Einsichten beruhte. Es waren schöne Konzepte, gute Konzepte, hilfreiche Konzepte - Konzepte, die mir halfen, zu praktizieren und die existentiellen Umbrüche zu verkraften, durch die 347
ich damals ging. Aber es waren nichtsdestoweniger Konzepte. Es sollte sich herausstellen, daß dieses Sterben vor dem Sterben wesentlich schwieriger war, als ich gedacht hatte, und daß es sehr viel tiefgründiger war, als das, was ich zu jenem Zeitpunkt selber geschmeckt hatte. Und natürlich trifft das heute immer noch zu. Was glauben Sie, warum? Während man auf den Horizont zugeht, stellt man fest, daß er stets zurückweicht. Er ist kein Ort, an dem man ankommen kann. Es scheint immer irgendeinen Aspekt des Selbst zu geben, der hartnäckig an seiner eigenen kleinen Geschichte von „ich, mich und mein“ festhält. Eine Meditationspraxis oder eine sogenannte „spirituelle“ Einstellung ist keine Garantie für Immunität gegenüber Anhaftung und damit Verblendung. Es geschieht nur allzuleicht, daß die Gewohnheit des Anhaftens nur zu einer anderen Klasse von Konzepten und Phantasien übergeht. In spirituellen Gemeinschaften ist die Gefahr besonders groß, daß man dem selbstgefälligen Glauben anheimfällt, daß die eigene Sicht des Pfades die beste Sicht sei, daß die eigene Tradition und die eigenen Lehrer die besten seien, und so weiter und so weiter. Auch als Individuum geht man leicht in diese Falle, und es ist schwer, sich wieder daraus zu befreien. Wie ich es sehe, besteht die Herausforderung darin, bereits das Entstehen einer solchen Geschichte zu bemerken, wie subtil sie auch sein mag, was ihr Inhalt auch immer sein mag, heilig oder profan, sie als Teil unserer Übung als das zu erkennen, was sie ist, als eine weitere Fabrikation des Geistes. Entweder wir vermeiden ganz, uns in die Geschichte zu verstricken, oder wir ertappen uns rasch und elegant dabei, wie wir uns verrennen, und lachen herzhaft darüber. Wenn wir im Gewahrsein verweilen, dann ist das Sterben schon in diesem Moment geschehen, und das Wissen um einen solchen Moment geht weit über alle Konzepte und Worte hinaus, wie bedeutungsschwer und nützlich sie auch sein mögen. Sobald wir dies wissen, werden Worte und Konzepte sehr machtvoll - denn wir wissen, sie zu gebrauchen, und wissen, wo sie nichts mehr zu suchen haben. Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, „SELIGE SEHNSUCHT“
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Stirb, bevor du stirbst (II) Zu der Zeit, als ich mein Rigorosum machte, hatte ich schon etwa fünf Jahre lang Meditation in der Tradition des Zen praktiziert. Zu meiner ersten Begegnung mit dem Zen war es, und das ist wirklich eine Ironie des Schicksals, im Jahr 1966 ebenfalls am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gekommen. Als ich eines Tages einen der endlosen, in zwei Grüntönen gestrichenen Korridore des Instituts entlangging, fiel mein Auge auf einen Zettel an einem der Schwarzen Bretter, die sich an den Wänden dieser Korridore fanden. Ich war damals ziemlich durcheinander und fühlte mich an diesem Ort eigentlich fehl am Platz, unter anderem deshalb, weil ich mich nicht mit dem meiner Meinung nach zynischen und obszönen Krieg abfinden konnte, den die Vereinigten Staaten in Vietnam führten. Auf dem Zettel stand seltsamerweise: „Die drei Pfeiler des Zen.“ Es war die Ankündigung eines Vortrags von Philip Kapleau, der als Berichterstatter die Nürnberger Prozesse verfolgt hatte und dann für einige Jahre nach Japan gegangen war, um Zen zu praktizieren. Er war von Huston Smith, der damals Professor für Philosophie und Religionswissenschaft am MIT war, eingeladen worden. Ich hatte keine Ahnung, was Zen war, wer Philip Kapleau war und nicht einmal, wer Huston Smith war, aber aus irgendeinem Grund ging ich zu dem Vortrag, der am späten Nachmittag stattfand. Was mich zuerst einmal erstaunte, war, wie wenig Zuhörer zu dem Vortrag gekommen waren, nicht mehr als fünf oder sechs von der gesamten akademischen Belegschaft des Instituts, die in die Tausende ging. Ich weiß nicht mehr genau, was Kapleau damals sagte, nur noch, daß er nebenbei bemerkte, es sei, als er in Japan zu sitzen begann, in dem Kloster eiskalt gewesen, weil es dort keine Zentralheizung gab. Die Bedingungen waren spartanisch und primitiv. Und doch verschwanden damals seine chronischen Magengeschwüre und kehrten auch nicht wieder zurück. Was immer er sonst noch vorgetragen hat, es war auf jeden Fall das erste Mal, daß ich jemanden mitreißend und aus eigener Erfahrung über Meditation und den Dharma sprechen hörte. Ich weiß noch, daß ich nach dem Vortrag das Gefühl hatte, hier auf etwas gestoßen zu sein, das äußerst wichtig und für mein Leben und meine geistige Gesundheit in meiner damaligen Situation von überragender Bedeutung war. Also begann ich, für mich allein zu sitzen. Kapleau kam kurze Zeit später zurück und leitete eine Wochenendklausur, in der ich meine Übung und meinen Enthusiasmus vertiefte. Als dann später sein Buch Die drei Pfeiler des Zen herauskam, verschlang ich es von der ersten bis zur letzten Seite und nahm es immer wieder zur Hand, um Anregungen für meine noch junge Meditationspraxis zu finden. Die Studienzeit damals fühlte sich für mich wie eine Art Tod an und auch so, als fände ich ein neues Leben. Damals kündigte sich die allmähliche Enthüllung einer neuen Dimension jener Suche an, die mich ursprünglich zum Studium der Naturwissenschaften und der Biologie veranlaßt hatte: Ich wollte die Natur des Lebens und die Natur der Wirklichkeit erforschen und verstehen, aber nicht nur auf abstrakte Weise, sondern in ihrer Manifestation in meinem eigenen Leben, meinem eigenen Geist und in den Entscheidungen, die ich auf meinem Lebensweg traf. Doch der Antrieb, dem Pfad der Naturwissenschaften mit seinen Laboruntersuchungen zu folgen, wurde 349
langsam immer schwächer, auch wenn ich von den Entdeckungen auf diesem Gebiet fasziniert war. Statt dessen wurde der Drang, mich selbst zu verstehen, indem ich die vielfältigen Dimensionen des Lebens und des Seins mit Achtsamkeit beobachtete, immer stärker. Ich begann das Leben selbst als das interessanteste Labor zu betrachten. Zu jener Zeit war ich tief beeindruckt von der Geschichte Ramana Maharshis, einem der größten Weisen der Moderne. Er war ein siebzehnjähriger indischer Gymnasiast ohne jegliche spirituelle Schulung und ohne Interesse an der Spiritualität, als ihn ein Tages eine intensive Todesangst überkam. Er entschloß sich, ihr nachzugehen, statt sich dagegen zu wehren, und sich zu fragen: „Was ist es, das stirbt?“ Er legte sich auf den Rücken und forschte nach; er tat so, als würde er sterben, hielt sogar den Atem an und imitierte das Einsetzen der Todesstarre. Was, nach seinem eigenen Bericht, dann geschah, ist höchst erstaunlich: Seine Persönlichkeit starb, und zwar für immer. Was blieb, war Gewahrsein selbst, etwas, was er das Selbst nannte, worunter man in Indien den Atman versteht, das universelle Selbst oder den transzendenten Geist. Nach Jahren der Zurückgezogenheit und des Schweigens, in denen er diese tiefe Erleuchtungserfahrung integrierte, begann er auf das Drängen seiner Umwelt hin den Pfad der Selbsterforschung zu lehren, den Pfad der Meditation über die Frage: „Wer bin ich“! Aus aller Welt kamen Menschen zu seiner bescheidenen Einsiedelei in Tiruvannamalai in Südindien, um in seiner Gegenwart zu sein, die nach den Berichten dieser Menschen reine Liebe ausstrahlte. Mit einem rasiermesserscharfen, spiegelgleichen Geist, der leer war von jeglichem Ich, antwortete er in Dialogen auf die ihm gestellten Fragen, wie naiv oder tiefgründig sie auch waren. Sein von tiefem Frieden kündendes Lächeln strahlt mich von einem Foto an, das vor mir auf dem Schreibtisch steht. Ich bringe Ramanas Geschichte immer mit der Totenstellung des Yoga in Verbindung. Allein schon absichtlich die Totenstellung einzunehmen, auf dem Rücken liegend mit nach außen fallenden Fußspitzen, die Arme neben dem Körper, aber ohne ihn zu berühren, die Handflächen offen zur Decke oder zum Himmel gerichtet, bietet uns eine Gelegenheit, das Sterben vor dem Sterben zu üben. Indem wir auf diese Weise ausgestreckt vollkommen still daliegen und den Atem fließen lassen, wie er will, lassen wir die ganze Welt einfach sein, wie sie ist; wir lassen sie sich entfalten, wie sie sich entfaltet, so als seien wir gestorben und die Welt ginge einfach ohne uns weiter. Alles Anhaften ist aufgegeben, wir sind bereits tot, so daß es nichts mehr gibt, an dem wir festhalten; wir sehen, fühlen und wissen, daß das Festhalten selbst nutzlos ist und unsere Ängste letztlich irrelevant sind. Alles, was wir kennen, ist das Jetzt, und das ist auf spektakuläre Weise genug. Wenn man möchte, kann man sich dann fragen: „Wer ist gestorben?“ - „Wer übt hier Yoga?“ - „Wer meditiert?“ Indem wir für die Vergangenheit und die Zukunft sterben, unserem „ich, mich und mein“ sterben, während wir hier wie ein Leichnam, als Leichnam liegen, spüren wir die Geistessenz, die an sich leer ist von jedem Selbst-Konzept, leer von allen Vorstellungen und allen Gedanken; sie ist einfach nur das Potential, innerhalb dessen alle Gedanken und alle Gefühle entstehen. Dieses Spüren, dieses Wissen ist hier und in der Zeitlosigkeit dieses Augenblicks des Jetzt für immer von vibrierender Lebendigkeit. Darum ist heute, jeder Moment, in dem wir leben, der perfekte Tag, um auf diese 350
Weise zu sterben. Sind Sie bereit? „Warum sollten wir länger darauf warten, daß die Welt anfängt?“
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Der Weiß-nicht-Geist Der koreanische Zen-Meister Soen Sa Nim machte uns manchmal mimisch vor, wie man mit dem Kōan „Was bin ich?“, einer Variante des „Wer bin ich?“, übt. Er setzte sich aufrecht hin, machte ein fragendes Gesicht, saß dann eine kleine Weile mit geschlossenen Augen da und sagte schließlich mit lauter und ziemlich heftiger Stimme: „Was bin ich?“ Er verband alle Silben miteinander, so daß es sich eher anhörte wie „Wassbiniiisch?“ Dann war er einige Augenblicke still und stieß dann, immer noch mit geschlossenen Augen und wiederum ziemlich heftig, hervor: „Weiß nicht!“, was sich anhörte wie „Weisssssnich!“. Wassbiniiisch? Weisssssnich! Dann verharrte er schweigend in dem, was er den „Weiß-nicht-Geist“ nannte, und saß einfach nur da. Er meinte, es wäre wohl keine schlechte Idee, wenn wir auf diese Weise praktizierten - innerlich, von Zeit zu Zeit in Stille, zuerst mir Worten, dann aber weit jenseits von Worten. Das Fragen selbst, das Erforschen des Selbst, die Leidenschaft, die selbst noch hinter dem Ort liegt, woher die Frage kommt - das ist bei dieser Übung das Wichtigste. Und das Gefühl, das man zu guter Letzt hat, nach all dem Forschen, nach allem „nicht dies, nicht dies“, ist ein Gefühl, das unterhalb all der Wechselfälle von Name und Form liegt. Es ist das Gefühl, einfach nicht zu wissen. Und es geht darum, in diesem Nichtwissen zu verweilen, in all seiner Eindringlichkeit, mit vollständiger Akzeptanz und grenzenloser Weite. Er ermahnte uns, uns in allem, was wir taten, den „Weiß-nicht-Geist“ zu bewahren. „Nur weiß nicht!“ bellte er uns immer wieder an, so daß viele seiner Studenten die ganze Zeit herumliefen und sagten: „Nur weiß nicht!“, ganz gleich, was man sie fragte oder zu ihnen sagte. Es war irre. Es war unerträglich. Es war eine tolle Schulung.
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An der eigenen Tür ankommen Die Zeit wird kommen, da du voller Überschwang dich selbst als Ankömmling an deiner eigenen Tür begrüßen wirst, in deinem eigenen Spiegel, und beide werden lächeln zum Willkommensgruß des anderen und sagen: Setz dich her. Iß Erneut wirst du den Fremden lieben, der dein Selbst gewesen ist. Gib Wein. Gib Brot. Gib dein Herz an sich selbst zurück, dem Fremden, der dich geliebt hat dein ganzes Leben lang, den du um eines anderen willen ignoriert hast, der dich in- und auswendig kennt. Hole die Liebesbriefe aus dem Schrank, die Fotos, die verzweifelten Botschaften, löse dein eigenes Bild von deinem Spiegel ab. Setz dich. Laf dir dein Leben schmecken. DEREK WALCOTT, „LOVE AFTER LOVE“
Jeden Augenblick kommen wir an unserer eigenen Tür an. Jeden Moment könnten wir sie öffnen. In jedem Augenblick könnten wir erneut den Fremden lieben, der wir selbst waren, der uns, wie das Gedicht sagt, in- und auswendig kennt. Wir kennen uns in jedem Sinne dieses Wortes bereits in- und auswendig, aber vielleicht haben wir das vergessen. Das Ankommen an unserer Tür besteht im Erinnern. Wir eignen uns das wieder an, was wir schon immer waren und allzu lange ignoriert haben, so daß wir scheinbar immer weiter von unserem Heim abgeirrt sind, doch zugleich nie weiter als dieser Atemzug und dieser Augenblick. Vermögen wir aufzuwachen? Können wir zur Besinnung kommen? Können wir das Wissen sein und zugleich den Weiß-nicht-Geist bewahren und das Nichtwissen ehren? Sind Wissen und Nichtwissen überhaupt verschieden? Die Zeit wird kommen, so versichert uns das Gedicht. Ja, die Zeit wird kommen, aber wollen wir wirklich erst auf unserem Totenbett zu dem erwachen, wer oder was wir wirklich sind, was, wie Thoreau voraussah, nur allzuleicht passieren kann? Oder 353
kann diese Zeit jetzt sein, genau jetzt, wo wir sind und wie wir sind? Die Zeit wird kommen, gewiß, aber nur, wenn wir uns dem Aufwachen überantworten, wenn wir zur Besinnung kommen und über unseren eigenen unterentwickelten Geist hinausgehen. Sie kommt nur, wenn wir die Kettenreaktionen unserer robotergleichen Konditionierungen sehen können, besonders unserer emotionalen Konditionierungen, und unsere Sicht von dem, was wir zu sein glauben, durchschauen, wenn wir also unser Bild vom Spiegel ablösen können, und wenn wir wahrnehmen, wenn wir sehen, was es hier zu sehen gibt, wenn wir hören, was es hier zu hören gibt, wenn wir beobachten, wie sich in diesem Sehen, in diesem Hören die Kettenreaktionen auflösen, und wir umkehren in unsere größere ursprüngliche Schönheit, während wir uns selbst als Ankömmling an unserer eigenen Tür begrüßen. Wir können es. Und wir werden es tun. Denn was gäbe es für uns letztlich anderes zu tun? Wie anders könnten wir letztlich frei werden? Wie anders könnten wir letztlich sein, wer wir bereits sind? Und wann, o wann, o wann kommt der Moment, wo das geschehen wird? „Die Zeit wird kommen ...“ sagt der Dichter. Vielleicht ist sie schon gekommen. Nur ... Weisssssnich!
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Siebter Teil
Die Heilung des politischen Körpers
Freiheit ist für den kollektiven Körper das, was Gesundheit für den individuellen Körper ist. Ohne Gesundheit kann der Mensch keine Freude schmecken; ohne Freiheit kann keine Gesellschaft Glück erfahren. THOMAS JEFFERSON Ein Sinneswandel oder ein Wertewandel ohne praktische Umsetzung ist nichts anderes als ein weiterer sinnloser Luxus eines passiven, konsumorientierten Lebensstils. WENDELL BERRY
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Die Heilung des politischen Körpers Alles, worüber wir im Laufe unserer Erkundung der Achtsamkeit auf der persönlichen Ebene gesprochen haben, trifft genauso gut auf unser Verhalten in der Welt - als Land und als Spezies zu. Schauen Sie sich irgendeines der heutigen Ereignisse an. Wissen wir eigentlich, was wirklich geschieht? Oder bilden wir uns einfach eine Meinung, die auf unseren Vorlieben und Abneigungen basiert, darauf, daß wir uns gewisse Dinge wünschen und andere Dinge fürchten, darauf, daß wir an der oberflächlichen Erscheinung der Dinge hängenbleiben oder uns einfach vorstellen, was unter der Oberfläche geschieht, ohne es wirklich zu wissen? Können wir die nichtduale Perspektive des achtsamen Gewahrseins auf das anwenden, was in der Welt vor sich geht, und darauf, wie wir als integrale Einheit des politischen Körpers, der unsere Gesellschaft und unser Land ist, mit der Welt umgehen? Können wir dem, was sich unseren Sinnen jeden Tag in Form von „Nachrichten“ darbietet, mit Achtsamkeit begegnen? Können wir jener großen oder kleinen Geschehnisse gewahr sein, die früher oder später in unterschiedlichem Ausmaß eine Auswirkung auf unser eigenes persönliches und privates Leben haben werden, die aber so oft auf einer anderen Ebene ablaufen als der unserer direkten Erfahrung und dessen, was tatsächlich in unserem täglichen Leben geschieht? Können wir derer wenigstens so lange gewahr sein, bis sie uns nicht mehr fern sind und sich zeigt, daß wir von Kräften beeinflußt und überrollt werden, die wir nicht recht verstanden haben, seien sie nun in erster Linie ökonomischer, sozialer, politischer, militärischer, ökologischer oder medizinischer Natur oder vielleicht irgendeine komplexe Kombination von all dem, von Kräften, die viel größer sind als wir selbst und für die unsere persönlichen Angelegenheiten und Bedürfnisse nicht von sonderlicher Bedeutung sind, weil „viel wichtigere Dinge“ auf dem Spiel stehen? Können wir orthogonal denken? Können wir andere mit einbeziehen? Können wir mitfühlend sein? Können wir weise sein? Wenn wir es mit der äußeren Welt zu tun haben, dann sind dies die Herausforderungen, genau wie bei der inneren Welt unseres Geistes und unseres Herzens. Da die innere und die äußere Welt einander widerspiegeln, bieten sich uns zahllose Möglichkeiten, beide zu beeinflussen und von ihnen beeinflußt zu werden. Vielleicht gibt es auch für uns als Gesellschaft die Möglichkeit, uns als Ankömmlinge an unserer eigenen Tür zu begrüßen und erneut den Fremden zu lieben, der wir selbst waren. Wir brauchen nur zurückzudenken an das Kippbild alte Frau/junge Frau oder an das Kanizsa-Dreieck, um uns daran zu erinnern, daß wir sehr leicht nur bestimmte Aspekte der Dinge wahrnehmen, oder daß wir von der Realität von etwas überzeugt sein können, das eher Illusion als Wirklichkeit ist. Und die genannten Beispiele sind nur sehr einfache Beispiele im Vergleich zu der fließenden Komplexität der Themen und Situationen, mit denen wir es jeden Tag in unserem Leben zu tun haben, ganz zu schweigen von den Situationen, denen sich unsere politischen Führer gegenübersehen, wenn sie Ereignisse interpretieren und Entscheidungen über das Setzen von Prioritäten und die Ausrichtung von Energien treffen. Uns allen passiert es nur allzu leicht, daß wir komplexe Situationen falsch wahrnehmen und an einer unvollständigen oder einseitigen Sichtweise festhalten, 356
besonders wenn wir nicht aufmerksam darauf achten, wie wir sehen und wie wir wissen. Und nicht selten müssen wir selbst die Konsequenzen erleiden oder bringen sehr viel Leiden über andere Menschen, wenn wir eisern an einer Interpretation der Ereignisse festhalten, die vielleicht nur teilweise zutreffend ist. Könnten unsere Institutionen und unsere Politiker nicht gesünder und weiser werden, wenn wir alle uns nur ein klein wenig darum kümmerten, unser Feld des Gewahrseins innerlich und äußerlich so auszuweiten, daß wir zumindest zu einem gewissen Grad in Betracht ziehen können, daß andere Arten des Wissens, Sehens und Seins, die sich zutiefst von den unseren unterscheiden, ebenso gültig sind? Was für Meinungen auch immer Sie vertreten oder nicht vertreten, seien sie politischer, religiöser, ökonomischer, historischer oder sozialer Natur oder einfach nur Positionen, die Sie innerhalb Ihrer Familie zu den verschiedenen Themen beziehen, die mit der Erziehung der Kinder oder dem Haushalt zu tun haben, Sie könnten vielleicht einen Augenblick auch all jenen Menschen Beachtung schenken, die eine diametral entgegengesetzte Meinung vertreten. Sind all diese Menschen denn total verblendet? Oder sind sie gar schlechte Menschen? Gibt es in Ihnen eine Tendenz, andere zu entmenschlichen, sie in eine Schublade zu stecken, sie vielleicht sogar zu dämonisieren? Gibt es da eine Tendenz, generelle Urteile über „sie“ zu fällen und verallgemeinernde Aussagen über sie und ihren Charakter oder ihre Intelligenz oder sogar über ihre Menschlichkeit zu machen? Wenn wir beginnen, auf diese Weise achtsam zu sein, dann stellen wir vielleicht fest, daß uns dies sogar mit Menschen passiert, mit denen wir zusammenleben und die wir lieben. Das ist einer der Gründe, warum ein Familienleben gewöhnlich ein so wunderbares Labor für die Erzeugung von größerem Gewahrsein, mehr Mitgefühl und Weisheit ist und uns die Gelegenheit gibt, diese tatsächlich in unserem Alltagsleben zu verkörpern. Denn wenn sich herausstellt, daß wir selbst eisern an der Gewißheit festhalten, daß wir Recht und die anderen Unrecht haben, dann kann das, selbst wenn es in beträchtlichem Maß zutreffen sollte und sehr wichtige Dinge auf dem Spiel stehen, unsere Wahrnehmung verzerren; wir könnten dann Gefahr laufen, der Verblendung anheim zu fallen und dem, was ist, der Wahrheit der Dinge und der Beziehungen, in denen wir uns befinden, in einem gewissen Ausmaß Gewalt anzutun, jenseits aller „objektiven“ Gültigkeit der einen oder der anderen Position. Wenn ich meinen eigenen Geist untersuche, dann muß ich anerkennen, daß ich selbst jeden Tag zu all diesen Dingen neige und achtgeben muß, damit sie nicht zur Verblendung werden ... und ich kann mir vorstellen, daß ich in dieser Hinsicht nicht der einzige Mensch bin. Wenn bei uns allen nur ein klein wenig davon abläuft - und das Gleiche läuft aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei den Menschen ab, die andere Meinungen vertreten als Sie selbst, wenn diese Menschen an Sie und alle, die Ihre Ansicht vertreten, denken -, wäre es in dieser Situation dann auch nur im entferntesten wahrscheinlich, daß irgend jemand begreift, was in Wirklichkeit vor sich geht? Begreift, daß das Anerkennen von zumindest einigen Gemeinsamkeiten und von denselben Interessen sowie einer größeren Wahrheit möglich ist? Oder hat die Art, wie wir sehen und denken, die Situation, das Thema oder die Tagesordnungspunkte dermaßen polarisiert und uns so blind gemacht, daß es nicht mehr möglich ist, die Dinge so zu sehen und zu erkennen, wie sie wirklich sind, und uns vielleicht auch daran zu erinnern, daß wir nicht wissen und daß in diesem Nichtwissen eine Kraft vorhanden ist, die jenseits von Unwissenheit liegt, einer Kraft jenseits des Errichtens von Mauern, jenseits von Schuldzuweisungen 357
und jenseits von unter einem Vorwand begonnenen militärischen Feldzügen? Zu wissen, daß wir nicht wissen oder etwas nur teilweise wissen, kann zu einer enormen Öffnung unseres Herzens und unseres Geistes führen und zu Einsichten einer völlig anderen Ordnung, die ansonsten nicht möglich wären. Erinnern Sie sich daran, was Soen Sa Nim mit den Menschen machte, die an irgendeiner Position festhielten. „Wenn Sie sagen, dies sei ein Stock oder eine Uhr oder ein Tisch, eine gute Situation oder eine schlechte Situation oder die Wahrheit, dann werde ich Sie dreißigmal mit meinem Stock schlagen. Was also können Sie tun?“ Und denken Sie daran: Er erinnert uns damit im Grunde daran, aus diesem oder jenem, schwarz oder weiß, gutem oder bösem Denken zu erwachen. Es ist also ein Akt des Mitgefühls, wenn er uns in diese vertrackte Lage bringt oder uns aufzeigt, daß wir selbst uns ständig in eine solch vertrackte Lage bringen. Ja, was können wir tun? Was können wir tun? Und können wir eine Axt nicht eine Axt nennen? Und was ist mit Völkermord, Mord, Ausbeutung, Wirtschaftskriminalität, politischer Korruption und Täuschungsmanövern? Ja, natürlich können wir eine Axt eine Axt nennen, und manchmal haben wir sogar die moralische Pflicht, sie eine Axt zu nennen, wenn wir tatsächlich wissen, daß es eine Axt ist. Aber wenn Sie um die Axt wissen, wenn Sie sie wirklich sehen und nicht an Ihrer Vorstellung von einer „Axt“ festhalten, dann werden Sie augenblicklich ebenfalls sehen, daß es vielleicht nicht das Wichtigste ist, sie eine Axt zu nennen, besonders wenn das alles ist, was Sie tun. Es mag etwas geben, das in dieser Situation angemessener ist als nur einen Namen oder ein Konzept hinzustellen, ganz gleich, wie wichtig es ist, aufzustehen und das, was geschieht, beim Namen zu nennen – und es ist extrem wichtig. Es mag notwendig sein zu handeln, und zwar weise zu handeln, einen Weg zu finden, um mit dem, was sich entfaltet, in Beziehung zu stehen. Vielleicht können Sie ja tatsächlich etwas tun, das über das Benennen hinausgeht sowie darüber, mit anderen, die ebenfalls benennen, einer Meinung zu sein. Wenn es also wortwörtlich um eine Axt geht, dann wäre es vielleicht angemessen, sie zur Hand zu nehmen und damit Holz zu hacken. In jedem Moment so zu handeln, daß wir unser Verständnis verkörpern, wäre das Beste, was wir in jedem Moment tun können, und auf diese Weise würden wir uns der Weisheit schrittweise annähern, wenn wir bereit sind, aus den Konsequenzen unserer Handlungen zu lernen. Alles andere kann sehr schnell zu leerem Gerede werden. Der Politiker, der sich um ein Amt bewirbt, nennt es eine Axt und sagt, es müsse etwas geschehen. Doch wie kommt es, daß seine Sicht der Realität dieser Axt sich so schnell und so radikal ändern kann, sobald er erst einmal im Amt ist? Metaphorisch gesprochen, ist es immer noch eine Axt - oder war es im Moment seiner Wahlkampfrede nur deshalb eine Axt, weil es ihm gerade in den Kram paßte, es eine Axt zu nennen, und sie ein nützliches Werkzeug zu einem ganz anderen Zweck war? Bertrand Russell paraphrasierend, könnte man sagen, daß die Menschen gelernt haben, durch die Luft zu fliegen und in die Tiefe des Meeres hinabzutauchen, daß sie jedoch noch nicht gelernt haben, auf dem Land zu leben. Die letzte, die wichtigste und dringlichste Herausforderung für uns Menschen liegt nicht unter dem Meeresspiegel oder im Weltraum, so interessant und verlockend diese Bereiche auch sein mögen. Die letzte Herausforderung besteht darin, uns selbst zu erkennen, und zwar ganz besonders von innen her. Das letzte Abenteuer ist in der Tat das Bewußtsein selbst. Dieses Abenteuer besteht darin, all das, was wir wissen, 358
zusammenzuschauen: die Weisheitstraditionen aller Völker dieses Planeten, einschließlich all unserer unterschiedlichen Arten des Wissens durch Wissenschaft, Kunst, alte Stammeskulturen und durch spirituelle Erkundung. Das ist die Herausforderung unseres Zeitalters und unserer Spezies zu einer Zeit, wo wir weltweit dermaßen miteinander vernetzt sind, daß das, was in Bagdad oder Kuala Lumpur, in Mexiko-Stadt oder Washington oder Kabul oder Beijing oder sonstwo auf der Welt passiert, schon am nächsten Tag oder im nächsten Monat das Leben der Menschen praktisch überall und allerorten auf der Welt zutiefst beeinflussen kann. Das heißt nicht, daß wir den Kopf in den Sand stecken und uns nur um unsere eigenen selbstsüchtigen Interessen kümmern und nur unsere eigene Sicherheit, unser eigenes Glück oder unseren eigenen Gewinn vergrößern sollen. Vielmehr ist es so, daß unsere vollständige Erforschung der Achtsamkeit und der Möglichkeiten, uns selbst und die Welt zu heilen, uns einen Weg des Inder-Welt-Seins bietet, der nicht so sehr begrenzt wird von kleingeistiger Beschäftigung mit einzelnen Bäumen und Ästen, so wichtig diese Ebene des Verständnisses auch sein mag. Er erinnert uns daran, uns von Zeit zu Zeit umzusehen, den gesamten Wald zu betrachten und ihn direkt in seiner ganzen Fülle zu erkennen, ohne die verzerrende Optik engstirniger und nicht hinterfragter Gedanken und Meinungen, die gewöhnlich getrieben sind von Gier (Rabenwollen), Haß (Ablehnung) oder Verblendung. Ich will auch nicht sagen, daß es keinen Platz gibt für Meinungen und leidenschaftlich vertretene Ansichten. Es ist nur so: Je näher diese Ansichten der gegenseitigen Durchdringung der Dinge kommen, desto größer wird unsere Fähigkeit, mit der Welt, mit unserer Arbeit, unserer Sehnsucht und unserer Berufung auf eine Art und Weise umzugehen, die zu mehr Weisheit und Harmonie beitragen wird, nicht zu mehr Streit, Elend und Unsicherheit. Heute haben wir praktisch an allen Fronten mehr als jemals zuvor sowohl individuell als auch kollektiv die unschätzbar wertvolle Gelegenheit und die Instrumente, uns nicht in unsere destruktiven Gefühle zu verrennen und von ihnen blenden zu lassen, sondern zur Besinnung zu kommen. Wenn wir das tun, dann werden wir vielleicht aufwachen und das Un-Wohlsein erkennen, das während der vergangenen zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte zu einem zunehmend chronischen Zustand der Welt und unserer Spezies geworden ist, und werden praktische Schritte dazu unternehmen, um uns in der Frage, wie wir unser Leben als Individuen führen und unsere Diplomatie zwischen den Nationen gestalten, neue Wege zu Gleichgewicht und Harmonie vorzustellen und diese voranzutreiben, Wege, um unsere destruktiven Tendenzen, die nur das Un-Wohlsein und die Entfremdung im Inneren und im Äußeren nähren, zu verringern und unser Vermögen zur Mobilisierung und Verkörperung von Weisheit und Mitgefühl in den Entscheidungen, die wir von Moment zu Moment darüber treffen, wie wir leben müssen und was wir mit unseren kreativen Energien zur Heilung des politischen Körpers anfangen könnten, zu vergrößern. Wir haben in diesem Buch die Metaphern von Krankheit und Un-Wohlsein erforscht, in dem Versuch, die tiefere Natur unseres Unbehagens als menschliche Wesen aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu definieren und zu verstehen, und um zu begreifen, warum wir uns so häufig dermaßen „daneben“ fühlen, warum wir uns so sehr nach etwas sehnen, das uns zu unserer Ganzheit und unserem Heilsein zu fehlen scheint, obwohl es uns in den entwickelten Ländern doch materiell und in bezug auf die Ausbildung wesentlich besser geht, als es der überwiegenden Mehrheit der Menschheit im Lauf der Geschichte jemals gegangen ist. Wenn ein 359
relativ hoher Lebensstandard, materieller Reichtum und Überschuß und selbst eine bessere Gesundheit und Gesundheitsfürsorge als je zuvor uns nicht genügen, um glücklich und innerlich in Frieden zu sein, was könnte es dann sein, das uns noch fehlt und das wir brauchen, damit wir zu schätzen wissen, was wir sind und was wir bereits haben? Und was sagt uns unsere Unzufriedenheit über uns selbst als Land und als Spezies, woraus wir etwas lernen könnten? Wie können wir es schaffen, uns selbst keine Fremden mehr zu sein und zu dem heimzukehren, was wir tatsächlich in all unserer Fülle sind? Wie können wir unsere wahre Natur und unser wahres Potential erkennen und verkörpern? Wir könnten für einen Moment nach innen schauen und uns fragen, was nötig wäre, damit wir als Individuen innerhalb des politischen Körpers uns eben jetzt heil und glücklich fühlen können, wenn wir doch, wie wir immer wieder gesehen haben, genau in diesem Moment unbezweifelbar ganz und vollständig sind? Etwas, was nötig sein könnte, besteht vielleicht darin, darüber hinauszuwachsen, daß wir die meiste Zeit in unserem Kopf leben und in unsere Gedanken und Wünsche und die Turbulenzen unserer reaktiven Gefühle verstrickt sind und unablässig versuchen, die äußeren Ursachen und Bedingungen so hinzubiegen, daß sie, wie wir ständig hoffen, schließlich zu einer besseren Situation führen werden, in der wir, wie wir glauben, endlich glücklich und in Frieden sein werden. Unter all dem erkennen wir vielleicht unsere gewohnte, verführerische, aber letztlich ungenaue Beschäftigung mit einer dauerhaften, aber erstaunlicherweise unfaßbaren Empfindung eines soliden, fortdauernden, unveränderlichen persönlichen Ich. Diese ungreifbare solide Ich-Empfindung ist eine Illusion, in deren Bann wir unablässig stehen und die uns auf der Suche nach Erfüllung ihrer anscheinend endlosen Bedürfnisse und Wünsche hierhin und dorthin treibt. Wenn wir für Augenblicke nur zum Mysterium dessen erwachen, was wir sind, dann sehen wir, daß dieses Ich-Konstrukt weitaus kleiner ist als das volle Ausmaß unseres Seins. Und das ist für unser Land und für die Welt ebenso wahr wie für uns als Individuen. Am Ende ergeben sich diese Einsichten alle aus dem Kultivieren einer größeren Nähe und Vertrautheit mit unserem Geist und unserem Körper von Moment zu Moment, aus dem Erkennen der wechselseitigen Verbundenheit der Dinge jenseits unserer Wahrnehmung, in der wir uns als von ihnen getrennt erleben, jenseits unseres Verblendung erzeugenden Festhaltens an dem Versuch, sie zu unserem eigenen engstirnigen Vorteil unter Kontrolle zu halten. Unsere Ganzheit und wechselseitige Verbundenheit läßt sich in der Tat hier und jetzt in jedem und jeglichem Moment dadurch verifizieren, daß wir aufwachen und erkennen, daß wir und die Welt, in der wir wohnen, im tiefsten vorstellbaren Sinn nicht zwei sind. Wie wir gesehen haben, gibt es viele verschiedene Wege, diese Wachheit durch die systematische Übung von Achtsamkeit zu kultivieren und zu nähren. Alle sind gleich gut geeignet, uns zu einem universelleren Gewahrsein zu führen und dazu, daß wir in jedem Sinne dieses Begriffs die Verantwortung für die Gesundheit des politischen Körpers übernehmen. Indem wir geübt haben, tief in uns selbst hineinzusehen, haben wir eine größere Vertrautheit und Intimität mit dem entwickelt, was möglicherweise die letzte Wurzelursache unseres Unbehagens und unseres Leidens ist, mit der Dynamik von Gier, Haß und Unbewußtheit als Geisteszuständen und den unterschiedlichen Manifestationen, die diese in der Welt annehmen können. Vielleicht sind wir dazu gelangt, zu einem gewissen Ausmaß zu sehen und zu spüren, wie jeder einzelne auf seine Weise wirksamer dazu beitragen könnte, das Leiden zu verringern, das Leiden zu mäßigen und das Leiden zu transzendieren, unser eigenes Leiden und das 360
anderer, und dazu, die menschlichen Ursachen des Leidens an ihrer Wurzel innerlich und äußerlich wo immer möglich auszurotten. Vielleicht ist uns inzwischen auch aufgegangen, daß wir in unserem eigenen Privatleben nicht vollkommen gesund und in Frieden sein können, wenn wir in einer Welt leben, die selbst krank und so wenig in Frieden ist, in der die Menschen einander direkt und indirekt so viel von dem existierenden Leid zufügen und in der sie auch der Welt Leid zufügen, vor allem aus Mangel an Verständnis für die wechselseitige Verbundenheit und oft, wie es scheint, aus Gleichgültigkeit, auch wenn wir „es eigentlich besser wissen“. Dies ist natürlich eine dem Menschen eigene Verhaltensweise, aber auch damit vermögen wir zu arbeiten, wenn wir bereit sind, als Individuen und als Gesellschaft eine bestimmte Art von innerer Arbeit zu leisten. Selbst allgegenwärtige Engstirnigkeit ist veränderbar, wenn es uns zu sehen gelingt, wie potentiell wertvoll es ist, zu lernen, anders zu leben, mit größerem Gewahrsein der wechselseitigen Verbundenheit und des wechselseitigen Ineinander-eingebettet-Seins des Ich und des anderen und der wahren Bedürfnisse und der wahren Natur sowohl des Ich als auch des anderen; mit anderen Worten: wenn wir lernen können, die verzerrende Optik unserer eigenen Gier, unserer Angst, unseres Hasses und unserer Unbewußtheit schon dann zu erkennen, wenn diese auftauchen, und wenn wir nicht zuzulassen, daß sie die tieferen und gesünderen Elemente dessen, wer und was wir sind, verdunkeln. All dieses kann sich ergeben, wenn wir bereit sind, unseren Schmerz und unser Leiden als Nation und als Spezies mit Gewahrsein, Mitgefühl und einem gewissen Grad an Nichtreagieren zu besuchen und bei ihnen zu verweilen, sie zu uns sprechen zu lassen und zuzulassen, daß sie uns neue Dimensionen der wechselseitigen Verbundenheit offenbaren, die unser Verständnis der Wurzeln des Leidens vergrößern und unsere Einfühlung über jene Menschen, die uns am nächsten stehen, hinaus ausweiten. Das bedeutet, daß letztlich die Grundbedürfnisse der Menschen überall auf der Welt erfüllt sein müssen und sie frei sein müssen von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Entwürdigung durch andere. Mit anderen Worten: Es bedeutet, daß die grundlegenden Menschenrechte aller Menschen überall gewahrt werden müssen. Wie wir wissen, ist das für den größten Teil der Menschheit auf diesem Planeten heutzutage nicht der Fall. Ich habe die Metapher der Autoimmunerkrankung benutzt, um die Wirkung unserer Spezies auf den Planeten Erde zu beschreiben, aber auch die Wirkung auf unsere eigene Gesundheit und unser Wohlergehen als Spezies. Man könnte auch sagen, daß wir uns ständig selbst im Weg stehen, wir andauernd über Hindernisse stolpern, die wir uns trotz all unserer Klugheit selber in den Weg gelegt haben. Wie ich gesagt habe, haben wir in der Medizin während der vergangenen dreißig Jahre sehr viel über die Verbindung von Geist und Körper gelernt, und das Potential der Heilkraft der Achtsamkeit kann tiefgreifend beitragen zum Verständnis und dem Umgang mit dem überwältigenden Un-Wohlsein, unter dem der größere Körper unseres eigenen Landes und dieser einen Welt leidet. Wie auch schon bei den anderen Aspekten dieser Erkundung besteht das Ziel der Untersuchung des politischen Körpers in Beziehung zur Achtsamkeit nicht darin, Meinungen zu ändern - weder unsere eigene noch die von anderen -, und auch nicht darin, bestehende Meinungen zu bekräftigen. Größere Achtsamkeit in unserem Leben zu kultivieren beinhaltet nicht, daß wir uns irgendwelchen ideologischen Ansichten und Meinungen verschreiben, sondern einfach, daß wir selber von Moment zu Moment mit den Augen der Ganzheit auf neue Art und Weise sehen. 361
Was die Achtsamkeit jedoch für uns tun kann, und das ist eine ihrer wichtigen Funktionen, ist, unsere Meinungen und alle Meinungen als das zu enthüllen, was sie sind, nämlich Meinungen, so daß wir uns vielleicht nicht mehr so sehr in sie verrennen und von ihnen blenden lassen, was immer ihr Inhalt sein mag, auch wenn wir uns manchmal ganz bewußt bestimmte Meinungen zu eigen machen, sie mit voller Überzeugung vertreten und ihnen entsprechend handeln. Hier ist das Ziel vielmehr, die Möglichkeiten für Erforschung und Heilung zu erkunden und vielleicht auch für eine Ausweitung der Art und Weise, wie wir die Dinge sehen, so daß wir nicht mehr einfach voreingenommen Dingen zustimmen oder sie ablehnen. Es ist also eine Einladung, unsere Perspektive zu wechseln, mit einer Rotation des Bewußtseins zu experimentieren, die uns vielleicht eine völlig andere Welt offenbaren wird, eine Welt, eine Veränderung, die so nah ist wie dieser Augenblick und dieser Atemzug, in diesem Körper, innerhalb dieses Geistes und dieses Herzens, die Sie und ich und alle von uns in die Landschaft des Jetzt einbringen. Das Ziel besteht auch darin, uns daran zu erinnern, daß es nichts Passives am Gewahrsein gibt. Unser Bewußtseinszustand und alles, was daraus hervorgeht, beeinflußt die Welt. Wenn unser Tun aus dem Sein, aus Gewahrsein hervorgeht, dann ist es wahrscheinlich ein weiseres, freieres, kreativeres, fürsorglicheres Tun, ein Tun, das größere Weisheit, größeres Mitgefühl und mehr Heilung in der Welt fördern kann. Da wir alle Zellen des Körpers der Welt sind, hat die bewußte Beschäftigung mit Achtsamkeit, und sei es auch nur ein ganz klein wenig, in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft und innerhalb des politischen Körpers die Kraft, zu einem wahren Aufblühen, einer echten Renaissance der menschlichen Kreativität und des menschlichen Potentials zu führen, zu einem Ausdruck unserer tiefen Gesundheit als Spezies und als Welt. Wenn ich sage, daß es für die Welt von Nutzen sein kann, wenn wir alle mehr Verantwortung für ihr Wohlbefinden übernehmen und mehr Gewahrsein in den politischen Körper einbringen, dann soll das kein Rezept zu einer ganz bestimmten Behandlung sein, mit der wir ein bestimmtes Problem in Ordnung bringen können, und es soll auch nicht die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, im Detail beschreiben und bestimmten Parteien, Individuen, Sitten oder Weltanschauungen eine Schuld zuschreiben. Mein Bild der Situation soll vielmehr ein impressionistisches sein, so wie ein impressionistisches Gemälde sich in seiner ganzen Fülle und Tiefe erst dann offenbart, wenn man einen bestimmten Abstand davon wahrt, es in seiner Ganzheit auffaßt und sich nicht zu sehr mit den einzelnen Farbtupfern beschäftigt. Es soll auch auf liebevolle Weise provokativ sein, eine Einladung an uns alle, noch einmal neu hinzusehen und die uns teuersten Annahmen, Anhaftungen und vielleicht ungeprüften Standpunkte und Sichtweisen in Frage zu stellen, ein Aufruf an uns alle, auf neue Weise aufmerksam zu sein. Es ist auch ein Aufruf an uns, die Art und Weise, wie wir etwas wahrnehmen und erkennen oder denken, daß wir wahrnehmen und erkennen, sorgfältiger zu untersuchen. Es ist eine Einladung, sich daranzumachen, achtsam den Prozeß zu untersuchen, durch den wir Meinungen bilden und dann eine starke Verbindung zwischen dem, was wir als das identifizieren, was wir zu sein glauben, und ebendiesen Meinungen herstellen. Es ist zudem eine Einladung, damit zu beginnen, sich neue Metaphern für das Verständnis von uns selbst und von unserem Platz in der Welt vorzustellen und die wahre Komplexität der „realen Welt“ zu würdigen, ohne die Tatsache aus den Augen zu verlieren, daß der menschliche Geist in einem großen Maß viele der Probleme, denen wir uns heute als Land und als Spezies 362
gegenübersehen, erzeugt, oder, wie man sagen könnte, fabriziert und vervielfältigt hat, und daß diese Probleme, wie alles andere auch, nicht so dauerhaft, bleibend oder so real sind, wie unser Geist es sich vorstellt. Diese Einsicht allein kann uns bereits neue und einfallsreiche Wege zum Umgang mit dem bescheren, was oft nach unlösbaren Problemen und unbesiegbaren Feinden aussieht. Es könnte sich lohnen, uns hier an die beiden bereits früher zitierten Aussagen von Albert Einstein zu erinnern: Die Realität „hat bloß die Bedeutung einer Illusion, wenn auch einer hartnäckigen“ und „Die Probleme, die es heute auf der Welt gibt, lassen sich nicht auf der Ebene des Denkens lösen, das sie erzeugt hat“. Es lohnt sich, diese beiden Beobachtungen im Gedächtnis zu behalten, während wir angesichts der Situation der Menschheit Achtsamkeit kultivieren. Wir könnten sagen, daß der menschliche Geist eigentlich erst die Vorstellung von einer „realen Welt“ fabriziert hat, zusammen mit den Einschränkungen, die wir uns selbst auferlegen, wenn wir an diese Welt und was darin möglich ist, denken, genauso wie er eine verdinglichte Vorstellung eines dauerhaften Ich fabriziert. Wenn wir untersuchen und uns klar bewußt werden, wie unser Geist sowohl uns selbst als auch das, was wir die Welt nennen, wahrnimmt, auffaßt und begreift, dann können viele der illusorischen und selbst auferlegten Einschränkungen sich auflösen, indem wir neue Wege des Handelns finden, die auf dieser Rotation des Bewußtseins basieren. Die Einzelheiten werden sich aus einer fortdauernden Praxis im Rahmen unseres alltäglichen Lebens ergeben. Die Denkweise, die bloß Dinge in Ordnung bringen und alles recht machen will, indem sie der Welt eine ganz bestimmte „Lösung“ oder Reform, von der wir überzeugt sind, aufzwingt, ist an sich wahrscheinlich kaum hilfreich, so wichtig solche Bemühungen auch sein mögen. Eine globalere Heilung unserer Art, zu sehen und zu sein, ist ebenfalls vonnöten. Dies verlangt eine Rotation des Bewußtseins sehr vieler Menschen auf einer breiten Basis, im Grunde des Bewußtseins von uns allen, und eine Bereitschaft, die Dinge als das anzuerkennen, was sie sind, und auf kreative und orthogonale Weise damit umzugehen, indem wir uns das ganze Ausmaß der unerschöpflichen Ressourcen und Kenntnisse nutzbar machen, die uns heute zur Verfügung stehen. Statt auf irgendeinen besonderen „Erlöser“ in Form eines charismatischen Führers zu hoffen, der es für uns richten und der uns „den Weg weisen“ wird, sollten wir einsehen, daß wir vielleicht einen Punkt in unserer Evolution erreicht haben, an dem wir über das historische Muster heroischer und die Welt verändernder Persönlichkeiten, ganz gleich, wie überlebensgroß sie zum Guten oder zum Schlechten sein mögen, hinausgehen und Wege finden müssen, die Verantwortung und die Führerschaft breiter gestreut und kooperativer sein zu lassen, so, wie ja auch das Herz und die Leber und das Gehirn nicht miteinander um die Vorherrschaft über den Organismus streiten, sondern für das nahtlose Wohlergehen des Ganzen zusammenarbeiten, und so, wie es die Billionen individueller Zellen tun, die zusammen einen gesunden Körper bilden. Angesichts einer zugrundeliegenden möglichen Wurzeldiagnose des Dukkha, das wir alternativ auch „Welt-Streß“ nennen könnten, und mit einem Verständnis einiger der zugrundeliegenden Ursachen dafür, gibt es hier, wenn es überhaupt ein Rezept gibt, nur ein ganz allgemeines Rezept zur Behandlung unserer gegenwärtigen Situation als Spezies. Es besteht darin, daß jeder, der sich betroffen fühlt von dem Dilemma, mit dem wir uns als Spezies und als Gesellschaft konfrontiert sehen, sich als Übung und als Lebensweise um die Kultivierung von größerer Achtsamkeit bemüht. Und daß wir diese Achtsamkeit sanft und elegant in 363
jeden Aspekt unseres Lebens und unserer Arbeit einbringen, ohne daß wir wissen und wissen müssen, was dabei herauskommt, wer immer wir auch sein mögen, was auch immer unsere Arbeit und unsere Berufung sein mag. Und daß wir, individuell und kollektiv, diese Achtsamkeit, so gut es uns möglich ist, praktizieren und verkörpern, als hinge unser eigenes Leben und das der Welt davon ab. Wie wir uns von Moment zu Moment zu leben und zu handeln entschließen, das beeinflußt die Welt ein klein wenig, und es mag in ungleich größerem Maße von Nutzen sein, wenn die Motivation, der unsere Entscheidungen entspringen, eine gesunde Motivation ist und die Handlungen selbst weise und mitfühlend sind. Auf diese Weise kann sich die Heilung des politischen Körpers ohne strenge Kontrolle oder Anleitung entwickeln: durch die voneinander unabhängigen wie auch abhängigen Bemühungen vieler verschiedener Menschen und Institutionen mit vielen verschiedenen und vielfältigen Perspektiven, Zielen und Interessen, aber auch mit einem gemeinsamen und potentiell vereinigenden Interesse, nämlich dem des größeren Wohls der Welt. Das ist es, was Politik im besten Falle fördert und bewahrt. Natürlich wird nicht jeder mit der Praxis der Achtsamkeit beginnen, weder kurzfristig noch langfristig. Aber Stück für Stück wächst, wie es nun schon seit Jahren geschieht, die Zahl und der potentielle Einfluß derjenigen, die auf vielen verschiedenen, überraschenden und bisher kaum vorstellbaren Pfaden dazu gelangen, diesen Weg zu größerer geistiger Gesundheit und Weisheit zu wählen. In den kommenden Generationen, oder sagen wir in den kommenden Jahrhunderten, und, was uns selbst angeht, in ebendiesem Augenblick haben wir die bemerkenswerte Gelegenheit - als einzelner Mensch, als Nation und als Spezies -, das volle Potential unserer Kreativität und unseres Vermögens, klar zu sehen, zu verwirklichen und sie in den Dienst der Ganzheit und der Heilung sowie dessen zu stellen, von dem wir behaupten, daß wir es uns am meisten wünschen und daß es uns die größte Chance geben würde, uns sicher und glücklich zu fühlen: Gerechtigkeit, Mitgefühl, Fairneß, Freiheit von Unterdrückung, gleiche Entfaltungsmöglichkeiten für alle, Frieden, guter Wille und Liebe, und zwar nicht nur für uns selbst oder jene, mit denen wir uns identifizieren, sondern für alle menschlichen Wesen, ja für alle fühlenden Wesen, mit denen wir auf so vielfältige und unser Leben sichernde Weise unauflöslich verbunden sind. Wir befinden uns heute auf dem Höhepunkt eines einzigartigen Moments in der Entfaltung der Geschichte, an einem entscheidenden Wendepunkt. Die Zeit, in der wir leben, bietet seltene Gelegenheiten, die wir mit jedem Atemzug ergreifen und uns zunutze machen können. Es gibt nur einen Weg, das zu tun: in unserem Leben, wie es sich hier und jetzt entfaltet, unsere tiefsten Werte und unser Verständnis von dem, was das Allerwichtigste ist, zu verkörpern - und dies miteinander zu teilen in dem Vertrauen, daß solch verkörpertes Handeln, selbst in den kleinsten Kleinigkeiten, die Welt mit der Zeit zu größerer Weisheit und Gesundheit und geistiger Klarheit hinlenken wird. Das ist ein ganz schönes Stück Arbeit. Aber andererseits gilt für jeden einzelnen von uns: Was sonst sollten wir mit unserem wilden und kostbaren Leben anfangen?
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„I Read the News Today, Oh Boy” Ich schalte die Fernsehnachrichten ein oder nehme eine Zeitung zur Hand und beginne zu lesen. Was für ein verwirrendes Durcheinander von unterschiedlichen Kräften in dieser Welt am Werk ist! Unser Geist und unser Herz werden sofort mit Leiden in den vielfältigsten Formen bombardiert. Wie können wir selbst, die wir keine Experten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, der Politik, der Wirtschaft, der Sozialpolitik oder der Verbrechensbekämpfung sind, das enorme Ausmaß und die subtilen Feinheiten all dessen erfassen, was in der Welt vor sich geht? Die Berichterstattung über die Geschehnisse von heute gleicht einem riesigen brausenden Wasserfall: Wer hat was gesagt, wer hat was getan, wer wußte was und wann, und wer wußte es nicht, wer ging wohin und wer hat auf was reagiert und wie hat er oder sie reagiert? Und schon gestern gab es eine solche Berichterstattung — und morgen wird es sie wieder geben. Und keine davon, falls Sie das interessiert, gibt genau das wieder, was geschehen ist. Es sind Geschichten über das, was geschehen ist, die von allerlei Parametern eingeschränkt sind, von denen wir einige kennen, während wir von anderen keine blasse Ahnung haben. Und viel davon ist tendenziös, in der einen oder anderen Richtung von Meinungsmachern und Politikern zurechtgestutzt, die damit eine bestimmte Wirkung erzielen oder vermeiden möchten. Nichtsdestoweniger erfahren wir schon eine ganze Menge, wenn wir diese Berichterstattung nicht ganz für bare Münze nehmen. Auf jeden Fall zimmern wir uns ständig, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, aus diesem Strom partieller Informationen, nach dem wir leicht süchtig werden können, unsere eigenen Bilder von dem und Meinungen über das zusammen, was in der Welt vor sich geht. Und manchmal regen wir uns vielleicht fürchterlich über bestimmte Ereignisse auf. Worüber wir uns aufregen, hängt natürlich davon ab, wer wir sind, worum wir uns kümmern und was wir überhaupt an uns heranlassen. Während wir die Zeitung durchblättern, nehmen wir viele zufällige Details auf, aber auch zusammenhängende Geschichten und Analysen, woraus sich dann unsere eigenen Gedanken, Gefühle und Meinungen bilden, die sich endlos fortsetzen. Wenn wir die Nachrichten im Fernsehen sehen oder im Radio hören, geschieht ähnliches. Nach einer Weile werden diese Nachrichten, wie immer wir sie auch aufnehmen, zu einer gewohnten Kost ... und zu einer wenig nahrhaften. Denn die meisten Nachrichten sind nur ein ständiger Strom von Dukkha in seinen vielen Erscheinungsformen. Es gibt da wenig, was uns irgendwie aufbauen könnte. Tatsächlich gibt es jedoch eine ganze Menge, das unsere Stimmung heben könnte, man muß nur sehr genau hinsehen und hinhören. Jeden Tag ist es etwas anderes, und doch ist etwas an den Nachrichten über die Tage, Wochen, Monate und sogar Jahre immer sehr ähnlich ... es sind einfach nur die Nachrichten. Im großen und ganzen ist es nicht leicht, herauszufinden, was wir damit anfangen sollen, wie wir sie auffassen und wie wir darauf reagieren sollen. Da gibt es so viele drastische Details, und gleichzeitig ist das alles so abstrakt und so unpersönlich wenigstens so lange, bis es persönlich wird. Es ist schwer zu wissen, was man davon halten soll, was tatsächlich geschieht und wessen Geschichten man glauben kann. Zumindest finde ich es schwierig. Bei allem, was über die nackten Tatsachen hinausgeht - und selbst über diese kann man sich streiten -, ist es vielleicht sogar unmöglich, das zu wissen. 365
Dazu kommt, daß auf der einen oder anderen Ebene, auf subtile oder nicht so subtile Weise, der endlose Strom von Nachrichten Gedanken stimuliert, sehr viele Gedanken, sowie das Bilden von Meinungen, manchmal von sehr dezidierten Meinungen, und er gelegentlich sogar zu einer Gewissenskrise führen und unsere moralischen Vorstellungen bis an die Grundmauern erschüttern kann. Er kann auch eine Menge Angst und Unsicherheit, großen Zorn und Haß auslösen und zu zunehmenden Spannungen und Verkrampfungen im Körper führen, die bei dieser ständigen Kost nur schwer wieder aufzulösen sind. Letztlich kann er auch dazu führen, daß wir der Gleichgültigkeit oder dem Zynismus verfallen, daß wir uns überfordert, machtlos und deprimiert fühlen. Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen? Die Schlagzeilen von heute sind morgen schon der Schnee von gestern, nur noch für Historiker von Interesse. Und doch sind wir Teilnehmer an dem, was in seiner täglichen Entfaltung zur Geschichte wird, ganz gleich, welchen Tag wir da herausgreifen, sobald wir uns nur darauf einlassen. Nur nennt es sich dann nicht Geschichte. Es nennt sich „Lebendigsein“. Und obwohl das alles in weiter Ferne zu liegen scheint, unpersönlich und gigantisch in seinen Ausmaßen, können wir es doch ein klein wenig beeinflussen durch die Art und Weise, wie wir es auffassen und wie wir damit umgehen. Vergessen Sie nicht: Wenn ein Geist sich verändert, verändert sich die gesamte Gitterstruktur des Universums ein klein wenig. Nur wenig? Vielleicht. Bedeutungslos? Kaum. Das scheinbar „Kleine“ muß nicht unbedingt klein sein. Es kann sogar sehr groß sein und kann unvorhersehbar tiefgreifende Konsequenzen haben. So wissen wir zum Beispiel aus den naturwissenschaftlichen Theorien über Komplexität und Chaos, daß in jedem komplexen, dynamischen und nichtlinearen System - wie es etwa ein Wasserfall oder das Wetter, das menschliche Tun oder der Prozeß des Denkens selbst ist , eine winzige Verschiebung zu Veränderungen riesiger Größenordnung führt, die sich manchmal in erstaunlich großer Entfernung von dem ursprünglichen Ereignis abspielen. Beim Wetter nennt man dieses Prinzip den „Schmetterlingseffekt“. Es heißt, daß der Flügelschlag eines Schmetterlings in China der Auslöser dafür sei, daß es Wochen später in Amerika oder Europa einen Sturm gibt. Auf ähnliche Weise können, wie wir gesehen haben, kleine, aber tiefgehende Veränderungen im Körper oder Geist mit der Zeit zu einer tiefgreifenden Heilung führen. Doch wie können wir angesichts der unüberschaubaren Dimensionen überhaupt achtsam mit den Nachrichten umgehen und verantwortlich reagieren? Wir werden ständig von allen Seiten mit Informationen, falschen Informationen, unvollständigen Informationen, parteilichen Informationen, einander widersprechenden Informationen und endlosen Meinungen und Geschichten zu allen möglichen Themen bombardiert. Aus einer etwas anderen Perspektive gesehen, könnten wir auch sagen, daß das, was wir zu sehen und zu hören bekommen, oft nur einem ganz engen Bereich von Ansichten und Perspektiven aus dem Gesamtspektrum entspricht. Wenn wir Zweifel daran haben, dann brauchen wir uns nur die Berichte in den Blättern anzusehen, die weniger zum Establishment gehören, oder die Auslandspresse zu lesen, um herauszufinden, wie unser Land und die Ereignisse und Ansichten, in die wir verstrickt sind, von anderen Nationen gesehen werden. Da haben wir es nun wirklich mit einem „komplexen System“ zu tun. Wie können wir diesen Strom der Ereignisse, der sich in der äußeren Welt entfaltet, verstehen und 366
damit umgehen? Und wie gehen wir mit der Tatsache um, daß er, ob wir es nun wissen oder nicht und ob wir es mögen oder nicht, in gewissem Ausmaß einen Einfluß auf unser Leben hat? Eine Art des Umgangs mit diesem Strom besteht darin, größere sich wiederholende Muster wahrzunehmen, statt gebannt auf den Schaum und die Gischt der einzelnen Details zu starren, wie faszinierend, wie ärgerlich oder erschreckend diese auch sein mögen. Und wir könnten uns fragen: Was von diesem Nachrichtenstrom repräsentiert und dokumentiert die blühende Gesundheit unserer Nation? Wir wissen, daß die bloße Existenz dieser Nation bereits eine riesige Sache ist, verglichen mit jenen Gesellschaften, in denen die Pressefreiheit nicht zu den hochgehaltenen und heiligen Gütern gehört. Und wieviel von dem, was uns in den Nachrichten zu Ohren kommt, dokumentiert (oder kaschiert) das Un-Wohlsein unserer Nation und der Welt? Das zu beurteilen, bleibt jedem einzelnen selbst überlassen, und so gibt es denn auch eine unendliche Menge an Meinungen. Ganz offensichtlich gibt es keine alles zusammenfassende richtige Sichtweise, es gibt nicht die allwissende eine Weltanschauung, nicht nur die eine Art, die Dinge zu sehen, darum zu wissen oder alles zu verstehen, genauso wie es nicht nur die eine Art gibt, die innere Landschaft unseres Leben zu sehen und damit in Beziehung zu sein, die Landschaft der Sinne, die Landschaft des Geistes, die Landschaft des Körpers. Denn dies alles ist nur eine Widerspiegelung der Komplexität und der Dynamik des menschlichen Lebens und letztlich ein Produkt des menschlichen Geistes und des menschlichen Herzens in Aktion. Innerhalb der unglaublichen Vielfalt der Geschehnisse gibt es immer die Gruppe jener Menschen, und sie sind in aller Regel eine kleine Minderheit, die bereit sind, die Gesetze schamlos und unverblümt zu ihrem eigenen Nutzen zu brechen, zu verbiegen oder neu zu schreiben. Diese Strömung hat es in der Politik schon immer und überall gegeben. Und dann gibt es die Entrechteten, die Machtlosen, all jene, die hoffnungslos Kräften ausgeliefert zu sein scheinen, über die sie keinerlei Kontrolle besitzen - bis sie eines Tages, wie es in Südafrika und an zahllosen anderen Orten geschehen ist, die Welt ganz plötzlich in Erstaunen versetzen und ohne Gewaltanwendung etwas erreichen, was noch kurz zuvor völlig unmöglich erschien. Schließlich gibt es noch jene, und das ist in diesem Land wahrscheinlich die überwiegende Mehrheit, die vielleicht das Gefühl haben, in kleinen Dingen (die jedoch von großer Wichtigkeit sind) doch ein gewisses Maß an Macht und Einfluß zu besitzen, und die einfach nur versuchen, mit einer gewissen Stabilität und Würde von Tag zu Tag über die Runden zu kommen, indem sie ihre Arbeit machen, sich um ihre Familie kümmern und zumindest versuchen, über das, was geschieht, auf dem Laufenden zu bleiben, zu erfahren, was zu wissen wichtig ist, und die bis zu einem gewissen Grad ehrlich um das Wohl der Welt besorgt sind, weil sie mitbekommen, daß sie leidet. Gleichzeitig spüren, fühlen und wissen wir alle, daß unser Leben zutiefst von dem beeinflußt wird, was politisch, wirtschaftlich, psychologisch, ökologisch und spirituell in der Welt vor sich geht, weil wir in dieser Welt und von dieser Welt sind und sie nicht von uns verschieden ist. Das englische Wort für „leiden“ ist „to suffer , abgeleitet vom lateinischen sufferre, „ertragen“. Und in der Tat tragen wir in gewissem Maß die Welt in uns und auf unseren Schultern. Und darum leiden wir. Wie balancieren wir unsere Erfahrung der äußeren Welt aus, wo sie uns doch nicht 367
nur direkt durch die Sinne vermittelt wird, sondern zu einem so großen Maß auch indirekt durch die Nachrichten und durch große politische und wirtschaftliche und soziale Kräfte, die unser Leben mit seiner inneren Welt beeinflussen, mit jener inneren Landschaft, die so eng mit der äußeren Welt verknüpft ist, daß sie nicht wirklich von ihr zu trennen ist. Sollten wir uns gegen die äußeren Einflüsse abschirmen, obwohl sie unser Leben beeinflussen, auch wenn wir nicht auf sie achten? Sollten wir mehr auf sie achtgeben? Sollten wir auf andere Weise achtgeben? Wenn wir in der Welt leben und der Welt nicht vollkommen entsagen, sind dies die großen Fragen. Ich finde es ungemein erfrischend, ab und zu eine Auszeit von den Nachrichten zu nehmen, eine „Nachrichten-Fastenkur“ zu machen, wie Dr. Andrew Weil, der Begründer des Programms für Integrative Medizin an der medizinischen Fakultät der University of Arizona, es nennt und es seinen Patienten oft empfiehlt. Meiner Erfahrung nach ist es so, daß sich im Grunde nichts verändert hat, wenn man nach einer zehntägigen Meditationsklausur oder einer Campingtour in der Wildnis zurückkehrt, selbst wenn inzwischen große Ereignisse stattgefunden haben. Mir entging zum Beispiel völlig die Invasion Afghanistans, weil ich gerade in einer sechswöchigen Meditationsklausur war, und doch könnte ich sagen, daß ich eigentlich nicht viel verpaßt habe. Denken Sie einmal in der Größenordnung von Jahrhunderten und Sie verstehen besser, was ich meine. Während die Welt immer kleiner und offenbar noch zerstrittener wird, fällt mir immer wieder eine Gedichtzeile des japanischen Dichters und Einsiedlers Ryö23kan ein: „Keine Nachrichten von den Geschäften der Menschen.“ Wie wunderbar ist es doch, eine Zeitlang keine Nachrichten von den Geschäften der Menschen zu erhalten. Wie befreiend. Was immer die politische Lage und die Nachrichten zur Zeit von Ryökan waren, das weiß heute niemand, und außer für einige Historiker, die Japans Geschichte jener Zeit studieren, ist es auch für niemanden interessant. Ryōkan, der als Einsiedler lebte, erbettelte seine Lebensmittel in den Städten und spielte ungeachtet des Spotts und der Verachtung der Spießer mit den Dorfkindern. Er versuchte nicht, irgend etwas Großartiges zu tun und in die Geschichte einzugehen, und doch erinnert man sich heute auf der ganzen Welt seiner Gedichte und verehrt ihn für seine Weisheit. Hier ist das Gedicht zur Gänze: Meine Hütte liegt mitten im dichten Wald, die grünen Schlingpflanzen wachsen täglich immer länger. Keine Nachrichten von den Geschäften der Menschen, nur von Zeit zu Zeit das Lied eines Holzfällers. Die Sonne scheint, und ich flicke meine Robe, der Mond geht auf und ich lese buddhistische Gedichte. Von mir gibt es nichts zu berichten, meine Freunde. Wollt ihr meinen Sinn ergründen, hört auf, so vielen Dingen nachzujagen. Aufhören, so vielen Dingen nachzujagen ... das ist vielleicht ein Ratschlag, den auf die eine oder andere Weise zu beherzigen sich lohnt. Herauszufinden, auf welche Weise, das bleibt jedem von uns selbst überlassen: Es hängt davon ab, wer wir sind und 23
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wie gut wir uns selbst als Individuum, aber auch als Nation kennen. Denken Sie an die Zeilen, die Rūmi vor neunhundert Jahren schrieb: Die Neuigkeiten, die wir hören, sind voller Jammer für diese Zukunft, doch die wahren Neuigkeiten hier drinnen sagen, daß es durchaus nichts Neues gibt. Und denken Sie auch an die eindringliche Mahnung von William Carlos Williams: Es ist nicht leicht, aus Gedichten die Neuigkeiten zu erfahren, und doch sterben täglich Menschen kläglich an einem Mangel dessen, was dort zu finden ist. Die Franzosen haben ein Sprichwort: „Plus fa change, plus c'est la mime chose , was bedeutet: „Je mehr die Dinge sich verändern, desto mehr bleiben sie sich gleich.“ Da ist etwas Wahres dran. Und doch ist es so: Wenn wir Gewahrsein in den gegenwärtigen Augenblick, in irgendeinen Augenblick einbringen, dann ist er schon wegen dieser unserer Geste ganz deutlich anders. Einfach nur Zeuge zu sein verändert bereits alles. Das ist die Macht, die darin steckt, das, was ist, zu benennen, dem, was ist, eine Stimme zu geben, im Gewahrsein zu verweilen und einen moralischen Standpunkt zu beziehen, sich mit den eigenen Prinzipien in Übereinstimmung zu bringen, die eigene Wahrheit zu verkörpern, ohne erzwingen zu wollen, daß die Dinge anders sein mögen, aber auch ohne vor dem Zeugesein zurückzuschrecken, auch im Angesicht überwältigender physischer Macht oder sozialen Konformitätsdrucks und vielleicht sogar der eigenen Ängste. Einfach nur Zeuge zu sein verändert alles. Gandhi wußte das. Martin Luther King wußte das. Die Jungfrau von Orleans wußte das. Alle drei versetzen mit ihrer Überzeugung Berge - und alle drei bezahlten mit ihrem Leben dafür, was nur dazu diente, die Berge noch weiter zu versetzen. Sie „jagten nicht so vielen Dingen nach“. Aber sie setzten sich zu einhundert Prozent für das ein und standen hinter dem, was sie wußten. Und sie wußten es mindestens ebensogut mit dem Herzen wie mit dem Kopf. Man muß nicht unbedingt sein Leben hingeben, um Ungerechtigkeit und Leiden bezeugen zu können. Je mehr das Zeugesein in einem Zustand offenherzigen Gewahrseins für alle von uns zu einer Lebensweise wird, desto mehr wird die Welt sich verändern, denn die Welt ist nicht von uns verschieden. Aber diese Veränderung ist häufig ein langer, langsamer Prozeß, die Arbeit von Generationen. Und doch wird manchmal auch ein Wendepunkt erreicht, der noch einen Augenblick zuvor nicht vorauszusehen war. Und dann verändern oder wandeln sich die Dinge sehr rasch und nehmen eine neue Qualität an. Allerdings können wir uns, kurzfristig gesehen, nicht darauf verlassen, daß dies geschieht. Es verlangt große Geduld und Leidensfähigkeit, sich nicht von dem Leiden der Welt abzuwenden und sich dennoch nicht von seiner Größenordnung überwältigen 369
und zerstören zu lassen. Es verlangt große Geduld und Ausdauer, nicht zu glauben, wir könnten alles in Ordnung bringen, indem wir einfach Geld in das hineinpumpen, was wir als Problem ansehen, indem wir vielleicht versuchen, uns Einfluß oder Verbündete zu erkaufen oder unsere Werte anderen aufzuzwingen. Schon als Individuen gelangen wir nicht leicht zu Klarheit und Frieden, doch für eine Gesellschaft ist das noch weniger leicht. In gewisser Weise müssen wir andauernd jene Qualitäten des Geistes kultivieren, die Klarheit und Frieden, Selbstlosigkeit und Güte fördern, auch wenn diese, aus einer anderen Perspektive betrachtet, bereits ein Teil von uns sind und sie uns in ihrer ganzen Fülle schon jetzt und in der Tat nur jetzt zur Verfügung stehen. Gleichzeitig müssen wir unseren eigenen Hang zu Selbstgerechtigkeit, Arroganz, Aggression, Grausamkeit, Herrschsucht und Gleichgültigkeit erkennen, damit wir nicht von ihnen eingenommen werden, ohne daß wir es bemerken. Was für die innere Welt gilt, gilt auch für die äußere Welt. Frieden oder ein Wandel im Herzen, in unseren Ansichten oder Werten verlangen, wie der dichtende Farmer Wendell Berry sagt, viel Übung. Doch es ist eine Übung, die wir für uns selbst entwickeln müssen, da es keine Vorlagen dafür gibt, und es gibt nicht eine einzige richtige Art, das zu tun, genauso wie es nicht eine einzige richtige Art zu meditieren gibt. Doch wenn wir unserer eigenen Intelligenz vertrauen, unserer Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, und nicht dem Ruf folgen, der uns in fundamentalistische Geisteszustände hineinlocken will, denen wir so leicht zum Opfer fallen, wenn wir nur daran denken, unseren eigenen Gewinn oder Genuß zu maximieren (das haben wir „Gier“ genannt), wenn wir in Aversion gegen dasjenige und diejenigen verfallen, das oder die wir nicht mögen (das haben wir „Haß“ genannt) oder wenn wir vergessen, wer oder was wir in unserer tiefsten Natur sind, und natürlich auch wer oder was andere sind oder was unser Land ist (das haben wir „Verblendung“, „Unwissenheit“ oder „Unbewußtheit“ genannt), dann wird uns das befähigen, etwas zu bewegen, eine vielleicht kleine, aber entscheidende Veränderung herbeizuführen, wie winzig unser eigenes kleines Leben und Energiefeld in Relation zu den gewaltigen Kräften, die die Welt regieren, auch zu sein scheint. Und indem wir uns öffnen, können wir füreinander ein Spiegel sein, können wir einander inspirieren, so daß unsere Präsenz und unser Potential für transformierende und heilende Energien und Einflußnahme vergrößert werden. Die Dinge ändern sich, und es ist nicht immer dieselbe Geschichte, insbesondere wenn Sie beabsichtigen, die Geschichte zu verändern, indem Sie aufwachen und wach bleiben und das im Auge behalten, was das Allerwichtigste ist, und indem Sie Ihre Schönheit mit anderen teilen und die Schönheit anderer erkennen und daran teilhaben, wie immer wir dem auch nachgehen wollen. Integeres und gütiges Handeln inspiriert andere zu ebensolchem Handeln. Es gibt sehr viel grundlegend wohlwollendes Handeln und humane und wichtige Projekte im kleinen und großen Maßstab überall auf der Welt. Jedes dieser Angebote, wie geringfügig es auch sein mag, dient als Spiegel und als Leuchtfeuer, indem es die eigenen Angebote und ähnliche Angebote der Güte und Weisheit reflektiert und Licht in alle Richtungen ausstrahlt. Wenn wir uns die menschliche Geschichte ansehen, dann werden wir sehen, daß ein gutes Herz der Schlüssel zum Erreichen dessen gewesen ist, was die Welt als große Errungenschaften betrachtet: im Bereich der Bürgerrechte, 370
der Sozialarbeit, der politischen Befreiung und der Religion, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine aufrichtige Einstellung und Motivation gehören nicht nur zum Bereich der Religion; es kann sie vielmehr jeder erzeugen, indem er sich einfach wahrhaft um andere kümmert, um die eigene Gemeinschaft, um die Armen und Bedürftigen. Kurz gesagt: Sie entstehen daraus, daß man sich zutiefst für das Wohl der größeren Gemeinschaft interessiert und engagiert, also für das Wohlergehen anderer. Handeln, das aus solch gütiger Einstellung und Motivation entsteht, wird als gutes, nützliches Handeln in die Geschichte eingehen, als Dienst an der Menschheit. Wenn wir heute in den Geschichtsbüchern von solchen Taten lesen, dann fühlen wir uns glücklich und ermutigt, auch wenn sich diese Dinge in der Vergangenheit zutrugen und heute nur noch Erinnerungen sind. Wir erinnern uns mit einem tiefen Gefühl der Bewunderung daran, daß diese oder jene Person eine große und edle Tat getan hat. Auch in unserer eigenen Generation können wir einige Beispiele für eine solche Größe finden. Andererseits sind unsere Geschichtsbücher ebenso voll von Berichten über Menschen, die die schrecklichsten und zerstörerischsten Dinge getan haben: Sie haben andere Menschen getötet und gefoltert, haben Not und unbeschreibliches Leid über sehr viele andere Menschen gebracht. Diese Geschehnisse spiegeln die dunkle Seite unseres gemeinsamen menschlichen Erbes wider. So etwas geschieht nur dort, wo es Haß, Zorn, Neid und ungezügelte Gier gibt. Die Weltgeschichte besteht einfach aus den Annalen der kollektiven Auswirkungen von negativen und positiven Gedanken menschlicher Wesen. Das, so denke ich, ist ziemlich deutlich. Wenn wir über die Geschichte nachdenken, dann wird uns klar, daß wir, wenn wir eine bessere und glücklichere Zukunft haben wollen, unseren Bewußtseinszustand, wie er jetzt ist, untersuchen und uns fragen müssen, zu welchen Lebensumständen diese Einstellung in der Zukunft führen wird. Man kann gar nicht genug betonen, welch alldurchdringende Macht diese negativen Einstellungen haben. TENZIN GYATSO, DER XIV. DALAI LAMA, Die Kraft der Menschlichkeit
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Selbstgerechtigkeit bringt uns nicht weiter Apropos negative Einstellungen: Auch wenn ich voller guter Absichten bin, Gleichmut und Geräumigkeit zu kultivieren, bemerke ich doch, wie leicht ich in Selbstgerechtigkeit und Entrüstung verfalle, sobald ich an die Dinge zu denken beginne, die mir in der Welt nicht gefallen, insbesondere wenn sie auf menschliches Handeln oder Nichthandeln zurückzuführen sind. Ich erwische mich dabei, wie ich etwas „personifiziere“, das im Grunde viel größer ist als einzelne Schurken, auch wenn einzelne Personen in dem, was in irgendeinem Augenblick geschieht, eine bestimmte und manchmal eine schreckliche Rolle spielen. Man braucht nur an die vielen sehr realen Ungerechtigkeiten zu denken, an soziale Ungleichheit, an die Ausbeutung zahlloser Menschen und vieler Ressourcen, die manchmal durch eine falsch verwendete und verdrehte Sprache kaschiert werden, so daß es schwierig ist, wirklich zu erkennen, was vor sich geht, da die Wörter selbst zu einer Art surrealer Nachrichtensprache geworden sind. Oder man denke an das grenzenlose Leid, das Menschen dadurch angetan wird, daß aus dubiosen Gründen und mit schändlichen Mitteln Kriege geführt werden. Wir haben das Gefühl, daß Menschen in Führungsund Machtpositionen oft bereit sind, schamlos zu lügen, zu heucheln, Dinge zu erfinden, andere in die Irre zu führen, zu manipulieren, zu leugnen, zu übertünchen, sich Verbündete zu kaufen und all das, was sie tun, zu rationalisieren, sowie alles zu tun, was sie für nötig halten, um ihre dubiosen Ziele zu erreichen. Und wir brauchen nur an die zunehmende Konzentration enormer Macht, großen Einflusses und riesigen Reichtums in den Händen einer kleinen Zahl von Menschen und von multinationalen Unternehmen zu denken, die oft so handeln, als stünden ihre eigenen Interessen, ihre Macht, ihr Wachstum und ihre Gewinne über dem Wohl aller anderen und sogar über dem Gesetz. Aber dann fällt mir wieder ein: Selbst wenn all das zu einem gewissen Grad wahr ist, und ich betone zu einem gewissen Grad, in einem Ausmaß, das wir gewöhnlich nur erraten, um das wir aber nicht wirklich wissen, ergeben sich aus dieser selbstgerechten Einstellung mindestens zwei Probleme. Das eine ist die Sache mit dem Selbst, das andere die Sache mit der Gerechtigkeit. Ich bemerke, daß ich niemals gegenüber Wirbelstürmen und Schneestürmen Selbstgerechtigkeit empfinde. Ich fühle niemals Selbstgerechtigkeit in bezug auf die Opfer, die Zerstörungen und die Verluste, die von Überschwemmungen, von „natürlichen“ Waldbränden oder von Erdbeben verursacht werden, obwohl sie so viele Menschenleben kosten können und für die Überlebenden oft solch fürchterliches Leid nach sich ziehen. Natürlich entstehen in Reaktion auf solche Ereignisse Gefühle wie große Traurigkeit, Mitgefühl, ein starker Wunsch zu helfen. Aber keine Selbstgerechtigkeit. Warum? Ich schätze, weil es niemanden gibt, den ich dafür verantwortlich machen kann oder dem ich ein Motiv zuschreiben kann. Erdbeben geschehen einfach. Aber sobald ein „sie“ dahintersteht wie in „sie hätten doch müssen“ oder „sie hätten nicht sollen“ oder „wie konnten sie nur“ oder „warum machen sie nicht“, ist das etwas anderes. Sobald ich das Gefühl habe, daß ein Handelnder dahinter steht, daß eine Untat, Gleichgültigkeit, Gier, Verantwortungslosigkeit oder Falschheit 372
dahinterstecken kann, entsteht der Impuls in mir, ärgerlich und selbstgerecht zu werden, „ihnen“ ein Motiv zuzuschreiben und „sie“ zu einem Problem zu machen oder sogar zu entmenschlichen. Und dieser Impuls ist besonders stark, wenn ich das Gefühl habe, daß „ich“ recht habe, daß „meine“ Ansichten und Meinungen auf Wahrheit beruhen, daß „ich“ weiß, was los ist, und endlos Belege für meine Position aufzählen kann. Und er ist noch viel stärker, wenn ich „weiß“, daß „sie“ das Gesetz beugen oder gar brechen, daß sie die Umwelt verschmutzen, das Grundgesetz mit Füßen treten, andere Länder bevormunden, sie bestechen oder skrupellos eine mir illegitim erscheinende Macht oder Einfluß und Reichtum ansammeln und ihre Position als Staatsdiener arrogant ausnutzen. Und meine Selbstgerechtigkeit bevorzugt dabei niemanden - sie kann Menschen in allen Lebensbereichen in allen Kulturen, nah und fern, zu egal welchem Thema verdammen, obwohl ich sie nicht schon wer weiß wie lange kenne und natürlich auch nicht ihre Kultur und ihre Sitten. Und es gibt noch ein weiteres Problem mit meiner Selbstgerechtigkeit. All die Dinge, gegen die ich etwas einzuwenden habe, passieren seit vielen Jahrhunderten. Während ich einen Abriß der frühen chinesischen Geschichte in einem Buch mit den Schriften von Zhuangzi lese, dem Autor des Gedichts, das am Ende dieses Kapitels steht, fällt mir auf, daß ein Mann namens Yü, der etwa um 2205 vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll, als der „tugendhafte Gründer der Xia-Dynastie“ beschrieben wird, und ein Mann namens Jie, der vierhundert Jahre später um 1818 vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll, der „degenerierte Totengräber der Dynastie“ genannt wird. Es hat schon immer Zyklen von relativer Ruhe und vorherrschender Unordnung, von relativer Sicherheit und überhandnehmender Unsicherheit, von relativer Ehrlichkeit im Staatsdienst und himmelschreiender Unehrlichkeit, von relativer Güte und unzweifelhaft üblen Taten gegeben. Wir können das personifizieren und bestimmte Individuen dafür verantwortlich machen, wir können es auch persönlich nehmen, aber die Sache geht sehr viel tiefer. Vielleicht sind wir alle nur Schauspieler in einem Traumfilm, der erst zu Ende geht, wenn wir erkennen, daß wir es sind, die den Traum weiterführen, und daß das Allerwichtigste ist, daß wir daraus erwachen. Dann verflüchtigen sich vielleicht all die Alptraumgestalten in dem Film, weil wir ihn nicht länger aufrechterhalten und weiterführen müssen und nicht versuchen müssen, ihm eine ganz bestimmte Richtung zu geben. Wollen wir weiterhin in dieser Traumsequenz im Kreis laufen, indem wir uns in dem üblichen „Für oder wider“-Streit auf eine Seite schlagen und für den zumindest vorübergehend besten Ausgang der Geschichte, den wir erreichen können, kämpfen, auch wenn wir dabei in dem Traum hängenbleiben und früher oder später dem „degenerierten Totengräber“ in Form eines Hitler, Stalin, Pol Pot, Saddam Hussein oder Pinochet oder einer anderen grauenvollen Personifizierung oder in Form von gesichtslosen Zuckungen der Unwissenheit begegnen, die fähig sind, andere in ihren Bann zu ziehen und dieses Virus dadurch in Umlauf zu bringen, daß sie Furcht, Haß und Gier in einem verletzlichen und unzufriedenen Volk verbreiten. Oder wollen wir aufwachen und dadurch diese Zyklen abmildern und vielleicht ganz auslöschen, daß wir ein völlig anderes Verständnis des Traums selbst, der Wurzel des Un-Wohlseins, in unser Bewußtsein einladen und Möglichkeiten finden, ein gesünderes dynamisches Gleichgewicht herbeizuführen, das Wege erkennt, wie wir die Impulse in Schach halten und mit ihnen arbeiten können, die so viele unserer Taten als Individuen antreiben und 373
deshalb das Tun so vieler unserer Institutionen, und die uns früher oder später immer wieder in den Schlaf oder in die Trance zurücklocken? Oder ist das gar keine Frage des Entweder-Oder, sondern von beidem zusammen, weil es da nicht wirklich zwei voneinander getrennte Merkmale der Welt gibt, sondern paradoxerweise, wechselseitig eingebettet, ein nahtloses Ganzes? Sie sehen das Dilemma. Selbstgerechtigkeit bringt uns nicht weiter, so verständlich sie auch sein mag und auf welcher Seite sie auch stehen und um welches Thema es auch gehen mag. Sie bringt uns nicht weiter, weil sie davon ausgeht, daß die Dinge anders ablaufen „sollten“. Aber in Wahrheit ist es so, daß sie genau so ablaufen, wie sie ablaufen. Dies ist es, genau jetzt, und es gibt nur das Jetzt. „Sollte oder sollte nicht“ sind irrelevant; sie sind Teil einer Geschichte, die wir uns selbst erzählen und die uns vielleicht blind macht für eine kreativere und wahrere Art, die Situation zu sehen und mit ihr umzugehen, eine Art, die tatsächlich etwas verändern und die glockenförmige Kurve etwas verschieben könnte, die eine orthogonale Rotation katalysieren könnte, die den Wahnsinn benennen, wenn nicht gar augenblicklich beenden könnte, und die sich nicht damit begnügt, die Besetzung der handelnden Personen zu verändern, aber dasselbe ungeprüfte, mißverstandene und oft verrückte Film-Skript beizubehalten, was darauf hinausliefe, die Liegestühle auf dem Deck der „Titanic“ neu anzuordnen, nach ihrem Sinken eine neue Titanic zu bauen und dabei wiederum die Liegestühle neu anzuordnen. Es ist unbedingt nötig, daß wir lernen, auf unsere direkte Erfahrung der Dinge zu vertrauen, daß wir den Mut heraufbeschwören, auf dem Fundament weisen Unterscheidungsvermögens und tiefen Begreifens unserer Überzeugungen zu stehen statt auf dem Boden von Ideologien und verlogener political correctness. Vielleicht müssen wir uns selbst lehren und uns von der Welt beibringen lassen, wie man in mutiger Offenheit verweilt und das wahrnimmt, was hinter den Schleiern des Scheins und der Desinformation und auch jenseits unserer eigenen Blindheit, unserem Wunschdenken und unserer Neigung liegt, alles zu Schwarz oder Weiß, zu Gut oder Böse zu machen und den Kontakt zu der Abgestuftheit der Dinge zu verlieren. Doch bei all dem müssen wir uns dennoch in dem verankern, was wir sehen und fühlen, und müssen unseren Weg zu dem erspüren, was wir tun könnten, zu den Dingen, für die wir uns tatsächlich engagieren wollen, dazu, wie wir in der Welt etwas bewegen können, ohne entweder unserem engstirnigen, auf Angst gegründeten Ich mit all seinen Problemen auf den Leim zu gehen, oder in eine Selbstgerechtigkeit zu verfallen, die uns glauben macht, daß wir moralisch aufrechter sind als andere, daß wir irgendwie reiner, erleuchteter und ohne jeden Makel von Schuld oder Sünde sind, und daß wir diejenigen sind, die wirklich Bescheid wissen. Je häufiger wir uns das selbst einreden oder es denken, desto wahrscheinlicher ist es, daß wir auch daran glauben, und dann wird es zu einer weiteren verdinglichten Vorstellung, die gerade jener Freiheit und Ehrlichkeit und wahren Moral im Wege steht, die wir bei anderen erwarten und von denen wir glauben, sie selber zu besitzen und danach zu leben. Sie spüren wohl, wie gefährlich diese Art des Denkens ist, besonders wenn wir uns dessen nicht bewußt sind, denn das ist es ja, was jedermann empfindet, ganz gleich, auf welcher Seite er bei irgendeinem Thema steht. „Ich bin im Recht, und die anderen sind im Unrecht.“ - „Ich weiß, was richtig ist, und sie wissen es nicht.“ „Was stimmt bei denen bloß nicht?“ Und dann beginnen wir, ihnen irgendwelche 374
Motive zuzuschreiben. Sind Sie tatsächlich im Recht, wenn Sie glauben, recht zu haben? Und sind die anderen im Unrecht, wenn Sie sagen, daß sie nicht recht haben? Soen Sa Nim sagte oft: „Mach den Mund auf, und du liegst falsch.“ Und dennoch müssen Sie und wir alle den Mund aufmachen. Und manchmal müssen wir auch handeln, ungeachtet der Komplexität und Ungewißheit, die einfach zur Natur der Realität selbst gehören. Was also können wir tun? Dies ist ein gutes Kōan für unsere meditative ebenso wie für unsere politische Praxis. Können wir im Nichtwissen verweilen und zu etwas Neuem, Wagemutigem, Phantasievollem und Heilendem jenseits der engen Grenzen des reaktiven, nicht hinterfragten und stark konditionierten Denkprozesses und jenseits der Fessel schädlicher Emotionen, insbesondere der Angst, erwachen? Können wir Wege finden, Güte sowie wahre innere und äußere Stärke zu verkörpern, besonders in Momenten der Krise und Herausforderung, und können wir gleichzeitig unsere Selbstgerechtigkeit fallenlassen, die uns unterminiert und verdirbt? Allein schon auf bestimmte Weise über Dinge nachzudenken kann selbstgerechte Entrüstung auslösen. Über dieselben Dinge auf andere Weise nachzudenken kann den Weg zu Einfallsreichtum und Kreativität, zu Offenherzigkeit, zu achtsamem und wohlwollendem Handeln ebnen. Aber das Ich ist sein eigenes Konstrukt, und selbst wenn die Fakten klar sind: das, was wir in einer bestimmten Situation, die Selbstgerechtigkeit in uns auslöst, tun, ist oft nicht klar. „Wir“ können in unserer Entrüstung ebenso unwissend sein wie „sie“ es in ihren „üblen Machenschaften“ sind, wer immer „sie“ sind und wer immer „wir“ sind. Vielleicht ist etwas sehr viel Besseres und Weiseres vonnöten, etwas, was mehr unser In-Beziehung-Stehen berücksichtigt, eine weniger dualistische Sichtweise, die unsere Empfindung eines „wir“ gegen „sie“ oder deren nahen Verwandte, die Empfindung des „Gut“ gegen „Böse“, nicht ganz so schnell verdinglicht. Vielleicht ist eine Sichtweise vonnöten, die all das sieht, wenn der Impuls in uns so stark ist, daß er, obwohl wir es besser wissen, in Begleitung vieler Emotionen von selbst aufsteigt, und es sanft im Gewahrsein halten kann. Dann finden wir vielleicht, ich sage bewußt vielleicht, Wege dazu, nicht von dem Konflikt in unserem eigenen Denken und Fühlen zerrissen zu werden, weise und entschlossen zu handeln, um die Dinge in Richtung Heilung zu bewegen, weg von UnWohlsein und Ungleichgewicht hin zu mehr Wohlsein, Gleichgewicht und Harmonie. Es geht, in einem Wort, um eine Politik der Weisheit und des Mitgefühls, genährt durch Achtsamkeit und Liebende Güte. Das würde bedeuten, daß wir uns wahrhaft um den politischen Körper kümmern, ihn schützen und ehren, daß wir uns verpflichten, ihm alles abzuverlangen und nicht nur so wenig wie möglich, und daß wir darauf vertrauen, daß klares Sehen der Weg zu wahrer Sicherheit und zu nachhaltiger Harmonie und langfristigem Gleichgewicht ist.
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Wenn ein Mann einen Fluß überquert und ein leeres Boot mit seinem eigenen Kahn zusammenstößt, so wird er nicht zornig werden, selbst wenn er ein aufbrausender Mensch ist. Doch wenn er einen Mann in dem Boot sieht, wird er ihm zurufen, er solle ausweichen. Wird sein Ruf nicht gehört, dann wird er wieder rufen und noch ein drittes Mal, und er wird beginnen zu schreien und zu fluchen. All das nur deshalb, weil sich jemand in dem Boot befindet. Doch wäre das Boot leer, so würde er nicht fluchen und nicht zornig werden. Kannst du dein eigenes Boot leeren, wenn du den Fluß der Welt überquerst, dann wird dir niemand gram sein, und niemand wird dir ein Leid tun wollen. ZHUANGZI (3. JH. V. CHR.) (nach der englischen Version von Thomas Merton)
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Politik im 21. Jahrhundert einmal anders Wer sich beim Regieren der Menschen auf das Dao vorläßt, versucht die Dinge nicht zu erzwingen oder Feinde mit der Kraft von Waffen zu besiegen. Für jede Kraft gibt es eine Gegenkraft. Gewalt, selbst wenn eine gute Absicht dahintersteht, schlägt immer auf sich selbst zurück. Der Meister tut seine Arbeit und hält dann inne. Er begreift, daß das Universum für immer außer Kontrolle ist und daß der Versuch, die Ereignisse zu beherrschen, gegen den Strom des Dao geht. Weil er an sich selbst glaubt, versucht er nicht, andere zu überzeugen, und weil er mit sich selbst zufrieden ist, braucht er nicht die Zustimmung anderer. Weil er sich selbst annimmt, wird er von der ganzen Welt angenommen. LAOZI (5. JHD. v. CHR.), Daodejing, NACH DER ENGLISCHEN VERSION VON STEPHEN MITCHELL24
Stellen Sie sich eine Politik vor, die auf Achtsamkeit gründet. Stellen Sie sich ein Bewußtsein bei Regierenden und einen demokratischen Prozeß vor, die darum wissen und würdigen, daß „das Universum für immer außer Kontrolle ist“, nicht weil dieser Satz über dem Portal irgendeines Regierungsgebäudes eingemeißelt ist, sondern weil seine Wahrheit durch eine Schulung in Achtsamkeit von einer großen Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft aus erster Hand erfahren wurde. Unsere Entscheidungsfindung und selbst das Verständnis unseres Eigeninteresses wären radikal anders, wenn wir darin von einer solchen Einsicht und von derart weiser Demut ausgingen. Dann könnte es zu einem wesentlich höheren Maß, als das heute der Fall ist, zu einem Konsens und einem Handeln kommen, die auf Weisheit und Mitgefühl basieren und auf Verständnis für den Graben zwischen dem schönen Schein und dem wahren Zustand der Dinge, so daß wir unser Handeln stärker nach der Wirklichkeit als nach dem Schein ausrichten könnten. Ein solches Handeln würde dem Gestalt Dieser Text stellt angeblich eine „Übersetzung“ des Kapitels 30 aus dem Daodejing des Laozi dar. Auch wenn verschiedene Aussagen aus dem Daodejing darin wiedererkennbar sind, unter anderem auch solche aus dem 30. Kapitel, sollte man diesen Text eher dem Laozi-Übersetzer Stephen Mitchell zuschreiben und könnte ihn eine „Variation über Themen aus dem Daodejing“ nennen. (Anm. d. Übers.) 24
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verleihen, was sich alle Gemeinschaften von einer wahren Regierung und einer weisen Demokratie erhoffen, nämlich ein echtes Fragen nach den inneren und äußeren Bedürfnissen ihrer Wähler und der größeren Gesellschaft, in der sich das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück entfalten. Natürlich sind die wahren Bedürfnisse einer Gesellschaft immer vielfältig und stehen aufgrund begrenzter Ressourcen oft auch in einem Konflikt miteinander. Auch ein politischer Prozeß, der stärker auf Achtsamkeit beruht, wäre deshalb ohne Zweifel immer noch höchst chaotisch, von Wettstreit geprägt und sehr lebhaft. Aber es wäre auch ein Prozeß, auf den wir mit mehr Zuversicht blicken und dem wir eher vertrauen könnten, weil wir darin letztlich auf uns selbst vertrauen, indem wir einander vertrauen. Und aus gutem Grund könnte das bei allen Betroffenen weit mehr Anerkennung und Würdigung finden. Wenn wir von der „üblichen Politik“ sprechen, dann ist das zumeist Ausdruck eines sehr oft durchaus verständlichen Zynismus. Vielleicht ist das, was wir für unser Zeitalter brauchen, keine „Politik wie üblich“, die uns nur hinter einem anderen Trommler hermarschieren läßt. Vielleicht sollten wir ja gar nicht marschieren, sondern vielmehr fließen, an die Politik mit einem anderen Bewußtsein herangehen, einem Bewußtsein, daß sich der „Realitäten“ bewußt ist, aber gleichzeitig nicht vergißt, dass wir alle miteinander verbunden sind, und der dessen gewahr ist, daß wir alle Teilhaber dieses einen Körpers der Welt sind. Wenn wir durch tatsächliche Praxis unsere wechselseitige Verbundenheit sehr viel intimer erfahren, dann erkennen wir vielleicht bereitwilliger, daß all unsere egozentrischen Motive und Impulse unser Vermögen einschränken, das größere Bild wahrzunehmen und zu erkennen, wie wir von echtem Nutzen sein können. Wir würden sehen, daß engstirnige Motivationen und Ansichten eine Quelle von großem Leid für uns selbst und für andere sind. Aus einer solchen Perspektive würden ganz natürlich größere Weisheit, mehr Mitgefühl und ein effektiveres und wohlwollenderes Handeln entspringen. Die Politik selbst würde zu einer transformierenden und heilenden Bewußtseinsschulung werden. Die ersten, die davon profitierten, wären die Politiker selbst, aber letztlich würde die ganze Welt dadurch gewinnen. Dies könnte die einzigartige Herausforderung unserer Spezies und unseres Zeitalters sein: auf die Möglichkeiten unserer eigenen wahren Natur als menschliche Wesen zu antworten, weil wir sie uns vorstellen und sie erkennen können, und weil wir vielleicht so klar wie nie zuvor die möglichen Konsequenzen sehen, die sich ergeben, wenn wir nicht antworten, wenn wir aus reiner Trägheit in unserem Zustand der KonsensusTrance verweilen, wenn wir nicht aufwachen und zur Besinnung kommen. Es könnte durchaus so sein, daß sich das Schicksal unserer ganzen Spezies dadurch entscheidet, und zwar nicht erst in ferner Zukunft, sondern vielleicht schon in den kommenden Generationen, viel früher, als wir angenommen haben. Denn so sehr wir auch Güte und Schönheit aus unserer eigenen direkten Erfahrung kennen, wenn wir bereit sind, in unserem Leben wirklich achtsam zu sein, so sehr kennen wir auch die andere Seite der Medaille, daß wir nämlich von unserem eigenen Geist geblendet werden können, besonders wenn wir die Wirklichkeit der Dinge falsch wahrnehmen und von destruktiven Gefühlen überwältigt werden. Zu solchen Zeiten ziehen wir uns zusammen, verkrampfen uns und werden dadurch kleiner. Die Entscheidungen, die wir in solchen kontrahierten Bewußtseinszuständen fällen, die 378
Dinge, die wir sagen, und das, was wir tun, können letztlich sehr viel Schaden für uns selbst und für andere anrichten. Kennen wir unsere innere Landschaft nicht aufs genaueste und sind wir nicht damit vertraut, wie sie unsere Entscheidungen und unser Verhalten im wahrsten Sinn des Wortes von Moment zu Moment prägt, so kann sich dieser Schaden mit der Zeit anhäufen und zu immer größerer Disharmonie und Unruhe und zunehmendem Un-Wohlsein führen. Das kann sogar dann oder vielleicht auch gerade dann der Fall sein, wenn die Gefahr, in der wir uns kollektiv stehen sehen, sich als ganz real erweist. Und es ist sogar dann der Fall, wenn die Möglichkeiten, die wir für uns selbst sehen und die wir hoffen, wahrnehmen zu können, ebenfalls ganz real sind. Die Interpretation, ja sogar die Existenz und Natur dieser Gefahr und dieser Möglichkeiten sind immer noch Produkte unserer Sinneswahrnehmungen und der Aktivitäten unseres eigenen Geistes und lassen deshalb ein breites Spektrum ihrer Wahrnehmung und Interpretation zu, abhängig von der Qualität des Geistes, die zum Tragen kommt. Wir alle laufen Gefahr, uns als Reflex angesichts einer vermeintlichen Gefahr physisch, emotional, kognitiv und spirituell zu verkrampfen. Und diese Gefahr wird stets noch erheblich vergrößert durch unsere Konditionierungen und die vorherrschenden, aber verschwiegenen Annahmen unserer eigenen Kultur, besonders wenn wir als Kultur unter chronischem posttraumatischem Streß leiden, was bei den Vereinigten Staaten heute sicherlich der Fall ist. Hier kommt nun die Achtsamkeit ins Spiel, da sie uns, wie wir gesehen haben, auf jeder Ebene helfen kann, unsere Fähigkeit zu verfeinern, die Wirklichkeit der Dinge unterhalb ihres Erscheinungsbildes und unterhalb unserer eigenen Impulse zu sehen und zu erkennen, uns gerade dann in kurzsichtige Bewußtseinszustände zurückzuziehen, wenn wir Klarheit und Leidenschaftslosigkeit am meisten gebrauchen könnten. Je mehr Achtsamkeit zu einer von Herzen geübten Priorität in der Welt würde, desto mehr würden wir am Ende die Wahrscheinlichkeit vergrößern, auf schwierige Situationen auf angemessene, phantasievolle und damit wirklich kraftvolle Art zu antworten, statt nur reflexhaft auf unsere übliche von Gewohnheiten konditionierte Weise zu reagieren. Es würde wahrscheinlicher werden, daß wir letzterem vorbeugen, indem wir zu neuen, kreativen und effektiveren sowie mitfühlenderen Energien Zugang suchen und diese freisetzen, Energien, die selber transformierenden Wandel in Individuen, Organisationen sowie Nationen, die heute weitgehend von „der Politik wie üblich“ regiert werden, auslösen können. Das erinnert mich an eine Beschreibung der japanischen Kampfkunst Aikido, die ich schon vor langer Zeit gelesen, aber nie vergessen habe. Dort hieß es in etwa: Wenn dich jemand angreift, dann ist er auf gewisse Weise schon nicht mehr ganz bei sich, dann hat er durch die bloße Irrationalität dieses aggressiven Akts bereits seinen eigenen Punkt von Unabhängigkeit und Gleichgewicht aufgegeben. Wenn du dich dann nicht der Angst ergibst und so deinen eigenen Gleichmut und deine Klarheit verlierst, sondern vielmehr in die angreifende Energie eintrittst und mit ihr verschmilzt, während du dein eigenes Gleichgewicht und deine Mitte aufrechterhältst, dann kannst du die in sich schon unbalancierte Energie und das Bewegungsmoment des Angreifers mit sparsamstem Einsatz gegen ihn selbst wenden, so daß dabei möglichst wenig Schaden und so viel Gutes wie möglich entsteht. Du verschmilzt mit dem Gegner, leitest ihn um deinen eigenen Schwerpunkt herum und neutralisierst seinen Angriff. Um dies zu erreichen, mußt du ihn kaum berühren. Und doch ist er überrumpelt und weiß nicht, wie ihm geschah. 379
Stellen Sie sich vor, wir würden unsere Macht angesichts von Herausforderungen und Aggressionen jeglicher Art auf diese bewußte Weise auf allen Ebenen in der Welt anwenden, indem wir von der Erkenntnis ausgehen, daß ein Angreifer oder potentielle Angreifer bereits durch die aggressive und dadurch irrationale oder verblendete Natur ihres Tuns oder ihrer Absichten große Schwäche und großes Ungleichgewicht zu erkennen gegeben haben. Das setzt natürlich voraus, daß wir als Reaktion darauf, daß andere ihr Gleichgewicht verloren haben, nicht selber die Balance verlieren, wie das so oft geschieht, so daß Zorn weiteren Zorn und Gewalt weitere sinnlose Gewalt gebiert. Es hat immer schon Individuen und Gruppen gegeben, die sich menschlicheren und wohlwollenderen Wegen, die höchsten Mittel und die sinnvollsten Zwecke in den unterschiedlichsten menschlichen Unternehmungen zu definieren und zu verwirklichen, verpflichtet gefühlt haben, ganz zu schweigen von den innewohnenden Möglichkeiten, von unvorhersehbaren Ergebnissen überrascht zu werden, wenn der Prozeß selbst, wie zum Beispiel in einem echten Dialog, Integrität besitzt und man genug Vertrauen in ihn hat, um nicht ganz bestimmte Ergebnisse erzwingen zu wollen. Was man heute ganz allgemein als soziales Unternehmertum bezeichnet, wie etwa die Entwicklung des Instruments Mikro-Kredit, durch den progressive Banken armen Menschen in Ländern wie Bangladesch Millionen lukrativer Kleinkredite geben können, damit sie ein kleines Unternehmen gründen und ihren Lebensstandard anheben können, ist ein bemerkenswertes Beispiel für diese Art von phantasievollem, auf die Welt angewandtem „Aikidō“ - in diesem Fall für die vorbeugende Konfrontation mit den Kräften hinter extremer Armut und Chancenlosigkeit und dafür, wie man Wege findet, „einzutreten“ und zu „verschmelzen“, an dem bisher nicht wahrgenommenen Drehpunkt eines Dilemmas zu stehen und die Dinge um das neu eingeführte Element zu einem guten Ausgang herumzuführen. Was sich heute ändert, ist die bereits jetzt weitverbreitete, wachsende Anerkennung, daß die innere und die äußere Landschaft des Geistes und der Welt sich gegenseitig durchdringen und daß man auf der institutionellen Ebene ebenso wie in unserem individuellen Leben die eigene Motivation, Gedanken und Gefühle sowie die ökonomischen und sozialen Faktoren, die sie beeinflussen, kennenlernen und pflegen muß, so wie ein Gärtner seinen Garten pflegt, damit unsere besten Absichten auch effektiv verwirklicht werden können. Ganz gleich, wie gut jemand über ein bestimmtes Thema informiert ist oder nicht, wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß unsere politischen Führer gewöhnlich ebenfalls keinen Zugang zu wirklich allen Details dessen haben, was auf der Welt geschieht. Man kann sie oft dabei ertappen, daß sie auf sich entfaltende Ereignisse reagieren und damit umgehen müssen, ohne genau zu wissen, was wirklich vor sich geht, oder die Konsequenzen dessen, was sie unternehmen, abschätzen zu können, besonders wenn sie nicht mit den Augen der Ganzheit sehen, sondern sich mehr darum kümmern, gewisse eng definierte Interessen zu wahren, seien diese nun wirtschaftlicher oder geopolitischer Natur oder einfach nur ihre eigene Reputation. In der politischen Arena müssen ebenso wie in der Medizin oft von Moment zu Moment und von Tag zu Tag Entscheidungen auf der Grundlage unvollständiger Informationen und beträchtlicher Ungewißheit getroffen werden. Es läuft darauf hinaus, daß man Muster in den sich entfaltenden Ereignissen erkennen und sie mit vergangenen Erfahrungen vergleichen muß, daß man die Chancen mit Intuition einschätzen und mögliche Gewinne mit Risiken abwägen muß. All das ist eine 380
Form des Urteilens, die ständiges Gewahrsein, Unterscheidungsvermögen und Integrität verlangt. Doch unglücklicherweise wird eine solche Entscheidungsfindung ohne ein Gewahrsein und Verständnis dessen, was unser wahres „Eigeninteresse“ sein könnte - wobei wir vielleicht die wechselseitige Abhängigkeit von Selbst und anderen nicht vergessen und damit eine umfassendere und „selbstlosere“ Motivation hervorbringen -, unvermeidlich von Ideologie, politischen Bündnissen und den Anforderungen von bestimmten Interessengruppen und von Inhabern von Privilegien, denen man sich verpflichtet fühlt, beeinflußt. Der Impuls, sich den Dingen mit einem leidenschaftsloseren und breiter fundierten Gewahrsein anzunähern - gekoppelt mit unterscheidungsfähiger Nachforschung, einem Verlangen nach Heilung und einer Verpflichtung zu dem, was man das Gemeinwohl genannt hat, zum Wohlbefinden und der Gesundheit unserer Gesellschaft und unserer Welt und jedes Individuums, das in ihr lebt -, kann leicht überdeckt werden oder sogar ganz verloren gehen. Diejenigen, die in das Alltagsgeschäft der Politik eingebunden sind, und das betrifft auch die besten Politiker und Staatsmänner, sind oft, was durchaus verständlich ist, geneigt, ihre Anstrengungen vor allem auf das zu richten, was sie glauben, daß wir es glauben sollten, statt offener und ehrlicher ihre Voreingenommenheit einzugestehen und uns einzuladen, unsere eigenen Entscheidungen zu fällen. Man vergißt leicht, daß „das Universum für immer außer Kontrolle ist“. Unglücklicherweise besteht ständig die Gefahr, daß ihre Situationsanalyse von Ideologie und engstirnigem Eigeninteresse gefärbt wird, zusätzlich zu der enormen Herausforderung, auf so unglaublich große Komplexität reagieren und mit der Unsicherheit und den hohen Risiken, die mit bestimmten Entscheidungen verbunden sind, umgehen zu müssen. Im schlimmsten Fall mögen sie versucht sein, den wahren Zustand der Dinge in einem Ausmaß zu verfälschen, zu verschleiern oder zu leugnen, welches auf Heuchelei oder schamloses Lügen hinausläuft. In der Medizin gibt es ein besonderes Wort für eine solche Einstellung und das Verhalten und die Entscheidungen, die daraus resultieren können. Der Begriff „iatrogen“ bezeichnet einen Zustand oder ein Problem, welches durch das bewußte oder unbewußte Fehlverhalten oder die Untätigkeit des Arztes oder, in einem umfassenderen Sinn, des Gesundheitssystems hervorgebracht wird. Viele der vorherrschenden Einstellungen und Praktiken der Politiker würde man als iatrogen oder gar kriminell bezeichnen, wenn sie im Feld der Medizin angesiedelt wären. Unglücklicherweise wird die Familie des Patienten, das sind wir alle, in der Politik zumeist im Dunkeln gelassen, und man erzählt uns nur, was die Verantwortlichen uns glauben machen wollen, wobei sie oft unsere tiefsten Ängste ausnutzen und ihre eigenen Ideen, Methoden und ihre eigene Partei als einzige Quelle der „Erlösung“ darstellen. Andererseits kann man, wie Yogi Berra es einmal so schön formuliert hat, „eine Menge sehen, wenn man einfach nur hinschaut“. Und wie Bob Dylan singt, brauchen wir „keinen Wetterbericht, um zu sehen, woher der Wind weht“. In diesem Sinne sagte auch Abraham Lincoln: „Man kann einige Menschen für alle Zeit zum Narren halten, und man kann alle Menschen für einige Zeit zum Narren halten. Aber man kann nicht alle Menschen für alle Zeit zum Narren halten.“ Und Gott sei es gedankt. Aber das wird einige Menschen nicht davon abhalten, trotzdem zu versuchen, alle anderen zum Narren zu halten, wenn ihre Motivation in erster Linie Gier, Angst oder Haß ist. Wenn Politiker tief in ihrem Innern aus eigener Erfahrung wüßten, daß sie kein 381
dauerhaftes, aus sich selbst existierendes „Ich“ besitzen, das an der Macht festhalten könnte, dann würden sie sich vielleicht daran erinnern oder würden erkennen, daß sie, ganz gleich, wie mächtig oder berühmt sie werden, selbst wenn sie Präsident würden oder ein für eine zweite Amtszeit gewählter Präsident wären, nur für einen kurzen Moment auf dieser Erde sind, daß ihre Macht und ihr Ruf vergänglich sind, daß das Gute, das sie tun können, beschränkt ist, der Schaden, den sie anrichten können, aber unermeßlich. Ein gesundes Gewahrsein einer solchen Ironie des Schicksals könnte unsere Volksvertreter dazu motivieren, häufiger aus den richtigen Gründen das Richtige zu tun und vielleicht sogar Wege zu finden, so über die Dinge zu reden, daß es ihre Wähler dazu bringt, ihren Horizont in bezug auf das, was sie als ihr Eigeninteresse verstehen, zu erweitern. Mit einem Geist, der sich der endemischen Anziehungskraft selbstdienlicher Überlegungen bewußt ist sowie der Gefahr, den Kontakt zum Kern des eigenen Seins zu verlieren, wären Politiker vielleicht in der Lage, ihre Position so gut zu formulieren, daß wir tatsächlich verstehen könnten, wie sie die Dinge sehen, und daß wir die Weisheit darin erkennen könnten oder es zumindest darauf ankommen lassen würden, sie voller Respekt und vielleicht sogar aus Zuneigung zu unterstützen. Es hat viele Fälle gegeben, in denen so etwas in der Vergangenheit in großen wie in kleinen Angelegenheiten geschehen ist, zum Beispiel als Präsident Eisenhower, ein großer militärischer Held, die Nation vor der Gefahr eines wachsenden militärisch-industriellen Komplexes warnte, der fähig sein könnte, seine eigenen Ziele durchzusetzen und die Außenpolitik wie die Innenpolitik zu beherrschen - eine Prophezeiung, die auf bemerkenswerte Weise etwas voraussah, was heute unsere nationalen Ansichten und Prioritäten und Entscheidungen prägt. Ich will hier keineswegs eine blauäugige utopische Weltanschauung befürworten. Ich spreche einfach nur von der Macht von Ehrlichkeit und Gutherzigkeit und vertraue darauf, daß unser aller Güte durchscheinen wird, wenn sie von den Menschen verkörpert wird, die sich in führenden Positionen befinden. Führungspositionen sind an sich privilegierte Positionen, die jemandem für eine begrenzte Zeit verliehen werden, und zwar von uns, dem Volk. Mit solchen Positionen geht immer eine heilige Verantwortung gegenüber den Regierten einher. Man muß sie auch als solche verstehen. Das ist eine Praxis, die ständiger Anstrengungen bedarf und nicht bloßer Lippenbekenntnisse. Sie bedarf auch des Bewußtseins der Tatsache, daß die Wahrheit, wenn sie denn ausgesprochen wird, nur selten auch gehört wird. Nur wenige Menschen scheinen sonderlich daran interessiert zu sein, sie überhaupt zu hören, so sehr sind wir in unsere eigenen egozentrischen Beschäftigungen verstrickt, so sehr werden wir von ihnen in den Bann gezogen und in Trance versetzt. Wir würden gewiß alle davon profitieren, wenn von den Menschen in Führungspositionen mehr Weisheit ausstrahlte. Aber weil es zu einem großen Ausmaß so ist, daß sie wir sind, daß sie also einfach eine Widerspiegelung des Zeitgeistes und der Landschaft des Geistes der Gesellschaft sind, wird jede Bewußtseinsveränderung in Richtung eines Erwachens und eines Zur-Besinnung-Kommens sich in der gesamten Gesellschaft entfalten müssen. Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, daß dies bereits geschieht und daß es mit großer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin geschehen wird, da immer mehr Menschen diesen einfachen Weg zu geistiger Gesundheit und Wohlbefinden einschlagen und ihn innerlich und äußerlich anwenden, in dem Wissen, daß es nur so scheint, als seien diese beiden Aspekte voneinander verschieden. 382
Was wir von der Medizin lernen können Schon im Bereich der Medizin gibt es trotz all unseres Wissens über Biologie und Krankheiten nur wenig wirkliche Heilungen, doch auf dem Feld des politischen Körpers gibt es noch weniger Heilmittel oder Patentrezepte. Wir arbeiten mit der Welt, die wir bewohnen, so, wie wir sie vorfinden, und dabei wird uns klar, daß unser Verständnis der Ereignisse und unsere Fähigkeit, die Endergebnisse zu gestalten, immer sehr begrenzt sind, manchmal sogar auf demütigende Weise. Doch wie wir in der Medizin entdeckt haben, muß das nicht heißen, daß keine tiefgreifende Heilung möglich ist, wenn wir mit der Situation auf eine Art und Weise umgehen, die das volle Spektrum der inneren und äußeren Ressourcen für eine etwas selbstlosere und außergewöhnlichere Arbeit mit dem, was ist, in Betracht zieht, besonders was den Bereich des menschlichen Geistes und Herzens angeht. So etwas ist auch in Hinsicht auf den politischen Körper möglich. Auch ihm kann man sich aus einem Blickwinkel der Heilung und Transformation annähern, statt ihn bloß reparieren und kurieren zu wollen, besonders wenn die Rezepte (oder Kräfte) potentiell schädlich für den Patienten und für das Potential einer Heilung selbst sind. Die Grenzen einer solchen Orientierung sind nicht bekannt, aber die Welt verlangt flehentlich nach Versuchen, Führung mit einer solchen Einstellung auszuüben. Und da dieser Ansatz so machtvoll und potentiell transformierend ist, vermag selbst ein klein wenig davon sehr viel zur Verringerung oder Auflösung vieler Barrieren beizutragen, die einer effektiven Überwindung von Feindseligkeiten, von Meinungsverschiedenheiten und jenen heiklen Themen, die das Abenteuer Menschheit seit Jahrtausenden verfolgt und heimgesucht haben, entgegenstehen. Eine Heilung dieser Art ist praktisch ein Imperativ in einer Welt, die dermaßen vernetzt und so dicht bevölkert ist, wie es heute der Fall ist, und in der die Rohstoffe dermaßen knapp sind, deren Umwelt derart belastet ist und die so heftig blutet infolge von Konflikten, Terror, Völkermord und endlosen Kriegen, daß der Kern ihres Wohlbefindens und ihrer Gesundheit von diesen chronischen Krankheiten bedroht ist. In den vergangenen dreißig Jahren haben die Amerikaner gelernt, sich auf eine Weise an der Würdigung, Verfeinerung und Aufrechterhaltung ihrer eigenen Gesundheit und ihres Wohlergehens zu beteiligen, wie das in früheren Zeiten, wo man einfach akzeptierte, was der Arzt oder die Ärztin sagte, und das Urteil niemals in Frage stellte, undenkbar gewesen wäre. Zu jener Zeit gab es noch wenige Ärztinnen, aber auf jeden Fall ging man davon aus, daß der Patient ein passiver Empfänger der Behandlung zu sein und den „Anordnungen“ des Arztes einfach zu gehorchen hatte. Es war damals durchaus nichts Ungewöhnliches, einen Patienten nicht über eine Krebsdiagnose zu informieren und nur die Angehörigen darum wissen zu lassen, weil man davon ausging, daß das den Patienten nur unnötig belasten würde. Heute sind die Rechte der Patienten festgeschrieben und die Würde des Patienten ist besser gegen solche Herablassung und Schlimmeres geschützt: Ebenso ist heute die Unantastbarkeit und Vertraulichkeit der Beziehung zwischen Arzt und Patient besser geschützt. Dennoch werden Würde, Unverletzlichkeit und Vertraulichkeit immer noch allzuoft mißachtet, besonders unter dem unglaublichen Zeitdruck und in der Atmosphäre ständiger Bedrohung durch juristische Schritte im Bereich der heute 383
praktizierten Medizin und angesichts des Einflusses, den die Pharmaindustrie und andere Interessengruppen auf diesen Bereich haben. Die verschiedenen „Sachzwänge des Marktes“ zwingen Ärzte dazu, immer mehr Patienten in immer weniger Zeit abzufertigen, was zu einer weitverbreiteten Unzufriedenheit und allgemeinen Malaise geführt hat. Die Medizin selbst ist krank und bedarf einer radikalen Heilung. Nichtsdestoweniger - und vielleicht ohne jedes Wissen um diese größeren Kräfte und dennoch in Einklang mit ihnen - gibt es heute eine bedeutsame Bewegung, die die Kultur der Medizin zu einer stärker am Patienten und an Beziehung ausgerichteten und mehr auf die Teilnahme des Patienten bedachten Perspektive verändert. Die Geist/Körper-Medizin im allgemeinen und die auf Achtsamkeit basierenden Strategien im besonderen sind, unter dem übergeordneten Paradigma und den Praktiken der „integrativen Medizin“, Vorreiter dieses kulturellen Wandels. Beeinträchtigt diese radikale Neuorientierung in der Medizin etwa die Gewährleistung guter medizinischer Versorgung? Natürlich nicht, auch wenn man in den alten Tagen, wo es hieß, „der Doktor weiß es am besten“, befürchtet hätte, daß ein solcher Wandel die Autorität des Arztes untergräbt. Es ist vielmehr ganz im Gegenteil so, daß dieser Wandel in der Kultur der Medizin und die Art, wie er praktiziert wird, die Optionen und die Qualität der Versorgung der Patienten und ebenso ihrer Familien deutlich zu verbessern verspricht. Diese Entwicklung ist auch für den Arzt befriedigender, da er nun in Zusammenarbeit mit anderen fähigen Kräften im Team der Gesundheitsfürsorge - wie zum Beispiel Krankenschwestern und Krankenpflegern, Sozialarbeitern, Physiotherapeuten, Psychologen und Ernährungsfachleuten - sehr viel besser ein Partner des Patienten sein kann als in einer vorwiegend autoritären und deshalb stärker isolierenden Beziehung. Tatsächlich sind ungeachtet all der heutigen Probleme mit der Medizin und der Gesundheitsfürsorge - und diese Probleme sind zahlreich - beachtliche Schritte hin zu einer stärker patientenzentrierten und partizipatorischen Medizin gemacht worden, in der der Patient, der Arzt und ein Team von Spezialisten alle ihre Aufgabe besitzen und ihre Rolle zu spielen haben, und in dem es idealerweise ein informiertes und ehrliches Geben und Nehmen unter den beteiligten Parteien gibt, welches sich auf kreative Weise verändert, während die Dinge sich im Lauf der Zeit entfalten. In diesem Modell arbeiten alle, einschließlich des Patienten, ja besonders der Patient, darauf hin, den Patienten auf eine höhere Ebene der Gesundheit und des Wohlbefindens zu heben. Alternative Sichtweisen und Behandlungsansätze, die immer mehr von glaubwürdigen Forschungsergebnissen gestützt werden, sind in diesem Prozeß heutzutage willkommener als je zuvor, und potentielle Synergien zwischen traditionellen und komplementären Behandlungsmethoden werden, wo immer das möglich ist, anerkannt und gefördert, während eine zunehmend besser informierte Öffentlichkeit sich angesichts von Gesundheitskrisen, mit denen die Schulmedizin bisher nur auf sehr begrenzte und oft äußerst unbefriedigende Weise umzugehen wußte, immer mehr anderen und oft nichtschulmedizinischen Perspektiven und Ansätzen zuwendet. Solche Ansätze werden heute an den medizinischen Fakultäten immer häufiger in die Standardlehrpläne einbezogen oder als Wahlfächer angeboten, was nicht zuletzt auf die Leidenschaft und das Interesse einer wachsenden Zahl von innovativen und fürsorglichen Praktikern in den verschiedenen Bereichen der Gesundheitsfürsorge zurückgeht.
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Wenn solche tiefgreifend transformierenden Strömungen, angetrieben von der Nachfrage von seiten der Konsumenten, in weniger als einer Generation selbst angesichts einer Krise des Gesundheitswesens das Gesicht der Medizin verändern können, dann kann das auch, wenigstens zu einem bestimmten Grad, in der Politik geschehen. Politiker mögen hochspezialisierte Fachleute in bestimmten Bereichen sein, so wie es Ärzte und andere Therapeuten oft sind, und ihnen mögen Informationen zugänglich sein, zu denen wir keinen Zugang haben. Aber dennoch sind sie nicht allwissend. In bestimmtem Fragen mag ihr Urteil nicht besser oder weiser sein als das unsrige. Und doch sind sie mit der Autorität und Verantwortung betraut, in unterschiedlichster Weise zu lebenswichtigen Entscheidungsfindungen beizutragen und das Wohlergehen eines Landes zu bewahren und zu fördern sowie die verschiedenen homöostatischen Prozesse dieses Landes wie etwa die Wirtschaft, die Gesetzgebung, die Erziehung, die Sozialfürsorge und die Sicherheit seiner Bürger zu bewahren und zu fördern, aber auch die diplomatischen Beziehungen zu anderen Ländern und die natürlichen Ressourcen der Umwelt. Doch eben durch die Natur ihrer Berufung laufen Politiker ständig sehr viel stärker als Ärzte Gefahr, sich in Interessenkonflikte zu verstricken, die sich einerseits etwa aus dem Wunsch, Gutes zu bewirken, und andererseits aus dem Wunsch, wiedergewählt zu werden, ihre Position zu behalten und so auch weiterhin dem Wohl des größeren Ganzen dienen zu können, ergeben können. Die Konflikte entstehen aber auch aus der uralten Notwendigkeit, Kompromisse zu schließen, die offenbar notwendig sind, wenn überhaupt irgend etwas erreicht werden soll. Wechseln wir für einen Moment den Bezugsrahmen, so ist klar einsichtig, daß solche Interessenkonflikte die Fähigkeit eines Arztes, in Hinsicht auf seine Patienten die richtigen Entscheidungen zu treffen, stark beeinträchtigen würden. Darum gibt es den hippokratischen Eid, der klarstellt, daß der Arzt dazu da ist, zuerst und vor allem den Bedürfnissendes Patienten zu entsprechen und er alle anderen Neigungen, Überlegungen und Interessen ihm gegenüber zurückstellen muß, besonders wo es sich um persönliche Anliegen handelt. Diese selbstlose Beziehung zu leidenden Menschen zu bewahren und zu verkörpern ist das Herz und die heilige Verantwortung der Medizin, eine Verantwortung, die jeder frischgebackene Mediziner zu achten gelobt. Warum sollten wir uns dort, wo es um die Gesundheit des politischen Körpers und damit letztlich der Welt als Ganzes geht, mit weniger zufriedengeben? Gewählte und ernannte Staatsdiener müssen ebenfalls einen Amtseid ablegen. Vielleicht ist es an der Zeit, daß wir diesen Eiden erneut Beachtung schenken und sie achten, und vielleicht müssen wir auch einige von ihnen angesichts des allgegenwärtigen Un-Wohlseins, an dem unsere Gesellschaft und die Erde leiden, neu formulieren, auch im Lichte dessen, was wir heute über Un-Wohlsein und Krankheit lernen sowie über unser eigenes Vermögen, unsere Probleme entweder zu verschlimmern oder die ihnen innewohnenden Ursachen im Rahmen des Möglichen zu heilen. Vielleicht sollten auch diese neuformulierten Amtseide wie in der Medizin mit der Formel beginnen: Primum non nocere ... „als erstes nicht schaden“. So wie die Medizin gelernt hat, daß sie nicht nur Krankheiten, sondern auch die Gesundheit verstehen und sich darauf konzentrieren muß, um einen Menschen angemessen behandeln zu können, müssen wir unter dem Gesichtspunkt der Gesundheit unserer Gesellschaft handeln, statt immer nur auf das Aufflackern von Krankheiten oder 385
die Bedrohung durch Krankheiten zu reagieren. Auch können wir dieses ständige Aufflackern nicht weiterhin als Entschuldigung dafür benutzen, daß wir uns nicht um die wahren Bedürfnisse der Gesellschaft kümmern und unsere Ressourcen anderweitig einsetzen. Zugleich ist es wichtig, daß wir wie bei der Übung von Achtsamkeit in unserem eigenen Leben auch im Einsatz für den politischen Körper erkennen, daß es viele Energien in uns selbst und in anderen gibt, die infolge von Gier, Haß, Furcht oder einfach des Ignorierens wichtiger Dimensionen einer Situation, die deshalb nicht in Betracht gezogen werden, eine ständige Gefahr für die Harmonie in einer Gesellschaft darstellen, ob wir nun von der Familie sprechen, einer Gemeinschaft, einem Land oder der Völkergemeinschaft und der Gemeinschaft der Nationen auf diesem Planeten. Um von diesen Energien nicht unheilbar infiziert zu werden, müssen wir uns in Gelassenheit und Gesundheit verankern, uns selbst immer wieder an die Möglichkeit eines Gleichgewichts erinnern und auf das bauen und vertrauen, was gesund und bereits in Ordnung ist, wobei wir uns stets der Schattenseite in uns selbst und in anderen bewußt bleiben. Aber wie können wir das tun, mögen Sie fragen? Wie gelangen wir dorthin? Ganz einfach: Es gibt kein „Dort“, wo wir hingelangen müßten. Das Wohlsein ist bereits vorhanden, unter dem Un-Wohlsein. Das Gleichgewicht ist bereits hier, innerhalb des Ungleichgewichts. Das Licht ist bereits vorhanden, innerhalb des Schattens. Wir müssen uns daran erinnern und es durch die fortgesetzte Kultivierung von Achtsamkeit, also durch Übung, verwirklichen. Das Un-Wohlsein selbst ist nur ein Schein, wenn auch, um erneut Einstein zu zitieren, eine hartnäckige Illusion mit ernsten und sehr realen Konsequenzen. Wir alle fühlen das, in manchen Momenten und in manchen Jahren mehr als in anderen. Aber es ist nicht die ganze Geschichte. Wir brauchen unser Gutsein nicht wiederzufinden, um das Gleichgewicht wiederherstellen zu können, wir brauchen uns nur daran zu erinnern - und es in unserem Tun zu verkörpern. Einfach? Ja. Leicht? Nein. Letztlich und im Grunde ist Wohlsein das Substrat, der Grund unseres Seins, als Individuen, als Kultur und als Welt. Wir wissen das nicht immer, aber wir können es wiederentdecken, wir können es aufdecken, eben weil es bereits vorhanden ist. Es liegt an der Wurzel unserer Natur, dieser Tanz zwischen Un-Wohlsein und Wohlsein, zwischen Krankheit und Gesundheit, ob wir nun von unserem eigenen Körper sprechen, dem Körper von Amerika oder von der Welt als einem Körper, einem nahtlosen Ganzen, eigentlich einem Organismus. Und für uns als Spezies ist nichts dringender und nichts wichtiger, als dieses Wohlsein aufzudecken. Alles ist in der Schwebe. Zum Glück befindet sich diese Ganzheit des Seins genau vor unseren Augen - und hat es schon immer schon getan. Wenn das grundlegende Faktum darin besteht, daß das Unwohlsein nur das innewohnende Wohlsein maskiert, dann müssen wir hinsichtlich der Diagnose zu einem Konsens gelangen, wie kompliziert die Sache an der Oberfläche auch zu sein scheint und wie viele verschiedene Meinungen es zu dieser Diagnose auch geben mag. Und dann müssen wir die angemessenen „Behandlungen“ erkunden. Wenn wir uns bei der Diagnose irren, werden alle unsere Bemühungen, die grundlegende und zugrunde-liegende Krankheit sowie das Leiden, das daraus entstammt, anzugehen, 386
umsonst sein. Wir werden dann zudem aus unserer Furcht und unseren Gefühlen der Unsicherheit und Unzufriedenheit heraus, die von Gruppen und Perspektiven mit vor allem selbstdienlichen Zwecken geschürt und ausgebeutet werden, nur noch anfälliger werden für Demagogie. Natürlich würden sehr viele Dinge in der Welt von einer Reform profitieren, und in einigen Fällen müßte es eine ziemlich radikale Reform sein. Die Welt hat im Laufe der Jahrhunderte zweifellos ganz enorm von mutigen Reformern profitiert. Es ist nur so, daß wir in unserer heutigen Situation etwas Größeres und Grundlegenderes brauchen, denn eine Ausrichtung auf bloße Reparatur übersieht, welch grundlegende Rotation des Bewußtseins nötig ist, um die grundlegende Krankheit und das fundamentale UnWohlsein heilen zu können. Ohne diese Rotation katapultieren wir uns wahrscheinlich aus einem Reflex heraus in eine Rettungsmentalität, ohne die Wurzelursachen unserer Probleme, unseres Leidens, unseres Dukkha gründlich zu untersuchen und klarer zu verstehen, so daß wir die Notwendigkeit übersehen, in der Landschaft unseres Geistes unmittelbar und persönlich mit diesen Kausalfaktoren zu arbeiten. Da zudem das, was für manche Menschen kaputt zu sein scheint, andere vielleicht gar nicht kümmert, muß die Geistesverfassung, mit der wir sehen und wissen, untersucht und kultiviert werden; das bedarf des echten Dialogs anstelle des Lärms und der leeren Worte, die den öffentlichen Diskurs im allgemeinen beherrschen. Achtsamer Dialog lädt zu wahrem Zuhören ein, und wahres Zuhören erweitert unser Wissen und unser Verstehen. Letztlich hebt das den Diskurs auf eine höhere Ebene und macht es wahrscheinlicher, daß wir durch das Verstehen der Perspektive anderer allmählich lernen und wachsen, statt nur unsere eigene Position zu verteidigen und all jene, die nicht unserer Meinung sind, stereotyp zu beurteilen. Indem wir dadurch in uns selbst hineinwachsen, daß wir unserem eigenen Geist und dem Geist anderer Menschen, die die Dinge anders sehen als wir, mehr Beachtung schenken, weitet sich unsere Empfindung dessen, was wir als Individuen sind, und unser Verständnis für das, was am dringendsten der Beachtung und Heilung bedarf, aus. Weitet sich so unsere Sicht auf uns selbst, fühlen wir uns vielleicht weniger bedroht und vermögen zu sehen, wie tief unsere eigenen Interessen und unser eigenes Wohlergehen in die Interessen und das Wohlergehen anderer eingebettet sind. Wenn Menschen in Erwägung ziehen, an einem Programm der Stress Reduction Clinic teilzunehmen, sagen wir ihnen sinngemäß oft, daß, solange sie atmen, mehr mit ihnen in Ordnung als nicht in Ordnung ist, ganz gleich, was mit ihnen „nicht in Ordnung“ sein mag. Wir geben diese Botschaft an Patienten weiter, die schon lange chronische Schmerzen haben, die an Herzkrankheiten leiden oder an verschiedenen Formen von Krebs, die Rückenmarksverletzungen oder einen Schlaganfall erlitten haben oder die an Aids erkrankt sind. Wir geben diese Botschaft aber auch an viele andere weiter, die weniger erschreckende gesundheitliche Probleme haben, die aber, wie diese Kranken, in ihrem Leben mit enormen Belastungen und großem Streß zu kämpfen haben. Und wir meinen das auch so. Und auch wenn unsere Patienten das nicht so sehen und zuerst, ganz gleich, was wir ihnen erzählen, nicht wissen können, worauf sie sich da überhaupt einlassen, „entdecken“ sie, daß dem tatsächlich so ist, während sie formell und informell Achtsamkeit kultivieren. Es ist mit ihnen tatsächlich mehr in Ordnung als nicht in Ordnung, ganz gleich, woran sie leiden. Wenn sie das erkennen und sich dazu entschließen, als 387
Ergänzung zu der jeweiligen medizinischen Behandlung an unserem Programm teilzunehmen, dann kommt es beim größten Teil von ihnen zu Wachstum, Veränderung und Heilung, oft auf eine Art und Weise, die sie selber nicht lange zuvor einfach nicht für möglich gehalten hätten. Die Botschaft selbst wird zu einer Einladung in ein anderes Bewußtsein, zu einer neuen Art des Sehens und des Sicheinlassens auf die Dinge, wie sie sind. Und es ist die Übung, die das Vehikel für die eigentliche Verwirklichung dessen darstellt, worauf die Einladung bloß hinweist. Dasselbe gilt für die Welt. Ganz gleich, wie sehr sie im argen liegt, solange sie noch atmet, ist mehr mit ihr in Ordnung als nicht in Ordnung. Sehr viel an ihr und an den verschiedenen „metabolischen“ Funktionen und Prozessen, die sie am Leben erhalten, ist ganz in Ordnung. Einiges davon erkennen wir von Zeit zu Zeit und würdigen und feiern es sogar. Doch viele Aspekte der Gesundheit der Welt und ihrer Völker werden total übersehen, für völlig selbstverständlich gehalten und nicht beachtet, wenn nicht gar mißbraucht. Doch was entspricht dem „Atmen“ im politischen Körper? Wie werden wir erkennen, wann die Welt nahe daran ist, nicht mehr zu atmen, und es deshalb bereits zu spät zum Handeln ist? Wird es dann sein, wenn wir in unseren Städten nicht mehr vor die Tür gehen und die Luft atmen können? Oder wenn unser Körper und der Körper unserer Kinder und Enkel eine schier überwältigende Bürde von giftigen Chemikalien zu verkraften hat, die aus der Luft, die wir atmen, dem Wasser, das wir trinken und der Nahrung, die wir zu uns nehmen, kommen - ein innerer Angriff, gegen den der Körper sich nicht zu wehren weiß? Oder wenn die Atmosphäre sich weltweit so sehr aufgeheizt hat, daß die Eiskappen der Pole und die Gletscher schmelzen und unsere Küstenregionen vom Meer überflutet werden? Oder wenn die immer wieder auftretenden Völkermorde auf der Erde ein immer größeres Ausmaß annehmen, sie immer häufiger geschehen und vielleicht näher an unserer Haustür? Oder wenn ansteckende Krankheiten sich schneller über den Globus verbreiten als SARS oder Aids und sie nicht mehr einzudämmen sind? Oder wenn der Terrorismus zu einem regelmäßigen Ereignis in unserem Land wird? Oder wenn Dinge, die bis jetzt nur im Kino zu sehen waren, wie etwa ein nuklearer Angriff auf eine unserer Städte, tatsächlich passieren? Was wird nötig sein, damit wir aufwachen und einen anderen, einfallsreicheren und weiseren Weg einschlagen? Um mit der Autoimmunerkrankung, unter der wir als Spezies leiden und für die wir zugleich die Ursache sind, umgehen zu können, werden wir früher oder später die einzigartige Notwendigkeit erkennen müssen, achtsames Gewahrsein zu kultivieren: mit dem Vermögen, das Wichtigste deutlich zu machen und den dichten Schleier der Unbewußtheit aus unseren Sinnen und Denkprozessen zu entfernen; mit dem Vermögen, wieder ein höchstmögliches Maß an Gleichgewicht herzustellen, wobei wir nie wissen können, was wirklich möglich ist; und mit dem Vermögen, in ebendiesem Augenblick und auch im Laufe der Zeit zu heilen. Wenn wir das früher oder später sowieso erkennen müssen, warum dann nicht früher? Warum nicht genau jetzt? Was hält uns davon ab, zum jetzigen Zeitpunkt jene Rotation des Bewußtseins zu vollziehen oder doch zumindest die ersten Schritte zu machen, die uns genau jetzt möglich sind? Wir könnten damit beginnen, daß wir auf das achten und das würdigen, was an uns selbst und an der Welt in Ordnung ist, und unsere Energie darein investieren; wir könnten auf allen Ebenen und an allen Fronten mutig, 388
weise und Schritt für Schritt aktiv werden und darauf hinarbeiten, Bedingungen zu schaffen, unter denen die komplexen selbstregulierenden Fähigkeiten, die unsere Gesellschaft und die Welt besitzen, zu einem dynamischen Gleichgewicht finden können, einem Gleichgewicht, das wir mit unserem eigenen Geist und durch unsere Unbewußtheit selber zerstört haben. Auch wenn wir als Nation und als Planet großen Streß erfahren und massiv unter UnWohlsein und Krankheit zu leiden haben, so kann man doch mit diesen Umständen arbeiten, damit umgehen und sie letztlich auflösen, so wie solche Umstände in Individuen aufgelöst oder zumindest stark verbessert werden können - wenn wir sie sehen, sie erkennen und uns ihnen wieder und wieder mit Gewahrsein stellen. Es könnte uns zum Wohle gereichen, wenn wir unsere Energie in dieses Sehen und Erkennen investieren und dabei lernen würden, in unserem Wohlsein zu Hause zu sein und aus unserem Wohlsein heraus zu handeln, wie wir in wahrer Ganzheit wohnen können, wirklich ganz im Sinne von „heil“ werden, was die gemeinsame Wurzel von Heilung und Heiligkeit ist. Tun wir das nicht, dann kümmern wir uns nicht weise um unser UnWohlsein. Wenn wir nicht aufpassen, dann könnte es geschehen - insbesondere dort, wo es um den politischen Körper geht -, daß wir die Wurzelursachen unseres Un-Wohlseins auch noch nähren, während wir uns gleichzeitig vormachen, daß wir sie ausrotten. Eine auf handfesten Tatsachen beruhende klare Diagnose dessen, was mit uns in Ordnung und was nicht in Ordnung ist, ist also höchst notwendig, und sie zu stellen liegt letztlich in unser aller Verantwortung und darf nicht nur einigen wenigen Experten überlassen bleiben. Eine Fehldiagnose ist eine falsche Wahrnehmung. Und eine falsche Wahrnehmung kann in diesem Fall ausgesprochen unangenehme, wenn nicht gar tödliche Konsequenzen haben. Dies ist eine Angelegenheit, in der es individuell und kollektiv not tut, in vollem Umfang wahrzunehmen, was tatsächlich geschieht und wo die Wurzeln des Leidens in Wirklichkeit liegen. Wie auch bei einer medizinischen Diagnose können die unterschiedlichsten Ansätze zum Tragen kommen, wo es um ein Verständnis der Wurzelursachen der Krankheit geht. Und dann können sich wie bei einer medizinischen Behandlung auf der Grundlage der Diagnose und mit dem Verständnis, wie eine bestimmte Krankheit sich entwickelt, verschiedene Behandlungsmethoden als angemessen erweisen. Einige Behandlungsansätze lassen sich gleichzeitig anwenden, andere können nacheinander zum Tragen kommen, wobei der Prozeß in jedem Fall je nach der Reaktion des Patienten überwacht und abgewandelt werden muß. Im Falle der Krankheit der Welt werden wir das volle Arsenal menschlicher Weisheit und Kreativität in Spiel bringen müssen, um zur richtigen Diagnose zu kommen und dann einen angemessenen und flexiblen Behandlungsplan erstellen zu können, der zur Wiederherstellung von Gesundheit und Gleichgewicht führen kann; wir dürfen uns nicht in verzweifelte, aber fehlgeleitete und oberflächliche mechanische Versuche verrennen, spezifische Aspekte der zugrundeliegenden Krankheit kurieren zu wollen, wenn wir noch nicht einmal verstehen, was diese Krankheit ist, wenn wir ihre Ursache nicht kennen und vergessen, daß Heilung nicht nur grundsätzlich verschieden ist von Kurieren und Reparieren, sondern oft auch angemessener und eher möglich ist als diese, und daß Heilung kein mechanischer Prozeß ist, den man in Auftrag geben oder erzwingen kann. Wir kommen weit vom Kurs ab, wenn wir nur die Symptome des Un-Wohlseins 389
behandeln und aus Angst heraus auf sie reagieren und nicht aus Respekt vor dem Patienten, dem Körper der Welt, der Welt, die als ein Körper gesehen und erkannt wird - und mir scheint, daß wir heute tatsächlich auf der Schwelle zu dieser Erkenntnis stehen. Und während individuelle Körper unvermeidlich sterben müssen, geht das Leben selbst weiter. In Hinsicht auf den Planeten ist es das Leben selbst und die Gesundheit der natürlichen Prozesse und Mechanismen, die das aufrechterhalten, worum es hier geht. Wir können dabei viel von der neuen Medizin lernen, die in unserer Zeit im Entstehen ist, einer Medizin, die den Patienten als ganze Person achtet, als etwas, was viel größer ist als jeder pathologische Prozeß, sei es nun eine Infektion oder eine chronische Erkrankung, eine Störung oder Krankheit, die nicht zu kurieren ist. Sie erkennt an, daß jeder von uns, ganz gleich, wie alt er ist, was seine Geschichte und was sein Ausgangspunkt ist, riesige, unerkundete und ungenutzte innere Ressourcen des Lernens, des Wachsens und der Heilung besitzt, und auch der Transformation im Laufe einer Lebensspanne - zumindest dann, wenn wir bereit und fähig sind, eine bestimmte Art der Arbeit an uns selbst zu leisten, eine innere Arbeit, eine Arbeit tiefgründigen Sehens, einer tiefen Kultivierung der Vertrautheit mit jenen untergründigen Kraftquellen, die zu besitzen wir uns nicht erinnern oder zu denen wir kein Vertrauen haben. Wir haben gesehen, wie das tiefe Trinken aus diesem Brunnen wesentlich zur Heilung des eigenen Geistes und Körpers beitragen kann sowie dazu, daß wir einen sehr realen, vielleicht sogar komfortablen Frieden mit jenen Dingen im Leben schließen, die sich nicht reparieren oder kurieren lassen. Damit soll nicht gesagt sein, daß Achtsamkeit an sich eine Art Wunderheilmittel ist. Es soll auch nicht heißen, daß Achtsamkeit die Antwort auf alle Lebensprobleme ist. Doch das Kultivieren einer Vertrautheit mit den Dingen, wie sie wirklich sind, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung, ob es dabei nun um eine Person, eine Nation oder um alle Nationen und Lebewesen geht. Diese Art weiser Aufmerksamkeit stellt uns einen praktischen und sehr irdischen Weg zur Wiedererlangung unserer Menschlichkeit zu Verfügung, einen Weg zu dem, was wir bereits sind, wozu wir vielleicht aber den Kontakt verloren haben, in einem Wort dazu, ein wahrer Mensch zu sein. Schließlich nennt man uns alle ja „Menschenwesen“ und nicht „Menschentaten“. Vielleicht versucht uns diese Tatsache an sich schon etwas zu sagen. Vielleicht müssen wir erkunden, was unser Wesen tatsächlich ist. Diese Erkundung mag uns dazu führen, zu fragen, was der Anspruch, ein wahrer Mensch zu sein, von uns verlangt und was das Menschsein uns vielleicht bieten könnte, das wir noch nicht geschmeckt, berührt oder entwickelt haben. Ob wir nun das Modell einer Autoimmunerkrankung, einer Krebserkrankung oder einer Infektion verwenden, um den Ursprung unseres kollektiven Leidens zu beschreiben - und zwischen diesen besteht insofern ein Zusammenhang, als Autoimmunerkrankungen und ihre Behandlungen den Körper in vielen Fällen anfälliger machen können für eine Krebserkrankung oder für opportunistische Infektionen -, eines ist auf jeden Fall klar, daß nämlich etwas, was zunächst nach einem erträglichen, wenn nicht gar geringfügigen und nicht beachtenswerten Symptom aussehen mag, wie etwa Armut, Verunglimpfung, Ungerechtigkeit, Tyrannei und Fundamentalismus, früher oder später im Herzen ankommen kann, wenn man sich nicht auf angemessene Weise darum kümmert, wozu gehört, daß man auf den darunterliegenden Prozeß des Un-Wohlseins 390
eingeht, der diese Symptome hervorruft und nährt, und daß man die Symptome nicht nur übertüncht oder zeitweilig abmildert. Natürlich gehört dazu auch, sich vor Augen zu halten, daß, ähnlich wie in der Medizin und Gesundheitsfürsorge, Vorbeugung auch bei Regierungsgeschäften und in der Diplomatie die beste Vorgehensweise ist.
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Die zähmende Kraft des Kleinen Wir neigen dazu, besonders krasse Fälle von Unwissenheit als das Böse zu schmähen. Das erlaubt es uns, im Gegensatz dazu unsere eigene Identifikation mit dem Guten kategorisch zu behaupten. Eine solche Behauptung ist allerdings eine grobe und letztlich wenig taugliche Verallgemeinerung, selbst wenn sie Elemente von Wahrheit enthält. Man könnte sagen daß beide Sichtweisen, die von anderen als „böse“ und diejenige von uns selbst als „gut“, ein Ausdruck von Unwissenheit sind. Denn beide übersehen die grundlegende Krankheit, jene Krankheit, die sich in Menschen manifestiert, wenn wir der Unbewußtheit über die Kostbarkeit des Lebens anheimfallen und mit voller Absicht oder auch unabsichtlich anderen schaden, indem wir Befriedigung und Macht für uns selbst suchen. Im Buch der Psalmen wird das Böse oft als „Gottlosigkeit“ bezeichnet, aber vielleicht wäre „Unachtsamkeit“ eine bessere Übertragung,34 eine Unachtsamkeit gegenüber dem vollen Spektrum der inneren und äußeren Landschaft unserer Erfahrung. Diese Unachtsamkeit erlaubt es uns, unser Selbst künstlich von dem anderen abzutrennen, das „Ich“ vom „Du“ zu trennen, die Welt zu entheiligen und sie so der Zerstückelung, der künstlichen Trennung und Eingrenzung zu unterwerfen. Wir vergessen eine tiefere zugrundeliegende Einheit oder erkennen sie nicht, eine Einheit, die mehr Möglichkeiten zuläßt, die neue Grade der Freiheit und größere Bewegungs- und Verhaltensspielräume sowohl in unserem inneren Leben als auch in der endlosen Vielfalt, welche die Welt ist, eröffnet. Daß wir der wechselseitigen Verbundenheit nicht gewahr sind, ist nichts Böses, auch wenn die daraus resultierenden Konsequenzen monströs sein können und erkannt und in Schranken gehalten werden müssen, wo immer und wann immer sie auftauchen. Das ist nun einmal die Unwissenheit - eine tiefreichende Mißhelligkeit, ein grundlegendes Außer-Kontakt-Sein mit grundlegenden Elementen der Eingebundenheit in Beziehungen, die dem Lebendigsein, dem Menschsein innewohnt. Doch solche Unwissenheit oder Unbewußtheit, wie immer wir sie nennen mögen, kann das Gesicht des Bösen annehmen und uns dazu bringen, Böses auf andere zu projizieren, die doch in Wirklichkeit ebenfalls nur an derselben Krankheit des Nichtwissens leiden, die das mißachten, verzerren oder mit Füßen treten, was das Allergrundlegendste ist, vielleicht weil sie in ihrem eigenen Leben selbst niemals Wohlwollen und Verbundenheit erfahren haben oder weil sie im Interesse eines engstirnig verstandenen Ich und seiner Wünsche darüber hinweggehen. Wir müssen diese Unwissenheit möglichst schon in ihren frühesten Stadien benennen, wo immer wir sie entdecken, und müssen entschlossen handeln, um sie zu entfernen und zu deaktivieren wie einen Virus, der nur allzuleicht eine anfällige Bevölkerung infizieren kann. Allerdings hat es in unserer eigenen Geschichte zahlreiche Fälle gegeben, in denen wir diejenigen gefördert und unterstützt haben, die wir später zu Bösewichten erklärt haben. Wie oft haben wir uns als Nation uns abgewendet und weggesehen, wenn Despoten unseren politischen und wirtschaftlichen Interessen dienlich waren oder in Ländern, die für uns geopolitisch nicht von Interesse waren, gegen unschuldige Menschen unsägliche Massaker verübt wurden? Wie viele brutale und mörderische Diktatoren haben wir unterstützt oder toleriert, wenn unsere politischen Führer meinten, es sei in unserem nationalen Interesse, strategische Bündnisse zu schließen? Die Liste ist erschreckend lang und im Rückblick ziemlich ernüchternd. All das mag in der 392
Vergangenheit ja geschickte Realpolitik gewesen sein oder das Beste, was wir in einer weltpolitischen Situation, die zu kontrollieren wir nicht die Macht hatten, zu tun vermochten. Aber heute, in einer Weltgemeinschaft, in der die Völker so eng miteinander verbunden und verquickt sind, lassen sich solche Kompromisse oder Zweckbündnisse mit der Unwissenheit oder dem Bösen, wenn wir es denn so nennen wollen, nicht mehr so leicht rationalisieren, und sie werden nicht mehr so leicht vergeben und vergessen. Wenn wir hoffen, das Leiden der Welt heilen und zugleich weniger zu seiner Verschlimmerung beitragen zu können, dann müssen wir als Land kleine Schritte, vielleicht winzige, aber dennoch mutige Schritte in Richtung größerer Ganzheit und einer stärkeren Verkörperung von Achtsamkeit machen. Wir werden dann den potentiellen Schaden, der immer aus dem verblendeten Greifen nach der Macht auf Kosten von Liebe und Weisheit, Güte und Verbundenheit in uns oder anderen resultiert, früher erkennen und ihm entschlossener begegnen müssen. Es ist wichtig, daß wir die Macht kleinster Bewußtseinsveränderungen hin zu größerem Gewahrsein und größerer Selbstlosigkeit auf nationaler Ebene nicht unterschätzen. Wie wir bereits angemerkt haben, ist das Kleine gar nicht so klein. Die alten Chinesen sprachen von der „zähmenden Kraft des Kleinen“. Auch Gandhi wußte, daß die kleinste Veränderung oder Geste, wenn sie wohl bedacht und moralisch fundiert ist, großes Potential in sich birgt - so wie im winzigsten Atom unvorstellbare Mengen von Energie enthalten sind. Martin Luther King verkörperte dieses Wissen und mobilisierte enorme Kräfte aus der Machtlosigkeit heraus, aus moralischer Überzeugung und aus dem lange mit Füßen getretenen Stolz eines Volkes auf sich selbst und auf die Schönheit seiner Sprache. Und natürlich wurden der Acht-Stunden-Arbeitstag, die Abschaffung der Kinderarbeit, die Gleichheit der Geschlechter und die Überwindung der Rassentrennung aus Basisbewegungen in der Bevölkerung heraus erkämpft, die alle einmal klein angefangen und das System so lange mit großer Hartnäckigkeit bedrängt und gestört haben, oft unter großen Opfern vieler anonymer Individuen, bis es schließlich reagierte und eine Veränderung zuließ. Die Welt verändert sich ständig. Nichts bleibt gleich. Wenn wir uns selbst, unseren ursprünglichen Geist und das ihm innewohnenden Gutsein mit der natürlichen Entfaltung des Wandels selbst und der Trächtigkeit jedes einzelnen Augenblicks mit unendlicher Potentialität in Einklang bringen, dann antwortet die Welt allmählich, Schrittchen für Schrittchen. Das flüssige, dynamische, sich ständig verändernde Flechtwerk, oder besser: das fließende Netz wechselseitiger Verknüpfung verändert sich geringfügig aufgrund Ihrer Neuorientierung, Ihres inneren Wandels und der daraus resultierenden äußeren Manifestationen. Ob wir nun Politiker oder einfache Bürger sind, die Praxis kann für uns in jedem Fall bedeuten, daß wir uns selbst kleine Kostproben von Präsenz und Gutsein gönnen; durch die wiederholte Erfahrung solcher Momente lernen wir allmählich den Geschmack innerer Klarheit und inneren Friedens kennen. Auf diese Erfahrung können wir aufbauen, indem wir mit dem gegenwärtigen Augenblick in Kontakt bleiben und angesichts der Herausforderungen und Möglichkeiten, die sich uns präsentieren, nicht die Fassung verlieren. Das Leben des politischen Körpers ist mindestens so komplex wie das Leben des Körpers. Allerdings hat der politische Körper nicht den Vorteil, daß er über Millionen Jahre von der Evolution gestaltet und ausgefeilt wurde und daß Lösungen, die nicht funktioniert haben, auf der Strecke geblieben sind. Wenn die menschliche Spezies sich 393
noch in einem unreifen Stadium befindet, so gilt das für die Politik und die Demokratie erst recht. Als er gefragt wurde, was er von der abendländischen Zivilisation halte, antwortete Gandhi: „Ich glaube, sie wäre eine gute Idee.“ Als Spezies sind wir ein noch laufendes kosmisches Experiment. Dem Universum ist es ziemlich egal, wie dieses Experiment ausgeht. Doch wenn unser eigener engstirniger Gewinn und unser vergänglicher Komfort nicht alles ist, was uns kümmert, dann sollte uns dieser Ausgang nicht egal sein. Und offensichtlich ist er das auch nicht. Das ist das Schöne an unserer Spezies. Man sollte uns nicht unterschätzen. Aber die einzige Intelligenz auf diesem Planeten, die uns unterschätzen könnte, sind wir selbst.
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Achtsamkeit und Demokratie So unwahrscheinlich es auch klingen mag, wir könnten die Tatsache, daß heutzutage immer mehr Menschen Meditation praktizieren oder zumindest praktizieren wollen und eine solche Übung in Erwägung ziehen, als einen Indikator dafür verstehen, daß unsere kollektive Evolution sowie die noch junge Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft fortschreiten. Wir sind eine Nation, die, so unvollkommen sie auch sein mag, schon ziemlich früh ihre wirtschaftliche, politische und religiöse Unabhängigkeit von Unterdrückung und Autokratie erklärt hat, eine Nation, die Prinzipien der individuellen Autonomie und der fundamentalen Menschenrechte für alle formuliert und sich schon früh für das Leben, die Freiheit und das individuelle Streben nach Glück eingesetzt hat. Damit haben wir die Bühne für eine unausweichliche und durchgehende - wenn vielleicht auch lückenhafte - Evolution des individuellen und kollektiven Bewußtseins bereitet. Denn was ist Freiheit, wenn nicht die Möglichkeit, das Recht, ja sogar die Verantwortung, unseren eigenen Weg in dieser Welt finden zu können - im Vertrauen auf unsere Instinkte und Erfahrungen, indem wir im Fortschreiten dazulernen und im Dazulernen wachsen, auch im Lernen aus dem, was besonders schmerzlich ist, und aus unseren eigenen Fehlgriffen und Fehlern? Und was ist, metaphorisch gesprochen, Wachstum anderes als ein erweitertes Bewußtsein von uns selbst in der Beziehung zu einer größeren Welt und in bezug auf unsere Stellung darin, ein tieferes Verständnis der wechselseitigen Verbundenheit der Dinge und ihrer zugrundeliegenden Harmonie, selbst mitten im Chaos, und ein sich vertiefendes Vermögen, frei von jenen inneren und äußeren Kräften zu leben, die unser Verständnis dessen verdunkeln, was wirklich und grundlegend und am allerwichtigsten ist? Was ist Wachstum, metaphorisch gesprochen, wenn nicht eine Erweiterung unserer Einfühlung in andere und in die Welt, das Hinausgreifen einer hilfreichen Hand angesichts des Leidens, einer Hilfe, die von jemandem gewährt wird, der selbst mit dem Leiden vertraut ist, der helfen könnte und weiß, daß er es könnte? Allerdings ist hier auch Demut notwendig. Ohne mühsam errungene oder natürlich erworbene Demut kann es kaum dauerhafte Weisheit und zuverlässiges Mitgefühl geben. Wachstum, sei es innerlich oder äußerlich, das nicht in Einklang mit dem größeren Ganzen steht, ist ein Krebsgeschwür, eine Leugnung von Ganzheit und Gleichgewicht. Solches Wachstum ist weder förderlich noch nachhaltig. Wenn wir es uns selbst gestatten, einem Pfad der Evolution des Bewußtseins als Individuen zu folgen, vielleicht als Antwort auf eine tiefe dunkle Sehnsucht nach Frieden und Glück und nach einer größeren Freiheit von all den Leiden der Abgetrenntheit, der Überlastung und des Un-Wohlseins, dann wird das früher oder später einen tiefgreifenden Einfluß auf unsere Beziehungen zu anderen und auf die Gesellschaft und die Welt, in der wir leben, haben. Das muß einfach geschehen. Friede und Glück sind keine Ware, die man erwerben oder weitergeben kann, sondern Eigenschaften, die man verkörpern und leben muß. Man kann sie nur in der Praxis verkörpern und leben, nicht wenn man nur irgendwelche Prinzipien, seien sie noch so erhaben, daherleiert. So haben wir hier bei uns zu Hause gesehen, wie all 395
die Menschen, die ursprünglich durch Gesetz und soziale Bräuche davon ausgeschlossen waren, in den Genuß der Erklärung der unveräußerlichen Rechte der Freiheit und Selbstbestimmung „für alle“ zu kommen, mit vereinten Kräften langsam und in einem oft schmerzlichen Prozeß mit vielem Auf und Ab in einem zähen und mutigen Kampf sowohl unser Bewußtsein als auch unsere Gesetze bezüglich der Sklaverei, der Rassentrennung, der Eingeborenenvölker, der Frauen und Kinder, der sexuellen Orientierung, der Ehe -, verändert haben. Und nicht nur diese, sondern auch unser Verständnis für das unendliche menschliche Leiden, das wirklichen Menschen und wirklichen Familien zugefügt wird, und zwar durch ausbeuterische Institutionen sowie die Gesetze und gesellschaftlichen Konventionen, welche diese Bedingungen aufrechterhielten und sie immer noch aufrechterhalten, bis sie sich eines Tages verändern und dann in ihrer neuen Form von ebendiesen Institutionen aktiv gefördert und durchgesetzt werden. In jeder sich entwickelnden Demokratie ist die Liste der aktuell bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten und Mißstände wahrscheinlich ziemlich lang. Doch der Wachstumsprozeß schreitet fort, wenn auch manchmal fürchterlich langsam und unter großen Opfern jener, die vom Reichtum der Gesellschaft ausgeschlossen sind, die von den Ungerechtigkeiten des Status quo aktiv unterdrückt werden und von denen man erwartet, daß sie für Generationen unter Bedingungen leben, die der gängigen Rhetorik hohnsprechen. Das geht allerdings auch auf Kosten der Unterdrücker, auch wenn diese das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkennen mögen, sowie der Gesellschaft, die darunter leidet, daß ihr der Reichtum jener Strömungen des menschlichen Lebens entgeht. Und warum sollte das Hineinwachsen in die Freiheit nicht weitergehen und sich gar beschleunigen, wenn wir, vom heutigen Tage an, unseren eigenen Prinzipien wirklich gerecht werden, wie langsam wir bisher auch dabei gewesen sein mögen, sie umzusetzen. Alles andere beschleunigt sich in unserem Zeitalter ja auch, besonders unsere Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen. Warum sollten wir nicht auch unsere Bereitschaft, Frieden zu schließen, beschleunigen? Wie groß ist denn wirklich unser Wille, Frieden zu halten und Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit für alle tatsächlich zu verkörpern? Warum können wir unsere gemeinsamen Kräfte und unseren kollektiven Willen nicht mobilisieren, um diese Transformation, an die wir vermeintlich glauben und für die wir in der Welt einzustehen behaupten, tatsächlich herbeizuführen? In einer Gesellschaft, die auf demokratische Prinzipien und die Liebe zur Freiheit gegründet ist, ist es unvermeidlich, daß meditative Praktiken oder das, was manchmal Methoden der Bewußtseinserweiterung genannt wird, in Erscheinung treten - wie das heute ja auch der Fall ist -, während das Klima für persönliche und kollektive Unabhängigkeit und Erkundung genährt wird und gedeiht. Demokratie fördert und nährt den Pluralismus und eine Vielfalt von Anschauungen. Sie ermutigt uns dazu, in unserem Streben nach Glück innerlich wie äußerlich von unseren Freiheiten Gebrauch zu machen. Wir werden auf ganz natürliche Weise dazu veranlaßt, uns selbst als Individuen, als Gesellschaft und als Spezies immer tiefer zu verstehen. Das ist ein Teil des fortlaufenden evolutionären Prozesses auf diesem Planeten, wie sehr dieser auch durch unsere naturwissenschaftlichen und technologischen Fähigkeiten, die Umwelt zu verändern und uns selbst gegen bestimmte Arten von Risiken abzuschirmen, beeinflußt und umgeformt sein mag. Es ist erstaunlich, aber auch 396
ermutigend und verständlich, daß sich heute so viele Amerikaner der Feinabstimmung ihres eigenen Geistes und damit ihres Lebens durch die Praxis der Meditation widmen und daß angesichts unserer Reichtums und unserer Leiden ein so tiefer Hunger nach der Verwirklichung unserer Ganzheit besteht. Natürlich kann die Demokratie nur dann in einer bestimmten Kultur Wurzeln schlagen und wachsen, wenn die Bedingungen dafür reif sind. Man kann sie Menschen nicht von außen aufzwingen, genausowenig, wie man jemandem Meditation aufzwingen kann, selbst wenn das im Grunde förderlich sein könnte. Als Kultur mögen wir uns ja vielleicht dazu verpflichtet fühlen, die Bedingungen für universelle Freiheit und für die Befreiung von Unterdrückung, Ausbeutung und Unwissenheit so gut wie möglich zu nähren - aus sehr komplexen Gründen und Motivationen heraus, die manchmal zu einer Politik führen, die das genaue Gegenteil befördert. Aber in dem Ausmaß, in dem uns wirklich an dem Entstehen von wahren Demokratien in anderen Ländern gelegen ist, müssen wir auch geduldig sein und darauf warten, daß die unsichtbare Metamorphose und innere Transformation stattfindet, und wir müssen diese, so weit es uns möglich ist, unterstützen, ohne die Puppe vor ihrer Zeit gewaltsam aufzubrechen - zumindest wenn wir hoffen, daß ein Schmetterling daraus hervorkommt. Da das Potential für Weisheit und Gemütsverfassungen wie Güte, Mitgefühl, Einfühlung, Hingabe, Freude und Liebe bereits in unsere tiefste Natur als Menschen eingefaltet ist, kann ihre bewußte Entwicklung und Anwendung den Unterschied zwischen Frieden und andauerndem Krieg, zwischen wahrer Sicherheit und ständiger Unsicherheit, zwischen sich ausbreitendem Un-Wohlsein und wahrer Befreiung der menschlichen Gesellschaft von ihren eigenen selbstzerstörerischen Tendenzen ausmachen. Was haben wir schon zu verlieren, wenn wir bewußter in diese Richtung gehen – außer unsere tiefsitzenden Gewohnheiten der Unachtsamkeit und andauernden Selbstzerstreuung, die uns von uns selbst entfernen und uns in ständiger Angst leben lassen, indem wir vergessen, daß wir bereits heil sind und daß unsere wahre Sicherheit auf einem gesunden politischen Körper beruht, in dem wir alle eine wesentliche Rolle zu spielen haben?
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Talking Vietnam Meditation Blues — Ein Schnappschuß aus der Vergangenheit ... oder sollte es die Zukunft sein? Ich begann Mitte der sechziger Jahre zu meditieren. Sich mit Meditation zu beschäftigen, fühlte sich für jemanden, der auf den Straßen von New York aufgewachsen war, nach einer ziemlich ungewöhnlichen Sache an. Von den Menschen, die ich kannte, meditierte fast niemand. Es gab damals noch wenige gute Bücher über Meditation auf englisch, und man mußte sie in merkwürdigen Underground-Buchläden suchen. Auch in den Medien wurde das Thema praktisch noch nicht behandelt. Es kam mir damals nie in den Sinn, daß Meditation etwas mit einer „Gegenkultur“ zu tun haben könnte, wohl auch, weil der Begriff damals noch gar nicht erfunden war. Ich schätze, daß es sich für mich auf eine romantische Weise etwas „orientalisch“ anfühlte – in dem Sinne, daß man im „geheimnisvollen Osten“ etwas entdeckt und seit Jahrhunderten entwickelt hatte, das potentiell für ein volles Ausschöpfen des menschlichen Lebens relevant war und mit dem zu experimentieren sich deshalb lohnte. Zu ersten Begegnungen mit dem Buddhismus und der yogischen Meditation war es in unserer Kultur während der fünfziger Jahre im Kreis der Dichter der BeatGeneration gekommen, von denen unter anderem Gary Snyder zur Praxis der Meditation nach Japan gegangen war. Und schon früher, nämlich an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, hatten einige Meister aus dem Osten, die zum Weltkongreß der Religionen nach Chicago gekommen werden, winzige Samen des Dharma in den Vereinigten Staaten gesät, die in den sechziger Jahren aufgingen. Das Buch Psychotherapie und östliche Befreiungswege von Alan Watts war in unserer Gesellschaft ein wichtiger Katalysator für die Bereitschaft zum Experimentieren mit der Meditation. Ich gehöre zu der Generation, die Mitte der sechziger Jahre mündig wurde und in der ungewöhnlich viele von uns - ob sie nun Studenten waren oder nicht, ob sie politisch engagiert waren oder nicht - mit Möglichkeiten experimentierten, aus der sozialen Konformität, die die fünfziger Jahre dominiert hatte, auszubrechen. Wir waren manchmal etwas wirrköpfige, manchmal unerschrockene Erforscher der Grenzbereiche der Gesellschaft, eine junge Avantgarde, die nach einer Art von Klarheit suchte, nach einer Authentizität und einer Verheißung, die wir in dem von der Politik und der Wirtschaft propagierten „American Dream“ mit seinem Streben nach Erfolg, Macht, Status, Ruhm und Reichtum nicht zu finden vermochten - besonders vor dem schon geradezu surrealistisch zu nennenden Hintergrund des kalten Krieges und, in dessen Rahmen, der Tatsache, daß wir als „Supermacht“ Tag für Tag und Jahr für Jahr einen gnadenlosen Krieg gegen ein kleines Land von Bauern ohne Luftwaffe und Marine führten, auf das wir schließlich eine Masse von Bomben abwarfen, die die Sprengkraft sämtlicher von uns während des Zweiten Weltkriegs in Europa abgeworfenen Bomben übertraf. Einige von uns suchten nach einer Weise, im Leben zu stehen, zu sein und zu arbeiten, die von der Integrität eines Gewahrseins der Ganzheit geprägt war, trotz all der Widersprüche und Paradoxien, die, wie wir wußten oder sehr schnell lernten, unausweichlicher Bestandteil des Lebens in dieser Welt sind. Außerdem waren wir 398
unglaublich verärgert und desillusioniert angesichts all dessen, was in dieser Gesellschaft vor sich ging. Bei den Treffen des Science Action Coordination Committee (SACC) am MIT, das eine kleine Gruppe graduierter MIT-Studenten im Jahr 1968 gegründet hatte, um die tiefe Verwicklung des MIT in den Krieg und in die militärische Forschung ins öffentliche Gespräch zu bringen, übten wir auf dem Wohnzimmerfußboden eines der Teilnehmer oft zusammen Yoga oder praktizierten etwas Sitzmeditation, bevor wir zur Tagesordnung übergingen. Das waren damals noch recht dilettantische Versuche, die allerdings von Herzen kamen, eine Verbeugung vor unserem wachsenden Bewußtsein dafür, daß es bei den Veränderungen, die wir in uns selbst und in der Welt herbeiführen wollten, nicht nur um eine Verlagerung der Prioritäten ging und auch nicht darum, zu verhindern, daß gewisse Aktivitäten in unserem Namen durchgeführt wurden, sondern um einen Umschwung im Gewahrsein, eine Bewußtseinsveränderung, die uns zu jener Zeit ziemlich groß vorkam, auch wenn sie in Relation zu den Themen und den gesellschaftlichen Kräften, mit denen wir uns damals anlegten, klein und wenig erfolgversprechend erschien. Das MIT besaß zwei vielgerühmte, bereits während des Zweiten Weltkriegs gegründete Forschungslabors, deren Arbeit fast ausschließlich der Forschung zu Kriegszwecken gewidmet war. Sie hatten wesentlich zum Sieg im Zweiten Weltkrieg beigetragen, indem sie an der Entwicklung der Radartechnologie beteiligt waren, ballistische Leitsysteme für Artillerie und Raketen erfunden und Navigationssysteme für Flugzeuge und Kriegsschiffe entwickelt hatten. Ein Teil unserer studentischen Agenda bestand darin, die Mitglieder des MIT in einen fortlaufenden Dialog über Themen zu verwickeln, über die damals nie in der Öffentlichkeit gesprochen wurde. So forderten wir die MIT-Gemeinschaft auf, freiwillig für einen Tag ihre übliche Arbeit niederzulegen, in der Lehre, der Forschung und auch in der Verwaltung, und diesen ganzen Tag dem Dialog in der Gemeinschaft und der Hinterfragung ihrer Tätigkeit zu widmen. Als Studenten des MIT, die die Forschungsarbeit kannten und um ihre Bedeutung wußten, hatten wir auf uns selbst gestellt umfassende Nachforschungen angestellt, um aufzudecken, was am MIT wirklich geschah, Dinge, von denen nur wenige in der Gemeinschaft tatsächlich auch nur wußten. Die Arbeitsniederlegung für einen Tag sollte dazu dienen, einander zuzuhören und die verschiedenen Ansichten über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Technologie sowie deren möglichen Mißbrauch in der Gesellschaft zu artikulieren und zu diskutieren, auch zu der Frage, ob eine Universität die Forschung und Entwicklung von Massenvernichtungswaffen fördern und vorantreiben sollte. Die Diskussion darüber war sehr kontrovers: zum Teil, weil das Land in den Fragen des kalten Krieges und des Vietnamkriegs stark gespalten war, zum Teil auch, weil wir die Dinge dadurch noch mehr polarisierten, daß wir die Arbeitsniederlegung einen „Streik“ nannten. In den Monaten davor gab es eine Menge Trara auf allen Seiten und es herrschte eine aufgeheizte Atmosphäre, aber schließlich zogen wir die Sache durch. Am 4. März 1969 schloß das MIT für einen Tag, um eine Diskussion über das Thema Forschung für den Krieg zu führen. Nebenbei sei noch angemerkt, daß einige von uns, die das SACC gegründet hatten, einige prominente Mitglieder des Lehrkörpers am MIT dazu ermutigten und drängten, 399
ihre eigene Gruppe zu gründen, um diesen Tag des Dialogs und des Hinterfragens zu unterstützen. Die Lehrkörper-Gruppe, die zu Anfang hauptsächlich aus Wissenschaftlern aus dem Bereich der Theoretischen Physik und der Biologie bestand, brauchte, wie wir in unserem jugendlichen Überschwang und unserer Hybris glaubten, in den Anfangsstadien sehr viel Hilfe und Ermutigung durch uns Studenten. Also halfen wir ihr, sich zu organisieren. Wir schlugen sogar den Namen vor, denn sie dann auch für ihre eigene Organisation annahm: Union of Concerned Scientists (UCS, etwa „Vereinigung verantwortungsbewußter Wissenschaftler“), die übrigens heute noch besteht und aktiv ist. Sie ist heutzutage eine hochgeachtete internationale Organisation, zu der eine Reihe der herausragendsten Wissenschaftler der Welt gehören, Wissenschaftler, die an einigen der dringlichsten Probleme dieser Welt arbeiten und sich mit Fragen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Technologie beschäftigen sowie mit Fragen der Ernährung, der Energie, der Umwelt, der Sicherheitspolitik und der Gesellschaftspolitik. Für uns Studenten war das ein weiteres Beispiel dafür, daß man auch dann, wenn man keine Ahnung hat, wie die Dinge sich entwickeln können, sich niemals daran hindern lassen sollte, für das einzustehen, woran man glaubt. Der 4. März 1969 war für uns eine wichtige Weggabelung. Und hat die UCS die Welt verändert? Wer weiß? Ist die Welt deshalb besser geworden, weil diese Vereinigung besteht und sich ihre Mitglieder nicht nur ihrer Verantwortung bewußt sind, sondern sich auch um eine Reihe ziemlich wichtiger und überaus heikler Themen kümmern, um die sich sonst niemand kümmern würde und denen so wenigstens etwas Beachtung geschenkt wird? Ich glaube schon. Jeder kleine Schritt zählt, und oft stellt sich erst viel später heraus, wie wichtig er gewesen sein mag. In der Hoffnung, ihn davon überzeugen zu können, den Eröffnungsvortrag an jenem 4. März zu halten, suchten einige Vertreter des SACC den Biologen George Wald in seinem Labor auf. Dieser Wissenschaftler von der Harvard University war nicht nur für seine brillanten und ausgefeilten Vorlesungen bekannt; er hatte auch vor einigen Jahren für seine Erhellung der chemischen Mechanismen des Farbsehens den Nobelpreis erhalten. Er nahm unsere Einladung sehr gern an und bereitete einen Vortrag zum Thema „Eine Generation auf der Suche nach der Zukunft“ vor. Als der Tag gekommen war, sprach er sehr bewegend darüber, warum die Studenten seiner sehr populären Einführungsvorlesungen seiner Beobachtung nach immer mehr Unbehagen verspürten. Er behandelte die zu jener Zeit auf den Nägeln brennenden Themen wie den Vietnamkrieg, den kalten Krieg, die Wehrpflicht, die Kriegsverbrechen, die von den Vereinigten Staaten und von unseren Gegnern begangen wurden, und zwar auf eine Weise, die deutlich machte, daß die konventionelle Sicht auf diese Themen sowie die angebliche Notwendigkeit, „praktisch“ zu denken und den Status quo zu akzeptieren also das Wettrüsten und das endlose Töten, das immer mit der Aggressivität der anderen Seite entschuldigt wurde, sowie die schönfärbende Sprachregelung, nach der emotionslos und rational ein möglicher Atomkrieg und seine Konsequenzen diskutiert wurden - an jenem Tag in den Vordergrund gestellt und von seiner Warte als bankrott, absurd und unmoralisch dargestellt wurde. Mit seinen scheinbar improvisierten Überlegungen, die von harten Fakten und Zahlen und seiner eigenen moralischen Stärke untermauert wurden, brachte er es fertig, eine völlig andere Sicht auf unser Zeitalter zu skizzieren. Es fühlte sich an wie ein mutiger Appell der Wahrheit an die Macht, und da 400
diese Stimme von ihm kam und aus einem „MIT im Streik“ ertönte, stand außer Frage, daß das Weiße Haus, der Kongreß und besonders das Pentagon darüber informiert werden. Seine Ansichten bewegten die Zuhörer zutiefst, jenseits aller Meinungen, die jeder einzelne vielleicht hegte, und sie alle wußten, daß sie hier etwas hörten, das wahrscheinlich einer höheren Wahrheit angehörte, artikuliert und verkörpert auf seine emotional nuancierte und kraftvolle Art. George Wald sprach dabei immer wieder für längere Zeit mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf, so als führe er eine Art Selbstgespräch, und der mit gut zwölfhundert Studenten, Lehrkräften und Verwaltungsangestellten des MIT gefüllte Saal lauschte ihm in atemloser Stille.25 Das ganze Auditorium war von der Rede von Walds hingerissen. Er war ein hervorragender Redner, aber diese Rede sollte sich als die wichtigste politische Rede seines ganzen Lebens erweisen; außerdem trat er damit in eine Phase viel größeren politischen Engagements für die Sache des Friedens ein. Die Rede wurde einige Tage später (am B. März 1969) zusammen mit anderen Berichten über das Ereignis am MIT und seine Nachwirkungen in ganzer Länge in einer Sonderbeilage im Boston Globe abgedruckt. Dieser Abdruck war so gefragt, das der Globe noch einmal eine halbe Million Exemplare in Form eines Flugblatts zur kostenlosen Verteilung nachdruckte. So etwas war noch nie zuvor geschehen — und ist, soweit ich weiß, seither auch nicht mehr geschehen. Ich erzähle diese Geschichte, um Ihnen eine Ahnung davon zu vermitteln, was eine kleine Gruppe von Menschen zur Veränderung des Bewußtseins beitragen kann, daß wenige Menschen einen Impuls geben können, der größere Wirkung haben kann, als sie sich je hätten vorstellen können. Jede Generation muß zu ihrer eigenen Sichtweise dessen gelangen, was in der Welt vor sich geht, und muß einen Weg finden, mit dem Erbe umzugehen, das ihr hinterlassen wurde; jede Generation muß ihre eigenen Energien und ihre Visionen in das einzubringen, was im Dienste einer größeren Sache an Umstrukturierungen, deren Notwendigkeit zuvor vielleicht noch nicht offensichtlich war, zu vollziehen ist. Jede Generationen muß das, was sie von ihren Vorfahren geerbt hat, selber neu einschätzen, und gewöhnlich ist die Interpretation dieses Erbes nicht gerade schmeichelhaft. Aber auch wenn dem so ist, muß die Situation doch schonungslos beschrieben werden, wenn wir nicht in noch mehr Verblendung und Schlafwandeln versinken wollen, um dann noch mehr Schaden für die Welt und uns selbst anzurichten. Wenn wir bereit sind, das, was ist, beim Namen zu nennen, mag es uns möglich sein, den Organismus, das System, den politischen Körper auf liebevolle Weise so zu irritieren — im besten Geist des Patriotismus und einer freien Gesellschaft —, daß wir vielleicht neue Sichtweisen und neue, ungeahnte Optionen des Umgangs mit uralten Problemen Vierunddreißig Jahre später fand ich mich in demselben Auditorium wieder, wo das Mind and Life Institute in Zusammenarbeit mit dem McGovern Brain Institute des MIT im Jahr 2003 den ersten öffentlichen Dialog zwischen westlichen Gehirnforschern und Psychologen und dem Dalai Lama und anderen buddhistischen Mönchen veranstaltete. Thema war die Erforschung des Geistes sowohl aus der inneren, meditativen Perspektive der ersten Person als auch aus der äußeren, traditionell wissenschaftlichen Perspektive der dritten Person. Dahinter stand die Hoffnung, daß ein solcher Dialog neue Wege für die wissenschaftliche Forschung und zum Verständnis der Natur des Geistes eröffnen würde. Die Gegenüberstellung dieser beiden Ereignisse in meiner Vorstellung ist sehr symbolträchtig, und George Wald hätte sie sicherlich mit Freude zur Kenntnis genommen. 25
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als Reaktion aus ihm herauskitzeln. Dabei sind nicht einmal die angewendeten Mittel das Wichtigste, sondern vielmehr die Qualitäten des Herzens und des Geistes, in dem diese Mittel angewandt werden. Wenn es darum geht, unseren Wechselwirkungen mit der Welt Gestalt zu verleihen, dann hat selbst das kleinste bißchen Weisheit und Geistesklarheit unausweichliche Konsequenzen. Doch diese Kraft muß kultiviert werden. Unablässig. Selbstlos. Freudig. George Wald hat vielleicht beim Namen genannt, was an diesem besonderen Tag beim Namen genannt werden mußte, zumindest im Hinblick auf das Herz und den Geist vieler seiner Zuhörer, aber wir müssen etwas Ähnliches praktisch jeden Tag aufs Neue für uns selbst leisten. Ansonsten laufen wir Gefahr, den Kontakt zu dem zu verlieren, was wir tatsächlich auf diesem Planeten tun. Wir können sehr schnell aus den Augen verlieren, wie sehr der politische Körper von unser aller Engagement abhängig ist und wie sehr unser Engagement wiederum auf unserer inneren Entwicklung und unserem Verständnis dessen beruht, wer wir sind, wie wir mit der Welt umgehen und wie umgekehrt die Welt mit uns umgeht, was wir der Welt zu bieten haben und was umgekehrt die Welt uns zu bieten hat. Dieser Prozeß ist zeitlos; er hat die Zeitlosigkeit des Gewahrseins selbst. Dennoch muß er sich auch in der Zeit abspielen - und zwar angesichts des allgegenwärtigen UnWohlseins sowie der Krise unserer Spezies, unseres Planeten und unserer Zeit praktisch unablässig. Wir besitzen das Potential, im Laufe der Zeit in uns selbst hineinzuwachsen, jeder auf seine Weise und in Übereinstimmung mit seinem eigenen Herzen. Wir besitzen das Potential, zu erkennen, wie weit unser eigenes Handeln oder Nichthandeln von Gier, Haß, Verblendung oder bloßer Trägheit motiviert ist, und wir haben ebenfalls das Potential, bewußt und wiederum in dem Ausmaß, daß sich innerlich und äußerlich angemessen für uns anfühlt, durch Lernen einen Ausweg aus den das Dukkha vertiefenden Sichtweisen und Verhaltensmustern zu finden. Wir können uns bewußt für Vorgehensweisen entscheiden, die uns erkennen lassen, wieviel Schmerz wir uns in dieser Welt unabsichtlich oder mit voller Absicht gegenseitig zufügen, und wir haben die Möglichkeit, in größerer Stille und in einem Gefühl der Sicherheit zu leben, die eine Grundlage dafür bieten, den anderen in uns selbst zu sehen, und damit zum Frieden zu gelangen. Unsere wahre Krise ist eine Krise des Bewußtseins. Unsere wahre Befreiung ist eine Frage des Bewußtseins. Hmmmmm. Viele Amerikaner haben geglaubt, wir müßten den Krieg in Vietnam führen, um den Kommunismus einzudämmen. Wenn wir das nicht täten, so dachten sie, würden bald die sprichwörtlichen „Dominosteine“ in der Region einer nach dem anderen umfallen, bis wir am Ende selbst kommunistisch regiert würden. Wie sich herausgestellt hat, war das keine besonders zutreffende Einschätzung der Situation. Die Krankheit war nicht wirklich in Vietnam angesiedelt. Oder zumindest nicht jene Krankheit, um die wir uns kümmern mußten. Sie lag in unserer eigenen Sichtweise, in uns selbst und in unserer Angst. Und dort liegt sie auch heute noch. Der Preis für solche fehlgeleiteten Abenteuer ist enorm hoch, in moralischer wie in wirtschaftlicher, sozialer und spiritueller Hinsicht. Und dann wundern wir uns, warum so viele Völker auf diesem Erdball uns als eine größere Bedrohung für die Zivilisation ansehen als die „bösen Buben“ – wo unsere Selbstwahrnehmung uns doch versichert, daß wir nichts als die besten Absichten haben und so viele gute und altruistische Dinge tun, selbst wenn wir Krieg führen. Ich schätze, das liegt daran, daß wir selbst in vieler 402
Hinsicht einfach noch unreif sind, daß wir noch viel zu lernen haben und daß es, Klischee hin oder her, tatsächlich einfacher ist, einen Krieg zu gewinnen als Frieden zu stiften. Das Motto der Luftwaffe der Vereinigten Staaten lautet: „Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit.“ Wie wahr das doch ist! Es ist sehr viel wahrer, als irgendeine Werbeagentur, die sich diesen Spruch ausgedacht hat, sich hat träumen lassen. Diese Wachsamkeit muß auf jeder Ebene durch Achtsamkeit genährt werden, nicht nur auf den Radarschirmen und bei den Sicherheitsmaßnahmen auf Flughäfen. Und diese Freiheit muß wirklich verstanden werden. Wenn wir die Befreier sein wollen, dann täten wir vielleicht gut daran, zuerst uns selbst von unserer Unbewußtheit zu befreien – durch eine freundliche und sanfte, aber auch eine kraftvolle und entschlossene, nach innen gerichtete Wachsamkeit.
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Wag the Dog — Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt In dem auf bestürzende Weise prophetischen Film mit diesem Titel erfindet eine fiktive Regierung ein Medienereignis in Form einer provokativen Episode mit rührseliger Note in einem Land auf dem Balkan. Sie läßt den „Bericht“ als Sondermeldung immer wieder über die nationalen Fernsehsender ausstrahlen und heizt damit die Stimmung unter der Bevölkerung dermaßen an, daß sie einen Krieg vom Zaun brechen kann, um von unangenehmen innenpolitischen Wahrheiten abzulenken. Niemanden kümmert dann mehr, daß das Ereignis selbst gar nicht stattgefunden hat. Es geschieht immer wieder, daß einige unserer Politiker bereit sind, die haarsträubendsten Dinge zu sagen oder sich darauf einzulassen, nur um uns von Wahrheiten zu überzeugen, die gar keine sind, wobei sie sich auf Kleinigkeiten stützen, die vielleicht etwas ganz anderes zu bedeuten hatten oder auf Ereignisse, die überhaupt nicht stattgefunden haben. Der Zwischenfall im Golf von Tongking, der die USRegierung behaupten ließ, die Nordvietnamesen hätten eines unserer Kriegsschiffe angegriffen, und der zu einer zehn Jahre andauernden Verwüstung und schrecklichem Blutvergießen führte, war, wie viele meinen, ein solches konstruiertes Ereignis. Ob solche Dinge aus machiavellistischer Verschlagenheit und zynischem Machthunger geschehen oder einfach aus einer wohlmeinenden Naivität und Amok laufender Gedankenlosigkeit in der Regierung, bleibt eine offene Frage. Aber ganz gleich, was das zugrundeliegende Motiv ist, es führt gewöhnlich zu denselben schrecklichen Konsequenzen. Es sieht so aus, als brauchten die Machthabenden heutzutage nur zu sagen, etwas sei blau, auch wenn es ganz offensichtlich rot ist, und die Medien werden berichten, daß es blau ist - und genügend Menschen werden daran glauben, weil sie es in der Zeitung gelesen oder in den Nachrichten gehört haben. So wird es dann zumindest zu etwas, was diskutiert wird, als ob es wahr wäre - und das genügt vielen schon, es als direkten Angriff auf unser Land anzusehen, auf den man mit berechtigter Entrüstung reagiert und der eine überzogene Reaktion rechtfertigt, welche deutlich macht, daß wir uns Drohungen nicht gefallen lassen und daß man uns nicht herumstoßen oder schikanieren kann. Wir müssen für unsere Behauptungen keine Rechenschaft mehr ablegen. Alles ist möglich, ganz gleich, wie wenig plausibel und von Tatsachen untermauert etwas sein mag. Vielleicht ist Rot ja wirklich Blau. Vielleicht gab es einen Zusammenhang zwischen dem Irak und den Terroranschlägen vom 11. September. Sobald das einmal ausgesprochen wurde, selbst wenn praktisch keine plausiblen Belege dafür vorhanden oder die Beweise bloße Erfindungen sind, nimmt diese Aussage für bestimmte Leute die Qualität einer Wahrheit an, besonders wenn sie immer und immer wieder wiederholt wird, und das in einer Atmosphäre, in der unsere Angst unter Ausnutzung unserer verständlichen Gefühle der Unsicherheit bewußt geschürt wird. „Wenn wir den Terroristen im Irak keinen Einhalt gebieten, dann werden wir weiteren Angriffen bei uns zu Hause ausgeliefert sein, undenkbar schrecklichen Angriffen auf unschuldige Menschen unter Verwendung von Massenvernichtungswaffen, die von Schurkenstaaten geliefert wurden. Das hört sich doch plausibel an. Also greifen wir sie lieber an, bevor 404
sie uns angreifen. Schließlich sind wir ja die ,Guten` und diejenigen, die zu leiden hatten. Da haben wir es doch nicht nötig, uns zurückzuhalten und die Situation gründlich zu analysieren, ganz gleich, was unsere Freunde und Alliierten dazu sagen. Heute sieht die Sache einfach ganz anders aus. Sie sind entweder auf unserer Seite oder sie sind unsere Gegner. Blau ist jetzt Rot, und wer behauptet, dem sei nicht so, dem kann man nicht trauen. Solche Menschen sind ganz offensichtlich unpatriotisch. Sie wollen einfach nicht sehen, in welcher Gefahr die Freiheit und die Demokratie sich befinden.“ Und so haben wir also einen „Präventivkrieg“ gewonnen, haben einen monströsen und mörderischen Diktator gestürzt, über dessen Abgang niemand als seine enge Anhänger traurig waren, haben das Land „befreit“ - und sind in einer anderen Art von Sumpf gelandet. Wahrscheinlich haben wir den terroristischen Organisationen auf der ganzen Welt sehr effektiv neue Anhänger in die Arme getrieben - als Folge unserer Arroganz, unseres Machtmißbrauchs und unserer Besessenheit davon, zumindest in unseren eigenen Augen die Guten zu sein und das Gute in der Welt zu fördern, koste es, was es wolle, und oft aus den ganz falschen Gründen. Kann das Verbiegen der Wahrheit uns jemals wirklich sicherer machen? George Orwell schrieb seinen Roman 1984 als Warnung vor dem, was geschehen kann, wenn wir uns weigern, eine Axt eine Axt zu nennen, wenn die Situation es erfordert, und wenn wir uns so lange Sand in die Augen streuen lassen oder ihn uns selbst in die Augen streuen, bis wir glauben, Schwarz sei Weiß und Weiß sei Schwarz, oder, wie es bei Orwell heißt: „Krieg ist Frieden / Freiheit ist Sklaverei.“ Und es dürfte kaum der Aufmerksamkeit vieler Menschen entgangen sein, daß ein Zitat der Aussagen des Nazi-Generals Hermann Göring bei den Nürnberger Prozessen nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs am Vorabend des Präventivschlags gegen den Irak im Internet verbreitet wurde, welches das Phänomen des mit dem Hund wedelnden Schwanzes auf erschreckende Weise auf den Punkt brachte: Natürlich wünscht sich das gemeine Volk keinen Krieg, aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen. Und es ist immer eine einfache Sache, das Volk mitzureißen, sei es in einer Demokratie oder unter einer faschistischen Diktatur, unter einem Parlament oder einer kommunistischen Diktatur. Ob die Menschen eine Stimme haben oder nicht, man kann die Leute immer den Führern hörig machen. Das ist ganz leicht. Man muß ihnen nur sagen, daß sie angegriffen werden, und braucht die Pazifisten nur als schlechte Patrioten zu denunzieren, die das Land einer Gefahr aussetzen. Das funktioniert in jedem Land auf dieselbe Weise. Es ist schlimm genug, wenn man in ein Schwarz-Weiß-Denken zurückfällt, in eine Entweder-wir-oder-sie-Mentalität, wie sie als Reaktion auf eine solch verzerrte Wahrnehmung entstehen. Doch wenn man von uns so häufig verlangt, zu akzeptieren, daß Schwarz Weiß ist und Rot in Wirklichkeit Blau, dann strapaziert das die Grenzen der Glaubwürdigkeit, wo wir doch alle wissen, daß die meisten Situationen komplex und vieldeutig sind und es eines guten Unterscheidungsvermögens und großer Einsicht bedarf sowie einer sorgfältigen Abwägung der Optionen und Konsequenzen vor dem Hintergrund von Weisheit, um wahre Sicherheit bieten und weises Handeln in der Welt 405
fördern zu können. Nichtsdestoweniger ist einfach nicht von der Hand zu weisen, daß wir als Gesellschaft unter den entsprechenden Umständen und Rahmenbedingungen immer wieder dazu gebracht werden können, in einen kollektiven Wahnsinn zu verfallen, der unser Wohlergehen und sogar unsere Integrität als Land und als Spezies zu zerstören droht, wenn nur die richtigen Leute in den richtigen Situationen uns manipulieren, indem sie die richtige Sprachregelung verwenden und unsere Ängste ausnutzen, um uns dazu zu ermutigen, unsere Fähigkeit zu klarem Sehen und zur Unterscheidung von Fakten und Fiktionen zu ignorieren. Ist es nicht vielleicht an der Zeit, daß wir aufwachen und die Dinge beim Namen nennen, wenn es so aussieht, als wedele der Schwanz mit dem Hund, daß wir uns weigern, uns zur Passivität und zum Schlafwandeln verleiten zu lassen und daß wir nicht länger unsere Freiheit und unseren gesunden Menschenverstand auf dem Altar der Unbewußtheit, der Angst und der Manipulation opfern? Ist es nicht bereits höchste Zeit, daß wir beginnen, auf das zu achten, was sowohl innerlich als auch äußerlich unter der oberflächlichen Erscheinungsform der Geschehnisse tatsächlich passiert, und daß wir die Symptome der zugrundeliegenden Krankheit nicht länger ignorieren? Ist es nicht an der Zeit, daß wir beginnen, auf angemessene Weise zu handeln, und zwar auf der Grundlage des ganzen Spektrums unserer Intelligenz und nicht nur auf der Grundlage fragwürdiger Geheimdienstinformationen, die bereits durch den Filter des voreingenommenen Bewußtseins von Menschen gegangen sind, die ihre eigenen Ziele verfolgen und deshalb bereit sind, alles andere zu tun, als Klarheit und Genauigkeit bei der Einschätzung komplexer Situationen zu fördern? Wäre es nicht gerade jetzt an der Zeit, daß wir als Nation und als Individuen die Verantwortung dafür übernehmen, „alles zu sein, was wir sein können“ – wie es bei der US-Armee so schön heißt?
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„Ich weiß nicht, was ich ohne meine Übung getan hätte!“ Ich bin immer wieder tief bewegt, wenn ich auf meinen Reisen Menschen begegne, die mir kurz von der „ganzen Katastrophe“ irgendwelcher Ereignisse in ihrem Leben berichten und mir dann sinngemäß sagen: „Ich weiß nicht, was ich ohne meine Übung getan hätte.“ Sie beziehen sich dabei auf ihre Meditationspraxis und verschiedene Möglichkeiten, die sie entdeckt haben, mit ihrer Erfahrung, jeglicher Erfahrung, umzugehen, Möglichkeiten, die ihre Erfahrung und sie selbst lebendiger gemacht haben. Wenn wir in ein achtsames Gewahrsein im gegenwärtigen Moment eintreten, dann haben wir unweigerlich das Gefühl, in einer engen Beziehung zu den Dingen, wie sie sind, zu stehen, ganz gleich, wie sie gerade sind. Natürlich stehen wir sowieso in einer engen Beziehung zu ihnen, ob wir das nun wissen oder nicht, aber wenn wir es nicht wissen, dann ist unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit einer gegebenen Situation zu erkennen, zu verstehen und anzuerkennen, besonders wenn die Situation nicht so ist, wie wir es uns wünschen, stark beeinträchtigt. Als Konsequenz davon ist unser Vermögen, auf eine Art zu handeln, die sowohl weise als auch freundlich und nützlich ist, wahrscheinlich ebenfalls stark beeinträchtigt. Solch ungeschicktes Handeln verschlimmert schwierige Situationen dann oft nur noch, ohne daß wir überhaupt erkennen, wo die Quelle der zunehmenden Schwierigkeiten liegt. Tatsächlich legen wir uns dann selber ständig Steine in den Weg. Meditation ist ein Weg, um ein gewisses Maß an Gleichgewicht und Klarheit an der Schnittstelle zwischen der inneren und der äußeren Welt wiederherzustellen. Sie zeigt uns, wie wir genau hier und eben jetzt ein gewisses Maß an Weisheit und wenigstens ein Mindestmaß an Mitgefühl verkörpern können, wie wir mitten im Leiden und in emotionalem Aufruhr Freiheit von Leiden und von emotionalem Aufruhr verkörpern können. Meditation vermag in jeder Jahreszeit eines Lebens, selbst mitten in den schrecklichsten und verheerendsten Stürmen, das Herz zu beruhigen und den Geist zu sammeln und zu klären, ohne im geringsten die Angst und das riesige Ausmaß des Leidens, das mit der Situation verbunden sein mag, sowie die Notwendigkeit, auch angesichts riesiger und schmerzlicher Ungewißheit weiterzugehen, zu ignorieren. Und wo kommen diese Weisheit und dieses Mitgefühl her? Sie kommen aus Ihrem Inneren - sie sind Teil dessen, was Sie schon immer besessen haben, was sie aber, wenn ihnen daran gelegen ist, in einem größeren Ausmaß zu verkörpern vermögen, wenn sie eine regelmäßige Meditationspraxis aufrechterhalten. Um es noch einmal zu wiederholen: Meditation ist nicht das, was Sie denken. Sie ist kein innerer Schachzug, der das Denken ausschaltet und Gefühle unterdrückt und die Dinge mit einer künstlichen Ruhe übertüncht, auch wenn viele Menschen, die selbst keine Meditation praktizieren, und sogar einige, die sie praktizieren, das denken. Es geht dabei auch nicht darum, irgend etwas zu reparieren oder zu kurieren, irgendwo anzukommen oder irgend etwas zu erlangen. Sie ist auch kein Bewußtseinszustand, wie wundervoll wir uns diesen auch vorstellen. Sie besteht darin, über alle Bewußtseinszustände und alle Meinungen, ja selbst über alle Diagnosen hinauszugehen. Sie besteht darin, in einem Gewahrsein, das einfach bei dem zu bleiben vermag, was 407
gerade geschieht, während es geschieht, zur Ruhe zu kommen, was immer es auch ist, das geschieht, und ohne etwas wegzustoßen, selbst wenn es unangenehm oder schmerzlich ist und wir es lieber nicht erleben möchten, oder zwanghaft irgendwelchen Erfahrungen nachzujagen und ständig von ihnen eingenommen zu sein, auch wenn sie äußerst angenehm sind und wir nicht möchten, daß sie vorübergehen. Bei der Meditation geht es im Grunde um Freiheit. Sie ist zuerst und vor allem eine befreiende Praxis. Sie ist eine Art zu sein, die uns eben hier und genau jetzt unser Leben und unser Glück zurückgibt - die sie aus den Fängen von Unachtsamkeit, Gewohnheiten der Unaufmerksamkeit und des Schlafwandelns befreit, Gewohnheiten, die drohen, uns auf eine Weise gefangenzuhalten, die letztlich ebenso schmerzvoll sein kann wie der Verlust unserer äußeren Freiheiten. Und eine der Arten, auf die sie uns befreit, besteht darin, daß sie es uns ermöglicht, immer wieder dieselben unklugen Entscheidungen zu treffen, wenn auch deren Konsequenzen doch ganz klar ersichtlich sind und wir diese auch begreifen könnten, wenn wir nur hinsehen and tatsächlich sehen würden. Aus all diesen Gründen kann Achtsamkeit ein natürlicher Katalysator für die Vertiefung und Ausweitung von Demokratie sein, einer Demokratie, in der die Freiheit sich nicht nur in unserer Rhetorik, unseren Gesetzen und Institutionen verkörpert sowie in der Art, wie diese im Alltag zur Anwendung kommen, so wichtig das auch sein mag, sondern auch in unserer durch Erfahrung gestählten Weisheit als individuelle Bürger. Es geht um eine Weisheit, die wir dadurch gewinnen, daß wir tief in unsere wahre Natur hineinschauen und aus ihr heraus empfinden, eine Weisheit, die in unserem Herzen und unserer Liebe zu den inneren Landschaften des Geistes und des Herzens verkörpert ist. Je mehr wir mit dieser Landschaft vertraut werden, desto wirksamer können wir an der Gesellschaft teilhaben sowie an der Wertschätzung der Schönheit und des einzigartigen Potentials eines jeden von uns. Je mehr die Menschen dieses Gebiet kennenlernen, desto mehr werden wir alle aus dem Teilen einer sich verbreitenden Weisheit gewinnen, dem Teilen eines Wohlwollens und einer gegenseitigen Achtung, die sich in gesündere Gemeinschaften und eine gesündere Gesellschaft sowie eine Nation übersetzen können, die ihre Prioritäten kennt und diese in der Welt mit authentischer und unerschütterlicher Hochachtung und mit Respekt lebt. Diese Art von Freiheit kennt keine Grenzen. Wenn andere nicht frei sind, dann können auch wir selbst in einem sehr realen Sinne nicht völlig frei und in Frieden sein, so wie wir in einer kranken Welt nicht völlig gesund sein können. Aber das bedeutet nicht, daß wir irgendwie von Gott auserwählt oder dazu bestimmt sind, unsere Definition und Auffassung von Freiheit in andere Kulturen zu exportieren. Es wäre weit besser, wenn wir uns im Heilen verwurzeln und unsere Energien darein investieren würden, wenn wir die Ganzheit achten und wiederherstellen und eine gemeinsame Grundlage für alle Menschen finden würden. Das wäre eine wahre zu Frieden führende Politik und würde der Weisheit in der Welt Geltung verschaffen. Das ist potentiell der tiefste und befriedigendste Ausdruck unserer Imagination und unserer Kraft, eine Quelle wahren Glücks. Als Nation und als Spezies brauchen wir heute eine innere Stärke, die unserer äußeren Stärke gleichkommt oder diese noch übertrifft. Es ist dringend notwendig, daß wir in unsere Ganzheit hineinwachsen. Die Alternativen sind zu grauenhaft, um sie sich vorstellen zu können. Also sollten wir uns vielleicht darum bemühen.
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Vielleicht wird der Tag kommen, an dem die Präsidentin der Vereinigten Staaten am Ende eines langen und schwierigen Arbeitstages zu ihrem Ehemann sagen wird: „Ich weiß nicht, was ich ohne meine Übung getan hätte.“
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Das Aussetzen der Zerstreuung In der auf den 11. September folgenden Woche wurde ein Redakteur der Zeitschrift Village Voice in einem Radiointerview gefragt, wie die Katastrophe seiner Wahrnehmung nach die Psyche der Stadt New York und ihrer Einwohner verändert habe. Es bezeichnete die Situation als ein „Aussetzen der Zerstreuung“. Er hatte bemerkt, daß die Menschen den Augenkontakt miteinander suchten wie nie zuvor, daß sie wortlos mit flüchtigen Blicken kommunizierten und die Gesichter der anderen wirklich wahrnahmen. Sie schienen nicht mehr völlig von den üblichen Abläufen und der Geistesverfassung des Alltagslebens absorbiert zu sein. Das unvorstellbare Ereignis, der schiere Schrecken des Geschehenen, der immense Verlust an Menschenleben und das plötzliche. Verschwinden der beiden Wahrzeichen der Stadt hatten die New Yorker angesichts der Unfaßbarkeit der Geschehnisse in eine wortlose Präsenz katapultiert. Das Aussetzen der Zerstreuung - eine sehr bezeichnende Aussage. In ihrer Prägnanz setzte sie vielleicht ein Hoffnung machendes Zeichen für die Widerstandskraft, ja vielleicht sogar die Weisheit der Menschheit in einer Zeit tiefer Verwundung und großer Trauer. Das Aussetzen der Zerstreuung. Wie erstaunlich für eine Stadt und eine Gesellschaft, in der wir dazu erzogen werden, ein Leben praktisch endloser Zerstreuung zu führen, in der so viele Dinge um unsere Aufmerksamkeit buhlen, in der unsere Sinne und unser Geist überflutet werden, so daß wir uns vor dieser Dauerberieselung oft mit unseren eigenen Zerstreuungen schützen und dabei schließlich vergessen, was das Allerwichtigste für uns ist und sogar, wer wir sind und was wir tun. Ich weiß nicht, wie lange dieses Aussetzen der Zerstreuung, an die die New Yorker so sehr gewöhnt sind, angehalten hat, denn die Rückkehr zur Norm und zum Normalen ist gewiß ein Teil des Heilungsprozesses. Aber es gab an jenem Tag vieles, zu dem man aufwachen konnte. Zweifellos machte dieser Tag sehr deutlich, daß das plötzliche Ausbrechen einer Krankheit, die bis dahin trotz einer Reihe sehr bedeutsamer Warnsignale nicht erkannt, übersehen und unbehandelt geblieben war und die vielleicht gerade durch unseren Mangel an Verständnis und Verbundenheit noch verschlimmert worden war, uns im Herzen unseres politischen Körpers treffen und großen Schaden und unsägliches Leid anrichten kann. Wir wurden auch auf unmißverständliche Weise daran erinnert, daß alles vergänglich ist. Unterstreichen Sie alles. Natürlich wußten wir das tief in unserem Inneren bereits. Doch in unserem täglichen Leben tun wir gern so, als wären wir unsterblich und als würden unsere Schöpfungen fortdauern, als würde sich das Leben mit einem gewissen Maß an Verläßlichkeit und Sicherheit entfalten und als würden die schlimmen Dinge nur anderswo und weniger vom Glück begünstigten Menschen als uns geschehen. In einer friedlichen und gesunden Gesellschaft hat die soziale Ordnung unter anderem den Zweck, ein hohes Maß an relativer Gewißheit und Sicherheit für deren Bürger zu garantieren, und zwar durch die Gesetzgebung, die von einer effektiven Polizei und einer unparteiischen Justiz gestützt wird sowie von einem von der Gemeinschaft getragenen System der Verteidigung, einem guten Gesundheitssystem und einem Gespür für das Mögliche, das auf Chancen in der Bildung sowie auf wirtschaftlicher und kreativen Entfaltungsmöglichkeiten beruht. Das ist zumindest das Ideal. 410
In der Praxis gibt es nur eine Annäherung an dieses Ideal, die ständig verfeinert und vertieft werden muß. Nichtsdestoweniger bleibt das Gesetz der Vergänglichkeit immer wirksam, ganz gleich, wie gut und effektiv unsere Institutionen in einem bestimmen Moment sind oder nicht. Alles verändert sich. Nichts bleibt über lange Zeit gleich. Die Dinge sind grundlegend ungewiß. In Zeiten der sozialen Unruhe und Instabilität scheinen sich die Auswirkungen dieses Gesetzes zu verstärken und besonders unvorhersehbar zu sein. Das kann an sich schon erschreckend sein. Der 11. September hat uns gezeigt, daß selbst unsere größten Bauwerke vergänglich sind und durch menschliche Ignoranz und Böswilligkeit im Nu in Staub und Asche fallen können. Er hat uns daran erinnert, daß unser Leben selbst in der Jugend, selbst bei bester Gesundheit, selbst in Friedenszeiten, selbst mitten in einer großen Stadt in einem großen Land dem Gesetz der Vergänglichkeit unterworfen ist. Noch um acht Uhr in der Frühe dieses Tages waren die riesigen Zwillingstürme, die ihren Schatten über Lower Manhattan warfen und dort einen guten Teil des Himmels verdeckten, an ihrem Platz, wie sie es seit ihrer Fertigstellung in den sechziger Jahren gewesen waren. Zweieinhalb Stunden später waren sie verschwunden. Daß sich die Vergänglichkeit in Friedenszeiten in solch massivem Ausmaß offenbaren würde, unter solch tragischem Verlust von Menschenleben und der Zerstörung zahlloser Hoffnungen und Träume durch den Verlust von Eltern und Geldverdienern, und das praktisch in wenigen Augenblicken, war vorher wahrlich geradezu undenkbar. Und so wie das, was übrigblieb, ein leerer Raum war, der sofort durch die enormen Verluste an Menschenleben und die selbstlosen Anstrengungen jener, die überlebt hatten und die in den Rettungsaktionen gestorben waren, sowie jener, die ihre Seele und ihren Leib in die Aufräumungsarbeiten investierten, geheiligt wurde, so wurde die Substanzlosigkeit dessen, was wir für das Greifbarste und Realste halten, auf drastischste Weise offenbart. Yeats sagte einmal, daß „alle Dinge fallen und neu gebaut werden“. Doch nie zuvor haben wir als Kollektiv in unserer eigenen Heimat - eingebrannt in unsere Netzhaut und in unser Gehirn durch Bilder und Fernsehszenen, die in Worten nicht zu fassen sind, und unser Herz zerbrechend - erfahren, daß so viel so schnell verschwinden kann. An diesem Tag ging eine gewisse Unschuld verloren. Ein Teil davon war einfach ein Erwachen, eigentlich keine schlechte Sache, jedoch ein Erwachen, das in diesem Fall auf grausamste Weise deutlich machte, daß Form Leere ist. Natürlich waren auch Hiroshima und Nagasaki in unsere Netzhaut eingebrannt, wenn auch nicht schon während der jeweiligen Luftangriffe, und die Zerstörung geschah dort noch schneller, praktisch augenblicklich und in einem um ein Vielfaches größeren Ausmaß. Doch unser Geist vergißt sehr schnell. Das war in einer anderen Ara, vor der Allgegenwärtigkeit des Fernsehens. Und außerdem befanden „wir“ uns ja im Krieg, und „sie“ waren der Feind. Schließlich hatten „sie“ uns ohne Vorwarnung angegriffen. Ja, und „sie“, die Menschen von Hiroshima und Nagasaki, waren Zivilisten, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen, einfach nur Stadtbewohner. Auch sie litten unter ihrer politischen Führung, die von ihren eigenen Vorstellungen von der Glorie einer Großmacht motiviert war sowie von dem Gefühl, im „Recht“ zu sein, was wir immer als ungeprüfte Tatsache für uns in Anspruch nehmen, wenn es um unseren eigenen Stamm geht. Ja sicher, sie gehörten zu jenem Stamm, der sich entschlossen hatte, den unseren anzugreifen, doch jene Frauen und Kinder und alten Leute und Arbeiter hatten so wenig 411
mit Pearl Harbor und dem Gemetzel von Nanking zu tun wie die Aktienhändler von Cantor Fitzgerald mit den Mißständen in der islamischen Welt. Vielleicht ist es an der Zeit, daß wir ein für allemal realisieren, daß es hier nur einen Stamm gibt, daß wir alle auf ein und demselben Planeten leben, der ein einziger lebendiger Organismus ist, welcher unter Infektionen und Entzündungen leidet, die nach Linderung, Salbung und Heilung zum Himmel schreien. Unsere Antwort darauf kann nicht einfach nur darin liegen, daß wir das Immunsystem unseres eigenen Landes oder das Netzwerk unserer Verbündeten stärken, auch wenn das in einem größeren Rahmen wahrer Intelligenz durchaus wichtig ist. Doch was dies angeht, sind wir unser eigener Feind. Wenn wir uns weiterhin durch alle möglichen Zerstreuungen davon ablenken, auf welche Weise unser Handeln Haß und Verachtung erzeugt, wenn wir weiterhin das eine sagen, aber das andere tun, wenn wir lauthals demokratische Ideale verkünden, dann aber mit Gewalt Dinge erzwingen, einfach weil wir die Macht dazu besitzen, wenn wir weiterhin in dem Glauben verharren, daß wir uns der Welt mit Werbesprüchen verkaufen können, anstatt unsere tiefsten Prinzipien in unserer Politik und in unserem Handeln zu verkörpern, dann werden wir nicht in der Lage sein, die Quelle des weltweiten Un-Wohlseins, unter dem wir individuell und kollektiv leiden, zu benennen, uns ihr zu stellen oder sie zu heilen. Vielleicht ist es an der Zeit, daß wir als ein Volk, als eine Nation kollektiv in der Aussetzung der Zerstreuung verharren und überprüfen, wie wir mit uns selbst und mit anderen umgehen und uns selbst und andere verstehen, wie wir unserer eigenes Leid auf eine Weise tragen können, die zu Weisheit führt und nicht zu noch größerer Unwissenheit und noch mehr Leiden für uns selbst und für andere. Vielleicht ist es an der Zeit, das Aussetzen der Zerstreuung zu einer Lebenseinstellung zu machen. Stellen Sie sich vor, wie gesund das für uns persönlich und für die Welt insgesamt sein würde. Wir könnten echten Frieden kennenlernen, weil wir selbst in Frieden sind. Nicht naiv, nicht schwach, nicht machtlos, sondern wahrhaft mächtig, da wir den Frieden zu würdigen wissen und ihn in unserer wahren Stärke, unserer wahren Weisheit verkörpern. Warum nur sollte das nicht möglich sein?
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Momente der Stille Am 11. September 2002 wurden an dem Ort in New York, der als Ground Zero bekannt wurde, die gemeinsam mit den verschiedensten Würdenträgern, Zuschauern und Menschen, für die dies eine ernste Pilgerschaft darstellte, versammelten Familienmitglieder der dort Gestorbenen sowie die Überlebenden genau in dem Moment, in dem ein Jahr zuvor das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center gerast war, aufgefordert, eine Schweigeminute zu halten. Ich war damals gerade im Auto auf dem Highway in Massachusetts unterwegs und nahm über das Radio an dieser Stille teil, wie es zweifellos Millionen anderer im Land und auf der ganzen Welt taten. Jedermann wußte, was er zu tun hatte. Wir brauchten keine Instruktionen. Niemand schlug uns vor, was wir fühlen oder wie wir mit unseren Gedanken und Gefühlen umgehen sollten. Das wäre absurd und respektlos und völlig unangemessen gewesen. Es wäre den Veranstaltern niemals in den Sinn gekommen, irgendwelche Anweisungen dafür zu geben, wie man einen solchen Moment zu gestalten hat. Unter solchen Umständen war das und ist das nicht nötig. Jedermann weiß bereits, was ein Moment der Stille ist. In dieser Stille waren wir alle eins, auch wenn ein jeder versunken war in seine eigenen einzigartigen Gedanken, seine eigenen einzigartigen Gefühle, seine eigene Empfindung von Zweck und Verlust, ganz gleich, was unsere jeweilige Beziehung zu dem Ereignis war. Und natürlich ist jeder von uns völlig verschieden - wie wir wissen, weil es nur allzu offensichtlich ist. Wenn ein Ereignis große Trauer und tiefen Kummer in uns auslöst, dann kommt nach den Tränen und dem Haareraufen ein Moment, in dem wir still werden müssen. Das geht sogar noch über das Gebet hinaus. Gebete, die so oft in solchen Momenten gesprochen werden, sind kein Ersatz für die Stille. Die Stille ist das höchste Gebet. Wir nennen solch einen Moment der Stille ein Innehalten. Wie angemessen dieser Ausdruck ist. Es ist ein in dem gegenwärtigen Moment stehen - mit Gewahrsein und einer Offenheit des Herzens, die es all unseren Gefühlen, den in Worte zu fassenden und den unaussprechlichen, den schaudernden und den rachsüchtigen, den hoffnungsfrohen und den verzweifelten, gestattet, einfach nur dazusein. Es ist ein Moment reinen Seins. Es ist auch ein Moment der Anerkennung von etwas tief in unserem Inneren, das wir vielleicht nur kurz anrühren und dann wieder davor zurückschrecken, vielleicht weil es uns unbehaglich oder auch einfach nur ungewohnt vorkommt. Es ist ein Zeugesein. In diesem Zeugesein können wir nicht nur unsere Bürde besser tragen, sondern wir demonstrieren auch, daß wir größer sind als diese Bürde, daß wir in der Lage sind, sie zu tragen, sie zu ehren und einen Platz für sie und für uns zu finden und damit über sie hinauszuwachsen, ohne jemals zu vergessen. Als ich später an diesem Tag über meine Erfahrung nachdachte, begann ich mir vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn man uns aufgefordert hätte, statt einer Minute des Schweigens fünf Minuten oder zehn Minuten oder gar eine Stunde des Schweigens zu halten. Hätten wir noch gewußt, wie man es so lange im Angesicht der Unfaßbarkeit, der Barbarei und der Sinnlosigkeit von dem allen aushält? Daß sie so etwas können, erwarten wir vielleicht von einem Desmond Tutu oder einem Dalai Lama, einer Mutter Teresa oder einem Martin Luther King. Aber was ist mit uns 413
gewöhnlichen Menschen? Wären wir in der Lage, ein Gewahrsein unseres gebrochenen Herzens aufrechtzuerhalten? Könnten wir Stille halten? Und was wäre, wenn wir nicht wüßten, wie lange es dauert? Könnten wir trotzdem an dem Ort in uns verweilen, von dem das Beobachten und das Zeugesein ausgehen? Schließlich „machen“ wir das Geschehen nicht. Könnten wir trotzdem an dem Ort in uns verweilen, der sprachlos ist, der in vollem Umfang Zeuge dessen ist, was geschehen ist, und auch Zeuge der Unmöglichkeit, zu wissen, was das für die Zukunft bedeuten wird? Könnten wir trotzdem an dem Ort dessen verweilen, was in diesem Augenblick einfach ist, ohne daß es da noch irgendwelche Grenzen zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gibt, die für uns jetzt in dem, was wir kennen und was unerkannt bleibt, lebendig sind? Und würde eine solche Stille eine Wirkung auf uns haben, würde sie uns ausweiten, uns herausfordern, uns wachsen lassen, uns verändern, uns heilen? Ich glaube schon. Bei einem solchen Angedenken geht es nicht nur um das Gedenken. Er ist ein Zusammenfließen der Erinnerung und des Jetzt. Es geht um das Andenken an die Toten und Verwundeten und um das Heroische im gegenwärtigen Moment, der immer jetzt ist, denn das Jetzt ist die einzige Wirklichkeit, die anhält. Selbst der kürzeste Moment der Stille ist sowohl ein Weg, in die Gegenwart einzutreten, als auch einer, um weiterzugehen. Er bietet einen Abschluß oder markiert zumindest den Moment einer Wasserscheide. Wir wissen, daß es vielleicht in mancher Hinsicht zu einem Abschluß kommen wird, doch in anderer Hinsicht wird es nie dazu kommen. Das brachte mich dazu, mich zu fragen, ob wir vielleicht nicht nur in der Erinnerung an etwas, was geschehen ist (wie bei einem Angedenken), einen Moment der Stille bewahren können, sondern auch angesichts dessen, was gerade geschieht, während es geschieht. Könnten wir vielleicht dem Zorn, einschließlich unseres eigenen Zorns, während er aufsteigt, mit Stille begegnen und auf dieselbe Weise Zeuge davon sein? Könnten wir Unglauben, Kummer, Angst, Verzweiflung, Haß und dem Impuls zur Rache mit Momenten der Stille begegnen? Mir scheint, daß wie die Fähigkeit dazu bereits in uns tragen. Wäre dem nicht so, dann würden wir nicht in unseren öffentlichen Zeremonien solche Momente der Stille nutzen und dann instinktiv, intuitiv und weise wissen, wie man dort verweilt - nämlich immer so, wie wir gerade sind, mit Gewahrsein, indem wir nichts tun, einfach nur beobachten und damit die Fülle dessen, was ist, umfangen ... für jetzt, jenseits allen Tuns. Für jetzt.
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Die Achtsamen sind im Kommen Chris Hedges, der frühere Kriegsberichterstatter der New York Times, nennt Patriotismus in seiner konventionellen Gestalt eine nur „wenig verhüllte Form der kollektiven Selbstbeweihräucherung“. Er weist darauf hin, daß allein im 20. Jahrhundert mehr als 62 Millionen Zivilisten im Krieg umkamen, fast 20 Millionen mehr als die 43 Millionen Soldaten, die getötet wurden. Wenn man hier von einem Aderlaß spricht, so ist das blutige Bild nur allzu treffend. Und wozu das alles? Sind die Ereignisse, die zu einem Krieg führen, nicht oft genug das Resultat einer blinden Anhaftung an verrückte und zunehmend selbstverliebte Anschauungen, die, wie Hedges aufzeigt, als nationale Mythen gehandelt werden, gegen die während der Zuckungen des Konflikts und der Zeiten, die dazu hinführen, niemand etwas einzuwenden hat, von denen hinterher auf beiden Seiten jedoch jedermann sagt, sie seien eine Verrücktheit, ein Wahnsinn gewesen, der eigentlich zu verhindern gewesen wäre, eine um sich greifende Krankheit katastrophalen Ausmaßes? Betrachten Sie nur, wie sich die Deutschen im Zweiten Weltkrieg im großen und ganzen verhalten haben. Es gab systematische Aggression, Völkermord, Mord und Greueltaten, die in einem noch nie dagewesenen Maß bürokratisch durchorganisiert waren, die koordiniert waren, als seien die Deutschen Buchhalter, die bloße Bilanzen zu führen hätten, und als hätten sie keinerlei moralische Skrupel oder menschliche Sensibilität. War dies das „Böse“ in allen Deutschen oder einfach ihre verständliche Feigheit und ihre Flucht in Leugnung und groteske Kleinkariertheit und Rationalisierung angesichts der Bewegung, die als eine gewalttätige und rücksichtslose Minderheit begonnen hatte, welche einen Mythos propagierte, an den viele Deutsche in jenen Tagen nur allzugern glauben wollten, einen Mythos, der insgeheim ein Echo in ihrer Seele fand und diese verbog, in manchen Fällen bereits wider ihr besseres Wissen? Heute sind sie unsere Freunde. Nur zwei Generationen sind vergangen. Heute sind sie wir, und es fühlt sich ganz gewiß so an, wenn ich dort lehre und Zeit mit wundervollen Freunden und Kollegen verbringe. Durch den Marshallplan wurde Deutschland nach der Katastrophe wieder zu einer prosperierenden Gesellschaft. Dieser Plan war ein Akt großer moralischer Weisheit und ökonomischer Weitsicht von seiten Amerikas. Die Krankheit des Nationalsozialismus gehört nur deshalb der Vergangenheit an, weil wir uns ihr entgegengestellt haben. Vielleicht gibt es in der deutschen Gesellschaft oder in anderen Gesellschaften heute eine Art von Immunität gegen diese Krankheit, aber wie lange hält sie an? Wir haben uns durch unsere Opferbereitschaft, unsere Großzügigkeit und unsere Weisheit in der Folge dieses Krieges viele Freunde in der Welt gemacht. Doch auch ein solches Wohlwollen läßt sich verspielen, wenn wir zu weit von unserem Gutsein wegdriften und dazu, eingelullt durch unsere eigene Rhetorik, für die Tatsache dieses Wegdriftens blind bleiben, wenn wir vergessen, daß die Dinge sich ständig wandeln, vergessen, wie notwendig es ist, ständig aufmerksam darauf zu achten und zu verstehen, wie die Dinge heute sind. So wie es auch bei anderen Viren der Fall ist, haben die Viren von Angst und Haß die Möglichkeit, für eine Zeit, die länger ist als unser kurzes Gedächtnis, in einen 415
Zustand der Latenz überzugehen, nur um uns irgendwann wieder mit denselben nur wenig verhüllten Platitüden, Halbwahrheiten und der pompösen Selbstgerechtigkeit zu infizieren, die nach Blut schreien, wo die Weisheit in den meisten Fällen zu Vernunft, Freundlichkeit, Diplomatie und Geduld ruft und nur in wenigen Fällen zu einem schnellen, nuancierten, maßvollen, geschickten und hart durchgreifenden internationalen Einsatz von Polizei oder Militär, wobei das große Bild und das Wohl des Ganzen nicht aus den Augen verloren wird. Wir werden unsere Weisheit, unsere Achtsamkeit und unsere Integrität so kultivieren müssen, als hinge unser eigenes Leben davon ab. Und wir werden unsere Prioritäten klar definieren müssen, wenn wir auch nur im entferntesten darauf hoffen wollen, nicht auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner unseres historischen Karmas abzusinken - und dort zuerst auf eine massive militärische Intervention zurückzugreifen, wo ein medizinischer, diplomatischer oder gar chirurgischer Eingriff angemessener wäre. Konflikte spielen sich innerlich ebenso wie äußerlich ab. Würden wir in der Politik und der Diplomatie bewußter die Weisheit zum Zuge kommen lassen, dann ließen sich viele Krisen abwenden, bevor sie so weit eskalieren, daß man der Geißel der sich als das Böse verkleidenden Unwissenheit nur noch mit militärischer Macht begegnen kann, um Freiheit und Glück zu bewahren oder wiederherzustellen. Um das tun zu können, müssen wir unsere inneren Fähigkeiten vielleicht so weit entwickeln, daß sie mit der Entwicklung unseres Waffenarsenals und unserer Kampfausbildung Schritt halten. Dazu brauchen wir vielleicht mehr „Schweigeminuten“, mehr Momente einer wahren Stille im Kongreß und im Senat und im Weißen Haus, einfach überall. Ich war dabei, als der vietnamesische Zen-Meister, Achtsamkeitslehrer, Dichter und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh eines Abends in der Library of Congress für Kongreßmitglieder und ihre Familien einen Vortrag über Achtsamkeit hielt. Er begann damit, daß er beide Arme ausstreckte und etwa das Folgende sagte: „Mit diesem Arm [und dabei schwenkte er den rechten] schreibe ich Gedichte, mit diesem anderen Arm tue ich das nicht. Das heißt aber nicht, daß ein Arm weniger wert ist als der andere. Sie sind beide Teile meines Körpers und ich muß ihnen beiden Achtung erweisen.“ Er bezog sich dabei auf verschiedene Länder und Völker mit unterschiedlichen Ansichten, Sitten und Überzeugungen, die alle Teile dieser einen Welt sind, so wie die beiden Arme, so sehr sie sich auch voneinander unterscheiden mögen, doch Teile eines Körpers sind. Dieser Vortrag war die Einführung zu einer Achtsamkeitsklausur allein für Kongreßabgeordnete und Mitglieder ihrer Familie. Zwölf Repräsentanten nahmen zumindest an Teilen dieser Klausur teil. So etwas hatte es noch nie zuvor gegeben. Jenes Wochenende könnte sich im Rückblick durchaus als eine dieser Weggabelungen erweisen - wer weiß? Vielleicht war das, zusammen mit den regelmäßigen Besuchen des Dalai Lama in Washington, der Beginn eines Säens von Samen der Achtsamkeit als eine echte und vernünftige Alternative im Leben jener, deren Beruf es ist, sich um das Gemeinwohl zu kümmern und es zu bewahren. Vielleicht werden diese Samen keimen und wachsen, so daß die Menschen ihren Wert zu verstehen beginnen - weit jenseits des „Buddhismus“, mit dem man sie so leicht gleichsetzen und als den man sie so leicht abtun kann. Vielleicht werden sie ja in ihrer Bedeutung als Balsam und Medizin für verängstigte Herzen und aufgeregte Geister verstanden, als Fenster zur inneren und zur äußeren Welt, durch die man mit den Augen der Ganzheit zu sehen vermag, während wir endlich wieder zur Besinnung kommen, 416
nicht als Selbstzweck, sondern als eine Art des Daseins, als ein Neuanfang, als eine Bestätigung unserer Ganzheit, unseres Potentials, weise zu leben und das zu lieben, was hier ist, damit wir es lieben. Und wenn diese Samen sprießen und in unserer Gesellschaft immer mehr aufblühen, wird uns vielleicht zunehmend klarer, daß es dabei nicht um irgend jemand anderen geht, sondern immer um uns, um mich und um dich. Der Dichter John Donne sagte: „Darum verlange nie zu wissen, für wen die Glocke schlägt, denn sie schlägt für dich.“ John Donne meinte damit die Friedhofsglocke, die Glocke, die uns daran erinnert, wie kurz unser Aufenthalt in dieser Welt ist. Doch es gibt noch eine andere Glocke, die Glocke der Achtsamkeit, die in jedem Augenblick ertönt und uns einlädt, zur Besinnung zu kommen, die uns daran erinnert, daß wir zu unserem Leben erwachen können, und zwar jetzt, während wir noch am Leben sind. Die Glocke der Achtsamkeit schlägt ebenfalls für dich. Sie schlägt für uns alle. Sie ertönt zur Feier des Lebens und dessen, was möglich wäre, wenn wir sie nur in ihrer Fülle hören würden, wenn wir aufwachen würden. Für all jene, deren Verantwortung es für eine kleine Weile ist, sich um das Wohlbefinden des politischen Körpers zu kümmern und aus einer kollektiven Weisheit heraus Gesetze zu schaffen und zu verfeinern, denen wir vertrauen können, weil sie wir sind und wir sie sind und wir alle darum wissen, und für all jene, die für eine kurze Zeit auserwählt sind, das Schiff des Staates zu steuern, weil auch sie wir sind und wir sie sind und sie das wissen, und für all jene, die sich um die Einhaltung dieser Gesetze kümmern, die regeln, wie wir unser Leben führen, ist ein intimes Verständnis der zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeit der Dinge und ein Respekt vor dieser Gesetzmäßigkeit sowie vor der Schönheit des labilen Gleichgewichts, in dem wir uns befinden, so lange wir am Leben sind, also vor dem, was wir den universalen Dharma genannt haben oder das Dao, oder welchen Namen auch immer Sie dem geben wollen, unerläßlich. Diese Hochachtung, dieses Sicherinnern, auch angesichts der kompliziertesten Probleme und des ihnen inhärenten Widerstands gegen Veränderung oder Heilung, mag es uns ermöglichen, aufzublühen und allmählich unsere Wunden zu heilen - in einer Welt, die Freude hat an einem dynamischen Gleichgewicht, an Wohlwollen, an Wahrheit, an Wissen und Nichtwissen - und auf diese Weise unablässig die Möglichkeiten für uns selbst zu nähren sowie für die folgenden Generationen und für den Planeten, den wir unser Zuhause nennen. Hallo, Fremder, es ist einiges geschehen. Wir Menschen sind erstaunlich unvorhersehbar und voller Überraschungen. Zu guter Letzt werden wir vielleicht sogar uns selbst überraschen. Macht ist, recht verstanden, nichts anderes als das Vermögen, einen Zweck zu verwirklichen. Und eines der großen Probleme der Geschichte besteht darin, daß die Konzepte von Liebe und Macht einander gewöhnlich als Gegensätze - polare Gegensätze - gegenübergestellt wurden, so daß Liebe mit einem Aufgeben der Macht und Macht mit einer Leugnung der Liebe gleichgesetzt wurde. Wir müssen diese Sichtweise zurechtrücken. Was wir brauchen, ist die Erkenntnis, daß Macht ohne Liebe rücksichtslos und verletzend ist und Liebe ohne Macht sentimental und blutleer. Macht in ihrem besten Sinne ist Liebe, welche die Anforderungen der Gerechtigkeit durchsetzt, und 417
Gerechtigkeit in ihrem besten Sinne ist Macht, die alles korrigiert, was der Liebe entgegensteht. In genau dieser Kollision von unmoralischer Macht mit machtloser Moralität besteht die eigentliche Krise unserer Zeit. MARTIN LUTHER KING, JR., 1967 IN SEINER LETZTEN REDE ALS PRÄSIDENT DER SOUTHERN CHRISTIAN LEADERSHIP CONFERENCE
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Achter Teil
Laßt die Schönheit, die wir lieben, das sein, was wir tun
Heute wie an jedem anderen Tag wachen wir leer und verängstigt auf. Also öffne nicht die Tür deines Arbeitszimmers und beginne zu lesen. Nimm ein Instrument zur Hand. Laßt die Schönheit, die wir lieben, das sein, was wir tun. Es gibt hundert Weisen, sich hinzuknien und die Erde zu küssen. RŪMĪ
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Unterschiedliche Wege des Wissens machen uns weiser Über neun Jahrhunderte hinweg ruft Rumi uns zur Ehrfurcht auf, und wie leicht wird diese übersehen, wenn wir angesichts des allgegenwärtigen Unbehagens aus reiner Gewohnheit einfach weiterhin die Tür zu unserem Arbeitszimmer öffnen und zu lesen beginnen, wo wir doch als Alternative „ein Instrument zur Hand nehmen“ könnten - wobei das stets in greifbarer Nähe vorhandene Instrument unser eigener lebendiger Körper ist - und die Schönheit, die wir lieben, so wir denn in Kontakt mit ihr zu sein vermögen, sich selbst offenbaren lassen könnten auf die verschiedenste Weise, in diesem Moment, hier und jetzt. Mit diesen Worten ermahnt Rūmī uns, zu üben, wie man in Kontakt mit dem bleibt, was das Grundlegendste und das Wichtigste in unserem Leben ist, und gleichzeitig bekräftigt er damit, daß es nicht eine einzige richtige Art gibt, das zu tun. Ehrfurcht entsteht, wenn wir uns mit dem Unbegreiflichen konfrontiert sehen. Und mit „unbegreiflich“ meine ich nicht, daß eine Sache nicht zu verstehen ist. Ich meine vielmehr, daß das, womit wir es tun haben, was immer es sein mag, auf verschiedenste Weise verstanden werden kann. Wenn alles gesagt und getan ist und wir an das Ende all unserer Gedanken gelangt sind, ganz gleich, wie brillant, einfalls- und kenntnisreich sie sind, an das Ende all unserer logischen Argumente, ganz gleich, wie sehr sie alle auf Vernunft basieren, und an das Ende all unserer Studien, die möglicherweise auf Vernunft basieren, es bleibt doch ein Rest von Gefühlen, die über alles Denken hinausreichen, so als würden wir von einer wundervollen Musik oder von der Kunstfertigkeit eines großen Gemäldes in eine andere Dimension transportiert. Ein Gefühl der Ehrfurcht steigt auf, das alles Erklärbare übersteigt. Die Wirklichkeit - worin immer sie bestehen mag - schwebt im Mysterium ihrer eigenen phänomenologischen Präsenz in Beziehung zu unseren Sinnen, einschließlich des nichtbegrifflichen, begreifenden und wissenden Geistes. Ich spreche vom Mysterium der bloßen Existenz eines Objekts oder Ereignisses, von seiner „Isthaftigkeit“ als Phänomen, von seiner Verknüpftheit mit anderen Phänomenen, mit allem, was je gewesen ist, von seiner numinosen und leuchtenden Isthaftigkeit. Im Falle eines Kunstwerks kann nicht einmal der Künstler selbst genau sagen, wie es entstanden ist. Wir haben keine Worte für solche numinosen und leuchtenden Gefühle, und wir vergessen oft, wie sehr sie in unserer Erfahrung vorherrschen. Wir können ihnen gegenüber leicht abstumpfen und bemerken dann nicht einmal mehr, daß wir solche Gefühle überhaupt haben oder daß wir fähig sind, sie zu haben, weil wir, unter Ausschluß von allem anderen, so sehr auf einem gewissen Weg des Wissens feststecken. Wir können die Ehrfurcht verlieren, selbst wenn sie in jedem Augenblick unabänderlich vor uns steht wie in der Natur, in Tieren und Pflanzen, in Bergen und Flüssen, Tälern und Ebenen, selbst wenn wir angesichts unseres eigenen Daseins, unserer eigenen Natur, unserer Knochen und Zellen und unseres Lebendigseins allen Grund zur Ehrfurcht haben. Wir sind so sehr in unseren Gewohnheiten des begrenzten Gewahrseins oder der schieren Unbewußtheit gefangen, daß wir selbst den blauen Himmel oder den Duft einer Rose, das Trällern eine Lerche oder den Wind auf unserer Haut, den Boden unter unseren Füßen oder das selige Lächeln eines Säuglings übersehen können. 420
Wenn uns die Worte fehlen, neigen wir dazu, ins Mechanistische zu verfallen, wozu auch - in dem Versuch, uns davon zu überzeugen, daß wir doch etwas verstehen - viel Maschinensprache gehört. Tatsächlich ist beim Nachdenken über die Biologie, über lebende Organismen, über das Gehirn und den Körper, ja selbst über den Geist ein mechanistisches Vokabular vorherrschend. Wir benutzen Maschinenbilder und Maschinenanalogien, und da wir Maschinen besser verstehen und immer außergewöhnlichere Maschinen bauen können, werden unsere Maschinensprache und unsere Maschinenbilder immer differenzierter und deshalb vielleicht auch immer überzeugender. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Biologen die grundlegende Einheit des Lebendigen, die Zelle, als eine Fabrik voller Apparate beschreiben, eine Fabrik mit einem bestimmten Input und Output und charakteristischen Kontrollsystemen, mit Funktionen also, die im Laufe ihrer Evolution all die komplexen Strukturen und Formen hervorgebracht haben, den „Maschinenpark“, der diese Funktionen so effektiv und elegant ausführt. Die Analogie funktioniert und ist recht befriedigend - so weit sie reicht. Zellen funktionieren tatsächlich wie kleine Fabriken, und das ist eigentlich ehrfurchtgebietend. Sie sind Nano-Fabriken, die auf der atomaren und der molekularen Ebene sowie direkt darüber arbeiten, mit makromolekularen Strukturen. Die Gesamtheit der Zelle ist offenbar von ihr selbst entworfen und erzeugt worden, auf der Grundlage von Bauplänen, die in ihrer DNS und ihrer eigenen Struktur enthalten sind, wodurch bestimmte Gene auf vielfältige Weise an- und ausgeschaltet werden, je nachdem, welche Funktionen die Zelle ausführen „möchte“ (hier wird unsere Sprache dann anthropomorphisch) und in Abhängigkeit von der Tatsache, daß sie wachsen und sich reproduzieren kann. Jede Zelle enthält ihre eigenen spezialisierten Strukturen und Apparate: die Ribosomen und das endoplasmatische Retikulum für die Synthese von Proteinen, die Zellmembran und ihre Ionenkanäle sowie die Andockstationen der Rezeptormoleküle zur Regelung des in beide Richtungen gehenden Verkehrs zwischen dem Inneren der Zelle und ihrer Umgebung, wozu andere Zellen nah und fern gehören, die Mikrotubuli als Teil des Zellskeletts, die für Bewegung und Transport innerhalb der Zelle zuständig sind, die Mitochondrien, die als Kraftwerke für die Zelle fungieren und die selbst winzige rudimentäre Zellen mit einer eigenen DNS zu sein scheinen, die sich vor Jahrmilliarden in Zellen mit einem Zellkern eingesiedelt haben und die je nach dem Energiebedarf des Zelltyps in einer Zahl vorhanden sind, die von einigen wenigen bis zu mehr als zehntausend reicht. All das ist ein Teil jeder Zelle unseres Körpers. Und beachten Sie wohl, daß es sich dabei nicht um eine bloße Abstraktion handelt. Wir wissen, daß dieser Prozeß überall in unserem Körper abläuft, in jedem Augenblick auf der allerwinzigsten Ebene. Er ist es, der unseren Herzschlag aufrechterhält und der dafür sorgt, daß wir sehen und fühlen und irgendwie sogar auch denken können. Und natürlich sollten wir auch nicht vergessen, daß unsere Zellen in einer Gesellschaft und als eine Gesellschaft funktionieren, eine Gesellschaft anderer Zellen in unserem einen Körper, Zellen, die durch Geburt miteinander verwandt sind und dadurch, daß sie Teil eines noch größeren Organismus sind und natürlich auch Teil der lebendigen Welt mit all ihren Organismen, den großen wie den kleinen, die denselben genetischen Code teilen und dieselben Apparate zum Lesen dieses Codes, damit Zellen gebaut werden können und sich selbst erhalten und reproduzieren können. Es gibt im Leben sehr, sehr viele Variationen weniger grundlegender Themen, zumindest auf diesem Planeten, und Zellen sind notwendig, damit das Ganze sich entfalten kann. 421
Denken Sie nur für einen Augenblick daran, daß wir alle aus einer einzigen Zelle gewachsen sind (wie es diese Gesellschaft von Zellen schafft, das zu tun, ist ein totales Rätsel) - gewachsen zu einem Organismus mit, nach der üblichen Schätzung, etwa einhundert Billionen Zellen - das ist eine Eins mit vierzehn Nullen. Denken Sie für einen Moment daran, daß aus dieser einen Zelle all die verschiedenen Zellen hervorgegangen sind, die unseren Körper bilden, sowie all die unterschiedlichen Strukturen, die aus diesen Zellen gemacht sind: Knochen, Muskeln, Haut, Leber, Herz, Nerven, Drüsen und auch die „spezialisierten“ Strukturen innerhalb der Augen, der Ohren, der Nase, der Zunge, die es uns erlauben, Licht und Klang, Geruch, Geschmack und Berührung wahrzunehmen. Es ist einfach unfaßbar, wie es dazu kommt, daß wir willentlich einen Finger bewegen können - und was ist überhaupt „Wille“ und wo und wie entsteht er? Bedenken Sie einmal, daß sich innerhalb Ihres Körpers DNS-Fäden befinden, die nach einigen Schätzungen insgesamt eine Länge von etwa zweihundert Milliarden Kilometern und eine Dicke von nur zwei Nanometern (2x10-9) haben, und daß die DNS dort nicht einfach nur herumliegt, sondern sich ständig öffnet und wieder schließt und gelesen und repariert wird, während sie das fortlaufende Funktionieren der Zelle steuert. Und das alles paßt wunderbar in kleinste Räume innerhalb des Kerns unserer Zellen, das alles ist angesiedelt in den Chromosomen, die dafür sorgen, daß sie gelesen und wenn nötig repliziert werden können. Das ist eine unglaubliche architektonische Leistung. Jeder Aspekt allein schon des Entwurfs lebender Systeme ist buchstäblich unglaublich, und das alles ist sehr viel raffinierter und hat eine sehr viel geringere Größenordnung als die fortschrittlichsten Computer und Maschinen, die wir jemals entwickelt haben. Und bedenken Sie, daß jedes einzelne Neuron von den geschätzten einhundert Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn und im zentralen Nervensystem (ganz zu schweigen von der noch viel größeren Zahl von Gliazellen im Gehirn, deren Funktion und „Zweck“ wir noch kaum verstehen) mehr als eintausend sich verzweigende Finger (Dendriten) besitzt, welche Impulse von anderen Nervenzellen empfangen, welche ausgreifen, um sie zu berühren, sie anzuregen und ihre Funktionen und die ihrer Nachbarn nah und fern durch ihre eigenen Axone und Dendriten zu verstärken oder zu dämpfen. Und nirgendwo findet sich in alldem ein „Ich“, in keiner der Zellen und auch nicht in irgendeinem Teil der Zellen. Und jede unserer Nervenzellen hat an den synaptischen Verknüpfungsstellen zahlreiche Rezeptormoleküle für Neurotransmitter in ihre Zellmembran eingebettet. Diese Rezeptoren bestehen aus Proteinmolekülen, die so zusammengesetzt sind, daß sie sich als Reaktion auf spezifische chemische Botschaften öffnen, ansonsten aber geschlossen bleiben. Sie bilden Kanäle in der umhüllenden Zellmembran, welche Zustandsänderungen der Zelle als Reaktion auf sich verändernde Bedingungen einkalkulieren. Auf allen und jeder Ebene ist der menschliche Körper wie jeder andere lebende Organismus wahrlich ein Universum von unvorstellbarer Komplexität, aber auch Einfachheit in seinem einheitlichen Funktionieren, in seiner Ganzheit, in seinem bloßen Dasein. Und vergessen Sie nicht: Hier ist von „Ihnen“ die Rede; dies ist keine weit hergeholte Science-fiction-Geschichte über eine ferne Galaxis und eine andere Zeit. Und doch hat diese Art, von Architektur und Mechanismen zu sprechen, von 422
Maschinen und Fabriken auf molekularer und supramolekularer Ebene, etwas Begrenztes und Begrenzendes, auch wenn diese Metaphern sehr schön und wenigstens teilweise wahr sind. Was dabei übersehen wird, sind die uns gegebenen anderen Möglichkeiten, zu wissen, wer und was wir sind, Möglichkeiten, die weit über unsere Vorliebe für Logik und Denken hinausgehen. Denn unsere mechanistischen Beschreibungen neigen dazu, die Ehrfurcht beiseite zu lassen, das Staunen über das Wunder von all dem, über die reine Isthaftigkeit. Diese Erklärungen lassen alles beiseite, was wir nicht ganz genau wegerklären können, ganz gleich, wieviel wir in unserem Kopf wissen. Sie lassen unsere Erfahrung und das Mysterium des Erfahren beiseite. Sie ignorieren, daß es - so verläßlich und eindrucksvoll und nützlich viele unserer mechanistischen Weisen, die Welt zu erkennen, auch sein mögen - immer kleinere und größere Bereiche gibt, über die wir nichts wissen oder um die wir nur aus einer komplexeren Perspektive höherer Ordnung, der Perspektive des ganzen Systems wissen könnten und die wir vielleicht niemals ganz verstehen können - dort, wo es darum geht, wie das Universum und unser Gehirn ist (würde ich sagen, wie sie „aufgebaut“ sind oder „funktionieren“, dann wäre das schon wieder Maschinensprache). Wir befinden uns also zu jeder Zeit ebenso in Dunkelheit wie im Licht, wir sind verdunkelt und überschattet ebenso wie aufgeklärt und erleuchtet, ganz gleich, wie süß unsere Modelle und unsere Erklärungen sind. Wir erleiden eine gewisse Verarmung und Denaturierung, wenn wir diese anderen Weisen des Empfindens, Fühlens, Wissens und Erkundens unserer inneren und äußeren Landschaft, die uns zur Verfügung stehen, ignorieren. Und wir leiden auch, wenn es uns nicht gelingt, die Grenzen unseres Wissens, den ganzen Bereich des Nichtwissens, zu erkunden und uns damit vertraut zu machen. Natürlich wissen wir das alle. Das schon zum Klischee gewordene Beispiel ist die selbstlose Liebe. Es gibt einfach keine Möglichkeit, sie zu beschreiben oder zu erklären, die ihr gerecht werden würde. In dieser Hinsicht kann die Poesie mehr leisten als die Kognitionswissenschaft, aber die beiden sind einander ergänzende und zu unterschiedlichen Dimensionen gehörende Arten des Erkennens, weshalb sie beide und noch viele andere Beschreibungen so wertvoll und erhellend und gleichzeitig gültig sein können. Ist das, was der Dichter weiß, irgendwie weniger „wirklich“ als das, was die Naturwissenschaft weiß? Ich glaube nicht. Die Sichtweise von Homer war in jeder Hinsicht so wahr wie die von Pythagoras, und Homer beschäftigte sich mit sehr viel komplexeren Dingen. Damit wird die Leistung von Pythagoras kein bißchen geschmälert. Sein Genius war einfach von anderer Art; er war der erste Mensch, der wirklich tief in die Natur der Zahlen und ihrer Beziehung zueinander eingedrungen ist, eine Leistung, die gleichzeitig Abstraktion und totale Konkretisierung verlangt (was könnte konkreter sein als ein rechtwinkliges Dreieck?), und der eine mystische Schule gegründet hat, die diese Welt schützen und achten und ihre Erforschung als eine heilige Kunst betreiben sollte. Aber Homer war auch kein Pfuscher. Wie Elaine Scarry in Dreaming by the Book verdeutlicht hat, konnte er Worte mit einer den Geist überrumpelnden Geschicklichkeit dazu benutzen, um etwa die Flugbahn eines Speers durch die 423
Beschreibung der Bewegung seines Schattens zu beschreiben, was an sich eine ebensolche Errungenschaft ist, wie das Quadrat der Hypotenuse zu errechnen. Und dies ist nur ein unbedeutendes Beispiel. Manche Gelehrte sind der Ansicht, daß die Odyssee und die Ilias bereits all die wichtigen Themen enthalten, die in der abendländischen Geschichte nach Homer eine Rolle spielten sollten. Wenn wir „wissen“, daß die Summe der Quadrate der Katheten eines Dreiecks gleich dem Quadrat der Hypotenuse ist, dann haben wir uns damit der reinen Abstraktion sehr stark angenähert, und das ist ein wundervoller und geheimnisvoller Aspekt jenes Bereichs, den wir den „Geist“ nennen. Mehr als dreihundert Jahre lang war das größte Rätsel in der Mathematik der „große Fermatsche Satz“, auch das Fermatsche Theorem genannt, eine mathematische Vermutung, die auf den Satz des Pythagoras, nach dem a2 + b2 = c2 ist, noch einen draufsetzte, indem sie vermutete, daß die Gleichung an + b = cn für ganze Zahlen n > 2 keine ganzzahligen, von null verschiedenen Lösungen a, b, c hat, auch nicht der anscheinend einfache Fall, in dem n = 3 ist. Dieses Theorem zu beweisen, war der Heilige Gral der Mathematik, und viele große Mathematiker scheiterten trotz heroischer Anstrengungen daran, bis das Theorem schließlich nach einer geradezu übermenschlichen Anstrengung von dem Mathematiker Andrew Wiles bewiesen und das Ergebnis im Jahr 1995 veröffentlicht wurde. Wiles hatte sich seit seinem zehnten Lebensjahr der Suche nach einer Lösung für die Herausforderung Fermats gewidmet, und nach acht Jahren der Arbeit im geheimen, während derer er vorgab, an etwas anderem zu sitzen, konnte er schließlich doch den endgültigen Beweis erbringen - nicht ganz, und das ist wichtig zu anzumerken, ohne ein wenig Hilfe von seinen Freunden. Wir mögen nun fragen, ob die Welt der Mathematik überhaupt real im ganz konkreten Sinne ist, angesichts der Tatsache, daß sie derart abstrakt ist. Nun gut, wir wissen, daß Zahlen dazu da sind, Dinge zu zählen oder Mengen von Dingen. Aber was ist mit der Null? Was ist mit der Abwesenheit von Dingen? Der Menge von Nicht-Dingen einer gewissen Art? Oder der Abwesenheit von Zahlen in bestimmten Zahlenkolumnen, das, was wir „Platzhalter“ nennen. Und was ist mit dem Konzept einer von zu zählenden Dingen völlig unabhängigen Zahl? Ist dieses Konzept überhaupt sinnvoll? Und was ist mit der Tatsache, daß alle Zahlen aus Null und Eins erzeugt werden können, so daß diese beiden irgendwie die gesamte auf Zahlen bezogene Mathematik in sich enthalten, wenn wir einige wenige Axiome über ihr Zusammenwirken hinzufügen. Es ist gar nicht so weit hergeholt, wenn wir die Frage stellen, ob die Mathematik eine Eigenschaft des Universums oder von jeglichem physischem Universum völlig unabhängig ist. Oder ist sie eine Fabrikation des menschlichen Geistes, wobei jeder mathematisch veranlagte Geist einige Eigenschaften des Elefanten hinzufügt, ohne jemals den ganzen Elefanten zu kennen? Gibt es ein „Sinnesvermögen“ für die Mathematik? Und wenn es diesen mathematischen Sinn gibt, was wird da wahrgenommen und was vollzieht das Wahrnehmen? Warum liegt, wie es den Anschein hat, die Mathematik dem physikalischen Universum zugrunde? Warum finden Physiker, daß die Mathematik ihnen hilft, Phänomene zu verstehen? Warum ist es so, daß selbst Abstraktionen wie komplexe Zahlen, die schon vor mehreren Jahrhunderten „entdeckt“ wurden und die nicht wirklich „real“ sind, weil sie auf der Quadratwurzel von minus eins basieren, notwendig sind, um 424
Quantenphänomene zu beschreiben, die erst im letzten Jahrhundert entdeckt wurden? Mathematik basiert allein auf logischen Beweisen, die langsam und vorsichtig aus einer kleinen Zahl von Anfangsaxiomen aufgebaut werden. Wenn etwas einmal bewiesen ist, dann ist es für immer bewiesen und seine „Realität“ ist damit fest begründet, auch wenn es die n-te Dimension ist, die unser mit Bildern arbeitender Geist sich niemals wird vorstellen können, die er niemals kennen oder empfinden wird - es sei denn durch die Mathematik selbst. Diese Dinge, so sagte man mir, verstehen nur Mathematiker, und die auch nur innerhalb des schmalen Bandes ihrer jeweiligen Spezialisierung. In vieler Hinsicht stellen sie eine Art Priesterschaft dar und sprechen eine Sprache, die nicht einmal Naturwissenschaftler verstehen und die vielen Wissenschaftlern nicht einmal sympathisch ist. Und doch finden sie Zugang zu Welten, die heute von größter Wichtigkeit sind, um im digitalen Zeitalter durch Kryptographie den Datenaustausch zu schützen und auf der allerkleinsten Ebene die Architektur der Natur zu verstehen. Sind diese Welten Schöpfungen des menschlichen Geistes, oder sind sie entdeckte Wahrheiten, die Zeit und Raum und alle physischen Realitäten transzendieren, ganz gleich, wie sie beschrieben werden? Wenn man sie von außen betrachtet, so hat man das Gefühl, daß die Mathematik ein reines Universum für sich ist, geheimnisvoll und in sich stimmig, das jedoch letztlich, wie der Gödelsche Unvollständigkeitssatz besagt, der so etwas ähnliches ist wie die Heisenbergsche Unschärferelation in der Physik, nie ganz erkannt werden kann. Wenn wir uns nicht auf einen Weg des Wissens und Erkennens beschränken, auf ein Vokabular, auf eine Brille, durch die wir sehen, wenn wir bewußt den Horizont unserer Erkundung und unserer Neugier ausdehnen, dann können wir an den verschiedenen Wegen des Wissens, die uns zur Verfügung stehen, unsere Freude haben. Dann haben wir auch die Chance, das Geheimnis dessen zu erkennen, was sich begrifflich nicht erfassen, aber doch empfinden läßt, was wir fühlen und intuitiv erfassen in einem Zusammenfließen all unserer Sinne und der direkten, nichtfragmentierten Erfahrung, die nichts ausschließt, auch nicht unsere Konzepte und das, was sie in einem bestimmten Moment sichtbar machen, und die in ihrer Summe einen fortlaufenden Austausch mit dem darstellt, was größer ist als wir und was doch nichts anderes ist als wir selbst. Wir sind größer als jeder einzelne Weg des Wissens, und wir können unsere Freude an allen Wegen des Wissens haben - als eine jeweils unterschiedliche, unvollständige und einander ergänzende Weise der Würdigung dessen, was ist, der Teilnahme an dem, was ist, mit Lust und Begeisterung für die zeitlosen und doch so flüchtigen Momente, für die wir auf dieser Welt sind. Wir können im Nichtwissen ebenso ruhen wie im Wissen, in der Schönheit von Form und Funktion und in ihrem Mysterium, und zwar auf jeder Ebene und allen Ebenen, die die Sinne und der Geist, unsere Instrumente und unsere Instinkte sowie unsere Bemühungen um Verstehen uns in jedem gegebenen Moment darbieten. Auf der Schwelle: Karma trifft Dharma 627
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Auf der Schwelle: Karma trifft Dharma — Ein Quantensprung für den Homo sapiens sapiens Es ist erstaunlich, wieviel Gutes Menschen in die Welt gebracht haben. Es ist erstaunlich, wieviel Schaden Menschen der Welt zugefügt haben. Und das in einer ziemlich kurzen Zeit. Kaum zwölftausend Jahre, also etwa vierhundert oder sechshundert Generationen (je nachdem, welchen Zeitraum wir für eine Generation ansetzen), sind seit dem Ende der letzten Eiszeit vergangen, der Morgendämmerung der Geschichte und dem, was wir Zivilisation nennen, und dieser Zeitraum hat uns die Schönheit und den Erfindungsreichtum der Wissenschaften und Künste aller menschlichen Kulturen beschert. Bloße vierhundert bis sechshundert Generationen haben die Wunder und die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Landwirtschaft und Medizin, Architektur und Demokratie mit all ihrer sich entwickelnden Weisheit hervorgebracht - und natürlich auch die Geschichtsschreibung an sich, denn diese beginnt erst etwa 5000 bis 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung in Sumer, Ägypten und China. Vom Standpunkt der Biologie aus ist das ein sehr kurzer Zeitraum. Und auch wenn Sie weiter zurückgehen wollen, zum Auftreten des Homo sapiens, sagen wir einhunderttausend Jahre oder fünftausend Generationen oder noch weiter zurück, im Vergleich zu jedem geologischen Maßstab der Zeit hat sich das alles in einem Augenblick entfaltet, während der obersten paar Zentimeter des großen Kalenders des Grand Canon. Aus der Perspektive kosmologischer Zeit ist die Zeitspanne der Entfaltung des menschlichen Lebens noch kürzer, unendlich viel kürzer, verschwindend klein vor dem Hintergrund der beinahe undenkbar großen Unendlichkeit von Zeit und Raum, die zusammen mit dem Universum, in dem wir wohnen, nach heutigen Schätzungen vor etwa 13,7 Milliarden Jahren entstanden. Und doch können wir darüber nachdenken, können wir hinaussehen in den Raum und zurück in der Zeit (und hinaussehen ist zurückschauen), können wir über die Weite von Zeit und Raum und über das Mysterium unserer Präsenz und unseres Gewahrseins hier in diesem Kosmos nachdenken. Auf eine höchst erstaunliche Art und Weise kann unser Geist diese Unendlichkeit erkennen und umfangen. Wir sind eine ziemlich frühreife Spezies. Wir sind der Selbstreflexion, der Selbsterforschung und der Selbstbefragung fähig. Soweit wir wissen, sind wir die einzige Spezies, die diese Gabe besitzt. Wir scheinen mit unendlicher Kreativität begabt zu sein und mit der Fähigkeit, diese kreativen Energien sowohl in handfeste Produkte als auch in Ideen umzusetzen. Stellen Sie sich das einmal vor: Wir können abstrakte Mathematik und Dichtung aus unserem lebenden, atmenden, pulsierenden Gewebe hervorbringen. Zu beidem brauchen wir eine Erkundung und Entdeckung von virtuellen Welten, die in mancher Hinsicht existieren, in anderer nicht existieren - Welten, die hervorzubringen, mit denen zu ringen und die kennenzulernen großer Anstrengung bedarf. Ist das nicht höchst erstaunlich, wenn Sie einmal darüber nachdenken? Unser Vermögen, zu wissen und zu tun, Dinge herzustellen und zu denken und eine größere Wahrheit hinter der äußeren Erscheinung der Dinge zu finden, scheint verblüffend 426
grenzenlos zu sein. Der Name unserer Spezies kommt von diesem Wissen her, nicht von unserem Tun. Und der Begriff „Menschen-Wesen“ deutet auf etwas Essentielles hin, ein Gewahrsein. Wie schon gesagt, nennen wir uns schließlich nicht „Menschentaten“, und das aus einem guten Grund, denn unser Tun kommt aus etwas Größerem, das wir intuitiv als unser Wesen erkennen. Und doch sind wir auch zur Selbsttäuschung fähig, zur Fehlwahrnehmung des Ganzen der Dinge, und manchmal halten wir Torheit, vor 628 Laßt die Schönheit, die wir lieben, das sein, was wir tun allem unsere eigene, für Weisheit. Und wie wir immer und immer wieder gesehen haben, sind wir, der Homo sapiens, zu großer Grausamkeit fähig, wenn wir besonders verängstigt und verblendet sind. Und wenn es aus Furcht und Verblendung zu solchen Ausbrüchen kommt, dann geschieht das oft im Namen eines größeren Guten, gewöhnlich unseres eigenen, und im Namen eines größeren Gottes, der, wen wundert das noch, zufällig auch unser eigener ist, und auf Kosten anderer, die nicht zu unserem Stamm gehören, oder, wenn es in kleinerem Maßstab geschieht, auf Kosten anderer, die wir für nicht so wichtig halten, weil wir nur an uns selbst denken. Im Zeitraum von sechshundert oder weniger Generationen haben die Menschen, angefangen bei kleinen, isolierten Gemeinschaften, den ganzen Planeten erkundet und den größten Teil davon besiedelt. Sie haben die unterschiedlichsten Kulturen hervorgebracht, beinahe weltweiten Handel betrieben, und doch haben sie es fertiggebracht, immer wieder so viel gegenseitigen Neid, so viel Furcht vor den anderen und Haß gegen den anderen zu schüren, daß sie, inzwischen als immer volkreichere Nationen und immer größere selbstdefinierte Gruppen oft religiösen Charakters, ihren Erfindungsreichtum dazu benutzt haben, unablässig Krieg mit denen zu führen, von denen sie sich bedroht fühlten oder deren Land und deren Bodenschätze sie sich aneignen wollten. Unsere Neigung zum Konflikt ist zunehmend zu einem sicheren Weg in die Katastrophe geworden. Sie hat über diese mehr als zwölftausend Jahre eine immer breitere Spur menschlichen Leidens hinterlassen, auch wenn wir es bis zum heutigen Tag geschafft haben zu überleben. In diesem Augenblick ist unser Erbe Anlaß zu gemischten Gefühlen. Charles Dickens charakterisierte sein Zeitalter und das der Französischen Revolution mit den Worten: „Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten ...“, und genauso ist es auch heute. Wir haben das Schöne und wir haben das Schreckliche. Wir haben die quintessentiellen Höhepunkte außerordentlicher Kulturen, und wir haben den Gesteinschutt und die Zerstörungen, die unsere scheinbar angeborene Streitlust und Kriegswut ebenfalls zu verantworten haben. Genetisch gesehen, sind wir ein einziges Volk. Die scheinbar unterschiedlichsten Völker auf dieser Welt sind vom Standpunkt ihrer Gene her gesehen praktisch identisch.36 Zwischen den Schwärzesten und den Weißesten von uns, den Größten und den Kleinsten, gibt es höchstens bei einem unter tausend Nukleotiden in unserer DNS einen Unterschied. Wir sind also zu 99,9 Prozent dieselben. Wir sind ein Stamm, eine Familie - aber das müssen wir erst noch erkennen. Wir Menschen sind alle eng miteinander verbunden. Wie wir miteinander umgehen, das ist für die Gesundheit und das Wohlergehen, vielleicht sogar für das Überleben von uns als Spezies von Bedeutung, und zwar nicht in einer fernen Zukunft, sondern in ebendiesem Moment. Natürlich haben verschiedene Kulturen völlig verschiedene Ansichten von der 427
gegenseitigen Verbundenheit und Bezogenheit. Doch vor zwölftausend Jahren haben diese Unterschiede und Animositäten wohl keine große Rolle für das Wohlergehen des Planeten oder das Überleben der Spezies gespielt, ganz zu schweigen von der Zivilisation und Kultur. Gruppen von Menschen lebten voneinander getrennt und kümmerten sich hauptsächlich um Essen, Schlaf, Fortpflanzung und Überleben. Was immer sie taten, sie waren so sehr Teil der natürlichen Welt und kamen in solch geringerer Zahl vor als heute, daß ihr Leben und selbst ihre Konflikte sich auf einen relativ engen Raum beschränkten. Dennoch hatten unsere frühen Vorfahren zweifellos ein reiches inneres Leben, wie ihre ausgefeilten Höhlengemälde und Figurinen, die weit zurück bis in die Altsteinzeit datiert werden können, beweisen. Ihre Kunst war außerordentlich, und ihre Technik, mit der sie sicherstellten, daß diese Kunst überdauern würde, war es ebenfalls. Offensichtlich, war selbst bei diesen Höhlenbewohnern der Impuls, zu malen und das Mysterium des Lebendigseins in der Unendlichkeit der Natur zu feiern sowie ihre Erfahrung dieses Mysteriums zu bestätigen, nicht zu bremsen. Zwölftausend Jahre später sind wir Menschen auf diesem Planeten zusammengedrängt wie nie zuvor und die Ressourcen werden immer knapper. Es herrschen immer noch Haß, Feindseligkeit und Mißtrauen zwischen unterschiedlichen Kulturen, obwohl wir dabei sind, immer mehr das zu transzendieren, was uns einmal unsere Blutsbande und unser bereits unseren Vorfahren gehörendes Stück Land bedeutet haben. Die Vereinten Nationen sind ein Versuch, die zugrundeliegende Einheit, an der wir alle Teil haben, anzuerkennen und friedliche Wege zur Lösung unserer Differenzen zu finden. Das ist ein nobles Unterfangen, das allerdings noch in den Kinderschuhen steckt - so wie wir als Menschheit und wie die Nationalstaaten, in denen wir heute leben. 630 Laßt die Schönheit, die wir lieben, das sein, was wir tun Damit wir voll und ganz in uns selbst als Spezies und als Nation unter Nationen - solange das Konzept und die Institution der „Nation“ noch bestehen wird - hineinwachsen können, ist es wohl an der Zeit, anzuerkennen, daß wir nicht nur durch das uns innewohnende Gutsein bis zu diesem Punkt in der menschlichen Geschichte gelangt sind, sondern auch durch viel Machtmißbrauch und Plünderung. Wir sind durch die gnadenlose Unterwerfung des Landes und des Lebensraums anderer Völker an diesen Punkt gelangt, auch wenn das in unseren Geschichtsbüchern immer als Fortschritt und als unvermeidlicher Lauf der Geschichte schöngeredet wird. Die Völker haben sich entweder mit uns arrangiert - oder nicht. Immer wieder wurden ganze Zivilisationen unterworfen oder niedergemetzelt. Wir wissen, daß es in der Vergangenheit der Vereinigten Staaten Völkermord und Sklaverei gibt. Warum sind wir so sehr darauf aus, unser Karma herunterzuspielen? Offensichtlich, weil es weh tut, es anzuschauen und uns darin wiederzuerkennen. Die Europäer wollten diese Welt für sich haben und eigneten sie sich auf Kosten der Ureinwohner an. Sie wollten Arbeiter für ihre Felder haben, und so „verbrauchten“ sie gnadenlos Millionen gefangengenommener Afrikaner als Arbeitskräfte, die in ihrer „Neuen Welt“ noch nicht einmal als menschliche Wesen angesehen wurden. Das war unvermeidlich in dem Sinne, daß es zur Eigenart unserer Spezies zu gehören scheint, wenigstens bis zum heutigen Tage, über andere zu herrschen und zu bestimmen, wenn wir die Macht dazu haben.
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Und der amerikanische Kontinent steht nicht allein da in der Geschichte der Aneignung des Lebensraums anderer Völker und der Unterwerfung anderer, die als Untermenschen angesehen wurden. Ob man nun in die jüngere oder entferntere Geschichte zurückgeht, keine Zivilisation hat in dieser Hinsicht völlig saubere Hände. Die moderne Zivilisation braucht ebenso wie in der Kolonialzeit viele Ressourcen: Energie zum Antreiben ihrer Maschinen, Rohstoffe zum Füttern ihrer Fabriken, Märkte, auf denen sie die produzierten Güter verkaufen kann. Sie ist ein Organismus, der ständig gefüttert werden muß. Wir bedienen uns heute nicht mehr der Sklaverei, aber wir sind immer noch gefährlich nahe daran, selbst von der Mentalität einer kollektiven Raffgier und Selbstgerechtigkeit versklavt zu werden und die Bedürfnisse unseres Stammes über die aller anderen zu stellen, die eben weniger Glück haben als wir oder die wir für weniger entwickelt halten - und damit übersehen wir wieder einmal, daß sie wir sind. Wir leiden unter diesen Exzessen der Vergangenheit, die in Wirklichkeit Ausgeburten von Gier und Unwissenheit sind, neigen aber trotzdem dazu, sie als unvermeidlich zu rationalisieren: Sie gehören angeblich einfach zur „Natur des Menschen“. Doch es fühlt sich so an, als könnten wir es uns als Land nicht mehr leisten, das Karma unserer egozentrischen Arroganz zu vergrößern, einer Arroganz, die alle von uns verkündeten Ideale - Freiheit und Gerechtigkeit für alle, das Recht auf Leben und Freiheit, das Streben nach Glück - Lügen straft. Kriege dauern heute nur noch Tage oder wenige Wochen. Doch der Krieg in uns selbst und innerhalb der menschlichen Spezies scheint endlos zu sein. Was läßt sich dagegen tun? Vielleicht müssen wir unser Karma aus der Vergangenheit anerkennen und uns bewußt darum bemühen, uns davon zu befreien. Vielleicht müssen wir aufmerksamer nach innen und nach außen lauschen - auf unseren gegenwärtigen und zukünftigen Dharma. Früher oder später werden wir das Vertrauen in das Heilige, das unsere nationale Rhetorik in Amerika unablässig verkündet, das aber so viele unserer Taten Lügen strafen, einmal „verwirklichen“, das heißt Wirklichkeit werden lassen müssen. Denn wir können es uns als Zivilisation, als Vielvölkerstaat und als die einzige „Supermacht“ unserer Tage einfach nicht mehr leisten, nicht zu unserer wirklich wahren Natur als Spezies zu erwachen. Vielleicht sollten wir uns einmal daran erinnern, daß das mongolische Imperium zu seiner Zeit ebenso die einzige Supermacht war, wie es, als erste Annäherung an dieses Konzept, die Ägypter, die Perser, die Griechen, die Römer, die Sarazenen, die Mayas und die Inkas gewesen sind. Im heutigen Zeitalter liegen unsere Chancen auf der Ebene der Spezies, nicht der einer Supermacht. Als Spezies stehen wir kurz davor, einen Quantensprung auf eine andere Ebene des Seins zu tun. Wir erwachen immer mehr zu der Schönheit und zu dem Guten, die wir durch unsere Klugheit, durch unseren Fleiß und unsere Fähigkeit zu Liebe und Güte in die Welt bringen, und wir werden uns immer mehr der Notwendigkeit bewußt, uns dem Karma und dem Leiden zu stellen, das wir durch unsere Gier und unsere Rücksichtslosigkeit in die Welt bringen. Wir befinden uns heute an einem reichen Wendepunkt, an einer kostbaren und heiklen Schnittstelle zwischen Karma und Dharma. Unter Karma versteht man die angesammelten Konsequenzen vergangener Taten. Dharma ist die bewußte Verkörperung des unserer Spezies innewohnenden Leuchtens, der Erkenntnis von 429
allem, was in unserem Herzen und in unserem Geist intelligent, gut, freundlich und weise ist. Und dazu gehört die Anerkennung des Leuchtens in allen Spezies und unserer Verbundenheit mit ihnen. Dazu gehört ebenfalls, daß wir die Schattenseite in unserer eigenen Natur anerkennen, ohne uns ihr hinzugeben. Die Herausforderung besteht darin, daß unsere Spezies dazu aufgerufen ist, zu erwachen. Wir können die Gelegenheit ergreifen, einen Bewußtseinswandel zu vollziehen, dadurch einen Quantensprung zu machen, daß wir unsere Fähigkeit zu Wahrnehmung, zur Achtsamkeit, zum Gewahrsein kultivieren, auch wenn das von uns als Individuen, als Nationen und als Weltbürger mit dem Karma, das wir tragen, große Motivation und Anstrengungen verlangt. Oder wir werden die immer schrecklicher werdenden Konsequenzen unserer Achtlosigkeit erleiden müssen, unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem, was das Allerwichtigste, das Allergrundlegendste dafür ist, daß das Leben auf Erden gedeihen kann und wir alle unsere Möglichkeiten weise und in vollem Ausmaß ausnutzen können. Spirituell gesehen, hungern wir danach, eine authentische Weise des Daseins zu schmecken und mit ihr vertraut zu werden, danach, uns selbst im tiefsten Sinne treu zu sein. Wir hungern nach Freiheit, der Freiheit, das zu sein, was wir sind - mit ihrer inneren wie äußeren Verheißung. Doch um die Freiheit schmecken zu können, müssen wir uns selbst befreien und müssen unsere Freiheit in der Gemeinschaft unseres Seins und unserer Zugehörigkeit feiern, im Sangha und in dem Heiligtum, das jeder andere für uns darstellt. Paradoxerweise sehnen wir uns nach einem innewohnenden Glück, das schon die ganze Zeit unser Geburtsrecht gewesen ist. Es hat sich nur deshalb als so ungreifbar und flüchtig erwiesen, weil wir uns so sehr in den Begehrlichkeiten unseres Geistes verloren haben, indem wir in mehr oder weniger großem Ausmaß unseren Verstand verloren und unser Herz vergessen haben. Und was können wir tun, um diese Freiheit zu schmecken? Der Weg ist der gleiche wie der in die Carnegie Hall: Üben, üben, üben - so daß wir die Schönheit, die wir lieben, und die Schönheit, die wir sind, das sein lassen können, was wir tun. Die vergangenen zwölftausend Jahre der Zivilisation, des Hineinwachsens in uns selbst, waren eine Zeit der Inkubation und Gestaltung. Heute ist die Entstehung von etwas Neuem nicht nur möglich, sondern notwendig - ein Quantensprung für den Homo sapiens sapiens, eine Chance, das zu schmecken, was hier ist, damit wir es schmecken, das zu wissen, was zu wissen uns zusteht - in dieser Generation und in den darauf folgenden Generationen. Dazu brauchen wir Ausrichtung und Entschlossenheit genauso wie Geduld und Weisheit. Wir müssen in der Größenordnung von Jahrhunderten denken und dürfen nicht nur die gerade vor uns liegenden Jahre im Auge haben. Die Ureinwohner Amerikas haben davon gesprochen, daß die wahre Fürsorge für die Erde, die uns anvertraut ist, darin besteht, das Wohlergehen von mindestens sieben auf uns folgende Generationen im Auge zu haben. Es stünde uns gut an, uns auf diese Weise um die Welt zu kümmern. Schließlich sind sie - die noch kommenden Menschen - wir selbst.
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Reflexionen über das Wesen der Natur und unseren Platz darin Als ich zwölf Jahre alt war, hing eine kleine Gruppe von Jungs, deren Familien den Sommer in Woods Hole verbrachten, weil ihre Eltern an die dort ansässigen Laboratorien gebunden waren, in dem Schuppen herum, der damals der coolste Laden der Stadt war, dem Club der MBL (Marine Biological Laboratories) - wenn wir nicht gerade an unseren Fahrrädern herumbastelten, am Strand waren oder zum Mittagessen nach Hause gingen. Zwischen unseren Pingpong-Spielen und ähnlichem Zeitvertreib in Räumen, die mit großen farbigen Glaskugeln, Seesternen und Krabben dekoriert waren, die in Fischernetzen von der Decke hingen, führten wir, wie ich mich erinnere, in gemütlichen Alkoven, die mit Regalen voller verstaubter Bücher ausgekleidet waren und in denen Schachbretter und Schachfiguren herumlagen, lange Gespräche über bedeutungsvolle Themen. In Jaskin's Drug Store gab es ein ganzes Drehregal mit Mentor-Taschenbüchern für fünfzig Cent das Stück mit Titeln wie Eins, zwei, drei ... Unendlichkeit und Sonne, Stern unter Sternen von George Gamow oder Das grenzenlose All von Fred Hoyle. Wir kauften sie alle, verschlangen sie und waren verzaubert. Wir saßen herum, tranken Coca -Cola aus grünen Flaschen, die wir im Erdgeschoß des MBL aus einer großen roten Maschine zogen, lasen uns gegenseitig laut vor und diskutierten Themen wie den Urknall und die Steady-State-Theorie (Gleichgewichtstheorie), das Wesen des Universums und des Bewußtseins, und was das alles für unser Leben zu bedeuten hatte. Ich habe heute noch mein altes Exemplar von Eins, zwei drei ... Unendlichkeit. Es hat diesen Geruch alter Taschenbücher, seine Seiten sind inzwischen gelb und brüchig und der Buchrücken ist gebrochen. Machen wir einen Sprung in die heutige Zeit. In einem wundervollen Buch mit dem Titel Das elegante Universum, welches das moderne Äquivalent der Bücher ist, die wir damals lasen, informiert uns der Teilchenphysiker Brian Greene darüber, daß die moderne Superstring-Theorie des Universums uns zwingt anzunehmen, daß das Universum elfdimensional ist. Angesicht der Tatsache, daß die meisten von uns mal gerade mit Einsteins Einsicht zurechtkommen, daß das Universum aus vier Dimensionen besteht, wobei die Zeit die vierte Dimension ist, dürfte das für einige von uns kein leicht zu verdauender Brocken sein. Jedenfalls glauben die Physiker heute (wenn „glauben“ in diesem Fall überhaupt der richtige Ausdruck sein sollte) oder sie diskutieren zumindest ernsthaft die Möglichkeit, daß das Universum, das innerhalb eines unendlich kurzen, eines undenkbar kurzen Moments, der den Beginn der Zeit vor etwa 13,7 Milliarden Jahren definierte, mit dem Urknall aus dem „Nichts“ in Erscheinung trat (eine Vorstellung, die seltsamer ist als jeder babylonische oder anderswoher stammende Schöpfungsmythos), ein elfdimensionales Universum ist. Offenbar gelang es sieben der ursprünglichen elf Dimensionen im Augenblick der Schöpfung nicht, sich zu „entfalten“, so daß es so aussieht, als hätten wir nur die drei Dimensionen, die wir kennen, und die Zeit zur Verfügung. Wie traurig für die anderen Dimensionen, daß sie ihre einzige Chance, sich zu manifestieren, verpaßt haben. Aber sie sind trotzdem noch „hier“, eingefaltet in ihre ursprüngliche Potentialität innerhalb 431
und mitten in allem (wenn wir das sagen können), und sie müssen hier sein, damit das Universum „funktionieren“ kann, damit Protonen Protonen sein können, Elektronen Elektronen und Quarks Quarks. All das ergibt sich offenbar aus der Mathematik selbst, der Mathematik des Universums, die an sich eine interessante Vorstellung ist. Unsere Sinne sind allerdings nur für drei Dimensionen geeignet oder vielleicht für vier, je nachdem, wie sensibel Sie sind. Machen wir wieder einen Sprung vom Augenblick des Urknalls zu uns selbst. Unser Körper, ja jede einzelne unserer Zellen ist eine ganze Galaxie für sich; sie sind Universen, die in der Tat aus unzählbar vielen Atomen bestehen - ganz zu schweigen von den Elementarteilchen -, und sie stehen in einem andauernden Austausch mit dem Rest des größeren Universums, in das wir eingebettet sind. Sie bestehen außerdem fast ausschließlich aus leerem Raum, da die Atome selbst nahezu gänzlich leerer Raum sind, also winzige Zusammenballungen von Energiefeldern, welche wir uns gern als Partikeln vorstellen, die sich aber genausogut als Wahrscheinlichkeitswellen beschreiben lassen, die aber auf jeden Fall extrem konzentrierte Orte großer Energien sind. Der Urknall und eine Menge Zeit, die seither vergangen ist, haben also unseren Körper hervorgebracht und anscheinend auch, obwohl wir nicht verstehen, wie, unseren Geist. Wie wunderbar. Wie unauslotbar. Wie unglaublich. Es ist so, als seien wir der Weg (oder einer der Wege) für das Wasserstoffatom oder das Quark oder das String was immer in dieser Welt das Grundlegendste sein mag (der ursprüngliche Impuls, der das Universum aus dem Nichts und Nirgendwo hervortreten ließ) -, sich zu guter Letzt selbst anschauen zu können, sich durch das, was wir Bewußtsein oder Wahrnehmungsvermögen nennen, auf gewisse Weise selbst zu kennen. Das Bewußtsein ist für die Kognitionswissenschaft ein großes Fragezeichen, und wie wir schon früher angemerkt haben, hat niemand die geringste Ahnung, wie man von Materie und Neutronen zu subjektiven Erfahrungen einer strukturierten Welt gelangt, von Photonen einer bestimmten Wellenlänge zu der Farbe Blau, wie wir sie in unserer Erfahrung wahrnehmen, ganz zu schweigen von der Welt, die „da draußen“ zu sein scheint, die aber nur in Relation zu unserer Erfahrung, daß sie „hier drinnen“ ist, „da draußen“ sein kann. Es sieht so aus, als sei es in der Tat die Beziehung, die das Wichtigste ist, nicht die Trennung. Die Trennung ist in gewisser Weise eine Illusion, sie ist nur von einem konventionellen Standpunkt aus haltbar und manchmal nützlich, wenn wir von den Dingen sprechen wollen. Das Bewußtsein ziemlich bald erklären zu können, mag also noch in weiter Ferne liegen, wie Yogi Berra es vielleicht formulieren würde. Außerdem findet dieses Bewußtsein und seine durch Instrumente, die wir auf Satelliten in den Weltraum hinausschicken, erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit heute, wenn Sie sich erinnern, heraus, daß, wenn wir nach „da draußen“ schauen, was auf ein Zurückschauen in der Zeit hinausläuft, weit hinaus bis fast zum Anfang der Dinge selbst, nur ein geringer Bruchteil, die Astronomen sagen vier Prozent, der Masse und Energie des Universums die Form von Materie, wie wir sie kennen, hat. Fast ein Viertel davon ist das, was „dunkle Materie“ genannt wird, wie der Stoff der Schwarzen Löcher, und der Rest ist „dunkle Energie“, die eine Art von Anti-Schwerkraft ist, welche das Universum in einem sich ständig beschleunigenden Tempo auseinanderzutreiben scheint. 432
Auf jeden Fall ist, um zu uns und zu unserer Fähigkeit, wahrzunehmen und zu wissen, zurückzukommen, die Emergenz des Komplexen, wie etwa des Lebens oder des Bewußtseins, aus dem weniger Komplexen, wie der unbelebten Materie, in dynamischen Systemen eine Art, das Zusammenspiel von Chaos, Komplexität und Ordnung in dem Versuch zu betrachten, uns diese begrifflich und rational zu erklären. Aber da alles seinen „Ursprung“ im Moment des Urknalls haben scheint, sehen wir uns doch damit konfrontiert, daß etwas aus nichts entsteht, daß der Raum aus „vor dem Raum“ kommt, die Zeit an einem bestimmten Punkt beginnt, vor dem es keine Zeit gab, und daß alle Materie aus einem Nirgendwo als unendliche, reine Energie hervorgegangen ist. Hmmmmm. Warum macht das nicht Scharen von Jugendlichen Lust auf Naturwissenschaft? Ich denke, das würde es tun, wenn man es ihnen nur nahebrächte. Eine andere Art, die Dinge anzuschauen, besagt, daß etwas nicht aus nichts kommen kann und daß insbesondere Bewußtsein nicht aus Materie hervorgehen kann. Das ist eine eher buddhistische Sichtweise. Ich finde es faszinierend, daß sich heute diese beiden hochwichtigen Wege zur Erforschung der Natur der Wirklichkeit in einem lebendigen Dialog befinden, woran der Dalai Lama mit seinem lebenslangen Interesse an den Naturwissenschaften und daran, wie die Dinge funktionieren, nicht unerheblichen Anteil hat.26 Es gibt ein Ding, das ist unterschiedslos vollendet. Bevor Himmel und Erde waren, ist es schon da, so still, so einsam. Allein steht es und verändert sich nicht. Im Kreis läuft es und gefährdet sich nicht. Man kann es nennen die Mutter der Welt. Ich weiß nicht seinen Namen. Ich bezeichne es als Dao. Laozi, Daodejing, Kapitel 25, Übersetzung von Richard Wilhelm
Betrachten Sie noch ein letztes Mal das „Universum“, das wir sind. Auf einer Ebene ist unser Körper fast gänzlich leerer Raum (oder Felder) mit seltenen Brennpunkten hochkondensierter Energie, die wir Masse nennen. Auf der Skala der Größenordnung aufwärts sind diese Brennpunkte zuerst Strings, dann Quarks, Elektronen, Protonen und Neutronen und dann Atome. Dann, wenn wir noch weiter hinaufgehen, bemerken wir Zusammenschlüsse von Atomen zu kleinen Molekülen, mittelgroßen Molekülen, Makro-Molekülen (wie es Enzyme und Proteine sind) und Mega-Molekülen wie der DNS, die sozusagen das Urbild von „Software“ darstellt und das Universum des Lebendigen auf diesem Planeten antreibt und regelt. Dann haben wir die MegaSiehe die Bücher, die das Mind and Life Institute (www.mindandlife.org) herausgebracht hat und die auf den verschiedenen Gesprächen basieren, die der Dalai Lama und buddhistische Mönche, Nonnen und Gelehrte mit Wissenschaftlern der verschiedensten Disziplinen, vor allem aus der Kognitionswissenschaft, der Psychologie, Biologie, Physik und Philosophie, geführt haben. 26
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Zusammenschlüsse von Molekülen (Organellen) wie die Ribosomen, das endoplasmatische Retikulum und die Golgi-Apparate (hören sich diese Begriffe nicht geheimnisvoll und melodisch an?). All das bezeichnet nur einen kleinen Bruchteil des Inhalts einer Zelle in einem Körper, der, wie wir gesehen haben, aus einer unvorstellbar großen Zahl von Zellen besteht, die alle aus einer einzigen Zelle, dem befruchteten Ei, hervorgegangen sind, welche ihrerseits aus zwei Zellen aus den Universen der Eltern hervorgegangen sind, die zusammengekommen sind, weil, in der Standardversion der Dinge, die Körper unserer Eltern zusammengekommen sind. Doch erfahren wir das jemals, kennen wir uns auf diese Weise, und sei es auch nur für einen Augenblick? Und ich meine nicht allein durch das Denken - auch wenn tiefes Nachdenken und Wissen über Physik, Chemie, Biologie und Kognitionswissenschaft helfen kann -, sondern durch Gewahrsein, durch Fühlen, Spüren, Verkörpertsein, dadurch, daß wir es unserem Geist erlauben, den Körper zu bewohnen und auszufüllen, von der atmenden Hülle der Haut bis hinab zu den Muskeln und Gelenken und Knochen, bis zur Leber und der Lunge, den manchmal pulsierenden Genitalien, dem immer pochenden Herz und Blut und Gehirn und hin zu allem anderen, was wir vielleicht in Begriffen von Gefühlen, Organen und Geweben beschwören möchten, bis hinab zu den Zellen selbst und weiter abwärts zu den Ribosomen, den Chromosomen und Enzymen, die geschäftig ihre Arbeit tun (wenn wir das Arbeit nennen können) in dieser Welt, die auf dieser. Ebene hauptsächlich eine Wasserwelt ist, und weiter abwärts zu den Molekülen, Atomen, Quarks und Strings und der Leere zwischen ihnen und in ihnen, einschließlich der sieben nicht entfalteten Dimensionen der Wirklichkeit der Natur selbst. Mit anderen Worten: Vermögen wir alles zu erkennen, was wir sind, auf der Ebene des Materiellen und des Nichtmateriellen, des Objekts und des Subjekts und jenseits von Subjekt und Objekt - und zwar in diesem Augenblick, gleichzeitig? Können wir das lebendige Wunder sehen, erkennen, es erlangen und in uns aufnehmen, das Mysterium dessen, daß das alles funktioniert, daß wir denken können, daß wir uns bewegen können, daß wir gehen, unser Essen verdauen, Liebe machen, Babys haben und sie aufziehen können, daß wir Nahrung und Sinn finden können, daß wir Kunst und Musik machen, einander finden und letztlich vielleicht sogar uns selbst erkennen können? Und vermögen wir ebenso noch rechtzeitig zu erkennen, daß wir in unserer endlosen und großartigen, aber nicht hinterfragten Frühreife uns selbst und die Biosphäre psychisch und physisch in vielerlei Hinsicht vergiften, und zwar aus Angst und Gier und aus der Schläue unseres Geistes, unserer Industrie und unserer Institutionen heraus, einer Schläue, die gefährlich wird, wenn wir beginnen festzuhalten, wenn wir uns festfahren, wenn wir absorbiert werden und uns nur noch für die Teile begeistern, uns aber nicht mehr für Ganzheiten und das größere Ganze interessieren? Früher wußten wir überhaupt nichts über die Natur des Un-Wohlseins und der Krankheit, unter denen wir leiden. Heute diskutieren wir wenigstens den Gesundheitszustand der Welt, beobachten Aspekte ihrer Lebenszeichen und denken über deren Bedeutung und die potentiellen Konsequenzen nach. Alles in allem ist dieses Sichkümmern an sich vielleicht ein Zeichen von intelligentem Leben auf diesem Planeten, das hoffentlich als verkörperte Weisheit zu seinem vollen Ausdruck gelangen wird, als eine Weisheit, die gekoppelt ist mit Mitgefühl für alles Leben, für alle 434
fühlenden Wesen. Das schließt natürlich uns selbst ein und unsere Kinder.
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Die Entfaltung verborgener Dimensionen Ich finde es hochinteressant, daß sich die Metapher von verborgenen Dimensionen, die sich irgendwie nicht „entfaltet“ haben, auch auf unser Leben anwenden läßt. Wenn Physiker ernsthaft in solch seltsamen Begriffen denken können, vielleicht sind wir anderen dann ebenfalls dazu fähig und können deshalb genauer untersuchen, was wir genau vor der Nase haben. Wir könnten nämlich sagen, daß es vielfältige Dimensionen in unserem eigenen Leben gibt, die eng eingefaltet in uns liegen und die, aus welchen Gründen auch immer, noch keine Gelegenheit hatten, sich zu entfalten, zumindest bisher nicht. Würden sie sich entfalten, dann könnte das für unser Leben ein ziemlicher Urknall sein. Viele Geschichten aus den meditativen Traditionen erzählen genau auf diese Weise von Offenbarung und Klarheit - als einer plötzlichen „Explosion“ von Einsicht. Diese Geschichten sind wohl kaum seltsamer als das, was die Naturwissenschaften für uns zusammengebraut haben. Eine dieser verborgenen Dimensionen wäre der gegenwärtige Augenblick. Der gegenwärtige Augenblick ist immer genau hier, doch zumeist sind wir seiner nicht gewahr, und damit ist er uns, praktisch gesprochen, nicht verfügbar, wir können ihn nicht nutzen. Seine reichhaltige Dimensionalität bleibt unerkannt, vergraben unter unserer Besessenheit davon, irgendwo anders hin zu gelangen, durch die Gegenwart zu hasten, ohne sie oder die Tatsache zu bemerken, daß wir immer in ihr sind, daß es buchstäblich keinen anderen Ort gibt, wo wir hingehen könnten, keine andere Zeit, die wir bewohnen könnten. Könnte diese Dimension, die der gegenwärtige Moment ist, sich für uns entfalten? Sie könnte es. Was wäre dazu nötig? Wie wäre es, wenn wir innehielten, hinschauten und zuhörten? Wie wäre es, wenn wir zur Besinnung kämen? Wir haben schon an anderer Stelle T. S. Eliots Festmahl, den Four Quartets, einen Besuch abgestattet und haben uns vom Nachtisch genommen. Doch es mag einige Zeit brauchen, bis wir die folgenden unsterblichen Zeilen zu verdauen vermögen, wenn unser Magen überhaupt stark genug dazu ist: was wir nicht kannten, weil wir es nicht erwarteten, doch was wir hörten, halbwegs hörten, in der Stille zwischen zwei Brechern des Meeres. Geschwind jetzt, hier, jetzt, immer Eine Bedingung für völlige Einfachheit, (die uns nicht weniger kostet als alles). T. S. ELIOT, Four Quartets, „LITTLE GIDDING“
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Die Macht des gegenwärtigen Augenblicks ist unvorstellbar, für uns genauso unvorstellbar wie die riesige Energie des Vakuums oder die Winzigkeit der unentfalteten Dimensionen, die sich tief in unseren Atomen befinden oder die eingebettet sind in das Gewebe des Raumes selbst. Was den gegenwärtigen Augenblick angeht, so ist es einfach nicht möglich, daran zu glauben, und es besteht auch keine Notwendigkeit dazu. Man braucht ihn einfach nur zu erfahren und selbst zu sehen, ob er unserem Leben nicht vielleicht wieder eine Dimension hinzufügt, die uns andere Grade der Freiheit eröffnet, ganz neue Bereiche und Wege, unser Leben und unsere Welt zu bewohnen - für die kurzen Momente, die wir hier sind, die sich so rasch zu dem summieren, was wir eine Lebenszeit nennen, und die wir so leicht verpassen. Das ist das Festmahl, zu dem wir gerufen werden, eine Mahlzeit, zu der wir, wie Derek Walcott es so wunderbar formuliert hat, von Moment zu Moment eingeladen werden: „Setz dich. Laß dir dein Leben schmecken.“
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Die richtige Perspektive gewinnen Stellen Sie sich eine unbegreifliche Weite des Raumes ohne Anfang und Ende und ohne Mitte vor. Leer und doch voll von einzelnen Brennpunkten der Materie, Galaxien mit unvorstellbaren Mengen von Sternen und diese Galaxien selbst wiederum über undenkbare Entfernungen und Zeiträume zu etwas angesammelt, was wie Blasen aussieht, Membranen, die über die Leere gezogen wurden, doch all das sich voneinander mit unglaublicher Geschwindigkeit entfernend in einer sich beschleunigenden Ausdehnung, deren Beginn man extrapolieren und 13,7 Milliarden Jahre zurückverlegen kann auf einen Punkt, in dem alle Masse und alle Energie sowie Zeit und Raum in einem Tropfen von keinerlei Dimension kondensiert gewesen sein müssen, außerhalb von dem es nichts gab, weil es für das Universum kein „außerhalb“ gibt. Stellen Sie sich in dieser unbegreiflichen Weite des Raumes und in dieser unvorstellbaren Zeitlosigkeit der Zeit die Erde vor, die sich durch einen glücklichen Zufall in genau der richtigen Entfernung von einem relativ jungen Stern in einer solchen Galaxis befindet, wo es nicht zu heiß und nicht zu kalt ist für die potentielle Emergenz komplexer Lebensformen, die Erde, die selbst vor etwa vier Milliarden Jahren zusammen mit der Sonne und den anderen Planeten in unserem Sonnensystem aus dünnen Wolken von Atomen gebildet wurde, die im Feuerofen früherer Generationen von Sternen und in der spektakulären Explosion einiger dieser Sterne entstanden sind, als diese ihren Wasserstoff verbrannt hatten und schließlich der unerbittlichen Anziehungskraft ihrer eigenen Masse, dessen, was wir Gravitation nennen, erlagen. Stellen Sie sich unvorstellbare Zeiträume auf der frühen Erde vor, mit Landschaften, die noch von keinerlei Kreatur bewohnt wurden, mit tektonischen Platten, die sich über Äonen hinweg neu angeordnet haben, und dann das ganze langsam Gestalt annehmende Leben, Leben im Meer, Leben auf dem Land, Leben in der Luft, zuerst außerordentlich einfache Lebensformen, und später immer komplexere Formen, und dann das menschliche Leben, das in Relation zu dem allem nur ein paar unbegreiflich kurze Sekunden alt ist. Staunen Sie einen Augenblick über das Aufblühen des Lebens auf dieser blauen und grünen und weißen und braunen Kugel, die in der Leere, der Endlosigkeit, der Schwärze des Raumes hängt. Und staunen Sie einen Moment über die Tatsache, daß diese Sätze in einem Haus in der Nähe der Küste eines enormen Kontinents aus zerklüftetem Fels, der auf einem Kern von noch mehr Fels in geschmolzenem Zustand schwimmt, in dessen Inneren sich ein weiterer Kern aus geschmolzenem Eisen befindet, auf einer Maschine geschrieben werden können, die den Druck von Fingern empfängt, und zwar im Zusammenspiel mit Augen, die den menschengemachten Bildschirm sehen können, auf dem sich die Wörter entfalten, Wörter die Ströme organisierter Energie umkleiden, die wir Gedanken und Gefühle nennen und die auf wunderbare Weise aus einem Geist hervorgehen, der keine Ahnung hat, wie dies geschieht, der aber irgendwie von einem knapp drei Pfund schweren Organ abhängig ist, welches sich in einem Schädel befindet, der sich vor sehr langer Zeit - zumindest nach unseren kleingeistigen Zeitmaßstäben offenbar in Afrika aus dem Schädel kleiner, auf Bäumen wohnender Primaten entwickelt hat. 438
Und wir machen uns endlos Sorgen darüber, ob wir die Rechnungen bezahlen können, wie es unseren Kindern in dieser Welt ergehen wird, ob wir glücklich sind oder jemals glücklich sein werden, ob die Leute uns mögen oder nicht, ob wir so erfolgreich sind, wie wir es sein sollten, ob uns jemals die Liebe und echte Akzeptanz zuteil werden wird, nach denen wir uns so sehr sehnen, oder ob wir angesichts des Drucks unseres Terminkalenders überhaupt Zeit für uns selbst haben werden. Wir machen uns Sorgen um die Wirtschaft. Wir sorgen uns um unseren Körper und unseren Geist, wir machen uns Sorgen über die Zukunft und sogar über die Vergangenheit - in dem Sinne, daß wir diese endlos wiederkäuen. Wir machen uns Sorgen über Krankheiten, über das Altwerden, darüber, daß unsere Sinne schwinden, da wir merken, daß unser Sehvermögen, unser Hörvermögen und unsere Fähigkeit, den Boden vermittels unserer Füße zu spüren, mit zunehmendem Alter nachlassen. Wir machen uns Sorgen darüber, daß wir keine Zeit haben, daß wir mehr Zeit brauchen, daß wir zuviel Zeit haben, und wir wünschen uns, die Dinge wären anders, irgendwie besser, irgendwie befriedigender. Und früher oder später fangen wir an, uns über den Tod Sorgen zu machen. Wir sorgen uns auch um diese Welt, in der wir leben, diese Welt, die manchmal so grausam und sinnlos erscheint, in der zahllose Menschen in Armut und Not leben, oft ohne jede politische Stimme, bis sie sie manchmal wie durch Zauberei selber finden. Wir machen uns Sorgen über diese Welt, in der anderen Menschen nur allzuoft Mißtrauen, Gewalt und Aggression entgegengebracht werden und manchmal auch uns selbst, aber auch der Natur, die wir weiterhin als Nebenprodukt unseres natürlichen Drangs, Dinge herzustellen und sie zu verkaufen, vergiften, angestachelt von dem Ehrgeiz, uns ein Stück des Marktes zu sichern, unsere Gewinne zu vergrößern, eine Marktnische zu finden, unsere Konkurrenten zu übertrumpfen, mehr Geld und mehr Dinge anzuhäufen und dann hoffentlich, als Resultat von all dem, glücklich zu sein. Haben wir da nicht etwas die Perspektive verloren? Vergessen wir dabei nicht, unsere gesamte Befindlichkeit als Individuen und als Spezies zu sehen und zu fühlen? Übersehen wir nicht, wie klein, wie unbedeutend und total vergänglich wir sind, oder versuchen wir das vielleicht unbewußt dadurch zu kompensieren, daß wir darauf bestehen, die Natur zu kontrollieren und zu beherrschen, statt uns daran zu erinnern, daß wir aus ihr geboren wurden und nahtlos in sie eingewoben sind, und übersehen wir damit nicht vielleicht, daß das Allerwichtigste darin bestehen könnte, uns selbst zu kennen und etwas über unsere eigene Natur zu wissen, bevor wir aus unhinterfragten Motiven heraus handeln, und zwar, bevor die Zeit dafür zu knapp wird? Ignorieren wir nicht ebenso unsere Schönheit und unser bemerkenswertes Potential, ein geheimnisvolles Aufblühen unseres Vermögens zu wahrer Intelligenz in diesem mehr als seltsamen Universum, das unser Zuhause ist und in dem mehr zu Hause zu sein wir lernen könnten? Ignorieren wir nicht das Wunder der menschlichen Form, dieses Fingerhuts voller in Sternen geborener Atome, das unglaubliche Geschenk eines menschlichen Lebens und die Möglichkeit, es gut und aus vollen Zügen zu leben, und zwar in Kontakt mit unserer grundlegenden Kreativität und dem Geheimnis unseres Bewußtseins, unserer Gegenwart hier, unseres absoluten Bedürfnisses nach einander, unseres Vermögens, voller Ehrfurcht, Staunen und Wissen das Universum anzuschauen, innerhalb dessen wir entstanden sind und das wir nun bewohnen, und nicht in Mißachtung all dessen? 439
Vom Standpunkt des Universums, aus der Perspektive der Unendlichkeit der Raumes und der Unvorstellbarkeit der Zeit ist das, was auf diesem kleinen Planeten geschieht, völlig unbedeutend. Aber für uns ist es von allergrößter Bedeutung, da wir nun einmal hier sind, wenn auch nur für kurze Zeit, und wir auch in zukünftigen Generationen in allem, was wir tun, mit dieser Welt leben und von ihr lernen werden. Ist es nicht vielleicht an der Zeit, daß wir das volle Spektrum der uns innewohnenden Fähigkeiten begreifen, daß wir, solange wir noch eine Chance dazu haben, die Fülle dessen, was es bedeuten könnte, menschlich zu sein, erkunden und in diese Fülle hineinwachsen? Es gibt sehr viele Belege dafür, daß wir uns in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten an einem Wendepunkt in unserer Evolution als Spezies befinden. Unsere Frühreife als Macher und Denker hat uns an einen Punkt gebracht, an dem wir unsere eigenen Gene beeinflussen können, an dem wir auf eine genetisch verlängerte Langlebigkeit, wenn nicht gar Unsterblichkeit hinarbeiten, an dem wir mit Silikon/Biologie-Schnittstellen zur Speicherung von Information experimentieren (wer würde schon die Gelegenheit zu einem Gedächtnis-Upgrade ablehnen, wenn so etwas möglich wäre?), an dem wir Maschinen entwerfen, die vielleicht bald besser und schneller „denken“ werden als wir und die eines Tages vielleicht sogar fühlen werden. Und vielleicht werden wir in nicht allzu ferner Zukunft sogar programmierbare und sich selbst vervielfältigende Maschinen und Roboter herstellen, die so klein sind, daß wir sie verschlucken können, und die dann den Körper buchstäblich Molekül für Molekül instand halten werden. Angesichts solcher Möglichkeiten und der vielen anderen Möglichkeiten, die zur Zeit noch unvorstellbar sind, die aber in dieser Kultur, in der das, was wir uns als technologisch machbar vorstellen, früher oder später auch tatsächlich gemacht wird, auch wenn nur wenige jemals die Gelegenheit erhalten, ein Wörtchen dabei mitzureden, und nur wenige das überhaupt für eine gute Idee halten, ist eine orthogonale Rotation des Bewußtseins in der Tat vonnöten. Die Propheten des Alten Testaments schimpften über die Achtlosigkeit ihres eigenen Volkes. Würden sie heute leben, dann würden sie vielleicht mit der gleichen Vehemenz über heutige Achtlosigkeit als Spezies schimpfen. Aber ob es nun Stimmen gibt, die den geistlosen Lärm übertönen, oder nicht, die Menschheit selbst kann sich angesichts dessen, wohin unsere Frühreife uns seit diesen alten, biblischen Zeiten, die erst eine kleine Weile zurückliegen, geführt hat, unsere eigene massive innere Ignoranz gegenüber dem, wer wir sind und wo wir leben, nicht mehr leisten, und auch nicht unsere Sorglosigkeit in Hinsicht auf die Konsequenzen unserer individuellen und kollektiven Taten. Vielleicht ist es an der Zeit, daß wir uns den Namen, den wir uns selbst als Spezies gegeben haben, wirklich verdienen, daß wir uns unser Bewußtsein aneignen und zur Besinnung kommen, solange noch Zeit dazu ist. Und auch wenn uns das vielleicht nicht klar ist, so ist diese Zeit doch allem Anschein nach kürzer bemessen, als wir denken. Und es steht viel auf dem Spiel. Was auf dem Spiel steht, ist letztlich nicht weniger als unser eigenes Herz, unsere eigene Menschlichkeit, unsere Spezies und unsere Welt. Was uns zur Verfügung steht, ist das volle Spektrum dessen, wer und was wir sind. Was nötig ist, ist nichts Besonderes - einfach nur, daß wir anfangen, aufmerksam zu sein und zu den Dingen, wie sie sind, zu erwachen. Alles andere wird sich daraus ergeben.
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