Giganto meldet: Ziel erreicht 1. Ein rätselhafter Schrei Der Weltraum-Transporter war kaum in der Schleuse der geheimen ...
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Giganto meldet: Ziel erreicht 1. Ein rätselhafter Schrei Der Weltraum-Transporter war kaum in der Schleuse der geheimen U-Station am Südpol, als General Hamm an Bord kam. „Herr Professor Charivari“, sagte er ärgerlich, „Sie haben mir Ihre Ankunft mit den Ingenieuren Lang und Tedder, sechs Kindern und einem Pudel gemeldet. Ich protestiere!“ Wuff, waff! machte der Zwergpudel Loulou als erhebe er Gegenprotest. „Kinder“, betonte der oberste Sicherheitsbeauftragte, „gehören nicht auf einen Stützpunkt der Geheimstufe Minus Null. Wir haben seinerzeit nur eine einzige Ausnahme gemacht, und zwar mit Holger, dem Sohn des Chefelektronikers. Aber ich denke doch nicht, daß Sie hier eine Astronautenoder Geonautenschule für Jugendliche eröffnen wollen!“ „Und wenn es so wäre?“ fragte Professor Charivari sanft. Er wischte sich mit einem seidenen Taschentuch den gurkenförmigen Kahlschädel und ordnete seinen langen, lackschwarzen Fadenbart. „Übrigens sehe ich hier keine Kinder. Dies hier sind ernstzunehmende Partner. Der Junge mit der großen Brille, Marcel, wegen seiner Gescheitheit Superhirn genannt, hat mir bereits größere Dienste geleistet als mancher Kollege. Gérard ist ein guter Fußballer, doch es macht ihm nichts aus, den Boden unter den Schuhsohlen zu verlieren. Auf den zappligen Prosper können Sie Häuser bauen. Und die Geschwister Henri, Tatjana und Micha sind ein geradezu ideales Team.“ Zweifelnd blickte General Hamm auf das Mädchen Tati und ihren Bruder Micha, den jüngsten der Gruppe. „Tati will Tänzerin werden“, grinste Gérard. „Aber Sie können glauben: Sie hat im Weltraum und in der Erde manchen Schreckenstanz überstanden. Ebenso wie Micha. Und der Pudel hat uns auch schon das Leben gerettet.“ Wuff, waff! machte Loulou wieder. „Ich bin hier der Sicherheitsoffizier“, brummte Hamm. „Und, verdammt, es wird mir schwerfallen, mich an kleine Jungen, ein tanzendes Mädchen und einen hopsenden Zwergpudel zu gewöhnen, wo diese Raum- und Erdschiffswerft jeden Augenblick zerstört werden kann.“ Er wandte sich achselzuckend ab. Hinter ihm, dem Professor und Ingenieur Lang verließen die Freunde den H-Transporter, der sie hergebracht hatte. Tati trug den kleinen Hund. „Wo sind wir?“ rief Micha erstaunt. Er hatte erwartet, fünftausend Meter unter dem Eis der Südpolzone Höhlen vorzufinden, einem System von unterirdischen Großstadtgaragen nicht unähnlich. Statt dessen sah er ein endloses Flugfeld unter freiem Himmel. Die Sonne schien hell und warm, und die Füße der Ankömmlinge standen auf Rasen. „Nur der Rasen ist echt“, erkannte Superhirn. „Sonnenschein und Horizont sind künstliche Effekte. Auch die frische Luft ist ein Spezialprodukt. Wer hier unten arbeitet, darf sich nicht durch Sauerstoffgeräte, Kunstlicht und den ständigen Anblick von Wänden beengt fühlen!“ „Stimmt“, sagte Professor Charivari. Plötzlich zeigte sich an einer Stelle der „Landschaft“ unvermittelt ein schwarzer Schlund. Es wirkte, als hätten Riesenfäuste den Kosmos aufgerissen. In Wirklichkeit war nur eine Schleusentür geöffnet worden. Zwei Männer kamen herbeigeeilt. „Werftleiter Mugg und Nachrichten-Auswerter Groebenzell“, sagte der Sicherheitsoffizier düster. „Jetzt werden Sie hören, was hier los ist, Herr Professor!“ „Gut, daß Sie da sind!“ rief Mugg atemlos. In der Aufregung kümmerte er sich nicht um die Freunde und den Pudel. „Wir haben Ihre Fahrt in den Weltraum unterbrochen, weil sich hier etwas Schreckliches anbahnt!“
„Ich halte es für den Anfang vom Untergang“, fügte Herr Groebenzell düster hinzu. „Und ich rate, sofort mit der Evakuierung der Station zu beginnen` „Räumen wollen Sie?“ fragte Professor Charivari, als hätte er nicht recht gehört. „Die Werft mit all ihren Fertigungsstätten, Labors und Großversuchs-Anlagen im Stich lassen ... ?“ Mit seinen beiden Brüdern, die sich zur Zeit auf anderen Geheimstationen befanden, hatte Professor Doktor Charivari eine gewaltige technologische Macht für Friedenszwecke geschaffen. Diese Macht mit ihren ausgewählten Wissenschaftlern und den von ihnen entwickelten Werkstoffen, Hilfsmitteln, Maschinenkonstruktionen und Medien war jeder nationalen oder internationalen Praxis auf der Erde überlegen. Aber um diesen Vorsprung nicht preiszugeben, ihn zu halten und weiter auszubauen, war Charivari auf große Geheimanlagen im All und auf Stützpunkte der Pole und tief unten auf dem Meeresgrund angewiesen. Die kriegsbesessene Menschheit war längst noch nicht reif, mit seinen Erfindungen umzugehen. Ständig mußte er eine Entdeckung fürchten. Ein guter Teil aller Energien seine Wissenschaftler war auf geschickte Abwehr, Irreführung zufälliger Beobachter und auf raffinierte Tarnung ausgerichtet. Diese Südpolwerft für Raum- und Erdschiffe war ein Meisterwerk der Technik. Und das sollte so einfach aufgegeben werden ... ? Ja, aber was ist denn eigentlich los?“ fragte Charivari. Ernst erwiderte Mugg: „Der Ingenieur-Assistent Simpson hat den Schrei eines Esels gehört.“ „Dabei gibt es in dieser U-Station nicht mal das Fell eines Esels!“ vollendete Groebenzell. 2. Abgesandte der Hölle? Die Meldung hätte überall auf der Welt schallendes Gelächter hervorgerufen. Aber für die hochtechnisierte Raum- und Erdschiffswerft tief unter dem Eis der Antarktis war ein Eselsschrei ein ortsfremdes Geräusch. Und ortsfremde Geräusche bedeuteten Gefahr. Die schreckensbleichen Gesichter der beiden Wissenschaftler zeigten das deutlich. „Ist Simpson von einem Arzt untersucht worden?“ fragte Professor Charivari ruhig. Ja“, antwortete der Nachrichten-Auswerter Groebenzell. „Der Befund ergab keinerlei Auffälligkeiten und krankhafte Veränderungen. Simpson ist so urteilsfähig und normal wie Sie oder ich. Dennoch bleibt er dabei, den Schrei eines Esels gehört zu haben.“ „Nun, man kann aus dem Geräusch einer Maschine einen Tierschrei heraushören“, meinte Charivari. „Auch das Hin- und Herrücken von Möbeln verursacht zum Beispiel oft so was wie ein Ihh - Ahh. Vielleicht war's auch nur ein Fetzen Unterhaltungsmusik.“ „Simpson befand sich aber gerade im ruhigsten Teil der Station“, wandte Mugg ein. „Nämlich im Labor für Gesteinsanalyse. Er blickte in ein Elektronenmikroskop. In jenem Raum gibt es keine quietschenden Maschinen, ebensowenig wie man da etwas hin und her schieben kann. Ein Radio war nicht eingeschaltet.“ „Danke“, sagte Professor Charivari. „Das genügt. General Hamm, lassen Sie die Schutzwand um die Station um das Dreißigfache verstärken. Rufen Sie den Krisenstab im Chefgebäude zusammen. Ich übernehme jetzt das Kommando! Geben Sie über Lautsprecher die Weisung durch: Jedes seltsame Geräusch muß mir sofort gemeldet werden!“ Der Sicherheitschef benutzte sein armbandähnliches Mikrofon am Handgelenk. Exakt übermittelte er Charivaris Befehle. Außerdem forderte er zwei Zubringer-Busse für die Ankömmlinge an. Diese achtsitzigen, fahrerlosen Schwebemobile kamen wie aus einem Automaten geschossen durch die trügerische Himmel-Rasen-Wand. „Ist das ein Hund?“ fragte Groebenzell mit einem Blick auf den Zwergpudel Loulou. Ja“, lachte Tati. „Ein echter sogar!“ Sie ließ ihn auf dem Boden herumhopsen. „Gib mal Laut, Loulou!“ Wuff, waff! machte das Tierchen. „Hören Sie, wie er bellt?“ „Nein!“ schrie Herr Groebenzell. „Er bellt nicht, er miaut. Er miaut wie zwanzig Katzen! Das ist ja
nicht auszuhalten!“ Groebenzell hielt sich die Ohren zu und torkelte von einem Bein auf das andere. „Schnell, packt ihn! Hinein mit ihm in den Bus!“ befahl Charivari. „Er muß zum Arzt!“ Mugg, Lang, Tedder und Charivari stießen Groebenzell in eins der Schwebemobile, stiegen dann selbst ein und hielten ihn fest. Sofort setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Den anderen blieb keine Zeit, sich zu wundern. „General Hamm!“ rief Charivari zurück. „Bringen Sie meine jungen Freunde bitte ins Gästequartier!“ Der Sicherheitschef musterte die Gefährten noch finsterer als zu Beginn. „Am liebsten würde ich euch nach Europa katapultieren“, brummte er. „Klettert in den Bus. Hoppla, hoppla. Das Mädchen soll den Köter festhalten. An den Seilen hängen Sturzhelme. Die setzt ihr auf!“ „Das sind keine Sturzhelme“, bemerkte Superhirn sofort. „Und wenn es Kaffeewärmer wären!“ brüllte General Hamm. „Ich hab gesagt, ihr sollt sie aufsetzen. Wird's bald!“ „Tut, was er sagt!“, raunte Superhirn den Gefährten zu. Micha hatte einige Schwierigkeiten mit der seltsamen, pyramidenförmigen Kopfbedeckung. Sie reichte ihm bis an die Nase. General Hamm steuerte den Schwebebus durch den künstlichen Horizont in die riesige, unterirdische Werftstadt hinein, wo die Raum- und Erderkundungsschiffe der verschiedenen Monitor- und GigantoTypen gebaut wurden. Ohne Halt sauste der Bus durch mattglänzende, von diffusem Licht erhellte Tunnels. Erst nach einer ganzen Weile ging es über ei ne Brücke. „Eine neue Erdrakete!“ schrie Micha. Der Anblick tief, tief unten in der offenen Schiffswerkstatt war atemberaubend: Da lag der gewaltige Kegel der neuen Tiefenrakete unter einer gleißendhellen Lichtglocke. Eine „Wolke“ von vergleichsweise winzig wirkenden Werftarbeitern schwebte auf Luftdüsen um seinen Rumpf herum. Wie tausend Diamantnadeln blitzten die Elektronenstrahlschweißgeräte. Schwupp - lag die Brücke hinter ihnen. Und wieder gelangten sie auf eine Lichtung mit echtem Rasen und künstlichem Sonnenlicht. Hier gab es sogar einen Teich, an dessen Ufer kleine Elektroboote lagen. Auf dem Rasen waren Luftmatratzen, Liegestühle, Campingmöbel und Strandkörbe zu sehen. „Ziemlich weitgehende Vortäuschung“, erklärte General Hamm. „Aber die Anfänge dazu wurden ja schon in unseren Großstädten gemacht: Da werden auch Rasenflächen, Teiche, Blumenbeete und Baumgruppen künstlich angelegt. Weniger Natur an sich, sondern mehr als Erinnerung an die Natur. Die unverfälschte Natur suchen wir in den sogenannten Naturschutzgebieten, die längst durch den Eingriff des Menschen ihre Ursprünglichkeit verloren haben.“ Der Schwebebus hielt vor einem hübschen, von lustig bunten Terrassen umgebenen Flachbau. „Das Gästequartier“, sagte General Hamm. „Es ist leer, aber bezugsbereit. Ihr werdet darin alles finden, was ihr braucht. Macht's euch bequem. Aber versucht nicht, die Lichtung zu verlassen. Ihr werdet nur gegen Wände rennen.“ „Und wie erreichen wir den Professor?“ fragte Prosper mißtrauisch. „Telefonisch. Ich nehme an, er wird sich von selber melden.“ „Verhungern müssen wir nicht?“ vergewisserte sich der stämmige Gérard. „Im Gegenteil“, erwiderte Hamm. „Alle Lebensmittel werden automatisch von der Zentralküche ergänzt. Da könntet ihr allenfalls platzen. Nun steigt rasch aus. Ich muß zum Krisenstab. Hängt bitte die Sturzhelme wieder neben die Sitze!“ „Das sind keine Sturzhelme“, sagte Superhirn noch einmal. „Nein!“ Der Sicherheitschef grinste. „Du scheinst wirklich sehr gescheit zu sein. Aber ich weiß jetzt wenigstens, was du von mir denkst. Du hältst mich für einen aufgeblasenen, unfähigen Affen. Und du...“, er wandte sich an Tati; „... du denkst, ich wär ein verkappter Verräter, der in der Werftstadt Unruhe stiftet, um Professor Charivari zu entmachten!“ „Das...“, schluckte das Mädchen, „... das habe ich nicht gesagt!“ „Aber gedacht hast du's“, lachte Hamm schaurig. Er brachte das Schwebemobil in Schwung und verschwand unter dem künstlichen Horizont.
Wuff, waff! hustete ihm Loulou wütend nach. Tati war noch immer bestürzt. „Es stimmt, mir ist der Mann unheimlich. Ich dachte, das Theater mit dem Esels- und Katzengeschrei hat er angezettelt, weil er Verwirrung und Unruhe stiften will!“ „Und ich hielt ihn im stillen tatsächlich für unfähig“, lachte Superhirn. „Das hatte er sehr schnell spitzgekriegt - eben, weil die Helme keine Sturzhelme waren!“ „So-so-sondern?“ stotterte Prosper. „Gedanken-Verstärker“, erriet Henri. „Das waren jedenfalls die, die wir aufhatten! General Hamm selber trug einen Gedanken-Empfänger auf dem Kopf. Das Ding hat uns abwechselnd angepeilt, und so erfuhr er, was wir alle dachten!“ „Aber wozu?“ rief Micha wütend. „Wenn er wirklich so 'nen schlauen Hut auf seiner Birne hatte wieso hat er dann nicht gemerkt, daß ich einen Becher Eis essen wollte? An Bonbons habe ich auch gedacht!“ „Na, das hat ihn wohl weniger interessiert“, vermutete Superhirn. „Er wollte hauptsächlich wissen, ob er uns trauen kann. Er wehrte sich auch sofort dagegen, daß Kinder diese Südpolstation betreten sollten. Nun hat er höchstwahrscheinlich darauf geluchst, ob einem von uns durch den Kopf ginge: Ah, was ich hier sehe, muß Ich zu Hause meinen Schulfreunden erzählen!... „Hm“, murrte Gérard. „Da hat er jedenfalls falsch geluchst. Von mir aus kann er sich nächstesmal drei Gedanken-Türen übereinander auf den Kopf stülpen. Wir haben bisher nichts verraten, da werden wir's künftig auch nicht tun. Aber ich schlage vor, wir gehen jetzt in das Gästehaus.“ „... und be-be-besprechen die Lage“, fügte Prosper hinzu. 3. Zwischen Spaß und Grauen Der Flachbau hatte fünf jeweils von der Terrasse her erreichbare Appartements. Superhirn und Henri wählten Nummer 1, Gérard und Prosper Nummer 2, Tati und Micha mit Loulou Nummer 3. Auf dem Weg ins Weltall, mit dem Raumschiff Monitor, war Professor Charivari zur Südpolstation gerufen worden. „Was hältst du vom Benehmen des Werftleiters und des Nachrichtenchefs?“ wollte Henri von Superhirn wissen, als sie sich in ihrem gemeinsamen Quartier umsahen. „Bei der Ankunft überfallen sie den Professor damit, daß er diesen Stützpunkt räumen lassen soll.“ „Wegen eines Eselsschreis“, nickte Superhirn. Er äugte durch die kreisrunden Brillengläser. „Eine prima Wohnung. Hier gibt's wahrhaftig alles.“ „Wie?“ fragte Henri verblüfft. „Ich sehe nur zwei Sofas und eine Sitzecke!“ Superhirn drückte auf einen Knopf neben der Tür. Im nächsten Moment schoben sich die Trennwände der Appartements auseinander, die Tische glitten geräuschlos zusammen, Bänke und Sessel reihten sich wie von Geisterhand bewegt hinzu. Gérard war, auf einer Tischkante sitzend, in die Mitte des Großraums gerutscht. Micha und Tati drehten sich auf Sesseln heran. Prosper stand wie erstarrt an einem der Ausgänge -und der Pudel hustete vor Schreck. „Das ist die erste Raffinesse!“ lachte Superhirn. „Von Appartement 1 aus kann man die Raumeinteilung des Hauses verändern. Ich wünsche euch allen einen schönen guten Tag!“ „He, das ist gemein!“ rief Tati. „Einbruch in unsere Intimsphäre! Wie kommst du dazu?“ „Verzeihung, mein Fräulein“, grinste der junge. „Vielleicht sorgen Sie erst einmal für das Essen? G6rard sieht schon ganz verhungert aus.“ Er drückte wieder auf den Knopf, die Möbel rückten geräuschlos an ihre früheren Plätze, und die Trennwände der drei Wohnungen schoben sich wieder zusammen. „Siehst du? Die Einteilungsskizzen für gewünschte Veränderungen befinden sich neben der Knopfreihe an der Wand“, erklärte Superhirn. „Und gegenüber sind die Sichtschilder für Bad, Brause und Küche. Die beiden Sofas dahinten werden sich, denke ich, durch Drehung in Betten verwandeln, wenn wir den entsprechenden Kontakt berühren. Und dort, über dem Wandtelefon, zeigt eine
Leuchtschrift: Dienstbereit für alles!' Ich nehme an, wir brauchen unsere Wünsche nur hineinzusprechen, und wir kriegen, was wir wollen.“ „Ich will erst mal ´ne Antwort auf meine Frage“, erinnerte Henri. „Was ist in der Geheimstation los?“ Superhirn wurde ernst. „Einer hat den Schrei eines Esels gehört - und daraufhin soll die ganze unterirdische Werft im Stich gelassen werden ... Professor Charivari hört das und gibt Befehl, die Abschirmung um das Dreißigfache zu verstärken. Um das Dreißigfache! Gewiß nicht, weil er sich vor dem Eindringen eines Esels fürchtet.“ „Sondern...“ Superhirn wich aus. Statt dessen sagte er: „Wir haben erlebt, wie der Nachrichtenchef statt Bellen plötzlich Miauen hörte. Jetzt findet eine Besprechung in der Kommandozentrale statt. Die Männer benahmen sich, als stünde ein Atomkrieg vor der Tür.“ „Das fand ich auch“, sagte Henri. „Aber wie erklärst du dir das? Und was folgerst du daraus?“ „Eines kann ich dir jetzt schon verraten“, entgegnete Superhirn. „Was?“ fragte Henri gespannt. „Wir stecken tief in einem neuen Abenteuer“, antwortete der spindeldürre Junge düster. Das Telefon summte. Rasch nahm er den Hörer ab. Doch es meldete sich nur Tati, und ihre Stimme klang vergnügt. „Du“, teilte sie mit, „wir sind mal wieder in einem Schlaraffenland des Professors! Ich habe die Vermittlung angerufen. Wir kriegen alles, was wir wollen! Komplettes Waschzeug findet ihr im Bad. Ich schlage vor, ihr duscht euch auch erst mal. Dann kommt ihr alle ins Appartement 3 zum Essen!“ Eine Viertelstunde später versammelten sich Superhirn, Henri, Gérard und Prosper sauber und erfrischt in Tatis und Michas Wohnung, „Wann bekomme ich endlich mein Eis?“ maulte Micha. „Und ich meinen Schweinebraten?“ seufzte Gérard. „Ich habe einen Mordshunger!“ „Ich habe die Tür da geöffnet, ich dachte, sie führt in die Küche“, sagte Tati ein wenig ratlos. „Aber ich sehe nur eine Klappenwand.“ „Gib die Bestellungen durchs Telefon“, riet Superhirn. „Wahrscheinlich kann man die Eßtabletts dann aus diesem Klappenschrank nehmen.“ „Eis!“ schrie Micha. „Eis und Ölsardinen!“ „Schweinebraten mit Rehrücken“, rief Gérard. „Zehn - zehn - zehn Rouladen mit Apfelsaft“, überhaspelte sich Prosper. „Quatsch!“ stoppte Henri das Durcheinander. „Wir müssen uns einig sein, was wir genau wollen. Sonst kann uns die Küche gleich einen Eimer voller Abfälle schicken! Also, Micha - überleg mal!“ „Vanille-Eis mit flüssiger Schokolade, ein halbes Brathähnchen mit jungen Erbsen und Röstkartoffeln“, sagte der Jüngste prompt. „Dazu einen Becher Milch - und danach Bonbons und Kekse.“ Tati nahm den Hörer ans Ohr: „Hallo, Vermittlung? Hier Gästehaus, Appartement 3. Ich möchte sechs Speisefolgen bestellen, ja. Und eine Schüssel Reis für den Pudel. Wie? Jawohl, ich beginne...“ Sie nannte Michas Wünsche. „Kommt das dann aus dem Wandschrank? Gut! So, nun meine Bitte: Joghurt, verschiedene Salate, zwei Paar Würstchen, einmal Birnensaft und Zitronencreme ... Moment, ich frage jetzt die anderen.“ „Von Schweinebraten mit Rehrücken geh ich ab“, brabbelte Gérard. „Dafür nehm ich zweimal Rehrücken, gespickt, ach so: vorher natürlich eine Bouillon mit viel Weißbrot und einem Haufen Butter. Zum Fleisch bitte Rotkohl und Salate ... Eine Flasche Apfelsaft nebenher wär nicht schlecht. Hm. Nach dem Hauptgang würde mir Omelette schmecken. Und wenn ich danach noch zwei oder drei Bananen kriegen könnte?“ „Nun reicht´s aber“, sagte Tati. „Vielleicht noch 'ne Tüte Gips, um den Magen zu schließen?“ Doch sie gab Gérards Bestellung durch. Plötzlich stutzte sie. Ihr Gesicht nahm einen merkwürdigen Ausdruck an.
„Was ist?“ fragte Superhirn aufmerksam. „Verweigert die Küche so 'ne irrsinnige Bestellung?“ „N-n-nein...“, hauchte Tati. „Im Gegenteil: Das Küchenfräulein notiert alles. Alles! Nur. ..“ Sie ließ den Hörer fallen und griff sich an den Kopf. „Da ist ein Papagei am Telefon. Ein Papagei! Er kreischt ganz fürchterlich. Ich ... ich ...“ Sie wich ein paar Schritte zurück. Superhirn fuhr wie von der Sehne geschnellt in die Höhe und sprang an den Apparat. Doch er hörte nur eine ruhige Frauenstimme, die freundlich wiederholte: „... eine Flasche Apfelsaft, eine Omelette, zwei oder drei Bananen...“ „Augenblick“, unterbrach der junge. Er wandte sich an Tati: „Da ist kein Papagei. Bist du ganz sicher, einen gehört zu haben?“ „Auf Ehre!“ rief Tati. „Unsere Tante hat einen, daher kenn ich das typische Gekreisch. Außerdem hat er sinnlose Wörter aneinandergereiht. Ich spinne wirklich nicht! Frag Henri und Micha!“ Henri und sein jüngerer Bruder bestätigten sofort, daß ihre gemeinsame Tante einen solchen Vogel besäße. „Na ja, warum soll in der Küche nicht auch mal ein Papagei sein“, lenkte Superhirn gelassen ein. Er gab die weiteren Bestellungen auf: Für Prosper geraspelte Mohrrüben mit frischen Zwiebeln, eine Portion Gulasch mit viel Paprika, zwei Salamibrote und sechs kleine Gurken - sowie ein Glas Himbeersaft. Sodann für alle eine Käseplatte. Für sich selber verlangte er nichts als ein gequirltes rohes Ei. „Er muß seine Gedanken eingeschmiert halten“, spöttelte Gérard. „Sag mal, was denkst du, wo Superhirn seine Gedanken hervorbringt? Im Magen?“ lachte Prosper. Henri fragte scharf: „Was war das da mit dem Papagei?“ „Wohl dasselbe wie mit dem Esel und mit der Katze“, erwiderte Superhirn tonlos. Er sah auf einmal sehr elend aus. „Ich - ich hoffe, das Essen wird euch trotzdem schmecken ...“ Er sank in einen Sessel. Henri begriff sofort, daß sich die furchtbare Ahnung des Freundes noch bestätigt hatte. Da war etwas im Gange - und weder er noch die anderen konnten sich zusammenreimen, um was es sich handelte. Schnell versuchte er, die Stimmung zu retten. „In so 'nem unterirdischen Stützpunkt dreht jeder mal ein bißchen durch“, rief er munter. „Das verdirbt uns aber nicht den Appetit! He, Tati, am Klappenschrank blinken Lämpchen! Ich schätze, die ersten Speisefolgen sind da!“ Das wirkte. Neugierig drängten Prosper, Gérard und Micha hinter dem Mädchen zur Küchenwand. Drei der Klappen sprangen auf. Tati nahm die Tabletts heraus und reichte sie weiter. Es dauerte nicht lange, und die übrigen Gedecke und der Reisnapf für den Pudel waren da. „wie wird denn das Essen in den Klappenschrank geschossen?“ wunderte sich Micha. „Soviel ich gesehen habe, steht dieses Gästehaus allein auf der Lichtung!“ „Aber darunter führen Versorgungskanäle zur Zentralküche“, vermutete Superhirn. Jm Schrank werden die Speisen hochgeliftet. Zauberei ist dabei nicht im Spiel.“ Die in Folien gehüllten Tabletts waren praktisch. Mit ihren Einteilungen und Vertiefungen lieferten sie für jede Person ein mehrteiliges Tischgedeck. Die Freunde unterhielten sich wieder recht munter. Sie aßen mit Behagen. Gérard war bereits bei seinem Omelett angelangt, als der Pudel an seiner Reisschüssel bedrohlich zu knurren begann. Tati drehte sich um. „Komisch.“, sagte sie. „Loulou, was hast du denn?“ rief Micha. „Der tut, als wäre jemand mit an seinem Napf“, meinte Henri. „So knurrt er nur, wenn ihm einer sein Fressen wegnehmen will.“ „Oder wenn er es gegen einen fremden Hund oder 'ne Katze verteidigen muß“, fügte Tati hinzu. Sie wollte aufstehen, doch Superhirn befahl: „Bleib sitzen! Faß den Hund nicht an! Daß keiner nach dem Napf greift! Micha! Das gilt auch für dich!“ Der Pudel zog die Lefzen hoch. Das Weiß seiner hervorquellenden Augen schimmerte unheimlich durch die schwarzen Stirnhaare. Auf einmal stürzte er sich wie rasend auf eine Stelle - in der nichts zu sehen war. Er überkugelte sich, kam wieder auf die Beine, drehte sich blitzschnell im Kreise und
schoß mit einem Satz schräg in die Höhe. Sein Bellen, Knurren, Keuchen und Husten zeugte von furchtbarster Aufregung. „Er kämpft“, murmelte Superhirn. „Er kämpft mit einem unsichtbaren Gegner!“ Die Freunde folgten dem unheimlichen Schauspiel mit wachsender Verwunderung. jämmerlich japsend blieb das Tierchen stehen. Der Kampf schien ausgekämpft zu sein. Mit hängenden Ohren, kläglich winselnd, kam es auf Tati zugetrottet. Henri schob sein Tablett zurück. Ihm schmeckte plötzlich die Zitronencreme nicht mehr. Es erschien ihm auch zwecklos, den anderen weiterhin etwas vorzumachen. „Es war 'n unsichtbares Tier im Raum“, sagte er heiser. „Superhirn und ich, wir sind uns längst darüber klar, daß das mit dem Eselsschrei und dem Katzenmiauen nicht gesponnen war ... So hat Tati auch wirklich einen Papagei am Telefon gehört - und der Pudel hat neben sich irgendwas bemerkt. Sicher 'ne Katze. Es ist mir jetzt klar, warum Mugg und Groebenzell rieten, diese Werftstation zu räumen.“ „Weil - weil ein Feind unsichtbare Tiere eingeschleust hat?“ stotterte Prosper. „Vielleicht welche, die 'ne tödliche Krankheit übertragen sollen, um Charivari und seine Technologen zu vernichten?“ „Quatsch!“ meinte Gérard seelenruhig. Er widmete sich jetzt einer Banane. „Denk doch mal nach! Wer wird denn ausgerechnet einen Esel, eine Katze und einen Papagei gegen Raum- und Erdschiffe einsetzen? Das müßte ein verrückter Zirkusdirektor sein. Oder 'n bescheuerter Zoodirektor. Abgesehen davon, daß es in keinem Land ein Spray gibt, mit dem man Viecher unsichtbar machen kann.“ Jetzt lachten alle. Alle - außer Superhirn. „Als ich Loulou eben seinen Luftkampf ausfechten sah“, sagte er gepreßt, „dachte ich auch, er kämpfte gegen einen unsichtbaren Eindringling. Aber dann fiel mir Näherliegendes wieder ein. Professor Charivari arbeitet doch auf all seinen Stationen mit Gedanken-Empfangsgeräten. Die Raumstation Monitor war die erste, die mit ihrem besonderen Hirnwellen-Analysatoren todesgefährliche Gedankenströme aus dem Innern der Erde sichtbar registrierte. . „Vom Ragamuffin!“ rief Micha entsetzt. Gérard legte den Rest seiner Banane hin. Er und die anderen starrten den spindeldürren Jungen an. Superhirn nickte. „Den Ragamuffin meine ich. Den Boß der unbekannten innerirdischen Macht, die Charivaris Geheimstationen auf der Erde, im freien Weltraum und auf anderen Planeten vernichten will. Dieser Ragamuffin und sein Volk, das wir die Vavas nennen - und von denen die Menschen nicht die bloßeste Ahnung haben -, arbeiten mit einer einzigen Waffe ...“ „Nun ja, mit Gedankenströmen“, sagte Henri ungeduldig. „Das haben wir ja schon öfter erlebt. Der Erdboß hat uns die ganzen Ferien in Monton am Atlantik versaut. Er stellt uns nach, weil wir Charivaris Mitwisser sind. Weiß der Teufel, was er sich davon verspricht, etwa den Zwergpudel zu erwischen!“ „Die Vavas haben keine allzugroßen Kenntnisse von den Machtverhältnissen auf der Erdoberfläche“, erinnerte Superhirn. „Sie halten den Professor für den Weltherrscher, und sie meinen aus irgendeinem Grund, er sei ihr Feind. Sie haben seine Stationen bisher mit Unguts- oder Unmutsstrahlen beschossen, bösen, verwirrenden Gedanken, um die Besatzungen übellaunig oder gar tobsüchtig zu machen. Der Ragamuffin hat aber auch schon mit eisigen und mit durchbohrenden Hirnwellen gearbeitet. Und schließlich haben wir unseren Schiffbruch mit der Erdrakete Giganto noch in den Knochen: Ob wir da in einen innerirdischen Minengürtel besonders brisanter Ragamuffin-Batterien geraten sind, ob er das Erdschiff durch Fernzündung verschiedener Gedankenspeicher vernichtet hat, werden wir niemals rauskriegen.“ „Aber was hat das mit den Tierstimmen in dieser Südpol-Station zu tun?“ drängte Tati. „Etwas, das sich logisch aus allem Erlebten folgern läßt“, erwiderte Superhirn. Henris Augen weiteten sich. „Du meinst - die Tierstimmen kommen per Hirnwellen-Beschuß aus der Erde? Und sie dringen sogar durch Charivaris zigfache Strahlen-Abschirmung?“ „Genau das meine ich. Der Ragamuffin arbeitet seit heute mit akustischen Halluzinationen. Deshalb waren die Männer so aufgeregt. Denn wohin das führen kann, ist nicht auszudenken. Anders gesagt:
Es ist nur zu gut denkbar. Denn wenn einer den anderen krähen hört, der dritte den vierten bellen, der fünfte den sechsten miauen und so weiter - dann gibt es Tumult und am Ende Mord und Totschlag!“ ,Aber - aber woher kommt es, daß ich den Papagei gehört habe und du nicht?“ fragte Tati. „ja!“ nickte Superhirn. „Und weshalb hörte nur Herr Groebenzell das Miauen - und wir nicht? Meiner Meinung nach liegt das an der nicht steuerbaren Aufnahmebereitschaft des Unterbewußtseins. Der eine hat überhaupt keine Antenne' für so was, der zweite ist ständig empfangsbereit; die große Masse empfängt' nur Sekundenbruchteile lang, und dann nur unter nicht erklärbaren Bedingungen. Die Papageienstimme funkt' wahrscheinlich noch immer, ohne daß sie jemand aufnimmt'. Und der Pudel am Freßnapf hat bereitwillig ein fremdes Hundegebell oder ein Katzenmiauen erhört; denn ein Hund, der frißt, öffnet sein Unterbewußtsein instinktiv für ein Annäherungszeichen seiner Feinde.“ Er unterbrach sich, denn das Telefon summte. Rasch nahm er den Hörer ab. „Hier Gästehaus, Appartement V“, meldete er sich. Er vernahm die Stimme Charivaris. „Superhirn? Seid ihr alle zusammen? Schön. Haltet euch bereit. Die Zerstörung der Werftstadt hat begonnen. Drei Sektoren sind bereits ausgefallen. Der Kampf aller gegen alle nähert sich dem Konferenzhaus. Ich werde versuchen, euch in meinem neuen Giganto hinauszubringen.“ „Gut. Verstanden. Wir warten“, erwiderte der junge. Er hängte den Hörer ein und drehte sich um. Der Professor kommt ..., wollte er sagen. Doch das Wort blieb ihm im Halse stecken. Tati und die Jungen waren nicht mehr da ... 4. Überfall der Tiere Nein - Tati, die Jungen und den Pudel Loulou sah Superhirn nicht mehr. Dafür aber ... Der Junge griff sich an den Kopf und stieß einen gellenden Schrei aus: Ein ekelhaft grinsendes Krokodil kroch über den Fußboden, öffnete die zahnbewehrten Kiefer und ließ sie blitzschnell zusammenklappen. Woher kam denn dieses Reptil? Und was hatte es da auf dem Fußboden des Appartements erwischt? Superhirn sah etwas zappeln. Nun öffnete das Krokodil seinen Rachen, und der junge sah das zappelnde Etwas wieder. Ein Huhn ... „Hilfe!“ schrie Superhirn. Er griff nach dem Telefonhörer: „Vermittlung!“ keuchte er. „Vermittlung! Bitte Chefhaus, Professor Charivari!“ „Was ist denn?“ meldete sich der Professor ungehalten. „Ich hatte doch gesagt, ich hole euch!“ „Aber die anderen sind nicht mehr da!“ rief der Junge. „Hier kriecht ein Krokodil herum. Hilfe! Seine Schnauze berührt mein Bein! Es hat ein Huhn gefressen...“ „Unsinn“, unterbrach Professor Charivari. „Nimm dich zusammen, Superhirn. Das sind alles Hirngespinste, verstehst du? Hirngespinste!“ „Ja“, stöhnte Superhirn, sich den Schweiß von der Stirn wischend. „Ich komme jetzt mit dem neuen Giganto“, sagte Charivari. „Du mußt unbedingt die Nerven behalten. Versprich mir das: Muh, muuuh, muuuhumuuuuuh...“ Der Professor brüllte wie ein verletztes Rind. Superhirn ließ den Hörer fallen. „Na, was ist?“ ertönte hinter ihm die vertraute Stimme Gérards. Superhirn fuhr herum und blickte einem Menschenaffen ins Gesicht. Hinter dem Affen torkelte ein scheußlicher Vogel Strauß von einem Bein aufs andere. Ein Eisbär hatte sich auf die Hinterpranken gestellt. Neben ihm schlug ein Condor rasend mit den Flügeln. Superhirn wollte zum Ausgang, aber da stürzten sich die Tiere auf ihn. Der junge glaubte Zähne, Krallen, Klauen und Schnabelhiebe zu spüren. Auf einem Sofa fand er sich wieder. Und plötzlich sah er über sich die besorgten Gesichter der Freunde. „Hörst du mich?“ fragte Tati. „Weshalb hast du dir die Brille von der Nase gerissen? Und warum
hast du schreiend auf den Fußboden geguckt, als ich den Pudel aufhob?“ „Du - du warst das Krokodil?“ ächzte Superhirn. „Und Loulou war das Huhn, das du gefressen hast!“ „Er ist übergeschnappt“, bibberte Micha. „Warum sah ich in Micha einen Condor?“ murmelte Superhirn weiter. „Denn daß der Affe wie Gérard, gegrunzt hat - und der Vogel Strauß wie Prosper mit dem Kopf ruckte, ist mir klar. Der Eisbär muß Henri gewesen sein!“ „Nun langt´s mir aber!“ rief das Mädchen. „Ich ein Krokodil! Hab ich etwa Zähne wie so 'n olles Kriechtier? Und etwa solche Beine? Und wen oder was soll ich gefressen haben?“ „Ruhe!“ gebot Henri. „ Was für Biester er in uns gesehen hat, spielt keine Rolle. Das Wesentliche ist: Superhirn hat Tiere gesehen, während bisher nur Tiere gehört wurden. Das ist neu!“ Superhirn fuhr hoch. Sein Verstand arbeitete wieder glasklar. „Richtig, Henri“, sagte er. „Bitte, Tati, gib mir die Brille. Mich muß ein starker Strom getroffen haben, der nicht nur akustische, sondern auch optische Halluzinationen auslöste. Die RagamuffinHirnwellen sind, wenn ich's mal so sagen darf, mit Tierstimmen und Tierbildern präpariert.“ „Er funkt also Ton und Bild?“ fragte Gérard spöttisch. „Na, eine Fußballspiel-Übertragung wäre mir lieber!“ „Die Halluzinationen sind sehr, sehr stark“, überlegte Superhirn. „Sie überlagern alles andere, daher wird die Urteilskraft umnebelt. Ich sah euch nicht mehr, dann erblickte ich das Krokodil und dann tauchten die anderen als Affe, Bär - und so weiter - aus dem Dunst. Hirngespinste' sagte Charivari am Telefon. ja, sicher! Doch wie wehrt man sich dagegen? Ich hörte ihn plötzlich nicht mehr sprechen, sondern brüllen wie einen angestochenen Ochsen. Natürlich war das auch eine Halluzination!“ „Wir müssen von hier weg“, sagte Tati nervös. „Hoffentlich holt uns der Professor, bevor er selber weiße Mäuse sieht.“ Micha öffnete die Tür und blickte auf die Lichtung. „Was schnüffelst du so komisch?“ rief Prosper. „Bildest du dir etwa ein, du bist Loulou?“ „Ich bilde mir ein, daß es irgendwo brennt“, erwiderte der jüngste. Im Nu standen alle vor dem Haus. Knurrend und schnuppernd zog der Pudel seine Kreise. „Auf Charivaris Geheimstation gibt es doch nicht einen einzigen brennbaren Gegenstand“, wunderte sich Henri. „Nein, aber Explosivstoffe in Mengen“, erklärte Superhirn. „Chemikalien flüssige und feste TreibSubstanzen, Sprengmaterialien unterschiedlicher Art, ach, ich weiß nicht, was noch alles...“ Er zog die Luft ein. ja, ich spür´s auch!“ „Man sieht aber keinen Rauch“, sagte Tati. Sie blickte in den vorgetäuschten Sonnenhimmel, über den Rasen und den Teich mit den Booten. „Die Lichtung ist gut isoliert“, brummte Gérard. „Der Himmel und der Horizont bestehen aus undurchdringlichen Wänden, möcht ich wetten. Wir sind in einem großen Raum, der wie eine Theaterbühne ausstaffiert und eingeleuchtet ist.“ „Bravo, Gérard!“ rief Tati. „Wenn wir Superhirn in die Klapsmühle bringen müssen, trittst du an seine Stelle.“ Wumm...! machte es hinter ihnen. Wummm ... ! Aus dem Dach des Gästehauses schlug eine Stichflamme. „Zurück!“ schrie Superhirn. „Haltet Loulou fest! Fort vom Haus!“ Er machte den anderen klar, daß da Gase in den Küchenschacht gedrungen und explodiert seien. Wumm, wumm, wumm ...! jetzt barst das Dach an mehreren Stellen. Kunststoffteile prasselten auf den Rasen. Eine Wand legte sich schräg. Die Flammen stoben spitz und gleichmäßig durch die Lücken, als würden sie aus Düsen genährt. „Dacht ich mir´s!“ rief Superhirn. „Gase! Gase aus den Versorgungskanälen!“ „Der Boden unter mir wird heiß“, bemerkte Micha. „Seht mal, seht! Der Rasen wird ganz gelb!“ Sie rannten zu den Elektrobooten. Prosper besetzte das erste und fuhr sofort ab, als gelte es, an ein rettendes Ufer zu gelangen. Henri und Micha sprangen in das zweite, Gérard und Tati in das dritte Boot. Superhirn nahm das vierte.
Eine seltsame Kahnfahrt. Tati lachte, um nicht zu weinen. Lautlos glitten die Boote inmitten der Lichtung über den künstlichen See. Die Bläue des Grundes, die schmetterlingsgelben Kacheln des Gestades und die lustig gemusterten Strandmöbel konnten das Auge erfreuen. Doch das schöne Hotel war zerstört, und Flammen mit abgestufter Färbung rauschten immer noch daraus hervor. Der Rasen verlor zusehends seine Frische, und die Luft wurde wärmer und schwerer. „Wohin?!“ brüllte Prosper, der das Unsinnige des Umherfahrens einsah. Schließlich befand man sich nicht in der freien Natur, sondern in einer „auf Natur getrimmten“, abgeschlossenen Halle unter dem Eis der Antarktis. ,Pas Wasser fängt an zu dampfen!“ gellte Michas Stimme. „Superhirn, warum tust du nichts?“ Doch der spindeldürre junge war längst dabei, Verbindung mit dem Professor zu suchen. Fieberhaft nestelte er an seinem armbanduhrähnlichen Signalgerät. Ohne Fahrt lag sein Boot mitten auf dem See. Die anderen flitzten in Schleifen und Kurven um ihn herum. „Ans Ufer!“ schrie Prosper. „Ich such einen Ausgang in dem ver-ver-verrückten Ho-Horizont!“ Bums! Sein Boot knallte gegen das Gestade. Prosper sauste über den Bug auf den Rasen, sprang aber sofort auf und vollführte groteske Sprünge. „Der Boden glimmt! Verflixt! Wir verbrennen und ersticken!“ „Und werden abgekocht!“ heulte Micha. „Der Teich wird immer wärmer!“ Prosper humpelte über die scheinbar endlose Wiese. Aber da begann es zu grollen, als ziehe über der trügerischen Sonnenlandschaft ein Gewitter auf. Der Boden erbebte. Und plötzlich tat sich vor Prosper der „Himmel“ auf. Langsam, wie im Zeitlupentempo, brach eine Wand von gewaltiger Höhe schräg von links oben nach rechts unten aus der Lichtung heraus. Dahinter kam eine mächtige Werkhalle mit zwanzig, dreißig kugelförmigen Behältern und unzähligen Rohrleitungen zum Vorschein. Man sah die Riesenlücke nur einen Augenblick, dann verschwand sie hinter einem Feuervorhang. Das Boot von Henri und Micha krachte gegen das von Tati und Gérard. Alle tasteten mit den Händen an ihren Köpfen herum. In dieser Hölle wußten sie nicht, ob sie sich die Ohren, die Augen oder die Nasen zuhalten sollten. Superhirn sah die enorme Aufstülpung im gegenüberliegenden Horizont als erster. Der sonderbar schimmernde Rumpfteil eines Spezialschiffes hatte sich an die Lichtung herangeschoben, eines Spezialschiffes - etwa von der Größe eines riesigen Tankers. „Erdschiff Giganto!“ rief Superhirn. „Das ist der Professor! Er holt uns raus! Prosper, Prosper, komm her!“ Und schon ertönte Charivaris Stimme durch einen Verstärker: „Beeilt euch! Der Raum unter dem See geht gleich hoch!“ Prosper wollte in sein Elektroboot springen, verfehlte es aber und landete im Wasser. „Aua... aua...“ jaulte er, wild um sich schlagend. „Ich ertrinke! Ich werde gesotten! Aua ... !!“ „Vorläufig nimmst du nur ein heißes Bad“, sagte Superhirn. Er zog den pitschnassen Freund in sein Boot. „Aber jetzt los! Sonst kann man uns dem Ragamuffin wirklich als Brühfleisch servieren!“ Sie landeten am anderen Ufer und liefen auf das Erdschiff zu. „Wir schaffen´s nicht!“ japste Gérard. „Der Rasen brennt, Der Boden hat Risse ... Und die ätzenden Dämpfe...“ Er hustete. „Nicht sprechen!“ keuchte Superhirn. Taschentücher raus! Tati, halt den Hund fest!“ Verschiedenfarbige Nebelschwaden stiegen aus den Ritzen im Boden empor und legten sich in Schichten über- und nebeneinander. Diese gefährlichen, regenbogenähnlichen Schwaden nahmen den Freunden die Sicht, da ihnen die Augen tränten. Der Giganto schien auf einmal verschwunden zu sein. „Wir fassen uns an den Händen“, keuchte Superhirn. „Vorwärts! Nicht loslassen, Prosper!“ Ein greller Scheinwerfer durchdrang die Schwaden. Die Stimme Charivaris dröhnte hohl: „Nach dem Licht richten! Da ist der Eingang! Immer auf das Licht zu!“ Hinter ihnen brodelte der See. Superhirn hatte die Bordtreppe erspäht. „So“, sagte er, „erst Micha und Tati. Dann Prosper. Jetzt
Gérard.“ Er selber betrat hinter Henri das Schiff. Die Luke hatte sich noch nicht geschlossen, als eine Unterboden-Explosion die Lichtung zusammenbrechen ließ. Wo eben noch der See gewesen war, gähnte jetzt ein schwarzes Loch. 5. Großangriff des Ragamuffin Im Befehlsraum des Giganto, der in seiner Größe und seiner raffinierten Schlichtheit eher einer Hotelhalle als einem Kommandostand glich, merkte man nichts von der Verheerung, die neben, unter und über dem Schiff in der unterirdischen Südpolstadt tobte. Die Freunde hatten gedacht, Charivari habe einen Teil der Stationsbesatzung an Bord, um sie zu evakuieren. Doch er trat ihnen ganz allein entgegen. Seine geschwungenen schwarzen Augenbrauen mit der gurkenförmigen, kahlen Stirn verliehen ihm etwas jugendliches, das schlecht zu den schimmernden Augen, den hohlen Wangen mit dem ebenfalls lackschwarzen Strippenbart paßte. Seine hohe Gestalt steckte in einem sportlich-flott wirkenden Overall, so daß er wie ein Trainer wirkte. Aber die Taschen, Litzen, Züge und Aufnäher dienten elektronischen Signalzwecken. Charivari war seine eigene, wandelnde Befehlszentrale. Als erstes bestätigte er Superhirns Vermutung. „Der Ragamuffin beschießt uns mit Hirnwellen, die akustische und optische Täuschungen in vielen Köpfen auslösen. Sonderbarerweise beschränken sich diese Täuschungen auf Tierstimmen und Tierbilder.“ „Das reicht“, sagte der Junge, seine Brille putzend. „Wenn ihre Leute dauernd Elefanten, Löwen, Hyänen und wer weiß was für Bestien gehört und gesehen haben, na, dann mußten sie ja um sich schlagen!“ „An einigen Stellen der Station hat es einen Kampf aller gegen alle gegeben“, berichtete Charivari. „Dabei ging in den Labors manches zu Bruch, ebenso in den Lagerhallen. Einige Männer versuchten, die Tiervisionen mit Feuer zu bekämpfen. Den Erfolg' habt ihr ja auf eurer schönen Wiese miterlebt!“ Ja, aber was ist nun?“ rief Tati. „Uns bringen Sie raus. Und die Station soll verbrennen? Und - und Ihre Kollegen?“ „Der Krisenstab hat beschlossen, die Besatzung äußerstenfalls mit den vorhandenen Weltraum- und Erdraketen wegzuschaffen“, erwiderte Charivari. „Noch ist nicht alles verloren. Eine Kerntruppe von Immunen bekämpft die Tobsüchtigen mit Heilschlaf-Spray. Es wird versucht, sie ins Werftzentrum zu drängen. Die brennenden Sektoren werden durch automatischen Sauerstoffentzug gelöscht und von den noch bewohnbaren Teilen abgetrennt.“ „Aber was ist denn dies hier für ein Giganto?“ fragte Micha. „Von dem haben wir bisher nichts gewußt.“ Charivari lächelte. „Na, ich hab ja immer ein bißchen mehr in der Tasche, als ich euch auf die Nase binde. Die Erdrakete, in der ihr euch befindet, ist das verbesserte Schwesterschiff des Giganto, den der Ragamuffin zerstörte.“ „Der Ragamuffin!“ murmelte Gérard. Prospers Zähne klapperten aufeinander. Fror er in seinen durchnäßten Sachen - oder schüttelte ihn das Entsetzen? „Wer - wer sagt uns, daß dieser Giganto sicherer ist als der vo-vorige?“ stammelte er. „Die ununbekannte Macht in der E-E-Erde hat schon mal ein Erdschiff zerstört. Durch Ge-Gedankenblitze vernichtet! Und wenn er uns nun seine Tier-Tier-Tiervisionen hier reinfunkt...“ „... ja“, unterbrach Henri. „Dann möchte ich nicht sehen, was hier los ist! Tati als Gazelle, na, das ginge noch. Aber Sie als Grislybär, Superhirn als Geier, Micha als Stinktier, Gérard als Seelöwe, Prosper als Kamel, Loulou als Ratte und ich als Puma. Und wir alle vielleicht in dauernd wechselnden Rollen, danke! Solche Hirngespinste legen das dickste Erdschiff lahm!“ „Logisch“, sagte Professor Charivari. „Aber dieses Schiff ist verstärkt gedankenstrahlenisoliert. Der neuartige Beschuß der unbekannten Erdmacht dringt nicht herein. Das steht fest!“
„Stimmt“, sagte Micha. „Als wir durch die Nebelschwaden liefen, glaubte ich in Tati noch ein Känguruh zu sehen. Kaum war ich im Giganto, sah ich sie wieder normal!“ „Känguruh?“ Superhirn horchte auf, „Känguruhs gibt es nur in Australien. Wenn der Ragamuffin Eindrücke sendet, die er aus Gegenden oberhalb seines Staates im Erdinneren bezieht...“ „... müßten wir ihn in Australien suchen“, nickte Charivari. „Leider hat er aber auch Pinguine, Rentiere und Fauna, die für Südafrika und Nordafrika typisch sind, gesendet. Daraus können wir also keine speziellen Schlüsse ziehen.“ „Fahren wir eigentlich schon?“ fragte Tati. „Längst“, erwiderte der Professor. Er warf einen Blick auf die bogenförmige Befehlsplatte. „Wir sind jetzt 30.000 Meter tief in der Erde, etwa unter Kapstadt. Ich schlage vor, ihr sucht euch im Oberstock eure Kabinen aus. Für Prosper findet sich im Schrank ein trockener Trainingsanzug.“ „Bringen Sie uns nach Monton zurück, an unseren Ferienort in Frankreich?“ erkundigte sich Henri wachsam. Charivari runzelte die Stirn. „Nicht, bevor die Angriffe des Ragamuffin nachgelassen haben“, erwiderte er. „Das ist zu gefährlich! In meinem Giganto seid ihr sicherer als anderswo. Außerdem habe ich euch nicht nur vor dem Wellenbeschuß zu schützen, sondern auch vor der Verfolgung durch die rätselhaften Erdspione.“ Ja, mit diesen menschenähnlichen Lebewesen, den Vavas, den variablen Vasallen des Ragamuffin, die über besondere autobiologische Fähigkeiten verfügten, hatten die Freunde bereits unliebsame Erfahrungen gemacht. Die Erdspione - einer war als Schachfigürchen, als Bauer, getarnt gewesen stellten ihnen nach, weil sie die Mitwisser des Professors waren. Ihre Blicke - auch das wußte man schon - durchdrangen sogar Materie. In zwei Lifts sausten die Gefährten in das Obergeschoß. „Prima!“ rief Micha begeistert. „Von mir aus könnte der olle Ragamuffin noch vier Wochen lang Viechsgedanken durch die Gegend schleudern, hier drin ist es herrlich, und wir brauchen nicht gleich wieder zur Schule.“ „Du hast Nerven“, ereiferte sich Tati. „Fast die ganzen Ferien haben wir wie die Maulwürfe in der Erde gesteckt. Nun bleiben uns gerade noch fünf Tage, und die willst du an einen Erdgeist verschenken? Stell dir vor, der zertrümmert den Giganto und erwischt uns! Was dann ... ? Dann brauchst du jedenfalls nie wieder zur Schule!“ „Das stellen wir uns lieber nicht vor“, sagte Superhirn scharf Henri und Gérard, waren den Gang entlang gelaufen und - hatten ein paar Türen geöffnet. „Die Quartiere sind noch besser als die im vorigen Giganto“, meinte Henri. Jeder von uns kriegt ein Einzelzimmer mit Bad, Wäschekammer, Telefon, Recorder und automatischem Service. Micha, den Pudel kannst du nachher im Laderaum Gassi führen!“ „Ich such mir erst mal was Trockenes zum Anziehen in meinem Kleiderschrank“, brabbelte Prosper. Er verschwand in Zimmer 3. „Und ich wasche mir den Brandgeruch aus den Haaren“, sagte Tati. Als auch Prosper und Micha ihre Zimmer aufgesucht hatten, zupfte Henri Superhirn am Ärmel. „He, warte mal!“ flüsterte er. „Was hältst du von der Situation?“ „Hm“, überlegte Superhirn. „Wenn der Professor sagt, daß dieses Schiff absolut strahlensicher ist, wird es stimmen.“ „Aber wie lange sollen wir ziellos in der Erde rumgondeln? Mir scheint, Charivari weiß selber nicht, worauf er wartet. Falls der Ragamuffin die Welt zerstören will und nur dieser Giganto bleibt übrig - ha, dann landen wir eines Tages oben auf der Erdoberfläche, einsam wie die Arche Noah!“ Superhirn erwiderte ruhig: „Du meinst, Charivari weiß nicht, worauf er wartet? Er wartet darauf, daß der Ragamuffin seine Munition verschießt. Er braucht unvorstellbare Hirnwellen-Energien, um sich solche Angriffe zu leisten. Das wissen wir von den vorigen Malen. Es ist eine Sache von Stunden, dann geht ihm die Kraft aus, und er verhält sich schön still, um aufzutanken'.“ „Und das soll etwa immer so weitergehen?“ fragte Henri. Die beiden Freunde starrten einander an.
„Du hast recht, Henri“, sagte Superhirn. „Nein, das kann nicht so weitergehen! Die innerirdische Macht muß zum Schweigen gebracht werden, bevor sie mit einer ihrer nächsten Attacken aufs Ganze geht. Wer weiß denn, welche Fähigkeiten dieses Volk noch entwickelt?“ Die Gefährten waren von den überstandenen Aufregungen erschöpft. So ruhten sie sich ein paar Stunden in ihren Bordquartieren aus. Daß der Giganto auf Schleichfahrt seine Warteschleifen durch den dicksten Dreck in dunkler Erdtiefe machte, merkten sie nicht. Wegen des eingebauten Verzögerungseffekts spürten sie weder Beschleunigen noch Bremsen. Sogar Purzelbäume konnte der Giganto schlagen, ohne daß es die Insassen bemerkten. Das gewaltige Fahrzeug war so gebaut, daß es unmerklich - ohne die Besatzung auch nur ins leiseste Schwanken zu bringen - jeden Stoff und jede Schicht in der Erde durchdringen konnte. Für die Hülle hatten Charivaris Labor-Spezialisten ein besonderes Material entwickelt. Dabei war die Bindung zwischen den Atomen so verstärkt worden, daß sie erst bei hundert Millionen Grad Hitze oder Kälte aufbrechen konnte. Eine derartige Hitze herrscht aber nur auf einigen außergewöhnlichen Sternen. (Selbst die Sonne hat nur ungefähr vierzehn Millionen Grad.) Die feste Bindung zwischen den Atomen machte die Hülle praktisch unempfindlich bis zu einigen Milliarden Atmosphären Überdruck. Der Professor führte dieses enorme Kraftwerk allein. Eine Fülle von Hilfsaggregaten ersetzte ihm das Personal eines Flugzeugträgers. Die Erdrakete hatte die Form eines regelmäßigen Spitzkegels also einer Tüte -, und sie war ein Allesfresser. Das heißt, sie verarbeitete jeden Stoff, auf den sie stieß, zu Treibstoff. Vor den sternförmigen Saugdüsen wurde selbst härtestes Gestein jäh geschmolzen. Pumpen jagten es heckwärts - und hinter dem Giganto erstarrte es wieder. Durch das Zurückpumpen der verarbeiteten Materie gewann man (wie beim Düsenmotor eines Jets) den Rückstoß, der das Erdschiff vorwärtstrieb. Diesmal war es ausgerechnet Superhirn, der in seinem Bordquartier am längsten schlief. Er sprang unter die Dusche, zog sich rasch wieder an und sauste mit dem Lift hinunter. Als er den Kommandoraum betrat, spürte er sofort: Die Lage hatte sich nicht entschärft, sondern zugespitzt. Tati und Micha saßen mit bedrückten Gesichtern in Sesseln. Micha hielt den Pudel an sich gepreßt. Henri, Gérard und Prosper standen verloren im Raum und blickten auf den Professor. Charivari beugte sich über den Kontrolltisch. In der bogenförmigen Platte tanzten Lichter, sausten farbige Ziffern, die sonderbare Reflexe auf seinem hohlwangigen Gesicht hervorriefen. „Ist was mit dem Giganto?“ fragte Superhirn. „Stimmt etwas nicht mit diesem Schiff?“ Professor Charivari ließ sich ein wenig Zeit mit der Antwort. Endlich sagte er - und es klang mühsam: „Der Giganto ist in Ordnung. Aber auf der Erde breitet sich Unordnung aus.“ Er tastete nach seinem Hörknopf im Ohrläppchen. „Ich empfange schreckliche Nachrichten aus aller Welt.“
6. Das Phantombild Professor Charivari tippte auf ein paar Kontaktplättchen. In der Wand erschien eine Reihe von Bildschirmen, die Ausschnitte seiner Geheimstationen zeigten: der Labors am Grunde der Meere, der ..hoch oben“ im All schwebenden, für irdische Peilgeräte unortbaren Raumstation Monitor, der Mondpolstation (über Relais), die von „normalen Raumfahrern“ nicht überflogen werden konnte und der Werft der stark beschädigten Entwicklungsstadt in der Antarktis. Zuerst sprach General Hamm: „Hallo Giganto, hallo Professor Charivari! Zerstörte Bezirke abgesperrt und reterrestriert. Menschen und Material im Werftzentrum konzentriert. Keine Verluste an Menschenleben. Wertvollste Geräte in Sicherheit. Wir haben die komische Erfahrung gemacht, daß die geringste Menge Heilschlaf-Spray, dem Sauerstoff beigegeben, eindringende Hirnwellen des Ragamuffin auflösen, vielmehr: die menschliche Anfälligkeit hierfür ausschalten. Also könnten wir diese Art von Beschuß, wenn´s sein muß, noch lange aushalten.“ „Falls dem Ragamuffin nichts Schlimmeres einfällt“, murmelte Charivari. Er sprach jetzt mit den
übrigen Stützpunkten, auf denen man General Hamms Erfahrungen seit Stunden bereits mit Erfolg auswertete. Endlich ließ er nur noch den Bildschirm stehen, auf dem der Sicherheitschef der geheimen Raumstation Monitor, der nette, junge Biggs, zu sehen war. „He, die Gruppe Superhirn wieder an Bord des Giganto?“ rief Captain Biggs. „Natürlich mit Pudel! Hm, hm. Vielleicht noch ein paar andere Tierchen gefällig? Wie ich höre, gibt's eine ganze Menge zur Auswahl.“ Charivari überging den Scherz. „Wie begegnen Sie dem Beschuß, und was registrieren Ihre Geräte?“ fragte er knapp. „Sonderbarerweise treffen uns die geschilderten Ragamuffin-Visionen nicht. Richtiger: Die von den Geräten vermerkten Hirnwellen aus der Erde verursachen kein Unheil in unseren Köpfen“, meldete Biggs. „Die Gedankenstrahlen, die anderswo verschiedene Tierbilder in die Gehirne projizieren, sehen wir auf unserem Analysator als zittrige Kurven und Zacken. jedenfalls nehmen wir an, daß es sich um diese Beschüsse handelt, denn nach unseren Ortungen kommen sie fraglos aus dem Erdinnern. Unsere Fachleute können sie nicht entschlüsseln.“ „Wenigstens ist Ihre Raumstation verschont geblieben“, sagte Charivari erleichtert. „Aber ich habe in den letzten Stunden einige Welt-Rundfunksendungen abgehört. Das ergibt ein schauriges Bild. Wie sind Ihre Informationen hierzu?“ „Moment!“ Man sah, wie Biggs auf dem Bildschirm eine Taste drückte und auf sein Nachrichtenbild blickte. „Letzte Meldung“, begann er, „Tja, vergleichsweise 'n kleiner Fisch. Auf 50 Grad 2 Minuten Nord und 25 Grad 50 Minuten West gibt der Liberianische Frachter Moros SOS. Angeblich Tiere an Bord. Panik. Heftige Kämpfe unter der Besatzung. Explosion im Maschinenraum, offenbar durch Vernachlässigung infolge der Panik.“ „Und das nennt Biggs einen kleinen Fisch“, hauchte Tati entgeistert. „Das ist eine Einzelheit, Captain!“ rief Charivari ungeduldig. „Ich brauche den Gesamtüberblick!“ „Waaas ... ?“ Captain Biggs verlor die Beherrschung. „Hat Ihnen Hamm noch nichts gesagt? Auf der ganzen Welt bahnt sich ein Chaos an! Überall hört man Tierstimmen, überall meint man, Tiere zu sehen! Der Ragamuffin startet die bisher größte Offensive. Und Sie schlafen da mit Ihrer Kindergruppe im Giganto!“ „Captain!“ begann Charivari scharf. Doch Biggs unterbrach ihn schreiend: „Ich denke, Sie sind längst in Aktion! Ich denke, Sie suchen das Ragamuffin-Hauptquartier! Und nun fragen Sie nach der Gesamtlage wie ein Tourist nach dem Urlaubswetter!“ „Kommen Sie zu sich, Biggs!“ mahnte Charivari mit eisiger Gelassenheit. „Schließlich zog ich Warteschleifen, um die Lage gründlich zu peilen. Dabei mußte ich das Erdschiff checken. Wenn ich gegen eine Macht wie den Ragamuffin vorgehen will, darf ich nicht den geringsten Knacks im Schiff haben ... Also?“ „Wo stehen Sie genau?“ fragte Biggs in dienstlichem Ton zurück. Er wußte besser als jeder andere, wie recht Charivari hatte. Ein Mann wie er durfte nicht aus der Fassung gebracht werden. Am allerwenigsten in einer Situation wie dieser. „Ich bitte um Lokalisierung und Kurs nach Bordinstrumenten!“ „8 Grad östlicher Länge, 35 Grad südlicher Breite“, erwiderte der Professor. „6210 Kilometer ab Erdmittelpunkt. Wir fahren Kreisschleife zur Peilung mit 2 bis 3 Grad Durchmesser!“ „Korrekt“, sagte Biggs. „So. In New York ist es 12.30 Uhr. In Tokio haben wir schon den morgigen Tag, nämlich 2 Uhr früh. Nachrichten aus den dunklen Zeitzonen - etwa Kalkutta, Djakarta, Hongkong, Perth und Sydney und Wellington - liegen naturgemäß spärlich vor. Aber aus Fairbanks, Alaska, Ottawa in Kanada, Kuba und den südamerikanischen Städten hören wir Schreckliches. Ebenso aus Europa. Leute, die Tierstimmen im Ohr hatten, bestürmen die Ärzte, Zoologen, Astrologen, Krankenhäuser, die Radioanstalten und die Regierungen. Seit der Ragamuffin aber Tierbilder funkt, kommt es zu regelrechten Katastrophen. Moment...“ Biggs tippte auf sein Nachrichtenpult und verlas die aufgefangenen, noch unausgewerteten und verworrenen
Rundfunkdurchsagen der Erdstationen: „In New York schoß ein Polizist wie rasend auf Autos, die er für ausgebrochene Raubtiere gehalten hatte. Es gab drei verletzte Fahrer und Mitfahrer. Wie viele Leute die Treppen hinunterstürzten, weil sie sich von wilden Tieren verfolgt wähnten, kann man kaum schätzen. Es ist weiter von Schiffsunfällen die Rede, von Fehlstarts und Bruchlandungen in der Luftfahrt, von Tumulten in Krankenhäusern, Gefängnissen und Helmen. In den amerikanischen Tierparks will man völlig ortsfremde Tiere gesehen haben: riesige Seelöwen, zweihöckrige Kamele und so weiter. In den Autobussen der British Yukon Navigation Company sollen die Leute mit Messern aufeinander losgegangen sein. Sie hielten sich gegenseitig für Tiere. In Europa ergibt sich kein besseres Bild: schwere Unruhen in englischen Industriestädten. Dort will man tobsüchtige Elefanten gesehen haben.“ Biggs unterbrach sich wieder. „Halt, hier! Aus Mittelamerika werden schwere Grenzverletzungen gemeldet: Dort schießen Truppen aufeinander. Und in Argentinien und Brasilien werden die Schlachthäuser gestürmt und in Brand gesteckt. Man hat die Tiervisionen offenbar als Hirngespinste erkannt, aber man führt sie auf Fleischvergiftungen zurück.“ „Das ist nicht so sonderbar wie es klingt“, sagte Charivari heiser. „Die Bevölkerung weiß, daß die besten Rinder exportiert werden, deshalb das fehlgeleitete Mißtrauen gegen schlechtes Fleisch. Hallo, Biggs! Alarmieren Sie alle verfügbaren Hilfs-Monitore in sämtlichen Geheimstationen. Sie sollen über den Ballungszentren der Erde Heilschlaf-Spray abblasen. Wir haben davon große Mengen, weil wir das Zeug im Notfall gegen Angreifer verwenden wollten. Speichern Sie alle Meldungen aus der östlichen Hemisphäre. Ich brauche so früh wie möglich Nachrichten, besonders über das dichtbesiedelte Japan.“ „Okay“, antwortete Biggs. Sein Gesicht wirkte auf einmal wie das eines Mannes, der das Lachen für immer verlernt hat. „Und noch eines“, sagte Professor Charivari. „Ich lasse durch Fernzündung alle unsere Wechselwirkungs-Depots in der Erde hochgehen.“ „Das...“ fragte Biggs, „... das ist doch nicht Ihr Ernst? Damit reißen Sie womöglich die Erdkugel auseinander!“ Auch Superhirn rief entsetzt: „Wechselwirkungs-Depots? Die richten schlimmere Verheerungen an als Atom- und Wasserstoffbomben!“ „Es wird allerdings eine Reihe sehr, sehr heftiger innerirdischer Erschütterungen geben“, erwiderte Charivari. „Selbstverständlich aber in berechneten Maßen und in bestimmten Tiefen, so daß an der Oberfläche nirgends etwas anderes zu spüren sein wird als ein ganz geringes Vibrieren. Dieses Vibrieren werden auch nur die Erdbebenstationen vermerken.“ „Aber das Risiko!“ rief Henri beschwörend. „Müssen wir auf uns nehmen“, sagte der Professor. „Die Hirnwellen-Offensive aus der Erde ist jedoch äußerst gefährlich! Viele mögen überhaupt keine Nerven-Antenne dafür haben. Grundsätzlich scheint aber kein Volk, keine Rasse, kein Intelligenzgrad dagegen gefeit zu sein.“ „Wieso auch?“ fragte Tati. „Was hat das denn damit zu tun? Mensch ist Mensch!“ „Das hab ich nicht bestritten.“ Über Charivaris Gesicht flog ein flüchtiges Lächeln. „Aber es gibt Völker und Individuen mit verschieden ausgeprägten oder sogar mangelnden Eigenschaften. Um ein verblüffendes Beispiel zu nennen: In Amerika leben Nachkommen eines Indianerstamms, der kein Schwindelgefühl besaß. Als Bauarbeiter können diese Leute in höchsten Höhen sicher über die schmalste Verstrebung gehen. Man setzt sie überall da ein, wo sich ihre normalen Kollegen nicht hinwagen.“ „Die Vavas des Ragamuffin?“ fuhr Micha auf. „Quatsch!“ winkte Gérard. ab. „Hast du nicht gehört? Das war nur ein Beispiel! Der Professor meint, die Ragamuffin-Wellen können in die Hirne der Eskimos ebenso eindringen wie in die von Negern, Weißen und Indios, egal ob einer Schlittenführer ist, Jäger, Staatsanwalt oder Eisverkäufer, Präsident oder Boxer.“ „Für den Empfang der Erdstrahlen ist das gleichgültig, will der Professor sagen“, fügte Henri hinzu. „Die Tiervisionen können sich in allen Köpfen bilden, es sei denn, jemand ist - überhaupt nicht anfällig - und das wiederum kann auch unter Eskimos, Negern, Weißen oder Indianern vorkommen,
welche Eigenschaften sie auch sonst immer besitzen. Stimmt´s?“ „Ja“, bestätigte Charivari. „Bei den Ragamuffin-Wellen ist auch die Frage, wie sie den einzelnen oder ganze Gruppen erwischen. Von zehn Menschen kann einer erfaßt werden, so, wie ein Windstoß an der Bushaltestelle nur einem den Hut vom Kopf reißt. Oder wie durchbrechender Sonnenschein nur die Hälfte des Publikums in einem Sportstadion anstrahlt.“ „Die Hälfte?“ krächzte Prosper. „Au-au-auf die Hirnwellen bezogen, wäre das verteufelt genug. Die ei-einen sehen in den a-a-anderen wilde Tiere. Dann gehen sie mi-mit Messern, Stöcken und PiPistolen auf sie los! Ob das der Ra-Ragamuffin sich so ausgeheckt hat, daß a-a-alle Menschen auf der Welt aufeinander losgehen?“ „Genau das plante er“, sagte Charivari, von der Kontrollplatte aufblickend. „Nichts anderes. Zumindest vermute ich das. Wenn die unterschiedlichsten Menschen durchdrehen, so könnten ja zufällig die dabei sein, die in der Lage sind, einen weltweiten Atomkrieg auszulösen.“ Es war still im Kommandoraum. Entsetzt sahen sich die Jugendlichen an. „Deshalb bereite ich die Depot-Sprengungen vor“, fuhr Charivari mit dumpfer Stimme fort. Es geht jetzt darum, wer wen vernichtet: der Ragamuffin die Welt - oder wir seine Zentrale!“ „Achtung!“ meldete Biggs. „Halten Sie sich fest. Festhalten, sage ich!“ „Was ist?“ rief der Professor ungeduldig. „Ich berechne eben die Sprengwirkungen.“ „Ich auch.“ Biggs grinste mühsam. „Allerdings im übertragenen Sinne! Wir haben eine Bildfunkbotschaft des Ragamuffin!“ Jäh richtete sich der Professor auf. „Was für eine?“ fragte er gespannt. „Sein Foto!“ rief Biggs,
7. Standbilder in den Geheimstationen Superhirn äugte ungläubig zum Bildschirm. Ein Foto des Ragamuffin? Biggs hatte wohl auch schon einen kleinen Affen im Hirn? „Behalten Sie Wartekurs bei!“ rief der Captain. „Das Foto wird gerade sendefähig gemacht. Ich zeige es Ihnen gleich auf dem Bildschirm!“ Biggs Gesicht wurde undeutlich, das flimmernde Rechteck zog sich zusammen und verschwand von der Wand. Professor Charivari strich sich den Strippenbart. Sein irritierter Blick glitt über die jungen und das Mädchen. „Hat er gesagt: ein Foto? Und meinte er tatsächlich ein Foto des Ragamuffin?“ „Ja!“ erwiderten die Freunde wie aus einem Munde. „Ich halte das für ausgeschlossen“, murmelte Charivari. „Ich werde Biggs noch mal rufen. Ich werde...“ „Tun Sie das nicht“, warnte Superhirn. „Tun Sie das um Himmels willen nicht! Der Giganto ist Ihre einzige, wirksame Großwaffe gegen den innerirdischen Staat.“ „Na und?“ rief Prosper nervös. „Meinst du, ein Foto könnte uns schaden?“ „Wenn du's wissen willst: ja ... !“ sagte der spindeldürre Junge entschieden. „Ich kann das zwar nicht begründen, aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl.“ „Gefühl“, brummte Gérard. „Seit wann traust du denn deinem Verstand nicht mehr?“ fragte Tati gereizt. Henri schwieg mit aufeinandergepreßten Lippen. Dafür schrie Micha neugierig: „Ich will den Erdboß sehen! Ich will wissen, wer der Muffel ist!“ „Sonderbar“, sagte Charivari. Seine Finger fuhren auf der Kontrollplatte hin und her. „Captain Biggs meldet sich nicht! Weltraumstation Monitor ist nicht zu erreichen!“ „Fahren wir überhaupt noch?“ fragte Tati bange. „Es ist ja sehr schön, nicht zu wissen, wo man ist. Aber wenn irgendwas nicht klappt, wird's mir schrecklich klar, daß ich wie 'n Maulwurf in der Erde
stecke!“ Prosper wurde noch hellhöriger. „Was klappt nicht?“ bohrte er. „Was soll da nicht klappen?“ „Der Bildfunk-Kontakt zu Monitor und den übrigen Geheimstationen - ist unterbrochen“, sagte Henri ruhig. Er stand neben Charivari, Doch im gleichen Augenblick erschien Captain Biggs auf der Mattscheibe. „Hallo, Biggs!“ rief der Professor. „Hier Kommandant Giganto. Zündung der innerirdischen EnergieDepots zurückgestellt. Erwarte angekündigtes Foto des Ragamuffin ... !“ Erwarte angekündigtes Foto des Ragamuffin! klang es den Freunden schauerlich in den Ohren. Alle blickten auf den Bildschirm. Sie sahen Captain Biggs so deutlich wie einen Tagesschau-Sprecher. Er schien mit gemäßigtem Interesse in das Erdschiff hineinzugucken. Er sprach nicht. Ja, er rührte sich nicht einmal! „Tonausfall“, hauchte Micha. „Nee. Der klimpert ja mit keiner Wimper“, brabbelte Gérard. „Das ist ein Standbild! Die Technik muß 'ne Macke haben!“ ..Das ist kein Standbild“, sagte Superhirn so fest und entschieden, als gelte es, den anderen ein paar Zähne zu ziehen. „Captain Biggs ist gelähmt! Seht ihr das nicht? Etwas hat ihn reglos werden lassen oder reglos gemacht!“ „Woher willst du das wissen?“ fragte Tati. „Es liegt doch näher, technischen Schaden anzunehmen. Oder? Das ist ein Standbild - und zufällig herrscht Tonausfall.“ „Möchte ich glauben“, murmelte Charivari. Er tippte auf verschiedene Kontaktplatten, drückte einige Tasten und drehte an allen Knöpfen seines Befehlsanzugs. Auch Henri und Prosper hatten den Eindruck: Standbild, Tonausfall. Da sagte Superhirn: „Links neben Biggs ist eine Uhr mit leuchtenden Wechselziffern. Seht mal, wie munter die Hundertstelsekunden springen! Das soll ein Standbild sein?“ Henri fuhr herum. Er zuckte zusammen. „Himmel!“ entfuhr es ihm. „Ja! Seit wann gibt es Standbilder, auf denen irgendwas läuft?“ Der Professor hob den Kopf. Die Erkenntnis, daß Superhirn recht hatte, fuhr ihm sichtlich in die Glieder. „Tonausfall herrscht auch nicht“, sagte der spindeldürre Junge gnadenlos. „Hört ihr nicht? In der Raumstation poltert was. „Es - es ruft jemand Hilfe!“', schluckte Micha. „Wird da gekämpft?“ Professor Charivari legte blitzschnell zwei Kipphebel um und ließ eine zusätzliche Platte aus dem Bogentisch gleiten. „Von diesem Giganto aus kann ich mich in alle Räume meiner Stationen einblenden“, sagte er, während er Kontakte berührte und aufleuchtende Pfeile in eine bestimmte Kombination brachte. Plötzlich zitterten heller und größer werdende Licht-Rechtecke über die Wände des GigantoBefehlsraumes. Auf den Mattscheiben erschienen verschiedene Innenperspektiven der Geheimstation Nordpol, der Geheimstation Atlantik, der Geheimstation Pazifik, der Werftzentrale der beschädigten Antarktis-Station - und schließlich sämtliche Abteilungen der Weltraumstation Monitor. Den entsetzten Erdfahrern bot sich ein hoffnungsloser Anblick. Tati nahm sogar den Pudel auf und zerrte Micha an sich, als wollte sie nicht, daß er das sähe. Überall dasselbe Bild. Überall die entsetzlichen „Standbilder“ mit reglosen Wissenschaftlern, Technikern, Astronauten, Terranauten, Laboranten und Nachrichten-Teams. In der Geheimstation Nordpol fuhren Erstarrte in einem automatischen Lift auf und nieder, auf und nieder, auf und nieder. Im Stützpunkt Atlantik saß das Personal wie ausgestopft in der Kantine. Man sah aber, wie die Speise-Automaten die gewohnten Menüs ausspuckten. Batsch, batsch, batsch - ohne Unterbrechung fielen die Tabletts auf den Boden. Vor einer Automatenwand hatte sich bereits ein richtiger Essensberg gebildet. In der pazifischen Station hatte ein Wissenschaftler mit einer Pipette eine Bakterienkultur füttern wollen. Die Bakterienkultur im Glase breitete sich gelblich-wolkig aus. Daneben aber, ausdruckslos glotzend, die Pipette starr in der Hand, stand der Gelehrte. In der Weltraumstation endlich lagen ein paar Männer in grotesken Verrenkungen umher, während hinter
ihnen Alarmzeichen in den Wänden zuckten. „Aus!“ rief Prosper. „Aus! Machen Sie das aus!“ Er sank in einen Sessel. Schon waren die Schreckensbilder verschwunden. Doch Charivari hatte sie nicht abgeschaltet. „Störung“, meldete er, wie rasend an der Platte beschäftigt. „Jetzt kriege ich überhaupt keine Verbindung mehr!“ Er nestelte an seinem Befehlsanzug. „Auch nicht mit einem Satelliten ... Nein. Nichts. Ich wollte wenigstens normale Radiostationen anpeilen.“ „Bedeutet das, daß wir jetzt nicht nur von unseren Geheimstationen abgeschnitten sind, sondern von der ganzen Erdoberfläche?“ fragte Henri. „Der Ragamuffin hat die Stützpunkte lahmgelegt“, meinte Gérard. „Aber was er nun weiter mit der Menschheit macht, das dürfen wir raten! Oder?“ Prosper sprang auf „Vielleicht sind wir sieben hier im Giganto die einzigen, die noch bei klarem Verstand sind!“ schrie er. „Wenn du weiter so schreist, wird auch das nicht mehr lange dauern“, mahnte Superhirn. „Aber er hat recht, ...“, sagte Tati mit bebender Stimme. „Die Geheimstationen sind nutzlos, und auf der Erde funktioniert kein Sender mehr! Vielleicht ist da auch alles erstarrt. Alles, alles! Würden wir auftauchen und den Giganto verlassen, dann erstarrten wir gleich wie die Salzsäulen...“ Krrring, erscholl das sägend scharfe Zeichen einer unsichtbaren Glocke. Krrring ... krrring ... krrring... „Was ist das?“ fragte Micha. Krrring ... krrring ... krrring... Professor Charivari sprang vom Befehlstisch weg, mitten unter die Freunde. Er schnappte nach Luft und rang sichtlich nach Worten. Krrring ... „Aber was ist denn das?“ rief Henri. „Was bedeutet das Klingeln? Und wer läutet da - und von wo?“ „Es ist jemand an Bord!“ ächzte Charivari. „Es ist jemand im Cheflabor des Giganto!“ „Hinter der Tür, an der der Befehl steht Nicht eintreten'?“ fragte Superhirn rasch. „Und die Warnung Lebensgefahr'? Die hat doch keinen Drücker und keine Klinke!“ „Man kann sie nur mit einem Transistor-Schlüssel öffnen“, sagte der Professor. ..Aber bei der Abfahrt war niemand drinnen! Und warum funktioniert die Alarmsirene nicht?“ „Wer soll denn so tief in der Erde in unseren Giganto eingedrungen sein?“ fragte Gérard ungläubig. „Der Ragamuffin!“ stammelte Micha.
8. Auf der Flucht Wer nun eigentlich das Zeichen für eine sinnlose, wilde Flucht durch das Erdschiff gegeben hatte, war später nicht mehr festzustellen. Einer schrie: „Weg, weg! Raus hier! Flieht! Wir sind verloren!“ Und vier von den sieben Besatzungsmitgliedern stoben in die oberen und hinteren Räume. Micha sauste im Lift empor und landete im großen Restaurant, das dazu angelegt war, friedliche, hungrige Erdforscher aufzunehmen. Im Augenblick war es geisterhaft leer. Immer in der Meinung, der Ragamuffin oder seine Vavas seien hinter ihm her, raste er zwischen den Tischreihen entlang und um die Sessel, Stühle und Bänke herum. Plötzlich stieß er mit einer Gestalt zusammen und stürzte längelang hin. Etwas schnüffelte an seinem Ohr: Loulou. „Du bist´s!“ schnaufte die Gestalt, die ihn umgerannt hatte. Als sie sich aufrichtete, wurde ihm klar, daß das der wachsbleiche Gérard war. Gérard mit dem Pudel. „Wo - wo sind die anderen?“ keuchte Micha. „Weiß ich nicht“, erwiderte Gérard. „Wahrscheinlich gefangen. Überwältigt! Ja, ja, guck nicht so! Ich hab den Ragamuffin aus dem Cheflabor kommen sehen! Ihn und drei andere Erdgeister,
Geistermenschen. Der Ragamuffin war kohlschwarz, wie angesengt. . .“ „ ... nein ...“, würgte Micha. Seine Beine versagten. Er setzte sich auf den Boden. Gérard drehte sich um- sich selber. „Ich schwör´s“, sagte er hastig. „Diese Erdleute sind durch die Wand ins Labor gedrungen. Der eine hat gesagt: Geben Sie auf, Charivari, wir nehmen Sie jetzt mit...' Der Professor ist zitternd zurückgewichen.“ „Er hat sich nicht gewehrt?“ „Nein! Ich wette, es sind noch mehr Vavas eingedrungen. Sie haben ihn und die anderen geschnappt. Vielleicht haben sie auch so 'n drucksicheres Fahrzeug...“ „Schalter, Kontakte - oder so was“, sagte Gérard. „Das Restaurant muß doch abschirmbar sein. Die werden uns doch auch haben wollen!“ Mit einer Fixigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, bewegte sich Gérard an der Wand entlang. „Was suchst du?“ rief Micha. Er entdeckte eine Reihe winziger Leuchtknöpfe und drückte auf gut Glück darauf herum. Wenn er aber geglaubt hatte, bruchsichere Sperren würden sich vor die Eingänge legen, gleich welcher Art, so hatte er sich getäuscht. Aus hunderttausend Poren in der Saaldecke, in den Wänden und im Fußboden sprühte eine duftende Flüssigkeit, die grünlich-ölig alles, alles überzog: den Bodenbelag, die Sitzgelegenheiten und die Tische. Wohl verschlossen jetzt Schiebetüren die Zugänge. Aber die jungen sahen in dem atemberaubenden, konzentrierten Regenbeschuß nichts mehr. Sie kriegten das Zeug in die Haare, in die Augen, in Mund und Nase. Der Pudel gab nur noch Erstickungsgeräusche von sich. „Steil das ab!“ röchelte Micha. „Steil das ab!“ Gérard fand wahrhaftig den entsprechenden Knopf. Doch jetzt folgte ein Sprühsturm von warmem Wasser, und die Umgebung verwandelte sich in eine Wüste von grünlichem Schaum. Endlich wurden sie von einem Heißluft-Orkan attackiert. Und als sie die Augen wieder öffnen konnten, sahen sie das Restaurant in völliger Trockenheit, in aufgefrischten Farben und in mustergültigem Glanz. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Micha gelacht. „Mensch, Gérard!“ rief er. „Du hast die Putz-Automatik bedient! Das war nichts anderes als ein blitzartiges Großreinemachen! Wir beide und der Pudel sind gleich mitgeputzt worden!“ Inzwischen hatten Tati und Prosper nicht weniger aufregende Abenteuer. Sie waren in den hinteren Teil des Giganto gelaufen, um sich dort zu verstecken. Dabei waren sie in die merkwürdigsten Labors gelangt, zum Beispiel in einen Wald von Pflanzensetzlingen. Im Fall einer friedlichen Erderforschungsfahrt sollte der Versuch gemacht werden, dieses oder jenes Gewächs in etwa vorhandenen innerirdischen Luftblasen anzupflanzen. „Tolle Deckung!“ japste Prosper. „Hier fi-findet uns kei-keiner!“ Und er warf sich ausgerechnet auf einen Kaktus. „Aua!“ brüllte er. „Aua!“ „Still!“ fauchte Tati. „Willst du, daß man uns entdeckt?“ Sie hasteten weiter und gerieten auf eine Rolltreppe. „Wenn Micha nicht nachkommt, geh ich zurück!“ jammerte das Mädchen. „Prosper, hörst du? Wir hätten auf die anderen warten müssen. Wir hätten uns einigen sollen!“ „Einigen“, lachte Prosper verzweifelt. „Worauf denn? Wir beide denken uns was aus, wenn wir davonkommen. Vielleicht finden wir im Laderaum einen Hilfs-Giganto, mit dem wir fliehen können. Dann sehen wir weiter!“ Doch im Laderaum fanden sie wohl zwei „Beiboote“, aber die waren festgelascht und ließen sich nicht öffnen. Auch mit den beiden Schwebemobilen, mit den geländegängigen Kränen und mit tausend anderen, größeren und kleineren Geräten - deren Zweck ihnen unklar war - konnten sie nichts anfangen. Ratlos blickten sie in das blaue Kunstlicht der großen Halle. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Es war, als sei eine Wand geborsten. Unwillkürlich hatten sich Tati und Prosper geduckt. Als sie sich aufrichteten, sahen sie jedoch keine Veränderung. „Ach, ich weiß“, murmelte Prosper. „Das kam von der Maschine. Die hat gespuckt! Es klang wie 'ne enorme Fehlzündung! „
„Aber da knackt was!“ rief Tati. „Hör doch! Da knackt was!“ Prosper lauschte. „Hat nichts mit den Triebwerken zu tun“, meinte er. „Das ist die Bordsprechanlage. Jemand will uns ´ne Mitteilung machen.“ Er irrte sich nicht. Betont ruhig und freundlich, als sei nicht das geringste vorgefallen, ertönte die Stimme des Professors: „Kommandant an Besatzung! Bitte alle wieder in die Zentrale. Das war kein Ragamuffin- oder Piraten-Überfall. Wir haben Besuch von Abgesandten unserer eigenen Geheimstützpunkte!“ Tati und Prosper traten eilig den Rückweg an. „Na, dann werden wir ja auch mit Henri, Micha und den anderen im Befehlsraum zusammentreffen“, sagte das Mädchen erleichtert. „Aber wie sind Charivaris Männer hierher in die Erde gesaust gleich rein ins Cheflabor? Auf den Bildschirmen hatten wir gerade gesehen, daß da alle erstarrt waren!“ „Vielleicht ha-ha-haben sich ei-ei-nige ge-gerettet!“ rief Prosper mit neuem Mut. „Und dann vergiß das besondere Telefon im Chefzimmer nicht!“ Das besondere Telefon, ja! Der tollste Apparat an Bord: Das Molekular-Telefon! Mit Hilfe dieses einzigartigen Geräts waren Kollegen des Professors von den bedrohten Stationen buchstäblich in den Giganto „hineingeflutscht“. Sie hatten sich „einfach“ durchtelefoniert, indem sie sich am Abgangsort in ihre Kleinstteilchen aufgelöst und am Durchwahlort nach ihrer speziellen chemischen Formel wieder zusammengesetzt hatten. Und sie wußten, wie man den geheimen Türöffner bediente. ,Paß ich daran nicht gedacht habe“, murmelte Prosper. Unmittelbar nach Gérard und Micha - mit Loulou - betraten auch Prosper und Tati wieder die Zentrale. „Na, ihr Helden?“ grinste Henri. Auch Superhirn, der über der Kommandoplatte lehnte, feixte über das ganze Gesicht. Doch die Lage war alles andere als komisch, auch wenn es sich bei den Eindringlingen um Charivaris Mitarbeiter handelte - und nicht (noch nicht!) um den Ragamuffin und seine Vavas. Es waren vier Männer in teils sehr mitgenommenen Anzügen. Zwei von ihnen hatten ihre Schutzhelme verloren. In der breiten, verschmutzten, rauchgeschwärzten Gestalt, die vorhin gerufen hatte: „Professor, wir nehmen Sie mit!“ - oder etwas Ähnliches -, erkannte Gérard jetzt General Hamm von der antarktischen Werft. Der zweite, ein noch junger Mann, dem die Schrecken der letzten Stunden anzusehen waren, kam von der Weltraumstation. Es war Biggs Kollege, der Italiener Belmondo. Charivari stellte auch die beiden anderen vor: „Doktor Paulsen, ein deutscher Arzt in der geheimen V-Stadt am Nordpol - und der Däne Sörensen, zweiter Nachrichtenchef unserer Meeresbodenmetropole im Atlantik.“ Hamm und Sörensen saßen erschöpft in Sesseln. Die übrigen standen. Enrico Belmondo von der Raumstation brachte die unterbrochene Diskussion wieder in Gang. „Sie haben uns nicht gerufen, Professor. Nein. Aber eine Nachfrage bei allen Stützpunkten ergab, daß Ihr Schiff in einem Störungsfeld liegen müßte. Niemand bekam eine Verbindung mit dem Giganto!“ Inzwischen setzte der Ragamuffin sein Vernichtungswerk munter fort!“ rief Sörensen. „Mit weltweiten Sinnestäuschungen fing es an, und nun beginnt der Kerl, unsere Geheimstationen mit dem Anblick seiner furchtbaren Fratze zu zerrütten. Fragen Sie Doktor Paulsen: Auch in der V-Stadt am Nordpol liegen fast alle Leute wie in einem Winterschlaf.“ „Winterschlaf!“ echote der deutsche Arzt. „Ich schlage vor, Sie verlassen jetzt den Giganto mit uns über - das Molekular-Gerät“, sagte General Hamm. „Am Südpol ist der Super-Weltraumgleiter Monitor 10 startbereit. Wir setzen uns hinein und suchen uns einen anderen Planeten, bevor der Ragamuffin auch uns erwischt. In der Erde sind Sie nicht mehr sicher und wäre der Giganto zehnmal so stark!“ Die Männer sprachen jetzt heftig aufeinander ein und durcheinander - bei derart geschulten, charakterfesten Leuten ein beängstigender Vorgang. Superhirn musterte die Gruppe mit besorgtem Blick. „Einen fremden Planeten suchen! Der hat wohl
Juckpulver im Kopf? Als ob das so einfach ginge. Nein. Wir müssen im Giganto bleiben. Jetzt erst recht. Und wir müssen das Hauptquartier des Ragamuffin finden!“ „Meine Herren!“ rief Professor Charivari beschwörend. „Meine Herren! Sie sagen: Vernichtungswerk des Ragamuffin, fürchten seine wachsende Macht. Hamm will sogar auf einen anderen Planeten und die Menschen auf der Erde zurücklassen. Ich weigere mich, mit meinen Mitteln, Ergebnissen unserer Geheimforschung, einem Gegner zu weichen, den ich nicht einmal kenne und über dessen Zentrale ich im wahrsten Sinne des Wortes im dunkeln tappe!“ „Als ob das jetzt noch wichtig wäre!“ rief Sörensen. „Hören Sie, Professor, hören Sie: Die Tiervisionen als Waffe - das kam einem zuerst lächerlich vor. Nicht? Aber die letzten Meldungen, soweit ich sie zusammenkriege.“ Er holte tief Luft. „Bei einer sogenannten Freundschaftsparade von neuntausend saudiarabischen Soldaten im Libanon gab es eine Katastrophe. Die Männer glaubten sich von unreinen Tieren umringt. Von Schweinen, Professor, von Schweinen! In der ostrhodesischen Stadt Umtali sind Straßenarbeiter übereinander hergefallen. Mittlerweile breiten sich die Unruhen nun weiter in Zentralafrika aus und greifen auf die Westküste über...“ „Ganz logisch“, unterbrach der Arzt. „Bedenken Sie, welche Bedeutung Tiere in den religiösen Auffassungen uralter Stämme und Nationen haben!“ Professor Charivari nickte hastig. „Sparen Sie sich das! Weiter!“ Sörensen zog ein Kästchen aus der Tasche. „Gespeicherte Meldungen verschiedener Radiostationen, von mir gekürzt und übersetzt.“ Seine Stimme kam jetzt quäkend aus dem Minigerät: „Scotland Yard berichtet Kaufhauspanik. In einem Haufen von Westbury-Krawatten will das Publikum Schlangen gesehen haben. Institute, Anstalten und Einrichtungen sowie Treffs aller Art melden verheerende Tumulte; Universitäten, Sportstadien, Schulen, Krankenhäuser, Heime aller Art, Hotels, Parlamente, Gefängnisse, Kasernen, Opernhäuser, Theater, Banken, Filmateliers, Studios, Zirkusunternehmen...“ „Genug!“ rief Prosper. „Ich - ich will mir das gar nicht vorstellen! Ein Arzt, der eine Operation durchführt, hat auf einmal einen Löwen vor sich! In den Regierungen schlagen sich Menschenaffen! Im Kinderheim läßt 'ne Schwester ein Baby fallen, das sie für ein Ferkel hält! Und was machen die Leute in Flugzeugen, Bussen und Autos?“ „Die schlimmsten Berichte kommen aus Japan“, fuhr Sörensen fort. „Man hat dort zwei Theorien. Die erste lautet: Radioaktivität aus dem All bewirkt die Sinnestäuschungen. Die zweite: Ein amerikanisch-europäischer Anschlag, um die japanische Handelskonkurrenz auszuschalten.“ „So!“ rief Charivari mit furchterregendem Gesicht, „Ähnliches hatte ich erwartet. Und ich versichere Ihnen, das ist erst der Anfang. Die Nationen werden einander verdächtigen, chemische Kampfstoffe eingesetzt zu haben!“ „Ist schon geschehen!“ rief Sörensen prompt. „Die roten Telefone sind bereits in Betrieb. Experten ist nämlich von Anfang an aufgefallen, daß die Tiervisionen visionäre Mischwerte waren und ortsfremd auftraten. In Samoa Eisbären, in Chikago Löwentiger, in Santiago Lamalkamele, in Perth, Sydney und Wellington Elefanten, in Moskau, Teheran und Bombay Giraffen...“ „Das weist auf Psychokrieg hin!“ rief Charivari. „Allerdings! Der Ragamuffin hat seine Vavas ausgeschickt, Tiere per Gehirn aufzunehmen, um sie in die Hirne der Menschen zu strahlen. Er muß wissen, daß der Mensch die Tiere zwar nutzt, dressiert, teils sogar pflegt und liebt, aber daß das Tierische zutiefst unheimlich ist, wenn es unvermutet auftritt. Darauf beruht sein Plan - und er sieht, daß er gelingt! Kein Politiker kann ja ahnen, daß diese schauerliche Überrumpelung aus der Erde kommt. Meine Herren, Sie begeben sich schleunigst auf Ihre Stationen zurück - und ich wende das äußerste Mittel an, den Dunkelmann aufzuspüren!“ „Halt!“ warf Superhirn ein. „Was war das mit dem Ragamuffin-Foto? Und weshalb stehen, sitzen und liegen die Leute auf den Stützpunkten wie erstarrt herum? Sie sagten: Wie im Winterschlaf.“ Professor Charivari nickte. „Mir war von Anfang an klar. Der Ragamuffin ist ein Magier. Sogar sein umgesetztes, aus ,weiter Hand stammendes Bild kann Furchtbares bewirken. Aber wie ich sehe, sind einige Leute auch dagegen immun. Das gibt mir Hoffnung. Vor allem aber auch Doktor Paulsens
Bestätigung, daß es sich bei den betroffenen Leuten um eine Art Winterschlaf handelte. Nehmen Sie den Weg zurück über das Molekular-Gerät, meine Herren. Gehen Sie auf Ihre Stationen. Tun Sie Ihre Pflicht. Giganto wird das Ungeheuer vernichten!“ 9. Im Reich des Ragamuffin „Captain Biggs ließ den Hirnwellen-Analysator seltsame Zeichen auswerten“, berichtete Belmondo. „Wir haben ein bedeutendes Medium, in dessen Kopf die Zeichen zu einem Bild wurden: Dieser Mann fertigte schnell eine Phantomzeichnung an, die über Funk an alle Stationen - und dort wieder an sämtliche Abteilungen gingen. Ihr könnt von Glück sagen, daß euer Empfang gestört war. Wenn ihr das Bild gesehen hättet, wärt ihr auch erstarrt.“ „Ich ahnte es“, murmelte Superhirn. „Mir kommt da eine Idee“, sagte Tati, als die Männer das fahrende Erdschiff auf dem MolekularWeg verlassen hatten. „Rührt die Erstarrung in den Geheimstationen vielleicht vom eigenen Heilschlaf-Spray her?“ „Nein“, erwiderte Charivari entschieden. „Das im Grunde harmlose Zeug war als Waffe gegen Eindringlinge gedacht. In geringster Dosierung half es gegen die Tiervisionen. Was meine Mitarbeiter eben sagten, weist eindeutig auf magische Übertragungen hin. Die Gelehrten und Laien in aller Welt streiten sich immer wieder darüber, ob so etwas möglich ist. Ich habe technische und chemische Hilfsmittel, von denen die Menschheit nichts ahnt. Mir wiederum sind die Energien des Ragamuffin ein Rätsel.“ Prosper stieß einen schwachen Entsetzensschrei aus. Tati schien plötzlich keinen Kopf mehr zu haben. Der Pudel quietschte auf, denn Prosper hatte ihn beim Zurückweichen getreten. Micha stand mit offenem Mund. „Kinder“, murrte Gérard, „wenn wir dauernd schreien, zittern, hopsen und Maulsperre halten, besiegen wir den Ragamuffin nie! Der Professor hat doch nur einen Lichtball eingeschaltet. Geh mal zur Seite, Tati!“ Dieser durchsichtige, nicht fühlbare (nicht einmal warme) Lichtball stellte die Erde dar. Es war ein Hologramm. Auf diesem Gebilde erschienen die Kontinente schwach grünlich. Ein rötlicher Punkt stellte den Giganto dar und zeigte dem Betrachter seine jeweilige Position. Der Professor schaltete jetzt in den „Hologramm-Fahrtenschreiber“ und Erdsimulator noch einiges hinein. An etwa zwanzig Stellen glommen winzige Tupfer“ auf: unter den Ozeanen, tief unter den Kontinenten und unter den Polen. „Meine Sprengstoffdepots“, sagte Charivari. „Wir legen uns jetzt bei Madagaskar auf den Meeresgrund. Dann löse ich die Explosionen aus!“ Die Freunde sahen, wie das Giganto-Lichtpünktchen im Hologramm pfeilschnell höher und in die angegebene Gegend sauste. Nun stand es still. „Dann der Sprengstoff bestimmt nicht zum Weltuntergang führen?“ vergewisserte sich Henri. „Zum Untergang des Ragamuffin, wie ich hoffe“, murmelte Charivari. „Ich sagte ja schon, die Depots liegen überall in solchen Sicherheitstiefen, daß sie oben nur von den Erdbebenwarten registriert werden. Achtung, seht jetzt in den Lichtball. Ich zünde ... !“ Im Hologramm blitzte es mehrfach deutlich auf Die Depot-Pünktchen zerstoben. An einigen Stellen sausten Explosionsausläufer aufeinander zu, an anderen gab es eine Art „Wunderkerzen-Effekt“. „So“, sagte der Professor. „Das war's. Ihr habt gesehen, in Richtung Erdoberfläche ist nichts passiert. Die Anlage war sorgfältig eingesteuert. Die Sprengungen mögen Schichten verschoben, ausgetauscht und gemischt haben, aber zur Beschädigung eines Kontinents oder auch nur der kleinsten Insel im Pazifik konnten sie nicht führen.“ „Aber Sie glauben, Sie haben die Ragamuffin-Zentrale getroffen?“ fragte Tati. „Nein. Jedenfalls ist dies nicht sicher. Aber eines weiß ich: Der Ragamuffin - in welcher Höhle er auch sitzt - ist empfindlicher als jeder Seismograph. Er wird seine Fühler sofort einziehen. So, wir gehen jetzt auf 50.000 Meter Tauchtiefe und warten ... Ich nehme an, General Hamm oder Sörensen
werden sich bald melden, vielleicht sogar wieder Biggs. Superhirn, übernimm den Befehlstisch und teil den anderen ihre Wachaufgaben zu. Ihr kennt das ja: In einem Fall wie diesem muß jeder aufpassen!“ Schwankend vor Müdigkeit und Überanstrengung taumelte der Professor in seine Kammer. Er wollte sich für kurze Zeit ausruhen. Doch es vergingen mehr als drei Stunden, bevor etwas geschah. Wie erhofft, erschien auf dem Bildschirm in der Wand Captain Biggs. „Hallo, Giganto! Schöne Bescherung, was?“ Superhirn nahm die Meldung entgegen, daß auf sämtlichen Geheimstationen „trübes Erwachen“ herrsche. Zum Glück aber hatte es keine Toten gegeben. Außerdem sei die Wirkung des RagamuffinPhantombildes nicht nur verblaßt, sondern das Bild habe sich selber aufgelöst. „Sogar das Papier wollte die furchtbare Fratze anscheinend nicht dulden“, scherzte Biggs. „Wie sah das Bild denn aus?“ fragte Superhirn. „Zeigte es ein Menschengesicht?“ Biggs wurde ernst. „Die Rätsel nehmen kein Ende, Junge! Das Bild ist über Funk an alle Geheimstationen gegangen und dort jeder Abteilung gezeigt worden, auch in den Kantinen. Wie ich höre, kann sich niemand daran erinnern! Niemand!“ Aus seiner Kammer kam schlaftrunken der Professor. Er orientierte sich rasch und übernahm das Gespräch. „Liegen neue Weltnachrichten vor?“ fragte er den Captain. „Ja. Die Erdbebenwarten vermerkten beiläufig leichte Vibrationen. Die werden aber nirgends mit anderen Vorkommnissen in Verbindung gebracht. Unsere Agenten melden das schlagartige Aufhören der Tiervisionen. Hierüber bringen auch die Rundfunkstationen nichts Aktuelles mehr. Keine neuen Tumulte, nichts, gar nichts. Aber Zoologen, Psychologen, Astronomen, Chemiker, ja, sogar Astrologen melden sich aus den verschiedenen Studios. Sie versuchen., die Schreckenserscheinungen zu erklären. Auf den Ragamuffin kommt natürlich keiner!“ „Das möchte ich glauben“, lächelte Charivari. „Achtung! Letzte Meldung...“ rief Biggs. „Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen droht zu platzen!“ Der Gesichtsausdruck des Professors wechselte jäh. „Was soll das heißen?“ fragte er rauh. Seine Finger umkrallten den Rand der Kontrollplatte. „Die großen Nationen bezichtigen sich gegenseitig des heimtückischen Kriegsbeginns mit neuartigen Kampfstoffen“, sagte Biggs. „Sie gehen dabei von den Halluzinationen aus.“ „Aber wo ist da die Vernunft!“ brüllte Charivari los. „Wenn die Tierbilder nur in einem Land oder auf einem Kontinent in den Köpfen der Menschen erschienen wären! Mittlerweile aber weiß doch wohl jeder Staat, daß sie die ganze Welt verwirrt haben. Also müßte zunächst eine Nation sich selber mit der angeblich neuen Gehirnwaffe bekämpft haben.“ „Ich möchte mit Worten erwidern, die Sie selber benutzen“, sagte Biggs. „Wenn's das Unglück will, gibt es nicht einen einzigen besonnenen Staatsmann oder Diplomaten. Ich nehme aber an, daß die Herren zur Vernunft kommen werden. Unter einer Voraussetzung ...“ „Die wäre?“ fragte Professor Charivari bebend. „Daß der Ragamuffin endgültig zum Schweigen gebracht wird!“ erklärte Biggs düster. „So, wie ich die Lage nach der letzten Nachricht beurteile, gibt es einen Weltkrieg, falls er den Psychokrieg erneuert!“ „Daran werde ich ihn hindern“, zischte der Professor. „Ich fahre alle Sensoren aus und gehe mit Tempo G 1000 im Zickzack auf die Suche! Diesmal finde ich ihn! Verlassen Sie sich darauf. Ende!“ „Ende!“ Der Bildschirm mit Captain Biggs verschwand. „Ende!“ wiederholte Superhirn mechanisch. Er sah zu den Freunden hinüber. Sein Blick durch die großen Brillengläser verriet Sorge. Im Hologramm begann das rote Pünktchen, das den Giganto markierte, wie toll zu springen. „Das gefällt mir nicht“, sagte Tati. „Wenn ich mir vorstelle, wir rasen so verrückt durch die Erde...“ „Mir gefällt das auch nicht“, flüsterte ihr Bruder Henri. „Der Giganto mag noch so strapazierfähig
sein ...“ „... aber er ist schließlich kein Fußball“, vollendete Gérard. „Was hat denn der Professor?“ wisperte Micha. „Was zieht er da für Grimassen?“ „Er - er dreht durch!“ heulte Prosper. „Der Gedanke an den Ra-Ra-Ragamuffin macht ihn wild!“ „Still!“ mahnte Superhirn. Er wandte sich - an Charivari und sagte: „Mir ist etwas eingefallen. Vielleicht ist es etwas Dummes. Aber möglicherweise können Sie etwas damit anfangen.“ Sofort horchte der Professor auf. Sein Gesicht glättete sich. Nur die Augen behielten ihren gespannten Ausdruck. Doch jetzt aus Interesse für Superhirns Idee. „Ja?“ fragte er - wieder mit der bekannten, sanften Stimme. „Was ist?“ „Besser, Sie schalten den Giganto auf Schleichfahrt, während wir beraten“, meinte der Junge. „Wenn mein Vorschlag nämlich Hand und Fuß hat, kommen wir auf geradem Wege direkt in die RagamuffinHöhle hinein.“ Wortlos traf Charivari seine Maßnahmen. Nun zog das Erdschiff, wie man im Hologramm sah, in etwa 50.000 Meter Tiefe seine Warteschleife unter dem indischen Subkontinent. „So“, sagte der Professor. „Ich höre.“ Mit seinem Taschentuch tupfte er sich den Schweiß von seinem Kahlschädel. „Ich gehe davon aus, daß das Ragamuffin-Volk Gedanken speichern, verdichten und schießen kann“, begann Superhirn. „Ja, ja, das haben wir ja in den verschiedensten Formen erlebt“, unterbrach Charivari ungeduldig. „Diese Hirnwellen können auch Material zerstören. ja, und?“ „Ich denke mir, Sie haben längst Geräte, mit denen Sie Ihrerseits die aufgefangenen Hirnwellen gespeichert haben.“ Wie abwesend strich sich der Professor den lackschwarzen Strippenbart. „Du würdest nicht Superhirn heißen, wenn du darauf nicht gekommen wärst. Es stimmt. Ich habe Ragamuffin-Gedanken gespeichert. Sogar an Bord des Giganto befinden sich mehrere Batterien mit Gedankenwellen in einer Isolierkammer.“ „Wozu denn?“ fragte Tati erstaunt. „Ursprünglich für zweckfreie, innerirdische Versuche“, antwortete der Professor. „Du weißt, es gibt eine zweckgebundene Forschung, etwa zur Herstellung von Baustoffen aus Müll. Aber die Wissenschaft stellt auch reine Experimente an - einfach, um zu erfahren, wie sich dieser oder jener flüssige oder gasförmige Stoff bei seiner Freisetzung verhält. Mit den Ragamuffin-Hirnwellen kann ich an der Erdoberfläche keine Versuche anstellen. Das wollte ich später einmal, irgendwann, in der Erde tun. jetzt bringt mich Superhirn aber auf die Idee, sie als Waffe zu verwenden.“ „Gegen den Ragamuffin selber?“ rief Henri. „Großartiger Gedanke! Sein Hauptquartier soll mit seinen eigenen Hirnwellen torpediert werden! Ob das klappt?“ „Wahrscheinlich“, sagte Charivari. Seine Augen funkelten. „Damit könnte ich dem Unhold das Handwerk legen. Wohin sollten freigelegte Ragamuffin-Wellen, die durch die Speicherung ziellos geworden sind, hin - wenn nicht zurück zum Absender?“ Er war so aufgeregt, wie ihn die Freunde nie erlebt hatten. „Das Monster mit seinen eigenen Waffen schlagen“, murmelte er. „Ja ...“ „Worin haben Sie denn die Gedanken gespeichert?“ erkundigte sich Gérard. „In 'ner Stahlflasche, wie Preßluft?“ „Wenn's nicht bitterer Ernst wäre, könnte ich jetzt lachen“, erwiderte Charivari. „Die RagamuffinStrahlen sind in Kandiszucker gespeichert.“ Aber Micha kicherte doch. „Kandiszucker?“ rief er ungläubig. „Sie wollen den Verbrecher mit Bonbonregen beschießen - wie auf einem Kinderfest?“ „Na, ein Kinderfest wird das bestimmt nicht“, wies Superhirn ihn zurecht. „Laß dir das lieber erklären!“ „Zufällig eignet sich Kandis am besten zur Speicherung der innerirdischen Hirnwellen“, bestätigte der Professor den Einwurf. Das hängt mit der doppelten Ordnung der Atome zusammen. Wenn ich nun die Hirnwellen freisetzen will, brauche ich dem Kandis nur Wasser zuzusetzen. Dann löst sich
nämlich der Zuckerkristall und gibt sie frei! Je wärmer das Wasser, desto schneller der Vorgang!“ „Ja, worauf warten Sie noch?“ rief Superhirn. „Schießen Sie die gekapselten Ragamuffin-Wellen ab, und wir verfolgen ihren Weg zur Zentrale im Hologramm!“ „Aber - aber, wenn die Hirnwellen nicht zur Ragamuffin-Höhle zurückströmen, sondern über der Erde explodieren“, rief Prosper entsetzt. „Ich halte das kaum für möglich“, überlegte Charivari. „Aus dem einfachen Grund: Den von uns erfaßten Wellen fehlt das einstige Ziel und die einstige Absicht. Entweder, sie verpuffen schadlos wie feuchtes Schießpulver - oder sie nehmen stracks den Weg zum Ragamuffin als der einzigen, vollkommen klaren Ziel-Orientierung!“ „Leuchtet ein“, nickte Henri. Gérard sagte: „Also, dann kicken Sie die Dinger mal los!“ „Wenn aber so 'n Gedankentorpedo im Giganto hochgeht?“ fragte Tati. „Verpufft der Inhalt hier drin auch wie nasses Pulver.“ „N-nein...“, erwiderte Charivari zögernd. „Auf so engem Raum? Nun, aber darauf dürfen wir´s erst gar nicht ankommen lassen. Ich gehe jetzt in die Isolierkammer und mache die Gedankentorpedos scharf. Ihr bleibt hier und rührt euch nicht vom Fleck.“ Charivari verschwand rasch in der Schleuse. Geisterbleich starrten die Gefährten einander an. „Wenn das bloß gutgeht!“ seufzte Tati. „Du bist ja sehr klug, Superhirn, aber du hast nicht bedacht, daß Charivaris Leute allein schon durch die Ragamuffin-Bildaufzeichnung erstarrten!“ „Ja ... !“ rief Prosper. „Was ma-machen Wir, wenn wir das Un-Un-Ungeheuer leibhaftig sehen... ?“ „Wir lösen uns in Rauch auf“, vermutete Micha. „Dich lutscht der Ragamuffin als Bonbon“, grinste Gérard. Doch man sah ihm an, daß ihm eine Begegnung mit dem unheimlichen, innerirdischen Machthaber alles andere als erwünscht war. „Es könnte zu einem Kampf kommen“, meinte Henri. Superhirn sagte: “Wir werden sehen. Erst muß ja die Ziel-Erkennung klappen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, daß Charivari den Ragamuffin mit dessen eigenen Gedanken schlägt, erschlägt...“ Atemlos kam der Professor in die Zentrale. „Es geht los!“ rief er. „Zehn Kapseln sind in den Abschußrohren. Wir werden das im Hologramm sehen: Die abgeschossene Gedankenladung dient unserem Schiff als Lotse oder Vorreiter. Und wenn sie uns tatsächlich in das Hauptquartier führt...“ Er unterbrach sich und machte sich am Befehlstisch zu schaffen. „Superhirn, du verfolgst unseren Weg im Hologramm. Henri, du assistierst mir hier. Micha! Achte von jetzt ab genau auf den Pudel! Du meldest mir die geringste Abweichung vom Normalverhalten. Gérard und Prosper! Ich schalte alle möglichen Vorgänge und Werte in Zahlen, Sichtzeichen und Figuren vom Befehlstisch in die Wände. Kontrolliert sie mit! Gefahr-Informationen, die sich selber einschalten, fallen sofort auf Sie sind scharf silbrig-violett und tun den Augen weh.“ „Und was soll ich machen?“ fragte Tati. „Einen starken Kaffee, bitte“, sagte der Professor. „Kaffee? Jetzt?“ „Du hast richtig gehört, Tati. Ich brauche einen starken, heißen Kaffee! Geh bitte in die kleine Küche und mach ihn selber! Ich möchte jetzt keinen aus dem Automaten.“ „Ich kann einen Becher Kakao gebrauchen“, erklärte Superhirn. „Meine Lebensgeister schreien danach!“ „Klar“, sagte Tati bereitwillig, „ich begreife!“ Sie verschwand in der Schleuse. „Achtung! Ich zünde Gedankenrakete Nummer l“, sagte Charivari. Er zählte mit monotoner Stimme: „10 ... 9 ... 8 ... 7 ... 6 ... 5 ... 4... 3 ... 2 ... 1 ...“ „Null ...!!!“ rief Superhirn. Er starrte in den Lichtball, der die Erde darstellte, Aus dem roten Giganto-Pünktchen unter dem indischen Subkontinent löste sich ein winziges, ebenfalls rötliches Körnchen: Die erste Gedankenrakete! Alle waren furchtbar aufgeregt, auch Micha - wodurch der Pudel selbstverständlich sofort vom „Normalverhalten“ abwich. Im Moment war er als Spür- und Testhund wertlos.
„Wie bewegt sich denn dieses Gedankenpaket?“ fragte Prosper. „Wie wir“, erwiderte der Professor. „Mit der gleichen Antriebsart. Ich habe die Gedankenbomben in unsere Erdpostraketen gelegt. Die Bombe' in dieser ersten Postrakete, die ihr im Hologramm seht, tickt' schon. Das heißt, sie sendet ihren Inhalt mit Unterbrechung aus. Dieser Richtungsweisung folgt die Postrakete, und die Lenkautomatik des Giganto ist wiederum auf den Vorreiter eingesteuert.“ „Das Ding zieht uns nach Australien!“ rief Gérard. Er blickte auf eine Wand: „36.000 M/S – 13.000 km/h...“ „Ist das unsere Geschwindigkeit?“ fragte Micha. „Ja“, nickte Charivari. „Übrigens entspricht das ziemlich genau der Geschwindigkeit von Erdbebenwellen. Doch das ist Zufall.“ „Ragamuffin-Gedanken müßten aber erheblich schneller sausen“, meinte Superhirn. „Ich stelle mir vor, wie Licht im Vakuum oder Kathodenstrahlen.“ „Sicher“, bestätigte der Professor. „Nur hab ich sie sehr, sehr stark gedrosselt, sonst witschen sie mir aus der Kapsel, und wir haben keinen Lotsen mehr. Wenn die erste Rakete leer ist, zünde ich die zweite.“ „Vorsicht!“ schrie Gérard. „Gefahrenzeichen silberviolett! Umrisse der Rakete in der Wand. Dazu ein paar Zahlen!“ Charivari blickte hastig zwischen Wand und Kontrollplatte hin und her. „Aha! Eine Postrakete samt Inhalt' ist undicht. Ragamuffins Gedanken werden frei. Ich zünde sie!“ Er atmete auf. „Im Hologramm sind jetzt zwei Körnchen vor dem Giganto-Punkt. Beide streben absolut zielsicher auf irgendwas zu“, meldete Superhirn. „Aber auf was? Wir sind tief unter dem Pazifik“, sagte Henri, auf die Platte starrend. „Es wird sich doch nicht um abgesackte Wassergeister handeln?“ „Ich muß die Lotsen-Raketen drosseln und die Gedanken-Spürstrahl-Düsen auf ein Minimum einengen“, murmelte Charivari. „Wir dürfen nicht mit solchem Tempo auf ein unbekanntes Ziel stoßen.“ Tati brachte die Getränke. „Brauchen wir nicht Schutzanzüge? Ich meine, für alle Fälle?“ fragte sie. „Unser Schutzanzug ist der verstärkte Giganto“, sagte Superhirn. „Auf was anderes können wir uns jetzt nicht mehr verlassen.“ „Ich möchte nur wissen, ob wir richtig kalkulieren“, überlegte Professor Charivari. Er beugte seinen gelblichen Kahlschädel über das Pult, um die Positionsweite abzulesen. „Ich hätte den innerirdischen Staat zwischen erstarrtem Magma in abgesackten Vulkankaminen unter den Mittelmeerinseln. vermutet. Oder in Hohlräumen unter Tibet. Es gibt noch eine Reihe von Theorien und Mythen, Spekulationen und Sagen, die vom untergegangenen Volk der Atlanter erzählen.“ „Die vermutet man aber überall“, warf Henri ein. „Mal in Spanien und in der Nordsee bei Helgoland, mal im Atlantischen Ozean. Neuerdings wieder in der Ägäis. Das Volk, von dem der Grieche Platon schon vor über 2000 Jahren schrieb. Das meinten Sie doch zuerst?“ „Das ist alles überprüft, oder es wird zur Zeit wissenschaftlich erforscht. Nach einem Ragamuffin aber riecht bisher kein einziger Eimer Asche aus Erd- und Tiefseeproben“, sagte Charivari. „So. Ich zünde jetzt die dritte und vierte Rakete!“ Superhirn starrte ins Hologramm. „Die beiden ersten Vorreiter irren vom Weg ab“, stellte er fest. „Sie sind leer“, meinte Henri. „Ihre Wellenladung ist verpufft. Die nächsten zwei übernehmen dafür die Führung.“ „Genau“, bestätigte Superhirn. „Ich will euch ja nicht erschrecken“, wandte Tati ein. „Aber ihr spracht da von Sagen und Überlieferungen, an denen etwas sein könnte. Es soll doch auch das Ungeheuer Typhon in der Erde geben. Ein Monster, das Felsen schleudern und Feuer husten kann.“ „Ja, Feuer aus dem Vesuv“, grinste Gérard.
„Was grinst du über ein Monster, wenn wir eben dabei sind, ein Monster zu suchen?“ ereiferte sich Prosper. „Und gerade findet in Bremen ein Kongreß statt, auf dem die Gelehrten über außerirdische, unbekannte Lebewesen diskutieren!“ „Das ist was anderes“, murmelte der Professor. „Man meint dabei nicht Lebewesen im menschlichen Sinn, sondern biologische Kleinstformen, die vielleicht nur unter Elektronenmikroskopen zu erkennen sind.“ „Die Karte von Afrika riesengroß in der Wand!“ meldete Gérard. Er verbesserte sich sofort: „Südamerika!“ „Wir steigen!“ rief Superhirn erregt. „Die Leuchtkarte in der Wand verschiebt sich“, sagte Prosper. Jetzt taucht Mittelamerika auf. Wir sehen das ganze Gebiet von Panama bis Süd-Mexiko immer größer und größer!“ „Nun nur noch Guatemala! Nur noch Guatemala!“ rief Tati. „Die Lotsenraketen stehen!“ schrie Micha. Er blickte mit Superhirn ins Hologramm. „Guatemala“, wiederholte Charivari. Er verglich die Hologramm-Position mit der Wandkarte und den Informationen in der Befehlsplatte. Dann sagte er: „Guatemala, Regierungsbezirk Alta Verapez exakt!“ „Im Hologramm bersten die Führungspünktchen“, meldete Superhirn. „Das heißt, wir stehen vor dem Ragamuffin-Quartier.“ „Tiefe: 10 000 Meter.“ Der Professor schüttelte verwundert den Kahlschädel. „Das ist nicht viel. Er und sein Volk müssen also doch den Stahlnickelkern der Erde als Gedankenreflektor benutzt haben. Es ist ihnen stets gelungen, uns irrezuführen!“ „Die Frage ist, was ihnen jetzt gelingt“, bibberte Prosper. Plötzlich bellte Loulou wie wahnsinnig. Und Tati schrie: „,Au, au, meine Augen!“ Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht und wälzte sich auf dem Fußboden. „Todeswellen dringen ein!“ heulte Micha. ,.Nein, es ist das Warnlicht“, brüllte Gérard. „Sehr starkes Warnlicht in den Wänden, Professor!“ Charivari schaltete das Warnlicht aus und zündete die letzten Raketen. Auf dem Hologramm war zu sehen, daß sie unmittelbar vor dem Giganto regelrecht explodierten. „Wir sind direkt vor der Höhle“, meinte Henri. „Direkt davor - oder bereits drin!“ „Nur nicht aussteigen!“ flehte Prosper. „Nur keinen Außenfunk anstellen!“ Wumm! Den Giganto traf ein mörderischer Schlag, der das Gleichgewichtssystem sekundenlang ausfallen ließ. „Schnellstart!“ rief Henri. „Durchstarten - und nichts wie weg hier! Hören Sie nicht? Der nächste Schlag kann uns zerschmettern!“ Doch das Schiff lag ganz still. Superhirn äugte zur Wand. „Sonderbar. Der Außendruck entspricht annähernd normalem Luftdruck, wenn ich die Zeichen richtig deute. Sauerstoffgehalt, Feuchtigkeitsgehalt - der ist allerdings ziemlich hoch -, Fremdstoffe unter Gefahrenwert. Ich lese da aber unter dem Gefahrenzeichen Totenkopf die Worte Histoplasma Capsulum.“ „Der wahre Name des Ragamuffin!“ meinte Micha. „Nein“, sagte Charivari. „Aber die Überraschung ist trotzdem groß genug. Der Fluch des Pharao.“ „Waaas? Der gehört doch nach Ägypten!“ rief Gérard. „Da sterben doch immer die Archäologen, wenn sie in die Königsgräber eindringen und nach dem Glauben der alten Ägypter das Grabmal entweiht haben. Oder wie ist das? Außerdem sind wir doch unter Guatemala in Mittelamerika!“ „Der sogenannte Fluch des Pharao ist ein alter Aberglaube“, entgegnete Charivari. „Tatsächlich hat er mit den alt-ägyptischen Königsgräbern zu tun und mit dem Gerücht, der Tod ereile jeden, der die geheiligten Kultstätten betrete. Bis 1958 waren Todesfälle unter Archäologen in Ägypten wahrhaftig unerklärbar. Dann aber fand man heraus, daß die Betroffenen nicht dem Fluch zum Opfer gefallen waren, sondern dem 0,001 bis 0,003 Millimeter großen (oder kleinen) Spaltpilz, dessen Namen uns die elektronische Bord-Information in die Wand projiziert hat. Die Krankheit heißt danach
Histoplasmose. Und vor der sollen wir uns beim Aussteigen schützen.“ „Und vor sonst nichts?“ fragte Tati. Bevor jemand antworten konnte, ertönte über die eingeschalteten Außenmikrofone eine unendlich müde, geisterhafte Stimme: „Vor ... sonst ... nichts ... ! Steig ... aus ... !“ Die Stimme klang so unheimlich, daß es den Freunden vorkam, als müßten sie zu Eis erstarren. Doch Charivari meinte: „Der Schlag, eben, der das Schiff erschütterte - hm, das war wohl die letzte Barriere. Eine Gedankenmauer aus versiegender Kraft. Die Wände geben keine weiteren Warnzeichen. Die Macht, die uns bekämpfte, ist zerstört!“ „Seht mal, der Pudel!“ rief Micha. „Wie der sich benimmt!“ „Putzmunter“, nickte der Professor. „Die Geisterstimme hat ihn nicht erschreckt. Ein günstiges Zeichen. Er verkriecht sich nicht.“ „Sie meinen wirklich, wir können aussteigen?“ fragte Superhirn. „Ja“, erwiderte Professor Charivari. „Ich verwandle jetzt den Giganto in eine Art Wachhund. Er wird uns schützen, auch wenn wir draußen sind. Gegen den Spaltpilz immunisiert euch die Schleuse.“ Er holte ein dünnes Kristall-Stäbchen aus der Tasche und zog es auseinander wie eine Auto-Antenne. „Mein Spürstab. Durch Vibration und Verfärbung warnt er uns vor Strahlen und Gasen.“ In der Giganto-Schleuse öffnete sich die Treppenwand. Feuchte, etwas modrige Luft drang herein. Die Besatzung starrte ins Dunkle. „Also, wenn ihr mich fragt“, sagte Prosper, „ich bleibe lieber hier!“ Aber schließlich folgte auch er dem Professor hinunter in den finsteren Hohlraum ... Charivari ließ den starken Fingerring-Scheinwerfer aufblitzen und leuchtete umher. „Huuuhhh...“, schauderte Tati Und eine an der anderen!“ „Die größten Kavernen, die ich je gesehen habe“, murmelte Charivari. „Wo kommt nur die Luft her? Ein weites natürliches Röhrensystem muß für Durchzug sorgen. Das reicht vielleicht von Peru bis Mexiko.“ „Da hinten ist Licht, helles Licht“, wisperte Henri. „Da ist die Zentrale des Ragamuffin! Ich wette!“ „Die Wette hast du schon gewonnen“, flüsterte Gérard zurück. „Aber wenn der Kerl etwa doch noch ein bißchen Kraft hat, haut er uns um!“ Ohne Vorwarnung nestelte Charivari an einem Knopf seines Befehlsanzugs: Das löste über Funk ein ganzes „Orchester“ grauenhafter künstlicher Schreie im Giganto aus. Prompt warf sich Micha zu Boden. „Mensch, das ist doch nur Abschreckung!“ schrie Gérard ihm ins Ohr. Er half dem Jungen hoch. „Die Wände sind so gespenstisch grün“, bemerkte Prosper, als Charivari das „Gebrüll“ des Erdschiffes durch Fernschaltung wieder abgestellt hatte. Der Professor leuchtete umher. „Grün sind die Wände schon, aber nicht gespenstisch“, sagte Superhirn. „Was du siehst, ist nichts anderes als Grünspan.“ Sie kamen dem gleißenden Zentrum des innerirdischen Labyrinths näher und näher. „Das sind ja riesige Höhlen!“ „Was machen wir, wenn sie uns gefangennehmen?“ bibberte Tati. „Es ist so schrecklich still, ich höre nur das Rauschen von Wasser! Vielleicht lauert der Ragamuffin mit seinen Vavas irgendwo, um uns zu überfallen?“ „Denken Sie daran, was allein die Phantomfratze des Ungeheuers angerichtet hat!“ warnte Henri. Der Professor schwenkte seinen Kristallstab. „Das Ding ist nicht nur ein Spür-, sondern auch ein Abwehrgerät. Ich kann damit eine Höhle zum Einsturz bringen.“ „Komisch! Wir gehen auf 'ne enorme Bahnhofshalle zu“, meinte Micha. „Jedenfalls ist's da so hell. Aber man hört nichts! Man hört nur Quellen rauschen!“ Urplötzlich ertönte vor ihnen wieder die tiefe, geisterhafte, müde Stimme. „Kommt her! Ich kenne euch. Ich kenne eure Sprache, wie ich alle Sprachen kenne. Ich tue euch nichts!“ „Da-das ist eine Fa-Fa-Falle“, schluckte Prosper.
Aber schon hopste der Pudel in die Richtung, aus der die erschöpfte Stimme erklungen war. Und auf einmal überwog bei allen die Neugier. Sie tappten schweigend in eine blendend erleuchtete, tempelartige Höhle voller Stalaktiten und Stalagmiten. In den Wänden und im Boden strahlten bizarr geformte Tropfsteine wie merkwürdig bunte Lampen. Hier gab es nichts Künstliches: Alles war rätselhafte Natur. Man sah nichts Technisches, keinen einzigen Gebrauchsgegenstand, nicht einmal einen hölzernen Stuhl. „Da...“, hauchte Superhirn. Er riß sich die Brille von der Nase, um die Gläser zu putzen. Er glaubte nicht richtig gesehen zu haben. Auf einem mehrstufigen Sockel aus leuchtendem Gestein stand eine mannsgroße, menschliche Gestalt. Grauhaarig, graugesichtig, in einem grauen, langen Gewand. Selbst Charivari stockte beim Anblick dieses Götzenbildes der Atem ... Doch das „Götzenbild“ war ein menschliches Wesen, ein sehr, sehr alter Mensch. Nur an seinen großen, matt und matter schimmernden Augen war zu erkennen, daß er noch lebte. Die unheimliche Würde, die von ihm ausging, verriet: Das war der Ragamuffin! Sprachlos standen Charivari und die Gefährten vor diesem lange gesuchten, geheimnisvollen Wesen. An ihre Ohren drang unablässig das Murmeln ferner Quellen. Micha packte Gérards Arm: In der Ferne, aus der das Rauschen kam, schnüffelte der Pudel umher. Dort war ein Durchgang, bewacht von einer Schar aufrecht stehender Gestalten. Es waren sechzig, siebzig wie zu Stein erstarrte, grauhaarige, graugewandete Männer: das Volk der Vavas! „Ihr habt meine Macht gebrochen“, sagte der Ragamuffin ruhig. „Ihr habt mich mit meinen eigenen Gedanken geschlagen. Das hätte ich befürchten müssen, doch daran habe ich nie gedacht. So ist es meine Schuld, daß wir erlöschen.“ „Erlöschen?“ fragte Charivari erstaunt. „Wer seid ihr?“ „Namenlose“, erwiderte der innerirdische Fürst. „Wahrscheinlich vergessene Mayas“, flüsterte der Professor. „Eine Priesterkaste“, murmelte Superhirn. „Oder Ausgestoßene!“ Der Mann, der seinen Namen nicht nannte, doch für die Gigantofahrer auch weiterhin der „Ragamuffin“ blieb, war sichtlich der „Oberpriester“. „Wir sind die Hüter des Reinen Wassers, das ihr rauschen hört“, sagte er. „Und wir waren schon uralt, als die weißen Eroberer kamen. Wir sind Jahre und Jahre von Höhle zu Höhle in immer größere Tiefen gestiegen, dem Wasser nach, bis dorthin, wo es die vielfache Kraft hat. Das Wasser hat uns die Macht des Willens gegeben, der die Steine zum Leuchten bringt und uns befähigt, unsere Körpergröße zu verändern, uns an die Erdoberflächen zu schießen und Gedankenblitze wie Pfeile zu schleudern. Wir arbeiteten nicht, wir aßen nicht, wir saßen nur und dachten nach.“ „Nein, das ist wohl umgekehrt“, sagte Charivari. „Ihr saßet und dachtet nach. Jahre, Jahrhunderte. Dann hat euch etwas irritiert. Ihr habt Erschütterungen verspürt. Von unterirdischen Atombombentests vielleicht. Denn ihr müßt ein sehr feines Gehör besitzen. Nun habt ihr verkapselte Späher nach oben geschickt. Die haben in ihren klugen Köpfen alles gespeichert, was sie sahen und hörten. In kurzer Zeit habt ihr alles Neue auf der Welt erfaßt und gespeichert, nichts Vorhandenes ausgelassen. Nicht einmal die Tiere in Grönland und in Australien. Alles habt ihr erfaßt, sage ich - aber ihr habt wenig begriffen. Die Technik ängstigte euch, der Technologe war euer Feind, wie ihr meintet. Und deshalb begann der grausige Kampf!“ „Wir mußten das reine Wasser vor Fremdem bewahren“, entgegnete der Ragamuffin ruhig. Und er wiederholte: „Aber unsere Gehirne sind zerstört, unsere Kräfte erloschen, weil ihr uns mit unseren eigenen Gedanken erschlagen habt. Mit unseren eigenen Waffen!“ „Das muß entsetzlich für sie gewesen sein!“ murmelte Gérard. „Wie ein Bumerang“, flüsterte Superhirn. „Lebt wohl“, hauchte der Ragamuffin mit letzter Kraft. „Hier habt ihr keine Feinde mehr...“ Seine Augen glühten noch einmal auf, dann wurden sie grau. Die leuchtenden Steine erloschen langsam. Gleichzeitig sank die reglose Gestalt auf dem Sockel in sich zusammen.
„Scheinwerfer an!“ schrie Prosper. „Schnell, zurück zum Giganto! Hallo, seid ihr noch da? Ich möchte nicht auch au-au-aufgelöst werden! Vielleicht ist das Erdschiff schon ka-ka-kaputt ... !!!“ Charivari ließ seinen Fingerring-Scheinwerfer aufblitzen. Micha rief erleichtert: „Der Giganto ist noch da!“ ,Aber wo sind die Männer? Die Vavas des Ragamuffin?“ fragte Henri. „Weg!“ sagte Superhirn rasch. „Genauso aufgelöst wie der Ragamuffin selber!“ „Hört mal! Das Rauschen ist versiegt!“ bemerkte Tati. „Das Wasser rinnt nicht mehr!“ „Spuk“, brummte Gérard. „Aber wollen wir nicht ein kleines Andenken mitnehmen, damit wir wissen, daß wir nicht geträumt haben?“ „Ich müßte Gesteinsproben sichern, vor allem aber etwas von dem Wasser“, entgegnete der Professor ernst. „Aber ich glaube, das darf ich nicht. Hier ist für den Wissenschaftler eine Grenze. Diese Vavas, die längst nicht mehr zur Welt gehörten, sollen ihren Frieden haben. Das ist weder etwas für Gelehrte noch für Touristen, Gott bewahre! Genauso wenig kann ich mir das RagamuffinVolk auf der Erde vorstellen: vielleicht als Rentner auf dem Land - oder als städtische Altenheimbewohner? Nein, nein. Ihr Geheimnis und ihre rätselhafte Beziehung zu dem reinen Wasser soll nicht bekannt werden, ebenso, wie ich meine technologischen Geheimnisse gewahrt haben will.“ Schon zwanzig Minuten später kurvte der Giganto auf Wartebahn tief unter dem Atlantik. Die Gefährten telefonierten mit ihren Eltern und berichteten von einem Schiffsausflug, den sie gemeinsam unternommen hatten. Sie erfuhren, daß alle Angehörigen und Freunde die Verwirrung der letzten Tage gut überstanden hatten. Beruhigt konnten sie ihre Kabinen aufsuchen. Während sie schliefen, meldeten sämtliche Geheimstationen dem Professor übereinstimmend, die Spannungen zwischen den Nationen seien auf „normales Maß“ zurückgegangen. Die Halluzinationen, so meinten jetzt viele Gelehrte, müßten durch ein kosmisches Störungsfeld entstanden sein. „Gut, daß man die Ursache im All sucht - und nicht in der Erde“, lachte Professor Charivari erleichtert. „Sonst hätte sich am Ende keiner mehr zu baggern, zu bohren und zu schippen getraut! He, Biggs, ich bringe jetzt die Kinder zu ihrem Ferienort am Meer zurück!“ Die letzten Worte hatten Superhirn und Micha gehört. Schlaftrunken standen sie im Eingang der Zentrale. „Was?“ fragte Micha enttäuscht. „Ohne Essen sollen wir von Bord? Wo doch oben das herrliche Restaurant ist?“ „Na, dann weckt mal die anderen“, lächelte Charivari. „Ich habe eben durchgegeben: Giganto meldet: Ziel erreicht! Keine Gefahr mehr aus der Erde!“ „Und das muß schließlich gefeiert werden“, grinste Superhirn. Waff! machte der Pudel, der sich zwischen den Jungen hindurchdrängte. Waff, woff, wuff . . .!!!
Ende